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German Pages 162 Year 2023
Thomas Haipeter, Markus Helfen, Anja Kirsch, Sophie Rosenbohm (Hg.) Soziale Standards in globalen Lieferketten
Forschung aus der Hans-Böckler-Stiftung | Band 200
Editorial Die Reihe Forschung aus der Hans-Böckler-Stiftung bietet einem breiten Leserkreis wissenschaftliche Expertise aus Forschungsprojekten, die die Hans-BöcklerStiftung gefördert hat. Die Hans-Böckler-Stiftung ist das Mitbestimmungs-, Forschungs- und Studienförderungswerk des DGB. Die Bände erscheinen in den drei Bereichen »Arbeit, Beschäftigung, Bildung«, »Transformationen im Wohlfahrtsstaat« und »Mitbestimmung und wirtschaftlicher Wandel«. Forschung aus der Hans-Böckler-Stiftung bei transcript führt mit fortlaufender Zählung die bislang bei der edition sigma unter gleichem Namen erschienene Reihe weiter. Die Reihe wird herausgegeben von der Hans-Böckler-Stiftung.
Thomas Haipeter (Prof. Dr.) ist Leiter der Forschungsabteilung Arbeitszeit und Arbeitsorganisation an der Universität Duisburg-Essen. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen Arbeit, Arbeitsbeziehungen und Arbeitsregulierung. Markus Helfen (Dr.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hertie School, Berlin, und Privatdozent am Fachbereich Wirtschaftswissenschaft der Freien Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen globale Arbeitsstandards, inter-organisationale Netzwerke und Mehr-Arbeitgeber-Beschäftigung sowie Arbeit und Nachhaltigkeit. Anja Kirsch (Prof. Dr.) ist Professorin für Gender, Governance und internationales Management im Fachbereich Wirtschaftswissenschaft der Freien Universität Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Governance internationaler Arbeitsstandards, Arbeitsbeziehungen in der Automobilindustrie und Frauen in Führungspositionen. Sophie Rosenbohm (Dr.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen nationale und transnationale Arbeitsbeziehungen, den Wandel der Arbeit im Kontext der Digitalisierung und die Organisationsforschung.
Thomas Haipeter, Markus Helfen, Anja Kirsch, Sophie Rosenbohm (Hg.)
Soziale Standards in globalen Lieferketten Internationale Richtlinien, unternehmerische Verantwortung und die Stimme der Beschäftigten
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Erschienen 2023 im transcript Verlag, Bielefeld © Thomas Haipeter, Markus Helfen, Anja Kirsch, Sophie Rosenbohm (Hg.) Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: G.M.B. Akash, Panos Pictures Satz: Michael Rauscher, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-6770-7 PDF-ISBN 978-3-8394-6770-1 https://doi.org/10.14361/9783839467701 Buchreihen-ISSN: 2702-9255 Buchreihen-eISSN: 2702-9263 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Inhalt Die Stimme der Beschäftigten und die Sicherung von Sozialstandards in globalen Lieferketten Eine Einführung Thomas Haipeter, Markus Helfen, Christine Üyük | 7 Globale Rahmenabkommen als Werkzeug zur Regulierung von Arbeitsstandards in Lieferketten? Ein Überblick über die Verbreitung von globalen Rahmenabkommen und ihre Umsetzungsregeln Anja Kirsch, Carolin Puhl, Sophie Rosenbohm | 27 Global Framework Agreements in practice Effects and challenges in German companies’ Asia-Pacific entities Catherine Casey, Antje Fiedler, Helen Delaney | 55 Menschenrechtliche Sorgfaltspflicht und der Einsatz von Worker Voice Tools Partizipation als Risikomanagement? Christian Scheper, Carolina A. Vestena, Christoph Sorg, Sabrina Zajak | 75 »Schöne neue Lieferkettenwelt« Workers’ Voice und Arbeitsstandards in Zeiten algorithmischer Vorhersage Lukas Daniel Klausner, Maximilian Heimstädt, Leonhard Dobusch | 97 Corona und das globale Machtgefälle in Lieferketten am Beispiel der Automobilindustrie Hansjörg Herr, Christina Teipen, Helena Gräf | 115 Rechtliche Instrumente zur Umsetzung von Sozialstandards in Lieferketten Möglichkeiten und Grenzen Oliver Emons, Barbara Fulda, Ernesto Klengel | 135 Autor*innen und Herausgeber*innen | 157
Die Stimme der Beschäftigten und die Sicherung von Sozialstandards in globalen Lieferketten Eine Einführung Thomas Haipeter, Markus Helfen, Christine Üyük
Workers’ Voice in globalen Lieferketten Beim Einsturz des Rana-Plaza-Gebäudes in Bangladesch, in dem fünf Textilfirmen für den europäischen Markt produzierten, starben am 24. April 2013 mehr als 1.100 Menschen, über 2.400 wurden verletzt. Die Arbeitsbedingungen bei Foxconn, einem Apple-Zulieferer in Shenzhen, erlebten viele Beschäftigte als so drückend, dass 2010 in kurzer Zeit zehn von ihnen Selbstmord begingen. »Konfliktdiamanten« finanzieren nicht nur zahlreiche Kriege in Afrika – sie werden häufig von Kindern in moderner Sklaverei geschürft. Anders als früher lässt uns all das in Deutschland aber nicht länger unberührt: Die Situation der Beschäftigten in den Ländern des globalen Südens bekommt deswegen viel Medienaufmerksamkeit, weil sie viel mit unserem Leben hier zu tun hat: Gemeinsam ist diesen ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen und Rechtsverletzungen nämlich, dass sie Teil globaler Lieferketten sind, deren Endprodukte wir konsumieren. Globale Lieferketten bestimmen die Produktion einer Vielzahl von Gütern und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs; sie sind aus unserem Alltag nicht wegzudenken. Damit wird die Durchsetzung von Sozialstandards entlang der Lieferkette zu unserem Problem. Unter Sozialstandards verstehen wir nach Werner Sengenberger (2004) alle Regeln und Rechte, die Beschäftigte schützen, beteiligen und fördern. Dazu gehören Regeln des Arbeits- und Gesundheitsschutzes, das Verbot von Zwangs- und Kinderarbeit sowie Diskriminierung am Arbeitsplatz, aber
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auch Ansprüche auf sozialstaatliche Sicherung, berufliche Entfaltungsmöglichkeiten und Gleichstellung. Sozialstandards schließen auch individuelle und kollektive Rechte ein: das Recht der Beschäftigten, sich gewerkschaftlich zu organisieren, genauso wie die Vertretung durch Gewerkschaften in Kollektivverhandlungen, um Tarifverträge abzuschließen. Der vorliegende Band setzt hier an und versammelt Beiträge, die die Einbindung der Beschäftigten im Sinne von Beteiligung und Mitsprache – kurz: Workers’ Voice – bei der Durchsetzung von Sozialstandards in globalen Lieferketten untersuchen. Die Beiträge bieten ausgewählte Ergebnisse aus dem Projektcluster »Sicherung sozialer Standards« des von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Forschungsverbundes »Die Ökonomie der Zukunft«. Das Buch gibt so wichtige Hinweise darauf, wie eine erfolgreiche Umsetzung des Lieferkettengesetzes gelingen kann. Zu diesem Zweck fragen wir: Auf welche Weise und mit welchen Möglichkeiten können Arbeitnehmer*innen ihre Interessen an Sozialstandards in multinationalen Unternehmen und den von ihnen organisierten Wertschöpfungsketten zum Ausdruck bringen und in einem zweiten Schritt auch durchsetzen? Zur Beantwortung dieser Leitfrage lohnt es, zunächst einen Blick auf globale Lieferketten zu werfen und deren Bedeutung für die Einhaltung von Sozialstandards zu beleuchten. Globale Lieferketten entstehen aus grenzüberschreitenden Vertragsbeziehungen zwischen Unternehmen auf verschiedenen Wertschöpfungsstufen auf dem Weg zum Endprodukt, d. h. von den Stufen der Rohstoffgewinnung und der Herstellung von Vorprodukten bis hin zur letzten Stufe, der Auslieferung von Fertigwaren am Markt. Treiber sind multinationale Unternehmen, die ihre Produktionsaktivitäten an Unternehmen in anderen Regionen und Länden verlagern und so ihre Zulieferbeziehungen neu ausrichten. Dies geschieht vor allem mit dem Ziel, Kosten zu senken – auch Arbeitskosten. Trotz ihrer Bedeutung für die Struktur der Weltwirtschaft sind Lieferketten und ihre Entwicklung im öffentlichen Diskurs lange Zeit kaum wahrgenommen worden. In Deutschland galt, geprägt von der Debatte um den Standort Deutschland seit den 1990er-Jahren, das Augenmerk zumeist der Frage der Konkurrenzfähigkeit deutscher Standorte im internationalen Wettbewerb und der Gefahr für Arbeitsplätze und Wohlstand. Die Frage nach der Qualität von Arbeitsplätzen in der Lieferkette und damit auch die
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Frage nach den Sozialstandards, die außerhalb Deutschlands für Arbeit in der Lieferkette gelten, spielte kaum eine Rolle. Diese Vernachlässigung sozialer Standards ist, die einführenden Beispiele haben es gezeigt, inzwischen einem verstärkten Interesse am Thema Lieferketten gewichen. Das liegt vor allem an zwei Entwicklungen: der Corona-Pandemie und dem Lieferkettengesetz. In der Corona-Pandemie wurde die Zerbrechlichkeit verzweigter Lieferketten offenbar, als Teile und Produkte nicht geliefert werden konnten, weil entfernte Fabriken geschlossen blieben und Transportwege blockiert waren. Offensichtlich stimmte die Wahrnehmung nicht, dass jede Produktion beliebig auf dem Globus verschiebbar ist. Zugleich zeigte sich, dass es auch aus Unternehmenssicht vorteilhaft sein kann, in Deutschland zu produzieren, d. h. in einem Land, für das gemeinhin angenommen wird, dass die Sozialstandards vergleichsweise hoch sind. Zudem wurden in der Pandemie soziale Verwerfungen deutlich. Dazu gehörten »Peitschenschlageffekte«, wonach geringfügige Schwankungen in den verkauften Beständen einzelner Marken- oder Handelsunternehmen zu großen Veränderungen der Bestellmengen führen, die ihrerseits von den Lieferanten große Anpassungen der Produktionsmenge verlangen. Ein Beispiel für dieses Phänomen war in der globalen Bekleidungsindustrie zu beobachten: Der Einbruch der Bestellungen wurde von den Textilfabriken im globalen Süden mit Entlassungen »abgefedert« – oder erheblichen Lohneinbußen bei bereits sehr niedrigen Löhnen (Anner 2022). Die Pandemie wirkte nach Scheper und Vestena (2020) wie ein »Brennglas«, in dem die Defizite in der Umsetzung von Sozialstandards in Lieferketten tatsächlich global zutage traten. So zeigte sich während der Pandemie, dass die Einhaltung von Sozialstandards in der Lieferkette nicht nur ein Problem entfernter Länder ist. Schlaglichtartig wurden in Deutschland die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen in der deutschen Fleischwirtschaft öffentlich: mangelnder Arbeits- und Hygieneschutz, überlange Arbeitszeiten, Werkverträge und Leiharbeit und eine unzureichende Unterbringung von ausländischen Beschäftigten (Kohte/Rabe-Rosendahl 2020). Diese Missstände haben den Gesetzgeber auf den Plan gerufen, der mit dem Arbeitsschutzkontrollgesetz ab 2021 die besonderen Werkvertragsarrangements in der Fleischwirtschaft beschränkt hat. Die zweite Entwicklung neben der Pandemie war politischer Natur, nämlich die Vorbereitung und Verabschiedung des deutschen Lieferketten-
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gesetzes (in voller Länge: »Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten«, auch Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz [LkSG], Deutscher Bundestag 2021). Grundgedanke des Lieferkettengesetzes ist die gesetzliche Verpflichtung multinationaler Großunternehmen, für die Einhaltung der Sozialstandards in ihrer Lieferkette Sorge zu tragen. Die Einhaltung dieser Verpflichtung wird überprüft, Verstöße können mit Strafen sanktioniert werden (siehe im Detail Scheper/Vestena/Sorg/Zajak in diesem Band). Das Lieferkettengesetz wurde im Juli 2021 vom Bundestag verabschiedet und trat zum 1.1.2023 in Kraft. Die Debatte zwischen Parteien, Gewerkschaften, Arbeitgeberorganisationen und Nichtregierungsorganisationen um das Für und Wider des Lieferkettengesetzes brachte die Sozialstandards in globalen Lieferketten ins Rampenlicht. Deutschland steht mit diesem Ansatz politischer Regelung nicht allein: Lieferkettengesetze wurden in Europa bereits in Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden und Norwegen verabschiedet. Zudem liegt der Entwurf einer Richtlinie der Europäischen Union zu Lieferketten vor. Nicht mehr nur bei gewerkschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Aktivist*innen, sondern auch im Handeln internationaler Organisationen (ILO, OECD, UNCTAD, EU) haben die weltweiten Probleme bei der Durchsetzung von Sozialstandards in der Lieferkette eine neue Dringlichkeit. Sie können nun auch in keiner Chefetage mehr ignoriert werden. Zumindest zwei bislang unbeantwortete Fragen werden die Umsetzung des Lieferkettengesetzes dennoch begleiten. Erstens: Was wird aus dem Nebeneinander von Sozialklauseln in Handelsverträgen, unternehmensbezogenen Selbstverpflichtungen, Vereinbarungen der Sozialpartner*innen wie globale Rahmenabkommen oder Zertifizierungen? Diese staatlichen, privaten und gesellschaftlichen Einzelinstrumente und Initiativen stehen bislang unverbunden nebeneinander (Haipeter et al. 2021). Hier sind das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, das Wirtschaftsministerium und das Arbeitsministerium gefordert, eine Bündelung der Kompetenzen mit einer verstärkten Kooperation mit den Stakeholdern zu verbinden, um so die Schlagkraft für die Durchsetzung der Sozialstandards zu erhöhen. Auf der Website des Bundesamts für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle zeichnen sich die Umrisse einer konkreten Umsetzung ab, die auch die Arbeitsteilung mit dem Wirtschafts- und Arbeitsministerium regelt.
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Noch wichtiger aber ist die zweite Frage: Wie genau können die Arbeitnehmer*innen als Expert*innen in eigener Sache Einfluss auf die Sozialstandards in den Unternehmen entlang der Lieferkette nehmen, um ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern? Nach dem Lieferkettengesetz sind zunächst die Unternehmen gefordert, ihre Politik und Strategie umzustellen. Es stellt sich also zuvor die Frage: Woher sollen eigentlich die Informationen kommen, auf deren Grundlage Missstände erkannt werden können? Es liegt nahe, die Beschäftigten und ihre Vertretungen direkt einzubeziehen, da sie die Verletzungen grundlegender Sozialstandards unmittelbar erfahren und so Ideen äußern können, wo und wie Abhilfe geleistet werden kann. Hilfreich zur Aufdeckung von Missständen durch die Beschäftigten können dabei neue informationstechnologische Möglichkeiten sein (Helmerich/Raj-Reichert 2021; Scheper/ Vestena/Sorg/Zajak in diesem Band) – wobei aber auch die damit verbundenen Risiken abzuwägen sind (Klausner/Heimstädt/Dobusch in diesem Band). Workers’ Voice in Lieferketten beschränkt sich aber nicht darauf, eine Informationsquelle für die Aufdeckung von Missständen zu sein. Die Beschäftigten haben weiter gehende materielle und soziale Ansprüche an ihre Arbeit und die Bedingungen, unter denen sie erbracht wird. Daher sind die Beschäftigten und ihre Vertretungen auch als vollwertige und zentrale Partner in den Unternehmen zu beteiligen; sie sind eine Quelle von Wissen und Kompetenz, auf die die Unternehmen nicht verzichten können. Folglich sind die Beschäftigten bei der Aufgabe der Sicherstellung sozialer Standards auf verschiedenen Ebenen – am Arbeitsplatz, im Betrieb und im Unternehmen – und in verschiedenen Formen – etwa durch direkte Mitsprache, durch frei gewählte Betriebsvertretungen und in kollektiven Verhandlungen – einzubeziehen und zu beteiligen. Eine grenzüberschreitende Verbindung dieser vielfältigen Stimmen aus verschiedenen Ländern und verschiedenen Unternehmen entlang von globalen Lieferketten erfordert wiederum die Zulassung und Unterstützung einer ebenso grenzüberschreitenden Organisation der Beschäftigten, sei es in Form von globalen Gewerkschaftsverbänden, sei es in Form von transnationalen Interessenvertretungen in multinationalen Unternehmen wie Europäischen oder Weltbetriebsräten oder Netzwerken aus Gewerkschaften und Nicht-Regierungsorganisationen. Kurz: Die Beschäftigten brauchen eine Stimme, und dies auf vielen Ebenen.
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Dieser kurze Blick auf das Potenzial von grenzüberschreitender Workers’ Voice zeigt zugleich eine Schwäche im deutschen Lieferkettengesetz auf: Dieses sieht nämlich eine geregelte Einbeziehung dieser vielfältigen Formen von Workers’ Voice nicht vor. Die einzige dazu getroffene Regelung lautet, dass der Wirtschaftsausschuss, der nach dem Betriebsverfassungsgesetz in Unternehmen über 100 Beschäftigte vorgesehen ist, über die Einhaltung der Sorgfaltspflicht zu unterrichten ist (Artikel 4 des LkSG ändert dafür das Betriebsverfassungsgesetz § 106 Abs. 3). Dies schafft zwar eine wichtige Informationsbasis für die deutschen Interessenvertretungen; doch gehen mit dieser Regelung weder direkte Mitbestimmungsrechte einher, die die Arbeitnehmerseite geltend machen könnte, noch wird geklärt, wie die Stimme der Beschäftigten entlang der Lieferkette – also auch aus anderen Ländern – einbezogen wird. Ohne eine ausdrückliche Beteiligung der Beschäftigten und ihrer Vertretungen ist nicht zu erwarten, dass das Lieferkettengesetz die Einhaltung oder gar Verbesserung der Sozialstandards erreichen wird. Bevor wir die hier versammelten Beiträge im Detail vorstellen, möchten wir zur weiteren Einführung in das Thema zunächst ein Schlaglicht auf das Thema Lieferketten aus der Perspektive der sozialwissenschaftlichen Literatur werfen und dabei die in der Forschungsliteratur genutzten Begrifflichkeiten erläutern. Des Weiteren werden wir die Hintergründe der Verletzung von Sozialstandards in globalen Lieferketten näher beleuchten und kurz die vielfältigen Ansätze grenzüberschreitender Arbeitsregulierung darstellen.
Globale Lieferketten in der Forschung Mit dem Begriff der globalen Lieferkette können verschiedene Forschungsstränge aus der Soziologie, den Wirtschaftswissenschaften und der Wirtschaftsgeografie verknüpft werden (Lee 2010; Fischer 2020). Diese multidisziplinäre Literatur befasst sich u. a. mit Formen der »Labour Governance« von globalen Wertschöpfungsketten (z. B. Anner 2021) und Fragen des ökonomischen und sozialen »Upgradings« in den Ländern des Südens, also der Aufwertung von Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen in globalen Wertschöpfungsketten (z. B. Gereffi/Korzeniewicz 1990). Lieferketten werden vor allem in der wirtschafts- und sozialgeografischen Literatur meist mit anderen Begriffen belegt wie »Wertschöpfungs-
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ketten« (Gereffi/Humphrey/Sturgeon 2005) oder »Produktionsnetzwerken« (Henderson et al. 2002; Coe/Dicken/Hess 2008; Yeung/Coe 2015). In der öffentlichen Debatte werden die Begriffe zum Teil synonym verwendet, doch verbergen sich dahinter unterschiedliche theoretische Ansprüche. Wertschöpfungsketten werden als grenzüberschreitende Verknüpfung einzelner Schritte der Produktion von Gütern und Dienstleistungen zwischen unterschiedlichen Unternehmen verstanden. Diese Verknüpfung wird häufig von einem sogenannten Leitunternehmen, etwa den großen Markenherstellern oder Handelsketten, initiiert und gesteuert. Eine wichtige Leistung dieses »Wertschöpfungsketten«-Ansatzes besteht darin, mehrere Typen von Wertschöpfungsketten danach zu unterscheiden, wie stark die Koordinierung der Lieferketten durch Leitunternehmen ausfällt bzw. wie groß die Autonomie und die Machtressourcen der Zulieferer in den jeweiligen Lieferbeziehungen sind (Gereffi/Humphrey/Sturgeon 2005). Das Konzept globaler Produktionsnetzwerke wurde in kritischer Abgrenzung dazu entwickelt: Wertschöpfungsketten, so das Argument, legen den Blick zu stark auf ökonomische Aspekte, liefern keine ausreichende Erklärung für die Dynamik globaler Produktion und schenken der politischen Dimension der sozialen Beziehungen in den Lieferketten zu wenig Aufmerksamkeit. Der Begriff der Produktionsnetzwerke hebt im Gegensatz Verflechtungen zwischen den am Produktionsprozess beteiligten Unternehmen, gesellschaftlichen Stakeholdern und dem Staat hervor (Yeung/Coe 2015). Für diesen Band haben wir uns entschieden, vor allem den Begriff »globale Lieferketten« prominent zu verwenden – was allerdings eine Verwendung anderer Begrifflichkeiten in den einzelnen Beiträgen dieses Bandes nicht ausschließt. Mit der Verwendung des Begriffs »globale Lieferketten« wollen wir die Relevanz des Begriffs in der Debatte rund um das deutsche Lieferkettengesetz unterstreichen. Der deutsche Gesetzgeber verwendet eine weite Definition der Lieferkette, die die mittelbaren Zulieferer einbezieht und auch inländische Lieferbeziehungen im Blick hat. Im Lieferkettengesetz bezieht sich der Begriff der Lieferkette »auf alle Produkte und Dienstleistungen eines Unternehmens. Sie umfasst alle Schritte im In- und Ausland, die zur Herstellung der Produkte und zur Erbringung der Dienstleistungen erforderlich sind, angefangen von der Gewinnung der Rohstoffe bis zu der Lieferung an den Endkunden und erfasst 1. das Handeln eines Unternehmens im eigenen Ge-
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schäftsbereich, 2. das Handeln eines unmittelbaren Zulieferers und 3. das Handeln eines mittelbaren Zulieferers.« (Deutscher Bundestag 2021, S. 2961, LkSG § 2 Abs. 5)
Hintergründe der Verletzung sozialer Standards Die Regulierung von Arbeit findet auch heute noch ganz überwiegend innerhalb der Grenzen des Nationalstaates statt. Durch nationale Gesetzgebung, Gewerkschaften, Kollektivverträge und weitere Beteiligungsrechte im Betrieb können die Beschäftigten im globalen Norden – zumindest im Prinzip – Einfluss nehmen auf die Arbeitszeit, die (Mindest‑)Entlohnung oder die Umsetzung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes. Für die Länder des globalen Südens, wohin die Produktion von den Leitunternehmen aus dem globalen Norden oft verlagert wird, gilt dies nur eingeschränkt: Hier werden die individuellen und kollektiven Sozialstandards häufig nur rudimentär eingehalten. Aufgrund der schwachen Wirtschaft geht es in der staatlichen Wirtschaftspolitik in vielen dieser Länder weniger darum, die Einhaltung von Sozialstandards in den Betrieben zu gewährleisten, als darum, für die Leitunternehmen aus dem globalen Norden ein attraktiver Liefer- und Produktionsstandort zu sein. In Verbindung mit der starken Konkurrenz zwischen vergleichbaren Ländern um Investitionen besteht deshalb die Gefahr eines Unterbietungswettbewerbs (»race to the bottom«). Durch politische Maßnahmen, die häufig im Widerspruch zur Einhaltung von Sozialstandards stehen, sollen möglichst kostengünstige Arbeitsund Beschäftigungsbedingungen für die Unternehmen hergestellt werden, um Produktion und damit Arbeitsplätze ins Land zu holen (Herr et al. 2020, siehe auch den Beitrag von Herr/Teipen/Gräf in diesem Band). Beispiele dafür sind die Sonderwirtschaftszonen, die einige Länder, darunter China und Indien, eingerichtet haben und die Sonderregelungen bei Steuern, Zöllen und den gesetzlichen Arbeitsstandards aufweisen. Unternehmen, die als Zulieferunternehmen in die globalen Lieferketten eingebunden sind, stehen unter dem Druck, die Forderungen der Endhersteller und Großkunden nach schneller, flexibler und kostengünstiger Produktion zu erfüllen. Hierauf reagieren die Zuliefererbetriebe mit niedrigen Löhnen, Steigerung der Arbeitsintensität, atypischen Arbeitsverhält-
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nissen, langen Arbeitszeiten, kurz: mit struktureller Gewalt, aber auch mit physischer und psychischer Gewalt – und indem sie die Organisierung der Beschäftigten behindern. Die Durchsetzung von Sozialstandards wird zusätzlich durch die Komplexität globaler Lieferketten erschwert. Seit der Jahrtausendwende hat die Ausgliederung einzelner Produktionsschritte und Tätigkeiten aus vormals integrierter Herstellung einen weiteren Schub erfahren. In Verbindung mit der Verlagerung ins Ausland schafft dies verzweigte und zergliederte Lieferketten (Gereffi 2010; Koos/Kattermann 2020) – was vom BDA als Argument gegen die Übernahme verpflichtender Verantwortung genutzt wird (vgl. BDA 2021, S. 1). Für die Gewerkschaften bedeutet die Unübersichtlichkeit der Lieferketten eine zusätzliche Herausforderung: Sie müssen sich jenseits ihrer Kernexpertise – Arbeitsbeziehungen in Deutschland – einen Überblick über Struktur und arbeitspolitische Auswirkungen im Ausland verschaffen. Zudem sind komplexe Lieferketten in der Regel mit einer breit ausdifferenzierten Gewerkschaftslandschaft entlang der Lieferkette verbunden. So sind in einer globalen Lieferkette Gewerkschaften unterschiedlicher Nationen, Sektoren und Branchen mit jeweils unterschiedlicher Mitgliederzahl und politischer Ausrichtung anzutreffen (Helfen/Fichter 2013; Hübner 2015). In einigen Ländern des globalen Südens sind die Gewerkschaften zudem eher schwach und stark zergliedert. Auslagerung, Verlagerung, Standortkonkurrenz und Zergliederung der Lieferkette stellen Gewerkschaften also vor die Herausforderung, transnationale Solidarität in globalen Lieferketten zu organisieren und sich um die Einhaltung sozialer Standards zu kümmern.
Ansätze grenzüberschreitender Arbeitsregulierung Spätestens seit Mitte der 1990er-Jahren hat sich ein komplexer »Public-Private-Policy-Mix« (Weiss 2013) entwickelt, d. h. ein vielgestaltiges Gemisch aus privaten, gesellschaftlichen, staatlichen und internationalen Ansätzen zur Durchsetzung der Sozialstandards in der Lieferkette (Anner 2021). Seit den 2000er-Jahren haben in diesem Gemisch vor allem die sogenannten privaten Initiativen den Ton bestimmt. Private Initiativen – wie beispielsweise Codes of Conduct, also selbst gesetzte Verhaltensregeln – werden häufig von Unternehmen angewendet, die soziale Verantwortung
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übernehmen und das nach außen zeigen wollen. Dies geschieht meist im Rahmen der Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen. Im Idealfall lassen die Unternehmen dazu Befragungen in Form von Audits bei Zulieferunternehmen durchführen, mit denen sie versuchen, Verletzungen sozialer Standards zu erheben. Auch wenn diese Initiativen der Unternehmen häufig als bloße Absichtserklärungen kritisiert werden, haben sie sich teilweise zu fortgeschrittenen Verfahren sozialer Auditierung entwickelt. Diese Entwicklung ist in einzelnen Branchen nicht ohne Wirkung geblieben. So lässt sich feststellen, dass sich in einigen Lieferketten, gerade der Textilindustrie mit ihrer weitreichenden Auslagerung der Herstellung in den globalen Süden, die Kontrolle von Sozialstandards durch Auditierungen verbessert hat. Allerdings sind viele Probleme nach wie vor ungelöst, vor allem mit Blick auf freie Gewerkschaftsgründungen und Tarifverhandlungen (Haipeter et al. 2021). Zudem ist unklar, ob und wie in den Auditierungen auch die Stimme der Beschäftigten als Informationsquelle über Verletzungen sozialer Standards zu Worte kommt. Neben diesen privaten, von den Unternehmen unternommenen Initiativen und Aktivitäten existieren auch Instrumente, die auf der Zusammenarbeit zwischen Unternehmen und mehreren Stakeholdern beruhen. Dazu gehören transnationale Vereinbarungen, die zwischen mehreren Unternehmen und mehreren Stakeholdern – wie Gewerkschaften, Nicht-Regierungsorganisationen und Regierungen – ausgehandelt werden (Ashwin et al. 2020). Die zwei prominentesten Beispiele für solche Multistakeholder-Initiativen beziehen sich auf die Textilindustrie in Bangladesch. Sowohl der »Accord on Fire and Building Safety in Bangladesh« (Accord) als auch die »Action Collaboration Transformation«-Initiative (ACT) sind nach dem Einsturz des Rana-Plaza-Gebäudes in Bangladesch im Jahr 2013, der mit seinen vielen Todesfällen als einschneidende Erfahrung die Gefährdung von Arbeitsstandards in Lieferketten offenbarte, ins Leben gerufen worden. Die Initiativen unterscheiden sich aber hinsichtlich ihrer Verbindlichkeit und der beteiligten Akteure – und dem Stellenwert, der in ihnen der Stimme der Beschäftigten beigemessen wird. Im Vergleich zu diesen wenigen Multistakeholder-Initiativen weisen Instrumente, die bilateral zwischen Unternehmen und Arbeitnehmervertretungen vereinbart werden, eine weit größere Verbreitung auf. Dies gilt vor allem für globale Rahmenabkommen, die auf freiwilliger Basis vor-
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nehmlich zwischen multinationalen Unternehmen und globalen Gewerkschaftsverbänden abgeschlossen werden. In globalen Rahmenabkommen haben die Beschäftigten schon deshalb eine Stimme, weil sie von ihren Repräsentanten in Gestalt der globalen Gewerkschaftsverbände initiiert und ausgehandelt wurden. Aktuell finden sich solche Vereinbarungen in gut 100 Unternehmen, doch ist die Qualität der Regelungen gerade mit Blick auf Form und Umfang der Einbeziehung der Workers’ Voice unterschiedlich – wobei sich feststellen lässt, dass die Regelungsqualität steigt (siehe die Beiträge von Kirsch/Puhl/Rosenbohm und Casey/Fiedler/Delaney in diesem Band). Zugleich versuchen die globalen Gewerkschaftsverbände, die Zusammenarbeit und Kooperation mit den nationalen Gewerkschaften auf trans nationaler Ebene zu stärken. Dies geschieht in Form transnationaler gewerkschaftliche Netzwerke, die teilweise mit dem konkreten Ziel eingerichtet werden, ein globales Rahmenabkommen auszuhandeln, und die in einigen Fällen von den Unternehmen anerkannt werden (Davies/Williams/ Hammer 2011). Die Netzwerke weisen in ihrer Form und in der Art und Weise der Einbeziehung der Beschäftigten bei der Einhaltung von Sozialstandards große Unterschiede auf (Bourque et al. 2021). Einige bilaterale Vereinbarungen zielen überdies auf die Einrichtung von Weltbetriebsräten ab (Emons et al. 2021). Über diese Initiativen hinaus kooperieren Gewerkschaften und globale Gewerkschaftsverbände verstärkt mit Konsumenten und Nicht-Regierungsorganisationen. Gemeinsam durchgeführte Kampagnen richten sich dabei nicht mehr nur allein an die Leitunternehmen, sondern zum Teil auch direkt an deren Zulieferer (Amaeshi/Osuji/Nnodim 2008). Sowohl die privaten als auch die bilateralen und die Multi-StakeholderInitiativen basieren zumeist auf den Sozialstandards, die von transnationalen Organisationen ausgearbeitet wurden. Dies gilt für die Definition der industriellen Menschenrechte durch die Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO, engl. ILO), aber auch für die daraus abgeleiteten Prinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte der Vereinten Nationen – beispielsweise im UN Global Compact – und für die Leitsätze für multinationale Unternehmen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Handelsabkommen, die zwischen Staaten abgeschlossen werden, enthalten teilweise eine Bezugnahme auf diese Sozialstandards. Die UN-Leit-
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prinzipien und die OECD-Leitsätze zielen dabei explizit auch auf die soziale Nachhaltigkeit in der Lieferkette ab (Emons et al. 2021, siehe auch Beitrag von Emons/Fulda/Klengel in diesem Band). In Deutschland hat der Versuch eines staatlich koordinierten Dialogprozesses zwischen multinationalen Unternehmen und verschiedenen Stakeholdern zur Umsetzung der UN-Leitprinzipien einen wichtigen Impuls für die Einführung eines Lieferkettengesetzes gegeben. So wurde im Jahr 2016 ein Nationaler Aktionsplan eingesetzt, der die Umsetzung der Prinzipien bei deutschen Großunternehmen prüfen sollte (BMAS 2020). Ein bundesweites Monitoring der Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten zeigte, dass die Selbstverpflichtung der Unternehmen nicht funktionierte (Auswärtiges Amt 2020) – eine gesetzliche Lösung, das stand schon im Koalitionsvertrag der Großen Koalition, wurde nötig.
Die Beiträge in diesem Band Die Beiträge behandeln zum einen den Erkenntnisstand hinsichtlich der »Governance« von globalen Lieferketten, zum anderen beleuchten sie die Potenziale und Risiken aktueller Entwicklungen aus unterschiedlichen Perspektiven und Forschungsdisziplinen. Eine Gemeinsamkeit der Beiträge ist ihre zukunftsorientierte Ausrichtung. Sie zeigt sich daran, dass die Beiträge soziale und technologische Innovationen im Zusammenhang mit der Beteiligung von Beschäftigten betrachten. Zudem machen die Beiträge deutlich, wie unternehmensbezogene Formen der grenzüberschreitenden Arbeitsbeziehungen durch das Zusammenspiel von unterschiedlichen Beteiligten unterstützt werden können, wenn sie die Partizipation und Einbeziehung der Beschäftigten in den Vordergrund rücken. Gegliedert ist der Sammelband in drei Themenblöcke. Der erste Block setzt sich mit globalen Abkommen auseinander, wie sie von multinationalen Unternehmen mit weiteren Akteuren abgeschlossen werden. Da globale Abkommen einen zentralen Ansatzpunkt der transnationalen Arbeitsregulierung darstellen, ist der Blick auf die Entwicklung und Umsetzung dieses Instrumentes besonders aufschlussreich. Anja Kirsch, Carolin Puhl und Sophie Rosenbohm bilanzieren den aktuellen Stand der globalen Rahmenabkommen, sowohl mit Blick auf die
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quantitative als auch die qualitative Entwicklung dieser Art von Vereinbarungen. Sie fragen, welche Regelungen zur Umsetzung in die Praxis in den Rahmenabkommen enthalten sind und inwiefern sich diese Regelungen auch auf die Lieferkette erstrecken. Zwei wichtige Befunde: Erstens enthält die Gesamtheit der Abkommen eine Fülle von Maßnahmen zur Umsetzung der in den Texten benannten Arbeitsstandards, bei denen die Gewerkschaften explizit eingebunden sind. Diese Maßnahmen schließen aber erst in wenigen Fällen die Lieferkette mit ein. Zweitens zeigt sich, dass die Entwicklung globaler Rahmenabkommen in Bezug auf die Gesamtzahl globaler Unternehmen zwar stagniert, gleichzeitig aber bei den fortlaufenden Vereinbarungsprozessen eine qualitative Vertiefung der Vereinbarungstexte festzustellen ist: Neu ausgehandelte Vereinbarungen beinhalten nun neben der Aufzählung von Sozialstandards wie den ILO-Kernarbeitsnormen häufiger Prozessnormen, also Regelungen, die die Umsetzung und Überwachung der Abkommen selbst regeln und dabei auch die Einbeziehung der Stimme der Beschäftigten in entsprechenden Verfahren sicherstellen. Untermauert wird dieser Befund durch die Betrachtungen von Cathe rine Casey, Antje Fiedler und Helen Delaney, die sich die Implementierung von globalen Rahmenabkommen deutscher Unternehmen im asiatischpazifischen Raum und Faktoren, die ihre Umsetzung beeinflussen, näher ansehen. Aus ihrer Sicht leisten die Rahmenabkommen einen Beitrag dazu, soziale Innovationen bei der Beteiligung von Beschäftigten anzustoßen, etwa erste Kollektivverhandlungen oder Konsultationen mit den Beschäftigten – und zwar auch, wenn landesspezifische Besonderheiten wie das lokale Arbeitsrecht oder kulturelle Normen dem entgegenstehen. Die Unterschiede zwischen den untersuchten Fallunternehmen verweisen auf die besonderen Herausforderungen, solche Innovationen in der Mitbestimmung vor Ort zu verwirklichen. Ein zweiter Block an Beiträgen befasst sich mit der Frage der Verbindung von informationstechnologischen Neuerungen und der Durchsetzung von Sozialstandards in Lieferketten. Hier geht es um die Chancen und Risiken, die mit der Nutzung verbunden sind. Christian Scheper, Carolina Vestena, Christoph Sorg und Sabrina Zajak zeigen, wie sogenannte digitale »Worker Voice Tools« dabei helfen können,
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die Vorschriften des Lieferkettengesetzes mit Leben zu erfüllen. Konkret betrachten die Autor*innen Möglichkeiten und Grenzen, im brasilianischen Kaffeeanbau mithilfe digitaler Lösungen eine wirksame Beteiligung der betroffenen Beschäftigten entlang weit verzweigter Lieferketten zu initiieren. Einerseits können digitale Beschwerdewege direkte Kanäle öffnen, die Datensammlung und Risikobeurteilung ermöglichen, andererseits besteht die Gefahr, dass die Instrumente eingesetzt werden, um die Verantwortung für die Einhaltung von Sozialstandards an den Beginn der Lieferkette in den globalen Süden zu verschieben, statt Verletzungen zu verringern. Aus ihrer Betrachtung leiten die Autor*innen einen Katalog von Anforderungen ab, den digitale Worker Voice Tools erfüllen sollten, damit sie einen Beitrag zur Durchsetzung der Beschäftigtenrechte und Sozialstandards leisten können. Lukas Klausner, Maximilian Heimstädt und Leonhard Dobusch zeigen sowohl die Potenziale als auch die Risiken informationstechnischer Lösungen für Workers’ Voice auf, indem sie die algorithmische Konfliktvorhersage durch die Auswertung von Daten der Sozialen Medien beleuchten. Auch hier geht es um ein Dilemma digitaler Lösungen: Einerseits bieten Social-Media-Plattformen neue Möglichkeiten für Workers’ Voice, indem global verteilte Beschäftigte Standard- und Rechtsverletzungen auf eine Weise sichtbar machen können, die analoge Möglichkeiten der klassischen Interessenvertretung nicht bieten. Digitale Beschwerden und Hinweise auf Missstände können dann beispielsweise in Kampagnen einfließen oder von bestehenden Vertretungsgremien aufgegriffen werden. Andererseits bieten bereits erste Unternehmen eine sogenannte »predictive risk intelligence« an, in der Daten von Social-Media-Plattformen ausgewertet werden, um Konflikte – beispielsweise Arbeitsniederlegungen – vorherzusagen. Es besteht die Gefahr, dass Whistleblower persönliche Nachteile erleiden, sodass sich die Verletzung von Beschäftigtenrechten auch im digitalen Raum reproduzieren kann. Der dritte Block des Sammelbandes beschäftigt sich mit der Frage, welche Bedeutung globalisierten Lieferketten für die Durchsetzung weltweiter Arbeitsstandards zukommt, und gibt einen Überblick über die vielfältigen transnationalen Regelungen zur Umsetzung sozialer Standards und die Einflussmöglichkeiten der Beschäftigten auf ihre Gestaltung und Umsetzung.
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Hansjörg Herr, Christina Teipen und Helena Gräf nehmen eine Makroperspektive ein. Sie untersuchen, inwiefern die Einbindung in globale Lieferketten im globalen Süden zu einem ökonomischen und sozialem Upgrading führt – oder sogar für ein Downgrading verantwortlich ist. Aus ihren Forschungen zu den pandemiebedingten Krisenreaktionen in einzelnen Standortländern der Automobilindustrie leiten sie ab, dass globale Initiativen ohne die Akteure vor Ort kaum Wirkungen zur Verbesserung entfalten können. Die Autor*innen stellen in diesem Zusammenhang die zentrale Bedeutung der lokalen Arbeitsbeziehungen heraus: Ohne gewerkschaftliche Organisation vor Ort gelingt es in den Ländern des Südens kaum, die aus der Einbindung in globale Lieferketten erwachsene ökonomische Integration auch in Initiativen zu einer Verbesserung der Sozial- und Arbeitsstandards umzumünzen. Der Beitrag von Oliver Emons, Barbara Fulda und Ernesto Klengel schließlich beleuchtet den rechtspolitischen Diskurs und die Vielfalt der Regelungen, die zur Wahrung von Sozialstandards in der Lieferkette beitragen sollen. Er bietet einen Überblick über bisher entwickelte völkerrechtliche Normen sowie staatliche und private Regelungsansätze – von Richtlinien zu »Corporate Social Responsibility« über Transparenzvorschriften und globale Rahmenabkommen bis hin zur Lieferkettengesetzgebung. Die Autor*innen untersuchen, mithilfe welcher Mechanismen die rechtlichen Instrumente wirksam werden können und inwiefern die Beschäftigten deren Gestaltung und Umsetzung beeinflussen können. Es zeigt sich, dass eine Lieferkettengesetzgebung andere Regelungsinitiativen nicht ersetzt, sondern ergänzt und stärkt. Der sich abzeichnende Mix legt eine Konsolidierung und Zusammenführung verschiedener Ansätze nahe, die den vielfach beklagten »regulatory gap« zwischen formaler Regelsetzung und praktischer Umsetzung überwinden kann. Die Beiträge dieses Bandes liefern einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand zur Durchsetzung von Sozialstandards in der Lieferkette. Sie zeigen, dass die dauerhafte Verbesserung der Situation nicht allein durch einzelne Gesetze gelingen kann, so wichtig diese als Voraussetzung auch sind. Die Durchsetzung von Sozialstandards in der Lieferkette erfordert vielmehr die konkrete Umsetzung weiterer sozialer Innovationen und die Zusammenarbeit zwischen privaten, staatlichen und gesellschaftlichen Akteuren.
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Thomas Haipeter, Markus Helfen, Christine Üyük
Die politische, unternehmerische und gesellschaftliche Aufmerksamkeit für die Verletzung von Sozialstandards entlang der Lieferkette ist geweckt. Eine Verbesserung ist aber erst dann möglich, wenn die Stimme der Beschäftigten gehört wird. Dafür zeigt dieser Band Handlungsmöglichkeiten auf.
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Einführung
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Thomas Haipeter, Markus Helfen, Christine Üyük
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Einführung
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Globale Rahmenabkommen als Werkzeug zur Regulierung von Arbeitsstandards in Lieferketten? Ein Überblick über die Verbreitung von globalen Rahmenabkommen und ihre Umsetzungsregeln Anja Kirsch, Carolin Puhl, Sophie Rosenbohm
1. Einleitung Kinder- und Zwangsarbeit, Diskriminierung im beruflichen Alltag aufgrund von Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit oder Glauben und die Verwehrung des Rechts auf Vereinigungsfreiheit und Kollektivverhandlungen sind im 21. Jahrhundert weiterhin Teil der Arbeitsrealität vieler Menschen, die für multinationale Unternehmen und deren Zulieferer tätig sind. Globale Rahmenabkommen (GRA), mittels derer sich multinationale Unternehmen dazu bekennen, grundlegende Arbeitsstandards einzuhalten, sind ein wichtiges Regulierungsinstrument, um solchen Verstößen gegen Arbeitsstandards entgegenzuwirken. Anders als einseitig von der Unternehmensseite bestimmte Verhaltenskodizes (Codes of Conduct) sind globale Rahmenabkommen Verträge, die zwischen einem multinationalen Unternehmen und einem globalen Gewerkschaftsverband (Global Union Federation) geschlossen werden. Damit sind sie ein Instrument, das explizit Gewerkschaften in die Setzung und Ausgestaltung solcher unternehmensbezogenen Erklärungen einbezieht. Globale Rahmenabkommen unterscheiden sich von Codes of Conduct außerdem dadurch, dass sie prozedurale Regeln festlegen, anhand derer die Einhaltung von Arbeitsstandards überwacht und auftretende Konflikte gelöst werden sollen. An diesen Prozessen sind das Unternehmen und die Arbeitnehmervertretungen beteiligt (Schömann et al. 2008). In diesem Beitrag beantworten wir drei Kernfragen:
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Anja Kirsch, Carolin Puhl, Sophie Rosenbohm •
•
•
Wie hat sich die Verbreitung der globalen Rahmenabkommen insgesamt entwickelt? Welche prozeduralen Regeln sind zur Umsetzung der in den globalen Rahmenabkommen benannten Rechte in den Vereinbarungstexten enthalten? Inwiefern berücksichtigen die Vereinbarungstexte die Einhaltung von Arbeitsstandards in Lieferketten?
Was die Verbreitung von globalen Rahmenabkommen betrifft, weisen bereits vorliegende Studien (Dehnen 2014; Hadwiger 2018; Papadakis 2011; Telljohann et al. 2009) auf eine hohe Entwicklungsdynamik in Bezug auf den Abschluss solcher Vereinbarungen hin. Allerdings beziehen sie sich größtenteils auf die Entstehungsphase der globalen Rahmenabkommen und deren Entwicklung bis Mitte der 2010er Jahre. Nur wenige Studien, wie z. B. die Analyse von Rehfeldt (2021), nehmen aktuellere Entwicklungen in den Blick. In jener Studie wird eine Stagnation bei der Verbreitung von globalen Rahmenabkommen festgestellt. Doch wie sind solche Entwicklungen einzuschätzen, wenn nicht nur die quantitative Verbreitung, sondern auch die inhaltliche Ausgestaltung der Vereinbarungen und ihre Weiterentwicklung im Zeitverlauf in den Blick genommen werden? In unserem Beitrag geben wir daher nicht nur einen Überblick über die aktuelle Verbreitung von globalen Rahmenabkommen, sondern verbinden dies mit einer Analyse der qualitativen Entwicklung der Vereinbarungstexte. Wir zeigen auf, wie sich die inhaltliche Ausgestaltung der Vereinbarungstexte in Bezug auf die prozedurale Umsetzung im Zeitverlauf verändert hat. Auch wenn bereits bestehende Studien erste Einblicke in die Regelungen zur Umsetzung von globalen Rahmenabkommen bieten (Hadwiger 2018), fehlen bislang aktuelle und detaillierte Analysen. Außerdem legen wir einen stärkeren Fokus darauf, ob und inwiefern Zulieferunternehmen in solche Umsetzungsprozesse einbezogen sind. Der Blick hierauf bietet zugleich wichtige Einblicke in bestehende Regulierungspraktiken und gibt eine Orientierung für die aktuelle politische Diskussion um die Einhaltung von Arbeitsstandards entlang von Lieferketten. Unser Beitrag ist wie folgt gegliedert: Wir beginnen mit einer Übersicht zur aktuellen Verbreitung von globalen Rahmenabkommen und stellen die wichtigsten Entwicklungstrends vor (Abschnitt 2). Daran anknüpfend
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Globale Rahmenabkommen als Werkzeug zur Regulierung von Arbeitsstandards?
nehmen wir die Inhalte der Vereinbarungen genauer in den Blick, bevor wir die prozeduralen Regelungen zur Umsetzung der Vereinbarungen in den unterzeichnenden multinationalen Unternehmen und bei ihren Zulieferern analysieren (Abschnitt 3). In Abschnitt 3.6 erweitern wir schließlich unsere Perspektive und werfen einen Blick auf die Entwicklung der Vereinbarungsinhalte im Zeitverlauf. Abschnitt 4 fasst die zentralen Erkenntnisse zusammen und zeigt weitere Perspektiven auf.
2. Überblick über die Verbreitung globaler Rahmenabkommen Um einen Überblick über die Verbreitung globaler Rahmenabkommen zu bekommen, haben wir – anknüpfend an eine frühere Bestandsaufnahme (Fichter/Helfen/Sydow 2011) – die verfügbaren Informationen und Vereinbarungstexte durch Anfragen und Recherche auf den Websites der globalen Gewerkschaftsverbände gesammelt und die früheren Befunde aktualisiert. Für unsere Analyse definieren wir globale Rahmenabkommen als Vereinbarungen zwischen einem multinationalen Unternehmen und einem oder mehreren globalen Gewerkschaftsverbänden, wenn sie eine globale Gültigkeit haben und sich auf internationale Arbeitsstandards beziehen (Fichter/Stevis/Helfen 2012). Demnach haben wir Abkommen von unserer Analyse ausgeschlossen, die keine globale, sondern lediglich regionale Gültigkeit haben. Hierzu zählt beispielsweise das zwischen dem globalen Gewerkschaftsverband für die Lebensmittelindustrie (IUF) und dem Unternehmen Chiquita abgeschlossenen Rahmenabkommen für die Beschäftigten in der lateinamerikanischen Bananenproduktion. Außerdem haben wir solche Vereinbarungen aus unserer Analyse ausgeschlossen, die zwischen einem globalen Gewerkschaftsverband und einer Organisation, die kein multinationales Unternehmen im engeren Sinne ist, abgeschlossen wurden. Ein Beispiel hierfür ist das »Memorandum of Understanding« zwischen der IUF und dem staatlichen finnischen Alkoholmonopol Alko. Schließlich haben wir uns auf solche Abkommen konzentriert, die sich auf ein einzelnes multinationales Unternehmen beziehen. Damit bleiben sogenannte Multistakeholder-Abkommen außen vor, die sich unter anderem durch eine komplexere Akteurskonstellation aus mehreren Unternehmen, staatlichen Institutionen, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisa-
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Anja Kirsch, Carolin Puhl, Sophie Rosenbohm
tionen auszeichnen (vgl. hierzu und zum sogenannten Rana-Plaza-Abkommen Ashwin/Kabeer/Schüßler 2020). Nach dieser Definition konnten wir feststellen, dass seit dem Abschluss des ersten globalen Rahmenabkommens zwischen dem französischen Lebensmittelunternehmen Danone und der IUF im Jahr 1989 bis Ende 2020 insgesamt 185 globale Rahmenabkommen in 124 verschiedenen multinationalen Unternehmen abgeschlossen worden sind (siehe Abbildung 1). Insbesondere in den letzten 20 Jahren hat die Zahl abgeschlossener globaler Rahmenabkommen deutlich zugenommen. Abbildung 1: Gesamtzahl der abgeschlossenen globalen Rahmenabkommen (kumulativ, 1989–2020) 200 180 175
185
157 142
150 120
125 95
100 73 75
56 41
50 25 0
16 2
2
3
5
6
28
8
1989 1991 1993 1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017 2019
Quelle: eigene Darstellung
Durch Anfragen an die jeweiligen globalen Gewerkschaftsverbände haben wir außerdem die aktuelle formale Gültigkeit der Vereinbarungen überprüft. Ergebnis unserer Recherche ist, dass von den 185 abgeschlossenen globalen Rahmenabkommen zum Jahresende 2020 noch insgesamt 132 Abkommen gültig waren, während 53 globale Rahmenabkommen aus verschiedenen Gründen nicht mehr gültig sind: In manchen Fällen existieren die Unternehmen als solche nicht mehr, in anderen sind die Vereinbarungen ausgelaufen und wurden nicht erneuert oder aber durch neu abgeschlossene Vereinbarungen ersetzt. So zeigen unsere Recherchen, dass mittlerweile
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Globale Rahmenabkommen als Werkzeug zur Regulierung von Arbeitsstandards?
35 globale Rahmenabkommen durch entsprechende Nachfolgevereinbarungen ersetzt wurden. Von den gültigen globalen Rahmenabkommen haben 30 einen thematischen Fokus. Der Trend zum Abschluss solcher themenspezifischer Abkommen hat 2005 begonnen und sich seitdem fortgesetzt. Tabelle 1 zeigt die häufigsten Themen, die in separaten globalen Rahmenabkommen vorkommen. Sieben Abkommen gelten speziell für die Lieferketten multinationaler Unternehmen und wurden vornehmlich in der Bekleidungsindustrie (u. a. Inditex, H&M, Esprit) abgeschlossen. Tabelle 1: Aktuell gültige globale Rahmenabkommen mit thematischem Fokus Thema
Anzahl
Arbeitsstandards in der Lieferkette
7
sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz
5
Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz
4
Quelle: eigene Darstellung
Die 132 gültigen globalen Rahmenabkommen konzentrieren sich auf insgesamt 104 multinationale Unternehmen, die ihren Stammsitz größtenteils in Europa haben. Sie stammen vor allem aus Deutschland (24 Unternehmen), Frankreich (20 Unternehmen), Spanien (11 Unternehmen) und Schweden (10 Unternehmen). Deutlich seltener sind globale Rahmenabkommen hingegen in multinationalen Unternehmen mit Sitz in Nord- und Südamerika oder in Asien zu finden. Insgesamt ist die Zahl der multinationalen Unternehmen, in denen globale Rahmenabkommen existieren, im Vergleich zur Gesamtzahl aller weltweit existierenden multinationalen Unternehmen sehr gering. In manchen multinationalen Unternehmen gelten mehrere globale Rahmenabkommen gleichzeitig, worauf der Unterschied zwischen der Zahl der gültigen Abkommen und der Zahl der davon erfassten multinationalen Unternehmen verweist. Beispielsweise existiert beim französischen Telekommunikationsunternehmen Orange ein globales Rahmenabkommen zu grundlegenden Arbeitsrechten, eines zu Fragen von Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz und eines zur Gleichstellung der Geschlechter.
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Anja Kirsch, Carolin Puhl, Sophie Rosenbohm
Die aktuell gültigen globalen Rahmenabkommen betreffen nach unseren Recherchen in der Datenbank EIKON, auf den Websites und in den Geschäftsberichten der Unternehmen sowie in den Vereinbarungstexten ungefähr 13 Millionen Beschäftigte. Die meisten davon sind direkt bei den multinationalen Unternehmen beschäftigt. Bei denjenigen globalen Rahmenabkommen, die für Zulieferbetriebe gelten, haben wir – wenn möglich – die Zahl der Beschäftigten bei diesen Zulieferern ermittelt. Auch wenn diese Zahl mit Ungenauigkeiten verbunden ist, zeigt sie, dass weltweit betrachtet nur eine verhältnismäßig kleine Gruppe von Beschäftigten von globalen Rahmenabkommen erfasst wird. Zwei wichtige Aspekte sind bei der Betrachtung abgeschlossener globaler Rahmenabkommen zu beachten: Zum einen ist die insgesamt dynamische Entwicklung hinsichtlich der Zahl abgeschlossener Rahmenabkommen teilweise darauf zurückzuführen, dass multinationale Unternehmen, die bereits ein solches Abkommen abgeschlossen haben, eine Nachfolgevereinbarung oder weitere, thematisch fokussierte Rahmenabkommen abschließen. Das heißt: Auch wenn die Zahl globaler Rahmenabkommen steigt, muss die Zahl der davon erfassten Unternehmen nicht gleichermaßen steigen. Zum anderen zeigt sich, dass auch die Abspaltung von Unternehmen zur wachsenden Zahl globaler Rahmenabkommen beitragen kann. So etwa bei SCA und Essity sowie bei ThyssenKrupp und TK Elevator, wo ein neues Rahmenabkommen für den jeweils abgespalteten Unternehmensteil entstanden ist.
3. Regelungen zur Umsetzung globaler Rahmenabkommen in die Praxis Um nicht nur eine Aussage zur quantitativen Verbreitung, sondern auch zur inhaltlichen Ausgestaltung der Vereinbarungen treffen zu können, haben wir in einem weiteren Schritt die Vereinbarungstexte inhaltlich ausgewertet. Den Textkorpus für diese inhaltliche Analyse bilden die 127 Rahmenabkommen, die Ende 2020 gültig waren und in englischer Sprache vorliegen. Wir haben diese Vereinbarungstexte mit MAXQDA, einer Software zur qualitativen Datenanalyse, codiert. Für die vorliegende Analyse haben wir in jedem Vereinbarungstext Angaben zum Geltungsbereich des globalen Rahmenabkommens (innerhalb
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Globale Rahmenabkommen als Werkzeug zur Regulierung von Arbeitsstandards?
des multinationalen Unternehmens und insbesondere in Bezug auf Zulieferer und Subunternehmer) und Regelungen zur Umsetzung der im Vereinbarungstext festgelegten substanziellen Normen im ganzen Geltungsbereich codiert. Diese Regelungen beschreiben verschiedenartige Maßnahmen, z. B. dass der Vereinbarungstext den Mitarbeiter*innen an allen Standorten des multinationalen Unternehmens in lokaler Sprache zugänglich gemacht wird, dass ein Verfahren zur Beilegung von Konflikten eingerichtet wird oder dass ein jährliches Treffen zwischen dem Management des multinationalen Unternehmens und Vertreter*innen der globalen Gewerkschaftsverbände stattfindet. Bei der Codierung sind wir induktiv vorgegangen, d. h. wir haben in allen Vereinbarungstexten Textsegmente mit ähnlichen Aussagen mit einem Code versehen, der diese Textsegmente zusammenfassend beschreibt. Auf diese Weise entstanden 39 Hauptcodes, die die Regelungen zur Umsetzung zusammenfassen. Aus diesen Codes haben wir im nächsten Schritt Kategorien von Maßnahmen gebildet. Dabei lag das Augenmerk darauf, die Kernfunktionen der vielen unterschiedlichen Maßnahmen herauszuarbeiten und die Komplexität der 39 Codes zu reduzieren, ohne dabei wichtige Details zu verlieren. Als Maßnahmen der Überwachung ordnen wir alle Aktivitäten ein, die dazu dienen, Informationen über den Stand der Umsetzung eines globalen Rahmenabkommens in multinationalen Unternehmen zu erfassen. Demgegenüber geht es bei Maßnahmen der Intervention darum, die Inhalte der globalen Rahmenabkommen in den Unternehmern aktiv in die Tat umzusetzen. Die Auswertung der Vereinbarungstexte verweist zudem darauf, dass es unterschiedliche Ansatzpunkte zur Ausgestaltung des jeweiligen Vorgehens gibt: •
Zum einen sind anlassbezogene Maßnahmen zu identifizieren. Hierunter sind Vorgehensweisen zu verstehen, die greifen, wenn in Einzelfällen Verstöße gegen die im Rahmenabkommen definierten Rechte festgestellt werden. Im Zentrum der Aktivität steht also ein spezifischer Verstoß in einem bestimmten lokalen Kontext und zu einem bestimmten Zeitpunkt. Hierunter fallen beispielsweise Maßnahmen, die ein Meldesystem für solche Verstöße vorsehen und festlegen, wie dann mit diesen Beschwerden umgegangen wird.
33
Anja Kirsch, Carolin Puhl, Sophie Rosenbohm •
•
•
Wichtig ist uns die Abgrenzung zu Ad-hoc-Vorgehen: Auch anlassbezogene Maßnahmen sind regelbasiert und beinhalten Prozesse, die in den globalen Rahmenabkommen definiert sind; diese kommen aber erst beim Auftreten von spezifischen Anlässen zum Tragen. Im Gegensatz dazu wird bei einem Ad-hoc-Vorgehen spontan auf jeden Einzelfall reagiert. Dieses Vorgehen mag in der Praxis eine Rolle spielen, ist aber per Definition nicht in den globalen Rahmenabkommen zu finden. Zum anderen bezeichnen wir Vorgehensweisen als allgemeine Maßnahmen, die nicht auf spezifische Fälle bezogen sind und damit weder auf einen bestimmten lokalen Kontext noch einen einzelnen Zeitpunkt begrenzt sind. Solche Maßnahmen werden regelmäßig durchgeführt, und zwar unabhängig davon, ob ein spezifischer Verstoß gegen das globale Rahmenabkommen vorliegt oder nicht. Hierunter fallen beispielsweise Regelungen, die jährliche Treffen oder Standortbesuche festschreiben, in deren Rahmen die Einhaltung des globalen Rahmenabkommens überprüft wird. Schließlich haben wir grundlegende Maßnahmen identifiziert, die der Bereitstellung notwendiger Ressourcen und der Festlegung von Zuständigkeiten dienen. Solche Maßnahmen nehmen eine Querschnittsfunktion ein: Sie können in Bezug auf alle anderen Maßnahmen etabliert werden und präzisieren damit deren angestrebte Umsetzung in die Praxis.
Durch diese Einteilung entstehen fünf Maßnahmenkategorien: • • • • •
anlassbezogene Maßnahmen der Überwachung (Abschnitt 3.1), anlassbezogene Maßnahmen der Intervention (Abschnitt 3.2), allgemeine Maßnahmen der Überwachung (Abschnitt 3.3), allgemeine Maßnahmen der Intervention (Abschnitt 3.4) und grundlegende Maßnahmen (Abschnitt 3.5).
Tabelle 2 nennt Beispiele für diese Maßnahmenkategorien. Allerdings können einzelne Maßnahmen nicht immer eindeutig einem Typ zugeordnet werden, sodass unsere Kategorienbildung vornehmlich dazu dient, die Fülle der verschiedenen Maßnahmen übersichtlich und zugänglich darzustellen. So kann eine Maßnahme, etwa ein Treffen, in der Praxis verschiedenen Zwecken dienen und sowohl als Überwachung als auch als Intervention gelten. Ebenso enthalten auch die globalen Rahmenabkommen durchaus einen Mix verschiedener Maßnahmenkategorien.
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Globale Rahmenabkommen als Werkzeug zur Regulierung von Arbeitsstandards?
Tabelle 2: Maßnahmenkategorien zur Umsetzung globaler Rahmenabkommen
Überwachung
anlassbezogen
allgemein
Beispiel:
Beispiele:
•
eine Anlaufstelle für individuelle oder kollektive Beschwerden einrichten
•
•
Audits durchführen
•
Indikatoren zur Überprüfung definieren
•
•
Intervention
Beispiele: •
•
•
•
mehrstufige Beschwerdeverfahren einrichten Schlichter*innen und Gerichte in Beschwerdeverfahren einbeziehen das globale Rahmenabkommen aufkündigen Zulieferer sanktionieren
extern über den Stand der Umsetzung berichten Risiken analysieren
Beispiele: •
•
•
• •
•
•
grundlegende Maßnahmen
einander in regelmäßigen Treffen informieren
Beschäftigte, Zulieferer und Externe über das globale Rahmenabkommen informieren Trainings für Management und Beschäftigte zu spezifischen Inhalten des globalen Rahmenabkommens durchführen internationale Arbeitsstandards auf nationaler Ebene oder in der Branche fördern Aktionspläne etablieren Zulieferer bestärken, globale Rahmenabkommen umzusetzen Zulieferer mit Blick auf globalen Rahmenabkommen selektieren vertragliche Verpflichtung der Zulieferer auf das globale Rahmenabkommen
•
Zuständigkeiten für Überwachung und Intervention definieren
•
finanzielle Ressourcen bereitstellen
Quelle: eigene Darstellung
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Anja Kirsch, Carolin Puhl, Sophie Rosenbohm
In den folgenden Abschnitten beschreiben wir die verschiedenen Maßnahmenkategorien und führen jeweils ein Beispiel aus einem Vereinbarungstext an. Bei allen Maßnahmenkategorien haben wir überprüft, ob sie auch für die Lieferketten von multinationalen Unternehmen etabliert werden. Grundsätzlich lassen sich drei Arten unterscheiden, wie Maßnahmen für Zulieferer in den globalen Rahmenabkommen definiert werden: •
•
•
Erstens kann ein grundsätzlich auf das multinationale Unternehmen fokussiertes globales Rahmenabkommen eine Klausel enthalten, die besagt, dass das ganze Dokument neben dem multinationalen Unternehmen auch für Zulieferer gilt. Dies ist bei vier globalen Rahmenabkommen der Fall. Weiterhin wird in 88 globalen Rahmenabkommen die Gültigkeit einzelner Maßnahmen oder Textstellen für die Zulieferer benannt. Schließlich gibt es sieben globale Rahmenabkommen, die spezifisch für Zulieferer entwickelt wurden und ausschließlich für diese gelten.
Wann immer diese Arten von Maßnahmen auch für Zulieferer definiert werden, ist dies in den folgenden Abbildungen entsprechend gekennzeichnet (Abschnitte 3.1–3.5). Abschließend blicken wir auf die Verbreitung der Maßnahmen im Zeitverlauf (Abschnitt 3.6).
3.1 Anlassbezogene Überwachung der Einhaltung globaler Rahmenabkommen Maßnahmen zur anlassbezogenen Überwachung globaler Rahmenabkommen bestehen vorwiegend darin, Anlaufstellen für Beschwerden einzurichten. Dabei können Beschwerden die Interpretation des globalen Rahmenabkommens und auch dessen Umsetzung betreffen. Als Anlaufstellen kann z. B. eine spezifische Kontaktperson angegeben sein oder eine Hotline, eine E-Mail-Adresse oder ein Beschwerdesystem eingerichtet werden. Die Anlaufstellen können auch für Einzelpersonen oder ausschließlich für lokale Arbeitnehmervertretungen und das lokale Management zugänglich sein. Darunter können auch Arbeitnehmer*innen bzw. deren Vertretung und das Management von Zulieferern fallen. Häufig wird festgeschrieben, dass die beschwerdeeinreichenden Personen durch ihre Meldung keine Nachteile haben dürfen.
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Globale Rahmenabkommen als Werkzeug zur Regulierung von Arbeitsstandards?
Beispiel aus den Vereinbarungstexten »In addition, all the workers and trade unions of the Siemens Gamesa Group and those of their suppliers, subcontractors and business partners will have the possibility to report any non-compliance with or violation of the provisions of this agreement via a whistleblowing system/hot line […]. Under no circumstances will such a reporting be detrimental to the worker and/or the trade union.« Aus dem globalen Rahmenabkommen zwischen Siemens Gamesa und Indus triALL (2019, S. 10) Lediglich 40 von 127 globalen Rahmenabkommen enthalten eine Aussage darüber, wie betroffene Akteur*innen einen wahrgenommenen Bruch des Abkommens offenlegen können. Demnach nutzt weniger als ein Drittel der Abkommen Maßnahmen der anlassbezogenen Überwachung. 30 dieser Abkommen gehen darauf ein, wie Individuen auf eine etwaige Verletzung aufmerksam machen können (siehe Abbildung 2). In elf Abkommen sind die Anlaufstellen nur kollektiven Arbeitnehmervertretungen und in manchen Fällen dem Management vorbehalten. In sechs Abkommen wird nicht genauer definiert, von wem der Beschwerdekanal genutzt werden kann (»allgemeine Anlaufstelle«). Abbildung 2: Anzahl globaler Rahmenabkommen mit spezifischen Aussagen zur anlassbezogenen Überwachung (N = 127) Anlaufstelle für Individuen
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Anlaufstelle für Arbeitnehmervertretung/Management
7
allgemeine Anlaufstelle
1 2
4
4
6 0
5
10
15
20
25
30
GRA ohne spezifische Gültigkeit für Zulieferer GRA mit Gültigkeit auch für Zulieferer GRA mit Textstellenbezug auf Zulieferer Zulieferer-spezifische GRA
Quelle: eigene Darstellung
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Anja Kirsch, Carolin Puhl, Sophie Rosenbohm
Nur in zwei globalen Rahmenabkommen mit Gültigkeit in multinationalen Unternehmen, also äußerst selten, wird die erwähnte Anlaufstelle für Individuen explizit für Betroffene bei Zulieferunternehmen geöffnet. Vier der Abkommen, die spezifisch für Zulieferer verhandelt wurden, erwähnen die Etablierung einer solchen Anlaufstelle. Es erscheint also eher unwahrscheinlich, dass Schwierigkeiten bei Zulieferern durch anlassbezogene Überwachung ans Licht kommen; zumindest haben Betroffene dort nicht explizit das Recht, diese Kanäle zu nutzen.
3.2 Anlassbezogene Interventionen Bei einer anlassbezogenen Intervention durchläuft ein Beschwerdeverfahren im Falle eines Konfliktes verschiedene Verantwortungsebenen – etwa von der lokalen Ebene über nationale Arbeitnehmervertreter*innen bis zum globalen Gewerkschaftsverband –, bis eine Lösung gefunden wird. Dieser Prozess kann den Einbezug von Schlichtern (u. a. der Internationalen Arbeitsorganisation ILO) und/oder von Gerichten umfassen. Kommt keine Einigung zustande, kann dies unter Umständen zur Beendigung des globalen Rahmenabkommens führen. Wenn globale Rahmenabkommen explizit anlassbezogene Interventionen im Hinblick auf Zulieferer erwähnen, wird meist erklärt, mit welchen Sanktionen (beispielsweise Abbruch der Geschäftsbeziehungen) ein betreffender Zulieferer rechnen muss.
Beispiel aus den Vereinbarungstexten »In case a local trade union affiliated to lndustriALL Global Union detects a potential breach regarding the enforcement of this Agreement within the Tchibo Non Food supply chain and its attempts to solve such breach have failed, it shall notify Tchibo and lndustriALL Global Union contact persons designated for such purposes. […] Tchibo shall in consultation with lndustriALL Global Union assess and investigate the potential breach and shall, where needed, directly address the Tchibo Non Food suppliers and producers. […] In case a breach regarding the enforcement of this Agreement has been confirmed, Tchibo and lndustriALL Global Union shall jointly develop and implement a remediation plan. […]
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Globale Rahmenabkommen als Werkzeug zur Regulierung von Arbeitsstandards?
In case the Parties are unable to reach a mutual solution that is appropriate to remedy the breach and satisfactorily to the Parties, the Parties shall agree to seek the assistance of the ILO for mediation and dispute settlement. The Parties shall agree to abide by the final recommendations of the ILO.« Aus dem globalen Rahmenabkommen zwischen Tchibo und IndustriALL (2016, S. 3) Ein Großteil der globalen Rahmenabkommen (87 von 127) enthält eine Aussage darüber, wie ein Beschwerdeverfahren abzulaufen hat (siehe Abbildung 3) – auch wenn die Detailliertheit der Ausführungen sehr unterschiedlich ausfällt, etwa was die genauen Zuständigkeiten oder den Zeitrahmen für verschiedene Verfahrensstufen angeht. Vergleichsweise selten ist der Einbezug von Schlichter*innen (34 Abkommen) oder Gerichten (4 Abkommen) und die Möglichkeit, dass das globale Rahmenabkommen gekündigt wird, sollte der Konflikt nicht gelöst werden (6 Abkommen). Abbildung 3: Anzahl globaler Rahmenabkommen mit spezifischen Aussagen zu anlassbezogenen Interventionen (N = 127) Beschwerdeverfahren Einbezug von Schlichter*innen
1 6
27
Sanktionierung von Zulieferern
19
Kündigung des GRA als letzte Maßnahme Einbezug von Gerichten
3 7
77
6 31 0
20
40
60
80
100
GRA ohne spezifische Gültigkeit für Zulieferer GRA mit Gültigkeit auch für Zulieferer GRA mit Textstellenbezug auf Zulieferer Zulieferer-spezifische GRA
Quelle: eigene Darstellung
39
Anja Kirsch, Carolin Puhl, Sophie Rosenbohm
Auch die zulieferspezifischen globalen Rahmenabkommen enthalten Bestimmungen zu Beschwerdeverfahren (7 Abkommen) und zum Einbezug von Schlichter*innen (6 Abkommen). Weiterhin gibt es im Hinblick auf Zulieferer die spezifische Maßnahme, dass ein ungelöster Konflikt mit Zulieferunternehmen zur Beendigung der wirtschaftlichen Beziehungen führen kann – insgesamt 19 Vereinbarungstexte verweisen darauf. Ein Druckmittel also, das eher selten in den Texten zu finden ist, aber der Umsetzung globaler Rahmenabkommen im Rahmen der Lieferkette sicherlich mehr Gewicht verleihen kann, wenn die Zulieferer und deren Arbeitnehmer*innen darüber informiert sind.
3.3 Allgemeine Überwachung der Einhaltung globaler Rahmenabkommen Bei einer allgemeinen Überwachung globaler Rahmenabkommen werden Prozesse etabliert, die systematisch und kontinuierlich Informationen über den Stand der Umsetzung der vereinbarten Inhalte erheben. Konkrete Maßnahmen der allgemeinen Überwachung können regelmäßige Treffen der Vertragsparteien sein, in denen Informationen ausgetauscht werden. Alternativ oder ergänzend können Audits durchgeführt werden, in deren Rahmen die Einhaltung globaler Rahmenabkommen durch unternehmensinterne Einheiten, Gewerkschaften bzw. Arbeitnehmervertretung oder Dritte systematisch aufgearbeitet wird, beispielsweise auf Grundlage von Fragebögen oder Vor-Ort-Besuchen. Hier wird in manchen globalen Rahmenabkommen auch von der Etablierung von Indikatoren gesprochen, die den Vergleich zwischen einzelnen Einheiten und über die Zeit hinweg ermöglichen. Eine weitere Maßnahme – das Offenlegen der so erfassten Informationen zur Umsetzung des Abkommens durch Berichterstattung etwa im Jahres- oder Nachhaltigkeitsbericht eines Unternehmens – zählen wir als Beitrag zur allgemeinen Überwachung, da dies die Überwachung der Entwicklungen auch durch Dritte ermöglicht. Ein interessantes Element der allgemeinen Überwachung ist eine Risikoanalyse, die potenzielle Verstöße gegen das globale Rahmenabkommen an Orten, über die keine konkreten Informationen vorliegen, oder in der Zukunft in den Blick nimmt.
40
Globale Rahmenabkommen als Werkzeug zur Regulierung von Arbeitsstandards?
Beispiel aus den Vereinbarungstexten »Danone and IUF agree to the establishment of joint monitoring of this Agreement in the Group companies. This monitoring shall consist of at least one annual specifial [sic] meeting of the IUF/Danone Steering Committee to analyse the following indicators which will be included in the annual report of financial and social indicators to all the CIC [Information and Consultation Committee] members: •
Number of accidents per business;
•
Accident frequency rate;
•
Accident severity rate;
•
Social welfare cover rate;
•
Number of cases of occupational illness;
•
Percentage of yearly appraisal interviews performed;
•
Percentage of sites having a specific health, safety and working conditions body with staff representation;
•
Percentage of sites having a medical monitoring unit.
•
Number of companies having an agreement or plan on prevention of stress and psycho-social risks.
Best practices reported to the Steering Committee shall be the subject of a presentation to the C. I. C. Exchange of best practice among sites or companies, both at management and staff representative levels, shall be encouraged.« Aus dem globalen Rahmenabkommen zwischen Danone und IUF (2011, S. 10) Die meisten Vereinbarungstexte (103 von 127) enthalten Elemente der »allgemeinen Überwachung« in irgendeiner Form. Allerdings ist die meistgenannte Form der regelmäßige Austausch in Treffen (93 Abkommen; siehe Abbildung 4). Maßnahmen wie Auditierung (33 Abkommen), externe Berichterstattung (25 Abkommen), die Entwicklung von Indikatoren (18 Abkommen) oder eine gezielte Risikoanalyse, die zentral für vorbeugende Maßnahmen wäre (12 Abkommen), werden deutlich seltener genannt.
41
Anja Kirsch, Carolin Puhl, Sophie Rosenbohm
Abbildung 4: Anzahl globale Rahmenabkommen mit spezifischen Aussagen zur allgemeinen Überwachung (N = 127) regelmäßige Treffen
85
Audits
28
Berichterstattung über Umsetzung des GRA
2 6
14
25
Indikatoren
16
Risikoanalyse
2
11 1
Auditierung / Berichterstattung 2 7 über Zulieferer 0
20
40
60
80
100
GRA ohne spezifische Gültigkeit für Zulieferer GRA mit Gültigkeit auch für Zulieferer GRA mit Textstellenbezug auf Zulieferer Zulieferer-spezifische GRA
Quelle: eigene Darstellung
Sechs der zulieferspezifischen Vereinbarungstexte gehen auf regelmäßige Treffen ein, vier benennen Audits als Maßnahmen. Eine Auditierung bzw. Berichterstattung über Zulieferer im Hinblick auf das globale Rahmenabkommen bzw. auf Arbeitsstandards wird nur in neun Abkommen explizit als Maßnahme angeführt. Es ist also davon auszugehen, dass die wenigsten multinationalen Unternehmen ein umfassendes Bild davon haben, inwiefern die im globalen Rahmenabkommen festgelegten Arbeitsstandards auch in ihren Lieferketten Anwendung finden.
3.4 Allgemeine Interventionen Als Maßnahmen der Kategorie »allgemeine Intervention« zählen wir alles, was unternommen wird, um die Inhalte globaler Rahmenabkommen systematisch und kontinuierlich zu verwirklichen, und was nicht durch das Auftreten konkreter einzelner Verstöße ausgelöst wird. Hierunter fallen präventive Maßnahmen, die entweder flächendeckend und kontinuierlich
42
Globale Rahmenabkommen als Werkzeug zur Regulierung von Arbeitsstandards?
oder aber auf Basis einer Risikoanalyse an bestimmten Orten bzw. zu bestimmten Gelegenheiten durchgeführt werden. Auch reaktive Maßnahmen können hier eingeordnet werden, wenn sie etwa eine programmatische Reaktion auf Verstöße darstellen, die im Rahmen der allgemeinen Überwachung festgestellt wurden – z. B. ein Bildungsprogramm für Kinder, die als Opfer von Kinderarbeit in multinationalen Unternehmen identifiziert wurden. Ein Beispiel für eine allgemeine Intervention ist außerdem, wenn Management und Arbeitnehmer*innen – oder auch externe Akteur*innen – umfassend über die Rechte und Pflichten informiert werden, die im globalen Rahmenabkommen festgehalten sind. Hinsichtlich der Festlegungen zur internen Verbreitung globaler Rahmenabkommen in multinationalen Unternehmen unterscheiden sich die Vereinbarungstexte darin, ob der Text in die jeweilige Landessprache übersetzt wird oder welche Verbreitungskanäle genutzt werden (beispielsweise Intranet, E-Mail oder als Anlage zu Arbeitsverträgen). Weitere allgemeine Interventionsmaßnahmen sind Trainingsprogramme für lokale Arbeitnehmervertretungen zu den Inhalten des globalen Rahmenabkommens. Auch das Bemühen darum, die Themen des globalen Rahmenabkommens im Kontext der gesamten Branche oder darüber hinausgehend zu fördern, um so auch die Umsetzung im eigenen multinationalen Unternehmen zu erleichtern, ist als allgemeine Intervention zu werten. Ein Beispiel hierfür ist das Engagement in Multi-Stakeholder-Initiativen. Schließlich gibt es die Möglichkeit, Aktionspläne zu einzelnen Themen aufzustellen, die systematisch und kontinuierlich umgesetzt werden, beispielsweise zu Standards des Gesundheitsschutzes bei der Gestaltung von Arbeitsplätzen, zur Förderung der Diversität in multinationalen Unternehmen oder zur Prävention sexueller Belästigung. Einige dieser Maßnahmen werden auch mit Blick auf Zulieferer genutzt, etwa wenn Zulieferer über die Inhalte globaler Rahmenabkommen aufgeklärt und aktiv bei deren Erfüllung unterstützt werden, beispielsweise durch ein angebotenes Training. Zudem weist die Analyse der Vereinbarungstexte auf das Bestehen von Maßnahmen der allgemeinen Intervention hin, die spezifisch in der Zusammenarbeit mit Zulieferern etabliert werden können. Darunter fällt, die grundsätzliche Gültigkeit eines globalen Rahmenabkommens auch für Zulieferer festzulegen, die Auswahl der Zulieferer vor dem Hintergrund ihrer Erfüllung der Kriterien vorzunehmen und die Umsetzung von Arbeitsstandards in Zulieferverträge aufzunehmen.
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Anja Kirsch, Carolin Puhl, Sophie Rosenbohm
Beispiel aus den Vereinbarungstexten »The Group undertakes to develop and implement, at each subsidiary, a prevention and action programme to prevent these practices and behaviours [any forms of harassment or violence/sexist behaviour], and to rapidly deal with any situations reported. Each subsidiary will take the necessary steps to prevent these situations and correct them, with particular attention paid to practices and harassment associated with gender. The entity will build awareness and train employees and managers both on the risks and the actions they can take to prevent and combat these practices and behaviours.« Aus dem globalen Rahmenabkommen zwischen Orange und UNI (2019, S. 18 f.) Der weitaus größte Teil der Vereinbarungstexte enthält Angaben darüber, dass direkt durch das globale Rahmenabkommen betroffene Personen über die ses zu informieren sind (100 Abkommen; siehe Abbildung 5). Seltener sind hingegen Angaben zur öffentlichen Verbreitung (26 Abkommen), die insofern wichtig sind, als diese Information betroffene Akteur*innen erst in die Lage versetzt, ihre Rechte auch einzufordern. Andere Maßnahmen wie die Bereitstellung von Trainings zum globalen Rahmenabkommen (44 Abkommen) oder das Engagement auf Branchenebene (14 Abkommen) sind ebenfalls seltener zu finden. Interessanterweise werden, verglichen mit den anderen Maßnahmenkategorien, mit Blick auf die Zulieferer verhältnismäßig viele Aussagen getroffen. Immerhin 16 globale Rahmenabkommen, die ansonsten keine Gültigkeit für Zulieferer besitzen, legen explizit fest, dass auch Zulieferer über den Abschluss des Abkommens zu informieren sind. In insgesamt 58 Vereinbarungstexten sollen Zulieferer darin bestärkt werden, das globale Rahmenabkommen umzusetzen. 44 Abkommen halten fest, dass die Auswahl von Zulieferern mit Blick auf die Erfüllung der globalen Rahmenabkommen geschehen soll. Während 33 Abkommen generelle Trainingsmaßnahmen in Bezug auf die globalen Rahmenabkommen vorsehen, sichern elf Abkommen Zulieferern explizit ein Training im Zusammenhang mit dem globalen Rahmenabkommen zu. Die vielleicht verbindlichste Maßnahme, nämlich dass die Erfüllung des Abkommens beispielsweise über einen »Supplier Code of Conduct« vertraglich festgehalten wird, ist demgegenüber jedoch nur in 14 Abkommen zu finden.
44
Globale Rahmenabkommen als Werkzeug zur Regulierung von Arbeitsstandards?
Abbildung 5: Anzahl globaler Rahmenabkommen mit spezifischen Aussagen zu allgemeinen Interventionen (N = 127) über das GRA informieren
3
76
Zulieferer bestärken, 2 GRA-Themen umzusetzen
5
37
GRA-bezogene Trainings
2 5 6
31
öffentliche Verbreitung
1
25
Fördern von Arbeitsstandards auf Branchenebene / darüber hinaus Code of Conduct / vertragliche Bindung der Zulieferer
5
1
55
Selektion von Zulieferern 2
16
11 2 1 13 0
1 20
40
60
80
100
GRA ohne spezifische Gültigkeit für Zulieferer GRA mit Gültigkeit auch für Zulieferer GRA mit Textstellenbezug auf Zulieferer Zulieferer-spezifische GRA
Quelle: eigene Darstellung
3.5 Grundlegende Maßnahmen Bei sämtlichen Maßnahmen, egal welcher Kategorie, muss früher oder später geklärt werden, wer für die Durchführung zuständig ist und wer die notwendigen finanziellen Ressourcen zur Verfügung stellt. Die Zuständigkeit kann beispielsweise beim Management des Unternehmens auf lokaler Ebene oder beim Konzernmanagement angesiedelt sein. Ebenso können Arbeitnehmervertreter*innen auf lokaler oder internationaler Ebene für verschiedene Maßnahmen zuständig sein. Auch kann die Zuständigkeit verschiedenen Akteur*innen gemeinsam zugeschrieben werden. In seltenen Fällen werden auch die Rollen von Dritten, z. B. von Expert*innen, Nichtregierungsorganisationen, Mediator*innen oder Gerichten erwähnt. Manche globalen Rahmenabkommen beschreiben genauer als andere, wie und von wem die Zuständigkeiten wahrzunehmen sind, etwa von spe-
45
Anja Kirsch, Carolin Puhl, Sophie Rosenbohm
zifischen Unternehmensabteilungen, dem Europäischen Betriebsrat (EWC) oder dem Weltbetriebsrat (WWC).
Beispiel aus den Vereinbarungstexten »Responsibility for their implementation lies with the senior management of the respective divisions, regional subsidiaries and company locations.« Aus dem globalen Rahmenabkommen zwischen Bosch und IMF (2004, S. 3)
Beispiel aus den Vereinbarungstexten »The Panel’s annual meeting shall be convened in one of the Group’s sites chosen by the parties to this agreement in the first quarter of the year. Solvay shall pay traveling and accommodation expenses incurred by the members of the Panel in addition to those related to the organization of meetings.« Aus dem globalem Rahmenabkommen zwischen Solvay und IndustriALL (2017, S. 16) Fast alle globalen Rahmenabkommen (114 von 127) benennen Zuständigkeiten für die Umsetzung verschiedener Maßnahmen, und immerhin 39 globale Rahmenabkommen treffen Aussagen darüber, wer die Kosten für Überwachung und Interventionen übernimmt (siehe Abbildung 6). Bei beidem ist zu beachten, dass die Aussagen meist nicht alle Kategorien von Überwachung und Intervention abdecken, sondern auf einzelne Aspekte begrenzt bleiben. Was die Verteilung von Zuständigkeiten angeht, scheint die gemeinsame Verantwortung von Arbeitnehmervertreter*innen und Management am häufigsten betont zu werden (bei 31 Abkommen auf lokaler Ebene, bei 86 auf internationaler Ebene). Auch die Beschäftigtenseite ist auf verschiedene Art und Weise für die Umsetzung von Maßnahmen zuständig: 26 Abkommen sehen explizit lokale Arbeitnehmervertreter*innen in der Verantwortung; sieben erwähnen einen Koordinator bzw. eine Koordinatorin, der/die verschiedene Organisationen vertritt, oder sprechen sich für die Gründung eines Gewerkschaftsnetzwerks zur Umsetzung aus; 39 weisen dem federführenden globalen Gewerkschaftsverband spezifische Zuständigkeiten zu, während andere
46
Globale Rahmenabkommen als Werkzeug zur Regulierung von Arbeitsstandards?
Abbildung 6: Anzahl globaler Rahmenabkommen mit spezifischen Aussagen zu grundlegenden Maßnahmen (N = 127) gemeinsame Zuständigkeit auf internationaler Ebene
77
auf lokaler / nationaler Ebene
26
3
6
3 2
Zuständigkeit des Managements zentrales Management
24
spezifische Abteilung / Position / Komitee
11
26
lokales / nationales Management
9
2
1
Zuständigkeit der Arbeitnehmervertretung Einbindung eines globalen Gewerkschaftsverbands
34
lokale / nationale Arbeitnehmervertretung
20
Einbindung des Europäischen Betriebsrats
1 4 1 5
25
Einbindung des Weltbetriebsrats
7
Gewerkschaftsvertreter*in oder -netzwerk
6
Einbindung der Gewerkschaften bei der Kontrolle der Zulieferer
1 2
1 1
Weitere Zuständigkeiten externe Berater*innen, Nichtregierungsorganisationen, Gerichte
14
1 2
Ressourcen Bereitstellung von Ressourcen
34
0
10
1 4
20
30
40
GRA ohne spezifische Gültigkeit für Zulieferer GRA mit Textstellenbezug auf Zulieferer
50
60
70
80
GRA mit Gültigkeit auch für Zulieferer Zulieferer-spezifische GRA
Quelle: eigene Darstellung
sich auf den Europäischen Betriebsrat (25 Abkommen) oder Weltbetriebsrat (8 Abkommen) beziehen. Ebenso wird dem lokalen Management (10 Abkommen) und dem internationalen Management (26 Abkommen) eine Zuständigkeit zugeschrieben. Dabei spezifizieren immerhin 28 globale Rahmenabkommen, welche Position, welche Abteilung oder welches Komitee für die Umsetzung zuständig ist. Externe Parteien werden hingegen sehr selten in die Umsetzung einbezogen (17 Abkommen).
47
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Anja Kirsch, Carolin Puhl, Sophie Rosenbohm
Mit Blick auf die Zulieferer gestaltet sich die Verteilung der Zuständigkeiten ähnlich wie innerhalb der multinationalen Unternehmen – allerdings fällt auf, dass die zulieferspezifischen globalen Rahmenabkommen die Beteiligung von lokalem Management, Europäischem oder Weltbetriebsrat nicht aufgreifen. In drei allgemeingültigen Vereinbarungstexten sind Gewerkschaften explizit in die Umsetzung der Abkommen in der Lieferkette einbezogen.
3.6 Entwicklung der Vereinbarungsinhalte zu Überwachung und Intervention im Zeitverlauf Wie wir in Abschnitt 2 gezeigt haben, hat die Zahl der abgeschlossenen globalen Rahmenabkommen in den letzten zwei Jahrzehnten kontinuierlich zugenommen. Aber nicht nur die quantitative Verbreitung, sondern auch die Ausgestaltung der Vereinbarungsinhalte hinsichtlich Überwachung und Intervention ist von Bedeutung, um die Entwicklung der globalen Rahmenabkommen insgesamt zu beurteilen. Daher haben wir unseren Analysefokus in einem weiteren Schritt erweitert und die Vereinbarungstexte aller bislang abgeschlossenen globalen Rahmenabkommen herangezogen, die uns vorlagen (n = 174). Wir haben die Abkommen, die vor dem Jahr 2010 unterzeichnet wurden (n = 70), mit denjenigen verglichen, die 2010 oder später abgeschlossen wurden (n = 104). Das Jahr 2010 wurde als Vergleichsmarke gewählt, da ab diesem Jahr eine neue quantitative Dynamik zu verzeichnen ist, sodass sich ein Vergleich zwischen der ersten Entwicklungsphase von globalen Rahmenabkommen mit dieser zweiten Entwicklungsphase anbietet. Deutlich wird, dass im Zeitverlauf die Zahl von globalen Rahmenabkommen und von Abkommen, die in Gänze neben dem multinationalen Unternehmen auch für die Zulieferer gelten, ansteigt. Bis auf jeweils eine Ausnahme sind diese Abkommen erst 2010 oder später abgeschlossen worden. Die Gesamtzahl solcher Vereinbarungen bleibt aber insgesamt begrenzt. Bei genauerer Betrachtung der Inhalte zeigt sich außerdem, dass der Anteil globaler Rahmenabkommen steigt, die Maßnahmen zur Überwachung und Intervention enthalten. Bei den Maßnahmen zur anlassbezoge nen Überwachung enthalten nur gut 15 Prozent der vor 2010 abgeschlossenen Rahmenabkommen Vorgaben zur Einrichtung von Anlaufstellen bei Konflikten, während der Anteil bei den ab 2010 abgeschlossenen Abkommen mit über 30 Prozent mehr als doppelt so hoch liegt.
48
Globale Rahmenabkommen als Werkzeug zur Regulierung von Arbeitsstandards?
Bei den später abgeschlossenen globalen Rahmenabkommen sind auch deutlich häufiger Maßnahmen zur allgemeinen Überwachung vorgesehen. Insbesondere der Austausch in regelmäßigen Treffen ist zu einer fest etablierten Maßnahme geworden, die rund 85 Prozent der ab 2010 abgeschlossenen globalen Rahmenabkommen vorsehen (siehe Abbildung 7). Die Verbreitung weiterer Maßnahmen wie der Entwicklung von Indikatoren (16 Prozent) oder einer Risikoanalyse (15 Prozent) hat ebenfalls zugenommen, allerdings werden diese Maßnahmen weiterhin nur bei einer Minderheit der Abkommen erwähnt. Abbildung 7: Anteil globaler Rahmenabkommen mit Maßnahmen zur allgemeinen Überwachung regelmäßige Treffen
85%
63%
Audits
20%
Berichterstattung über Umsetzung des GRA
16%
Indikatoren
16%
6%
Risikoanalyse
1%
Auditierung / Berichterstattung über Zulieferer
28%
22% ab 2010 (N = 104) vor 2010 (N = 70)
15%
7% 4% 0%
20%
40%
60%
80%
100%
Quelle: eigene Darstellung
Eine vergleichbare Tendenz zeigt sich auch hinsichtlich der Maßnahmen zur Intervention. So finden sich zum einen bei den später abgeschlossenen Vereinbarungen deutlich häufiger Angaben zu einem Beschwerdeverfahren; zum anderen zeigt sich, dass sich die Vorgaben zur internen Verbreitung globaler Rahmenabkommen in multinationalen Unternehmen fest etabliert haben; rund 84 Prozent der Abkommen, die ab 2010 abgeschlossen wurden, enthalten Vorgaben dazu (siehe Abbildung 8). Auch die Benennung von Trainingsmaßnahmen findet sich in den jüngeren Vereinbarungen deutlich häufiger. Außerdem steigt im Zeitverlauf der Anteil von Vereinbarungen, die die Vorgabe enthalten, dass auch Zulie-
49
Anja Kirsch, Carolin Puhl, Sophie Rosenbohm
Abbildung 8: Anteil globaler Rahmenabkommen mit Maßnahmen zur allgemeinen Intervention über das GRA informieren
74%
Zulieferer bestärken, GRA-Themen umzusetzen
84%
53%
27% 38% 34%
Selektion von Zulieferern GRA-bezogenes Training
38%
14%
öffentliche Verbeitung
11%
Fördern von Arbeitsstandards auf Branchenebene / darüber hinaus Code of Conduct / vertragliche Bindung der Zulieferer
6% 6% 0%
ab 2010 (N = 104) vor 2010 (N = 70)
28%
12% 12% 20%
40%
60%
80%
100%
Quelle: eigene Darstellung
ferer über das globale Rahmenabkommen informiert und zur Einhaltung internationaler Arbeitsstandards aufgerufen werden (53 Prozent ab 2010 im Vergleich zu 27 Prozent davor). Weitergehende Maßnahmen wie eine vertragliche Bindung von Zulieferern nehmen zwar zu, verbleiben aber insgesamt auf einem niedrigen Niveau.
4. Fazit Unsere Analyse zeigt, dass die Zahl der abgeschlossenen globalen Rahmenabkommen zwar zunimmt, aber insgesamt gering bleibt. Die meisten der unterzeichnenden multinationalen Unternehmen stammen aus Europa. Nach wie vor gilt, dass multinationale Unternehmen mit Sitz außerhalb Europas selten bereit sind, als Verhandlungspartner für ein Rahmenabkommen zur Verfügung zu stehen. Außerdem werden neue globale Rahmenabkommen auch in multinationalen Unternehmen abgeschlossen, die schon vorher ein Abkommen unterzeichnet hatten. Die Zunahme der Zahl der Vereinbarungstexte in den letzten Jahren ist also auch darauf zurück-
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Globale Rahmenabkommen als Werkzeug zur Regulierung von Arbeitsstandards?
zuführen, dass manche multinationalen Unternehmen mehrere globale Rahmenabkommen abschließen. Was die inhaltliche Entwicklung der globalen Rahmenabkommen angeht, verdeutlicht unsere Analyse, dass die Vereinbarungstexte eine Fülle von Maßnahmen zur Umsetzung der benannten Arbeitsstandards enthalten. Die Prozessnormen – also Regelungen darüber, wie die Inhalte der Vereinbarungen konkret umgesetzt werden und wie dies überprüft wird – wurden im Zeitverlauf immer häufiger und detaillierter in den Abkommen verankert. Durch die Etablierung solcher Prozessnormen verbessert sich die Qualität globaler Rahmenabkommen als Instrument zur Governance von Arbeitsstandards in multinationalen Unternehmen, denn es werden nicht nur Arbeitsstandards benannt, sondern auch beschrieben, wie ihre Einhaltung in den Unternehmen sichergestellt wird. Nichtsdestotrotz besteht bei der Verbreitung der identifizierten Umsetzungsmaßnahmen noch ein deutliches Entwicklungspotenzial. Insbesondere Maßnahmen, die eine stärkere Verpflichtung der multinationalen Unternehmen bedeuten, finden nur selten Erwähnung. Hierzu zählen etwa die Verpflichtung, sich dem Schiedsspruch hinzugezogener Mediator*innen oder Gerichte zu beugen, oder die Benennung von Konsequenzen für das multinationale Unternehmen selbst, wenn in der Lieferkette Verstöße gegen das globale Rahmenabkommen auftreten. Mit Blick auf die in diesem Band im Fokus stehende Frage, wie die Stimme der Beschäftigten im Rahmen der Sicherung sozialer Standards berücksichtigt werden kann, stellen globale Rahmenabkommen ein wichtiges Instrument dar – handelt es sich doch um bilaterale Vereinbarungen zwischen multinationalen Unternehmen und globalen Gewerkschaftsverbänden, die demnach schon ihrem Grundprinzip nach kollektive Interessenvertretungsakteure mit einbeziehen. Damit unterscheiden sich globale Rahmenabkommen sowohl von unternehmensseitigen Initiativen und Aktivitäten als auch von Lieferkettengesetzen, die einen solchen Einbezug der Arbeitnehmerseite in die Umsetzung und Überwachung in der Regel nicht explizit vorsehen (siehe den Beitrag von Emons/Fulda/Klengel in diesem Band). Unsere Analyse der Vereinbarungstexte unterstreicht, dass Gewerkschaften und Arbeitnehmervertreter*innen nicht nur beim Abschluss solcher Vereinbarungen von Bedeutung sind, sondern auch eine aktive Rolle für die Umsetzung in die Praxis spielen.
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Anja Kirsch, Carolin Puhl, Sophie Rosenbohm
Es zeigt sich, dass globale Rahmenabkommen dazu beitragen, die Rolle der Arbeiternehmer*innen im Kontext transnationaler Arbeitsbeziehungen zu definieren. So sind Gewerkschaften und Arbeitnehmervertreter*innen gemeinsam mit dem Management vor Ort oder am Stammsitz des multinationalen Unternehmens in die Umsetzung vieler Maßnahmen eingebunden, beispielsweise im Rahmen von gemeinsamen regelmäßigen Treffen zur Überwachung der globalen Rahmenabkommen. Damit legen die Abkommen – zumindest dem Wortlaut nach – einen Grundstein für den transnationalen sozialen Dialog innerhalb multinationaler Unternehmen. Auch die direkte Beteiligung von Arbeitnehmer*innen wird ermöglicht, wenn auch in begrenztem Umfang. Diese haben durch die Einrichtung von Anlaufstellen, die in einigen Vereinbarungen genannt sind, eine Möglichkeit, Verstöße gegen die vereinbarten Rechte zu melden. Auffällig ist, dass sich globale Rahmenabkommen selten auf die gesamte Lieferkette erstrecken. Eine neue Entwicklung sind zwar Abkommen von Leitunternehmen (beispielsweise in der Bekleidungsindustrie) als Ins trument zur Regulierung von Arbeitsstandards in ihren globalen Lieferketten – in solchen Fällen gelten die Abkommen auch für Zulieferer oder globale Rahmenabkommen werden ausdrücklich für Zulieferunternehmen entwickelt. Aber globale Rahmenabkommen, die in Gänze für Zulieferer gelten, bleiben bislang die Ausnahme. Allerdings ist eine Zunahme von Vereinbarungstexten zu erkennen, die sich mit Blick auf einzelne Maßnahmen explizit auf Zulieferer beziehen. Meist sehen solche Bestimmungen vor, dass auch Zulieferer über das globale Rahmenabkommen zu informieren sind; gelegentlich sind auch Maßnahmen zur Unterstützung von Zulieferern bei der Umsetzung von Arbeitsstandards, beispielsweise durch Trainingsmaßnahmen, zu finden. Außerdem gibt es einige Maßnahmen, die ausschließlich für Zulieferer gelten, wie etwa die Aufforderung, eine Erklärung über die Einhaltung bestimmter Arbeitsstandards abzugeben, oder die von dieser Einhaltung abhängige Auswahl von Zulieferern. Diese Form der Erwähnung von Zulieferern bleibt aber punktuell und vage hinsichtlich der Konsequenzen. Die Beteiligung von Arbeitnehmer*innen in der Lieferkette bzw. deren Vertretungen wird kaum geregelt. Insgesamt zeigen diese Entwicklungen, dass globale Gewerkschaftsverbände und multinationale Unternehmen erste Ansätze entwickelt haben, um das Instrument globaler Rahmenabkommen für die Umsetzung von Arbeits-
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Globale Rahmenabkommen als Werkzeug zur Regulierung von Arbeitsstandards?
standards in globalen Lieferketten zu nutzen und die Einhaltung zu überprüfen. Allerdings bestehen zwei Herausforderungen für Gewerkschaften: Erstens bleibt unklar, inwieweit die entwickelten Maßnahmen tatsächlich in die Praxis umgesetzt werden, denn eine Verankerung in den Texten bedeutet noch nicht, dass die Maßnahmen auch »gelebt« werden. Beispielsweise bleibt unklar, ob die beschriebenen regelmäßigen Treffen zur Überwachung der Abkommen in der Praxis durchgeführt werden. Ebenso geht aus unserer Analyse nicht hervor, ob Arbeitnehmer*innen ihre Rechte tatsächlich kennen und bei Verstößen die benannten Anlaufstellen aufsuchen. Weitere Forschung kann die Umsetzungspraxis verstärkt in den Blick nehmen. Zweitens zeigt unsere Analyse, dass globale Rahmenabkommen nur in einer Nische existieren, die nicht deutlich größer wird. Ein Ansatzpunkt, um die Verbreitung zu fördern, wäre es, bei der Weiterentwicklung des Lieferkettengesetzes eine sogenannte offene Verfahrensregulation einzuführen, die den Abschluss von globalen Rahmenabkommen verbindlich macht. Dies würde zugleich dazu beitragen, die Stimme der Beschäftigten dauerhaft in der Umsetzung des Lieferkettengesetzes verankern.
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Global Framework Agreements in practice Effects and challenges in German companies’ Asia-Pacific entities Catherine Casey, Antje Fiedler, Helen Delaney
1. Introduction Global Framework Agreements (GFAs) in transnational industrial relations aim to ensure, at minimum, that the core labour standards of the International Labour Organisation (ILO) are enacted and that robust transnational social dialogue including collective bargaining is developed throughout the global operations and suppliers of a multinational corporation (MNC). Research to date indicates that multinational corporations vary widely in the implementation and dissemination of their agreements throughout their dispersed global operations. Questions regarding factors of generating and sustaining effectiveness and expansive application of Global Framework Agreements remain. This chapter contributes some response to those questions. It reports and discusses findings from the authors’ empirical investigation of the application of Global Framework Agreements in multinational corporations headquartered in Germany and their subsidiary entities in Asia-Pacific contexts. It is first useful to outline some background remarks regarding the development of Global Framework Agreements and some key points of discussion in contemporary debates. From there, we introduce the empirical study, discuss findings and raise further questions. Global Framework Agreements are interventions designed and undertaken by Global Union Federations (GUFs) in cooperation with global multinational corporations. Global Union Federations are constituted by affiliated national trade unions typically organized by industry sectors (Ford/ Gillan 2015). They undertake Global Framework Agreements with the
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Catherine Casey, Antje Fiedler, Helen Delaney
headquarters of multinational corporations. They are supported in those undertakings by unions in the headquarters of multinational corporations and European Works Councils, which in some cases are also signatory parties to a Global Framework Agreement. Early Global Framework Agreements focused mostly on securing ILO core labour standards, collective bargaining rights, and workers’ safety (Fichter/Helfen/Sydow 2011; Hammer 2005; Schömann et al. 2008; Telljohann et al. 2009). A second generation of Global Framework Agreements has strengthened content development, shared responsibility demand and increased capacity potential (ILO 2019; Mustchin/Martinez-Lucio 2017; Platzer/Rüb 2014). Recent agreements apply globally throughout the multinational corporation and its supply network and include more extensive joint monitoring and compliance measures (Hadwiger 2015; ILO 2019). Appraising effectiveness of Global Framework Agreements is notably difficult and usually attempted on a case-by-case basis (Papadakis 2011). Global Framework Agreements have been shown to initiate and sustain organizing and bargaining procedures and to enforce corporate social responsibility (CSR) initiatives and compliance at the subsidiary level (Bourguignon/Garaudel/Porcher 2020; Lévesque et al. 2018) and among suppliers and contractors (ILO 2018; 2019; Platzer/Rüb, 2014). Multiple factors affect that activation, including the quality of information and communication, training, and monitoring systems (Papadakis 2011), network communications (Fichter/Helfen/Sydow 2011; Helfen/Sydow 2013), institutional frictions and strategic interests (Bourguignon/Garaudel/Porcher 2020; Helfen/ Schüßler/Botzem 2015), and actor competencies and moral capital (Casey/ Delaney/Fiedler 2021; Lévesque et al. 2018). Poor local management engagement (Williams/Davies/Chinguno 2015) and transnational firm complexities and dynamic (sometimes illegal) relations with some suppliers are important obstructive factors (Sobczak 2012). The challenging questions of the enactment and effectiveness of Global Framework Agreements invite multi-perspectival research into their onthe-ground course.
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2. Empirical study We conducted an empirical study of transnational social dialogue including Global Framework Agreements of multinational corporations headquartered in Germany and operating in multiple regions of the Asia-Pacific region. We focused on large global companies operating in sectors of industrial technology, pharmaceuticals, energy, and transportation. The companies own (typically wholly) scores of production subsidiaries and engage an unknown number of diversely structured and linked supplier entities in the Asia-Pacific regions. Hundreds of thousands of workers are implicated. All companies (whose names are withheld) have many years of experience in Asia-Pacific operations. The population of companies, rather than individual companies, with active Global Framework Agreements is our focus in inquiring into factors of effectiveness at the local level. Our data is drawn from actors with primary experience (e. g. who worked or interacted locally or transnationally) of six multinational corporations operating widely across the Asia-Pacific region. Respondents’ primary experience pertains to China, India, Indonesia, Malaysia, and South Korea. These countries possess diverse socio-cultural heritages, institutions, and political backgrounds. We acknowledge and respect that complexity and underscore its contextual influence. But we necessarily bracket theoretical discussion of that in this chapter. Our focus is on gaining knowledge and insights into developments in transnational social dialogue and global agreements and their outcomes and indicators in the midst of dynamic complexities. We, the authors, conducted interviews with labour (36), company (24), non-governmental organization (NGO), and expert (9) actors. Labour actors included global unions, German unions, and Asia-Pacific subsidiary company site actors. Company actors included headquarters and subsidiary managers and board members. All global union actors and headquarters union actors possessed transnational expertise; subsidiary level actors typically had regional or national experience. The interviews were conducted predominantly through virtual meetings (e. g. Zoom), a small number was conducted in-person.
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Our interpretative sociological inquiry pursued broad questions regarding respondents’ reflections on factors of transnational social dialogue or cooperative relations between management and workers. Specifically, we enquired into what on-the-ground actors regard as effective and what practices and relationships are changed, initiated, developed, and sustained through the Global Framework Agreement. We sought to identify factors of facilitation, hindrance, and creativity in the development of transnational voice. Our data analysis identified three thematic clusters of findings emerging into view and horizon. We label these as 1) primary effectiveness, 2) capacity development, and 3) salient challenges.
2.1 Primary effectiveness We stress that to European observers – labour, management, or scientific researchers alike – elements of what we call primary effectiveness are likely to appear basic or of low importance. Conversely, adopting a lens angled to the recognition of institutional histories, political economies, and contemporary conditions of many Asia-Pacific emerging market economies, and listening to actors on the ground in those contexts, acutely sharpens attention to the value and potency of global institutional intervention. Actions on the part of transnational actors, collective and personal, emanating from (relatively) well-resourced origins such as Global Union Federations, headquarters unions and works councils, or European supported NGOs, are received with cultural hospitality and, moreover, with keen learning receptivity. A Global Union Federation actor in India reports that “The very notion of a GFA was extremely radical when it came in […] the notion of holding a company responsible for something that can happen outside [its headquarters’ jurisdiction]. It’s an extremely important instrument” (Actor #12). Labour law in India formally declares the provision and protection of labour rights and collective bargaining, but companies find ways to avoid these. “In a lot of [MNC local sites] you wouldn’t even have management talking to the union” (Actor #12). Global Union Federation actors and local unions’ efforts to inform local workers at subsidiary sites about the provisions of the Global Framework Agreement has, our data indicates, raised awareness, grievance formation, and demand. Grievance formation, we contend, is a primary step. It shifts aggravation and resentment into articulation of wrong-doing and demand for change.
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The persistence, and in some areas worsening, of precarious work presents a severe social problem and challenge to labour actors. Many precarious workers are first-generation industrial workers from rural villages with no expectation of rights or protections. Managers similarly lack knowledge of rights and protections and treat the workers poorly. The Global Framework Agreement enables local actors to immediately claim their rights. For example, one respondent, Actor #13, an assembly line worker and union leader for a manufacturing subsidiary of BaCorp in western India, reported that local workers were able to establish their union because of the Global Framework Agreement. It was a “first-time achievement”. Actor #13 reports that his local union has gained “training and information about CSR and labour rights” and the Global Framework Agreement from transnational labour actors. He reports that through persistent invoking of the agreement, his small union has achieved a monthly meeting with HR managers: “This is very big. We are talking; they are talking to us”. A further illustration is reported by Actor #10, a union leader in a large SCorp subsidiary in northern India, in which local workers learned about the Global Framework Agreement and were able to develop arguments that enabled technical (higher-skilled) workers to join the union. That accomplishment opened opportunity for further interactions among workers and the formation of initial demands. It has been common practice for the Indian subsidiary sites of multinational corporations headquartered in Europe (and the United States) to provide separate canteens for those workers on site who are on continuous employment contracts and those on sub-contracted and day-labour arrangements. That practice was a company acceptance of socio-cultural norms in India in which a caste system hierarchically and hereditarily differentiates people. The differential arrangements for workers on continuous contracts and those with precarious arrangements – even as the workers are performing the same jobs and interacting with each other in everyday production – reflects those social structures. Amid those complexities, labour actors report shifts toward shared canteens and improved food provision for temporary contract workers, who are typically a large majority. A local-site labour actor reports that his union asked the company to “give the same food to the [temporary] workers that is provided to continuously employed workers. The managers said ‘no, no’”
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(Actor #10). The Global Framework Agreement does not refer to matters such as canteen facilities, but local actors used its social intentions to demand more localized equities that in turn stimulate further worker awareness and demand formation. Actor #10: “We are making their demands known and now they all sit together and eat. This is an achievement, a good thing”. It is important to note that achieving mixed canteens brings precarious workers greater visibility. It challenges toleration of the permanent worker–precarious worker dichotomy that is widespread in Indian industry. In China, where precarious work is less reported, primary effectiveness is illustrated by the sustained interaction between Chinese union actors and the union actors of transnational headquarters (and Global Union Federation actors in a very low-profile manner) in dialogue and learning. The introduction of the Global Framework Agreement with SCorp subsidiaries in China enabled transnational interactions and exposure to forums of expression. A union chairman, Actor #20, reported that many elements of the Global Framework Agreement were “very basic” for them in China because “they are already in compliance with ILO principles”. Nonetheless, expression of concerns about non-compliance with those agreed principles is obstructed. Actor #20 remarked on his admiration for the German union actors whom he had observed on visits to Germany: “The young ladies and young men representing the works council. They are very strong people. They know what to do”. He reported that in China when he asks local workers “do you have questions for the company, they say, no, no, never, never.” The low expectations of workers and traditional deference obstruct demand for social dialogue beyond wage complaints. Actor #20’s reflections further reported the problem of communication and the lack of channels for it. The efforts of transnational labour actors to disseminate the Global Framework Agreement and inform workers of its provisions and potential had encouraged the establishment of multiple networks, including email lists. Actor #20 reports that the union leaders have introduced a global “communication email between employees and the management. Now we know some things together with our executives […] Ten years ago announcements would only go to the group general manager […] Nobody else would know.” This illustration of communication and information
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sharing, for Actor #20, has “noticeably improved” management–employee relations. A works council actor (Actor #55) for SCorp in China reported that the Global Framework Agreement and the initial effects of its launch meetings and visits by German company and union actors stimulated some immediate initiatives in the form of surveying workers. Actor #55 reports: “This is the first time we have collected [data] on the different sectors in China.” The survey included attention “to the special problems for the blue-collar workers, for example, skills and competence development.” He reports that that information enabled them to prepare a collective contract: “We made the proposal to our company management team; this is the collective contract […] between management and all company employees” (Actor #55). The Global Framework Agreement incentivizes and empowers local labour actors and increases management awareness and pressures for negotiated interactions. In sum, we identify the on-going elements of primary effectiveness of recognition, grievance formation, demand stimulation, and experimentation with activating demands. These, as labour actor #10 remarked about mixed workers’ canteens, are real achievements. They enable solidarity building and collective formation of political will.
2.2 Capacity development: Key actors, networks, forums The primary effectiveness described above is a continual accomplishment. Further effectiveness, which includes institution building from new norms to robust collective negotiation among management and labour actors, requires enhanced capacity to act. Knowledge, skills, reflexive learning, and actor connectivity are significant elements. Our data reports diverse evidence of capacity development for the application and deployment of Global Framework Agreements. Capacity development entails the retention and utilization of actor learning and knowledge transfer in new situations that shape those situations and political outcomes. Retained, accumulated, and transferred knowledge is significantly affected by the interaction and action opportunities of key actors. They occur at multiple levels and threads of networking. We highlight the role of key actors, networks, and forums. These factors, which are dynamically and intricately linked, reveal the importance
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of key transnational actors whose initiatives build pathways to collective, cooperative transnational forums. Transnational labour actors, through their facilitation of ideas stimulation, confidence building, demand-shaping, and experimentation, encourage local actors to adapt, innovate, and generate policy and practical approaches. These actions occur in multiple arenas, including highly visible and official company interactions with ceremonial endorsement, such as in formal occasions of company, union, and public officials engaged in plant visits, product or technological systems launches. They also occur less visibly among micro-actors and networks of informal interactions. They occur in real-time, in-person interactions and in virtual on-line, social media, or private conversations. Some key labour actors are readily visible as leaders expected to assert a “strong and powerful” demeanour with employers or government actors. They are flagbearers of labour interest expression and demand for social dialogue. Others deploy a “soft and relational” approach. We focus particularly on the latter type of transnational labour actor interaction. We observe transnational labour relationships developed consciously and carefully over time and elicit their effects. An example is that of Actor #11, whom we describe as a transnational Asia-Pacific labour actor with an expansive reach and influence. Actor #11, who was mentioned by several respondents in different countries, lives in Germany and works for the union engaged over decades with SCorp in our study. Actor #11 focuses on transnational social-dialogue development in SCorp operations. Introducing the Global Framework Agreement into its operations in China, in which the Global Union Federation has no official presence, posed considerable challenges. A first task of initiating the Global Framework Agreement involved setting up an expansive and inclusive meeting in China. The headquarters union assigned Actor #11 to organize it. We observed that Actor #11’s network building among other individual transnational actors played a significant, low-visibility role in facilitating the meeting, from which major other developments have arisen. Respondents told us that before the Global Framework Agreement, German trade unions “only knew Germany and nothing else […] even when they dealt with global companies” (Actor #28). The preparation of the Global Framework Agreement required German and European Works Council actors to expand their transnational
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expertise. Actor #11’s cultivation of transnational collegial and networked relationships across multiple countries has enabled the headquarters union to forge relationships with the Chinese unions and, as corroborated by others, in other Asian sites. The achievement of Chinese relationships points to a further level of cooperative articulation between headquarters unions and global unions in navigating the political complexities of labour relations in China. An illustration of local actor influence identifies paths and elements of effectiveness. A local (i. e. regional within a state of India) labour actor associated with SCorp for many years illustrates the vital role of championing the dispersion of the Global Framework Agreement and encouraging union members to learn about its potential benefits to Indian workers. Actor #10 reports of his SCorp site that management “were opposed to [the Global Framework Agreement]” even though they “knew little about it other than that HQ [headquarters] had signed it”. Actor #10 informed union members that the Global Framework Agreement “gave them rights” that he believed had greater chance of recognition in India because “the parent union in Germany and IndustriALL global union have signed this GFA with [SCorp]. You are in the union. It [the GFA] is your right.” Actor #10, as a union leader, invoked the German and Global Union Federation institutional heft to encourage local workers, who are inclined to assume that Indian labour law is poorly effective, that they could gain local capacities. He arranged for senior officers from both the Global Union Federation and headquarters union to visit local unions and talk about the Global Framework Agreement with workers at several large plants. Actor #10 emphasized the engagement and “huge support” of headquarters union actors for the Global Framework Agreement and its activation. As a result, local union membership increased and in early 2021 an agreement on wage increases and improved conditions was signed. The wage agreement was corroborated independently by another headquarters actor, Actor #45, an SCorp supervisory board member, as a dispute on its application had been communicated to the Global Framework Agreement’s monitoring committee. Knowledge of that “reached us over the ocean”. Actor #45 reported that the board “called the responsible manager on the management board and said: ‘There’s an issue in India, [deal with it’]”. That account illustrates both the Global Framework Agreement’s monitoring intervention and its encouragement of trans-regional labour
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network building across Indian sites where the wage dispute was raised. Local labour actors gained immediately favourable results as well as learning skills for “organizing themselves as a partner against a big player like SCorp” (Actor #45). Key actors can also include company actors, such as HR directors, who may be motivated by their own discretely expressed values of engagement. Transnational labour actors described a particular company actor’s influence. They noted that a pressing task is “to bring the content of the [GFA] to the people’s knowledge”. In their company, KCorp, they noted that “this had only been possible because the head of the human resources [at headquarters] supports it. He [ensured] it was [widely] published” (Actor #46). The work of key actors, both labour and management, in gaining direct links, building trust, continuity of communication, and sharing knowledge builds networks of relationships. Networks enable ideas transfer and, in the case of labour actors, demand formation among local unions and associated workers. Asia-Pacific nationals who, as managers, have spent time at the sites of German headquarters and are familiar with headquarters production and management systems, including social dialogue forums such as works councils, share some of those features in their management of subsidiaries. Labour actors more typically experience Europe-based union actors visiting them and providing training workshops. Respondents in India reported spillover effects in building local NGO knowledge and capacity. An NGO actor, Actor #8, linked to BaCorp, reported learning that the Global Framework Agreement should apply to all company sites: “BaCorp doesn’t abide by the GFA. They [local managers] say they can’t do it because of U. S. clients who don’t want unions. […] We [NGO] together with the union put pressure on issues like teaboys [child workers serving factory workers]. We tell them they’ve signed the GFA, they must do it” (Actor #8). This instance illustrates collaboration of transnational and local union actors with a local NGO to utilise the Global Framework Agreement to demand attention to persistently ignored child labour in BaCorp sites’ suppliers, including on BaCorp premises. Local union capacity building for the Global Framework Agreement’s uptake occurs through targeted training and incentivization. Across different Asia-Pacific contexts, it also includes basic organizing and bargaining skills. More generally, transnational communication networks supported
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by headquarters actors provide an infrastructure that further enables institutionalizing the Global Framework Agreement. As well as increasing labour actor networks, reports from company actors of transnational company forums, such as those from HR directors and CSR officers, indicate a further node of potential network intersection across regions and interests. The primary role of key transnational actors illustrated above extends to facilitation of global forums. In the case of companies referred to in our data, the establishment of global forums has been set in motion by their Global Framework Agreement. Global forums are typically built on forums already established in multinational corporations in Germany and transnationally in the EU. The European Works Council provides a model for transnational structures and processes. In the SCorp example, the Global Framework Agreement, in effect for a decade, has enabled notable new interventions in social dialogue. Actors report it has enabled an unprecedented interaction of lead actors: “The German union representatives and the [Chinese] union representatives met with global top management and local management. The local union representatives [were exposed to] a level of information and discussion which they never had in their everyday working experience.” The Chinese union actors “had a very open and critical discussion with the management”. They gained at least an initial experience of “what we call social dialogue […] to be on a level with the management” (Actor #11). Company actors reported illustrations of the global forum initiated by the Global Framework Agreement, enabling them to address some significant problems that affect their company’s operations and personnel and their industry globally. Actor #51, an HR Director at KCorp, reported: “We have many fatalities in the industry and in [our company]. It’s not an acceptable situation.” The Global Framework Agreement has “created a binding set of rules” that is important for addressing the priority of safety as well as labour standards and other issues. Actor #51 also remarked that the company’s European Works Council is an important instrument in transferring institutional resources and know-how to the global forum and to enacting the Global Framework Agreement. He remarked that global dialogue forums are important for the future. The company’s future “cannot be created or founded by us as managers. It is founded and created by the employees”.
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The global dialogue enabled by the Global Framework Agreement is a significant element of that recognition. For workers and local union actors in emerging market economies it is astonishing to be represented or to be a part of a world works council. For them, it is hard to fathom that “the CEO is over there talking to you” (Actor #21). Global works forums institutionalize mutual access and connectivity of headquarters and subsidiaries to each other and to European Works Councils and they also offer the potential of conjoint engagement in decision forums. The Global Framework Agreement as a corporate-level instrument can provide distant labour actors with unprecedented access through dispute channels to headquarters’ governance decision-makers. It can also risk fostering dependence on institutions and actors originating in Europe. Europe-based transnational labour actors expressed concern for the high reliance on German actors in facilitating meetings, training sessions, and networks. There is much agreement that “We need to reduce dependency on German actors” (Actor #14) in solving transnational problems. At the same time, company actors reported the benefit of being able to call on German labour actors (including those flying-in) to negotiate labour disputes in transnational sites cooperatively. Actors provided illustrations to the researchers on cases in Malaysia and South Korea. Local labour actors, in turn, enlist the presence of senior German actors to put pressure on local management. A respondent reported an illustration of a supervisory board member visiting China: “the Chinese workers use [his presence] to come to agreement with their management. When he’s present, the management does not say no” (Actor #9). Furthermore, headquarters interventions by German and other European multinational corporations on transnational subsidiaries include expression of dissent from some national labour laws as in, for instance, the case of Indonesia’s controversial Job Creation Law 2021. A national union leader in Indonesia (Actor #23) reported that “The European MNCs signed agreements with us [local unions] that they won’t apply the [new detrimental] law.” These illustrations of headquarters intervention are viewed by local labour actors as highly favourable. Further capacity building for transnational social dialogue requires establishment of effective global and regional company forums or works councils, active networks, and enhanced participation of local management.
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2.3 Salient challenges The challenges to implementation and effectiveness of Global Framework Agreements beyond primary effects and initial capacity building through network action and union formation are immense and perpetual. Significant tension occurs between headquarters company actors valuing transnational social dialogue and company imperatives to seek profit-making opportunities in low-cost regions. Subsidiary management fluctuates. It is highly dependent on individuals. A first aspect of the challenges presented by management engagement are factors associated with the group complexity of multinational corporations in their global operations. Geographic expansion, transnational divisional development and a global business climate of company mergers and acquisitions intensify complexity. That increases the tenuousness of global appraisals of company activities beyond those of accounting systems and financial reporting. Company actors acknowledge the challenges posed by dynamic complexity. Our data shows that actors with an expressed commitment to corporate social responsibility, including ensuring CSR enactments among their contracted suppliers, may, at the same time, be unaware that their company has signed an agreement such as the Global Framework Agreement that entwines industrial relations and corporate social responsibility, with intended global application. A headquarters company actor (Actor #47) with responsibilities for a significant operation in the company’s subsidiary companies in China reported his team “are really serious about CSR”. The subsidiary companies contract numerous supply companies in China that must be approved at headquarters level. As for what the company calls “CSR-critical cases” under explicit scrutiny, Actor #47 reports “we’re serious about the audits. We [BaCorp] do them ourselves everywhere [globally]”. Actor #47 reports that he has visited sites in China and met suppliers, and Chinese managers “spend a few years with us in Germany”. “Our China guys work on sourcing suppliers. We have so many suppliers in China … We don’t always know what happens when some supplier gets other [suppliers] in …”. Actor #47’s company, BaCorp, like others, publicizes its global agreements on company websites and reports. But the complexity and busyness of everyday work life necessarily shapes attention. That reality contributes
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to a lack of awareness and dissemination of a company’s Global Framework Agreement: “[BaCorp] is so huge; it’s hard to know what goes on. Most people [operations managers] just focus on their particular area; they don’t know what else is going on” (Actor #47). A German headquarters union respondent reported that in “a lot of German companies in Malaysia, Indonesia, Philippines … their suppliers don’t even know that there is a GFA” (Actor #10). In addition to factors of management actors’ lacking information due to complexity and challenges of communications with suppliers, respondents reported overtly less cooperative management action and reinforcement of traditional power hierarchies. Obstructive or neglectful action is reported in multinational corporations that elsewhere indicate valuable cooperative action. National context and actor interpretation are significant. For example, a senior HR officer in a multinational corporation with HR and industrial relations responsibility for several large entities reported in response to questions about the Global Framework Agreement: “For us, the European [headquarters] GFA is purely a direction […] we are not against ILO practices. But we pick and choose. What we stick to is Indian law and labour compliances” (Actor #52). In referring to the Global Framework Agreement as a European agreement, Actor #52 appeared to interpret the Global Framework Agreement in ways that enabled senior managers of the entities to strategise their regulatory compliance. A senior manager stated: “We discourage any kind of interface or intervention globally, coming from [the headquarters union] coming into the country or them [influencing] us.” (Actor #53) Senior actors from headquarters can either tolerate these subsidiary manager attitudes or have a dialogue with them in view of the Global Framework Agreement’s implementation. Furthermore, in Asia-Pacific contexts with large proportions of contract labourers employed by the multinational corporations, targeting labour suppliers is crucial and recurrently obstructed. Managers may be deliberate in that obstruction or lack knowledge of core concepts and obligations. A Global Union Federation actor summarized a primary challenge: “If a local [company] actor doesn’t know what freedom of association means, how can they implement the GFA?” (Actor #21) Another factor of complexity that indirectly may affect management engagement as well as union capacity development is union complexity in
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many Asian contexts. Actor #48, a senior HR manager at a Korean subsidiary, reported: “We have thirty trade unions on site. They want to [negotiate] with us separately, even the small ones.” Actor #48 reported the difficulty of reaching agreements that endure and, from an HR perspective, should pertain across the site’s personnel. Labour actors similarly noted trade union fragmentation. A further challenge is improving coordination of labour actors. This firstly applies to union development and member formation, and subsequently includes collaboration with labour-oriented NGOs. There is wide evidence of very limited dispersion of knowledge about the Global Framework Agreement and its potential uses for local company sites. While there is some evidence of local actors in India and China invoking whistleblowing mechanisms to involve the international committee established under the Global Framework Agreement to resolve issues, there is much evidence of a lack of knowledge about the existence and potential of the Global Framework Agreement within company sites. Knowledge about the application of the Global Framework Agreement to suppliers is rare among local union actors. Where it is more visible and operationalized, it appears strongly associated with the direct relationship links initiated by headquarters, interaction of the European Works Council, and inclusion in network development. Labour actors associated with NGOs, including those originating in European cities or supported by NGOs at the German headquarters, as well as with Global Union Federation activities, indicate stronger knowledge and political engagement. The persistent hindered development and distribution of education and training for labour actors (and company actors) at the local level despite the Global Framework Agreement’s potential is a key challenge. That under-development hinders formation of coordination with labour-oriented NGOs which often possess international resources and networks with considerable potential for capacity building.
3. Discussion We have purposefully presented a data-rich discussion. That has enabled the illustration of effects and challenges and the innovative actions of various transnational and local actors in aiming to improve employment re-
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lations and social dialogue in Asia-Pacific contexts. Our study brings into focus and highlights complex factors affecting the implementation of the Global Framework Agreement across company entities. Existing research frequently points to the limited outcomes of Global Framework Agreements at the local level. Local manager resistance and local union capability are notable factors of hinderance (Williams/Davies/Chinguno 2015) as well as poor dissemination of the content of Global Framework Agreements (Papadakis 2011). Researchers contend that greater coordination of multilevel actors and concerted dissemination of the knowledge about Global Framework Agreements is required to improve effectiveness (Lévesque et al. 2018). Our study confirms these factors. Importantly, it adds to debates through its identification of often overlooked factors of primary effectiveness, and their linkage to capacity development. The factors of primary effectiveness, we contend, remain continuous. Actors utilise those experiences to shape capacity development toward disseminating and securing improved labour practices across widely unequal employee cohorts directly employed by or closely associated with global multinational corporations. These primary effects and emergent capacities must not be under-estimated even as they appear modest to European eyes. Among salient issues and challenges we identify these factors: management engagement, coordinated labour action, and accelerating alliances for summary discussion. Management engagement is a tough but malleable problem. Management engagement refers to being informed, taking action to disseminate commitments spelt out in the Global Framework Agreement, “mainstreaming” it into daily organizational actions with workers and suppliers, and monitoring compliance. These are management responsibilities agreed to under the Global Framework Agreement. We propose that, despite concerns about dependency on German institutional heft and actor competence, those qualities be better regarded as an abstracted (non-national) institutional resource for multi-actor utility. That is, in the case of multinational corporations headquartered in Germany, German actor and institutional resources be pragmatically regarded as legitimate demands by Asia-Pacific actors without fear of neo-colonialist incursions or cultural insensitivities. Local actors seek to use the resources and opportunities provided by the Global Framework Agreement to find ways to build local capacities.
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Partnering those actors includes German (and other EU) actors exerting concerted pressure on corporate actors and stakeholders at headquarters to demand increased management engagement and responsibility at all levels of the company group. Coordinated labour action is a continuous challenge for Global Union Federations and key national unions. Global and regional works councils are a significant intervention. There is much scope for development of more solidaristic engagement by unions involved with GFA companies in OECD countries such as Australia and South Korea. These countries are noted for their strong trade unions and effective collective bargaining. Greater union-to-union sharing of those competencies proposes to disperse knowledge and innovate social dialogue forums. For instance, the multinational corporations in our study have sizeable operations in Australia. Their Global Framework Agreements, while applying there as elsewhere, appear as “too basic” in comparison to established institutions and capacities to attract local interest and may thus be ignored. Nonetheless, extending network relations invoking transnational union solidarity may add transnational voice to activate legitimacy embedded in the Global Framework Agreement in Asia-Pacific neighbours. Such actions further include accelerating alliance building with labour-oriented NGOs, which often have a specific interest focus (e. g. child labour), to disseminate awareness of the reach of Global Framework Agreements and raise demand among the supplier firms’ workers. A globally networked alliance, anchored with the legitimate heft of headquarters and global unions, proposes to mobilize a joined-up approach to the tenacious challenge of supply chain integration in the Global Framework Agreement.
4. Conclusion The ambition of the Global Framework Agreement and the empirical realities on the ground reveal a wide distance. Our data illustrates that conditions in many Asia-Pacific contexts are far from conducive to progressive development of social dialogue. Immense obstacles remain. Effective implementation of Global Framework Agreements throughout company operations continues to present significant challenges to multiple and globally dispersed actors.
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This chapter has identified some vital factors of initiating and embedding demand that open horizons of possibility and capacity building for local actions. For local union actors the Global Framework Agreement is a “huge” intervention. Its progressive effectiveness demands unprecedented global solidarity of the relatively well-resourced actors of the headquarters of multinational corporations: unions, managements, NGOs concerned with corporate social responsibility, and citizens with workers of the global south.
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Global Framework Agreements in practice
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Menschenrechtliche Sorgfaltspflicht und der Einsatz von Worker Voice Tools Partizipation als Risikomanagement? Christian Scheper, Carolina A. Vestena, Christoph Sorg, Sabrina Zajak
1. Einleitung Mit dem 2021 verabschiedeten »Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz« (LkSG) wird die menschenrechtliche Sorgfaltspflicht von multinationalen Unternehmen in Deutschland rechtlich verbindlich. In internationalen SoftLaw-Abkommen ist die Sorgfaltspflicht seit der Verabschiedung der UNLeitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte im Jahre 2011 bereits seit Längerem aufgenommen und seitdem auch in mehreren europäischen Ländern – Großbritannien, Frankreich, Niederlande oder Norwegen – in der nationalen Gesetzgebung verankert. Unternehmen müssen gemäß der Sorgfaltspflicht unter anderem ein menschenrechtliches Risikomanagement im eigenen Geschäftsbereich und in der Lieferkette vornehmen. Dabei müssen sie auch relevante Stakeholder einbeziehen. Dies ist eine enorme Herausforderung für Unternehmen, deren Produktion durch verzweigte und oft wenig transparente Lieferketten gekennzeichnet ist und deren Geschäftsmodelle seit Jahrzehnten eher auf der Auslagerung von Arbeitsbeziehungen und damit verbundenen Geschäftsrisiken basiert. Ein regelmäßiger und offener Dialog mit Beschäftigten in der Lieferkette ist in diesen Strukturen nur schwer realisierbar. Daher entsteht nun mit dem Lieferkettengesetz und dem Ansatz der Sorgfaltspflicht im Unternehmensmanagement die Nachfrage nach Möglichkeiten der direkten Kommunikation mit Beschäftigten entlang der transnationalen Lieferketten. Die Kommunikation mit Arbeiter*innen in direkten und indirekten Zulieferbetrieben wird zu einem Element des unternehmerischen
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Christian Scheper, Carolina A. Vestena, Christoph Sorg, Sabrina Zajak
Risikomanagements. Dafür müssen Unternehmen effektive neue Kommunikationswege einrichten, um Beschäftigte einbeziehen und effektive Beschwerdewege etablieren zu können. Aus Sicht des Managements muss die Kommunikation trotz vieler Zulieferbetriebe, manchmal Hunderttausenden von Beschäftigten und großer Datenmengen noch handhabbar bleiben. Digitale Technologien zur Kommunikation mit Arbeiter*innen, sogenannte Worker-Feedback-Technologien oder auch Worker Voice Tools, sollen genau diese Nachfrage bedienen. Sie versprechen digitale Softwarelösungen für die Partizipation von Beschäftigten und eröffnen damit für Unternehmen die Möglichkeit, die erhobenen Daten effizient und vertraulich verwalten zu können. Worker Voice Tools werden bisher zum Teil von profitorientierten Dienstleistungsunternehmen angeboten, teilweise auch von Non-Profit-Organisationen. Sie versprechen speziell auf Beschäftigte zugeschnittene Kommunikationsformate, etwa in Form von SmartphoneApps oder automatischen Telefonabfragen. So werden den Beschäftigten einerseits Informationen vermittelt, z. B. über Arbeitsrechte oder das jeweilige Unternehmen; andererseits werden Daten über Beschäftigte und ihre Sichtweisen erhoben, etwa Abfragen zur Zufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen, um ein besseres Bild von der Situation in der Lieferkette zu vermitteln. Teilweise bieten die Anwendungen auch Beschwerdemöglichkeiten. Mit Worker Voice Tools sind daher viele Hoffnungen bei Unternehmen verbunden, die nach effektiven Wegen zur besseren Stakeholder-Partizipation suchen. Für Beschäftigte und Gewerkschaften ergeben sich allerdings sowohl Chancen als auch Risiken: Einerseits könnten die mit der Sorgfaltspflicht gesetzlich verstärkte Nachfrage nach Kommunikation entlang der Lieferkette sowie die neuen technischen Möglichkeiten Bausteine bieten, um Beschwerden und Forderungen an multinationale Leitunternehmen besser vorbringen und so allmählich bessere Teilhabe in Lieferketten erstreiten zu können. Auf der anderen Seite entstehen auch Risiken – etwa im Hinblick auf die tatsächliche Beteiligungsqualität, die eine Beteiligung durch digitale Instrumente erreichen kann, oder die Gefahr einer Verdrängung traditioneller Organisations- und Beteiligungsformen durch Gewerkschaften. Hinzu kommen neue Möglichkeiten für Leitunternehmen, Arbeit in der Lieferkette zu kontrollieren und zu überwachen, sowie Gefahren des mangelnden Datenschutzes (Farbenblum/Berg/Kintominas 2018; Kyritsis/ LeBaron/Anner 2019). Die Skepsis bei Gewerkschaften und Arbeiter*innen
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Menschenrechtliche Sorgfaltspflicht und der Einsatz von Worker Voice Tools
ist daher groß, ob neue digitale Kommunikationsinstrumente den Beschäftigten tatsächlich eine stärkere Stimme verleihen oder vielmehr neue Formen der Kontrolle seitens der Leitunternehmen ermöglichen, vielleicht gar neue Wege zur digitalen Überwachung darstellen. Dieser Beitrag behandelt die Frage, ob die Anwendung von Worker Voice Tools als Element des Risikomanagements neben der Erfüllung der Sorgfaltspflicht von Unternehmen auch den Beschäftigten in der Lieferkette eine stärkere Stimme geben kann. Wir stützen uns dabei auf eine qualitative Inhaltsanalyse der Webseiten von Providern solcher Tools und semi-strukturierte Interviews mit Providern, Gewerkschaften und Leitunternehmen in Deutschland. Diese Erkenntnisse ergänzen wir um Eindrücke aus qualitativen Interviews, die wir mit Arbeiter*innen im Kaffeeanbau in Minas Gerais (Brasilien), mit Vertreter*innen der Staatsanwaltschaft und der staatlichen Arbeitsinspektion in Brasilien, mit Multistakeholder-Initiativen, zivilgesellschaftlichen Organisationen und Gewerkschaften geführt haben. Damit sollen einige der potenziellen Hoffnungen und Risiken für Arbeiter*innen anhand eines Beispiels verdeutlicht werden. Insgesamt haben wir 49 Interviews in zwei Phasen (2020/2021 und 2022) geführt; die in diesem Beitrag zitierten Interviews sind in Tabelle 1 aufgelistet. Tabelle 1: Liste der zitierten Interviews Interview-Kürzel
Funktion der Interviewpartner*in
Datum
#1P20
Tool-Provider
29.9.2020
#5P20
Tool-Provider
1.10.2020
#6P20
Tool-Provider
5.10.2020
#7P20
Tool-Provider
8.10.2020
#1UM22
Gewerkschaftsvertreter*in
19.5.2022
#2UM22
Gewerkschaftsvertreter*in
18.5.2022
#3UM22
Gewerkschaftsvertreter*in
18.5.2022
#5UM22
Gewerkschaftsvertreter*in
18.5.2022
#6UM22
Gewerkschaftsvertreter*in
19.5.2022
#7UM22
Gewerkschaftsvertreter*in
24.5.2022
#8WC22
Arbeiter*in in der Kaffeeernte
17.5.2022
#9WC22
Arbeiter*in in der Kaffeeernte
19.5.2022
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Christian Scheper, Carolina A. Vestena, Christoph Sorg, Sabrina Zajak
Interview-Kürzel
Funktion der Interviewpartner*in
Datum
#10WC22
Arbeiter*in in der Kaffeeernte
19.5.2022
#12WC22
Arbeiter*in in der Kaffeeernte
19.5.2022
#2SInst22
Arbeitsinspektor*in
13.4.2022
#3SInst22
Arbeitsinspektor*in
11.5.2022
P = Provider, UM = Union Member, WC = Worker Coffee, SInst = State Institution Quelle: eigene Darstellung
Insgesamt kommen wir zu einem ambivalenten Bild: Einerseits können Worker Voice Tools tatsächlich viele arbeitsbezogene Informationen in den Lieferketten auf effektive Weise erheben und damit für Unternehmen besser sichtbar machen. Andererseits wird aber auch deutlich, dass die Verwendung solcher Anwendungen im Lichte von Machtungleichgewichten und Interessenkonflikten in Lieferketten verstanden werden müssen. Worker Voice Tools funktionieren dabei kaum als tatsächliche Stärkung der Stimme von Beschäftigten, sondern stellen eher Management-Tools dar. Sie können durchaus einen Beitrag zur Erfüllung der Sorgfaltspflicht leisten, aber nicht andere Partizipationsformen – vor allem im Rahmen gewerkschaftlicher Organisierung und Konfliktaustragung – ersetzen. Im Folgenden gehen wir zunächst auf das Konzept der Sorgfaltspflicht im Lieferkettengesetz und auf die Frage ein, inwieweit die Einbeziehung von Beschäftigten in der Lieferkette zur Erfüllung der Sorgfaltspflicht notwendig ist (Abschnitt 2). Anschließend beschreiben wir die empirischen Erkenntnisse aus der Analyse von Worker Voice Tools und aus den Erfahrungen bei der Kaffeeernte in Brasilien (Abschnitt 3). Abschließend weisen wir auf einige wichtige Merkmale hin, die Worker Voice Tools aus unserer Sicht mindestens erfüllen sollten, um im Sinne menschenrechtlicher Sorgfalt fungieren zu können (Abschnitt 4).
2. Das Konzept der menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht und die Bedeutung von »Workers’ Voice« Mit den UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte, die 2011 vom Menschenrechtsrat verabschiedet wurden (im Folgenden als »UN-Leitprinzipien« bezeichnet), hat sich das Konzept der menschenrechtlichen Sorg-
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Menschenrechtliche Sorgfaltspflicht und der Einsatz von Worker Voice Tools
faltspflicht von Unternehmen international etabliert (Scheper 2017). Seither wurde das Konzept von internationalen Organisationen zunehmend in Leitlinien und Empfehlungen aufgenommen, etwa von der OECD und der Weltbankgruppe. Wie viele andere Regierungen und Parlamente unterstützen auch die deutsche Bundesregierung und der Bundestag das Konzept der Sorgfaltspflicht als grundlegenden Baustein für die Umsetzung der UN-Leitprinzipien. Sowohl in ihrem Nationalen Aktionsplan für Wirtschaft und Menschenrechte für 2016–2020 (Auswärtiges Amt 2017) als auch im 2021 verabschiedeten Lieferkettengesetz stellt die Sorgfaltspflicht ein Kernelement dar. Auch die Europäische Kommission (2022) folgt mit ihrer Initiative für ein EU-weites Lieferkettengesetz zentralen Ideen der UN-Leitprinzipien, auch wenn ein solches Gesetz nach heutigem Stand lediglich für etwa ein Prozent der Unternehmen in der Europäischen Union direkte Gültigkeit haben würde. Die Institutionalisierungsschritte auf unterschiedlichen Gesetzgebungsebenen zeigen, dass das Konzept der Sorgfaltspflicht zu einem dominanten Ansatz für die menschenrechtspolitische Regulierung von Unternehmen in globalen Lieferketten geworden ist. Im Folgenden fassen wir daher die wesentlichen Elemente der menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht zusammen und stellen dabei die normative Bedeutung von Beteiligungsmöglichkeiten für Beschäftigte in Lieferketten heraus.
2.1 Die menschenrechtliche Sorgfaltspflicht im Lieferkettengesetz Bei der Sorgfaltspflicht handelt es sich um eine Bemühenspflicht mit einem Angemessenheitsvorbehalt. Das heißt, ein Unternehmen muss im Rahmen eines angemessenen Aufwands dafür sorgen, dass Risiken für die definierten Schutzgüter (also international anerkannte Menschenrechte) vermieden oder minimiert werden. Die Angemessenheit bestimmt sich nach Art und Umfang der Unternehmenstätigkeit, dem Einflussvermögen, dem Verhältnis aus erwartbarer Schwere, Eintrittswahrscheinlichkeit und Umkehrbarkeit von Schäden sowie der Art des Verursachungsbeitrags des Unternehmens (Grabosch 2021, S. 43 f.). Im Kern des deutschen »Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes« (LkSG) stehen als Schutzgüter die internationalen Menschenrechte einschließlich
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Christian Scheper, Carolina A. Vestena, Christoph Sorg, Sabrina Zajak
der ILO-Kernarbeitsnormen, die um nur einige wenige Umweltaspekte ergänzt werden. Wesentliche Einschränkungen macht das Lieferkettengesetz im Vergleich zu den UN-Leitprinzipien allerdings im Anwendungsbereich, da die Verpflichtung zur Sorgfalt auf Unternehmen mit mehr als 3.000 Beschäftigten (ab 2023) bzw. mehr als 1.000 Beschäftigten (ab 2024) beschränkt wird (Grabosch 2021, S. 29). Das deutsche Gesetz folgt damit nicht konsequent der konzeptionellen Logik der Sorgfaltspflicht, da diese als rechtliches Konzept den Aspekt der Angemessenheit für das individuelle Unternehmen bereits beinhaltet. Auch besteht nach dem Lieferkettengesetz keine explizite Wiedergutmachungspflicht, die international empfohlen wird (Grabosch 2021, S. 30). Grundsätzlich gilt die Sorgfaltspflicht für die sogenannte Lieferkette (§ 2 Abs. 5 LkSG), die den gesamten Wertschöpfungsprozess umfasst. Präziser wäre es daher eigentlich, im Gesetz von »Wertschöpfungskette« oder »Wertschöpfungsnetzwerk« zu sprechen, da die Sorgfaltspflicht nicht zwangsläufig entlang einer Kette, sondern durchaus auch über unterschiedliche Schritte der Wertschöpfung hinweg besteht. Wir bleiben in diesem Beitrag bei dem Begriff der »Lieferkette«, da er im juristischen Kontext der menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht üblich geworden ist. Die rechtliche Praxis muss erst noch zeigen, wie umfassend Unternehmen die Pflicht in Bezug auf indirekte Zulieferbetriebe auslegen werden. Abgesehen von diesen Einschränkungen folgt das Lieferkettengesetz weitgehend den Empfehlungen der UN-Leitprinzipien im Hinblick auf die menschenrechtliche Sorgfaltspflicht. Hierzu gehören laut LkSG (Grabosch 2021, S. 29) •
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• •
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die Verankerung der geschützten Rechtspositionen im unternehmerischen Risikomanagement, das Verfassen einer Grundsatzerklärung zur Achtung der Menschenrechte, die regelmäßige Durchführung von Risikoanalysen, Abhilfe bei Schäden (dabei Berücksichtigung des Rückzugs aus Geschäftsverhältnissen als letztes Mittel), die Einrichtung effektiver Beschwerdemechanismen und Berichterstattung.
Menschenrechtliche Sorgfaltspflicht und der Einsatz von Worker Voice Tools
Die hieraus resultierenden »Bemühenspflichten« bestehen kontinuierlich. Es genügt nicht, wenn Unternehmen einmalige Maßnahmen ergreifen, um die Sorgfaltspflicht nachhaltig zu erfüllen. Alle Maßnahmen der Sorgfaltspflicht sollen der Achtung von Menschenrechten dienen und müssen daher die Ansichten von Stakeholdern berücksichtigen, also vor allem auch von Arbeitnehmer*innen. Der folgende Abschnitt klärt, was diese Anforderung umfasst.
2.2 Die Berücksichtigung von Stakeholder-Interessen Die Bedeutung des Begriffs »Stakeholder-Interessen« ist umstritten und wird in einzelnen Konfliktfällen noch rechtlich bestimmt werden müssen. Für unser Verständnis der Bedeutung von »Workers’ Voice« lässt sich aber festhalten, dass Stakeholder-Interessen in allen Maßnahmen des Risikomanagements berücksichtigt werden müssen. Unternehmen müssen somit in Bezug auf Risikoanalyse, Präventionsund Abhilfemaßnahmen, Beschwerdemechanismen sowie Berichterstattung und Dokumentation beachten, wie sie Stakeholder-Interessen festgestellt und einbezogen haben. Während der Begriff des Stakeholders oder der Interessengruppe uneinheitlich definiert wird, erfasst er ganz eindeutig und explizit die Beschäftigten des Unternehmens und in der Lieferkette (Grabosch 2021, S. 46). Die Art und Weise, wie ein Unternehmen die Interessen ermitteln und berücksichtigen muss, ist hingegen durch das Lieferkettengesetz nicht geregelt. So schreibt das Gesetz auch nicht explizit vor, dass ein StakeholderDialog geführt werden muss. Allerdings dürfte es in vielen Fällen schwer sein zu begründen, wie die Interessen festgestellt und berücksichtigt wurden, wenn keine Formen der Konsultation oder zumindest der gezielten Abfrage erfolgt sind. Dies gilt vor allem für jene Interessengruppen, die besonders stark durch das Unternehmenshandeln betroffen sind, also für Beschäftigte. Damit ergibt sich aus Unternehmenssicht eine Gesetzeslage, nach der Arbeitnehmer*innen entlang der Lieferkette hinsichtlich aller wesentlichen Aspekte des menschenrechtlichen Risikomanagements in nachweisbarer Form konsultiert werden müssen, ohne dass aber die genaue Art und Weise des Austauschs festgelegt ist. Hier könnten digitale Formen der Befragung
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Christian Scheper, Carolina A. Vestena, Christoph Sorg, Sabrina Zajak
zu einem von vielen Unternehmen bevorzugten Instrument werden, da sie ein effizientes Datenmanagement und große Reichweiten erlauben. Zudem ermöglichen sie regelmäßige, flexible und vergleichsweise schnelle Abfragen, ohne auf die bisher hauptsächlich üblichen Auditfirmen und Selbstauskünfte des Zuliefermanagements angewiesen zu sein. Vor diesem Hintergrund kann das in den letzten Jahren entstandene Feld der digitalen Worker Voice Tools als Reaktion auf dieses neue Unternehmensinteresse an Workers’ Voice verstanden werden. Diesem Feld widmen wir uns im folgenden Abschnitt.
3. Worker Voice Tools als Beitrag zur Erfüllung menschenrechtlicher Sorgfaltspflichten Das Feld der Worker Voice Tools ist heterogen und die Grenzen zu anderen digitalen Anwendungen wie kommerziellen Telekommunikationsdiensten und Messenger-Diensten sind nicht immer klar. Wir definieren Worker Voice Tools hier als spezialisierte digitale Anwendungen für arbeitsrechtlich relevante Belange, die eine aktive Kommunikation seitens der Beschäftigten entlang des Wertschöpfungsnetzwerks ermöglichen.
3.1 Das wachsende Feld der Worker Voice Tools Ein Großteil der Anwendungen wird von profitorientierten Unternehmen oder zivilgesellschaftlichen Organisationen entwickelt, auch, aber eher selten unter Beteiligung von Gewerkschaften oder öffentlichen Institutionen. Es kommen unterschiedliche Technologien zum Einsatz, die vor allem mit der jeweiligen Infrastruktur, Nutzungskultur und dem Alphabetisierungsgrad vor Ort zusammenhängen, wie die Interviews mit Anbietern solcher Technologien zeigen (Interviews #7P20; #6P20; #1P20). Häufig werden Smartphone-Apps eingesetzt, teils aber auch Interactive Voice Response (IVR), SMS oder Unstructured Supplementary Service Data (USSD). Ersteres stellt ein automatisiertes Sprachdialogsystem dar; Letzteres ist eine Technologie, die beispielsweise in Subsahara-Afrika für Finanztransaktionen geläufig ist und für die kein Smartphone benötigt wird. Auch die Funktionen unterscheiden sich: Vorstufen von Worker Voice Tools dienen zur reinen Information, z. B. über Arbeitsrechte oder Hygiene-
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Menschenrechtliche Sorgfaltspflicht und der Einsatz von Worker Voice Tools
und Schutzmaßnahmen am Arbeitsplatz. Typisch für »echte« Worker Voice Tools sind hingegen kombinierte Funktionen, die sowohl E-Learning und Informationen zu Arbeitsrechten und zum Unternehmen umfassen als auch digitale Umfragen, Beschwerdekanäle oder Hotlines. Einige Anwendungen sind stark auf bestimmte Zielgruppen ausgerichtet. Die vom gemeinnützigen Isaara Institute entwickelte App Golden Dreams z. B. richtet sich an burmesische Migrant*innen in Thailand, von denen über 90 Prozent ein Smartphone besitzen. Die App informiert über grundlegende Rechte, bietet eine Verbindung zur Unterstützungs-Hotline und ermöglicht die Bewertung von Arbeitgeber*innen. In Kontexten mit geringerer Verbreitung von Smartphones nutzen Worker Voice Tools eher andere Technologien, z. B. das oben genannte IVR, da diese Technologie keine Lesefähigkeit voraussetzt. Arbeiter*innen hören Fragen in ihrer Muttersprache und können z. B. antworten, indem sie Zahlen auf ihren Mobiltelefonen eingeben. Die generierten Daten erscheinen anschließend anonymisiert auf dem Dashboard der Auftraggeber*innen. Andere Tools verbinden unterschiedliche Technologien und binden dabei auch kommerzielle Messenger-Dienste ein. Einige der Worker Voice Tools wie Laborlink oder Ulula sind bereits weit verbreitet. Laborlink hat nach eigenen Angaben bereits 2020 über drei Millionen Arbeiter*innen in über 20 Ländern erreicht (Elevate 2022). Das Tool bietet ein standardisiertes Paket von 17 Fragen, die je nach Bedarf der Unternehmen angepasst und durch Mobiltelefone Arbeiter*innen an verschiedenen Orten der Lieferkette gestellt werden können. Die Ergebnisse solcher Umfragen werden für das Management der lokalen Fabriken in einem Dashboard gesammelt, in dem einzelne Fragen nach sozialen Kategorien wie Geschlecht, Alter oder Position aufgegliedert und Antworten auf eine bestimmte Frage über mehrere Umfragen hinweg verfolgt werden können. Ein Beispiel für einen solchen Einsatz ist die Befragung seitens eines großen britischen Einzelhandelsunternehmens, das mithilfe von Laborlink in kurzer Zeit über 60.000 Arbeiter*innen nach ihren Arbeitsbedingungen befragen kann und dabei je nach Zielland unterschiedliche Formate und Technologien einsetzt – von zuvor aufgezeichneten Fragen bis hin zur Nutzung kommerzieller Messenger-Dienste wie WeChat (FashionUnited 2014). Die Provider ermöglichen so eine Datensammlung, die Anonymität oder Pseudonymität erlaubt und dabei wesentlich kostengünstiger und umfangreicher ist, als es herkömmliche soziale Audits wären. Allen Anbie-
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Christian Scheper, Carolina A. Vestena, Christoph Sorg, Sabrina Zajak
tern ist gemein, dass sie dem Datenschutz sowie der Garantie der Anonymität von Arbeiter*innen hohe Priorität beimessen (z. B. Interviews #6P20, #5P20). Der Datenschutz wird unabhängig von den teils sehr unterschiedlichen Technologien durch Serversicherung und vertragliche Bestimmungen mit den Auftragsunternehmen gesichert (Interview #6P20). Peer-to-Peer-Technologien, die den direkten Kontakt zwischen Beschäftigten ermöglichen, sind in den von uns analysierten Tools bisher nicht zu finden. In Nordamerika gibt es allerdings erste Entwicklungen, die zeigen, wie Worker Voice Tools entsprechend einem Connective-Action-Prinzip aussehen könnten (zum Begriff der »connective action« vgl. Bennett/Segerberg 2012). So können Arbeiter*innen auf der gemeinnützigen Plattform coworker.org arbeitsrechtliche Kampagnen und Petitionen starten. Über die Website konnten sich z. B. seit 2020 viele Tausende Starbucks-Baristas vernetzen und unter anderem Lohnerhöhungen, bezahlte Krankentage, verlängerte Elternzeit und eine bezahlte Schließung von Starbucks-Cafés am Beginn der Covid-19-Pandemie erkämpfen (vgl. die weitergehende Übersicht und weitere Beispiele für Worker Voice Tools bei Sorg et al. 2022). Auch durch Einbindung von öffentlichen Autoritäten wie z. B. Arbeitsinspektionen könnten Worker Voice Tools ein interessantes Potenzial im Sinne einer Stärkung von Arbeitsrechten bedeuten. Im Folgenden gehen wir auf die möglichen Vor- und Nachteile für Beschäftigte ein.
3.2 Potenziale und Risiken für Arbeiter*innen Schon die grobe Beschreibung der verschiedenen Technologien und Funktionen zeigt die Pluralität von Ansätzen im wachsenden Feld der Worker Voice Tools. Auch zeigt sich bereits, dass diese zunächst rein technischen Anwendungen durchaus politische Potenziale und Risiken mit sich bringen. Die Initiative Worker Engagement Supported by Technology (WEST), ein Zusammenschluss unterschiedlicher Anbieter von Worker Voice Tools, hat bereits normative Prinzipien für die Ausgestaltung technologischer Hilfsmittel zur Kommunikation mit Arbeiter*innen entworfen (WEST Principles 2019). An den Prinzipien wird deutlich, dass vor allem Inklusivität, Nutzbarkeit und Sicherheit für Arbeiter*innen sowie »partnerschaftliche« Teilhabe an der Ausgestaltung und Verwaltung der Tools betont werden. Diese Aspekte weisen zugleich auf mögliche Probleme der Worker Voice Tools hin. So sind die Zielgruppen für den Verkauf der Tools zunächst
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Menschenrechtliche Sorgfaltspflicht und der Einsatz von Worker Voice Tools
meist Unternehmen. Daher ist unklar, inwieweit mit »Workers’ Voice« die tatsächliche Einbeziehung und das eigenständige Engagement von Arbeiter*innen gemeint ist oder aber eher eine Form der Abbildung selektiver Abfragen von Sichtweisen der Arbeiter*innen durch Leitfirmen. Auch ist bisher nicht klar, ob die Profitorientierung der Unternehmen mit dem Anspruch der Tools in Konflikt gerät, die Stimme von Beschäftigten zu stärken. Bisher setzen sich nur wenige Studien mit diesen Fragen auseinander (Esterhuizen 2016; Issara Institute 2017). Erste wissenschaftliche Einschätzungen zum Potenzial solcher Anwendungen für den Schutz der Arbeitsrechte von Migrant*innen oder für die Bekämpfung moderner Sklaverei sind eher skeptisch (Berg/Farbenblum/Kintominas 2020; Rende Taylor/ Shih 2019). Farbenblum, Berg und Kintominas (2018) zeigen in einem ersten Überblick zu den Potenzialen und Risiken von neuen Technologien für Arbeitsmigrant*innen, dass es diverse Wechselwirkungen zwischen den Strategien von Unternehmen und Arbeiter*innen gibt. So können einerseits Arbeiter*innen die Tools durchaus nutzen, um Informationen zu erhalten, sich zu vernetzen und Einfluss zu nehmen. Derartige Nutzungen stellen ein Potenzial im Sinne von Arbeitnehmer*innen dar und können diverse politische und regulative Folgewirkungen nach sich ziehen. Andererseits können auch Unternehmen Worker Voice Tools strategisch zur Imageverbesserung oder zur Gewinnmaximierung durch Datenanalysen nutzen. Kyritsis, LeBaron und Anner (2019) vermuten in diesem Sinne eine Verstetigung der bekannten Schwächen von Sozialaudit-Verfahren, da auch Worker Voice Tools nicht in der Lage seien, Machtverhältnisse in der Lieferkette zu verändern (vgl. auch Berg/Farbenblum/Kintominas 2020). Rende Taylor und Shih (2019) kommen in ihrer Feldforschung zu dem Ergebnis, dass an der Sorgfaltspflicht ausgerichtete Technologien selten moderne Sklaverei in Lieferketten identifizieren können. Auch der Missbrauch von Daten birgt große Risiken für Arbeitnehmer*innen (Farbenblum/Berg/Kintominas 2018). Diese kritischen Analysen zeigen, dass wir Worker Voice Tools als ein »Feld« im politischen Kontext von Lieferketten verstehen müssen. Prozesse der Wertschöpfung und ihre Koordinierung sind in diesem Sinne keine rein ökonomischen Phänomene, sondern finden in umkämpften organisatorischen Feldern statt, »in denen die Akteure um die Konstruktion von wirtschaftlichen Beziehungen, Governance-Strukturen, institutionellen
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Regeln und Normen sowie diskursiven Rahmungen ringen« (Levy 2008, S. 944; eigene Übersetzung). Machtungleichgewichte, ökonomische Entwicklungsunterschiede und starke Hierarchien prägen dabei die Strukturen der Netzwerke (vgl. auch Fischer/Reiner/Staritz 2021). Worker Voice Tools als technische Innovation zur Kommunikation innerhalb solcher Netzwerke sind damit auch nicht per se gut oder schlecht, sondern eher als politisches Mittel im Ringen um Macht und ökonomische Verteilung zu verstehen.
3.3 Nutzen und Grenzen von Worker Voice Tools für prekär Arbeitende – Einblicke aus der Kaffeeernte in Brasilien Im Folgenden wollen wir die allgemeinen Einschätzungen zum entstehenden politischen Feld der Worker Voice Tools aus der Literatur und unserer Analyse um Eindrücke aus Interviews ergänzen, die wir im April und Mai 2022 im Rahmen einer Fallstudie mit Arbeiter*innen im Kaffeeanbau in Minas Gerais (Brasilien) geführt haben. Insgesamt wurden in dieser zweiten Phase des Projekts 34 Interviews mit Arbeiter*innen, Mitgliedern von Gewerkschaften, Vertreter*innen von zivilgesellschaftlichen Organisationen und auch der brasilianischen Arbeitsinspektion geführt. Arbeit in globalen Lieferketten ist überaus divers und die jeweiligen sozioökonomischen und kulturellen Kontexte unterscheiden sich immens. Wir versuchen daher nicht, eine repräsentative Fallstudie zu entwickeln, sondern wollen anhand eines Beispiels einige zentrale Potenziale und Risiken für Arbeiter*innen verdeutlichen. Dieses Beispiel scheint uns aus vier Gründen gut geeignet, um das mögliche Potenzial von Worker Voice Tools für Beschäftigte näher zu betrachten: •
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weil der Kaffeeanbau in Minas Gerais stark exportorientiert ist und diese Region zu den weltweit wichtigsten Regionen für die Kaffeeproduktion zählt – und damit ein starker transnationaler Lieferkettenbezug vorhanden ist; weil der Sektor und die Region eine hohe Relevanz für europäische und auch deutsche Importeure haben; weil die Arbeitssituation in der Kaffeeernte äußerst prekär ist und damit für menschenrechtliche sowie gewerkschaftspolitische Interessen eine hohe Relevanz aufweist;
Menschenrechtliche Sorgfaltspflicht und der Einsatz von Worker Voice Tools •
weil Gewerkschaften und zivilgesellschaftliche Organisationen in Minas Gerais vorhanden und vor Ort engagiert sind, angesichts der hohen Informalität der Arbeit aber vor großen Hürden stehen, insbesondere auch im Hinblick auf die Kommunikation mit und die Organisation von Arbeiter*innen.
Arbeiter*innen in der Ernte in Minas Gerais sind hoher Informalität ausgesetzt, d. h. sie arbeiten regelmäßig ohne formalen Arbeitsvertrag und jenseits sonstiger sozialstaatlicher Absicherung. Häufig berichten sie von Erfahrungen mit Kinderarbeit, und sehr lange Arbeitszeiten sind die Regel (vgl. z. B. Jesus/Gandolfi/Gandolfi 2021). Zudem beklagen die Erntearbeiter*innen oftmals, dass die Entlohnung nicht der geleisteten Arbeit entspricht und sie beim Wiegen der geernteten Bohnen von ihren Vorgesetzten betrogen werden. Der Lohn bemisst sich zwar nach dem Gewicht der geernteten Bohnen, allerdings werde während des Wiegevorgangs auf der Ladefläche regelmäßig die über den Rand des Wiegebehälters aufgeschichtete Menge auf die Ladefläche geschoben, sodass nicht das volle geerntete Gewicht bezahlt wird – ein Vorgang, den die Arbeiter*innen als große Ungerechtigkeit und Ausdruck der alltäglichen Machtungleichheit sehen (Interviews #8WC22, #9WC22, #10WC22, #1UM22, #6UM22). In diesem Arbeitskontext zeigt sich also die extreme Machtungleichheit innerhalb des Wertschöpfungsnetzwerks, aber auch Notwendigkeit und Potenzial zur kollektiven Organisierung, um Arbeits- und Menschenrechte zu erkämpfen. Viele der von uns interviewten Arbeiter*innen besitzen ein Smartphone, verwenden Messenger-Dienste und informieren sich über alltägliche Themen, Politik und auch die Bedingungen und Preise der Kaffeeernte (Interviews #8WC22, #9WC22, #12WC22). Die Option der Workers’ Voice, also der Beteiligung oder zumindest Kommunikation ihrer arbeitsrechtlichen Anliegen entlang der Lieferkette oder direkt mit multinationalen Leitunternehmen, scheint für die Erntearbeiter*innen allerdings keine hohe Priorität zu haben. Für die besonders prekär beschäftigten Plantagenarbeiter*innen stellt sich das besondere Problem, dass sie nahezu keine Informationen über den Kontext ihrer Arbeit haben. Die meisten wissen z. B. nicht, für welche Unternehmen sie jeweils produzieren.
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Manche Arbeiter*innen sind auch nicht mit ihren grundlegenden Arbeitsrechten vertraut. Andere wiederum kennen ihre rechtliche Situation zwar gut, empfinden aber weitgehende Ohnmacht hinsichtlich ihrer Möglichkeiten, gegen Rechtsverletzungen vorzugehen, weil ihre Beschäftigung in den allermeisten Fällen informell und ohne Arbeitsvertrag ist (Interviews #10WC22, #12WC22). Sie haben keine festen Löhne, denn ihr Einkommen basiert vollständig auf der Menge der geernteten Kaffeebohnen. Gewerkschaften haben angesichts des hohen Grads an Informalität kaum Einfluss, da sie nur einen geringen Anteil der Arbeiter*innen repräsentieren können (Interviews #1UM22, #5UM22). In einem solch prekären Kontext, in dem Arbeiter*innen von der weiteren Lieferkette weitgehend isoliert sind, durch Gewerkschaften kaum Einfluss geltend machen können und keine effektiven Möglichkeiten der Beschwerde haben, könnten digitale Kommunikationswerkzeuge bzw. Worker Voice Tools durchaus ein Potenzial haben, zu einem verbesserten Schutz grundlegender Arbeitsrechte beizutragen. So nutzen die meisten Arbeiter*innen ohnehin bereits ein Smartphone und stehen auch über kommerzielle Messenger-Dienste in Kontakt zueinander. Daher könnten Smartphone-Apps mit speziellen Informationen zu Arbeitsrechten, Lieferkette und möglichen Kommunikations- und Beschwerdekanälen das bestehende Informationsdefizit durchaus verringern. Andererseits bestehen in der Region aus Sicht der Arbeiter*innen und Gewerkschaften große Gefahren hinsichtlich mangelnder Datensicherheit, neuer Formen der Kontrolle und Überwachung sowie vor allem der Undurchsichtigkeit, wie und von wem die eigenen Daten genutzt werden (Interviews #12WC22, #2UM22, #3UM22). Zentral ist daher aus Sicht der interviewten Arbeiter*innen die Frage, wer über die Tools bzw. ihre Ausgestaltung und Anwendung verfügt. Ihrer Ansicht nach müssten die Tools durch Gewerkschaften bzw. in deren direktem Auftrag betrieben werden. Wenn die Anwendungen für Beschwerden genutzt werden sollen, ist es den Beschäftigten vor allem wichtig, dass sie nachverfolgen können, welchen Weg die Beschwerde geht und was ihre Konsequenzen sind (Interviews #8WC22, #10WC22). Bisher kennen die von uns interviewten Arbeiter*innen in Minas Gerais keines der großen, transnational vertriebenen Worker Voice Tools. Lokale Stakeholder und die Bundesstaatsanwaltschaft, die gemeinsam mit der Arbeitsinspektion von Minas Gerais die Verantwortung für das Moni-
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toring von Arbeitsbedingungen in der Region trägt, betonen allerdings, dass in Brasilien bereits zwei nationale Tools von öffentlicher Seite genutzt werden (Interviews #2SInst22, #3SInst22): •
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die Plataforma Ipê, die seit 2020 Anzeigen – sogenannte denúncias – von Arbeiternehmer*innen, Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften und Arbeitsinspektor*innen erhält;1 das Pardal-System verfolgt ein ähnliches Ziel, erhält jedoch Anzeigen bei Menschenrechtsverletzungen im weiteren Sinne, also nicht nur im Bereich der Arbeit.2
Hier zeigt sich, dass regional angepasste Kommunikations-Tools, die nicht für multinationale Leitfirmen, sondern für öffentliche Arbeitsrechtsinspektionen konzipiert sind, den Arbeiter*innen offenbar zweckmäßiger und vertrauenswürdiger erscheinen. Wir konnten zudem auch die Nutzung kommerzieller Messenger-Dienste – vor allem WhatsApp – für die Vernetzung und Peer-to-Peer-Kommunikation zwischen Arbeiternehmer*innen feststellen. Auf diese Art nehmen viele unserer Interviewpartner*innen Kontakt mit Gewerkschaften und auch mit der staatlichen Arbeitsinspektion auf. Allerdings gab es eine weitverbreitete Skepsis hinsichtlich der Datensicherheit solcher Anwendungen. Daher scheinen solche Tools über ihre typischen Kommunikationsfunktionen hinaus nur wenig für arbeitsrechtliche Belange genutzt zu werden. Sollten aber die Funktionen von Worker Voice Tools im oben beschriebenen Sinne den Risiken glaubhaft begegnen und ihr Potenzial für Gewerkschaften und Arbeiter*innen entfalten, so könnten sie gerade prekär Arbeitenden als Informationskanal und für Zwecke der Vernetzung dienen. Eine wichtige Voraussetzung hierfür wäre die eigene Verantwortung und Kontrolle über die Worker Voice Tools durch Gewerkschaften bzw. auch öffentliche Akteur*innen wie z. B. Arbeitsinspekteur*innen. 1 | Weitere Informationen unter www.gov.br/trabalho-e-previdencia/pt-br/compo sicao/orgaos-especificos/secretaria-de-trabalho/inspecao/trabalho-sustentavel/ipe (Abruf am 3.11.2022). 2 | Die Anwendung kann kostenlos heruntergeladen werden unter https://play. google.com/store/apps/details?id=br.mp.mpt.pardal.denuncias oder https://apps. apple.com/br/app/mpt-pardal/id1110132740?l=en (Abruf am 3.11.2022).
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3.4 Workers’ Voice als Element des Risikomanagements Einerseits bieten Worker Voice Tools also eine sehr naheliegende technologische Unterstützung für die Umsetzung der menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht gemäß Lieferkettengesetz. Sie erlauben den Unternehmen, Interessen und Belange von Stakeholdern entlang der Lieferkette gezielt abzufragen, und können zudem als Beschwerdekanal und Informationsplattform eine Unterstützung darstellen. Durch normative Prinzipien der Datensicherheit und »Ownership« bzw. Partizipation von Multiakteursgruppen (vgl. auch WEST Principles 2019) werden Worker Voice Tools vermutlich einen zunehmend wichtigen Beitrag zur Ergänzung und auch Legitimierung von unternehmerischem Risikomanagement leisten. Teilweise können sie den Unternehmen zudem ein effektiveres Management von Risiken und Beschwerden erlauben, vor allem dann, wenn es viele Zulieferbetriebe gibt und das Leitunternehmen daher, um der Sorgfaltspflicht gemäß Lieferkettengesetz nachzukommen, auf die effiziente Erhebung und Verarbeitung großer Datenmengen zu Arbeitsrechten in der Lieferkette angewiesen ist. Andererseits verbleiben die Worker Voice Tools damit aber eher im Bereich des Risikomanagements der Leitunternehmen. Workers’ Voice scheint in diesem Zusammenhang eher zu einer Art Ressource für das betriebswirtschaftliche Nachhaltigkeitsmanagement zu werden, weniger für Gewerkschaften und bessere Teilhabe. Bisher deutet jedenfalls wenig darauf hin, dass die von transnationaler Seite angebotenen Worker Voice Tools tatsächlich im Sinne besserer Mobilisierung und Organisierung sowie verstärkter Teilhabe der Arbeiter*innen funktionieren. Das Lieferkettengesetz scheint hinsichtlich der Konkretisierung von Stakeholder-Beteiligungen (bisher) auch zu unkonkret bzw. im Hinblick auf die Gestaltung der Stakeholder-Partizipation zu wenig anspruchsvoll, als dass sich die Bemühenspflicht über digitale Kommunikationstools der Leitunternehmen tatsächlich in verbesserte Teilhabe von Arbeitnehmer*innen vor Ort übersetzen lassen würde. Nicht ausgeschlossen ist aber, dass sich eine solche Entwicklung mit der Zeit durch weitere Dynamiken in der Lieferkettengesetzgebung und ihren praktischen Auslegungen ergibt. Die digitale Technologie selbst scheint kein zentrales Problem von Worker Voice Tools als Instrument für Arbeitnehmer*innen und Gewerkschaften zu sein – sie kann durchaus wertvol-
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le Kommunikationsinstrumente zum Anzeigen von Missständen in verzweigten Lieferketten bieten, wie die Beispiele Plataforma Ipê und Pardal aus Brasilien zeigen, wo die Tools der besseren Kommunikation zwischen Arbeiter*innen und Staatsanwaltschaft bzw. Arbeitsinspektion dienen. Vielmehr stellt der Ausgangspunkt und die primäre Ausrichtung des Feldes an der Zielgruppe der Leitunternehmen ein Problem dar. Gewerkschaften und Arbeiter*innen selbst haben damit ein Kontroll- und Wissensbzw. Informationsdefizit im entstehenden Feld der Worker Voice Tools, das trotz deren anderslautenden Anspruchs bisher nicht behoben wurde oder sogar künftig durch die Beauftragung und Nutzung der Tools durch Leitunternehmen noch verstärkt werden könnte. Aus gewerkschaftlicher Sicht wäre es daher notwendig, dass Worker Voice Tools tatsächlich von Arbeiter*innen und deren Gewerkschaften bzw. lokalen Arbeitsrechtsorganisationen – oder in ihrem Auftrag – (mit) gestaltet und angewendet werden (Interviews #1UM22, #7UM22). Regionale Anwendungen wie die Plataforma Ipê mit ihrer Einbindung öffentlicher Regulierungsinstanzen könnten ein Vorbild auch für andere Tools sein. Entsprechend müssten öffentliche Akteur*innen und auch Gewerkschaften das zunehmend verdichtete Feld der Worker Voice Tools stärker mitgestalten und gezielt nutzen, um damit öffentliche Kontrollen oder auch gewerkschaftliche Offline-Strategien der Organisierung zu verbinden. Bisher scheint es jedoch eher wahrscheinlich, dass das Feld der Worker Voice Tools die ohnehin vorhandenen Dominanzverhältnisse zugunsten großer profitorientierter Provider widerspiegelt, ähnlich wie wir es auch von transnationalen Audit-Regimes kennen (Kyritsis/LeBaron/Anner 2019; LeBaron/Lister 2015).
4. Fazit Worker Voice Tools dürften im Zuge des Lieferkettengesetzes und der europäischen Sorgfaltspflichteninitiative weiter an Bedeutung gewinnen. Für das Unternehmensmanagement können sie ein wertvolles Instrument zur Erfüllung der Sorgfaltspflicht sein, da sie umfassende Daten zu Arbeitsbedingungen in der Lieferkette mit vergleichsweise geringem Aufwand erfassen können. Der Einsatz von Worker Voice Tools sollte aber nicht als Ersatz für Dialog und Teilhabe von Arbeitnehmer*innen missverstanden werden.
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Die Kontrolle über Entwicklung, Beauftragung und Nutzung von Worker Voice Tools entlang der Lieferketten ist bisher ungleich zugunsten profitorientierter Provider und beauftragender Leitunternehmen organisiert. Daher besteht die Gefahr, dass sie zu einer digitalen Variante heutiger Audit- und Benchmarking-Praktiken werden, die mit ähnlichen Problemen und Schwächen einhergehen, also wenig zum Schutz von Arbeitsrechten beitragen und eher legitimierend im Sinne großer Unternehmen wirken. Wir sehen deshalb das Risiko, dass die aktuellen politischen und technologischen Entwicklungen zu einer »Partizipation light« führen, die Unternehmen erlaubt, ihre Sorgfaltspflicht und die damit verbundene Notwendigkeit der Stakeholder-Konsultation zu erfüllen, die zugleich aber technikfokussiert bleibt und den Gesetzen der Profitorientierung folgt, sodass sie keine stärkere Beteiligung für Arbeitnehmer*innen mit sich bringt. Workers’ Voice hätte dann einen großen Wert für das Risikomanagement im Zuge der neuen Lieferkettengesetze, ohne aber zu effektiver Teilhabe der Beschäftigten beizutragen. Besseres Risikomanagement und verbesserte Teilhabe von Beschäftigten schließen sich aber selbstverständlich nicht aus. Verstehen wir das Feld der Workers’ Voice in Lieferketten nicht primär als technologisches, sondern als politisches, d. h. als ein durch Macht- und Interessenkonflikte geprägtes Feld, entstehen auch Spielräume, um die Regeln für den Einsatz von digitalen Worker Voice Tools im Interesse der Beschäftigten zu gestalten. Beispielsweise können die grundlegenden Prinzipien zur verantwortungsvollen Verwendung von Kommunikationsanwendungen (WEST Principles 2019) auch explizit Fragen der arbeitspolitischen Kontrolle sowie der Gestaltung und Anwendung einschließlich Datenverfügbarkeit – und damit die Beschäftigten als Zielgruppe der Anwendungen – in den Mittelpunkt stellen. Der Begriff »Workers’ Voice« sollte in diesem Sinne für solche Anwendungen verwendet werden, die durch Arbeiter*innen bzw. ihre gewerkschaftlichen Vertretungen selbst kontrolliert werden. So ist es denkbar, dass Gewerkschaften, insbesondere auch internationale Gewerkschaftsverbände, entsprechende Worker Voice Tools (mit)gestalten und in Zusammenarbeit mit lokalen Gewerkschaften einsetzen, um das Wissen über Arbeitsrechtsverletzungen und allgemeine Arbeitsbedingungen zu verbessern. Auf diese Weise könnte eine Kontrolle der Daten und ihrer Verwendung im Sinne der Beschäftigten gesichert werden. Außerdem könnten
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öffentliche Regulierungsakteur*innen entsprechende Tools nutzen, um Arbeitsrechtsverletzungen besser aufdecken und kontrollieren zu können, wie die von uns erwähnten Beispiele aus Brasilien zeigen. Auch dies könnte in Zusammenarbeit mit Gewerkschaftsverbänden erfolgen.
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nance von Arbeitsrechten in globalen Wertschöpfungsketten. WSI-Mitteilungen, Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung (im Erscheinen). WEST Principles (2019): White Paper: Realizing the Benefits of Worker Reporting Digital Tools, https://westprinciples.org/wp-content/uploads/ 2019/03/west_principles_white_paper-realizing_the_benefits_of_wor ker_reporting_digital_tools.pdf (Abruf am 11.10.2022).
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»Schöne neue Lieferkettenwelt« Workers’ Voice und Arbeitsstandards in Zeiten algorithmischer Vorhersage Lukas Daniel Klausner, Maximilian Heimstädt, Leonhard Dobusch
1. Einleitung Die Komplexität und zunehmend enge Kopplung vieler Lieferketten stellt eine große logistische Herausforderung für Leitunternehmen dar. Eine weitere Herausforderung besteht darin, dass Leitunternehmen – gedrängt durch Konsument*innen, eine kritische Öffentlichkeit und gesetzgeberische Maßnahmen wie die Lieferkettengesetze – stärker als bisher Verantwortung für Arbeitsstandards in ihren Zulieferbetrieben übernehmen müssen. In diesem Beitrag diskutieren wir einen neuen Ansatz, mit dem Leitunternehmen versuchen, diese Herausforderungen zu bearbeiten: die algorithmische Vorhersage von betriebswirtschaftlichen, aber auch ökologischen und sozialen Risiken. Wir beschreiben die technischen und kulturellen Bedingungen für algorithmische Vorhersage und erklären, wie diese – aus Perspektive von Leitunternehmen – bei der Bearbeitung beider Herausforderungen hilft (Abschnitte 2–4). Anschließend entwickeln wir Szenarien, wie und mit welchen sozialen Konsequenzen algorithmische Vorhersage durch Leitunternehmen eingesetzt werden kann (Abschnitt 5). Aus den Szenarien leiten wir Handlungsoptionen für verschiedene Stakeholder-Gruppen ab, die dabei helfen sollen, algorithmische Vorhersage im Sinne einer Verbesserung von Arbeitsstandards und Workers’ Voice weiterzuentwickeln (Abschnitt 6).
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2. Management von Lieferketten – zwischen Komplexität und Verantwortung Für Leitunternehmen in globalen Lieferketten stellen sich aktuell zwei unterschiedliche Herausforderungen. Die erste Herausforderung betrifft die zunehmende Komplexität vieler Lieferketten bei gleichzeitig enger Kopplung der einzelnen Glieder. Insbesondere von dieser Entwicklung betroffen sind Industrien und Branchen, in denen Leitunternehmen verschiedene Komponenten ihrer Endprodukte nicht von einigen wenigen Zulieferern, sondern von einer Vielzahl hochgradig spezialisierter Zulieferbetriebe beziehen (vgl. insbesondere die Typen der relational bzw. captive value chains nach Gereffi/Humphrey/Sturgeon 2005; siehe auch den Beitrag von Herr/ Teipen/Gräf in diesem Band). Zudem herrscht bei vielen Konsumgütern (beispielsweise Kleidung) ein erbitterter Preiskampf, sodass die Margen der Leitunternehmen vor allem mittels hoher Absatzzahlen und aufwendig organisierter Logistik erzielt werden (»Fast Fashion«; Bhardwaj/Fairhurst 2010). Neben Versuchen, die Preise der einzelnen Komponenten niedrig zu halten, werden auch Transport und sonstige Logistik knapp kalkuliert und eng getaktet (»just in time«). Aus dieser hohen Komplexität und engen Kopplung globaler Lieferketten ergibt sich für Leitunternehmen ein ausgeprägtes Bedürfnis nach möglichst genauen Informationen über Störungen im Betriebsablauf, insbesondere über Hindernisse im Fluss der Komponenten und Endprodukte aus Ländern des globalen Südens in Richtung der Heimatmärkte, die sich zumeist im globalen Norden befinden. Aus der Frage, wie sich Lieferketten weiter rationalisieren lassen, ergibt sich für Leitunternehmen eine zweite Herausforderung: Verantwortung. Ambitionierte Renditeziele geben Leitunternehmen oftmals in Form von Preisdruck unmittelbar an ihre Zulieferbetriebe weiter. Beginnen globale Lieferketten in den Ländern des globalen Südens, stehen oft nur wenige institutionelle Barrieren zwischen diesem Preisdruck und den Sozialstandards für die Arbeiter*innen. Der aus dem globalen Norden durchgereichte Preisdruck kann somit zu niedrigen Löhnen und mangelnden Sicherheitsmaßnahmen am Arbeitsplatz führen. Für längere Zeit schien es so, als würden Leitunternehmen diese Entwicklung nicht wahrnehmen oder sogar bewusst ignorieren oder leugnen. Die Motivation vieler Unternehmen zu stärkerer Verantwortungs-
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übernahme für soziale sowie arbeits- und menschenrechtliche Standards in der Lieferkette schien ohne starken Druck von außen gering. Dies hat sich in den letzten Jahren geändert, vor allem als Folge einer Reihe dramatischer Ereignisse – allen voran das Rana-Plaza-Desaster von 2013, bei dem beim Zusammensturz einer Kleidungsfabrik in Bangladesch mehr als 1000 Menschen ums Leben kamen (Schüßler/Frenkel/Wright 2019; Schüßler/Lohmeyer/Ashwin 2022). Durch die Berichterstattung rund um diesen und andere Unglücksfälle haben die Verbindungen zwischen Leitunternehmen im globalen Norden und ihren Zulieferbetrieben im globalen Süden mehr Aufmerksamkeit erfahren. Zunehmend müssen sich Leitunternehmen Fragen der Verantwortung für die sozialen Standards in ihren Zulieferbetrieben stellen. Auch in diesem Zusammenhang steht die Hinwendung der Unternehmen zu Verfahren der algorithmischen Vorhersage von Unmut und sozialen Unruhen. Die Anbieter solcher informationstechnischer Verfahren versprechen den Unternehmen eine »schöne neue Lieferkettenwelt«, in der sich die beiden Herausforderungen des Managements globaler Lieferketten – Verantwortung und Rationalisierung – gleichzeitig meistern lassen. Durch die Kombination aus öffentlich zugänglichen Daten (z. B. aus Social-Media-Plattformen) und lernfähigen Analyseverfahren soll es möglich werden, sowohl die Komplexität der globalen Wertschöpfung effizienter zu gestalten als auch unzureichende Arbeitsverhältnisse präziser und schneller sichtbar zu machen. Es besteht jedoch auch die Gefahr, dass eine Beteiligung der Beschäftigten konterkariert wird, wenn die Verknüpfung personenbezogener digitaler Daten mit automatisierten Prognosen neue Formen der Überwachung ermöglicht; auch im Sinne einer antizipativen Repression. Das Ziel unseres Beitrages ist es daher, die Konsequenzen der algorithmischen Vorhersage einzuschätzen und daraus Empfehlungen für einen regulatorischen Rahmen abzuleiten. Hierfür werfen wir in Abschnitt 3 zunächst einen Blick auf die Funktionsweise und Versprechen algorithmischer Vorhersageinstrumente. Anschließend beschreiben wir in Abschnitt 4, wie der Einsatz algorithmischer Vorhersage durch neue Lieferkettengesetze befördert wird. Anschließend entwickeln und analysieren wir in Abschnitt 5 drei Szenarien, wie algorithmische Vorhersage in Lieferketten mit Workers’ Voice und Arbeitsstandards zusammenwirkt. Abschließend diskutieren wir in Abschnitt 6 regulatorische Konsequenzen und Wechselwirkungen mit weiteren Ansätzen zur Sicherstellung sozialer Standards in globalen Lieferketten.
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3. Algorithmische Vorhersage in Lieferketten Algorithmische Vorhersage bedient das Bedürfnis von Organisationen, Wissen über die Zukunft zu erlangen, um in der Gegenwart bessere Entscheidungen zu treffen. Algorithmische Vorhersage unterscheidet sich dabei von klassischen Formen des Zukunftswissens wie Szenarien oder Trends. Letztgenannte suggerieren Organisationen, dass sie ihre Handlungen an einem in der Zukunft liegenden Ereignis ausrichten können, ohne aber das Ereignis selbst beeinflussen zu können (Flyverbom/Garsten 2021). Beispielsweise beschreibt ein Szenario, dass bei einem wahrscheinlichen Regierungswechsel in einem Zulieferland der Mindestlohn erhöht wird. Dieses Szenario erlaubt dem Leitunternehmen, nach neuen Lieferanten in anderen Ländern zu suchen. Das Unternehmen geht jedoch nicht davon aus, dass seine Suche den Ausgang der Wahl beeinflusst. Dem Zukunftswissen der algorithmischen Vorhersage werden Fähigkeiten zugeschrieben, die weiter reichen. Bei algorithmischen Vorhersagen handelt es sich um sogenannte »operative Prognosen« (Singelnstein 2018): Vorhersagen, die sich auf Ereignisse in der nahen Zukunft beziehen und die den Ort der Entscheidung so schnell erreichen, dass das prognostizierte Ereignis durch Eingreifen in den Lauf der Dinge abgewendet oder zumindest abgeschwächt werden kann. Die Figur der operativen Prognose lässt sich in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen antreffen. Im Polizeiwesen verspricht »Predictive Policing«, dass sich mittels spezieller Algorithmen aus polizeiinternen und externen Daten ortsspezifische Einbruchswahrscheinlichkeiten vorhersagen lassen (Adensamer/Klausner 2021; Egbert/Heimstädt/Esposito 2022; zum verwandten Feld der »civil unrest prediction« vgl. Grill 2021). Im Versicherungswesen wird versprochen, dass »Machine Learning« mittels Daten über Kreditwürdigkeit und Fahrverhalten Vorhersagen über das individuelle Unfallrisiko treffen kann (Cevolini/Esposito 2020; Kiviat 2019). Im Gesundheitswesen wiederum wird unter dem Begriff »Precision Medicine« versprochen, dass durch die algorithmische Auswertung biologischer, genetischer, historischer und sozioökonomischer Daten Krankheitsverläufe vorhergesagt und Präventions- und Behandlungsverfahren individualisiert werden können (Bíró et al. 2018). Folgt man den Angaben der Anbieter algorithmischer Vorhersage in Lieferketten, lässt sich die operative Prognose auf diesen Kontext übertragen – etwa durch Vorhersage
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eines nahenden Streiks, sodass ein Leitunternehmen Gespräche mit Arbeiter*innen vor Ort aufnehmen kann, um den Streik abzuwenden (Heimstädt/ Dobusch 2021). Wie aber wird dieses scheinbar so wirkmächtige Wissen über die Zukunft geschaffen? Wie auch andere Formen der operativen Prognose setzt sich algorithmische Vorhersage in Lieferketten aus zwei Komponenten zusammen: aus großen Datenmengen (Big Data) und maschinellem Lernen (Machine Learning). »Big« werden die für eine Prognose genutzten Daten durch die Kombination verschiedener Quellen. Zum einen wird oft von eher »konventionellen« öffentlich zugänglichen Daten gesprochen, beispielsweise sozioökonomischen Daten zu Ländern und Märkten, aber auch Daten, die nur einen indirekten ökonomischen Bezug haben, wie etwa Wetterdaten. Zum anderen geben viele Anbieter algorithmischer Vorhersage an, auch Daten aus klassischen Nachrichtenquellen (etwa der Presse) und aus Social-MediaPlattformen zu kombinieren. Letzteres wird auch als »Open Source Intelligence« (OSINT) bezeichnet. Manche Social-Media-Unternehmen bieten über Schnittstellen direkten Zugriff auf ihre Daten, andernfalls lassen sich die Daten über sogenanntes Crawling oder Scraping verfügbar machen, d. h. automatisierte Verfahren, um Daten von Internetseiten abzurufen. Die Rolle von Machine Learning in der Auswertung dieser Daten liegt darin, die Informationen aus verschiedenen Sprachräumen zusammenzuführen und Muster über die unterschiedlichen Daten hinweg zu identifizieren. Hierzu werden sogenannte selbstlernende Algorithmen eingesetzt, die nach einer »Trainingsphase« (die oft durch Vorbereitung der Datensätze angeleitet, manchmal aber auch kaum bis gar nicht gesteuert ist) Muster in den Daten herausfiltern und darauf aufbauend Vorhersagen für die Zukunft treffen. Für welche Ereignisarten genau solche algorithmischen Vorhersagen angestellt werden, unterscheidet sich je nach Anbieter; häufig werden jedoch politische Unruhen, Turbulenzen im Finanzsystem, Industrieunfälle oder ethisches Fehlverhalten im Management genannt. Mitunter schlüsseln Anbieter die Vorhersagen noch genauer auf. Beispielsweise beschreiben Heimstädt und Dobusch (2021, S. 202), dass ein Anbieter politische Unruhen weiter in »Proteste« und »Demonstrationen« unterteilt; Zwischenfälle im Bereich Corporate Social Responsibility (CSR) werden in »schlechte Arbeitsbedingungen« und »Menschenrechtsverletzungen« unterteilt.
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Aus sozialwissenschaftlicher Sicht ist ein Blick in die Zukunft zwar nicht möglich (Luhmann 1976), aber die Art und Weise, wie sich Individuen und Organisationen auf die Zukunft beziehen, hat durchaus greifbare Konsequenzen (Beckert 2013; Mische 2009). Es lohnt sich daher zu fragen, wie und woher Verfahren wie die oben beschriebenen ihre kulturelle Plausibilität beziehen. Warum glauben Entscheidungsträger*innen in Polizei, Versicherungswesen, Medizin oder Unternehmen daran, dass mit der Kombination von Big Data und Machine Learning der Blick in die Zukunft gelingen kann? Leonelli (2014) argumentiert, dass diese Kombination über die Zeit hinweg eine Aura der Allgemeingültigkeit bekommen habe, weil immer wieder sehr plausible, aber hochgradig kontextgebundene Beispiele verallgemeinert wurden. Ein sehr bekanntes Beispiel hierfür ist die kund*innenspezifisch gezielte Produktwerbung der Supermarktkette Target in den USA: Das Kaufen gewisser Produkte korrelierte in den der Supermarktkette verfügbaren Daten damit, dass einige Monate später regelmäßig Wegwerfwindeln, PräMilch und andere Babyprodukte gekauft wurden, weshalb entsprechenden Kund*innen auf Basis ihrer vergangenen Einkäufe auf sie zugeschnittenes Werbematerial mit Schwangerschaftsprodukten zugesandt wurde. In einem Fall in Minneapolis bekam ein Haushalt auf diesem Wege Produktwerbung für die jugendliche Tochter zugeschickt, bevor die Eltern überhaupt von der Schwangerschaft wussten (Duhigg 2012). Natürlich ist dieses Beispiel der Schwangerschaftsvorhersage durch Warenkorbdaten nicht mit der Vorhersage von Streiks in Lieferketten zu vergleichen. Bei genauerer Betrachtung scheint es sogar eher unwahrscheinlich, dass Softwareanbieter ohne jegliche Einbettung in eine lokale und situative Arbeitsumgebung tatsächlich in der Lage sind, über unterschiedliche geografische Räume hinweg genaue Einschätzungen von Sozialstandards in Lieferketten zu leisten – und doch bietet eine wachsende Zahl von Unternehmen entsprechende Beratungsleistungen für Leitunternehmen an. Ein Grund hierfür liegt unserer Ansicht nach in der kulturellen Legitimität algorithmischer Wirkmacht, die durch plakative Beispiele geschaffen und anschließend mit wenig »Reibungsverlusten« in »unwahrscheinlichere«, d. h. weniger glaubhafte Anwendungsbereiche wie z. B. Lieferketten übertragen wurde. Eine weitere, nicht weniger wichtige Erklärung besteht in den aktuellen Gesetzgebungsvorhaben zu Lieferkettengesetzen, auf die Anbieter von algorithmischer Vorhersage sehr rasch reagiert haben.
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4. Durch Algorithmen Lieferkettengesetze erfüllen? Wie eingangs beschrieben scheint der Einsatz algorithmischer Vorhersage attraktiv für Leitunternehmen in Lieferketten, da das Verfahren verspricht, sowohl die Herausforderung der Komplexität als auch die der Verantwortungsübernahme bezüglich Arbeitsbedingungen zu bearbeiten. In den letzten Jahren sind die Gesetzgeber in einigen Staaten des globalen Nordens zu dem Schluss gekommen, dass eine rein freiwillige Verantwortungsübernahme der Leitunternehmen nicht genügt, um das Problem schlechter Arbeitsbedingungen in Lieferketten zu beheben. Bemühungen, rechtliche Rahmenbedingungen für Leitunternehmen so zu verändern, dass sich die sozialen Standards in Zulieferbetrieben verbessern, wurden je nach Land von verschiedenen Akteur*innen vorangetrieben und haben bisher zu unterschiedlichen Ergebnissen geführt. In einigen Ländern und Rechtsräumen wurden im Laufe der letzten zehn bis fünfzehn Jahre Sorgfaltspflichten entweder für spezifische Rechtsbereiche verabschiedet, z. B. 2019 in den Niederlanden (Wet zorgplicht kin derarbeid – Gesetz über eine Sorgfaltspflicht zur Vermeidung von Kinderarbeit) oder 2015 im Vereinigten Königreich (Modern Slavery Act – Gesetz gegen moderne Sklaverei), oder für bestimmte Branchen und Geschäftsfelder, z. B. 2021 in der Europäischen Union (Konfliktmineralien-Verordnung) oder 2010 in den Vereinigten Staaten (Conflict Minerals Provision, formal Abschnitt 1502 des Dodd Frank Act). Mit der deutschen Rechtslage sind hinsichtlich Umfang und Geltungsbereich der Sorgfaltspflichten am ehesten die Rechtslage in Frankreich (2017: Loi relative au devoir de vigilance des sociétés mères et entreprises don neuses d’ordre – Gesetz zu unternehmerischen Sorgfaltspflichten) und Norwegen vergleichbar (2022: Åpenhetsloven – Transparenzgesetz). Über diese bereits verabschiedeten Gesetze hinaus gibt es noch zahlreiche weitere Gesetzesvorhaben und aus der Zivilgesellschaft kommende Entwürfe und Forderungen. Exemplarisch genannt seien hier nochmals die Europäische Union (Richtlinie zur Due-Diligence-Prüfung der Nachhaltigkeit von Unternehmen; erster Entwurf vorgelegt am 23. Februar 2022), Österreich (»Initiative für ein Lieferkettengesetz«) und die Schweiz (eidgenössische Volksinitiative »Für verantwortungsvolle Unternehmen – zum Schutz von Mensch und Umwelt«, kurz Konzernverantwortungsinitiative; bei der Volksabstimmung am 29. November 2020 knapp gescheitert).
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In Deutschland wurde das »Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten zur Vermeidung von Menschenrechtsverletzungen in Lieferketten« (kurz Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz/LkSG) im Sommer 2021 beschlossen. Es trat zum 1. Januar 2023 zunächst nur für Unternehmen mit mindestens 3.000 Mitarbeiter*innen in Kraft; ab 1. Januar 2024 gilt es auch für alle Unternehmen mit mindestens 1.000 Mitarbeiter*innen. Neben einigen allgemeineren Punkten (wie etwa Einrichtung eines Risikomanagements, Durchführung regelmäßiger Risikoanalysen, Einrichtung eines Beschwerdeverfahrens sowie Dokumentation und Berichterstattung) verpflichtet das Lieferkettengesetz die betroffenen Unternehmen insbesondere zur Umsetzung von Sorgfaltspflichten in Bezug auf Risiken bei Zulieferbetrieben. Bei den vom Lieferkettengesetz vorgesehenen Sorgfaltspflichten handelt es sich um sogenannte »Bemühenspflichten«, d. h. die Unternehmen sind nicht zur Erbringung eines bestimmten Erfolgs verpflichtet, sondern müssen angemessene Vorkehrungen treffen, um eine Verletzung der Gesetzesbestimmungen zu verhindern. Verantwortlich für die Prüfung der Unternehmen auf Befolgen und Einhalten des Gesetzes ist das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle. Die Obergrenze des Strafausmaßes ist substanziell; verhängt werden können Strafen bis zu 800.000 Euro bzw. bei Unternehmen mit globalen Umsätzen von über 400 Millionen Euro auch bis zu 2 Prozent des globalen Umsatzes. Wird vom Bundesamt ein Bußgeld von mindestens 175.000 Euro ausgesprochen, können die so bestraften Unternehmen zusätzlich für bis zu drei Jahre für die Vergabe öffentlicher Aufträge gesperrt werden. Für Leitunternehmen stellt sich somit die Frage, wie die aus den Lieferkettengesetzen neu erwachsenden Sorgfaltspflichten eingehalten werden können. Zu dieser Frage haben sich rasch eine ganze Anzahl freier Informationsangebote staatlicher, zivilgesellschaftlicher und privatwirtschaftlicher Stellen gebildet – staatlicherseits etwa vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (2022) und der Plattform »CSR in Deutschland« (2022), die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales betrieben wird. Von zivilgesellschaftlicher Seite aus ist z. B. die Initiative Lieferkettengesetz (2021) zu nennen, von privatwirtschaftlicher Seite der Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik (2022) oder die Kanzlei CMS Deutschland (Bernhardt/Minderjahn/Wernecke 2021). Darüber hinaus haben jedoch auch Anbieter algorithmischer Vorhersage die neuen Gesetze als Betätigungsfeld entdeckt. Es lässt sich beobach-
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ten, wie aktuell mehr und mehr Anbieter algorithmischer Vorhersage ihre Dienstleistungen zum »Dual-Use-Produkt« erklären, das sowohl der Rationalisierung und Effizienzsteigerung in den logistischen Abläufen dienen als auch bei der Erfüllung der gesetzlichen Sorgfaltspflichten und beim Bemühen um bessere Sozialstandards unterstützen soll. Konkret im deutschen Markt ist die starke Vermarktung von algorithmischer Vorhersage als Werkzeug für das Lieferkettengesetz erkennbar; einzelne Anbieter offerieren spezielle Informationsveranstaltungen mit diesem Schwerpunkt, die auf ein gesteigertes Interesse seitens der Unternehmen stoßen. So erreichte ein von uns im Mai 2022 besuchter Online-Workshop Hunderte von Zuhörer*innen, die in der abschließenden Fragerunde vor allem Fragen zu rechtlichen Sachverhalten stellten, die teils sehr spezifisch waren.
5. Mögliche Folgen für Workers’ Voice und Sozialstandards Relevant sind nun weniger die technologischen Versprechungen algorithmischer Vorhersage, sondern vielmehr, wie und mit welchen Konsequenzen für Workers’ Voice und Sozialstandards sie konkret in der Praxis von Lieferketten eingesetzt wird. Erweitern diese Vorhersagetechniken die Möglichkeiten von Arbeiter*innen, ihre Sichtweisen, Anliegen, Bedenken und Vorschläge in den betrieblichen Ablauf einzubringen? Oder erschweren sie es den Beschäftigten sogar, Gehör zu finden? Die empirische Forschung zum Verhältnis von algorithmischer Vorhersage und Sozialstandards befindet sich aktuell noch am Anfang (vgl. die Forschungsagenda bei Heimstädt/Dobusch 2021). An dieser Stelle möchten wir daher ein Gedankenexperiment anstellen, um uns dieser Frage anhand von drei Szenarien zu nähern. Dabei sei vorausgesetzt, dass in der Zentrale eines Leitunternehmens im globalen Norden entscheidungsverantwortliche Führungskräfte durch algorithmische Vorhersage »vorgewarnt« werden, dass in einer Hafenanlage im globalen Süden ein Streik wegen Unzufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen bevorstehen könnte. Basis dieser Vorhersage ist, dass Hafenarbeiter*innen ihren Unmut über die Arbeitsbedingungen vor Ort vorab über Social-Media-Plattformen kundgetan haben. Diese Unmutsbekundungen wurden von Anbietern algorithmischer Vorhersage erfasst, ausgewertet und dem Leitunternehmen
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in Form einer Risikoprognose bereitgestellt. Grundlegend ergeben sich aus dieser Situation drei Handlungsoptionen für die Leitunternehmen: •
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•
Im 1. Szenario nutzt das Leitunternehmen die Vorhersage, um frühzeitig in den Dialog mit dem Zulieferunternehmen und/oder den Arbeitnehmer*innen vor Ort zu treten. So können Probleme oder Unstimmigkeiten thematisiert und ggf. ausgeräumt werden. Die Prognose ermöglicht es in diesem Szenario dem Leitunternehmen, die Arbeitsbedingungen vor Ort so schnell und genau zu verbessern, dass ein Streik abgewendet wird. Im 2. Szenario nutzt das Leitunternehmen die Vorhersage, um frühzeitig ausweichende Maßnahmen im betroffenen Abschnitt der Lieferkette einzuleiten (z. B. Nutzung alternativer Transportwege, anderer Zulieferunternehmen etc.). Das Leitunternehmen versucht in diesem Szenario nicht, auf die Ursachen des potenziellen Streiks einzuwirken, sondern nutzt die Vorhersage als Anlass, sich vorsorglich auf seine Folgen vorzubereiten. Im 3. Szenario nutzen Leitunternehmen die Vorhersage, um Maßnahmen einzuleiten, die sich direkt gegen die Arbeitnehmer*innen oder ihre Vertretungen richten (z. B. Entlassung, Einschüchterung oder Bestechung). Wie im 1. Szenario haben auch die Maßnahmen in diesem Szenario das Ziel, den Ausbruch von Streiks und Protesten zu verhindern. Zum Einsatz kommen hierfür jedoch Mittel, die sich in eine lange Geschichte repressiver Maßnahmen in Arbeitskämpfen (»Union Busting«) einreihen.
Die arbeitssoziologische Forschung befasst sich schon seit einiger Zeit mit Fragen von Workers’ Voice auf Social-Media-Plattformen (Heiland/Schaupp 2020; Hodder/Houghton 2015; Panagiotopoulos/Barnett 2015; Rosenblat 2018). Allerdings liegt der Fokus des Forschungsinteresses bislang vor allem auf den Strategien der Beschäftigten. Beispiele sind etwa gewerkschaftliche Kampagnenkommunikation (Bryson/Gomez/Willman 2010; Panagiotopoulos 2012), Mobilisierung trotz eines Mangels an institutionalisierter Interessenvertretung (Gerbaudo 2012; Tufekci 2017) oder die Selbstorganisation von Plattformarbeiter*innen (Wood/Lehdonvirta/Graham 2018). Kaum bis gar nicht untersucht ist hingegen, wie Kommunikation und Inhalte auf diesen Social-Media-Plattformen von Dritten »beobachtet« und anderweitig verwendet bzw. verarbeitet werden. Zudem bleibt unklar, was eine solche Drittauswertung für die betroffenen Beschäftigten und ihre Kommunikation, Vernetzung und Selbstorganisation bedeutet.
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Genau diese Drittbeobachtung ist aber das, was Anbieter algorithmischer Vorhersage versprechen: Als scheinbar unbeteiligte Dritte greifen sie wie oben beschrieben Daten zu arbeitsbezogenen Themen im großen Stil von Social-Media-Plattformen ab. Auf dieser Basis erstellen sie mithilfe ergänzender Daten Prognosen zu sozialen Prozessen und Ereignissen im Umfeld der Arbeitnehmer*innen, z. B. zu geplanten Streiks oder in Vorbereitung oder Durchführung befindlichen Gewerkschaftsgründungen. Mit anderen Worten: Algorithmische Vorhersage greift auf Workers’ Voice zurück, allerdings nicht als Mittel zur Sammlung, Weiterleitung und Verbreitung der Beschäftigtenbelange (siehe hierzu den Beitrag von Scheper/Vestena/Sorg/Zajak in diesem Band), sondern als äußere Beobachtung der auf Social-Media-Plattformen öffentlich einsehbaren Kommunikation über Arbeitsbedingungen, Vernetzung und Organisation der Beschäftigten. Wie verhält sich nun algorithmische Vorhersage zu Workers’ Voice? Die zuvor beschriebenen Szenarien liefern unterschiedliche Antworten auf diese Frage: •
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Im 1. Szenario leistet algorithmische Vorhersage einen Beitrag zu Workers’ Voice. Wir können davon ausgehen, dass die auf Social-Media-Plattformen geteilten Unmutsbekundungen der Hafenarbeiter*innen sowohl konkrete Streikankündigungen als auch eher allgemeine Beschwerden über die Arbeitsbedingungen umfassen. Im Fall konkreter Ankündigungen werden diese über das System der algorithmischen Vorhersage schnell – vielleicht sogar schneller als über »klassische« Kanäle – an die Leitunternehmen und die Unternehmensleitung des Hafens übermittelt. Wenn diese rasch den Dialog mit den Arbeiter*innen aufnehmen, hat sich die algorithmische Vorhersage positiv auf Workers’ Voice ausgewirkt. Im 2. Szenario erreichen die Unmutsbekundungen zwar ebenfalls die Adressaten, jedoch ergeben sich hieraus keine positiven Konsequenzen für die Hafenarbeiter*innen; unter Umständen werden die Arbeitsbedingungen vor Ort sogar schlechter, wenn die Leitunternehmen als Reaktion auf die Streikvorhersage auf andere Logistikrouten umstellen. Am besagten Hafen würden somit als indirekte Folge Aufträge und schließlich Arbeitsplätze wegfallen. Die negativen Konsequenzen der Workers’ Voice würden in diesem Szenario jedoch nicht von einzelnen Arbeiter*innen, sondern von der Gruppe getragen.
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Im 3. Szenario hat algorithmische Vorhersage eindeutig negative Konsequenz auf Workers’ Voice, denn in diesem Szenario werden die algorithmischen Vorhersagen dazu genutzt, gegen einzelne Arbeiter*innen gezielt vorzugehen mit der Rechtfertigung, dass »Gefahr im Verzug« bestehe.
Die Folge der algorithmischen Vorhersage im 3. Szenario ist als »prepression« zu verstehen. Dieser Portmanteau-Begriff, als Verschmelzung von »prevention« und »repression« von Schinkel (2011) geprägt, bezeichnet präventive Maßnahmen, die in ihrer konkreten Absicht und Ausgestaltung repressiven Charakter haben. Insbesondere im Zuge des Booms von »Predictive Policing« wurde dieser Analysezugang in den letzten Jahren immer relevanter, der an Science-Fiction-Erzählungen seit Mitte des 20. Jahrhunderts wie George Orwells »thoughtcrime« oder Philip K. Dicks »pre-crime« erinnert. Wie dargelegt besteht auch im Kontext globaler Lieferketten die Gefahr »präpressiver« Maßnahmen als Antwort auf Organisierungs- und Arbeitskampfprozesse seitens der Arbeitnehmer*innen, was im Widerspruch zu den Zielen steht, die Worker-Voice-Ansätzen zugrunde liegen.
6. Diskussion und Ausblick Algorithmische Vorhersage verspricht Leitunternehmen ein verbessertes Risikomanagement und die Möglichkeit, neue rechtliche Anforderungen und menschenrechtliche Sorgfaltspflichten zu erfüllen. Arbeitnehmervertretungen befürchten jedoch, dass die systematische Auswertung von SocialMedia-Daten neue Möglichkeiten der Überwachung und Präpression von Arbeiter*innen bietet. In diesem Beitrag haben wir erklärt, dass die Konsequenzen von algorithmischer Vorhersage für Arbeiter*innen nicht von der Technologie selbst abhängen – oder, mit Kranzberg (1986) gesprochen: »Technik ist weder gut noch böse; noch ist sie neutral.« Vielmehr hängen die Konsequenzen von wechselseitig miteinander verschränkten Praktiken im Umgang mit algorithmischer Vorhersage in Lieferkettenkontexten ab, die sich grob entlang der Stakeholder-Kategorien Leitunternehmen, Softwareanbieter, Arbeitnehmervertretungen sowie Nichtregierungsorganisationen und kritische Öffentlichkeit systematisieren lassen.
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Leitunternehmen Anhand der drei Szenarien in Abschnitt 5 haben wir gezeigt, dass Leitunternehmen unterschiedliche Schlüsse aus algorithmischen Vorhersagen ziehen können. Manche dieser Schlüsse können Sozialstandards in Lieferketten zuträglich sein, andere lassen sich bereits in dieser frühen Phase der Technologieentwicklung kritisieren. Insbesondere die repressiven Negativszenarien sind aus menschenrechtlicher Sicht problematisch, aber auch die umgehenden Maßnahmen im »Graubereich-Szenario« werfen schon diverse Fragen von Verantwortlichkeit auf. Sollte sich algorithmische Vorhersage dauerhaft in Leitunternehmen etablieren, ist damit zu rechnen, dass die Firmen symbolisch und strukturell auf Schwächen eingehen. Denkbar ist beispielsweise, dass Firmen einen menschen- und datenschutzrechtlich konformen Umgang mit Social-Media-Daten in bestehende Ethikkodizes aufnehmen. Denkbar scheint auch, dass Leitunternehmen die Frage des angemessenen Technologieeinsatzes an bestehende oder neue Berufsgruppen übertragen, beispielsweise »Corporate Digital Responsibility Officers« (Trittin-Ulbrich/Böckel 2022).
Softwareanbieter Neue Lieferkettengesetze befördern die Nachfrage nach algorithmischer Vorhersage, wie in Abschnitt 4 beschrieben. Mit dem Wachstum der Branche werden jedoch auch viele Anbieter mit den beschriebenen Schwächen der Technologie konfrontiert. Sie reagieren darauf bereits mit der Veröffentlichung von Ethikkodizes, führen Begleitforschung zu sozialen Fragestellungen durch oder versprechen, ihre Dienste nicht ausschließlich Unternehmensführungen, sondern allen Stakeholder-Gruppen anzubieten, also auch der Arbeitnehmerseite. Die meisten Anbieter algorithmischer Vorhersage schließen die in Abschnitt 5 beschriebene Präpression zwar offiziell aus, indem sie versichern, dass ihre Vorhersagen niemals personenbezogene Daten enthalten. Aus Critical Data Studies wissen wir allerdings, dass ein solches Versprechen in dieser Absolutheit nicht zu halten ist – durch Zusatzwissen, Deanonymisierung und Ähnliches gibt es oftmals die Möglichkeit, aus allgemeinen Datenobjekten personenbezogene Rückschlüsse zu ziehen (vgl. z. B. Samarati 2001).
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Denkbar scheint aktuell auch, dass Anbieter algorithmischer Vorhersage mittelfristig die Rahmung ihrer Dienstleistung verändern, um der Kritik auszuweichen. Beispielsweise könnte es im Kontext der Lieferkettengesetze für Softwareanbieter hilfreich sein, statt von »algorithmischer Vorhersage« von »algorithmischer Transparenz« zu sprechen und somit einen deutlich weniger kontroversen Begriff zu verwenden (Heimstädt/Dobusch 2020).
Arbeitnehmervertretungen Für organisationale, interorganisationale und transnationale Arbeitnehmervertretungen ergeben sich verschiedene, teilweise komplementäre strategische Optionen. Anschließend an in manchen Jurisdiktionen bestehende Mitwirkungsrechte von Arbeitnehmervertretungen beim Einsatz intraorganisationaler Datenverarbeitung (z. B. in Deutschland und Österreich) könnte die Etablierung vergleichbarer Informations- und Vetorechte auch für den Bereich interorganisationaler algorithmischer Vorhersagewerkzeuge in Lieferkettenkontexten ein Ansatz sein. Eine Möglichkeit dafür wären globale Rahmenabkommen (siehe Kirsch/ Puhl/Rosenbohm und Casey/Fiedler/Delaney in diesem Band). Unabhängig davon könnten Arbeitnehmervertretungen selbst algorithmische Vorhersage einsetzen, beispielsweise um Rekrutierungs- und Organisierungspotenziale zu identifizieren und damit Präpressionsgefahren zu begegnen. Auf diese Weise könnten algorithmische Vorhersageinstrumente auch zur Verbesserung von Artikulationsbeziehungen im Lieferkettenmanagement beitragen. Eine Regulierung von algorithmischer Vorhersage, sei es in Form privatrechtlicher Vereinbarungen (etwa globaler Rahmenabkommen) oder nationaler bzw. internationaler Regulierungen, könnte durch die Ächtung bestimmter Nutzungsarten, die Einführung von Mindestanforderungen für Anbieter und den Einsatz von Vorhersagewerkzeugen den Boden für eine stärker kooperative Nutzung bereiten.
Nichtregierungsorganisationen und kritische Öffentlichkeit Die heutige Situation, in der Leitunternehmen zunehmend Verantwortung für Arbeitsstandards in ihrer Lieferkette übernehmen (müssen), ist zu einem beachtlichen Teil der Arbeit von Nichtregierungsorganisationen und einer kritischen Öffentlichkeit zu verdanken. Es scheint daher plausibel oder
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zumindest wünschenswert, dass diese auch die Auswirkungen algorithmischer Vorhersage kritisch begleiten. Aktuell scheint noch unklar, ob und in welcher Weise dieses Thema von Nichtregierungsorganisationen oder Organisationen der digitalen Zivilgesellschaft (z. B. Algorithm Watch) aufgegriffen werden wird. Denkbare Positionierungen reichen von prinzipieller Opposition (z. B. Ächtung des Einsatzes derartiger Technologien) bis hin zur Mitwirkung bei der Ausgestaltung, z. B. durch Beratung von Gewerkschaften im Kontext globaler Rahmenabkommen. Relevant für die zukünftige Entwicklung von algorithmischer Vorhersage ist auch die Wechselwirkung mit Worker Voice Tools. Diese neuen digitalen Werkzeuge sollen es Arbeiter*innen in globalen Lieferketten ermöglichen, Missstände am Arbeitsplatz kundzutun, auch wenn andere Kanäle nicht vorhanden sind (siehe Scheper/Vestena/Sorg/Zajak in diesem Band). Bei der Konzeption und Weiterentwicklung solcher Werkzeuge scheint es sinnvoll, auch die zunehmenden Möglichkeiten algorithmischer Vorhersage zu berücksichtigen. Beispielsweise kann diese von Arbeitnehmervertretungen genutzt werden, um Kontexte zu ermitteln, in denen Organisierungsbedarf besteht, für den verstärkter Einsatz von Worker Voice Tools hilfreich sein könnte. Weiterhin könnte algorithmische Vorhersage auch in Worker Voice Tools integriert werden, beispielsweise um einzelne Unmutsbekundungen in diesen Tools mit allgemeinen Stimmungsbildern aus Social-Media-Daten zu kontextualisieren. Abschließend lässt sich feststellen, dass die Auswirkungen von algorithmischer Vorhersage auf Arbeitsstandards und Workers’ Voice nicht von der konkreten Technik bestimmt werden, sondern sich aus der Art der Nutzung durch Leitunternehmen und dem Einfluss von Stakeholdern in Lieferketten ergibt.
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Corona und das globale Machtgefälle in Lieferketten am Beispiel der Automobilindustrie Hansjörg Herr, Christina Teipen, Helena Gräf
1. Einleitung Globale Lieferketten (im Folgenden kurz »Lieferketten« genannt) haben insbesondere ab den 1990er Jahren aufgrund von weltweiter Handelsliberalisierung und technologischen Innovationen an Bedeutung gewonnen. Hierin wurden auch Länder des globalen Südens – ein Begriff, der für ökonomisch weniger entwickelte Länder steht – eingebunden. Mit der Integration der Länder des globalen Südens in Lieferketten war die Hoffnung verbunden, dass sie zu ökonomischem und sozialem Upgrading führen würde, also zu einer Annäherung an das Produktivitäts- und Wohlfahrtsniveau des globalen Nordens. Solch eine Annäherung können wir mit Blick auf unsere Analysen in der Automobilbranche Deutschlands, Indiens, Brasiliens und darüber hinausgehend nicht feststellen. Wir werden vielmehr zeigen, wie ungleiche Machtpositionen in Lieferketten, aber auch nationale Institutionensysteme und die Industriepolitik der beiden Dekaden vor der Covid-19-Pandemie bestehende Wohlfahrtsgefälle sogar vergrößert haben.
2. Machtverhältnisse, Gewinnverteilung und Upgrading in Lieferketten Nach Gereffi (1994, S. 97) haben sogenannte Leitunternehmen – meist multinationale Unternehmen im globalen Norden – die Kompetenz und die Macht, den Fluss der Finanzströme, die Aufteilung der Produktion von Vorleistungsgütern und Teildienstleistungen und somit Arbeit in Lieferket-
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ten zu koordinieren. Leitunternehmen können somit diese Machtasymmetrie gegenüber Zulieferern in Lieferketten für ihr strategisches Kalkül der Profitmaximierung nutzen. Infolgedessen wurden die Länder im globalen Süden primär aufgrund von Wettbewerbsvorteilen im Bereich niedriger Lohnkosten und von laxer Regulierung in Lieferketten eingebunden. Nach Gereffi/Humphrey/Sturgeon (2005, S. 85) beeinflussen drei Faktoren die Beziehungen zwischen Leitunternehmen und Zulieferern innerhalb von Lieferketten: •
•
•
die Komplexität der Transaktionen insbesondere bezüglich der Qualität von Aufgaben und Produktionsprozessen (z. B. punktuelle Lieferung einer Schraube versus Lieferung eines anpassbaren Lenksystems), die Möglichkeit zur Kodifizierung bzw. Standardisierung der Produktion und der Transaktionen (z. B. exakte Spezifikation eines Bauteils versus veränderliche Bedarfe an verschiedenen Ausführungen einer Baureihe) und die technologischen und organisationstechnischen Fähigkeiten der Zulieferer (z. B. eine einfache Fertigung versus flexibel nutzbare Maschinen und Großanlagen).
Diese Klassifikation rückt wichtige Unterschiede in der Governance zwischen Firmen in einer Lieferkette in den Vordergrund. Jedoch erklärt der Theoriebeitrag von Gereffi/Humphrey/Sturgeon (2005) nicht vollständig, wie die Wertschöpfung entlang einer Lieferkette verteilt ist und ob die beteiligten Länder des globalen Südens nicht nur ihre Produktivität und die Qualität ihrer Produkte steigern können, sondern auch ein ökonomischer Aufholprozess initiiert wurde und ein soziales Upgrading zu erwarten ist. Diese Fragen werden in den folgenden Abschnitten durch Perspektiven ergänzt, die über die transaktionskostentheoretische Betrachtung hinausgehen, indem sie auch Herstellkosten und Marktstrukturen näher betrachten.
2.1 Wertschöpfung entlang der Lieferkette Wir argumentieren zunächst mit Blick auf die Profitmaximierung und Aufteilung der Wertschöpfung in Lieferketten (Pananond/Gereffi/Pedersen 2020), dass Unternehmen über eine Reihe von Machtmechanismen verfügen (Dallas/Ponte/Sturgeon 2019) und unter anderem die Möglichkeiten haben, Rentseeking-Strategien zu verfolgen, d. h. sich einen größeren Anteil
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Corona und das globale Machtgefälle in Lieferketten am Beispiel der Automobilindustrie
des Gesamtgewinns entlang einer Lieferkette anzueignen (Milberg/Winkler 2013). Indem sie überdurchschnittlich hohe Gewinne realisieren, profitieren die Eigentümer*innen, Manager*innen und zum Teil auch die Beschäftigten der Leitunternehmen vom erfolgreichen Rentseeking in den Lieferketten. Leitunternehmen haben in aller Regel eine Oligopol- oder gar Monopolstellung beim Verkauf ihrer Güter oder Dienstleistungen. Monopole und Oligopole entstehen in Märkten durch die Ausnutzung von positiven Skaleneffekten, die auf Netzwerkeffekten, Synergien oder Unteilbarkeit von Produktionsfaktoren beruhen. Ein Monopol wird bei gegebenen Produktionskosten eine Preis-Mengen-Kombination wählen, die Extraprofite maximiert. Oligopole vermeiden Konkurrenz über den Preis und konkurrieren durch Produktdifferenzierung oder den Aufbau von Markennamen (Kalecki 1965/2009). In vielen Fällen agieren Oligopole durch die implizite Preisführerschaft eines der Oligopolunternehmen. Der Fall der vollständigen Konkurrenz mit vielen Anbietern und Nachfragern hingegen, der in ökonomischen Analysen oftmals als Standardfall unterstellt wird, spielt in Lieferketten nur eine untergeordnete Rolle. Für Lieferketten sind Monopsone und Oligopsone auf der Zulieferseite ebenfalls von zentraler Bedeutung. Bei einem Monopson steht ein*e Nach frager*in von Inputs vielen Anbietenden gegenüber. In einer solchen Marktform wird ein Leitunternehmen seine Machtposition so ausnutzen, dass es den Preis für Vorleistungen und den Gewinn des Zulieferers auf ein Minimum drückt. So kann dieser einem hohen Druck ausgesetzt werden, Löhne niedrigzuhalten, Arbeitsbedingungen nicht zu verbessern oder Regulierungen zu umgehen. Ein Leitunternehmen hat demnach die Tendenz, Schwächen von Gewerkschaften oder staatlicher Regulierung im globalen Süden zur Senkung seiner Inputkosten ausnutzen. Beim Rentseeking in Lieferketten lassen sich verschiedene Konstellationen unterscheiden (siehe Abbildung 1): Ein Leitunternehmen kann auf der Verkaufsseite eine Oligopolstellung und auf der Einkaufsseite eine Monopson- oder Oligopsonstellung innehaben bzw. über eine Tochterfirma im globalen Süden niedrige Produktionskosten realisieren. In diesem Fall können wir von einem zweiseitigen Rentseeking sprechen, da das Leitunternehmen sowohl im Zuliefermarkt als auch im Verkaufsmarkt hohe marktmäßige Machtressourcen hat. Über diese verfügt ein Leitunternehmen, wenn es Direktinvestitionen im Ausland tätigt (Dünhaupt et al. 2022).
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Abbildung 1: Marktkonstellation und Governance-Klassifikationen in Lieferketten Leitunternehmen Zuliefermarkt ausländische Direktinvestitionen (hierarchisch)
zweiseitiges Rentseeking
Verkaufsmarkt Monopson / Oligopson (kaptiv)
bilaterales Monopol / Oligopol (modular, beziehungsbasiert)
einseitiges Rentseeking
Monopol / Oligopol
vollständige Konkurrenz
kein Rentseeking
Anmerkung: Klassifikationen in Klammern nach Gereffi/Humphrey/Sturgeon (2005) Quelle: eigene Darstellung
Bei der Konstellation des einseitigen Rentseekings befindet sich das Leitunternehmen auf der Verkaufsseite in einer Monopol- oder Oligopolstellung, und auf der Einkaufsseite entweder in einem bilateralen Monopol (ein*e Einkäufer*in und ein*e Anbieter*in) oder Oligopol (mehrere Anbietende) oder aber in einem Markt mit vollständiger Konkurrenz (viele Anbietende). In diesen Fällen hat das Leitunternehmen keinen marktmäßigen Vorteil, um auch auf der Einkaufsseite die Preise zu drücken und auf diese Weise Extraprofite zu erzielen. Typischerweise existieren bei dieser Konstellation in weiteren Stufen der Lieferkette Monopson- oder Oligopsonstrukturen. Rentseeking spielt in den derzeitigen Ökonomien eine herausragende Rolle. So analysiert beispielsweise Stiglitz (2019, Kap. 3), dass in den USA in immer mehr Märkten die Anzahl der Anbieter fällt und/oder der Umsatzanteil der führenden zwei oder drei Firmen in den letzten Jahrzehnten gestiegen ist. Rentseeking, also hohe Gewinne der Leitunternehmen, dürfte auch einer der Faktoren sein, warum der Anteil der Löhne an der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung in den letzten Jahrzehnten in fast allen Ländern der Welt gefallen ist (Federal Reserve Bank of St. Louis 2022). Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass Leitunternehmen und deren Eigentümer*innen sowie unter bestimmten Bedingungen auch
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Beschäftigte und Konsument*innen von den asymmetrischen Machtbeziehungen in Lieferketten profitieren. Es stellt sich die Frage, welche Vorteile die Länder des globalen Südens aus Lieferketten ziehen. Im Folgenden behandeln wir insbesondere die Frage, ob Lieferketten einen technologischen Aufholprozess im globalen Süden fördern und die Produktivitätsunterschiede zum globalen Norden reduzieren, denn ökonomisches und soziales Upgrading spiegelt sich in steigender Produktivität bzw. steigendem Realeinkommen pro Kopf wider.
2.2 Ökonomisches Upgrading in Lieferketten Es gibt verschiedene Arten des ökonomischen Upgradings von Zulieferern in Lieferketten (Humphrey/Schmitz 2002): • • •
•
Bei Produkt-Upgrading wird eine höherwertige Leistung geliefert, bei Prozess-Upgrading wird die Fertigungstechnologie verbessert, bei funktionalem Upgrading wird eine höherwertige Funktion mit höherer Wertschöpfung in Lieferketten übernommen und bei intersektoralem Upgrading gelingt es einem Unternehmen, mit seinen Kapazitäten in einem anderen Bereich Fuß zu fassen.
Verschiedene Untersuchungen legen nahe, dass Produkt- und Prozess-Upgrading in einem bestimmten Umfang in Ländern des globalen Südens stattfinden, aber kaum funktionales oder intersektorales Upgrading (Teipen et al. 2022). Für einen substanziellen Aufholprozess wäre zudem der Aufbau inländischer Champions von großer Bedeutung, also inländischer Unternehmen, die in den globalen Oligopolmärkten der Leitunternehmen mithalten können, um so deren Dominanz und den Abfluss von Gewinnen an ausländische multinationale Unternehmen zu vermeiden. Die traditionelle Handelstheorie geht davon aus, dass der Marktmechanismus dazu führt, dass weniger entwickelte Länder sich auf einfache Produktion mit geringen Qualitätsanforderungen und geringem Kapitaleinsatz sowie den Export von Rohstoffen konzentrieren, während sich in entwickelten Ländern Arbeitsschritte mit hoch qualifizierten Arbeitskräften und oftmals hohem Kapitaleinsatz konzentrieren. Typisch sind ökonomische Cluster im globalen Norden, die durch Synergieeffekte eine hohe Innovationskraft entwickeln.
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Die steigenden Skalenerträge der technologischen Pionierunternehmen erlauben es den Unternehmen aus Ländern, die sich erst später wirtschaftlich entwickeln, kaum, mit solchen Clustern zu konkurrieren. Ungeachtet der Unterbrechung von Lieferketten während der Covid-19-Pandemie und dem Ukraine-Krieg zeigt sich diese ungleiche Arbeitsteilung auch in heutigen Lieferketten. Die Leitunternehmen konzentrieren sich oft auf Forschung, Design und Marketing, während die Produktion und Fertigung in kostengünstige Länder des globalen Südens ausgelagert ist (Feenstra 2010). Auf diese Weise zementieren die Lieferketten die ungleiche Verteilung zwischen den Leitunternehmen im globalen Norden und den Zulieferern im globalen Süden. Zwar kann die Integration von Ländern des globalen Südens in weltweite Lieferketten die Industrialisierung dieser Länder fördern, sodass es dort zu Produktivitätsfortschritten, aber nur selten zu einem Aufholprozess kommt. Dazu passt die empirische Feststellung, dass in den letzten Jahrzehnten das reale Pro-Kopf-Einkommen in der überwältigenden Mehrzahl der Länder des globalen Südens – in Prozent des realen Pro-Kopf-Einkommens der USA – nicht zugenommen hat, während die absoluten Unterschiede in Produktivitätsniveau und Lebensstandard gemessen am Einkommen pro Kopf zugenommen haben. Allerdings kann in einigen asiatischen Staaten von einem relevanten ökonomischen Aufholprozess gesprochen werden (Rodrik 2016; Herr 2018; Dünhaupt/Herr 2022), der aber in diesen Ländern – allen voran in China – durch eine wirtschaftlich erfolgreiche Indus triepolitik, d. h. durch staatliche Interventionen erreicht wurde und weniger durch die bloße Einbindung in globale Lieferketten (Herr 2018).
2.3 Soziales Upgrading in Lieferketten Hinsichtlich des sozialen Upgradings berücksichtigen wir drei Gruppen von Indikatoren: • •
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die Entwicklung der Reallöhne, die Beschäftigungsbedingungen (vor allem formelle versus informelle Arbeitsverhältnisse) und weitere Arbeitsbedingungen (Überstunden, Sicherheit, Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz etc.) und die industriellen Beziehungen in den jeweiligen Ländern (Gewerkschaftsrechte, Vereinigungsfreiheit und kollektive Tarifverhandlungen).
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Anhaltendes soziales Upgrading ist nur auf Grundlage von ökonomischem Upgrading möglich. Hier gibt es aber keinen Automatismus, denn bei ökonomischem Upgrading ist zwar ein Anstieg der Realeinkommen eines Landes pro Kopf zu erwarten, jedoch ist nicht auszuschließen, dass ärmere Bevölkerungsschichten in keiner Weise davon profitieren, etwa Beschäftigte im Niedriglohnsektor oder informellen Sektor. Auch ist nicht zu erwarten, dass sich durch ökonomisches Upgrading die Stärke der Gewerkschaften oder die Sozialpolitik quasi automatisch ändert. Umgekehrt trägt soziales Upgrading zu ökonomischem Upgrading bei und kann dieses initiieren: Auf der Angebotsseite wird die Produktivität durch soziales Upgrading erhöht – etwa durch Investitionen für oder von ärmeren Bevölkerungsgruppen in Ausbildung oder durch den Ansporn für Unternehmen, angesichts höherer Löhne die Produktivität zu erhöhen. Auf der Nachfrageseite führt eine ausgeglichenere Einkommens- und Vermögensverteilung zu höherer Konsumnachfrage und binnenwirtschaftlich getragenem Wachstum. Von den verschiedenen Pfaden des sozialen Upgradings in Lieferketten (Gereffi/Lee 2016) sind diejenigen von zentraler Bedeutung, die auf nationale staatliche Politik und Ermächtigung von Gewerkschaften setzen. Wir illustrieren dies am Beispiel dreier nationaler Systeme von industriellen Beziehungen. Bei den ersten beiden handelt es sich nach Nölke et al. (2020) um sogenannte staatlich durchdrungene Systeme in großen Schwellenländern mit Niedriglohnregimen und ausgedehnten informellen Sektoren, in denen die strukturelle und institutionelle Macht der Gewerkschaften gering ist: •
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Marktdespotie (Anner 2015) in Indien: Arbeits- und Gewerkschaftsrechte existieren zwar offiziell, aber der Staat und schwache, zersplitterte Gewerkschaften können diese nicht in relevantem Umfang durchsetzen. Die Arbeitnehmer*innen werden somit durch »despotische« Marktkräfte »diszipliniert«. Rudimentärer Korporatismus in Brasilien: Unabhängige Gewerkschaften verfügen in bestimmten Sektoren über einen teilweise starken Einfluss durch demokratische Regierungsinstitutionen. Ein vormals »demokratischer Korporatismus« (Hayter 2018) mit sozialen Dialogstrukturen ist hier im Zuge der Entwicklungen während der Temer- und BolsonaroRegierung erodiert (De Conti 2022; Guardiancich/Molina 2022).
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Das deutsche Modell der koordinierten Marktökonomie (Hall/Soskice 2001) verfügt über ein rechtlich deutlich stärker abgesichertes System der Arbeitnehmerbeteiligung und etablierte korporatistische Verhandlungstraditionen.
Diese theoretischen Erkenntnisse werden im Folgenden durch kontrastive Fallstudien am Beispiel der Automobilindustrie in Indien, Brasilien und Deutschland erörtert.
3. Fallstudien In Forschungsprojekten1 zum ökonomischen und sozialen Upgrading haben wir verschiedene Verlaufspfade der letzten beiden Dekaden vor und während der Covid-19-Pandemie untersucht. Die Entwicklung nach dem Ausbruch der Pandemie ist besonders relevant, da sich existierende Trends massiv verstärkt haben. Alle Fallstudien basieren auf einem gemeinsamen, in einem Netzwerk internationaler Forscher*innen kooperativ entwickelten Forschungsrahmen mit standardisierten Indikatoren, die nationale Besonderheiten widerspiegeln. Die Erhebung, Erstellung und Interpretation quantitativer Daten und ausgewählter qualitativer Studien bezieht sich primär auf die Entwicklung seit dem Jahr 2000. Für diesen Zeitraum stellen wir in der Automobilindustrie – aufgrund der Machtasymmetrie zwischen Leitfirmen und Zulieferern auf der ersten Stufe (Gereffi/Humphrey/Sturgeon 2005) und aufgrund des ausgeprägten Einflusses nationaler Industriepolitik und nationaler Systeme industrieller Beziehungen in Indien, Brasilien und Deutschland – Unterschiede im Hinblick auf Arbeitsbedingungen bei Leitfirmen und Zulieferern in diesen drei Ländern fest.
3.1 Die Automobilbranche in Indien Neben ausländischen multinationalen Unternehmen verfügt Indien mit Tata Motors über ein eigenes multinationales Unternehmen im Autosektor. Auf einigen Märkten, z. B. bei Traktoren, Motorrädern sowie zwei- und 1 | Finanziert durch die Hans-Böckler-Stiftung und die VolkswagenStiftung.
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dreirädrigen Fahrzeugen, nimmt Indien weltweit führende Marktpositionen ein. Wirtschaftliches Upgrading in Form von steigender Arbeitsproduktivität hat seit den Nullerjahren durchaus stattgefunden, jedoch kein signifikantes funktionales Upgrading (Jha/Kumar 2021 und 2022). Die seit den 1990er Jahren eng kooperierenden wirtschaftlichen und politischen Machteliten in Indien haben zu einer Rentseeking-Position beigetragen, in deren Rahmen sie eine Niedriglohnstrategie präferieren und kaum die Notwendigkeit einer radikalen industriellen Modernisierung sehen (Nölke et al. 2020). Niedrige Lohnkosten, auch aufgrund hoher Lohnspreizung, zum Teil schwache Zuliefererfirmen für viele Vorprodukte und oligopolistische Absatzmärkte ermöglichen es den Automobilfirmen in Indien, eine Mischung aus einseitigem und beidseitigem Rentseeking (siehe Abschnitt 2.1) zu entwickeln. Das politische System sieht zwar formale demokratische Rechte für Beschäftigte vor. Im Vergleich zu anderen Weltregionen ist das Ausmaß an informellen Beschäftigungsverhältnissen im Automobilsektor jedoch hoch, insbesondere auf den unteren Lieferstufen. Tarifverhandlungen finden auf Unternehmensebene statt, doch sind die Reallöhne der gewerblich Beschäftigten im formalen Sektor zwischen 1999 und 2015 im Durchschnitt um 16 Prozent gesunken (Jha/Kumar 2021). Die dominante Akteurskoalition schließt in politisch eingespielter Weise Gewerkschaften als Verhandlungspartner aus. Obwohl es der indischen Gewerkschaftsbewegung bisweilen gelingt, eine große Zahl an Menschen für landesweite Proteste oder Streiks zu mobilisieren, hat dies keinen stabilen Niederschlag in der nationalen Akteurskonstellation gefunden. Dies verhindert allein schon der informelle Arbeitsmarkt, dessen Anteil an der Beschäftigung mit über 90 Prozent extrem hoch ist. Die meisten Leitfirmen befinden sich im formellen Sektor, während ein signifikanter Teil der Komponentenindustrie – 10.000 von 10.700 Zulieferern im Jahr 2015 – im informellen Sektor angesiedelt ist (Jha/Kumar 2022). Eine Schwächung der Gewerkschaften resultiert aus der Zersplitterung der Gewerkschaftsbewegung und der Bevölkerung allgemein entlang politischer, religiöser und kastenmäßiger Orientierungen. Die Durchsetzung von Gesetzen etwa zum Mindestlohn findet kaum statt. Die gesamte Automobilbranche hatte seit der Covid-19-Pandemie aufgrund ausbleibender Verkäufe und verspäteter Zahlungen mit Liquiditätsengpässen zu kämpfen; auch die Nachfrage nach Vorleistungen durch Markenfirmen ging zurück. Da die indische Regierung von einer Ange-
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botskrise ausging, umfassten ihre Programme kaum Maßnahmen zur Steigerung der Nachfrage. Eine Abwrackprämie für Fahrzeuge oder staatliche Ausgaben für den Kauf von Transportausrüstungen beachteten die extremen Notlagen nur unzureichend, sodass es 2021 zu einem massiven Nachfragerückgang nach Zwei- und Dreiradfahrzeugen bei gleichzeitig sehr hohen Benzin-, Diesel- und Gaspreisen kam. Umfassende Investitionspläne der Regierung und öffentliche Ausgaben zur sozialen Absicherung und Stabilisierung von Arbeitsplätzen blieben aus (Jha/Singh 2022). Darüber hinaus unterstützt die indische Industriepolitik zwar die Umstellung der Produktion auf Elektrofahrzeuge, diese sind jedoch lediglich für den Export und nicht für den heimischen Markt gedacht, da in Indien keine entsprechende Infrastruktur vorhanden ist. Im Krisenmanagement, das zunächst weitestgehend von den Landesregierungen mit vergleichsweise wenig Ressourcenkapazitäten gestemmt werden musste (Jha/Kumar 2021), spiegelte sich das marktdespotische Arbeitsregime wider: Es gab zwar Beratungen mit Industrieverbänden, jedoch kaum mit Gewerkschaften. Stattdessen kam es zu einer Reihe von arbeitsrechtlichen Eingriffen, die die Verhandlungsposition von Arbeiter*innen schwächten (Jha/Singh 2022). Hilfsprogramme beschränkten sich auf die schwächsten ländlichen Bevölkerungsgruppen, die lediglich eine geringe finanzielle Unterstützung im Rahmen eines Wohlfahrtsprogramms erhielten, das der indische Premierminister Narendra Modi 2016 etabliert hatte. Das zur Verfügung stehende Budget konnte jedoch nur 48 Prozent der Berechtigten versorgen (Stand 2021). Bis auf geringe Bargeldtransfers und spezifische Pakete für Senior*innen, Witwen und Frauen wurden insbesondere informell Beschäftigte finanziell alleingelassen (Jha/Kumar 2021). Strukturelle Ursachen sozialer Ungleichheit wie der riesige informelle Arbeitsmarkt und das Kastensystem schlugen sich während der Pandemie ungebremst nieder und resultierten in einer zugespitzten Prekarisierung der erwerbstätigen und ärmeren Bevölkerungsschichten.
3.2 Die Automobilbranche in Brasilien Zwei der bemerkenswertesten Merkmale des brasilianischen Automobilsektors sind die starke Präsenz ausländischer Unternehmen und die Unfähigkeit der brasilianischen Industriepolitik, ein funktionales Upgrading
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einzuleiten (Dos Santos et al. 2022). Trotz des großen Inlandsmarktes und der beträchtlichen Exporte, insbesondere nach Argentinien, hat Brasilien keine eigenen Leitunternehmen in diesem Sektor. Auch wenn Produktivitätssteigerungen im Bereich der Produkt- und Prozessverbesserung zu beobachten sind, ist Brasilien ein Beispiel für das fehlende Interesse der Leitunternehmen aus dem globalen Norden, Schlüsselkompetenzen an Tochterunternehmen im globalen Süden zu übertragen. Schon vor der Covid-19-Krise waren industriepolitische Bemühungen in Brasilien insgesamt – nicht nur in der Automobilbranche – wenig erfolgreich. Ausländische Leitunternehmen im verarbeitenden Gewerbe, nationale Großunternehmen in Agrarbereich, Schwerindustrie und Rohstoffgewinnung und die jeweiligen Regierungen konnten nie zu einer dauerhaft koordinierten Industriepolitik finden (Nölke et al. 2020). Insgesamt machen die ausländischen Leitfirmen aufgrund ihrer Oligopolposition im Land und ihrer Machtposition gegenüber Zulieferern hohe Gewinne, die sie ins Ausland transferieren. So leidet Brasilien seit den 1990er Jahren an einem zunehmend negativen Saldo in der Primärbilanz seiner Zahlungsbilanz, die durch Vermögenseinkommen dominiert wird. Das Defizit betrug 1994 noch umgerechnet 9,1 Milliarden US-Dollar und stieg auf 50,5 Milliarden US-Dollar im Jahr 2021. In Indien ist der negative Primärsaldo deutlich geringer: 3,5 Milliarden US-Dollar 1994 und 36,1 Milliarden US-Dollar im Jahre 2021 (World Bank 2022). Im Vergleich zu Indien verfügen die Gewerkschaften als Vertreter unabhängiger Interessen zumindest in einigen Sektoren wie der Automobilbranche über institutionellen Einfluss. Die Regierungszeit der Arbeiterpartei PT von 2003 bis 2016 ging mit wichtigen Sozialreformen, der Durchsetzung von Lohnerhöhungen, der Verbesserung von Arbeitsvorschriften und einer erheblichen Verringerung des Armutsniveaus einher, allerdings bei weiterhin hoher Einkommensungleichheit. Die beträchtlichen Erhöhungen des realen Mindestlohns, die Ausweitung der Arbeitsgesetzgebung auf zuvor informell Beschäftigte und die relativ strenge Durchsetzung der Arbeitsgesetze führten zu einer Stärkung der Machtposition von Arbeitnehmer*innen und Gewerkschaften. In der Automobilindustrie sind die Arbeitsbeziehungen durch einen hohen Grad der Gewerkschaftszugehörigkeit, überdurchschnittliche Löhne im nationalen Vergleich und relativ gute Arbeitsbedingungen gekennzeichnet. Die Arbeitsverhältnisse werden durch Branchentarifverträge
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auf regionaler Ebene geregelt, die per Gesetz für alle Arbeitnehmer*innen gelten. Aufgrund der Abhängigkeit von ausländischen Investitionen sowohl im Segment der Leitfirmen als auch der Zulieferer ist der Einfluss von Gewerkschaften und Regierung auf Umstrukturierungsentscheidungen von der Bereitschaft der Zentrale im Heimatland des ausländischen Investors abhängig. Seit den 1990er Jahren versuchen Automobilhersteller und Zulieferer zunehmend, regionale Lohn- und Gewerkschaftsunterschiede auszunutzen, indem sie Produktions- und Montagestandorte innerhalb des Landes verlagern. Die PT hatte zwischenzeitlich die politische Macht in Brasilien eingebüßt. Dies hat auch zur Folge, dass gewerkschaftliche Errungenschaften und Fortschritte beim Abbau der extremen Ungleichheit wieder verloren gegangen sind. Der von 2019 bis 2022 amtierende Präsident Bolsonaro trieb im Rahmen seines autoritären Neoliberalismus die Deregulierung des Arbeitsmarktes, Rentenkürzungen und eine Schwächung der Gewerkschaften voran (Saad-Filho 2019) – und damit die Erosion des demokratischen hin zu einem rudimentären Korporatismus. Neben einem Nachfrageeinbruch aufgrund der Covid-19-Pandemie, der sich schon in den Jahren zuvor abzeichnete, wurde auf der Angebotsseite die Abhängigkeit der brasilianischen Automobilindustrie von der Einfuhr ausländischer Zwischenprodukte offenbar. Da auf nationaler Ebene keine medizinischen Schutzmaßnahmen zur Eindämmung der Pandemie initiiert wurden, übernahmen dies die Bundesstaaten und Gemeinden (De Conti 2022). Das Fehlen einer nennenswerten Industriepolitik zur Stützung oder technologischen Neuorientierung der einheimischen Unternehmen, insbesondere in der Amtszeit von Bolsonaro, wirkt sich auch auf die Beschäftigung aus. Allein von 2019 bis 2020 gingen 15.665 Arbeitsplätze verloren, was den Langzeitabwärtstrend der Automobilindustrie fortführt. 2020 lag der Rückgang der Arbeitsstunden formeller Arbeitsplätze bei 40 Prozent im Vergleich zum Vorjahr und erholte sich 2021 wieder, was die geringe Absicherung der Beschäftigten bei Produktionsschwankungen zeigt. Gewerkschaften wurden auf nationaler Ebene nicht an der Gestaltung der Politik zur Eindämmung der Pandemiefolgen beteiligt, sondern wurden zur Verhinderung von Arbeitslosigkeit nur auf Unternehmensebene aktiv. Dem entspricht, dass die Zentralregierung unter Bolsonaro nur wi-
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derwillig und auf Druck des brasilianischen Kongresses zumindest den ärmsten Bevölkerungsschichten finanzielle Nothilfe zukommen ließ (De Conti 2022).
3.3 Die Automobilbranche in Deutschland Im deutschen Automobilsektor befinden sich einige der weltweiten Leitfirmen: Volkswagen, BMW und Mercedes-Benz Group sowie Stellantis (Opel) und Ford in ausländischem Besitz. Des Weiteren sind auch einige direkte Zulieferer wie Bosch, ZF Friedrichshafen und Continental in Deutschland angesiedelt. Durch ihre führende Position koordinieren und beeinflussen die Leitunternehmen nicht nur ganze Lieferketten, sondern können auch große Teile der Wertschöpfung in den Lieferketten an sich ziehen, indem sie durch Outsourcing und das Verlagern von Aktivitäten von geringeren Kosten sowie Regulierungsanforderungen profitieren und gleichzeitig riesige Märkte wie in Asien und Südamerika beliefern. So realisierte Deutschland 1994 in seiner Zahlungsbilanz, die die ökonomischen Beziehungen mit dem Rest der Welt festhält, einen Überschuss bei Vermögenseinkommen in Höhe von 1,2 Milliarden US-Dollar, der 2021 auf 149,1 Milliarden bzw. 3,5 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts anstieg (World Bank 2022). Die weltweit zu den führenden Innovationstreibern zählende deutsche Automobilindustrie initiierte bereits vor 2020 langfristige Umstrukturierungsprozesse; die Covid-19-Pandemie wurde zur Beschleunigung dieses Transformationswettbewerbs genutzt (Gräf/Teipen/Mehl 2023). Ein Haupttrend ist hierbei die Umstellung auf Elektrofahrzeuge. Hier stellt sich weniger die Frage nach ökonomischem Upgrading, sondern vielmehr, ob die deutsche Autobranche ihre weltweite Spitzenstellung in dieser Umbruchphase halten kann. Deutschland verfügt über ein äußerst differenziertes und ausgebautes System für Industriepolitik, das unter anderem durch die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), durch eine institutionalisierte angewandte Forschung (etwa die Fraunhofer-Institute) und durch staatliche Förderprogramme zur ökologischen Transformation gestützt wird (Dünhaupt/Herr 2020). Hinzu kommen industriepolitische Initiativen der Europäischen Union (Topuria/Gräf 2023; Dünhaupt/Herr 2020). Während der Pandemie waren die großen Leitfirmen und auch große direkte Zulieferer in der Lage, das Kurzarbeitergeld – das zentrale Instru-
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ment vonseiten der deutschen Regierung, um negative Folgen der Pandemie auf die Arbeitswelt zu verhindern – wesentlich aufzustocken, wobei Beschäftigte von kleineren Zuliefererfirmen immerhin den Sockelbetrag erhielten, während Beschäftigte mit befristeten Arbeitsverträgen leer ausgingen. Bei allen industriepolitischen, arbeitsschutzbezogenen und sozial abfedernden Maßnahmen für die Automobilindustrie saßen die Sozialpartner mit am Tisch, was trotz der Anzeichen für eine Erosion des deutschen Modells – etwa im Hinblick auf eine Dezentralisierung von Tarifverhandlungen, den Rückgang von Gewerkschaftsmitgliedschaften oder die Zunahme der Leiharbeit – noch den Erwartungen an eine koordinierte Marktwirtschaft entspricht (Gräf/Teipen/Mehl 2023). Exemplarisch hierfür ist die Einbeziehung von Gewerkschaften und Betriebsräten in die strategisch-technologische Neuausrichtung der Automobilbranche oder bei der Nutzung bewährter Verfahren wie der Kurzarbeit zur Verhinderung von Entlassungen. Auch wenn diese Fortführung mit »blinden Flecken« und Ungleichheiten einhergeht – wie etwa der selektiven Berücksichtigung von Kernbelegschaften der Leitfirmen oder der begrenzten Reichweite einzelner Covid-19-Hilfen (Herr/Nettekoven 2022) – sind die Regierungen in Brasilien und Indien auch im übertragenen Sinne »meilenweit« von einer solchen tripartistischen Krisenmobilisierung entfernt.
4. Schlussfolgerungen Durch die Covid-19-Pandemie ist das Machtgefälle in den Lieferketten der Automobilindustrie noch größer geworden. Außerdem zeigte sich während der Pandemie, wie unterschiedlich die Kapazitäten und der politische Wille für industriepolitische Neuerungen, Partizipation der Beschäftigten und soziale Abfederung in Indien, Brasilien und Deutschland sind. Gerade vor dem Hintergrund eines Vergleichs von höchst kontrastiven Fällen wird deutlich, in welch unterschiedlicher Ausgangskonstellation sich die Automobilbranche und die Ökonomie allgemein in den drei Ländern befand. Nur in der deutschen Automobilindustrie hat die Covid-19-Krise zu einem Schwenk in der Wirtschaftspolitik und einer massiven Mobilisierung von Innovations- und sozialen Abfederungsressourcen geführt. Ent-
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scheidend war dabei die produktive Koalition zwischen Arbeitgebern, Gewerkschaften und Staat. So wurde eine investitionsorientierte Indus triepolitik mit weitreichenden technologischen Zielsetzungen ermöglicht. In den beiden Ländern des globalen Südens hingegen hat die rechtskonservativ-liberale Abwehr gegenüber jedwedem sozialen Kompromiss weder industriepolitische Innovationsimpulse ausgelöst noch die drastischen sozialen Verwerfungen im Zusammenhang mit der Covid-19-Krise abgebremst. In Indien wurden keine nennenswerten Maßnahmen zur sozialen Abfederung durchgeführt; auch blieben industriepolitische Maßnahmen etwa in der Automobilbranche minimal. In Brasilien erinnerte lediglich das erfolgreiche Drängen des Kongresses auf eine minimale Nothilfe für die ärmsten Bevölkerungsschichten an die Regierungszeit der Arbeiterpartei PT. Industriepolitische Reaktionen auf die Krise gab es in Brasilien ebenso wenig wie in Indien. Die Entwicklung zeigt, dass es in beiden Ländern nicht einmal zu minimalen korporatistischen Ansätzen mit Einbeziehung von Gewerkschaften als Reaktion auf die Covid-19-Krise kam. Vielmehr wurde die Krise seitens der Regierungen und Unternehmen für eine weitere Schwächung kollektiver Interessenvertretung genutzt. In der Gesamtschau kommen wir hinsichtlich des ökonomischen Upgradings im globalen Süden zu dem Ergebnis, dass in den untersuchten Ländern und Lieferketten zwar Produktivitätsfortschritte erzielt wurden, jedoch kein funktionales oder intersektorales Upgrading zu beobachten war. Dies gilt auch für die Ökonomie insgesamt, da es weder Indien noch Brasilien gelungen ist, die Unterschiede in Produktivitätsniveau und Lebensstandard pro Kopf zu reduzieren. Die Pandemie hat zu einer akzentuierten Weiterführung der bereits angelegten Entwicklungen in der Weltwirtschaft geführt. Die Ergebnisse zeigen aber auch, in welch unterschiedlicher Weise die Interessen von schwächeren gesellschaftlichen Gruppen wie Beschäftigten und ihren Interessenvertretungen bei der Krisenbewältigung der untersuchten Länder Berücksichtigung fanden. Bei der Betrachtung, ob und wie kollektive Akteure wie Gewerkschaften und Betriebsräte in die Aushandlung der Krisenbewältigung einbezogen waren, zeigen sich starke Unterschiede. Vom vorherrschenden Rentseeking profitieren angesichts der Nutzung des Machtvorteils des globalen Nordens vor allem Leitunternehmen, Beschäftigte und Konsument*innen im globalen Norden. Transnationale Ini-
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tiativen – etwa zur Eindämmung prekärer Arbeit oder pandemiebedingter Existenzkrisen im informellen Sektor Indiens – laufen bisher ins Leere. Es bleibt abzuwarten, welche neuen Impulse durch das deutsche und europäische Lieferkettengesetz gesetzt werden können. Unsere Erkenntnisse deuten jedoch darauf hin, dass für soziale Mindeststandards eine Unterstützung durch relevante nationale Akteure im globalen Süden einerseits und deutsche Firmen andererseits unausweichlich ist. Lieferketten allein fördern nicht zwangsläufig wirtschaftliche Aufholprozesse; hierzu bedarf es auch eines Technologie- und Qualifikationstransfers. Der Blick auf den Spielraum, den auch nationale Systeme industrieller Beziehungen in internationalen Lieferketten haben, lädt angesichts der Schwächen eines »globalen Governance-Regimes für Arbeit« (Hassel 2008) dazu ein, nicht ausschließlich auf die Verbesserung transnationaler Governance-Mechanismen zu setzen. Bei Letzteren handelt es sich bestenfalls um Mindeststandards, die weniger verbindlich sind als gesetzliche Rahmenbedingungen auf nationaler Ebene; noch dazu hängt ihre Durchsetzung erheblich von nationalen Regierungen oder der Macht lokaler und nationaler Gewerkschaften ab. Daher kommen wir zu dem Schluss, dass industrielle Beziehungen und staatliche Politik auf nationaler Ebene nach wie vor die zentralen Ressourcen für soziales Upgrading darstellen, auch wenn damit die Notwendigkeit einer transnationalen Koordinierung nicht geleugnet werden soll (Teipen/ Mehl 2022).
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Rechtliche Instrumente zur Umsetzung von Sozialstandards in Lieferketten Möglichkeiten und Grenzen Oliver Emons, Barbara Fulda, Ernesto Klengel
1. Einleitung Angesichts fortbestehender Missstände bei der Einhaltung von globalen Sozialstandards können die rechtlichen Instrumente, die bislang zur Überwachung der Einhaltung eingesetzt wurden, insgesamt nicht als ausreichend angesehen werden. Ob das 2021 in Kraft getretene deutsche Lieferkettengesetz hier – auch im Zusammenspiel mit vergleichbaren Initiativen in anderen Ländern und der Europäischen Union – entscheidend Abhilfe schaffen kann, bleibt abzuwarten. Allerdings zeigt der Umstand, dass das Lieferkettengesetz beschlossen und in Kraft gesetzt wurde, dass der öffentliche Druck, an der unbefriedigenden Durchsetzung globaler Sozialstandards etwas zu verändern, durchaus in der Lage ist, rechtspolitische Prozesse auf verschiedenen Ebenen (Unternehmen, Branche, Staat, Völkerrecht) anzustoßen. Dabei kann auch auf bereits eingeführte Regelungen bzw. Regelwerke zurückgegriffen werden, die sich jedoch sowohl hinsichtlich ihres Geltungsbereichs als auch hinsichtlich ihrer rechtlichen Verbindlichkeit unterscheiden. Die Palette an rechtlichen Instrumenten reicht von völkerrechtlichen Normen über Selbstverpflichtungen von Unternehmen und Regelwerke privater Normsetzung bis hin zu Sozialpartnerabkommen. Die jüngste Entwicklung betrifft eine »Lieferketten-Gesetzgebung« auf nationaler und europäischer Ebene (siehe Scheper/Vestena/Sorg/Zajak in diesem Band). Der vorliegende Beitrag gibt einen Überblick über die Vielfalt der Regelungen, die zur Wahrung von Sozialstandards in der Lieferkette beitra-
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Oliver Emons, Barbara Fulda, Ernesto Klengel
gen sollen. Anhand von ausgewählten Beispielen wird dargestellt, mithilfe welcher Mechanismen die verschiedenen rechtlichen Instrumente zur Einhaltung von Sozialstandards in der Lieferkette wirksam werden können. Zudem wird untersucht, inwiefern die Beschäftigten die Gestaltung und Umsetzung der jeweiligen Instrumente beeinflussen können.
2. Völkerrecht – von globalen Arbeits- und Sozialstandards der ILO zu Leitprinzipien Das Völkerrecht bietet einen globalen Ansatz, um auch arbeitsrechtliche Mindeststandards in Wertschöpfungsketten zu definieren und die Regeln für ihre Einhaltung zu bestimmen. Völkerrecht als Recht zwischen Staaten erzeugt jedoch keine Verpflichtung für Unternehmen als privatrechtliche Akteure, zumindest nicht ohne Weiteres und unmittelbar. Ungeachtet ihrer Vollzugsdefizite definieren völkerrechtliche Standards aber globale Arbeitsstandards als Referenzgrößen. Zudem haben völkerrechtliche Instrumente Relevanz auf der Policy-Ebene: Sie stoßen Gesetzgebungsinitiativen auf Ebene der Nationalstaaten an. Seit über 100 Jahren etabliert die Internationale Arbeitsorganisation ILO globale Arbeitsstandards in völkerrechtlich verbindlichen Übereinkommen (Näheres bei Pickshaus 2019) sowie unverbindlichen Empfehlungen und Erklärungen. Die wichtigsten ILO-Übereinkommen werden als ILO-Kernarbeitsnormen bezeichnet (ILO 2022): Übereinkommen 87: Vereinigungsfreiheit Übereinkommen 98: Recht zu Kollektivverhandlungen Übereinkommen 29, 105 und Protokoll von 2014: Zwangsarbeit Übereinkommen 100: Gleichheit des Entgelts Übereinkommen 111: Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf Übereinkommen 138: Mindestalter Übereinkommen 182: Kinderarbeit Übereinkommen 155 und 187: Arbeitsschutz Völkerrechtlich wird eine ILO-Konvention durch die Ratifikation durch einen Mitgliedstaat verbindlich. Hinsichtlich der Verantwortung für die Einhaltung der Sozialstandards entlang der Lieferkette heißt das aber nicht,
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dass Arbeitnehmer*innen sich vor Gericht unmittelbar auf die Normen berufen oder Mitbestimmungsakteur*innen ihre Einhaltung in den Betrieben erzwingen könnten oder dass die ILO einzelne Staaten zwingen könnte, für die Durchsetzung im jeweiligen staatlichen Rechtssystem zu sorgen (instruktiv Zimmer 2019a, S. 128 f.). Aufgrund dieser Vollzugsdefizite haben die ILO-Übereinkommen daher vor allem die Funktion eines international anerkannten Referenzmaßstabs (Zimmer 2019a, S. 144; zum Menschenrechtsbezug der ILO-Übereinkommen Valticos 1998), was sich auch an den Verweisen in Handelsabkommen jüngeren Datums festmachen lässt (Näheres zu Sozialklauseln in diesen völkerrechtlichen Vereinbarungen bei Buchholtz 2019, S. 405 ff.; Däubler/ Däubler-Gmelin 2016; Fritz 2017; Emons et al. 2021, S. 17 ff.). Vor dem Hintergrund von Vollzugsdefiziten hat die ILO schon in den 1970er Jahren einen Ansatz entwickelt, multinationale Unternehmen zur Sicherung menschenwürdiger Arbeitsbedingungen in Lieferketten auf freiwilliger Basis heranzuziehen. Mit der dreigliedrigen »Grundsatzerklärung über multinationale Unternehmen und Sozialpolitik« (ILO 2017) hat die ILO Leitlinien formuliert, wie Unternehmen, Regierungen, Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände gemeinsam zur Verwirklichung von menschenwürdiger Arbeit für alle beitragen können. Die unverbindliche Erklärung wurde bereits 1977 verabschiedet und zuletzt im Jahr 2017 aktualisiert. Auch der UN-Menschenrechtsrat hat als Reaktion auf die Erkenntnis, dass die Durchsetzung der Einhaltung von Menschenrechtsstandards nicht allein den staatlichen Institutionen der Unterzeichnerstaaten überantwortet werden kann, einen Policy-Ansatz gewählt. Die 2011 verabschiedeten »Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte« (DGCN 2014) setzen auf einen »Smart Mix« von nationaler, internationaler und privatwirtschaftlicher Regulierung (vgl. insbesondere das dritte Prinzip »Zugang zu Abhilfe«). Die von der UN-Generalversammlung 2015 im Rahmen der Globalen Agenda 2030 beschlossenen Nachhaltigkeitsziele (Vereinte Nationen 2015, S. 14 ff.) bilden wichtige Maßstäbe für die Verankerung von Sozialstandards in der unternehmerischen Praxis (Näheres anhand des Rohstoffsektors bei Huck 2018). Ziel ist es, Wirtschaftsunternehmen zu befähigen und zu verpflichten, menschenrechtliche Standards in ihrer Lieferkette einzuhalten. Zu diesem Zweck werden Handlungsleitlinien für Staaten und Unternehmen festgelegt, deren Kern organisatorische Sorgfalts- und Berichtspflichten sind. In
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diesem Rahmen werden auch die Aufgaben der Anspruchsgruppen der Berichterstattung und die Beschwerdemechanismen festgelegt; freilich ohne den Begriff des Stakeholders näher zu konkretisieren. Der UN-Menschenrechtsrat forderte alle Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen auf, die Leitprinzipien umzusetzen und nationale Aktionspläne zu entwickeln (Hadwiger et al. 2017). Die UN-Aktivitäten waren Anstoß für eine zuvor nicht gekannte Regulierungstätigkeit in den Nationalstaaten. Der zur Umsetzung der Leitlinien in Deutschland im Dezember 2016 verabschiedete Nationale Aktionsplan etwa bildete die Grundlage für den folgenden politischen Prozess zur Verankerung der Lieferkettenverantwortung zunächst in freiwilligen Selbstverpflichtungen und – nach deren Scheitern (siehe Abschnitt 3) – in der Lieferkettengesetzgebung (Lorenzen 2020; Näheres zum Gesetz siehe Abschnitt 6). Flankiert werden die Leitprinzipien auf Ebene der UN durch den Glo bal Compact, ein Netzwerk aus Unternehmen, Verbänden, Forschungseinrichtungen und zivilgesellschaftlichen Akteuren. Seit 2000 verpflichten sich Unternehmen mit dem Ziel einer sozialen und ökologischen Globalisierung auf Prinzipien, die insbesondere soziale Mindeststandards erfassen, zu denen auch kollektive Arbeitnehmerrechte gehören. Die Unternehmen veröffentlichen einen jährlichen Bericht über die Umsetzung. Parallel zu den Prozessen in den UN-Organisationen hat auch die OECD eigene Leitsätze für multinationale Unternehmen zur Einhaltung von Sozial- und Umweltstandards durch Unternehmen entwickelt. Diese Leitsätze wurden 1976 verabschiedet und bei ihrer Neufassung 2011 von den OECDMitgliedstaaten und acht weiteren Staaten unterzeichnet (OECD 2011, S. 9). Neben den Bestimmungen zu Beschäftigung und industriellen Beziehungen enthalten die Leitlinien auch Empfehlungen zu den Themen Menschenrechte, Offenlegung von Informationen, Umwelt und Besteuerung. In Bezug auf Workers’ Voice werden die Unternehmen angehalten, Gewerkschaftsrechte zu wahren und die Voraussetzungen für den Abschluss von Tarifverträgen zu schaffen sowie zur Umsetzung der Standards in den Dialog mit Stakeholdern zu treten und etwa Arbeitnehmer*innen und ihren Vertreter*innen Informationen zur Verfügung zu stellen. Seit 2011 wird in den OECD-Leitprinzipien ausdrücklich die Verantwortung von Unternehmen für ihre Lieferketten benannt (vgl. Nr. 17, 21 ff. und 43 der offiziellen Erläuterungen zu den OECD-Prinzipien; vertiefend Krajewski/ Bozorgzad/Heß 2016).
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Die OECD-Leitsätze sind als »Soft Law« konzipiert, d. h. sie können im Zweifel nicht gerichtlich durchgesetzt werden (Leitsatz 1; vgl. DGB Bildungswerk 2012), allerdings ist die Etablierung einer Vermittlungs- und Schlichtungsplattform vorgesehen. Die unterzeichnenden Staaten richten Kontaktstellen ein, die über die Prinzipien informieren, aber in besonderen Fällen auch als Ansprechpartner für die Anwendung der Leitsätze fungieren und jährlich Bericht über ihre Aktivitäten erstatten.
3. Freiwillige Selbstverpflichtungen Ende der 1990er Jahre reagierten verschiedene Unternehmen auf die wachsende Kritik an den Arbeitsbedingungen bei ihren Zulieferern, indem sie zunächst »Codes of Conduct« beschlossen, die sich auch auf Arbeitsbedingungen in der Lieferkette erstreckten. Nach und nach waren Versuche erfolgreich, solche Selbstverpflichtungen über den Anwendungsbereich einzelner Unternehmen auszudehnen. Ein Beispiel ist das 2014 gegründete »Bündnis für nachhaltige Textilien«, das Teile der Bekleidungsindustrie abdeckt und das Ziel verfolgt, sowohl Unternehmen als auch Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen an einen Tisch zu bringen. Ob als unilaterale, häufig als »Grundsatzerklärung« bezeichnete Erklärung der Unternehmen, die die Unternehmenspolitik nach außen darstellen und nach innen steuern soll, oder als Übereinkunft mehrerer Unternehmen – etwa einer Branche – mit Nichtregierungsorganisationen und/oder staatlichen Stellen: Unternehmerische Verhaltenskodizes sind in der Regel als rechtlich unverbindlich konzipiert. Selbstverpflichtungen können aber indirekt dazu beitragen, das unternehmerische Verhalten zu steuern und die Transparenz der Arbeitsbedingungen bei Zulieferern zu erhöhen. Werden Verstöße bekannt, kann dies den Markenwert schädigen und gesetzliche Regulierung wahrscheinlicher machen. Obwohl aus Selbstverpflichtungen bisweilen Rechtsfolgen abgeleitet werden, ist ihre tatsächliche Wirksamkeit in der Praxis begrenzt (vgl. z. B. Heinen 2021, S. 158 f.). Beispielsweise wurde auch im »Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte in Deutschland« (siehe Abschnitt 2) die Umsetzung der Lieferkettenverantwortung auf erster Stufe durch freiwillige Selbstverpflichtungen
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festgehalten. Als Ergebnis einer vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit durchgeführten Unternehmensbefragung wurde dieser Weg aber letztlich als gescheitert eingestuft. Auch die Schwierigkeiten des oben erwähnten Textilbündnisses – sowohl Unternehmen als auch prominente Nichtregierungsorganisationen verließen das Bündnis aufgrund mangelnder Erfolge bzw. unzureichender Ergebnisse (vgl. z. B. Dohmen 2022) – sind exemplarisch für die Schwächen solcher freiwilligen Ansätze. Eine Konsequenz war die Einführung einer verbindlichen gesetzlichen Regulierung der Lieferkettenverantwortung durch das sogenannte »Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz« (LkSG; siehe Abschnitt 6).
4. CSR-Standards und Audits für soziale Standards in der Unternehmensführung Ein weiterer Ansatzpunkt mit dem Ziel, dass Unternehmen die Sozialstandards entlang der Lieferkette einhalten, ist die private Standardisierung von Corporate Social Responsibility (CSR): Private Normsetzungsinstitutionen entwickeln Anforderungen an Produkte, Dienstleistungen und Verfahren in Unternehmen. Verbindlichkeit erlangen solche Normen nur, wenn sich Unternehmen an sie binden, oder durch staatliche Delegation. Mit ihrer Hilfe soll mehr oder weniger unabhängig und effektiv überprüft – und auch nach außen dokumentiert – werden, ob Unternehmen Sozialstandards in der Unternehmenspolitik verankert haben. Hier haben sich verschiedene Standards und Audits herausgebildet, die dabei helfen sollen, soziale Kriterien in der Unternehmenspolitik zu verankern und zu dokumentieren. Ihre Funktionsweise wird im Folgenden beispielhaft vorgestellt.
4.1 ISO 26000 Die Norm DIN EN ISO 26000 ist ein Leitfaden für die Umsetzung der Corporate Social Responsibility im Unternehmen (Näheres in Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit 2014, S. 12 f.) und ein international gültiger und universeller Referenzrahmen. Sie ist die erste ISO-Norm zum Thema gesellschaftliche Verantwortung und der erste Leitfaden dieser Art, der sich explizit an alle Arten von Organisationen
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und an Unternehmen aller Branchen richtet, die Wert auf eine nachhaltige Unternehmensführung legen. Die ISO 26000 definiert sieben Grundsätze, deren Einhaltung empfohlen wird: • • • • • • •
Rechenschaftspflicht, Transparenz, ethisches Verhalten, Achtung der Interessen von Anspruchsgruppen, Achtung der Rechtsstaatlichkeit, Achtung internationaler Verhaltensstandards und Menschenrechte.
Die Norm spricht auch die Verantwortung für die Einhaltung von ökologischen und sozialen Standards in der Lieferkette an. So werden z. B. Maßnahmen beschrieben, die auf die Vermeidung von »Mittäterschaft« für Menschenrechtsverletzungen abzielen (DIN EN ISO 26000, Abschnitt 6.3.5.2). Die unternehmerischen Pflichten in Bezug auf Arbeitspraktiken erfassen auch die Auftragnehmer*innen und Vertragspartner*innen (DIN EN ISO 26000, Abschnitt 6.4.3.2). Wie alle ISO-Normen dient auch die ISO 26000 der Standardisierung und Qualitätssicherung im internationalen Wirtschaftsverkehr. Rechtlich verpflichtend sind sie ebenso wie die DIN-Normen in Deutschland nur dann, wenn ihre Anwendung zwischen Wirtschaftsteilnehmer*innen vertraglich vereinbart wurde. Für die ISO 26000 kommt hinzu, dass ihre Einhaltung nicht zertifizierbar ist, also nicht für die Öffentlichkeitsarbeit genutzt werden kann. Sie stellt ein Instrument dar, um die Unternehmenspolitik zu verändern, und richtet sich an Unternehmen, die ein Eigeninteresse an nachhaltiger Produktion haben.
4.2 SA8000 Zertifizierbare Standards haben den Vorteil, dass sie Geschäftspartner*innen und Kund*innen die Bemühungen zeigen, die ein Unternehmen zur Sicherung von sozialen Standards in der Lieferkette leistet. Doch die Zahl der Labels und Standards ist groß und wenn sie auf dem Papier stehen, ist nicht immer klar, inwieweit sie in der Praxis überwacht und gegenüber Zulieferern auch kontrolliert werden können.
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Ein Beispiel für eine etablierte Norm ist die »Social Accountability 8000« (SA8000). Dabei handelt es sich um eine von der amerikanischen Nichtregierungsorganisation Social Accountability International (SAI) entwickelte Auditierung und Zertifizierung der Arbeitsbedingungen und Arbeitnehmerrechte in Produktions- und Dienstleistungsunternehmen (Verbraucher iniative 2022). Unternehmen können bei der SAI die Zertifizierung beantragen, die durch akkreditierte Zertifizierer wie Bureau Veritas oder den TÜV übernommen wird. Inhaltlich verweist SA8000 auf die Einhaltung der ILO-Kernarbeitsnormen, der UN-Menschenrechtscharta und der UN-Kinderrechtskonvention. Sie führt somit dazu, dass Wirtschaftsteilnehmer*innen völkerrechtliche Standards achten, an die ansonsten nur Staaten, nicht aber Privatunternehmen unmittelbar gebunden sind. SA8000 enthält sowohl substanzielle Bestimmungen (wie etwa den Ausschluss von Kinderarbeit) als auch Anforderungen an die Managementverfahren zu deren Umsetzung (etwa die Einrichtung eines entsprechenden Controllings in den Unternehmen).
4.3 CSR-Berichtspflicht Die geltende EU-Richtlinie zur nichtfinanziellen Berichterstattung (RL 2013/34/EU, umgesetzt durch RL 2014/95/EU) verpflichtet Unternehmen, nichtfinanzielle Informationen über Umweltbelange, soziale und mitarbeiterbezogene Aspekte sowie über die Achtung der Menschenrechte, Antikorruption und Vielfalt in den Aufsichtsräten offenzulegen. Auch zur Verantwortung für die Einhaltung von Arbeitsstandards in der Lieferkette enthält sie Ansätze. Wie alle EU-Richtlinien bedarf sie der Umsetzung in das Recht der EU-Mitgliedstaaten, die in Deutschland durch das CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz (CSR-RUG) erfolgt ist. Demnach gilt für kapitalmarktorientierte Kapitalgesellschaften mit ei ner Bilanzsumme von mehr als 20 Millionen Euro oder Umsatzerlösen von 40 Millionen Euro sowie in Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeiter*innen eine besondere Berichtspflicht (§ 289b Abs. 1 S. 1 HGB; § 267 Abs. 3 HGB). Die Unternehmen müssen eine nichtfinanzielle Erklärung mit Angaben zu Umwelt-, Sozial- und Arbeitnehmerbelangen, zur Achtung der Menschenrechte und zur Bekämpfung von Korruption und Bestechung in den (Konzern‑)Lagebericht oder einen gesonderten Nachhaltigkeitsbericht aufnehmen (§ 289c Abs. 2 HGB; § 289b Abs. 3 HGB; zum Nachhaltigkeits-
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bericht vgl. die Gesetzesbegründung in Deutscher Bundestag 2016, S. 51; Mock 2020). In dieser nichtfinanziellen Erklärung sind auch Angaben zu den wesentlichen Risiken für soziale und ökologische Belange zu machen, die mit den Geschäftsbeziehungen des Unternehmens zusammenhängen. Zulieferer werden also mittelbar in die Berichtspflicht einbezogen. Für den Aufsichtsrat birgt die CSR-Berichtspflicht die Chance, innerhalb des Unternehmens das Thema Corporate Social Responsibility angemessen zu thematisieren; andererseits besteht für Aufsichtsratsmitglieder das Risiko, für eine fehlerhafte Berichterstattung zu haften. Um sich gegen dieses Risiko abzusichern, nutzt der überwiegende Teil der Aufsichtsräte die vom Gesetz ermöglichte externe Prüfung der Berichterstattung durch einen oder eine Abschlussprüfer*in. Ein weiteres Fallbeispiel für die wachsende Bedeutung von Corporate Social Responsibility ist der Berliner CSR-Konsens, der die zentralen Elemente eines verantwortungsvollen Managements von Liefer- und Wertschöpfungsketten enthält (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2018). Die sich aus der CSR-Richtlinie ergebenden Pflichten wurden von Anfang an kontrovers diskutiert. Einige Kritiker*innen bewerten den administrativen Aufwand als zu hoch, die Nachhaltigkeitskennziffern auf alle Zulieferer herunterzubrechen; andere halten die Regelungen für nicht weitgehend genug, um die Unternehmen mithilfe von Publizität zu einer Verantwortungsübernahme zu bewegen (vgl. die Sachverständigenanhörung des Deutschen Bundestags zum Entwurf des CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetzes [BT-Drs. 18/9982], Deutscher Bundestag 2016). Ungeachtet dessen hat die Europäische Kommission im April 2021 einen weitergehenden Vorschlag für eine neue »Corporate Sustainability Reporting Directive« (CSRD) veröffentlicht. Diese neue Richtlinie soll nicht nur den Umfang der bisherigen Berichtsinhalte stark ausdehnen, sondern auch zu einer Harmonisierung der Berichtspflichten und einer größeren Rechtssicherheit in puncto Nachhaltigkeitsberichterstattung führen. Auch wird sich nach Expertenmeinung die Zahl von bisher ca. 500 Unternehmen, die nach CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz berichtspflichtig sind, deutlich erhöhen, denn künftig soll der Anwendungsbereich alle großen Unternehmen unabhängig von einer Kapitalmarktorientierung erfassen. Außerdem soll die Richtlinie in Unternehmen ab 250 Arbeitnehmer*innen
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gelten und ab Anfang 2026 müssten auch kapitalmarktorientierte kleine und mittelgroße Unternehmen berichten. Schätzungen gehen davon aus, dass künftig ca. 15.000 deutsche Unternehmen unter diese neue Berichtspflicht fallen (DRSC 2022). Die Berichterstattung soll nach Vorstellung der Kommission künftig ausschließlich im Lagebericht erfolgen, zudem strebt die Richtlinie eine Präzisierung der Wesentlichkeitsdefinition an und verlangt eine externe Prüfung. Bemerkenswert ist auch, dass sich die Rolle des Prüfungsausschusses im Unternehmen deutlich verändern würde. Außerdem soll der Bericht digital veröffentlicht und ein allgemeiner EU-weiter Standard genutzt werden, der vergleichsweise detaillierte Informationen zu den Dimensionen Ökologie, Soziales und Governance verlangt. Letzteres würde aber zugleich bedeuten, dass der europäische Gesetzgeber die technische Ausgestaltung der Richtlinie in eine Standardsetzung auslagert. Für Mitbestimmungsakteur*innen ist in diesem Standard der Bereich »Soziales« von besonderem Interesse, da dort Kernthemen der Mitbestimmung wie Tarifbildung oder Streiks zu finden sind. Zudem sollen die Nachhaltigkeits- und die Finanzberichterstattung künftig gleichwertig behandelt werden, was soziale Themen deutlich aufwerten könnte.
4.4 Berichtspflichten nach dem »Deutschen Rechnungslegungs Standard« (DRS 20) Welche Inhalte die Berichterstattung von Unternehmen nach dem CSRRichtlinie-Umsetzungsgesetz im Rahmen des Lageberichts haben muss, ergibt sich detailliert aus dem »Deutschen Rechnungslegungs Standard« (DRS), der vom Deutschen Rechnungslegungs Standards Committee (DRSC) festgelegt wird. Dieser Verein wurde von der deutschen Wirtschaft gegründet und ist als privates Rechnungslegungsgremium im Sinne von § 342 Handelsgesetzbuch anerkannt. Halten sich Unternehmen an diese Rechnungslegungsvorschriften, wird gesetzlich vermutet, dass die Rechnungslegung die Anforderungen erfüllt (Fleischer/Hahn 2018). Die Standards laut DRS 20 wurden 2017 an die veränderten gesetzlichen Grundlagen angepasst. Im Nachhaltigkeitsbericht muss nunmehr auch über Arbeitnehmer- und Sozialbelange berichtet werden (DRS 20.258). Dabei muss auf die Einhaltung von Arbeitsstandards in Lieferketten eingegangen werden, »sofern dies bedeutsam und verhältnismäßig ist« (DRS 20.270).
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Auf diese Weise wird ein gewisser Legitimierungsdruck erzeugt, auch wenn diese Standards vergleichsweise niedrig sind. Da der Aufsichtsrat für die Richtigkeit der im Nachhaltigkeitsbericht gemachten Angaben haftbar gemacht werden kann, kann er von externer Seite prüfen lassen, ob der Nachhaltigkeitsbericht bestimmten Qualitätsund Transparenzstandards genügt. Auch hierfür existieren international akzeptierte Standards, z. B. der »AA1000 Prüfungsstandard 2008«. Ein weiteres Beispiel für Regelwerke, die für sich genommen rechtlich unverbindlich sind, durch eine gesetzliche Bezugnahme aber eine gewisse – wenn auch indirekte – Verbindlichkeit erlangen, ist der »Deutsche Corporate Governance Kodex« (DCGK). Laut § 161 Aktiengesetz sind Vorstand und Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft verpflichtet, jährlich zu erklären, inwieweit sie den Empfehlungen des DCGK folgen.
5. Sozialpartnerabkommen Für die kollektive Interessenvertretung auf internationaler Ebene fehlt es an einem Rechtsrahmen. Dennoch haben sich globale Rahmenabkommen als branchenweite oder unternehmensbezogene Vereinbarungen etabliert (Näheres hierzu aus juristischer Perspektive bei Zimmer 2019b, S. 435 ff.; zu alternativen Formen vgl. Nowak 2016; siehe auch Kirsch/Puhl/Rosenbohm in diesem Band). Die internationalen Gewerkschaftsverbände und vor allem deutsche Gewerkschaften setzen seit Langem auf das Instrument der globalen Rahmenabkommen, die zwischen multinationalen Unternehmen auf der einen und globalen Gewerkschaftsverbänden (z. B. IndustriALL, zum Teil auch unter Einbeziehung von lokalen Gewerkschaften und Euro- oder Weltbetriebsräten) auf der anderen Seite abgeschlossen werden (siehe Kirsch/ Puhl/Rosenbohm in diesem Band; vgl. Stiftung Arbeit und Umwelt 2019; zu Vereinbarungen mit einem ohne Rechtspflicht eingerichteten Weltbetriebsrat vgl. Haipeter 2019 und Müller/Platzer/Rüb 2006). Die Vertragswerke beziehen sich in der Regel auf die Kernarbeitsnormen der ILO, in geringerem Umfang auch auf andere soziale Standards wie die UN-Leitprinzipien. Die Stoßrichtung von globalen Rahmenabkommen ist in der Regel die Einbeziehung von lokalen Gewerkschaftsstrukturen bei der Einhaltung von Arbeitsstandards. Beschwerdemechanismen
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sind daher meist für lokale Gewerkschaftsstrukturen geöffnet, seltener auch für einzelne Beschäftigte. Neuere Vereinbarungen beziehen auch die Lieferkette mit ein. Da für globale Rahmenabkommen kein international gültiger Rechtsrahmen existiert, wird in der Regel ein unternehmensinterner Mechanismus zur Überwachung vereinbart (eingehend Kirsch/Puhl/ Rosenbohm in diesem Band; Stiftung Arbeit und Umwelt 2019). Erfahrungen zeigen, dass globale Rahmenabkommen bei unterschiedlichen Themen – beispielsweise im Hinblick auf Vereinigungsfreiheit und das Recht auf Kollektivverhandlungen – hilfreiche Instrumente sein können (weitere Ausführungen zur Effektivität z. B. bei Thüsing 2010; Krause 2012). In einigen multinationalen Unternehmen haben diese Vereinbarungen beispielsweise zur Bildung von regionalen, nationalen und globalen Netzwerken der Belegschaft beigetragen, anderswo halfen sie bei der Gründung von Betriebsgewerkschaften. Deutschen Mitbestimmungsakteur*innen geben sie einen Anknüpfungspunkt, um sich mit dem Thema »transnationale Mitbestimmungsrechte« auseinanderzusetzen und beispielsweise innerhalb von Aufsichtsräten gezielt Fragen zu stellen. In Hinblick auf die Effektivität globaler Rahmenabkommen bestehen trotz aller Fortschritte auch Hürden; viele Vereinbarungen wurden nach dem Abschluss nicht mit Leben gefüllt. Entscheidend für den Erfolg ist oft, dass bereits bei der Konzeption von globalen Rahmenabkommen geklärt wird, welche Daten und Informationen benötigt werden, um ihre Wirksamkeit im Anschluss evaluieren zu können. Außerdem fehlt es vor Ort oft an Kenntnissen darüber, ob ein globales Rahmenabkommen existiert und welche Möglichkeiten es bereithält, um Beschwerden einzureichen. Beschäftigte vor Ort müssen mit Schulungen begleitet werden, um handlungsfähig zu werden.
6. Lieferkettengesetze Nicht zuletzt, um den UN-Leitprinzipien und dem gewachsenen internationalen und öffentlichen Druck zur Einhaltung von Menschenrechten in globalen Lieferketten gerecht zu werden, wurden in verschiedenen Staaten Gesetzgebungsprozesse angestoßen. Die Lieferkettengesetze setzen an einem oder mehreren Defiziten des bestehenden nationalstaatlichen Haftungsrechts an. Dies lässt sich am Beispiel von Deutschland verdeutlichen:
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Haftungsregeln versagen, da es an einer vertragsrechtlichen Verknüpfung zwischen den Zulieferern in der Lieferkette und dem in Deutschland ansässigen Unternehmen fehlt. Etwaige Schadensersatzansprüche wegen unerlaubter Handlungen, die auch ohne Vertragsbeziehung geltend gemacht werden können, scheitern zumeist an Schwierigkeiten in der Prozessführung, etwa am Zugang von Geschädigten zur deutschen Gerichtsbarkeit, der Beweislast und der Problematik, dass ausländisches Recht zur Anwendung kommt, selbst wenn die Zuständigkeit eines inländischen Gerichts eröffnet ist (Näheres z. B. bei Lorenzen 2020; vgl. auch Heinen 2021, S. 156 f.). Die persönliche Haftung operativ tätiger Unternehmensvertreter*innen wurde bislang nicht relevant, kommt aber aufgrund der auf vielen Ebenen konkretisierten Sorgfaltspflichten in Betracht (Schneider 2018). Diese im Hinblick auf die Rechtsdurchsetzung unbefriedigende Situation wirft die Frage auf, inwiefern Lieferkettengesetze Verbesserungen versprechen. Frühe Gesetze wurden beispielsweise in Großbritannien und in Frankreich erlassen: •
•
Nach dem britischen Modern Slavery Act von 2015 müssen Unternehmen offenlegen, wie sie verhindern, dass in ihrer Lieferkette Menschenhandel oder Zwangsarbeit auftreten. Der innovative Ansatz besteht darin, dass auch ausländische Unternehmen erfasst sind, die zumindest Teile ihres Geschäfts in Großbritannien ausüben. Das französische loi de vigilance verpflichtet multinationale Unternehmen seit 2017, einen verbindlichen Sorgfaltsplan zu entwickeln, um Menschenrechtsverletzungen zu verhindern und Umweltrisiken zu vermindern. Unternehmen haben über die Einhaltung zu berichten. Das Gesetz enthält auch ein Verbandsklagerecht, das insbesondere Betroffenen aus dem globalen Süden eine Klage erleichtert, unklar geregelt ist allerdings die Beweislast.
Das deutsche »Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz« (LkSG) verpflichtet ab dem 1.1.2023 Unternehmen mit mehr als 3.000 Beschäftigten (ab 1.1.2024 mit mehr als 1.000 Beschäftigten) zur Einhaltung der Lieferkettenverantwortung. Angeregt wurde dieses Gesetz durch die Debatten um die UNLeitprinzipien (siehe Abschnitt 2; vgl. Ruggie 2009); seine Einführung war von intensiven politischen Debatten über Notwendigkeit, Machbarkeit
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und Detailgestaltung einer gesetzlichen Regelung begleitet (vgl. z. B. Zach 2019). Das Lieferkettengesetz schafft eine gestufte Lieferkettenverantwortung im eigenen Geschäftsbereich der erfassten Unternehmen und für die unmittelbaren und mittelbaren Zulieferfirmen. Insbesondere besteht die Pflicht, ein Risikomanagement einzurichten, Risikoanalysen durchzuführen und ein Beschwerdemanagement zu installieren. Verstöße stellen Ordnungswidrigkeiten dar (ausführlich Grabosch/Schönfelder 2021). Für die Überwachung ist eine dem Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz zugeordnete Behörde zuständig, von deren Ausstattung und Arbeitsweise abhängen wird, ob das Lieferkettengesetz nur neue Bürokratie produziert und Unternehmensberatungen zu einem neuen Geschäftsfeld verhilft oder auch zu tatsächlichen Fortschritten für die Arbeitsbedingungen in der Lieferkette führt (überblicksartig zum Gesetz z. B. Sagan/Schmidt 2022). Andere Durchsetzungsmechanismen stehen nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung: Weder soll mit dem Lieferkettengesetz die zivilrechtliche Haftung verbessert noch eine Beweislastumkehr bezweckt werden. Zwar können Nichtregierungsorganisationen und Gewerkschaften aufgrund des Gesetzes in Prozessstandschaft für Betroffene klagen, haben also die Möglichkeit, ein fremdes Recht im eigenen Namen gerichtlich geltend zu machen. Der Nutzen dieser Regelung dürfte aber gering bleiben, da weiterhin eine individuelle Rechtsverletzung geltend gemacht werden muss. Hierfür ist es erforderlich, eine geschädigte Person zu finden, die mit der Klage einverstanden und bereit ist, ggf. zwar nicht als Kläger*in, aber als Zeug*in im Verfahren aufzutreten. Zudem ändert die Regelung nichts an der Problematik, dass in dem Verfahren vor dem deutschen Gericht meist nicht deutsches, sondern ausländisches Deliktsrecht zur Anwendung kommen würde. Im Übrigen stellen Gewerkschaftsrechte und betriebliche Mitbestimmung die großen Leerstellen des Lieferkettengesetzes dar. Obwohl die Mitbestimmungsakteure über Jahre hinweg Erfahrungen mit der transnationalen Sicherung von Beschäftigtenrechten durch globale Rahmenabkommen und Weltbetriebsräte aufgebaut haben, enthält das Lieferkettengesetz keine entsprechenden Beteiligungsrechte (mit Ausnahme des Auskunftsanspruchs des Wirtschaftsausschusses gemäß dem neuen § 106 Abs. 3 Nr. 5b BetrVG). Da das Gesetz auf Lieferketten im Ausland abzielt,
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steht auch die Zuständigkeit eines nach deutschem Recht gebildeten Betriebsrates infrage. Außerdem ist absehbar, dass private Zertifizierungen und Audits – anknüpfend an bestehende und oben in Abschnitt 4 beispielhaft vorgestellte Standards – weiterentwickelt werden und eine hervorgehobene Rolle bei der Umsetzung der Lieferkettenverantwortung erhalten. Daher steht zu befürchten, dass soziale Standards ohne Beteiligung kollektiver Akteure entwickelt werden – eine neue Entwicklung in den Arbeitsbeziehungen, die unter dem Gesichtspunkt der grundrechtlich verankerten Vereinigungsfreiheit und der grundrechtlich den Sozialpartnern zugewiesenen kollektiven Gestaltung der Arbeitsbedingungen ausgesprochen bedenklich erscheint. Freilich haben Betriebsräte bereits nach bestehendem Recht gewisse Beteiligungsrechte. So können sie Auskunft über die Umsetzung des Risikomanagements verlangen, denn das Lieferkettengesetz erfasst keineswegs nur die im Ausland gelegenen Teile der Lieferketten, sondern betrifft auch Lieferbeziehungen im Inland und im selben Unternehmen. Außerdem kann das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates in Fragen der Ordnung des Betriebs greifen (§ 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG), sofern der Arbeitgeber Beschäftigten Verhaltenspflichten im Zusammenhang mit Compliance-Vorgaben oder Whistleblowing macht (vgl. auch Zimmer 2023). Zweifellos besteht aufgrund der Umsetzung des Lieferkettengesetzes innerhalb von Unternehmen Qualifizierungsbedarf auch für Teile der Belegschaften in Deutschland, sodass die Mitbestimmungsrechte greifen, die Betriebs- und Personalräten bei Qualifizierungsmaßnahmen zukommen. Weitere Bewegung beim Thema Lieferkettengesetzgebung gibt es auf europäischer Ebene, denn nunmehr tritt eine Initiative für ein europäisches Lieferkettengesetz neben den Aktionsplan für ein nachhaltiges Finanzwesen, die Kimberley-Verordnung zum Handel mit Rohdiamanten (»Blutdiamanten«; VO [EG] 2368/2002) und die EU-Verordnung zu Konfliktmineralien (VO [EU] 2017/821; Näheres z. B. bei Heße/Klimke 2017) sowie hinsichtlich Umweltschutzaspekten auch die EU-Holzhandelsverordnung (VO [EU] 995/2010). Die EU-Kommission hat hierzu einen Entwurf vorgelegt, der – wie das deutsche Lieferkettengesetz – einem risikobasierten Ansatz folgt, d. h. die Überwachung der Einhaltung des Gesetzes erfolgt in erster Linie dort, wo
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das Risiko von Standardverletzungen besonders ausgeprägt ist (Grabosch 2022). Nach Inkrafttreten der Richtlinie wird voraussichtlich ein Anpassungsbedarf des deutschen Lieferkettengesetzes an die EU-Vorgaben entstehen; bei dieser Gelegenheit sollten auch seine oben genannten Defizite behoben werden. Es lässt sich konstatieren, dass Lieferkettengesetze das Potenzial haben, die Verbindlichkeit von Arbeits- und Sozialstandards zu erhöhen. Sie machen aber die bereits entwickelten Regelungen zur Lieferkettenverantwortung keineswegs entbehrlich. So definieren die völkerrechtlichen Abkommen nach wie vor den globalen »Goldstandard« für Mindestarbeitsbedingungen. Lieferkettengesetze können die Durchsetzung erleichtern; Audits fördern die Umsetzung gesetzlicher Standards in Unternehmen, indem sie den Nachweis von Bemühungen ermöglichen, die den gesetzlichen Sorgfaltsnormen entsprechen oder darüber hinausgehen. Insbesondere aber vermögen Lieferkettengesetze nicht die Bemühungen der kollektiven Interessenvertretungen zu ersetzen, Mitbestimmungsstrukturen und soziale Standards auf globaler Ebene zu etablieren, im Gegenteil: Die in globalen Rahmenabkommen etablierten globalen Informationskanäle und Streitbeilegungsverfahren bieten die Gewähr für die Einhaltung gesetzlicher Sorgfaltspflichten. Globale Rahmenabkommen können zwar aufgrund ihrer fehlenden rechtlichen Verbindlichkeit ein umfassendes Risikomanagement nicht ersetzen. Aufgrund ihrer Anwendung besteht jedoch bei den Mitbestimmungsakteuren ein auf das Unternehmen bezogenes Erfahrungswissen, das anderweitig nicht zu erlangen ist (siehe Kirsch/Puhl/Rosenbohm in diesem Band). Die Einbeziehung der Interessenvertretungen vor Ort erscheint ohnehin als der erfolgversprechendste Weg, Risiken nicht nur auf dem Papier oder durch beauftragte Zertifizierer*innen zu reduzieren, sondern ein Bild von den tatsächlichen Arbeitsbedingungen zu erlangen. Doch nicht nur bei der Meldung von Risiken und Verstößen, auch bei der Umsetzung von vorbeugenden Maßnahmen ist es naheliegend, diejenigen einzubeziehen, deren Aufgabe es ist, die arbeitsbezogenen Interessen der Belegschaften vor Ort zu vertreten: Workers’ Voice ermöglicht es, auf das Unternehmen und seine Lieferkette zugeschnittene Lösungen zu etablieren, und trägt so zu einem effektiven Sorgfaltspflichtenmanagement im globalen Maßstab bei.
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7. Fazit Der Paradigmenwechsel, neben den Staaten auch transnational agierende Unternehmen in die Verantwortung für die Einhaltung grundlegender Arbeitnehmerrechte in der Lieferkette zu nehmen, zeigt erste Erfolge. Instrumente des »Soft Law« wie Selbstverpflichtungen oder Standards zu Corporate Social Responsibility haben durchaus positiven Einfluss auf die Unternehmenskultur und bieten die Chance, dass offensichtliche Menschenrechtsverstöße bei den Zulieferern seltener werden. Richtlinien zur Unternehmenspolitik ermöglichen die Selbstkontrolle von Unternehmen. Berichtspflichten und Zertifizierungen erhöhen die Vergleichbarkeit der Maßnahmen, die Unternehmen ergreifen, um grundlegende Arbeitsrechte bei den Zulieferern zu gewährleisten. Trotz einiger Fortschritte vor allem im Bereich der Transparenz konnte die Effektivität der freiwilligen Selbstverpflichtung aber nicht befriedigen. In den vergangenen Jahrzehnten konnte die Befürchtung nicht ausgeräumt werden, dass die Umsetzung freiwilliger Maßnahmen lückenhaft bleibt, solange es einen Wettbewerbsnachteil darstellt, freiwillige Maßnahmen zu ergreifen und wirksam umzusetzen – sei es aufgrund von höheren Kosten oder von Schwierigkeiten, überhaupt einen Zulieferer zu finden, der die Sozialstandards einhält. Umso wichtiger sind rechtssichere und verlässliche gesetzliche Vorgaben, wie sie das Lieferkettengesetz bereithält. Neben Deutschland haben auch andere Staaten ähnliche Gesetze verabschiedet, um die Übernahme unternehmerischer Verantwortung für die Einhaltung grundlegender Arbeitsstandards in Lieferketten auf eine rechtliche Grundlage zu stellen. Das deutsche Lieferkettengesetz und die EU-Gesetzgebung stellen mithin wichtige Schritte zur Stärkung der Lieferkettenverantwortung dar. Der bisher entwickelte Normenbestand wird durch eine Lieferkettengesetzgebung jedoch nicht überflüssig, sondern ergänzt und teilweise gestärkt. Dies betrifft etwa die völkerrechtlichen Normen, die nun auch für die Unternehmen im Rahmen der Lieferkette verbindlich werden. Audits müssen ggf. angepasst werden, werden aber den Nachweis erleichtern, dass ein Unternehmen die erforderliche Sorgfalt anwendet – allein Selbstverpflichtungen werden hierfür nicht genügen. Die völkerrechtlichen Stan-
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dards füllen als globale Mindeststandards bestehende Sorgfaltspflichten mit Inhalt und sind als Policy-Instrumente unabdingbar. Im Übrigen bleibt vorerst abzuwarten, auf welchen Wegen das deutsche Lieferkettengesetz im Einzelnen zur Verbesserung der Sozialstandards in der Lieferkette beiträgt. Da die individuellen zivilrechtlichen Instrumente unzureichend sind und kollektive Maßnahmen zur Sicherstellung der Umsetzung weitgehend fehlen, wird viel von den – auch politisch gesetzten – Rahmenbedingungen und den Durchführungsbestimmungen abhängen, mit denen die zuständigen Behörden die Einhaltung der Vorschriften des Lieferkettengesetzes in den Unternehmen sicherstellen. Der Abschluss von Rahmenabkommen zwischen multinationalen Unternehmen und den globalen Gewerkschaftsdachverbänden setzt an dieser Leerstelle des Lieferkettengesetzes an, indem eine Grundlage für Workers’ Voice geschaffen wird: Globale Rahmenabkommen beziehen gewählte Arbeitnehmervertreter*innen ein, etablieren Solidarität und Austausch zwischen den Produktionsstandorten in unterschiedlichen Staaten und unterbinden so auch einen wirtschaftlichen Wettbewerb um die niedrigsten Sozialstandards. Es geht also nicht um ein Entweder-oder, sondern eher um ein Sowohlals-auch: Lediglich ein globales Rahmenabkommen zu haben, das das Thema Lieferkettenverantwortung anspricht, dürfte im Regelfall nicht genügen, um die Vorgaben des Lieferkettengesetzes zu erfüllen. Allerdings dürften die Beteiligten durch ein klares Rahmenabkommen Praxiserfahrungen sammeln, die auch die Umsetzung von Maßnahmen im Rahmen des Lieferkettengesetzes mit dem Leben und der Bodenhaftung füllen, die im Kontext von CSR-Leitfäden und der nichtfinanziellen Berichterstattung fehlen. Umgekehrt kann die unternehmensinterne Umsetzung des Lieferkettengesetzes auch weitere Vereinbarungen mit kollektiven Akteuren nach sich ziehen, um Rechtsicherheit herzustellen und die Ressourcen bereitzustellen, an denen es bislang fehlt. In dem sich abzeichnenden Mix von Regelungsansätzen sollte die Gesetzgebung in Deutschland und der EU einen Akzent darauf setzen, Mitbestimmungsakteure in die Etablierung von Standards der Lieferkettenverantwortung und deren Umsetzung einzubeziehen.
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Rechtliche Instrumente zur Umsetzung von Sozialstandards in Lieferketten
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Oliver Emons, Barbara Fulda, Ernesto Klengel
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Rechtliche Instrumente zur Umsetzung von Sozialstandards in Lieferketten
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Autor*innen und Herausgeber*innen
Prof. Dr. Catherine Casey, Professorin für Organisation und Gesellschaft an der School of Business and Economics, Universität Loughborough, UK. Forschungsinteressen: Globale Governance von Arbeit, Transnationale industrielle Beziehungen, Corporate Governance und Regulierung multinationaler Unternehmen. E-Mail: [email protected] Dr. Helen Delaney, Senior Lecturer, Universität Auckland Business School, Neuseeland. Forschungsinteressen: Arbeitssoziologie, Arbeitsbeziehungen und Organisationsstudien. E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Leonhard Dobusch, Professor für Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Organisation, Universität Innsbruck, und wissenschaftlicher Leiter des Momentum Instituts in Wien. Forschungsschwerpunkte: organisationale Offenheit, Management digitaler Gemeinschaften sowie private Regulierung via Standards, vor allem im Bereich von Immaterialgüterrechten. E-Mail: [email protected] Dr. Oliver Emons, Wirtschaftsreferent im Institut für Mitbestimmung und Unternehmensführung der Hans-Böckler-Stiftung (I. M. U.). Forschungsschwerpunkte: Nachhaltigkeit und nicht-finanzielle Berichterstattung, Innovationen und Mitbestimmung, Fusionen und Übernahmen (M&A). E-Mail: [email protected] Dr. Antje Fiedler, Senior Lecturer, Universität Auckland Business School, Neuseeland. Forschungsinteressen: Unternehmensinternationalisierung, mit
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Soziale Standards in globalen Lieferketten
einem besonderen Fokus auf Asiatische Volkswirtschaften, Innovation und Corporate Governance. E-Mail: [email protected] Dr. Barbara Fulda, Referentin im Referat »Grundsatzfragen der Arbeitsund Sozialpolitik, Demografie, Integration« im Ministerium für Wirtschaft, Industrie, Klimaschutz und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen, Forschungsschwerpunkte: globale Wertschöpfungsketten, demografischer Wandel, (regionale) Industrie- und Innovationspolitik, Arbeitswelt im Wandel. E-Mail: [email protected] Helena Gräf, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin. Forschungsschwerpunkte: Internationale und vergleichende Politische Ökonomie, Nachhaltigkeit in globalen Wertschöpfungsketten, Labour Governance, Europa-Studien und Industriepolitik. E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Thomas Haipeter, Leiter der Forschungsabteilung Arbeitszeit und Arbeitsorganisation, Universität Duisburg-Essen / Institut Arbeit und Qualifikation. Forschungsschwerpunkte: Arbeit, Arbeitsbeziehungen und Arbeitsregulierung. E-Mail: [email protected] Dr. Maximilian Heimstädt, Akademischer Oberrat, Fakultät für Soziologie, Universität Bielefeld, und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Weizenbaum-Institut für die vernetzte Gesellschaft in Berlin. Forschungsschwerpunkte: Fragen der Organisations- und Managementforschung im Kontext der digitalen Transformation. E-Mail: [email protected] Dr. Markus Helfen, wissenschaftlicher Mitarbeiter Hertie School, Berlin, und Privatdozent am Fachbereich Wirtschaftswissenschaft, Freie Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Globale Arbeitsstandards, Inter-organisationale Netzwerke und Mehr-Arbeitgeber-Beschäftigung, Arbeit und Nachhaltigkeit. E-Mail: [email protected]
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Autor*innen und Herausgeber*innen
Prof. Dr. Hansjörg Herr, emeritierter Professor für Supranationale Integration an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin. Forschungsschwerpunkte: Entwicklungsökonomie, europäische Integration, Währungspolitik, Mindestlöhne und internationale Währungssysteme. E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Anja Kirsch, Professorin für Gender, Governance und internationales Management, Management-Department, Fachbereich Wirtschaftswissenschaft, Freie Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Governance internationaler Arbeitsstandards, Arbeitsbeziehungen in der Automobilindustrie, Frauen in Führungspositionen. E-Mail: [email protected] Lukas Daniel Klausner, Researcher, Fachhochschule St. Pölten, in den Bereichen Security, Privacy, Data Science und Science and Technology Studies. Forschungsschwerpunkte: Critical Algorithm and Data Studies, Ethik und Bias von Algorithmen, mathematische Grundlagen von Machine Learning / A rtificial Intelligence und alle Fragestellungen, bei denen Technik und Gesellschaft aufeinandertreffen. E-Mail: [email protected] Dr. Ernesto Klengel, Referatsleiter am Hugo Sinzheimer Institut für Arbeits- und Sozialrecht der Hans-Böckler-Stiftung. Forschungsschwerpunkte: Deutsches und Europäisches Arbeitsrecht. E-Mail: [email protected] Carolin Puhl, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Management-Department, Fachbereich Wirtschaftswissenschaft, Freie Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Globale Produktionsnetzwerke und Arbeit, Verhältnis Wissenschaft und Praxis, sozial-solidarische Ökonomie. E-Mail: [email protected] Dr. Sophie Rosenbohm, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut Arbeit und Qualifikation, Universität Duisburg-Essen. Forschungsschwerpunkte: nationale und transnationale Arbeitsbeziehungen, Wandel der Arbeit im Kontext der Digitalisierung, Organisationsforschung. E-Mail: sophie.rosen[email protected]
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Soziale Standards in globalen Lieferketten
Dr. Christian Scheper, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Institut für Entwicklung und Frieden, Fakultät für Gesellschaftswissenschaften, Universität Duisburg-Essen. Forschungsschwerpunkte: Arbeits- und Menschenrechte, transnationale Regulierung, globale Lieferketten. E-Mail: [email protected] Dr. Christoph Sorg, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Institut für soziale Bewegungen, Ruhr-Universität Bochum. Forschungsschwerpunkte: Wirtschaftliche Planung, soziale Bewegungen, Schulden. E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Christina Teipen, Professorin für Sozialwissenschaften mit dem Schwerpunkt auf Wirtschaftssoziologie, Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin. Forschungsschwerpunkte: soziales Upgrading im Globalen Süden, die Rolle von Arbeit, die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf globale Wertschöpfungsketten, vergleichende Analysen von Institutionen. E-Mail: [email protected] Christine Üyük, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut Arbeit und Qualifikation, Universität Duisburg-Essen. Forschungsschwerpunkte: Arbeitsbeziehungen auf europäischer und transnationaler Ebene, Angestelltenforschung. E-Mail: [email protected] Dr. Dr. Carolina A. Vestena, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut für Entwicklung und Frieden, Fakultät für Gesellschaftswissenschaften, Universität Duisburg-Essen. Forschungsschwerpunkte: Kollektive Rechtsmobilisierung, soziale Bewegungen, Arbeits- und Menschenrechte. E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Sabrina Zajak, Leiterin der Abteilung »Konsens und Konflikt« am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) und außerplanmäßige Professorin an der sozialwissenschaftlichen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Forschungsschwerpunkte: Zivilgesellschaft, soziale Bewegungen, Partizipation und gesellschaftliche Teilhabe. E-Mail: [email protected]
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Soziologie Michael Volkmer, Karin Werner (Hg.)
Die Corona-Gesellschaft Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft 2020, 432 S., kart., 2 SW-Abbildungen 24,50 € (DE), 978-3-8376-5432-5 E-Book: PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5432-9 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5432-5
Vera Hofmann, Johannes Euler, Linus Zurmühlen, Silke Helfrich
Commoning Art – Die transformativen Potenziale von Commons in der Kunst Juli 2022, 124 S., kart 19,50 € (DE), 978-3-8376-6404-1 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-6404-5
Kerstin Jürgens
Mit Soziologie in den Beruf Eine Handreichung 2021, 160 S., kart. 18,00 € (DE), 978-3-8376-5934-4 E-Book: PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5934-8
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Soziologie Gabriele Winker
Solidarische Care-Ökonomie Revolutionäre Realpolitik für Care und Klima 2021, 216 S., kart. 15,00 € (DE), 978-3-8376-5463-9 E-Book: PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5463-3
Wolfgang Bonß, Oliver Dimbath, Andrea Maurer, Helga Pelizäus, Michael Schmid
Gesellschaftstheorie Eine Einführung 2021, 344 S., kart. 25,00 € (DE), 978-3-8376-4028-1 E-Book: PDF: 24,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4028-5
Bernd Kortmann, Günther G. Schulze (Hg.)
Jenseits von Corona Unsere Welt nach der Pandemie – Perspektiven aus der Wissenschaft 2020, 320 S., Klappbroschur, 1 SW-Abbildung 22,50 € (DE), 978-3-8376-5517-9 E-Book: PDF: 19,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5517-3 EPUB: 19,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5517-9
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