Die Stimme in der antiken Rhetorik 9783666253027, 9783525253021, 9783647253022


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Die Stimme in der antiken Rhetorik
 9783666253027, 9783525253021, 9783647253022

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© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525253021 — ISBN E-Book: 9783647253022

Hypomnemata Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachleben

Herausgegeben von Ewen Bowie, Albrecht Dihle, Dorothea Frede, Hans-Joachim Gehrke, Günther Patzig, Karla Pollmann, Christiane Reitz, Christoph Riedweg, Gisela Striker Band 194

Vandenhoeck & Ruprecht

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Verena Schulz

Die Stimme in der antiken Rhetorik

Vandenhoeck & Ruprecht

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525253021 — ISBN E-Book: 9783647253022

Verantwortliche Herausgeberin Christiane Reitz

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar ISBN 978-3-525-25302-1 ISBN 978-3-647-25302-2 (E-Book) Umschlagabbildung: Demosthenes übt eine Rede an der Küste des antiken Griechenlands. Illustration von Jules Lecomte du Nouy. (akg-images/North Wind Picture Archives)

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. – Printed in Germany. Gesamtherstellung: L Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Für meine Großeltern

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Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Einleitung: Ein vernachlässigtes Forschungsgebiet . . . . . . . . . 1.1 Gegenstand und Ziel der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Bisherige Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13 13 17

2. Die Stimme in der antiken Philosophie, Medizin und Grammatik 2.1 Die Stimmphysiologie in Philosophie und Medizin . . . . . . 2.1.1 Platon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Hippokratische Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.4 Lukrez, Stoa, Vitruv, Celsus, Plinius d. Ä. . . . . . . . 2.1.5 Galen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die Pflege und Ausbildung der Stimme . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Stimmdiätetik: Ernährung und Lebensweise . . . . . . 2.2.2 Stimmtraining: Schauspieler, Sänger, phonasci . . . . . 2.3 Die medizinische Stimmübung: ἀναφώνησις/anaphonesis . 2.4 Die Stimme bei den Grammatikern und in der Spätantike . . 2.4.1 Dionysios von Halikarnassos, Quintilian, die Grammatici Latini . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Laktanz, Augustinus, Isidor von Sevilla . . . . . . . . 2.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 1: Moderne Stimmphysiologie . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . .

23 23 23 25 35 36 45 50 50 55 59 66

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3. Die Stimme in der antiken rhetorischen Theorie und Praxis: von Isokrates bis Alkuin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Griechische Anfänge: Redner und Rhetoriker vom 5. bis zum 2. Jh. v. Chr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Isokrates, Perikles und Kleon, Demosthenes und Aischines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Thrasymachos und Platon . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.4 Theophrast und die hellenistische Zeit . . . . . . . . . . 3.2 Vom Auctor ad Herennium bis zu Quintilian: Rhetoriker und Redner vom 1. Jh. v. Chr. bis zum 1. Jh. n. Chr. . . . . . . . . . Exkurs 2: Zur Terminologie von actio und pronuntiatio . . . . 3.2.1 Der Auctor ad Herennium . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Cicero . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Philodem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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84 84 84 90 92 102 107 107 109 113 133

8

Inhalt

3.2.4 Dionysios von Halikarnassos . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.5 Quintilian . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Rhetoriker nach Quintilian . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Kassios Longinos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Die Rhetores Latini Minores: Fortunatian, Iulius Victor, Alkuin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 3: Begriffe für Lautstärke und Tonhöhe (der Stimme) . . 1. Der Zusammenhang von Lautstärke und Tonhöhe bei der Stimmerzeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wortfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Akzent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Höhe und Tiefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Geradheit und Gebogenheit . . . . . . . . . . . . 2.4 Größe bzw. Menge . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Spannung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

168

. . . 178 . . . . . . .

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4. Kommentar zu den beiden Hauptquellen Rhetorica ad Herennium und Institutio oratoria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Rhet. Her. 3,11,19–3,14,25 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Allgemeine Bedeutung und Nützlichkeit der pronuntiatio (3,11,19) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Einteilung der pronuntiatio (3,11,19) . . . . . . . . . . 4.1.3. figura vocis (3,11,20–3,14,25) . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Quint. inst. 11,3,14–65 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 vox: Einordnung ins rhetorische System und Einteilung (11,3,14–18) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 cura und exercitatio (11,3,19–29) . . . . . . . . . . . . 4.2.3 ratio pronuntiationis: Die vier Tugenden des Vortrags (11,3,30–65) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Die Geschichte der Stimme in der antiken Rhetorik . . . . . 5.1.1 Chronologischer Überblick . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Thematischer Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Die Rhetorik und die angrenzenden Wissenschaften von der Stimme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Grammatik und Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 Schauspielkunst und Rhetorik . . . . . . . . . . . . . 5.2.4 Musik und Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.5 Medizin und Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . .

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179 180 180 181 181 182 183

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185 191 192 237

. 237 . 255 . 274 . . . .

351 351 351 356

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362 362 363 364 369 372

Inhalt

9

Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Indices

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Vorwort

Das vorliegende Buch ist die erweiterte Version meiner im Sommersemester 2012 an der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommenen Dissertation mit demselben Titel. Mein Dank gilt an erster Stelle meinem Doktorvater Prof. Dr. Wilfried Stroh, der diese Arbeit angeregt und (gleichsam in einer aemulatio des Auctor ad Herennium) diligentissime betreut hat. Dabei hat er stets meine Kenntnisse nicht nur in rhetorischer Theorie, sondern auch in rednerischer Praxis wachsen lassen. Für wertvolle Hinweise und Gespräche fühle ich mich außerdem Prof. Dr. Claudia Wiener (München), Prof. Dr. Martin Hose (München), Prof. Dr. Hans-Joachim Gehrke (Freiburg) und Prof. Dr. Peter Scholz (Stuttgart) verbunden. Allen Herausgebern und insbesondere Prof. Dr. Christiane Reitz (Rostock) danke ich herzlich für die Aufnahme dieser Arbeit in die Reihe der Hypomnemata. Für die finanzielle und ideelle Unterstützung während der Zeit der Promotion möchte ich dem Doktorandenkolleg »Textualität in der Vormoderne« des Elitenetzwerks Bayern meinen Dank aussprechen. Vom Austausch mit Betreuern und Kollegiaten hat diese Arbeit sehr profitiert. Auch die Kolloquien der Gruppe »Museion Monacense« der Abteilung für Griechische und Lateinische Philologie an der LMU München haben Kapitel dieses Buches positiv beeinflusst. An dieser Stelle sei auch der Studienstiftung des deutschen Volkes gedankt, die mein Studium in Heidelberg, Tübingen und Oxford großzügig gefördert und nachhaltig geprägt hat. Für die zuverlässige Betreuung von Seiten des Verlags während der Drucklegung danke ich Kai Pätzke, für die Unterstützung bei der Erstellung der Bibliographie während dieser Phase Claudia Strienitz. Über das Wissenschaftliche hinaus habe ich von PD Dr. Bianca-Jeanette Schröder, Dr. Isabella Wiegand und Lydia Glorius große Unterstützung erhalten. Der tiefste Dank gebührt gerade denen, die fachlich am weitesten entfernt und doch gedanklich immer am nächsten dabei sind, nämlich meiner Familie.

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1. Einleitung: Ein vernachlässigtes Forschungsgebiet

1.1 Gegenstand und Ziel der Arbeit Einer weit verbreiteten Anekdote zufolge wurde der große griechische Redner Demosthenes einmal gefragt, was das Wichtigste beim Reden sei. Darauf antwortete er, das sei der Vortrag. Als man dann fragte, was denn das Zweitwichtigste beim Reden sei, gab er wiederum zur Antwort: »der Vortrag«. Und auch den dritten Platz räumte er, als dieselbe Frage abermals gestellt wurde, wieder dem Vortrag ein.1 Wenn wir Quintilian glauben dürfen, fragte man dann nicht mehr weiter, da man verstanden hatte, dass Demosthenes den Vortrag nicht nur für herausragend wichtig (pronuntiatio … non praecipua), sondern für allein wichtig (sed sola) hielt.2 Diese hohe Wertschätzung des Vortrags (ὑπόκρισις/actio, pronuntiatio), der alle antiken Theoretiker gefolgt sind,3 ernährt noch heute zahlreiche Rhetoriktrainer, die mit Hilfe von Bild- und Tonaufzeichnungen den körperlichen und mündlichen Vortrag ihrer Kursteilnehmer festhalten, analysieren und verbessern wollen. Die Zweiteilung des Vortrags in das, was der Zuhörer sehen kann (Mimik und Gestik), und das, was er hören kann (Stimme), war schon in der Antike geläufig.4 Während aber der körperliche Aspekt des antiken Vortrags in der Forschung häufiger behandelt worden ist,5 hat der mündliche Aspekt, die Stimme des Redners, kaum Beachtung gefunden.6 Dies ist 1 Diese Demosthenes-Anekdote überliefern u. a. Cic. de orat. 3,213, Cic. Brut. 142, Cic. orat. 56, Plut. mor. 854B, Quint. inst. 11,3,6, Longin, rhet. p. 195,5–9. Siehe auch SCHAEFER (1856), S. 297 f. und BLASS (21893), S. 23. Der epikureische Philosoph Philodem (rhet.4 Col.XVa3–19) wagt eine kühne, direkt auf sein Argumentationsziel ausgerichtete Interpretation dieser Anekdote, vgl. Kapitel 3.2.3. 2 Vgl. Quint. inst. 11,3,6. Nur bei Quintilian findet sich explizit die Schlussfolgerung, dass mit den drei Antworten des Demosthenes offensichtlich gemeint war, dass der Vortrag allein (und nicht nur in besonderem Maße) beim Reden wichtig sei. 3 Eine kleine Ausnahme macht der Auctor ad Herennium (3,11,19), vgl. Kapitel 4.1.1. 4 Sie stammt wahrscheinlich von Theophrast, vgl. Kapitel 3.1.4. 5 Exemplarisch seien hier genannt MAIER-EICHHORN (1989) zu Quintilians Anweisungen zur Gestikulation (mit weiteren Literaturangaben bis 1989), WÜLFING (1994), SAFTIEN (1995) und der Sammelband von CAIRNS (2005). 6 So gibt es z. B. in dem drei Bände starken und fast 1600 Seiten langen Tagungsband der internationalen Konferenz »Quintiliano: Historia y actualidad de la retórica« aus dem Jahr 1998 gerade einmal zwei Beiträge (HERNÀNDEZ GUERRERO [1998] und MARIMÓN LLORCA [1998]), die sich auch mit dem Vortrag befassen, dabei aber die Stimme fast ganz außer Acht lassen.

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Einleitung

einerseits erstaunlich, da doch gerade die antike Rhetorik so stark auf Mündlichkeit ausgelegt ist und die Bedeutung der Stimme beim Vortrag mindestens genauso hoch geschätzt wird wie die des Körpers. So kreisen die Anekdoten über Demosthenes’ Vortragsübungen in erster Linie um seine Stimme7 und für Cicero ist die Stimme der wichtigste Bestandteil des Vortrags: ad actionis autem usum atque laudem maximam sine dubio partem vox obtinet (de orat. 3,224).8 Andererseits ist die Vernachlässigung der Stimme in der Forschung angesichts der Schwierigkeiten, die die entsprechenden Texte bieten, auch erklärbar. Eine bestimmte Haltung des Körpers und auch eine bestimmte Mimik ist relativ leicht im Text beschreibbar und verständlich. Wie hingegen eine Stimme klingt, in der sich Ironie (vgl. Rhet. Her. 3,14,25), Zorn (vgl. Cic. de orat. 3,217) oder Mitleid (vgl. Quint. inst. 11,3,64) ausdrücken, lässt sich zwar leicht nachahmen, aber ohne mündliche Beispiele nur mittels schriftlichen Textes deutlich schwieriger darstellen. Der Auctor ad Herennium, der in der Antike als Erster eingehender über die vox schreibt, betont daher, welche große Aufgabe er doch auf sich genommen habe, Stimmarten (voces) durch die Schrift nachzuahmen (imitari scriptura) (Rhet. Her. 3,15,27).9 So wie es einerseits ihn und jeden Autor vor gewisse Herausforderungen stellt, Beschreibungen und Anweisungen zum mündlichen Vortrag schriftlich umzusetzen, bereitet es andererseits dem Rezipienten oftmals große Schwierigkeiten, diese schriftlichen Zeugnisse zu verstehen. Ziel dieser Arbeit ist es daher, einen besseren Zugang zu den antiken Quellen, die sich mit der Stimme des Redners befassen, zu verschaffen und die bestehende Forschungslücke so zu schließen. Dazu bedarf es eines vielschichtigen Ansatzes, denn die Quellen zur Stimme in der antiken Rhetorik sind sehr disparat in ganz unterschiedlichen Kontexten und teilweise in schlechtem Textzustand überliefert. Daher müssen die zwei wichtigsten ausführlichen Quellentexte detailliert durch einen eigenen Kommentar erklärt werden. Zudem dürfen aber auch die kürzeren Texte aus rhetorischem Zusammenhang nicht vernachlässigt werden, die darüber hinaus durch die Texte aus anderen wissenschaftlichen Diskursen ergänzt werden müssen. Die Arbeit ist deshalb so aufgebaut, dass sie dem Benutzer in verschiedenen Darstellungsarten zwei Zugänge ermöglicht: einen über die Darstellung aller relevanten Einzeltexte in ihrer chronologischen Reihenfolge (Kapitel 2 und 3) und einen über die exakte Analyse der rhetorischen Hauptquellen (Kapitel 4). Ausgerichtet auf verschiedene Leserinteressen

7 Zu diesen Anekdoten vgl. Kapitel 2.2.2. 8 Vgl. Kapitel 3.2.2. 9 Zur späten Verschriftlichung der Vortragstheorie durch den Auctor ad Herennium vgl. Kapitel 5.1.1.

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Gegenstand und Ziel der Arbeit

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werden dabei drei Perspektiven vereint, nämlich eine philologische, eine historische und eine interdisziplinäre Perspektive. Dass die Rhetorik ihre Überlegungen zur Stimme des Redners in Auseinandersetzung mit anderen Disziplinen angestellt hat, wird v. a. den wissenschafts- und kulturhistorisch orientierten Leser interessieren. Zunächst werden daher in Kapitel 2 die antiken Vorstellungen der Stimmphysiologie untersucht. Wie entsteht die menschliche Stimme? Wie wird sie richtig gepflegt und geübt? Diese aus heutiger Sicht primär medizinischen Fragen wurden in der Antike teils in der Medizin, teils in der Grammatik und teils in der Philosophie behandelt und haben Einfluss auf die rhetorische Behandlung der Stimme ausgeübt. Der Exkurs 1 stellt zum Vergleich die heutige Vorstellung der Stimmphysiologie vor und zeigt die Hauptunterschiede zu den antiken Theorien. Kapitel 3 wendet sich v. a. an den historisch interessierten Leser, der sich einen Überblick über die Geschichte der Stimme in der antiken Rhetorik verschaffen möchte. Es behandelt die gesamte Geschichte der Stimme in explizit rhetorischer Theorie und Praxis10 und erläutert, wer sich in der Antike mit der Stimme des Redners befasst hat und in welchem Rahmen und zu welchem Zweck dies geschehen ist. Hier werden sehr unterschiedliche Arten von Texten, die von Rednern, Redelehrern und Rhetoriktheoretikern in der Zeit vom 5. Jh. v. Chr. bis zum 8. Jh. n. Chr. verfasst worden sind, vorgestellt und erklärt. Dies geschieht in der diachronen Reihenfolge der Texte, so dass jeweils die Bezugnahmen auf Früheres (oder das Fehlen solcher Bezüge) deutlich werden können, und in einem close-reading-Verfahren, weil oftmals der Ablauf des Gedankens schwer nachvollziehbar, aber entscheidend für das Verständnis der einzelnen inhaltlichen Aussagen und die Fragestellung der Texte insgesamt ist. Zudem sind manche der Texte kaum oder schlecht erschlossen und bedürfen daher einer eingehenden Kommentierung. Da in den Texten mit akustischem Vokabular immer wieder die Begriffe »laut« und »leise« mit »tief« und »hoch« zusammenhängen, wird im Exkurs 3 das Verhältnis von Lautstärke und Tonhöhe in der antiken Terminologie thematisiert und die wichtigsten Begriffe werden nach Bedeutungsfeldern systematisch vorgestellt. In erster Linie an den philologisch interessierten Leser richten sich die detaillierten Kommentare zu den beiden Hauptquellen zur Stimme in der antiken Rhetorik (Kapitel 4), nämlich zum spätrepublikanischen Auctor ad Herennium (1. Jh. v. Chr.), dem ersten Autor überhaupt, der sich allen Aufgaben des Redners (officia oratoris) widmet, und zu Quintilian (1. Jh. n. Chr.), der uns mit der Institutio oratoria das ausführlichste Werk über die Rhetorik aus der Antike hinterlassen hat. Bislang liegen zu keiner dieser 10 Die rhetorische Theorie steht dabei deutlich im Vordergrund. Zeugnisse von Rednern und über Redner werden aber in Kapitel 3.1.1. und 3.2.2 (zu Ciceros Brutus) besprochen.

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Einleitung

beiden Passagen über die Stimme (Rhet. Her. 3,11,19–14,25 und Quint. inst. 11,3,14–65) ausführliche moderne Kommentare vor.11 Die Rhetorica ad Herennium ist sogar trotz ihrer Bedeutung für die Geschichte der lateinischen Kunstprosa überhaupt noch nie gründlich kommentiert worden. Kapitel 4 bietet daher Text, Übersetzung und Erläuterungen zu Textkritik, Inhalt, Sprache und Stil dieser beiden schwer verständlichen Partien zur Stimme. Erst dadurch wird eine genaue Kenntnis der (nicht problemlosen) akustischen Terminologie ermöglicht, die selbst in sehr guten wissenschaftlichen Wörterbüchern (z. B. im Oxford Latin Dictionary und sogar im Thesaurus Linguae Latinae) bislang teilweise fehlerhaft oder ungenau verzeichnet wird.12 Ohne die akustische Terminologie zu kennen, sind aber die anderen Zeugnisse zur Stimme nicht verständlich. Der ausführliche Kommentar liefert so gesehen eine unentbehrliche Grundlage für die anderen Kapitel. Denn hier finden sich auch die Erläuterungen zu fast allen wichtigen akustischen Begriffen. Was genau ist ein sonus inclinatus (Rhet. Her. 3,14,25)? Was ist eine vox dura (Quint. inst. 11,3,15)? Und was verbirgt sich hinter dem Begriff der ὑποδιαστολή (Quint. inst. 11,3,35)? Der Zugriff auf die entsprechenden Stellen, an denen die Begriffe jeweils erläutert werden, ist dem Leser, der sich für einzelne Wörter interessiert, über die Indices am Ende der Arbeit leicht möglich. In Kapitel 5 werden die philologische, die historische und die interdisziplinäre Perspektive abschließend im Überblick zusammengeführt. Dabei werden Schlussfolgerungen zur Geschichte der Stimme in der antiken Rhetorik (insbesondere zur späten Verschriftlichung der Vortragstheorie) und zu den thematischen Schwerpunkten gezogen. Zudem werden die Verbindungslinien zwischen der Rhetorik und den anderen Wissenschaften nachgezeichnet. Indem dabei explizit das Verhältnis der Rhetorik zu anderen Disziplinen untersucht wird, weitet sich die Perspektive der Arbeit von der antiken Rhetorik hin zur antiken Kultur der Stimme insgesamt.

11 Vgl. Kapitel 1.2. 12 Die akustischen Termini sind nämlich oftmals so speziell oder so selten, dass selbst sehr gute Thesaurus-Artikel nur bedingt weiterhelfen. Zwei Beispiele hierfür mögen genügen: Bei der Frage, was genau Quintilian (inst. 11,3,63) unter einer vox densa versteht, hilft der Thesaurus-Artikel zu densus nur bedingt weiter, der die Stellen »de sonitu et rebus sonantibus« (S. 545,76 ff.) zwar zusammen auflistet, aber nicht (z. B. durch Nennung von Synonymen) weiter erläutert. Der Thesaurus-Artikel zu contineo führt bei der Suche nach der Bedeutung der continens vox beim Auctor ad Herennium (Rhet. Her. 3,12,22) sogar in die Irre. Der Auctor meint nämlich keineswegs eine maßvolle Stimme (so im ThlL S. 711,57 unter »i. q. abstinens, sobrius, temperans«), sondern eine durchgehende Stimme ohne Pausen, wie ein Vergleich mit dem Adverb continenter (in Rhet. Her. 3,12,21) und der continens oratio bei Cicero (Tusc. 1,16) zeigt.

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Bisherige Untersuchungen

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1.2 Bisherige Untersuchungen Einen Überblick über die Stimme in der antiken Rhetorik, der sowohl ihre Geschichte als auch die akustische Terminologie aufarbeitet und sich dabei auch auf die anderen Disziplinen bezieht, in denen die Stimme behandelt wurde, gibt es bislang nicht. Für die einzelnen Kapitel kann man aber jeweils auf unterschiedliche Vorarbeiten zurückgreifen, von denen die wichtigsten im Folgenden, geordnet nach der Abfolge der Kapitel dieser Arbeit, für die sie jeweils relevant sind, kurz skizziert werden. Daran schließt sich ein kurzer Überblick über Arbeiten, die zwar keinen direkten Einfluss auf diese Untersuchung genommen haben, aber zeigen, in welchen anderen Forschungsrichtungen bzw. aus welchen anderen Perspektiven die Beschäftigung mit der Stimme in den antiken Wissenschaften bereits eingesetzt hat. Zu den antiken physiologischen Vorstellungen von der Erzeugung, Pflege und Übung der Stimme, wie sie in Kapitel 2 dieser Arbeit behandelt werden, gibt es bereits Vorarbeiten, die sich v. a. jeweils mit Teilaspekten des Themas befassen. Dabei wurde allerdings bisher ein direkter Zusammenhang mit den rhetorischen Texten nur in Ansätzen hergestellt. Einen Gesamtüberblick versucht GÖTTERT (1998), der die »Geschichte der Stimme« von der Antike über das Mittelalter bis in unsere Zeit verfolgt. Seine Ausführungen zur Antike schließen zwar fast alle Wissenschaftsbereiche ein, für die die Stimme wichtig ist (v. a. Rhetorik, Schauspielkunst, Medizin). Sie sind aber entsprechend dem Zeitraum, den er abdecken möchte, nicht ausführlich und detailliert genug, um einen tiefen Einblick zu vermitteln. Außerdem fehlt ein direkter Zugang zu den Quellen, denn die griechischen und lateinischen Texte werden von Göttert fast ausschließlich in (fremden) Übersetzungen herangezogen. Die antiken medizinischen Vorstellungen von der Stimme sind bislang erst in wenigen Einzelarbeiten erforscht worden. Am wertvollsten ist hier BAUMGARTEN (1962), der Galens Vorstellung von der Erzeugung der Stimme in dessen verlorener Schrift Περὶ φωνῆς rekonstruiert. Auch ROUSSELLE (1983) bespricht nach kurzen Ausführungen zu Partien bei Cicero und Quintilian (ohne auf die philologischen Probleme einzugehen) v. a. die griechischen Ärzte Galen (2./3. Jh. n. Chr.) und (kürzer) Antyllos (3. Jh. v. Chr.). BIVILLE (2001) stellt einige wichtige lateinische Texte (v. a. Lukrez, Cicero, Plinius d. Ä., Isidor) zur Stimmproduktion zusammen und erläutert sie. CALBOLI (1984) verbindet darüber hinaus in Ansätzen Medizin und Rhetorik, indem er in seiner Arbeit über den Zusammenhang von Stil (bzw. genera dicendi) und pronuntiatio (ausgehend von den Begriffen arteria und latus) kurz und andeutungsweise den medizinischen Hintergrund der Stimme in der Rhetorik streift.

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Einleitung

Speziell für die Stimmübungen (Kapitel 2.2.2 und 2.3) kann man auf andere Einzeluntersuchungen zurückgreifen. GLEASON (1995) behandelt aus gendertheoretischer Perspektive die Stimme beim Auctor ad Herennium, bei Cicero, bei Seneca d. Ä. und Seneca d. J. sowie bei Quintilian (»Voice and Virility in Rhetoric«). Dieser Untersuchung schickt sie eine Besprechung des Stimmtrainings mit vielen Detailbeobachtungen (»Aerating the Flesh: Voice Training and the Calisthenics of Gender«) voraus. STROH (2003) untersucht die Geschichte und die Verwendungsweisen des Begriffs declamatio. Dabei zieht er auch die Abschnitte zur Stimme beim Auctor ad Herennium und bei Fortunatian heran und bespricht den Unterschied von declamatio und ἀναφώνησις. Insbesondere für die Vorstellung der Stimmerzeugung bei den Grammatikern (Kapitel 2.4.1) ist die Arbeit von AX (1986) grundlegend. Er untersucht die Terminologie von »Laut, Stimme und Sprache« in der antiken Sprachtheorie und kommt dabei auch immer wieder auf antike Erklärungen zum physiologischen Erzeugungsapparat der Stimme zu sprechen. Die wichtigste Vorarbeit für Kapitel 3 dieser Arbeit ist die Dissertation von KRUMBACHER (1920) über »Die Stimmbildung der Redner im Altertum bis auf die Zeit Quintilians«. Er bleibt in seinen Ausführungen zwar sehr kurz, hat aber die wichtigsten Stellen zum Thema bereits zusammengetragen und knapp, aber immer hilfreich kommentiert. Gegliedert ist seine wertvolle Arbeit in die zwei Teile »Geschichte der Stimmbildung« und »Das System der Stimmbildung«. Der erste Teil behandelt den rein rhetorischen Aspekt, hier werden die griechischen Redner und Rhetoriker sowie der Auctor ad Herennium, Cicero und Quintilian behandelt. Im zweiten Teil werden v. a. die anderen Bereiche besprochen, in denen die Stimme eine Rolle spielte, nämlich der Anfangsunterricht des Schülers, der Leseunterricht, die Musik, die Schauspielerei und die gesundheitliche Stimmpflege. Krumbacher interessiert sich insgesamt mehr für die Ausbildung der Stimme als für ihre rhetorische Wirkung. Ganz kurze Überblicke über die vox im Rahmen einer Kurzdarstellung des rhetorischen Vortrags bieten die Lexikon- bzw. Handbuchartikel von STEINBRINK (1992) und (1996), REBMANN (2005), MEYER-KALKUS (2008), der sich allerdings fast auf Quintilian beschränkt, und CAMPE/WILCZEK (2009) sowie die Aufsätze von NADEAU (1964) und WÖHRLE (1990). GÖTTERT (1996) bespricht in seinem Aufsatz das Thema Stimme in der antiken Rhetorik unter den drei Gesichtspunkten Stimmphysiologie, Verhältnis von Redner und Schauspieler sowie Ersatz der Stimme durch Brief u.Ä.13 Sein Überblick ist sehr knapp und keineswegs fehlerfrei.14 WILLE (1958/2001) setzt 13 Alle drei Themen werden auch in seinem bereits erwähnten Buch aus dem Jahr 1998 besprochen, das allerdings weit über die Antike hinausgeht. 14 GÖTTERT (1996) verwechselt z. B. Kleon mit Kimon (S. 58). Als die »Aufgaben des Red-

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Bisherige Untersuchungen

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sich in seiner postum veröffentlichten Habilitationsschrift umfassend mit allen Gebieten der klassischen griechischen Antike auseinander, in denen akustische Phänomene eine Rolle spielen. Für die Stimme in der antiken Rhetorik sind besonders seine Ergebnisse zu Platon, Aristoteles und den griechischen Rednern, aber auch die zur hippokratischen Medizin wichtig. Sie wurden daher in dieser Arbeit (vgl. Kapitel 2.1.3) herangezogen. MÜL2 LER-HEUSER ( 1997) bespricht in seiner Untersuchung der Stimmästhetik des Mittelalters auch das Stimmideal Quintilians und Isidors von Sevilla. Bei seinen Ausführungen zur Stimmerzeugung und Stimmschulung greift er ebenfalls auf antike Quellen zurück. Der teils sorglose Umgang mit den lateinischen Originalquellen ist im Vergleich zur ersten Auflage von 1963 etwas verbessert worden.15 HALL (2007) befasst sich mit dem Zusammenhang von rednerischem Vortrag und Emotionen. Sein Schwerpunkt liegt auf der gesamten actio (Auftrittsbedingungen, performative Elemente in Reden, Auftritt und Image des Redners, actio und Emotionen), wobei er auch einen Überblick über die Stimme beim Auctor ad Herennium, bei Cicero und bei Quintilian gibt. PORTER (2009) betont die Bedeutung der Stimme als ästhetisches Phänomen in der antiken Rhetorik. Dabei streift er Textzeugnisse für die Auffassung von ihrer Materialität und Lebendigkeit sowie für Beziehungen zwischen der Rhetorik und anderen Disziplinen. Weder zum Auctor ad Herennium noch zu Quintilians 11. Buch, deren Passagen über die Stimme in Kapitel 4 erläutert werden, gibt es ausführliche und zufriedenstellende moderne Kommentare.16 Allerdings geht WILLE (1967) in seinem gelehrten und umfassenden Werk zur Bedeutung der Musik im Leben der Römer auch auf das Verhältnis von Musik und Rhetorik ein und behandelt in diesem Zusammenhang u. a. Quintilians Kapitel zur Stimme. Seine Erläuterungen zu den einzelnen voces sind hier mehrfach beachtet worden. Besonders wertvoll ist die Untersuchung seines Schülers U. MÜLLER (1969) über die musikalische Terminologie bei Quintilian, die ebenfalls häufig in dieser Arbeit herangezogen worden ist. Noch im selben ners« nennt er unrichtig »Belehrung, Beschwichtigung, Erregung« (S. 59). Er behauptet fälschlicherweise, dass diese drei Aufgaben vom Auctor ad Herennium auf die Redetöne sermo, contentio und amplificatio übertragen worden seien (S. 59). Nach Aristoteles entsteht die Stimme nicht durch den Schlag der Atemluft auf die Außenluft, wie Göttert (S. 60) meint, sondern durch den Schlag der Atemluft gegen die Luftröhre (vgl. Kapitel 2.1.2). 15 In der zweiten Auflage ist aber z. B. immer noch falsch sensum excitant (Cic. de orat. 1,251) statt sensim excitant. Verbessert wurde hingegen die fehlerhafte Zitierung Senecas (S. 100, Anm. 1) an entscheidender Stelle (ictus aer statt ictus aeris) und die fehlerhafte Zitierung des Werkes von Laktanz De opificio dei (S. 100 f.) als De officio dei. Zur Kritik an Müller-Heuser im Einzelnen siehe Kapitel 2.4.2, dort zu Laktanz und Isidor. 16 Als ältere und kürzere Kommentare der gesamten Werke sind besonders erwähnenswert KAYSER (1854) und CAPLAN (1954) zum Auctor ad Herennium sowie GESNER (1738) und SPALDING (1798–1829) zu Quintilian.

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Einleitung

Jahr hat ZICARI (1969) weniger ergiebig das dritte Kapitel des 11. Buches der Institutio oratoria kommentiert. WEINSTOCK (1984) befasst sich mit dem Akustischen (Zusammenhang von Denken und Hören, Hörsinn, Eigenschaften von Tönen und ihre Wirkung bzw. Funktion) in den rhetorischen Werken des Auctor ad Herennium, Ciceros und Quintilians allgemein. Er liefert in seinen knapp 100 Seiten so einen ersten Überblick über die wichtigsten Texte aus der römischen Rhetorik zur Wirkung von Tönen, seine Analysen bleiben aber recht oberflächlich. CATREIN (2003) bespricht im Rahmen seiner Untersuchung zur Synästhesie in der römischen Poesie auch einzelne Wörter, v. a. Adjektive und Verben, die den Sinnesbereichen, also auch dem Akustischen, zuzuordnen sind. Seine Begriffserläuterungen sind allerdings sehr kurz und gehen selten über Zusammenfassungen der entsprechenden Thesaurus-Artikel hinaus. Darüber hinaus wird die Stimme in der Rhetorik auch in Arbeiten besprochen, deren Blickwinkel prinzipiell ein anderer ist und die sich keinem Kapitel dieser Arbeit direkt zuordnen lassen. Erstens geschieht das in gendertheoretischen Untersuchungen, die das rhetorische Ideal der Männlichkeit auch am Beispiel der Stimme erforschen.17 Die Untersuchung von ENDERS (1997) über die Nähe von Rhetorik, Theatralität und Weiblichkeit im Bereich der rednerischen actio ist v. a. für solche Textstellen interessant, an denen Rhetoren davor warnen, dass Vortrag und Stimme nicht wie die eines Schauspielers oder einer Frau wirken dürfen. GUNDERSON (2000) interessiert sich für die performative Seite der Rhetorik, allerdings v. a. für die Gestik, im Hinblick auf Fragen der Männlichkeit. Eine zweite Gruppe bilden Untersuchungen, die verschiedene performative Elemente der Rhetorik in den Vordergrund stellen. MEYER (1986) befasst sich mit dem rhetorischen Vortrag v. a. in Hinblick auf den Unterschied von vorbereitetem und spontanem Vortrag bei Gorgias, Alkidamas, Isokrates, Platon, Aristoteles, Anaximenes, dem Auctor ad Herennium, Cicero, Tacitus und Quintilian. Die Stimme wird dabei gelegentlich am Rande erwähnt. JOHNSTONE (2001) ist der Einzige, der archäologisches Material zu Rate zieht. Er rekonstruiert die akustischen Auftrittsbedingungen der griechischen Redner des 5. Jh. v. Chr. und kommt zu dem (durchaus überzeugenden, aber auch nicht sehr überraschenden) Ergebnis, dass die Akustik der archäologischen Stätten (z. B. Agora und Pnyx in Athen, Bouleuterion und Ekklesiasterion in Priene) zeige, dass der Auftritt des Redners

17 Dazu gehört auch das oben bereits erwähnte Buch von GLEASON (1995). CONNOLLY (2007) untersucht, wie in der Rhetorik ein Ideal von Männlichkeit konstruiert wird bzw. hervorscheint, geht aber, obwohl der Titel »Virile Tongues: Rhetoric and Masculinity« es erwarten ließe, kaum auf die Stimme ein.

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Bisherige Untersuchungen

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dort v. a. eine laute Stimme in mittlerer Tonlage erfordert habe.18 FANTHAM (2002) untersucht die Verbindungen von Redner und Schauspieler bzw. Rhetorik und Schauspielerei anhand der Aussagen über die Schauspielerei in rhetorischen Texten und bespricht dabei auch einzelne Stellen über die Stimme. HALL/BOND (2002) haben in einem Selbstexperiment kürzere Passagen aus Cicero ausgewählt, mit den rhetorischen Theorien zur pronuntiatio verglichen und dann aufgeführt.19 Sie möchten damit zu einer höheren Wertschätzung der performativen Elemente der antiken Reden beitragen. Ihre Erfahrungen und Ergebnisse, auch zur Stimme (S. 204–212) bleiben, wie sie selbst betonen, oberflächlich. Die Bedeutung des Vortrags in einer modernen Kommunikationssituation erforschen – ohne Relevanz für die antike Rhetorik – JACKOB u. a. (2008).20 Drittens wird die Stimme unter dem Blickwinkel des Verhältnisses von Mündlichkeit und Schriftlichkeit erforscht. GAGARIN (1999) untersucht die Unterschiede von mündlichem und schriftlichem Stil (z. B. in Hinblick auf Ringkomposition, Parallelismus und Parataxe, Antithesen, Wortstellung, Satzlänge), also von einem auf den mündlichen Vortrag ausgelegten Stil (am Beispiel von Gorgias’ Helena und Antiphons Gerichtsreden) und einem auf das Lesen ausgelegten Stil (am Beispiel von Antiphons Zweiter Tetralogie). Seine Ergebnisse sind daher für die Frage nach dem Zusammenhang von Stil und mündlichem Vortrag interessant. BLÄNSDORF (2001) befasst sich bei seiner Untersuchung zum Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit in Ciceros Reden auch mit actio und vox, deren lebendige mündliche Ausformung sich der Schriftlichkeit weitestgehend entzöge. UTARD (2004) untersucht die indirekte Rede bei Tacitus vor dem Hintergrund rhetorischer actio-Theorien, um zu zeigen, dass auch in der indirekten Äußerung Stimme und Gestik wichtige Bestandteile der Darstellung sind. Was die 18 Zudem untersuchen seit 2012 Historiker und Akustiker der Universität Stuttgart im Rahmen des Projektes »Wie laut sprach Cicero?« mit Hilfe von Computersimulationen exemplarischer antiker Bauten, welche stimmlichen Anforderungen an einen antiken Redner (z. B. in der Curia Iulia oder der Basilica Aemilia) gestellt wurden. 19 Im Rahmen dieses Experimentes ist auch die Videokassette Performing Cicero’s Speeches. An Experimental Workshop (Bolchazy-Carducci Publishers) entstanden. 20 Sie untersuchen den Einfluss von Tonfall und Körpersprache bei der Wirkung eines Textes anhand eines Laborexperiments, bei dem jeweils die Reaktion von 2000 Probanden auf Texte unterschiedlicher Vortragsart durch Real-Time-Response-Messgeräte (mittels derer die Probanden ihr Gefallen oder Missfallen ausdrücken können) und Fragebögen ausgewertet wurde. Als Ergebnis wurde festgehalten, dass nicht die Performanzleistung des Sprechers (Stimme und Gestik), sondern der Text bzw. die Argumentation des Redners die Hauptwirkung erzeuge. Stimme und Gestik hätten nur auf die direkte Performanzbeurteilung primären Einfluss, nicht aber auf die Überzeugungskraft des Textes. Dieses Ergebnis ist allerdings an einem Sachtext zur Globalisierung mittels einer Videopräsentation erzielt worden und schon deswegen nicht auf echt-persuasive Texte übertragbar.

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Einleitung

Stimme anbelangt, konzentriert sich Utard dabei auf Verben, die die sprachliche Äußerung charakterisieren (z. B. fremere, clamitare) und auf den Stil der Äußerungen selbst (elocutio). Insgesamt ist die Stimme in der antiken Rhetorik also seit KRUMBACHER (1920) nicht mehr systematisch aus philologischer Sicht untersucht worden. Krumbacher hat die Bedeutung der angrenzenden Wissenschaften für die Rhetorik bereits erkannt und in Ansätzen behandelt. Er ist dabei allerdings nicht auf die medizinischen Vorstellungen von der Stimmerzeugung eingegangen, die am Anfang dieser Arbeit stehen (Kapitel 2), weil so zunächst ein allgemeineres Bild von antiken Vorstellungen, wie die Stimme entsteht und gebildet wird, gezeichnet werden kann, bevor die rhetorischen Texte im Einzelnen erläutert werden (Kapitel 3 und 4).

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2. Die Stimme in der antiken Philosophie, Medizin und Grammatik

2.1 Die Stimmphysiologie in Philosophie und Medizin 2.1.1 Platon

Die moderne Phonetik wird unterteilt in eine artikulatorische Phonetik, die sich mit der Entstehung der menschlichen Laute durch die Sprechwerkzeuge befasst, eine akustische Phonetik, die die Untersuchung der Schallwellen zum Gegenstand hat, und eine auditive bzw. perzeptive Phonetik, die den Hörvorgang erforscht.1 Eine solche klare Unterscheidung in einzelne phonetische Untersuchungsbereiche wird in der Antike nicht vollzogen, was auch für mangelnde Klarheit in modernen Interpretationen antiker Texte sorgt.2 Dass zudem das griechische Wort φωνή und das lateinische Wort vox beide sowohl die menschliche Stimme als auch den Schall bzw. Ton allgemein bezeichnen können,3 erschwert das Verständnis der antiken Texte zusätzlich, auch – wie sich zeigen wird – für die antiken Interpreten.4 Wenn man Platon an den Beginn der antiken Phonetik stellt,5 sollte daher gleich betont werden, dass sein Hauptinteresse der Wahrnehmungslehre, einer Theorie des Hörens gilt, nicht aber der Entstehung und

1 Vgl. GADLER (42006), S. 37. 2 So z. B. bei MÜLLER-HEUSER (1963), S. 118, der bei seiner Quellenanalyse weder Stimmund Hörtheorien noch Stimme und Schall korrekt auseinanderhält. GÖTTERT (1996), S. 60 vermengt Schall- und Stimmtheorie bei Platon und Aristoteles und beachtet offenbar nicht genau den Unterschied zwischen einer platonischen Hörtheorie und einer aristotelischen Tonerzeugungstheorie, sondern stellt nur – beide verwischend – fest: »es bleibt also bei der Schlagtheorie« (ders. [1998], S. 22). 3 Die Stimme ist prinzipiell Untersuchungsgegenstand der artikulatorischen Phonetik, der Schall aber der akustischen (und auditiven) Phonetik. 4 Vgl. Gell. 5,15 in Kapitel 2.1.4. 5 Über die Stimmtheorien vor Platon wissen wir so gut wie nichts. Ein Kuriosum stellt die allegorische Gleichsetzung Apolls und der neun Musen mit den zehn Sprechorganen (vier Zähne, zwei Lippen, Zunge, Gaumen, Kehlkopf, Lunge) dar, die evtl. der Historiker Anaximander von Milet d. J. (4. Jh. v. Chr.) vollzogen hat. Das entsprechende Fragment (Anaxim. Fr. 4, FgrHist ed. JACOBY [1957a und b], I 160 [Text] und 480 [Kommentar]) ist aber vermutlich eine Fälschung. Vgl. NESTLE (21975), S. 131.

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Die Stimme in der antiken Philosophie, Medizin und Grammatik

Bildung der Stimme.6 Obwohl Platon sich mehr für die Wahrnehmung eines Tons als für dessen Erzeugung interessiert, hat er Einfluss auf die gesamte antike Phonetik genommen.7 Der Schlag oder Stoß der Luft als Tonerzeuger (sei es beim Hören oder Sprechen), der den Kern seiner Vorstellung bildet, bleibt nämlich der Mittelpunkt zahlreicher späterer phonetischer Theorien, die in vielen Varianten modifiziert werden. Erst die Entdeckung der vibrierenden Stimmlippen8 im Jahre 1741 sollte diese Theorien ablösen. Im Timaios (67b) unterscheidet Platon Ton (φωνή) und Hören (ἀκοή). Der Ton sei ein Schlag (πληγή) der Luft (ὑπ᾽ ἀέρος) durch die Ohren auf Gehirn und Blut, der bis zur Seele weitergegeben werde.9 Das Hören sei eine Bewegung (κίνησις), die durch diesen Stoß in Gang gebracht werde und die sich vom Kopf bis in die Gegend der Leber (περὶ τὴν τοῦ ἤπατος ἓδραν) hinziehe. Platon stellt dann einen Zusammenhang zwischen der Art der Bewegung des Hörens (im hörenden Menschen) und der Art des gehörten Tons her. Einer schnellen (ταχεῖα) Bewegung entspreche ein hoher (ὀξεῖα) Ton, einer langsameren (βραδυτέρα) Bewegung entspreche ein tieferer (βαρυτέρα) Ton.10 Einer gleichförmigen (ὁμοία) Bewegung entspreche ein glatter und sanfter (ὁμαλή τε καὶ λεία) Ton, der gegenteiligen, also ungleichförmigen Bewegung entspreche ein rauer (τραχεῖα) Ton. Mit diesem Gegensatzpaar ist wohl ein Ton mit fester, bestimmter Tonhöhe im Unterschied zu einem Geräusch ohne feste Tonhöhe gemeint.11 Einer starken (πολλή) Bewegung entspreche ein lauter (μεγάλη) Ton und der gegenteiligen, also schwachen Bewegung ein leiser (σμικρά) Ton. Platon unterscheidet damit Tonhöhe, Tonqualität und Lautstärke und führt sie zurück

6 Alles Akustische bei Platon behandelt umfassend WILLE (1958/2001), S. 675–811. 7 Zu Platons Schalltheorie und Terminologie vgl. AX (1986), S. 102–113 sowie WILLE (1958/2001), S. 689–696. 8 Bei der Stimmerzeugung bewegen sich die gesamten Stimmlippen. Außerhalb der Fachliteratur wird der Begriff »Stimmlippen« häufig synonym mit »Stimmbänder« verwendet, die aber eigentlich nur einen Teil der Stimmlippen ausmachen. Siehe Exkurs 1. 9 Die Definition lautet: Ὅλως μὲν οὖν φωνὴν θῶμεν τὴν δι᾽ ὤτων ὑπ᾽ ἀέρος ἐγκεφάλου τε καὶ αἵματος μέχρι ψυχῆς πληγὴν διαδιδομένην. Ich fasse mit TAYLOR (1928), S. 476 f. und CORNFORD (1937), S. 275 ἐγκεφάλου τε καὶ αἵματος als objektive Genitive zu πληγὴν auf. Macht man sie abhängig von διά (vgl. die Auseinandersetzung mit dieser Auffassung bei TAYLOR [1928], S. 476), so sind Gehirn, Blut und Ohren lediglich Instrumente des Schlags, werden aber nicht direkt davon getroffen. 10 Das scheint ein pythagoreischer Gedanke zu sein, der von Platons Freund Archytas von Tarent (um 400 v. Chr.) herstammt. Zu dieser Herleitung vgl. z. B. LIATSI (2000), S. 181 und das dort zitierte Fragment (Diels/Kranz 47 [35] B.1, S. 435, in KRANZ [91960]): ὣστε δῆλον ὅτι ἁ ταχεῖα κίνασις ὀξὺν ποιεῖ, ἁ δὲ βραδεῖα βαρὺν τὸν ἆχον. 11 Vgl. TAYLOR (1928), S. 477.

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Die Stimmphysiologie in Philosophie und Medizin

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auf Schnelligkeit, Ebenmäßigkeit und Heftigkeit von Bewegungen im Inneren des Hörers.12

2.1.2 Aristoteles

Die Hauptquellen aus Aristoteles’ Werk Mit Aristoteles beginnt das eigentliche Interesse an der Stimme. Seine phonetischen Untersuchungen gehen über die von Platon hinaus, denn er entwickelt neben einer Theorie des Schalls und des Hörens13 auch eine Theorie der Stimmerzeugung, die im Folgenden im Zentrum stehen wird.14 Dabei bemüht sich Aristoteles v. a. um eine klare Terminologie. Wie bei Platon zeigt sich auch bei ihm das Bedürfnis, die Unterschiedlichkeit von Tönen zu erklären. Für Aristoteles’ Stimmtheorie gibt es drei wichtige Texte, die jeweils andere Schwerpunkte setzen, inhaltlich aber ein relativ einheitliches Bild ergeben. In De anima Buch 2, Kapitel 8 (419b4–421a6) behandelt er den Schall bzw. Ton (ψόφος) und auch die Stimme (φωνή) – was Platon nicht getan hatte – im Rahmen einer Wahrnehmungstheorie. In De historia animalium Buch 4, Kapitel 9 (535a26–536b23) werden die verschiedenen Stimmen der Tiere besprochen. In De generatione animalium Buch 5, Kapitel 7 (786b7–788b2) werden Unterschiede in den Stimmlagen der Lebewesen und deren Ursachen erläutert. Darüber hinaus ist die Stimme Thema dreier pseudoaristotelischer Schriften. De audibilibus (800a1–804b39), das 11. Kapitel in den Problemata physica (898b29–906a20) mit dem Titel »Was die Stimme betrifft« und die Physiognomonica belegen, dass das Interesse an den Fragen der Stimmentstehung, der Stimmunterschiede und der Deutung der Stimme auch in nacharistotelischer Zeit anhielt. Inhaltlich bieten die pseudoaristotelischen Schriften allerdings keine Neuerungen in Hinblick auf Fragen der Stimmphysiologie.

12 Vgl. WILLE (1958/2001), S. 709 f. 13 Zu Aristoteles’ Theorien der Akustik vgl. WILLE (1958/2001), S. 870–904, zur Theorie des Gehörs S. 905–918. 14 Zu Aristoteles’ Theorien der Stimmerzeugung bei Mensch und Tieren vgl. WILLE (1958/2001), S. 816–844, der nahezu alle Stellen, die sich bei Aristoteles zu diesem Thema finden lassen, gesammelt hat.

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Die Stimme in der antiken Philosophie, Medizin und Grammatik

Die Bildung von Ton (ψόφος)15, Stimme (φωνή) und Sprache (διάλεκτος/λόγος)16 Eine zusammenhängende Erörterung über die Erzeugung von Tönen und Stimmen findet sich im 8. Kapitel von Aristoteles’ De anima. Aristoteles bespricht dort zunächst ausführlich den Schall bzw. Ton (ψόφος) und dann die Stimme (φωνή) als eine Unterart des ψόφος. Ein ψόφος entstehe durch einen Schlag (πληγή), d. h. indem eine Sache in einem Medium (ἔν τινι) gegen etwas (πρός τι) schlage (de anima 419b9–11). Nur Dinge, die fest und glatt (στερεὰ καὶ λεῖα) seien (wie Erz), könnten einen Ton erzeugen, Schwamm und Wolle z. B. könnten es dagegen nicht. Der Schlag setze Luftmasse in Bewegung, die auf die Luft im Ohr des Menschen treffe und diese mit einem zweiten Schlag in Bewegung setze (de anima 420a3–14). Damit ist im Anschluss an die Theorie der Tonerzeugung auch das Gehör des Menschen und die Frage nach der Wahrnehmung von ψόφοι (de anima 420a27–420b4) angesprochen. Aristoteles beschränkt sich im Folgenden auf die Wahrnehmung von hohen und tiefen Tönen. Mit einer Metapher aus dem Tastsinn nenne man den hohen Ton scharf (ὀξύς), den tiefen Ton schwer (βαρύς). Der hohe Ton wirke auf das Wahrnehmungsvermögen für kurze Zeit stark ein. Der tiefe Ton wirke auf das Wahrnehmungsvermögen für lange Zeit schwach ein. Dabei darf man nach Aristoteles nicht das Hohe mit der Schnelligkeit oder das Tiefe mit der Langsamkeit als identisch sehen. Vielmehr sei wegen der Geschwindigkeit (Schnelligkeit oder Langsamkeit) der Bewegung die Wahrnehmung des Tons so, wie sie ist.17 Im zweiten Teil des 8. Kapitels (420b5–421a6) wird diese allgemeine Theorie der Schall-, Geräusch- und Tonerzeugung auf die Stimme (φωνή) angewendet, die eine Unterart des Tons (ψόφος) sei. Die Stimme wird daher eingeführt als »etwas wie der Ton eines beseelten Wesens«: ἡ δὲ φωνὴ ψόφος τίς ἐστιν ἐμψύχου (de anima 420b5–6). Nur Lebewesen verfügten über Stimme und auch nur solche, die atmen. In dieser eingeatmeten Luft als Medium (420b15: ἔν τινι, τοῦτο δ᾽ ἐστὶν ἀήρ, vgl. oben 419b9–11) 15 ψόφος entspricht dem englischen sound. Je nach Werk und Zusammenhang ist Schall, Ton oder Geräusch gemeint. 16 Zur Abgrenzung der entsprechenden griechischen Begriffe siehe die tabellarische Übersicht bei ZIRIN (1980), S. 346, die sich auf Aristoteles’ gesamtes Werk über die Sprache bezieht, und AX (1986), S. 121, 129 und 137. Zur voraristotelischen Terminologie siehe ebd., S. 113–115. 17 Zu dieser sehr schwierigen Stelle vgl. die Erläuterungen von HICKS (1907) z. St. (mit Nennung einer Parallelstelle in de gen. animal.), THEILER (1959) z. St. (der mit seiner Unterscheidung von »objektiv« und »subjektiv« wohl die Bedeutung der Tonbewegung im Hörer betonen will) und ROSS (1961) z. St. (der diese Stelle als Kritik an der wohl pythagoreischen Auffassung begreift, der Ton sei ausschließlich von der Geschwindigkeit abhängig).

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Die Stimmphysiologie in Philosophie und Medizin

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werde die Stimme erzeugt. Die eingeatmete Luft, der Atem, erfüllt beim Menschen so eine Doppelfunktion, ähnlich der Zunge, die sowohl für das Schmecken als auch für das artikulierte Sprechen (διάλεκτος) da sei. Der Atem diene, was notwendig sei, der inneren Wärme und darüber hinaus, was zum Wohlsein beitrage, der Stimmbildung (420b16–22). Das Organ, das das Atmen ermögliche, sei der Kehlkopf (φάρυγξ)18, der wiederum für die Lunge da sei.19 Durch sie beide werde der Atem ins Körperinnere, insbesondere zur Herzgegend, gebracht. So sei die Stimme der Schlag der eingeatmeten Luft, der von der in diesen Körperteilen befindlichen Seele ausgeführt wird, gegen die sogenannte Luftröhre20 (de anima 420b27–29): ὣστε ἡ πληγὴ τοῦ ἀναπνεομένου ἀέρος ὑπὸ τῆς ἐν τούτοις τοῖς μορίοις ψυχῆς πρὸς τὴν καλουμένην ἀρτηρίαν φωνή ἐστιν.

Nach Aristoteles’ Vorstellung veranlasst demnach die ψυχή in den Stimmbildungsorganen (hier v. a. Luftröhre inklusive Kehlkopf, der ihr oberes Ende ist, und wohl auch Herz) den Schlag der eingeatmeten Luft, die sich bereits in der Luftröhre befindet, im Medium der eingeatmeten Luft, die sich ebenfalls bereits in der Luftröhre befindet (vgl. 420b15), gegen die Luftröhre. Dieser Schlag, der von der ψυχή mittels der Atemluft ausgeführt werde, sei die φωνή. Nach dieser Definition wäre allerdings nun jeder durch Atmung erzeugte Ton eines Lebewesen, z. B. auch das Husten, Stimme. Aristoteles schränkt daher seine Definition mit einem neuen Gedanken erheblich ein. Nicht jeder Ton eines Lebewesens sei Stimme, z. B. das Schnalzen mit der Zunge und das Husten seien es nicht. Vielmehr müsse das Schlagende (also die stimmbildenden Organe des Lebewesen, die die Atemluft steuern) beseelt und mit einer bestimmten Vorstellung (μετὰ φαντασίας τινός) verbunden sein. Denn die Stimme sei gewissermaßen ein Ton mit Bedeutung: σημαντικὸς γὰρ δή τις ψόφος ἐστὶν ἡ φωνή (de anima 420b32–33). Zur Stimme gehört also (neben den genannten organischen Voraussetzungen) ein irgendwie geartetes mentales Konzept, etwas, das mit der Stimme ausgedrückt werden soll, was beim Husten nicht gegeben ist. Neben den physio-

18 Aristoteles verwendet zur Bezeichnung des Kehlkopfes die Begriffe φάρυγξ und λάρυγξ. Von den Stimmbändern im Kehlkopf wusste er nichts, vgl. STEINTHAL (21890), S. 253 und WILLE (1958/2001), S. 824. 19 Zu Kehlkopf und Lunge als organischen Voraussetzungen für die Stimmerzeugung vgl. de hist. animal. 535a28–30: φωνεῖ μὲν οὖν οὐδενὶ τῶν ἄλλων μορίων οὐδὲν πλήν τῷ φάρυγγι· διὸ ὅσα μὴ ἔχει πνεύμονα, οὐδὲ φθέγγεται. 20 Nach de hist. animal. 495a23 ist die Luftröhre knorpelig (χονδρώδης). Auch wenn sie Knorpel besitzt, muss die Oberfläche der Luftröhre aber insgesamt als glatt gedacht sein, da das eine notwendige Bedingung für die Tonerzeugung ist (vgl. de anima 419b7–8,14–16).

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Die Stimme in der antiken Philosophie, Medizin und Grammatik

logischen Kriterien führt Aristoteles damit zusätzlich ein semantisches Kriterium für die φωνή ein.21 Den Unterschied zwischen einem Ton ohne beabsichtigte Bedeutung (ψόφος) wie dem Husten und der bedeutungstragenden Stimme (φωνή) erklärt Aristoteles auch stimmphysiologisch, indem er seine oben gegebene Definition (de anima 420b27–29) noch einmal präzisiert. Der Husten sei zwar der Ton der eingeatmeten Luft, entstehe also durch den Schlag der Atemluft (gegen die Luftröhre). Die Atemluft schlägt dabei selbst, die Seele ist nicht beteiligt. Bei der Stimmerzeugung aber ist die Atemluft (nur) Mittel der Seele, die eigentlich die Stimme erzeugt. Das Schlagende, also der beseelte (vgl. de anima 420b31) Stimmapparat, schlage mittels der eingeatmeten Luft die in der Luftröhre befindliche Luft gegen die Luftröhre: τούτῳ (sc. mit der eingeatmeten Luft) τύπτει (sc. der Stimmapparat des beseelten Lebewesen) τὸν (sc. ἀέρα) ἐν τῇ ἀρτηρίᾳ πρὸς αὐτήν. Mit diesem Schlag der eingeatmeten Luft gegen die Luft in der Luftröhre setzt Aristoteles noch einen Schlag vor dem Schlag dieser Luft gegen die Luftröhre voraus, der bei den durch Atmung erzeugten Tönen, die nicht Stimme sind (wie beim Husten), fehlt.22 Damit betont Aristoteles auch die Rolle der Seele bei der Stimmerzeugung. Nicht die eingeatmete Luft selbst schlägt (bzw. dann erzeugt sie nur einen ψόφος), sondern die Seele schlägt mittels der eingeatmeten Luft die Luft in der Luftröhre gegen diese. Ein Beweis für diese Theorie sei, dass man beim Ein- und Ausatmen nicht sprechen könne, was nach Aristoteles offenbar möglich sein müsste, wenn die eingeatmete Luft selbst den Schlag gegen die Luftröhre ausführen würde (wie wohl beim Husten). Sprechen könne man vielmehr nur, wenn man den Atem anhalte. Während dieses Anhaltens des Atems bringe man mit der eingeatmeten, angehaltenen Luft die Stimmbewegung, also den Schlag gegen die Luft in der Luftröhre, die dann wiederum auf die Luftröhre schlage, hervor. Nach De anima ist die Stimme (φωνή) also der durch Atmung erzeugte, bedeutungstragende, mit einer bestimmten Vorstellung verbundene Ton eines beseelten Lebewesens, der in der Luftröhre erzeugt wird. Mit der Vorstellung des Schlages der Atemluft gegen die Luftröhre (bzw. genauer: gegen die Luft in der Luftröhre, die dann gegen die Luftröhre schlägt) hat Aristoteles als Erster die Theorie eines im Körperinneren stattfindenden, stimmerzeugenden Schlages formuliert, der noch der fast 500 Jahre später von Galen aufgestellten Theorie zugrunde liegen wird (vgl. Kapitel 2.1.5).23 21 Vgl. ZIRIN (1980), S. 335. 22 Mehrere aufeinander folgende Luftschläge finden sich auch in der Theorie des Hörens (im ersten Teil des 8. Kapitels, s. o. de anima 420a3–14), nach der die äußere Luft, die den Schall/Ton transportiert, auf die innere Luft im Gehörgang des Menschen trifft. 23 Modern gesprochen könnte man sagen, Aristoteles überträgt die Schlagtheorie aus

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Nach dieser Stimmerzeugungstheorie in De anima müssten also prinzipiell alle (beseelten) Lebewesen, die Atmungsorgane besitzen und mit ihren Lauten eine bestimmte Vorstellung verbinden, auch über φωνή verfügen. Damit sind die Ausführungen in De historia animalium weithin vereinbar, auch wenn es dort nur physiologische Kriterien für die Bildung der φωνή gibt und weder die ψυχή, die die Stimmbewegung auslöst, noch die Vorstellung eines gedanklichen Konzeptes (φαντασία) genannt werden.24 Insekten und Fische erzeugten nur Töne (ψόφοι) (de hist. animal. 535b2– 535b32), über φωνή aber verfügten der Delphin, vierfüßige oder fußlose Eierleger wie Schildkröten und Schlangen und auch Frösche, Böcke, Schweine und Schafe (de hist. animal. 535b32–536a20). Gedacht ist dabei z. B. an Lockrufe zur Paarung, die ja auch eine Bedeutung haben bzw. eine Funktion erfüllen.25 Artikulierte Sprache (διάλεκτος) aber besitze (unter den vierfüßigen Lebendgebärenden) nur der Mensch (de hist. animal. 536b1–2).26 Sie war zu Beginn des Kapitels eingeführt worden als »die Gliederung der Stimme durch die Zunge«: ἡ τῆς φωνῆς … τῇ γλώττῃ διάρθρωσις (535a30–31). Da der Mensch zusätzlich zu den zur Stimmbildung notwendigen Organen auch über die Artikulationsorgane Zunge27 und Lippen (de hist. animal. 535b1) verfüge, könne er Sprache produzieren. Zunge und Lippen formten die Konsonanten (τὰ ἄφωνα28), während die Vokale (τὰ φωνήεντα) durch die Stimme und den Kehlkopf allein hervorgebracht würden (de hist. animal. 535a31–535b1). Aus diesen Mitlauten und Selbstlauten bestehe die artikulierte Sprache, διάλεκτος (de hist. animal. 535b1). Wieder finden wir in De historia animalium nur physiologische, keine semantischen Kriterien.29

dem Bereich der akustischen und der auditiven Phonetik, in der Platon sie etabliert hat, auch auf die artikulatorische Phonetik. 24 Vgl. ZIRIN (1980), S. 336. 25 Vgl. richtig STEINTHALS (21890) Erläuterung zur tierischen φωνή (S. 252): »und die Tiere rufen sich einander zu, jede Art mit eigentümlichen Tönen, zum gemeinsamen Leben und zur Begattung«. Vgl. mit MEYER (2011), S. 38 auch Arist. Pol. 1253a10–12: Bei den Tieren kann die Stimme auch Zeichen von Schmerz und Freude (τοῦ λυπηροῦ καὶ ἡδέος ἐστὶ σημεῖον) sein. 26 Nach de hist. animal. 504b1–3 und 536a20–22 verfügen auch einige Vögel dank ihrer Zunge über artikulierte Sprache (διάλεκτος). Vgl. ZIRIN (1980), S. 340. 27 In De anima (420b18) erwähnt Aristoteles nur nebenbei, dass die Zunge die artikulierte Sprache hervorbringe. 28 Aristoteles verwendet hier den Begriff ἄφωνα (eigentlich »Stimmloses«) für Konsonanten allgemein. Sonst wird damit häufiger eine Untergruppe der Konsonanten bezeichnet, nämlich die mutae (vgl. LSJ, s. v. ἄφωνος 4). 29 Vgl. ZIRIN (1980), S. 336.

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Auch in De generatione animalium, wo Ursachen für die Unterschiede in den Stimmen der Tiere besprochen werden, heißen die tierischen Stimmen φωναί. Nur nebenbei erfahren wir dort, dass die Stimme das Material der menschlichen Sprache sei: τοῦ δὲ λόγου ὓλην εἶναι τὴν φωνήν (de gen. animal. 786b20–21). Anders als bei der διάλεκτος, der artikulierten φωνή in De historia animalium, wird hier gesagt, dass die Sprachform des λόγος30 wirklich nur der Mensch besitze (de gen. animal. 786b20–21).31

Die Erklärung von Stimmunterschieden Während in De anima 420a27–420b4 die Wahrnehmung von Tönen allgemein besprochen wird, erörtert Aristoteles in De generatione animalium (786b7–788b2) Unterschiede in den Stimmen von Lebewesen und deren Ursachen aus der Perspektive der Stimmerzeugung. Die Lebewesen werden dort in Hinblick auf ihre Stimme (φωνή) unterschieden. Es gebe solche mit tiefer oder hoher Stimme (βαρύφωνα/ὀξύφωνα) sowie mit starker oder schwacher bzw. lauter oder leiser Stimme (μεγαλόφωνα/μικρόφωνα). Weitere Unterscheidungen könne man treffen hinsichtlich der Rauheit oder Glätte der Stimme (τραχύτης/λειότης) und der Biegsamkeit oder Starrheit der Stimme (εὐκαμψία/ἀκαμψία). Die Frage, wodurch Stimmen tief und hoch sowie laut und leise sind, wird im Anschluss daran am ausführlichsten behandelt. Sowohl für die Höhe als auch für die Stärke der Stimme sei zunächst einmal die Menge an Luft entscheidend. Bei der lauten Stimme werde viel Luft bewegt, bei der leisen wenig. Viel Luft führe auch zu einer langsameren Bewegung, wenig Luft zu einer schnelleren. Für Aristoteles gründet prinzipiell – wie für Platon (allerdings mit Bezug auf die Wahrnehmung von Tönen)32 – auf der langsamen Bewegung die tiefe Stimme, auf der schnellen Bewegung die hohe Stimme. Wer einen schwachen Körper habe, könne nur eine geringe Menge Luft in Bewegung setzen. Wenig Luft aber bewege sich schnell. Da die schnelle Bewegung eine hohe Stimme hervorbringe, sprächen schwache Lebewesen also hoch. Das treffe allgemein auf jüngere und auf weibliche Lebewesen zu, also auch auf Kinder und Frauen.33 Wer einen starken Kör30 Zur Abgrenzung von λόγος, der wirklich ausschließlich dem Menschen vorbehaltenen und auf seinem Verstand beruhenden Sprachform, und διάλεκτος vgl. ZIRIN (1980), S. 339– 344. 31 Auch nach Arist. Pol. 1253a9–10 verfügt nur der Mensch über λόγος. 32 Vgl. Kapitel 2.1.1. 33 Eine Ausnahme bilden hier laut Aristoteles angeblich nur die Kälber, Kühe und Rinder. In dieser Annahme irrte er sich aber wahrscheinlich (so Dr. Karl-Heinz Frommelt, Kustos des Tierstimmenarchivs in Berlin, und Prof. Dr. Tecumseh Fitch, Professor für kognitive Biologie in Wien, per litteras).

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per habe, könne eine große Menge Luft bewegen. Da sich viel Luft langsam bewege, hätten diese Lebewesen, u. a. Männer, eine tiefe Stimme. Nach dieser nur auf der Luftmenge beruhenden Theorie müssten nun immer tief und laut sowie hoch und leise korreliert sein (de gen. animal. 786b28–34),34 wovon sich Aristoteles aber im Folgenden ausdrücklich distanziert. Stärke und Höhe der Stimme sind bei ihm nicht fest miteinander verbunden, da er die bestehende Theorie um die Betrachtung der Stärke des (Körper-) Teils, der die Luft bewegt, ergänzt. Dieser bewegende Teil (τὸ κινοῦν, τὸ μόριον ᾧ κινοῦσι) wird jedoch nie explizit benannt. An manchen Stellen scheint die Lunge gemeint zu sein.35 Eine andere Stelle deutet auf den Kehlkopf.36 Bisweilen wird aber auch auf die Rolle des Herzens angespielt, das, wie in anderen aristotelischen Schriften ausgeführt wird, den Atemvorgang steuere.37 Offenbar begreift Aristoteles die Bewegung der Atemluft als Gemeinschaftsleistung mehrerer Organe,38 die er in der Regel unspezifisch als »bewegenden Teil« bezeichnet. Während die Lautstärke direkt und ausschließlich von der Luftmenge abhänge, ergebe sich die Tonhöhe aus dem Verhältnis der Luftmenge zur Stärke des bewegenden Teils.39 Die Tonstärke hänge von der absoluten Luftmenge ab, die Tonhöhe vom Verhältnis von Luftmenge und Stärke des bewegenden Teils. Viel Luft erzeuge einen lauten Ton, wenig Luft erzeuge einen leisen Ton. Ist die Luftmenge im Verhältnis zur Stärke des bewegenden Teils groß, also übersteigt die Luftmenge die Stärke des bewegenden Teils, so habe dieser eine schwache Bewegungskraft, die in einer langsamen Bewegung und somit einem tiefem Ton resultiere. Umgekehrt sorge eine im Verhältnis zur Stärke des bewegenden Teils kleine Luftmenge, da die Stärke des bewegenden Teils die Luftmenge übersteigt, für eine starke Bewegungskraft, die eine schnelle Bewegung und somit einen hohen Ton hervorbringe. Daher könnten Töne auch tief und leise sowie laut und hoch sein. Die Gesamtkraft des Körpers und damit auch die des Teils, der die Luft bewegt, hänge dabei offensichtlich von der Kraft in den

34 Von einer festen Korrelation, allerdings zwischen tief und leise sowie zwischen hoch und laut, geht auch Galen aus, vgl. Kapitel 2.1.5. Vgl. Exkurs 3 (1). 35 So in 787b28, vgl. LIATSI (2000), S. 189. 36 In 787b2–5 ist mit dem Gefäß (τὸ ἀγγεῖον), durch das der Atem zuerst hindurchgeht und das die Luft bewegen (ἀέρα κινεῖν) muss, sicher der Kehlkopf gemeint. Vgl. LIATSI (2000), S. 186. 37 So v. a. in 787b15–17 und in 788a5–6 (vgl. 787b27–28). Die Bedeutung von Herz und Lunge für den Atemvorgang und die Stimmerzeugung rekonstruiert LIATSI (2000), S. 187 f. aus mehreren aristotelischen Schriften. 38 Zur engen (funktionalen) Zusammengehörigkeit von Lunge und Herz (bei Aristoteles) vgl. auch WILLE (1958/2001), S. 820. 39 Vgl. dazu ausführlich LIATSI (2000), S. 182–184.

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Sehnen40 ab (ἡ ἰσχὺς ἐν τοῖς νεύροις). Da die Sehnen in der Blütezeit des Lebens am stärksten seien, seien die Lebewesen es dann auch. In jungen Jahren und im Alter seien die Sehnen schlaffer und die Kraft sei daher geringer. In diesem Zusammenhang erklärt Aristoteles zwei besondere Stimmerscheinungen: das Tieferwerden der Stimme in der Pubertät und die höhere Stimme von Verschnittenen. Seine Erklärungen sind nicht unproblematisch und führen bei genauerer Betrachtung zu Widersprüchen in seiner Theorie, die für den Zusammenhang dieser Arbeit aber irrelevant sind.41 Die Hoden sind in Aristoteles’ anatomischer Vorstellung an den Samengängen aufgehängt und verleihen ihnen wie ein Gewicht, das an eine Saite gehängt wird, Spannung. Die Samengänge hingen wiederum an der Ader, die von und zum Herzen laufe, das das Ausgangsorgan und Zentrum (ἀρχή) der Stimme sei. Wenn sich die Hoden in der Pubertät ausbilden, steigere die dadurch höhere Spannung auch die Stärke des Herzens und des Körpers. Mit der steigenden Kraft werde die Stimme tiefer. Entferne man die Hoden, so würden die Samengänge schlaffer und die Spannung und Kraft des Körpers und des Ursprungs der Stimme ließen nach. Durch den weniger gespannten, schwächeren Körper werde die Stimme höher. Auch Wärme und Kälte nähmen Einfluss auf die Höhe des Stimmtons. Warme Luft bewirkt nach Aristoteles, weil sie dicht sei und daher langsam bewegt werde, eine tiefe Stimme. Kalte Luft bewirke, weil sie dünn sei und daher schnell bewegt werde, eine hohe Stimme. Blase man einen αὐλός mit warmem Atem, gebe er daher einen tieferen Ton von sich. Die Rauheit oder Glätte (τραχύτης/λειότης) der Stimme bezieht sich auf die Stimmfärbung. Sie hänge von der Beschaffenheit der Stimmorgane, genauer wohl von Luftröhre und Kehlkopf, ab. Glatte Stimmorgane erzeugten einen glatten Ton. Eine raue Luftröhre erzeuge hingegen eine unebene (ἀνώμαλος) Stimme. Mit der Biegsamkeit (εὐκαμψία) der Stimme meint Aristoteles die Fähigkeit, in Lautstärke und Tonhöhe zu variieren.42 Für eine variationsfähige Stimme müsse die Luftröhre weich, nicht spröde (μαλακός vs. σκληρός) sein. Denn das Weiche lasse sich formen, das Spröde nicht. Das weiche Organ könne laut, leise, hoch und tief tönen, weil es den Atem verteilen und sich selbst erweitern und verengen könne.

40 Zur Bedeutung der Sehnen für die Kraft des Körpers in der Vorstellung des Aristoteles vgl. ebd., S. 187. 41 Zur Kritik an dieser Erklärung und den Widersprüchen, die sich in Aristoteles’ eigener Theorie ergeben, vgl. ebd., S. 190. 42 Zur »Biegsamkeit« der Stimme vgl. Exkurs 3 (2.3) und die Erläuterungen zur mollitudo (Rhet. Her. 3,11,20) in Kapitel 4.1.3.

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Pseudoaristotelische Schriften Die kleine Schrift De audibilibus43 aus dem Corpus Aristotelicum liegt als einzige des Corpus nicht in Primärüberlieferung vor, sondern wird von Porphyrios in seinem Kommentar zur Harmonielehre des Ptolemaios als aristotelische Schrift zitiert. Heute geht man von einer nichtaristotelischen Autorschaft aus und weist die Schrift oft Straton von Lampsakos zu.44 In De audibilibus lassen sich mit Ulrich Klein vier Themenblöcke ausmachen.45 Zunächst werden Beschaffenheit und Zustand der menschlichen Stimmwerkzeuge behandelt. Es geht hier v. a. um die Tonbildung durch Mund, Lunge und Luftröhre. Je nach organischer Voraussetzung (z. B. Größe und Festigkeit) und momentanem Zustand (z. B. feucht, trocken) brächten sie unterschiedliche Stimmen hervor. Dann werden Reichweite und Deutlichkeit der Stimmen und Töne besprochen. Für die Deutlichkeit der Stimme sorge v. a. eine genaue Artikulation. Ein dritter Teil widmet sich dem Klang und der Beschaffenheit von Musikinstrumenten. Dabei stehen die Blasinstrumente Auloi und Hörner im Vordergrund. Sie gelten dem Autor als Beispiele für unterschiedliche Tonerzeugung, wobei er nicht beachtet, dass beim Aulos der Ton durch die Schwingung eines Rohrblattes, beim Horn aber durch die Lippen erzeugt wird. Mit festem und angespanntem Atemstrom (ὅταν τὸ ἐκπῖπτον πνεῦμα πυκνὸν ᾖ καὶ σύντονον, 802a9) angeblasen gäben Auloi helle Töne (φωναὶ λαμπραί, 802a8) von sich. Anders als alle anderen Blasinstrumente gäben Hörner bei festem und zusammenhängendem Luftstoß (πυκνοὶ καὶ συνεχεῖς πρὸς τὸν ἀέρα) dunkle Töne von sich (τὰς φωνὰς ἀμαυρὰς, 802a19). Der Autor befasst sich auch mit dem richtigen Grad an Feuchtigkeit der Atemluft und des Instruments. Abschließend werden die Klangfarben und Unterschiede der menschlichen Stimme anhand der physiologischen Unterschiede der Tonerzeugung (v. a. der Atemluft und -technik) erklärt. Der Autor bespricht harte Stimmen (σκληραὶ φωναί), die Erzeugung von rauen Stimmen (τραχύνεσθαι), dünne Stimmen (λεπταὶ φωναί), dicke Stimmen (παχεῖαι φωναί), schrille Stimmen (λιγυραὶ φωναί), geborstene Stimmen (σαθραὶ φωναί), behauchte und unbehauchte Stimmen (δασεῖαι/ψιλαὶ φωναί) und die Erzeugung von gebrochenen Stimmen (ἀπορρήγνυσθαι). De audibilibus diente wohl als Quelle für das 11. Kapitel der Problemata physica, das mit ihm in sehr engem Zusammenhang steht. So gibt es beiden gemeinsame Ausdrücke, die bei Aristoteles nicht vorkommen. Neben 43 Zur Einführung in De audibilibus siehe KLEINS (1972) Einleitung (S. 171–223). 44 Vgl. KLEIN (1972), S. 200–207 über Verfasserfrage und Datierung. 45 Vgl. ebd., S. 187.

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Unaristotelischem findet sich aber auch Aristotelisches. Denn auch De anima, De generatione animalium und einige Stellen aus De historia animalium haben als Quellen für das Kapitel gedient.46 Es bietet keine einheitliche Darstellung, vielmehr finden sich zahlreiche Doppel- und sogar Dreifachfassungen von Fragen und Antworten, die im Zusammenhang mit der Stimme gestellt werden. Der Autor teilt die aristotelische Meinung, dass schnelle Bewegung einen hohen Ton, langsame hingegen einen tiefen Ton erzeuge.47 Er bespricht z. B. den Einfluss von Wärme und Kälte, das Hören von entfernten und nahen Stimmen, Schallgefäße, raue und überanspruchte Stimmen, das Echo, das Stottern und die Stimmpflege durch Lauch.48 Schon bei Aristoteles selbst finden sich einzelne Aussagen über den Zusammenhang von Stimme und Charakter. So hat z. B. nach Arist. eth. Nic. 1125a12–14 der Großgesinnte (μεγαλόψυχος) eine tiefe Stimme (φωνὴ βαρεῖα). Am ausführlichsten werden solche Relationen zwischen Stimmeigenschaften und Charaktermerkmalen oder Affektzuständen (sowohl für Tiere als auch für Menschen) dann in der physiognomischen Literatur festgestellt, z. B. in den pseudoaristotelischen Physiognomonica.49 In 806b26– 27 wird dort die tiefe und kräftige Stimme dem Mutigen, die hohe und leise Stimme dem Feigling zugesprochen. In 807a13–24 ist eine hohe und angespannte Stimme ein Zeichen für Jähzorn und Verärgerung, eine nicht angespannte und tiefe für Unbekümmertheit. Die langsame sowie hauchende und schwache Stimme (φωνὴ πνευματώδης καὶ ἀσθενής) kennzeichne einen Anständigen (κόσμιος, 807b34–36). In 812a31–813b6 ist eine laute und tiefe Stimme Zeichen für Übermut. Mit tiefer Stimme begönnen und mit hoher endeten die Melancholischen, Klagenden.50 Hoch, sanft und gedämpft sprächen die Kinäden, sanft und nicht angespannt die Sanftmütigen. Auch in den anderen, nicht pseudoaristotelischen Werken der Physiognomik, die in der Antike durchaus als ernstzunehmende Wissenschaft betrieben wird, ist die Stimme ein wichtiges Deutungsmerkmal.51 Als ein weiteres Beispiel sei hier der lateinische De Physiognomonia liber eines anonymen Autors genannt, der wohl in der zweiten Hälfte des 4. Jh. n. Chr. 46 Vgl. FLASHAR (1962), S. 534 f. 47 Vgl. Kapitel 2.1.2. 48 Zur Stimmpflege durch bestimmte Nahrungsmittel vgl. Kapitel 2.2.1. 49 Die deutschen Ausdrücke lehnen sich an die Übersetzung von VOGT (1999) an. 50 Ähnlich in Physiogn. 78 (4. Jh. n. Chr.): Qui incipiunt a gravi voce et in acutam desinunt, faciles ad fletum ac lugubri animo sunt. 51 Vgl. die Ausgabe der physiognomischen Schriften von FOERSTER (1893) mit Index (auch zu vox und φωνή). Siehe auch GLEASON (1995), S. 83. Zu den physiognomischen Traktaten der Antike insgesamt vgl. EVANS (1969), v. a. S. 6–17.

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anzusiedeln ist und in der Tradition der pseudoaristotelischen Physiognomonica steht.52 Dort werden in einem eigenen Kapitel über die Stimme (Physiogn. 78) insgesamt elf Analogien zwischen der Stimme eines Menschen und seinem Charakter, z. B. den Eigenschaften Dummheit, Gefräßigkeit, Durchtriebenheit und Gerechtigkeit, gezogen. Für die rhetorischen Texte sind dabei v. a. zwei Bemerkungen interessant. Erstens betont der Autor, dass allgemein wie bei den meisten Dingen auch bei der Stimme ein Mittleres (medium, medietas) am Besten ist, also alle Extreme schlechter beurteilt werden müssten. Zweitens bringt er Stimmhöhe und Stimmmodulation so mit Männlichkeit und Weiblichkeit in Verbindung, wie es auch in der Rhetorik üblich ist.53 Demnach sei die hohe und modulierende Stimme (acuta et mollis vox) Zeichen von verweiblichten Leuten (effeminati), die tiefe und nicht-modulierende (gravis et inflexibilis) hingegen Zeichen von Männlichkeit (ingenium virile). Die Physiognomik betrachtet Stimme und innere Verfasstheit des Menschen also gleichsam von der anderen Seite als die Rhetorik. Während sie von der Stimme auf die Eigenschaften des Menschen schließen will, versucht die Rhetorik, durch eine bestimmte Stimmgestaltung den Eindruck einer bestimmten Eigenschaft oder Verfasstheit hervorzurufen (vgl. Quint. inst. 11,3,62–64).

2.1.3 Hippokratische Medizin

In den Schriften des Corpus Hippocraticum finden sich zahlreiche Aussagen über die Stimme. Die Analyse der Stimme eines Patienten wird für die ärztliche Diagnostik genutzt, Störungen der Stimme und Stimmverlust werden besprochen und man kennt psychosomatische Stimmphänomene.54 Dabei wird die Stimme in den bereits bekannten Kategorien näher beschrieben, z. B. in Hinblick auf Lautstärke, Tonhöhe und Klangfarbe, Heiserkeit und Rauheit.55 Konkrete Fragen der Stimmbildung und Artikulation werden hin und wieder kurz thematisiert, wie z. B. der Einfluss der eingeatmeten Luft, der Luftwege oder des Klimas auf die Stimme.56 Eine längere, zusammenhängende Behandlung der Stimme findet sich nur in der Schrift Περὶ σαρκῶν (»Über Entstehung und Aufbau des 52 Im Einzelnen werden die Ausführungen über die Stimme in Physiogn. 78 in den Stellenkommentaren in Kapitel 4 nutzbar gemacht. 53 Vgl. die Erläuterungen zu mollis und effeminata (inst. 11,3,32) in Kapitel 4.2.3. 54 Vgl. WILLE (1958/2001), S. 502–509 über »Die Beachtung der akustischen Anzeichen in der ärztlichen Diagnose«. 55 Vgl. ebd., S. 540–544. 56 Vgl. die Untersuchung von WILLE (1958/2001), S. 510–513, der viele kurze Einzelbelege zusammengestellt hat.

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menschlichen Körpers«), die die Entstehung und die Funktionen des menschlichen Körpers behandelt.57 Über den Verfasser und die Entstehungszeit lässt sich nichts Sicheres sagen. Der Autor ist jedenfalls nicht Hippokrates. Ob die Schrift vor oder nach Aristoteles entstanden ist, ist ebenfalls unklar.58 Im 18. Kapitel wird die menschliche Stimme behandelt.59 Die Darstellung beginnt mit der Funktion der Atmung, für die sich der Autor hauptsächlich interessiert. Der Mensch atme Luft in seine Hohlräume (ἐς τὰ κοῖλα) ein. Wenn diese Luft (πνεῦμα) nach außen, also aus der Kehle in den Mundraum, gestoßen werde (αὐτὸ δὲ θύραζε ὠθεόμενον), erzeuge sie ein Geräusch (ψόφος). Dabei gebe der Kopf eine Resonanz (ἡ κεφαλὴ γὰρ ἐπηχεῖ). Das entstandene Geräusch werde von der Zunge gegliedert, die den Luftstrom in der Kehle (φάρυγξ) zurückhalte und dann gegen Gaumen und Zähne lenke. So bewirke sie das deutliche Sprechen (ποιεῖ σαφηνίζειν). Ohne Zunge könne sich der Mensch nicht verständlich ausdrücken und erzeuge nur eintonige, unartikulierte Laute (μονόφωνα). Zum Schluss des Kapitels wird noch einmal die Bedeutung der Atemluft betont. Ohne Luft könne man nicht sprechen. V. a. wer laut und wer lange sprechen wolle, hole daher viel Luft. Es sei so gesehen die Luft, die tönt (τὸ πνεῦμά ἐστι τὸ φθεγγόμενον). Περὶ σαρκῶν weist in der Beschreibung des Atmungsapparates, der Betonung der Zungenfunktion und in der Terminologie Gemeinsamkeiten mit Aristoteles auf.60 Datiert man die Schrift vor Aristoteles, kann man in ihr eine mögliche Quelle für dessen Abhandlungen sehen. Hält man die Schrift für nacharistotelisch, so dürfte sie von Aristoteles beeinflusst sein.

2.1.4 Lukrez, Stoa, Vitruv, Celsus, Plinius d. Ä.

Lukrez und der Atomismus Die Atomisten vertreten bekanntlich die Auffassung, dass letztlich alles in der Welt aus kleinsten, unterschiedlich gebauten Teilchen (ἄτομοι, elementa, principia, primordia) besteht. Auch ihre Theorien der Sinneswahrnehmung fußen auf dieser dezidiert materialistischen Grundlage. Für eine Sinneswahrnehmung wird immer eine irgendwie geartete Form der Berührung vorausgesetzt. Das gilt auch für das Hören von Tönen und Stimmen. 57 Zum Titel des Werkes vgl. DEICHGRÄBER (1935), S. 26: Περὶ σαρκῶν ist überliefert, aber trifft den Inhalt nicht richtig. DEICHGRÄBER schließt sich daher der Konjektur Περὶ ἀρχῶν (»Über die Entwicklungsgesetze der Entstehung der Menschen«) an. 58 Zu den unterschiedlichen Datierungen vgl. AX (1986), S. 116, Anm. 2. 59 Verwendet wurde die Ausgabe von DEICHGRÄBER (1935). 60 Vgl. AX (1986), S. 117 und Kapitel 2.1.2.

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Ein Sprecher entsende Ton- bzw. Stimmatome in die Luft, bis sie in das Ohr eines Hörers gelangen und in ihm den Hörvorgang hervorrufen. Die Stimme sei also etwas Körperliches, die Atome transportierten den Schall. Nach Demokrit, dem Urvater der Atomlehre, formen die vom Sprecher ausgesandten Stimmatome (wie die Sehatome) in der Luft Nachbildungen von sich selbst (ἀποτυπώσεις), die in das Ohr des Hörers dringen und dort das Hören bewirken.61 Epikur distanziert sich in seinem Brief an Herodot in der Passage über den Hörsinn (52–53) von dieser Auffassung. Wenn wir unsere Stimme (φωνή) aussenden, entstehe in uns ein Schlag (πληγή). Wir erfahren nicht, von wem dieser Schlag ausgeht, sondern nur, dass er Gruppen von Stimmatomen aus dem Mund aussende. Nach Epikur spaltet sich der Stimmfluss (wie jeder Schall), sobald er den Mund verlässt, dann in mehrere kleine, untereinander gleiche Atomgruppen (ὄγκοι ὁμοιομερεῖς) auf. Diese selbst – und nicht ihre Nachbildungen wie bei Demokrit – erreichten das Ohr des Hörers und bewirkten das Hören und im Fall der Sprache das Verstehen (ἐπαίσθησις)62. Lukrez befasst sich mit der Stimme (vox), dem Schall (sonus/sonitus) und dem Hörsinn in De rerum natura 4,522–614. Zunächst stellt er, was Platon und Aristoteles nicht getan hatten,63 explizit fest, dass die Stimme etwas Körperliches sei: corpoream quoque enim〈vocem〉constare fatendumst (526).64 Denn sie könne in die Ohren dringen und dort mit ihrem Körper den Hörsinn anregen (524–525): principio auditur sonus et vox omnis, in auris/ insinuata suo pepulere ubi corpore sensum. Erstens: jeder Ton und jede Stimme wird gehört, wenn sie in die Ohren eingedrungen und mit ihrem Körper auf das Sinnesorgan getroffen sind.

Da Stimme und Ton die Sinneswahrnehmung hervorrufen könnten (quoniam possunt impellere sensus, 527), müssten sie körperlich sein. Auch die Tatsache, dass die Stimme die Kehle verletzen könne und Geschrei (clamor) die Luftröhre aufraue, also Heiserkeit bewirke, weise auf die Körperlichkeit der Stimme und auf ihre kleinsten, körperlichen Bestandteile, die Stimmatome (primordia vocum, principia). Zu sprechen raube dem Körper Kraft, insbesondere wenn man ununterbrochen, den ganzen Tag lang bis in die 61 Siehe das Fragment Diels/Kranz 68 [55] A.128, S. 113 (in KRANZ [91960]): Δ. καὶ τὸν ἀέρα φησὶν εἰς ὁμοιοσχήμονα θρύπτεσθαι σώματα καὶ συγκαλινδεῖσθαι τοῖς ἐκ τῆς φωνῆς θραύσμασι. Vgl. dazu die Erläuterungen bei BAILEY (1947), S. 1242 f. 62 Anders als bei der αἴσθησις wird bei der ἐπαίσθησις nicht nur gehört, sondern auch verstanden, was gesagt wird. Vgl. dazu BAILEY (1926), S. 200. 63 Zur Frage der Körperlichkeit der Stimme s. u. Gellius 5,15. 64 Zum Ausdruck der Körperlichkeit der Stimme mit sprachlichen Mitteln in dieser Lukrez-Passage vgl. CATREIN (2003), S. 186–190.

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Nacht hinein und sehr laut spreche (535–539). Auch solche Ermüdungserscheinungen wiesen auf die Körperlichkeit der Stimme (540–541): ergo corpoream vocem constare necessest,/ multa loquens quoniam amittit de corpore partem. Also muss feststehen, dass die Stimme körperlich ist, weil ja jemand, der viel spricht, einen Teil von seinem Körper verliert.

Zudem könne der Unterschied im Hören von rauen oder glatten Tönen mit der Existenz rauer oder glatter Atome begründet werden. Die Klangfarbe eines Tons beruhe also auf der Beschaffenheit seiner Atome. Die asperitas vocis stamme von der asperitas principiorum (542–543). Gleiches gelte für den levor der Stimme. Die menschliche Stimme stamme tief aus unserem Inneren, von wo wir sie ins Freie beförderten. Durch Zunge und Lippen werde sie dabei zu Worten geformt (549–552): Hasce igitur penitus voces cum corpore nostro/ exprimimus rectoque foras emittimus ore/ mobilis articulat verborum daedala lingua/ formaturaque labrorum pro parte figurat. Wenn wir also diese Stimmen aus unserem Innersten aus unserem Körper herausstoßen65 und sie gerade aus dem Mund nach draußen schicken, gliedert sie die bewegliche Zunge, die Künstlerin der Worte, und die Gestaltung der Lippen formt sie nach ihrem Anteil.

In rer. nat. 4,553–594 befasst sich Lukrez anschließend mit Fragen, die die Schallverbreitung allgemein betreffen, in rer. nat. 4,595–614 mit den Besonderheiten der Tonatome im Vergleich zu den Sehatomen. Stoa In der Vorstellung der Stoiker besitzt ein Teil der Seele die Fähigkeit, die Stimme zu erzeugen: φωνητικὸν μέρος (oder μόριον) τῆς ψυχῆς.66 Der leitende Seelenteil, das Hegemonikon, habe seinen Sitz im Herzen.67 Nach Chrysipp hat die Stimme dort ihren Ursprung und geht vom Denken aus.68 Zenon gibt erstmals die kanonische Definition der Stimme als geschlagene Luft: φωνή ἐστιν ἀὴρ πεπληγμένος (SVF I 74, S. 21).69 In einem Zeugnis des Aetius (SVF I 150, S. 41) erfahren wir, dass Zenon auch den Weg dieser Luft beschrieben hat. Die Stimme sei »die Atemluft, die sich vom Hegemo65 Für exprimere in der Bedeutung »Töne o. Ä. herausstoßen, herausströmen lassen« vgl. BAILEY (1947), S. 1248 und ThlL, s. v. exprimo S. 1785, 48 ff. Vgl. auch CATREIN (2003), S. 188. 66 Vgl. AX (1986), S. 143. 67 Vgl. ebd. 68 Vgl. ebd., S. 147 und POHLENZ (51978), S. 40. 69 Vgl. AX (1986), S. 211.

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nikon ausgehend bis zum Kehlkopf, der Zunge und den passenden Organen ausstrecke« (ἔστι πνεῦμα διατεῖνον ἀπὸ τοῦ ἡγεμονικοῦ μέχρι φάρυγγος καὶ γλώττης καὶ τῶν οἰκείων ὀργάνων). Die Stoiker übernehmen also die atomistische Theorie der Körperlichkeit der Stimme und die aristotelische Theorie des Luftschlages. Aristoteles legte allerdings bei seiner Definition der Stimme den Schwerpunkt auf den Schlag der Luft gegen die Luftröhre (de anima 420b27–29).70 Im Unterschied dazu betonen die Stoiker stärker, dass die Luft selbst geschlagen wird, in der Regel aber ohne explizit zu sagen, wovon bzw. von wem sie geschlagen wird.71 Diese stoische Definition der Stimme als geschlagene Luft übt später großen Einfluss auf die Behandlung der vox bei den Grammatikern aus.72 Stoische Ansichten über die Stimme sind uns bei Diogenes Laertios in seiner Vita Zenons (Buch 7,55–56) überliefert.73 Demnach begriffen die Stoiker (wie Lukrez) die Stimme als etwas Körperliches (55). Der Sprecher sende die Stimme aus, sie gelange zum Hörer und wirke auf ihn ein (56). Durch die mechanische Berührung des Ohres werde also eine körperliche Wirkung ausgeübt.74 Am ausführlichsten berichtet Diogenes Laertios von der Stimmauffassung des Diogenes von Babylon (55 = SVF III 17, S. 212). Sein System ist jünger als das von Zenon und Chrysipp und wurde von Aristoteles beeinflusst.75 Auch Diogenes von Babylon hält die Stimme für geschlagene Luft (ἔστι δὲ φωνὴ ἀὴρ πεπληγμένος).76 Bei der Tierstimme werde die Luft durch einen Trieb (ὁρμή) erschüttert. Die menschliche Stimme bzw. die Sprache werde vom Verstand (διάνοια) hervorgebracht und artikuliert. In Ciceros De natura deorum (2,149) befasst sich der Stoiker Balbus, ausgehend von einem Lob der Macht der Beredsamkeit (eloquendi vis), mit der Bildung der menschlichen Rede (oratio) und Stimme (vox). Nach Auffassung der Stoiker ist alles in der Welt, die gesamte Natur und auch alles im

70 Nach seiner Definition ist dieser Schlag die Stimme, auch wenn allerdings die Luft, die den Schlag ausführt, vorher selbst von Luft geschlagen worden ist. Vgl. Kapitel 2.1.2. 71 Eine Ausnahme bilden Cicero (nat. deor. 2,149) und Seneca (nat. 2,6,3), die im Folgenden besprochen werden. 72 Zum Zusammenhang von stoischer Stimmdefinition und der der Grammatiker vgl. STROH (1998), S. 444. Zum Einfluss der Sprachtheorie der Stoa auf die grammatische Fachliteratur vgl. AX (1986), S. 139. 73 Eine umfassende Analyse dieser Stelle, die den Zweck der Darstellung hier weit überschreitet, findet sich bei AX (1986), S. 151–207. 74 Vgl. POHLENZ (51978), S. 39 f. 75 Vgl. AX (1986), S. 211. 76 Zur vollen Definition des Diogenes (ἔστι δὲ φωνὴ ἀὴρ πεπληγμένος ἢ τὸ ἴδιον αἰσθητὸν ἀκοῆς) vgl. STROH (1998), S. 443 f.

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Menschen durch göttliche Sorgfalt hervorgebracht.77 Dies gelte auch für die Stimme (vox), deren Ursprung in der mens liege. Balbus’ Beschreibung der Stimmbildung beginnt mit der Luftröhre (arteria), die von den Lungen (a pulmonibus) bis zum innersten Teil des Mundes (usque ad os intimum) reiche.78 Durch die Luftröhre (per quam) werde die Stimme (vox) aufgenommen und ausgeströmt (percipitur et funditur).79 Wir erfahren also hier nur, dass die Stimme irgendwie im Inneren entsteht, über den genauen Vorgang der Stimmerzeugung wird aber nichts gesagt. Artikuliert sei die Stimme jetzt noch nicht (vocem inmoderate profusam). Diese Aufgabe übernehme die Zunge (fingit et terminat). Indem sie gegen die Zähne und andere Teile des Mundes schlage, mache sie die Stimmtöne (sonos vocis) deutlich und genau (distinctos et pressos). Am Ende seiner Ausführungen referiert Balbus drei bei den Stoikern übliche Vergleiche (nostri solent dicere) aus dem Bereich der Stimmbildung. Die Zunge sei dem Plectrum ähnlich,80 die Zähne den Saiten und die Nase den Hörnern der Lyra, die als Verstärker des Instruments wirken. Der Vergleich der Zunge mit dem Plectrum ist überraschend und nicht ganz passend. Denn während der Schlag der Zunge ja der Artikulation der Stimme dient, erzeugt der des Plectrums den Ton. Über Schläge in der Luftröhre, die in der Theorie des Aristoteles die Stimme erzeugen, erfahren wir bei Cicero hingegen nichts.81 Cicero zählt diese auch nicht mehr zu den wichtigen an der Stimmbildung beteiligten Organen.82 Sie dient in erster Linie der Luftleitung (Cic. nat. deor. 2,136). Auch für Seneca sind Töne geschlagene Luft.83 Im Zusammenhang mit seinen Ausführungen über die Luft (aer) kommt er in den Naturales quae-

77 Vgl. Cic. nat. deor. 2,147: iam vero animum ipsum mentemque hominis, rationem, consilium, prudentiam qui non divina cura perfecta esse perspicit, is his ipsis rebus mihi videtur carere. 78 In Cic. nat. deor. 2,136 wird aspera arteria als medizinischer Terminus technicus für die Luftröhre bezeichnet. 79 percipere bezieht sich auf das Einholen der Stimme qua Stimmluft, fundere auf das Ausströmen der Stimmluft. Beides geschieht durch (per) die Luftröhre, sowohl lokal als auch instrumental. Vgl. PEASE (1958), S. 936 mit den Parallelstellen Cic. Tusc. 2,56, Cic. nat. deor. 2,141, Arnob. 3,18. 80 Der Vergleich der Zunge mit einem Plectrum im Zusammenhang mit der Artikulation findet sich auch bei Apul. flor. 12,6, wo es über die Papageien, deren Zunge größer als die anderer Vögel sei, heißt: verba hominis articulant patentiore plectro et palato. Galen vergleicht passender die stimmerzeugenden Knorpel des Kehlkopfes mit πλῆκτρα (vgl. Kapitel 2.1.5). 81 Zu Aristoteles vgl. Kapitel 2.1.2. 82 Diese wichtigen Organe sind nach Cic. Tusc. 1,37 lingua, palatum, fauces, latera, pulmo. 83 Vgl. Sen. nat. 2,29: cum vox nihil aliud sit quam ictus aer. An dieser Stelle geht es um das Tönen des Donners. vox bezeichnet dort also nicht die menschliche Stimme, sondern ein in der Natur durch Luft erzeugtes Tönen allgemein.

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stiones auch auf die menschliche Stimme zu sprechen. Er definiert die vox als intentio aeris, ut audiatur, linguae formata percussu (2,6,3). Zwei Elemente dieser Definition sollten hervorgehoben werden. Erstens nimmt Seneca als Erster die Spannung der Luft (intentio), die dann bei Galen und auch in den rhetorischen Texten eine wichtige Rolle spielt,84 in seine Definition der Stimme auf.85 Aristoteles hingegen interessierte sich v. a. für die Luftmenge. Auch Gesang sei nicht ohne Spannung der Atemluft denkbar (2,6,5): quis sine intentione spiritus cantus est? Zudem benötigten die Blasinstrumente cornua und tubae sowie die Wasserorgel (2,6,5) zur Hervorbringung ihrer Töne die Spannung der Luft (aeris intentio). Zweitens wird in Senecas Definition die Zunge erwähnt. Durch ihren Schlag (linguae … percussu) wird die Luftspannung in Form gebracht.86 Dabei ist sicherlich wie bei Balbus bzw. Cicero an die Artikulation gedacht. Von der Luftröhre erfahren wir auch hier nichts. Verglichen mit Aristoteles verschiebt sich insgesamt in der Stoa das Interesse von der Stimmerzeugung in der Luftröhre auf die Vorgänge im Mund. Die stoische Definition der Stimme als körperlich und als geschlagene Luft referiert auch Gellius (5,15) im Zusammenhang mit der (seiner Darstellung nach) alten und immerwährenden Frage der berühmtesten unter den Philosophen (er nennt im Folgenden Platon, Demokrit, Epikur und die Stoiker), ob die Stimme körperlich sei oder nicht (vetus atque perpetua quaestio inter nobilissimos philosophorum agitata est, corpusne sit vox an incorporeum). Gellius knüpft damit an eine Kontroverse zwischen Stoikern einerseits und v. a. Akademikern (bzw. Platon) andererseits an, für die sich auch andere Spuren finden.87 Gellius grenzt die Auffassung der Stoiker (vocem Stoici corpus esse contendunt eamque esse dicunt ictum aera) sowie die Demokrits und Epikurs (ex individuis corporibus vocem constare) von der Platons ab, nach der der Schlag selbst bereits die Stimme sei: Sed, Plato autem non esse vocem corpus putat: »Non enim percussus«, inquit, »aer, sed plaga ipsa atque percussio, id est vox«. Diese Unterscheidung mutet auch Gellius recht spitzfindig an (5,15,9). Sie legt Platon dogmatisch zu sehr fest und ist v. a. methodisch bzw. logisch nicht ganz korrekt. Denn erstens ist

84 Vgl. Kapitel 2.1.5 und Exkurs 3 (2.5). 85 Vor Seneca hatte bereits Cicero (Tusc. 2,56–57) kurz die Bedeutung der Anspannung für die Stimme erwähnt: Die Anspannung des ganzen Körpers, nicht nur der stimmbildenden Körperteile latera, fauces und lingua, untersütze die Anspannung der Stimme (contentio vocis). Durch die stärkere Anspannung könne man lauter schreien (exclamare maius). 86 Zu formare in der Bedeutung »in Form bringen« vgl. Sen. nat. 1,2,6, ebenfalls über aer (dort ist formari gleichbedeutend mit in aliquam faciem fingi). formare heißt hier nicht »bilden« in dem Sinne, dass die stimmerzeugende Spannung der Atemluft erst eigentlich durch die Zunge hervorgebracht würde. 87 Weitere Zeugnisse dieser Kontroverse finden sich bei AX (1986), S. 177–181.

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das Platon-Referat nur im zweiten Teil zutreffend. Im Timaios (φωνὴν θῶμεν τὴν … πληγὴν, 67b2–3) hatte Platon den »Ton« als »Schlag« definiert,88 aber nirgendwo explizit die Körperlichkeit oder gar eine Definition als percussus aer ausgeschlossen, wie es das Gellius-Zitat suggeriert.89 Zweitens meint Platon mit dem Schlag gar nicht die Entstehung der Stimme (wie die Stoiker), sondern die Wahrnehmung im Ohr des Hörers. Moderner Terminologie folgend könnte man sagen, Platon und die Stoiker sind deswegen nicht vergleichbar, weil Platon akustische bzw. auditive Phonetik betreibt, die Stoiker aber artikulatorische Phonetik.90 Dieser Unterschied wurde wohl nicht immer wahrgenommen oder verwischt. Offenbar ging es den Stoikern v. a. darum, die Körperlichkeit der Stimme als elementaren Bestandteil ihrer Definition hervorzuheben und sich deutlich von Platon abzugrenzen.91

Vitruv Vitruv behandelt in De architectura die Stimme an zwei Stellen. In 5,3,6–7 geht es um die Verbreitung der Stimme (vox) im Theater und um ihre Wahrnehmung. Sie breite sich in Kreislinien aus, die man sich wie Wellen vorstellen könne, die entstehen, wenn man einen Stein ins stehende Wasser wirft: ea (= vox) movetur circulorum rotundationibus infinitis (5,3,6). Vitruv definiert die Stimme als »fließenden Lufthauch«, der hörbar wird durch Berührung (des Ohres bzw. Gehörs): Vox autem est spiritus fluens aeris e tactu sensibilis auditu.92 Der erste Teil der Definition nennt den Bestandteil und die Fortbewegungsart der Stimme: Sie besteht aus Luft und »fließt«. Damit ähnelt sie dem Wind, den Vitruv als »fließende Luftwelle« definiert (1,6,2): ventus autem est aeris fluens unda. Der zweite Teil der Definition erläutert, wie die Stimme wahrnehmbar wird. Dazu bedarf es der Berührung des Gehörs. In 6,1,5–8 schreibt Vitruv über den Einfluss des Klimas auf die Stimme. Menschen, die in einer feuchten Gegend lebten, hätten eine tiefe Stimme, während Menschen, die in einer heißen Gegend lebten, eine hohe Stimme 88 Vgl. Kapitel 2.1.1. 89 Zudem weisen andere Platon-Stellen durchaus auf eine materiale Klangauffassung hin. Vgl. dazu WILLE (1958/2001), S. 715 f. 90 Zur Unterteilung der modernen Phonetik vgl. GADLER (42006), S. 37. 91 Vgl. dazu auch AX (1986), S. 181. 92 Die Stelle ist textkritisch schwierig. Neben e tactu sind auch etactu sowie et actu und andere Varianten überliefert. Vgl. dazu die neue Ausgabe von SALIOU (2009), deren Text hier zugrunde gelegt wird, sowie die Erläuterungen von AX (1986), S. 258 f. Den Ausdruck sensibilis auditu verstehe ich als »wahrnehmbar hinsichtlich des Hörens« (Adjektiv des sinnlichen Gefühls mit Supinum auf -u, vgl. KÜHNER/STEGMANN [51976] II,1 §128,3b, S. 724).

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hätten: ex umidis naturae locis graviora fieri et ex fervidis acutiora (6,1,8). Daher erzeugten die Völker im Süden einen dünnen und sehr hohen Klang: sonitum vocis faciunt tenuem et acutissimum (6,1,6). Je weiter man nach Norden komme, desto tiefer würden die Stimmen (6,1,6). Die Völker in der Mitte (in Griechenland und Italien) haben seiner Meinung nach eine Mittelstimme: medianae vocis habent sonitum in sermone (6,1,7).93 Celsus In den acht Büchern De medicina gibt es keine speziell der Stimme gewidmete Passage. Bei der Beschreibung verschiedener Krankheitsbilder und Symptome wird aber des Öfteren die Auswirkung der jeweiligen Krankheit auf die Stimme erwähnt (z. B. 4,2,2. 4,5,2. 4,7,1). Zur Förderung der Stimme empfiehlt Celsus Weihrauch und Wein (5,25,15). Er liefert auch den ausführlichsten Beleg für die Methode der Infibulation, bei der die Vorhaut durchstochen und mit einem Ring versehen wurde.94 Sie sollte (wohl da sie den Beischlaf verhinderte)95 u. a. der Stimmerhaltung dienen: Infibulare quoque adulescentulos, interdum vocis, interdum valetudinis causa, quidam consueverunt (7,25,3). Plinius d. Ä. Über das gesamte Werk der Naturalis historia verteilt gibt Plinius immer wieder Anweisungen und Ratschläge zur Stimmerhaltung und -pflege.96 In 11,266–271 befasst er sich zudem ausführlich mit der vox, wobei er sich ausdrücklich auf Aristoteles beruft. Seine Quelle scheint v. a. De historia animalium gewesen zu sein. Für die Stimme benötige ein Lebewesen Atmung und dafür wiederum Atmungsorgane.97 Plinius unterscheidet mit Aristoteles die Stimme von anderen Geräuschen (soni), die Lebewesen hervorbringen, wie z. B. murmur oder stridor. Dann geht er auf Tierstimmen 93 Zur genaueren geographischen Vorstellung Vitruvs vgl. die Graphik zu seinem Weltbild in CALLEBAT (2004), S. 77. 94 Zu den unterschiedlichen Arten der Infibulation vgl. DINGWALL (1925). Weitere Zeugnisse für die Infibulation (bei Kitharaspielern und comoedi) liefern Mart. 7,82. 14,215 und Iuv. 6,73. 95 Zu Stimme und Sexualität vgl. Kapitel 2.2.1. 96 Vgl. Kapitel 2.2.1. 97 Vgl. Plin. nat. 11,266: vocem non habere nisi quae pulmonem et arterias habeant, hoc est nisi quae spirent, Aristoteles putat. idcirco et insectis sonum esse, non vocem. Plinius bezieht sich auf de anima 420b22–24 oder de hist. animalium 535a28–30: über die organischen Voraussetzungen der Stimme bzw. der Stimmatmung (wo jeweils allerdings Kehlkopf und Lunge genannt werden) sowie auf 535b3–12 über die Töne, die Insekten von sich geben, vgl. Kapitel 2.1.2.

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ein. Abschließend schreibt Plinius über die menschliche Stimme (11,269– 271). Bei den Menschen hätten die Männer die tiefste Stimme (gravis), dann folgten die Kastraten, die Frauen hätten die höchste Stimme (exilis). Nur bei den Rindern sei dies anders.98 Menschen sprächen erst ab der Vollendung des ersten Lebensjahres und erst nach vierzehn Jahren werde die Stimme kräftig. Im Alter lasse sie wieder nach. Dazu weiß Plinius einige Merkwürdigkeiten im Zusammenhang mit der menschlichen Stimme zu berichten. Er erwähnt die Dämpfung der Stimme und ihr Entlanggleiten an Wänden mit ebener (nulla inaequalitas) Oberfläche. Selbst wenn man leise spreche (levis sonus), werde man dann am anderen Ende der Wand noch gehört. Einen Menschen würden wir an seiner einzigartigen Stimme erkennen wie an seinem Gesichtsausdruck: sua (sc. vox) cuique sicut facies. Die vox ermögliche dem Menschen, seinen Gedanken Ausdruck zu verleihen (explanatio animi) und unterscheide ihn daher von den Tieren. Neben diesen allgemeinen Überlegungen zur Stimme befasst sich Plinius auch mit der Artikulation. In nat. 7,70 bespricht er die Bedeutung der Zähne für die menschliche Sprache.99 Für die Lenkung der Stimme und Aussprache (vocis sermonisque regimen) brauche man die Vorderzähne. Sie nähmen den Schlag der Zunge auf und erzeugten so gewissermaßen gemeinsam mit ihr einen Klang: nec cibo tantum et alimentis necessarii (dentes), quippe vocis sermonisque regimen primores tenent, concentu100 quodam excipientes ictum linguae.101 Auch bei Plinius spielt also eine Form des Schlages, an dem die Zunge beteiligt ist, bei der Entstehung der menschlichen Stimme eine Rolle. Er ähnelt damit am ehesten der von Balbus bei Cicero vertreteten stoischen Artikulationstheorie.102 Durch ihre jeweilige Anordnung und Größe (serieque structurae atque magnitudine) gestalteten die Zähne die Wörter unterschiedlich, machten sie kürzer, weicher oder stumpfer (mutilantes mollientesve aut hebetantes verba).103 Ohne Zähne sei keine deutliche Aussprache (explanatio) möglich. 98 Auch hier dürfte Aristoteles (de gen. animalium 786b14–17) die Quelle sein, vgl. Kapitel 2.1.2. 99 Nicht alle Völker verfügen laut Plinius über die menschliche Sprache. Als Völker ohne Sprache nennt er mit leichtem Zweifel (si credimus) die Atlantes in Afrika (5,45), einen Menschenstamm in den Bergen Indiens, der angeblich Hundeköpfe habe und belle, (7,23) und die Choromandae, die ebenfalls Hundemerkmale aufweisen sollen, in den Wäldern Indiens (7,24). 100 concentus bezeichnet den durch mehrere Elemente hervorgebrachten gemeinsamen Klang, vgl. ThlL, s. v. concentus S. 19,77 ff. 101 Vermutlich ist hier gemeint, dass die Luft, die von der Zunge geschlagen wird, auf die Vorderzähne trifft. Wenn doch die Zunge gemeint ist, könnte daran gedacht sein, dass die Vorderzähne durch ihr Vorhandensein Sprachfehler wie das Lispeln vermeiden. 102 Zu Balbus und Cicero s. o. 103 Bei dieser Beschreibung ist wohl weniger an korrekte Artikulationsvorgänge gedacht als an durch die Zähne bedingte Sprechschäden.

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2.1.5 Galen

Zur Rekonstruktion und Bedeutung von Galens Lehre Der griechische Arzt Galen (128 bis ca. 216 n. Chr.) hat seine Stimmtheorie aus selbständiger Forschertätigkeit entwickelt und bereits in seiner frühen, zwischen 163 und 165/166 n. Chr. erschienenen Schrift Περὶ φωνῆς in vier Büchern vollständig vorgelegt.104 Leider ist Περὶ φωνῆς heute verloren. Aus den Testimonien zu Galens eigenen Werken lässt sich seine dort entwickelte Stimmtheorie aber in großen Zügen, wenn auch nicht in restlos allen Bestandteilen, rekonstruieren.105 Galen schrieb zwar ca. 70 Jahre nach Quintilian und ist somit für die Erklärung der rhetorischen Texte zur Stimme nur bedingt relevant. Einzelne Bestandteile seiner Stimmtheorie, sein Vergleich zwischen dem Kehlkopf-Luftröhre-Komplex mit dem Musikinstrument Aulos und seine Vorstellungen von der Erzeugung von Lautstärke und Tonhöhe sind aber auch für das Verständnis der rhetorischen Texte hilfreich. Deswegen und aufgrund seiner überragenden Leistung für die Geschichte der Stimme in der Medizin soll seine Stimmtheorie zumindest in Grundzügen vorgestellt werden. Dies kann hier allerdings nur geschehen, indem die Ergebnisse Hans BAUMGARTENS (1962) zusammengefasst werden,106 der alle Testimonien gesammelt und ausgewertet hat.107 Galens Zeitgenossen hatten kaum Kenntnisse über die Stimmphysiologie.108 Er kannte als Erster alle an der Stimmbildung beteiligten Organe und beschrieb sie nahezu korrekt, insbesondere den Kehlkopf inklusive 104 Zahlreiche Verweise in späteren Werken deuten auf die große Bedeutung, die Galen selbst seiner Schrift zuerkannt hat. Zu Anlass und Datierung von Περὶ φωνῆς vgl. BAUMGARTEN (1962), S. 99–107, zu den von Galen durchgeführten öffentlichen Vivisektionen (v. a. am Schwein) in Rom S. 196–224. 105 Vgl. ebd., S. 151, 173. 106 Diese stark philologisch ausgerichtete Arbeit »Galen über die Stimme«, eine von Karl Deichgräber betreute Dissertation, ist heute wenig bekannt und Nicht-Gräzisten nur schwer zugänglich. 107 Außerhalb von Galens eigenen Werken, v. a. De usu partium, findet Baumgarten Spuren von Περὶ φωνῆς in der nicht datierbaren pseudogalenischen Schrift De voce et hanelitu und in einem Exzerpt des spätantiken Arztes und Medizinhistorikers Oribasius in dessen Collectiones medicae. Beide berufen sich ausdrücklich auf Galens Schrift Περὶ φωνῆς, können aber nur eingeschränkt zu deren Rekonstruktion dienen. Zum Oribasius-Exzerpt vgl. BAUMGARTEN (1962), S. 81 f., zu De voce et hanelitu S. 82–89, 97. Die Form hanelitus als Variante von anhelitus findet sich auch in Codices von Mart. 4,4,8 und Porph. Hor. 1,15,31. Im Mittellateinischen gibt es neben anhelitus auch die Schreibweisen hanhelitus und (h)anelitus (siehe Tract. de aegr. cur. p. 211,46 und Gerb. geom. 3,19). 108 Vgl. BAUMGARTEN (1962), S. 117, 201.

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Stimmlippen109, nach Galen das komplizierteste Organ110 des Körpers.111 Nur dass Galen auch wusste, dass die Stimmlippen vibrieren, scheint zwar an manchen Stellen naheliegend, kann aber nicht sicher nachgewiesen werden.112 Dennoch stand Galen mit seiner Annahme, der Kehlkopfteil γλωττίς sei das hauptsächliche Stimmbildungsorgan,113 kurz vor der modernen Theorie, die 1741 eben mit der Entdeckung der vibrierenden Stimmlippen entstand.114 Bis dorthin sollte seine Stimmtheorie oder zumindest das, was von ihr bekannt war, über 1500 Jahre lang gelten. Daran muss Galens Leistung bemessen werden, der seine Ergebnisse selbst als noch nicht ausreichend detailliert einstufte.115 Überblick über die Erzeugung von Stimme und Sprache: Spannung und Schlag Nach Galen wird die Stimmbildung – wie nach stoischer Vorstellung116 – vom Gehirn bzw. vom vernunftbegabten Teil der Seele gesteuert.117 Durchgeführt wird sie von mehreren Organen. Der Thorax presse zunächst die Luft durch intensives Ausatmen aus der Lunge.118 Diese komprimierte Luft 109 Galen kannte die Strukturen des Kehlkopfs, die wir heute als Stimmlippen bezeichnen, vgl. KASSEL (1912), S. 246, MAY (1968), S. 369, Anm. 45 und 46, und S. 360, Anm. 47 sowie GÖTTERT (1998), S. 32. 110 Vgl. BAUMGARTEN (1962), S. 116. Eine ausführliche Beschreibung des Kehlkopfes (ausgehend v. a. vom Kehlkopf des Schweines, vgl. MAY [1968], S. 352, Anm. 32) findet sich auch in de usu part. 7,11–19. 111 Vgl. GÖTTERT (1998), S. 32. Galens Terminologie ist auf das Ganze seines Werkes gesehen nicht einheitlich. So umfasst der Begriff φωνητικὰ ὄργανα nicht immer die gleichen stimmbildenden Organe (vgl. BAUMGARTEN [1962], S. 108). Das Wort φάρυγξ kann den Rachen, den Kehlkopf oder die Luftröhre bezeichnen (vgl. ebd., S. 116, 118, 121). 112 Vgl. BAUMGARTEN (1962), S. 112, 158. 113 Vgl. ebd., S. 147. 114 Vgl. Exkurs 1. Als Galens Theorie 1741 durch Ferreins moderne Stimmtheorie abgelöst wurde, grenzte sich dieser in seiner Schrift »De la formation de la voix de l’homme« direkt von Galen ab und referierte zunächst noch einmal dessen Thesen, soweit sie ihm – wohl v. a. aus De usu partium (Ferrein zitiert von Galen nur diese Schrift, vgl. COOPER [1989], S. 191 f.) – bekannt waren, um in direktem Gegensatz zu ihm seine neue und noch heute (in modifizierter Form) gültige Theorie zu formulieren. 115 Vgl. BAUMGARTEN (1962), S. 202. 116 Vgl. Kapitel 2.1.4. 117 Vgl. BAUMGARTEN (1962), S. 179. 118 Die Atemluft, die nach Auffassung Galens und ganz ähnlich wie bei Aristoteles in erster Linie der Erwärmung des Herzens und damit der Erhaltung des Lebens dient, sei auch das Material, aus dem die Stimme gebildet werde (ὕλη τῆς φωνῆς), vgl. Kapitel 2.1.2. Zum Thema Atmung in Περὶ φωνῆς siehe BAUMGARTEN (1962), S. 173–195. Vgl. KASSEL (1912), S. 246.

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(ἐκφύσησις) ströme dann durch Luftröhre119, Kehlkopf, Rachen, Mund und Nase. Sie werde schneller und erhalte mehr Spannung (τόνος), je enger die Luftwege zur sogenannten γλωττίς hin werden. Mit dem Begriff γλωττίς, für den es keine entsprechend geeignete moderne Übersetzung gibt,120 meint Galen prinzipiell die Teile des Kehlkopfs, die an der Entstehung der Stimme beteiligt sind.121 Er fasst sie als einheitliches und hauptsächliches Stimmbildungsorgan auf.122 In der γλωττίς treffe die Stimmluft auf elastische Knorpel (χόνδροι), von denen sie wie von Schlagstäben (πλῆκτρα) geschlagen werde.123 Diese so geschlagene Luft werde zur Stimme (πλήττομένη … ἡ ἐκφύσησις αὕτη φωνὴ γίνεται).124 Aus den erhaltenen Schriften erfahren wir nicht, wie die πληγή eines Luftstromes durch Knorpel genau vor sich geht. Durch die Erschütterung werde die Atemluft an der γλωττίς jedenfalls so umgewandelt, dass die Stimme entstehe. Mittels ihrer variablen Öffnungsweite könne die γλωττίς, willentlich gesteuert von der Larynxmaskulatur,125 dabei Geschwindigkeit und Spannung der Luft beeinflussen und darüber die Lautstärke der Stimme regulieren. Anschließend formten die Artikulationsorgane, v. a. die Zunge, die Stimme (φωνή) zur Sprache (διάλεκτος) um.126 Galen hat auch organische Artikulationsfehler behandelt. Die Bildung der einzelnen Vokale und Konsonanten untersuchte er aber nicht. Zwei bereits erwähnte stoische Vorstellungen finden sich damit bei Galen wieder und werden von ihm kombiniert.127 Erstens spielt bei ihm wie bei Seneca (nat. 2,6,3) die Spannung der Luft für die Tonerzeugung eine entscheidende Rolle. Ohne erhöhte Spannung würde die Luft beim Schlag gegen die Knorpel zurückgelenkt und nicht in Stimme umgewandelt werden können. Zweitens werden die Schlagwerkzeuge wie von Balbus bzw. Cicero (Cic. nat. deor. 2,149) mit πλῆκτρα verglichen. Allerdings bezieht Balbus sich auf die Zunge als Artikulationsorgan und nicht auf stimmbildende Knorpel.

119 Zur Luftröhre vgl. v. a. BAUMGARTEN (1962), S. 151–155. 120 Vgl. MAY (1968), S. 357, Anm. 41: Unter der γλωττίς fasst Galen (in De usu partium) mehrere Kehlkopfteile zusammen, nämlich »ventricular folds, ventricles, and vocal folds«, also Vorhoffalten, Kehlkopftasche und Stimmlippen. 121 Über Position, Substanz und Aussehen der γλωττίς bei Galen vgl. BAUMGARTEN (1962), S. 159–161. Die γλωττίς wird auch beschrieben in de usu part. 7,13. 122 Vgl. BAUMGARTEN (1962), S. 147, 160. 123 Zu den hier vereinfacht zusammengefassten Vorgängen in der γλωττίς siehe v. a. BAUMGARTEN (1962), S. 158–171. 124 Vgl. ebd., S. 147. 125 Vgl. ebd., S. 121. 126 Für die Artikulationsorgane vgl. ebd., S. 251–257. 127 Vgl. Kapitel 2.1.4.

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γλωττίς und αὐλός

Besondere Aufmerksamkeit verdient Galens Analogie zwischen dem Kehlkopf-Luftröhre-Komplex und dem αὐλός bzw. zwischen der γλωττίς und dem Mundstück des αὐλός.129 Der Begriff γλωττίς ist dabei offenbar von der Bezeichnung des Instrumententeils auf den menschlichen Körperteil übertragen worden. Diese Übertragung scheint zumindest die Aussage bei Oribasius (coll. med. lib. inc. 62,27,3–5) in dessen Galen-Exzerpt recht eindeutig zu belegen, die Natur habe in der γλωττίς (im Kehlkopf) genau ein solches Instrument geschaffen, wie es die γλωττίς in den Auloi sei: ἡ φύσις ἔνδον τοῦ λάρυγγος εἰργάσατο τοιοῦτον ἀκριβῶς ὄργανον οἷόνπερ ἑν τοῖς αὑλοῖς ἑστιν ἡ γλωττίς.130 Galen vergleicht Organ und Instrument in Hinblick auf Aussehen, Position und Funktion. Der αὐλός ist ein Rohrblattinstrument, das seine Töne durch die Vibration des (Doppel-) Blattes im Mundstück hervorbringt. Dabei ist die Vibration des Rohrblattes eigentlich leicht zu bemerken. Allerdings hat Galen, soweit die erhaltenen Schriften erkennen lassen, das Funktionieren des αὐλός nicht näher erklärt und die Vibration des Mundstückes nicht auf die γλωττίς übertragen – was nach moderner Theorie genau richtig wäre. BAUMGARTEN (1962) kommt zu dem sehr vorsichtig formulierten Ergebnis: So können wir von hier aus nicht die Frage entscheiden, ob Galen die vibrierenden Stimmlippen erwähnt hat. Als sicher erweist der Vergleich mit dem Aulos nur, daß in Galens Stimmtheorie die Glottis und die Knorpel gleich wichtige, unabdingbare Teile des Stimmapparates sind, deren Zusammenwirken erst die Stimmbildung ermöglicht.131

Andererseits kann auch nicht ganz sicher ausgeschlossen werden, dass Galen die Vibration der Stimmlippen kannte, was v. a. sein (nach moderner Vorstellung) treffender Vergleich mit dem αὐλός nahelegt. Betont werden muss, dass in jedem Fall der Kehlkopf die zentrale Rolle in Galens Stimmtheorie übernimmt. Denn auch falls Galen die Vibration der Stimmlippen 128 Vgl. die Erläuterungen zu velut organa (Quint. inst. 11,3,16) in Kapitel 4.2.1 und zu ut tibiae (Quint. inst. 11,3,20) in Kapitel 4.2.2. 129 Zu diesem Vergleich siehe BAUMGARTEN (1962), S. 121, 164, 171 f. Siehe auch de usu part. 7,11: Die drei Hauptknorpel des Kehlkopfes ergäben gleichsam einen Aulos: ὥσθ᾽ οἷον αὐλόν τινα γίγνεσθαι τὸ συγκείμενον ἐκ τῶν τριῶν. 130 Vgl. BAUMGARTEN (1962), S. 167. 131 Ebd., S. 172. Baumgarten führt versuchsweise eine Interpretation des wichtigsten Testimoniums (Nr. 21) zur Bewegung der γλωττίς, das für Galens Kenntnis der Vibration der Stimmlippen sprechen könnte, durch (S. 165 f.). Er kommt allerdings zu dem Ergebnis, dass eine solche Interpretation aus sprachlichen Gründen nicht zu halten ist (S. 167 f.).

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noch nicht bemerkte, sind sie doch ein Teil der γλωττίς, die durch ihr Öffnen und Schließen Töne erzeugt. 132

Lautstärke und Tonhöhe

Die natürliche Tonhöhe und Lautstärke einer Stimme hängen nach Galen von der Größe der Organe (Herz, Brustkorb, Lunge, Luftröhre, Kehlkopf) ab, für die die Körperwärme entscheidend sei. Weniger innere Wärme führe zu engeren Organen.133 Hier ist Galen ganz der hippokratischen Säftelehre verpflichtet.134 Eunuchen, Kinder und Frauen hätten eine kältere Mischung des Körpers. Deshalb seien ihre Stimmorgane enger und ihre Stimme sei hoch.135 Die variable Tonhöhe und Lautstärke der Stimme einer Person verändern sich nach Galen – anders als bei Aristoteles136 – nie unabhängig voneinander. Bei Galen sind immer die laute und die hohe Stimme und die leise und die tiefe Stimme miteinander verbunden.137 Sie seien abhängig erstens von der Öffnungsweite der Stimmorgane, zweitens von Menge, Geschwindigkeit und Spannung des Luftstroms und drittens von der Kraft der Schläge. Erweiterung und Verengung des Knorpelgerüstes veränderten das Gesamtvolumen des Kehlkopfes. Davon hingen Höhe und Stärke der Stimme primär ab. Erweiterte Stimmorgane erzeugten tiefe Töne, enge Stimmorgane erzeugten hohe Töne. Wenn die Luftröhre verengt sei, entstehe Heiserkeit.138

132 Vgl. Exkurs 3 (1). 133 Die Darstellung folgt BAUMGARTEN (1962), S. 230–239. Galen hat in Περὶ φωνῆς eine physiologische Erklärung für die Entstehung und Variabilität von Tonhöhe und Lautstärke der Stimme gegeben. Da die Überlieferungslage gerade in diesem Bereich aber sehr schlecht ist, muss heute unklar bleiben, wie genau Galen das Thema behandelt hat. 134 Vgl. GÖTTERT (1998), S. 33. 135 Ähnlich bewirkt nach Vitruv warmes Klima eine hohe Stimme (vgl. Kapitel 2.1.4). Nach Aristoteles hingegen bewirkt die kalte Luft höhere Töne (vgl. Kapitel 2.1.2). 136 Vgl. Kapitel 2.1.2. 137 Auch nach der modernen Auffassung sind Lautstärke und Tonhöhe nicht ganz unabhängig voneinander. Beide werden u. a. durch die Schwingung der Stimmlippen bestimmt. Siehe Exkurs 1. 138 Vgl. GOLDBACH (1898), S. 28, 33.

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2.2 Die Pflege und Ausbildung der Stimme 2.2.1 Stimmdiätetik: Ernährung und Lebensweise

Die antike Stimmdiätetik gibt zahlreiche Empfehlungen für stimmfördernde Nahrungsmittel, die sich schon im Zusammenhang mit dem Chorwesen Athens finden. Nach Plutarch (mor. 349A) sollen die Choreuten von ihren Chorleitern für die Stimme Aalfleisch (ἐγχέλεια), Lattiche (θριδάκια), Schinken (σκελίδες) und Mark (μυελός) erhalten haben.139 In der sechsten Rede von Antiphon, Περὶ τοῦ χορευτοῦ, wird ein Chorege verteidigt, dessen Chorknabe Diodotos im Jahr 419 v. Chr. gestorben war, nachdem er einen Trank eingenommen hatte, der als Medizin (φάρμακον), vielleicht gegen Halsschmerzen, wirken sollte bzw. der (angeblich) der Verbesserung der Stimme diente.140 Die näheren Umstände dazu bleiben allerdings unklar.141 Die meisten Rätschläge zur Stimmpflege durch Nahrung erteilt Plinius d. Ä. in der Naturalis historia. Für eine glanzvolle Stimme (voci splendorem adfert) helfe Schnittlauch (porrum sectivum, 20,47).142 Dieser ist als stimmpflegendes Mittel durch Kaiser Nero bekannt, der an manchen Tagen für seine Stimme (vocis gratia) angeblich nur Schnittlauch mit Öl aß (19,108).143 Auch Kopflauch (capitatum porrum, 20,49) nütze der Stimme. Knoblauch (alium, 20,53–54) mildere die Heiserkeit (raucitatem extenuat) und sei v. a. gekocht nützlich für die Stimme. Laser (laser) reinige sofort die Kehle und stelle die Stimme wieder her (confestim enim purgat fauces vocemque reddit, 22,104). Trockenes Brot (panis) als erste Speise bei Tisch sei das Nützlichste für diejenigen, die sich um ihre Stimme bemühen, und gegen Schnupfen (vocis studiosis et contra destillationes siccum [sc. panem] esse primo cibo utilissimum est, 22,139). Bei Anstrengungen der Stimme rät Plinius zu Betonie (vettonica, 26,137) und Panazee (panaces, 26,137). Bienenbrot (sandaraca, 34,177) mache die Stimme klar und wohltönend (vocemque limpidam et canoram facit). Gut seien auch der Saft der Krauseminze (menta, 20,149), des Süßholzes (glycyrrhiza, 22,25) und der Strand139 Vgl. KRUMBACHER (1920), S. 104. 140 Vgl. ebd., S. 15, 101 und GAGARIN (1997), S. 221. 141 Vgl. HEITSCH (1980), S. 4. Für eine kurze Zusammenfassung der Argumentation siehe GAGARIN (1999), S. 174–176. 142 In den pseudoaristotelischen Problemata (903b27–29) wird Lauch empfohlen: Gekochter Lauch (τὰ πράσα) reinige und glätte in seiner klebrigen Konsistenz die Kehle und trage daher zu einer guten Stimme (πρὸς εὐφωνίαν) bei. 143 Da Schnittlauch der Stimme Glanz verleihe und die Luftröhre reinige, wird er auch von Dioskorides (geb. 1. Jh. n. Chr.) empfohlen (vgl. KASSEL [1911], S. 165).

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distel (erynge, 22,25), Bockskraut (eriphia, 24,168), gekauter Portulak (porcillaca, 20,212), frische oder gesalzene Welse (siluri, 32,90). Nach Varro nütze auch die Bohne (faba, 22,141) der Stimme. Für stimmschädlich hält Plinius reife Feigen (fici maturi, 23,120) und Miesmuscheln (myaces, 32,96), die die Kehle verletzen (fauces vexant) und die Stimme stumpf werden lassen (vocem obtundunt). Celsus erwähnt, dass Weihrauch, in Wein gegeben, gut für die Stimme sei (5,25,15).144 Galen empfiehlt für eine klare Stimme Terpentinharz, Weihrauchharz, Bittermandelöl, das Mehl der Kichererbse und der Veilchenwurzel (de comp. med. sec. loc. 7,1).145 Gegen Heiserkeit seien Eier (de simpl. medicament. temp. ac fac. 11,31) und Styrax (z. B. de simpl. medicament. temp. ac fac. 8,18,42) hilfreich.146 Dazu gibt er Rezepte zur Zubereitung (z. B. de rem. parab. 1,9).147 Die Stimmdiätetik des Altertums ging über solche Anweisungen zur Ernährung hinaus und bezog auch den Umgang mit der Stimme und die allgemeine Lebensweise in die Pflege der Stimme mit ein.148 So empfiehlt z. B. Galen (de comp. medicament. sec. loc. 7,1) bei Heiserkeit und Stimmverlust neben reizloser Nahrung auch Bäder, allerdings keine Schwefelbäder, da diese den Körper zu sehr austrocknen.149 Stimmfördernd seien auch Spaziergänge wegen der Stärkung der Atemorgane, Massagen und Bäder. Bei Plutarch finden sich viele Ratschläge, die die gesamte Lebensweise betreffen.150 Als wichtig wird neben einem insgesamt maßvollen Lebensstil auch die Regelung der Sexualität eingestuft, die wie die Ernährung in den Bereich der antiken Diätetik gehört. Allgemein galt maßvoller Geschlechtsverkehr als gesund.151 Es gibt aber auch Zeugnisse, nach denen man eine Schwächung oder Entkräftung v. a. des männlichen Körpers durch den Geschlechtsverkehr annahm.152 Daher stammt auch die Auffassung, dass 144 Vgl. KRUMBACHER (1920), S. 102. 145 Vgl. GOLDBACH (1898), S. 47. 146 Vgl. ebd. 147 Vgl. ebd., S. 48. 148 Vgl. GOLDBACH (1898) und KASSEL (1912) passim. Dies gilt auch für die heutige Stimmhygiene, worunter der richtige Gebrauch und die richtige Pflege und Konditionierung der Stimme verstanden werden. Die Stimmhygiene »basiert dabei auf einer gesunden Lebensführung, welche die Abstinenz von Drogen und Suchtmitteln, richtige Ernährung, Vermeidung von Fehlhaltungen, Bewegungsaktivität usw. einschließt« (KLINGHOLZ [2000], S. 94). 149 Vgl. GOLDBACH (1898), S. 46. 150 Vgl. KASSEL (1911), S. 163 f. Siehe v. a. die Partie bei Plutarch mor. 130 A-F (in De tuenda sanitate praecepta), die einige Ähnlichkeiten mit der Behandlung der firmitudo beim Auctor ad Herennium (3,12,21–22) aufweist. Vgl. Kapitel 4.1.3. 151 Vgl. LEVEN (2005), Sp. 346. 152 Vgl. ebd., Sp. 345.

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Geschlechtsverkehr oder auch schon gesteigerter Sexualtrieb (beides meist: venus), wohl deswegen weil er häufiger zum Geschlechtsverkehr führt, schädlich für die Stimme sei.153 Jedenfalls sollen die Speisen, die den Sexualtrieb hervorrufen oder steigern, gemieden werden. Darunter fällt z. B. nach Meinung mancher Ärzte der Rettich (raphanus, 20,28) wohl deswegen, weil er nach der Auffassung des Demokrit den Geschlechtstrieb anregt: Democritus venerem hoc cibo stimulari putat, ob id fortassis voci nocere aliqui tradiderunt.154 Umgekehrt werden Speisen, die die Libido hemmen, explizit für die Stimme empfohlen, wie z. B. die heraklische Seerose (nymphaea Heraclia, 26,94), die den Geschlechtstrieb völlig beseitige (venerem in totum adimit).155 Daneben gibt es aber auch die (seltenere) entgegengesetzte Meinung, nach der der Geschlechtsverkehr sogar förderlich für die Stimme sei. Nach Plin. nat. 28,58 könne dadurch nämlich eine dunkle Stimme wieder hell werden (venere vox revocatur, cum e candida declinat in fuscam). Zumindest werden auch Nahrungsmittel für die Stimme empfohlen, die gleichzeitig den Geschlechtstrieb anregen, wie z. B. der schon genannte Schnittlauch (20,47) und Kopflauch (20,49). Ein anschauliches Zeugnis über Details der rednerischen Stimmpflege156 vermittelt Seneca rhetor in seiner Beschreibung des Redners Latro (contr. 1 praef. 16–17). Latro ist das Negativbeispiel der Stimmpfleger, denn er kümmert sich um seine Stimme überhaupt nicht (nulla umquam illi cura vocis exercendae fuit). Durch Vernachlässigung (neglegentia/nihil vocis causa facere) und Nachtarbeit ist seine Stimme dunkel (vox infuscata157). Er entfernt nicht durch Salben seinen Körperschweiß (non sudorem unctione discutere) und frischt seine Kraft nicht durch Spazierengehen auf (non latus ambulatione reparare). Nach einer durchwachten Nacht geht er direkt nach dem Essen zum Deklamieren, auf eine geregelte Verdauung achtet er auch nicht. Auch die Stimmübung, bei der man in gleichmäßigen Intervallen die Stimme ansteigen und abschwellen lässt, betreibt er nicht.158 Diese Techniken der Stimmschonung verweisen auf die anderen professionellen Stimmbildner der Antike außerhalb der Rhetorik, die Sänger und Schauspieler.159

153 Auch Quintilian fordert veneris abstinentia, also Enthaltsamkeit, nicht nur Maßhalten. Vgl. dazu die Erläuterungen zu inst. 11,3,19 in Kapitel 4.2.2. Vgl. Suet. Dom. 12,2: Dort antwortet Aelius Lamia auf ein Lob seiner Stimme, er lebe enthalsam (so ist seine Antwort eutacto wohl zu verstehen, vgl. ThlL, s. v. eutacto). 154 Vgl. KRUMBACHER (1920), S. 103. 155 Dabei unterstütze die heraklische Seerose in trinkbarer oder essbarer Form oder direkt appliziert auf die Geschlechtsorgane immer die Stimme. 156 Zum Verhältnis von Stimmpflege und Rhetorik grundsätzlich vgl. Kapitel 5.2.5. 157 Vgl. die Erläuterungen zur vox fusca bei Quin. inst. 11,3,15. 158 Zu dieser Auf- und Abstiegsübung vgl. Kapitel 2.3. 159 Vgl. dazu Kapitel 2.2.2.

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Quintilian grenzt die Stimmpflege des Redners von der umfangreicheren solcher Stimmkünstler ab (inst. 11,3,19–29), weil für den Redner aufgrund der harten Bedingungen im Berufsalltag andere Voraussetzungen gälten.160 Dabei gibt er aber ein paar konkrete Ratschläge für den Redner, die sich teilweise auch in den bereits erwähnten anderen Quellen finden. So empfiehlt er zur Robustheit des Körpers (firmitas corporis) Spazierengehen (ambulatio), Salben (unctio), sexuelle Enthaltsamkeit (veneris abstinentia) und leicht verdauliche Speisen (facilis ciborum digestio) sowie die Pflege der Kehle, die unversehrt sein soll (fauces integrae) (inst. 11,3,19–20). Allerdings könne der Redner aufgrund seiner zahlreichen Aufgaben keine festen Zeiten zum Spazierengehen einhalten und auch nicht die Auf- und Abstiegsübung161, eine speziell der Stimmpflege dienende Tonskalenübung, durchführen (inst. 11,3,22). Zudem gälten für ihn nicht die gleichen Ernährungshinweise, weil er anders als die anderen Stimmkünstler nicht auf eine geschmeidige und zarte Stimme abzielt (inst. 11,3,23). Ausführlicher und detaillierter als Seneca und Quintilian bespricht Fortunatian (4. Jh.?) die Stimmpflege des Redners.162 Der spätantike Rhetor widmet ihr sogar fast doppelt so viel Raum (rhet. 3,15–18 p. 130,14–131,29) wie der im eigentlichen Sinn rhetorischen Stimmführung, die er erst an zweiter Stelle behandelt (rhet. 3,19–20 p. 132,1–133,2).163 Nach Fortunatian besteht die bonitas vocis aus den drei Teilen claritas, firmitas und suavitas. Eine deutliche Stimme (claritas) erreiche man durch die medizinische Stimmübung (anaphonesis)164, eine starke Stimme (firmitas) durch die Praxis (usus) und eine angenehme Stimme (suavitas) durch die richtige Ernährung und sexuelle Enthaltsamkeit (observantia cibi et potus et Veneris continentia). Für diese drei Stimmeigenschaften seien sowohl die Naturanlage (natura) als auch die sorgfältige Pflege der Stimme (diligentia et cura vocis) bestimmend. Letztere bestünde aus den drei Teilen, die Stimme zu kräftigen (alere), zu erhalten (custodire) und wiederherzustellen (restituere). Diese drei Bereiche der Pflege beziehen sich auf alle drei Eigenschaften der Stimme, auf die bonitas vocis insgesamt.165 Sie werden in jeweils drei Kapiteln weiter ausgeführt.

160 Vgl. Kapitel 4.2.2. 161 Vgl. Kapitel 2.3. 162 Ganz ähnlich ist Martianus Capella (5. Jh.), der im fünften Buch über die Rhetorik bei der Besprechung der vox im Rahmen der pronuntiatio (5,540–542) fast nur die Stimmpflege bespricht. Bei ihm finden sich die Ausführungen Fortunatians in gekürzter Form. 163 Zu diesen rhetorischen Anweisungen Fortunatians zur Stimme vgl. Kapitel 3.3.2. 164 Vgl. Kapitel 2.3. 165 Fortunatian ordnet also nicht die drei Teile der bonitas vocis (claritas, firmitas, suavitas) jeweils direkt den drei Teilen der diligentia et cura vocis (alere, custodire, restituere) zu. Dies könnte man zunächst vermuten, da zur anaphonesis, die die claritas vocis erzeugt, ja

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Zur Kräftigung (ali) der Stimme (rhet. 3,16 p. 130,19–131,3) wird ein umfassendes Programm empfohlen. Nach dem Aufstehen soll man (zur besseren Verdauung) spazieren gehen, allerdings nicht mehr als 1000 Schritte (intra mille passus). Danach kommen die studia, die mit dem lautlosen oder leisen Lesen beginnen, woran sich das Schreiben anschließt. Jetzt folgt die Stimmpflege (cura vocis), wobei man zunächst im Sitzen wenige Verse, d. h. nicht mehr als 500, mit leiser und tiefer Stimme (lenta et gravi voce) vortragen soll. Daran schließt Fortunatian die Auf- und Abstiegsübung166 an. Mit der sich daran anfügenden Deklamationsübung, die sowohl vorbereitet als auch aus dem Stegreif durchgeführt werden kann, kommt Fortunatian zu den Anweisungen zum Erhalten (custodiri) der Stimme, bei denen die Stimmwege (vocis itinera) im Zentrum stehen (rhet. 3,17 p. 131,4–16). Nach Möglichkeit soll man diese vor der Übung bereits geschmeidig machen (praemollire). Auf jeden Fall spreche man am Anfang einer Rede entspannt (submissa)167 und steigere sich dann allmählich, werde lauter und höher (intendere). Am Ende soll man nicht in plötzliches Geschrei (clamor subitus) ausbrechen und auch nicht plötzlich im Geschrei die Rede abbrechen (a clamore subito concidere). Mit Bezug auf die Nahrung wird empfohlen, des Öfteren, aber nicht immer, eine leichte Vormahlzeit zu sich zu nehmen (prandere; cibo tenero et exiguo), welche noch vor der Hauptmahlzeit verdaut ist, die auch nicht zu üppig ausfallen dürfe. Fortunatian rät zudem zu warmen Getränken, die die Stimmwege, die arteriae168, durch die die Stimme fließe (per illas vox fluit), öffnen. Darüber hinaus werden schließlich bestimmte Maßnahmen zum Wiederherstellen (restituere) nicht gesunder Stimmen empfohlen (rhet. 3,18 p. 131,17–29). Bei einer leicht verletzten Stimme (leviter vexata vox) rät Fortunatian zu recht scharfen Speisen (acriores cibi). Falls etwas der Stimme im Weg sei und sie störe,169 werde es durch diese Speisen zunichte gemacht. Diese Anweisung übernimmt Fortunatian aus der Medizin, denn auch Ärzte verabreichten (bei einem solchem Krankheitsbild) zum Einschlafen

auch die Auf- und Abstiegsübung gehören kann (vgl. dazu Kapitel 2.3), die Fortunatian unter den Übungen nennt, die die Stimme kräftigen (alere). Die Maßnahmen zum Erhalten der Stimme (custodire) sind aber nicht auf die firmitas vocis, die Maßnahmen zum Wiederherstellen der Stimme (restituere) nicht auf die suavitas vocis abgestimmt. 166 Vgl. dazu ausführlich Kapitel 2.3. 167 Dass die Stimmwege nicht zu früh in der Rede strapaziert werden sollen, rät auch der Auctor ad Herennium (Rhet. Her. 3,12,21.22) für eine vox firma (vgl. Kapitel 4.1.3). 168 Wie der Auctor ad Herennium scheint Fortunatian mit arteria/arteriae teils die Luftröhre, teils die stimmleitenden Organe, inklusive Arterien, zu meinen, vgl. Kapitel 4.1.3. 169 Vgl. Quint. inst. 11,3,21 und Kapitel 4.2.2.

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sogar lasar, den Saft der Pflanze Silphion170, und nach dem Aufstehen etwas starken Essig (aliquid aceti acris).171 Bei einer stark geschädigten Stimme (vehementer fracta vox) rät er dazu, nichts zu trinken, um die Stimmwege auszutrocknen, viel spazieren zu gehen, um die Körperflüssigkeit aus den oberen Körperregionen in die unteren zu bringen, und keinen Wein (oder wenigstens süßen und stärker verdünnten) zu trinken, weil er für eine verletze Stimme das schädlichste sei. Der Luftröhre (arteria) nütze sehr leichte Kost, wenn die Luftröhre rein (simplex) sei und nicht durch viele Medikamente verschlossen. Am meisten solle man Süßholz (glycyriza) einnehmen oder eine erbsengroße Menge von dessen Saft unter die Zunge legen. Insgesamt solle man aber die Stimme nicht zu mühevoll und ausgiebig schützen, und sie dennoch schonen. Die Stimmwege (arteriae), v. a. also wohl die Luftröhre, müssten den richtigen Flüssigkeitshaushalt aufweisen, nämlich weder zu viel noch zu wenig Flüssigkeit haben. Sie sollten nicht feucht (umidae), sondern glatt (lubricae) sein.

2.2.2 Stimmtraining: Schauspieler, Sänger, phonasci

Die Notwendigkeit der Stimmpflege hatte der Redner mit den Schauspielern und Sängern gemeinsam, an deren Stimmleistungen ebenfalls hohe Ansprüche gestellt wurden. Die Schauspieler schulten nicht nur ihre eigene Stimme, sondern erteilten von der Zeit des Demosthenes an auch Rednern Unterricht im stimmlichen und gestischen Vortrag.172 Meistens handelte es sich dabei um Tragöden.173 Wir wissen nur von einem einzigen schriftlichen Werk, das sich mit der Stimmbildung befasst hat. Diogenes Laertios (2,103) erwähnt einen Autor namens Theodoros, der ein »außerordentlich schönes Buch über die Stimmbildung« (τὸ φωνασκικὸν βιβλίον πάγκαλον) verfasst hatte. Es kann zeitlich nicht eingeordnet werden und ist heute verloren.174

170 Um welche Pflanze genau es sich dabei handelt, ist unklar. Vgl. STEIER (1927), Sp. 103– 114 (zur purgierenden Wirkung ebd., Sp. 109) und ders. (1931), Sp. 972–974. 171 Inwieweit diese Behandlungsmethoden mit den heutigen übereinstimmen, müsste noch von modernen Stimmpflegern geklärt werden. 172 Vgl. KRUMBACHER (1920), S. 23, 81–82. 173 Vgl. ebd., S. 24. 174 Vgl. ebd., S. 10. Diogenes Laertios listet dort (2,103–104) im Anschluss an seine Ausführungen zum Philosophen Theodoros in aller Kürze 20 Männer unterschiedlicher Zeit und Profession mit demselben Namen auf. Eine Einordnung des Autors über die Stimmbildung in eine Traditionslinie ist daher nicht möglich.

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Einige bekannte Anekdoten berichten von der Stimmschulung des Demosthenes durch einen Schauspieler.175 Unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt belegen sie eindrucksvoll, welche Sorgfalt in der Stimmpflege und -bildung man Demosthenes zutraute.176 Der Redner, der als der personifizierte Sieg einer unablässigen Übung und Anstrengung über schlechte Naturanlagen gilt, soll dem Schauspieler Neoptolemos 10000 Drachmen gegeben haben, damit er ihm beibringe, wie man ganze Perioden mit nur einem Atemzug sprechen könne. Zudem soll Demosthenes mit Steinchen im Mund seine Aussprache trainiert haben.177 Durch das Deklamieren beim schnellen Ersteigen von Anhöhen stärkte er seine Atmung. Ein knapp über die Schultern gehängtes Schwert sollte das Hochziehen der Schultern verhindern, was nach KRUMBACHER (1920), S. 27 weniger darauf abzielte, einen Fehler im Gestus zu beheben, als vielmehr die durch das Schulterhochziehen angezeigte Schlüsselbeinatmung vermeiden und zu einer Zwerchfell-Flanken-Atmung führen sollte.178 Nach einem Zeugnis Ciceros in De oratore (1,251) führten die griechischen Tragöden ihre Stimmübungen täglich im Sitzen und Liegen durch, wohl weil sich im Liegen die kombinierte Zwerchfell-Flanken-Atmung gut üben lässt, die für die Stimme am besten ist.179 Apuleius (flor. 17,8) weiß, dass die Tragödienschauspieler täglich laut vortragen müssen (proclamare), da sonst der Glanz ihrer Luftröhren verkümmert (claritudo arteriis obsolescit). Den hohen Stand der gesanglichen Stimmbildung in römischer Zeit belegen u. a. der sogenannte Bellermannsche Anonymus (1841 herausgegeben von Friedrich Bellermann) und Aristides Quintilianus.180 Kaiser Nero, der 175 Zu Demosthenes’ Übungen im Reden vgl. BLASS (21893), S. 20–25 und zuletzt LEHMANN (2004), S. 62. Siehe auch die Erläuterungen zu Quint. inst. 11,3,54 (zum Ersteigen der Anhöhen und den Kieselsteinen in Mund). Eine tabellarische Übersicht über die Demosthenes-Anekdoten und ihre Erwähnungen in der rhetorischen Literatur bietet FANTHAM (1982), S. 262. Vgl. auch FREDAL (2001), S. 257 f. 176 Zum Wahrheitsgehalt vgl. KRUMBACHER (1920), S. 25–28, der nur die bei Plutarch (Dem. 11) durch Demetrios von Phaleron bezeugten Anekdoten für echt hält. 177 Schon aufgrund der Gefahr, solche Steinchen bei den Artikulationsübungen zu verschlucken, würde man derartige Übungen heute nicht mehr durchführen. Man verwendet heutzutage bei Stimmübungen aber Korken zwischen den Zähnen. 178 Krumbachers Ansicht wird auch von der modernen Stimmbildung unterstützt, siehe PEZENBURG (2007), S. 32: »isoliertes Hochziehen von Brustkorb und Schultern bei der Einatmung« (wie zunächst bei Demosthenes) ist das Zeichen der Schulter- oder Schlüsselbeinatmung. Bei der zu bevorzugenden Zwerchfell-Flanken-Atmung hingegen vergrößert und bewegt sich v. a. der Thorax. Vgl. Exkurs 1. 179 Vgl. KRUMBACHER (1920), S. 84 und GÖTTERT (1998), S. 52. 180 Vgl. KRUMBACHER (1920), S. 75–81. Beide Zeugnisse sind zeitlich schwer einzuordnen. Aristides Quintilianus verfasste sein Werk nach Cicero und vor Martianus Capella.

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allerdings nicht Redner, sondern Kitharöde sein wollte, orientierte sich nach dem Zeugnis Suetons (Nero 20) bei seinen Stimmübungen an den Kitharöden, v. a. an einem gewissen Terpnos. Er habe alles unternommen, was diese Künstler auch taten, um die Stimme zu erhalten oder zu fördern (vel conservandae vocis causa vel augendae). Also habe er sich im Liegen eine Bleiplatte auf die Brust gelegt, wodurch er eine Methode gezeigt habe, wie man seine Stimme stärken könne (alendis vocibus181 demonstravit rationem, Plin. nat. 34,166). Das Gewicht auf der Brust sollte, indem es eine Bewegung der Brust verhinderte, wahrscheinlich die Ausdehnung der unteren Lungenpartien fördern und die Zwerchfell-Flanken-Atmung aktivieren.182 Mit Hilfe von Klistieren und Erbrechen habe Nero seinen Körper entleert – wohl vor den Stimmübungen und Auftritten. Als Spezialisten für Stimmbildung in der Kaiserzeit, die Rednern und Sängern Unterricht in Gesang und Deklamation erteilten, gelten in der modernen Forschung auch die phonasci.183 Im Griechischen sind die Begriffe φωνασκεῖν und φωνασκία schon seit Platon belegt.184 Das Verb φωνασκεῖν heißt dort aber »seine Stimme trainieren« (vgl. LSJ, s. v. φωνασκέω). Es wird allgemein über Leute gesagt, die ihre eigene Stimme zu verschiedenen Zwecken ausbilden. So werden in Arist. probl. 901b1–2 unter denen, die ihre Stimme üben (τοὺς φωνασκοῦντας), »Schauspieler, Choreuten und die anderen derartigen Menschen« (οἷον ὑποκριτὰς καὶ χορευτὰς καὶ τοὺς ἄλλους τοὺς τοιούτους) genannt. Die entsprechende Stimmübung heißt φωνασκία. Sie wird von früh morgens an und nüchtern durchgeführt (Arist. probl. 901b3: ἕωθέν τε καὶ νήστεις ὄντας τὰς μελέτας ποιουμένους). Ihr Ziel ist die »Übung, Bildung und Vervollkommnung der Stimme«.185 Beide Begriffe können sich auch konkret auf die rhetorische Stimmübung beziehen. In rhetorischem Zusammenhang finden sich die Wörter z. B. in Demosthenes’ Reden, wenn dieser seinem Kontrahenten Aischines dessen Stimmtraining vorwirft.186 Aischines’ Stimme sei gut trainiert (πεφωνασκηκώς, Dem. de cor. 308), er übe sein elendes Gerede auch stimmlich ein (λογάρια δύστηνα μελετήσας καὶ

181 Der Plural voces bezieht sich auf die Stimmen mehrerer anderer Leute. Nero zeigt, wie ein jeder seine Stimme stärken kann. 182 Vgl. KRUMBACHER (1920), S. 84 und GÖTTERT (1998), S. 83 sowie Exkurs 1. 183 So z. B. KRUMBACHER (1920), S. 100 f., SCHMIDT (1941) und CALBOLI (2000). Nach KUDLIEN (1963), S. 2257 pflegten die phonasci wohl Kontakt mit Ärzten und stellten somit ein Bindeglied zwischen der professionellen Medizin und der Sprechpraxis der Redner, Schauspieler und Sänger dar. 184 Vgl. STROH (2003), S. 18. 185 SCHMIDT (1941), Sp. 522. 186 Zur Stimme in den Reden des Demosthenes und des Aischines siehe Kapitel 3.1.1.

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φωνασκήσας, Dem. de fals. leg. 255) und benutze das Gericht nur als Forum, um seine Stimmfähigkeiten, das Ergebnis des Stimmtrainings, zur Schau zu stellen (δοκεῖς λόγων ἐπίδειξίν τινα καὶ φωνασκίας βουλόμενος ποιήσασθαι τοῦτον προελέσθαι τὸν ἀγῶνα, Dem. de cor. 280). In diesem rhetorischen Zusammenhang bezeichnen φωνασκεῖν/ φωνασκία also explizit das rhetorische Stimmtraining, ähnlich der späteren römischen declamatio. Eine Personengruppe der φωνασκοί ist bei Demosthenes allerdings noch nicht erwähnt. Im Griechischen gibt es diesen Begriff erst ab dem späteren 1. Jh. n. Chr. bei Clemens Romanus und z. B. bei Soranos und Epiktet. Er bedeutet dann »Stimmvirtuose«, bezeichnet also – wie oben die Partizipien von φωνασκεῖν – jemanden, der seine eigene Stimme trainiert.187 Für den »Stimmtrainer« gibt es den seltenen und erst deutlich nach dem 1. Jh. n. Chr. belegten Begriff φωνασκικός, der von dem entsprechenden Adjektiv abgeleitet ist.188 Soweit zu den griechischen Begriffen. Der lateinische Begriff phonascus ist erst von der römischen Kaiserzeit an und nur bei drei Autoren belegt, bzw. bei vieren, wenn man eine Konjektur bei Tacitus (ann. 14,15,4) akzeptiert. Bei Quintilian bezeichnet phonascus jemanden, der selbst seine Stimme trainiert, wie den Sänger oder Schauspieler. Er grenzt die Bemühungen der phonasci von denen der Redner ab und nicht von denen der Rhetoren (Quint. inst. 11,3,19–23). Schon in inst. 2,8,15 wird der orator mit dem phonascus verglichen, nicht der rhetor. Der Redner müsse verschiedene Redestile beherrschen, so wie der phonascus, also der, der seine eigene Stimme trainiert, alle Tonlagen beherrschen muss. Diese Verwendung des Wortes stimmt also bei Quintilian mit dem griechischen Sprachgebrauch von φωνασκός überein.189 Anders ist die Verwendung des Wortes phonascus allerdings bei Tacitus190, Sueton191 und Sido-

187 Vgl. die bei Kühn abgedruckte lateinische Übersetzung von φωνασκός als cantor in Galen, de san. tuenda (KÜHN [1823] VI), S. 358, Z.16 f. Die Übersetzung »teacher of singing and declamation« im LSJ dürfte durch die dort genannten lateinischen Angaben zu phonascus begründet sein. 188 Vgl. STROH (2003), S. 11, Anm. 20. Siehe z. B. Porph. in Ptol. Harmon., ed. DÜRING (1932), S. 26,13–15: ἦσαν δ᾽ οἵ τε ὀργανικοὶ ἰδίως τοιοῦτοι καὶ οἱ φωνασκικοὶ καὶ ἁπλῶς ὅσοι ἔτι καὶ νῦν συνήθως τῇ ἀλόγῳ τριβῇ λέγονται χρῆσθαι. 189 Vgl. STROH (2003), S. 11, Anm. 20. 190 Tac. ann. 14,15,4: postremus ipse (sc. Nero) scaenam incedit, multa cura temptans citharam et praemeditans adsistentibus ph(on)ascis. Allerdings ist phonascis hier eine Konjektur von Muretus (angesichts des überlieferten facies), die er aus Suet. Nero 25 ableitet. 191 Suet. Nero 25: … ut conservandae vocis gratia neque milites umquam, nisi absens aut alio verba pronuntiante, appellaret neque quicquam serio iocove egerit, nisi astante phonasco, qui moneret parceret arteriis ac sudarium ad os applicaret. Suet. Aug. 84: Pronuntiabat dulci et proprio quodam oris sono dabatque assidue phonasco operam.

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nius Apollinaris192. Dort ist wirklich der Stimmtrainer gemeint (gr. φωνασκικός). Wie der rhetor (gr. »Redner«) von den Römern zum »Redelehrer« gemacht wird, wird offenbar auch der phonascus (gr. »Trainer der eigenen Stimme«) zum Stimmtrainer anderer gemacht.193

2.3 Die medizinische Stimmübung: ἀναφώνησις/anaphonesis Die Pflege der Stimme sollte nicht nur deren eigener Erhaltung dienen, sondern wurde darüber hinaus in engen Zusammenhang mit der Gesundheit des gesamten Körpers gesetzt. Dass ein falscher Stimmeinsatz die Gesundheit gefährdet, hat schon Cicero erfahren. Er berichtet im Brutus von sich, dass der Hauptantriebspunkt für seinen Aufenthalt in Kleinasien die Korrektur seiner Vortragsweise war, zu der ihm auch Ärzte dringend rieten (Brut. 314).194 Er beanspruchte seine körperlichen Kräfte zu stark (laterum magna contentio, Brut. 313) und sprach ununterbrochen mit voller Kraft unter Anspannung des ganzen Körpers (vi summa vocis et totius corporis contentione, Brut. 313). Bei seiner Konstitution und dieser Sprechweise hätte er den Rednerberuf bald aufgeben müssen.195 Stattdessen strebte er, um der Gefahr für die Gesundheit zu entgehen, eine Stimmführung an, die sich durch Entspannung und Mäßigung (remissio et moderatio vocis, Brut. 314) auszeichnete. Tatsächlich hat die Stimmbildung durch die kleinasiatischen Rhetoren, besonders durch Molon, ihre Wirkung gezeigt (Brut. 316).196 Ciceros allzu starke Anspannung der Stimme (contentio nimia vocis) legte sich und sein Körper wurde kraftvoller (lateribusque vires et corpori mediocris habitus accesserat). Diese Sprechweise war somit deutlich weniger schädlich für seine Gesundheit als die vorherige.197 192 Sidon. epist. 1,2,9: sic tamen quod illic nec organa hydraulica sonant nec sub phonasco vocalium concentus meditatum acroama simul intonat. 4,11,6 (13): psalmorum hic modulator et phonascus. 193 Vgl. STROH (2003), S. 11, Anm. 20. 194 Nach Plutarch Cic. 3,6–7 handelte es sich dabei nur um einen vorgeschobenen Grund. Zwar hatte Cicero wirklich gesundheitliche Schwierigkeiten und eine gesundheitsgefährdende Sprechweise – seine Stimme sei nämlich zwar laut und gut (φωνὴ πολλὴ μὲν καὶ ἀγαθή) gewesen, aber auch hart und ungeformt (σκληρὰ δὲ καὶ ἄπλαστος) sowie immer in den hohen Tönen befindlich (ἀεὶ διὰ τῶν ἄνω τόνων ἐλαυνομένη). Der wirkliche Grund für die Reise nach Griechenland sei aber die Furcht vor Sulla nach seiner Rede Pro Sexto Roscio Amerino gewesen, in der Cicero dessen Gefolgsmann Chrysogonus angegriffen hatte. Vgl. dazu auch CALBOLI (1984), S. 23 f. 195 Vgl. KLINGNER (1964), S. 547. 196 Vgl. ebd., S. 553. 197 Vgl. ebd., S. 555.

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Darüber hinaus setzte man das Wissen um die enge Verbindung von Stimme und Körper auch zur Förderung der Gesundheit des ganzen Körpers ein. Lesen und Sprechen, das Verwenden der Stimme, wurden dabei stark als physische Prozesse, als Arbeit des Körpers gesehen.198 Schon Aristoteles verstand in der Politik (1336a34–39) das Weinen und Schreien der Kinder als Gymnastik zur Stärkung der Atem- und Stimmorgane und wollte daher auch nicht, dass man es ihnen verbiete.199 Ein besonderes Interesse an der Stimme und ihren Problemen zeigt sich dann v. a. in den Zeugnissen des ersten nachchristlichen Jahrhunderts.200 Nach Plutarch (mor. 130A) ist der tägliche Gebrauch der Stimme bereits eine wunderbare Übung (γυμνάσιον).201 Sie mache ganz allgemein gesund und stark (οὐ μόνον πρὸς ὑγίειαν ἀλλὰ καὶ πρὸς ἰσχύν) und eigne sich gut für Gelehrte (φιλόλογοι).202 Darüber hinaus sollte die Stimmtätigkeit bei Krankheiten aller Art therapeutisch verwendet werden.203 Plutarch (mor. 130B-C) beschreibt als Stimmübung das ununterbrochene Sprechen mit starker Stimme (φωνή ῥωννυμένη), wobei die Stimme, die eine Bewegung des Atems sei (τοῦ πνεύματος κίνησις), ihre Kraft in der Lunge empfangen soll. Durch diese Übung werde die Körperwärme erhöht, das Blut verdünnt und würden die Adern sowie die Verdauungsorgane gereinigt. Zu laute Ausrufe und zu starke Anspannung des Atems müssten aber vermieden werden. Celsus empfiehlt Lesen mit heller Stimme als Leibesübung (clara lectio, 1,2,6) und als Heilmittel gegen Magenbeschwerden (si quis vero stomacho laborat, legere clare debet et post lectionem ambulare, 1,8,1) und Verdauungsprobleme (prodest etiam adversus tardam concoctionem clare legere, deinde ambulare, 1,8,3) sowie lautes Lesen (lectione uti vehementi, 4,10,1) gegen Husten. Ähnlich kennt Seneca (epist. 78,5) das laute Lesen (ut legas clarius) als Mittel gegen starken Schnupfen und leichtes Fieber (destillationes crebrae et febriculae). Plinius d. Ä. nennt die intentio vocis, das Sprechen mit lauter (und hoher) Stimme, neben bspw. körperlicher Betätigung, Salben, Enthaltsamkeit und Bädern als allgemeines Arzneimittel (medicina, nat. 28,53). Für die bewusste Stimmübung als medizinische Maßnahme verwendete man auch den Begriff ἀναφώνησις/anaphonesis. Das Wort ist im Griechi198 Vgl. GLEASON (1995), S. 90. 199 Vgl. KRUMBACHER (1920), S. 54. 200 Siehe auch KUDLIEN (1963), S. 2257 f. 201 Vgl. zu dieser Plutarch-Stelle in De tuenda sanitate praecepta auch die Anweisungen des Auctor ad Herennium zur Erhaltung der Stimmausdauer in Rhet. Her. 3,12,21 (Kapitel 4.1.3). 202 Die Stimmübungen eigneten sich, so hieß es, auch besonders für Menschen mit wenig Zeit für aufwendige Gesundheitspflege. Siehe GLEASON (1995), S. 87. 203 Vgl. KASSEL (1911), S. 161.

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schen erst seit dem 1. Jh. n. Chr., ab dann aber auch häufig belegt, im Lateinischen kommt es nur bei Fortunatian und bei Caelius Aurelianus in medizinischem Kontext vor.204 Das Nomen ἀναφώνησις wird abgleitet vom Verb ἀναφωνέω, das in der Grundbedeutung »laut rufen«205 heißt. Die Bedeutung in medizinischem Kontext »seine Stimme üben/pflegen« kommt wohl daher, dass medizinische Stimmübungen mit einer gewissen Lautstärke und intensivem Einsatz der Stimme verbunden waren, wie schon die gerade genannten Empfehlungen von Plutarch, Celsus, Seneca und Plinius d. Ä. zeigen. Die Hauptquellen zur Stimmübung als therapeutischer Maßnahme der antiken medizinischen Gymnastik sind der Internist Aretaios (1. Jh. n. Chr.), Soranos (um 100 n. Chr.) und Antyllos (2. Jh. n. Chr.).206 Bei Aretaios ist der Begriff ἀναφώνησις zum ersten Mal belegt.207 Er definiert sie in 8,13,10 (= CMG II S. 170,1–2) als die passende Übung des Atems (τοῦ πνεύματος γυμνάσιον τὸ καίριον). Aretaios empfiehlt Stimmübungen bei Magenbeschwerden, Verdauungsstörungen und vegetativen Dystonien. Im Rahmen einer lockernden Gymnastik werde das Pneuma geregelt, ebenso das Verhältnis von äußerer und innerer Luft sowie die Atembewegung. Soranus nennt die ἀναφώνησις gemeinsam mit der ἀνάγνωσις, dem lauten Lesen, als Therapie.208 Er rät zu Stimmübungen im Rahmen von Gymnastik gegen weibliche »Schwäche«, wie sie z. B. bei Schwangerschaftsübelkeit vorkommt.209 Allerdings führe eine zu starke Beanspruchung der weiblichen Stimme zur Virilisierung.210 Unter dem Namen des Antyllos schließlich sind drei Texte zur ἀναφώνησις bei Oribasius (coll. med. 6,8–10 = CMG VI 1,1 S. 159–164) überliefert, die die wichtigsten Zeugnisse darstellen und der Reihe nach besprochen werden sollen.211 Während die ersten beiden, kürzeren Stücke 204 Auch bei Fortunatian ist der Kontext eher ein medizinischer als ein rhetorischer, da er in seinem Kapitel De pronuntiatione, bevor er zu den eigentlich rhetorischen Anweisungen (rhet. 3,19–20 p. 132,1–133,2; vgl. Kapitel 3.3.2) kommt, zunächst ausführlich über die Stimmpflege spricht (rhet. 3,15–18 p. 130,14–131,29; vgl. Kapitel 2.2.1). 205 Vgl. LSJ, s. v. ἀναφωνέω 1: »call aloud, shout«. 206 Vgl. KUDLIEN (1963), S. 2258. 207 Vgl. STROH (2003), S. 15. Die einzelnen Stellen bei Aretaios sind neben der genannten: 7,3,8 (= CMG II S. 150,31). 8,7,6 (= CMG II S. 166,27). 208 Soranos empfiehlt beide Übungen gemeinsam in 1,49.54; 3,28. Vgl. ähnlich Plut. mor. 130C. 209 Für Soranos vgl. die vierbändige Ausgabe von BURGUIÈRE u. a. (1988–2003) mit Index in Band 4. 210 Zu den (medizinischen) Stimmübungen für Frauen, die v. a. von Soranos beschrieben werden, siehe GLEASONS (1995) gendertheoretisch ausgerichtete Ausführungen (S. 94–98). 211 Vgl. auch GLEASON (1995), S. 88–91 und (etwas unübersichtlich) ROUSSELLE (1983), S. 151–154.

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(coll. med. 6,8 und 6,9) tatsächlich Antyllos zugeordnet werden können, handelt es sich bei dem dritten und deutlich längsten (coll. med. 6,10) um die Arbeit eines anonymen Autors, wohl eines Arztes aus der Kaiserzeit.212 Im ersten dieser drei Texte (coll. med. 6,8) wird die ἀναφώνησις eingeführt als Übung des Thorax und der Stimmorgane (γυμνάσιον μέν ἐστι θώρακος καὶ τῶν φωνητικῶν ὀργάνων ἀναφώνησις). Sie werde sowohl zur Erholung der ermüdeten Stimme als auch des gesamten Körpers eingesetzt. Im zweiten Text bei Oribasius (coll. med. 6,9) wird unter dem Stichwort ὁ τῆς ἀναφωνήσεως τρόπος u. a. eine Übung beschrieben, die sich auch in lateinischen Schriften beim Thema Stimmtraining finden lässt. Man solle die Stimme bei den tiefsten Tönen beginnend zu den höchsten hinauf- (ἀνάγειν) und sie anschließend wieder hinabführen.213 Diese Übung, die im Folgenden Auf- und Abstiegsübung genannt wird, beschreiben auch Cicero, Seneca rhetor, sein Sohn Seneca, Quintilian, Fortunatian und Martianus Capella, deren Aussagen dazu hier zunächst vorgestellt werden. In De oratore (1,251) nennt Antonius eine Technik der (griechischen) Tragöden, die ihrer Stimme ihre ganze Aufmerksamkeit widmen (voci servire). Dabei handelt es sich um eine täglich durchgeführte Übung direkt vor und nach einem Auftritt. Vor dem Auftritt lassen sie ihre Stimme im Liegen (cubantes) stufenweise (sensim) ansteigen (excitare). Nach dem Auftritt (cum egerunt) führen sie ihre Stimme im Sitzen (sedentes) vom höchsten Ton wieder zum tiefsten zurück (ab acutissimo sono usque ad gravissimum sonum recipiunt et quodam modo colligunt). In seiner Kritik des Redners Latro (Sen. rhet. contr. 1 praef. 16)214 erwähnt Seneca rhetor auch, dass dieser nichts für seine Stimme tue (nihil vocis causa facere). Als eine Übungsform der Stimme (vox exercenda), die Latro nicht durchführt, wird die Auf- und Abstiegsübung genannt. Latro lässt die Stimme nicht stufenweise (per gradus) allmählich (paulatim) vom tiefsten zum höchsten Ton (ab imo ad summum) ansteigen und in der Gegenbewegung vom Punkt der höchsten Anstrengung (a summa contentione) gleichmäßig (paribus intervallis) sinken (descendere). In seinem 15. Brief an Lucilius lehnt Seneca übertriebene Pflege für den Körper ab. Er empfiehlt nur leichte und kurze körperliche Übungen (exerci212 Vgl. SCHÖNE (1930), S. 94–96. 213 STROH (2003), S. 16 vermutet, ausgehend von dieser Stelle, dass in dieser Auf- und Abstiegsübung der Ursprung des Wortes ἀναφώνησις liegt, also dass diese Technik zuerst ἀναφώνησις hieß und der Begriff dann als pars pro toto auf alle Stimmübungen übertragen worden ist. Dagegen spricht allerdings das Kapitel coll. med. 6,10 (s. u.), wo genau diese Aufund Abstiegsübung implizit aus der ἀναφώνησις ausgeschlossen wird, indem der Autor von hohen Tönen und melodischem Sprechen abrät. 214 Vgl. Kapitel 2.2.1.

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tationes et faciles et breves, Sen. epist. 15,4), die zudem kunstlos und einfach sein sollen (usus rudis, facilis). Die intentio vocis, die Anstrengung der Stimme, gesteht er Lucilius noch zu (nec tu intentionem vocis contempseris, epist. 15,7). Darunter ist wohl die Form der Stimmpflege zu verstehen, bei der mit lauter Stimme gesprochen wurde. Sie dient der Pflege des Körpers. Die Auf- und Abstiegsübung ([vocem] per gradus et certos modos extollere, deinde deprimere) verbietet er Lucilius aber. Seneca möchte nämlich nicht (epist. 15,8), dass die Stimme selbst geübt wird (ut exerceatur vox), was bei dieser Technik der Fall wäre, sondern dass die Stimme uns trainiert und übt (ut exerceat). Die Auf- und Abstiegsübung wird hier also deutlich als Übung der Stimme für die Stimme gekennzeichnet. Quintilian grenzt in inst. 11,3,22 die Stimmpflege der Gesangsvirtuosen von der der Redner ab.215 Die spezielle Auf- und Abstiegsübung wird dabei als eine Technik der phonasci beschrieben, für die die Redner aufgrund ihrer größeren sozialen Verpflichtungen keine Zeit haben: nec praeparare ab imis sonis vocem ad summos nec semper a contentione condere licet, cum pluribus iudiciis saepe dicendum sit. Der Redner kann seine Stimme nicht vorbereiten, indem er sie von den tiefsten Tönen zu den höchsten führt und sie, was dann notwendig wird, auch immer wieder zu den tiefen zurückführt. Nur Fortunatian unter den römischen Autoren gebraucht im Zusammenhang mit dieser Technik den Begriff anaphonesis (rhet. 3,15 p. 130,15).216 Er führt die Auf- und Abstiegsübung als eine Technik unter mehreren Maßnahmen der anaphonesis an. Nach Fortunatian erreicht man durch die anaphonesis eine vox clara, eine deutliche Stimme. Diese Form der Stimmpflege (cura) kräftige (alere) die Stimme. Neben dem Spazierengehen zwecks guter Verdauung nennt Fortunatian dabei eben auch diese Übung: ut sedentes versus paucos pronuntiemus lenta et gravi voce, deinde per gradus paulatim extollamus, ut quantum potest surgat; tunc rursus per eosdem gradus eam paulatim revolvamus, donec sine damno ad murmur usque perveniat (rhet. 3,16 p. 130,27–30). Diese Übung wird – anders als die der Tragöden nach Cic. de orat. 1,251 – ganz im Sitzen durchgeführt. Man spricht zunächst einige Verse mit leiser (vgl. ThlL, s. v. lentus S. 1165,21 ff. und Mart. Cap. 5,542) und tiefer Stimme. Dann steigert man die Stimme wohl sowohl in Lautstärke als auch in Tonhöhe. Schließlich kehrt man zum murmur zurück, also zum leisen Sprechen, das zudem auch tief ist. Martianus Capella (5,542) fasst die ihm vorliegenden Beschreibungen dieser Technik zusammen und ordnet sie der Stimmpflege zu: ad curandam autem vocem plerique pertinere dixerunt, ut sedentes paucissimos versus 215 Vgl. den Kommentar zu Quint. inst. 11,3,22 (in Kapitel 4.2.2). 216 Zu Fortunatians Anweisungen zur Stimmpflege vgl. Kapitel 2.2.1, zu seinen rhetorischen Anweisungen zur Stimme vgl. Kapitel 3.3.2.

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lenta et gravi (wie bei Fortunatian) proferant voce, deinde per gradus paulatim (wie bei Seneca rhetor und Fortunatian) erigant sonum, per eosdemque gradus recolligatur (ähnlich wie bei Cicero) oratio, quo sine damno ad murmur (wie bei Fortunatian) usque perveniat. Aus diesen Zeugnissen geht hervor, dass die Auf- und Abstiegsübung speziell auf die Pflege bzw. das Training der Stimme, nicht etwa auf die Pflege des gesamten Körpers oder der Gesundheit (Sen. epist. 15,8), ausgerichtet war.217 Sie wurde daher v. a. von Berufsgruppen betrieben, deren Stimme stark beansprucht wurde, insbesondere vor oder nach Auftritten. Dazu zählen Schauspieler (Cic. de orat. 1,251) und phonasci, Sänger (Quint. inst. 11,3,22). Für den Redner wird die Auf- und Abstiegsübung teils empfohlen (Sen. rhet. contr. 1 praef. 16, Fortun. rhet. 3,16 p. 130,26–30, Mart. Cap. 5,542), teils abgelehnt (Cic. de orat. 1,251, Quint. inst. 11,3,22). Nur bei Fortunatian (und im bereits erwähnten Zeugnis des Antyllos in coll. med. 6,9,5) wird die Auf- und Abstiegsübung im Rahmen der als solcher namentlich genannten ἀναφώνησις/anaphonesis behandelt. Sie wird aber auch dort nicht mit ihr gleichgesetzt. Dieses Ergebnis, dass es sich bei der Auf- und Abstiegsübung nicht um eine ganzheitlich medizinische Übung handelt, wird auch bestätigt durch den dritten und letzten bei Oribasius überlieferten Text zur ἀναφώνησις (coll. med. 6,10). Der anonyme Autor dieser ausführlichsten medizinischen Erläuterung zur ἀναφώνησις nimmt die Auf- und Abstiegsübung nämlich nicht in seine Anweisungen zur Stimmübung, die bei ihm ausschließlich auf die Gesundheit des Körpers zielt, mit auf.218 Sein Kapitel ist in sich geschlossen und nicht gekürzt.219 Es richtet sich an Lernende, an Stimmübende, nicht an Lehrer oder Trainer.220 Bei seiner Form der Stimmübung zielt alles darauf ab, möglichst viel Luft in den Körper hineinzubringen.221 Denn das Pneuma, das über den Atem und durch die (möglichst weiten) Poren im Körper durch das gesamte Fleisch verteilt wird, halte das Körperfleisch in seinem Idealzustand, es bleibe trocken, warm, dünn und leicht.222 Diese Aufnahme und Verteilung des Pneumas gelinge besonders gut, wenn in tiefen Tönen gesprochen wird. Hohe Töne sollten hingegen gemieden

217 SCHÖNE (1930), S. 103 stellt sie daher in den Bereich der Berufsschauspieler und grenzt sie von der »hygienischen« (d. h. rein auf die Gesundheit ausgerichteten) Rezitation ab. 218 Vgl. SCHÖNE (1930), S. 94 und S. 94, Anm. 1. 219 Vgl. ebd., S. 95. Der Gedankengang des Textes ist aufschlussreich nachvollzogen bei GLEASON (1995), S. 89–91, die eine soziologische Interpretation (die richtige Stimmübung sei eng an Männlichkeit gebunden und stabilisiere die Grenzen zwischen den Geschlechtern, siehe v. a. S. 91, 94–101) durchführt. 220 Vgl. SCHÖNE (1930), S. 100. 221 Vgl. ebd., S. 103. 222 Vgl. GLEASON (1995), S. 85.

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Die medizinische Stimmübung

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werden, weil dabei Hals und Genick verengt würden und so weniger Luftaufnahme ermöglicht werde (6,10,6–7). Melodisches Sprechen (εὐμέλεια) – wozu auch die Auf- und Abstiegsübung letztlich gehört223 – und eine gute Stimme (χρηστοφωνία) nützten der Gesundheit des Körpers nicht.224 Durch das richtige Stimmtraining bei tiefen Tönen aber würden die Poren geweitet (6,10,14–15), durch die so erreichte Belüftung des Körpers würden auch der richtige Flüssigkeitsgehalt (6,10,17–18) und der richtige Wärmegrad (6,10,19) erreicht. Auch in späterer Zeit finden sich noch Empfehlungen zur medizinischen Stimmübung. Der anonyme Autor von De morbis acutis et chroniis, der sogenannte Anonymus Parisinus, schreibt in römischer Zeit, aber vor Galen. Er empfiehlt die ἀναφώνησις gegen Kolik (15,3,11), Melancholie (19,3,4) und Gonorrhea (47,3,9). Auch noch um 400 n. Chr. im Werk von Caelius Aurelianus über akute und chronische Krankheiten finden sich Verweise auf die anaphonesis. Sie ist bei ihm eine Übung der Stimme (de exercenda voce, Cael. Aur. chron. 1,5,164), die therapeutisch gegen Krankheiten eingesetzt wird und als etwas Griechisches bezeichnet wird (vocis … exercitium …, quod Graeci anaphonesin vocant, chron. 1,1,37). Sogar beim Verlust der Stimme (vocis amputatio225) helfen u. a. Stimmübungen unter Anweisung eines Lehrers (chron. 2,6,93). In der ausführlichsten Passage zum Thema (chron. 1,5,164) wird zudem eine Stimmübung unter der anaphonesis subsumiert, die v. a. aufgrund der von Caelius Aurelianus verwendeten Begriffe (z. B. narratio, epilogus) rhetorisch anmutet. Wenn man in der Therapie gegen den furor, gr. mania, bereits Fortschritte erzielt habe, solle der Patient folgende Stimmübung machen: er soll zunächst am Anfang (principia) leise sprechen (leni voce), dann den Mittelteil (narratio et demonstrationes) kraftvoll-angespannt und lauter (extenta226 atque maiore [voce]), und schließlich am Ende (epilogus) wieder leise und sanft (demissa et indulgenti [voce]). Dies erinnert an die oben beschriebene Auf- und Abstiegsübung, die ja auch als Teil der ἀναφώνησις/anaphonesis bezeichnet werden kann. Wenn sich auch die Begrifflichkeit hier an rhetorischem Vokabular orientiert, ist dennoch sicher keine rhetorische Stimmübung gemeint, was auch aus den Anweisungen zum Epilog hervorgeht. Vielmehr handelt es sich um eine medizinische Übung, die mittels der Stimme den Patienten heilen will und nicht seine Stimme trainieren. 223 Vgl. ebd., S. 89. 224 Vgl. dazu auch die Ablehnung der hohen Töne und der melodischen, abwechslungsreichen Modulation in 6,10,23. 225 vocis amputatio ist bei Caelius Aurelianus ein üblicher Begriff für das Versagen der Stimme, vgl. acut. 2,10,69. 3,2,8. 3,5,49. 226 Über extentus in akustischem Zusammenhang vgl. ThlL, s. v. extendo S. 1979,59 ff. Ein Ton voller Spannung ist v. a. laut.

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Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Begriff ἀναφώνησις/anaphonesis zwar nicht fest definiert war und auch nicht einheitlich verwendet wurde. Er bezeichnet aber immer Übungen der Stimme, des Atems und der am Sprechen beteiligten Organe vor einem medizinischen Hintergrund. Diese Übungen zielen in der Regel auf das Wohlbefinden des gesamten Körpers. Speziell auf die Pflege der berufsbedingt strapazierten Stimme ausgerichtet ist die Auf- und Abstiegsübung der Stimme, die zur ἀναφώνησις/ anaphonesis gehören kann (so in coll. med. 6,9 und bei Fortunatian), aber nicht muss (so in coll. med. 6,10). Somit ist die ἀναφώνησις/anaphonesis weder mit vociferatio (so Krumbacher [1920], S. 105) noch mit declamatio (so Bonner [1949], S. 20, Anm. 3 und Gleason [1995], S. 88, Anm. 38) gleichzusetzen. Die vociferatio, das laute Reden, kann eine Technik der ἀναφώνησις/anaphonesis unter mehreren sein. Die declamatio in ihrer ursprünglichen Bedeutung als rhetorische Stimmübung hat nicht Pflege oder Vorbereitung der Stimme als Ziel, sondern die Schulung der Stimme, v. a. der Stimmflexibilität.227

2.4 Die Stimme bei den Grammatikern und in der Spätantike 2.4.1 Dionysios von Halikarnassos, Quintilian, die Grammatici Latini

Das Interesse der Grammatiker an der Stimme bezieht sich hauptsächlich auf die Artikulation, auf die (richtige) Aussprache der Einzellaute. Als Erster befasst sich im großen Zusammenhang der Frage nach dem schönen Klang mit dem Thema Artikulation im 1. Jh. v. Chr. Dionysios von Halikarnassos in De compositione verborum 14.228 Er teilt die 24 Buchstaben des griechischen Alphabets in drei Gruppen ein und gibt phonetische Regeln zu ihnen: in die Vokale (φωνήεντα) ε ο η ω α ι υ, die Halbvokale (ἡμίφωνα) λ μ ν ρ σ ζ ξ ψ und die stummen Laute (ἄφωνα), die wiederum unterteilt werden in die kahlen (ψιλά) κ π τ, die rauen (δασέα) θ φ χ, und die zwischen diesen in der Mitte liegenden β δ γ. Die einzelnen Laute unterscheiden sich dabei stark in ihrem ästhetischen Reiz und ihrer Wirkung auf den Hörer. Sie werden als grundlegende Einzelelemente (ἀρχαί) der menschlichen Sprache (hier: φωνή) eingeführt. Die Vokale werden seiner Meinung nach von der Luftröhre (her) hervorgebracht, die durch die Atemluft widerhalle (παρὰ τῆς ἀρτηρίας συνηχούσης τῷ πνεύματι). Für die längeren 227 Vgl. Rhet Her. 3,11,20: Mollitudinem vocis, hoc est, ut eam torquere in dicendo nostro commodo possimus, maxime faciet exercitatio declamationis. Siehe auch STROH (2003), S. 12 f. 228 Zur Einordnung dieser Stelle in Dionysios’ Lehre von der Wortfügung (genauer: der καλὴ σύνθεσις) vgl. POHL (1968), S. 97–99.

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Vokale benötige man mehr Atem als für die kurzen. Bei der Erzeugung der kurzen Vokale gebe es nur einen Schlag der Atemluft (μιᾷ πληγῇ πνεύματος) und eine kurze Bewegung der Luftröhre (τῆς ἀρτηρίας ἐπὶ βραχὺ κινηθείσης). Demnach kannte auch Dionysios eine auf dem Luftschlag basierende Theorie der Stimmerzeugung. Offenbar geht er wie Aristoteles davon aus, dass die Atemluft auf die Luftröhre schlägt, wodurch die Luftröhre bewegt werde und der Laut entstehe.229 Quintilian bespricht im ersten Buch der Institutio oratoria, das der Grammatik gewidmet ist, an verschiedenen Stellen auch die Aussprache. Auf diese Kapitel verweist er später bei seiner eigentlichen Behandlung der vox im Rahmen der actio zurück (inst. 11,3,31).230 In inst. 1,11,4–8 wird die (eigentlich zur Grammatik gehörende) Aufgabe des Komödienschauspielers bei der rhetorischen Erziehung des jungen Schülers beschrieben. Dieser soll v. a. die Fehler in der Aussprache (vitia oris) korrigieren. Die Wörter sollen deutlich artikuliert sein (expressa verba), und auch die Einzellaute (litterae) sollen mit dem ihnen eigenen Klang ausgesprochen werden (suis sonis enuntientur). Mögliche Fehler bei der Aussprache der Einzellaute seien, dass man sie zu dünn (exilitate nimia) oder zu dick (pinguitudine nimia) ausspreche,231 dass man sie nicht scharf genug ausspreche (acriores parum) oder dass man sie mit anderen, ähnlichen Lauten verwechsele, die aber dumpfer seien (quasi hebetiores).232 Die Wörter sollten nicht in der Kehle ertönen (in faucibus audiri) und nicht in der Mundhöhle widerhallen (oris inanitate resonare), also zu starke Resonanz erzeugen.233 Zudem solle der sermo purus gewahrt werden, d. h. ein natürlich einfacher Klang (simplex vocis natura) solle nicht voller gemacht werden, als er ist, so dass er schmierig wirke (pleniore quodam sono circumliniri). Die Endsilben sollten ganz ausgesprochen werden, die Sprache solle gleichmäßig sein (par sermo), und wenn man laut spreche, solle man dafür die Kraft des gesamten Thoraxbereiches einsetzen (lateris conatus), nicht nur den Kopf. Darüber hinaus gehen die Anweisungen, die Quintilian bei der Besprechung der lectio, der Leseübung des angehenden Redners beim Grammatiker, in inst. 1,8,1–3 gibt. Der Schüler lernt dadurch bereits einige Grundlagen auch des rhetorischen Vortrags (inst. 1,8,1):

229 Zu Aristoteles’ Theorie des stimmerzeugenden Schlages der Atemluft gegen die Luftröhre vgl. Kapitel 2.1.2. 230 Vgl. Kapitel 4.2.3. 231 Dies bezieht sich wohl auf Vokale, vgl. COLSON (1924) z. St. Vgl. auch die Erläuterungen zu praepinguis und tenuis in Quint. inst. 11,3,32. 232 Dies bezieht sich auf Konsonanten. Quintilian nennt als Beispiele hierfür ρ und λ, c und t sowie g und d. 233 Vgl. BIVILLE (2001), S. 37.

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superest lectio: in qua puer ut sciat ubi suspendere234 spiritum debeat, quo loco versum distinguere235, ubi claudatur sensus, unde incipiat, quando attollenda vel summittenda sit vox, quid quoque flexu, quid lentius celerius concitatius lenius dicendum, demonstrari nisi in opere ipso non potest. Übrig bleibt noch die Übung im Gedichtvortrag: wie ein Knabe dabei wissen kann, wo er den Atem in der Schwebe halten muss, an welcher Stelle eines Verses er einen Einschnitt machen muss, wo ein Gedanke abgeschlossen wird, wo er beginnt, wann die Stimme gehoben oder wann sie gesenkt werden muss, was mit jeweils welcher Modulation vorgetragen werden muss, was langsamer, was schneller, was erregter, was sanfter, kann nur in der Praxis selbst gezeigt werden.236

Dabei betont Quintilian schon hier (inst. 1,8,2), dass der Vortrag, wenn es sich auch um Dichtung (und noch nicht um eine Prosa-Rede) handelt, nicht – wie es offenbar der zeitgenössischen Mode entsprach – zu stark moduliert sein darf: lectio … non tamen in canticum237 dissoluta nec plasmate238, ut nunc a plerisque fit, effeminata.239 Über diese entartete Vortragsweise beim Lesen soll C. Caesar240 gesagt haben: si cantas, male cantas, si legis, cantas (inst. 1,8,2). Das übermäßige Modulieren bei der Dichterlektüre ist also weder echte Lektüre noch guter Gesang. Zudem verbietet Quintilian ähnlich wie Platon in der Politeia eine zu starke, komödienhafte (ad comicum morem) Nachahmung der unterschiedlichen Personen.241 234 Gemeint ist, dass man nicht nachatmet. Vgl. die Ausführungen zu suspendendus in inst. 11,3,35 (Kapitel 4.2.3). Vgl. AX (2011) z. St.: Gemeint ist »eine Pause im Satzinnern, in der der Atem wegen eines noch nicht vollendeten Sinnzusammenhangs in der Schwebe gehalten wird«. 235 Vgl. die Ausführungen zu distincta in inst. 11,3,35, zu distinguendum in inst. 11,3,36 und distinctio in inst. 11,3,37 (Kapitel 4.2.3). Vgl. AX (2011) z. St.: Gemeint ist »eine Pause am Satzende (distinguere), wo ein Sinnzusammenhang endet (claudatur) und ein neuer beginnt (incipiat)«. Vgl. PARKES (1993), S. 11: Gemeint sei »introduce a pause into a line of verse«. 236 Nach KRUMBACHER (1920), S. 60 schließt Quintilian »demnach in die lectio ein: Atemphrasierung, Verslehre, sinngemäßes Lesen, Sprechmelodie, Stimmodulation, Sprechtempo (lentius, celerius), Affektton (concitatius, lenius)«. 237 Vgl. mit COLSON (1924) z. St. Cic. orat. 57: hic e Phrygia et Caria rhetorum epilogus paene canticum. Zu Cicero vgl. Kapitel 3.2.2. 238 Zu dieser Bedeutung »Stimmmodulation« vgl. ThlL, s. v. plasma S. 2347,68 ff. und AX (2011) z. St. (»affektierte, gekünstelte, übertrieben variierte und kolorierte Intonation«). 239 Zum Verbot des Singens in der Rede vgl. Quint. inst. 11,3,57–60 (Kapitel 4.2.3), insbesondere die Erläuterungen zu vitium cantandi (inst. 11,3,57). Siehe auch die Erläuterungen zu effeminata in inst. 11,3,32 (Kapitel 4.2.3). 240 Nach COLSON (1924), S. 105 und AX (2011) z. St. ist C. Iulius Caesar gemeint, RAHN (31995), S. 117 denkt an Caligula. 241 Zu Platon vgl. Kapitel 3.1.2.

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Die Grammatici Latini behandeln später die vox ganz mit Blick auf die Lautlehre und damit auch auf die Artikulation. Sie wird entweder im Rahmen der litterae besprochen oder in einem eigenen Kapitel, das den litterae vorangestellt ist. Die Grammatici definieren wie die Stoiker die vox als aer ictus (ἀὴρ πεπληγμένος) und als körperlich.242 Bei Donat lautet die vollständige Definition, die leicht variiert erscheinen kann: vox est aer ictus sensibilis auditu, quantum in ipso est (Don. gramm. IV 367,5).243 Die Anknüpfung an die Stoiker wird dabei manchmal auch explizit genannt, z. B. in Diom. gramm. I 420,9 (ut Stoicis videtur) und Prisc. gramm. II 5,1 (ungenauer: philosophi). Am genauesten bespricht Audax den philosophischen Hintergrund der Frage, ob die Stimme körperlich ist oder nicht, und schließt sich den Stoikern sowie Demokrit und Epikur an.244 Dabei wird vox synonym mit sonus verwendet und bezeichnet zunächst jeglichen Laut (von Menschen, Tieren, Instrumenten, Gegenständen).245 Sie wird anschließend immer unterschieden in eine vox articulata und eine vox confusa.246 Die vox articulata ist die Stimme des Menschen, die aus verschiedenen Einzellauten besteht und mittels derer schriftlich dargestellt werden kann. Die vox confusa meint Geräusche, die nicht mittels litterae dargestellt werden können, z. B. lautliche Äußerungen von Tieren. Dabei wird auch der enge Zusammenhang zwischen vox und litterae klar, der bei den Grammatikern sehr wichtig ist. Der einzelne Laut, littera, ist nämlich das kleinste Element der artikulierten menschlichen vox.247

242 Vgl. Kapitel 2.1.4. 243 Der Zusatz quantum in ipso est (gr. ἐφ᾽ ἑαυτῷ) bezieht sich auf sensibilis und bedeutet »soweit es an ihr gelegen ist«/»soweit es auf sie ankommt« (vgl. STROH [1998], S. 448 f.). Anders erklärt AX (2005) und (2006) den Zusatz als »für sich selbst/allein«, »an und für sich«. 244 Vgl. Audax gramm. VII 323,11 ff.: vox corporalis est, an incorporalis? Secundum Stoicos corporalis, qui eam sic definiunt, ut nos in principio respondimus. Plato autem non esse vocem corpus putat: »non enim percussus«, inquit, »aer, sed plaga ipsa atque percussio, id est vox.« Democritus vero ac deinde Epicurus ex indivisis corporibus vocem constare dicunt, corpus autem esse aut efficiens aut patiens. Die Quelle des Audax ist Gell. 5,15 (vgl. Ax [1986], S. 33). 245 Am deutlichsten bei Pomp. gramm. V 99,9–10: vox dicitur quicquid sonuerit, sive strepitus sit ruinae, sive fluvii currentis, sive vox nostra, sive mugitus boum: omnis sonus vox dicitur. Vgl. Prob. inst. gramm. IV 47,2. Serg. gramm. IV 519,14. Max. Victorin. gramm. VI 189,14. Vgl. auch AX (1986), S. 45–51. 246 Siehe z. B. Don. gramm. IV 367,5–7: omnis vox aut articulata est aut confusa. articulata est quae litteris conprehendi potest, confusa quae scribi non potest. Cledon. gramm. V 26,30–32: duo genera sunt vocum, confusa pecorum, quae scribi non potest, articulata hominum, quae legi et scribi potest. 247 So relativ ausführlich bei Serg. gramm. IV 487,9–11: litteris praeponenda vox est ideo, quia non littera elementum tribuit voci, sed vox litteris. … littera enim elementum vocis articulatae.

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Darüber hinaus erfährt die vox eine ausführlichere Behandlung mit zusätzlichen Informationen bei Diomedes248 (Diom. gramm. I 420,9 ff.), Priscian (Prisc. gramm. II 5,1 ff.) und Marius Victorinus (Mar. Victor. gramm. VI 4,17 ff.) bzw. Apthonius249. Mit zwei verschiedenen Formulierungen definiert Diomedes die vox als »Stoß eines dünnen Lufthauches« oder »Schlag von geschlagener Luft«: (vox) fit autem vel exilis aurae pulsu vel verberati250 aeris ictu.251 Die artikulierte menschliche Sprache sei von der Vernunft hervorgebracht (rationalis) und werde mit Hilfe der Wörter klar ausgedrückt (loquellis explanata). Sie werde auch litteralis oder scriptilis genannt, weil sie mit Hilfe der litterae, der Laute bzw. Buchstaben, ausgedrückt werden könne. Die nicht-artikulierten Tiergeräusche seien ohne Vernunft hervorgebracht (inrationalis). Manche würden noch eine weitere Art von vox, nämlich die modulata vox, hinzufügen, über die die Musikinstrumente (wie die tibia252 und das organum253) verfügen. Daran schließt Diomedes eine zweite Einteilung, die von der ersten Einteilung unabhängig ist.254 Einige würden drei verschiedene Bedeutungen von vox (vocis officia) unterscheiden: eloquium, tinnitus und sonus. Die Äußerung des Menschen (eloquium) trage Bedeutung (significatio) und bewirke Verständnis (intellectus). Ein Klirren (tinnitus)255 entstehe durch das Anschlagen (inlisio) eines bearbeiteten Materials (fabricata materia).256 Ein Ton (sonus) entstehe durch das Zusammenstoßen von Körperlichem (corporalis conlisio).257 248 Zu Diomedes insgesamt vgl. DAMMER (2001), der allerdings das Kapitel de voce nicht behandelt. 249 Der bei KEIL abgedruckte Teil stammt nur bis VI 31,16 wirklich von Marius Victorinus, ab dann von Apthonius. Siehe dazu AX (1986), S. 30, Anm. 41. 250 verberare bezeichnet das Schlagen v. a. der Zunge gegen die Atemluft (aer), nicht das Vibrieren (so aber BIVILLE [2001], S. 18, der sich in dieser Annahme und Übersetzung von der modernen Theorie der Stimmerzeugung leiten lässt). 251 Die Formulierung verberati aeris ictus ist aufgrund der Doppelung von verberare und ictus auffällig. Vielleicht unterscheidet Diomedes hier in der Definition, wie auch gleich im Folgenden, die Entstehung eines Tons in der Natur allgemein (exilis aurae pulsu) speziell von der menschlichen Stimme (verberati aeris ictu). 252 Vgl. die Erläuterungen zu ut tibiae (Quint. inst. 11,3,20) in Kapitel 4.2.2. 253 Vgl. die Erläuterungen zu velut organa (Quint. inst. 11,3,16) in Kapitel 4.2.1. 254 Da Diomedes diese zweite Einteilung mit unde anfügt, liegt zunächst eine direkte Abhängigkeit von der ersten Einteilung nahe. Die jeweils zuerst genannten Elemente, vox articulata und eloquium, könnten auch noch einander zugeordnet werden. Für die zweiten und dritten Elemente der Einteilungen gilt das aber nicht mehr. 255 Vgl. die Erläuterungen zu tinnitus (Quint. inst. 11,3,31) in Kapitel 4.2.3. 256 Dieses Klirren kann nicht mit der vox modulata, dem dritten Element der ersten Einteilung, identisch sein, die z. B. von tibia und organum hervorgebracht wird. 257 Der sonus ist somit auch nicht mit der vox confusa, dem zweiten Element der ersten Einteilung, identisch. Zur Diskussion über die Körperlichkeit der Stimme vgl. Gell. 5,15 (in Kapitel 2.1.4).

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Priscian unterscheidet die bedeutungstragende vox articulata, die von der mens dessen, der sie äußert, hervorgebracht wird, von der vox inarticulata und die schriftlich darstellbare vox literata von der vox illiterata. Wie jeder Körper lasse sich auch die vox einteilen in die drei Dimensionen altitudo (Höhe), latitudo (Breite) und longitudo (Länge) (gramm. II 6,17 ff.). Diese Begriffe überträgt er auf die Eigenschaften von einzelnen Silben. Auch bei ihnen spreche man von altitudo (Tonhöhe) mit Bezug auf den tenor, crassitudo/latitudo (Behauchung)258 mit Bezug auf den spiritus und longitudo (Dauer) mit Bezug auf das tempus. Marius Victorinus kennt auch die griechische Terminologie und definiert die Stimme nicht nur als aer ictus, sondern auch als ἀὴρ πεπληγμένος (Mar. Victor. gramm. VI 4,13–14). Auch Apthonius kennt die Schlagtheorie (gramm. VI 32,20 ff.). Jeder Körper, der geschlagen oder gestoßen werde (et omne corpus verberatum et impulsum), gebe ein Geräusch (sonum confusae vocis) von sich, das je nach Art der Schläge unterschiedlich sei (varium ac multiplicem pro qualitate plagarum). Der Ton (sonus) in unserem Mund (in ore nostro) werde durch den jeweils unterschiedlichen Schlag und die Anspannung der Stimme (bzw. Atemluft) gebildet (vocis ictu nisuque formatur). Mit dem nisus (vocis) meint Apthonius offenbar, ähnlich wie Seneca mit der intentio und Galen mit dem τόνος,259 die Anspannung der Atemluft, die Voraussetzung für sonus und vox ist.260 Ausführlich beschäftigen sich mit der Aussprache der einzelnen Laute, ihrer Unterteilung und Beschreibung Terentianus Maurus (De litteris, 85– 278), Marius Victorinus (Mar. Victor. gramm. VI 5,4–7,33 [De litteris] und Apthonius VI 32,17–34,23 [De enuntiatione litterarum]), Isidor (1,3–4) und Martianus Capella (3,233–261).261 Am genauesten und anschaulichsten ist Terentianus Maurus, der sich selbst allerdings nicht zu den grammatici rechnet, in seinem Lehrgedicht De litteris. Bevor er die physiologische Bildung jedes einzelnen Lautes erklärt, schickt er eine allgemeine Einleitung zur Lautbildung voraus (85–110), bei der er Vokale, vocalia (87–88), Kon258 Vgl. Serg. gramm. IV 526,1–3: crassitudo autem in spiritu est, unde etiam Graeci adspirationem appellant: nam omnes voces aut aspirando facimus pinguiores, aut sine aspiratu pronuntiando tenuiores. 259 Vgl. Kapitel 2.1.4 und 2.1.5. 260 Vgl. Apthonius gramm. VI 32,32.33,17.21 sowie Ter. Maur. 97.245 und Serv. gramm. IV 426,19 (im Zusammenhang mit dem Wortakzent). Der nisus der Atemluft kann auf die Zunge übergehen und ihr Spannung verleihen (so Ter. Maur. 113–114 und Apthonius gramm. VI 32,30). Damit ist der nisus, die Spannung der Atemluft bzw. Stimme, etwas anderes als der ictus, der Schlag, der gegen die Atemluft bzw. Stimme ausgeführt werden kann. Anders und ungenau CIGNOLO (2002), S. 251: nisus sei wie ictus »la pressione esercitata nel corso dell’ articolazione di un suono«. 261 Über die Artikulation in der antiken Stimmbildung siehe auch BIVILLE (2001), S. 34– 40. Zur tatsächlichen Aussprache der einzelnen Laute vgl. SEELMANN (1885).

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Die Stimme in der antiken Philosophie, Medizin und Grammatik

sonanten, consona (89–107), Halbvokale, semivocales (92–94) und mutae (95–98) unterscheidet und mit Beispielen versieht (99–107). Jeder Laut bestimme sich durch »seinen Ort im Mund«, der durch die Stellung der Artikulationsorgane bestimmt sei, und dadurch, woher genau er »seine Stöße empfängt«, z. B. durch einen Schlag der Zunge gegen den Gaumen oder die Backenzähne, und von wo aus der Laut »(aus dem Mund) hervorbricht«: nunc singula (sc. elementa) quam possideant in ore sedem,/ ictusque suos concipiant et unde rumpant,/ ut quivero, versu blaterabo sotadeo (108– 110).262 Aus der folgenden Beschreibung der Artikulation der Einzellaute, die ganz untechnisch ist, geht hervor, dass ihm zur Bildung der Laute immer die Stellung der Organe, insbesondere das Zusammenspiel von Lippen, Zunge und Zähnen, die Luft, die den Ton bildet, und die Art und Weise des Ausstoßens der Luft aus dem Mund wichtig sind.263 Trotz aller kleineren Abweichungen präsentiert sich die grammatische Theorie der Stimme in diesen Zeugnissen als relativ einheitlich. Sie ähnelt am ehesten der stoischen Stimmtheorie, wie sie z. B. Balbus in De natura deorum vorstellt.264 Die Stimme wird immer als geschlagene Luft definiert. Dabei wird entweder nicht explizit gemacht, wer schlägt,265 oder die Zunge wird als Instrument des Schlages genannt.266 Das wiederum passt zur Fixierung der Grammatiker auf die Artikulation. Es geht ihnen nicht um die Stimme (im aristotelischen Sinne), sondern um die artikulierte Sprache. Am häufigsten und deutlichsten zeigt sich dies in den Ausführungen der Grammatiker zur Etymologie des Wortes verbum, das sie nämlich von einem Vorgang des Schlagens (verberare) herleiten. Auch hier wird das Schlagende entweder nicht explizit gemacht267 oder es wird die Zunge268 als Schlagendes genannt. Dass die Luft von der Zunge bzw. von der Bewegung der Zunge geschlagen werde und sich daher das Wort verbum ableite, behaupten z. B. Diom. gramm. I 334,5–6 (verbum autem dictum est ab eo quod verberato lingua intra palatum aere omnis oratio promatur), Serv. 262 Vgl. CIGNOLO (2002), S. 254–256. 263 Vgl. BIVILLE (2001), S. 37–39. 264 Vgl. dazu Kapitel 2.1.4. 265 So unspezifisch ist Gramm. suppl. 220,25–26: vox sine ictu fieri non potest; motus igitur causa est ictus, ictus autem causa est vocis. 266 Der ictus linguae wird in Ps. Prisc. gramm. III 519,4–5 und in den im Folgenden aufgeführten etymologischen Herleitungen von verbum erwähnt. 267 Diese wenig explizite Etymologie von verbum findet sich auch schon bei Quintilian (inst. 1,6,34: verba ab aere verberato). Vgl. Serg. gramm. IV 488,22 (quod aerem verberat vox) und ähnlich Consent. gramm. V 367,6. 268 Eine Ausnahme bildet evtl. Pomp. gramm. V 97,7–9, der den Schlag gegen die Luft und die Bewegung der Zunge offenbar auseinanderhält (verberato aere motu linguae fit sonus bzw. motu linguae et verberatione aeris). Vielleicht soll aber der motus linguae auch nur jeweils durch die verberatio aeris erläutert werden.

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Die Stimme bei den Grammatikern und in der Spätantike

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gramm. IV 405,14–15 (verberato aere motu linguae), Cledon. gramm. V 53,29 (verberato aere quod motu fit linguae) und Pomp. gramm. V 212,6–7 (diximus verbum quare dictum sit saepius, ab eo, quod verberato aere ictu linguae sonus exiliat). Auch daran wird noch einmal deutlich, dass die Grammatiker sich v. a. für den Prozess der Artikulation interessierten.

2.4.2 Laktanz, Augustinus, Isidor von Sevilla

Offenbar hat es aber Abweichungen von dieser stoisch-grammatischen Theorie gegeben bzw. anders akzentuierte Interpretationen dieser Theorie, die zwar weiterhin auf einer Form des Schlages beruhten, aber das Schlagende und das Geschlagene jeweils für andere Dinge hielten. Zwei wichtige Zeugnisse (Lact. opif. 15,1 und Isid. orig. 3,20,2)269 deuten nämlich darauf hin, dass es auch die Auffassung bzw. die Interpretation der gängigen Auffassung gegeben haben muss, nach der die vox durch den Schlag der Atemluft (spiritus) auf die Außenluft (aer) entsteht.270 So will jedenfalls Laktanz die Definition der vox bei den Grammatikern und Philosophen verstehen (opif. 15,1). Sie (grammatici quidem ac philosophi) würden die Stimme (vox) definieren als aer spiritu verberatus, als Außenluft, die von der Atemluft geschlagen werde.271 Daher stamme auch die Bezeichnung für die verba. In den oben (Kapitel 2.4.1) erwähnten Zeugnissen der Grammatiker und Philosophen vor Laktanz, über die wir verfügen, finden wir weder diese Definition von vox noch genau diese Etymologie von verbum, gegen die sich Laktanz jetzt wendet (opif. 15,2). Wenn diese Definition der Stimme richtig wäre, so Laktanz, würde die Stimme außerhalb des Mundes (extra os) entstehen, was Laktanz für evident falsch erklärt. Er stellt dieser Auffassung eine andere, wahrscheinlichere (similior veri) Vorstellung von der Stimmerzeugung entgegen, die Bestandteile der Stimmvorstellungen von Aristoteles und Galen aufweist (opif. 15,2–4; vgl. 269 Hinzu kommt noch Ps. Apul. Ascl. 20 (vor Augustinus, evtl. 4. Jh.): vox hoc est – ex aere spiritu percusso sonus declarans omnem hominis voluntatem vel sensum, quem forte ex sensibus mente perceperit. 270 Dies ist aber mitnichten die in der Antike vorherrschende Ansicht, wie MÜLLER-HEU2 SER ( 1997), S. 100 behauptet. Weder aus Sen. nat. 2,29 (in der ersten Auflage von 1963 noch falsch und irreführend zitiert als vox nihil aliud est quam ictus aeris statt ictus aer), der einzigen klassischen Stelle, die Müller-Heuser anführt, noch aus den Stellen bei Boethius und Cassiodor, die er nennt, geht dies hervor. Auch aus den mittelalterlichen Quellen, die MüllerHeuser auflistet, lässt sich diese angeblich das gesamte Mittelalter bestimmende Theorie nur teilweise entnehmen. 271 Verwendet wurde die Ausgabe von PERRIN (1974).

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Die Stimme in der antiken Philosophie, Medizin und Grammatik

11,11).272 Der Atem, der gedrängt werde (stipatus spiritus), also wohl dicht gemacht, und am Widerstand der Kehle (obstantia faucium) angeschlagen werde (inlidere), bringe den Stimmklang hervor (sonum vocis exprimere). Laktanz vergleicht diese Form der Tonerzeugung (nur teilweise passend) mit der der Rohrflöte273 (cicuta).274 Zu sehen, ob diese Theorie wirklich richtig ist, bleibe Gott (deus artifex) überlassen. Laktanz führt selbst drei Gegenargumente an. Die Stimme scheint ihm nämlich nicht im Mund, sondern im Innersten der Brust zu entstehen: videtur enim non ab ore, sed ab intimo pectore vox oriri.275 Schließlich könne man auch mit geschlossenem Mund (ore clauso) einen Ton (sonus) aus der Nase ausstoßen. Außerdem werde die Stimme nicht durch möglichst viel Atem (maximo spiritu), den wir einatmen, erzeugt, sondern durch leichten Atem und nicht zusammengedrängten (levi ac non coartato spiritu), wann immer wir wollen. Daraus zieht Laktanz die Schlussfolgerung, dass man nicht wisse, wie die Stimme entstehe und was sie eigentlich sei: non est igitur conprehensum quonam modo fiat aut quid sit omnino. Letztlich wendet sich Laktanz also nicht nur gegen eine bestimmte Stimmtheorie, sondern grundsätzlich dagegen, dass man die Art und Erzeugung der Stimme verstehen wolle. Die Definition der vox als aer spiritu verberatus, die Laktanz ablehnt, findet sich auch etwa 300 Jahre später bei Isidor von Sevilla (orig. 3,20,2). Augustinus kennt noch zwei weitere Varianten der Schlagtheorie, wie aus seinen Erläuterungen zur Etymologie des Wortes verbum ersichtlich wird. Demnach könnte der Begriff verba auch vom Schlagen der Wörter selbst gegen das Ohr das Hörers oder vielleicht auch von ihrem Schlagen gegen die Luft stammen (Aug. dialect. 6). Diese zwei von Augustinus gesammelten Erklärungen entstammen damit nicht Theorien der Stimmerzeugung im eigentlichen Sinne (artikulatorische Phonetik), sondern der Schallleitung 272 Vgl. Kapitel 2.1.2 und 2.1.5. 273 Vgl. ThlL, s. v. cicuta S. 1053,2 ff. 274 Im Einzelnen ist dieser Vergleich (opif. 15,2) nicht leicht zu verstehen. Er beruht offenbar darauf, dass die Luftröhre bzw. die Luftröhre inklusive Kehlkopf mit dem (unten geschlossenen) Rohr einer cicuta verglichen wird (vgl. opif. 11,7: Die Luftröhre, gurgulio oder fistula spiritalis, biete dem Atem einen hindernislosen Weg, eine via patens, und sei aus beweglichen, weichen Ringen wie eine cicuta zusammengesetzt). Wenn man in sie hineinblase, schlage der Atem am Inneren der Flöte an, werde vom unteren Teil der Flöte zurückgelenkt, treffe dabei auf den herabsteigenden Atem und erzeuge so, während er zum Ausgang, zum offenen Teil der Flöte zurückstrebe, einen Ton. 275 Damit stimmen auch seine Ausführungen in opif. 11,11 überein, wonach die Stimme ihren Weg durch die Luftröhre (fistula spiritalis) in den Mund hinein nehme, wo die Zunge dann ihre Aufgabe ausführe und mit ihren Schlägen (pulsibus suis) den ununterbrochenen Strom der Stimme (vocis ipsius inoffensus tenor) zu Wörtern zerteile (in verba concidere). Dass dieser Weg der Stimme ungehindert ist, sei die Bedingung des Sprechens, andernfalls sei man stumm (opif. 11,11–13).

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Die Stimme bei den Grammatikern und in der Spätantike

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(akustische Phonetik) und des Hörvorgangs (auditive Phonetik).276 Die mangelnde klare Unterscheidung dieser Bereiche der Phonetik ist neben der semantischen Vielfalt des Begriffs vox wohl mitverantwortlich für diese Varianten der stoisch-grammatischen Schlagtheorie, die sich den Zeugnissen zufolge seit der Spätantike finden lassen. Im Mittelalter ist besonders die bereits erwähnte Stimmauffassung Isidors von Sevilla einflussreich.277 Die umfangreichste Behandlung erfährt die menschliche vox bei ihm im Zusammenhang mit der Musik. Im dritten Buch der Etymologiae definiert er den Gesang als inflexio vocis, als Modulation der Stimme (orig. 3,20,8), und schließt daran u. a. zehn Definitionen (mit Beispielen) von verschiedenen Stimmen (orig. 3,20,10–14), nämlich der suaves voces (angenehme Stimmen), perspicuae voces (deutliche, weitreichende Stimmen), subtiles voces (dünne278 Stimmen, der Art wie bei Kindern, Frauen, Kranken), pingues voces (volle Stimmen, wie bei Männern), der acuta vox (zarte, hohe Stimme, die wie die Töne von Saiteninstrumenten klingt)279, dura vox (harte Stimme, d. h. hier eine Stimme, die sich ungestüm äußert, wie das Geräusch des Donners oder eines Ambosses), aspera vox (raue Stimme, d. h. heiser bzw. eine Stimme, die sich in kleine und ungleiche Schläge zerteilt)280, caeca vox (blinde Stimme, d. h. hier eine Stimme, die gleich wieder erstickt wird, wie beim Anschlagen von Tongefäßen), vinnola vox (liebliche, d. h. weiche, variationsfähige Stimme)281 und der perfecta vox (vollkommene Stimme), die die drei Eigenschaften hoch (alta)282, deutlich (clara) und angenehm (suavis) aufweisen müsse.283 Isidor interessiert sich darüber hinaus auch für die physiologischen Grundlagen der Stimme, worin sich ein tieferes Verständnis für die Stimmbildung offenbart, als es die bereits genannte Definition der vox als aer spiritu verberatus (orig. 3,20,2) vermuten ließe.284 Für die Erzeugung der 276 Vgl. zu dieser bereits genannten Einteilung GADLER (42006), S. 37. 277 Zur Stimme im Mittelalter (speziell zum Gesang) und zu Isidor siehe DYER (2000). 278 subtilis wird auch kurz zuvor (10) bei der Definition der angenehmen Stimmen (suaves voces) verwendet, heißt dort aber eher »zart«. Hier wird der Begriff selbst definiert. 279 Vgl. Exkurs 3 (2.1) und die Erläuterungen zu acutae (Quint. inst. 11,3,17) in Kapitel 4.2.1. 280 Vgl. die Erläuterungen zu aspera (Quint. inst. 11,3,15) in Kapitel 4.2.1. 281 Sie habe ihre Bezeichnung von vinnus, d. h. einer geschmeidig gebogenen Locke (cincinnus molliter flexus). 282 Der Zusatz ut in sublime sufficiat bedeutet: »um der Höhe (hohen Tonlage) gewachsen zu sein«. 283 Diese Definitionen sind sehr hilfreich für das Verständnis der rhetorischen Texte und werden daher in den Stellenkommentaren (Kapitel 4) jeweils berücksichtigt. 284 Die Definition in orig. 3,20,2 steht allerdings in einem gewissen Widerspruch zu Isidors Vorstellung von der Entstehung der menschlichen Stimme durch Luftröhre, Kehle und Zunge (orig. 11,1,56). Vermutlich kommt es Isidor hier eher auf die Leitung der Stimme bzw.

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Die Stimme in der antiken Philosophie, Medizin und Grammatik

Stimme scheinen ihm neben der Kehle (fauces) die arteriae entscheidend zu sein, für die er zwei verschiedene Etymologien anbietet (orig. 11,1,56): Sie würden so genannt entweder weil durch sie die Luft (aer), d. h. der Atem, von der Lunge weggeführt wird (sive quod per eas a pulmone aer, hoc est spiritus fertur) oder weil sie in ihren engen (artis) und schmalen Gängen den Lebensatem enthalten, aus dem sie die Stimmtöne ausströmen lassen (seu quod artis et angustis meatibus spiritum vitalem retineant, unde vocis sonos emittunt). Unter den arteriae versteht Isidor dabei offenbar alle Luft bzw. Atem leitenden Körperkanäle, und somit – wie der Auctor ad Herennium285 – sowohl die Arterien, die die Luft durch den Körper transportieren, als auch die Luftröhre, durch die die ausgeatmete Luft strömt, wobei die Stimmtöne erzeugt werden. Diese Töne (qui soni) würden alle gleich klingen, wenn die Bewegung der Zunge (linguae motus) sie nicht gliedern würde (orig. 11,1,56), womit die Artikulation gemeint ist. Wie Platon stellt Isidor auch eine kurze Überlegung zum Hörvorgang an (orig. 11,1,46).286 Demnach halle Stimme durch die Biegungen der Ohren wider (vox enim repercussa per anfractus earum [sc. aurium]) und erzeuge so einen Ton (sonum facit), durch den die Ohren die Wahrnehmung des Hörens empfangen (quo sensum excipiant audiendi).

2.5 Zusammenfassung Außerhalb der Rhetorik befassen sich auch andere wissenschaftliche Disziplinen in der Antike mit der Stimme.287 Aus jeweils unterschiedlicher Perspektive und mit je spezifischem Interesse widmen sich Philosophen, Mediziner und Grammatiker den Fragen der Stimmphysiologie, -bildung und -pflege. Dabei lässt sich keine stringente Entwicklung in der Auffassung von der Stimme feststellen. Vielmehr ist durchaus die Unterschiedlichkeit der jeweiligen Ansätze hervorzuheben.288 Dementsprechend darf man auch eine feste Terminologie weder im Griechischen noch im Lateinischen erwarten. des Stimmklangs beim Gesang durch die Luft (zum Ohr des Hörers) an, die seiner Vorstellung nach mit einem Schlag der Stimmluft gegen die Außenluft beginnt. Die erste Definition fällt in den Bereich der artikulatorischen Phonetik, die zweite in den der akustischen Phonetik. 285 Vgl. Exkurs 4 zum Begriff arteria(e) in Kapitel 4.1.3. 286 Damit betritt er neben der artikulatorischen und der akustischen Phonetik auch noch das Feld der auditiven Phonetik. 287 Vgl. auch Kapitel 5.2, wo die Beziehungen zwischen der Rhetorik und den anderen Wissenschaften im Überblick erläutert werden. 288 Vgl. BIVILLE (2001), S. 16.

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Zusammenfassung

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Nach Platons Ansätzen zu einer Hörtheorie, in der bereits die Vorstellung eines Schlages zentral ist, aber in der die Stimme nur aus der Perspektive der Wahrnehmung behandelt wird (vgl. Kapitel 2.1.1), stammt die erste ausführliche Stimmtheorie von Aristoteles (vgl. Kapitel 2.1.2). Bei ihm findet sich gedanklich eine Unterteilung des Vorgangs der Stimmerzeugung in Respiration, Phonation und Artikulation,289 auch wenn er dies begrifflich noch nicht so fasst. Aristoteles betont die Bedeutung der Atmung und setzt an den Anfang der Stimmerzeugung den vom beseelten Stimmapparat mittels der eingeatmeten Luft ausgeführten Schlag der in der Luftröhre befindlichen Luft gegen die Luftröhre, die dadurch eine sehr wichtige Funktion erhält (vgl. Kapitel 2.1.2). Die Eigenschaften der Stimme sind bei ihm prinzipiell abhängig von der Atemluft, v. a. von ihrer Menge und Temperatur, und von der Eigenschaft der stimmerzeugenden Organe, v. a. von der Beschaffenheit der Luftröhre, der Leistungsstärke von Herz und Lunge und auch dem Spannungszustand des Körpers (vgl. Kapitel 2.1.2). Ähnlichkeiten mit der aristotelischen Theorie weist die Schrift Περὶ σαρκῶν (Kapitel 18) auf. Nur hier wird im Corpus Hippocraticum die Entstehung der Stimme besprochen, wobei das Hauptinteresse des Autors auf der Atemluft liegt (vgl. Kapitel 2.1.3). Neu an der atomistischen Theorie (vgl. Kapitel 2.1.4), die Schall, Hörsinn und Stimmentstehung umfasst, ist die explizite Betonung der Körperlichkeit der Stimme, die aus Stimmatomen zusammengesetzt sei. Epikur erwähnt zudem einen Schlag (πληγή) im Inneren bei der Stimmentstehung, über den man aber nichts Genaueres erfährt. Die Stoiker (vgl. Kapitel 2.1.4) übernehmen mit ihrer Definition der Stimme als »geschlagene Luft« die atomistische Auffassung von der Körperlichkeit der Stimme und die aristotelische Idee eines stimmerzeugenden Schlages, der allerdings in ganz anderer Form und Funktion erscheint. Zur Erzeugung der Sprache wird nämlich nach stoischer Vorstellung die Stimme im Mund u. a. durch Schläge der Zunge artikuliert.290 Es geht hier also nicht um stimmerzeugende Schläge (in der Luftröhre) im aristotelischen Sinn, sondern eigentlich um die Erzeugung der artikulierten Sprache aus der Stimme. Damit verschiebt sich das Interesse in der Stoa von der eigentlichen Stimmerzeugung (Phonation) hin zur Artikulation und damit auf die Vorgänge im Mund (statt tiefer im Körperinneren). Die Luftröhre übernimmt in diesen Stimm- bzw. Sprachtheorien keine wichtige Funktion mehr. Bei Cicero und Seneca ist zudem die (Körper- und Luft-) Spannung für die Stimmerzeugung von Bedeutung, die auch bei Galen eine entscheidende Rolle spielen wird. Vitruv (vgl. Kapitel 2.1.4) interessiert sich für v. a. für die Wahrnehmung der Stimme im Theater und die Abhängigkeit der Stimme von klimatischen 289 Vgl. Exkurs 1. 290 Ähnlich ist das bei Plinius d. Ä., vgl. Kapitel 2.1.4.

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Die Stimme in der antiken Philosophie, Medizin und Grammatik

Bedingungen, Celsus (vgl. Kapitel 2.1.4) für Stimmerscheinungen im Zusammenhang mit bestimmten Krankheitssymptomen. Plinius d. Ä. (vgl. Kapitel 2.1.4) ist stark von Aristoteles, v. a. von De historia animalium abhängig. Zudem interessiert er sich wie die Stoiker für die Artikulation, die bei ihm als Gemeinschaftsleistung von Zähnen und Zunge erscheint. Den Höhepunkt der antiken Stimmtheorie bildet der griechische Arzt Galen, der die stoischen und aristotelischen Konzepte von Spannung und Schlag in seiner Theorie zusammenbringt (vgl. Kapitel 2.1.5). Er kennt als Erster alle Organe, die an der Stimmbildung beteiligt sind, und beschreibt sie in ihrem Aufbau korrekt. Galen vergleicht den menschlichen Stimmapparat nicht unpassend mit einem αὐλός. Ob er auch wusste, dass die Stimmlippen bei der Stimmerzeugung vibrieren, oder nicht, kann nicht mehr eindeutig geklärt werden. In den erhaltenen Fragmenten ist jedenfalls nirgends direkt von Vibration die Rede, ebenso wenig wie in anderen Texten.291 Neben diesen theoretischen Reflexionen zur Stimmentstehung gibt es auch auf die Praxis ausgerichtete Überlegungen zur Pflege und zum Training der Stimme. Für die Pflege der Stimme wird zu einer bestimmten Lebensweise und Ernährung geraten (vgl. Kapitel 2.2.1). Doch nicht nur die Redner, insbesondere auch die Sänger, Schauspieler und phonasci pflegen und trainieren ihre Stimme (vgl. Kapitel 2.2.2). Um die Stimme zu gesundheitlichen Zwecken als Therapieform einzusetzen, gibt es die ἀναφώνησις/ anaphonesis, die medizinische Stimmübung (vgl. Kapitel 2.3). Außerhalb von Medizin und Philosophie wird die Stimme auch von den Grammatikern behandelt, die sich besonders für die Artikulation und die Aussprache interessieren (vgl. Kapitel 2.4.1). Dionysios von Halikarnassos erwähnt zudem Schläge in der Luftröhre und Quintilian gibt im ersten Buch der Institutio oratoria über die Grammatik Vortragsanweisungen zu Werken der Dichtung, die für den Rhetorikunterricht propädeutisch sind. Stark auf stoischen Gedanken bauen die Grammatici Latini auf, die die vox als aer ictus und als körperlich definieren, wobei zuweilen explizit der Schlag der Zunge gegen die Atemluft gemeint ist. Sie interessieren sich v. a. für die Lehre von den Lauten, den litterae, die die kleinsten Elemente der artikulierten menschlichen vox bilden. Dass in diesen Theorien, die von einem Schlag ausgehen, nicht immer klar wurde, wer dabei wen geschlagen hat, zeigt sich besonders in der Spätantike und an den verschiedenen Etymologien für das Wort verbum, das von verberare abzuleiten sei (vgl. Kapi291 Daher sollten auch in den Übersetzungen im Zusammenhang mit der Stimmphysiologie die Wörter »Vibration« und »vibrieren« vermieden werden. movere, ictus, intentio aeris, aer verberatus u. a. sind keine Ausdrücke des Vibrierens (so aber BIVILLE [2001], S. 29). Man darf nicht davon ausgehen, dass die Vibration der Stimmlippen in der Antike bekannt war (so aber ebd., S. 33).

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Exkurs 1: Moderne Stimmphysiologie

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tel 2.4.2). Bei Laktanz, Augustinus und Isidor von Sevilla finden wir die Auffassungen, gemeint seien mit diesem Schlag der Schlag der Atemluft gegen die Außenluft, der Schlag der Wörter gegen das Ohr der Hörer oder der Schlag der Wörter gegen die Luft. Laktanz entwickelt zudem Ansätze zu einer eigenen Stimmtheorie, Isidor behandelt die Stimme im Zusammenhang mit der Musik, definiert verschiedene Stimmarten und befasst sich mit den physiologischen Grundlagen. Auswirkungen dieser nicht genuin rhetorischen Diskurse zeigen sich auch in den rhetorischen Texten, die sich mit der Stimme befassen, und zwar sowohl in Einzelbegriffen, d. h. in Verwendungen des gleichen oder ähnlichen Vokabulars zur Beschreibung der Stimme,292 als auch in Vorstellungen von der Stimmerzeugung, die nicht explizit von den Autoren genannt werden, aber deutlichen Einfluss auf sie genommen haben (z. B. in Rhet. Her. 3,12,21 und Quint. inst. 11,3,16).293 Somit erleichtert die Kenntnis davon, welche Auffassungen von der Stimme es in den anderen Wissenschaften gab, auch das Verständnis für die rhetorische Auseinandersetzung mit der Stimme und speziell die Kommentierung der rhetorischen Texte.

Exkurs 1: Moderne Stimmphysiologie Dieser kurze Überblick über die heute gültige Auffassung von der Bildung der Stimme ist als Hilfestellung zur Lektüre der antiken Theorien (Kapitel 2) gedacht, sowohl zu deren Korrektur als auch zu deren Würdigung. Genauere Beschreibungen aus verschiedenen Perspektiven der Wissenschaft finden sich in der jeweiligen Fachliteratur der (musikalischen) Stimmbildung, Medizin, Logopädie und Phonetik.294 Auch in der modernen Stimmtheorie bleiben allerdings einige Fragen unbeantwortet.295 292 Was bspw. die Begriffe für Lautstärke und Tonhöhe anbelangt, vgl. Exkurs 3, dort insbesondere Punkt 1 und 2.5. 293 Vgl. dazu Kapitel 4.1.3 und 4.2.1. 294 Zu den physiologischen Grundlagen der Stimme siehe WENDLER u. a. (42005), S. 71– 90, ein medizinisches Standardwerk mit zahlreichen Abbildungen. Die Einführungen in die wissenschaftlichen Grundlagen der Stimmbildung sind v. a. am Gesang orientiert bzw. für Sänger geschrieben. Empfehlenswert sind besonders PEZENBURG (2007), S. 21–142, BRANDL (2002), S. 61–102 und KLINGHOLZ (2000). Zahlreiche Abbildungen finden sich bei E. FISCHER (1969), S. 122–134. Kurz und klar und v. a. auf die Artikulation ausgerichtet ist GADLER (42006). P.-M. FISCHER (21998), S. 18–60 bietet einen Überblick über die gesamte Geschichte der Stimmforschung und Stimmtechnik (der Gesangspädagogik), TRUMMER (2006), S. 54–68 über die Entwicklung der Kenntnisse der Stimmphysiologie im 19. Jh. ab der Entwicklung der modernen Theorie von Ferrein. Zahlreiche Literaturhinweise finden sich zudem im Internet

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Die Stimme in der antiken Philosophie, Medizin und Grammatik

Zur Beschreibung der Stimmerzeugung wird der menschliche Stimmapparat meist in drei Komplexe eingeteilt, die eng zusammenwirken. Diese sind Atmung (Respiration), Phonation und Artikulation.296 Alle drei Bereiche wurden auch in der Antike bereits behandelt, wenn sie auch nicht eigens so bezeichnet oder immer scharf voneinander abgegrenzt wurden. Ungefähr lässt sich feststellen, dass der Vorgang und die Bedeutung der Atmung v. a. in der Philosophie und der Medizin sowie in der Diätetik und Stimmpflege behandelt wurden und insbesondere Aristoteles und den Autor der hippokratischen Schrift Περὶ σαρκῶν interessierten (vgl. Kapitel 2.1.2 und 2.1.3). Der Vorgang der Phonation wurde am ausführlichsten von Aristoteles und Galen beleuchtet (vgl. Kapitel 2.1.2 und 2.1.5). Die Beschäftigung mit der Artikulation war ein Kerngebiet der Grammatiker (vgl. Kapitel 2.4.1). Die Erzeugung der Stimme beginnt nach heutiger Stimmtheorie mit einem Impuls im motorischen Zentrum des Kortex (Großhirnrinde), durch den die Atmung297 stimuliert wird.298 Für den Atmungsablauf wichtig sind v. a. die Lunge als Luftgeber und die Atemmuskulatur des Brustkorbs. Die bei der Atmung beteiligten Muskeln werden vom zentralen Nervensystem gesteuert. Je nach dem Atembewegungsbereich, der dabei besonders aktiv ist, werden verschiedene Atemformen unterschieden. Für das professionelle Sprechen und Singen wird v. a. die kombinierte Zwerchfell-FlankenAtmung angeraten, u. a. weil dabei das bewegte Atemvolumen relativ groß ist und der Atemdruck differenziert gesteuert werden kann.299 Einige Techauf der Homepage der Deutschen Gesellschaft für Sprechwissenschaft und Sprecherziehung und der dort abrufbaren Leseliste. 295 Zu ungeklärten Stimmphänomenen vgl. z. B. P.-M. FISCHER (21998), S. 86 f. 296 Zu dieser Dreiteilung vgl. KLINGHOLZ (2000), S. 12. Eine Übersicht über diese drei »Funktionskreise« gibt PEZENBURG (2007), S. 25 f. 297 Zur Atmung vgl. ausführlich WENDLER u. a. (42005), S. 71 f., PEZENBURG (2007), S. 28– 49, KLINGHOLZ (2000), S. 12–14 und (v. a. mit Ausrichtung auf das Singen) BRANDL (2002), S. 61–65. 298 Über den eigentlich steuernden Ausgangspunkt der Stimme erfahren wir in den antiken Quellen recht wenig. Aristoteles setzt die ψυχή voraus, die den stimmerzeugenden Schlag der Atemluft gegen die Luftröhre veranlasst (vgl. Kapitel 2.1.2). Die Stoiker schreiben die Erzeugung der Stimme einem Teil der Seele oder dem Verstand (διάνοια) zu (vgl. Kapitel 2.1.4). Galen macht für die Steuerung der Stimme das Gehirn bzw. den vernunftbegabten Teil der Seele verantwortlich (vgl. Kapitel 2.1.5). 299 Vgl. zu dieser kombinierten Atmung auch WENDLER u. a. (42005), S. 72. Entscheidend für die Stimme ist aber nicht allein die Menge der eingeatmeten Luft. So geht es beim Strimmtraining auch nicht darum, die Menge eingeatmeter Luft erheblich zu erhöhen, sondern »die vorhandene Luftmenge mit optimaler Atemstromrate (geringstnotwendige Menge an Luft für einen bestimmten Ton mit bestimmter Tonhöhe, Intensität, Resonanz und Lautqualität in einer bestimmten Einheit der Tondauer) in entsprechend dosierter Weise abzugeben« (PEZENBURG [2007], S. 32).

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Exkurs 1: Moderne Stimmphysiologie

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niken, die in antiken Texten beschrieben werden, deuten darauf hin, dass diese Art der Atmung schon damals angestrebt wurde.300 Der Luftstrom, der beim Ausatmen aus der Lunge strömt, ist der wichtigste Mechanismus bei der Lauterzeugung und ihre Energiequelle,301 wie schon Aristoteles (vgl. Kapitel 2.1.2) und Galen (vgl. Kapitel 2.1.5) gesehen haben. Er trifft mit einem gewissen Druck (sogenannter subglottischer Druck) auf den Kehlkopf.302 Im Kehlkopf findet, was als Erster Galen richtig erkannt hat (vgl. Kapitel 2.1.5), die eigentliche Stimmproduktion statt.303 Dort mündet die Luftröhre in die elastischen Stimmlippen (bestehend jeweils aus dem eigentlichen Stimmband, Stimmlippenmuskel, Bindegewebe, Nerven, Gefäßen und Schleimhaut), die sich vom vorderen Teil des Kehlkopfes (Adamsapfel) zu den Stellknorpeln ziehen und die durch ihre Muskeln unterschiedlich gespannt und geformt werden können.304 Stimmlippen und Stellknorpel bilden die Stimmritze (Rima glottidis).305 Wenn der Atem die Stimmlippen berührt, bieten ihm diese Widerstand. Bei der Tonerzeugung öffnen sie sich kurz, lassen den Atem in kleinen Stößen durch die Stimmritze passieren und schließen sich dann wieder. Ein solches Öffnen und Schließen der Stimmlippen kann zwischen 70 und 1000 Mal pro Sekunde passieren. Die Stimmlippen werden dabei in Schwingungen versetzt und vibrieren, was als Stimmhaftigkeit bezeichnet wird.306 Genau diese Vibration war der Antike nicht bekannt.307 Sie macht den eigentlich entscheidenden Unterschied der

300 Vgl. dazu Demosthenes’ über der Schulter aufgehängtes Schwert (zur Vermeidung der Schlüsselbeinatmung), die griechischen Tragöden in Cic. de orat. 1,251 und Neros auf die Brust gelegte Bleiplatte (siehe dazu jeweils Kapitel 2.2.2). 301 Vgl. GADLER (42006), S. 42. 302 Vgl. BRANDL (2002), S. 63. 303 Die Phonation wird auch »Stimmeinsatz« genannt. Siehe zur Phonation ausführlich PEZENBURG (2007), S. 50–85 und KLINGHOLZ (2000), S. 14–21. Zur Kehlfunktion und den Stimmlippen (v. a. beim Singen) siehe ausführlich BRANDL (2002), S. 66–88. Zum Kehlkopfaufbau siehe WENDLER u. a. (42005), S. 73–78. 304 Vgl. die schematische Abbildung zum Aufbau einer Stimmlippe bei WENDLER u. a. (42005), S. 76 f. und PEZENBURG (2007), S. 54 und die Abbildungen zur Anatomie des Kehlkopfes bei PEZENBURG (2007), S. 51, 54 sowie zum Öffnen und Schließen der Stimmritze bei BRANDL (2002), S. 68. Verschiedene Stellungen der Stimmlippen und Schwingungsabläufe zeigen die Abbildungen bei PEZENBURG (2007), S. 55 f. 305 Die Terminologie ist hier nicht eindeutig. Glottis kann sowohl die Stimmritze, den Spalt zwischen den Stimmlippen, selbst bezeichnen (so v. a. in der Phonetik) als auch die diesen Spalt bildenden Organe (so v. a. in der Medizin). Rima glottidis bezeichnet hingegen eindeutig die Stimmritze (in der Medizin). 306 Vgl. GADLER (42006), S. 39, 43. Zum genauen Ablauf der Schwingungen vgl. WENDLER u. a. (42005), S. 78–80. 307 Selbst wenn Galen doch gewusst haben sollte, dass die Stimmlippen bei der Stimmbil-

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Die Stimme in der antiken Philosophie, Medizin und Grammatik

modernen Theorie im Vergleich zur Antike aus. Die Schwingungen der Stimmlippen wandeln die ausströmende Atemluft in Schall um.308 Die Anzahl der Schwingungen der Stimmlippen bestimmt den Grundton der Stimme.309 Eine niedrige Frequenz erzeugt einen niedrigen Ton. Er entsteht durch sanften Atemdruck und entspannte Stimmlippen. Eine hohe Frequenz erzeugt einen hohen Ton. Er entsteht durch starken Atemdruck und gespannte Stimmlippen, die dem Atem stärkeren Widerstand leisten. Die Tonhöhe ist also abhängig von der Spannung (und der sich dadurch ergebenden Länge/Streckung) der Stimmlippen, da diese die Vibration bestimmen.310 Dazu beeinflusst auch der subglottische Druck die Tonhöhe. Mit dem höheren Druck wird der Ton nicht nur höher, sondern auch lauter.311 Sowohl die Tonhöhe als auch die Lautstärke sind somit von der Schwingung der Stimmlippen abhängig.312 Die Lautstärke ist zudem mit der Größe der horizontalen Öffnung der Stimmlippen verbunden.313 Je weiter die Stimmlippen während der Tonerzeugung voneinander entfernt sind, desto lauter ist der Ton. Der so aus der Stimmritze heraus erzeugte Ton heißt Primärton. Er wird durch die Resonanzen der Hohlräume, v. a. des Vokaltraktes (auch: Ansatzrohr), d. h. der Räume oberhalb der Stimmritze (Kehl-, Mund- und Nasenrachen, Mundhöhle) modifiziert.314 Diese Funktion der Verstärkung hat bereits Galen den Organen oberhalb des Kehlkopfes zugeschrieben.315 Dabei regen die Luftstöße die Luft in den Resonanzhöhlen an und die Resonatoren verstärken die Vibrationen. Durch diese Resonanzen wird der primäre Stimmton zu einem für jeden dung vibrieren (vgl. Kapitel 2.1.5), hat sich diese Kenntnis aufgrund des Verlustes seiner Schrift Περὶ φωνῆς nicht verbreitet. 308 Vgl. WENDLER u. a. (42005), S. 89. 309 In der Antike erklärte man sich die Tonhöhe durch die unterschiedliche Menge (oder auch Geschwindigkeit und Spannung) und Wärme der Atemluft oder die Größe der Organe, die Lautstärke durch Menge (oder auch Geschwindigkeit und Spannung) der Atemluft und Stärke der Lunge, die Klangfarbe durch die Beschaffenheit der Stimmorgane, z. B. ihre Größe, Rauheit oder Feuchtigkeit (im Einzelnen siehe v. a. Kapitel 2.1.2 und 2.1.5). 310 Vgl. WENDLER u. a. (42005), S. 85. Die natürliche Tonhöhe, z. B. auch der Unterschied von männlicher und weiblicher, erwachsener und kindlicher Stimme, bestimmt sich hingegen durch die Länge der Stimmlippen, die von der Größe des Kehlkopfes abhängig ist. Im Stimmbruch werden die Stimmlippen dicker und länger. 311 Zum Einfluss des subglottischen Drucks auf Tonhöhe und Lautstärke siehe WENDLER u. a. (42005), S. 85. 312 Vgl. WENDLER u. a. (42005), S. 89. Gänzlich falsch ist die Behauptung Galens also nicht, Lautstärke und Tonhöhe veränderten sich gemeinsam, indem immer laut/hoch und leise/tief korreliert sein (vgl. Kapitel 2.1.5). 313 Siehe dazu GADLER (42006), S. 40 und Abb. 2 auf S. 39. 314 Eine Abbildung des Querschnittes durch das menschliche Ansatzrohr bietet PEZEN4 BURG (2007), S. 88. Zur Funktion der Ansatzräume siehe WENDLER u. a. ( 2005), S. 82–85. 315 Vgl. BAUMGARTEN (1962), S. 111, 225–230.

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Exkurs 1: Moderne Stimmphysiologie

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Menschen typischen Stimmklang geformt, die Stimme erhält so ihre persönliche Klangfarbe.316 Anschließend werden die Töne durch die zwei Lippen, die Zungenspitze, den Zahnfleischkamm, die Zungenmitte, das Mundgewölbe, den Zungenrücken und den weichen Gaumen artikuliert.317 Dabei werden an bestimmten Stellen im Vokaltrakt Hindernisse oder Engpässe für den Luftstrom geschaffen, die eine klangliche Modifikation ermöglichen. Bei der Bildung von Konsonanten wird der Luftstrom behindert, indem die Artikulationsräume z. B. verengt oder verschlossen werden.318 Bei der Erzeugung von Vokalen entströmt der Luftstrom ohne Hindernis durch Mund und auch Nase.319 V. a. Lippen und Zunge sorgen für die Artikulation der unterschiedlichen Vokale.320 Die Artikulation ist damit wohl – sieht man von Galens präziser Beschreibung der Stimmorgane ab – der Bereich der menschlichen Stimmerzeugung, der in der Antike bereits am besten und genauesten erforscht war, wie z. B. den Beschreibungen bei Dionysios von Halikarnassos und den Grammatici Latini (v. a. Terentianus Maurus) zu entnehmen ist (vgl. Kapitel 2.4.1).

316 317 318 319 320

Vgl. PEZENBURG (2007), S. 91. Zur Artikulation siehe ausführlich PEZENBURG (2007), S. 86–142. Vgl. GADLER (42006), S. 45, 49–52 zur Artikulation der einzelnen Konsonanten. Vgl. ebd., S. 45. Zur Artikulation der Vokale siehe ebd., S. 45–49.

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3. Die Stimme in der antiken rhetorischen Theorie und Praxis: von Isokrates bis Alkuin

3.1 Griechische Anfänge: Redner und Rhetoriker vom 5. bis zum 2. Jh. v. Chr. 3.1.1 Isokrates, Perikles und Kleon, Demosthenes und Aischines

Lange bevor es eine ausgearbeitete Theorie des Vortrags in der Rhetorik gab, hat bereits Homer die Stimmen von Rednern beschrieben. Insbesondere seine Darstellung der Rednerstile von Menelaos, Nestor und Odysseus in der Ilias hat auf die spätere Rhetorik eingewirkt, denn Quintilian wollte in diesen drei Rednern Beispiele für die drei genera dicendi erkennen (inst. 12,10,64).1 Die drei Rednertypen werden dabei von Homer (und Quintilian) auch in Hinblick auf ihre Stimmen unterschiedlich charakterisiert. Menelaos, der Quintilian als Vertreter des schlichten Stils (genus subtile) gilt, ist bei Homer äußerlich eine eindrucksvolle Erscheinung. Er sage nur wenig, aber spreche sehr laut und vernehmlich (μάλα λιγέως) (Il. 3,212– 215).2 Mit der Lautstärke und Deutlichkeit der Stimme erfüllt Menelaos die wichtigste Grundbedingung für jeden Redner, er wird gehört und akustisch verstanden. Das ist allerdings noch kein besonderes Lob in der Art, wie es Nestor hingegen erhält. Quintilian setzt ihn mit dem mittleren Stil (genus medium) gleich. Seine Stimme (αὐδή) sei, so Homer, süßer (γλυκίων) als Honig von seiner Zunge geflossen (ῥέεν) (Il. 1,249).3 Nach Quintilian wird damit der größtmögliche Genuss (delectatio) an Nestors Vortrag ausgedrückt. Die flüssige, gleichmäßige, wohlklingende Stimme hat auf die Zuhörer eine angenehme Wirkung.4 Schließlich identifiziert Quintilian Odysseus, den größten Redner Homers, mit dem hohen Stil (genus grande). Vor Redebeginn wirke er zwar noch höchst unsicher und unprofessionell, aber 1 Gellius (6,14,7) übernimmt die Gleichsetzung dieser drei Redner mit den drei Stilhöhen, die allerdings sehr schulmäßig und übersystematisch wirkt (vgl. Stroh [2009], S. 31). 2 Nach Quintilians Terminologie hätte Menelaos demnach eine vox clara, vgl. die Erläuterungen zu inst. 11,3,15 in Kapitel 4.2.1. 3 Diese in der Antike sehr beliebte Stelle kennen z. B. auch der Auctor ad Herennium (Rhet. Her. 4,33,44) und Cicero (Brut. 50). 4 Vgl. ähnlich die vox dulcis bei Quint. inst. 11,3,40 und die Erläuterungen zu fluit (inst. 11,3,63) in Kapitel 4.2.3.

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dann spreche er mit lauter Stimme (ὄπα … μεγάλην) aus der Brust heraus (ἐκ στήθεος)5 Wörter, die einem Schneesturm gleichen (ἔπεα νιφάδεσσιν ἐοικότα χειμερίῃσιν) (Il. 3,216–224). Das deutet nach Quintilian auf Odysseus’ Wortfülle (copia verborum) und Wucht (impetus) beim Reden hin. Die drei homerischen Redner machen somit unterschiedlichen Gebrauch von ihrer Stimme und wirken dadurch auf die Zuhörer jeweils anders, wie wir implizit schließen können. Menelaos spricht laut und deutlich – er wird verstanden. Flüssig und wohlklingend spricht Nestor – ihm hört man genussvoll zu. Odysseus schließlich spricht laut, kräftig, wuchtig und kommt mit seinem Vortrag so über die Zuhörer wie ein heftiger Sturm. Auch die griechischen Politiker und Redner des 5. und 4. Jh. setzten ihre Stimme und Gestik bewusst zu ihrem Vorteil ein. Über ihren Vortragsstil finden sich dann auch einige Bewertungen in ihren eigenen Reden und in den Schriften anderer, die zeigen, dass die Wirkungsmacht des Vortrags anerkannt war und reflektiert wurde. So betont Isokrates (Phil. 25–27), dass vorgetragene Reden (λόγοι λεγόμενοι) sich von Reden, die dazu bestimmt sind, gelesen zu werden (λόγοι ἀναγιγνωσκομένοι), in ihrer Überzeugungskraft (εἰς τὸ πείθειν) positiv unterscheiden, u. a. weil sie über den Vorteil der Stimme (φωνή) des Redners und die Abwechslungen (μεταβολαί) des Vortrags verfügen.6 Isokrates selbst konnte, wie er mehrfach betont, wegen seiner zu schwachen Stimme nicht öffentlich auftreten.7 So schreibt er an Philipp (or. 5,81), dass seine politische Karriere u. a. daran gescheitert sei, dass er keine ausreichend starke Stimme (φωνὴ ἱκανή) hatte.8 In der folgenden Tradition ist v. a. der Vortrag von vier anderen griechischen Rednern immer wieder auf Interesse gestoßen, nämlich der von Perikles und Kleon sowie der von Demosthenes und Aischines. Bei Perikles und Kleon wurde der rhetorische Auftritt seit Aristoteles in engem Zusammenhang mit ihrer politischen Einstellung und ihrer Persönlichkeit gesehen. Demosthenes und Aischines beschrieben den stimmlichen und gestischen Vortrags ihres politischen Gegners, um ihn zu diskreditieren. Nach der Darstellung des Aristoteles hatte sich der Zustand der Athenischen Staatsverfassung zur Zeit Kleons im Vergleich zur Zeit des Perikles stark verschlechtert (Ath. pol. 28,1). Dieser Verschlechterung der Verfassung, die moralisch-schlechteren Wortführern bessere Erfolgsmöglichkeiten eröffnet haben soll, entsprach nach Aristoteles auch eine Veränderung 5 Zur Brust (pectus) als Herkunftsort der Stimme vgl. Quint. inst. 11,3,16 in Kapitel 4.2.1. 6 Vgl. KRUMBACHER (1920), S. 20 f. und NADEAU (1964), S. 53 f. 7 Zu Isokrates’ Stimme siehe auch MEYER (1986), S. 37–41. 8 Vgl. die gleiche Formulierung in Isokr. or. 12,10 und ep. 8,7. Siehe auch Plut. mor. 837A (ἰσχνόφωνος) und Philostr. soph. 505 (τὸ ἐλλιπὲς τοῦ φθέγματος).

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Die Stimme in der antiken rhetorischen Theorie und Praxis

des Vortragsstils zum Negativen hin.9 Schon Aischines (Tim. 25) nannte als Haupteigenschaft des Vortrags der alten Redner (Perikles, Themistokles, Aristides) die σωφροσύνη. Unter ihnen galt besonders Perikles als vorsichtiger, behutsamer Redner (περὶ τὸν λόγον εὐλαβής, Plut. Per. 8).10 Das Maßvolle seines Redestils habe sich in seinem Gesicht gezeigt, denn er lachte nicht, in seinem Gang, seiner Kleidung und seiner Stimme (Plut. Per. 5), die angenehm (ἡδεῖα, Plut. Per. 7) gewesen sei. Nicht zuletzt in der Stimme offenbart sich also den Zuhörern der Charakter des Redners.11 Perikles’ maßvoller Stil wurde v. a. auf seine Beschäftigung mit der Philosophie, insbesondere mit der seines Lehrers Anaxagoras zurückgeführt: Nach Plutarch (Per. 5) gewann er durch diesen Philosophen seine erhabene Ausdrucksweise (τὸν λόγον ὑψηλόν) und seine ruhige Stimmmodulation (πλάσμα φωνῆς ἀθόρυβον) und auch inhaltlich hat Anaxagoras offenbar auf Perikles’ Redekunst Einfluss ausgeübt.12 Perikles wurde von den Späteren gerade durch dieses Maßvolle seines Vortrages als Gegenbild der späteren demagogischen Rhetorik dargestellt, die sich durch Maßlosigkeit auszeichne und die nach Aristoteles mit Kleon ihren Anfang nimmt.13 Maßlose ὑπόκρισις wie die des Kleon ist bei Aristoteles Element und Zeichen einer schlechten politischen Verfassung.14 Die radikalere Form der Demokratie ermögliche den Einfluss solcher Demagogen (Arist. pol. 1292a21–25 und 1313b39–41). Kleon wird von Aristoteles (Ath. pol. 28,3) geschildert als Redner, der nach allgemeiner Meinung das Volk sehr »durch seine ungezügelten Emotionen«15 verdorben habe (ὃς δοκεῖ μάλιστα διαφθεῖραι τὸν δῆμον ταῖς ὁρμαῖς). Er trug beim Reden einen Gürtel um sein Gewand (περιζωσάμενος)16, wohl um für seine heftigere Gestik die Hände frei zu haben.17 Zudem schrie er als erster auf der 9 Vgl. LOSSAU (1971), S. 151 f. 10 Zu Perikles vgl. KRUMBACHER (1920), S. 12–14 und CALBOLI (1984), S. 35 f. 11 Vgl. mit GLEASON (1995), S. 84 den Ausspruch über den Sophisten Philiskos (Philostr. soph. 623), seine Frisur gebe zu erkennen, was für ein Mann er sei, und seine Stimme, was für ein Redner. 12 Vgl. z. B. Plat. Phaidr. 270a, Cic. Brut. 44, Plut. Per. 8. 13 Zu Perikles und Kleon vgl. WÖHRLE (1990), S. 34, zu Kleon auch KRUMBACHER (1920), S. 15 f. Nach Aristoph. equ. 217–218, einer gegen den historischen Kleon gerichteten Stelle, braucht ein Demagoge u. a. eine abscheuliche Stimme (φωνή μιαρά). 14 Zu Kleon und der radikalen Demokratie vgl. LOSSAU (1971), S. 148–154 und WÖHRLE (1990), S. 34. 15 So die Übersetzung von ταῖς ὁρμαῖς von CHAMBERS (1990). Vielleicht sind auch die schnellen Bewegungen (mit)gemeint (vgl. LSJ, s. v. ὁρμή I1), die Kleon (aufgrund seiner Emotionen) ausführt. 16 CHAMBERS (1990) z. St. deutet περιζωσάμενος so, dass Kleon sein Himation, den Mantel über der Tunika, gegürtet habe. 17 Perikles hingegen verbarg stets (nicht nur beim Reden) eine Hand unter seinem Gewand (Plut. mor. 800C). Vgl. CHAMBERS (1990) z. St.

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Rednerbühne (καὶ πρῶτος ἐπὶ τοῦ βήματος ἀνέκραγε καὶ ἐλοιδορήσατο) und fiel somit auch stimmlich aus der Reihe. Diese Vortragsart wird von Aristoteles als ungeziemend beschrieben, Kleon rede nicht, wie es sich gehört (ἐν κόσμῳ). Auch nach Plutarch (Nik. 8) war Kleon der erste, der bei einer öffentlichen Rede losbrüllte (πρῶτος ἐν τῷ δημηγορεῖν ἀνακραγών) und durch eine auffällige Körpersprache und unschicklichen Vortrag hervorstach.18 Aristophanes karikiert Kleons Stimme als die eines angesengten Schweines (φωνὴν ἐμπεπρημένης ὑός, vesp. 36), also des Tieres, das noch dem Arzt Galen als das mit der lautesten Stimme galt.19 Gerade die Lautstärke des Vortrages, die als Charakteristikum Kleons betont wird, erfährt aber allgemein bei Aristoteles auch an anderer Stelle deutliche Kritik (rhet. 1408a24–25), weil sie von Rednern eingesetzt werden kann, um sachliche Nichtigkeit zu überdecken.20 Nach Plutarch (Dem. 9) soll Perikles in der Art seiner Vortragsmodulation (πλάσμα) als Vorbild für Demosthenes gedient haben, der den Späteren als der herausragende Vertreter derer gilt, die dem Vortrag die höchste (oder sogar die alleinige) Wirkung zuerkennen.21 Daher wird er zur Legitimierung einer Kunst des Vortrags immer wieder als Autorität herangezogen. Zu dieser hohen Wertschätzung des Vortrags passt auch sein Bemühen um die Steigerung seiner eigenen Vortragsqualitäten, was in den Quellen als ganz erstaunliche Leistung gewertet wird, da Demosthenes wohl an sehr schlechten Naturanlagen und natürlichen Stimmfehlern litt. Er habe eine sehr schwache und herb klingende Stimme22 gehabt und gestottert, so dass er zu besonderen Maßnahmen in der Stimmerziehung greifen musste und sich dazu u. a. Hilfe bei einem Schauspieler holte.23 In seinen eigenen Reden macht Demosthenes die Stimme häufiger zum Thema, v. a. die Stimme seines Gegners Aischines. Diese Beschreibungen des mündlichen Vortrags werden auf unterschiedliche Art und Weise ein18 Zu Kleons Vortrag vgl. auch Quint. inst. 11,3,123, wonach Kleon sich beim Vortrag auf die Hüften geschlagen habe. 19 Deswegen wählte er es für seine Stimmexperimente am lebenden Tier aus, vgl. BAUMGARTEN (1962), S. 198. 20 Vgl. auch die Kritik Quintilians an der lauten und gestisch auffälligen Vortragsart von Ungebildeten (inst. 2,12,9–10), die Ähnlichkeiten mit der Beschreibung von Kleons actio aufweist. 21 Vgl. Athanasius, RhGr 14, ed. RABE (1931), p. 176,19–22, und Theon, RhGr 2, ed. SPENGEL (1854), p. 104,30–32. Zu Demosthenes’ Wertschätzung des Vortrags vgl. auch Kapitel 1.1. 22 Vgl. Val. Max. 8,7, ext.1 und den Kommentar zu Quint. inst. 11,3,32 (in Kapitel 4.2.3). 23 Die in diesem Zusammenhang bekannten Stimmübungen, nämlich v. a. das schnelle Ersteigen einer Anhöhe, das genaue Artikulieren mit Kieselsteinen im Mund und auch die Sprechübungen vor dem Spiegel (vgl. Plut. Dem. 11), gehören in den Bereich der Stimmbildung und werden daher in Kapitel 2.2.2 besprochen. Zur Stimmbildung des Demosthenes vgl. auch KRUMBACHER (1920), S. 24–28. Vgl. auch die Erläuterungen zu Quint. inst. 11,3,54.

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gesetzt, um dem politischen Gegner zu schaden. So gesteht Demosthenes dem Aischines den Glanz seiner Stimme durchaus zu (z. B. Dem. de fals. leg. 199: λαμπρὰ ἡ φωνή).24 Allerdings setze Aischines seine überaus glänzende Stimme (λαμπροφωνότατος) nur zum Schaden der Mitbürger ein (Dem. de cor. 313). Auch entpuppt sich das Lob der Stimme meist als ironisches Lob, das in Wirklichkeit der Verspottung oder der Karikatur der Stimme dient, die zwar schön sein mag, aber keinen Nutzen bringe. So verspottet Demosthenes seinen Gegner, weil die Wahl, einen Epitaphios zu halten, nicht auf ihn fiel, obwohl er doch so eine schöne Stimme (εὔφωνος) habe (Dem. de cor. 285). Außerdem kann der Stimmeinsatz als maßlos, d. h. in der Regel als zu laut, zu hoch oder zu variierend, gekennzeichnet werden. Der Redner erscheint dann als jemand, der die Grenzen des Schicklichen verletzt. Die Fähigkeit zum schrillen Aufschreien (ὀλολύξαι, ὀλολύζειν ὑπέρλαμπρον) habe Aischines bei den Sabazios-Mysterien25 seiner Mutter erlernt und sie schlage sich in seiner Rede darin nieder, dass er laut spreche (φθέγγεσθαι μέγα, Dem. de cor. 259). Wenn Demosthenes davon berichtet, wie Aischines in einer Rede eigentlich Traurigkeit zeigen sollte, stattdessen aber die Stimme erhoben habe und fröhlich aus voller Kehle schreie (ἐπάρας τὴν φωνὴν καὶ γεγηθὼς καὶ λαρυγγίζων26), so wird durch die Diskrepanz von angebrachtem Affekt und Stimmführung nicht nur auf die Künstlichkeit und Unangebrachtheit des mündlichen Vortrags hingewiesen, sondern so werden gleichzeitig die Gefühle des Aischines als unecht entlarvt (Dem. de cor. 291). Aber selbst wenn Aischines der Ton der Trauer gelingt und er beim Beklagen des Loses von Gefallen »mit seiner Stimme weint« (τῇ φωνῇ δακρύειν, Dem. de cor. 287), so tue er dies wie ein Schauspieler (ὑποκρινόμενον), der er ja auch war (vgl. Dem. de cor. 262), trauere aber nicht im Herzen mit (τῇ ψυχῇ συναλγεῖν). Die Unechtheit des Pathos wird hier (Dem. de cor. 287) aus der falschen Stimmführung abgeleitet und zudem als professionell und trainiert beschrieben. Des Weiteren kann die Behauptung, der Gegner übe seine Stimme und bereite sie auf den Auftritt vor, in den Vorwurf münden, er lege bei seinen echten Reden den Schwerpunkt auf die Stimme und nicht auf den Inhalt des Gesagten (z. B. Dem. de cor. 308 und de fals. leg. 336: πεφωνασκηκώς27). Demosthenes wirft Aischines vor, er rede nur, um eine Kostprobe (ἐπίδει24 Zu Demosthenes’ Lob von Aischines’ Stimme vgl. auch WILLE (1958/2001), S. 1033. 25 Vgl. WANKEL (1976), S. 1133. 26 Vielleicht ist mit λαρυγγίζειν weniger das kraftvolle Schreien (so LSJ, s. v. λαρυγγίζω) gemeint, sondern eher das Breitmachen der Aussprachen (vgl. WANKEL [1976], S. 1238 zu πλατύνειν τὴν φωνήν) oder das Einsetzen aller Kehlkopfkünste. 27 Aischines betreibt also angeblich eher Stimmübung, als eine Rede zu halten. Zur φωνασκία vgl. Kapitel 2.2.2.

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ξις) seiner Kunst, auch seines Stimmtrainings (φωνασκία) zu geben, und er halte nicht den Inhalt, sondern das Anspannen der Stimme (ὁ τόνος τῆς φωνῆς) für das Wesentliche am Vortrag (Dem. de cor. 280). Aischines’ Reden werden so als leere Übungsreden und als Stimmübungen (λογάρια δύστηνα μελετήσας καὶ φωνασκήσας) abgetan (Dem. de fals. leg. 255). Der Angriff auf die stimmliche Gestaltung dient hier also der Destruktion des Inhalts der Rede. Schließlich erwähnt Demosthenes den geschickten Stimmeinsatz des Gegners auch, um direkt vor diesem zu warnen. Die Zuhörer werden aufgefordert, auf die Stimme des Redners zu achten, um nicht deren intendierter Wirkung zu erliegen. Demosthenes (de fals. leg. 337–340) weist die Richter darauf hin, dass Aischines sich für seine Stimme rühme und sich auch sehr um sie sorge in der Hoffnung, durch seine Schauspielerei die Richter zu bezwingen (ὡς καθυποκρινούμενον ὑμᾶς).28 Man dürfe sich aber von seiner schönen Sprechweise nicht beeindrucken lassen, sondern müsse klar unterscheiden zwischen der Stimme und der inneren Einstellung des Menschen. Mehrfach werden die Zuhörer gewarnt, wie gewaltig Aischines seine Stimme einsetzen könne (de fals. leg. 206). Sie sollten darauf achten (de fals. leg. 336), dass er zwar seine Stimme anstrengen werde (ἐπαρεῖ τὴν φωνὴν), aber nichts zu sagen haben werde (οὐχ ἕξει τί λέγῃ). Form und Inhalt, so suggeriert Demosthenes, klaffen bei Aischines deutlich auseinander. Bewusst stellt er sich selbst daher als Gegenpart zum stimmgewaltigen Gegner dar. Während dieser schön und laut sprechen werde (καλὸν καὶ μέγα φθέγξεται), so werde Demosthenes selbst mit schwacher Stimme (φαῦλον) sprechen (Dem. de fals. leg. 216).29 Doch auch Aischines kennt diese Strategie, den Gegner durch Hinweise auf dessen mündlichen Vortrag zu diskreditieren. Er fordert die Zuhörer auf (Aisch. de fals. leg. 157), sich zu erinnern, wie Demosthenes seine schrille und gottlose Stimme angestrengt habe (ἐντεινάμενος ταύτην τὴν ὀξεῖαν καὶ ἀνόσιον φωνήν). Zudem macht er darauf aufmerksam, dass Demosthenes die Stimme als affekterregendes Instrument nutze, wenn er ihn direkt fragt, wozu er denn Tränen, Lärm und das Anspannen seiner Stimme (τίς ὁ τόνος τῆς φωνῆς;) einsetze (Aisch. adv. Ctes. 208). In einer (später überlieferten) bekannten Anekdote hingegen lobt Aischines den mündlichen Vortrag des Demosthenes, den er in seinen Reden scharf angreift. Hier äußert sich auch nicht mehr der politische Gegner und Redner Aischines, sondern der unbeteiligte Rhetoriker. Die Anekdote dürfte aber auch als Zeugnis für die spätere Verehrung des Demosthenes zu werten sein.30 28 Vgl. PAULSEN (1999), S. 297. 29 Vgl. ebd., S. 222. 30 So deutet diese Anekdote, die zuerst bei Cicero (de orat. 3,213, vgl. Quint. inst. 11,3,7)

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Die Stimme in der antiken rhetorischen Theorie und Praxis

3.1.2 Thrasymachos und Platon

Die Theoriebildung des mündlichen Vortrag beginnt in der Zeit der Sophistik in der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts.31 So finden sich erste Ansätze zu einer theoretischen Beschäftigung mit dem mündlichen Vortrag des Redners bei Thrasymachos und Platon, die beide auch auf Aristoteles eingewirkt haben.32 Der Sophist Thrasymachos hat zwar keine Schrift über den rhetorischen Vortrag verfasst. Die Neuerungen, die der Rhetor, der zumindest prinzipiell detaillierte technische Anweisungen gab (Plat. Phaidr. 266c), in die Rhetorik einführte, lassen aber darauf schließen, dass er auch dem rhetorischen Vortrag seine Aufmerksamkeit schenkte.33 Im Phaidros (267c7-d2) ist er Sokrates bekannt für die meisterhafte »Kunst seiner jämmerlich klagenden Reden« (τῶν οἰκτρογόων λόγων τέχνη), neben seiner Fähigkeit, die Menge zu erzürnen (ὀργίσαι πολλούς), die Erzürnten zu bezaubern und zu besänftigen (ὠργισμένοις ἐπᾴδων κηλεῖν), zu verleumden und Verleumdungen abzutun. Schon aus diesen Aussagen von Sokrates lässt sich ableiten, dass im Zentrum von Thrasymachos’ Interesse an der Rhetorik die Affekteinwirkung stand.34 In engem Zusammenhang mit ihr entwickelte Thrasymachos den Periodenstil und begründete die rhythmische Kunstprosa.35 Dieser Stil erfordert eine bewusste Beherrschung der Atemtechnik und der Sprechmelodie.36 Das Gleiche gilt für die gezielte Erregung von Affekten. In seinen Eleoi (»Mitleidsformeln«) gab Thrasymachos Musterbeispiele zur Affekterregung.37 Folgt man Aristoteles (rhet. 1404a13–15), so hat Thrasymachos hier offenbar auch rudimentäre Anweisungen zum Vortrag des Redners gegeben: ἐγκεχειρήκασι δὲ ἐπ᾽ ὀλίγον περὶ αὐτῆς (sc. die Theorie des rhetorischen Vortrags) εἰπεῖν τινές, οἷον Θρασύμαχος ἐν τοῖς Ἐλέοις.38 überliefert ist (vgl. FANTHAM [1982], S. 256), auch KRUMBACHER (1920), S. 29. Aischines trägt den Rhodiern die Rede des Demosthenes für Ktesiphon vor. Auf ihre Begeisterung hin erklärt er, dass sie noch ganz anders staunen würden, wenn sie Demosthenes selbst gehört hätten. 31 Vgl. JOHNSTONES (2001) Untersuchung der akustischen Auftrittsbedingungen der griechischen Redner des 5. Jh. v. Chr, die plausibel macht, dass sie sich mit dem Vortrag befasst haben. Siehe v. a. S. 121, 123–126, 138. 32 Vgl. v. a. FORTENBAUGH (1986), S. 246–253. 33 Zu einer rhetorischen Τέχνη des Thrasymachos siehe DRERUP (1901), S. 226 f. und die Zeugnisse bei RADERMACHER (1951), S. 70. 34 Vgl. DRERUP (1901), S. 225 f. 35 Vgl. KRUMBACHER (1920), S. 17 und OPPENHEIMER (1936), Sp. 589, 591. Zu Thrasymachos’ (periodischem und rhythmischen) Stil und seiner Bedeutung für die attische Kunstprosa vgl. v. a. DRERUP (1901), S. 227–251. 36 Vgl. KRUMBACHER (1920), S. 18. 37 Vgl. OPPENHEIMER (1936), Sp. 589. 38 Vgl. dazu ausführlicher Kapitel 3.1.3. Vgl. auch OPPENHEIMER (1936), nach dessen Auf-

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Der richtige mündliche Vortrag wird von Platon in der Politeia im Zusammenhang mit der musischen Erziehung der Wächter (φύλακες) behandelt.39 Platons Erläuterungen beziehen sich zwar auf den Vortrag von Dichterwerken und nicht auf Reden, sind aber nicht ohne Einfluss auf die Theorie des rhetorischen Vortrags (v. a. bei Aristoteles40) geblieben und sollen daher hier kurz erwähnt werden. Die Ausführungen, die dort über die Geschichten, die die Wächter erzählen sollen, die λόγοι, gemacht werden (376e9–398b9), sind untergliedert in »was gesagt werden muss« und »wie es gesagt werden muss« (392c7–8: ἅ τε λεκτέον καὶ ὡς λεκτέον, vgl. 394c7– 8). Aristoteles wird diese Einteilung Platons in seiner Rhetorik (1403b15– 18) übernehmen. Unter dem Zweitgenannten versteht Platon im Folgenden λέξις, d. h. hier Stil und mündlichen Vortrag. Es geht dann v. a. um die Passagen, wo ein Dichter jemand anderen nachahmt, er eine seiner Figuren eine Rede halten lässt (393c1–3). Die nachahmende Darstellung einer anderen Person könne in Hinblick auf die Stimme oder die Gestik (393c5–6: ἢ κατὰ φωνὴν ἢ κατὰ σχῆμα, vgl. 397b1–1) erfolgen. Diese Zweiteilung des Vortrags in Stimme und Gestik findet man so explizit in der Rhetorik (wahrscheinlich)41 erst bei Theophrast. Die Frage bei Platon ist nun, welcher Art diese Nachahmung sein soll und inwieweit die Wächter beim Vortrag der Dichterwerke andere Personen nachahmen dürfen. Da Nachahmung in Gewöhnung und in Natur (εἰς ἔθη τε καὶ φύσιν) übergehe (395d1–3), dürften die Wächter nur gute, edle, unschädliche Dinge nachahmen (395c3–5) sowie den guten Mann, den ἀνὴρ ἀγαθός (396c5–8).42 Die Vortragsart (λέξις) des wahrhaft Guten (καλὸς κἀγαθός) unterscheide sich grundsätzlich von der eines Mannes, der dessen Gegenteil ist (396b10– 397c3). Der Vortrag des wahrhaft guten Mannes aber bestehe nur aus kleinen Veränderungen (σμικραὶ γὰρ αἱ μεταβολαί) in Melodie (ἁρμονία) und Rhythmus (ῥυθμός) (397b6-c1).43 Abgelehnt wird die Vortragsart, bei der es viele Arten von Variationen (παντοδαπὰς μορφὰς τῶν μεταβολῶν, 397c5) in Melodie und Rhythmus gibt. Gerade diese Vortragsart gefalle der breiten Volksmasse (397d6–8). Sie soll es aber im idealen Staat

fassung die Aristoteles-Bemerkung zeige, »daß Thrasymachos seine πάθη-Theorie auch nach dieser Seite hin ausgebaut hat und sich der Bedeutung der actio für die Darstellung und Erregung der Affekte bewußt gewesen ist« (Sp. 590). 39 Vgl. für die Analyse dieser Stelle FORTENBAUGH (1986), S. 250 f. 40 Zu Aristoteles vgl. Kapitel 3.1.3. 41 Vgl. Kapitel 3.1.4 zur entscheidenden Konjektur φωνῆς. 42 Mit einer ähnlichen Begründung (nam frequens imitatio transit in mores) verbietet Quintilian (inst. 1,11,2) dem Rhetorikschüler (im Vorunterricht beim Komöden) die Nachahmung von Trunkenheit, sklavischer Frechheit, Liebe, Geiz und Furcht mit der Stimme. 43 Vgl. Quintilians Anweisung zu non ita magnae declinationes vocis in inst. 11,3,46 (vgl. Kapitel 4.2.3).

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nicht geben (397d10-e1).44 Platons Abneigung gegenüber dieser künstlichen, auf das Volk ausgerichteten Vortragsart ist somit letztlich auf seine aristokratische politische Einstellung zurückzuführen.45 Auch Aristoteles stellt einen Zusammenhang zwischen Vortragsstil, nicht-idealer politischer Verfassung (des Staates und der Bürger, rhet. 1403b32–35 und 1404a8) und Reden vor dem Volk (rhet. 1414a7–18) her.46

3.1.3 Aristoteles

Zu Anfang des dritten Buches der Rhetorik fügt Aristoteles in seine Ausführungen zum sprachlichen Ausdruck, zur λέξις47, auch einige Gedanken zum Vortrag des Redners ein. Er beginnt dieses letzte Buch mit einem Rückblick auf die Bücher 1 und 2 und einem Ausblick auf das dritte Buch selbst (1403b6–15). Drei Dinge müssten in Hinblick auf die Rede untersucht werden (τρία ἐστὶν ἃ δεῖ πραγματευθῆναι περὶ τὸν λόγον), erstens, woraus man die Überzeugungsmittel (πίστεις) gewinnt, zweitens der sprachliche Ausdruck der Rede (λέξις) und drittens die richtige Anordnung der Redeteile (πῶς χρὴ τάξαι τὰ μέρη τοῦ λόγου). Bisher, in den ersten beiden Büchern, hat er über die drei Überzeugungsmittel λόγος, ἦθος und πάθος gehandelt, die er an dieser Stelle noch einmal kurz zusammenfasst. Jetzt müsse man über den sprachlichen Ausdruck (λέξις) sprechen, denn es sei nicht genug zu wissen, was man sagen muss (ἃ δεῖ λέγειν), vielmehr müsse man auch wissen, wie man es sagen muss (ὡς δεῖ εἰπεῖν). Aristoteles folgt mit dieser Einteilung seines Werkes in zwei Hälften (1403b15–18) der platonischen Einteilung (Plat. pol. 392c7–8) in ein Was und ein Wie der Rede, wobei er zunächst wie Platon ganz allgemein das Wie der Rede mit dem Ausdruck λέξις bezeichnet. Dieses Wie trage viel dazu bei, dass die Rede in einer ganz bestimmten Art und Weise erscheine (συμβάλλεται πολλὰ πρὸς τὸ φανῆναι ποιόν τινα τὸν λόγον). Buch 1 und 2 haben sich also mit dem Inhalt der Rede befasst, nun erwartet der Leser Ausführungen zu allem, was zur Präsentation des Inhalts, zum Wie der Rede gehört. Zunächst ordnet Aristoteles in einem historischen Exkurs das Was und das Wie in eine zeitliche Reihenfolge ein (1403b18–27).48 Als erstes habe 44 Vgl. WÖHRLE (1990), S. 36. 45 Vgl. ebd., S. 35. 46 Vgl. Kapitel 3.1.3. 47 Der Begriff λέξις (»Stil«) oszilliert in diesem Kapitel zwischen den Bedeutungen »stilistische/sprachliche Formulierungskunst« (normativ gemeint) und »konkrete stilistische/ sprachliche Formulierung« (deskriptiv gemeint). Über die verschiedenen Verwendungen von »λέξις« vgl. RAPP (2002), S. 807 und KENNEDY (1991), S. 216. 48 Aristoteles meint hier nicht die Reihenfolge der Elemente πράγματα, λέξις, ὑπόκρι-

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man gemäß der Natur (κατὰ φύσιν) das gesucht, was auch zuerst da sei, nämlich die Dinge selbst (αὐτὰ τὰ πράγματα), aus denen man das Überzeugende (τὸ πιθανόν) gewinne. Als zweites habe man die Gestaltung dieser Gegenstände mittels des sprachlichen Ausdrucks (τὸ ταῦτα τῇ λέξει διαθέσθαι) gesucht. Noch nicht habe man aber als drittes das theoretisch untersucht (οὔπω {δ᾽}49 ἐπικεχείρηται), was mit dem Vortrag zu tun hat (τὰ περὶ τὴν ὑπόκρισιν), der nach Aristoteles eine außerordentlich große Wirkungsmacht hat (δύναμιν μὲν ἔχει μεγίστην). Dass dies nicht verwunderlich ist, will Aristoteles mit einem Vergleich mit anderen Künsten zeigen. Denn auch in der Tragödie und der Rezitation der Rhapsoden sei die Beschäftigung mit dem Vortrag erst spät aufgekommen (καὶ γὰρ εἰς τὴν τραγικὴν καὶ ῥαψῳδίαν ὀψὲ παρῆλθεν), weil schließlich anfangs die Dichter selbst ihre Tragödien (als Schauspieler) vorgetragen hätten (ὑπεκρίνοντο γὰρ αὐτοὶ τὰς τραγῳδίας οἱ ποιηταὶ τὸ πρῶτον)50 und dabei dann also nicht auf fremde technische Vorschriften angewiesen waren.51 Es sei nun klar, dass es Derartiges (τὸ τοιοῦτον), also den Vortrag, ebenso in der Rhetorik wie in der Dichtkunst gebe, wo er bereits von

σις in seiner eigenen Darstellung (wie zu Beginn in rhet. 1403b7–8). Als logisches Subjekt sind diejenigen gemeint, die sich bereits mit der Rhetorik beschäftigt haben. So versteht diese Stelle auch LOSSAU (1971), S. 155. Neben der chronologischen Anordnung könnte allerdings auch eine »natürliche Rangfolge« (RAPP [2002] z. St.) mitgemeint sein, nicht allerdings eine Reihenfolge nach der Wirkungsmacht. Man muss als Redner zunächst wissen, was man sagt, dann, wie man es formuliert, und dann, wie man es vorträgt. Weniger wahrscheinlich ist demgegenüber die Auffassung von FORTENBAUGH (1986), S. 247 f., der die Dreiteilung in πράγματα, λέξις, ὑπόκρισις und die Dreiteilung in πίστεις, λέξις, τάξις (rhet. 1403b7–8) für gleichwertige Einleitungen in Buch 3 hält, die merkwürdig zusammengestellt (»awkwardly joined together«) seien. Die zweite sei die jüngere von beiden, die stark platonisch beeinflusst sei. 49 Mit der Streichung von δ᾽ folge ich dem Vorschlag von STROH (mündlich). Der sonst entstehende Widerspruch (»als drittes folgte das, was mit dem Vortrag zu tun hat, aber noch nicht untersucht worden ist«) lässt sich sonst kaum auflösen. Mit ἐπιχειρέω müsste hier allenfalls eine wissenschaftlich-systematische und wohl schriftliche Beschäftigung in rhetorischem Rahmen im engeren Sinn gemeint sein, während ζητέω (rhet. 1403b18) eher eine allgemeine, irgendwie geartete Auseinandersetzung mit dem Thema meinen müsste. Später (rhet. 1404a13–15) präzisiert Aristoteles seine hier getroffene Aussage und gesteht zu, der rhetorische Vortrag sei bereits ein wenig wissenschaftlich behandelt worden: ἐγκεχειρήκασιν (ἐπιχειρεῖν und ἐγχειρεῖν sind gleichbedeutend, vgl. WARTELLE [1982], s. v. ἐπιχειρεῖν und ἐγχειρεῖν) ἐπ᾽ ὀλίγον. 50 Aristoteles geht davon aus, dass es anfangs jeweils nur einen Schauspieler gab, vgl. Arist. poet. 4 (1449a15–17). Aischylos habe dann den zweiten Schauspieler eingeführt. 51 Vermutlich erkennt Aristoteles hier einen Parallelfall zur Logographie. Wenn der Redner seine Rede nämlich nicht selbst verfasst hat, sondern sie von einem Logographen stammt, so muss dieser ihm Anweisungen zum Vortrag geben.

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einigen anderen, u. a. auch einem Glaukon von Teos52, behandelt worden sei. Aristoteles charakterisiert den Vortrag, der der Logik nach auch zum Wie der Rede gehört und daher an dieser Stelle behandelt werden müsste, somit als äußerst wirkungsmächtig, als der λέξις zeitlich nachgeordnet, als bislang noch nicht untersucht und als einen Bestandteil mehrerer Künste. Dann geht er genauer auf den mündlichen Vortrag ein, indem er offenbar die Lehre Glaukons und vielleicht anderer, nicht-rhetorischer Theoretiker referiert (1403b27–32): ἔστι δὲ αὕτη (sc. ὑπόκρισις) μὲν ἐν τῇ φωνῇ, πῶς αὐτῇ δεῖ χρῆσθαι πρὸς ἕκαστον πάθος, οἷον53 πότε μεγάλῃ καὶ πότε μικρᾷ καὶ μέσῃ, καὶ πῶς τοῖς τόνοις, οἷον ὀξείᾳ καὶ βαρείᾳ καὶ μέσῃ, καὶ ῥυθμοῖς τίσι πρὸς ἕκαστα. τρία γάρ ἐστι περὶ ἃ σκοποῦσιν· ταῦτα δ᾽ ἐστὶ μέγεθος ἁρμονία ῥυθμός. Der Vortrag aber liegt in der Stimme, wie diese in Hinblick auf jeden Affekt eingesetzt werden muss, d. h. wann laut, wann leise und wann in mittlerer Lautstärke, und mit welchen Tonhöhen, d. h. mit hoher, tiefer und mittlerer Tonhöhe, und mit welchen Rhythmen für jeden Affekt. Denn es sind drei Dinge, die sie (sc. Theoretiker wie Glaukon) beachten. Diese sind Lautstärke, Tonhöhe und Rhythmus.

Von dieser Lehre aus der Schauspielkunst distanziert sich Aristoteles nicht, sondern schließt sich ihr vielmehr implizit an. Dabei müssen drei Dinge in dieser zentralen Passage hervorgehoben werden. Erstens ist die Fixierung auf die Stimme auffällig.54 Sie scheint die wichtigste Rolle beim Vortrag zu spielen.55 Zweitens wird die Stimme in Bezug auf die Affekte (πρὸς ἕκαστον πάθος) behandelt. Nach der Definition im zweiten Buch der Rhetorik verändern die πάθη das Urteil von Menschen und sind von Trauer und Freude begleitet.56 Der Redner kann also über seine Stimme die Stimmung 52 Glaukon von Teos (vgl. Plat. Ion 530d1 über einen Rhapsoden dieses Namens und Arist. poet. 1461b1) hat also offenbar den Vortrag in der Dichtung behandelt. Vgl. COPE/ SANDYS (1877) z. St., RAPP (2002) z. St., ANDERSEN (2003), S. 20. 53 οἷον heißt hier nicht »zum Beispiel«, sondern gibt erläuternd die Möglichkeiten vollständig an, die gemeint sein können. Vgl. COPE/SANDYS (1877) z. St. und LSJ, s. v. οἷος V2e. 54 In rhet.1408b6 und 1386a32 werden hingegen auch Mimik (πρόσωπον) und Gestik (σχήματα) erwähnt. Vgl. FORTENBAUGH (1985/2003), S. 256. 55 Die Stimme ist nach Aristoteles (rhet. 1404a21–22) der Teil von uns, der am besten (die Realität) darstellen und nachahmen kann (ἡ φωνὴ πάντων μιμητικώτατον τῶν μορίων ἡμῖν). Allerdings sollte der Redner, um natürlich zu wirken, in seiner eigenen Stimme sprechen (und nicht fremde nachahmen), wie der Schauspieler Theodoros (vgl. rhet. 1404b21–24). 56 Vgl. rhet. 1378a20–22: ἔστι δὲ τὰ πάθη δι᾽ ὅσα μεταβάλλοντες διαφέρουσι πρὸς τὰς κρίσεις οἷς ἕπεται λύπη καὶ ἡδονή … .

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der Zuhörer beeinflussen.57 Aristoteles scheint davon auszugehen, dass jedem hervorzurufenden πάθος ein bestimmter Stimmklang entspricht. Drittens werden bei diesem Klang drei Bestandteile58 beachtet (mit denen man ihn beschreiben kann) nämlich Lautstärke, Tonhöhe und Rhythmus (bzw. evtl. Tempo).59 Hier finden wir zum ersten Mal in rhetorischem Kontext die Aufteilung des bewusst eingesetzten Stimmklangs in einzelne Bestandteile. Menschen, die die Stimme so einsetzen, die also mit ihrer Stimme über die Affekte die Zuhörer beeinflussen, erringen nach Aristoteles fast immer die Siegespreise in den (dramatischen und rhapsodischen)60 Wettbewerben (ἀγῶνες), und genauso wie dort, bei den Wettbewerben, die Schauspieler (οἱ ὑποκριταί) mehr vermögen als die Dichter, sei es auch bei politischen Auseinandersetzungen (κατὰ τοὺς πολιτικοὺς ἀγῶνας), also in der Volksversammlung, und zwar wegen der Schlechtigkeit der Verfassungen (διὰ τὴν μοχθηρίαν τῶν πολιτειῶν61, 1403b32–35). Beim Agon der Tragödie seien also die Schauspieler wichtiger für den Sieg als die Dichter selbst und auch bei Politikern komme es für den Erfolg beim Publikum mehr auf das Wie als auf das Was der Rede an.62 Der Vortrag verleihe Durchset57 Schon im zweiten Buch der Rhetorik (1386a31–33) hatte Aristoteles im Zusammenhang mit seinen allgemeinen Ausführungen zum Mitleid erklärt, dass die Personen in höherem Maß bemitleidenswert sind, die durch Gesten, Stimmen, Kleidung und überhaupt in ihrem Auftritt (so) wirken, als solche, die das nicht tun: ἀνάγκη τοὺς συναπεργαζομένους σχήμασι καὶ φωναῖς καὶ αἰσθήσει καὶ ὅλως ἐν ὑποκρίσει ἐλεεινοτέρους εἶναι. 58 In De anima (422b29–31) bei der Besprechung der Natur (nicht der Behandlung) der Stimme teilt Aristoteles diese in Tonhöhe, Lautstärke und Klangfarbe ein: οἷον ἐν φωνῇ οὐ μόνον ὀξύτης καὶ βαρύτης, ἀλλὰ καὶ μέγεθος καὶ μικρότης, καὶ λειότης καὶ τραχύτης φωνῆς, καὶ τοιαῦθ᾽ ἕτερα. Sie ähnelt stark der platonischen im Timaios (67b, vgl. Kapitel 2.1.1). 59 Vermutlich meint Aristoteles hier mit dem Rhythmus das Sprechtempo (nicht aber die Färbung der Stimme, wie CAMPE [2009], Sp. 86 glaubt), auch wenn die Verwendung von ῥυθμός in diesem Sinne sonst bei Aristoteles nicht vorzukommen scheint (vgl. WARTELLE [1982], S. 384 und [1985], S. 141, s. v. ῥυθμός: »rythme, mesure, proportion, cadence«). Auch bei späteren Einteilungen der Stimme in ihre Bestandteile findet sich in der Regel statt des hier verwendeten ῥυθμός (der sich ja eigentlich auch schon aus dem Text und nicht erst aus dem Vortrag ergibt) die Sprechgeschwindigkeit, also eine Dreiteilung in Lautstärke, Tonhöhe und Tempo. Siehe z. B. Quint. inst. 11,3,17 und Cic. de orat. 3,216. 60 Vgl. COPE/SANDYS (1877) z. St. 61 πολιτειῶν codd. : πολιτῶν Spengel. Die einhellig überlieferte Lesart wird hier beibehalten. LOSSAU (1971) analysiert Parallelen für den Zusammenhang von Vortrag und schlechter Verfassung bei Aristoteles und zeigt, dass auch die politische Theorie des Aristoteles für diese Lesart spricht. Da mit schlechten Verfassungen auch schlechte Bürger einhergehen, ist der spätere Rückverweis (rhet. 1404a7–8) nicht unverständlich. Vgl. RAPP (2002) z. St. 62 Vgl. Aristoteles’ Aussagen über die politischen Verfassungen und Kleon in Ath. pol. 28, die bereits im Kapitel 3.1.1 über Kleon vorgestellt wurden.

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zungskraft bei öffentlichen Reden. Allerdings impliziert Aristoteles, dass die Vortragskunst in einem idealen Staat keine derart herausragende Bedeutung hätte, im gegebenen Staat aber wegen der schlechten Verfassung unerlässlich sei. Offenbar führt dieser Gedanke Aristoteles zu der erneuten Frage nach dem Grund für die Vernachlässigung der Theorie der ὑπόκρισις (1403b35–1404a12). Dass es noch kein Lehrbuch über die besprochenen Dinge gibt, über den richtigen Stimmeinsatz mit Lautstärke, Tonhöhe und Rhythmus (bzw. evtl. Tempo), liege daran, dass auch das, was zum sprachlichen Ausdruck der Rede (λέξις) gehört, spät aufgekommen sei. Aristoteles knüpft damit an die relative Chronologie an, die er bereits oben (1403b20) gegeben hat. Das Interesse an der λέξις war demnach zweitrangig hinter der Beschäftigung mit den πράγματα und das Interesse am Vortrag wiederum der λέξις nachgeordnet. Ein noch allgemeinerer Grund gegen die theoretische Beschäftigung mit dem Vortrag ist, dass dieser überhaupt etwas Vulgäres zu sein scheine (δοκεῖ φορτικὸν63 εἶναι), wenn man es richtig auffasse.64 Dennoch hat es offenbar Sinn, sich in der Rhetorik damit zu beschäftigen. Die gesamte Wissenschaft der Rhetorik ziele nämlich bloß auf Meinung, ja Schein (πρὸς δόξαν). Um das, was den Vortrag betrifft (so ist das logische Subjekt des Satzes zu ergänzen), müsse man sich nämlich kümmern, nicht etwa weil es richtig sei (οὐχ ὡς ὀρθῶς ἔχοντος), sondern weil es notwendig (ἀναγκαίου) sei. Gerecht (δίκαιον) wäre es schon, auf Trauer oder Freude zu verzichten (μήτε λυπεῖν μήτ᾽ εὐφραίνειν)65, also auf die Affekterregung, die als Kernaufgabe des Vortrags beschrieben worden ist, und nur mit den Tatsachen selbst wettzustreiten (αὐτοῖς ἀγωνίζεσθαι τοῖς πράγμασιν). Aristoteles’ ambivalente Einstellung zum Vortrag hängt damit offenbar auch mit seiner ambivalenten Einstellung zur Affekterregung, zum πάθος, zusammen. Wie der Vortrag ist nach Aristoteles’ Auffassung auch das πάθος ein Zugeständnis an eine nicht-ideale Rhetorik in nicht-idealen Sprechsituationen.66 Der Redner bedient sich aber 63 Genauer gesagt bezeichnet φορτικός hier wie an anderen Stellen das aus Sicht der Philosophie Vulgäre. Vgl. COPE/SANDYS (1877) z. St. 64 Als vulgär empfindet Aristoteles es sicher auch, dass der Vortrag alleine – sogar ganz ohne Inhalt – Wirkung auf die Zuhörer haben kann. Vgl. dazu rhet. 1408a23–25: Viele beeindrucken ihre Zuhörer, indem sie lärmen, also laut und pathetisch reden, auch wenn sie gar nichts zu sagen haben: καὶ συνομοπαθεῖ ὁ ἀκούων ἀεὶ τῷ παθητικῶς λέγοντι, κἂν μηθὲν λέγῃ. διὸ πολλοὶ καταπλήττουσι τοὺς ἀκροατὰς θορυβοῦντες. 65 Diese merkwürdige und kurze Formulierung setzt offenbar voraus, dass der Leser weiß, dass nach aristotelischer Lehre (rhet. 1378a20–22) die Erregung von Emotionen im Hörer immer mit Trauer und Freude (λύπη καὶ ἡδονή) verbunden ist. 66 Die ambivalente bzw. widersprüchliche Einstellung des Aristoteles zum πάθος liegt darin, dass er einerseits zu Beginn seiner Rhetorik (1354a11–31) die bisherigen Technographen scharf für ihre Ausrichtung auf das πάθος kritisiert, es dann aber selbst ausführlich als

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sowohl des Vortrags als auch der Affekterregung, weil beide sich auf den Zuhörer beziehen und sehr wirkungsmächtig sind.67 Der hohe Anspruch, stattdessen nur mit den Tatsachen zu überzeugen, widerspricht der rhetorischen Realität. Mit der sachlichen Erörterung ist eben offenbar nicht automatisch die Wirksamkeit des Gesagten verbunden. Vielmehr bewirke das, was außerhalb des reinen Beweisens liegt (τἆλλα ἔξω τοῦ ἀποδεῖξαι), also der Vortrag und die λέξις, viel (μέγα δύναται), da der Zuhörer eben kein idealer Zuhörer sei, sondern sich wie die Verfassungen der Staaten durch Schlechtigkeit (μοχθηρία) auszeichne.68 Dennoch sei der sprachliche Ausdruck (λέξις), nicht aber offenbar der Vortrag, wenigstens in geringer Weise bei jeder Art von belehrender Darlegung (ἐν πάσῃ διδασκαλίᾳ) notwendig (ἔχει τι μικρὸν ἀναγκαῖον69). Ob man etwas so oder so sage, mache nämlich einen Unterschied hinsichtlich der so erzeugten Klarheit des Dargestellten (πρὸς τὸ δηλῶσαι).70 Aristoteles bemüht sich aber gleich, seine Aussage einzuschränken, will der λέξις offenbar auch keine zu große Bedeutung zumessen. So groß (wie man meint) sei der durch die Formulierung erzeugte Unterschied freilich nicht, sondern dieses alles sei nur wieder Schein (φαντασία71) und auf den Zuhörer ausgerichtet (πρὸς τὸν ἀκροατήν), und darum lehre niemand so Geometrie. Der sich daran anschließende Gedanke (1404a12–19) bereitet einige Schwierigkeiten. Zunächst scheint im folgenden Satz das logische Subjekt nicht ganz eindeutig:

eines von drei Überzeugungsmitteln behandelt (in Buch 2,2–11, 1378a31–1388b30). Dabei ist aber zu bedenken, dass Aristoteles zunächst im Einleitungskapitel von einer idealen Sprechsituation ausgeht, in der in der Tat kein πάθος nötig wäre. Der Rest der Darstellung widmet sich dann der Rhetorik, wie sie unter den gegebenen Bedingungen in den nicht-idealen Staaten funktioniert. Zur Auflösung dieses »Widerspruchs« vgl. SCHÜTRUMPF (1994), S. 115 und SPRUTE (1994), S. 119 f.; dagegen: STROH (2009), S. 168–170. Als unauflösbar wird der Widerspruch hingegen z. B. von WISSE (1989), S. 17–20, 72 empfunden. 67 Zum Bezug des πάθος auf den Zuhörer und zu seiner Wirkungsmacht vgl. rhet. 1356a14–19, 1354a18.24. 68 Dass der Redner sich auf ungebildete Zuhörer einrichten muss, erwähnt Aristoteles häufiger. Vgl. mit RAPP (2002) z. St. Aristoteles’ Aussagen über die Schlechtigkeit und Ungebildetheit der Zuhörer in Arist. rhet. 1382b4–5, 1395a32-b3, 1415b4–6, 1419a18. Siehe auch WILLE (1958/2001), S. 992. 69 Anders als oben (rhet. 1404a3) bezeichnet hier ἀναγκαῖος nicht ein »notwendiges Übel«, sondern ein positives Vonnötensein. 70 Die Klarheit ist für Aristoteles der höchste Vorzug des Stils vgl. rhet.1404b1–2: ὡρίσθω λέξεως ἀρετὴ σαφῆ εἶναι. 71 Für diese Bedeutung von φαντασία (vgl. δόξα in rhet. 1404a2) bei Aristoteles siehe COPE/SANDYS (1877) z. St. Aristoteles verwendet φαντασία sonst auch positiv in der Bedeutung »Vorstellungskraft« (LSJ, s. v. φαντασία 2b).

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ἐκείνη μὲν οὖν ὅταν ἔλθῃ ταὐτὸ ποιήσει τῇ ὑποκριτικῇ. Wenn jene also (zur Kunst/Theorie) dazukommt, wird sie dasselbe erreichen wie die Kunst des Schauspielers.

Mit ἐκείνη muss aber die Theorie der rhetorischen Vortragskunst gemeint sein.72 Ein Redner, der ihre Technik beherrscht, wird so erfolgreich sein wie ein Schauspieler (vgl. 1403b33–34). Manche hätten sie bereits ein wenig (ἐπ᾽ ὀλίγον) in Angriff genommen, u. a. auch Thrasymachos in seinen Eleoi.73 Damit präzisiert Aristoteles seine oben (1403b21–22) zunächst sehr pauschal getroffene Aussage, der Vortrag sei in der Rhetorik noch gar nicht theoretisch behandelt worden. Aristoteles führt jetzt einen neuen Grund an, der dagegen spricht, dass der Vortrag überhaupt zur rhetorischen τέχνη gehört: καὶ ἔστιν φύσεως τὸ ὑποκριτικὸν εἶναι, καὶ ἀτεχνότερον, περὶ δὲ τὴν λέξιν ἔντεχνον.74 Und über einen guten Vortrag zu verfügen, ist eine Sache der Natur und gehört eher nicht in den Bereich der Kunst. Aber einen guten Stil zu haben, gehört in den Bereich der Kunst.75 72 Ebenso COPE/SANDYS (1877) z. St. und ANDERSEN (2003), S. 25. RAPP (2002) z. St. versteht unter ἐκείνη hier die λέξις. Er weist insbesondere die Übersetzung von ὑποκριτική mit »Schauspielkunst« zurück, da dann angeblich »derselbe Ausdruck« hier die Schauspielkunst und in rhet. 1403b22 die Vortragskunst des Redners bezeichne. Rapp irrt hier aufgrund seiner falschen Gleichsetzung von ὑπόκρισις (so nämlich in 1403b22) und ὑποκριτική. Siehe auch FORTENBAUGH (1985/2003), S. 253 f., Anm. 2, der Argumente und Gewährsmänner beider Alternativen referiert und die Deutung von ἐκείνη als λέξις favorisiert. Die λέξις ist aber mit Aristoteles bereits in die Technik eingeführt. Warum und wie sollte sie das Gleiche wie der Vortrag bewirken? 73 Thrasymachos hat also offenbar in seinen Eleoi auch Fragen des Vortrags behandelt, vgl. Kapitel 3.1.2. Vgl. auch FORTENBAUGH (1986), S. 250. Dass Quintilian (inst. 3,3,4) Thrasymachos unter die Rhetoriker rechnet, nach denen die actio etwas von der Natur (natura) Gegebenes ist, das nicht durch Kunst (ars) erreicht wird, könnte an einem Missverständnis dieser Aristoteles-Stelle (1404a14–16) liegen, in der sowohl Thrasymachos als auch die Kunstferne des Vortrags erwähnt werden (vgl. OPPENHEIMER [1936], Sp. 590 und COPE/SANDYS [1877], S. 9). 74 Die Stelle ist sprachlich schwierig. Offenbar liegt eine verkürzte Formulierung von τὸ δὲ περὶ τὴν λέξιν ἔντεχνον vor, vgl. rhet. 1403b7–8 und 36. 75 Vgl. die Übersetzungen von RAPP (2002), S. 130 und SIEVEKE (1980), S. 168. Häufiger findet sich die abweichende Auffassung, an dieser Stelle sei gemeint: »Und über einen guten Vortrag zu verfügen, ist eine Sache der Natur und gehört eher nicht in den Bereich der Kunst. Mit Bezug auf den Stil aber gehört er in den Bereich der Kunst.« Diese Auffassung vertreten SONKOWSKY (1959), S. 259, FORTENBAUGH (1985/2003), S. 263, WÖHRLE (1990), S. 37, FREESE (1975), S. 349, KENNEDY (1991), S. 219 und ANDERSEN (2003), S. 28. Ähnlich auch COPE/SANDYS (1877) z. St. Inhaltlich ist das durchaus nachvollziehbar (wo der Vortrag in engem Zusammenhang mit dem Stil steht, ist er lehr- und lernbar; vgl. Kapitel 12 des dritten Buches der

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Aristoteles schließt hier den größeren Bereich des Vortrags (man beachte den Komparativ ἀτεχνότερον, »eher kunstfremd«) aus der Kunst aus und ordnet ihn der Naturbegabung zu.76 So unterscheidet sich der Vortrag deutlich vom Stil, der zur Kunst gehöre. Damit begründet Aristoteles letztlich, warum er unter dem Wie der Rede zwar die λέξις, nicht aber die ὑπόκρισις behandeln wird. Daher trügen auch diejenigen, die dieses (τοῦτο), nämlich das, was mit dem Vortrag zu tun hat, beherrschen, ihrerseits77 den Siegespreis davon, so wie die Redner, die den mündlichen Vortrag beherrschen (vgl. 1403b34–35). Die logische Anknüpfung der folgenden Begründung ist unklar, hier muss offenbar ein Gedanke ergänzt werden. Aristoteles fährt fort: Denn die schriftlich abgefassten Reden (οἱ γὰρ γραφόμενοι λόγοι) vermögen mehr durch ihre sprachliche Form als durch ihren Gedanken (διὰ τὴν λέξιν ἢ διὰ τὴν διάνοιαν). Die Erwähnung der Schriftlichkeit an dieser Stelle ist überraschend. Sie ist aber hier nicht als Gegenteil zur Mündlichkeit des Vortrags aufzufassen. Mit den schriftlichen Reden scheint Aristoteles eher stilistisch genaue Reden zu meinen, die zwar durchaus auch mündlich gehalten werden können, aber schriftlich vorliegen und für die Lektüre bestimmt sind. Ähnlich wie bei einer gehaltenen Rede der Vortrag wichtiger ist als alles andere (vgl. 1404a21), ist bei einer solchen schriftlichen Rede dann die sprachliche Formulierung wirkungsmächtiger als der Inhalt. Der im ersten Kapitel des dritten Buches angedeutete Zusammenhang von Vortrag und Stil spielt im 12. Kapitel noch einmal eine wichtige Rolle.78 Aristoteles unterscheidet dort zunächst (1413b3–1414a7) einen Stil der Schriftlichkeit (λέξις γραφική), der für Werke zum Lesen gewählt wird, und einen Stil der kämpferischen Debatte (λέξις ἀγωνιστική), der für Rhetorik), aber sprachlich schwierig. Zudem würde man an dieser Stelle wohl weitere Ausführungen zu einer solchen These erwarten (wie z. B. in Kapitel 12). 76 Vgl. mit RAPP (2002), S. 813 Arist. poet. 6 (1450b16–20): Dort wird unter ähnlichen Voraussetzungen die Inszenierung (ὄψις) aus der Tragödientheorie ausgeschlossen, obwohl sie eine große Wirkung ausübt, weil sie aber äußerst kunstfremd ist: ἡ δὲ ὄψις ψυχαγωγικὸν μέν, ἀτεχνότατον δὲ. 77 Vgl. COPE/SANDYS (1877) z. St. (»in their turn«), in Anlehnung an Victorius. 78 Der enge Zusammenhang von Stil und Vortrag zeigt sich auch an anderen Stellen. So z. B. in den Anweisungen in rhet. 1408b5–7: Demnach soll man harte Wörter (ὀνόματα σκληρά) nicht auch noch durch eine entsprechende Stimme und Mimik unterstreichen (was man als Laie vielleicht erwarten würde), weil das wohl zu künstlich-gewollt und damit nicht überzeugend wirken würde. Vgl. auch Arist. poet. 1456b8–13: Dort bezeichnet Aristoteles es als Aufgabe der Vortragskunst und des Vortragskünstlers (ἐστιν … τῆς ὑποκριτικῆς καὶ τοῦ τὴν τοιαύτην ἔχοντος ἀρχιτεκτονικήν), die unterschiedlichen Aussagearten (τὰ σχήματα τῆς λέξεως) wie z. B. Befehl (ἐντολή), Bitte (εὐχή), Bericht (διήγησις), Drohung (ἀπειλή), Frage (ἐρώτησις) und Antwort (ἀπόκρισις) zu kennen, wohl um diese jeweils richtig (intoniert) vorzutragen. Vgl. FORTENBAUGH (1985/2003), S. 262.

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mündlich vorgetragene Reden (z. B. vor der Volksversammlung oder einem Gericht) gewählt wird (die aber wohl auch schriftlich vorbereitet sein können).79 Den schriftlichen Stil (λέξις γραφική) nennt Aristoteles äußerst genau (ἀκριβεστάτη), den Stil der kämpferischen Debatte (λέξις ἀγωνιστική) nennt er auf den mündlichen Vortrag ausgerichtet (ὑποκριτικωτάτη).80 Diese Gegensätze sind wohl so zu verstehen, dass sie jeweils den wichtigsten Aspekt an dem jeweiligen Stil bezeichnen. Bei den aufs Lesen ausgelegten Schriften sei es wichtig, dass diese stilistisch perfekt ausgefeilt sind. Bei den für die öffentliche Debatte konzipierten Reden hingegen sei ihre Wirkungsmächtigkeit im Vortrag entscheidend, ohne Vortrag erfüllten sie nicht ihr ἔργον, ihre spezifische Funktion.81 Diese Stile passen jeweils nur in ihre entsprechende Situation des Lesens oder des Vortrags. So gebe es bestimmte Stilmittel, die nur im Vortrag ihre Wirkung entfalten können, wie v. a. Asyndeta (τὰ ἀσύνδετα) und ständige Wiederholungen (τὸ πολλάκις τὸ αὐτὸ εἰπεῖν). Wenn man mehrfach dasselbe sage, d. h. denselben Gedanken variiere, müsse man seinen Vortrag abwechseln (ἀνάγκη δὲ μεταβάλλειν τὸ αὐτὸ λέγοντας). Dasselbe gelte für den Vortrag von Asyndeta, bei denen durch das Fehlen der Konjunktion viele einzelne (sich jeweils steigernde) Glieder einen bestimmten Vortrag verlangen. Was genau mit der Abwechslung gemeint ist, wird dann explizit gemacht. Der Redner müsse (wie ein Schauspieler, vgl. 1413b25– 27) vortragen (ἀνάγκη γὰρ ὑποκρίνεσθαι) und dürfe nicht, wie wenn er eines sagen würde, mit demselben Ausdruck und derselben Tonhöhe sprechen (καὶ μὴ ὡς ἓν λέγοντα τῷ αὐτῷ ἤθει καὶ τόνῳ εἰπεῖν). Gefragt ist also v. a. die Stimmvariation. Stil und Vortrag sind voneinander abhängig.82 Daraufhin (1414a7–18) werden die Redegattungen Gerichtsrede, politische Rede und epideiktische Rede den polaren Gegensätzen von erforderter 79 Vgl. COPE/SANDYS (1877) z. St., GUNDERSON (2000), S. 38 und RAPP (2002), S. 931. 80 Damit ist aber nicht gemeint, dass in diesem Kapitel mit dem Vortrag immer ein spontaner, situationsbedingter, improvisierter Vortrag gemeint ist, wie SCHLOEMANN (2000), S. 210, 214 glaubt. Vielmehr wird im folgenden Verlauf der Argumentation durchaus klar, dass auch der mündliche Vortrag und der konzeptionell mündliche Stil der Vorbereitung bedürfen und dass auch das, was als Stil der Mündlichkeit erscheint, vorher (schriftlich oder nicht schriftlich) ausgearbeitet worden ist. Auch aus einer Stelle bei Alkidamas (Alk. Soph. 13), der gegen Isokrates polemisiert und sich gegen das Aufsagen vollständig ausgearbeiteter Reden wendet, geht hervor, dass diejenigen, die Gerichtsreden schreiben (οἱ εἰς τὰ δικαστήρια τοὺς λόγους γράφοντες), zwar auf Genauigkeit verzichten (φεύγουσι τὰς ἀκριβείας) und den Stil (spontaner) Mündlichkeit nachahmen, aber sie diese Reden eben schreiben. Zu Alkidamas vgl. GAGARIN (1999), S. 165 f., SCHLOEMANN (2000), S. 206 f. und auch PORTER (2009), S. 99. 81 Vgl. COPE/SANDYS (1877), S. 148. 82 Insofern ist es nur die halbe Wahrheit, dass der Stil den Vortrag bestimmt (FORTENBAUGH [1986], S. 252: »style actually determines delivery«). Der Stil ist auch am Vortrag ausgerichtet und wird in Hinblick auf ihn gewählt.

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Genauigkeit (ἀκρίβεια) – das Merkmal der λέξις γραφική – und erfordertem Vortrag (ὑπόκρισις) – das Merkmal der λέξις ἀγωνιστική – zugeordnet.83 Prinzipiell gelte, dass dort, wo am meisten Vortrag verlangt wird, auch am wenigsten Genauigkeit herrsche: ἀλλ᾽ ὅπου μάλιστα ὑποκρίσεως (sc. δεῖ)84, ἐνταῦθα ἥκιστα ἀκρίβεια ἔνι. Genauigkeit sei nämlich da nicht vorhanden, wo man besonders die Stimme brauche, und am meisten da, wo man die laute Stimme brauche: τοῦτο δὲ, ὅπου (sc. μάλιστα) φωνῆς, καὶ μάλιστα ὅπου μεγάλης (sc. δεῖ, s. o.). Dabei denkt Aristoteles sicher an das Reden vor großen Menschenmengen. Für die Redegattungen heiße das, dass der Stil der politischen Rede (δημηγορικὴ λέξις) am wenigsten Genauigkeit und am meisten Vortragskunst nötig habe. Dann folge der Stil der Gerichtsrede (δικανικὴ λέξις) vor mehreren Richtern, dann der einer Gerichtsrede vor nur einem Richter, wo es mehr auf Genauigkeit ankomme.85 Am genausten und dem schriftlichen Stil am nächsten schließlich sei der Stil der Festrede (ἐπιδεικτικὴ λέξις). Aristoteles schließt also die ὑπόκρισις von der Theorie des Wie der Rede (1403b16–18), der sein drittes Buch der Rhetorik gewidmet ist, weitgehend aus, und grenzt sie damit von der λέξις ab, die er ebenfalls unter dem Wie der Rede einordnet, aber behandelt. Seine Einstellung zum Vortrag ist ambivalent. Denn einerseits stellt der Vortrag für den Philosophen Aristoteles etwas Vulgäres (φορτικόν) dar (1404a1). Andererseits erkennt er ihm aber eine äußerst große Wirkung zu (1403b21) und weiß, dass er den, der ihn beherrscht, zum Erfolg führt (1403b32–34 und 1404a12–13). Für die Tatsache, dass der Vortrag bislang nicht theoretisch untersucht worden ist, führt Aristoteles vier unterschiedliche Punkte an, die die Chronologie innerhalb der Rhetorik, den Vergleich mit anderen Künsten, die unphilosophische Art und die generelle Kunstlosigkeit des Vortrags betreffen. So sei erstens das Interesse am Vortrag zeitlich der λέξις nachgeordnet, die auch wiederum erst nach der Beschäftigung mit den Sachverhalten (πράγματα) behandelt worden sei (1403b20 und 1403b36). Ein ähnlich spätes Interesse am Vortrag könne man zweitens auch in anderen Künsten wie der Dichtkunst beobachten (1403b22–23). Grundsätzlich scheine (wie gerade schon erwähnt) der Vortrag drittens etwas Vulgäres und damit Unphilosophisches zu sein (1403b36–1404a1). Und viertens gehöre er 83 Zu Schwierigkeiten und Widersprüchen in dieser Zuordnung, die für die Behandlung der Stimme hier nicht ausgeführt werden müssen, siehe zusammenfassend RAPP (2002) z. St. 84 Hier ist mit SPENGEL (zumindest gedanklich) δεῖ zu ergänzen. Vgl. COPE/SANDYS (1877) z. St. 85 Der Begriff der Genauigkeit scheint hier aber nicht nur stilistische Ausfeilung zu bedeuten, sondern auch inhaltliche Schärfe, Genauigkeit in der Darstellung, die man ja v. a. vor einem einzelnen Richter anzustreben hat. Vgl. COPE/SANDYS (1877), S. 151 f.

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ohnehin eher nicht in den Bereich der Kunst, sondern sei eine Sache der Begabung (1404a15–16). Von nicht-rhetorischen Theoretikern übernimmt Aristoteles die Auffassung, dass der Vortrag v. a. in der Stimme liege, darin wie diese in Lautstärke, Tonhöhe und Rhythmus (bzw. evtl. Tempo) in Hinblick auf jeden Affekt gestaltet werden müsse, um den Zuhörer zu überzeugen (1403b27– 32). Neben der engen Bindung der Stimme an die Affekte übte auch der postulierte Zusammenhang von Vortrag und Stil, wie er v. a. im 12. Kapitel des dritten Buches deutlich wird, großen Einfluss auf die folgenden ὑπόκρισις-Theorien aus. Nach Aristoteles sind Vortrag und Stil voneinander abhängig. Für den Stil mündlich vorgetragener Reden eigneten sich bestimmte Stilmittel wie Asyndeta und Wiederholungen, die mit Variation in der Stimme vorgetragen werden müssten (1413b3–1414a7).

3.1.4 Theophrast und die hellenistische Zeit

Diogenes Laertios (5,48,11) verzeichnet eine Schrift Theophrasts über den Vortrag (Περὶ ὑποκρίσεως). Ob dieser Schüler des Aristoteles sich in ihr aber speziell mit dem rhetorischen Vortrag auseinandergesetzt hat oder vielleicht mit dem von Musikern, Schauspielern und Rhapsoden, lässt sich nicht mehr sagen.86 Dass Diogenes das Werk im Zusammenhang mit anderen rhetorischen Werken nennt, legt aber nahe, dass Theophrast hier zumindest auch den rhetorischen Vortrag behandelt hat.87 Zudem bezeugen auch andere Zeugnisse die Beschäftigung Theophrasts mit der ὑπόκρισις des Redners. Dabei ist v. a. das folgende des Athanasius (RhGr 14 = Prol. Syll., ed. RABE, p. 177,3–8)88 zu nennen: πλὴν καὶ Θεόφραστος ὁ φιλόσοφος ὁμοίως φησὶ μέγιστον εἶναι ῥητορικῇ89 πρὸς τὸ πεῖσαι τὴν ὑπόκρισιν, εἰς τὰς ἀρχὰς ἀναφέρων καὶ τὰ πάθη τῆς ψυχῆς καὶ τὴν κατανόησιν τούτων, ὡς καὶ τῇ ὅλῃ

86 Vgl. KRUMBACHER (1920), S. 32 und FORTENBAUGH (2003), S. 254 f. (»the work On Delivery will remain something of a mystery«), S. 269, 271. 87 Vgl. KRUMBACHER (1920), S. 33. Siehe auch WÖHRLE (1990), S. 39. 88 Verwendet wurde hier der Text aus FORTENBAUGHS (1992) Fragmentsammlung (Nr. 712, S. 558). In den fünf Manuskripten, in denen dieser Text überliefert ist, wird er nur einmal Athanasius zugeschrieben, sonst einem Anonymus (vgl. RhGr 6, ed. WALZ [1834], p. 35,30– 36,4 – diesen Text verwendet auch KRUMBACHER [1920]). Siehe dazu auch FORTENBAUGH (2005), S. 400. 89 ῥητορικῇ ist einhellig überliefert. Rabes Konjektur ῥήτορι ist nicht notwendig. Vgl. FORTENBAUGH (2005), S. 400.

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† ἐπιστήμῃ †90 σύμφωνον εἶναι τὴν κίνησιν τοῦ σώματος καὶ τὸν τόνον τῆς φωνῆς91. Außerdem sagt in ähnlicher Weise (wie Demosthenes92) auch der Philosoph Theophrast, dass der Vortrag in der Rhetorik in Hinblick auf die Überzeugung am meisten bewirke, indem er ihn auf seine Grundlagen93 zurückführt94 (oder: indem er sich auf dessen Grundlagen bezieht?95) sowie auf (oder: nämlich auf?)96 die Zustände der Seele und deren genaue Kenntnis97 (oder: indem er sowohl die Zustände der Seele als auch deren genaue Kenntnis auf ihre Grundlagen zurückführt), so dass die Bewegung des Körpers und der Ton der Stimme auch mit der gesamten Wissenschaft (sc. des Vortrags? oder: der Psychologie?)98 übereinstimmen.

Der Text ist schwer verständlich und wird sehr unterschiedlich interpretiert.99 Zwei unlösbare Schwierigkeiten stehen dabei im Vordergrund, wie an den Varianten in der Übersetzung und den Erläuterungen zu ihnen bereits zu erkennen ist. Erstens ist die Konstruktion, der grammatische und logische Zusammenhang von εἰς τὰς ἀρχὰς ἀναφέρων καὶ τὰ πάθη τῆς 90 Das überlieferte ἐπιστήμῃ ist wahrscheinlich korrupt (ὑποθέσει coni. Rabe, vgl. FOR[1992], S. 558). Gemeint sein müsste an dieser Stelle wohl eher der gewünschte Affekt. 91 ψυχῆς Mss. : φωνῆς Rabe (vgl. KRUMBACHER [1920], S. 33, Anm. 1, und FORTENBAUGH [2003], S. 255). Der überlieferte Text ist an dieser Stelle unverständlich. Die Vorstellung von einer Anspannung der Seele lässt sich bei Theophrast sonst nicht nachweisen. Rabes Konjektur ergibt einen guten Sinn und fügt sich in die peripatetischen Vorstellungen von der Stimme gut ein (vgl. Arist. rhet. 1403b27). Vgl. FORTENBAUGH (2005), S. 400–403. 92 Demosthenes wurde im Text gerade erwähnt. 93 FORTENBAUGH (2005), S. 404 versteht unter diesen Grundlagen die Prinzipien (»principles«) der Psychologie. Nach KRUMBACHER (1920), S. 33 f. sind diese Prinzipien die danach genannten τὰ πάθη τῆς ψυχῆς καὶ τὴν κατανόησιν τούτων. 94 So übersetzt KRUMBACHER (1920), S. 33. 95 So übersetzt FORTENBAUGH (1992), S. 559. 96 FORTENBAUGH (1992), S. 559 sieht hier eine dreigliedrige Aufzählung, KRUMBACHER (1920), S. 33 f. hingegen hält καὶ τὰ πάθη τῆς ψυχῆς καὶ τὴν κατανόησιν τούτων für eine Apposition zu τὰς ἀρχὰς. 97 Der Zusatz καὶ τὴν κατανόησιν τούτων betont, wie wichtig das genaue, wissenschaftliche Verständnis der Affekte ist (ebenso FORTENBAUGH [2005], S. 405, Anm. 723). KRUMBACHER (1920), S. 33 f. hingegen versteht darunter die Wahrnehmung der Affekte durch den Zuhörer. Die starke Ausrichtung der Anweisungen zum Vortrag auf den Redner spricht allerdings dagegen. 98 Vgl. FORTENBAUGH (2003), S. 256 über die Auslegung der im Athanasius-Fragment erwähnten ἐπιστήμη als Psychologie oder als Vortragskunst (so KRUMBACHER [1920], S. 33). 99 Vgl. z. B. die sehr unterschiedlichen, aber jeweils in sich schlüssigen Interpretationen von FORTENBAUGH (2005), S. 403–405, der hier durchgehend die Bedeutung der Psychologie für einen erfolgreichen Vortrag erkennt, und KRUMBACHER (1920), S. 33 f. TENBAUGH

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ψυχῆς καὶ τὴν κατανόησιν τούτων unklar. Geht es hier um die Grundlagen des Vortrags oder um die Grundlagen der Seelenzustände und ihre genaue Kenntnis? Wenn es um die Grundlagen des Vortrags geht, sind diese dann identisch mit den Seelenzuständen und ihrer genauen Kenntnis oder sind sie das erste Glied in einer aus drei Gliedern bestehenden Reihe? Und bezieht sich Theophrast auf diese Grundlagen oder führt er den Vortrag auf sie zurück? Zweitens muss die Bedeutung von ἐπιστήμη unklar bleiben. Handelt es sich um die Wissenschaft des Vortrags, der Rhetorik oder der Psychologie? Man muss wohl davon ausgehen, dass der Text an dieser Stelle korrupt ist. Hinzu kommt, dass es sich bei φωνῆς am Ende des Zeugnisses nicht um eine überlieferte Textvariante, sondern (nur) um eine Konjektur von Rabe handelt, die allerdings sehr überzeugend ist.100 Trotz dieser Schwierigkeiten des Textes lassen sich die Grundzüge von Theophrasts Auffassung des Vortrags rekonstruieren. Offenbar hat er den Vortrag für den wichtigsten oder zumindest einen sehr wichtigen Bestandteil des rhetorischen Überredungsprozesses gehalten. Soweit stimmt Theophrast mit Aristoteles überein, dessen Einfluss auf seinen Schüler sich wohl auch darin zeigt, dass Theophrast den Vortrag mit den πάθη verbunden hat und ihre Kenntnis für wichtig hielt. Die πάθη waren darüber hinaus bei ihm auch in irgendeiner Art und Weise mit Stimme und Körper verbunden. Genaueres lässt sich über Theophrasts Behandlung des Vortrags nicht sicher sagen. Neu ist bei ihm, wenn man der überzeugenden Konjektur von Rabe (φωνῆς) folgt, die Zweiteilung des Vortrags in die Bewegung des Körpers und die Modulation der Stimme.101 Vielleicht hat sie schon sein Schüler Demetrios von Phaleron in seiner nicht erhaltenen Τέχνη ῥητορική übernommen.102 Im Hellenismus wird sie jedenfalls zu einem fest etablierten Schema, das bei den Römern bezeugt ist.103 Außerdem ist anzunehmen, dass von Theophrast an die ὑπόκρισις als vierte Aufgabe des Redners zu Aristoteles’ Schema von der Auffindung der Gedanken, dem Stil und der Anordnung hinzugefügt worden ist.104 Zumindest bei den Stoikern im drit100 Vgl. dazu die Erläuterungen oben zu φωνῆς. 101 Vgl. KROLL (1940), Sp. 1075. Über Vorläufer dieser Zweiteilung bei Aristoteles, die dort allerdings nie so klar mit Bezug auf den Vortrag genannt wird, vgl. FORTENBAUGH (2003), S. 256 f. 102 Das vermutet MATTHES (1958), S. 213, Anm. 3. In den Zeugnissen zu Demetrios’ rhetorischem Werk lassen sich dazu allerdings keine Hinweise finden, vgl. WEHRLI (1949), S. 34–37. 103 Vgl. FORTENBAUGH (2003), S. 258. Siehe z. B. Rhet. Her. 3,11,19, Cic. de orat. 3,213–227, Cic. orat. 55–60, und später Dion. Hal. Dem. 53, Quint. inst. 11,3,14, Longin, rhet. p. 194,22– 23 bzw. RhGr 9, ed. WALZ (1836), p. 567,14–15 bzw. PATILLON/BRISSON (2001), S. 205,370–371 (mit anderem Text, siehe Kapitel 3.3.1), Fortun. rhet. 3,15 p. 130,8, Iul. Vict. rhet. 24 p. 440,31–32, Mart. Cap. 5,540. 104 Vgl. z. B. CAPLAN (1954), S. 190 f. und WÖHRLE (1990), S. 46, Anm. 45.

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ten Jahrhundert ist dies dann sicher der Fall.105 So fordert Chrysipp laut Plutarch im Zusammenhang mit seiner Definition der Rhetorik, dass auch die ὑπόκρισις beachtet werden muss, und zwar im Hinblick auf drei Dinge: auf die jeweils passende Modulation der Stimme und den Ausdruck von Gesicht und Händen: κατὰ τὰς ἐπιβαλλούσας τάσεις τῆς φωνῆς καὶ σχηματισμοὺς τοῦ τε προσώπου καὶ τῶν χειρῶν (Plut. mor. 1047A-B, SVF II 297, S. 96).106 Vielleicht hat Theophrast bei seiner Behandlung des Vortrags, ähnlich wie Aristoteles vor ihm und Cicero (orat. 60, de orat. 3,224) nach ihm, die Stimme als wichtiger angesehen als die Gestik.107 Zwei Aussagen bei Plutarch deuten in diese Richtung. Im ersten Zeugnis zeigt Plutarch (mor. 623A-C), dass Theophrast gerade die enge Verbindung von Stimme und Affekten erkannt und auch behandelt hat.108 Demnach habe Theophrast – wahrscheinlich in Über die Musik – gesagt, dass die Emotionen Trauer (λύπη), Freude (ἡδονή) und Verzückung (ἐνθουσιασμός) die Stimme von ihrer üblichen Gestaltung ablenken und sie verändern (παρατρέπειν ἐκ τοῦ συνήθους καὶ παρεγκλίνειν).109 Dadurch, dass Äußerungen von Trauer etwas sehr Klagendes an sich hätten, glitten sie in Gesang (ᾠδή) über. Deshalb näherten auch die Redner in den Epilogen allmählich ihre Stimme dem Singen an und spannten sie an (τῷ μελῳδεῖν προσάγειν … καὶ παρεντείνειν τὴν φωνήν).110 Gemäß einem zweiten Zeugnis bei Plutarch (mor. 38A), dessen ursprünglicher Kontext nicht mehr rekonstruiert werden kann, soll Theophrast den Hörsinn für den emotionalsten gehalten haben (περὶ τῆς ἀκουστικῆς αἰσθήσεως, ἣν ὁ Θεόφραστος παθητικωτάτην εἶναί φησι πασῶν), weil über das Hören die Affekte viel stärker erregt würden als über die anderen Sinne. Ob Theophrast darüber hinaus direkte technische Anweisungen zum rhetorischen Vortrag gegeben hat, ist nicht festzustellen. Die Aussage des Auctor ad Herennium (3,11,19), es habe vor ihm niemand das Thema des Vortrags gründlich behandelt, legt zumindest nahe, dass Theophrast nicht

105 Vgl. NADEAU (1964), S. 56. 106 Vgl. ebd., S. 54 f. 107 Diese Vermutung (»certainty here is impossible«) äußert FORTENBAUGH (2003), S. 258. 108 Vgl. ebd. 109 Offenbar hat sich Theophrast gerade für die Affekte interessiert, die zu musikalischen Äußerungen (hier: in der Stimme) führen (vgl. WILLE [1967], S. 461). 110 Die Abgrenzung der rhetorischen Stimmmodulation vom Gesang wird bei späteren Rhetorikern immer wieder betont. Zum Zusammenhang von Klage und Tonhöhenvariation siehe z. B. Cic. de orat. 3,217 und Quint. inst. 11,3,64 ([vox] miseratione flexa et flebilis). Zum Gesang im Epilog siehe z. B. Cic. orat. 58 und Quint. inst. 11,3,58, vgl. Kapitel 3.2.2 und Kapitel 4.2.3.

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viele hilfreiche Anweisungen für Redner gegeben haben kann.111 Auch inwieweit Theophrast auf das Verhältnis von Stil und Vortrag eingegangen sein mag, muss ungeklärt bleiben.112 Die Stilqualitäten hat jedenfalls nicht er selbst auf den Vortrag übertragen, sondern erst Quintilian (inst. 11,3,30– 65).113 Über die weitere Behandlung des rhetorischen Vortrags in der hellenistischen Rhetorik weiß man sehr wenig und kaum etwas Genaues. Im 2. Jh. v. Chr. soll der Rhetor Athenaios, Zeitgenosse und Konkurrent des berühmten Hermagoras von Temnos,114 sich mit der ὑπόκρισις beschäftigt haben, die er unter den Elementen der Rhetorik (bei ihm: στοιχεῖα τῆς ῥητορικῆς) behandelt habe.115 Einem Zeugnis Philodems nach (rhet.4, ed. Sudhaus, I,193, Col.XIa12– 24) sei Athenaios der Auffassung gewesen, die ὑπόκρισις bewirke mehr als die anderen Teile der Rhetorik, dass der Redner würdiger erscheine (σεμνότερος αὐτὸς φαίνεται) und dass er den Zuhörer besser dazu bringe, aufmerksam zu sein, zu verstehen, sich zu erinnern und sich (von einem Affekt) erschüttern zu lassen (προσέχειν μᾶλλον ποιεῖ τὸν ἀκούοντα καὶ συνιέναι καὶ μνημονεύειν καὶ κεινεῖσθαι παθητικῶς).116 Dass sich Athenaios mit der Behandlung des Vortrags aber von Hermagoras von Temnos abgrenzen konnte, ist eher unwahrscheinlich.117 Denn dass Hermagoras die ὑπόκρισις überhaupt nicht behandelt habe, ist falsch.118 In

111 Vgl. STROUX (1912), S. 70, CAPLAN (1954), S. 194 f. und WÖHRLE (1990), S. 41. Siehe auch Kapitel 5.1.1. 112 FORTENBAUGH (2003), S. 262 hält es für wahrscheinlich (und bleibt dabei sehr spekulativ), dass Theophrast dieses bei Aristoteles (rhet. 3,12) angelegte Verhältnis weiterentwickelt hat: »Theophrastus is likely to have picked up the matter and developed it more fully«. Vgl. S. 264: »my guess is that Theophrastus recognized fully the way in which mastery of style gives one a technical control over delivery«. 113 Zu Quintilians Übertragung der theophrastischen Stilqualitäten auf den Vortrag siehe Kapitel 3.2.5. Vgl. STROUX (1912), S. 71 und FORTENBAUGH (2003), S. 264. 114 Zu Hermagoras und Athenaios vgl. Quint. inst. 3,1,16: cui (sc. Hermagorae) maxime par atque aemulus videtur Athenaeus fuisse. 115 Vgl. BRZOSKA (1896), Sp. 2026. 116 Vgl. Kapitel 3.2.3. Wollte man der Rekonstruktion dieses Zeugnisses durch Gomperz (bei Sudhaus im kritischen Apparat) folgen, so hätte Athenaios den Vortrag sogar für den wichtigsten Teil der Rhetorik gehalten: τούτων τοιαγροῦν ὄντων ἢ ἓξ ἢ ἑπτὰ μερῶν,〈ὡς〉 τινὲς μέν, τῆς τέχνῆς,〈τὸ πρῶτον〉Ἀθήναιος ἔφη τοῦ λόγου τὴν ὑπόκρισιν. 117 Von einer solchen gewünschten Abgrenzung vom Rivalen, der das Thema nicht behandelt habe, geht z. B. BRZOSKA (1896), Sp. 2026 noch aus. 118 Vgl. MATTHES (1958), S. 111, in Abgrenzung von Volkmann und Thiele, sowie BARWICK (1965), S. 186–189, der Quintilians Ausführungen zum Schema der officia oratoris als Einteilungsprinzip bei verschiedenen Autoren und auch bei Hermagoras (inst. 3,3,1.5–6.8– 9.11–13, vgl. das Fragment bei MATTHES [1962], S. 3 f.) sowie Aug. rhet. p. 137,19–21, wo (nach

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welchem Umfang sie allerdings von ihm dargestellt worden ist, kann nicht geklärt werden.119

3.2. Vom Auctor ad Herennium bis zu Quintilian: Rhetoriker und Redner vom 1. Jh. v. Chr. bis zum 1. Jh. n. Chr. Exkurs 2: Zur Terminologie von actio und pronuntiatio

Dem griechischen Begriff ὑπόκρισις120 (vgl. LSJ, s. v. ὑπόκρισις II2) entsprechen im Lateinischen seit Cicero bzw. seit der Rhetorica ad Herennium die Begriffe actio (vgl. ThlL, s. v. actio S. 440,18 ff. und OLD 4) und pronuntiatio (vgl. ThlL, s. v. pronuntiatio S. 1918,14 ff. und OLD 4b).121 Von den meisten Autoren (z. B. Seneca d. Ä., Valerius Maximus, Plinius d. J.) werden sie als Synonyme verwendet, um den (mündlichen und körperlichen) Vortrag des Redners zu bezeichnen.122 Eine Ausnahme bilden aber gerade der Auctor ad Herennium und Cicero. Während nämlich in der Rhetorica ad Herennium nur der Begriff pronuntiatio vorkommt, verwendet Cicero in De inventione zwar noch sowohl pronuntiatio als auch actio. In seinen späteren rhetorischen Schriften gebraucht er dann aber ausschließlich den Begriff actio.123 Unter dem Einfluss der Rhetorica ad Herennium (und von De Barwick) hermagoreisches Gedankengut dargestellt wird, interpretiert. Beide Textstellen legen die Behandlung der ὑπόκρισις durch Hermagoras nahe. 119 Die Behauptungen von MATTHES und BARWICK dazu bleiben spekulativ: MATTHES (1958), S. 111 geht einerseits davon aus, dass ὑπόκρισις und μνήμη im Vergleich zu den Hauptabschnitten des Werkes »eine mehr oder weniger untergeordnete Rolle gespielt haben dürften«. An anderer Stelle (S. 214) widerspricht er dem aber, wenn er vermutet, dass Hermagoras die ὑπόκρισις »möglicherweise in annähernd derselben Form« wie der Auctor ad Herennium – also eben nicht in einer untergeordneten Rolle – behandelt habe. BARWICK (1965), S. 213–215 kommt sogar zu dem Ergebnis, dass Hermagoras der ὑπόκρισις gewiss eine große Bedeutung zuerkannt habe und auch ihre sprichwörtliche Wertschätzung durch Demosthenes zitiert habe, weil beides auch in der hermagoreisch geprägten Partie Aug. rhet. p. 137,19–21 erwähnt wird. Die Ausführungen und Anweisungen zum Vortrag seien aber nicht sehr ausführlich gewesen. 120 Die ὑπόκρισις bezeichnete zunächst die Darstellungskunst des Schauspielers (vgl. LSJ II1) und wurde dann – evtl. zu Beginn des 5. Jh., so ZUCCHELLI (1962), S. 65 f. – auf den Vortrag des Redners übertragen. Vgl. MAIER-EICHHORN (1989), S. 11 f. und REBMANN (2005), Sp. 213 f. 121 Explizit gemacht wird diese Gleichsetzung nur bei Ps. Iul. Ruf. (4. Jh.?) schem. dian. 8 p. 61,27–35: Ὑπόκρισις … Latine dicitur pronuntiatio. 122 Vgl. Quint. inst. 3,3,1 (bei der Nennung der fünf Aufgaben des Redners): pronuntiatione sive actione (utroque enim modo dicitur). 123 Daher fasst wohl Fortunatian die Verwendung des Begriffs actio als spezifisch cicero-

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inventione) wird allerdings in der Spätantike und im Mittelalter wieder deutlich häufiger der Begriff pronuntiatio verwendet.124 Über einen möglichen Unterschied zwischen den beiden Begriffen actio und pronuntiatio reflektieren nur Quintilian und Martianus Capella. Martianus Capella differenziert die beiden Begriffe historisch. Er hält actio für den älteren, pronuntiatio für den jüngeren Begriff für den Vortrag des Redners: actionem apud veteres appellabam125, quam nunc pronuntiationem vulgo dici non nescio (5,540). Dies scheint plausibel, da actio die direkte Übertragung von gr. ὑπόκρισις ist, so wie actor die wörtliche Übersetzung von ὑποκριτής darstellt.126 Aufgrund der vielen verschiedenen Bedeutungen127 des Begriffs actio kann das Bedürfnis nach einer eindeutigen Bezeichnung für den rednerischen Vortrag zur Verwendung des Begriffs pronuntiatio geführt haben, wie er sich in der Rhetorica ad Herennium ausschließlich und in De inventione neben der Verwendung des Begriffs actio zeigt.128 Quintilian unterscheidet die beiden Begriffe systematisch. Seiner Auffassung nach stammt der Begriff pronuntiatio vom stimmlichen Teil des Vortrags, der Begriff actio von seinem gestischen Teil: pronuntiatio a plerisque actio dicitur, sed prius nomen a voce, sequens a gestu videtur accipere (inst. 11,3,1). Dafür sprechen auch manche Stellen, an denen der dem Wortursprung nach auf die Mündlichkeit referierende Begriff pronuntiatio noch mit deutlichem Bezug auf den mündlichen Teil des Vortrags verwendet und der Gestik gegenüberstellt wird.129 Auch die Tatsache, dass der Auctor ad Herennium zur Bezeichnung des rednerischen Vortrags insgesamt nur nisch auf: Pronuntiationem quid Tullius vocat? actionem (Fortun. rhet. 3,15 p. 130,5). Vgl. MAIER-EICHHORN (1989), S. 13. 124 Auch die Rhetores Latini Minores verwenden durchgehend den Begriff pronuntiatio (abgesehen von den beiden hier genannten Stellen Fortun. rhet. 3,15 p. 130,5 und Mart. Cap. 5,540, wo die Verwendung des Begriffs actio eigens thematisiert wird). Nicht richtig ist daher die Aussage von MAIER-EICHHORN (1989), S. 13 über die Zeit nach Cicero: »Später wird ›pronuntiatio‹ weiterhin als Synonym zu ›actio‹ verwendet, ›actio‹ ist jedoch der häufiger gebrauchte Begriff.« Vgl. REBMANN (2005), Sp. 214. 125 Sprecherin ist hier die Rhetorik, vgl. die Anmerkung von HALM (1863), S. 484 (gegen die Lesart appellabant) zu dieser Stelle in seinem textkritischen Apparat. 126 Vgl. MAIER-EICHHORN (1989), S. 13. 127 Vgl. ebd. 128 Diese Verwendung des Begriffs pronuntiatio in den frühen schriftlichen Zeugnissen muss nicht heißen, wie CALBOLI MONTEFUSCO (1979), S. 475 (in ihren Erläuterungen zu Fortun. rhet. 3,15) annimmt, dass pronuntiatio der ältere der beiden Begriffe ist (vgl. MAIER-EICHHORN [1989], S. 13, Anm. 9). Cicero verwendet in De inventione ja auch den Begriff actio. 129 Vgl. Val. Max. 8,10 tit.: quantum momentum sit in pronuntiatione et apto motu corporis. Quint. inst. 1,12,4: gestus pronuntiatio vultus motus. Plin. epist. 2,3,9: pronuntiatio, vultus, habitus, gestus. Ps. Iul. Ruf. schem. dian. 8 p. 61,27–28: cum adversarium gestu et pronuntiatione extollimus. Don. de com. 5,3: comoedia … in gestu et pronuntiatione consistit.

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den Begriff pronuntiatio wählt, passt daher insofern gut, als er der Stimme wesentlich mehr Aufmerksamkeit widmet als der Gestik.

3.2.1 Der Auctor ad Herennium

Am Ende der langen Überlieferungslücke im Hellenismus steht die Rhetorica ad Herennium, die erste römische Rhetorik130 und die erste uns erhaltene Rhetorik überhaupt, die alle fünf officia oratoris behandelt.131 Sie wird hier in diesem Überblickskapitel nur sehr knapp behandelt, da der Stellenkommentar in Kapitel 4.1 ausführlich über Inhalt, Grammatik und Stil informiert. In der Rhetorica ad Herennium finden sich im Anschluss an die Ausführungen zur inventio (Rhet. Her. 1,3,5–3,8,15) und dispositio (Rhet. Her. 3,9,16–3,10,18) und vor denen zur memoria (Rhet. Her. 3,16,28– 3,24,40) und zur elocutio (die das gesamte Buch 4 ausfüllen) zum ersten Mal ausführliche und systematische Anweisungen zur pronuntiatio für den Redner (Rhet. Her. 3,11,19–3,15,27),132 die in ihrer Detailliertheit nur noch

130 Ich folge hier bis auf Weiteres der Frühdatierung der Rhetorica ad Herennium in die späten 80er Jahre des 1. Jh. v. Chr., die sich v. a. aus den Gemeinsamkeiten mit Ciceros Jugendschrift De inventione und einem eindeutigen terminus post quem ergibt. Alle exempla aus der römischen Zeitgeschichte sind nämlich nicht später als in das Jahr 86 v. Chr. zu datieren. Die Frühdatierung nach diesem terminus post quem ist allerdings nicht unumstritten (vgl. die bei GAINES [2007], S. 170 genannten Datierungen und zuletzt Stroh [2009], S. 359–361 mit zahlreichen neuen Gründen, der die Rhetorica ad Herennium später als De oratore, also nach 55 v. Chr. datiert, und diese Datierung in einer späteren Arbeit noch genauer begründen wird). Auf den Gedankengang dieser Arbeit hätte eine Spätdatierung aber nur dann Auswirkungen, wenn auch De oratore (sowie evtl. Orator und Brutus) als Quelle für die Rhetorica ad Herennium in Frage käme (nicht hingegen eine Datierung in die 70er oder 60er Jahre), und zwar in zwei Punkten: Betroffen von einer Datierung nach 55 v. Chr. wären die Überlegungen zur Chronologie der Stimme in der Rhetorik (vgl. Kapitel 5.1.1) sowie zum Verhältnis von Cic. de orat. 3,224 (vgl. Kapitel 3.2.2) und Rhet. Her. 3,12,21–22 (vgl. Kapitel 4.1.3). An diesen beiden Stellen in der Arbeit werden die Folgen einer möglichen Spätdatierung nach 55 v. Chr. jeweils kurz erläutert. 131 Zu den Hauptfragen der Forschung (Datierung, Autor, Verhältnis der Schrift zu Ciceros De inventione) siehe jeweils die Einleitungen zu den Ausgaben und Übersetzungen von CAPLAN (1954), CALBOLI (21993) und ACHARD (1989) mit weiterführender Literatur sowie ADAMIETZ (1960). Der neuste Gesamtüberblick stammt von GAINES (2007), S. 170–180. 132 Warum der Auctor die sonst übliche logische Abfolge der officia oratoris nicht einhält, ist nicht genau zu klären. Dass die elocutio als ihm wichtiges und umfangreichstes Thema in einem eigenen Buch behandelt und daher an den Schluss gestellt wird, lässt sich noch nachvollziehen (vgl. Rhet. Her. 3,1,1). Die Umstellung von memoria und pronuntiatio bleibt aber besonders auffällig. Der Auctor hebt damit wohl die pronuntiatio, den Bereich, in dem er besonders Neues zu bieten hat, stärker heraus.

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von denen Quintilians erreicht werden.133 Der Auctor gesteht dem Vortrag eine sehr große Nützlichkeit (egregie magna utilitas) zu, er sei genauso wichtig wie die anderen officia oratoris, nicht aber unter diesen am allermeisten nützlich (maxime utilis) (3,11,19). Damit schränkt er die Auffassung des Demosthenes von der herausragenden Bedeutung des Vortrags ein, wendet sich aber genauso gegen eine Vernachlässigung der Theorie des Vortrags, die man sich für das Reden dringend aneignen müsse (magnopere ea pars a nobis ad dicendum conparanda est) (3,11,19), die es aber in schriftlicher Form offenbar noch nicht gab. Am wichtigsten für die Geschichte der Theorie des Vortrags ist daher die glaubhafte Aussage des Auctor ad Herennium, dass bislang niemand sorgfältig (diligenter) über dieses Thema geschrieben habe (3,11,19).134 Deswegen und weil man sich die Lehren der pronuntiatio zum Reden aneignen müsse, will er dieses Thema mit (ziemlich) genauer Sorgfalt (non neglegenter) behandeln. Der Auctor ad Herennium bezeichnet sich also als den Ersten, der sich schriftlich und sorgfältig mit der Theorie des Vortrags befasst. Seiner eigenen Aussage nach beginnt die schriftliche Theorie des mündlichen Phänomens Vortrag erst mit ihm selbst. Das Kapitel über den Vortrag ist somit die eigene geistige Leistung des Auctor und sicher stark von seinen eigenen Erfahrungen mit dem Vortrag und dem mündlichen Unterricht im Vortrag, v. a. der Deklamationsübung beeinflusst.135 Nach einführenden Bemerkungen über die außerordentlich große Nützlichkeit der pronuntiatio teilt der Auctor diese, wie seit Theophrast wahrscheinlich üblich, in einen stimmlichen Teil (vocis figura) und einen körperlich-gestischen Teil (corporis motus) ein (3,11,19).136 Die Stimme bespricht er in 3,12,20–3,14,25, die Mimik und Gestik deutlich kürzer in 3,15,26–27. Bei seiner Behandlung der Stimme gliedert der Auctor zunächst 133 L. Plotius Gallus, den Quintilian in inst. 11,3,143 erwähnt, hat nur über die Gestik, nicht aber über die Stimme geschrieben. Zudem ist nicht sicher, ob sein Werk vor oder nach der Rhetorica ad Herennium verfasst wurde. Vgl. CAPLAN (1954), S. 190, CALBOLI (21993), S. 264, Anm. 32, ACHARD (1989), S. xxiv und RAHN (31995), S. 663, Anm. 128. 134 Vgl. dazu ausführlich Kapitel 5.1.1. Diese Behauptung ist, betrachtet man die überlieferten Zeugnisse (vgl. Kapitel 3.1), als wahr zu bewerten, es sei denn man bezeichnet wie MATTHES (1958), S. 214 die rudimentäre und nicht mehr rekonstruierbare Beschäftigung mit dem rhetorischen Vortrag von Theophrast und Demetrios von Phaleron als »eingehend«. Daher unterstellt Matthes dem Auctor ad Herennium auch, dass dieser hier nicht die Wahrheit sage. Zu Theophrast vgl. Kapitel 3.1.4. Ausdrücklich abgelehnt wird Theophrast als Quelle des Auctor von KROLL (1940), Sp. 1075 und CAPLAN (1954), S. 194. CALBOLI (21993), S. 266, Anm. 38, hingegen schließt Theophrast als Quelle zumindest nicht aus. 135 Für die Spätdatierer der Rhetorica ad Herennium kommen allerdings auch Ciceros rhetorische Schriften (v. a. De oratore) als Quelle für den Auctor in Frage. Siehe z. B. STROH (2003), S. 10, Anm. 19. 136 Zu Theophrast vgl. Kapitel 3.1.4.

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die figura vocis in drei Bestandteile (3,11,20), nämlich Stärke (magnitudo), Ausdauer (firmitudo) und Flexibilität (mollitudo).137 Diese drei Stimmbestandteile bzw. -eigenschaften setzt er in Beziehung zu drei Quellen, die sie in je unterschiedlichem Maße hervorbringen, nämlich die Naturanlage (natura), die Pflege (cura) und die für ihn zentrale Deklamationsübung (exercitatio declamationis). Beim Auctor zeigt sich damit eine deutliche Beeinflussung durch Anweisungen aus den Bereichen der Stimmpflege138 und der Deklamation. Nur diese fällt aber in den rhetorischen Bereich und damit in sein Aufgabengebiet, natura und cura, die beiden anderen für Stimmeigenschaften verantwortlichen Quellen, nicht. Der Auctor geht dabei offenbar zunächst von den drei wichtigen Stimmeigenschaften Stärke, Ausdauer und Flexibilität aus und überlegt dann, welche dieser Eigenschaften inwiefern von der rhetorischen Deklamationsübung beeinflusst werden. Seine Erläuterungen zur Stimme beschränkt er daher im Folgenden auf die Teile der Stimme, die mittels der rhetorischen Deklamationsübung erhalten bzw. erreicht werden können, nämlich zu einem gewissen Teil auf die Stimmausdauer und ganz besonders auf die Stimmflexibilität. Die Bereiche Naturanlage und Pflege, die nicht zur Rhetorik gehören, sowie die durch sie beeinflussten Stimmbestandteile Stimmstärke und (größerenteils) Stimmausdauer, bespricht er nicht, sondern verweist hierfür auf die entsprechenden Fachleute (3,11,20–3,12,20). Gemäß der Reihenfolge innerhalb seines Systems werden zuerst die Vorschriften zur Erhaltung der Stimmausdauer genannt, insofern sie von der rhetorischen Deklamationsübung abhängen (3,12,21–22). Die hier gegebenen Ratschläge werden zunächst medizinisch begründet. Darüber hinaus wird aber das, was zur Ausdauer der Stimme für den Redner aus medizinischer Sicht nützlich ist, auch als angenehm für den Hörer erwiesen. Im Anschluss an die Stimmausdauer wird die Stimmflexibilität, die ganz unter die Unterweisung des Rhetors fällt, besprochen. Sie wird in Redetöne zerlegt, die zunächst kurz definiert werden (3,13,23–24) und die der Ausgangspunkt der Betrachtungen sind. Diese Töne sind am Ablauf der Rede orientiert. Der Auctor unterscheidet dabei den Gesprächston (sermo), den Erregungston (contentio) und den Steigerungston (amplificatio).139 Sie wer137 Dies ist also nicht die gleiche Dreiteilung wie die des Aristoteles in Lautstärke, Tonhöhe und Rhythmus (bzw. evtl. Tempo), wie NADEAU (1964), S. 57 und WÖHRLE (1990), S. 43, Anm. 42, falsch behaupten. 138 Dass ihm dabei eine medizinische Quelle zur Stimmpflege zugrunde lag, ist möglich (vgl. STROH [2003], S. 10, Anm. 18). 139 Eine direkte Zuordnung dieser drei Hauptredetöne zu den drei genera dicendi, wie NADEAU (1964), S. 57 sie vermutet, oder, wie GÖTTERT (1998), S. 70 behauptet, zu den drei Aufgaben des Redners (von ihm falsch als »Belehrung, Beschwichtigung, Erregung« betitelt), ist zu stark vereinfachend und wird der weiteren Differenzierung und Beschreibung der Rede-

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den in weitere Einzeltöne aufgegliedert.140 Da Stimmflexibilität durch das Beherrschen dieser Redetöne erreicht wird, werden daher abschließend Sprechanweisungen zu ihnen erteilt (3,14,24–25). Im Anschluss an seine Ausführungen über die Gestik (3,15,27) reflektiert der Auctor seine schriftstellerische Leistung und betont noch einmal, was für eine große Aufgabe er damit auf sich genommen habe, die Bewegungen des Körpers mit Wörtern auszudrücken (motus corporis exprimere verbis) und Stimmen durch Schrift nachzuahmen (imitari scriptura voces).141 Die Schriftlichkeit erscheint als unzureichend für die Behandlung des Vortrags.142 Im Medium der Schrift allein können diese Themen nicht angemessen dargestellt werden. Seine Anweisungen sollen daher durch praktische Übung (exercitatio) ergänzt werden. Hier wird wie zu Beginn seiner Ausführungen (3,11,19) deutlich, dass nach Auffassung des Auctor die Kunst des Vortrags sich nicht in der schriftlichen Darstellung und nicht in der Theorie erschöpfen kann. Seine Anweisungen sind also nötig und seiner eigenen Aussage nach die ersten ihrer Art, bedürfen aber zusätzlich der praktischen Unterweisung und Übung. Wie lohnend solche Bemühungen um einen guten Vortrag sind, wird abschließend noch einmal betont. Denn das Ziel eines guten Vortrags sei, den Eindruck zu erwecken, dass das, was der Redner sagt und tut, von Herzen komme (ut res ex animo agi videatur). Um diese Übereinstimmung von res und animus zu signalisieren und damit letztlich Glaubwürdigkeit als Redner zu vermitteln, sind also seiner Meinung nach der Einsatz von Stimme, Mimik und Gestik so entscheidend. Auf Besonderheiten im Stil wird im Stellenkommentar zu Rhet. Her. 3,12,20–3,14,25 (Kapitel 4.1) immer wieder hingewiesen. An dieser Stelle sollen nur andeutungsweise zwei allgemeine Auffälligkeiten erwähnt werden, die den Stil des Auctor, der häufig als systematisch-pedantischer und wenig origineller Rhetoriker eingestuft wird, durchaus als eigenständig kennzeichnen. Auffällig ist erstens die Vermeidung von rhetorischen Fachbegriffen. Termini technici werden teils gemieden oder durch allgemeinere Begriffe ersetzt (z. B. res für officium oratoris, pars und res für pronuntiatio). Für seine insgesamt elf Bezeichnungen von Redetönen bildet der Auctor keinen einzigen neuen Terminus technicus, er möchte offenbar Neologistöne nicht gerecht. Viel eher sind diese Töne am Ablauf einer einzelnen Rede orientiert (vgl. HALL [2007], S. 222). 140 Den Gesprächston sermo gliedert er in den würdigen (dignitas), den erklärenden (demonstratio), den erzählenden (narratio) und den scherzhaften Gesprächston (iocatio). Der Erregungston contentio wird in den ununterbrochenen (continuatio) und den unterbrochenen Erregungston (distributio) geteilt, der Steigerungston amplificatio in den anspornenden (cohortatio) und den rührenden (conquestio). 141 Zu diesen Überlegungen des Auctors vgl. ausführlich Kapitel 5.1.1. 142 Vgl. dazu GUNDERSON (2000), S. 32, 34.

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men vermeiden. Stattdessen überträgt er Begriffe, die er sonst in einem anderen rhetorischen Sinne verwendet und die später auch allgemein in der Rhetorik andere Bedeutungen haben (z. B. narratio, amplificatio), oder Begriffe mit anderen, breiteren Bedeutungsspektren (z. B. dignitas, contentio) aufgrund einer gewissen Überschneidung mit der sonst üblichen Bedeutung dieses Begriffs auf den entsprechenden Redeton. Diese jeweiligen Überschneidungen sind sehr unterschiedlicher Natur.143 Somit ergeben sich durchaus heterogene Gruppen von Redetönen, die weniger einem pedantischen System entsprechen wollen,144 ja gar nicht können, als vielmehr aus der Redepraxis (orientiert am Ablauf der Rede) und den konkreten Bedürfnissen beim Reden geboren zu sein scheinen. Zweitens gibt es durchaus Stellen, an denen der Stil über die Erwartungen an ein Lehrbuch hinausgeht. So ahmt der Auctor manchmal stilistisch das nach, was er gerade aussagt, Inhalt und Form fallen zusammen. In Rhet. Her. 3,14,24 z. B. zwingt die verknappte Formulierung (at aliud otiose, retardabimus) an einer Stelle, an der langsameres Sprechen gefordert wird, tatsächlich auch zum langsameren Lesen.145 Stilistisch auffällig ist zudem die gesamte Partie Rhet. Her. 3,12,22, wo das Zusammenspiel von Nützlichkeit und angenehmer Wirkung des Vortrags in antithetisch aufgebauten, sich in ihrer Länge steigernden Perioden dargestellt wird, die ringkompositorisch mit einer rhetorischen Frage beginnen und enden.146

3.2.2 Cicero

Cicero hat bereits in De inventione die pronuntiatio kurz definiert. Sie sei, so heißt es dort (inv. 1,9), die richtig kontrollierte Lenkung der Stimme und des Körpers (vocis et corporis moderatio), die sich nach der Schönheit der Inhalte und der Worte richte (ex rerum et verborum dignitate). Eine eher handbuchartige Behandlung der Stimme zur praktischen Anwendung, wie man sie beim Auctor ad Herennium und bei Quintilian findet, konnte Cicero dort nicht geben, da er die geplante Gesamtdarstellung der Rhetorik nicht zu Ende führte. Er hat aber v. a. in De oratore, im Orator und auch im Brutus den stimmlichen Vortrag des Redners aus verschiedenen Perspektiven thematisiert.147 Diese Quellen werden im Folgenden vorgestellt, um 143 Vgl. die Erläuterungen zu den Redetönen in Kapitel 4.1.3. 144 Den Vorwurf der Pedanterie erhebt z. B. SONKOWSKY (1959), S. 268. 145 Vgl. die Erläuterungen dazu in Kapitel 4.1.3. 146 Vgl. ebd. 147 Anders als zu den Partien zur Stimme in der Rhetorica ad Herennium und der Institutio oratoria liegen zu diesen Texten bereits ausführliche und gute Kommentare vor, nämlich v. a. von WISSE u. a. (2008) und WILKINS (1892), JAHN/KROLL (51971) sowie JAHN/KROLL (71964)

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Ciceros Auffassung von der vox in der rhetorischen Tradition zu verankern.148 De oratore Direkt im Anschluss an seine Ausführungen zum aptum kommt Crassus in De oratore auf die actio zu sprechen (3,213–227), die seiner Meinung nach zwar v. a. von der Naturbegabung abhängt (wie bei Arist. rhet. 1404a15– 16)149, aber dennoch auch zur rhetorischen Kunst gehöre (1,145).150 In einführenden Bemerkungen wird zunächst die Bedeutung des Vortrags für den Redner festgestellt (3,213–215). Alle anderen Dinge seien nur so effektiv, wie der Vortrag sie mache. Der Vortrag sei beim Reden wichtiger als alles andere: actio, inquam, in dicendo una151 dominatur (213). Der größte Redner zähle nichts ohne Vortrag (sine hac summus orator esse in numero nullo potest), ein mittelmäßiger Redner aber könne durch den Vortrag oft die besten Redner übertreffen (mediocris hac instructus summos saepe superare). Crassus bringt dann als Beispiel für diese Auffassung zunächst die berühmte Demosthenes-Anekdote, nach der der griechische Redner dem Vortrag den ersten, zweiten und dritten Platz in der Bedeutung beim Reden eingeräumt habe.152 Dann berichtet er davon, wie Aischines den Rhodiern die Rede des Demosthenes vorgelesen habe.153 Obwohl Aischines sie mit äußerst angenehmer und lauter Stimme (suavissima154 et maxima voce) vorlas und alle Anwesenden sie bewunderten, habe er gesagt, dass sie noch mehr staunen würden, wenn sie Demosthenes selbst gehört hätten. Aischines habe damit hinlänglich zu erkennen gegeben, welche Bedeutung der Vortrag habe (quantum esset in actione), indem er glaubte, dass dieselbe Rede eine andere werde, wenn jemand anderes sie vortrage (actore mutato) (213). Als römisches Beispiel wird C. Gracchus mit einem mitleiderregenund DOUGLAS (1966). Auf eine ausführliche sprachliche Kommentierung von Ausdrücken, die nicht direkt die Stimme betreffen, wird daher hier weitestgehend verzichtet. 148 Die Texte, in denen Cicero sich aus medizinischer und philosophischer Perspektive mit der Stimme befasst, sind in Kapitel 2.1.4, Kapitel 2.2.2 und Kapitel 2.3 besprochen. 149 Vgl. Kapitel 3.1.3. 150 Zu Cic. de orat. 1,145 vgl. auch Kapitel 5.1.1. 151 Zur Bedeutung »mehr als alles andere« von unus vgl. OLD, s. v. unus 8a und MANKIN (2011) z. St. Vgl. auch die Verwendung von solum in Quint. inst. 11,3,43 und die Erläuterungen dazu in Kapitel 4.2.3. 152 Zu Demosthenes vgl. Kapitel 3.1.1. 153 Vgl. Kapitel 3.1.1. Diese Anekdote findet sich hier zum ersten Mal. Sie wird übernommen von Quintilian (inst. 11,3,6). Vgl. FANTHAM (1982), S. 263. 154 suavis und suavitas beziehen sich sehr allgemein auf die angenehme Wirkung einer Stimme auf den Zuhörer (vgl. die Erläuterungen zu Rhet. Her. 3,12,21), womit v. a. das Melodische gemeint sein kann (aber nicht muss), vgl. OLD, s. v. suavis 3 und suavitas 1d.

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den Zitat aus seinen Reden hinzugefügt, der durch seinen Vortrag sogar seine Feinde zu Tränen bewegt habe (214). Diese Beispiele zeigen, wie wichtig gerade der (affektvolle) Vortrag für den Redner ist. Crassus geht deswegen näher darauf ein, weil die Redner, die mit ihrem Vortrag Wirklichkeit (d. h. hier v. a.: echte Emotionen155) darstellen (veritatis actores), dieses gesamte Gebiet (genus hoc totum), d. h. die Vortragskunst und – wie sich gleich zeigen wird – insbesondere die kunstvolle Affektdarstellung beim Vortrag, verlassen hätten, die Schauspieler (histriones) es aber besetzt hätten, die die Wirklichkeit (d. h. wirkliche Emotionen) nur in ihrer Scheinwelt (auf der Bühne) nachahmen (imitatores veritatis) (214), diese Emotionen aber nicht in der Realität empfinden.156 Dann bringt er ein scheinbares Gegenargument gegen seine Forderung nach mehr Kunst im rednerischen Vortrag: Ohne Zweifel übertreffe doch die Wirklichkeit (veritas) in jeder Sache die Nachahmung (imitatio) (215).157 Implizit ist damit gesagt, dass, wenn man sich darauf verließe, die Redner sich also nicht um eine Vortragskunst bemühen müssten, da ihr Vortrag dann automatisch besser wäre als der der Schauspieler. Dieses Gegenargument würde nur dann gelten, wenn die Wirklichkeit (veritas) im Vortrag selbst durch sich selbst (also kunstlos) genügend bewirken könnte (si satis in actione efficeret ipsa per sese) (215). Da nun aber eine darzustellende Gefühlsregung (animi permotio) häufig (von sich aus) so verworren sei (perturbata ita est), dass sie undeutlich und beinahe verborgen werde (ut obscuretur ac paene obruatur), müsse man durch den Vortrag (actione)158 das, was die Gefühlsempfindung verunklart,159 beseitigen (dis-

155 Vgl. WISSE u. a. (2008) z. St. 156 Zu Ciceros/Crassus’ Einschätzung der Rolle des Redners im Vergleich zu der des Schauspielers vgl. FANTHAM (2002), S. 363. Crassus impliziert hier, ähnlich wie schon Antonius (in de orat. 2,34), dass der Redner, der in einer wirklichen Situation, in der Realität auftritt, die »echtere«, »wahrere« Rolle hat als der Schauspieler, der ja nur in einer Situation auftritt, die die Wirklichkeit abbildet und nachahmt. Vgl. zu diesem Unterschied von Schauspieler und Redner auch Cic. de orat. 2,34: Qui actor imitanda quam orator suscipienda veritate iucundior? 157 Antonius hatte in de orat. 2,189–190 nur gefordert, dass der Redner die Gefühle, die er in seinen Zuhörern hervorrufen will, selbst empfinden muss. Nach Crassus’ Ansicht ist das aber noch nicht ausreichend. Die natürlichen Gefühle des Redners müssen auch kontrolliert werden. 158 actione ist hier nicht auf perturbata … est zu beziehen (so aber MANKIN [2011] z. St.). 159 WISSE u. a. (2008) z. St. und MANKIN (2011) z. St. denken jeweils an diese Gefühlsregung begleitende Gesten oder Stimmintonationen. Möglich ist auch, dass eine andere Gefühlsregung gemeint ist, die die entscheidende Gefühlsregung verbirgt, z. B. wenn der Redner seinen Zorn darstellen möchte, aber dieser durch Trauer, die er auch empfindet, undeutlich wird.

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cutienda sunt ea, quae obscurant), und das, was das deutlich Hervortretende und Offenkundige (an der jeweiligen Gefühlsempfindung) ist, betonen (ea, quae sunt eminentia et prompta sumenda) (215). Damit hat Crassus gezeigt, dass Empfindung zwar grundsätzlich den Vortrag lehren mag (und man diesen Bereich insofern wirklich den Schauspielern überlassen könnte), aber die mangelnde Klarheit, die in einer Empfindung liegen kann, im Vortrag bzw. durch den Vortrag beseitigt werden müsse. Durch den Vortrag müsse die Empfindung eindeutig dargestellt werden. Jetzt geht Crassus einen Schritt hinter seine bisherigen Ausführungen zurück, indem er sie durch eine Affekttheorie begründet. Von Natur aus entspreche nämlich jeder Gefühlsregung (omnis motus animi) ein eigener Ausdruck in Mimik, Stimme und Gestik (suum quendam a natura habet vultum et sonum et gestum) (216).160 Das muss der Ausdruck sein, den auch der Redner anstreben soll. Der ganze Körper des Menschen, jeder Ausdruck in der Mimik und alle Stimmtöne seien wie Saiten an einer Leier (ut nervi in fidibus). Sie klängen so, wie sie von einer jeden Gefühlsempfindung angeschlagen würden (ita sonant, ut motu animi quoque sunt pulsae). Die Gefühlsregungen spielen also auf Körper, Gesicht und Stimme wie auf einem Instrument. Dabei schlage jede Gefühlsregung die Saiten unterschiedlich an (216), so dass sich je nach empfundenem Gefühl eine andere Stimme, eine andere Mimik und eine andere Gestik ergebe. Crassus beschränkt diesen Vergleich im Folgenden auf die Stimme, da er wohl auf sie auch am besten passt.161 Wie ein Saiteninstrument, so legt der Vergleich nahe, kann eine Stimme, je nachdem wie und von wem sie »bedient« wird, unterschiedlich tönen und klingen. Stimmen bzw. die Töne der Stimme seien so wie die Saiten eines Instruments gespannt (voces ut chordae sunt intentae), dass sie auf jede Berührung, d. h. jede Gefühlsregung, entsprechend antworten (quae ad quemque tactum respondeant), und zwar hoch oder tief (acuta gravis), schnell oder langsam (cita tarda) und laut oder leise (magna parva) (216).162 Damit hat Crassus die drei Grundkomponenten (genera) einer stimmlichen Äußerung, nämlich Höhe, Geschwindigkeit und

160 Vgl. mit WISSE u. a. (2008) z. St. Hor. ars 105–111: Horaz begründet, warum zu bestimmten Worten ganz bestimmte Gesichtsausdrücke passen. Die Natur forme uns nämlich im Inneren, entsprechend jeder Stimmung, in die das Schicksal uns versetzt (format enim natura prius nos intus ad omnem/ fortunarum habitum), wie z. B. der ira, und trägt diese Gefühlsregungen (animi motus) dann nach außen (effert), wobei die Zunge die Übersetzung übernimmt (interprete lingua) von Gefühl in Sprache. 161 Zum Vergleich der Stimme mit einem Saiteninstrument siehe auch Quint. inst. 11,3,42 und Kapitel 5.2.4. 162 Ganz eindeutig und klar ist dieses Bild allerdings nicht, da die Höhe des Tons ja von der Saite selbst abhängt, während sich Tempo/Dauer und Lautstärke durch die Art des Anschlags ergeben.

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Lautstärke, genannt.163 Zwischen ihnen liege jeweils ein mittleres (also mittlere Tonhöhe, Geschwindigkeit und Lautstärke) und außer diesen drei Grundkomponenten gebe es noch andere Stimmarten (ab his delapsa plura genera), die sich von ihnen entfernen.164 Diese sind im Einzelnen (216) sanft oder rau (leve asperum)165, eingeschränkt oder breit-dahinströmend (contractum diffusum)166, in einem Atemzug oder mit Atemunterbrechung (continenti spiritu intermisso)167, schwach oder brüchig (fractum scissum)168 sowie mit modulierendem Ton abschwellend oder anschwellend (flexo169 sono extenuatum inflatum170)171. Crassus’ Aufzählung erhebt sicher keinen 163 Vgl. die Dreiteilung der Stimme in Lautstärke, Tonhöhe und Rhythmus (bzw. evtl. Tempo) bei Aristoteles in rhet. 1403b31–32 (vgl. Kapitel 3.1.3). 164 Zu dieser Bedeutung von delabi vgl. ThlL, s. v. delabor S. 414,41 ff. Hier kann nicht »entstehen aus/sich herleiten von« gemeint sein (so ThlL S. 415,67–68 und OLD 5c, jeweils nur mit dieser Stelle als Beleg, und z. B. die Übersetzung von MERKLIN [31997] sowie MANKIN [2011] z. St. und WILKINS [1892] z. St.), da einige der im Folgenden genannten Stimmarten (wie z. B. die raue Stimme) nicht nur aus den drei genannten Grundkomponenten entstehen, sondern ihre charakteristische Eigenart vielmehr durch eine bestimmte Stimmfärbung erhalten. 165 Das gleiche Adjektivpaar verwendet Quintilian zur Bezeichnung einer natürlichen Stimmeigenschaft in inst. 11,3,15, vgl. Kapitel 4.2.1. 166 Vgl. ähnlich Quint. inst. 11,3,15 ([vox] et contracta et fusa).48 ([exordium, sc. Ciceronis pro Milone] contractum atque summissum).50 ([sequens] latum atque fusum).64 (in metu et verecundia contracta [vox]). 167 Vgl. den ununterbrochenen Ton (continuatio) und den unterbrochenen Ton (distributio) beim Auctor ad Herennium (Rhet. Her. 3,13,23), vgl. Kapitel 4.1.3. 168 Auch Quintilian (inst. 11,3,20) unterscheidet zwischen frangitur vox (»die Stimme wird geschwächt«) und scinditur vox (»die Stimme wird brüchig [gemacht]«), vgl. Kapitel 4.2.2. 169 Der modulierende Ton (flexus sonus) ist der einzige in dieser Reihe, der keinem anderem (möglich wäre z. B. der sonus rectus, siehe die Erläuterungen zur vox recta in Quint. inst. 11,3,64, Kapitel 4.2.3) gegenübergestellt ist. Ist nichts ausgefallen und die Überlieferung an dieser Stelle richtig, so ist der Ausdruck auf die beiden folgenden Partizipien zu beziehen (vgl. WISSE u. a. [2008] z. St.). 170 Das Partizip inflatum bedeutet bei Cicero »mit starkem Atem(druck) gesprochen«. Vgl. dazu de orat. 3,41 über die Aussprache, wo die verba inflata et quasi anhelata gravius den verba exiliter exanimata gegenübergestellt werden. Extenuari und inflari werden auch in de orat. 3,102 als antithetische Begriffe mit Bezug auf eine lautliche Äußerung gebraucht. Dort ist ähnlich wie hier zuvor vom Sinkenlassen (summitti) und Ansteigenlassen (augeri) des Tones die Rede. 171 Hier werden Tonhöhe (flexo sono) und v. a. durch die Intensität der Atmung (so nahelegt durch inflatum) kontrollierte Lautstärke in einem Vorgang zusammengebracht. Wahrscheinlich denkt Crassus an ein gleichzeitiges Senken der Stimme hin zu leise und tief einerseits sowie an ein Steigern hin zu laut und hoch andererseits. Der Gegensatz magna/ parva (216) bezeichnet hingegen nur die Lautstärke, nicht die Tonhöhe, und sagt nichts über den Atem aus. Zum Zusammenhang von Lautstärke und Tonhöhe vgl. Exkurs 3 (1).

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Anspruch auf Vollständigkeit.172 Die einzelnen Beispiele sind in der Art ihrer Formulierung und in dem, was sie bezeichnen, durchaus heterogen. Alle diese Stimmarten würden durch Kunst (ars) und kontrollierte Anwendung (moderatio) gestaltet (217), d. h. vom Redner im Vortrag bewusst gewählt.173 Sie dienten dem vortragenden Redner, wie Farben dem Maler, zur Abwechslung (ad variandum). Im Folgenden (217–219) beschreibt Crassus, welche Stimmart (vocis genus) jeweils zu bestimmten Affekten passt und veranschaulicht dies an (teilweise nur angedeuteten) Zitaten aus Tragödien (und einer Komödie). Denn was die Stimme anbelangt, hatte der Redner trotz aller Bemühungen, die beiden Professionen voneinander abzugrenzen, gerade in den Tragödienschauspielern ein Vorbild.174 Die sechs wichtigen Affekte, die Crassus bespricht, sind in keiner systematischen Reihenfolge angeordnet.175 Zum Zorn (iracundia) passe eine hohe (acutum), erregte (incitatum) Stimmart (vocis genus) mit häufiger Unterbrechung (crebro incidens176), wie man sie sich für die jeweiligen Passagen aus Accius’ Atreus und Pacuvius’ Teucer gut vorstellen kann.177 Zum Mitleid und der Trauer (miseratio ac maeror), Gefühlen, von denen bspw. die beiden Frauen Medea und Andromache in Ennius’ gleichnamigen Tragödien ergriffen sind, passe eine in der Tonhöhe variierende (flexibile), 172 Vgl. die ähnliche Aufzählung von zahlreichen Stimmarten (vocis genera permulta) in Cic. nat. deor. 2,146: canorum, fuscum (hell- bzw. wohltönend vs. dunkel bzw. rau, vgl. ThlL, s. v. canorus S. 177,17 ff. und OLD 1 und 3), leve, asperum (sanft/glatt vs. rau), grave, acutum (tief vs. hoch), flexibile, durum (flexibel vs. starr). Zu den einzelnen Adjektiven siehe die Erläuterungen zu Quint. inst. 11,3,15.17 in Kapitel 4.2.1. 173 Der Ausdruck ars ac moderatio kann hier als Hendiadyoin aufgefasst werden (vgl. WILKINS [1892] z. St.). 174 Vgl. de orat. 1,128 (in oratore autem acumen dialecticorum, sententiae philosophorum, verba prope poetarum, memoria iuris consultorum, vox tragoedorum, gestus paene summorum actorum est requirendus) sowie daran anschließend Quint. inst. 12,5,5. Zur Abgrenzung vom tragischen Schauspieler vgl. de orat. 1,251.259. Zum Zusammenhang von Rhetorik und Tragödie siehe auch FANTHAM (2002), S. 366–369. Vgl. Kapitel 5.2.3. 175 Feststellbar ist allerdings, dass sich immer zwei recht unterschiedliche Affekte zu Paaren zusammenfügen lassen. Crassus beginnt mit iracundia und miseratio/maeror, den beiden Hauptaffekten des Redners (v. a. im Schluss der Rede). Auch metus und vis sind sehr unterschiedlich, ebenso wie voluptas und molestia. 176 Als Objekt zu incīdens ist wohl orationem zu denken. Für die absolute Bedeutung »eine Pause machen« vgl. ThlL, s. v. incīdo S. 908,61 ff. und Cic. de orat. 3,102. 177 Vgl. die Beschreibung der Stimme im Zorn (ira) bei Quintilian: atrox … et aspera ac densa et respiratione crebra (inst. 11,3,63). Nach Cic. Tusc. 4,55 soll der Redner den Zorn nur vortäuschen, nicht aber wirklich empfinden. Die dazu passende Redeweise ist acrius et vehementius. Cicero lässt Crassus demnach zuerst einen seiner Meinung nach künstlichen Affekt nennen, was zu dessen anfangs genannter und gegen Antonius gerichteter These passt, dass die Affekte nicht nur natürlich entstehen dürfen.

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klangvolle (plenum), unterbrochene (interruptum)178 Stimmart und eine klagende Stimme (flebilis vox).179 Zur Furcht (metus), die anhand eines Textes von Ennius’ Alcmeo veranschaulicht wird, den die Titelfigur nach dem Mord an seiner Mutter spricht, passe eine leise (demissum), stockende (haesitans) und niedergeschlagene (abiectum) Stimmart.180 Zur Energie (vis)181, die Atreus bei seinen Rachegedanken gegen Thyestes in der Tragödie des Accius antreibt, passe eine angestrengte (contentum), stürmische (vehemens), durch eine gewisse drängende, wuchtige Kraft drohende (imminens quadam incitatione gravitatis)182 Stimmart. Zur Freude (voluptas), die an einem Textzitat aus der Hochzeitsszene einer unbekannten Palliata exemplifiziert wird, passe eine leicht-fließende (effusum), sanfte (lene), zarte (tenerum), erheiterte (hilaratum) und entspannte (remissum) Stimmart.183 Zur Niedergeschlagenheit (molestia), wie sie Pacuvius’ Iliona angesichts der Verbindung von Paris und Helena empfindet und äußert, passe eine Stimmart ohne Mitleiderregung (sine commiseratione)184, die gewissermaßen schwer ist (grave quoddam) und in ihrer Einförmigkeit dumpf (uno pressu185 ac sono obductum186)187. Wenn man genauer betrachtet, wie Crassus hier die Stimmarten beschreibt, die zu den jeweiligen Affekten passen, so fällt auf, dass er dazu nicht die gerade zuvor (in 216) entwickelte Systematik verwendet. Keine der dort genannten, antithetisch aufgelisteten Stimmeigenschaften findet sich bei der Charakterisierung der Stimmarten für die Affekte wieder. Eine Ausnahme bildet nur acutus, das beide Reihen von Begriffen (in 216 und

178 Stilistisch passen zur unterbrochenen Stimmart die kurzen Kola der ersten beiden Zitate gut, die Crassus nennt. 179 Vgl. die Ausführungen zur Stimme in miseratione bei Quintilian: flexa et flebilis et consulto quasi obscurior (inst. 11,3,64). Vgl. Kapitel 4.2.3. 180 Quintilian (inst. 11,3,64) verbindet ähnlich die vox contracta und Furcht (metus). 181 Vgl. WILKINS (1892) z. St., WISSE u. a. (2008) z. St. und MANKIN (2011) z. St. 182 Der Ausdruck ist schwer verständlich. Gemeint ist wohl, dass der Sprecher von (heftiger, schrecklicher, vgl. ThlL, s. v. gravitas S. 2308,8 ff.) Wucht (gravitas kann hier nicht positiv im Sinne von »Würde« oder »Erhabenheit« gemeint sein) gleichsam angetrieben wird und dadurch bedrohlich wirkt. 183 Quintilian (inst. 11,3,63) beschreibt die vox zum Ausdruck von Freude (laetis in rebus) so: plena et simplex et ipsa quodam modo hilaris fluit. Vgl. Kapitel 4.2.3. 184 Der Zusatz sine commiseratione dient der Abgrenzung der molestia von miseratio/ maeror. 185 pressus bezeichnet wie in Cic. de orat. 3,43 die Artikulation bzw. Aussprache (vgl. ThlL, s. v. pressus S. 1199,13 ff.). Vgl. das Adjektiv-Partizip pressus, »gut artikuliert« (vgl. ThlL, s. v. premo S. 1182,46 ff. und z. B. Cic. de orat. 3,45, nat. deor. 2,149). 186 Vgl. WISSE u. a. (2008) z. St.: »muffled«. 187 Ich fasse pressu ac sono als Hendiadyoin auf (vgl. pressus et sonus in Cic. de orat. 3,43): Artikulation und Klang ergeben gemeinsam die Stimmart. Diese ist einförmig (unus).

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217) eröffnet.188 Ansonsten werden für die gleichen Stimmphänomene bei der Erläuterung der Affekte (in 217–219) andere Ausdrücke verwendet, z. B. lenis (219) statt levis (216) für »sanft« und flexibilis (217) statt flexo sono (216) für »in der Tonhöhe variierend«.189 Neu sind im Vergleich zu den in 216 genannten Adjektiven alle Ausdrücke der Spannung (demissus, contentus, remissus)190 sowie auch bestimmte Toneigenschaften wie die der Klangfülle (plenus). Dazu kommen einige Begriffe, die nicht eigentlich akustische Merkmale bezeichnen, sondern von dem jeweiligen Affekt bzw. Sprecher auf die Stimme übertragen worden sind, wie incitatus oder haesitans. Insgesamt richtet sich damit, wie schon gesagt, die Beschreibung der zu den Affekten passenden Stimmarten (217–219) nicht nach den zunächst (in 216) einführend genannten, allgemeinen Eigenschaften von Stimmen. Vielmehr scheint Crassus sogar zu versuchen, nicht dieselbe Terminologie zu verwenden. Wie der Redner mit den verschiedenen Stimmarten für Abwechslung sorgen soll (vgl. 216), so variiert Crassus seine Erläuterungen dazu. Daran erkennt man nicht nur, dass es Crassus und Cicero auch bei der Stimme nicht um eine einfache, klare, lernbare Systematik und Klassifizierung geht, sondern man sieht auch, wie individuell jeder Affekt seine eigene, ganz spezifische Beschreibung erhält. Jede Gefühlsregung spielt in der Tat so unterschiedlich auf dem Instrument der Stimme (vgl. 216), dass die Stimme dabei jeweils ganz eigentümlich klingt und auch von Crassus so beschrieben wird. Nach kurzen Anweisungen zu Gestik und Mimik kommt Crassus noch einmal zurück zur Stimme, die – wie bei Aristoteles und beim Auctor ad Herennium – auch für ihn beim Vortrag die wichtigste Rolle übernimmt: ad actionis autem usum atque laudem maximam sine dubio partem vox obtinet (224).191 Eine gute Stimme könne man sich zunächst nur (von der Natur) wünschen.192 Dann müsse man, was für eine Stimme auch immer man habe, diese erhalten (tuenda) (224). Anweisungen zur Stimmpflege (voci servire), die er für wichtig hält und die zumindest in Ciceros Zeit den Rednern geläufig waren, grenzt er aus seinem Themengebiet aus.193 Allge188 Das Wort gravis kommt ebenfalls sowohl in der erstgenannten Systematik (3,216) als auch bei der Beschreibung des Affekts der Niedergeschlagenheit vor (3,219), heißt aber im ersten Fall »tief« und in zweiten Fall »schwer«. 189 Zum Verhältnis von lenis und levis vgl. die Erläuterungen zu levis in Quint. inst. 11,3,15 (Kapitel 4.2.1). 190 Vgl. Exkurs 3 (2.5). 191 Zu Aristoteles und zum Auctor ad Herennium vgl. Kapitel 3.1.3 und 3.2.1. 192 Vgl. Cic. orat. 59. 193 Konkrete Hinweise zur Stimmpflege (cura) will auch der Auctor ad Herennium nicht geben, der stattdessen auf die professionellen Stimmpfleger verweist (Rhet. Her. 3,11,20). Quintilian (inst. 11,3,19–29) erläutert Gemeinsamkeiten und v. a. Unterschiede in der Stimmpflege der Redner und der professionellen Stimmbildner (phonasci).

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mein ließe sich jedoch festhalten, dass wie bei den meisten Dingen auch in Bezug auf die Erhaltung der Stimme sich das als nützlich erweise, was auch schön sei (quod maxime est utile, id nescio quo pacto etiam decet maxime)194, was Crassus im Folgenden für die Abwechslung (crebra mutatio) in der Stimmführung mit Blick auf den Redner und den Zuhörer nachweist. Für den Redner ist diese Abwechslung das Nützlichste zur Erhaltung der Stimme,195 das Schädlichste ist ununterbrochene Anstrengung, die zur Verausgabung wird (effusa196 sine intermissione contentio)197 (224). Und auch für die angenehme Wirkung des Vortrags auf die Ohren der Zuhörer (ad auris nostras et actionis suavitatem) sei nichts passender als Abwechslung, was Crassus mit drei gleichbedeutenden Begriffen für Abwechslung (vicissitudo et varietas et commutatio) untermalt (225).198 Daher, also offenbar um Abwechslung zu erzeugen, habe der bereits eingangs erwähnte C. Gracchus bei seinen Auftritten als Redner immer einen erfahrenen Sklaven mit einer Flöte aus Elfenbein (fistula eburneola) bei sich gehabt, der sich im Hintergrund aufhielt. Dieser sollte schnell199 einen Ton blasen (inflaret celeriter eum sonum), mit dem er Gracchus entweder antrieb, wenn dieser (zu) lässig (remissum) sprach, oder mit dem er ihn zurückrief, wenn er (zu) angestrengt sprach (a contentione revocare) (225). Die nicht leicht zu deutende Anekdote zu dieser fistula des Gracchus steht dabei eindeutig im Zusammenhang mit der Forderung nach Abwechslung im stimmlichen Vortrag. Ihr genauer Sinn bleibt aber zunächst unklar. Dann kommt Crassus nach einem kurzen politischen Exkurs (226), angeregt durch die Nachfrage eben nach dem Sinn der fistula des Gracchus, noch einmal zur Nützlichkeit und angenehmen Wirkung der Stimmvariation zurück (227). Die nun folgenden Erläuterungen zur Mittellage200 der Stimme und ihren Extremformen stehen also weiterhin im Zusammenhang 194 Dieser Gedanke des engen Zusammenhangs von Nützlichkeit und angenehmer Wirkung findet sich auch beim Auctor ad Herennium, wo er im Zusammenhang mit der Ausdauer der Stimme (Rhet. Her. 3,12,21–22) ausgeführt wird, vgl. Kapitel 4.1.3. 195 Abwechslung aus physiologischen Gründen empfiehlt auch der Auctor ad Herennium (3,12,21). 196 Vgl. den Ausdruck nullo genere vocis effuso (»ohne eine Stimmart – d. h. v. a. die laute, anstrengende – verbraucht zu haben«) in Rhet Her. 3,12,21 (in Kapitel 4.1.3). 197 Daher empfiehlt der Auctor neben der Abwechslung auch Pausen (Rhet. Her. 3,12,21). Zur Überanstrengung der Stimme vgl. Quint. inst. 11,3,51 (in Kapitel 4.2.3). 198 Die Forderung nach Abwechslungsreichtum des Vortrags (actionem commutare; varietas vocis) betont Cicero auch in der kurzen Besprechung der actio in den Partitiones oratoriae (Cic. part. 25). Vgl. auch Rhet. Her. 3,12,22 (in Kapitel 4.1.3) und Quint. inst. 11,3,43– 51 (in Kapitel 4.2.3). 199 Hier ist »schnell« im Sinne von »so schnell er es merkte«/»rechtzeitig« gemeint, so dass Gracchus schnell auf den Ton reagieren konnte. 200 Vgl. die mittlere Tonlage bei Quint. inst. 11,3,41–42 (in Kapitel 4.2.3).

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mit der fistula des Gracchus. Jede Stimme habe ihre individuelle, ganz bestimmte Mittellage (quiddam medium). Das stufenweise Ansteigen von dieser Mittellage aus (hinc gradatim ascendere vocem) wird geraten. Es sei nützlich und angenehm (utile et suave) – denn am Anfang laut zu reden (clamare)201, sei abstoßend (agreste) – sowie heilsam, um die Stimme zu kräftigen (ad firmandam vocem). Der höchste Punkt der Anstrengung (contentionis extremum), der erlaubt ist, liege noch unter dem Schreien mit höchstem Ton (acutissimus clamor), den der Redner hervorbringen könnte. Dieser Ton solle aber nicht erreicht werden, die Flöte (des Sklaven von Gracchus) erlaube nicht, dorthin zu gelangen, ja schon von dieser stimmlichen Anstrengung, die noch erlaubt ist, werde sie direkt zurückrufen (ab ipsa contentione revocabit). Damit scheint die Hauptaufgabe der fistula genannt zu sein. Diese soll offenbar v. a. das Sprechen mit der höchsten Anstrengung (contentio) vermeiden bzw. möglichst kurz halten. Es gebe auch einen tiefsten Punkt (gravissimum), zu dem man beim Nachlassen der Stimme (in remissione) wie auf Tonstufen (tamquam sonorum gradibus)202 herabsteige.203 Diese Abwechslung (varietas) und dieser Lauf der Stimme durch alle Töne (per omnes sonos vocis cursus), also die Stimmmodulation, erhalte die Stimme und verleihe dem Vortrag eine angenehme Wirkung (suavitas).204 Wenn man durch Gewöhnung dafür ein Gefühl entwickle und auf das Forum mitbringe (sensum huius consuetudinis ad forum deferre), so beendet Crassus ironisch seine Ausführungen, könne man auch seinen Flötenspieler zu Hause lassen (227).

Zur fistula des Gracchus bei Cicero, Valerius Maximus, Quintilian, Gellius und Plutarch Die Hauptschwierigkeit zum Verständnis der fistula des Gracchus bei Cicero besteht darin, dass diese zur Begründung der Abwechslung im Vortrag eingeführt wird, aber eigentlich nicht viel dazu beitragen kann. Denn nach Crassus bläst der Flötenspieler jeweils nur einen Ton (eum sonum), um den Redner Gracchus entweder anzutreiben oder zu bremsen und damit für Abwechslung im Vortrag und das Vermeiden von Extremen zu sorgen (de orat. 3,225). Die fistula, die das Äquivalent der griechischen 201 Das laute Sprechen am Anfang verbietet aus medizinischen und ästhetischen Gründen auch der Auctor ad Herennium (3,12,21.22). 202 Hier findet sich zum ersten Mal der Beleg für gradus (sonorum), »Tonleitern«, vgl. ThlL, s. v. gradus S. 2158,23 ff. 203 Vgl. Quint. inst. 11,3,41 (in Kapitel 4.2.3) über die zu meidenden extremen Tonlagen. 204 Dabei handelt es sich um die auch bei anderen Rhetoren beschriebene Auf- und Abstiegsübung (siehe dazu ausführlich Kapitel 2.3).

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Syrinx ist,205 hat also bei Cicero eine zweifache prohibitive Funktion, auch wenn es wohl v. a. darum geht, eine angestrengte Sprechweise (contentio) zu vermeiden und so die Stimme zu schützen (vgl. de orat. 3,227).206 Von dieser Darstellung Ciceros, die fistula habe v. a. der Vermeidung der extremen Sprechweisen gedient, weichen andere Überlieferungen derselben Anekdote durchaus ab, in denen dem Sklaven und seiner Flöte auch eine einfache prohibitive Funktion (Vermeiden der angestrengten Sprechweise) oder eine aktive Funktion (Vorgeben bestimmter Töne) zugeschrieben werden. Valerius Maximus (8,10,1) hält sich allerdings (sogar wörtlich) recht eng an die Darstellung Ciceros. Der Sklave habe mit einer fistula aus Elfenbein (eburnea) verborgen hinter Gracchus gestanden. Er habe dessen Töne im stimmlichen Vortrag gestaltet (pronuntiationis eius modos formabat), indem er sie entweder antrieb (excitando), wenn sie allzu sanft waren (nimis remissos), oder indem er sie besänftigte (revocando), wenn sie zu erregt waren (plus iusto concitatos). Auch hier übernimmt die fistula also eine zweifache prohibitive Funktion. Die folgende Begründung, die nur auf das Besänftigen Bezug nimmt, zeigt, dass Valerius Maximus wie Cicero v. a. daran denkt, dass der Sklave die energische Sprechweise des Gracchus bremsen sollte, auch wenn beide den entgegengesetzten Vorgang des Antreibens auch erwähnen. Denn der hitzige, leidenschaftliche Vortrag (calor atque impetus actionis) des Gracchus hätte verhindert, dass er selbst das rechte Maß (temperamentum) aufmerksam einschätzen konnte. Anders klingt das im kurzen Zeugnis Quintilians: cui (sc. Graccho) contionanti consistens post eum musicus fistula, quam tonarion vocant, modos quibus deberet intendi ministrabat (inst. 1,10,27). Demnach habe der Sklave mit seinem Instrument die Töne vorgegeben, die Gracchus dann mit seiner Stimmspannung erzeugen sollte und durfte. Vielleicht ist auch dabei noch an die nicht zu große Anstrengung der Stimme durch Anspannung (intendere) gedacht, die die prohibitive Funktion der Flöte vermeiden soll. Anders als bei Cicero und Valerius Maximus wird aber hier deutlich von einer aktiven Rolle des Sklaven und seiner Flöte gesprochen. Dafür mag die CiceroStelle der Auslöser sein, wo die varietas der Stimmtöne besprochen wird, wodurch man auch leicht auf den Gedanken an verschiedene, abwechslungsreiche Flötentöne kommen kann. Quintilian setzt dabei die fistula, 205 Vgl. ThlL, s. v. fistula S. 829,64 ff. und OLD 2a. WISSE u. a. (2008) z. St. geben für ihre Auffassung, es handle sich hier, gegen den üblichen Wortgebrauch, um »a pitch pipe (like a recorder)«, keine weitere Begründung, legen aber wohl die späteren Quintilian- und GelliusStellen zugrunde (und deuten die von ihnen erwähnten Instrumente als Stimmpfeifen). 206 Indirekt trägt die fistula somit doch zur varietas der Stimme bei, denn eine Stimme, die zu lange zu sehr angestrengt wird (wofür die Stimme des Gracchus offenbar als Beispiel dienen konnte), könnte keine varietas mehr erzeugen. Vgl. dazu Rhet. Her. 3,12,12 und die Erläuterungen in Kapitel 4.1.3.

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von der Cicero und Valerius Maximus ausschließlich sprechen, mit dem griechischen τονάριον gleich, das allerdings nur an dieser Stelle überhaupt erwähnt wird und daher nichts zur Klärung beiträgt.207 Am ausführlichsten befasst sich Gellius (1,11,10–16) mit der fistula des Gracchus und mit den unterschiedlichen Varianten der Anekdote. Zunächst referiert er eine Version, die der Quintilians am nächsten kommt: Der Sklave habe mit einer tibia contionaria208 dem Gracchus die Töne vorgespielt (praeisse ac praeministrasse modulos), die dieser dann selbst vorgetragen habe (1,11,10). Jene tibia muss dann also wie die fistula bzw. das τονάριον bei Quintilian eine aktive Rolle übernommen haben. Nach dieser weit verbreiteten Version (ut a vulgo dicitur) habe der Sklave mit verschiedenen Tönen und Melodien (varii modi, numeri, modi) das Gemüt und den Vortrag des Gracchus (animum actionemque eius) bald besänftigt, bald angeregt (1,11,11–12). Das hält Gellius für äußerst unpassend und unwahr. Er selbst glaubt hingegen an eine andere Version (1,11,13–14), nach der der Sklave nicht hinter Gracchus stand, sondern unentdeckt im Publikum. Wie der Sklave im Publikum unentdeckt bleiben konnte – was kaum vorstellbar ist –, führt Gellius nicht aus. Dort habe er jedenfalls mit einer kurzen Flöte (fistula brevi) bisweilen einen ziemlich tiefen Ton (sensim graviusculum sonum) geblasen, um Gracchus in seinem lebhaften, hitzigen stimmlichen Vortrag zu besänftigen (ad reprimendum sedandumque inpetus vocis eius effervescentes). Die Flöte übernimmt hier demnach eine einfache prohibitive Funktion. Eines äußeren Antriebs habe die ohnehin impulsive Natur des Gracchus nämlich sicher nicht bedurft. Damit folgt Gellius nur zur Hälfte Cicero, der nämlich, wie Gellius richtig bemerkt (1,11,15–16), nicht nur an das Besänftigen, sondern auch an das Antreiben mittels der Flötentöne gedacht hatte. Gellius’ favorisierte Version der Anekdote wird auch unterstützt durch Plutarchs Beschreibung von Gracchus’ Redestil (Tib. Gracch. 2,4–5). Gracchus habe sich nämlich oft beim Reden von seinem Zorn mitreißen lassen und dann sehr hoch und laut gesprochen (ὑπ᾽ ὀργῆς τήν τε φωνὴν ἀποξύνειν) und u. a. den Faden verloren. Um das zu verhindern, habe er einen gewissen Licinius beauftragt, der ein φωνασκικὸν ὄργανον bei sich hatte, also ein Instrument aus der Stimmübung209, mit dem wohl Stimmtrainer die Stimmtöne mäßigten210 (ᾧ τοὺς φθόγγους ἀναβιβάζουσιν). Wenn Licinius bemerkte, dass Gracchus eine raue und vor Zorn brüchige Stimme 207 Nach WEST (1992), S. 113 f. ist es vielleicht mit dem epitonion identisch, einer (wohl rohrblattlosen) Stimmpfeife, mit der ein Chorleiter dem Chor Töne vorgeben konnte, von dem man aber auch nicht mehr weiß. 208 Vgl. die contionaria Gracchi fistula bei Amm. 30,4,19. 209 Vgl. Kapitel 2.2.2. 210 Vgl. LSJ, s. v. ἀναβιβάζω II 9.

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bekam, habe er einen sanften Ton (τόνον μαλακόν) gespielt, durch den Gracchus sich besänftigt und von seiner leidenschaftlichen Erregung und Sprechweise wieder abgelassen habe. Auch bei Plutarch erhält die Stimmflöte demnach eine einfache prohibitive Funktion.

Orator Im Orator finden sich im Wesentlichen dieselben Gedanken wie in De oratore in gekürzter und variierter Form. Hinzu kommen allerdings im zweiten Teil neue Überlegungen zum cantus obscurior des Redners. Diese stehen in engem Zusammenhang mit dem Hauptanliegen des Werkes, das zwar wie De oratore der Bestimmung des vollkommenen Redners (perfectus orator) gewidmet ist, sich dabei aber besonders auf den rednerischen Stil, die elocutio, konzentriert. Denn Cicero wendet sich mit dem Orator gegen die Behauptung, er sei – mit Bezug auf den Stil – ein Asianus, ein asianischer Redner.211 Dabei wehrt er sich insbesondere gegen zwei Vorwürfe, die seinen Gebrauch von Figuren und den Prosarhythmus betreffen, nämlich dagegen dass er einerseits schwülstig und unmäßig, andererseits kraftlos und unmännlich weich schreibe.212 Eine Abgrenzung von den (echten) Asiani unternimmt Cicero dabei im Orator nicht nur mit Bezug auf die elocutio, sondern auch mit Blick auf die actio (55–60). Cicero beginnt sie mit einer Feststellung über das Verhältnis von Stil, dem Hauptthema des Orator, und Vortrag. Wie man spricht (quomodo autem dicatur), bestimme sich durch zwei Dinge (id est in duobus), nämlich durch den Vortrag (agendo) und den sprachlichen Ausdruck (eloquendo) (55).213 Die explizite Einordnung des Vortrags unter dem Wie der Rede gemeinsam mit dem Stil ist platonisch (pol. 392c7–8) bzw. aristotelisch (1403b15–17).214 Die actio wiederum sei gewissermaßen die Beredsamkeit des Körpers (quasi corporis quaedam eloquentia) und bestehe aus Stimme (vox) und Mimik/Gestik (motus). Diese Definition Ciceros folgt deutlicher als in De oratore der wahrscheinlich theophrastischen Zweiteilung des Vor211 »Asianismus« und auch »Attizismus« sind beides moderne Wortprägungen, die in der Antike nie Schulrichtungen bezeichnet haben. Vgl. dazu insgesamt am besten ADAMIETZ (1992). Zu Ciceros Anliegen im Orator vgl. JAHN/KROLL (51971), S. 2–7. 212 Von diesen Kritikpunkten der Attici an Cicero berichten Quint. inst. 12,10,12 und Tac. dial. 18,4. 213 Brutus hatte eigentlich nur um Ausführungen de orationis genere gebeten (54), d. h. über die λέξις/elocutio (vgl. JAHN/KROLL [51971] z. St.). Wenn Cicero das kurze Kapitel über die actio wirklich nur geschrieben hat, um die Bemerkung über die asianischen Redner in orat. 57 einfügen zu können, wie JAHN/KROLL (51971), S. 61 vermuten, dann hatte er im Zusammenhang von Vortrag und Stil einen geeigneten Anknüpfungspunkt gefunden. 214 Vgl. Kapitel 3.1.2 und 3.1.3.

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trags, die auch der Struktur des Abschnittes zugrunde liegt: Zunächst wird die Stimme besprochen (55–59), dann Gestik und Mimik (59–60). Ähnlich der hier gegebenen Definition der actio als quasi corporis quaedam eloquentia hatte Cicero sie in de orat. 3,222 quasi sermo corporis genannt.215 Cicero gesteht dem rednerischen Element, das nicht im eigentlichen Sinne Sprache (eloqui) ist, der stimmlichen Äußerung und der körperlichen Äußerung in Gestik und Mimik, also einen der Sprache ebenbürtigen Status zu (quasi eloquentia). So wird noch einleuchtender, warum die actio in einer Schrift über den Stil, der sich mit der Sprache befasst, behandelt wird. Zu Beginn der Ausführungen über die vox wird ihr Zusammenhang mit den Gefühlsregungen hervorgehoben (55). Es gebe ebenso viele Veränderungen der Stimme (vocis mutationes) wie Gefühlsregungen (mutationes animorum), d. h. zu jeder Gefühlsregung gebe es eine entsprechende Stimmart. Diese würden v. a. durch die Stimme hervorgerufen (maxime voce commoventur). Daher werde der gesuchte vollkommene Redner (ille perfectus) jeweils einen bestimmten Stimmton anwenden (certum vocis admovebit sonum) je nachdem, wie er selbst affektisch bewegt erscheinen wolle und das Innere des Hörers bewegt werden solle (utcumque se affectum videri et animum audientis moveri volet). Wenn der Redner in seinem Zuhörer einen bestimmten Affekt hervorrufen wolle, heißt das, müsse er selbst den Eindruck machen (videri), als ob er diesen Affekt auch empfände, und den ihm entsprechenden Stimmton verwenden. Weitere Ausführungen dazu will Cicero nicht machen, da es nicht die Zeit für Vorschriften (praecipiendi tempus) sei und Brutus auch nicht danach frage. Cicero betont stattdessen (wie in de orat. 3,213) ganz allgemein die Bedeutung der actio. Sehr viel hänge davon ab, wie der Redner Stimme, Gestik und Mimik einsetze (55). Durch einen schönen, gelungenen Vortrag (actionis dignitas) hätten auch Leute ohne Rednergabe (infantes) oft Erfolg in der Redekunst gehabt, während viele Redebegabte (diserti) durch einen hässlichen, misslungenen Vortrag (deformitas agendi) für nicht begabt gehalten worden seien, weshalb mit Recht Demosthenes dem Vortrag die herausragende Bedeutung beim Reden zuerkannt habe (56).216 Wenn nämlich die Beredsamkeit ohne den Vortrag keine sei, der Vortrag aber ohne Beredsamkeit so viel erreiche, so vermöge er sicherlich beim Reden sehr viel: si enim eloquentia nulla sine hac, haec autem sine eloquentia tanta est, certe plurimum in dicendo potest (56). Damit ist begründet, weshalb der vollkommene Redner auch und gerade in der actio vollkommen sein muss. Er werde daher seine Stimmführung seinem Redeziel und seiner Wirkungs215 Die Definition ist dort recht unauffällig in die Behandlung der Mimik eingegliedert und bezieht sich nicht so explizit wie hier auf beide Teile des Vortrags, auf Gestik/Mimik und Stimme. Beide Definitionen referiert Quintilian (inst. 11,3,1). 216 Vgl. dieselbe Anekdote in Cic. Brut.142, de orat. 3,213 und Quint. inst. 11,3,6.

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absicht anpassen. Cicero nennt zwei Gegensatzpaare als Beispiele (56). Mit einer angestrengten, d. h. hier lauten Stimme (contenta vox) werde er furchteinflößend (atrociter) sprechen, mit einer entspannten (summissa) Stimme, d. h. einer leisen (und tiefen), werde er sanft (leniter) sprechen.217 Mit einer tiefen (inclinata218) Stimme werde er würdevoll (gravis) scheinen, mit einer in der Tonhöhe variierenden (inflexa219) Stimme mitleiderregend (miserabilis).220 Während Cicero in De oratore 3,217–219 von den Affekten ausgeht und die jeweils zu ihnen passende Stimmart beschreibt, geht er hier jeweils von den Stimmarten aus und zwar von zwei Grundunterscheidungen in der Stimme, der hinsichtlich Lautstärke (contenta/summissa vox) und des Vorhandenseins von Tonvariation (inclinata/inflexa vox). Die Erwähnung der Tonhöhenvariation ermöglicht ihm gedanklich die Überleitung zu seinem letzten und im Vergleich zu De oratore neuen Punkt, dem Gesang beim Reden. Mit der Tonhöhe fährt Cicero zunächst fort. Die Natur der Stimme verfüge über drei Klangarten (soni), nämlich inflexus, acutus und gravis (57). Diese Einteilung stammt von den drei Akzentarten und wird offenbar von dort auf den ganzen Sprechzusammenhang übertragen.221 Gemeint sind also ein in der Tonhöhe variierender Ton, ein hoher und ein tiefer.222 Aus diesen dreien ergebe sich beim Singen (in cantibus) eine angenehme Abwechslung (suavis varietas). Eine Art verborgenen Gesang (cantus obscurior) gebe es aber auch beim Reden (etiam in dicendo) (57).223 Dieser wird zunächst ex negativo definiert, als etwas anderes als das Singen der Redelehrer aus Phrygien und Carien im Epilog, was als (beinahe) liedhaft bezeich-

217 Vgl. das Gegensatzpaar soni intenti/remissi bei Quint. inst. 11,3,17 (in Kapitel 4.2.1). 218 inclinatus kann sowohl einen tiefen Ton als auch (wie z. B. in orat. 27) einen in der Tonhöhe variierenden Ton bezeichnen (siehe dazu Exkurs 3 [2.3] und die Ausführungen zu inclinato sono in Rhet. Her. 3,14,25, Kapitel 4.1.3, und auch zu vocis declinationes in Quint. inst. 11,3,46, Kapitel 4.2.3). Vgl. GLEASON (1995), S. 108. Hier ist der tiefe Ton gemeint, der sonst am häufigsten gravis heißt. Mit diesem Adjektiv wird aber hier bereits die gewünschte Wirkung (»würdevoll«) umschrieben. 219 Vgl. Cic. de orat. 2,193: inflexa ad miserabilem sonum vox. 220 Der Gegensatz ist hier also der zwischen fester, nämlich tiefer Tonlage einerseits und variierender Tonhöhe andererseits. 221 Quintilian (inst. 11,3,17) schickt diese bekannte Einteilung in die drei Akzentarten seiner Einteilung der Stimme in Dynamik, Tonhöhe und Tempo voraus (vgl. Kapitel 4.2.1). Vgl. Exkurs 3 (2.1). 222 inflexus hat hier (58) die gleiche Bedeutung wie im Satz zuvor (57). Mit inflexus ist demnach nicht ein mittlerer Ton bzw. die mittlere Stimmlage des Menschen (so JAHN/KROLL [51971] z. St.) gemeint. 223 Auf diese Stelle stützt sich Quintilian bei seinen Ausführungen zum cantus obscurior (inst. 11,3,60). Vgl. Kapitel 4.2.3.

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net wird (non hic224 e Phrygia et Caria rhetorum epilogus paene canticum).225 Ähnlich wird es in Cic. orat. 27 als aus Kleinasien stammende Art bezeichnet, mit modulierter, heulender Stimme zu singen, was Cicero für unerträglich hält: cum vero inclinata ululantique voce more Asiatico canere coepisset, quis eum ferret aut potius quis iuberet auferri? Cicero versucht hier deutlich, sich auch in Hinblick auf die actio von asianischen Rednern abzugrenzen, denen er bestimmte Vortragsmerkmale, v. a. den gesangsartigen Vortrag, zuordnet. Nach der Ablehnung des (asianischen) Extremes, das im Gesang besteht, lehnt Cicero aber auch das andere Extrem ab, die Stimme gar nicht zu variieren. Erlaubt seien durchaus Stimmmodulationen (vocis flexiones), wie sie Demosthenes und Aischines eingesetzt und sich gegenseitig vorgeworfen haben.226 Demosthenes sage sogar, dass Aischines heule (plorare)227, aber auch, dass er eine angenehme und deutliche Stimme (vox dulcis et clara) habe.228 Bei der Bemühung um einen angenehmen Klang in der Stimme (suavitas in vocibus) müsse man bedenken, dass die Modulation einen natürlichen Ursprung habe, da die Natur selbst zur angenehmen Wirkung der Stimmen durch ihr Betonungsgesetz beigetragen habe, mit dem sie der Rede der Menschen gleichsam eine Melodie mitgegeben habe (quasi modularetur hominum orationem) (58). Abschließend werden kurz Naturanlage und Einsatz der Stimme erwähnt. Eine von Natur aus gute Stimme (vocis bonitas) müsse man sich zwar wünschen, denn sie liege nicht in unserer Hand (non est enim in nobis) (59).229 In unserer Hand lägen aber der Einsatz und der Gebrauch der Stimme (tractatio atque usus)230. Der vollkom-

224 Das Pronomen hic betont die Gegenwärtigkeit des zu ihm gehörigen Substantivs, vgl. KÜHNER/STEGMANN (51976) II,1 §118,2, Anm. 4, S. 621. Dies kann hier der lebhaftigen Vergegenwärtigung dienen oder sogar bedeuten, dass asiatische Rhetoren in Rom anwesend gewesen sind. 225 Diese karischen und phrygischen Rhetoren werden an anderer Stelle auch für ihre Leistung in der elocutio kritisiert (Cic. orat. 25). 226 Vgl. Quint. inst. 11,3,168, wo genau diese Stimmmodulationen inclinationes vocis genannt werden. 227 Überliefert ist an dieser Stelle plur, das z. B. von JAHN/KROLL (51971) zu plura ergänzt wird. JAHN (31869) z. St. zweifelt allerdings am ganzen Satz, der ihm »überflüssig und störend« erscheint. plorare ist eine Konjektur von Schenkl, die auch WILKINS (1903) übernimmt. Wenn plorare an dieser Stelle richtig ist, bringt der Satz etwas inhaltlich Neues. Cicero bezieht sich dann wohl auf Dem. de cor. 287 (τῇ φωνῇ δακρύειν). 228 Zu den Vorwürfen, die Demosthenes und Aischines sich gegenseitig in Bezug auf ihre Stimme machen, siehe Kapitel 3.1.1. 229 Vgl. Cic. de orat. 3,224 und auch Cic. off. 1,133, wonach sowohl die vox clara als auch die vox suavis insbesondere von der natura abhängen. 230 Die Begriffe tractatio und usus sind ungefähr gleichbedeutend. usus/uti bezeichnet eher den Gebrauch der Stimme allgemein in Abgrenzung von ihren natürlichen Gegebenhei-

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mene Redner werde seinen Vortrag daher äußerst abwechslungsreich gestalten (variabit et mutabit). Er werde alle Klangstufen (omnes sonorum gradus) durchschreiten, indem er die Stimme bald anspanne (intendens) und bald entspanne (remittens) (59).231

Brutus: Die älteren römischen Redner Da Cicero im Brutus den Vortrag als Bewertungskriterium für die Redner verwendet, die er bespricht, finden sich dort auch viele, meistens sehr kurze Bemerkungen zu ihren Stimmeigenschaften, die sich gut in die Beschreibungen der anderen rednerischen Fähigkeiten und Leistungen einfügen. So heißt es über Cethegus, den ersten beredten Mann (vgl. Quint. inst. 11,3,31), er habe sich – nach Ennius’ Annalen – durch suaviloquentia, durch die angenehme Wirkung seines Vortrages, ausgezeichnet (58).232 Im Folgenden beschränkt sich Cicero vernünftigerweise auf die Redner, die er selbst gehört hat. P. Sulpicius Rufus, der von Cicero als »sozusagen ein Redner wie ein Tragöde« (ut ita dicam, tragicus orator) charakterisiert wird, habe eine laute, angenehme und glänzende Stimme (vox cum magna tum suavis et splendida233) gehabt (203). Zu diesem an Schauspieler erinnernden Wohlklang der Stimme passt auch die Anmut seiner körperlichen Bewegungen (gestus et motus corporis … venustus) beim Vortrag gut (203). Der Vortrag des P. Antistius, der als durchaus scharfsinniger und nicht unfeiner Redner beurteilt wird, sei schwach gewesen aufgrund der Unvollkommenheit seiner Stimme und besonders aufgrund seiner Unarten (actio paulum cum vitio vocis tum etiam ineptiis234 claudicabat) (227). Crassus, der Triumvir, habe in seinen Reden seine Stimme nur wenig angestrengt (in huius oratione … vocis parva contentio235), so dass er beinahe alles ähnlich und nur auf eine Art und Weise sagte (omnia fere ut similiter atque uno modo dicerentur) (233). Er verfügte also nicht über die wichtige Stimmvariation, wozu auch die Tatsache passt, dass er keinen Redeschmuck (flos; lumen) verwendet habe (233). C. Fimbria habe eine laute Stimme (magna vox) gehabt, was man sich gut vorstellen kann, wenn er angeblich als Redner so ten (vgl. Quint. inst. 11,3,14), tractatio/tractare/tractabilis eher den rhetorischen Einsatz der Stimme mit Blick auf ihre Flexibilität (vgl. Rhet. Her. 3,12,21, Quint. inst. 11,3,40). 231 Vgl. Cic. de orat. 3,227. 232 Vgl. auch die Erläuterungen zu Quint. inst. 11,3,31 in Kapitel 4.2.3. 233 splendidus/splendor beziehen sich auf den Glanz und die Deutlichkeit der Stimme, vgl. OLD, s. v. splendidus 1d und splendor 2a. Vgl. die Erläuterungen zu Rhet. Her. 3,12,21 in Kapitel 4.1.3. 234 Offenbar hat er beim Vortrag (beim Gestikulieren) unpassende »Faxen« gemacht. 235 Zu contentio vgl. auch die Erläuterungen zu Rhet. Her. 3,13,23 (in Kapitel 4.1.3) und Quint. inst. 11,3,45 (in Kapitel 4.2.3) zu intentio (s. v. μονοτoνία) sowie Exkurs 3 (2.5).

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tobte (furebat), dass man ihn als Wahnsinnigen (insanus) bezeichnen konnte (233). C. Macers Stimme, Gestik und gesamter Vortrag seien ohne Anmut (sine lepore) gewesen (238). Er sei besser darin gewesen, die Sachverhalte außergewöhnlich sorgfältig aufzufinden und zu ordnen (in inveniendis componendisque rebus mira accuratio) (238). Cn. Pompeius wird als Redner in jeder Hinsicht, aber kurz gelobt. Was die Stimme anbelangt, habe er über großen Glanz verfügt: actio vero eius habebat … in voce magnum splendorem (239).236 P. Autronius habe – in positivem Sinne – eine äußerst hohe und laute Stimme (vox peracuta237 atque magna) gehabt (241), Cn. Lentulus Marcellinus, ein insgesamt sehr guter Redner, eine melodische Stimme (vox canora)238 (247). Der ältere Catulus habe seinen Ruf, ein guter Redner zu sein, erreicht, weil er eine angenehme Stimme (suavitas vocis) gehabt und die einzelnen Buchstaben sanft ausgesprochen habe (lenis239 appellatio240 litterarum) (259), wobei vielleicht besonders an die (nicht überdeutliche) Aussprache von (harten) Konsonantengruppen gedacht ist.241 Ähnlich wird er an anderer Stelle für seine angenehme Aussprache (suavitas appellandarum litterarum) und seine lateinische Ausdrucksweise (sermo Latinus) gelobt (133).242 Caesars Vortragsart (ratio dicendi) wird als glanzvoll (splendida) und keineswegs trainiert (veteratoria) beschrieben (261). Sie sei in Hinblick auf Stimme, Bewegung und seine schöne Gestalt sogar großartig gewesen und auf gewisse Art und Weise edel (voce motu forma etiam magnifica et generosa quodam modo) (261). Über Hortensius, der v. a. für sein Gedächtnis, seinen Eifer, seine Ankündigungen der Beweis236 Auch M. Claudius Marcellus verfügte über den splendor vocis (250). 237 Zu acutus vgl. Quint. inst. 11,3,17 und Kapitel 4.2.1. Die Steigerung peracutus findet sich mit Bezug auf Akustisches nur an dieser Stelle. 238 Auch L. Cornelius Lentulus Crus hatte eine vox canora (268). Das Adjektiv canorus charakterisiert v. a. den Gesang von Menschen (vgl. ThlL, s. v. canorus S. 277,17 ff.) und Tieren (277,42 ff.), bezeichnet also das Melodische, aber auch das Klangvolle von Instrumenten (277,69 ff.) und akustischen Äußerungen allgemein. 239 Zu lenis vgl. die Erläuterungen zu et levis et aspera in Quint. inst. 11,3,15 (Kapitel 4.2.1). Mit Bezug auf die Aussprache wird lenis/leniter/lenitas häufig mit presse (bzw. pressus, Artikulation) kombiniert (vgl. Cic. de orat. 3,43.45, off.1,133). Gemeint ist dann eine sanfte und deutliche Aussprache. 240 Zu appellatio und appellare in den Bedeutungen »Aussprache« und »aussprechen« vgl. die Erläuterungen zu Quint. inst. 11,3,35 in Kapitel 4.2.3. 241 Vgl. die Ausführungen zu Quint. inst. 11,3,35 in Kapitel 4.2.3 und die folgende Anmerkung. 242 Quintilian zitiert diese Stelle aus dem Brutus im Zusammenhang mit der Aussprache von zwei harten Konsonanten, die aufeinandertreffen (in inst. 11,3,35, vgl. Kapitel 4.2.3). Man solle z. B. nicht perlexit, sondern pellexit sagen. Quintilian hat also offenbar unter der sanften (so in Brut. 259) und angenehmen appellatio litterarum (die er als suavis appellatio litterarum zitiert) die sanft-angenehme Aussprache (evtl. speziell harter Konsonantengruppen) verstanden. Vgl. auch das Lob der Aussprache (sonus) beider Catuli in Cic. off. 1,133.

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ziele und seine Zusammenfassungen gelobt wird (301–302), erfahren wir nur, dass er eine melodische und angenehme Stimme hatte (vox canora et suavis) (303). In der Gestik war er offenbar deutlich auffälliger, dort sei er über das für einen Redner ausreichende Maß an Künstlichkeit hinausgegangen.243 Eine etwas ausführlichere Besprechung erhält Antonius (141–142) als einzigartiger Könner des Vortrags (in Antonio … actio singularis), an dem sich gezeigt habe, dass Demosthenes mit seiner Hochschätzung des Vortrags Recht hatte. Die Analyse seines Vortragsstils folgt der wahrscheinlich theophrastischen Einteilung in gestus und vox. Seine Stimme wird charakterisiert als ausdauernd (permanens)244, aber auch als von Natur aus etwas heiser (verum subrauca245 natura). Diesen Fehler (vitium) konnte Antonius wie kein anderer zu seinem Vorteil einsetzen. Seine Stimme habe durch ihre leichte Rauheit nämlich in den Klagepartien (in questionibus) etwas Rührendes (flebile quiddam) an sich gehabt, was dazu geeignet gewesen sei, Vertrauen herzustellen und Mitleid zu erregen. Gegenüber Antonius’ einzigartigem Können im Vortrag wird L. Licinius Crassus der Redner in gewisser Hinsicht als Gegenbild inszeniert. Seine Rede selbst (oratio) sei zwar durchaus energisch (vehemens), bisweilen erzürnt und voll gerechten Schmerzes (plena iusti doloris) gewesen (158). In der actio sei Crassus aber zurückhaltend gewesen. Er habe keine große Stimmmodulation (non [multa] inclinatio vocis) angewandt, seine Gestik sei wenig lebhaft gewesen (158). Auch in De oratore (3,33) lässt Cicero seine Dialogfigur Crassus diesen Unterschied in der actio (zumindest mit Blick auf die Bewegungen des Körpers) zwischen sich und Antonius herausarbeiten. Auch die Vortragsweise der Lentuli (234–235) wird etwas ausführlicher besprochen, da sie in der Lage gewesen seien, ihre rhetorische Mittelmäßigkeit durch einen gelungenen Vortrag wettzumachen (vgl. Cic. de orat. 3,213 und orat. 53). Cn. Lentulus habe sich einen weitaus besseren Ruf im Reden (multo maior opinio dicendi) erworben, als seine Fähigkeit hergab. Durch Pausen (intervalla) und Ausrufe (exclamationes) sowie eine angenehme und melodische Stimme (vox suavis et canora) habe er über seine Mängel,

243 Quintilian (inst. 11,3,8) lobt allgemein den Vortrag des Hortensius. Zum Vortrag des Hortensius (aber nicht zu seiner Stimme) vgl. auch Gell. 1,5,2–3 (in Kapitel 5.2.3). 244 Vgl. die Erläuterungen zur vox firma in Quint. inst 11,3,40 (Kapitel 4.2.3). 245 raucus heißt in Bezug auf die Stimme »heiser, rau« (vgl. OLD, s. v. raucus 1). Das Präfix sub- schwächt das zugrundeliegende Adjektiv ab. subraucus kommt außer in Cic. Brut. 141 noch bei Amm. 31,16,6 vor, wo es unheilvolles Gebrüll näher beschreibt (subraucum et lugubre strepens). Quintilian (inst. 11,3,171) verwendet zur Beschreibung von Antonius’ Stimme statt Ciceros subrauca das Adjektiv fusca (vgl. die Erläuterungen zur vox fusca in Quint. inst. 11,3,15, Kapitel 4.2.1).

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v. a. den der Wortfülle (nec abundans verbis), hinweggetäuscht.246 P. Lentulus, der über eine angenehme und starke Stimme verfügt haben soll (vocis et suavitas et magnitudo), habe sogar nichts als seinen Vortrag aufzuweisen gehabt. Seine eigene Stimme erwähnt Cicero v. a. im Zusammenhang mit dem Anfang seiner Karriere (313–316), als er seine anstrengende Sprechweise korrigieren lassen musste, da sie gesundheitsgefährdend war.247

Zusammenfassung Cicero teilt also die hohe Wertschätzung des Vortrags durch Demosthenes. Dieser soll v. a. abwechslungsreich sein, was sowohl nützlich für den Redner als auch angenehm für die Zuhörer sei. Nicht nur in dieser Auffassung zeigen sich deutliche, sowohl inhaltliche als auch wörtliche Überschneidungen mit der Rhetorica ad Herennium. Von der Stimme gehe beim Vortrag eine große emotionale Wirkung aus. Dabei werde der natürliche Zusammenhang von Affekt und Stimme vom Redner durch rhetorische Technik persuasiv nutzbar gemacht, was Cicero durch viele Beispiele belegt. Mit der Setzung seines Schwerpunktes auf die Anpassung der Stimme an die gewünschte Affektwirkung steht Cicero eindeutig in aristotelischer Tradition248 und womöglich auch direkt in der Theophrasts.249 Aristotelisch250 ist im Grunde auch die enge Beziehung von Stimme und Stil im Orator. Cicero grenzt hier zudem die rednerische Modulation beim Vortrag, den cantus obscurior (vgl. später Quint. inst. 11,3,60.172 und Iul. Vict. rhet. 24 p. 443,15–19), deutlich von dem von Sängern und asianischen Rednern ab.

246 Vgl. JAHN/KROLL (71964) z. St. 247 Da Cicero die Stimme dort aus medizinischer Sicht behandelt, wird diese Partie des Brutus in Kapitel 2.3 besprochen. 248 Vgl. Arist. rhet. 1403b27–28 und Kapitel 3.1.3. 249 Genaueres darüber lässt sich aufgrund der fehlenden Schriften Theophrasts (vgl. Kapitel 3.1.4) kaum sagen, auch wenn dies immer wieder versucht wird. Vgl. KROLL (1940), Sp. 1075: »Was bei Cicero über die actio steht, wird man großenteils auf ihn (sc. Theophrast) zurückführen dürfen«. WÖHRLE (1990), S. 39: Ciceros Bemerkungen zur actio gingen »vielleicht wesentlich« auf Theophrast zurück. FORTENBAUGH (2003), S. 266: »Theophrastus may have anticipated Cicero’s claim that each emotion has by nature its own particular look and voice and gesture«. Zuletzt ders. (2005), S. 408, Anm. 730: »Moreover, it is not at all clear that Cicero’s remarks on delivery are drawn from the work of Theophrastus. The occurrence of Theophrastean elements is one thing; drawing on a particular work is something quite different.« 250 Vgl. dazu v. a. Arist. rhet. 3,12 und Kapitel 3.1.3. Vgl. auch SONKOWSKY (1959), S. 272, WÖHRLE (1990), S. 38 und FORTENBAUGH (2003), S. 267.

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3.2.3 Philodem

Ciceros Zeitgenosse Philodem (ca.110–40 v. Chr.), ein Schüler des Epikureers Zenon, ist zu einer Gruppe von Epikureern zu rechnen, die Bildung und Kultur anders als Epikur selbst nicht rigoros ablehnten.251 V. a. drei Abhandlungen Philodems bezeugen sein Interesse an Musischem und Literarischem, nämlich Über die Musik, Über Gedichte und Über die Rhetorik.252 Letzteres Werk wird heute auf das Jahr 44 v. Chr. datiert.253 Es macht den größten Anteil an erhaltenen Papyri aus Philodems Werk aus und hatte ursprünglich mindestens sieben Bücher.254 Das Hauptthema Philodems ist die Gliederung der Rhetorik in einzelne Gattungen und die Frage, ob und inwiefern jede dieser Gattungen eine Kunst (τέχνη) sei.255 Er kommt zu dem Ergebnis, dass nur die epideiktische Rhetorik, die er »sophistisch« (σοφιστική) nennt, den Status einer Kunst (τέχνη) beanspruchen darf.256 Denn die epideiktische Rhetorik befasse sich primär mit Fragen des Stils, mit der guten, auf Klarheit ausgerichteten Präsentation des Inhalts.257 Stil251 Vgl. ERLER (1994), S. 339, 340. Philodem hat sogar – gegen die allgemeine Weisung Epikurs – Gedichte geschrieben (vgl. ebd., S. 294). 252 Für eine chronologische Werkübersicht siehe ERLER (1994), S. 293. 253 Ich folge hier der neuen Datierung von DORANDI (1996), S. 41 f. Auch nach ERLER (1994), S. 304 wird zumindest mit Buch 4 von Über die Rhetorik die Jahrhundertmitte erreicht oder überschritten. HUBBELL (1920), S. 259 datierte hingegen das gesamte Werk noch auf ca. 75 v. Chr. Skeptisch in Hinsicht auf die neue Datierung bleibt WISSE (2001), S. 274, der kein Datum zwischen 70 und 43 v. Chr. für unmöglich hält. 254 Vgl. ERLER (1994), S. 303 f. Über die Rhetorik wird im Folgenden nach der Ausgabe von SUDHAUS (1892–1896), ND Amsterdam 1964, (Band und Seite) zitiert. 255 Dabei lässt sich festhalten, dass Philodem v. a. die Unterscheidung der epideiktischen (bzw. »sophistischen«) Rhetorik von der politischen und forensischen Rhetorik betont (vgl. CHANDLER [2006], S. 102). Über das Werk verteilt sind die Einteilungen der Rhetorik nicht immer einheitlich, vgl. dazu die unterschiedlichen Ergebnisse von HUBBELL [1920], S. 254 f. (der die Dreiteilung in σοφιστική/»sophistische« Rhetorik, ῥητορική/forensisch-deliberative Rhetorik und πολιτική/politikwissenschaftliche Rhetorik hervorhebt) und BEER (2009), S. 302 (die Zeugnisse für die übliche Dreiteilung der Rhetorik in eine epideiktische, politische und gerichtliche auflistet). 256 Vgl. ERLER (1994), S. 304, 305, CHANDLER (2006), S. 14 und BEER (2009), S. 308–310. Diese Gleichsetzung von Epideixis und Kunst stammt vermutlich nicht von Epikur, sondern von Philodem (und evtl. Zenon) selbst (vgl. ERLER [1994], S. 340 und HUBBELL [1920], S. 251). Zum Kunststatus der epideiktischen/»sophistischen« Rhetorik siehe u. a. (mit BEER [2009], S. 308, 314) Phil. rhet. I,68 Col.XXXVII 12–14 und 22–25 sowie II,214 Col.X 8–14 (mit Umschreibung der »sophistischen« Rhetorik) und (mit HUBBELL [1920], S. 255) Phil. rhet. I,122–123 Col.XXII 29–42 über den Kunststatus der »sophistischen« Rhetorik vergleichbar der Poetik oder Medizin. 257 Vgl. BEER (2009), S. 326.

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fragen aber sind auf ein System von Regeln zurückzuführen, die, wenn sie befolgt werden, Erfolg versprechen, und erfüllen somit Philodems Kunstkriterium.258 Eine deliberative und forensische Rhetorik, deren Ziel die Überredung des Hörers ist, ist nach Philodem hingegen keine Kunst, da sie unlehrbar und unlernbar sei. Der Erfolg des Redners vor dem Gericht und auf dem Forum sei nicht prognostizierbar, denn es gebe für diese Bereiche der Rhetorik keine Erfolg versprechenden Regeln. Eine solche Rhetorik gründe sich vielmehr auf Talent, auf das Wissen von Fakten und auf praktische Erfahrung.259 Es wäre daher nicht überraschend, wenn diese Auffassung von epideiktischer, »sophistischer« Rhetorik als Kunst, die die Überredung des Zuhörers als unlehrbar ausschließt und sich auf die Stilistik konzentriert, direkte Konsequenzen für Philodems Beurteilung des rednerischen Vortrags und der Stimme hätte. Denn wenn Philodem schon die eigentlichen, forensischen Hauptbetätigungsfelder des Vortrags, die Gerichtsrede und die politische Rede, wo der Zuhörer durch den Vortrag des Redners überzeugt werden soll, von der Kunst ausschließt, so könnte dieses Urteil auch den Vortrag selbst treffen. Philodem spricht aber nie explizit aus, dass es keine Wissenschaft des Vortrags gebe. Sein Hauptanliegen bei der Besprechung des Vortrags in Über die Rhetorik ist vielmehr, wie gleich zu zeigen sein wird, die Philosophie vor den ubiquitären Ansprüchen der Rhetoren zu verteidigen. Auch wenn die Stimme dabei nicht Philodems Hauptthema ist, sollen die wichtigsten Gedanken des Epikureers zum rhetorischen Vortrag hier etwas ausführlicher dargestellt werden, da sie nur sehr schwer zugänglich260 sind und – wenn überhaupt – meist nur stark verkürzt und dadurch missverständlich wiedergegeben werden.261 Philodem bespricht die ὑπόκρισις im vierten Buch (I,193,12–201,12 Sudhaus = Col.XIa12-XXa12) im Anschluss an Fragen des Stils und die vier

258 Vgl. HUBBELL (1920), S. 251. Vgl. Philodems Definition von Kunst nach ERLER (1994), S. 339, wie dieser sie allerdings ohne Angabe einer konkreten Quelle aus seiner Philodemlektüre und -forschung konstruiert: »Philodem bestimmt Kunst (τέχνη) als eine Befähigung, die aus der Beachtung bestimmter Prinzipien resultiert, die auf eine Mehrzahl von Fällen anwendbar sind. Die Ergebnisse einer Kunst müssen mit Regelmässigkeit und allein von solchen erzielt werden können, die diese Kunst beherrschen.« Vgl. mit WINTER (2004), S. 331 die Definition der τέχνη in Phil. rhet. I,69–70 Col.XXXVIII 2–15. 259 Vgl. HUBBELL (1920), S. 255, ERLER (1994), S. 340 und (mit BEER [2009], S. 319 f.) Phil. rhet. I,48 Col.XXII15–22 (über die Bedeutung von Begabung und Übung anstelle von fachlichem Rhetorikwissen für die Redner vor Gericht und Volk). 260 Zu Philodems geringer Berücksichtigung in der Forschung vgl. ERLER (1994), S. 337. Der neuste Forschungsüberblick stammt von BEER (2009), S. 34–53. 261 So z. B. bei WÖHRLE (1990), S. 32. Positiv hervorzuheben ist die Paraphrase von HUBBELL (1920), die zwar stark elliptisch ist, aber zumeist den Kern der Aussagen richtig trifft.

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Stiltugenden (und vor den Redeteilen).262 Der Gedankenablauf Philodems erscheint dabei im schlecht überlieferten und häufig ergänzten Text nicht immer sofort stringent. Manches wirkt exkursartig eingefügt, zuweilen scheinen Gedanken auch ineinander überzugehen. Viele Übergänge und logische Anknüpfungen müssen auch dort, wo der Text vollständig erhalten ist, ergänzt werden und lassen Spielraum für verschiedene Interpretationen, insbesondere für die Einordnung des jeweils Gesagten in den Argumentationszusammenhang. Insgesamt dürfte Philodem aber, wie schon gesagt, am wichtigsten sein, dass die rhetorischen Regeln für den Vortrag nicht ubiquitär, für andere Wissenschaften gelten dürfen. Denn dieser Gedanke steht am Anfang der Erörterung und wird am Ende explizit noch einmal aufgegriffen. Dass Philodem sich ausgerechnet dagegen so heftig wehrt, ist allerdings erstaunlich angesichts der Tatsache, dass wir von einer Behauptung, speziell die Vortragsregeln der Rhetorik müssten auch für die anderen Wissenschaften gelten, sonst nichts wissen. Weder die Rhetoriker vor Philodem noch seine Zeitgenossen (auch nicht Cicero) haben, soweit wir wissen, so etwas behauptet. Dennoch scheint Philodem die Beschäftigung der Rhetoriker mit dem Vortrag und ihre Wertschätzung desselben als Bedrohung für die Philosophie zu empfinden. Seine teils sehr polemische Abwehrreaktion gegen die Rhetoriker muss wohl, um verständlich zu werden, in einem größeren Zusammenhang betrachtet werden, nämlich in Philodems Absicht, die Philosophie als höherwertig als die Rhetorik zu erweisen bzw. die Philosophie grundsätzlich gegen die Ansprüche der Rhetorik zu verteidigen.263 Damit wehrt sich Philodem gegen das Eindringen der Rhetoriker in fremdes, v. a. in philosophisches Terrain. Dieses Anliegen könnte er vielleicht gerade in Reaktion auf Ciceros Werk De oratore (55 v. Chr.), das er durchaus kennen konnte, deutlich vertreten (z. B. de orat. 3,80.142–143) und hier am Beispiel des Vortrags verhandeln.264 Die Widmung zumindest des vierten Buches an den Römer Pansa macht die Bezugnahme Philodems auf römische Vorstellungen wahrscheinlich.265 Es sollte auch in Betracht gezogen werden, dass er sich vielleicht nicht in erster Linie gegen niederge-

262 Zur Gliederung des vierten Buches vgl. ERLER (1994), S. 305 f. 263 Vgl. LESKY (31971), S. 768. 264 Einen intellektuellen Austausch, auch auf persönlicher Ebene, zwischen Philodem und Cicero zu rhetorischen Themen hält GAINES (2001), S. 269 für sehr wahrscheinlich. Vorsichtiger ist WISSE (2001), S. 274, 282, der aber zumindest auch beide Autoren in den Kontext der gleichen komplexen intellektuellen Debatten der Zeit einordnet. TILG (2006), S. 82 hält zumindest in Hinblick auf poetologische Diskussionen einen regen und kontroversen Gedankenaustausch zwischen Cicero und Philodem für gut möglich. 265 Zu dieser Widmung vgl. DORANDI (1996), S. 41 f.

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schriebene Gedanken wendet, sondern gegen nicht literarisch, vielmehr praktisch tätige Redelehrer, die auch im Vortrag Unterricht erteilten. Zu Beginn seiner Ausführungen über den Vortrag referiert Philodem die Auffassung des Rhetors Athenaios, der er sich (zunächst) auch selbst anschließt (Col.XIa12–25).266 Demnach bewirke die ὑπόκρισις mehr als die anderen Teile der Rhetorik, dass der Redner würdiger erscheine (σεμνότερος αὐτὸς φαίνεται) und dass er den Zuhörer besser dazu bringe, aufmerksam zu sein, zu verstehen, sich zu erinnern und sich (von einem Affekt) erschüttern zu lassen (προσέχειν μᾶλλον ποιεῖ τὸν ἀκούοντα καὶ συνιέναι καὶ μνημονεύειν καὶ κεινεῖσθαι παθητικῶς). Philodem kombiniert und vermischt hier die drei aristotelischen Pisteis Ethos (vgl. σεμνότερος αὐτὸς φαίνεται), Logos (vgl. συνιέναι) und Pathos (vgl. κεινεῖσθαι παθητικῶς) mit zwei der drei Aufgaben des Prooemiums267, nämlich dem attentum parare (vgl. προσέχειν) und dem docilem parare (vgl. συνιέναι), und überträgt sie auf die ὑπόκρισις. Es ist wichtig, hier zu betonen, dass er also nicht grundsätzlich die Wirkungsmacht des rhetorischen Vortrags für den Redner bestreitet. Innerhalb der Rhetorik gesteht er ihm zunächst eine sehr große Bedeutung zu.268 Die Rhetoriker haben aber seiner Meinung nach keinen alleinigen Anspruch auf den Vortrag, d. h. darauf, auch den Umgang mit dem Vortrag in anderen Disziplinen zu regeln. Es falle nicht stärker in den Bereich der Rhetorik, Anweisungen zum Vortrag zu geben, als in den der Dialektik, die die Disputation (διαλογή) lehre, und der Grammatik, die das Lesen (ἀνάγνωσις) lehre (Col.XIa25-XIIa8). Voller Hohn gratuliert Philodem den Rhetoren, falls sie glauben, dass die Schauspieler in ihrem Vortrag ihre Hilfe benötigen – und meint ironisch genau das Gegenteil (Col.XIIa8– 14).269 Warum, fragt er und knüpft damit an den Gedanken an, dass die Schauspieler eben nicht von den Rhetoren lernen, sollten die Rhetoren,

266 HUBBELL (1920), S. 300 folgt hier der bei SUDHAUS im kritischen Apparat vermerkten, stark in den überlieferten Text eingreifenden Rekonstruktion durch Theodor Gomperz (insbesondere ist die Ergänzung τὸ πρῶτον zu beachten), nach der Athenaios die ὑπόκρισις für den wichtigsten Teil der Rhetorik gehalten hätte. Vgl. Krumbacher (1920), S. 35. Der überlieferte Text ist aber auch ohne diesen Eingriff verständlich. 267 Vielleicht kann man im Würdigererscheinen (σεμνότερος αὐτὸς φαίνεται) auch noch die dritte Aufgabe des Prooemiums, das benevolum parare, erkennen. Zu allen drei Aufgaben des Prooemiums vgl. erstmals Cic. inv. 1,20. 268 Später (Col.XVa20-XVIa5) wird diese Ansicht aber im Zusammenhang mit der negativen Bewertung von Demosthenes’ Vortragsleistung eingeschränkt. 269 Evtl. reagiert Philodem hier auch auf die Kritik des Crassus (Cic. de orat. 3,214, vgl. Kapitel 3.2.2), die Redner hätten das Feld des Vortrags den Schauspielern überlassen (und müssten es wieder in Besitz nehmen). Allerdings ist der Gedanke des Crassus nicht genau der, gegen den Philodem sich hier wendet.

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wenn sie das bemerkt haben, dann nicht auch den Philosophen270 einen Vortrag, der ihren Bedürfnissen entspricht, zubilligen (Col.XIIa14–22): τί δήποτε κατεγνωκότες ἡμεῖν τὴν ἐν τοῖς ἡμετέροις δέουσαν ὑπόκρισιν οὐκ ἀπονέμουσιν? Philodem wendet sich hier gegen den (angeblichen) Anspruch der Rhetoren auf eine disziplinübergreifende ὑπόκρισις (τῆς κοινῆς ὑποκρίσεως). Er bezieht sich dabei wohl weniger auf eine literarische rhetorische Quelle, sondern unterstellt den Rhetoren diese Behauptung bewusst. Zumindest wissen wir nichts von einem solchen Anspruch der Rhetorik.271 Es ist allerdings denkbar, dass dieser Anspruch von zeitgenössischen Redelehrern in ihrem Unterricht bzw. als Werbung für ihren Unterricht vertreten wurde. Laut Philodem solle aber vielmehr jede Wissenschaft gemäß ihren eigenen Bedürfnissen und Gegebenheiten über eine jeweils angemessene ὑπόκρισις verfügen dürfen (Col.XIIa22-Col.XIIIa4). Dabei denkt Philodem wohl insbesondere an die Philosophie. Aufbauend auf diesen Feststellungen versucht er nun, den Rhetoren einen Widerspruch nachzuweisen (Col.XIIIa5–21, der Text ist hier besonders unsicher, 14–21 werden ausgelassen): Erst würden sie prahlen und eine gemeinsame Vortragskunst für alle behaupten (τὸ κοινὸν), dann aber müssten sie sich doch darauf zurückziehen, dass sie nur Anspruch auf die ὑπόκρισις in der Rhetorik erheben können. Das stünde im Widerspruch damit, dass die Rhetoren die Macht (δύναμις) der Rhetorik auch in Hinsicht auf die ὑπόκρισις verherrlichen und behaupten, dass ihre Kunst auch in Hinsicht auf die ὑπόκρισις besser sei als die Philosophie. Die Rhetoren können also nach Philodem nicht halten, was sie selbst über die ὑπόκρισις versprechen. Ihren Anspruch auf eine allumfassende ὑπόκρισις müssten sie jedenfalls aufgeben. Der folgende Gedanke (Col.XIIIa21-XIVa8, hier allerdings ohne Erläuterung von XIVa3–8) wendet sich, wenn denn der Text richtig zum entscheidenden τέχνας (22) ergänzt ist, gegen die Behauptung der Rhetoren, nur sie allein hätten τέχναι über die ὑπόκρισις geschrieben (und würden sie lehren). Philodem weist das zurück. Mit einer solchen Behauptung würden die Rhetoren »in den Nahkampf treten«, weil auch die Dichter und alle Prosaiker den Vortrag lehrten. Dass Philodem den (angeblichen) alleinigen Anspruch der Rhetoren auf die τέχνη der ὑπόκρισις zurückweist, ist wiederum als Beweisschritt gegen den Alleinvertretungsanspruch der Rhetoren zu verstehen. Denn wenn auch andere Wissenschaften über eine Vortrags-

270 ἡμεῖν und ἡμετέροις deuten darauf hin, dass Philodem hier die Philosophen meint. 271 Immerhin wird aber in Ciceros De oratore gefordert, dass der beste Redner auch der beste Darsteller philosophischer Gedanken sein soll (vgl. besonders Cic. de orat. 3,142), dort wird allerdings nicht behauptet, dass der Redner die Philosophie auch am besten im mündlichen Vortrag darbieten könne.

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kunst verfügen, besteht eben nicht die Notwendigkeit, auf eine allein vorhandende rhetorische Vortragskunst zurückzugreifen. Diese Notwendigkeit besteht auch deswegen nicht – so muss man gedanklich wohl ergänzen –, weil auch außerhalb der Wissenschaften der richtige Vortrag gleichsam auf natürliche Art und Weise gelehrt werde, wie Philodem jetzt zeigt, indem er die Bedeutung von Affekten und Natur für den Vortrag betont. Im Allgemeinen nämlich gestalte die Verschiedenheit der Affekte selbst den Körper und die Stimme: Τὰ πολλὰ δὲ ἡ τῶν παθῶν αὐτῶν διαφορὰ σχηματίζει καὶ τὸ σῶμα καὶ τὴν φωνὴν (Col.XIVa8– 12).272 Philodem übernimmt hier nicht nur die wahrscheinlich theophrastische Zweiteilung des Vortrags in Stimme und Körper, sondern er geht dabei auch wie Cicero (de orat. 3,216) von einem natürlichen Zusammenhang zwischen Affekt und Stimme und Gestik aus.273 Der Wechsel der Affekte erzeugt – ganz ohne technische Anweisungen – Abwechslung im Vortrag. Diese Auffassung bestärkt Philodem durch das Beispiel von zwei Gruppen, die rein natürlich und nicht nach Regeln der Kunst sprechen. Sowohl Laien als auch Barbaren, wenn nicht auch die sonstigen Lebewesen, so könne man bemerken, wiesen diese Abwechslungen in Stimme und Gestik auf, entsprechend den Affekten (Col.XIVa12–17). Gewisse Dinge aber, zu denen die Rhetoren Anweisungen erteilen, bräuchten auch glückliche natürliche Voraussetzungen, wie z. B. der schöne Klang der Stimme und die Stimmstärke274, die Töne und der Atem (εὐμέλεια φωνῆς καὶ μεγέθη καὶ τόνοι καὶ πνεῦμα) sowie die Qualität275 und gefällige Gliederung von Gesicht, Händen und dem übrigen Körper sowie auch Mut und andere derartige Dinge (Col.XIVa17–26). Philodem nennt hier – wohl auf bewusst unsystematische Art und Weise – Elemente, die seit der Rhetorica ad Herennium und Ciceros De oratore fest zum Vortrag und zur Beschäftigung mit dem Vortrag gehören. Der Auctor ad Herennium behandelt die εὐμέλεια φωνῆς als mollitudo vocis (Rhet. Her. 3,13,23–3,14,25), die μεγέθη als magnitudo vocis (Rhet. Her. 3,11,20). Auch zu verschiedenen Tönen allgemein und zum πνεῦμα bzw. spiritus erteilt er vereinzelt Anweisungen (z. B. Rhet. Her. 3,12,21). Cicero bezieht ebenfalls alle vier von Philodem genannten Bestandteile der Stimme in seine Ausführungen zur pronuntiatio mit ein, wenn er auch anders als der Auctor bewusst keine systematische Besprechung der vox geben will.276 272 Die unsichere Ergänzung παραλλαττόντως (»in einer mehr verändernden Art und Weise«) ist unverständlich. 273 Vgl. Cic. de orat. 3,216 und Kapitel 3.2.2. 274 Der Plural μεγέθη ist auffällig, vielleicht ist analog zu τόνοι an die jeweiligen Lautstärkegrade gedacht, die die Stimme ausdrücken kann. 275 Mit ἀξίωμα ist hier das gemeint, was den Ausdruck würdevoll (lat. dignitas) macht. 276 Die εὐμέλεια φωνῆς kommt bspw. in den Erläuterungen zu den verschiedenen

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Auch die folgenden Ausführungen Philodems über Isokrates und Demosthenes heben die Bedeutung der natürlichen Begabung hervor. Über Isokrates werde gesagt, dass es der Mangel an natürlichen Voraussetzungen gewesen sei, der ihn mit Grund (εἰκότως) von einer politischen Karriere zurückhielt (Col.XVa1–3).277 Damit wird wohl impliziert, dass auch alle Technik ihm nicht helfen konnte, seine natürlichen Schwächen zu besiegen. Nach Isokrates wird ausgerechnet Demosthenes als Argument für die wichtige Rolle der natürlichen Veranlagung verwendet. Der griechische Redner, der in der rhetorischen Tradition als personifizierter Sieg von Kunst und Übung über schlechte Naturanlagen gilt, wird von Philodem (in rhetorischer ὑποφορά) zunächst als Gegeninstanz angeführt, der dann aber von Philodem widersprochen wird.278 Demosthenes habe aber doch gesagt, so beginnt ein fictus interlocutor, dass der Vortrag (gerade) in der Rhetorik das Erst-, Zweit- und Drittwichtigste sei (Col.XVa3–6). Damit will er Demosthenes offenbar, wie aus der folgenden Erwiderung Philodems zu schließen ist (wenn es auch nicht klar gesagt ist), unterstellen, dass dieser meinte, aus der Bedeutung des Vortrags in der Rhetorik ließe sich schließen, dass die rhetorische Vortragskunst ubiquitär gültig sein müsse. Dem widerspricht Philodem deutlich. Der Vortrag bedeute nämlich auch im Schauspiel – dem Kallippides279 und Nikostratos280 in der Tragödie, dem Lykon281 in der Komödie – alles (Col.XVa7–10). Und sie, die Fachleute für das Schauspiel, sagten nicht, dass sie darum alle (ἅπαν[τα) Formen der gemeinsamen Wissenschaften haben dürften (Col.XVa10–12). Dennoch (obwohl man ja, wie Philodem selbst, leicht sehen könne, dass auch in anderen Wissenschaften der Vortrag eine herausragende Bedeutung hat) habe Demosthenes gesagt und sich dabei lächerlich gemacht, dass das, was allen helfe und was alle in ihrem jeweils eigenen Gebiet ausübten (sc. der Vortrag), in der Rhetorik viel wichtiger sei, mehr als in den anderen Formen der prosaischen Äußerungen (πεζολογίαι) (Col.XVa13–19). Von einer solchen Aussage des Demosthenes ist sonst nichts bekannt. Philodem Affekten (de orat. 3,217–219) zum Ausdruck, die μεγέθη sind Teil der Grundeinteilung in Tonhöhe, Tempo und Lautstärke (vgl. de orat. 3,216 über die vox: acuta gravis, cita tarda, magna parva) und Töne und Atem werden mehrfach genannt (z. B. de orat. 3,216). Zu De oratore vgl. Kapitel 3.2.2. 277 Zu Isokrates als Redner vgl. Kapitel 3.1.1. Die Aussagen darüber von Isokrates selbst (v. a. or. 5,81) scheint Philodem nicht direkt zu kennen. 278 Zu Philodems Aussagen und Meinung über Demosthenes allgemein vgl. DRERUP (1923), S. 118–122. 279 Gemeint ist der berühmte und für seine μίμησις berüchtigte Schauspieler in Athen zur Zeit des Alkibiades, Agesilaos und Xenophon, vgl. DIEHL/OLDFATHER (1919), Sp. 1657 f. 280 Gemeint ist wohl der große tragische Schauspieler Athens, vgl. DIEHL (1936), Sp. 544. 281 Gemeint ist der berühmte, von Alexander geschätze Schauspieler aus dem 4. Jh., vgl. OLDFATHER (1927), Sp. 2303.

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unterstellt ihm hier diese Ansichten, indem er dessen nur auf die Rhetorik bezogenen Ausspruch, der Vortrag sei das Wichtigste für den Redner, sehr kühn auslegt. Er interpretiert offenbar in Demosthenes’ Aussage hinein, dieser habe (auch) darauf abgezielt, dass die anderen Disziplinen von der Rhetorik lernen sollten. Damit geht Philodem noch einen Schritt weiter als bisher. Wir haben schon erfahren, dass die Rhetoriker keinen alleinigen Anspruch auf den Vortrag und auch nicht als einzige eine Technik haben. Zudem, so betont Philodem jetzt, zähle der Vortrag auch in der Rhetorik nicht mehr als bei anderen Prosaäußerungen. Die folgenden negativen Bewertungen von Demosthenes’ Vortrag durch die Rhetorikkundigen Aischines und Demetrios von Phaleron sollen wohl zeigen, dass darüber hinaus der Vortrag auch in der Rhetorik nicht das Allerwichtigste sein kann – auch wenn Philodem selbst genau das zu Beginn seiner Ausführungen im Anschluss an Athenaios noch zugestanden hatte. Philodem berichtet, Aischines mache ihm (sc. Demosthenes), obwohl er zu den gewaltigsten Rednern (ἐν τοῖς δεινοτάτοις) zählte, seine hohe und manchmal laute Stimme (φωνὴν ὀξεῖαν … ποτὲ δὲ καὶ μακράν) zum Vorwurf (Col.XVa20–24).282 Auch Demetrios von Phaleron, so fährt Philodem fort, habe den Vortrag des Demosthenes – wohl in seinem Werk Περὶ ῥητορικῆς283 – kritisiert (Col.XVa24-XVIa5).284 Ihm zufolge sei Demosthenes beim Auftritt verkünstelt (ποικίλος) und maßlos (περιττός) gewesen, nicht aber einfach (ἁπλοῦς), und auch nicht edel in seiner Art und Weise (κατὰ τὸν γενναῖον τρόπον), sondern er habe vielmehr zum allzu Verweichlichten und Vulgären (εἰς τὸ μαλακώτερον καὶ ταπεινότερον) geneigt. Auch die meisten der epideiktischen Redner (σοφισταί)285 hätten, beurteilt nach dem, was sie geschrieben haben (v. a. also aufgrund ihrer langen Perioden, wie im Folgenden erläutert wird) erbärmlich vorgetragen (ἀθλίως ὑποκεκρίσθαι) (Col.XVIa5–8). Als Beispiel für einen solchen epideiktischen Redner dient Isokrates, dessen Vortrag und Stil kritisiert werden (Col.XVIa9-XVIIIa8). Laut Demetrios von Phaleron eigneten sich seine Reden aufgrund der langen Perioden 282 Zu den Angriffen auf die Stimme des Gegners in den Reden von Demosthenes und Aischines siehe Kapitel 3.1.1. 283 Vgl. die Einordnung dieser Zeugnisse bei WEHRLI (1949), S. 35, 37. 284 Vgl. die wohl maßgeblich auf dieser Stelle beruhende Zusammenfassung von Demetrios’ Urteil über Demosthenes als Vortragskünstler von DRERUP (1923), S. 31: »Insbesondere tadelte er das übertriebene Pathos seiner Diktion … und die weichliche und verkünstelte Art seines Vortrags, wenn er ihn auch als einen gewandten und über mancherlei Töne verfügenden Vortragskünstler anerkannte.« 285 Dass hier mit σοφισταί epideiktische Redner gemeint sind, zeigt die folgende Erwähnung des Isokrates. Prinzipiell bezeichnet der Begriff σοφιστής bei Philodem einen epideiktischen Redner oder Redelehrer, das Verb σοφιστεύειν heißt »epideiktische Reden halten oder unterrichten« (vgl. HUBBELL [1920], S. 255).

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schlecht für den Vortrag (πονηρὸν γὰρ εἰς ὑπόκρισιν) (Col.XVIa9– 13).286 Und auch Hieronymos (der Peripatetiker aus Rhodos) sei der Meinung, dass man sie zwar gut vorlesen könne, aber man könne sie ganz und gar nicht öffentlich vortragen, indem man die Stimme und deren Tonhöhe bzw. Lautstärke emporhebe (τήν τε φωνὴν καὶ τὸν τόνον ἐπαίροντα) und so (also mit erhobener, lauter Stimme) mit einem dazu passenden Vortrag spreche (Col.XVIa13–22). Es fehle ihm das Wichtigste und was am meisten die Volksmengen bewege (Col.XVIa22–25). Isokrates’ Stil wird u. a. als seelenlos (ἄψυχος), also monoton, beschrieben, als für das Zuhören unpassend (ἀνυπάκουστος), als gewissermaßen für einen einzigen Spannungsgrad (οἱονεὶ πρὸς ἕνα τόνον) gemacht, d. h. für eine Tonhöhe und Lautstärke, nicht gebrochen (κεκλασμένον) und nicht mannigfach (παντοδαπόν), ohne Anspannung und Entspannung und gefühlvolle Aufschübe287 (ἐπιτάσει τε καὶ ἀνέσει καὶ ταῖς παθητικαῖς ὑπερθέσεσιν), sondern sklavisch fixiert auf die Glätte des Ausdrucks (λειότης) (Col.XVIa25-Col.XVIIa9). Der Stil des Isokrates sei zwar gut vorzulesen mit gesenkter Stimme (τῆς φωνῆς ὑφειμένης), mit erhobener Stimme aber nicht (ἐπαρθείσης δὲ μή) (Col.XVIIa9–12). Er treibe den Sprechenden mit seinen Perioden zu sehr an288 und sei wie der Stil von jemandem, der überhaupt nicht vortrage (Col.XVIIa12–15, mit unsicherer Ergänzung). Der Stil sei beinahe das Gegenteil des Stils von politischen Reden. Es sei aber nötig, dass jemand, der sich mit Politik befassen wolle, auch einen Stil annehme, wie er zu politischen Reden und Reden vor dem Volk passe (πολειτικὴν καὶ δημηγορικὴν λέξιν), und nicht einen alltäglichen und einen, der »den Logos herunterflüstert«289 (ἐπιδίφριον καὶ καταψιθυρίζουσαν τὸν λόγον) (Col.XVIIa15–23). Isokrates’ Rhetorik wird hier als eine Art Kammerrhetorik im Flüsterton beschrieben. Hieronymos habe dieses Missverhältnis zwischen der Pose bzw. dem Anspruch, als Volksredner ganz Griechenland zu belehren, und dem Vermögen im Stil und Vortrag bei Isokrates mit folgendem Vergleich verdeutlicht. Einer, der tue, was Isokrates tue, sei wie einer, der sich eine haarige und große (also männliche) Maske umgelegt habe und dann nur die Stimme eines Kindes herausbe286 Von einem absichtlichen »Verzicht« auf die ὑπόκρισις (so WEHRLI [1949], S. 81) ist hier allerdings nichts zu lesen. 287 Gedacht ist wohl an Verzögerungen, Pausen in der Stimme. Eine andere Auffassung dieser Textstelle zeigt sich bei deren Einordnung in LSJ, s. v. ὑπέρθεσις II: »transposition of words or propositions«. Das Fehlen von Umstellungen von Wörtern würde aber wohl eher für einen guten Vortrag sprechen. 288 Vielleicht ist daran gedacht, dass sich der Sprecher bei den Perioden sehr beeilen muss, oder daran, dass er in längeren Perioden leichter den Faden verliert. Die Ergänzung κα[τεπ]εί[γ]ουσαν ist allerdings unsicher. 289 Damit ist ein stilistisch niedriger Umgangston umschrieben, vgl. LSJ, s. v. καταψιθυρίζω 2.

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komme (παιδίου φωνὴν ἀφιέναι). So wolle Isokrates den Griechen Ratschläge erteilen und habe die äußere Gestalt eines Volksredners angenommen, es laufe bei ihm dann aber auf die Stimme eines Vorleseknaben hinaus (ἐπ᾽ ἀναγνώστου παιδὸς φωνὴν ἀποδεδρακέναι), der weder Spannung noch Gefühl noch einen richtigen Vortrag (μήτε τόνον μήτε πάθος μήθ᾽ ὑπόκρισιν) hervorbringen könne (Col.XVIIa23-Col.XVIIIa8). Vollends bei den zeitgenössischen epideiktischen Rednern könne man nicht nur diese Fehler beobachten, sondern auch, dass sie das Meiste in einer Weise, die frei sei von dem, was bei Isokrates immerhin noch angenehm gewesen sei, in einem Schwall (ῥύδην)290 und mit moduliertem Ton (τόνωι κεκλιμένωι) oder auch heftig erzürnt (διωργισμένως) vortrügen, dass sie, wenn sie aber ein sanfteres Gefühl zeigen möchten (ὅταν δ᾽ ἦθος ἐμφαίνειν θέλωσι) mit hohler Stimme und übertrieben künstlich geformt mit Einsatz aller Kehlkopfkünste sprächen (κοιλοφώνως καὶ πεπλασμένως λαρυγγίζοντας) (Col.XVIIIa8–18).291 Ihr Vortrag weist also angeblich zwei Fehler auf. Sie wollen einen unlebendigen Stil durch einen forcierten Vortrag ausgleichen und sie übertreiben das ἦθος, wenn es nötig ist. Philodem beendet jetzt den recht langen Abschnitt zu Isokrates und knüpft an seine früheren (vgl. Col.XIVa8–17) Überlegungen darüber, dass das Gelingen des Vortrags auch ohne die Regeln der Rhetoren gelingt, an. Wie oben richtet sich auch hier dieser Gedanken wohl gegen den Alleinvertretungsanspruch der Rhetoren auf die Vortragsregeln, indem gezeigt werden soll, dass es bereits ohne rhetorische Vortragskunst gute Redner gegeben hat. Seit Kurzem erst werden laut Philodem von manchen Anweisungen zum Vortrag erteilt, die leeres Gerede seien: Ἀλλὰ δὴ τὰ μὲν περὶ τῆς ὑποκρίσεως παραγγέλματα πρώην τισὶν ἐφλυαρήθη (Col.XVIIIa18–21). Seine Ausführungen könnten so eine Reaktion auf die Rhetorica ad Herennium sein, wo erstmals292 genauere technische Anweisungen zum rhetorischen Vortrag gegeben werden, oder auch auf Ciceros De oratore. Neben den literarischen Quellen können aber auch hier wieder mögliche mündlich verbreitete Aussagen von Redelehrern aus Philodems Zeit nicht ausgeschlossen werden. Dass man vielmehr ohne solche Anweisungen wunderbar einen Vortrag halten könne, ließe sich am Beispiel vieler Hel290 KRUMBACHER (1920), S. 37 und CALBOLI (1984), S. 39 verstehen unter ῥύδην, das hier nicht positiv »flüssig, fließend« heißen kann, »laut, geräuschvoll«. Da aber gleichzeitig in einem stark modulierten Ton gesprochen wird, sind hier wohl eher Geschwindigkeit und fehlende Pausen gemeint. 291 Die Paraphrase von HUBBELL (1920), S. 301 (»sophists of the present day have somewhat improved in delivery«), die WINTER (2004), S. 328 übernimmt, scheint mir Philodems Aussageabsicht genau zu verfehlen. 292 Der Auctor ad Herennium betont, dass er der Erste ist, der sich mit dem rhetorischen Vortrag sorgfältig auseinandersetzt (3,11,19). Vgl. Kapitel 3.2.1, 4.1.1 und 5.1.1.

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den293 und Späterer belegen, deren Vortragsleistungen man den Dichtern und Historikern und dem, was sie selbst Geschriebenes hinterlassen haben,294 entnehmen könne (Col.XVIIIa21-XIXa3).295 Diejenigen, die dazu eine Kunst verfasst hätten (τεχνογράφοι), machten sogar das öffentlich, so Philodem, was in Wirklichkeit vorhanden gewesen, aber von den Staatsmännern geheimgehalten worden sei, nämlich dass sie ihren Vortrag in dieser Weise gestalten, um würdig, schön und gut zu erscheinen (worunter das Ethos des Redners zu verstehen ist), am meisten aber um die Zuhörer in die Irre zu führen (womit wohl die Pisteis gemeint sind), ferner um etwas aufzubauschen (was das Pathos leistet): ὅτι τοῦ φανῆναι σεμνοὶ καὶ καλοὶ κἀγαθοί, μάλιστα δὲ τοῦ πλανῆσαι τοὺς ἀκούοντας, ἔτι δὲ τοῦ δεινῶσαι μεθοδεύουσι τὰς ὑποκρίσεις (Col.XIXa3–12).296 Nach Philodem dienen die παραγγέλματα der Rhetorik bezüglich der ὑπὀκρισις also der Vortäuschung. Nichts von all dem brauche derjenige, der andere τέχναι betreibt, und schon gar nicht der Philosoph (Col.XIXa13–16). Damit rückt Philodem wieder seinen Ausgangsgedanken ins Zentrum, der Vortrag müsse von jeder Wissenschaft für sich selbst geregelt werden dürfen, und kehrt zu seinem Beweisziel zurück. Die erfolgreiche ὑπὀκρισις gehöre daher zu den Dingen, die sich auf ein anderes beziehen (πρός τι)297, die eine passe zum Redner (wobei auch der politische Redner ganz anders spreche als der epideiktische Redner), die andere zum Philosophen, wieder eine andere zu den anderen Wissenschaftlern, und auch je nach Alter, Geschlecht und Ort sei jeweils eine andere Vortragsart passend (Col.XIXa16-Col.XXa4). Denn die eine Vortragsart gewinne bei den einen Kredit und werde von den anderen verlacht (Col.XXa4–6). Abschließend wendet sich Philodem noch einmal gegen die παραγγέλματα der Rhetorik (Col.XXa6–12). Es solle hinzugenommen sein, dass auch das Meiste der rhetorischen Vorschriften den Pädagogen gleiche, d. h. jemandem, der selbst kein Technit ist, sondern nur einfache Verhaltensregeln gibt.298 Sie, die Rhetoriker, wollten aber auch mit diesen Vorschriften ihre Technik groß machen. 293 Gemeint sind wohl die Helden der homerischen Epen wie Achill. 294 Philodem unterscheidet hier wohl das, was diese Helden selbst (in direkter Rede) sagen, und Bewertungen über ihren Redestil in den gleichen Werken. 295 Der Leser kann diese Vortragsleistung aus dem Stil der Reden und aus ihrer beschriebenen Wirkung auf die Zuhörer entnehmen. 296 Vgl. die drei aristotelischen Pisteis zu Beginn in Col.XIa17–22. 297 Offenbar verwendet Philodem hier aristotelische Terminologie aus der Kategorienlehre, denn die ὑπὀκρισις, wie Philodem sie hier definiert, ist auch im aristotelischen Sinne (vgl. Arist. cat. 1b26, 6a36 ff.) ein πρός τι, insofern sie sich in Relation zu vielen äußeren Kriterien (Wissenschaft; Gattung; Alter; Geschlecht; Ort usw.) verändert und von ihnen abhängt. 298 Zur Geringschätzung des Pädagogen in der Antike vgl. SCHUPPE (1942), Sp. 2375– 2385.

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Philodem, der womöglich auf Ciceros De oratore und auch die Rhetorica ad Herennium reagiert, lehnt also den Vortrag ebenso wenig wie die Rhetorik als ganze ab. Er bestreitet auch nicht prinzipiell die Wirkungsmacht des Vortrags. Philodem wendet sich aber dagegen, dass die Vorschriften zum Vortrag, die die Rhetorik gibt, ubiquitär und universell gültig seien. Der Vortrag sei hingegen nicht nur in und von jeder Disziplin selbst zu regeln, er hänge auch stark von den natürlichen Voraussetzungen ab. So wie wir Affekte empfänden, drückten wir sie auch in der Stimme und der Gestik aus, wodurch sich automatisch Abwechslung im Vortrag ergebe. Vorschriften zum Vortrag, die die Rhetoren geben, hätten daher, wenn sie denn überhaupt in der Rhetorik sinnvoll sind, keinen Anspruch auf andere Wissenschaften, insbesondere nicht auf die Philosophie.

3.2.4 Dionysios von Halikarnassos

Der Historiker und Rhetoriklehrer Dionysios von Halikarnassos (geboren ca. 60 v. Chr.) beabsichtigte mit seiner Schrift Demosthenes, dessen Stil (λέξις) als Idealstil zu erweisen, weil er sich durch eine Mischung der besten Qualitäten aller Stilarten und Autoren auszeichne und allen Erfordernissen angepasst werden könne.299 Gegen Ende dieser Abhandlung kommt Dionysios dabei auch auf den richtigen Vortrag der Reden des Demosthenes zu sprechen (53–54, p. 243,21–247,11)300. Sein Ziel ist es nicht nur, allgemeine Anweisungen für den Vortrag der Reden seines Stilvorbildes zu geben, sondern auch zu zeigen, dass der Vortrag der demosthenischen Reden von ihrem herausragenden literarischen Stil abhängt und aufgrund dieses Stils auch gleichsam von selbst gut wird. Der Abschnitt über den Vortrag beginnt mit einer allgemeinen Wertschätzung der ὑπόκρισις (53, p. 243,21–244,14). Mit ihr habe Demosthenes den Stil seiner Reden geschmückt (κεκόσμηκε τὴν λέξιν).301 Sie sei besonders für politische Reden eine notwendige Tugend. Wenn man gut vortrage, kämen auch die anderen Tugenden zur Geltung, wenn nicht, seien alle anderen nutzlos.302 Dionysios verdeutlicht diese Aussage durch einen Vergleich mit den Schauspielern. Je nach Vortrag sei die Wirkung auf das Publikum ganz unterschiedlich. Mit einem guten Vortrag könnten sie das Publikum verzaubern (κηλέω). Wenn sie schlecht vortrügen (καθυποκρινομένοις) 299 Vgl. VAN WYK CRONJÉ (1986), S. 49 f. und USHER (1974), S. 235. 300 Zitiert wird im Folgenden nach der Ausgabe von USENER/RADERMACHER (1899). 301 Vgl. die ähnliche Formulierung bei der Beschreibung des Demosthenes (im Genitiv ἀνδρός) in Dion. Hal. Dem. 22, p. 177,11–12: κοσμοῦντος ἅπαντα καὶ χρωματίζοντος τῇ πρεπούσῃ ὑποκρίσει. 302 Vgl. Cic. de orat. 3,213 und Kapitel 3.2.2.

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und den Sinn dessen, was sie vortragen, zerstörten (διαφθείρουσι τὰς βουλήσεις τῶν ποιημάτων), sei das Publikum aber verärgert, als ob es verletzt sei (ὥσπερ ἀδικούμενοι). Man brauche diese Tugend des Vortrags ganz außerordentlich (πάνυ) bei Reden im Wettkampf (ἐναγωνίοι λόγοι), also gerichtlichen und politischen Reden, wenn man wolle, dass sie wirklich etwas Wahrhaftiges (ἀληθινόν) und Lebendiges (ἔμψυχον) haben. Demosthenes habe sich um den Vortrag ebenso gut gekümmert wie um die anderen Bereiche der Rhetorik, er habe erkannt, dass der Vortrag eine doppelte Natur habe (διττὴν δὲ τὴν φύσιν αὐτῆς οὖσαν ὁρῶν) und sich um beide Teile gründlich bemüht (53, p. 244,14–16).303 Denn er habe sich mit großer Mühe, d. h. mit hartem Training, gegen schlechte Naturanlagen, wie alle seine Biographen bezeugen, »die Zustände der Stimme und die Haltungen des Körpers« (τὰ πάθη τὰ τῆς φωνῆς καὶ τὰ σχήματα τοῦ σώματος) erarbeitet (53, p. 244,17–21). Der Formulierung von Dionysios liegt sowohl die wahrscheinlich theophrastische Zweiteilung des Vortrags in einen stimmlichen und einen gestischen Teil zugrunde wie wohl auch, wenn auch nicht explizit hier erwähnt, die bei Aristoteles (rhet. 1403b25– 31) referierte Lehre von der Anpassung der Stimme an die jeweiligen Affekte.304 Am Ende dieses allgemeinen Abschnittes zur ὑπόκρισις (53, p. 244,22– 245,7) erklärt Dionysios den Zusammenhang zwischen ὑπόκρισις und λέξις und rechtfertigt damit, warum er in einem Traktat über den Stil des Demosthenes auch auf den Vortrag zu sprechen kommt. Seine Erklärung ist, dass der Stil des Demosthenes bestimmt, wie der Vortrag seiner Reden sein müsse. Dieser zwingende Zusammenhang von Stil und Vortrag wird als besonderes Merkmal der Reden des Demosthenes herausgearbeitet, deren Stil voll von sanften und heftigen Affekten sei (μεστὴ πολλῶν οὖσα ἠθῶν καὶ παθῶν)305, und die daher eine ganz bestimmte Vortragsart verlangten. Dabei wendet er sich offenbar an Schüler des Rhetorikunterrichts. Wer die Reden des Demosthenes rezitiert, so fordert er, müsse alles in der Art und Weise vortragen, wie Demosthenes es wollte. Dies wiederum erfahre man durch den Stil, der den sensiblen Leser lehre, welche Vortragsart notwendig ist: αὐτὴ γὰρ ἡ λέξις διδάσκει τοὺς ἔχοντας ψυχὴν εὐκί303 Dionysios hält Demosthenes, wie seiner Meinung nach alle anderen auch, für den besten Vortragskünstler überhaupt. Was die ὑπόκρισις anbelangt, war er δεινότατος ἀσκητὴς …, ὡς ἅπαντές … ὁμολογοῦσι (Dem. 22, p. 177,13). 304 Vgl. Kapitel 3.1.3. 305 Dionysios hält gerade den Reichtum an im Rezipienten erzeugten Affekten für das Charakteristikum der Reden des Demosthenes. Vgl. die Beschreibung seiner eigenen Leseerfahrung mit den Reden des Demosthenes in Dem. 22, p. 176,15–20 und die Auflistung von Affekten, die der Stil des Demosthenes dem Leser vorgebe, in Dem. 22, p. 177,16–21.

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νητον, μεθ᾽ οἵας αὐτὴν ὑποκρίσεως ἐκφέρεσθαι δεήσει.306 Mit Beispielen will Dionysios diese Behauptung im Folgenden erläutern. Dabei soll sich wohl v. a. zeigen, dass der abwechslungsreiche Stil des Demosthenes auch eine abwechslungsreiche Vortragsart verlangt. Dazu wählt Dionysios einen Auszug aus Demosthenes’ dritter Philippischer Rede (Dem. Phil. 3,26–27), den er wörtlich zitiert und regelmäßig durch Erläuterungen unterbricht (54, p. 245,8–246,6)307: Ὄλυνθον μὲν δὴ καὶ Μεθώνην καὶ Ἀπολλωνίαν καὶ δύο καὶ τριάκοντα πόλεις ἐπὶ Θρᾴκης ἐῶ, ἃς ἁπάσας οὕτως ὠμῶς ἀνῄρηκεν, ὥστε μηδ᾽, εἰ πώποτε ᾠκίσθησαν, ῥᾴδιον ἦν προσελθόντας εἰπεῖν. καὶ τὸ Φωκέων τοσοῦτον ἔθνος ἀνῃρημένον σιωπῶ. Olynthos, Methone, Apollonia und die zweiunddreißig thrakischen Städte übergehe ich, die er alle in unmenschlicher Weise zerstört hat, so dass Besucher nur schwer sagen konnten, ob dort jemals Siedlungen gestanden haben; auch über die Vernichtung eines so bedeutenden Volkes wie der Phoker schweige ich.

Demosthenes nennt in diesem ersten Teil des von Dionysios ausgewählten Redeauszugs (54, p. 245,9–13) drei von Philipp zerstörte Städte namentlich sowie 32 weitere Städte, über die er aber nicht sprechen möchte. Die Praeteritio wird noch weitergeführt, denn auch über die Auslöschung der Phoker möchte er nichts sagen, gibt Demosthenes vor. Die λέξις selbst zeige hier (ἐνταῦθα) an, so Dionysios, welcher Vortrag der richtige ist. Die Stelle verlange zunächst einen Ton voller Sarkasmus, etwas Unmut und Anspannung der Stimme (εἰρωνευόμενον308 … καὶ ἅμα ὑπαγανακτοῦντα καὶ παρεντείνοντα τὸν ἦχον). Damit ist insbesondere der Anfang der Passage bis ἐῶ und das Wort ἐῶ (»das alles lasse ich beiseite«) selbst gemeint. Danach spricht Demosthenes im Relativsatz direkt von den totalen Zerstörungen, die Philipp angerichtet hat (ἃς ἁπάσας … εἰπεῖν). Dabei solle man dann in überschäumendem Zorn (ὀργή) und auch voll Klage (οἶκτος) sprechen. Wenn man aber genauer danach frage, wie diese Töne (τόνοι) und Melodien (ἐγκλίσεις), die Ausdrücke des Gesichts und die Bewegungen der Hände bei der Darstellung der jeweiligen Affekte sein sollen, so 306 Dieser Gedanke, dass der Stil/die Wörter dem Vortragenden die Vortragsweise vorgeben, ist auch ausgeführt in Dem.22: αὐτοὶ (sc. οἱ λόγοι) διδάσκουσι, πῶς αὐτοὺς ὑποκρίνεσθαι δεῖ νῦν μὲν εἰρωνευόμενον, νῦν δὲ ἀγανακτοῦντα, νῦν δὲ νεμεσῶντα, δεδιττόμενόν τε αὖ καὶ θεραπεύοντα καὶ νουθετοῦντα καὶ παρορμῶντα καὶ πάνθ᾽, ἃ βούλεται ποιεῖν ἡ λέξις, ἀποδεικνύμενον ἐπὶ τῆς προφορᾶς (p.177,16–21). 307 Die deutsche Übersetzung der Passagen aus der dritten Philippica folgt weitestgehend der Übersetzung von UNTE (1995). 308 Die Stelle enthält εἰρωνεία, weil Demosthenes etwas anderes sagt als er meint, insofern er vorgibt, nicht über etwas zu sprechen, es aber doch erwähnt und dabei gleichzeitig seine Bitterkeit und sein Hohn genau darüber zum Ausdruck kommen.

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solle man laut Dionysios die Stimme und Gestik verwenden, die auch diejenigen gebrauchen, die diese Affekte tatsächlich empfinden (οἱ κατ᾽ ἀλήθειαν ταῦτα πεπονθότες). Wie Cicero (de orat. 3,216) geht Dionysios also von einem natürlichem Ausdruck jedes Affekts in Stimme und Gestik aus, den die Redner, die in diesen Affekten sprechen, künstlich erzeugen müssen. Im an das vorherige anschließenden Zitat (54, p. 246,6–11) aus der dritten Philippica fragt Demosthenes nach dem Zustand Thessaliens und gibt in einer Reihe rhetorischer Fragen die Antwort darauf: ἀλλὰ Θετταλία πῶς ἔχει; οὐχὶ τὰς πολιτείας αὐτῶν ἀφῄρηται καὶ τετραρχίας καθέστακεν, ἵνα μὴ μόνον κατὰ πόλεις, ἀλλὰ καὶ κατὰ ἔθνη δουλεύωσιν; αἱ δ᾽ ἐν Εὐβοίᾳ πόλεις οὐκ ἤδη τυραννοῦνται, καὶ ταῦτα ἐν νήσῳ〈πλησίον〉Θηβῶν καὶ Ἀθηνῶν; Doch wie sieht es mit den Thessaliern aus? Hat er ihnen nicht ihre Verfassungen genommen und Tetrarchien eingerichtet, damit sie nicht nur nach Städten, sondern auch nach Völkerschaften ihm untertan sind? Stehen nicht bereits die Städte auf Euboia unter der Tyrannenherrschaft, und das auf einer Insel in der Nähe von Theben und Athen?

Thessalien wurde seiner bestehenden Verfassungen, seines bestehenden politischen Systems, beraubt. Philipp hat stattdessen Tetrarchien eingerichtet, um mit dieser neuen politischen Struktur, so behauptet Demosthenes pointiert, die Thessalier nicht nur nach Städten, sondern sogar nach Volksstämmen versklaven zu können. Zudem würden die Städte in Euboia von Despoten regiert. Dionysios erkennt hier Frage (πεῦσις) und antwortende Gegenfrage (ἀνθυποφορά309) sowie eine dabei ablaufende Steigerung (αὔξησις)310 (54, p. 246,11–15). Neben den Affekten kennt Dionysios also auch andere, an Grammatik und Inhalt des Gesagten orientierte Kategorien, die eine unterschiedliche Stimmführung verlangen. Jede dieser drei hat eine eigene Vortragsweise, sie können nicht in nur einem Ton und nur einer Gestaltung der Stimme vorgetragen werden (οὐ δύναται ταῦτα ἑνὶ τόνῳ καὶ μιᾷ μορφῇ φωνῆς λέγεσθαι) (54, p. 246,15–16). Genauere Ratschläge erteilt Dionysios nicht, sondern überlässt den Rest offenbar dem natürlichen Sprachgefühl seiner Leser bzw. Schüler. In der letzten von Dionysios zitierten Passage aus der dritten Philippica (54, p. 246,17–21) beabsichtigt Demosthenes zu zeigen, dass kein (erobertes) Land groß genug für Philipps Habsucht (πλεονεξία) ist:311 309 Diese Vokabel ist sehr selten. Quintilian (inst. 9,3,87) verwendet sie im Sinne von »Antwort auf einen vermuteten Einspruch« (LSJ, s. v. ἀνθυποφορά I), »Gegeneinwand« (RAHN [31995]). 310 Das steigernde Element wird dabei jeweils mit καί angeschlossen. 311 Dem von Dionysios zitierten Text der dritten Philippica fehlt hier ein Stück, nämlich:

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καὶ οὐ γράφει μὲν ταῦτα, τοῖς δ᾽ ἔργοις οὐ ποιεῖ, ἀλλ᾽ ἐφ᾽ Ἑλλήσποντον οἴχεται, πρότερον ἧκεν ἐπ᾽ Ἀμβρακίαν, Ἦλιν ἔχει τηλικαύτην πόλιν ἐν Πελοποννήσῳ, Μεγάροις ἐπεβούλευσεν· οὔθ᾽ ἡ Ἑλλὰς οὔθ᾽ ἡ βάρβαρος χωρεῖ τὴν πλεονεξίαν τοῦ ἀνθρώπου. Und das schreibt er nicht nur, ohne es in die Tat umzusetzen, vielmehr er dringt zum Hellespontos vor, schon vorher marschierte er in Ambrakia ein, in der Peloponnes hat er eine so bedeutende Stadt wie Elis in seiner Hand, und er hat Megara bedroht; weder Hellas noch das Barbarenland ist für das Machtstreben dieses Menschen groß genug.

Der Stil ist von kürzeren, einfachen Kola geprägt, in denen Demosthenes die Eroberungen Philipps aufzählt. Dionysios fragt suggestiv, ob man diese Worte mit Vergnügen312 wie eine Geschichte (ὥσπερ ἱστορίαν) vortragen könne (54, p. 246,22–23)? Und ob nicht die Wörter selbst hier laut ausrufen und zeigen, wie sie gesprochen werden müssen, indem sie fast eine Stimme hören lassen (οὐκ αὐτὰ βοᾷ313 καὶ διδάσκει, πῶς αὐτὰ δεῖ λέγεσθαι, μόνον οὐ φωνὴν ἀφιέντα) (54, p. 246,23–247,1). Seine Grundthese, dass der Stil die Vortragsart vorgibt, setzt Dionysios dabei direkt stilistisch um, denn er legt den Wörtern die Anweisungen, wie sie gesprochen werden müssen, selbst in den Mund (54, p. 247,2–6). Die Wörter sprechen in direkter Rede von einer Fülle von Variationsmöglichkeiten, ohne dabei genau zu erläutern, für welche Stelle sie jeweils angebracht wären: sie nennen zunächst einen witzig-eleganten Ton (ἀστεῖον ἦχον)314 sowie die Möglichkeit der Variation zwischen schnellem (ἐσπευσμένως) und langsamem Sprechen (ἀναβεβλημένως).315 Hier werden erstmals Vorschriften zur Geschwindigkeit des Vortrags gemacht. An der einen Stelle, so fordern die Wörter, solle man den Zusammenhang unterbrechen (ἀπόλιπε τὸ συνεχές), an der anderen, man solle das, was der Reihe nach genannt wird, direkt aneinandergefügt vortragen (σύναψον τὰ ἑξῆς).316 Damit ist die »Schreibt er nicht ausdrücklich in seinen Briefen: ›Ich habe Frieden mit denen, die mir Folge leisten wollen?‹« 312 Das Textstück † ἐν παρῳδικοῖς μέλεσιν † ist nicht verständlich. Das einhellig überlieferte παρῳδικοῖς (LSJ: »burlesque«) ist sonst nicht belegt. παροδικοῖς ci. Usener (der vorauszusetzen scheint, dass Einzugslieder auf einem Ton gesungen wurden). 313 οὐκ αὐτὰ βοᾷ ist eine Konjektur von Dobree (überliefert ist οὐ καταβοᾷ). αὐτὰ βοᾷ ist ein Zitat aus Dem. de falsa leg. 81 (ἡ γὰρ ἀλήθεια καὶ τὰ πεπραγμέν᾽ αὐτὰ βοᾷ). Vgl. auch Dem. de falsa leg. 119. 314 In diesem Ton könnte z. B. der Anfang der Passage (καὶ … ποιεῖ) vorgetragen werden. 315 Man könnte sich z. B. vorstellen, die einzelnen Nennungen der eroberten Gebiete recht schnell vorzutragen und beim Schlusssatz (οὔθ᾽ ἡ Ἑλλὰς οὔθ᾽ ἡ βάρβαρος χωρεῖ τὴν πλεονεξίαν τοῦ ἀνθρώπου) etwas langsamer zu sprechen. 316 Ähnlich unterscheidet der Auctor ad Herennium zwischen einem ununterbrochenen

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Pausensetzung beim Sprechen umschrieben.317 An manchen Stellen solle man Mitleid zeigen (συνάλγησον), an manchen Verachtung (καταφρόνησον).318 Schließlich solle man sich an manchen Stellen erschreckt zeigen (ἐκδειματώθητι), an manchen Stellen einen verhöhnenden Ton verwenden (διάσυρον) und an manchen einen steigernden Ton (αὔξησον).319 Könne denn also jemand, fragt Dionysios abschließend, der den Verstand eines nicht vernunftbegabten Tieres hat oder vielmehr die träge Natur eines Steines (ἀλόγου ζῴου ψυχὴν ἔχοντα, μᾶλλον δὲ λίθου φύσιν νωθράν), jemand, der empfindungslos, faul und leidenschaftslos ist (ἀναίσθητον, ἀκίνητον, ἀπαθῆ), den Stil des Demosthenes vortragen (54, p. 247,6–9)? Das könnte man nämlich vielleicht glauben, weil nach der Auffassung des Dionysios die Worte selbst den Vortrag vorgeben. Dionysios verneint seine Frage aber entschieden. Ein solcher Vortragender werde dem Stil seine schönste Qualität (τὸ κάλλιστον αὐτῆς ἀγαθόν), sein Leben (πνεῦμα), nehmen und er werde sich in nichts unterscheiden von einem Körper, der zwar schön, aber unbeweglich und tot ist (54, p. 247,9–11). Aus der Analyse des demosthenischen Redeauszugs wird deutlich, dass Dionysios in seiner stilkritischen Schrift Demosthenes keine vollständige Vortragstheorie entwickeln wollte. Mit diesen Ausführungen zielte er nur ein Stück weit, aber nicht in erster Linie darauf ab, seinen Schülern eine ganz konkrete Vortragsanweisung zur dritten Philippica des Demosthenes zu geben. Der Vergleich mit Quintilians Analyse des Milo-Prooemiums (inst. 11,3,47–50) zeigt, dass eine Analyse mit diesem Ziel noch weitaus detaillierter hätte ausfallen müssen. Im Zentrum steht vielmehr auch bei der Besprechung der ὑπόκρισις der Stil des Demosthenes, den Dionysios in dieser Schrift verherrlichen will und dessen Abwechslungsreichtum sich auch darin zeigt, dass er einen ständigen Wechsel in der Art des Vortrags verlangt. Dionysios knüpft damit an den von Aristoteles geforderten Ton (continuatio) und einem unterbrochenen Ton (distributio) in Rhet. Her. 3,13,23, vgl. Kapitel 4.1.3. 317 Möglich wäre, bis zum Schlusssatz ohne Pausen zu sprechen und nur vor diesem eine Pause einzufügen. 318 So könnte man die Namen der eroberten Städte und Gegenden mit Sympathie in der Stimme vortragen, die Handlungen, die Philipp ausführt, mit Verachtung in der Stimme. 319 Erschreckt könnte man sich während der Auflistung der eroberten Städte zeigen, die man zudem mit einer Steigerung der Vortragsweise (lauter und schneller werden) verbinden könnte. Evtl. ist v. a. an eine zur Steigerung des Vortrags gegensätzliche Vortragsart gedacht (vgl. AUJAC [1988] z. St.). Dann könnte man den ersten Satz dieses Redeauszuges eher langsam und mit in der Stimme ausgedrückter Distanz vortragen, um den Vortrag dann bei der Auflistung der eroberten Städte immer mehr zu steigern. Mit verhöhnendem Ton soll man das herabsetzende (vgl. Dem. Phil. 1,9) τοῦ ἀνθρώπου (statt τοῦ ἀνδρός) vortragen. Zum Diasyrmus als Unterart der Ironie vgl. VALLOZZA/KATZENBERGER (1994), Sp. 623 f.

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Die Stimme in der antiken rhetorischen Theorie und Praxis

Zusammenhang von Stil und Vortrag an, behandelt ihn aber nicht theoretisch, sondern nutzt ihn zur Auszeichnung speziell der Reden der Demosthenes.

3.2.5 Quintilian

Quintilians Darstellung der pronuntiatio im dritten Kapitel des elften Buches der Institutio oratoria ist die ausführlichste und anschaulichste zu diesem Thema aus der Antike.320 Nach grundsätzlichen Vorbemerkungen (11,3,1–13) folgen die Besprechungen der vox (11,3,14–65) und des gestus (11,3,66–149). Abschließend werden Fragen, die beide Teilbereiche der pronuntiatio betreffen, erläutert (11,3,150–184). Da der Stellenkommentar zu inst. 11,3,14–65 (Kapitel 4.2) diesen Abschnitt ausführlich behandelt, wird er hier nur kurz und überblicksartig zusammengefasst. Im Folgenden werden v. a. die außerhalb dieses Abschnitts liegenden Passagen (11,3,1–13 und 150–184) zur pronuntiatio vorgestellt. Vor den detaillierten Anweisungen zu vox und gestus (11,3,14–149) bespricht Quintilian allgemeine, übergreifende Aspekte der pronuntiatio wie die Terminologie, Wirkung und Bedeutung des Vortrags, die Rolle der Affekte und das Verhältnis von Kunst und Naturbegabung (11,3,1–13). Quintilian führt zunächst die Bezeichnungen pronuntiatio und actio als gleichbedeutend321 ein und übernimmt von Cicero die wahrscheinlich theophrastische Zweiteilung des Vortrags in vox und motus (11,3,1). Auch er betont die Wirkungskraft des Vortrags. Weniger komme es darauf an, was sich der Redner vor seinem Auftritt zurechtlege, als vielmehr, wie er es vortrage (2). Denn der Vortrag ziele auf die emotionale Beeinflussung des Zuhörers. Jeder Zuhörer werde auf die Art und Weise innerlich bewegt, wie er den Vortrag höre: ita quisque, ut audit, movetur (2). Daher verliere auch die Beweisführung, das Kernstück der Rede, ohne den Vortrag ihre Kräfte. Wenn die Affekte (affectus) nicht durch den Vortrag, durch alle seine einzelnen Bestandteile (voce, vultu, totius prope habitu corporis) entflammt würden (inardescunt), würden sie alle notwendigerweise schwach (languescant necesse est) (2). Quintilian stellt also wie Aristoteles (bzw. die von Aristoteles referierten Theoretiker des schauspielerischen Vortrags) und Cicero in De oratore die Affekte ins Zentrum des Vortrags. Sie müssen durch die Stimme sowie durch Mimik und Gestik im Zuhörer hervorgerufen werden. Der Redner empfinde in sich ein Feuer (ignis), das hier metaphorisch für den Affekt steht, und der Richter (iudex) solle sich davon ent320 Zu Quintilians actio-Theorie vgl. auch den kurzen, nach inhaltlichen Schwerpunkten geordneten Überblick bei LOUTSCH (1994), S. 111–115. 321 Vgl. Exkurs 2.

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flammen lassen (3).322 Einen Beweis für die Bedeutung des Vortrags liefern auch die Bühnenschauspieler, die scaenici actores (4). Und wenn der Vortrag schon in dieser Welt der Fiktionalität so viel vermöge, so fragt Quintilian in Form eines argumentum ex minori, wieviel vermöge er dann notwendigerweise in der realen Welt des Redners, wo man das, was sich ereignet, sogar glaube (5)?323 So sei es auch begreiflich, dass eine nur mittelmäßige Rede (mediocris oratio), wenn sie wirkungsvoll vorgetragen werde (commendata viribus actionis), mehr bewirken werde als die beste Rede (optima), die diesen Vorzug nicht aufweise (5).324 Als Gewährsmänner und Beispiele, die seine Ansicht belegen, führt Quintilian Demosthenes, Cicero und in Anlehnung an diesen auch Cn. Lentulus, C. Gracchus, Antonius, Crassus und Hortensius an.325 Er referiert die bekannte Demosthenes-Anekdote, nach der der Vortrag nicht nur herausragend wichtig (praecipua), sondern allein entscheidend (sola) beim Reden sei (6). Auch für Cicero sei er wichtiger als die anderen Bestandteile der Rhetorik: et M. Cicero unam in dicendo actionem dominari putat (7).326 Hortensius wird als praktisches Beispiel genannt. Da seine Reden in Schriftform nicht seinen Ruhm als Redner erklären können, müsse sein Erfolg auf seine Vortragsfähigkeiten zurückgeführt werden, die beim Lesen der Reden nicht mehr erkennbar seien (8). Vollkommen sei der Vortrag, wenn Worte, Stimme und Gestik zusammenpassen. Die Worte allein vermöchten schon viel (cum valeant multum verba per se), die Stimme verleihe den dargestellten Dingen ihre eigene Kraft (cum … vox propriam vim adiciat rebus) und auch die Gestik habe einige Bedeutung (cum … gestus motusque significet aliquid) (9). Die Auffassung, dass der Vortrag kunstlos sein solle, lehnt Quintilian ab (10). Die Naturanlage (natura) spiele zwar beim Vortrag die wichtigste Rolle. Um zur Vollkommenheit zu gelangen, müsse sie aber durch Mühe (labor) und Sorgfalt (cura) unterstützt werden (11). Allerdings müssten bestimmte natürliche Voraussetzungen gegeben sein. Was den mündlichen Vortrag betrifft, so dürften keine unverbesserlichen Aussprachefehler (inemendabilia oris incommoda) ein Hindernis bilden (12). Nur eine fehlerfreie Stimme (ne vox quidem nisi libera vitiis327) könne den besten Vortrag (actio optima) ermög322 Die Feuermetaphorik übernimmt Quintilian aus Cic. de orat. 2,189–190. 323 Zu dieser Unterscheidung der fiktionalen Welt des Schauspielers und der realen Welt des Redners vgl. auch Cic. de orat. 3,214–215 und speziell zu dieser Stelle Cic. de orat. 2,193. Siehe auch Kapitel 5.2.3. 324 Vgl. Cic. de orat. 3,213 und Brut. 234–235. 325 Zu deren Beurteilung durch Cicero, v. a. im Brutus siehe Kapitel 3.2.3. 326 Vgl. Cic. de orat. 3,213. 327 libera vitiis ist eine Konjektur von Winterbottom. Die überlieferten Varianten liberalis (»nur eine freie/eines freien Mannes würdige Stimme«) und exilis (»nur eine dünne Stimme«)

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lichen (13). Der Redner brauche ganz allgemein eine gute und starke Stimme (bona firmaque), da er diese einsetzen könne, wie er wolle (ut volumus, uti licet). Eine im Gegenteil dazu schlechte oder schwache Stimme (mala vel inbecilla) verhindere vieles, was der Redner können müsse, z. B. eine Steigerung in Tonhöhe und Lautstärke. Man könne sie nicht anheben (insurgere)328 und mit ihr nicht laut ausrufen (exclamare). Man müsse Pausen machen (intermittere), den Ton (erzwungen) verändern (deflectere)329 und seine aufgeraute Kehle und seine erschöpften Kräfte durch hässlichen Gesang wieder erfrischen (rasas fauces330 ac latus fatigatum deformi cantico reficere).331 Die folgenden Äußerungen gelten aber einem Fall, in dem Vorschriften nicht vergeblich gemacht werden (13). Auf diese einführenden, allgemeinen Überlegungen zum Vortrag folgen konkrete Anweisungen zur Stimme und Gestik, den beiden Teilen des Vortrags (vgl. 1). Der Abschnitt zur vox (11,3,14–65), der in Kapitel 4.2 ausführlich kommentiert wird, lässt sich in drei Teile gliedern.332 Erstens wird die Stimme überblicksartig ins rhetorische System eingeordnet und weiter eingeteilt (14–18). Die actio gliedere sich in vox und gestus, die vox wiederum in ihre Naturanlage und ihre Verwendungsweise (14). Die Natur der Stimme (natura vocis) wird in Größe (quantitas) und Art und Weise (qualitas) unterteilt, was jeweils durch mehrere Adjektive spezifiziert wird (15–16). Unter dem Stichwort Gebrauch der Stimme (utendi voce ratio) findet sich die ciceronische Dreiteilung in Dynamik, Melodie und Tempo (17–18). Zweitens werden, bevor Quintilian Details zum rhetorischen Einsatz der Stimme gibt, Pflege (cura) und Training (exercitatio) der Stimme (als deren Voraussetzung) besprochen, was v. a. im Vergleich mit Pflege und Training anderer Stimmkünstler (phonasci) geschieht (19–29). Diese Passage steht unter dem Einfluss von zeitgenössischen diätetischen und medizinischen Ansichten. Zunächst werden die Gemeinsamkeiten (19–21), dann die Unterschiede (24–29) herausgestellt. Redner und Stimmkünstler müssten ergeben keinen Sinn. liberalis, das sonst auch nie als Attribut von vox verwendet wird, passt nicht recht in diesen Zusammenhang, wo es nicht um das Edle der Stimme geht, sondern um basale Voraussetzungen. Dass die Stimme dünn (zu exilis vgl. Quint. inst. 11,3,15) sein muss, ist schlichtweg falsch. 328 insurgere zur Bezeichnung der Anhebung der Tonhöhe bei der Stimme findet sich nur hier (vgl. ThlL, s. v. insurgo S. 1064,39 f.). 329 Gemeint ist, dass man bei einer schwachen Stimme den Ton nicht halten kann. 330 Vgl. die Ausführungen zu den fauces rasae in inst. 11,3,20 (Kapitel 4.2.2). 331 Die Behauptung, dass das Singen weniger anstrengend ist als das Reden, findet sich auch in Quint. inst. 11,3,60. Vgl. Quintilians Ausführungen über das Singen als schlimmsten Fehler im Zusammenhang mit der Stimme in inst. 11,3,57–60. 332 Kurze Überblicke über Quint. inst. 11,3,14–65 geben auch KROLL (1920), S. 269 f. und WÖHRLE (1990), S. 43 f.

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beide v. a. auf die Robustheit des Körpers achten und auf gesunde Stimmorgane (19–20). Wichtig sei, dass der Redner bei allem die spätere Praxis im Blick haben muss, die sich durch einen vollen Terminplan und harte Arbeitsumstände auszeichne. Drittens werden, nachdem nun die ersten allgemeineren Voraussetzungen zur Stimme besprochen sind, unter dem Stichwort ratio pronuntiationis die rhetorikspezifischen Tugenden des Vortrags besprochen (30–65). Dieser Abschnitt ist z. B. im Vergleich mit dem Kapitel zur Gestik von relativ vielen griechischen Termini geprägt.333 Quintilian überträgt hier, soweit wir wissen, als erster die theophrastischen Stilqualitäten auf den mündlichen Vortrag (30) und schafft damit ein neues Gliederungssystem, das nicht von einzelnen Stimmtönen ausgeht (wie dies beim Auctor ad Herennium der Fall ist).334 Die emendata pronuntiatio, der fehlerfreie Vortrag, ist sicherlich die Grundvoraussetzung für einen erfolgreichen Auftritt des Redners. Er wird unterteilt in die Aussprache im engeren Sinn (os) und bestimmte Stimmeigenschaften (30–32).335 Aufbauend auf seiner Fehlerfreiheit muss der Vortrag zudem deutlich sein. Daher werden unter der dilucida pronuntiatio die deutliche Aussprache der Laute (33–35) und der richtig phrasierte Vortrag, die oratio distincta, behandelt (35–39). Die dabei erteilten Anweisungen zur richtigen Pausensetzung und Stimmführung sind deutlich von grammatischen Interpunktionslehren beeinflusst. Am Prooemium der Aeneis (36–38) und einem Auszug aus Cic. Phil. 2,63 veranschaulicht Quintilian seine Anweisungen (39). Ohne diese Tugend der Deutlichkeit könne es keine andere Tugend beim Vortrag geben (39), also auch nicht die beiden nun folgenden Kategorien des schmuckvollen und angemessenen Vortrags, die allgemeiner sind als der fehlerfreie und der deutliche Vortrag. Unter der ornata pronuntiatio, dem schmuckvollen Vortrag, werden sehr verschiedene Themen behandelt (40–60). Zunächst nennt Quintilian eine Reihe von Eigenschaften, über die die Stimme für einen schmuckvollen Vortrag verfügen müsse (40). Anschließend wird die mittlere Tonlage als die für den Redner richtige empfohlen (41–42). Kernbestandteil des schmuckvollen Vortrags seien seine Gleichmäßigkeit (aequalitas) einerseits und seine Abwechslung (varietas) andererseits (43–51). Am Beispiel des Milo-Prooemiums wird die gewünschte varietas der Stimme konkret veranschaulicht (47–51). Auf Warnungen vor Überanstrengung der Stimme (51) und gegen falsches Sprechtempo (52) folgen erstmals längere Ausführungen zum Atmen (53–56). Nach verschiedenen Fehlern im Zusammenhang mit 333 Vgl. dazu VALLOZZA (2000), S. 227–229. 334 Vgl. STROUX (1912), S. 71, KROLL (1920), S. 269, ders. (1940), Sp. 1075, FANTHAM (1982), S. 252, FORTENBAUGH (2003), S. 264. 335 Bereits im ersten Buch war Quintilian auf Aussprachefehler von jungen Schülern eingegangen, die ein Komödienschaupieler korrigieren solle (inst. 1,11,4–8).

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der Stimme (56) geht Quintilian zum seiner Meinung nach größten Fehler über, dem Singen der Redner (57–60). Mit dem Zugeständnis zum ciceronischen cantus obscurior (60) enden die Anweisungen zur ornata pronuntiatio. Die apta pronuntiatio, der angemessene Vortrag, öffnet den Blick noch weiter (und bleibt der übergeordnete Gesichtspunkt für den gesamten Rest des Kapitels) hin auf eine Affekttheorie mit Anweisungen zur richtigen Stimmführung. Hier steht die Stimme als Vermittlerin zwischen den Affekten des Redners und des Zuhörers im Zentrum (61–65). Dabei werden die Hauptüberlegungen, wie wir sie bei Aristoteles und Cicero (de orat. 3,217– 219) finden, übernommen und weiterentwickelt. Die Affekte werden zunächst in natürliche und künstliche eingeteilt (61–62). Dann ordnet Quintilian verschiedenen Affekten und Redesituationen die jeweils angemessene Stimmführung zu (63–65). Nach den ausführlichen Anweisungen zum gestus336 (11,3,65–149), die sich an die zur vox anschließen, folgen abschließend und immer noch im Zusammenhang mit dem aptum des Vortrags einige allgemeine Bemerkungen zur pronuntiatio, bei denen jeweils auf Stimme und Gestik Bezug genommen wird (11,3,150–184).337 Anders als bislang beziehen sich die folgenden Anweisungen also auf den rhetorischen Vortrag als ganzen (aus der Perspektive der Angemessenheit). So müsse man beim Vortrag darauf achten, wer vorträgt, vor wem (womit offenbar der Adressat gemeint ist) und wer anwesend sei: quis, apud quos, quibus praesentibus (150), allgemeiner gesagt also darauf, wie der Vortrag den beteiligten Personen angepasst werden kann.338 Bei der Frage, worüber man spricht (qua de re dicat), müssten vier Dinge beachtet werden (rei quadruplex observatio339 est), nämlich erstens der Fall als ganzer (tota causa), zweitens die Unterschiedlichkeit der Redeteile (differentia partium), drittens die Gedanken selbst (sententiae ipsae) und viertens die Wörter (verba) (151–152).340 Mit diesen vier Kategorien, denen sich der Vortrag anpassen muss und die als Einteilungsprinzip für das restliche Kapitel dienen, führt Quintilian verschiedene Redearten, die Redeteile, die Gedanken und die Wörter in seine Behandlung des angemessenen Vortrags ein. Zunächst gibt Quintilian kurze Erläuterungen zum Fall als ganzen. Bereits eingangs hatte er betont, dass man, um die actio richtig zu gestalten, das große Ganze, die grundlegende Stimmung und Situation der Rede mitbedenken müsse (vgl. 151). Daher sei die actio bei Lobreden, Danksagun336 Zum Abschnitt über die Gestik gibt es einen ausführlichen Kommentar von MAIEREICHHORN (1989). 337 V. a. dieser Abschnitt hat Fortunatian (rhet. 3,19–20 p. 132,7–133,2) beeinflusst. 338 Vgl. Fortun. rhet. 3,20 p. 132,27–28. 339 Vgl. die Erläuterungen zu observatio (inst. 11,3,13) in Kapitel 4.2.1. 340 Vgl. Fortun. rhet. 3,19 p. 132,8–10.

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gen, Ermunterungen und Ähnlichem heiter, glänzend und erhaben (laeta et magnifica et sublimis), hingegen seien Leichenreden, Trostreden und meistens Gerichtsreden für Angeklagte traurig und gedämpft (tristes atque summissae) (153). Die grundsätzlichen Überlegungen zur Aufgabe der pronuntiatio, die sich daran anschließen (154–156), führen bereits zur Erläuterung der Redeteile hin, der zweiten Sache, der sich der Vortrag anpassen müsse (vgl. 152). Die pronuntiatio müsse drei Aufgaben erfüllen (praestare debet): sie solle den Zuhörer gewinnen, überzeugen und erregen (conciliet, persuadeat, moveat).341 Damit hänge naturgegeben auch zusammen, dass die Rede erfreue (154). Diese drei Aufgaben sind offenbar am Ablauf der Rede und damit auch an den Redeteilen orientiert. Dass man die Zuhörer für sich gewinnt, ergebe sich u. a. durch einen angenehmen Charakter (commendatio morum), der auf irgendeine Art und Weise auch durch Stimme und Vortrag zum Vorschein komme, oder durch die angenehme Wirkung der Rede (orationis suavitas) (154) – hier ist evtl. an das prooemium gedacht. Die Kraft der Überzeung (persuadendi vis) ergebe sich aus einem zuversichtlichen Auftreten (adfirmatio), das bisweilen auch mehr Wirkung als die Beweisführung (probatio) habe (154), aus einer nach außen sichtbar selbstsicheren und festen Haltung (fiducia … et constantia), jedenfalls wenn ihr ein gutes Ansehen des Redners (auctoritas) zugrunde liege (155) – dabei denkt Quintilian vielleicht gerade an die argumentatio. Erregen könne man – üblicherweise v. a. in der peroratio – durch die Darstellung der Affekte, sei es indem man sie vorführe, wenn man sie empfindet, oder indem man sie nachahme: movendi autem ratio aut in repraesentandis est aut imitandis affectibus (156).342 Anweisungen zum Verhalten vor Redebeginn (156–160) – empfohlen wird z. B. eine Pause, die der Konzentration und dem Spannungsaufbau dient – leiten über zur Besprechung der einzelnen Redeteile mit Blick speziell auf die Vortragsart in Bezug auf Stimme und Gestik, die zu ihnen passen müssen (161–174). Für das prooemium, zu dem insgesamt ein sanfter Vortrag (lenis pronuntiatio) passe, wird im Regelfall u. a. eine gemäßigte Stimme (vox temperata)343 empfohlen (161), für die narratio fast immer (frequentissime) eine Stimme sehr nahe dem Gesprächston (sermo), nur etwas energischer 341 Vgl. Fortun. rhet. 3,15 p. 130,6. Diese Dreiteilung scheint auf der aristotelischen Dreiteilung in Ethos, Logos und Pathos zu beruhen, wobei Quintilian den Logos (bzw. das docere) durch persuadere ersetzt. Da die Überzeugung (persuadere) bei ihm nicht Ziel der Rhetorik ist (vgl. seine Definition der Rhetorik als bene dicendi scientia in inst. 2,14,5 und REINHARDT/WINTERBOTTOM [2006], S. xxxiv-l), ist diese Ersetzung möglich. 342 Zu den Affekten vgl. v. a. inst. 11,3,61–62 (in Kapitel 4.2.3). 343 Das heißt, man soll nicht laut, nicht hoch, nicht schnell sprechen. Vgl. die allgemeinen Anweisungen zum Prooemium von Pro Milone in inst. 11,3,48 (in Kapitel 4.2.3).

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(acrior)344 und ein einfacher Klang (sonus simplex)345 (162). Einen andersartigen Vortrag verlangten aber auch in der narratio Stellen, die voller Erregung (adfectus … concitati) oder Rührung (adfectus flebiles) seien (162). Der Vortrag (actio) der Beweise (probationes) sei der abwechslungsreichste und vielfältigste (maxime varia et multiplex) (163). Denn die Ankündigung des Beweiszieles, die Gliederung der Beweise, das Fragenstellen, das Vorwegnehmen von gegnerischen Widerlegungen (proponere, partiri, interrogare, contradictionem sumere) würden in einem dem Gesprächston (sermo) sehr nahestehenden Ton vorgetragen, bisweilen aber auch, indem man etwas bzw. jemanden verlache oder nachmache (aliquando inridentes, aliquando imitantes pronuntiamus) (163). Die eigentliche Beweisführung (argumentatio) sei meistens recht lebhaft, leidenschaftlich und bestürmend (agilior et acrior et instantior) (164). An manchen Stellen müsse man »drängen« (instare) und die Rede verdichten (densanda oratio) (164).346 Die Exkurse (egressiones) seien im Allgemeinen sanft, angenehm und entspannt (fere lenes et dulces et remissae) (164). In ihnen zeige sich weniger Anspannung (contentio), weil sie außerhalb der strittigen Hauptsache (extra quaestionem) lägen (164). Schwer zu verstehen ist, was Quintilian über die Nachahmung der Gegenseite (diversae partis imitatio) sagt, die mit Tadel verbunden (cum reprensione) ist (165). Damit ist wohl an Partien (in der argumentatio) gedacht, in denen die Gegenpartei in schlechtem Licht dargestellt und vorgeführt wird. Aus dem sonst unbekannten Redezitat, das Quintilian als Beispiel anführt, scheint nur zu schließen zu sein, dass es sich dabei nicht um eine wörtliche Wiedergabe dessen handelt, was der Gegner gesagt hat, sondern eher um eine Beschreibung, die ihn diskreditieren soll. Eine solche Nachahmung sei bisweilen recht »weich« (mollior) (165). Wenn sich diese Geschmeidigkeit hier auf die Stimme bezieht, könnte damit die leichte Modulation gemeint sein, die ja auch Distanz zu dem Gesagten (wie bei der Ironie)347 ausdrücken kann.348 Auch die folgenden Ausführungen über Affekterregung und Stimmmodulation sind noch der argumentatio zugeordnet, beziehen sich aber sicher auch auf den epilogus, der explizit erst ab 11,3,170 behandelt wird.349 Um den Richter zu entflammen, gebe es mehrere Intensitätsgrade des Vortrags: 344 Das heißt hier wohl v. a. »lauter«, vgl. Rhet. Her. 3,12,21 (acri clamore). 345 Also wohl v. a. ohne stärkere Modulation, die v. a. für die Beweisführung und den Schluss der Rede aufgehoben wird. 346 Damit könnte das Bedrängen des Gegners umschrieben sein. 347 Vgl. die Erläuterungen zu tremebunda (Rhet. Her. 3,14,25) in Kapitel 4.1.3. 348 Vgl. die vox mollis in inst. 11,3,23. Auch hier ist wohl eine leichte Modulation mitgemeint, die ja auch Distanz zu dem Gesagten (wie bei der Ironie) ausdrücken kann. 349 Vgl. dazu den späteren Rückverweis auf diese Partie in inst. 11,3,170.

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accendendi iudicis plures sunt gradus (166).350 Der höchste (summus) und bei einem Redner schärfste Grad (quo nullus … acutior) wird am Beispiel von Cic. Lig. 6–7 illustriert. Cicero kommentiert in dieser Passage seine eigene Stimmführung, kündigt an, dass er in der folgenden Partie sich mit seiner Stimme so sehr anstrengen (voce contendere) wolle, wie er könne. Damit meint er (und meint auch Quintilian) wohl v. a. eine Steigerung in Lautstärke und Tonhöhe.351 Die folgende Passage (Cic. Lig. 7), bald nach Beginn der eigentlichen Argumentation in Pro Ligario, ist also in jenem höchstem und schärfsten Grad, mit sehr hoher und lauter Stimme gesprochen. Als Beispiel für den etwas darunter liegenden Grad, der sich schon durch etwas Gefälligkeit (iucunditas) auszeichne, wählt Quintilian Cic. Lig. 9, eine Partie, in der Cicero seinem Gegner Tubero v. a. mit vielen Fragen zusetzt. Als noch voller352, langsamer und daher angenehmer (plenius adhuc et lentius ideoque dulcius) bezeichnet Quintilian einen berühmten, häufig erwähnten Auszug aus Ciceros zweiter Rede gegen Antonius, in dem sich dieser über Antonius empört.353 An dieser Stelle soll alles gedehnt werden (producenda omnia), also langsamer gesprochen werden, auch die Vokale sollen gedehnt (trahendae vocales) und die Kehle solle geöffnet werden (aperiendae fauces)354 (167). Noch voller klinge der Schwur bei den Albanerhügeln aus Pro Milone (Cic. Mil. 85). Cic. Arch. 19355 habe schon etwas von Gesang (cantici quiddam) und sei auf vorsichtige Art weichlich (sensimque resupina)356. Solcher Art seien auch jene rednerischen Stimmmodulationen (inclinationes vocis), die sich Demosthenes und Aischines gegenseitig vorwerfen, 350 Vgl. die Feuermetaphorik in inst. 11,3,3. 351 Zu voce contendere vgl. Exkurs 3 (2.5). 352 Das bedeutet klangvoller, sonorer und wohl auch tiefer als die gerade genannte hohe Stimme, die zudem dünn ist. Vgl. die Erläuterungen zur vox plena in inst. 11,3,15. 353 Der Redeauszug Phil. 2,63 wird in Hinblick auf seinen Vortrag auch in inst. 11,3,39 besprochen. Vgl. die Erläuterungen in Kapitel 4.2.3. 354 Mit der geöffneten Kehle erreicht man wohl das eben genannte volle Sprechen, also das klangvolle, sonore und auch tiefe Sprechen. 355 Gemeint ist wohl folgende Partie in Cic. Arch. 19: saxa atque solitudines voci respondent, bestiae saepe immanes cantu flectuntur atque consistunt; nos instituti rebus optimis non poetarum voce moveamur? Man kann sich dabei gut vorstellen, dass der erste Teil des Trikolons mit weniger Stimmmodulation gesprochen wird, der zweite mit leichter Modulation (zumal hier von Gesang die Rede ist) und der dritte als Höhepunkt mit der stärksten Intonation, die erkennen lässt, dass es sich um eine Frage handelt. 356 sensimque resupina ist schwer zu verstehen. Zu sensim in der Bedeutung »cautiously« vgl. OLD, s. v. sensim b, zu resupinus in der Bedeutung »weichlich« vgl. Quint. inst. 5,12,20. Da Gesang oft mit Weichlichkeit assoziiert wird (vgl. Exkurs 3 [2.3] zu mollis), passt diese Bedeutung hier gut. Anders übersetzen RAHN (31995) – die Stelle habe etwas »unmerklich dem Schmelzenden sich Näherndes« – und RUSSELL (2001) – das Gesangsartige stecke »in the gradual fall« dieser Wörter.

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wie sie aber von Quintilian nicht missbilligt werden (168).357 Denn da sie sie sich jeweils gegenseitig vorwerfen, sei klar, dass beide sie tatsächlich gebraucht hätten. Weder habe nämlich Demosthenes (in Dem. de cor. 208) den Schwur bei den Vorkämpfern von Marathon und Salamis in ungebogenem, d. h. unmoduliertem Ton (recto sono)358 geleistet noch habe Aischines (in Aisch. adv. Ctes. 133) Theben im Gesprächston (sermo), d. h. ohne Modulation, beweint (168). Davon unterschieden wird die Stimmart, die beinahe außerhalb des menschlichen Stimminstruments (paene extra organum)359 liege und die die Griechen amaritudo genannt hätten.360 Sie sei über das Maß, fast über die Natur der menschlichen Stimme hinaus bitter (acerba361). Der Vortrag des Epilogs (epilogus), des letzten Redeteils, sei abhängig von seinem jeweiligen Ziel (170–174).362 Wenn es sich um eine Aufzählung des Gesagten (enumeratio rerum) handle, so sollen deren einzelne Glieder ununterbrochen aneinandergefügt (concisorum continuatio363) werden (170). Wolle man die Richter erregen, müsse man wie oben bei der Beweisführung besprochen vortragen (170). Wolle man sie besänftigen, so spreche man tief und sanft (inclinata364 lenitas). Wolle man sie durch Mitleid bewegen, so verlange der Vortrag die Modulation der Stimme und eine klagende Süße (flexus vocis et flebilis suavitas).365 Durch sie v. a. würde man die Gemüter der Zuhörer einnehmen (frangere) und sie sei auch am natürlichsten, wie man dem lauten, melodischen Klagen von Waisen und Witwen bei Beerdigungen entnehmen könne (170). Zur Mitleiderregung passe auch jene dunkle Stimme des Antonius (fusca illa vox)366, die Cicero (Brut. 141) beschreibt, denn sie weise genau das auf, was Quintilian nachahme 357 Zu diesen gegenseitigen Vorwürfen vgl. Cic. orat. 57 und Kapitel 3.1.1. Quintilian wendet sich vielleicht gegen Kritiken wie die von Demetrios von Phaleron und Philodem, vgl. Phil. rhet.4 Col.XVa20-XVIa5 in Kapitel 3.2.3. 358 Vgl. die vox recta in inst. 11,3,64 und Exkurs 3 (2.3). 359 Zu organum vgl. die Erläuterungen zu inst. 11,3,40 in Kapitel 4.2.3 und auch zu inst. 11,3,16 in Kapitel 4.2.1. 360 Gemeint ist vielleicht πικρότης, vgl. die Erläuterungen zu acerba (in inst. 11,3,32) in Kapitel 4.2.3. 361 Vgl. die Erläuterungen zu acerba (in inst. 11,3,32) in Kapitel 4.2.3. 362 Zu den zwei Teilen der peroratio, Kurzzusammenfassung und pathetische Errregung, vgl. MÄNNLEIN-ROBERT (2003), Sp. 778 und z. B. Quint. inst. 6,1,1. 363 Vgl. die continuatio, den ununterbrochenen Redeton beim Auctor ad Herennium (Rhet. Her. 3,13,23). 364 Zu inclinatus in der Bedeutung »tief« vgl. die Anmerkungen zu Cic. orat. 56 in Kapitel 3.2.2. 365 Zum Zusammenhang von Mitleid und Stimmmodulation vgl. z. B. inst. 11,3,64 und Cic. de orat. 3,217. 366 Vgl. die Erläuterungen zur vox fusca in inst. 11,3,15.

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(171).367 Jedoch gäbe es zwei verschiedene Arten von Mitleid, nämlich eine, die mit der Erzeugung von schlechter Stimmung gegen den Gegner (cum invidia)368 verbunden sei, und eine andere, die gedämpfter sei und mit Abbitte verbunden (cum deprecatione demissior) (171). Daher stecke zwar in Stellen wie den schon einmal (vgl. 167) zitierten Passagen aus Cic. Phil. 2,63 – denn Cicero spreche diese Worte nicht wie einer, der streitet – und dem Schwur bei den Albanerhügeln in Mil. 85 – denn Cicero spreche hier nicht, als ob er anrufe oder wirklich Zeugen beiziehe – eine Art verborgener Gesang (cantus obscurior). Andere Stellen seien aber noch wesentlich mehr moduliert (flexa) und (in der Tonhöhe) variiert (circumducta369) (172).370 Quintilian nennt als Beispiele für solche starke Modulation Stellen aus der peroratio von Pro Milone (Mil. 102) und eine weitere Stelle aus der peroratio von Pro Rabirio Postumo (Rab. Post. 46), in denen jeweils Mitleid erregt werden soll. Diese Beispiele aus den perorationes und die Überlegungen zum stimmlichen Ausdruck von Mitleid werden durch einen abschließenden Hinweis ergänzt. Eine wunderbare Wirkung erziele es, wenn man am Schluss der Rede gestehe, gleichsam vor Schmerz und Ermüdung nicht mehr sprechen zu können, wie Cicero das in der peroratio von Pro Milone (Mil. 105) tue (173). Bei solchen Stellen müsse der Vortrag den Worten ähnlich sein (173), d. h. dass auch an der Stimme deutlich zu erkennen sein muss, dass man wirklich nicht mehr weitersprechen kann. Damit habe Quintilian gezeigt, dass der Vortrag auch den Gedanken und den Wörtern angepasst werden muss, die neben dem Fall als ganzem und den Redeteilen als Dinge, zu denen der Vortrag passen muss, in inst. 11,3,152 angekündigt worden waren. Auf die Wörter geht er aber zudem noch einmal etwas genauer ein. Den einzelnen Wörtern soll der Vortrag nämlich nicht immer, sondern nur manchmal angepasst werden (174). Z. B. müsse man die Wörter misellus und pauperculus entsprechend ihrer Bedeutung mit gesenkter und beklommener Stimme (summissa atque contracta371 vox) sprechen, die Wörter fortis et vehemens et latro hingegen mit lauter

367 Die Stimme des Antonius verfügte also von Natur aus über die Mitleid erregenden Eigenschaften, die der Redner nach Quintilian erst nachahmt. 368 Vgl. die Erläuterungen zu invidiosiora (inst. 11,3,50) und invidia (inst. 11,3,63) in Kapitel 4.2.3. 369 Ein Zusammenhang mit circumductum in der Bedeutung »Periode« bei Quintilian (vgl. ThlL, s. v. circumduco S. 1135,25 f.) scheint nicht gegeben. Da es hier um Gesang geht, ist wohl eher ein »Umherführen« der Stimme in Hinblick auf ihre Tonhöhe, also wie bei flexa die Modulation gemeint. 370 Zum cantus obscurior vgl. inst. 11,3,60 und Cic. orat. 57. 371 summissus und contractus sind in Bezug auf stimmliche Äußerungen nahezu synonym. Vgl. die Erläuterungen zu contracta in inst. 11,3,15 und contractum atque summissum in inst. 11,3,48.

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und erregter Stimme (erecta372 et concitata vox) (175). Durch eine solche Übereinstimmung (adstipulatio) (zwischen Wort und Sache) werde den Dingen ihre eigentümliche Kraft (vis et proprietas) verliehen. Wenn diese nicht vorhanden sei, klafften Stimme und Absicht (des Sprechers) auseinander (175). Dieselben Wörter könnten, indem man den Vortrag verändere (mutata pronuntiatione), ganz unterschiedliche Funktion haben, sie könnten feststellen, bestätigen, tadeln, leugnen, sich wundern, sich empören, fragen, verlachen und herabsetzen (175). Allein ein Wort wie das tu werde je nach Zusammenhang, je nach Affekt (affectus) anders ausgesprochen, was Quintilian an vier Stellen aus der Aeneis und der dritten Ekloge Vergils verdeutlicht. Weitere Beispiele erspart sich Quintilian, indem er den Leser zur experimentierenden Eigenproduktion auffordert. Bis hierhin hat Quintilian also den Vortrag in Stimme und Gestik aus der Perspektive des aptum mit Blick auf den Fall als ganzen, die Redeteile, die Gedanken und die Wörter behandelt. Abschließend erweitert er die Frage nach der Angemessenheit des Vortrags noch einmal, indem er genauer auf das Verhältnis von Individualität und Schicklichkeit im Vortrag eingeht und das Schauspielerische als unangemessen für den Redner vom rhetorischen Vortrag abgrenzt. Quintilian betont, dass auch beim Vortrag das Schickliche (decorum) nicht für jeden Redner dasselbe sei, sondern oft für jeden etwas anderes (saepe aliud alios decere) (177). Dabei lasse sich das Schickliche weder ohne Kunst noch nur durch Kunst vermitteln (neque sine arte esse neque totum arte tradi potest) (177). Als Beispiel für die Diversität von gelungenen Vortragsstilen dient Quintilian ein Vergleich zwischen den zwei Komödienschauspielern Demetrius und Stratokles, der sich v. a. auf die Gestik bezieht (178–180). Ihrer Wesensart (natura) entsprechend hätten sie unterschiedliche Rollen übernommen, auch sei die Stimme des Demetrius gefälliger (iucundior), die des Stratokles energischer (acrior) gewesen (178). Die beiden hätten so spezifische Vortragseigenschaften besessen, dass sie nur zu ihnen selbst gepasst hätten (179–180). Deshalb solle, so Quintilian, jeder sich selbst kennen (norit se quisque) und nicht nur anhand von allgemeinen Vorschriften (ex communibus praeceptis), sondern auch anhand seiner eigenen Wesensart (ex natura sua) sich überlegen, wie er seinen Vortrag gestalten müsse (180). Dabei könnten für jemanden auch mehrere oder sogar alle Dinge schicklich sein (181). Schließlich empfiehlt Quintilian dem Redner, auch beim Vortrag das richtige Maß einzuhalten, denn er solle kein Komödienschauspieler (comoedus) sein (181). Beim Sprechen solle er nicht zu gesucht (moleste) – wie der Schauspieler – Gebrauch machen von Pausen (distinctiones), Zeitmaßen (tempora) und Affekten (adfectiones) (181). Wo der Schauspieler mit Verzö372 Vgl. die Erläuterungen zu inst. 11,3,48. Dort werden contractum atque summissum und plenius et erectius einander gegenübergestellt.

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gerungen, die den Zweifel ausdrücken, Stimmmodulationen (vocis flexus) und mit stark variierender Gestik vorträgt, was Quintilian an einer Partie aus Terenz’ Eunuchus (Eun. 46) zeigt, halte sich der Redner zurück (182). Die Rede (oratio) bestünde schließlich nicht aus der Nachahmung (imitatio), die die Aufgabe des Schauspielers sei, sondern aus dem Vortrag (actio) (182).373 Ein Vortrag, der zu gesucht in Hinblick auf Mimik und Gestik sei und ständig in der Stimme variierend hin- und herspringe (vocis mutationibus resultans), werde zu Recht getadelt (183). Cicero wird als Autorität hierfür angeführt (184). Zwar sei eine etwas lebhaftere Vortragsart bereits in Mode gekommen und an manchen Stellen der Rede passend. Sie müsse aber so gemäßigt werden, dass der Redner auch dann, wenn er nach der Feinheit des Schauspielers strebe (actoris … elegantia), nicht das Ansehen eines guten und ernsthaften Mannes (viri boni et gravis auctoritas) verliere (184). Wie in der gesamten Institutio oratoria stützt sich Quintilian auch bei der Behandlung der vox stark auf Ciceros rhetorische Schriften.374 In verschiedenen Bereichen geht er allerdings auch über Cicero hinaus.375 Besonders auffällig sind an Quintilians Kapitel über die Stimme v. a. drei Dinge, auch, aber nicht nur weil er sich in ihnen von Cicero unterscheidet. Als erstes ist dabei die Übertragung der theophrastischen Stiltugenden auf die mündliche Rede zu nennen. Sie ermöglicht Quintilian eine klare Gliederung und Darstellung des Themas. Dass dabei die Einordnung der ein oder anderen Einzelheit unter eine bestimmte Tugend nicht immer ganz passt (z. B. trägt nicht alles, was in der ornata pronuntiatio gesagt wird, direkt zum Schmuck des Vortrags bei, passte aber wohl dort noch am besten zu den Ausführun373 Vgl. Crassus’ Unterscheidung von Redner (actor) und Schauspieler (imitator) in Cic. de orat. 3,214. 374 Vgl. die tabellarische Übersicht bei KRUMBACHER (1920), S. 51. Dass nach Cicero noch andere Autoren über die rhetorische Stimmführung geschrieben haben, die Quintilian verwendet, lässt sich nicht nachweisen. Möglicherweise haben die Autoren, die Quintilian im Zusammenhang mit der Gestik nennt, Plotius, Nigidius und Plinius d. Ä. (inst. 11,3,143), oder auch Celsus auch über die vox geschrieben (so KRUMBACHER [1920], S. 52). 375 FANTHAM (1982), S. 262 arbeitet fünf Elemente heraus, in denen Quintilians Vortragstheorie sich nicht auf Cicero stützt: erstens die Erläuterungen anhand von Texten Ciceros und aus augusteischer Zeit (was Cicero selbst ja schließlich auch unmöglich gewesen ist); zweitens Berichte über Techniken von griechischen Rednern, v. a. Demosthenes und Aischines (Fantham denkt hier z. B. an die Anekdote, Demosthenes habe ein Schwert über seinen Schultern aufgehängt, um zu verhindern, dass er sie nach oben ziehe, denn diese Anekdote findet man bei Cicero nicht); drittens technisches Wissen von griechischen oder römischen Stimmbildnern (dazu passt auch das gesteigerte Interesse an medizinischen Aspekten der Stimme im 1. Jh. n. Chr.); viertens die Praxis der Schauspieler (was sich mehr auf die Gestik als auf die Stimme zu beziehen scheint); fünftens die direkte Beobachtung und eigene Erfahrung.

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gen), hat er dafür in Kauf genommen. Zweitens kommt der Wunsch, verstanden zu werden, ganz deutlich in den Beispielanalysen, die Quintilian durchführt, zum Ausdruck. Sie sind an Lehrer und Schüler, aber auch an einen weiteren Leserkreis gerichtet. Quintilian geht hier weit über Ansätze solcher Analysen bei Cicero (vgl. die Tragikerzitate in de orat. 3,217–219) und Dionysios von Halikarnassos (in Dem. 53–54) hinaus.376 Und drittens zeigt sich auch bei der Behandlung der vox Quintilians Kenntnis der anderen Disziplinen. An vielen einzelnen Stellen, wie dem ausführlichen Stellenkommentar in Kapitel 4.2 zu entnehmen ist, aber auch in der Gesamtstruktur (u. a. in Verweisen auf andere Teile des Werkes) tritt die Überschneidung des rhetorischen Bereichs mit den anderen Wissenschaften, v. a. mit der Diätetik und Medizin, mit der Grammatik, mit der Musik und der Schauspielerei klarer hervor als bei allen anderen Autoren.377

3.3 Rhetoriker nach Quintilian 3.3.1 Kassios Longinos

Die erste wissenschaftliche Darstellung des rhetorischen Vortrags nach Quintilian findet sich bei Kassios Longinos (Longin) in der Mitte des 3. Jh. n. Chr.378 Seine Abhandlung ist die ausführlichste zu diesem Thema in griechischer Sprache, die uns überliefert ist. Der Neuplatoniker Longin, der Schüler von Ammonios Sakkas und Lehrer des Porphyrios war, galt v. a. als Philologe, als Literarkritiker und Rhetor jahrhundertelang als große Autorität.379 In Athen lehrte er Grammatik, Rhetorik und Philosophie.380 Er hat eine große Menge hochgelehrter Werke verfasst, darunter eine Τέχνη 376 Vgl. Kapitel 3.2.2 und Kapitel 3.2.4. 377 Zu diesen Überschneidungsbereichen vgl. Kapitel 5.2. 378 Zugrunde gelegt wurde der Text von SPENGEL (RhGr 1, edd. SPENGEL/HAMMER [1894], p. 194–197). Eine frühere Ausgabe stammt von WALZ (1836): RhGr 9, p. 567–569. Die neue Ausgabe von PATILLON/BRISSON (2001), S. 205–208 (mit französischer Übersetzung), ist voll alter und neuer Konjekturen, die häufig nicht notwendig erscheinen. Trotz des im Einzelfall häufig unterschiedlichen Textes ergeben sich aber keine wirklich großen Sinnunterschiede zwischen den verschiedenen Ausgaben. 379 Für einen kurzen Überblick über Kassios Longinos’ Leben siehe MÄNNLEIN-ROBERT (2001), S. 26–28, die in ihrer Monographie nur den Philologen und Philosophen, nicht aber den Rhetoriker Kassios Longinos behandelt, AULITZKY (1927), Sp. 1401–1403 und BALTES (1999), Sp. 434. Zu Kassios Longinos als Rhetoriker vgl. KENNEDY (1972), S. 637–641. Kassios Longinos gilt heute nicht mehr als Autor von Περὶ Ὓψους. 380 Vgl. AULITZKY (1927), Sp. 1402 und BALTES (1999), Sp. 434.

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ῥητορική, die zum großen Teil erhalten ist.381 Sie war zunächst als allgemeine Einführung primär an seine Schüler gerichtet, zudem aber auch für einen breiteren Leserkreis gedacht.382 Die Gliederung folgt dem üblichen Schema der fünf Aufgaben des Redners.383 Das Fragment Περὶ ὑποκρίσεως ist gegliedert in einen ersten, allgemeinen Teil über die ὑπόκρισις (Definition, Ziel, Wirkungsweise, p. 194,21–196,5) und einen zweiten, spezielleren Teil mit einzelnen Sprechanweisungen (p.196,5–197,18). Leider ist dieser einzige griechische Text mit detaillierten Vortragsvorschriften lückenhaft und zum Teil korrupt überliefert. Auch die neue Ausgabe von PATILLON/BRISSON (2001) konnte nicht überall Klarheit schaffen. Kassios Longinos beginnt sein Kapitel über den Vortrag mit einer Definition der ὑπόκρισις, die eindeutig in aristotelischer und theophrastischer Tradition steht, der aber auch eine neue Zweiteilung zugrunde liegt.384 Er stellt dabei das mimetische Prinzip, nach dem der Vortrag Dinge nachahmt, die es in Wirklichkeit auch gibt, ins Zentrum seiner Definition und übernimmt auch die seit hellenistischer Zeit in der Rhetorik etablierte wahrscheinlich theophrastische Zweiteilung des Vortrags in Körper und Stimme (p.194,21–24): »Der Vortrag ist die Nachahmung von Gefühlen und von Affekten, die jedem Menschen in Wirklichkeit zukommen (Ὑπόκρισίς ἐστι μίμησις τῶν κατ᾽ ἀλήθειαν ἑκάστῳ παρισταμένων ἠθῶν καὶ παθῶν) sowie die Gestaltung des Körpers und des Tons der Stimme, die den zugrundeliegenden Sachverhalten entspricht (καὶ διάθεσις σώματός τε καὶ τόνου φωνῆς πρόσφορος τοῖς ὑποκειμένοις πράγμασι).«385 Auf die Definition des Vortrags folgt die Einschätzung seiner Wirkungskraft. Der Vortrag vermöge sehr viel, so Longin, zur Überzeugung der Zuhörer (δύναται δὲ μέγιστον εἰς πίστιν) und bediene sich dafür trügerischer Mittel, er verstehe es, den Hörer mit List und Bezauberung, Täuschung und Betrug (ἐπιβουλαῖς τε καὶ γοητείαις, παραγωγαῖς τε καὶ παρακρούσεσιν) zu lenken (p.194,24–195,2). Diese Mittel werden von Kassios Longinos nicht moralisch abgewertet (wie z. B. von Aristoteles), sondern nur sachlich festgestellt. Im Unterschied zu einem logischen Beweis (πίστις τε καὶ ἀπόδειξις), der – hier stellt sich Kassios Longinos 381 Vgl. MÄNNLEIN-ROBERT (2001), S. 27, AULITZKY (1927), Sp. 1407 und BALTES (1999), Sp. 435. Den ausführlichsten Überblick über dieses große Rhetorik-Fragment liefern BRISSON/ PATILLON (1998), S. 3044–3069. 382 Vgl. AULITZKY (1927), Sp. 1408. 383 Nur die Umstellung von ὑπόκρισις und μνήμη weicht von diesem Schema ab. Vgl. AULITZKY (1927), Sp. 1408. 384 Zum Zusammenhang von Kassios Longinos’ Definition mit der Theophrasts vgl. auch FORTENBAUGH (2005), S. 406 f. 385 PATILLON/BRISSON (2001) gehen aufgrund eigener Konjekturen von einem etwas anderen Text aus. Inhaltlich ergeben sich dadurch aber keine allzu großen Unterschiede in der Definition des Vortrages.

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in aristotelische Tradition386 – sogar mit zwingender Notwendigkeit (μετ᾽ ἀνάγκης) wirke, lenke der Vortrag den Zuhörer durch Täuschung (ἀπάτῃ) (p.195,2–5). Daher erscheint Kassios Longinos auch die hohe Wertschätzung des Vortrags durch Demosthenes, der noch weiter geht als Kassios Longinos selbst, recht plausibel (p.195,5–9).387 Denn die anderen Vorzüge, abgehoben wird auf inventio und elocutio, machten die Rede nicht wirkungsvoll, wenn es an der Formung in Hinblick auf den Vortrag (τοῦ κατὰ τὴν ὑπόκρισιν πλάσματος) fehle (p.195,10–14). Ohne einen gelungenen Vortrag wirke die Rede dunkel, schwach, ohne Anmut, wenig erfreulich, ohne Süße, und treibe den Richter mehr zu einer Stimmabgabe als ihn dazu einzuladen (καὶ ἐλαύνων μᾶλλον ἢ τὴν ψῆφον παρακαλῶν) (p.195,14–17). Nach dieser allgemeinen Einleitung erteilt Kassios Longinos dem Schüler zunächst Vorschriften zum Training. Traditionell wird im Zusammenhang mit dem Vortrag die Bedeutung des Übens sehr betont, neu bei Kassios Longinos ist aber die direkte Anrede des Schülers. Dabei geht es ihm um das Zusammenspiel von Affekten, Stimme und Gestik. Der Schüler wird aufgefordert, den Vortrag zu üben, indem er genau zuschaue (ἄσκει δὲ αὐτὸ θεώμενος), wie natürliche Sprecher in einem Affekt, von dem sie ergriffen sind, (μετὰ τοῦ πάσχειν) sich im Gespräch abmühen und anstrengen oder umgekehrt sich entspannen, sanft werden und nur mäßig aktiv sind (p.195,17–22). Das Empfinden und v. a. die Tatsachen selbst bestimmten die Sprechweise. Denn die Tatsachen selbst »gestalteten« die Sprecher und ließen sie irgendwie eine (bestimmte) Körperhaltung und einen Stimmton annehmen: διαπλάττει γὰρ αὐτοὺς καὶ σχήματός πως μετέχειν ποιεῖ καὶ τόνου φωνῆς αὐτὰ τὰ πράγματα (p.195,22–23).388 Auf diese Art und Weise (wenn man als Schüler der Vortragskunst die natürlichen Sprecher beobachtet) trage nämlich derjenige, der selbst für sich in Wirklichkeit in einen Zustand gekommen sei (also der natürliche Sprecher), für den vor, der (sich) eine τέχνη zulegen und das Nötige lernen wolle (also für den Schüler): πεπονθὼς γὰρ οὗτος αὐτὸς αὑτῷ κατὰ τὴν ἀλήθειαν οὕτω τῷ τέχνην συνισταμένῳ καὶ βουλομένῳ τὸ δέον μαθεῖν ὑποκρίνεται (p.195,23–196,2). Der Text ist an dieser Stelle besonders schwer zu verstehen.389 Gemeint ist aber offenbar, dass die natürliche Rede386 Nach Aristoteles (rhet. 1355a5–6) sind wir dann am meisten von etwas überzeugt, wenn wir glauben, dass es bewiesen worden ist. 387 Zu Demosthenes’ Wertschätzung des Vortrags vgl. Kapitel 1.1. 388 Kassios Longinos vertritt hier wie Cicero (de orat. 3,216) die Auffassung, dass sich ein Affekt naturgemäß in einer bestimmten Körperhaltung und Stimme ausdrückt. 389 PATILLON/BRISSON (2001) nehmen hier gleich drei Eingriffe vor und gelangen zu einem Text, in dem die Tatsache, dass der Rhetorikschüler vom natürlichen Sprecher lernen kann, weniger betont wird: πεπονθὼς γὰρ οὗτος αὐτὸς αὑτῷ κατὰ τὴν ἀλήθειαν οὐ τῶ〈ν〉

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situation dem Rhetorikschüler das Vorbild für die Kunst der Rede liefert und der Schüler durch Beobachtung natürlicher Sprecher zu eigenen Regeln für den Vortrag gelangen kann. Zudem könne der Schüler auch von den besten Schauspielern lernen (καταμανθάνειν), welchen Unterschied es mache in Hinblick auf Wohlwollen oder Ablehnung (gegenüber dem Vortragenden), ob man mit oder ohne ὑπόκρισις vorträgt (p.196,2–5). Eigentlich wäre jetzt an dieser Stelle, die die Affekte behandelt, zu erwarten, dass Kassios Longinos darauf hinweist, dass man von den Schauspielern v. a. die stimmliche Gestaltung der Einzelaffekte erlernen kann. Der Hinweis nur auf die allgemeine Bedeutung des Vortrags wirkt hier unpassend, isoliert und fast wie ein Rückschritt zu den Gedanken zu Beginn des Abschnitts (vgl. p. 194,24–195,17). Es ist daher nicht unwahrscheinlich, dass an dieser Stelle im Text etwas ausgefallen ist. Nach den Vorschriften zur Übung folgen jetzt auch solche Sprechanweisungen, die an Affekten und dann v. a. an den Redeteilen orientiert sind. In diesem Abschnitt geht Kassios Longinos v. a. auf die richtige Stimmführung des Redners ein. Er stellt zunächst in Grundzügen390 (ὡς δὲ ἐν τύποις περιλαβεῖν) fest (p.196,5–6): Für einen Zürnenden sei es hilfreich und angemessen, seine Rede schnell zu gestalten, eine hohe und laute Stimme zu haben und einen eher einfachen Stimmklang (θυμουμένῳ μὲν ἐπίτροχον ποιεῖσθαι τὸν λόγον συμφέρει καὶ πρέπει, καὶ τὴν φωνὴν ὀξεῖαν ἔχειν καὶ τὸ φθέγμα391 ἁπλούστερον, p. 196,6–8), d. h. wohl einen wenig in Lautstärke und Tonhöhe variierenden Klang, der gleichmäßig hoch und laut bleibt. Anweisungen für weitere Affekte folgen nicht mehr, so dass wahrscheinlich auch hier mit einer Textlücke zu rechnen ist. Statt der Affekte dienen im Folgenden die Redeteile als neues Gliederungsprinzip. Wenn man den Anfang spreche, so soll der Stimmklang sanft und maßvoll sein, gegenüber der Masse (ἐπὶ τὸν ὄχλον) auch bittend (δεητικός), und ein solcher, wie ihn auch jemand aufweise, der bittet, Mangel leidet und Scheu oder Scham empfindet: καθισταμένῳ δὲ τὰς ἀρχὰς πρᾷον τὸ φθέγμα ποιητέον καὶ ἐπιεικές, ἐπὶ τὸν ὄχλον δέ πως καὶ δεητικὸν καὶ τοιοῦτον οἷον παρακαλοῦντος καὶ ἐν χρείᾳ τέχνην συνισταμένων〈ὢν〉καὶ βουλομένων〈εἰς〉τὸ δέον μαθεῖν ὑποκρίνεται, »car dans la réalité c’est sous l’emprise des émotions que celui-ci se fait acteur spontanément et pour lui-même, sans être de ceux qui visent à se donner une technique et qui veulent l’apprendre pour s’en servir au besoin«. 390 Vgl. LSJ, s. v. τύπος VIII 2. 391 Mit φθέγμα bezeichnet Kassios Longinos das, was mit der Stimme erzeugt wird, den Klang der Stimme als ganzen, also ihre Gestaltung v. a. hinsichtlich Modulation und Lautstärke (vgl. p. 196,9 und p. 197,8). φωνή ist die Stimme selbst, v. a. in Gegenüberstellung zu σῶμα (vgl. p. 194,23 und p. 195,23).

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καθεστηκότος καὶ εὐλαβείας ἢ αἰδοῦς μετέχοντος (p.196,8–12).392 Anweisungen zur narratio werden nicht erteilt, aber vielleicht fehlt auch hier ein Stück im Text. Am ausführlichsten werden daraufhin Stimmführung und Gestik in der argumentatio, dem nächsten Redeteil, besprochen. Die Argumente sollen dort den Rhythmus des Atems ein wenig verändern (αἱ δὲ πίστεις τοῦ πνεύματος τὸν ῥυθμὸν ὑπαλλαττέτωσαν), d. h. vielleicht dass man jetzt in diesem Redeteil häufiger ein- und ausatmet. Die Enthymeme (die Höhepunkte der πίστεις) sollen die Rede abwechslungsreich393 machen (καὶ τὸ τῶν ἐνθυμημάτων εἶδος ἐπιστρεφῆ ποιείτω τὸν λόγον), also Variation in der Stimme erzeugen, die Haltung des Körpers und der (freien) Hand angespannt sein lassen, (τὸ σχῆμα τοῦ σώματος μετὰ τῆς χειρὸς σύντονον394), also die Gestik mehr einsetzen und auffälliger gestalten (p.196,12– 15). Die weiteren Anweisungen zum Vortrag in der argumentatio (p.196,15–17) sind kaum verständlich, da der Text hier stark korrupt zu sein scheint. Festgehalten werden kann nur, dass sich eine Anweisung auf die Mimik, auf das durchdringende Blicken (wohl des Redners)395 zu den Richtern bezieht. Eine weitere Anweisung befasst sich offenbar mit der Gestik. Nach den allgemeinen Hinweisen zum Vortrag in der argumentatio kommt Kassios Longinos noch auf einen ganz bestimmten Vortragston zu sprechen. Wenn man in der Beweisführung feststelle, dass der Richter an den Argumenten seinen Gefallen findet396 und die Beweisführung für glaubwürdig hält, so treibe die eigene Natur den Redner dazu an, sich zu empören (σχετλιάζειν) und den Gegner niederzuschlagen (καταπλήττειν) (p.196,17–21). Wenn er sich des Vertrauens des Richters sicher ist, so Longin, kann der Redner also deutlicher gegen seinen Gegner vorgehen. Dies geschehe durch den vom Redner künstlich gestalteten Stimmklang, der denjenigen eigentümlich sei, die die Wahrheit gefunden haben (τῷ πεπλασμένῳ τούτῳ φθέγματι οἰκείῳ τῶν εὑρηκότων ὄντι τὴν ἀλήθειαν, p. 196,21–22). Kassios Longinos meint hier eine Stimmführung, die weniger vorsichtig ist als zu Beginn und in der sich die Siegessicherheit 392 Die vom Wortlaut abweichende Auffassung von PATILLON/BRISSON (2001), S. 99, die keinen Textausfall postulieren, es handle sich hier um eine Unterscheidung von Ankläger (θυμουμένος) und Beklagtem (καθισταμένος) ist sehr unwahrscheinlich. 393 Vgl. LSJ, s. v. ἐπιστρεφής II 1. 394 Die Bewegungen des Körpers werden heftig und intensiv, der Körper steht mehr unter Spannung (vgl. den Wortbestandteil τόνος). 395 Sinngemäß beziehen sich die Anweisungen sicher auf den Redner, grammatikalisch nicht. PATILLON/BRISSON (2001) ändern daher das überlieferte τὸν λόγον in p. 196,14 zu τὸν λέγοντα. 396 Hier folge ich wie PATILLON/BRISSON (2001) der Konjektur von Spengel χαίροντα (statt des überlieferten καιρὸν ἄγοντα).

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des Redenden ausdrückt, der die Argumente gefunden und vorgetragen hat, mit denen er den Richter auf seine Seite bringen konnte. Kassios Longinos vergleicht diese Situation und diesen Ton mit dem Bellen von Jagdhunden, die, wenn sie eine Spur gefunden haben, in übermäßiger Freude zeigen, dass das nahe ist, was sie lange gesucht haben, und der Freudenäußerung eines kleinen Kindes, das bekommt, wonach es verlangt (p.196,23–197,1). Dies soll der Redner nicht ohne Sorgfalt beobachten (ταῦτα δὲ μὴ παρέργως βούλου θεωρεῖν), sondern sich, das scheint Kassios Longinos hier vielleicht anzuraten, ein eigenes Repertoire an Beweisen aneignen (p.197,1–4).397 Die folgenden Ausführungen, die ganz sicher dem Schlussteil der Rede gelten, befassen sich v. a. mit dem Mitleid. Um Mitleid stimmlich auszudrücken, sei es nötig, einen Klang zwischen Rede und Gesang zu erzeugen (οἰκτιζόμενον δὲ δεῖ μεταξὺ λόγου τε καὶ ᾠδῆς τὸν ἦχον ποιήσασθαι, p. 197,4–6).398 Die Nähe des Mitleidstones zum Gesang begründet Kassios Longinos mit dem natürlichen Zusammenhang von Gefühlsausdruck und Musik (p.197,6–10). Mitleid reize dazu an, einen Gesang anzustimmen, weshalb auch der Anfang der Musik Freude und Trauer seien (ἀναπείθει γὰρ οἶκτος ἐξᾴδειν, ὅθεν ἀρχαὶ μουσικῆς χαρμονή τε καὶ λύπη),399 wobei der Ton immer abhängig von der Abwechslung im Stil, also angepasst an die Formulierung, erregt werde (τοῦ φθέγματος ἐπεγειρομένου πρὸς τὴν μεταβολὴν τῆς λέξεως), und nicht dem Gesang ähnele, sondern zwischen beiden liege.400 Schnelligkeit (δρόμος) sei im Epilog nur angebracht, wenn man nicht Mitleid, sondern Zorn (τὸ θυμοειδές) erregen wolle (p.197,10–12). Mehr als diese Anweisungen, aus denen man sich den Rest kreativ (ποιητικός) herleiten könne, sei nicht nötig. Mit ihnen komme der Schüler, der beabsichtigt, ein vollkommener Redner (τέλειος ῥήτωρ) zu werden, aus (p.197,13–18).

397 Genaueres lässt sich über diesen schwierigen Satz, der auch in der Übersetzung von PATILLON/BRISSON (2001) unverständlich bleibt, nicht sagen. Sonderbar ist v. a., dass die πίστεις offenbar erworben (πεπορισμένον) werden und nicht vielmehr »wirken«, wie man wohl erwarten dürfte. 398 Zur Verbindung von Mitleid/Klage und Gesang/Tonhöhenvariation vgl. Theophrast (nach dem Zeugnis von Plut. mor. 623A-B, siehe Kapitel 3.1.4), Cic. de orat. 3,217, Quint. inst. 11,3,64 ([vox] miseratione flexa et flebilis). Zum Gesang im Epilog siehe z. B. Cic. orat. 58, Quint. inst. 11,3,58. 399 Ähnlich sagt Theophrast (vgl. Plut. mor. 623A-C) im Zusammenhang mit der Musik, dass Emotionen die Stimme von ihrer üblichen Gestaltung ablenken. Vgl. Kapitel 3.1.4. 400 Vgl. dazu Quint. inst. 1,8,2 über das übermäßige Modulieren zwischen echter Lektüre und Gesang (Kapitel 2.4.1).

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In Kassios Longinos’ Ausführungen zum Vortrag fließen mehrere Traditionsstränge zusammen, die der Rhetor und Philosoph kombiniert, durch eigene Ideen ergänzt (z. B. p. 196,16–197,1) und in ein Konzept des rhetorischen Vortrags bringt, das sich durch eine theoretische Grundlegung, auf der praktische Anweisungen für den Redner aufbauen, auszeichnet. Kassios Longinos ist der erste und einzige Grieche, der (sicher unter Einfluss der Römer) konkrete Vorschriften zum Vortrag gibt, die leider aufgrund der schlechten Textüberlieferung nicht alle genau zu verstehen sind. Er stellt wie Aristoteles (bzw. die Theoretiker des schauspielerischen Vortrags, die Aristoteles referiert) und Theophrast die Affekte ins Zentrum seiner Theorie der Stimme und der Gestik. Sie werden, ähnlich wie bei Dionysios von Halikarnassos (Dem. 54) und Cicero (de orat. 3,215–216), nach dem Vorbild der natürlichen Affekte künstlich hergestellt. Dieses Mittel analysiert Kassios Longinos als Mittel der Täuschung, lehnt es aber deswegen nicht ab. Es zielt vielmehr wie der Einsatz von Stimme und Körper insgesamt auf die Überredung des Zuhörers.

3.3.2 Die Rhetores Latini Minores: Fortunatian, Iulius Victor, Alkuin

Bei den Rhetores Latini Minores erfährt die Stimme des Redners gar keine oder keine ausführliche Behandlung mehr. Sie wird aber häufiger als Bestandteil der pronuntiatio erwähnt, deren Bedeutung auch hervorgehoben wird.401 Dabei zeigt sich v. a. der Einfluss der ciceronischen Definition der pronuntiatio in inv. 1,9 (pronuntiatio est ex rerum et verborum dignitate vocis et corporis moderatio)402, die zitiert, variiert und manchmal auch kurz erläutert wird.403 Die längste Abhandlung zum Vortrag stammt von Fortunatian, der (wohl) im 4. Jh. drei Bücher einer ars rhetorica als Katechismus in Form von Frage und Antwort für die Rhetorenschule verfasst und dabei verschiedene (lateinische und griechische) Quellen, v. a. Quintilian und Cicero, 401 Siehe z. B. Aug. rhet. 1 p. 137,20–21 über die pronuntiatio: res, ut Demostheni videtur, inter oratoria officia vel prima vel sola, quae consistit duobus, motu corporis et sono vocis. Vgl. Sulp. Vict. rhet. 16 p. 321,15–27. 402 Vgl. die Definition der pronuntiatio in Rhet. Her. 1,2,3: vocis, vultus, gestus moderatio cum venustate. 403 Siehe Cassiod. rhet. 2 p. 495,20–21: pronuntiatio est ex rerum et verborum dignitate vocis et corporis decora moderatio. Vgl. Mart. Cap. 5,442 über die pronuntiatio: vocis, motus gestusque pro rerum verborumque dignitate moderatio. Alb. disp. p. 526,28–2 (RLM): pronuntiatio est ex rerum et verborum dignitate vocis et corporis moderatio. Siehe auch Laur. Victor. expl. p. 178,8–12 (RLM) mit kurzem Kommentar zur Übereinstimmung von Inhalt und Darstellungsweise im Vortrag. Grill. rhet. p. 599,10–14 interessiert sich nur für die Gestik.

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exzerpiert und kompiliert hat.404 Die Bücher 1 und 2 beschäftigen sich mit der inventio, in Buch 3 werden die restlichen vier officia oratoris behandelt, der Vortrag dort in den Kapiteln 15–23. Als Ziel der pronuntiatio nennt er, im Anschluss an Quintilian,405 drei Aufgaben des Redners, die am Ablauf der Rede orientiert sind: ut conciliemus, persuadeamus, moveamus (rhet. 3,15 p. 130,6). Der Vortrag soll also die Zuhörer geneigt machen, sie überzeugen und sie (affektisch) bewegen. Dadurch ergebe sich auch, dass er erfreut (delectatio). Fortunatian gliedert sein Kapitel über den Vortrag entsprechend dessen vier Teilen in vox (rhet. 3,15–20 p. 130,10–133,2), vultus (rhet. 3,21 p. 133,3–20), gestus (rhet. 3,22 p. 133,22–134,7) und cultus (rhet. 3,23 p. 134,8–19).406 Zunächst gibt er allgemeine Hinweise zur Stimme, die eng an Quintilian angelehnt sind. Die Stimme beruhe auf (constat) ihrer natürlichen Voraussetzung (natura) und der Geschicklichkeit (scientia)407 im Umgang mit ihr (rhet. 3,15 p. 130,10). Zur natürlichen Voraussetzung gehöre die Art der Stimme (qualem habeas) in Hinblick auf Lautstärke und Tonhöhe (quantitas)408 und ihre Klangfarbe (qualitas) (rhet. 3,15 p. 130,11– 12). Zur Geschicklichkeit der Stimme gehöre ihr Gebrauch, ihr konkreter Einsatz (quo modo ea utaris) (rhet. 3,15 p. 130,13). Dann setzt Fortunatian neu an. Die jetzt folgenden ausführlichen Erläuterungen zur Stimme sind ähnlich wie bei Quintilian zweigeteilt in Fragen der diligentia et cura vocis, der Stimmpflege (rhet. 3,15–18 p. 130,14– 131,29)409, und die ratio pronuntiationis, den eigentlich rhetorischen Teil der Stimme (rhet. 3,19–20 p. 132,1–133,2), der im Folgenden besprochen werden soll. Fortunatian überträgt dort wie Quintilian die ratio elocutionis, d. h. die virtutes dicendi, auf die pronuntiatio, bestimmt die einzelnen Tugenden aber etwas anders. Zunächst werden die Tugenden allgemein definiert (p.132,1–7). Eine pronuntiatio sei fehlerfrei (emendata), wenn sie keinen Fehler aufweise (vitio carere). Soweit stimmt Fortunatian mit Quintilian (inst. 11,3,30) überein. Die Deutlichkeit bezieht Fortunatian aber ganz anders als Quintilian überraschenderweise auf die Tonhöhe. Deutlich (dilu404 Vgl. MÜNSCHER (1912), Sp. 44 f. Eine ausführliche Einleitung zu Fortunatians ars rhetorica bietet CALBOLI MONTEFUSCO (1979), S. 3–60. 405 Vgl. (mit Kapitel 3.2.5) Quint. inst. 11,3,154: Tria autem praestare debet pronuntiatio: conciliet, persuadeat, moveat, quibus natura cohaeret, ut etiam delectet. 406 Zu den drei Teilen der pronuntiatio, die sonst in der Antike besprochen werden, Stimme, Mimik (die unter der Gestik subsumiert werden kann) und Gestik, fügt Fortunatian noch cultus sive habitus (p.130,9), das korrekte Tragen der Kleidung, das Quintilian in inst. 11,3,137–149 behandelt. 407 Gemeint ist der konkrete Einsatz der Stimme, der bei Quintilian quo modo (sc. voce) utaris (inst. 11,3,14) bzw. utendi voce ratio (inst. 11,3,17) heißt. 408 Zur quantitas und qualitas der Stimme vgl. Quint. inst. 11,3,14–15 (in Kapitel 4.2.1). 409 Dieser Abschnitt zu cura und diligentia behandelt medizinische Fragen der Stimme und wird daher in Kapitel 2.2.1 besprochen.

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cida) werde der Vortrag nämlich, wenn die Stimmlage die mittlere sei (sonus vocis medius), nicht zu tief und nicht zu hoch.410 Schmuckvoll (ornata) sei der Vortrag dann, wenn er männlich (virilis) sei. Am wichtigsten ist Fortunatian der angemessene Vortrag (apta pronuntiatio), den er als einzige Tugend ausführlicher behandelt. Quintilian (inst. 11,3,61–65) versteht unter der apta pronuntiatio den Vortrag, der an die Dinge, über die wir sprechen, angepasst ist. V. a. die Anpassung der Stimme an die Affekte macht für ihn die Angemessenheit des mündlichen Vortrags aus. Für Fortunatian wird der Vortrag angemessen, wenn man Eintönigkeit (monotonia) meidet, d. h. wenn man einen abwechslungsreichen Vortrag (varia pronuntiatio) wählt, was bei Quintilian zum schmuckvollen Vortrag (ornata pronuntiatio) zählt (inst. 11,3,43.45–46). Dies erreiche man, indem man den Vortrag gemäß der Eigenschaft der behandelten Sachen (pro qualitate rerum411) gestalte. Im nächsten Abschnitt (p.132,8–12) erklärt Fortunatian, welche vier Aspekte an einer Sache jeweils beachtet werden müssen.412 Fortunatian übernimmt auch sie von Quintilian (inst. 11,3,151–152). Das erste, was beachtet werden muss, beziehe sich auf den gesamten Fall (in tota causa). Dabei seien auch die Redegattungen (genera dicendi) zu beachten, ob man also eine Gerichtsrede, eine politische Rede oder eine epideiktische Rede halte. Zweitens müsse man den Vortrag je nach Redeteilen (partes orationis) unterschiedlich gestalten. Drittens müsse man passend zu den Gedanken (sensus) vortragen und viertens müsse der Vortrag den Wörtern (verba) angepasst werden. Zu diesen vier Elementen kämen noch drei weitere,413 die beim Vortrag beachtet werden müssen, nämlich die beteiligten Personen sowie Ort und Zeit, zu der man vorträgt. Der Rest des Kapitels zur vox gilt der Erläuterung dieser insgesamt sieben Elemente, an die sich die Stimme anpassen muss, um eine apta pronuntiatio zu erreichen (p.132,13–133,2). Zum ersten Punkt, zur Anpassung des Vortrags an den gesamten Fall (tota causa)414 und die jeweilige Redegattung, 410 Dass hier in erster Linie an die Tonhöhe gedacht ist, zeigt die Parallelstelle bei Quintilian (inst. 11,3,41–42, im Rahmen der ornata pronuntiatio, vgl. Kapitel 4.2.3), Fortunatians Hauptquelle. 411 Der Zusatz id est negotiorum (»d. h. der jeweiligen Angelegenheiten«) trägt wenig zur Klärung bei. Fortunatian erläutert aber im Folgenden, was er unter den res bzw. den negotia versteht. 412 Zu dieser Bedeutung von observatio (Fortunatian übernimmt den Begriff aus inst. 11,3,151) vgl. den Kommentar zu Quint. inst. 11,3,14 in Kapitel 4.2.1. 413 Diese drei weiteren Elemente trägt Fortunatian den vier zuerst genannten nach, da er zunächst von Quint. inst. 11,3,151–152 ausgegangen ist, wo nur die vier ersten genannt werden. 414 Auch Quintilian (inst. 11,3,153) hatte sich in seinen Ausführungen über den Fall als ganzen sehr kurz gehalten.

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werden nur im Zusammenhang mit dem Redeanfang Vorschriften gegeben. Fortunatian geht also gleich zur Erläuterung der Redeteile über (p.132,13– 19).415 Den Anfang der Rede (principia) trage man passend vor, wenn man sorgfältig die Art des Falles, die Fortunatian hier qualitas schematum, id est figurarum nennt, beachtet habe. Damit meint er fünf verschiedene Ausgangslagen des Falles (endoxos, amphidoxos, paradoxos, adoxos, dysparacoluthetos). Bei seiner Besprechung des Redeanfangs in Buch 2 hat Fortunatian diese (dort: figurae materiarum) eingeführt und ins Lateinische übersetzt.416 Je nach Ausgangslage soll der Redeanfang unterschiedlich vorgetragen werden. Mehr dazu erfahren wir nicht. Die narratio werde passend vorgetragen, wenn man alle ihre Unterarten (species) sorgfältig beachtet habe. Auch hier muss der Leser Fortunatians frühere Ausführungen zu diesem Redeteil kennen (rhet. 2,19 p. 112,5–19), wo er acht verschiedene species der narratio unterscheidet, die jeweils unterschiedliche Inhalte und Ziele haben.417 Die partitio solle schnell und einfach vorgetragen werden (expedite ac simpliciter). Die argumentatio solle abwechslungsreich (varie), lebendig (agiliter), energisch (acriter), kämpferisch (pugnanter) und drängend (instanter) vorgetragen werden. Der Schluss (epilogus) werde passend vorgetragen, wenn man dessen einzelne Teile (partes) genau kennengelernt habe. Damit meint Fortunatian, wie ein Blick auf seine Ausführungen zum Epilog (rhet. 2,31 p. 119,31–33) zeigt, die Aufzählung bzw. Zusammenfassung des Gesagten (recapitulatio, enumeratio), die Empörung über den Gegner (indignatio) und die Erregung von Mitleid (miseratio).

415 Vorbild für diese Passage ist Quint. inst. 11,3,161–174. 416 Vgl. rhet. 2,13 p. 108,30–109,10: Von der Ausgangslage des Falles hängt die Funktion des Redebeginns ab. Demnach wird bei den Ausgangslagen endoxos (figura honesta), amphidoxos (figura anceps) und paradoxos (figura admirabilis) der Zuhörer wohlwollend (benevolus) gestimmt, bei der Ausgangslage adoxos (figura humilis) wird er aufmerksam (adtentus) gemacht und bei der dysparacoluthetos (figura obscura) empfänglich (docilis). Diese von Fortunatian figurae materiarum genannten Ausgangslagen des Falles heißen beim Auctor ad Herennium (Rhet. Her. 1,3,5), bei Cicero (inv. 1,20) und bei Quintilian (inst. 4,1,40) genera causarum. Siehe dazu CALBOLI MONTEFUSCO (1979), S. 366–368. 417 Fortunatian unterscheidet in rhet. 2,19 diegesis (die eigentliche Erzählung), antidiegesis (eine Erzählung, die der gegnerischen widerspricht), merice diegesis (eine Erzählung mit einzelnen Teilen, partes singulae), paradiegesis (eine Erzählung, bei der Taten, die außerhalb des Falls liegen, angeführt werden), hypodiegesis (eine Erzählung, bei der man den strittigen Punkt [quaestio] auf erzählende Art und Weise beweist), catadiegesis (eine Erzählung, in der der gesamte Sachverhalt enthalten ist, auf dem die Streitpunkte beruhen, bei deren Ausführung die gesamte Rede erzählend ist), epidiegesis (eine Erzählung außerhalb der narratio, die die in der narratio angedeuteten Taten weiter ausführt) und diasceua (eine Erzählung, die weniger über die Taten berichtet, als sie zu übertreiben). Zur Einteilung der narratio in mehrere species in der Rhetorik siehe CALBOLI MONTEFUSCO (1979), S. 380 f.

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Die Gedanken (sensus), der Inhalt der Rede, würden passend vorgetragen, wenn man auch die Topoi (loci communes) betrachte, die man verwendet, dahingehend, ob sie zum Angriff (invectivi) oder zur Verteidigung (defensionales) dienen, ob sie beschreibend (descriptivi) sind, also in ihrer Darstellung neutral, oder zur Steigerung (auctivi)418 oder Herabsetzung von etwas (minutivi) eingesetzt werden, zudem wenn man auf die figurae schematum achte, worunter wohl die oben erwähnten (p.132,13–14) Ausgangslagen des Falls zu verstehen sind (p.132,20–22). Auch die Anpassung des Vortrags an die Wörter sei nötig, da, so wie man den Sachverhalt (res) in Gedanken (sensus) ausdrücke, man die Gedanken wiederum in Wörtern (verba) ausdrücke.419 Man passe aber den Vortrag nicht allen, sondern nur den notwendigen Wörtern an (p.132,23–26).420 Auch die Eigenschaft der beteiligten Personen müsse man beachten. Man müsse wissen, wer vor Gericht vorträgt (Anwalt), vor wem (Richter), für wen (Mandant), gegen wen (Gegner), wer anwesend ist (Zuhörer) und wer auf der gegnerischen Seite ist, sowie wer der eigenen Seite gewogen ist (p.132,27–29).421 Zudem müsse man wissen, wo man vorträgt und wann man vortragen muss, damit man nichts sagt, was nicht zum Zeitpunkt passt (p.133,1–2). Fortunatians Anweisungen für den stimmlichen Vortrag des Redners bleiben insgesamt recht allgemein, schematisch und skizzenhaft. Dabei steht kaum sein eigenes, wissenschaftliches Interesse im Vordergrund, sondern vielmehr der Schüler der Rhetorenschule, dem er einen Überblick über den Vortrag vermitteln möchte. Im Zentrum seines an Quintilian angelehnten Systems der ratio pronuntiationis steht der angemessene Vortrag (apta pronuntiatio). Fortunatian legt dabei v. a. die partes orationis als Ordnungssystem zugrunde. Seine Grundidee scheint zu sein, dass man automatisch dann passend vorträgt, wenn man die Theorien der einzelnen Redeteile, v. a. ihre Funktionen und ihre Teile, genau kennt. So muss man auch, um Fortunatians Erläuterungen zur Vortragsart zu verstehen, gleichzeitig seine Ausführungen zu den jeweiligen Redeteilen kennen. Mit den anderen Kategorien erfasst Fortunatian die Rede als ganze aus Sicht des Inhalts (sensus) 418 Ich folge hier dem Text von CALBOLI MONTEFUSCO (1979) und der handschriftlichen Überlieferung nach der Handschrift P (in anderen Handschriften gibt es die weniger passende Variante activi, was wohl »Topoi, die etwas bewirken, im Unterschied zum reinen Beschreiben« heißen soll), nicht aber der Konjektur von Halm, der beide Varianten in den Text aufnimmt (descriptivi an activi, auctivi an minutivi). 419 Anstelle der in der Rhetorik üblichen Zweiteilung in res und verba liegt hier eine Dreiteilung in Wort, Bezeichnetes und Gegenstand vor, ähnlich der Dreiteilung der stoischen Sprachphilosophie in τὸ σημαῖνον (das Bezeichnende), σημαινόμενον bzw. λεκτόν (das Bezeichnete, die Bedeutung) und den Gegenstand, der bezeichnet wird (vgl. STEINMETZ [1994], S. 533). 420 Vgl. Quint. inst. 11,3,174. 421 Vgl. Quint. inst. 11,3,150.

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und der Formulierung (verba) sowie die gesamten Umstände der Rede (personae, loci, tempus). Ebenfalls im 4. Jh. schreibt C. Iulius Victor eine ars rhetorica von stark kompilatorischem Charakter.422 Er beginnt sein Kapitel zur pronuntiatio (rhet. 24 p. 440,30–443,19) mit der Definition aus Cic. inv. 1,9 (pronuntiatio est ex rerum et verborum dignitate vocis et corporis moderatio) und der Hochschätzung des Vortrags durch Demosthenes und durch Cicero (p.440,31– 441,3). Daraufhin nennt er die einzelnen Bestandteile des Vortrags, nämlich vox, species, totum corpus und ipsa lingua. Deren Bewegungen (motus), also die Stimmbewegung bzw. -variation, die Veränderung der Mimik, die Gestaltung des Körpers und die Artikulation mit der Zunge, sollen geübt werden, da sie nicht so sehr in den Kunstbereich (ars) als vielmehr in den der Anstrengung (labor) fielen (p.441,3–5). Iulius Victor beginnt seine Anweisungen zur pronuntiatio mit den Fehlern der Aussprache (vitia oris423) (p.441,5–12). Diese Anweisungen sind (wie häufig bei Iulius Victor) fast wörtlich aus Quintilian (inst. 1,11,4–6-8) und Cicero (de orat. 3,41) übernommen. Nachdem diese grundlegenden Anforderungen an den mündlichen Vortrag behandelt wurden, befasst er sich mit dem Stimmklang, mit dem sonus vocis (p.441,12–442,14). Zunächst werden allgemeine Anweisungen erteilt (p.441,12–16), die sich sehr eng an Cic. de orat. 3,45 anlehnen: Der Ton der Stimme soll unmoduliert (rectus)424 und einfach (simplex) sein und nichts von Zurschaustellung (ostentatio) und Nachahmung (imitatio) haben. Man soll nicht rau (aspere), ungeschlacht (vaste)425, abgehackt (hiulce) vortragen, sondern gut artikuliert (pressim)426, gleichmäßig (aequaliter) und sanft (leniter). Die Rede soll nicht bäuerlich (rustice), abgehackt (praefracte)427 und laut (cum clamore) hervorbrechen, aber auch nicht pausenlos (perpetuo) und einförmig (uniformiter) vorgetragen werden. Damit leitet Iulius Victor zu seiner nächsten Anweisung zum sonus vocis über, der Forderung nach Abwechslung (p.441,16–26). Ähnlich wie Fortunatian (rhet. 3,19 p. 132,8–12) verlangt Iulius Victor, den Vortrag der Rede gemäß Orten, Sachverhalten, Personen, Fällen und Zeiten (pro locis, pro rebus, pro personis, pro causis, pro temporibus) abzuwechseln (variare).428 Auch er stellt eine Verbindung zum Stil, zur sprachlichen Ausformulierung 422 423 424 425 426 427 428

Vgl. RADERMACHER (1917), Sp. 872. Zu os in der Bedeutung »Aussprache« vgl. Quint. inst. 11,3,30. Vgl. die vox recta in Quint. inst. 11,3,64. Zu vastus vgl. Quint. inst. 11,3,32, s. v. rava. Cicero hat an dieser Stelle in de orat. 3,45 (und auch in off.1,133) presse. Vgl. ThlL, s. v. praefracte S. 655,48 ff. Er selbst beruft sich hier laut HALM (1863), S. 441 auf Cicero (wohl de orat. 2,17).

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Die Stimme in der antiken rhetorischen Theorie und Praxis

(elocutio) her. Die Abwechslung, die man dort gelernt (und angewendet) hat, soll sich auch im Vortrag ausdrücken. Ähnlich wie der Auctor ad Herennium und auch wie Dionysios von Halikarnassos nennt Iulius Victor einige Redetöne, die zur Abwechslung beitragen und die je nach Redesituation angewendet werden sollen. Zunächst orientiert auch er sich an den partes orationis. Erzählen müsse man in einfachem Ton (simplicitas), überzeugen im Ton des Ansehens (auctoritas), zum Zorn passe der leidenschaftlich entflammte Ton (inflammatio), die Tonhöhenvariation (flexus) passe zur Erregung von Mitleid (miseratio) und zu einem Bittenden (rogans)429, also v. a. zum Schluss der Rede.430 In einer nicht-öffentlichen Anhörung vor einem Hilfsrichter, der weniger wichtige Angelegenheiten entscheidet, (apud pedaneum431 iudicem privata cognitio) müsse man zum Alltagston (sermocinatio) übergehen. Die pronuntiatio müsse zudem zu der Art der behandelten Frage (quaestio) passen. Großen Wert legt Iulius Victor bei der pronuntiatio auch auf die imitatio, wobei er – als erster Rhetor – besonders ein lebendes Vorbild (vivum exemplum) empfiehlt. Neben Rednern kommen hierfür bis zu einem gewissen Grad auch Schauspieler in Betracht (p.441,26–32). In der Rede selbst dürfe der Redner aber beim Nachahmen anderer nicht zu weit bzw. so weit wie die Schauspieler gehen.432 Weder die hohe, dünne Frauenstimme (tenuitas femineae vocis), noch das Zittern der Greisenstimme (seniliter tremere) noch die Trunkenheit (ebrietas) samt dem Torkeln (vacillatio) dürften mit der Stimme nachgeahmt werden,433 da es beim Vortrag des Redners schließlich darauf ankomme, nicht zu künstlich zu wirken (p.441,32–35).434 Bei der darauf folgenden, aus Quintilian (inst. 1,11,8) übernommenen Forderung, laute Ausrufe unter Kraft des gesamten Körpers und nicht nur des Kopfes zu erzeugen sowie, die Gestik an die Stimme anzupassen und die Mimik an die Gestik (p.441,35–37), geht es Iulius Victor wohl noch immer um die Natürlichkeit des Sprechens. Dieser Gedanke führt ihn auch 429 Inhaltlich orientiert sich Iulius Victor hier an Quint. inst. 1,11,12: debet etiam docere comoedus, quomodo narrandum, qua sit auctoritate suadendum, qua concitatione consurgat ira, qui flexus deceat miserationem. 430 Rätselhaft bleibt die Hinzufügung an dieser Stelle: et hoc † acceperis propter quam maximas vel panegyricas dictiones. Offenbar erinnert der modulierende Ton des Bittenden Iulius Victor an den Vortragston panegyrischer Reden. 431 Das Wort pedaneus ist ab dem 3. Jh. n. Chr. gebräuchlich. pedaneus iudex bezeichnet u. a. einen Richter von niedrigem Rang (vgl. ThlL, s. v. pedaneus S. 962,43 ff.). 432 Vgl. Rhet. Her. 3,14,24 in Kapitel 4.1.3. 433 Hier orientiert sich Iulius Victor an Quint. inst. 1,11,1–2. Vgl. die modulatio scaenica bei Quint. inst. 11,3,57 (Kapitel 4.2.3). 434 Zu diesem allgemeinen rhetorischen Prinzip der dissimulatio artis vgl. NEUMEISTER (1964), S. 130–155, der sich allerdings v. a. auf die dissimulatio artis im Rahmen der elocutio bezieht.

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zu den Ausführungen zur Stimmpflege, die fast wörtlich mit Quintilian (inst. 11,3,28–29) übereinstimmen (p.441,35–442,9). Auch die Erläuterungen zu den Extremen der Stimme und der mittleren Tonlage (p.442,9–14), die sich unverbunden anfügen, werden – hier etwas freier – aus Quintilian (inst. 11,3,41–42) übernommen. Nach den Anweisungen zu Mimik und Gestik (p.442,14–443,5) kommt Iulius Victor noch einmal auf die Stimme zurück und wendet sich abschließend dem Fehler des Singens zu, den er wohl für den schlimmsten Fehler hält und den er assoziativ an seine vorangehenden Ausführungen zu Cicero und Gracchus anfügt (p.443,5–19). Hier werden die Meinungen Quintilians (inst. 11,3,57–59) und Ciceros (orat. 57) zum cantus obscurior wiedergegeben. Iulius Victor verlangt eine männliche und unmodulierte Aussprache (virilis et recta pronuntiatio), gewissermaßen eine (nur leichte) Tonhöhenvariation im Verborgenen (obscurus quidam flexus), lehnt den melodischen Gesang (modulata cantatio) aber ab. Iulius Victors Ausführungen zum rhetorischen Vortrag sind stärker als alle anderen, die überliefert sind, von seinen Quellen, v. a. Quintilian (insbesondere inst. 1,11 und 11,3) und Cicero, abhängig. Sein Gedankengang wirkt oft assoziativ. Mit Bezug auf die Stimme interessieren ihn v. a. die richtige Aussprache, Abwechslung des Vortrags, imitatio von Rednern und Schauspielern, Stimmschonung und Stimmpflege, richtige Tonhöhe und die Gesangsartigkeit des Vortrags (cantus obscurior). Iulius Victors Rhetorik hat rund 400 Jahre später auf Alkuin (bzw. Albinus), den großen Gelehrten am Hof Karls des Großen, erheblichen Einfluss ausgeübt.435 Alkuin stützt sich zudem auf Cicero (v. a. De inventione) und offenbar auch auf Quintilian.436 Er inszeniert seine Disputatio de rhetorica et de virtutibus sapientissimi regis Karli et Albini magistri als ein LehrerSchüler-Gespräch zwischen sich selbst und Karl dem Großen, in dem er auf Bitten Karls den Herrscher v. a. über die Rhetorik (Alb. disp. p. 525,10– 547,40), am Ende aber auch kurz über die Tugenden (p.547,40–550,41), v. a. prudentia, iustitia, fortitudo und temperantia, unterrichtet.437 Karl erwünscht sich v. a. Ratschläge für die Rhetorik, die sich mit den Rechtsfragen der Bürger befasst (civiles quaestiones),438 also für die politische und auch gerichtliche Rhetorik (p.525,10–13). Dementsprechend definiert Alkuin wie Quintilian (inst. 2,15,38), dem Kaiser als Adressaten angemessen, die Rhetorik als bene dicendi scientia (p.526,12), die sich v. a. mit den 435 Zu Alkuins Disputatio insgesamt vgl. die Einleitung von HOWELL (1941), S. 3–63. 436 Zu Alkuins Kenntnis Quintilians vgl. LEHMANN (1934), S. 353. 437 Verwendet wurde der Text von HALM (1863). 438 Hier folgt Alkuin wohl Cicero (inv. 1,6), der die Rhetorik als einen Teil der politischen Wissenschaft (civilis scientia) definiert. Die πολιτικὰ ζητήματα hatte Hermagoras als Materie der Rhetorik definiert. Vgl. MATTHES (1958), S. 122.

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Die Stimme in der antiken rhetorischen Theorie und Praxis

Angelegenheiten der Bürger, des öffentlichen Lebens (res civiles) befasst (p.526,12–13). Als Gliederungsschema für seine Ausführungen zur Rhetorik dienen Alkuin die quinque partes der Rhetorik (p.526,23–24) inventio (p.526,24–544,1), dispositio (p.544,1–12), elocutio (p.544,13–545,35), memoria (p.545,35–546,8) und pronuntiatio (p.546,9- 547,2), die er der Reihe nach bespricht. Der Abschnitt zur pronuntiatio ist sehr eng an Iulius Victor orientiert.439 Nach Definition im Anschluss an Iul. Vict. rhet. 24 p. 440,31–32 und Cic. inv. 1,9 (p.546,11–13)440 und Betonung der Wertschätzung des Vortrags durch Cicero (p.546,13–18) folgt die Einteilung in den kontrollierten Einsatz von Stimme und Atem (vocis et spiritus moderatio441) sowie die Bewegung von Körper und Zunge (corporis et linguae motus).442 Dies falle weniger in den Bereich der Kunst (ars) als in den des Fleißes und der Anstrengung (labor) (p.546,18–19).443 Dann folgen die Erläuterungen zur Stimme (p.546,19–31) und zu Mimik und Gestik (p.546,31–547,2). Mit Bezug auf die Stimme sind Alkuin v. a. zwei Dinge wichtig: Aussprachefehler (vitia oris, p. 546,19–25) und Abwechslung im Vortrag (p.546,25–31). Aussprachefehler müssten, sofern vorhanden, mit großer Sorgfalt (diligens cura) beseitigt werden. Die genannten Aussprachefehler sind ungefähr die gleichen wie bei Iulius Victor (p.441,5–16). Auffällig und bezeichnend für die Probleme seiner Zeit mit dem Lateinischen ist allerdings die Hinzufügung Alkuins, dass jedes Wort auch mit der richtigen Betonung geschmückt werden solle (unumquodque verbum legitimo accentu decoretur, p. 546,24– 25). Dann kommt Alkuin auf die im eigentlichen Sinne rhetorische Seite der Stimme zu sprechen. Er verlangt v. a. Abwechslung, angepasst an Redeumstände und Redeteile.444 Man dürfe nicht unmäßig laut sprechen (immoderato clamore vociferari) und die Rede (oratio) solle nicht, um der Zurschaustellung willen (ostentationis causa), zu stark »gebrochen« werden (frangi), 439 Alle Parallelstellen zu Iulius Victor, Cicero und Quintilian listet HOWELL (1941), S. 168 auf. 440 Die Stelle, an der Alkuin die pronuntiatio definiert, ist zwar korrupt (Pronuntiatio est † verborum dignitas vocis sensibus accommodatio et corporis moderatio). Der deutliche Einfluss von Iulius Victor und Cicero ist aber dennoch erkennbar. Halm schlägt vor: Pronuntiatio est ex rerum et verborum dignitate vocis sensibus accomodatio et corporis moderatio. 441 Zu moderatio in dieser Bedeutung vgl. den Kommentar zu Rhet. Her. 3,11,20 in Kapitel 4.1.3. 442 Diese Einteilung Alkuins, bei der moderatio und motus auf einer Ebene stehen und ebenfalls die von ihnen abhängige Genitive vocis, spiritus, corporis und linguae ist sonderbar. Während der erste Ausdruck sich ganz auf die Stimme bezieht, beschreibt der zweite teils die Gestik (corporis motus), teils die Stimme bzw. Sprache (linguae motus). 443 Vgl. Iul. Vict. rhet. 24 p. 441,5. 444 Vgl. Iul. Vict. rhet. 24 p. 441,16–21.

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d. h. v. a. nicht zu stark moduliert werden und von der natürlichen Sprechweise abweichen.445 Vielmehr müsse die Rede sich jeweils nach ihren Umständen richten, nach Ort, Inhalt, Personen, den Sachverhalten und Zeiten (loci, res, personae, causae, tempores). Dies erläutert Alkuin im Folgenden wie Iulius Victor an einzelnen Redetönen. Man müsse im einfachen Ton (simplicitas) erzählen (narrare), im Ton des Ansehens (auctoritas) raten (suadere), manches im Ton der Empörung (indignatio) äußern (depromere446)447 und anderes im Mitleidston (miseratio) in der Tonhöhe variieren (flectere), so dass dabei jeweils die Stimme und die Rede (vox et oratio) mit dem ihnen zugrunde liegenden Sachverhalt (sua causa) übereinstimmen. Wenn Karl diese Vorschriften einhalte, erhalte er Ansehen (honestas) und die Sache, die er vertritt, Glaubwürdigkeit (fides).

445 Was hier mit frangi gemeint ist, zeigt der Vergleich mit den beiden Quellen Iul. Vict. rhet. 24 p. 441,12–13 und Cic. de orat. 3,45. Iulius Victor (s. o.) und Cicero (vgl. Kapitel 3.2.2) fordern einen Ton, der rectus ist (also nicht gebrochen), d. h. konstant und ohne übertriebene Variation, und simplex, d. h. auf natürliche Weise einfach, ungekünstelt. 446 depromere ist hier wohl mit der Bedeutung »darlegen« synonym zu demonstrare oder exponere (vgl. ThlL, s. v. depromo S. 616,27 ff.) zu verstehen. 447 In der Empfehlung des Empörungstons (wohl für den Schluss der Rede) liegt hier der einzige Unterschied zu Iulius Victor, der stattdessen zum Ton des Zornes geraten hatte (rhet. 24 p. 441,20).

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Exkurs 3: Begriffe für Lautstärke und Tonhöhe (der Stimme)

Bei seiner Grundeinteilung der Stimmen (voces) in De oratore (3,216) unterscheidet Crassus begrifflich ganz klar zwischen Höhe (acuta gravis), Tempo (cita tarda) und Lautstärke (magna parva).1 Ähnlich wie in manchen modernen romanischen Sprachen (z. B. ital. alto und basso, span. alto und bajo, frz. haut und bas) ist aber auch bei einigen lateinischen (und griechischen) Begriffen, die zur Beschreibung der Stimme oder von Tönen allgemein verwendet werden, häufig nur schwer zu entscheiden ist, ob sie sich auf Lautstärke oder Tonhöhe beziehen.2 Im Folgenden soll gezeigt werden, dass dieses Phänomen nicht die Folge einer unpräzisen Terminologie oder einer bewussten Doppeldeutigkeit ist. Vielmehr dürfte der enge Zusammenhang von Lautstärke und Tonhöhe, wie er sich in den Theorien der Ton- bzw. Stimmerzeugung darstellt (vgl. Kapitel 2.1), mitverantwortlich sein für eine Begrifflichkeit, die teilweise zwischen Lautstärke und Tonhöhe gar nicht immer unterscheiden kann bzw. will. Die hier besprochenen Begriffe sind ausgehend von ihrer jeweiligen Hauptbedeutung nach Wortfeldern geordnet. Die Sammlung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Zusammengestellt wurden die häufigsten Begriffe für Lautstärke und Tonhöhe, die v. a. zur Beschreibung der Stimme (und v. a. in rhetorischem Zusammenhang) verwendet werden. Für ausführlichere Erläuterungen zu den einzelnen Begriffen wird im Folgenden häufig auf die entsprechenden Passagen in den Stellenkommentaren zur Rhetorica ad Herennium (Kapitel 4.1) und zur Institutio oratoria (Kapitel 4.2) verwiesen. Nicht aufgenommen sind Begriffe, die zwar der Sache nach auch eine bestimmte Lautstärke oder Tonhöhe implizieren, diese aber nicht in erster Linie bezeichnen, wie bspw. plenus. Mittels der Indices lassen sich die Erläuterungen zu solchen Begriffen in anderen Kapiteln dieser Arbeit aber leicht auffinden.

1 Vgl. Kapitel 3.2.2. 2 Eine Untersuchung über das Verhältnis von Stärke und Höhe des Tons in der Antike gibt es bislang nicht.

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Der Zusammenhang von Lautstärke und Tonhöhe

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1. Der Zusammenhang von Lautstärke und Tonhöhe bei der Stimmerzeugung Lautstärke und Tonhöhe sind in der antiken Physik und Medizin eng miteinander verbunden. So referiert Aristoteles in de gen. animal. 786b28–34 eine Stimmtheorie, die von der Menge der eingeatmeten Luft ausgeht und derzufolge abhängig von der Stimmluft immer die tiefe und laute Stimme sowie die hohe und leise Stimme korreliert sind (vgl. Kapitel 2.1.2). Aristoteles selbst versucht stattdessen eine Theorie zu entwickeln, nach der Lautstärke und Tonhöhe unabhängig voneinander sind. Dass er sich dazu aber zunächst von der Theorie distanziert, die Lautstärke und Tonhöhe immer aneinander koppelt, zeigt, dass diese sehr einflussreich gewesen sein muss. Neben der Menge der Luft kann auch ihre Spannung als ausschlaggebend für die Stimmbildung angesehen werden, z. B. von Seneca (vgl. Kapitel 2.1.4) und Galen (vgl. Kapitel 2.1.5). Auch nach Galens Stimmtheorie können Lautstärke und Tonhöhe nicht unabhängig voneinander sein (vgl. Kapitel 2.1.5). Die natürliche Lautstärke und Tonhöhe werden seiner Meinung nach von der Größe der an der Stimmbildung beteiligten Organe bestimmt. So ließen sich die unterschiedlichen Stimmen von Männern und Frauen, von Kindern und Erwachsenen erklären. Die bei jeder Person variable Lautstärke und Tonhöhe hänge hingegen erstens von der Öffnungsweite der Stimmorgane ab, zweitens von Menge, Geschwindigkeit und eben Spannung des Luftstroms und drittens von der Kraft der Luftschläge gegen den Kehlkopf. Bei Galen sind immer die laute und die hohe Stimme sowie die leise und die tiefe Stimme aneinander gekoppelt. Die beiden Theorien zeigen, wenn sie auch Lautstärke und Tonhöhe unterschiedlich in Beziehung setzen (tief/laut und hoch/leise vs. tief/leise und hoch/laut), wie eng verbunden man sich im Prozess der Stimmbildung die Entstehung von beiden vorgestellt hat. Sei es dass man Eigenschaften der Atemluft oder der inneren Organe für die Tonbildung in den Vordergrund stellte, die Erzeugung der Lautstärke und die Erzeugung der Höhe eines Tons wurden als zwei Elemente ein und desselben Vorganges angesehen.3 Diese Vorstellung schlägt sich teilweise noch in der akustischen Terminologie nieder.

3 Ganz falsch ist diese Vorstellung vom Zusammenhang von Lautstärke und Tonhöhe auch nicht. Beide sind u. a. abhängig vom sogenannten subglottischen Druck (vgl. Exkurs 1).

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Exkurs 3

2. Wortfelder 2.1 Akzent

Die musikalischen Silbenakzente (nach dem Akzentsystem des Dionysios Thrax und des Dionysios von Halikarnassos)4 im Griechischen heißen ὀξεῖα (vgl. LSJ II3d) für die hochtonige Silbe (προσῳδία), βαρεῖα (vgl. LSJ III1) für die tieftonige und περισπωμένη für die Silbe, die Hoch- und Tiefton vereinigt, die den Ton sozusagen von der Höhe in die Tiefe »herumzieht«. Sie beziehen sich eindeutig auf die Tonhöhe, nicht auf die Stärke des Tons (vgl. Plat. Phaedr. 268d8-e1, Arist. rhet. 1403b29–30).5 Auch mit Bezug auf Töne oder die Stimme bezeichnen diese Begriffe die Tonhöhe. So heißt allgemein ὀξύς »hoch« (vgl. LSJ II3b und z. B. Arist. rhet. 1403b29) und βαρύς »tief« (vgl. LSJ III1). Nach Aristoteles (de anima 420a27–420b4) sind diese Begriffe metaphorisch vom Tastsinn auf das Hörempfinden übertragen worden (vgl. Kapitel 2.1.2). Ähnlich ist die Terminologie für die Akzentarten im Lateinischen, die hier nur vereinfacht wiedergegeben werden kann und nur soweit sie für die Bezeichnungen der Stimme relevant ist.6 Von Quintilian (inst. 11,3,17) erfahren wir, dass es sich um eine bekannte Einteilung handelte. Dem gr. ὀξύς entspricht dabei im Lateinischen acutus (vgl. OLD 4a und b, ThlL S. 466,32 ff. und 465,62 ff.), gr. βαρύς entspricht lat. gravis (vgl. OLD 9a und b, ThlL S. 2300,69 ff. und 2299,69 ff.) und gr. περισπώμενον entspricht lat. (in)flexus (vgl. OLD, s. v. flexus1 2, OLD, s. v. inflexus 2, ThlL, s. v. flecto S. 897,20 ff., ThlL, s. v. inflecto S. 1461,41 ff.). Ausgehend von der Bezeichnung für einzelne Silben können diese drei Adjektive im akustischen Zusammenhang allgemein hohe, tiefe und modulierende Töne, Stimmen u. Ä. bezeichnen (so z. B. in Quint. inst. 11,3,41.42.43.64).

4 Siehe Dion. Thrax p. 6,15–7,2, ed. UHLIG (1883), und Dion. Hal. de comp. verb. p. 41,5– 7, edd. USENER/RADERMACHER (1904–1929). Vgl. BLASS (31888), S. 129 und STURTEVANT (21940), S. 94 f. Zu weiteren Akzentarten in ausdifferenzierteren Akzentsystemen vgl. BLASS (31888), S. 130. 5 Vgl. ALLEN (21978), S. 230. 6 Alle wichtigen Grammatikerzeugnisse zum lateinischen Akzent sind gesammelt von SCHOELL (1876), S. 71–215 und von SEELMANN (1885), S. 30–64.

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Wortfelder

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2.2 Höhe und Tiefe

Das Adjektiv altus kann sich auf Tonhöhe oder Lautstärke beziehen, also »hoch« oder »laut« heißen (vgl. OLD 9a, ThlL S. 1776,61 ff., siehe Quint. inst. 11,3,65). Das Gleiche gilt für den Superlativ summus (vgl. OLD 7a, siehe Quint. inst. 11,3,15), »sehr hoch« bzw. »sehr laut«, der allerdings häufiger die Höhe als die Stärke des Tons bezeichnet, insbesondere dann, wenn als Gegenteil imus (vgl. OLD 4, ThlL S. 1402,77 ff., siehe Quint. inst. 11,3,15) genannt wird, das sich ausschließlich auf die Tonhöhe bezieht. Auch der Komparativ inferior, »tiefer« bzw. »ziemlich tief«, bezieht sich (fast) nur auf die Tonhöhe (vgl. OLD 1g, ThlL S. 1393,6 ff.).7 Die Verben attollere (vgl. OLD 9, ThlL S. 1151,79 ff., siehe Quint. inst. 11,3,65) und extollere (vgl. OLD 3, ThlL S. 2034,4 ff.) bezeichnen das Anheben der Stimme, wobei eher die Tonhöhe als die Lautstärke gemeint ist. Das von extollere abgeleitete Adjektiv-Partizip elatus kann dementsprechend »hoch« (siehe Quint. inst. 11,3,17) oder »laut« (siehe Quint. inst. 11,3,43) heißen. Bei descendere (vgl. OLD 9, ThlL S. 647,58 ff., siehe Quint. inst. 11,3,65) steht meistens das Herabschreiten in der Tonhöhe im Vordergrund. erigere heißt ab Gellius »erhöhen« mit Bezug auf die Tonhöhe (vgl. ThlL S. 782,62 ff.), Quintilian verwendet das davon abgeleitete Partizip erectus allerdings mit Bezug auf die Lautstärke (siehe Quint. inst. 11,3,48). deprimere (vgl. OLD 5, ThlL S. 614,30 ff.) bezieht sich auf das Senken der Tonhöhe, depressus meint einen tiefen (vgl. OLD 3) Ton, wobei auch die geringe Lautstärke mitgemeint sein kann, wie bei einem gedämpften Ton (siehe Rhet. Her. 3,12,21). Das Gleiche gilt für das Partizip suppressus (vgl. OLD 2).

2.3 Geradheit und Gebogenheit

Für eine Stimme, die ihre Tonhöhe nicht verändert, verwendet das Lateinische u. a. das Wort rectus (siehe Quint. inst. 11,3,64). Im Unterschied zu einer solchen »geraden« Tonfolge, wird das Verändern der Tonhöhe als »Biegen« des Tones aufgefasst. Daher heißen flectere (vgl. OLD 11a, siehe Quint. inst. 11,3,41) und inflectere (vgl. OLD 5, ThlL S. 1458,66 ff. und 1459,69 ff.) »die Tonhöhe verändern«, »modulieren« und sogar »singen«. Vom gleichen Wortstamm werden noch das Substantiv flexus, »Verände7 Nur in Quint. inst. 11,3,166 bezieht sich (paulum) inferior wohl nicht ausschließlich auf die Tonhöhe, sondern auch auf die Lautstärke, wie aus dem Zusammenhang zu erkennen ist. Es steht dort im Gegensatz zur vorher genannten lautesten und höchsten Sprechweise, dem gradus summus … et quo nullus est in oratore acutior.

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Exkurs 3

rung in der Tonhöhe« (vgl. OLD 5, siehe Quint. inst. 11,3,25), und das Adjektiv flexibilis, »in der Tonhöhe variierend« bzw. »fähig zur Tonhöhenvariation« (vgl. OLD 3, siehe Quint. inst. 11,3,15), gebildet. Auch die Adjektiv-Partizipien flexus (siehe Quint. inst. 11,3,17) und inflexus (vgl. OLD 2, ThlL S. 1461,41 ff.) bezeichnen etwas in der Tonhöhe Variierendes und sind von der Bezeichnung des Zirkumflex-Akzents (s. o.) auf Töne allgemein und die Stimme übertragen worden. Ausgehend von der Grundbedeutung »weich, geschmeidig« wird auch mollis (siehe Quint. inst. 11,3,23) für Töne verwendet, die »biegsam« mit Bezug auf die Tonhöhe (und auch die Lautstärke) sind. Der Auctor ad Herennium verwendet den Begriff mollitudo (siehe Rhet. Her. 3,11,20) für die Flexibilität der Stimme. Auffällig ist das Adjektiv-Partizip inclinatus, das in akustischem Zusammenhang die Geneigtheit eines Tons bezeichnet. Damit können nämlich entweder in der Tonhöhe variierende Töne (wie in Cic. orat. 27, siehe Rhet. Her. 3,14,25) gemeint sein oder tiefe Töne (wie in Cic. orat. 56).

2.4 Größe bzw. Menge

Begriffe, die in ihrer Grundbedeutung die Größe (oder Menge) einer Sache angeben, bezeichnen in akustischem Zusammenhang die (Laut-) Stärke, die lat. magnitudo (vgl. OLD 4, ThlL S. 116,82 ff., siehe Quint. inst. 11,3,40 und Rhet. Her. 3,11,20) heißt. Demnach ist eine große Stimme eine laute Stimme, eine kleine Stimme ist eine leise Stimme. So heißen μέγας (vgl. LSJ I3), magnus (vgl. OLD 5, ThlL S. 128,56 ff., siehe Quint. inst. 11,3,40) und grandis »laut« (vgl. OLD 4b, ThlL S. 2184,15 ff., siehe Quint. inst. 11,3,15). parvus (vgl. OLD 3c, ThlL S. 563,78 ff.) und exiguus (vgl. OLD 4, ThlL S. 1476,34 ff., siehe Quint. inst. 11,3,15) heißen »leise«. Quintilian verwendet zudem pusillus zur Bezeichnung einer ganz leisen, schwachen Stimme (siehe Quint. inst. 11,3,32). Der enge sachliche Zusammenhang von Lautstärke und Tonhöhe kommt auch in Quintilians Begriff quantitas (inst. 11,3,15) zum Ausdruck, womit er die Kombination aus Lautstärke (grandis, exigua) und Tonhöhe (ima, summa) der Stimme bezeichnet, und der von Fortunatian (rhet. 3,15 p. 130,12) übernommen wird.

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Wortfelder

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2.5 Spannung

Bei den akustischen Begriffen, deren Grundbedeutung mit Spannung zu tun hat, tritt der Zusammenhang von Lautstärke und Tonhöhe besonders deutlich hervor. Hier lässt sich auch im Einzelfall oft nur schwer unterscheiden, ob sie die Lautstärke oder die Tonhöhe oder beides meinen, was an den tonphysiologischen Vorstellungen bezüglich der Spannung liegt. Die Auffassung, dass ein Ton durch (An-) Spannung der Stimme entsteht, ist weit verbreitet.8 Diese (An-) Spannung kann sich auf den Körper oder die (Stimm-) Luft beziehen.9 Je stärker die Spannung ist, desto lauter wird der Ton.10 Dass eine stärkere Spannung aber auch einen höheren Ton erzeugt, kann man an Saiteninstrumenten beobachten.11 Insgesamt gilt also die Vorstellung, dass je stärker die Spannung (der Stimme bzw. Stimmluft oder des Körpers) ist, der entstehende Ton desto höher und lauter ist, je schwächer die Spannung, der Ton desto niedriger und leiser ist. Diese Vorstellung schlägt sich im Griechischen in der Verwendung des Wortes τόνος nieder. Es bezeichnet (abgeleitet von τείνω) sowohl »Spannung« als auch »Ton« und »stimmliche Anstrengung«.12 In Bezug auf Letzteres kann es Tonhöhe inklusive Lautstärke bezeichnen (vgl. LSJ II 2 a: »pitch of the voice … including volume«). Abgeleitet von τόνος ist der Begriff μονοτoνία, den Quintilian als una quaedam spiritus ac soni intentio, als »gewissermaßen einen einzigen Spannungsgrad von Atem und Ton« definiert (inst. 11,3,45). Seine Forderungen gegen μονοτoνία betreffen Abwechslung in der Lautstärke und in der Tonhöhe.13 Auch aus der Verwendung dieses Wortes geht also der im Begriff 8 Siehe z. B. Sen. nat. 2,6,3, der die vox als intentio aeris definiert (siehe Kapitel 2.1.4). 9 Auch wenn wir diese Spannung heute auf die Anspannung der Stimmlippen bei ihrer Vibration beziehen (vgl. WILLE [1958/2001], S. 1018), so kann diese in den antiken Texten nicht gemeint sein. Zur Unkenntnis der Vibration der Stimmlippen in der Antike vgl. Kapitel 2.1.5. 10 Vgl. Cic. Tusc. 2,56: Man muss mit dem ganzen Körper (toto corpore) die Anspannung der Stimme (contentio vocis) unterstützen, wenn man lauter sprechen (exclamare maius) will. Auch nach Galen erhöht stärkere Spannung (bei ihm: der ausströmenden Atemluft) die Lautstärke des Tons (vgl. BAUMGARTEN [1962], S. 171). 11 Cicero überträgt den Spannungszustand der Saiten auf den der menschlichen Stimmen: voces ut chordae sunt intentae (de orat. 3,216). Vgl. Quint. inst. 11,3,42. 12 Vgl. WILLE (1958/2001), S. 824. 13 Zudem kennt Quintilian noch einen anderen Begriff als Gegenteil der varietas, den der μονοείδεια (inst. 11,3,44). Er ist jedoch allgemeiner und bezieht auch das Sprechtempo mit ein. Es fällt also auf, dass Quintilian zwei Begriffe verwendet, bei denen sich einer auf Lautstärke und Tonhöhe gemeinsam bezieht (nämlich μονοτoνία), was ihre enge Verbundenheit unterstreicht, und einer auf diese beiden und das Sprechtempo zusätzlich.

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Exkurs 3

τόνος bereits angelegte enge Zusammenhang von Lautstärke und Tonhöhe hervor. Im Lateinischen bezeichnet intendere das Anstrengen der Stimme allgemein (vgl. OLD 4a, ThlL S. 2114,69 ff.)14 und v. a. das Anspannen, was eine Erhöhung der Lautstärke und/oder der Tonhöhe bedeutet.15 intentus (nur in Quint. inst. 11,3,17) heißt »laut«, contentus (vgl. ThlL S. 670,42 ff.) bezieht sich auf Lautstärke und Tonhöhe. Für den Spannungsvorgang oder -zustand der Stimme sind intentio (vgl. OLD 2b, ThlL S. 2121,57 ff.) und auch contentio (vgl. OLD 2b, ThlL S. 672,19 ff.) gebräuchlich, die sich ebenso beide auf Tonhöhe und/oder Lautstärke, jedenfalls auf eine angestrengte Sprechweise beziehen können.16 contentio bezeichnet insbesondere (beim »Tonleitersingen«) den höchsten Punkt der Anstrengung (siehe Quint. inst. 11,3,22). Der Plural intentiones kann verschiedene Lautstärkegrade oder Tonhöhen meinen (siehe Quint. inst. 11,3,40). Den entgegengesetzten Vorgang bezeichnen remittere (siehe Rhet. Her. 3,12,21) und summittere (vgl. OLD 9a, siehe Quint. inst. 11,3,42) für das Entspannen bzw. Nachlassen der Stimme, also das Leiser- und Tieferwerden, remissus (vgl. OLD 2a, siehe Rhet. Her. 3,13,23 und Quint. inst. 11,3,17.42), summissus (vgl. OLD 3, siehe Quint. inst. 11,3,43.48) und demissus (vgl. ThlL S. 494,22 ff.) für das entspannte, d. h. leise oder tiefe Sprechen, und remissio (vgl. OLD 3a, siehe Rhet. Her. 3,12,22) sowie summissio (vgl. OLD 1) für das entspannte, also leise und/oder tiefe Sprechen.

14 In diesem Sinne gibt es auch voce contendere bei Cic. Lig. 6 (zitiert bei Quint. inst. 11,3,166) und Cels. 1,4,22, nicht aber vocem contendere. 15 Vgl. STROH (2003), S. 16, Anm. 41: »intendere bezüglich der Stimme bezeichnet nicht nur Verstärkung, sondern auch Erhöhung des Tons«. 16 Vgl. GLEASON (1995), S. 107 zum Begriff contentio vocis bei Cic. Brut. 313: »indeed it appears that Cicero thought of pitch and intensity as rising and falling together.«

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4. Kommentar zu den beiden Hauptquellen Rhetorica ad Herennium und Institutio oratoria

4.1 Rhet. Her. 3,11,19–3,14,25 Der folgende Text basiert auf der heute maßgeblichen Ausgabe von ACHARD (1989). Auch die verwendeten Siglen der Manuskripte beziehen sich auf seine Edition. Zudem wurden die Ausgaben mit Übersetzungen und kurzen Anmerkungen von CAPLAN (1954) und NÜSSLEIN (1994) verwendet sowie die Ausgaben mit Anmerkungen von KAYSER (1854) und CALBOLI (21993) und die Ausgabe von SCHÜTZ (1814), die editio maior von MARX (1894) und seine editio minor (21923). Zusätzlich wurde die wenig bekannte, aber wertvolle Ausgabe mit ausführlichem Kommentar des Humanisten Michael TOXITES (1568), eines Schülers Melanchthons, herangezogen, der als Arzt, Alchemist und Lateinlehrer u. a. Paracelsus-Schriften herausgab und Kommentare zu Ciceros Reden verfasste.

4.1.1 Allgemeine Bedeutung und Nützlichkeit der pronuntiatio (3,11,19)

(19) Pronuntiationem multi maxime utilem oratori dixerunt esse et ad persuadendum plurimum valere. Nos quidem unum de quinque rebus plurimum posse non facile dixerimus; egregie magnam esse utilitatem in pronuntiatione audacter confirmaverimus. (19) Viele haben gesagt, dass der Vortrag am nützlichsten für den Redner sei und für das Überzeugen am meisten Macht habe. Ich freilich möchte nicht ohne Weiteres sagen, dass eine der fünf Aufgaben des Redners am meisten vermag; dass eine außergewöhnlich große Nützlichkeit im Vortrag liegt, möchte ich (aber) kühn behaupten. pronuntiationem: Die Anfangsstellung betont das Wort und markiert den deutlichen Einschnitt im Übergang von der Besprechung der dispositio (Rhet. Her. 3,9,16–3,10,18) zur pronuntiatio. Vgl. GOLLA (1935), S. 18. multi/nos quidem: Alle Autoren, die sich mit dem rednerischen Vortrag beschäftigen, erkennen diesem – meistens unter Beziehung auf Demosthe-

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Kommentar zu den beiden Hauptquellen

nes (vgl. Kapitel 3.1.1.) – eine äußert große oder die größte Wirkungsmacht in der Rhetorik zu (vgl. Kapitel 5.1.2). Der Auctor selbst grenzt sich von dieser Überbetonung des Vortrags ab. Statt der größten Bedeutung (maxime utilem, plurimum valere, plurimum posse) gesteht er dem Vortrag nur eine außergewöhnlich große (egregie magnam) Nützlichkeit zu. Diese Zumessung bezeichnet er als immer noch kühn (audacter). audacter erscheint häufig als Adverb von verba dicendi, z. B. in Cic. S. Rosc. 31 (omnia … libenter audacter libereque dicere) und Cic. Q. Rosc. 16 (dic audacter et aperte). dixerunt esse: Das Nachstellen des Infinitivs hinter das ihn regierende Verb ist typisch für den Stil des Auctor (vgl. DOUGLAS [1960], S. 69 und GOLLA [1935], S. 12). ad persuadendum: Ziel und Nutzen des Vortrags (und der Rhetorik) liegt also v. a. in seiner Überzeugungsmacht. unum: res rückt für den Auctor so sehr in die Nähe des Neutrums, dass dieser hier das Neutrum statt des Femininums unam setzt. Zu dieser Art der Inkongruenz beim Auctor vgl. GOLLA (1935), S. 68 f. quinque rebus: Gemeint sind die fünf officia oratoris: inventio, dispositio, elocutio, memoria, pronuntiatio. Die Rhetorica ad Herennium ist – nach der nicht unstrittigen Datierung auf 86–82 v. Chr. (vgl. Kapitel 3.2.1) – das erste erhaltene Werk der antiken Rhetorik, das alle fünf Aufgabenbereiche des Redners behandelt. Die Verwendung von res zur Bezeichnung eines officium oratoris findet sich beim Auctor häufiger (z. B. Rhet. Her. 3,11,19: sine his rebus). dixerimus/confirmaverimus: zeitstufenloser Konjunktiv Perfekt, Potentialis der Gegenwart. egregie: egregie H P B1 C : nec egregie B2 I E : sed egregie Schütz Der Auctor verwendet das Adverb egregie zur Steigerung eines Adjektivs auch in Rhet. Her. 3,22,35. Dort wie hier hebt es eine besondere, herausragende Eigenschaft hervor, aber keine einzigartige (vgl. OLD, s. v. egregie 2b). MARX (21923) folgt der Lesart der jüngeren Codices nec egregie. Demnach würde der Auctor leugnen, dass im Vortrag eine außergewöhnlich große Nützlichkeit liegt. Diese Position stünde aber nicht in Einklang mit der folgenden Darstellung. Zudem würde der Auctor mit einer solchen Aussage das Interesse und die Aufmerksamkeit seiner Leser aufs Spiel setzen. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass im lateinischen Text auffälligerweise das sed fehlt (vgl. die Übersetzungen von ACHARD [1989] und NÜSS-

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Rhet. Her. 3,11,19–3,14,25

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LEIN [1994]), das den Gegensatz, den der Auctor anführt, klarer herausstellen würde. Zu einem solchen adversativen Asyndeton vgl. KÜHNER/STEG5 MANN ( 1976) II,2 §177,7, S. 156. Das Fehlen von Verknüpfungen zwischen Sätzen allgemein ist ein Stilmerkmal des Auctor (vgl. GOLLA [1935], S. 58– 60, der Stellen, die mit Ciceros De inventione übereinstimmen, in Hinblick auf fehlende Verknüpfungen beim Auctor untersucht).

Nam commodae inventiones et concinnae verborum elocutiones et partium causae artificiosae dispositiones et horum omnium diligens memoria sine pronuntiatione non plus quam sine his rebus pronuntiatio sola valere poterit. Denn die zweckmäßige Auffindung der Gedanken, die kunstvoll-elegante Einkleidung der Gedanken in Worte, die kunstgerechte Anordnung der Teile des Stoffes und das gründliche Erinnern an all dieses wird ohne den Vortrag nicht mehr von Wert sein als ohne diese Dinge der Vortrag alleine. commodae: passend, geeignet (in Hinblick auf die Zweckmäßigkeit der gefundenen Gedanken), vgl. ThlL, s. v. commodus S. 1922,8 ff. Das Adjektiv wird auch als Attribut von rationes (Rhet. Her. 2,4,6), von distinctio (Rhet. Her. 3,19,32), von elocutio (Rhet. Her. 4,12,17) und von partitio (Cic. inv. 1,61) verwendet. inventiones: Ausgehend von dem officium oratoris stehen inventiones hier für inventa, der Vorgang des Auffindens der Gedanken steht für diese Gedanken selbst (vgl. ThlL, s. v. inventio S. 153,77 ff. und OLD 3 sowie bspw. Cic. inv. 1,43, Symm. epist. 1,15,2, Mar. Victorin. rhet. 1,17 p. 200,15). Zudem kann bei den Pluralen (inventiones, elocutiones, dispositiones) an mehrere Reden gedacht sein (vgl. die Übersetzungen von CAPLAN [1954], ACHARD [1989] und NÜSSLEIN [1994]). An anderer Stelle kann der Plural auch die einzelnen Elemente einer inventio, z. B. ihre Mittel und Methoden, bezeichnen (z. B. Cic. inv. 2,11, Rhet. Her. 2,2,2). concinnae: »kunstgerecht/wohl zusammengefügt« (vgl. HAUG [2004], S. 27), »abgezirkelt«. Das Wort concinnus findet sich zunächst bei Plautus in der Bedeutung »schön« (Persa 547) und »passend« (Mil. 1024), dann erst wieder in der Rhetorica ad Herennium, bevor es durch Cicero zum rhetorischen Terminus technicus wird (vgl. HAUG [2004], S. 26). Es wird von da an zur Beschreibung der Rede oder von Teilen der Rede, auch zur Beschreibung des Redners selbst und des Stils verwendet (vgl. ThlL, s. v. concinnus S. 51,76 ff. und OLD 1b). Mit Bezug auf die sprachliche Ausformulierung beschreiben concinnus und die entsprechenden Substantive concinnitas und concinnitudo (beides Wortbildungen Ciceros) die kunstvolle Anordnung

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Kommentar zu den beiden Hauptquellen

und Zusammenfügung der Wörter im Satz, die als harmonisch empfunden wird (Cic. orat. 81: collocata autem verba habent ornatum, si aliquid concinnitatis efficiunt quod verbis mutatis non maneat manente sententia) und die durch Redefiguren (σχήματα) erreicht wird (Cic. orat. 83). Dabei denkt Cicero, wie seine Berufung auf Gorgias und sein Beispiel aus der Miloniana in orat. 165 zeigt, insbesondere an abgezirkelte Formulierungen, bei denen einzelne Glieder einander entsprechen (z. B. durch Homoioteleuton, Parallelismus, Antithese). Zum »abgezirkelte[n] Parallelismus« im Stil des Gorgias vgl. FEHLING (1969), S. 110. In diesem Sinne sind auch die concinnae verborum elocutiones an dieser Stelle gemeint, die zudem selbst als Beispiel für eine kunstvoll-elegante, abgezirkelte Formulierung gelten können. Die ersten drei Glieder dieser Periode (commodae inventiones; concinnae verborum elocutiones; partium causae artificiosae dispositiones) sind klar voneinander abgetrennt, parallel konstruiert, enden jeweils mit dem officium oratoris im auffälligen Plural, werden jeweils um ein Adjektiv ergänzt und wachsen dabei je um ein weiteres Glied. Der Auctor ad Herennium verwendet das Adjektiv concinnus sonst auch ganz allgemein in der Bedeutung »passend« (Rhet. Her. 4,15,22 über die Figur der interrogatio) sowie (auch mit negativer Konnotation) in der Bedeutung »kunstvoll« (Rhet. Her. 4,23,32 über die Figur der Paronomasie: lepida et concinna), in der Bedeutung »deutlich abgeteilt« (Rhet. Her. 3,12,22 über die durch Pausen gegliederten Gedanken) und in übertragenem Sinn »kunstvoll/gerissen« (Rhet. Her. 4,51,64 über die Handlungsweise eines Sklaven: strenue et concinne). Eine bestimmte sprachliche Formulierung ist insofern kunstvoll, als sie von der natürlichen Ausdrucksweise abweicht, wird aber gebilligt, weil sie als elegant empfunden wird. Dies gilt für die verborum transiectio (das Hyperbaton), die eigentlich vermieden werden soll, aber erlaubt ist, wenn sie concinna ist (Rhet. Her. 4,12,18), d. h. in diesem Fall wohl v. a. wenn der Ausdruck dadurch rhythmisch wird (Rhet. Her. 4,32,44), und für die Wiederholung eines Wortes (in Rhet. Her. 4,12,18 wird die häufige Wiederholung eines Wortes untersagt), die traductio, die die Rede (oratio) in kunstvoller Weise pointierter (concinnior) macht (Rhet. Her. 4,14,20). elocutiones: Der eher ungebräuchliche Plural wird in Ciceros Rhetorica nicht verwendet. Wie bei den inventiones steht auch hier das Ergebnis an Stelle des Vorgangs. elocutiones sind die sprachlichen Ausformulierungen (für elocutio in der Bedeutung von sermo, dictio, eloquentia, enuntiatum vgl. ThlL, s. v. elocutio S. 400,14 ff.), die im Stadium der elocutio gewählt werden. Der Plural findet sich in diesem Sinne auch bei Cassiod. hist. 2,2 p. 922D (Plurimi … scientes disputare huiusmodi elocutionum arte exercitati claruerunt), bei Pallad. hist. mon I prooem. p. 247/8init. (nec abhorrens elo-

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Rhet. Her. 3,11,19–3,14,25

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cutionum humilitatem rusticitatemque verborum), bei Isid. orig. 2,16,1 im Abschnitt de elocutione (iam vero in elocutionibus illud uti [hier uti mit Akk. illud] oportebit, ut res, locus, tempus, persona audientis efflagitat). partium causae: Gemeint ist alles, was zu dem Fall und der Sache, die der Redner übernommen hat, gehört, vgl. ThlL, s. v. causa S. 689,12 ff. und OLD 2. artificiosae dispositiones: Die Anordnung ist hier überraschend, da die dispositiones gegen die logische Reihenfolge erst nach den elocutiones genannt werden. Weder Cicero noch Quintilian verwenden den ungewöhnlichen Plural. Der Auctor fasst hier – wie bei inventiones und elocutiones – das Ergebnis, nicht den Vorgang der Gliederung ins Auge. Der Auctor verwendet den Plural zudem noch in einem anderen Sinn. Wenn der Plural in Rhet. Her. 3,10,18 (in confirmatione et confutatione argumentationum dispositiones huiusmodi convenit habere) richtig überliefert ist (dispositiones H I a2 c β h : dispositionem B C2 a1), bezeichnet er Positionen (von Argumenten unterschiedlicher Überzeugungskraft) in der Gliederung. In Rhet. Her. 3,9,16 (genera dispositionum sunt duo: unum ab institutione artis profectum, alterum ad casum temporis adcommodatum) bezeichnet der Plural verschiedene Arten von Anordnungen, nämlich ordo artificialis vs. ordo naturalis. Zu (Schwierigkeiten mit) dieser Terminologie vgl. STROH (1975), S. 12, Anm. 23 und STROH (2009), S. 381. pronuntiatio sola: Der Auctor betont die Notwendigkeit des Zusammenspiels der pronuntiatio mit den anderen officia oratoris. Diese sind ebenso auf den Vortrag angewiesen wie der Vortrag auf sie. Mit dieser betonten Hinzufügung, dass der Vortrag alleine ohne die anderen officia oratoris auch nichts wert ist, unterscheidet er sich von den zuvor von ihm kritisierten Autoren, die den Vortrag aus den fünf officia herausheben und nur seine Wirkungsmacht betonen (für diese Wertschätzung des Vortrags vgl. z. B. Cic. de orat. 2,213, orat. 55–56 und Quint. inst. 11,3,2.5–6 sowie mit dem Beispiel der Lentuli Cic. Brut. 234–235 und Kapitel 5.1.2). poterit: Der Auctor verwendet häufig Futur statt generellem Präsens und das immer dann, wenn es um die zukünftige Anwendbarkeit für den Schüler geht. Quare, et quia nemo de ea re diligenter scripsit – nam omnes vix posse putarunt de voce et vultu et gestu dilucide scribi, cum eae res ad sensus nostros pertinerent – et quia magnopere ea pars a nobis ad dicendum conparanda est, non neglegenter videtur tota res consideranda.

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Kommentar zu den beiden Hauptquellen

Und weil also zum einen niemand über diese Sache sorgfältig geschrieben hat – denn alle glaubten, dass es kaum möglich sei, über die Stimme, Mimik und Gestik klar und deutlich zu schreiben, weil diese Dinge sich auf unsere Sinneswahrnehmung bezögen – und weil wir uns zum anderen für das Reden dieses Gebiet dringend aneignen müssen, denke ich, muss diese ganze Sache mit genauer Sorgfalt betrachtet werden. quare, et quia … et quia: Für diese anknüpfende Funktion von quare (vgl. OLD, s. v. quare 5) gibt es keine Parallele beim Auctor ad Herennium. Häufiger als die Kombination quare quia (z. B. Petron. 122,172) wird quare quoniam (z. B. Cic. inv. 2,178, de orat. 1,135) zur Anreihung eines Kausalsatzes verwendet. de ea re/tota res: Gemeint ist jeweils die pronuntiatio. Wieder steht res für ein officium oratoris. nemo … diligenter: Der Auctor bezeichnet sich hier implizit selbst als den Ersten, der sich in einem schriftlichen Werk (scripsit) sorgfältig (d. h. genau, das Thema erschöpfend, detaillreich, aber wohl auch systematisch und konkret-hilfreich) mit der pronuntiatio auseinandersetzt. Über die Ansätze zu den ὑπόκρισις- und actio-Theorien vor dem Auctor ist zwar wenig bekannt (vgl. Kapitel 3.1). Was wir wissen, widerspricht aber der Aussage des Auctor nicht. Vgl. Kapitel 5.1.1. de voce et vultu et gestu: Die pronuntiatio/actio kann in zwei (vox; motus corporis) oder drei Teilbereiche wie hier (vgl. die gleichen drei Elemente bereits in der Definition in Rhet. Her. 1,2,3: pronuntiatio est vocis, vultus, gestus moderatio cum venustate) gegliedert werden. Zur Einteilung der pronuntiatio in die zwei Teile Körper und Stimme wahrscheinlich durch Theophrast vgl. Kapitel 3.1.4. dilucide scribi: Im rhetorischen System ist das deutliche Schreiben (perspicuitas) seit Theophrast (vgl. STROUX [1912], S. 15) die zweite virtus dicendi. Quintilian behandelt sie ausführlich in inst. 8,2,1–24. cum eae res ad sensus nostros pertinerent: Stimme, Mimik und Gestik sind nach dem hier genannten Grund schwer schriftlich zu behandeln, weil sie sich auf die Sinneswahrnehmung beziehen (vgl. Kapitel 5.1.1). In der Tat unterscheidet sich die pronuntiatio dadurch von den anderen officia oratoris, dass sie weniger abstrakt, »sinnlicher«, ist. Kein anderer Rhetoriker, der die actio/pronuntiatio behandelt, erwähnt die Schwierigkeit, Stimme und Gestik schriftlich darzustellen, so genau wie der Auctor: non sum nescius

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Rhet. Her. 3,11,19–3,14,25

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quantum susceperim negotii qui motus corporis exprimere verbis et imitari scriptura conatus sim voces (Rhet. Her. 3,15,27). Die Bewegung des Körpers und die Stimme werden mit den Sinnen wahrgenommen (vgl. Quint. inst. 11,3,14). Die Schwierigkeit besteht darin, sie im Medium Schrift (verbis; scriptura) auszudrücken und nachzuahmen (exprimere; imitari). Der Gedanke bleibt allerdings sonderbar, da zumindest die Gestik, der Teil des Vortrages, den man mit den Augen wahrnimmt, nicht allzu schwer zu beschreiben ist. Vielleicht denkt der Auctor bei seinen Ausführungen hier besonders an die Stimme und an die schriftliche Darstellung von Dingen, die mit den Ohren wahrgenommen werden.

4.1.2 Einteilung der pronuntiatio (3,11,19)

Dividitur igitur pronuntiatio in vocis figuram et in corporis motum. Figura vocis est ea quae suum quendam possidet habitum, ratione et industria conparatum. Der Vortrag wird also gegliedert in die Gestalt der Stimme und die Bewegung des Körpers. Die Gestalt der Stimme ist die, die jeweils eine gewisse charakteristische Beschaffenheit besitzt, erworben durch Methode und Fleiß. divitur igitur pronuntiatio: Diese Zweiteilung des Vortrags stammt wahrscheinlich von Theophrast (vgl. Kapitel 3.1.4). Zur Anfangstellung des Verbs als Übergang zu weiteren Überlegungen vgl. GOLLA (1935), S. 11. vocis figuram: Mit dem Begriff figura vocis bezeichnet der Auctor die Gestalt und Gestaltungsfähigkeit der Stimme eines Individuums, ihre Eigenschaften und ihre Qualität (vgl. OLD, s. v. figura 3d). Diese hat sie sich durch ratio und industria erworben und zu einem jeweils ihr eigenen habitus geformt (vgl. ThlL, s.v figura S. 730,1 ff.: »i. q. habitus, σχῆμα«). Der Zusatz suus quidam zu habitus und auch der Begriff figura (vgl. OLD, s. v. figura 1b) machen dabei deutlich, dass der Auctor mit vocis figura nicht die Stimme grundsätzlich meint, sondern die für jeden Sprecher individuell charakteristische. corporis motum: Der Auctor behandelt die Gestik in Rhet. Her. 3,15,26–27, gegliedert nach den Redetönen, denen sie sich anpassen soll: ad easdem igitur partes in quas vox est distributa motus quoque corporis ratio videtur esse adcommodanda (Rhet. Her. 3,15,26).

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suum quendam habitum: Gemeint ist ein Zustand (vgl. ThlL s. v. habitus S. 2484,70 ff. und OLD 1c), eine Form der Stimme eines Individuums, den diese nicht von Natur aus besitzt (gegen TOXITES [1568], S. 325), sondern der durch Methode und Fleiß erworben worden ist, ähnlich gr. ἕξις (vgl. LSJ, s. v. ἕξις 3: »a being in a certain state, a permanent condition as produced by practice [πρᾶξις], diff. from σχέσις [which is alterable]«). In allgemeinerem Zusammenhang erklärt Cicero (inv. 1,36) ähnlich einen habitus als eine Eigenschaft des Körpers oder Geistes, die nicht durch Natur, sondern durch eifrige, fleißige Betätigung erworben wurde: habitum autem appellamus animi aut corporis constantem et absolutam aliqua in re perfectionem, ut virtutis aut artis alicuius perceptionem aut quamvis scientiam et item corporis aliquam commoditatem non natura datam, sed studio et industria partam. ratione et industria conparatum: Auffällig ist, dass der Auctor zur figura vocis hier offensichtlich, falls keine Textlücke vorliegt, nicht die Naturanlage der Stimme rechnet. Das passt auch zu deren allgemeiner Vernachlässigung beim Auctor. Schon als er in Rhet. Her. 1,2,3 die Grundlagen nennt, die zur Erreichung rednerischer Fähigkeiten nötig sind, wählt er nicht die übliche Trias von ars, natura und exercitatio, sondern ersetzt natura durch imitatio. Während die Naturanlage weniger Beachtung findet, wird die exercitatio stets sehr betont (z. B. Rhet. Her. 3,24,40). Hingegen wird im Folgenden bei den Ausführungen zur Stimmstärke (magnitudo), die einen von drei Teilen der figura vocis ausmacht, die Naturanlage als deren Quelle genannt. Hier scheint der Auctor aber betonen zu wollen, dass der habitus der Stimme v. a. durch von der Naturanlage ubabhängige Methoden erreicht wird.

4.1.3 figura vocis (3,11,20–3,14,25)

Einteilung in magnitudo, firmitudo, mollitudo (3,11,20–3,12,20) (20) Ea dividitur in tres partes: magnitudinem, firmitudinem, mollitudinem. Magnitudinem vocis maxime conparat natura; nonnihil auget, sed maxime cura conservat. Firmitudinem vocis maxime conparat cura; nonnihil adauget et maxime conservat exercitatio declamationis. Mollitudinem vocis, hoc est ut eam torquere in dicendo nostro commodo possimus, maxime faciet exercitatio declamationis. Sie wird in drei Teilbereiche gegliedert: Stärke, Ausdauer und Flexibilität. Die Stärke der Stimme verschafft zum größten Teil die Naturanlage; sorgfältige Pflege vergrößert sie etwas, aber erhält sie vor allem. Die Ausdauer

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der Stimme verschafft zum größten Teil die sorgfältige Pflege; die Deklamationsübung fördert sie etwas und erhält sie vor allem. Die Flexibilität der Stimme, das heißt, dass wir sie beim Reden zu unserem Vorteil biegen und wenden können, wird am meisten die Deklamationsübung hervorbringen. magnitudinem, firmitudinem, mollitudinem: Die erste einer Reihe von hierarchischen Einteilungen ist eine Dreiteilung der Stimme in Stärke, Ausdauer und Flexibilität, also hier in Eigenschaften, die die Stimme grundsätzlich besitzt. Diese Einteilung wird vom Verfasser selbst in die Rhetorik eingeführt (vgl. STROH [2003], S. 10, Anm. 18). Eine direkte medizinische Quelle (vgl. ebd.) lässt sich nicht ausfindig machen, kann aber auch nicht ausgeschlossen werden. Fortunatian (rhet. 3,15 p. 130,14) gliedert später (4. Jh. ?) im Rahmen seiner Behandlung der Stimmpflege die bonitas vocis in claritas (deutliche Stimme), firmitas (starke Stimme), suavitas (angenehme Stimme), vgl. Kapitel 2.2.1. Dabei entspricht die claritas ungefähr der magnitudo, wobei claritas mehr die Deutlichkeit der Stimme, magnitudo mehr die Stärke betont. Beides zielt auf die Hörbarkeit ab. firmitas entspricht firmitudo und mollitudo ist ungefähr mit suavitas identisch. Bei seiner Einteilung der Stimme geht der Auctor vom Naturgegebenen stufenweise hin zum durch Kunst Erworbenen (s. u.). Dabei baut das folgende Glied jeweils auf dem zuvor genannten auf. Die magnitudo der Stimme muss auf jeden Fall gegeben sein, sonst wird der Redner nicht einmal für kurze Zeit verstanden. Für längere Zeit benötigt seine Stimme aber auch firmitudo. Melodisch-beweglich wird eine laute und ausdauernde Stimme erst durch die mollitudo. magnitudinem: magnitudo bezeichnet nicht nur die Größe von Sachen (vgl. OLD, s. v. magnitudo 1), sondern auch die Intensität und Stärke von Kräften in der Natur (vgl. OLD 4), z. B. von Stürmen, Gewichten sowie häufig auch von Tönen, Geräuschen und der Stimme (vgl. ThlL, s. v. magnitudo S. 116,83 ff. und z. B. Cic. rep. 6,19, Amm. 20,4,14). Vgl. die Ausführungen zu Quint. inst. 11,3,40 und Exkurs 3 (2.4). natura/cura/exercitatio declamationis: Der Auctor ordnet den drei Stimmeigenschaften jeweils zu, was genau sie hervorbringt und damit den größten Anteil an ihnen hat (die natura an der magnitudo, die cura an der firmitudo, die exercitatio an der mollitudo) bzw. was sie in ihrem Zustand erhält und unterstützt (die cura die magnitudo, die exercitatio die firmitudo). natura und cura (Stimmpflege als Sache der Medizin) wird er im Folgenden nicht behandeln, so dass der kleinere Teil der firmitudo und die gesamte mollitudo übrig bleiben, die in den Bereich der exercitatio fallen. Diese Struktur weist Ähnlichkeiten mit der von Quintilians Text zur Stimme auf (zu natura und cura vgl. auch Cic. de orat. 3,224: [vox] primum est optanda

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nobis; deinde, quaecumque erit, ea tuenda). Auch Quintilian beginnt mit der Natur der Stimme (inst. 11,3,15–16), was grundsätzlich das Nächstliegende ist. Er befasst sich – anders als der Auctor – ausführlich mit cura und exercitatio (inst. 11,3,19–29), wobei bei ihm beide Begriffe in engem Bezug zueinander stehen. Dabei gibt Quintilian sehr praxisnahe Anweisungen, die für Übung und Praxis relevant sind und die sich teilweise mit den Ratschlägen des Auctor für die mollitudo überschneiden. nonnihil: Der Anteil der sorgfältigen Pflege (cura) an der Vergrößerung der Stimmstärke (magnitudo) und der Anteil der Deklamationsübung (exercitatio) an der Vergrößerung der Stimmausdauer (firmitudo) ist (nur) »immerhin etwas« (nicht aber »beträchtlich«). Am meisten (maxime) tragen sie hingegen jeweils zu deren Erhaltung bei. auget/adauget: Vgl. Rhet. Her. 3,16,28: ars porro naturae commoda confirmat et auget. Der Auctor verwendet augere und adaugere ohne Bedeutungsunterschied, vgl. z. B. Rhet. Her. 2,25,39 (nonnihil illiusmodi signa adaugent suspicionem) mit 2,7,11 (signis et ceteris locis quibus augetur suspicio) und 2,30,47 (adaugendi criminis causa) mit 2,25,40 (rei augendae causa). sed maxime/et maxime: Die einleitende Konjunktion muss hier jedenfalls adversative Funktion haben, sie schränkt das zuvor Gesagte ein bzw. ergänzt es korrigierend. Auch et kann diese Funktion übernehmen, insbesondere nach negativen Aussagen, z. B. Plaut. Bacch. 1197 (libet et metuo), Ter. Eun. 1075 (quod des paullumst et necessest multum accipere Thaidem), Cic. Tusc. 1,6 (fieri autem potest, ut recte quis sentiat et id quod sentit polite eloqui non possit). cura conservat: cura conservat P2B2C2V1F ed. Toxites : conservat cura Nüßlein : conservat accuratio a1 h edd. Caplan, Achard : amplificat accuratio V2a2ca edd. Marx (21923), Kayser, Calboli Die Überlieferung ist an dieser Stelle äußerst variantenreich. Bei der Auswahl der hier abgedruckten sinnvollen Varianten folge ich der Lesart cura conservat. Sie ist am häufigsten überliefert, findet sich im Vergleich zu der Lesart conservat accuratio in den älteren Handschriften (V1 F vom Ende des 10. Jh., a1 h aus dem 11. und 12. Jh.), teils (P2 B2 C2) von einer zweiten Hand geschrieben, die mittels eines anderen Codex die sinnlosen Lesarten conservat (B1 C1) bzw. curatur conservat (P1) verbesserte. Die Wortstellung ist auffällig (vgl. die Umstellung von NÜSSLEIN [1994]), so wird aber ein katalektischer Dicreticus, die zweitliebste Klausel des Auctor (vgl. DOUGLAS [1960], S. 69), als Schlussklausel erreicht. cura ist vor accuratio zu bevorzugen, da der Auctor auch im Folgenden immer für die Stimmpflege den Begriff cura

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verwendet. accuratio kommt in der Bedeutung »Stimmpflege« auch sonst überhaupt nicht vor. conservat ist vor amplificat zu bevorzugen, da sich so ein zum folgenden Satz paralleler Aufbau ergibt (maxime conparat, nonnihil auget, sed maxime conservat; maxime conparat, nonnihil adauget, et maxime conservat) und die Stimmstärke durch die Stimmpflege erhalten wird, nicht gesteigert. Die Steigerung ist zudem bereits durch nonnihil auget beschrieben. Zur antiken Stimmpflege allgemein vgl. Kapitel 2.2. firmitudinem: Das Substantiv firmitudo wird beim Auctor nur in Bezug auf die Stimme verwendet. firmitudo heißt ganz allgemein »Stärke, Kraft, Dauerhaftigkeit, Standhaftigkeit« (vgl. OLD, s. v. firmitudo 1a und d). Übertragen auf die Stimme bedeutet das die Fähigkeit, beim Reden lange durchzuhalten, ausdauernd zu reden (vgl. ThlL, s. v. firmitudo S. 809,35 ff. und OLD 1c). Vgl. die Erläuterungen zur vox firma in Quint. inst. 11,3,40. conparat cura: cura Schütz : natura Mss. Das überlieferte natura ist sachlich falsch (vgl. zwei Sätze später über die firmitudo: quoniam … cura conparatur). SCHÜTZ (1814) konjizierte daher richtig cura. conservat exercitatio declamationis: exercitatio Mss. : ratio Schütz / declamationis P2B2V2F2a1cβ1h : imitationis HP1B1CV1F1a2β2 (zur Textkritik siehe die Erläuterungen unten zu faciet exercitatio declamationis) Der Begriff declamatio wird hier im Zusammenhang mit der pronuntiatio zum ersten Mal in der lateinischen Literatur verwendet. Er hat noch nicht die spätere, kaiserzeitliche Bedeutung »Übungsrede«. Vielmehr lässt sich hier dessen ursprüngliche Bedeutung als »rhetorische Stimmübung« gut erkennen (vgl. BONNER [1949], S. 20, Anm. 3 und STROH [2003], S. 8, 10–14, 19). Der Auctor denkt dabei, wie im Folgenden ersichtlich wird, besonders an das Vortragen ganzer Reden (vgl. STROH [2003], S. 14). Zur Entwicklung des Begriffs declamatio allgemein vgl. zusammenfassend STROH (2003), S. 26–29. mollitudinem: Mit der »Biegsamkeit« oder »Geschmeidigkeit« der Stimme ist die Fähigkeit zur Veränderung der Tonhöhe, die »Modulationsfähigkeit« (STROH [2003], S. 10) gemeint (vgl. ThlL, s. v. mollitudo S. 1385,32 ff.), die am meisten durch exercitatio declamationis erworben wird und von den drei Teilen der Stimmqualität am meisten in den rhetorischen Bereich fällt. Auf die Stimme bezogen findet sich das Substantiv mollitudo nur beim Auctor. Das Adjektiv mollis kommt häufiger vor. Bei Quintilian (vgl. die Erläuterungen zu inst. 11,3,23.32) ist die vox mollis die »(zu) stark modulierende Stimme«. Mit der mollitudo erweitert der Auctor die bisherige Quantität der Stimme (magnitudo, firmitudo) um deren Qualität. Vgl. Cic. Brut.

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203.235: Auch dort wird der Aspekt der Stärke (magnitudo, magnus) noch um den der Qualität (dort: suavitas bzw. suavis) ergänzt. torquere: Das Verb torquere passt gut zur Vorstellung von der Biegsamkeit (mollitudo) der Stimme. Ausgehend von der Grundbedeutung »verbiegen, verdrehen« (vgl. OLD, s. v. torqueo 1) heißt torquere in Bezug auf Töne und die Stimme »verändern, variieren« (vgl. OLD 6d). Der Auctor ad Herennium verwendet es in diesem allgemeinen Sinne (Rhet. Her. 3,14,25). Ebenfalls in Verbindung mit der mollitudo (hier in Form der Adjektive mollis und flexibilis, die eine oratio charakterisieren) verwendet Cicero das gleiche Verb in Cic. orat. 52: nam cum est oratio mollis et tenera et ita flexibilis, ut sequatur, quocumque torqueas, tum et naturae variae et voluntates multum inter se distantia effecerunt genera dicendi. Die Variation wird dabei als Gegenteil der nicht-variierenden, natürlichen, geraden (recta) Stimme verstanden, z. B. Sen. dial. 10(= de brevitate vitae),12,4 (quid illi qui in componendis, audiendis, discendis canticis operati sunt, dum vocem, cuius rectum cursum natura et optimum et simplicissimum fecit, in flexus modulationis inertissimae torquent …?). Vgl. dazu die vox recta in Quint. inst. 11,3,64. nostro commodo: Die Stimme soll nicht nur in irgendeiner Art und Weise variiert werden, sondern so, dass es unserem Vorteil, d. h. der Überzeugungskraft des Vortrags und der Glaubwürdigkeit des Redners (vgl. Rhet. Her. 3,15,27) dient. Statt des Dativs ist die Konstruktion mit ad üblicher, z. B. Cic. inv. 2,46 (torquere ad suae causae commodum) und 1,30 (omnia torquenda sunt ad commodum suae causae). CAPLANS (1954) ganz andere Übersetzung »at pleasure« ist wenig überzeugend. faciet exercitatio declamationis: exercitatio Mss. : moderatio Schütz / declamationis M V1 F c β1 : imitationis V2 a β2 h (vgl. oben die textkritischen Angaben zu conservat exercitatio declamationis) Da die Übungsform, die hier gemeint ist, im Folgenden expliziert wird und daraus klar wird, dass es sich um eine Deklamationsübung handelt, ist an beiden Stellen die Lesart exercitatio declamationis (nicht imitationis) zu bevorzugen. Die Konjekturen von SCHÜTZ (1814), die mit Blick auf die Ausdrucksvarianten ratio und moderatio in Rhet. Her. 3,12,20 erfolgen, sind nicht nötig. Quapropter de magnitudine vocis et firmitudinis parte, quoniam altera natura paritur, altera cura conparatur, nihil nos adtinet commonere nisi ut ab iis qui non inscii sunt eius artificii ratio curandae vocis petatur. De ea parte firmitudinis, quae conservatur ratione declamationis, et de mollitudine

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vocis quae maxime necessaria est oratori, quoniam ea quoque moderatione declamationis conparatur, dicendum videtur. Daher betrifft uns die Stärke der Stimme und ein Teil ihrer Ausdauer, weil der eine Teil durch die Natur erworben, der andere durch sorgfältige Pflege erreicht wird, nur insofern, als wir daran erinnern, dass die richtige Methode der Stimmpflege von denjenigen eingeholt werden soll, die in dieser Kunst nicht unwissend sind. Über den Teil der Ausdauer, der durch die Methode der Deklamation bewahrt wird, und über die Flexibilität der Stimme, die für den Redner am meisten notwendig ist, muss ich jetzt, da sie ja auch durch die ausgewogene Anwendung der Deklamation erworben wird, sprechen. altera natura paritur, altera cura conparatur: Der Auctor vereinfacht hier seine am Anfang des Abschnitts (Rhet. Her. 3,11,20) gemachten Erläuterungen über den Erwerb und die Erhaltung der Stimmstärke und der Stimmausdauer. paritur/conparatur: paritur wird hier als bedeutungsgleiche Variante für das sonst in diesen Abschnitten verwendete conparatur gesetzt (vgl. ThlL, s. v. pario S. 399,57 ff.). nihil nos attinet commonere: Der Auctor grenzt den Bereich des Redelehrers (exercitatio, declamatio) deutlich von dem des Stimmpflegers (cura) ab. Dessen Aufgabengebiet (nämlich ein Teil der firmitudo vocis) und die gänzlich von der Naturbegabung abhängige magnitudo vocis wird er nicht behandeln. Auch Crassus deutet in De oratore das Thema Stimmpflege an, schließt es aber von seiner Behandlung aus: illud iam nihil ad hoc praecipiendi genus, quem ad modum voci serviatur (Cic. de orat. 3,224). Stroh, der die Rhetorica ad Herennium später datiert als De oratore (55 v. Chr.) hält diese Partie (de orat. 3,224) für das Vorbild der Partie beim Auctor (vgl. STROH [2003], S. 10, Anm. 19). ab iis, qui non inscii sunt eius artificii: Gemeint sein könnten die Sänger und Schauspieler (so TOXITES [1568], S. 326 und ACHARD [1989], S. 105, Anm. 65 mit Verweis auf Cic. de orat. 1,251), die in erster Linie ihre eigene Stimme pflegen und daher auch Auskunft darüber geben können. Oder es handelt sich um professionelle Stimmbildner, um phonasci (so NÜSSLEIN [1994], S. 377, Anm. 56, CAPLAN [1954] z. St. und GLEASON [1995], S. 105). Beides kann wohl nicht klar voneinander getrennt werden, wie die Verwendung des Wortes phonascus sowohl für den, der die eigene Stimme trainiert (so bei Quintilian und im Griechischen), als auch für den, der die Stimme

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anderer trainiert (so bei Tacitus, Sueton, Sidonius Apollinaris) zeigt. Zu den phonasci vgl. Kapitel 2.2.2. ratione/moderatione declamationis: Beides bezieht sich auf die schulische Einrichtung der Deklamation. moderatio declamationis variiert den Ausdruck ratio declamationis (vgl. STROH [2003], S. 11). Der Begriff ratio betont die systematische Seite der Stimmübung (vgl. OLD, s. v. ratio 11). moderatio, mit der Grundbedeutung »Mäßigung, maßvolles Verhalten« (vgl. OLD, s. v. moderatio 1 und 2), betont den Aspekt von Ordnung, Beherrschung und Regulierung (vgl. OLD 3a und ThlL S. 1208,45 ff.) und bezeichnet die kontrollierte, ausgewogene Anwendung von etwas, z. B. in Rhet Her. 1,2,3 (pronuntiatio est vocis, vultus, gestus moderatio cum venustate, vgl. Cic. inv. 1,9), Cic. leg. 1,27 (moderatio vocis) und in Rhet. Her. 3,15,26 (motus est corporis gestus et vultus moderatio quaedam). Falsch sind die Übersetzungen von NÜSSLEIN (1994) »durch einen wohlüberlegten Vortrag« (ratione declamationis) und »durch die Modulation des Vortrags« (moderatione declamationis). dicendum videtur: Im Folgenden spricht der Auctor über den rhetorischen Bereich der Stimme, d. h. über die Bereiche, die mittels der Deklamationsübung in ihrer Qualität erhalten oder sogar verbessert werden können. Dies sind zu einem gewissen Teil die Ausdauer und in Gänze die Flexibilität der Stimme. Die folgenden Ausführungen beziehen sich also alle auf die Deklamation.

firmitudo vocis (3,12,21–3,12,22) Anweisungen für den Redner (3,12,21) Exkurs 4: Der Begriff arteria(e) und die Stimmbildung (Rhet. Her. 3,12,21)

Der griechische Begriff ἀρτηρία kann in den hippokratischen Schriften vier verschiedene Dinge bedeuten: den Harnleiter, die Luftröhre, eine Arterie oder die Aorta (vgl. PINO CAMPOS [2007], S. 180). Der lateinische Begriff arteria kann sich prinzipiell auf immerhin zwei Dinge beziehen, die wir heute klar voneinander unterscheiden, die aber in der Antike in enger Verbindung zueinander gesehen wurden. Erstens kann mit arteria die Aderart Arterie (vgl. ThlL, s. v. arteria S. 686,14 ff.) gemeint sein, zweitens die Luftröhre, die von Cicero (nat. deor. 2,136) an zur eindeutigen Bezeichnung auch mit dem medizinischen Fachterminus arteria aspera bezeichnet werden kann (vgl. ThlL, s. v. arteria S. 686,80 ff.). Tendenziell legt der Plural die

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Bedeutung »Arterien« nahe, der Singular die Bedeutung »Luftröhre«. Bei Cicero ist das immer der Fall (nämlich »Arterien« im Plural in nat. deor. 2,24.138.139, »Luftröhre« im Singular in nat. deor. 2,136.149). Es findet sich auch ein verallgemeinender Singular, »die Arterie (an sich)«, besonders in Definitionen (z. B. Gell. 18,10,9). Der Begriff arteria wird sowohl für die Arterien als auch für die Luftröhre verwendet, weil beiden nach antiker Vorstellung die Leitung von Luft durch den Körper gemeinsam ist. Die Atemluft gelangt durch die Luftröhre in die Lunge und wird über die Arterien im Körper verteilt, während hingegen die Venen v. a. das Blut transportieren (vgl. CALBOLI [1984], S. 24 f.), vgl. Gell. 18,10,9, Cic. nat. deor. 2,138 (sanguis per venas in omne corpus diffunditur et spiritus per arterias), Sen. nat. 3,15,1 (venae … et arteriae, illa sanguinis, hae spiritus receptacula). Die Luftröhre wird als eine besondere Arterie, als raue Arterie (arteria aspera), aufgefasst. Ihre Bedeutung für die Atmung ist bekannt (siehe die medizinische Beschreibung der Luftröhre und ihrer Atmungsfunktion in Cic. nat. deor. 2,136 sowie auch Cels. 4,1,3 und Gell. 17,11). Da zudem die Stimme durch Atemluft gebildet und diese durch die Luftröhre geleitet wird, wird der Zusammenhang zwischen Luftröhre und Stimme erkannt und die Bedeutung der Luftröhre für die Stimmbildung betont (so z. B. von Cic. nat. deor. 2,149: per quam [sc. arteriam] vox principium a mente ducens percipitur et funditur, Plin. nat. 11,176: [minor lingua] hanc [sc. arteriam] operit in epulando, spiritu et voce in illa [sc. arteria] meante, ne, si potus cibusve in alienum deerraverit tramitem, torqueat, Macr. sat. 7,10,13: arteriam, per quam sonus vocis ascendit; und noch TOXITES (1568), S. 325: »arteria aspera iter et vehiculum eius [sc. vocis] est«). Nach der von Aristoteles ausgehenden Theorie (vgl. Kapitel 2.1.2), die offenbar auch der medizinischen Vorstellung, auf die sich der Auctor stützt, zugrunde liegt (s. u. die Erläuterungen zu ictus und Kapitel 5.2.5), übernimmt sie aber bei der Stimmbildung neben der reinen Luftleitung noch eine entscheidende Rolle, weil in der Luftröhre mit dem Schlag der Atemluft gegen die Luftröhre die Stimme erzeugt wird. Der enge Zusammenhang von Luftröhre, Arterien und Stimmbildung spiegelt sich auch in der Terminologie des Auctor, der im Folgenden nicht nur von der Luftröhre spricht, wie dies die Übersetzungen von CAPLAN [1954] (»windpipe«), ACHARD [1989] (»la trachée«) und NÜSSLEIN [1994] (»Luftröhre«) annehmen. Vielmehr verwendet der Auctor den Plural arteriae für die Luftwege allgemein, also für Arterien (inklusive Luftröhre), den Singular arteria aber speziell für die Luftröhre. Dies lässt sich auch daran erkennen, dass von der Luftröhre (arteria) immer im Zusammenhang mit einer bestimmten (für die Gesundheit gefährlichen) Stimmart (vox lenis; acris clamor; acuta atque attenuata adclamatio) die Rede ist, die direkte Auswirkungen auf die Luftröhre hat, weil sie in dieser erzeugt bzw. durch

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sie geleitet wird. Von den Luftwegen allgemein (arteriae) wird hingegen ohne gleichzeitigen direkten Bezug auf die Stimmproduktion gesprochen (arteriae reticendo adquiescunt; arteriae conplentur). Sie leiten Luft, nicht Stimme.

(21) Firmam ergo maxime poterimus in dicendo vocem conservare si quam maxime sedata et depressa voce principia dicemus. Nam laeditur arteria si, antequam voce leni permulsa est, acri clamore completur. Eine ausdauernde Stimme werden wir uns also beim Reden am meisten erhalten können, wenn wir die Redeanfänge mit einer möglichst ruhigen und gedämpften Stimme sprechen. Denn die Luftröhre wird verletzt, wenn sie, noch bevor sie von einer sanften Stimme geschmeidig gemacht worden ist, von einem heftigen, vollen Ton erfüllt wird. in dicendo: Hier ist die declamatio gemeint, die teilweise zum Erhalt der Stimmausdauer und größtenteils zum Erwerb der Stimmflexibilität beiträgt (vgl. oben: ratione/moderatione declamationis), und zwar die declamatio ganzer Reden (vgl. STROH [2003], S. 11 f.). firmam: Gemeint ist die von Natur aus kräftige Stimme (vgl. ThlL, s. v. firmus S. 813,25 ff.). Siehe die Erläuterungen zu Quint. inst. 11,3,13.40 und zu firmitudo in Rhet. Her. 3,12,21. Quintilian empfiehlt zur Kräftigung der Stimme regelmäßige, auf die Praxis vorbereitende Übung (inst. 11,3,24). conservare: Die Frage, wie die Stimme ausdauernd bleibt und wie man sie am besten erhalten kann, beschäftigt auch Quintilian (inst. 11,3,19–29), allerdings unter dem Aspekt der cura. sedata et depressa voce: Inhaltlich ist hier das Gegenteil von acris clamor gemeint und ungefähr das Gleiche wie mit vox lenis. Die Formulierung wird in Rhet. Her. 3,14,24 wieder aufgegriffen. sedare heißt »besänftigen, vermindern, zügeln«, z. B. mit Bezug auf körperliche Empfindungen (vgl. OLD, s.v sedo 2a), auf Affekte/Emotionen (vgl. OLD 2b) und auf Gewalt (vgl. OLD 2c). Das davon abgeleitete AdjektivPartizip verwendet der Auctor auch in Bezug auf eine ruhige Gestik (Rhet. Her. 3,15,27: sedato et constanti gestu). Cicero gebraucht es zur Charakterisierung eines ruhigen, ruhig-dahingleitenden Stils (Cic. orat. 39.92). Übertragen auf stimmliche Äußerungen heißt sedatus hier »leise, ruhig, sanft«. deprimere, »senken«, heißt mit Bezug auf die Stimme »die Tonhöhe senken« (vgl. OLD, s. v. deprimo 5 und Isid. orig. 1,18,2 sowie wohl auch Sen. epist. 15,7). Das Adjektiv-Partizip kann sich aber auch auf verminderte

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Lautstärke beziehen, wie in Lucr. 4,543 (cum tuba depresso graviter sub murmure mugit). depressus heißt also »tief (und leise)« (vgl. Exkurs 3 [2.2]). Cicero und Quintilian verwenden es nicht mit Bezug auf die Stimme. principia: Gemeint ist der Anfang der Rede, das exordium/prooemium. Der Plural ist gewählt, weil an mehrere Reden gedacht ist. Die Anweisungen gelten für jeden Redeanfang und der Redner muss sich bei jeder Rede daran halten. Lautes, anstrengendes Reden zu Beginn einer echten Rede (nicht einer Übungsrede wie hier beim Auctor) wird auch abgelehnt von Cicero (Cic. de orat. 3,227: nam a principio clamare agreste quiddam est) und Seneca (epist. 15,7: Quid ergo? a clamore protinus et a summa contentione vox tua incipiet?). Quintilian (inst. 11,3,161) empfiehlt für das exordium eine sanfte Vortragsweise (lenis pronuntiatio). laeditur: Gemeint ist mit laedere wohl eher eine konkrete Verletzung (vgl. unten: vulnus, Rhet. Her. 3,12,22: acuta exclamatio vocem volnerat) als eine allgemeine Beeinträchtigung und Schwächung wie in Rhet. Her. 4,12,18: item fugere oportet longam verborum continuationem, quae et auditoris aures et oratoris spiritum laedit. arteria: Hier ist die Luftröhre gemeint (vgl. WISSE u. a. [2008], S. 347 und LOUTSCH [1994], S. 110), durch die die Stimmluft und die Stimme geleitet werden. Sie muss am Redebeginn noch geschont werden (vgl. Fortun. rhet. 3,17 p. 131,4–8, Kapitel 2.2.1). Die Vorstellung, dass lautes Reden (clamor) die Luftröhre verletzt, findet sich auch bei Lukrez (vgl. Kapitel 2.1.4): radit vox fauces saepe facitque/ asperiora foras gradiens arteria (hier: Neutr. Pl.) clamor (Lucr. 4,528). Ähnlich heißt es später (ebenfalls in Rhet. Her. 3,12,21), dass allzu schrilles Schreien (acuta atque attenuata nimis adclamatio) die Luftröhre verletze. leni: Das Adjektiv wird in akustischem Zusammenhang häufig verwendet, vgl. ThlL, s. v. lenis S. 1144,25 ff. und z. B. Cic. de orat. 3,219 (lenis charakterisiert den Klang der Freude, voluptas), Plin. nat. 16,155 (lenis sonus, dort: »leiser Ton«) und heißt dann »sanft, weich, melodisch« (vgl. OLD 4). Quintilian empfiehlt diese Stimmart u. a. für das Prooemium (inst. 11,3,161), vgl. die Erläuterungen zu Quint. inst. 11,3,63. lenis passt hier semantisch gut zu permulcere: Die sanfte Stimme/Stimmluft berührt sanft die Luftröhre. acri clamore: clamor bezeichnet hier einen heftigen, lauten Ton, gesprochen mit viel Stimmaufwand bzw. mehrere davon (z. B. Lucr. 4,529, Quint. inst. 12,3,4). acer bezeichnet Dinge, die von den Sinnen als scharf wahrgenommen werden (vgl. OLD, s. v. acer 2 a-f), und somit auch Klänge, Töne, Stimmen, die »scharf, schrill, grell, schneidend« (vgl. OLD 2b und ThlL S. 360,40 ff.)

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sind, z. B. in Lucr. 1,275–276 (ita perfurit acri/ cum fremitu saevitque minaci murmure ventus) und 3,953 (non merito inclamet magis voce increpet acri?), Plin. nat. 22,86 (acerrimi cantus über den Gesang der Zikaden). Der Ton ist hier sogar im eigentlichen Sinne des Wortes scharf, da er die Luftröhre verletzt. Die Verbindung von acer mit clamor findet sich auch bei Liv. 2,55,6 (indignantium … acerrimus … clamor) und Sil. 9,362–363 (tandem barbaricis perfractam viribus acri/ dissipat incurrens aciem clamore Nealces). Zu acer im akustischen Bereich vgl. auch CATREIN (2003), S. 139 f. completur: Das Verb deutet darauf hin, dass beim heftigen, lauten Reden ein voller Luftstrom die Luftröhre ganz ausfüllt. Im Unterschied dazu wird durch die vox lenis die Luftröhre nur von einem sanften Luftstrahl berührt. Et intervallis longioribus uti conveniet: recreatur enim spiritu vox et arteriae reticendo adquiescunt. Et in continuo clamore remittere et ad sermonem transire oportet: commutationes enim faciunt ut nullo genere vocis effuso in omni voce integri simus. Und es wird hilfreich sein, sich längerer Pausen zu bedienen; die Stimme erholt sich nämlich durch die Atmung und die Luftwege kommen durch das Schweigen zur Ruhe. Und man muss bei einer länger anhaltenden lauten Äußerung nachlassen und zum Gesprächston übergehen; Veränderungen sorgen nämlich dafür, dass keine Stimmart verbraucht wird und wir so in der gesamten Stimme ungeschwächt sind. intervallis: Für intervallum in der Bedeutung »Pause zwischen Wörtern« vgl. ThlL, s. v. intervallum S. 2293,30 ff. und Rhet. Her. 3,14,25. 4,19,26, Cic. orat. 53.222. Quintilian befasst sich ausführlich mit der Setzung von Pausen ohne und mit Atemholen im Rahmen der oratio distincta (inst. 11,3,35–39, vgl. Kapitel 4.2.3). Eine solche längere Pause, die die Möglichkeit zum Durchatmen gibt, ist am Ende eines Gedankenzusammenhangs möglich, bei den Grammatikern heißt sie später distinctio plena oder distinctio finalis (vgl. die Erläuterungen zu distincta in Quint. inst. 11,3,35 in Kapitel 4.2.3). recreatur enim spiritu vox: Gemeint ist wohl, dass beim Atmen ohne Sprechen (nur spiritus) sich der gesamte Körper (inklusive Stimmapparat) erholt und somit dann auch wieder für die Stimmerzeugung und das Sprechen erfrischt ist. arteriae: Durch das Schweigen (und die damit verbundene Erholung des Körpers) kommen alle Luftwege (Arterien inklusive Luftröhre, denn das Atmen bezieht sich auf sie alle) zur Ruhe. Währenddessen sind sie nur mit

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dem Luftholen, Ausatmen und dem Transport der Atemluft beschäftigt, nicht aber zusätzlich mit der Stimmbildung, daher können sie sich erholen. in continuo clamore remittere: continuus charakterisiert das Fortlaufende, Ununterbrochene (vgl. ThlL, s. v. continuus S. 727,19 ff.) der lautlichen Äußerung, z. B. Tac. ann. 11,35,2: continuus cohortium clamor. Die Präposition in ist auffällig (vielleicht wäre eher ein de zu warten), aber nicht unverständlich. Während des fortlaufenden lauten Tons (temporal) bzw. im Zustand des fortlaufenden Tons (modal) muss man die Stimme entspannen. remittere heißt »in der Spannung nachlassen« (vgl. OLD, s. v. remitto 8a) und »in der Intensität nachlassen« (vgl. OLD 11d). Es kann sich auf allgemeine Zurückhaltung beim Reden beziehen (Cic. div. in Caec. 48: in dicendo aliquantum remittet). In Bezug auf die Stimme ist mit dem Nachlassen und Entspannen entweder geringere Lautstärke oder geringere Tonhöhe gemeint (vgl. die Erläuterungen zu Quint. inst. 11,3,17 und Exkurs 3 [2.5]). Der Gegensatz zu clamor deutet hier eher auf die Lautstärke hin. ad sermonem: sermo bezeichnet in der Grundbedeutung Äußerungen in der Alltagssprache (vgl. OLD, s. v. sermo 1 und 2). Der Auctor verwendet den Begriff auch für den Ton, in dem diese geäußert werden (ebenso Quintilian in inst. 11,3,25). commutationes: Gemeint sind Wechsel in der Stimmgestaltung, sei es ganz allgemein (laut, leise; hoch, tief; schnell, langsam) oder konkret Wechsel der Redetöne. Der Auctor denkt hier sicher v. a. an Wechsel von einer anstrengenden zu einer weniger anstrengenden Sprechweise. In der Bedeutung »Veränderung im Stil oder Vortrag« (vgl. OLD, s. v. commutatio 1c) kommt commutatio noch vor in Cic. de orat. 3,225 (quid, ad auris nostras et actionis suavitatem quid es vicissitudine et varietate et commutatione aptius?) und Cic. orat. 231 mit Bezug auf den Rhythmus. Falsch ist die Einordnung von Simbeck im ThlL unter dem grammatischen Terminus technicus ἀντιμεταβολή (S. 1987,20 ff.). genere vocis: Mit der Stimmart sind hier die verschiedenen Redetöne gemeint, wie z. B. clamor und sermo. effuso: effundere heißt »gänzlich aufbrauchen« (vgl. ThlL, s. v. effundo S. 226,44 ff.). Gemeint ist also, eine Stimmart (insbesondere die laute Stimme) so lange einzusetzen, bis nichts mehr von ihr übrig ist, bis man sie physisch nicht mehr produzieren kann. in omni voce: Mit der Gesamtheit der Stimme sind hier alle ihre Einzelaspekte gemeint, also sowohl laut als auch leise, hoch und tief usw. Betont

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wird die Vollständigkeit all dieser einzelnen Bestandteile der Stimme (vgl. MENGE [81988], S. 201). integri: integer heißt hier »nicht erschöpft von früherer Aktivität« (vgl. OLD, s. v. integer 4), »frisch, kräftig, stark« (vgl. ThlL S. 2073,80 ff.), z. B. Rhet Her. 4,46,59, Cic. div. 1,60, Cic. Ver. II 2,2. Et acutas vocis exclamationes vitare debemus: ictus enim fit et vulnus arteriae acuta atque attenuata nimis adclamatione et qui splendor est vocis consumitur uno clamore universus. Und schrille Ausrufe müssen wir vermeiden; durch einen schrillen und allzu dünnen Ausruf entstehen nämlich ein (heftiger) Schlag (der Atemluft) und eine Wunde in der Luftröhre, und der gesamte Glanz der Stimme wird schon durch einen einzigen lauten Ton aufgebraucht. acutas exclamationes: Der Ausdruck steht dem gerade verwendeten acris clamor sehr nahe. exclamatio und das folgende adclamatio bezeichnen wohl eher eine kurze, punktuelle Lautstärke, einen Ausruf, clamor auch die länger anhaltende Lautstärke und den entsprechenden Redeton. Das Adjektiv acutus wird sehr häufig mit Bezug auf den Klang verwendet (vgl. ThlL, s. v. acutus S. 465,62 ff. und OLD 4). Es bezieht sich auf die Tonhöhe, sowohl beim Akzent (vgl. Exkurs 3 [2.1]) als auch bei Tönen und der Stimme (vgl. die Erläuterungen zu Quint. inst. 11,3,17). Zusammengenommen sind acutae exclamationes also in Tonhöhe und Lautstärke intensive Ausrufe. ictus: Seit Aristoteles (de anima 420b27–29) ist ein je nach Theorie unterschiedlich gearteter Schlag (πληγή) die zentrale Idee der Stimmerzeugung, ohne ictus gibt es keine Stimme (vgl. Kapitel 2.1.2). Geht man direkt von der aristotelischen Stimmbildungslehre aus, so schlägt die Atemluft bei der Stimmerzeugung gegen die Luftröhre (vgl. Kapitel 2.1.2). Einen solchen Schlag der Atemluft (spiritus) gegen die bereits erwähnte Luftröhre (arteria) setzt wohl auch der Auctor voraus. Dieser Schlag fällt hier so heftig aus, dass er eine Wunde erzeugt. ictus kann metonymisch auch das bezeichnen, was durch einen ictus hervorgebracht wird, z. B. verletzte Körperstellen (vgl. ThlL, s. v. ictus S. 167,39 ff.). ictus und vulnus (vgl. ThlL, S. 167,41: vulnus als Synonym von ictus) bezeichnen hier als Hendiadyoin den verletzenden Schlag. Es ist im Rahmen dieser Vorstellungen von der Stimmbildung unwahrscheinlich, dass hier mit ictus der Schlag des Blutes in den Adern gemeint ist (so die Einordnung von Rubenbauer im ThlL, s. v. ictus S. 167,6 f.). Dies

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würde eher den Plural arteriarum verlangen (wie z. B. in Plin. nat. 11,219). Zudem wäre bei der Wunde (vulnus) der Arterie mit Blutverlust zu rechnen (vgl. Cels. 2,10,15: arteria incisa neque coit neque sanescit), was kaum durch einen Schrei geschehen kann. Richtig hingegen ist die Einordnung von Bannier im ThlL, s. v. arteria S. 687,33 ff. vulnus: Die Verletzung der Luftröhre entsteht durch den Schlag, der – so ist zu ergänzen – bei einem hohen, lauten Ausruf nach den Vorstellungen des Auctor wohl besonders heftig ausfällt. Vor Verletzungen (ῥήματα καὶ σπάσματα) des Stimmapparates durch laute stimmliche Äußerungen (κραυγαί), mit denen eine Anstrengung des Atems einhergeht (διατάσεις τοῦ πνεύματος), warnt auch Plutarch in De tuenda sanitate praecepta (mor. 130D). Isidor von Sevilla glaubt, dass durch eine Verletzung der Luftröhre Heiserkeit (arteriasis) entsteht: haec et arteriasis vocatur, eo quod vocem raucam et clausam reddat ab arteriarum (hier: Luftröhre) iniuria (Isid. orig. 4,7,14). arteriae: Zur Verletzung der Luftröhre durch lautes Schreien s. o.: laeditur arteria si … acri clamore completur. attenuata: Das Adjektiv-Partizip stammt von ad-tenuare, das soviel heißt wie »tenuis machen«, also »verdünnen«. Mit Bezug auf Töne heißt tenuis »dünn, schwach« (vgl. auch die Erläuterungen zu Quint. inst. 11,3,32). Wie hier wird auch in Quint. inst. 11,3,41 die Dünnheit des Tones mit der Höhe des Tones in Verbindung gebracht: ille (sc. sonus acutissimus) praetenuis. Ebenso in inst. 11,3,42: vox … quo tensior et hoc tenuis et acuta magis est. Ein geschwächter bzw. schwacher Stimmton wird zudem mit Weiblichkeit assoziiert (z. B. Cic. or. frg. A XIII 22 M und Physiogn. 6). Das Partizip attenuatum (andere Lesart: extenuatum) gibt es auch in Cic. de orat. 3,216 als Gegenteil von inflatum. Die Begriffe beziehen sich dort ebenfalls auf die Fülle des Tons. Vgl. auch die Erläuterungen zu Rhet. Her. 3,14,24. splendor: Bezeichnet die Eigenschaft, visuell (vgl. OLD, s. v. splendor 1) oder auditiv als hell, klar, strahlend, glänzend wahrgenommen zu werden. Gemeint ist hier v. a. der Verlust des Glanzes der Stimme (vgl. OLD, s. v. splendor 2a), zumindest für diese Rede. Im Brutus zeichnet sich die actio durch die dignitas der körperlichen Bewegung (motus) und den splendor der Stimme aus (Cic. Brut. 239.250). Plinius d. Ä. (vgl. Kapitel 2.2.1) empfiehlt für den Stimmglanz Schnittlauch: (porrum sectivum) voci splendorem adfert (Plin. nat. 20,47). consumitur: consumere heißt hier »zerstören, verlieren, vergeuden« (vgl. ThlL, s. v. consumo S. 609,80 ff.). Der gesamte zur Verfügung stehende

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Stimmglanz (universus splendor) wird durch einen einzigen lauten Ausruf (unus clamor) zerstört. consumere kann sich auch auf das Ersticken bzw. Dämpfen der Stimme oder eines Tones selbst beziehen, z. B. Tac. hist. 1,42,1 (ambigitur, consumpseritne vocem eius instans metus), Plin. epist. 2,17,22 (interiacens andron … omnem sonum media inanitate consumit). Et uno spiritu continenter multa dicere in extrema convenit oratione: fauces enim calefiunt et arteriae conplentur et vox quae tractata varie est reducitur in quendam sonum aequabilem atque constantem. Und in einem Atemzug zusammenhängend vieles zu sagen, passt gut am Ende der Rede; die Kehle nämlich wird warm und die Luftwege füllen sich, und die Stimme, die auf abwechslungsreiche Art und Weise beschäftigt worden ist, wird zu einem gewissen gleichmäßigen und beständigen Ton zurückgeführt. uno spiritu: Die Aufforderung, in einem Atemzug längere Stücke (multa) durchzusprechen, gilt hier nur für das Ende der Rede. Damit modifiziert der Auctor seine Anweisung von oben, man müsse längere Pausen (intervalla longiora) zum Atmen einlegen, damit sich Stimme und Luftwege erholen können. continenter: Das Adverb bezeichnet das pausenlose, kontinuierliche Sprechen (vgl. OLD, s. v. continenter 1b und ThlL, s. v. contineo S. 71219 ff.), vgl. auch Rhet. Her. 3,21,22. 4,12,18. multa: Der Auctor bleibt in der Angabe, wieviel genau in einem Atemzug gesprochen werden soll, ganz unbestimmt. Dabei denkt er aber wohl speziell an lange Perioden (vgl. CAPLAN [1954] z. St. mit Verweis auf Dion. Hal. de comp. verb. 23 und Brut. 34). in extrema … oratione: Dieser Ausdruck steht in direktem Gegensatz zu den vorher besprochenen principia. Gemeint ist das Ende der Rede (vgl. die Parallelstelle Rhet. Her. 3,12,22: in totius conclusione causae), nicht auch das Ende einer Periode oder der Beweisfühung (so TOXITES [1568], S. 328). fauces enim calefiunt/arteriae conplentur/vox … reducitur: Der Auctor gibt hier keine Anweisungen, sondern beschreibt lediglich, was am Ende der Rede geschieht, sofern man uno spiritu vieles sagt. fauces enim calefiunt: Die Meinung, dass der Gebrauch der Stimme nicht nur wie hier die Kehle, sondern die Körperwärme insgesamt erhöht, findet

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sich auch in der medizinischen Literatur (vgl. Kapitel 2.3), z. B. Plut. mor. 130B-C (s. u. zu arteriae conplentur). arteriae conplentur: Eine ähnliche Vorstellung hat Plutarch in De tuenda sanitate praecepta (mor. 130B-C): Der starke Gebrauch der Stimme, die er als τοῦ πνεύματος … κίνησις definiert, (bei ihm während einer medizinischen Stimmübung, nicht während einer Rede) erhöhe die Körperwärme, verdünne das Blut, reinige alle Venen und öffne, also weite alle Arterien: φωνή … ῥωννυμένη … τὸ θερμὸν αὔξει καὶ λεπτύνει τὸ αἷμα, καὶ πᾶσαν μὲν ἐκκαθαίρει φλέβα, πᾶσαν δ᾽ ἀρτηρίαν ἀνοίγει. Plutarch empfiehlt, die Stimmübung, die er beschreibt, in kontinuierlichem Sprechen (ἐνδελεχῶς λέγειν) durchzuführen. Ähnlich wie bei Plutarch werden wohl auch beim Auctor die Luftwege nach längerem bzw. bei kontinuierlichem Gebrauch der Stimme (besser) von Luft angefüllt. Die Luftwege können demnach (aufgrund der angestiegenen Körperwärme) am Schluss der Rede mehr Luft aufnehmen und leiten als zu Beginn und somit kann man auch länger ohne Unterbrechung sprechen. tractata varie: Die Stimme ist auf mannigfaltige Art und Weise »behandelt« bzw. »gehandhabt« (vgl. OLD, s. v. tracto 2 und 4) und »ausgeübt« (vgl. OLD 7a) worden, d. h. sie hat verschiedene Redetöne angenommen, war u. a. verschieden laut und hoch. Vgl. die oben geforderten commutationes. Vgl. die Erläuterungen zur vox tractabilis in Quint. inst. 11,3,40. aequabilem: aequabilis ist hier die Eigenschaft, die der abwechslungsreichen Gestaltung der Stimme (tractata varie) gegenübersteht (vgl. die andere Nuance des Adjektivs in Rhet. Her. 3,14,25). Eine Sache ist aequabilis, wenn ihre Teile untereinander aequales, »gleich«, sind (vgl. ThlL, s. v. aequabilis S. 991,46 ff.), »frei von Variation« (vgl. OLD 2). constantem: Auch das Adjektiv constans heißt wie aequabilis »variationslos« (vgl. OLD, s. v. constans 2), z. B. Rhet. Her. 3,15,27 und (an textkritisch schwieriger Stelle) Vitr. 5,4,2: (vox) non constans (Krohn : constans Mss.) apparet sensibus, uti in cantionibus cum flectentes vocem varietatem facimus modulationis. Darüber hinaus enthält es aber auch noch die Bedeutungskomponente »beständig, sicher, fest« (vgl. ThlL, s. v. consto S. 536,22 ff.). Wenn diese hier mitschwingt, denkt der Auctor vielleicht an das Fehlen von Störgeräuschen in der aufgewärmten Stimme. In Ov. am. 1,4,70 ist die Beständigkeit des Leugnens auf die Stimme übertragen: cras mihi constanti voce dedisse nega.

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utilitas und suavitas (3,12,21–3,12,22)

Quam saepe rerum naturae gratia quaedam iure debetur, velut accidit in hac re! Nam quae dicimus ad vocem servandam prodesse, eadem attinent ad suavitudinem pronuntiationis, ut quod nostrae voci prosit, idem voluntati auditoris probetur. Wie oft wird der Natur mit gutem Grund Dank geschuldet, wie es auch in dieser Angelegenheit geschieht! Denn dieselben Dinge, von denen wir sagen, dass sie zur Bewahrung der Stimme nützlich sind, haben auch Einfluss auf die angenehme Wirkung des Vortrags, so dass genau das, was unserer Stimme nützt, auch vom Willen des Hörers gebilligt wird. Quam saepe … : Mit diesem Ausruf verleiht der Auctor seiner Aussage besonderen Nachdruck. Es ist die einzige Stelle in der Rhetorica ad Herennium, an der der Auctor selbst einen Ausruf verwendet. Ansonsten finden sich nur Ausrufe in den exempla in Buch 4. Ab hier geht es nicht mehr um die Nützlichkeit der Ratschläge bei einer Übungsrede, sondern um die angenehme Wirkung bei echten Reden. rerum naturae: Gemeint ist die natürliche Ordnung der Dinge (vgl. BAILEY [1947] zu Lucr. 1,21), die φύσις. gratia: Gemeint ist schlichtweg »Dank« (vgl. die Übersetzungen von CAPLAN [1954] und ACHARD [1989]), nicht »Anmut« (so TOXITES [1568] und NÜSSLEIN [1994]). re: Die Endstellung eines Monosyllabons ist in der Prosa selten (vgl. HARKNESS [1910], S. 155–157, HELLEGOUARC’H [1964], S. 50). nam: Der Gedanke, dass das Nützliche und das Angenehme bzw. das Schöne zusammenfallen, ist in verschiedener Variation weit verbreitet (vgl. die These des Sokrates bei Xenophon [memorab. 4,6,9], alles Nützliche [χρήσιμον] sei in Hinblick auf seinen Gebrauch auch schön [καλόν], und Balbus’ stoische Auffassung der Weltordnung als nützlich und schön in Cic. nat. deor. 2,91–153). Den Gedanken, dass utilitas und suavitas auch in der Rhetorik zusammenfallen, äußert auch Cicero (de orat. 3,181): hoc in omnibus item partibus orationis evenit, ut utilitatem ac prope necessitatem suavitas quaedam et lepos consequatur; vgl. auch Cic. de orat. 3,178 und z. B. Quint. inst. 8,3,11 im Zusammenhang mit dem Wortschmuck. Speziell zur actio vgl. Cic. de orat. 3,224–225, wo Cicero diesen Gedanken nur kurz im Zusammenhang mit der Forderung nach Abwechslung im Vortrag

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erwähnt (vgl. Kapitel 3.2.2). Wenn man den Auctor später als De oratore datiert (zur Datierung des Auctor vgl. Kapitel 3.2.1), kann man hierin ein Vorbild für diese Partie des Auctor (Rhet. Her. 3,12,21–22) sehen (so STROH [2003], S. 10, Anm. 19). Der Gedanke ist der gleiche (wobei er jeweils unterschiedlich eingeordnet wird) und stammt vielleicht aus der rhetorischen praktischen Übung. Die wörtlichen Ähnlichkeiten (utile/utile; mutatio/commutationes; effusa/effuso) deuten aber nicht zwingend auf eine direkte Abhängigkeit des Auctor von Cicero hin. ad vocem servandam/ad suavitudinem pronuntiationis … nostrae voci/ voluntati auditoris: Der Auctor erweitert seine Ausführungen (bis zum Ende von Rhet. Her. 3,12,22), die sich bisher auf die Nützlichkeit für den Redner bezogen haben, jetzt um die Perspektive des Zuhörers. ad suavitatem pronuntiationis: suavitas bezeichnet in sehr allgemeinem Sinne die Qualität, den Sinnen zu gefallen (vgl. OLD, s. v. suavitas 1a), und kann sich insbesondere auf die angenehme Qualität von (melodischen, z. B. Cic. orat. 57–58, Quint. inst. 11,3,170) Klängen, Tönen etc. beziehen (vgl. OLD 1d). In rhetorischen Texten, v. a. in Ciceros Brutus (vgl. Kapitel 3.2.2) wird es häufig zur Charakterisierung der Stimme verwendet (z. B. Cic. de orat. 3,213). Das Verhältnis von utilitas (mit Bezug auf die firmitudo der Stimme) und suavitas wird in Rhet. Her. 3,12,22 genauer ausgeführt (vgl. auch Cic. de orat. 3,227). Die hier getroffene Aussage wird unten noch einmal wiederholt (res igitur eaedem vocis firmitudini et pronuntiationis suavitudini prosunt). Eine Notwendigkeit, den Text zu ändern (so KAYSER [1854] mit einer Konjektur von Schütz: eadem orationis enuntiationi serviunt), besteht nicht. idem voluntati auditoris probetur: voluntati M V1 F, edd. : voluntate V2 E : voluptate Toxites (1568), Schütz (1814) probare alicui aliquid heißt »jemandem etwas als beifallswert erscheinen lassen« (vgl. OLD, s. v. probo 6b sowie Rhet. Her. 4,37,39) und aliquid mihi probatur heißt »mir gefällt etwas« (vgl. ThlL, s. v. probo S. 1466,57 ff.). Die übliche Konstruktion ist die mit Dativ. voluptate (»durch den Genuss des Zuhörers«, vgl. Cic. orat. 159.162, part. 72), wofür sich TOXITES (1568) und ältere Ausgaben bis KAYSER (vgl. KAYSER [1854] z. St.) entscheiden, wird von keiner modernen Ausgabe als Lesart verzeichnet. Das Wort voluptas kommt zudem sonst an keiner anderen Stelle in der Rhetorica ad Herennium vor. Mit der voluntas (CAPLAN [1954]: »taste«, ACHARD [1989]: »goût«, NÜSSLEIN [2001]: »Wille«) des Zuhörers ist hier sein Wille gemeint als Instanz, der über Ablehnung oder Zustimmung entscheidet. Alle Redner, die Beifall finden wollen, richten sich, so Cicero (orat. 24), nach dem Willen, der Ent-

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scheidung und der Zustimmung der Zuhörer aus: omnes enim qui probari volunt voluntatem eorum qui audiunt intuentur ad eamque et ad eorum arbitrium et nutum totos se fingunt et accomodant. (22) Utile est ad firmitudinem sedata vox in principio; quid insuavius quam clamor in exordio causae? Intervalla vocem confirmant; eadem sententias concinniores divisione reddunt et auditori spatium cogitandi relinquunt. Conservat vocem continui clamoris remissio; et auditorem quidem varietas maxime delectat, cum sermone animum retinet aut exsuscitat clamore. Acuta exclamatio vocem volnerat; eadem laedit auditorem: habet enim quiddam inliberale et ad muliebrem potius vociferationem quam ad virilem dignitatem in dicendo adcommodatum. In extrema oratione continens vox remedio est voci. Quid? haec eadem nonne animum vehementissime calefacit auditoris in totius conclusione causae? Quoniam res igitur eaedem vocis firmitudini et pronuntiationis suavitudini prosunt, de utraque re simul erit in praesentia dictum, de firmitudine quae uisa sunt, de suavitudine quae coniuncta fuerunt: cetera suo loco paulo post dicemus. (22) Nützlich für die Ausdauer ist eine ruhige Stimme am Anfang. Was ist unangenehmer als ein lauter Ton am Anfang der Rede? Pausen kräftigen die Stimme; ebenso machen sie die Aussagen harmonischer und klarer gegliedert, indem sie sie einteilen, und lassen dem Hörer Zeit zum Nachdenken. Das Nachlassen von einem durchgängig lauten Ton erhält die Stimme; und den Hörer erfreut die Abwechslung am meisten, wenn sie seine Aufmerksamkeit durch den ruhigen Gesprächston (nur so gerade) festhält oder durch den lauten Ton erregt. Ein schriller Ausruf verwundet die Stimme; ebenso verletzt er den Hörer; er hat nämlich etwas Unedles an sich und etwas, das mehr weibischem Gekreisch als männlicher Würde beim Reden angemessen ist. Am Ende der Rede ist eine Stimmführung ohne Pausen ein Heilmittel für die Stimme. Was? Erwärmt nicht genau diese das Gemüt des Zuhörers am heftigsten am Ende der gesamten Rede? Da nun also dieselben Dinge der Ausdauer der Stimme und der angenehmen Wirkung des Vortrags nützen, werde ich für jetzt gleichzeitig über beide Dinge (genug) gesprochen haben, über die Ausdauer, was richtig schien, über die angenehme Wirkung, was damit verbunden war; über das Übrige werde ich wenig später an geeigneter Stelle sprechen. utile … causae: Von utile bis conclusione causae konstruiert der Auctor fünf Perioden, die von Mal zu Mal länger werden. Jede dieser Perioden ist in zwei Teile unterteilt, wobei der zweite Teil – mit Ausnahme der ersten Periode – jeweils länger ist. Der erste Teil beschreibt dabei jeweils die Wirkung einer bestimmten Eigenart der Stimmführung auf die firmitudo der

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Stimme in der Reihenfolge der Punkte, wie sie in Rhet. Her. 3,12,21 genannt wurden. Im zweiten Teil wird die Wirkung derselben auf den Zuhörer geschildert. Die erste und die letzte Periode enden beide mit einer rhetorischen Frage. sedata vox in principio: Vgl. Rhet. Her. 3,12,21 (und die Erläuterungen dort zu principia): quam maxime sedata et depressa voce principia dicemus. Auch Quintilian empfiehlt für das Prooemium in den allermeisten Fällen einen ruhigen Vortragsstil: prooemium frequentissime lenis convenit pronuntiatio (inst. 11,3,161). Auch Cicero (de orat. 3,227) richtet seine Empfehlungen zum Redebeginn (nicht von Anfang an laut zu sprechen, sondern sich von der Mittellage aus zu steigern) an dem für den Redner Nützlichen und für den Zuhörer Angenehmem (utile et suave) aus. clamor in exordio causae: Für causa in der Bedeutung von oratio vgl. ThlL, s. v. causa S. 689,12 ff. intervalla: Der Auctor wiederholt (vgl. Rhet. Her. 3,12,21) die positive Wirkung der Pausen auf die Ausdauer der Stimme des Redners und fügt zwei Vorteile aus der Rezipientenperspektive hinzu. Zur Verbindung von Notwendigkeit und Nützlichkeit der Pausen vgl. Cic. de orat. 3,181. sententias concinniores divisione: sententia bezeichnet den im Text ausgedrückten Sinnzusammenhang, den Gedanken (vgl. OLD, s. v. sententia 6a, vgl. auch Quint. inst. 11,3,53). divisio kann Trennungen/Teilungen/Gliederungen verschiedener Art in der Grammatik und Rhetorik (vgl. ThlL, s. v. divisio S. 1629,52 ff.) bezeichnen, sowohl von Gedanken, als auch von Wörtern (Quint. inst. 7,9,9.11). Hier ist die Aufteilung und Gliederung dieses Gedankens durch die Pausensetzung gemeint. concinnus (vgl. auch die Erläuterungen zu Rhet. Her. 3,11,19) ist die Eigenschaft, die das Ergebnis einer solchen Gliederung beschreibt, die Gedanken sind harmonischer (vgl. die Übersetzungen von ACHARD [1989] und NÜSSLEIN [1994]) und klarer gegliedert (vgl. CAPLAN [1954]: »more clear-cut«). Die Gedanken, die der Auctor hier vorstellt, entsprechen selbst dieser Forderung. Sie sind durch den parallelen und antithetischen Aufbau mit der jeweiligen Pause in der Mitte des Gedankengangs auch concinniores. Vgl. Quintilians Behandlung der Gliederung der Rede durch Pausen in inst. 11,3,35–39. continui clamoris remissio: Zu continuus und clamor s. o. Rhet. Her. 3,12,21. remissio, das Nachlassen in der Spannung (vgl. OLD, s. v. remissio 3a), wird oft mit Bezug auf die Stimme verwendet (vgl. auch Quint. inst. 11,3,17.42). Es kann sich dabei auf Senkung der Lautstärke oder der Tonhöhe (so in Quint. inst. 1,10,25) beziehen oder auf eine allgemein unan-

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strengende Sprechweise (vgl. Exkurs 3 [2.5]). Im Brutus gibt Cicero als eine der Sprecheigenschaften, die seine Gesundheit gefährdet haben, sine remissione an (Brut. 313.314). Der Gegenbegriff ist contentio (Cic. de orat. 1,261.3,227). Zum Ermüden der Stimme, also zum Versagen der Ausdauer, unter zu großer Anstrengung und Hebung des Tons vgl. Cic. de orat. 3,224 (ad vocem obtinendam nihil est … perniciosius quam effusa sine intermissione contentio) und Cic. off. 1,133 (sine contentione vox nec languens nec canora). varietas maxime delectat: Die später zum Sprichwort gewordene Aussage variatio delectat findet sich hier zum ersten Mal in der lateinischen Literatur. Für spätere Vorkommnisse vgl.: Cic. de nat. deor. 1,22 (varietatene eum delectari putamus), Phaedr. 2 prol. 10 (ut delectet varietas), Val. Max. 2,10 extr.1 (ut … varietate ipsa delectent), Iustin. praef. 1 (sive varietate et novitate operis delectatus). Bei den Griechen gibt es das Sprichwort in der Form: μεταβολὴ πάντων γλυκύ, z. B. bei Eurip. Orest. 234, Arist. rhet. 1371a28, eth. Nic. 1154b28–29. Vgl. OTTO (1890), s. v. varietas, S. 361, und BARTELS (81990), S. 186. Auch nach Cicero (de. orat. 3,227) ist die varietas einerseits für den Redner nützlich, indem sie seine Stimme erhält (tueri), und bringt anderseits dem Vortrag seine angenehme Wirkung (suavitas). Seine als junger Redner praktizierte, gesundheitsgefährdende Redeweise wies u. a. keine varietas auf (Brut. 313). sermone animum retinet aut exsuscitat clamore: retinere heißt in der Grundbedeutung »festhalten, nicht entkommen lassen« (vgl. OLD, s. v. retineo 1). Diese Bedeutung kann übertragen werden auf das Festhalten der Aufmerksamkeit (vgl. OLD 2b), wobei die Aufmerksamkeit eigens mit animum bezeichnet sein kann (Tac. ann. 4,33,3: situs gentium, varietates proeliorum, clari ducum exitus retinent ac redintegrant legentium animum), aber nicht muss (Cic. Brut. 306: rerum ipsarum varietas et magnitudo summa me delectatione retinebat). Für den Zusammenhang von Gesprächsartigem (sermo) und Aufmerksamkeit vgl. Rhet. Her. 4,16,24: haec exornatio [sc. die Figur der ratiocinatio] ad sermonem vehementer adcommodata est, et animum auditoris retinet adtentum cum venustate sermonis tum rationum expectatione. exsuscitare, »aufwecken, wachrufen« (vgl. OLD, s. v. exsuscito 1), kann sich auf das Wachrufen zu einer bestimmten Aktivität, Emotion o. Ä. beziehen (vgl. OLD 3a). Auf das Stimulieren der Aufmerksamkeit bezieht sich auch Cic. inv. 2,49: auditoris animus … omnibus iam dictis exsuscitatur. Während die Aufmerksamkeit des Hörers also durch den ruhigen Gesprächston (sermo) gehalten wird, in diesem Zustand bleibt, kann sie durch einen lauten Ton (clamor) erregt bzw. angeregt werden.

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acuta exclamatio: Zu acutus und exclamatio vgl. Rhet. Her. 3,12,21. vocem volnerat: Nach Rhet. Her. 3,12,21 verletzt ein hoher und lauter Ausruf (acuta exclamatio/adclamatio) die Luftröhre. muliebrem: Bezeichnungen der Weiblichkeit sind in der römischen Rhetorik negativ konnotiert (vgl. GLEASON [1995], S. 105 und CONNOLLY [2007], S. 94). Vgl. Quint. inst. 11,3,19.32. Frauen sind von der Welt der Rhetorik ausgeschlossen (vgl. CONNOLLY [2007], S. 84). vociferationem: In den ciceronischen Rhetorica wird das Substantiv nicht verwendet, nur das Verb vociferari in de orat. 2,287. Der Auctor benutzt es nur hier im direkten Zusammenhang mit der Stimme. Quintilian verwendet das Wort mehrfach. Zur vociferatio gehören Lautstärke (z. B. in Cic. Cluent. 30, Petron. 14,5) und/oder Heftigkeit des Vortrags (z. B. in Cic. S. Rosc. 12, Plin. nat. 34,31). In Sen. epist. 15,7 ist vociferatio die Sprechweise, die Streitende ausgehend von der Alltagssprechweise (sermo) erreichen: usque eo naturale est paulatim incitari, ut litigantes quoque a sermone incipiant, ad vociferationem transeant. Hier ist die hohe (und laute) Stimmäußerung einer Frau gemeint, die für den Redner unangemessen ist. Wie hier wird die vociferatio auch einer Frau zugeschrieben in Cic. Cluent. 30, Petron. 14,5 (dort aber nicht als typisch weiblich beschreiben). virilem dignitatem: dignitas ist die einer Person oder Sache zukommende wertverleihende und sie auszeichnende Qualität (vgl. ThlL, s. v. dignitas S. 1133,65 ff. und OLD 2a). Sie kann auch den Vortrag auszeichnen, z. B. Cic. de orat. 1,64 (cum quadam actionis etiam dignitate). Dass die dignitas etwas speziell Männliches ist, führt Cicero in off. 1,130 aus. Dort werden zwei geschlechterspezifische Arten der pulchritudo unterschieden: die venustas bei den Frauen und die dignitas bei den Männern: cum autem pulchritudinis duo genera sint, quorum in altero venustas sit, in altero dignitas, venustatem muliebrem ducere debemus, dignitatem virilem. Ähnlich verwendet der Auctor dignitas auch für (natürliche) Schönheit (wohl v. a. bei Männern) in Rhet. Her. 3,6,10. 3,7,14. in extrema oratione: Gemeint ist das Ende der Rede (vgl. in totius conclusione causae), die peroratio, nicht auch das Ende von Satzperioden (so aber TOXITES [1568], S. 331: »in peroratione et extremis periodorum membris«). Denn der Auctor orientiert sich am Ablauf der gesamten Rede. Die peroratio wird in Rhet. Her. 2,30,47–2,31,50 behandelt. continens vox: Gemeint ist eine durchgehende Stimme ohne Pausen (vgl. CAPLAN [1954]: »sustained«), wie durch die Parallelstelle in Rhet. Her.

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3,12,21 (uno spiritu continenter multa dicere) deutlich wird. Für continens in dieser Bedeutung vgl. OLD, s. v. continens 1b und z. B. Cic. Tusc. 1,16: nihil te interpellabo; continentem orationem audire malo. Nicht gemeint ist hier ein maßvoller Stimmeinsatz (so Spelthahns Einordnung dieser Stelle im ThlL, s. v. contineo S. 711,57), der gerade am Redeschluss falsch wäre. remedio: Vgl. Rhet. Her. 3,12,21: Am Ende der Rede ist die Kehle warm und die Luftwege sind voller Luft. Daher ist die continens vox hier ein gutes Mittel für die Stimmführung. remedium kommt nur an dieser Stelle beim Auctor vor. animum vehementissime calefacit: Am Ende der Rede wird der Zuhörer durch das Sprechen ohne Pausen (continens vox), das wohl besonders energisch und pathetisch wirken soll, mitgerissen. Der Auctor verwendet für das Erregen des Zuhörers am Ende der Rede die gleiche Vokabel wie für das Erwärmen der Kehle am Ende der Rede in Rhet. Her. 3,12,21 (fauces enim calefiunt). quoniam igitur: Wiederholung und Verallgemeinerung des Gedankens: was der Beständigkeit der Stimme nützt, nützt auch der angenehmen Art des Vortrags. KAYSER (1854) hält den Abschnitt von quoniam an für einen ungeschickten späteren Einschub. Belässt man den überlieferten Text, so betont der Auctor noch einmal diesen für ihn wichtigen Sachverhalt und leitet wieder über zum Hauptthema: der Behandlung der einzelnen Teile der figura vocis. erit … dictum: Der Auctor verwendet dictum est (z. B. Rhet. Her. 4,12,17) und satis dictum est (z. B. Rhet. Her. 2,12,18. 3,15,25. 3,19,32. 4,4,7) formelhaft, wenn er ein Thema abschließt und zu einem anderen übergeht. Statt des Perfekts kann dabei auch Futur II stehen (Rhet. Her. 1,8,11: de exordio satis erit dictum; deinceps ad narrationem transeamus). in praesentia: Für in praesentia in der Bedeutung »für den Moment, für jetzt« vgl. OLD, s. v. praesens 16b und z. B. Cic. inv. 1,56 (de inductione quidem satis in praesentia dictum videtur) und Quint. inst. 5,7,15. cetera suo loco paulo post: Der Auctor hat über die suavitudo das gesagt, was mit der firmitudo zusammenhängt (de suavitudine quae coniuncta fuerunt). Alles was sonst über die suavitudo gesagt werden kann (cetera), wird er an der jeweils passenden Stelle vortragen. So erreicht man bspw. auch durch die richtige elocutio u. a. suavitas, eine angenehme Wirkung (Rhet. Her. 4,56,69).

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mollitudo vocis (3,13,23–3,14,25) Einteilung in Redetöne (3,13,23–3,13,24)

(23) Mollitudo igitur vocis, quoniam omnis ad rhetoris praeceptionem pertinet, diligentius nobis consideranda est. Eam dividimus in sermonem, contentionem, amplificationem. Sermo est oratio remissa et finitima cottidianae locutioni. Contentio est oratio acris et ad confirmandum et ad confutandum adcommodata. Amplificatio est oratio, quae aut in iracundiam inducit aut ad misericordiam trahit auditoris animum. Die Flexibilität der Stimme also muss von uns besonders sorgfältig betrachtet werden, da sie ja in Gänze unter die Unterweisung des Redelehrers fällt. Wir gliedern sie in den Gesprächston, den Erregungston und den Steigerungston. Der Gesprächston ist eine gelassene Redeweise und steht der alltäglichen Sprache nahe. Der Erregungston ist eine energische Redeweise und eine, die zum Bekräftigen und zum Widerlegen passt. Der Steigerungston ist eine Redeweise, die das Gemüt des Hörers entweder zum Zorn veranlasst oder zum Mitleid bewegt. mollitudo: Dies ist die dritte Stimmfähigkeit, die ganz in den Aufgabenbereich des Redelehrers fällt und zum größten Teil (maxime, so Rhet. Her. 3,11,20) bzw. ganz (so Rhet. Her. 3,12,20) durch die Deklamationsübung erreicht wird. Die mollitudo wird im Folgenden dreigeteilt in die Redetöne sermo, contentio, amplificatio. Die Reihenfolge der Töne ist am Ablauf der Rede orientiert, wie sich im Folgenden zeigen wird (vgl. STROH [2003], S. 12). omnis: Das Adjektiv betont die Vollständigkeit oder Vollzähligkeit der einzelnen Teile (vgl. MENGE [81988], S. 201). Die gesamte mollitudo, alle ihre einzelnen Teilgebiete, gehören zum rhetorischen Unterricht. sermo: sermo bezeichnet in der Grundbedeutung Äußerungen in der Alltagssprache (vgl. OLD, s. v. sermo 1 und 2), vgl. Rhet. Her. 3,12,21. Hier bezeichnet es den alltäglichen und informellen Ton des Gespräches, der nach den Forderungen in Rhet. Her. 3,12,21 und 3,12,22 zum Anfang der Rede passt. Für diese Definition vgl. Cic. off. 1,132: sermo in circulis, disputationibus, congressionibus familiarium versetur, sequatur etiam convivia. sermo ist dort das informelle Gespräch, für das es keine rhetorischen Vorschriften gibt. Vgl. mit der gleichen Bedeutung des Wortes und Abgrenzung des alltäglichen sermo von rhetorischer Äußerung (hier: declamare)

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Ov. ars 2,507: sed neque declament medio sermone diserti. Apoll warnt an dieser Stelle Redekundige davor, mitten im Alltagsgespräch gegenüber den Geliebten eine Kostprobe ihrer Kunst zu geben. oratio: sermo, contentio und amplificatio werden als oratio eingeführt. Zuerst wird hier eine allgemeine Charakteristik der Redeweisen und ihres Stils gegeben. Wenn dann in Rhet. Her. 3,14,24 konkrete Anweisungen zur Stimme folgen und dabei teilweise das gleiche Vokabular verwendet wird, sollten solche Wiederholungen nicht getilgt werden (s. u.). remissa: Das Adjektiv charakterisiert hier nicht die vox, sondern die oratio. Gemeint ist ein eher lässiger Stil, wie er zu alltäglichen Unterhaltungen passt, vgl. OLD, s. v. remissus 2b und z. B. Cic. de orat. 2,95 (dicendi molliora ac remissiora genera), Brut. 317 (remissus et lenis). contentio: Der Begriff bezeichnet nicht nur die Anstrengung der Stimme (vgl. OLD, s. v. contentio 2b, ThlL S. 672,19 ff. und Exkurs 3 [2.5] sowie Quint. inst. 11,3,22), sondern auch den Gebrauch, der von dieser Stimmart gemacht wird, also den heftigen, leidenschaftlichen, stürmischen, erregten Ton (vgl. OLD 2c und ThlL, S. 672,41 ff.), oder Reden bzw. Redeteile, die in diesem Ton vorgebracht werden (so z. B. Cic. orat. 212, de orat. 3,220: supplosio pedis in contentionibus aut incipiendis aut finiendis). contentio wird oft im Verbund mit vis genannt (z. B. Cic. de orat. 1,255. 2,213, Brut. 276). In Cic. off. 1,132 ist contentio die öffentliche Rede vor Gericht, Volksversammlung und Senat, die bestimmten rhetorischen Vorschriften folgt: contentio disceptationibus tribuatur iudiciorum, contionum, senatus. Der Gegenbegriff ist dort sermo (ebenso z. B. in Cic. de orat. 3,117.203, orat. 109), sonst auch remissio (de orat. 2,212) oder lepos (de orat. 2,230). Hier wird die contentio als Ton für die beiden Teile der argumentatio, das Beweisen und das Widerlegen, als passend beschrieben. Nach Quintilian ist der Vortrag bei der Beweisführung äußerst abwechslungsreich und vielfältig: maxime varia et multiplex actio est probationum (Quint. inst. 11,3,163). Nach CAPLAN (1954) z. St. wäre die Behandlung der contentio hier wohl peripatetisch (Caplan beruft sich auf Arist. rhet. 3,12 1413b) beeinflusst. Aristoteles (vgl. Kapitel 3.1.3) geht aber von mündlichem Stil insgesamt aus, nicht von einem bestimmten Redeton. Der Begriff contentio dürfte hier im Zusammenhang mit der exercitatio declamationis eher von der Anspannung und Anstrengung der Stimme hergeleitet sein. acris: vgl. die Ausführungen zu Rhet. Her. 3,12,21.

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amplificatio: Der Begriff amplificatio (gr. αὔξησις) bezeichnet in der Rhetorik verschiedene Arten der Vergrößerung oder Steigerung von Sachverhalten oder Wörtern (vgl. OLD, s. v. amplificatio 2 und ThlL S. 1999,82 ff. sowie BAUER [1992], Sp. 445). Die Formen der amplificatio werden v. a. zur Affekterregung eingesetzt, vgl. z. B. Cic. part. 27: est enim amplificatio vehemens quaedam argumentatio ut illa (sc. die bloße argumentatio) docendi causa, sic haec commovendi, Cic. part. 53: est igitur amplificatio gravior quaedam adfirmatio quae motu animorum conciliet in dicendi fidem. ea et verborum genere conficitur et rerum, Rhet. Her. 2,30,47: amplificatio est res quae per locum communem instigationis auditorum causa sumitur. Hier dagegen ist mit der amplificatio ein eigener Redeton gemeint (nicht ausreichend genau ist BAUER [1992], Sp. 446). Da die amplificatio besonders zur Affekterregung eingesetzt wird, nennt der Auctor den Ton, der v. a. der Affekterregung dient (Rhet. Her. 3,13,24), selbst amplificatio. aut in iracundiam/aut ad misericordiam: Zorn und Mitleid, die Hauptaffekte für Ankläger und Verteidiger mit hohem Stimmaufwand, sind bei Cicero und Quintilian Affekte, die am Schluss der Rede hervorgerufen werden sollen (Cic. inv. 1,98, Quint. inst. 6,1,9–55). Cicero nennt sie als erste in seiner Beschreibung von Affekten und derem stimmlichen Ausdruck in de orat. 3,217. Der Auctor bezieht iracundia und misericordia hier nicht explizit auf den Schlussteil der Rede. Die misericordia hat aber (so in Rhet. Her. 2,31,50) einen festen Platz im Epilog, kann jedoch auch z. B. in der narratio verwendet werden (Rhet. Her. 1,8,13).

Sermo dividitur in partes quattuor: dignitatem, demonstrationem, narrationem, iocationem. Dignitas est oratio cum aliqua gravitate et vocis remissione. Demonstratio est oratio quae docet remissa voce quomodo quid fieri potuerit aut non potuerit. Narratio est rerum gestarum aut proinde ut gestarum expositio. Iocatio est oratio quae ex aliqua re risum pudentem et liberalem potest conparare. Der Gesprächston wird in vier Teile gegliedert: den würdigen, den erklärenden, den erzählenden und den scherzhaften Gesprächston. Der würdige Gesprächston ist eine Redeweise mit einem bestimmten Maß an Würde und mit Entspanntheit der Stimme. Der erklärende Gesprächston ist eine Redeweise, die mit entspannter Stimme lehrt, wie etwas geschehen konnte oder nicht geschehen konnte. Der erzählende Gesprächston ist die Darstellung von Dingen, die stattgefunden haben, oder als ob sie stattgefunden hätten. Der scherzhafte Gesprächston ist die Redeweise, die aus irgendeiner Sache ein anständiges und edles Lachen gewinnen kann.

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sermo: Der alltagsnahe, gelassene Gesprächston wird als erstes der drei Elemente der mollitudo in vier heterogene Untergruppen gegliedert, die sich je nach Thema und Absicht des Vorgetragenen unterscheiden und unterschiedliche Seiten des sermo betrachten. Die dignitas geht vom Charakter des Sprechers aus, davon wer bzw. was für ein Redner auftritt. demonstratio und narratio setzen am Inhalt des Gesagten an (zur Unterscheidung siehe die folgenden Erläuterungen), dort, was gesagt wird und worüber gesprochen wird. Die iocatio geht davon aus, wie, mit welcher Wirkung gesprochen wird. dividitur: Für die Aufteilung der einzelnen Redetöne sermo, contentio und amplificatio in ihre jeweiligen Untertöne (hier: partes) verwendet der Auctor hier und im Folgenden den Begriff dividere. Ebenso verwendet Cicero (top. 28) den Begriff divisio für die Form der Definition, bei der ein genus in alle seine einzelnen Arten (species) aufgeteilt wird (vgl. NÖRR [1972], S. 21). dignitas: dignitas ist der Redeton, mit dem der Sprecher seiner dignitas (Rhet. Her. 3,12,22) und gravitas (s. u.) Ausdruck verleiht. Es ist eine Art Grundton, die den Redner auch im Alltagsgespräch als dignus erweist. dignitas verwendet der Auctor auch als gewünschte Eigenschaft der Rede (Rhet. Her. 4,12,17. 4,13,18) und von Wörtern (Rhet. Her. 4,8,11). gravitate: graviter pronuntiare ist, wie die kurze Zusammenfassung am Ende der Rhetorica ad Herennium (Rhet. Her. 4,56,69) zeigt, dem Auctor besonders wichtig. Die Eigenschaft der gravitas beinhaltet Ernsthaftigkeit, Erhabenheit und Würde (vgl. OLD, s. v. gravitas 6). Sie kann Rednern (z. B. Cic. Balb. 2), Schriftstellern und Stilen zugeschrieben werden (vgl. ThlL, s. v. gravitas S. 2307,56 ff.). Hier wird die gravitas der sprechenden Person auf ihre Rede im Würdeton übertragen. Mit der gravitas ist inhaltlich sicher auch die Tiefe des Tones mitgemeint (für gravis in der Bedeutung »tief« vgl. ThlL, s. v. gravis S. 2299,69 ff. und OLD 9 sowie Exkurs 3 [2.2]). TOXITES (1568), S. 333 denkt dabei mit Bezug auf diese Stelle zudem an einen vollen Ton, wie seine Beschreibung der Erzeugung der gravitas nahelegt: »fit haec gravitas plenis buccis, arteria dilatata, et inflatis pulmonibus«. et vocis remissione: Der sermo, zu dem die dignitas gehört, ist als oratio remissa et finitima cotidianae locutioni (Rhet. Her. 3,12,23) definiert worden. Dies war jedoch eine allgemeine Charakterisierung des sermo, noch nicht speziell eine Sprechanweisung für die Stimme. vocis remissione ist also eine neue Information, die daher nicht getilgt werden sollte (wie dies KAYSER [1854] tut). Zu remissio in der Bedeutung »Entspannung, Spannungslosigkeit« vgl. Rhet. Her. 3,12,22.

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demonstratio: Eine demonstratio ist allgemein die deutliche Beschreibung/ Darstellung einer Sache (vgl. ThlL, s. v. demonstratio S. 501,29 ff.). Der Auctor verwendet demonstratio auch als Terminus für die Figur, die sonst auch evidentia/ἐνάργεια genannt wird, in Rhet. Her. 4,55,68: demonstratio est, cum ita verbis res exprimitur, ut geri negotium et res ante oculos esse videatur. Im Redeton demonstratio wird dem Zuhörer gezeigt, wie etwas geschehen konnte oder nicht. Es werden also Hintergrundinformationen und Erklärungen gegeben (vgl. HALL [2007], S. 222). Die Auffassung, dass sich die demonstratio v. a. mit der Art und Weise, mit dem Wie, befasst, findet sich auch in Cic. fin. 4,13: et causae, cur quidque fiat, et demonstrationes, quem ad modum quidque fiat. Dass die demonstratio eine Vervollkommnung der dignitas darstelle (so TOXITES [1568], S. 334), lässt sich hier nicht erkennen. remissa voce: Bezieht sich im Unterschied zur Charakterisierung des sermo als oratio remissa nicht auf den allgemeinen Stil des sermo, sondern direkt auf die Stimme. Somit handelt es sich auch hier nicht um eine zu tilgende tautologische Information (so aber KAYSER [1854]). Mit Bezug auf die Stimme heißt remissus allgemein »entspannt«, kann sich aber auch speziell auf geringe Lautstärke oder Tonhöhe beziehen (vgl. Exkurs 3 [2.5]). Vgl. dazu die Erläuterungen zu Quint. inst. 11,3,17.42. narratio: Der Auctor überträgt die Bedeutung von narratio »Erzählung, Schilderung«, die hier mit denselben Worten definiert wird wie in Rhet. Her. 1,3,4, auf den Redeton. Im Unterschied zur demonstratio befasst sich die narratio mit dem Was einer Handlung, mit realen und auch fiktiven Taten. Im Unterschied zur eher statischen demonstratio zeigt sie dynamisch den Erzählablauf (in der Version des eigenen Mandanten). proinde ut: Die übliche Bedeutung von proinde ut, »ebenso wie«, ergibt hier keinen Sinn. Gemeint ist »Ereignisse, die stattgefunden haben, oder als ob sie stattgefunden hätten«. Um die irreale Komponente auszudrücken, ist proinde eigentlich überflüssig, wie der Vergleich mit der Parallelstelle bei Cicero (inv. 1,27) zeigt: narratio est rerum gestarum aut ut gestarum expositio. Der Auctor verwendet proinde in Kombination mit anderen Partikeln als ut noch an zwei anderen Stellen, auffälligerweise beide Male auch im Sinne eines irrealen »als ob« (proinde quasi und proinde atque in Rhet. Her. 2,28,45. 3,16,28). proinde signalisiert oder verstärkt beim Auctor also den irrealen Bedeutungsaspekt einer Aussage oder eines Wortes.

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iocatio: Der »Scherz« wird hier übertragen auf die scherzhafte, aber den Anstand wahrende Redeweise. Zur Theorie des Humors, des Witzes und des Lachens vgl. Cic. de orat. 2,216–290, orat. 87–89 und Quint. inst. 6,3,1– 112. Diese Autoren verwenden dort allerdings nicht das Substantiv iocatio. risum pudentem et liberalem: Das Lachen der Zuhörer, das der Redeton iocatio hervorruft, muss die Grenzen von Anstand und Würde wahren. Es steht damit immer in einem Spannungsfeld mit der gravitas, die nicht verletzt werden darf, vgl. Cic. de orat. 2,229 (ne quid iocus de gravitate decerperet), Hor. ars 222 (incolumi gravitate iocum temptavit), Cic. rep. 2,1,1 (et gravitate mixtus lepos). Auch Aristoteles (eth. Nic. 1128a) unterscheidet den plumpen Spaßmacher (βωμολόχος καὶ φορτικός) von dem, der angemessen witzig ist (εὐτράπελος), vgl. CAPLAN (1954) z. St. und HÜGLI (2001), Sp. 4. Eine Sache ist pudens, wenn sie dem für eine Person anständigen und schamhaften Verhalten entspricht bzw. es offenbart (vgl. OLD, s. v. pudens und ThlL, s. v. pudeo S. 2480,3 ff.). Ähnlich ist das liberalis, was eines freien Mannes wert oder für ihn typisch ist (vgl. OLD, s. v. liberalis 2a). Vgl. liberalis als Attribut von iocus in Apul. met. 2,19,4 und Plin. paneg. 49,8 (dort stehen liberales ioci im Kontrast zur obscaena petulantia). Contentio dividitur in continuationem et in distributionem. Continuatio est orationis enuntiandae acceleratio clamosa. Distributio est in contentione oratio frequens {cum raris et brevibus} intervallis acri vociferatione. Der Erregungston wird in einen ununterbrochenen und einen unterbrochenen Ton unterteilt. Der ununterbrochene Erregungston ist der schnelle und lautstarke Vortrag einer Rede. Der unterbrochene Erregungston ist eine pausenreiche Rede mit energischer, lauter Stimme. continuatio: Der Begriff bezeichnet allgemein eine ununterbrochene Reihe, Kontinuität (vgl. OLD, s. v. continuatio 1b und ThlL S. 721,11 ff.). In der Grammatik und Rhetorik kann damit auch speziell die Satzperiode gemeint sein (vgl. OLD 3 und ThlL S. 721,39 ff. sowie z. B. Cic. orat. 204, de orat. 1,261. 3,186). Auch der Auctor bezeichnet die Periode mit continuatio (Rhet. Her. 4,19,27) und empfiehlt sie u. a. für Schlussfolgerungen (conclusio). Da diese wohl v. a. in der argumentatio verwendet werden, passt sie, wie der gleichnamige Redeton contentio, auch zum Beweisen und Widerlegen. Hier ist ein durch Schnelligkeit ausgezeichneter Vortrag der Rede mit lauter Stimme und ohne Pausen gemeint. Die späteren Anweisungen zur continuatio (Rhet. Her. 3,13,25) deuten darauf hin, dass wohl v. a. an Perioden, an die Einheit Periode, gedacht ist, die in diesem Ton vorgetragen werden. Die kurze Definition selbst (orationis enuntiandae acceleratio clamosa)

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Rhet. Her. 3,11,19–3,14,25

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liest man auch am besten ohne Pause. Eine ähnliche Verbindung von schnellem und pausenlosem Vortrag gibt es in Cic. Brut. 320: in celeritate et continuatione verborum. Die mangelnde Verwendung von Pausen birgt den Fehler der Unverständlichkeit in sich: plus tamen est obscuritatis in contextu et continuatione sermonis (Quint. inst. 8,2,14). Einen zusammenhängenden und einen ununterbrochenen Ton unterscheidet auch Dionysios von Halikarnassos (Dem. 54, p. 247,2–3, vgl. Kapitel 3.2.4). acceleratio clamosa: clamosus bezieht sich auf die Lautstärke (vgl. clamor z. B. in Rhet. Her. 3,12,21). Das seltene Substantiv acceleratio bezieht sich auf die Geschwindigkeit. Aus den beiden anderen Stellen, für die der ThlL Belege gibt (Ps. Ambr. mans. 26, Hil. in psalm. 119,18) lässt sich nicht schließen, welche Art von Schnellerwerden genau gemeint ist. Gleiches gilt für das Verb accelerare, das sowohl ein Beeilen (schnell oder schneller sein) als auch ein Beschleunigen (schnell oder schneller werden oder machen) bedeuten kann. Hier ist wahrscheinlich ähnlich wie in Quint. inst. 1,1,31 (lectio adceleranda) an eine immer schneller werdende Vortragsart (wie beim accelerando in der Musik) gedacht. Aus der Gegenüberstellung zur distributio wird nur klar, dass ein Teil der Schnelligkeit der continuatio auch darin liegt, dass keine Pausen gemacht werden (vgl. TOXITES [1568], S. 334: »id est clamor continuatus atque acceleratus in coniungendis membris«. Von membra (als Teilen der Periode) spricht der Auctor allerdings nicht, vgl. Rhet. Her. 4,19,27 mit CAPLAN [1954], S. 296). distributio: Der Begriff distributio hat in der Rhetorik, Dialektik und Grammatik zahlreiche Bedeutungen, die von der Grundbedeutung »Trennung, Teilung« ausgehen (vgl. ThlL, s. v. distributio S. 1549,30 ff. und KALIVODA [1994], Sp. 891, der allerdings die Bedeutung »Redeton« verkennt). Der Auctor verwendet ihn zur Bezeichnung eines Teils der divisio, des Redeteils nach der narratio (Rhet. Her. 1,10,17), in der Bedeutung »Auf- bzw. Einteilung, Gliederung« (z. B. Rhet. Her. 1,2,3: dispositio est ordo et distributio rerum) und für die Redefigur distributio (Rhet. Her. 4,35,47). Hier gibt der Auctor dem Begriff einen systematischen Ort in der pronuntiatio. Die Pausen teilen die gesprochene Rede bzw. die Periode anders als bei der continuatio, die am Stück verläuft, in mehrere Abschnitte auf. Vermutlich werden diese Pausen an den Grenzen der membra oder incisa in der Periode gesetzt (vgl. Quint. inst. 11,3,39 und TOXITES [1568], S. 334: »est tarditas in membris dividendis«). Daher heißt der Redeton distributio. Beim Lesen der Definition selbst bieten sich auch zumindest kurze Pausen an: in contentione oratio/frequens intervallis/acri vociferatione.

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in contentione: wiederholt und unterstreicht noch einmal die Einordnung der distributio, des unterbrochenen Tons, in die contentio, den Erregungston. frequens {cum raris et brevibus} intervallis: Eine oratio ist frequens, wenn sie »dicht gepackt« ist (vgl. OLD, s. v. frequens 1a), wenn ihre einzelnen Elemente dicht beeinander gestellt sind (vgl. ThlL S. 1297,31 ff. und Cic. Brut. 250), d. h. wenn die Wörter dicht aufeinander folgen. Gemeint ist also frequens verbis, »gehäuft«, »wortdicht«. Nach Rhet. Her. 4,19,27 ist Wortdichte notwendig für die Kraft der Periode (continuatio): ad continuationis vim adeo frequentatio necessaria est, ut infirma facultas oratoris videatur nisi sententiam et contrarium et conclusionem (die drei Fälle, für die die continuatio empfohlen wird) frequentibus effert verbis. Der Überlieferung nach (von der die modernen Ausgaben nicht abweichen) werden für die distributio hier seltene und kurze Pausen vorgeschrieben. Für intervallum in der Bedeutung »Pause« vgl. Rhet. Her. 3,12,21. Betrachtet man nur die Bedeutung des Wortes distributio (s. o.) und die Gegenüberstellung mit der continuatio, so ließe sich vielleicht noch hinnehmen, dass sich die distributio von der continuatio durch das Vorhandensein von Pausen überhaupt unterscheidet, also auch wenn diese selten und kurz sind. Der Kontrast zwischen beiden wäre dann nicht besonders stark. Mit der späteren Sprechanweisung zur distributio (Rhet. Her. 3,14,25: quantum spatii in singulas exclamationes sumpserimus, tantum in singula intervalla spatii consumere iubemur), die eher als Gegenteil der continuatio aufzufassen ist, ist diese Aussage allerdings nicht mehr zu vereinbaren. Pausen gibt es demnach ebenso viele wie Ausrufe. Daher ist raris sachlich nur dann richtig, wenn wenige Ausrufe stattfinden. Die Länge der Pausen soll so lang sein wie die Ausrufe selbst, also nicht kurz. Somit ist brevibus hier sachlich falsch. KAYSER (1854), S. 277 bemerkt zurecht, dass man daher eher mit der Anweisung cum longis et crebris intervallis rechnen würde. Diese Technik der Pausensetzung kann man sich auch gut für die Beispiele vorstellen, die unter der Redefigur distributio in Rhet. Her. 4,35,47 vorgestellt werden. Dabei handelt es sich nicht um lange Perioden (wie man sie sich bei der continuatio gut denken kann), sondern um kurze, inhaltlich klar getrennte Aussagen. Ein Eingriff in den Text ist an dieser Stelle daher auf jeden Fall nötig, sei es durch Veränderung der Adjektive z. B. in longis et crebris oder durch Tilgung einer möglichen Interpolation. So vermutet KAYSER (1854), S. 277, dass der Text ursprünglich lediglich distributio est oratio frequens intervallis gelautet haben könnte. frequens hieße dann nicht »wortdicht«, sondern »häufig (in Hinblick auf Pausen)«, und frequens intervallis hieße »pausenreich«.

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acri vociferatione: Für acer vgl. die Erläuterungen zu Rhet. Her. 3,12,21, für vociferatio zu Rhet. Her. 3,12,22. Die distributio ist also noch schärfer und lauter als die continuatio, die nur als clamosa charakterisiert wird. (24) Amplificatio dividitur in cohortationem et conquestionem. Cohortatio est oratio quae aliquod peccatum amplificans auditorem ad iracundiam adducit. Conquestio est oratio quae incommodorum amplificatione animum auditoris ad misericordiam perducit. (24) Der Steigerungston wird in den anspornenden und den rührenden unterschieden. Der anspornende Steigerungston ist eine Redeweise, die irgendein Vergehen vergrößert und so den Hörer zum Zorn veranlasst. Der rührende Steigerungston ist eine Redeweise, die durch die steigernde Darstellung von unglücklichen Umständen das Herz des Zuhörers zu Mitleid veranlasst. cohortatio: Das Wort wird in der Rhetorica ad Herennium zum ersten Mal verwendet. Die entsprechende Redeweise heißt bei Cicero indignatio, ist aber nicht auf die stimmliche Äußerung begrenzt (Cic. inv. 1,100: indignatio est oratio, per quam conficitur, ut in aliquem hominem magnum odium aut in rem gravis offensio concitetur), eine aufhetzende Rede heißt auch cohortatio (Cic. Phil. 2,91). Den Begriff cohortatio verwendet Cicero auch für die Beratungsrede (Cic. part. 58), für das untechnische Zureden (Cic. de orat. 2,89), für ein allgemeines Mittel der Affekterregung (Cic. de orat. 2,337, Top. 86) und für eine Aufgabe der Redner (oratorum officium), die von den Rhetoren nicht systematisch behandelt werde (Cic. de orat. 2,64). aliquod peccatum: Der Auctor behandelt in Rhet. Her. 2,3,5, wie der Redner mit einem peccatum in der causa coniecturalis, genauer bei der Erörterung der Wahrscheinlichkeit (probabile) des Vergehens gemessen am bisherigen Leben (vita) des Verdächtigten, umgehen soll und gibt dort Beispiele. ad iracundiam: vgl. die Ausführungen zu Rhet. Her. 3,13,23. conquestio: Der Begriff bezeichnet die Klage und das Beklagen allgemein (vgl. OLD, s. v. conquestio a) sowie in der Rhetorik auch den Teil des Epilogs, in dem Mitleid erregt wird (z. B. Fortun. rhet. 2,31 p. 120,10 und Mart. Cap. 5,565: conquestio, id est miseratio). Dieser Redeteil heißt beim Auctor commiseratio (Rhet. Her. 2,30,47). Cicero bezeichnet die conquestio ebenfalls als oratio, die Mitleid erregen soll, bezieht sie aber nicht nur auf die stimmliche Äußerung (Cic. inv. 1,106: conquestio est oratio auditorum misericordiam captans).

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incommodorum: Das Wort ist v. a. im Plural gebräuchlich zur Bezeichnung von ungünstigen Umständen, Nachteilen, Unglück, Schwierigkeiten (vgl. OLD, s. v. incommodum 2a und ThlL, s. v. incommodus S. 986,47 ff.). Der Auctor empfiehlt die Schilderung von incommoda zur Erregung von misericordia auch in Rhet. Her. 2,31,50, besonders im Vergleich mit ehemals glücklichen Umständen: misericordia commovebitur auditoribus si … ostendemus in quibus commodis fuerimus quibusque incommodis simus, conparatione. misericordiam: vgl. die Ausführungen zu Rhet. Her. 3,13,23. dignitas … conquestio (Rückblick auf die Redetöne): Die Gruppen von Redetönen und ihre jeweilige Begriffsbildung sind durchaus heterogen (vgl. Kapitel 3.2.1): Der dem Gesprächston (sermo) zugeordnete würdige Ton (dignitas) nimmt seinen Ausgang beim Charakter des Sprechers, der erklärende (demonstratio) und der erzählende Gesprächston (narratio) setzen beim Inhalt des Vorgetragegen an. Der scherzhafte Gesprächston (iocatio) ergibt sich aus der humorvoll oder ironisch distanzierten Haltung zum Gesagten. Während beim Erregungston contentio v. a. anhand formaler Kriterien, nämlich der Pausensetzung beim Vortrag, die ununterbrochene continuatio von der unterbrochenen distributio unterschieden wird, geht es bei der Unterteilung des Steigerungstons amplificatio in den anspornenden (cohortatio) und den rührenden (conquestio) um unterschiedliche Affekte, die jeweils erregt werden sollen. Im Fall der contentio zeigt sich der enge Zusammenhang von Vortrag und schriftlichem Stil, im Fall der amplificatio der zu den Affekten (vgl. dazu Kapitel 5.1.2). Sprechanweisungen für die Redetöne (3,13,24–3,14,25)

Quoniam igitur mollitudo vocis in tres partes divisa est et eae partes ipsae sunt in octo partes alias distributae, harum octo partium quae cuiusque idonea pronuntiatio sit demonstrandum videtur. Weil also die Flexibilität der Stimme in drei Teile gegliedert ist und diese Teile selbst in acht andere Teile unterteilt sind, muss für jeden dieser acht Teile gezeigt werden, welches der jeweils passende sprachliche Vortrag ist. Quoniam … videtur: Von KAYSER (1854), S. 277 in der Folge von Schütz als unecht und ähnlich unbrauchbar und schlecht wie die beiden Schlusssätze in Rhet. Her. 2,19,30 betrachtet. Der Satz liefert aber eine kurze Zusammenfassung und Überleitung an einer Gelenkstelle des Textes und entspricht der Tendenz des Auctor, Gliederungen möglichst deutlich zu machen (vgl.

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Rhet. Her. 3,11,19–3,14,25

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seinen Anspruch – dilucide scribere – in Rhet. Her. 3,11,19). Bisher ging es um die Einführung und allgemeine Charakterisierung der Redetöne, die (in den meisten Fällen) noch allgemein als oratio definiert wurden. Im Folgenden werden konkrete Sprechanweisungen gegeben. tres partes: Gemeint sind sermo, contentio, amplificatio. octo partes: Gemeint sind dignitas, demonstratio, narratio, iocatio; continuatio, distributio; cohortatio, conquestio. Bei der Behandlung der Körpersprache (Rhet. Her. 3,15,26–27) dienen dem Auctor diese acht Sprechweisen ebenfalls als Ordnungsschema: Ad easdem igitur partes in quas vox est distributa motus quoque corporis ratio videtur esse adcommodanda (Rhet. Her. 3,15,26). Sermo cum est in dignitate, plenis faucibus quam sedatissuma et depressissuma voce uti conveniet, ita tamen ut ne ab oratoria consuetudine ad tragicam transeamus. Cum autem est in demonstratione, voce paulolum attenuata, crebris intervallis et divisionibus oportet uti, ut in ipsa pronuntiatione eas res quas demonstrabimus inserere atque insecare videamur in animis auditorum. Wenn man im würdigen Gesprächston spricht, wird dazu eine möglichst ruhige und tiefe Stimme aus voller Kehle passen, so dennoch, dass wir nicht von der rednerischen Ausdrucksweise zu der eines tragischen Schauspielers übertreten. Wenn man aber im erklärenden Gesprächston spricht, soll man eine etwas dünne Stimme, häufige Pausen und Absätze gebrauchen, damit wir unmittelbar im Vortrag die Dinge, die wir zeigen werden, in die Herzen der Zuhörer einzupflanzen und einzuschneiden scheinen. sermo cum … narrari videatur (im nächsten Absatz): Der Auctor konstruiert die drei ersten Sätze in Rhet. Her. 3,14,24 genau parallel. Auf einen einleitenden cum-Satz folgt dabei jeweils zunächst eine Sprechanweisung, die unpersönlich formuliert ist: uti conveniet; oportet uti; opus sunt (wo zwar grammatikalisch betrachtet eine persönliche Konstruktion vorliegt, der Redner aber nicht genannt wird). Daran schließt sich dann jeweils ein ut-Satz: ut transeamus; ut videamur; ut videatur. plenis faucibus: Aus voller Kehle wird ein voller Ton erzeugt. Die Eigenschaft des Tons wird hier auf den Zustand der Kehle übertragen. Ähnlich erklärt Quintilian den Einfluss der Beschaffenheit der Kehle auf den Stimmton, den sie erzeugt in inst. 11,3,20. Nur die Lautstärke (wie in Hier. in Matth. 11,16 p. 73B: plenis faucibus inclamaverunt) kann hier nicht gemeint

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sein. Dies stünde in einem gewissen Widerspruch zur quam sedatissuma et depressissuma vox, da zumindest das Adjektiv depressissuma auch den Aspekt der geringen Lautstärke in sich trägt (vgl. die Ausführungen zu Rhet. Her. 3,12,21). Gemeint ist ein Ton, in dem sich männlich-römische Würde ausdrückt (nach TOXITES [1568], S. 338 gravitas) und der in ähnlicher Form auch von tragischen Schauspielern eingesetzt wird. Dies führt zu einer ähnlichen Bedeutung wie der vox plena bei Quintilian (inst. 11,3,15). Dabei handelt es sich um eine volle, volltönende, klingende, sonore Stimme. Vgl. die Übersetzung von ACHARD (1989): »user de tout le volume vocale«, »die gesamte Lautstärke der Stimme (nicht: alle Register) einsetzen«. Der Ausdruck plenis faucibus kann sich allerdings auch in ganz anderem Zusammenhang auf eine mit Getränken gefüllte Kehle beziehen, so in Plaut. Curc. 128 (ingurgitat … in se merum avariter plenis faucibus), Plaut. Stich. 468 (propino tibi salutem plenis faucibus), Lact. inst. 7,27,12 (veniant, qui sitiunt, ut aquam salutarem de perenni fonte plenissimis faucibus trahant). quam sedatissuma et depressissuma voce: Der beim Auctor sehr seltene Superlativ auf -issumus unterstreicht hier die würdevolle Sprechweise. In Rhet. Her. 3,12,21 empfiehlt der Auctor für den Redebeginn: quam maxime sedata et depressa voce principia dicemus. Aus dem Zusammenhang ergibt sich, dass dort eine möglichst ruhige, d. h. nicht allzu schnelle (vgl. TOXITES [1568], S. 327) und leise Stimme gemeint ist. sedatissuma heißt auch hier »ruhig«, »ruhig dahingleitend« (vgl. die Ausführungen zu Rhet. Her. 3,12,21). depressissuma dürfte sich hier allerdings eher auf die Tiefe des Tons (so auch TOXITES [1568], S. 338) als auf die geringe Lautstärke beziehen, was plenis faucibus widersprechen würde. Das Adjektiv-Partizip kann grundsätzlich beide Bedeutungen annehmen (vgl. die Ausführungen zu Rhet. Her. 3,12,21). Vgl. Exkurs 3 (2.2). ad tragicam: Der Ton der dignitas, der in Gefahr ist, »tragisch« zu klingen, wird vom Auctor charakterisiert als volltönend-sonor (plenis faucibus), äußerst ruhig und tief (quam sedatissuma et depressissuma voce; vgl. vocis remissio in Rhet. Her. 3,13,23) und würdevoll (cum aliqua gravitate in Rhet. Her. 3,13,23). Mit diesem klangvollen, sanften, erhabenen, auf Wohlklang ausgerichteten Ton steht er offenbar dem Stimmklang der Tragöden, der consuetudo tragica, nahe, der diese Eigenschaften nach Auffassung des Auctor teilt bzw. in noch höherem Maße besitzt. Trotz der sonst betonten Abgrenzung des Redners vom Schauspieler (Cic. de orat. 3,220, orat. 86, Quint. inst. 11,3,181) ist die Stimme der Tragöden bei Cicero und Quintilian durchaus ein Vorbild für den Redner (vgl. Cic. de orat. 1,128, Quint. inst. 12,5,5). Vgl. Kapitel 5.2.3.

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paulolum attenuata: Die Forderung nach einer vox paulolum attenuata ist v. a. vor dem Hintergrund der quam sedatissuma et depressissuma vox zu sehen, die gerade für den würdigen Ton (dignitas) gefordert wurde. Der Ton ist in der demonstratio ein wenig dünn bzw. dünner als dieser (vgl. ACHARD [1989]: »un peu moins pleine«, CAPLAN [1954]: »rather thin toned«), insofern er mit weniger Volumen gesprochen wird (nicht plenis faucibus) und etwas höher ist (zur Tonhöhe vgl. die Erläuterungen zu attenuata in Rhet. Her. 3,12,21). crebris intervallis et divisionibus oportet uti: Vgl. die Ausführungen zu Rhet. Her. 3,12,21 und 3,12,22. Pausen behandelt Quintilian ausführlich im Rahmen der oratio distincta in inst. 11,3,35–39. Sie dienen der Deutlichkeit und Verständlichkeit des Textes. Berühmt für seine Pausen war nach Cicero der Redner Cn. Lentulus (Cic. Brut. 234). Er erzielte mit ihnen einen großen Effekt, obwohl er sonst nur ein mittelmäßiger Redner war (vgl. Kapitel 3.2.2). inserere atque insecare … in animis: inserere wird in der Bedeutung »einpflanzen« häufiger in übertragenem Sinn verwendet (vgl. OLD, s. v. insero1 3), auch in rhetorischem Zusammenhang, z. B. Cic. orat. 97 (über besonders eindrucks- und wirkungsvolle eloquentia: inserit novas opiniones, evellit insitas) und Cic. de orat. 1,114 (über Naturanlagen: inseri quidem et donari ab arte non possunt). Die Kombination mit animus findet sich auch bei Apul. Plat. 1,2, ähnlich mit mens in Ambr. off. 1,14,56. insecare heißt »zerschneiden« und auch »hineinschneiden« (vgl. ThlL, s. v. inseco S. 1854,26 ff. und Rhet. Her. 4,49,62). Wenn man inserere atque insecare als Hendiadyion auffasst (vgl. die Übersetzung von CAPLAN [1954]: »implant and engrave«), heißt das: Die häufigen Pausen und Absätze zerschneiden das, worüber man spricht, (in kleine Teile, die besser verstanden und aufgenommen werden können) und pflanzen es so fest in den Herzen der Zuhörer ein, geben ihnen Zeit, sich das Gesagte anzueignen.

Cum autem est sermo in narratione, vocum varietates opus sunt ut, quo quidque pacto gestum sit, ita narrari videatur. Strenue quod volumus ostendere factum, celeriuscule dicemus; at aliud otiose, retardabimus. Deinde modo acriter, tum clementer, maeste, hilare in omnes partes commutabimus ut verba item pronuntiationem. Si qua inciderint in narrationem dicta, rogata, responsa, si quae admirationes de quibus nos narrabimus, diligenter animum advertemus ut omnium personarum sensus atque animos voce exprimamus.

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Liegt aber der erzählende Gesprächston vor, braucht man Abwechslungen in der Stimme, so dass jede Handlung scheinbar so erzählt wird, wie sie geschehen ist. Das, was wir als hurtig ausgeführt zeigen wollen, werden wir ein wenig rascher erzählen; aber wenn etwas anderes mit Muße getan wurde, werden wir ein wenig langsamer reden. Schließlich bald lebhaft, dann sanft, traurig oder heiter werden wir in alle Richtungen ebenso wie die Worte auch den stimmlichen Vortrag verändern. Wenn in der Erzählung Aussprüche, Fragen oder Antworten, wenn irgendwelche geäußerten Verwunderungen vorkommen, von denen wir erzählen werden, dann werden wir sorgfältig unsere Aufmerksamkeit darauf wenden, dass wir die Gedanken und Gefühle aller Personen mit der Stimme zum Ausdruck bringen. in narratione: Die für den Erzählton notwendige Stimmführung wird am ausführlichsten behandelt. Der Zusammenhang zwischen dem Erzählton und der Erzählung selbst wird in diesem Abschnitt besonders deutlich, da bei der Verwendung des Wortes narratio (v. a. bei der zweiten Verwendung in narrationem) hier zwischen Erzählton und Erzählung gar nicht genau unterschieden werden kann. Quintilian empfiehlt für die narratio eine Stimme, die dem Gesprächston ähnlich ist, nur etwas heller, und mit einfachem Klang (inst. 11,3,162: vocem sermoni proximam et tantum acriorem, sonum simplicem). varietates: Vgl. die Ausführungen zu varie in Rhet. Her. 3,12,21 und varietas in 3,12,22. Die varietates hier entsprechen den in Rhet. Her. 3,12,21 aus medizinischen Gründen geforderten commutationes. Die Betonung der verschiedenen Gestaltungen der Stimme ergibt sich aus der Vorschrift, das jeweils Geschehene passend mit der Stimme wiederzugeben, hinter der die rhetorische Tugend des aptum steht. Quintilian behandelt die varietas in inst. 11,3,43–51. vocum varietates opus sunt: Diese persönliche Konstruktion von opus est ist die ursprüngliche (vgl. KÜHNER/STEGMANN [51976] II,1 §81,8, S. 387 und Golla [1935], S. 72). Die häufigere unpersönliche Konstruktion opus est aliqua re ist erst durch Analogie zu usus est gebildet worden (vgl. KÜHNER/ STEGMANN [51976] II,1 §81,8, S. 387). Bei Substantiven ist die Konstruktion eher selten (vgl. ebd. II,1 §81,8b, S. 388). Sie kommt aber auch bei Cicero vor: Eius nobis exempla permulta opus sint, si singula translationum genera quaeramus (inv. 2,57). quo quidque pacto gestum sit: Zu beschreiben, auf welche Art und Weise etwas geschehen ist (quo pacto/quomodo), fiel in Rhet. Her. 3,13,23 eher in

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den Bereich der demonstratio als in den der narratio. Die beiden Begriffe liegen also sehr nahe beieinander. narrari videatur: narrari I a β h : narrare M / videamur l d : videatur restl. Mss. Als beste Überlieferung darf (nach den textkritischen Ergebnisses Achards) narrari videatur (ed. ACHARD [1989], ebenso NÜSSLEIN [1994]) gelten. Die zweitbeste Lesart narrare videatur (edd. MARX [1894] und [21923], CALBOLI [21993]) verlangt sinngemäß eine Ergänzung des Subjekts, z. B. orator (oder evtl. auch sermo). narrare videamur (so KAYSER [1854], CAPLAN [1954]) ist die deutlich schlechteste Überlieferung. strenue … celeriuscule dicemus: TOXITES (1568), S. 338 f. gibt als hübsches Beispiel: »veni vidi vici«. at aliud otiose, retardabimus … hilare: Der Ausdruck ist hier extrem verknappt und zwingt so zu einem langsameren Lesen bzw. Vortrag. at aliud steht kurz für at aliud, quod otiose volumus ostendere factum (vgl. KAYSER [1854], S. 278). Das Folgende für Deinde si qua acriter volumus ostendere facta, tum si qua clementer volumus ostendere facta usw. clementer: Für clementer in der Bedeutung »sanft, maßvoll, langsam« vgl. ThlL, s. v. clemens S. 1333,56 ff. und OLD, s. v. clementer 2a. im omnes partes: Die Wörter und die Stimme in alle Richtungen zu verändern, heißt, sie allen Themen und Gefühlslagen anzupassen, bzw. sie alle Redetöne annehmen zu lassen. ut verba item pronuntiationem: Wie die Wörter, d. h. mit den Wörtern, ändert sich auch der stimmliche Vortrag. Quintilian (inst. 11,3,174–175) gibt außerdem auch Anweisungen zu einzelnen Wörtern, denen sich der Vortrag nur manchmal anpassen soll (vgl. Fortun. rhet. 3,20 p. 132,23–26 und Arist. rhet. 1408b5–7). dicta, rogata, responsa/admirationes: Alle vier sind Sprechhandlungen, die in einer narratio geäußert werden können. dictum ist schlicht eine irgendwie geartete Äußerung (vgl. OLD, s. v. dictum 1a und ThlL, s. v. dico S. 990,16 ff.). rogata und responsa, »Fragen/Anträge« und »Antworten/ Bescheide«, gehören inhaltlich zusammen. Der Auctor verwendet den Begriff admiratio auch in der Bedeutung »(gespielte) Verwunderung«: dubitatione utemur quid potissimum dicamus aut cui loco primum respondeamus, cum admiratione (Rhet. Her. 1,6,10).

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ut omnium personarum sensus atque animos voce exprimamus: Die Stimmführung dient hier also der Verdeutlichung der Gedanken und Gesinnungen von Menschen, über die man spricht.

(25) Sin erit sermo in iocatione, leviter tremebunda voce, cum parva significatione risus, sine ulla suspicione nimiae cachinnationis leniter oportebit ab sermone serio torquere ad liberalem iocum vocem. (25) Liegt aber der scherzhafte Gesprächston vor, wird es angemessen sein, mit leicht zitternder Stimme, mit der kleinen Andeutung eines Lachens, ohne jeglichen Anschein eines allzu lauten Auflachens die Stimme leicht von einem ernsten Ton zu einem eines freien Mannes würdigen Scherz zu wenden. sin … vocem: Im überlieferten Text kommt vox zweimal vor, in tremebunda voce und in vocem am Ende. KAYSER (1854), S. 278, der mit seinen Konjekturen und Tilgungen oft stark in den Text eingreift, scheint diese Formulierung zu nachlässig. Er folgt daher der Konjektur von SCHÜTZ (1814), nach der der Akkusativ tremebundam vocem gesetzt und das vocem am Ende des Satzes getilgt wird. CAPLAN (1954) und CALBOLI (21993) ersetzen kommentarlos vocem durch das nicht überlieferte verba, ohne dabei ihre Konjektur bzw. deren Übernahme deutlich zu machen. Es geht aber hier nicht um die Wörter, sondern um die Stimme, die verändert wird und einen neuen Redeton annimmt. Da der Text eindeutig überliefert, verständlich und grammatikalisch korrekt ist, ist ein Eingriff nicht notwendig. tremebunda: Das Wort wird von Cicero in seinen Rhetorica nicht verwendet. Es bezieht sich hier auf ein Zittern in der Stimme, das das Gesagte als ironisch erscheinen lässt. Man denke sich im Deutschen bspw. die ernst gemeinte Äußerung »Das hast du gut gemacht!« im Unterschied zu der ironischen Äußerung »Das hast du aber gut gemacht!«. Im zweiten Fall wird die Ironie durch ein leichtes Tremolo in der Stimme kenntlich gemacht, das der Auctor wohl hier zu umschreiben versucht, vgl. die »besondere Intonation« als Ironiesignal bei WEINRICH (62000), S. 64. Auch Lukrez (1,919: risu tremulo cachinnare) und Persius (3,86–87: torosa iuventus/ ingeminat tremulos naso crispante cachinnos, wobei das »Zittern« aber vermutlich »das wiehernde Auf- und Abschwellen des exaltierten Lachens« charakterisiert, vgl. KISSEL [1990] z. St.) verbinden eine Äußerung des Lachens (dort allerdings ist jeweils starkes Lachen gemeint) mit Zittern.

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risus: Das Lächeln kann sich also nicht nur in der Mimik, sondern auch in der Stimme ausdrücken, hier durch leichtes »Zittern« der Stimme oder durch ein angedeutetes Lachen. nimiae cachinnationis: Der Auctor betont doppelt den gemäßigten Grad der iocatio. cachinnatio allein bezeichnet schon das laute, ausgelassene Lachen, das rohe Gelächter. Cicero grenzt es negativ vom einfachen Lachen ab und tadelt es in Cic. Tusc. 4,66: ut si ridere concessum sit, vituperetur tamen cachinnatio. Auch von Augustinus wird es missbilligt, vgl. Aug. serm. 175,2 (risum enim pro gaudio posuit [sc. Luc. 6,21], non cachinnationem, sed exultationem) und serm. 351,3,5 (in vanis cachinnationibus). Durch das beigefügte nimiae wird die Warnung noch verstärkt. Das Maß muss in der iocatio auf jeden Fall eingehalten werden. Ähnlich verteidigt Quintilian Cicero gegen den Vorwurf, er habe bei seinen Witzen das rechte Maß verloren (inst. 6,3,2–5). torquere vocem: Zu torquere, »die Stimme verändern/variieren«, vgl. die Ausführungen zu Rhet. Her. 3,11,20. Hier ist konkret das Überführen von einem Redeton (sermo serius) in einen anderen (iocatio) gemeint. ad liberalem iocum: Vgl. die Ausführungen zu liberalis in Rhet. Her. 3,13,23 (risum pudentem et liberalem). Nicht nur das Lächeln, sondern auch der Scherz soll liberalis, eines freien Mannes würdig, sein. In Cic. de off. 1,103– 104 wird zwischen dem Witz unterschieden, der eines freien Menschen würdig ist, und dem, der seiner unwürdig ist: Duplex omnino est iocandi genus, unum inliberale, petulans, flagitiosum, obscenum, alterum elegans, urbanum, ingeniosum, facetum (104). In De oratore spielt dieser Unterschied keine Rolle (vgl. LEEMAN u. a. [1989], S. 206–210). Cum autem contendere oportebit, quoniam id aut per continuationem aut per distributionem faciendum sit, in continuatione, adaucto mediocriter sono vocis, verbis continuandis vocem quoque iungere oportebit et torquere sonum et celeriter cum clamore verba conficere, ut vim volubilem orationis vociferatio consequi possit; in distributione vocis ab imis faucibus exclamationem quam clarissimam adhibere oportet et quantum spatii in singulas exclamationes sumpserimus, tantum in singula intervalla spatii consumere iubemur. Wenn man aber im Erregungston reden muss, so muss man das ja entweder in Form des ununterbrochenen oder des unterbrochenen Erregungstons tun. Im ununterbrochenen Erregungston soll man die Lautstärke der Stimme mäßig steigern und dann mit den ununterbrochenen Wörtern auch die Stimme verbinden, den Klang variieren und schnell mit lautem Ton die

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Worte zu Ende bringen, damit die laute Stimme mit der dahinrollenden Kraft der Rede mithalten kann; im unterbrochenen Erregungston muss man ganz tief aus der Kehle einen möglichst lauten und deutlichen Ausruf hervorbringen, und wir müssen soviel Zeit auf die einzelnen Pausen verwenden, wie wir für die einzelnen Ausrufe genommen haben. faciendum sit: Der Modus bei quoniam ist in klassischer Zeit bis zu Tacitus der Indikativ, abgesehen von Fällen in der indirekten Rede und bei Modusangleichung. Die Setzung des Konjunktivs ist vom Konjunktiv beim cum causale beeinflusst, evtl. auch schon an dieser Stelle (vgl. HOFMANN/SZANTYR (1965) §338, S. 627). Der Auctor verwendet quoniam in der Regel mit Indikativ, an zwei Stellen – je nach Überlieferung – aber mit Konjunktiv, neben dieser Stelle noch in Rhet. Her. 2,18,27 (quoniam satis ostendisse videamur). MARX wählt in seiner ersten Ausgabe (1894) an beiden Stellen den Konjunktiv (vgl. MARX [1894], S. 176). In seiner editio minor (21923) ersetzt er dann den Konjunktiv an dieser Stelle hier durch den Indikativ zu faciendumst. adaucto mediocriter sono vocis: Der Auctor verwendet augere und adaugere synonym (vgl. die Ausführungen zu Rhet. Her. 3,11,20). (ad)augere sonum/ vocem heißt »die Lautstärke bzw. die Tonhöhe erhöhen« (vgl. ThlL, s. v. augeo S. 1349,56 ff. und OLD 1c), z. B. Vitr. 1,1,9 (vox scaenici … aucta cum incremento clarior et suavior), Liv. 21,33,6, Suet. Claud. 33. Der Zusatz mediocriter präzisiert die Beschreibung der continuatio als acceleratio clamosa in Rhet. Her. 3,13,23. verbis continuandis vocem quoque iungere: iungere P2 B2 I a : augere C c β2 verba continuare heißt »Wörter ohne Unterbrechung aneinanderschließen« (vgl. ThlL, s. v. continuo S. 723,9 ff.). Es wird insbesondere über Wörter in Perioden gesagt, z. B. Rhet. Her. 4,18,26 (hoc exornationis genus breviter et continuatis verbis perfectum debet esse), Cic. de orat. 3,182 (in principia continuandorum verborum). Dem Auctor scheint besonders eine Periode (vgl. auch die Ausführungen zu continuatio in Rhet. Her. 3,13,23) vorzuschweben, die ohne Pausen am Stück vorgetragen wird. Der durch die Formulierung vorgegebenen Form der Periode soll sich die Stimme anschließen und ebenfalls keine Pausen machen. Die pronuntiatio soll sich der elocutio anpassen. MARX (21923) folgt der Lesart augere, also »die Lautstärke erhöhen«. Diese Information wird aber bereits durch andere Ausdrücke (adaucto mediocriter sono vocis; cum clamore; vociferatio) gegeben. torquere sonum: Zu torquere, »den Klang bewusst variieren«, vgl. die Ausführungen zu Rhet. Her. 3,11,20.

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celeriter … verba conficere: Der Redner erhöht das Tempo nicht nur, indem er keine Pausen macht, sondern auch indem er die Wörter schneller zu Ende bringt (vgl. ThlL, s. v. conficio S. 194,83 ff. und OLD 9a), also (immer) schneller spricht. Vgl. die Definition der continuatio als acceleratio in Rhet. Her. 3,13,23. vim volubilem orationis: Gemeint ist hier offensichtlich die Kraft der abstrakt gedachten Rede, noch ohne ihre sprachliche Realisation. Denn die Stimme soll mit dieser Kraft, die z. B. Stil und Formulierung erzeugen und vorgeben, mithalten können. Für volubilis, »fließend, flüssig«, als Charakteristikum der oratio vgl. OLD, s. v. volubilis 4b und z. B. Cic. Brut. 203 und orat. 187. vociferatio: Siehe die Ausführungen zu Rhet. Her. 3,12,22. consequi: Für die Bedeutung »erreichen; erfüllen« vgl. ThlL, s. v. consequor S. 407,70 ff. und Rhet. Her. 2,1,1. In ganz ähnlichem Zusammenhang verwendet Cicero (part. 25) das Verb subsequi: quae (sc. die einzelnen Elemente der actio) plurimum valebunt, si cum orationis genere consentient et eius vim ac varietatem subsequentur. ab imis faucibus: Der helle und laute Ausruf wird nach der Vorstellung des Auctor tief in der Kehle erzeugt. exclamationem quam clarissimam: Während in der continuatio durchgehend mit maßvoller Lautstärke gesprochen wird (adaucto mediocriter sono), wird in der distributio ein punktueller lauter Ausruf gefordert. Vgl. die Ausführungen zu exclamatio in Rhet. Her. 3,12,21. Die Forderung nach Lautstärke wird durch den Superlativ quam clarissimam unterstützt. clarus heißt »laut, volltönend« (vgl. OLD, s. v. clarus 1) oder auch »hoch« (vgl. ThlL S. 1271,27 ff.). Mit Bezug auf die Lautstärke verwendet der Auctor clarus auch in Rhet. Her. 4,10,14 (clarius … dicere coepit), in Rhet. Her. 4,51,64 (dicit … clare) mit Bezug auf Lautstärke und Deutlichkeit. Bei Quintilian ist die vox clara v. a. die deutliche Stimme (vgl. Quint. inst. 11,3,15.40). adhibere: Das Verb wird wie hier häufig auf nicht-körperliche Dinge angewendet (vgl. ThlL, s. v. adhibeo S. 644,8 ff.). In der Bedeutung »anwenden, benutzen« verwendet es der Auctor auch in Rhet. Her. 3,7,13 (ordinem adhibere), in 4,41,53 (exornatio adhibenda) und in 4,44,58 (rationes adhibere expolitionis). quantum spatii … tantum: Der Zeitaufwand für sprachliche Äußerung und Pausen dazwischen ist bei der distributio also gleich groß. Gemäß der höhe-

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ren Anstrengung der Stimme braucht diese wohl eine längere Phase der Erholung. Diese Forderung macht den Texteingriff (frequens {cum raris et brevibus} intervallis) in Rhet. Her. 3,13,23 nötig. iubemur: Die erste Person Plural verwendet der Auctor häufiger, wenn er von Rednern allgemein bzw. sich und seinen Adressaten spricht. Die Formulierung im vom Auctor allgemein gern verwendeten Passiv, das den Handbuchstil unterstreicht, (vgl. GOLLA [1935], S. 85) hier ist auffällig (und in der Rhetorica ad Herennium ohne Parallele), da der Auctor nicht angibt, von wem die Anweisungen zur distributio anbefohlen werden (vgl. die Übersetzung von CAPLAN [1954]: »I advise«). Wahrscheinlich ist ganz allgemein an das Regelsystem, an die Kunstlehre gedacht, die diese Vorschriften zur Sprechweise vorgibt (vgl. Rhet. Her. 4,2,3 über das, was die Kunst vorgibt: ea quae iubeat ars). In amplificationibus cum cohortatione utemur voce attenuatissima, clamore leni, sono aequabili, † commutationibus crebris †, maxima celeritate; in conquestione utemur voce depressa, inclinato sono, crebris intervallis, longis spatiis, magnis commutationibus. De figura vocis satis dictum est; nunc de corporis motu dicendum videtur. Beim anspornenden Steigerungston werden wir eine äußerst dünne Stimme einsetzen, einen milden lauten Ton, gleichförmig verlaufenden Klang, † häufige Abwechslungen † und sehr hohe Schnelligkeit; beim rührenden Steigerungston werden wir eine leise Stimme, wechselnden Klang, häufige Unterbrechungen, langsames Tempo und große Abwechslungen verwenden. Über die Gestaltung der Stimme ist genug gesagt worden; jetzt muss ich über die Bewegung des Körpers reden. cum cohortatione: Ziel der cohortatio ist die Erregung von Zorn (Rhet. Her. 3,13,24). Vgl. die Forderung von Quintilian für die Stimme im Zorn (inst. 11,3,63): atrox in ira et aspera ac densa et respiratione crebra. voce attenuatissima: Siehe die Erläuterungen zu Rhet. Her. 3,12,21. Gemeint ist hier eine dünne, erhöhte Stimme, wie sie zum Zorn, der in der cohortatio erregt werden soll, passt. clamore leni: clamor, der laute Ton, und lenis, »sanft, mild, leise«, sind eigentlich Gegenbegriffe (vgl. die Erläuterungen zu Rhet. Her. 3,12,21 und z. B. Hor. carm. 1,27,7: lenite clamorem, sodales). Hier dient lenis der Milderung und Abschwächung des Begriffs clamor. Bei einer vox attenuatissima ist auch mit einer gewissen Lautstärke zu rechnen. Nun wird zwar auch

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Lautstärke, aber in Maßen gefordert (vgl. TOXITES [1568], S. 340: »clamor lenis, non obstreperus«). sono aequabili, † commutationibus crebris †: commutationibus crebris E : commutationibus M I In Rhet. Her. 3,12,21 ist mit dem sonus aequabilis ein Ton gemeint, der im Anschluss an eine reiche Stimmvariation gleichmäßig ist, also keine Veränderungen in der Tonhöhe oder Lautstärke aufweist. commutationes (vgl. Rhet. Her. 3,12,21) bezeichnen Wechsel in der Stimmführung, also genau das Gegenteil. Legte man hier den Sprachgebrauch Quintilians zugrunde (so auch TOXITES [1568], S. 340: »sonus aequabilis, id est, sui similis, non subsultans«), so wäre der Widerspruch vielleicht aufzulösen. In inst. 11,3,43 fordert Quintilian für einen schmuckvollen Vortrag für die Stimme gleichzeitig aequalitas und varietas. Offenbar rechnet er damit, dass dies als Widerspruch verstanden werden könnte, denn er führt in inst. 11,3,44 aus, dass aequalitas und varietas sich nicht widersprechen. aequalitas definiert er als Gleichmäßigkeit des Vortrags in dem Sinne, dass man nicht zwischen den Extremen (laut und leise, schnell und langsam usw.) hin- und herspringen dürfe. Das Gegenteil sei die inaequalitas. Hingegen versteht er unter varietas die richtige und passende Abwechslung der Stimmführung, auch im Kleinen mit sehr feinen Unterschieden, wie seine folgenden Ausführungen zeigen (inst. 11,3,45–51). Ihr Gegenteil sei μονοείδεια. Der Auctor würde dann mit einem sonus aequabilis einen Ton meinen, der nicht unvermittelt zwischen Gegensätzen in der Stimmführung hinund herwechselt, der aber dennoch – durch Übergänge – häufige, nicht unbedingt große, Veränderungen in der Stimmführung zulässt. Diese Erklärung ist aber äußerst voraussetzungsreich und wohl doch zu stark an der Quintilianpassage (inst. 11,3,43–44) ausgerichtet, nicht am Sprachgebrauch des Auctor (wie in Rhet. Her. 3,12,21). Daher ist eher ein Eingriff in den Text rätlich. Der kleinste Eingriff bestünde in einer Änderung des qualifizierenden Adjektivs crebris, das ohnehin nur in den jüngeren Handschriften überliefert ist, nicht in den Handschriftengruppen M und I aus dem 9. und 10. Jh., z. B. zu parvis. Dies stünde im Einklang mit der Tatsache, dass alle zehn Anweisungen, die hier zur cohortatio und zur conquestio gemacht werden, immer genau ein qualifizierendes Adjektiv bei sich haben. Eine solche Änderung würde den Sachverhalt klarer und widerspruchslos machen, den man sonst nur mit einem Rückgriff auf Quintilians spätere Erläuterungen erklären könnte. Der Auctor fordert einen prinzipiell gleichmäßigen Ton, bei dem keine 〈 ( sine〉commutationibus) oder aber nur kleine (commutationibus parvis) Veränderungen erlaubt sind.

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in conquestione: NORDEN (1909), S. 135, Anm. 3 suggeriert eine asianische Tendenz in den folgenden Anweisungen. Abgesehen von allen anderen Schwierigkeiten, die diese Annahme mit sich bringt (vgl. ADAMIETZ [1992], Sp. 1118 f. zur Kritik an Norden im Hinblick auf Asianismus und Attizismus und auch Kapitel 3.2.2), geht es hier aber nicht um eine allgemeine Stilrichtung, sondern um die Kennzeichnung der Sprechweise, die Mitleid erregen kann. voce depressa: Gemeint ist eine (eher) tiefe und leise Stimme (vgl. die Ausführungen zu Rhet. Her. 3,12,21) im Gegensatz zur vox attenuatissima. inclinato sono: inclinare heißt mit Bezug auf die Stimme und Töne in erster Linie »senken«, vgl. OLD, s. v. inclino 4a und z. B. Cic. orat. 56 (inclinata [voce] videri gravis). Es kann aber auch für das Verändern der Stimme allgemein verwendet werden (vgl. ThlL, s. v. inclino S. 946,67 ff.). In der gleichen Bedeutung wie hier und ebenfalls im Zusammenhang mit Klagen verwendet auch Cicero das PPP in orat. 27 (inclinata ululantique voce more Asiatico canere). Gemeint ist also ein sich bald hierhin, bald dorthin neigender Ton, wie er zum Jammern und Erzeugen von Mitleid gut passt. Vgl. Quint. inst. 11,3,64: (in) miseratione (vox) flexa et flebilis sowie Plut. mor. 623A-B (über Theophrast), Cic. de orat. 3,217, orat.56, Quint. inst. 11,3,170, Longin, RhGr 1, edd. SPENGEL/HAMMER, p. 197,4–6. Der Auctor fordert hier also einen prinzipiell tiefen, aber doch leicht variierenden Ton. crebris intervallis: Bei seiner Behandlung der Stimme verwendet der Auctor den Begriff intervallum häufig, dabei jedesmal in der Bedeutung »Pause« (ebenso in Rhet. Her. 4,19,26). In Rhet. Her. 3,19,32 bezeichnen intervalla räumlichen Abstand. NORDEN (1909), S. 135, Anm. 3, vermutet, offenbar ausgehend vom deutschen Sprachgebrauch »Intervall« in der Musik, dass hier der Abstand zwischen Tonhöhen gemeint sei. Dadurch werde das Singen im Epilog verursacht. intervallum kann diese Bedeutung haben (vgl. ThlL, s. v. intervallum S. 2295,65 ff.). Sie fände sich beim Auctor dann aber nur an dieser Stelle. Zudem ist der Gedanke der schwankenden Tonhöhe bereits durch inclinato sono ausgedrückt und müsste hier eher durch magnis intervallis bezeichnet werden. longis spatiis: spatium, der Begriff für den Zeitraum/die Zeitdauer allgemein (vgl. OLD, s. v. spatium 8 und 12), kann sich konkret auf die Zeitdauer beziehen, die man benötigt, um einen Text vorzutragen und somit die Sprechgeschwindigkeit umschreiben (vgl. z. B. Quint. inst. 11,3,17.43). Hier ist demnach ein langsames Tempo gemeint.

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magnis commutationibus: Gemeint sind große Abwechslungen in der Stimmführung in dem Sinne, dass man plötzlich von hoch in tief, von laut in leise umbricht, wie man sich das z. B. beim Klagen und Jammern zur Erregung von Mitleid gut vorstellen kann. voce attenuatissima … maxima celeritate/voce depressa … magnis commutationibus: Den Empfehlungen für die cohortatio entsprechen fast in jedem Fall Empfehlungen für die conquestio. Diese sind aber nicht parallel angeordnet und auch nicht als antithetische Gegensätze zu verstehen. Vgl. dazu das folgende Schema:

Lautstärke (und Tonhöhe) Stimmvariationen Geschwindigkeit Pausen

cohortatio

conquestio

voce attenuatissima, clamore leni sono aequabili〈sine〉commutationibus bzw. commutationibus parvis maxima celeritate –

voce depressa inclinato sono … magnis commutationibus longis spatiis crebris intervallis

4.2 Quint. inst. 11,3,14–65 Der folgende Text basiert auf der Ausgabe von WINTERBOTTOM (1970a). Zudem wurden die Ausgabe von RADERMACHER (1959) und v. a. die Übersetzungen (mit kurzen Anmerkungen) von COUSIN (1979), RAHN (31995) und RUSSELL (2001) verwendet sowie die älteren, wertvollen Kommentare von GESNER (1738) und SPALDING (1816).

4.2.1 vox: Einordnung ins rhetorische System und Einteilung (11,3,14–18) Einordnung und Einteilung der vox (11,3,14)

(14) cum sit autem omnis actio, ut dixi, in duas divisa partis, vocem gestumque, quorum alter oculos, altera aures movet, per quos duos sensus omnis ad animum penetrat adfectus, prius est de voce dicere, cui etiam gestus accommodatur. In ea prima observatio est qualem habeas, secunda quo modo utaris. (14) Da aber der Vortrag als Ganzes, wie ich gesagt habe, in zwei Teilbereiche eingeteilt ist, die Stimme und die Gestik, von denen die eine auf die

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Augen, die andere auf die Ohren einwirkt – denn durch diese beiden Sinne dringt jede Gefühlsregung zur Seele des Menschen vor – wird zuerst über die Stimme gesprochen, der auch die Gestik angeglichen wird. Bei dieser ist erstens zu beachten, was für eine Stimme man hat, zweitens, wie man sie benutzt. omnis: Das Adjektiv betont die Vollständigkeit oder Vollzähligkeit der einzelnen Teile (vgl. MENGE [81988], S. 201). ut dixi: Quintilian hat die übliche Zweiteilung der actio in Stimme und Gestik am Beginn des Kapitels über den Vortrag in inst. 11,3,1 eingeführt. vocem gestumque, quorum alter oculos, altera aures movet: formuliert als Chiasmus: die Stimme wirkt über den Hörsinn, die Gestik über den Sehsinn. omnis ad animum penetrat adfectus: In Quintilians actio-Theorie nehmen die Affekte eine wichtige Rolle ein, da über Stimme und Gestik die Sinne beeinflusst werden, über die die Affekte in die Seele der Zuhörer eindringen. Darauf verweist er schon ganz zu Beginn des actio-Kapitels: nam ita quisque, ut audit, movetur (inst. 11,3,2). Die Verbindung von Stimme und Affekt ist aristotelisch und wird auch von Cicero besprochen (vgl. Kapitel 3.1.3 und 3.2.2). Vgl. inst. 11,3,25.52.58.65 und v. a. 11,3,61. Das Allgemeine über die Einteilung und Erregung der Affekte (inst. 6,2,1–36) fügt Quintilian an seine Anweisungen zur peroratio. prius est … dicere: prius est mit Infinitiv auch in Quint. inst. 4,3,6. 8,5,34. 9,1,19. 12,3,5. cui etiam gestus accomodatur: Die Gestik wird der Stimme angeglichen. Daher spricht Quintilian zunächst über die Stimme. observatio: meint sowohl die Beobachtung selbst (vgl. ThlL, s. v. observatio S. 196,8 ff., z. B. Quint. inst. 2,17,9. 3,2,3) als auch metonymisch (als das Ergebnis einer Beobachtung) das, was beachtet werden muss, also z. B. eine Regel, einen Brauch, ein Gesetz (vgl. ThlL, s. v. observatio S. 198,37 ff., z. B. Quint. inst. 1,6,1. 1,7,9. 8,2,22 und auch 11,3,43). Beide Aspekte des Begriffs werden hier mitgedacht, denn Naturstimme und bewusst eingesetzte Stimme können von außen beobachtet werden und müssen vom Redner beachtet werden.

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Quint. inst. 11,3,14–65

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qualem habeas/quo modo utaris: Auch Cicero (orat. 59) unterteilt die Stimme in ihre natürliche Qualität (vocis bonitas) und ihren Einsatz und Gebrauch (tractatio atque usus).

natura vocis: quantitas und qualitas (11,3,14–16)

Natura vocis spectatur quantitate et qualitate. Quantitas simplicior: (15) in summa enim grandis aut exigua est, sed inter has extremitates mediae sunt species, et ab ima ad summam ac retro sunt multi gradus. Qualitas magis varia. Nam est et candida et fusca, et plena et exilis, et levis et aspera, et contracta et fusa, et dura et flexibilis, et clara et obtusa. Spiritus etiam longior breviorque. Die Natur der Stimme wird in Hinsicht auf ihre Größe und ihre Art und Weise betrachtet. Die Größe ist einfacher: (15) kurz gesagt ist sie nämlich laut oder leise. Zwischen diesen Extremen gibt es aber mittlere Formen, und auch von der tiefsten zur höchsten und umgekehrt gibt es viele Abstufungen. Die Art und Weise ist vielgestaltiger. Denn sie ist sowohl hell als auch dunkel, sowohl klangvoll als auch klanglos, sowohl glatt als auch rau, sowohl eingeschränkt als auch breit dahinströmend, sowohl starr als auch flexibel, sowohl deutlich als auch stumpf. Auch ist der Atem länger oder kürzer. natura vocis: Zur Natur der Stimme muss zwar noch die Pflege dazukommen, die wichtigste Rolle beim Vortrag spielt aber die natürliche Veranlagung: in hoc igitur non contumaciter consentio, primas partis esse naturae (Quint. inst. 11,3,11). Vgl. die gleiche Auffassung bei Arist. rhet. 1404a15– 16 (Kapitel 3.1.3), Cic. de orat. 1,145 (Kapitel 3.2.2) und ähnlich Phil. rhet.4 Col.XIVa18–27 (Kapitel 3.2.3). quantitas: Der Begriff bezeichnet (wie gr. ποσότης) eigentlich die Größe oder Menge, das Maß oder Ausmaß einer Sache, auch die Größe von Intervallen in der Musik (Vitr. 5,4,4). Er wird zum ersten Mal (analog zu qualitas) von Vitruv verwendet. Weder in Ciceros rhetorischen Werken noch in der Rhetorica ad Herennium kommt der Begriff vor. Seine Verwendung an dieser Stelle ist wohl von den Adjektiven grandis aut exigua angeregt, zu denen die Grundbedeutung von quantitas gut passt. Aus den folgenden Adjektiven geht hervor, dass Quintilian unter der quantitas die Kombination aus Lautstärke und Tonhöhe der Stimme meint (vgl. Exkurs 3 [2.4]). in summa: in summam ed. Winterbottom.

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Ein Bedeutungsunterschied zwischen in summa und in summam ist nicht festzustellen. Nach SPALDING (1816) z. St. ist in summa eine Lesart der Handschrift T (aus dem 11. Jh.) und des Codex Guelferbytanus (erstmals von Spalding kollationiert). Quintilian verwendet sonst in dieser (vgl. OLD, s. v. summa 7c) Bedeutung auch in summa (inst. 9,2,72. 12,8,11), an keiner anderen Stelle in summam. grandis aut exigua: Bezeichnen die Lautstärke. grandis kann sich in rhetorischem Zusammenhang auf den rednerischen Stil (vgl. ThlL, s. v. grandis S. 2185,52 ff.) beziehen. Auch mit Bezug auf den Klang/Ton ist es aber nicht unüblich (vgl. ThlL, s. v. grandis S. 2184,15 ff. und OLD 4b). grandis bezeichnet dann einen lauten, vollen Ton. Das Gegenteil exigua meint einen leisen, schwachen Ton (vgl. OLD, s. v. exiguus 4), z. B. in Verg. Aen. 6,493: pars tollere vocem exiguam, Ov. fast. 1,344: non exiguo laurus adusta sono, Suet. Nero 20,1: exigua et fusca (dem entspricht wohl bei Cass. Dio 61,20,2 βραχὺ καὶ μέλαν, vgl. CHARLESWORTH [1950], S. 69). ab ima ad summam: Die beiden Adjektive können sich grundsätzlich auf Tonhöhe oder Lautstärke beziehen (vgl. Exkurs 3 [2.2]). Hier bezeichnen sie, wie in der Mehrzahl der Fälle insgesamt und bei Quintilian, die Tonhöhe (ebenso WILLE [1967], S. 477 und die Übersetzungen von BUTLER [1922] und RAHN [31995]). Würde man sie hier nur auf die Lautstärke beziehen (so MÜLLER [1969], S. 33 und ZICARI [1969], S. 37 sowie die Übersetzung von RUSSELL [2001]), würde die Aussage et ab ima ad summam ac retro sunt multi gradus an dieser Stelle keine neue Information liefern (multi gradus präzisiert mediae species kaum). Zudem wäre ein Fehlen der Erwähnung der natürlichen Tonhöhe, bei der man ja gerade viele verschiedene Abstufungen feststellen kann, auffällig. So aber beziehen sich grandis und exigua auf die natürliche Lautstärke, ima und summa auf die natürliche Tonhöhe der Stimme. Beides gemeinsam ergibt die quantitas der Stimme. Für imus in der Bedeutung »sehr tief« (vgl. ThlL, s. v. inferus S. 1402,77 ff.) vgl. z. B. Sen. contr. 1 praef. 16: (vocem) per gradus paulatim ab imo ad summum perducere. Auch bei Quintilian bezieht sich ima (bzw. inferior) auf die Tonhöhe, bezeichnet also die tiefsten/sehr tiefe Töne (inst. 2,8,15. 11,3,17.22.42). In inst. 11,3,166 lässt sich nur schwer entscheiden, ob sich inferior auf die Lautstärke oder die Tonhöhe bezieht. Vermutlich ist beides gemeint, denn als Gegenteil wird zuvor eine sehr laute und hohe Sprechweise genannt (summus ille [sc. gradus] et quo nullus est in oratore acutior). summa vox bezeichnet in den meisten Fällen die sehr hohe oder höchste Stimme (Quint. inst. 2,8,15. 11,3,22.42). Siehe dazu Hor. sat. 1,3,7–8 (modo summa/ voce, modo hac, resonat quae chordis quattuor ima) mit KIESSLING/

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HEINZE (101968), S. 47, Anm. 7, und SMITH (1906), S. 398. Der Begriff kann sich aber auch auf die laute Stimme beziehen (so in Cic. de orat. 1,261). Für das Paar ima/summa zur Bezeichnung der Lautstärke vgl. Plin. nat. 10,82 über die Nachtigall (luscinia): interdum et secum murmurat, (sc. sonus) plenus, gravis, acutus, creber, extentus, ubi visum est, vibrans, summus, medius, imus (die Tonhöhe ist hier schon eindeutig mit gravis und acutus bezeichnet). extremitates: Das Wort ist zum ersten Mal bei Cicero nachweisbar, es kommt allerdings weder in seinen rhetorischen Schriften noch in der Rhetorica ad Herennium vor. Der Begriff bezieht sich v. a. auf räumliche oder zeitliche Grenzen. Eine Übertragung auf andere Sachverhalte, bei denen gewisse Abstufungen bestehen und deren Extrempunkte bzw. Grenzen bezeichnet werden sollen, ist nicht unüblich (vgl. ThlL, s. v. extremitas S. 2081,47 ff.). Quintilian überträgt den Begriff auf die Lautstärke. species: hat hier die Bedeutung einer kleineren Einheit einer Art, Gattung oder Gruppe, vgl. OLD, s. v. species 10. multi gradus: Die Abstufungen zwischen den Extremen (gradatim ascendere vocem) und die Mittellage der Stimme (mit Bezug auf die Lautstärke) bespricht Crassus in Cic. de orat. 3,227 (vgl. Kapitel 3.2.2). qualitas: Der Begriff bezeichnet die wesenhafte Qualität/den Charakter/die Natur einer Sache (vgl. OLD, s. v. qualitas 2a). Als rhetorischer Begriff mit Bezug auf die Stimme kommt er nur an dieser Stelle vor. qualitas/candida … obtusa: Quintilian nennt in sechs antithetischen Adjektivpaaren natürliche Eigenschaften der Stimme. Die erste eines Paares scheint jeweils eher positiv (candida, plena, levis, fusa, flexibilis, clara) zu sein, die zweite, die dieser gegenübersteht (fusca, exilis, aspera, contracta, dura, obtusa), eher negativ. Die Adjektive sind meistens metaphorisch aus anderen (Sinnes-) Bereichen auf die Stimme übertragen, v. a. aus den Bereichen Seh- und Tastsinn. Mindestens jeweils ein Begriff unter den Paaren ist auch üblich zur Charaktersierung eines (schriftlichen) literarischen oder rednerischen Stils (candidus, plenus, exilis, levis, fusus, durus, clarus). Hier bezeichnen die Adjektive der Reihe nach die natürlichen Stimmeigenschaften Helligkeit, Fülle, Glätte, Fluss, Variationsfähigkeit und Deutlichkeit der Stimme (vgl. MÜLLER [1969], S. 40 und WILLE [1967], S. 476). An anderer Stelle (inst. 11,3,17 ff.) bezeichnet Quintilian teilweise mit den gleichen Adjektiven (nämlich plena, aspera, contracta, fusa, clara) konkrete Stimmgestaltungen, die für bestimmte Zwecke beim konkreten Gebrauch empfohlen werden. Deshalb sollte Quintilian aber keine man-

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gelnde Schärfe in seiner Terminologie vorgeworfen werden (so aber MÜLLER [1969] passim). Ähnliche Aufzählungen von Adjektiven zur Stimmqualität gibt es bei Cic. nat. deor. 2,146 (vocis genera permulta, canorum fuscum, leve asperum, grave acutum, flexibile durum, vgl. PEASE [1958] z. St.) und Aristoteles, De anima 2.11.422b29–31 (ἐν φωνῇ οὐ μόνον ὀξύτης καὶ βαρύτης, ἀλλὰ καὶ μέγεθος καὶ μικρότης καὶ λειότης καὶ τραχύτης φωνῆς, καὶ τοιαῦθ᾽ ἕτερα: »bei der Stimme gibt es nicht nur einen hohen und einen tiefen Ton, sondern auch laut und leise, glatt und rau, und anderes dieser Art«). et candida et fusca: Die Metapher der hellen und dunklen Stimme gibt es auch im Deutschen. Wie man im Hellen gut sieht und im Dunklen schlecht, so hört man eine helle Stimme gut, eine dunkle schlecht. Das gleiche Gegensatzpaar verwendet mit Bezug auf die Stimme auch Plinius d. Ä. Über die positive Wirkung des Beischlafes auf die Stimme schreibt er: vox revocatur, cum e candida declinat in fuscam (Plin. nat. 28,58). candidus wird in der Grundbedeutung »hell, klar, strahlend« in Bezug auf Licht und Farbe sowie auf Kleidung, Haare und Hautfarbe verwendet. Es bezeichnet aber auch einen klaren Schreibstil: dulcis et candidus et fusus Herodotus (Quint. inst. 10,1,73), puro quasi quodam et candido genere dicendi (Cic. orat. 53). Boethius übersetzt in seiner Topicorum Aristotelis interpretatio 1,13 (ed. MIGNE [1891], Sp. 920D) das griechische λευκός mit candidus und bezieht es auf die gute Hörbarkeit der Stimme: Similiter autem et candidum, in corpore quidem color, in voce autem bene audile (vgl. MÜLLER [1969], S. 34). Ebenso Aristoteles selbst: τὸ λευκὸν … ἐπὶ δὲ φωνῆς τὸ εὐήκοον (Arist. top. 107a11). Vgl. die vox clara in inst. 11,3,15.40 und die vox pura in inst. 11,3,40. fuscus wird in seiner Grundbedeutung »dunkel« in Bezug auf Farbe, Hautfarbe und Ausleuchtung bzw. Licht gesagt. Mit Bezug auf die Stimme verwendet Cicero (nat. deor. 2,146) den Begriff als Gegenteil von canorus, das »klangvoll, melodisch« heißt. Sueton (Nero 20,1) beschreibt Neros vox als fusca und meint dabei wohl das Gleiche wie Cass. Dio 61,20,2 mit μέλας (vgl. CHARLESWORTH [1950], S. 69, WARMINGTON [1977], S. 78). Quintilian benutzt das Adjektiv fuscus ausschließlich mit Bezug auf die (Natur der) Stimme (hier und in inst. 11,3,171). In inst. 11,3,171 verwendet Quintilian den Ausdruck vox fusca zur Bezeichnung der Stimme des Antonius, die Cicero an der Stelle, auf die Quintilian sich bezieht (Brut. 141) mit subrauca, mit »leicht rau«, bezeichnet (vgl. Kapitel 2.2.2). Die vox fusca ist also eine von Natur aus dunkle, etwas raue Stimme, die dadurch auch einen heiseren (vgl. MÜLLER [1969], S. 35) Klang hat.

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et plena et exilis: plenus bezeichnet eine Sache, die »voll, gefüllt, voll(ständig) ausgestattet, komplett« ist. Es kann einen literarischen oder rednerischen Stil beschreiben (vgl. OLD, s. v. plenus 14), z. B.: orationis plenioris et tenuioris et item illius mediocris (Cic. de orat. 3,212), Cic. orat. 91, excelsa depressis, exilia plenis, severis iucunda mutabat (Plin. epist. 5,17,2). Das Adjektiv wird sehr häufig auch in akustischem Zusammenhang verwendet (vgl. ThlL, s. v. plenus S. 2421,54 ff.), von Quintilian sowohl für eine natürliche Stimmeigenschaft als auch für eine, die im konkreten Vortrag angenommen wird (z. B. inst 11,3,41.42.48.63.167). plenus wird verbunden mit Lautstärke (z. B. Cic. de orat. 3,31: plenissima et maxima voce; vgl. plenis faucibus/pleno ore in der Bedeutung »mit ganzem Einsatz der Stimme«, »laut«, z. B. in Rhet. Her. 3,14,24, Cic. off. 1,61), mit angenehmem Klang (z. B. Quint. inst. 11,3,167: plenius adhuc et lentius ideoque dulcius, Cic. de orat. 1,132: voce pleniorem aut suaviorem) und mit mutigem Sprechen (Quint. inst. 11,1,31. 11,3,48.63). Gemeint ist also ein angenehm klangvoller, sonorer (vgl. OLD, s. v. plenus 12a) und damit lauter, kräftiger und tiefer (vgl. MÜLLER [1969], S. 36 und WILLE [1967], S. 477) Ton. exilis heißt »dünn, mager, ungenügend« und bezieht sich z. B. auf Menschen, Tiere, Körperteile, Mengen und Farben. Außerdem kann es einen Stil charakterisieren, der (zu) wenig Schmuck oder Ausdruck aufweist (vgl. OLD, s. v. exilis 5), z. B.: Cic. de orat. 1,83, Sen. contr. 2 praef. 1, Sen. epist. 100,10, Quint. inst. 10,2,16 (exilis als zu knapper Stil gegenüber pressus, einem positiv knappen Stil). Auch mit Bezug auf die Stimme wird exilis verwendet (vgl. ThlL, s. v. exilis S. 1482,53 ff., OLD 4b): Bei Plinius d. Ä. eignet die vox exilis alten Menschen und ist mit Kraftverlust verbunden (Plin. nat. 11,270: vox roboratur a XIV annis, eadem in senecta exilior, neque in alio animalium saepius mutatur) sowie weiblichen Tieren, wobei hier eine erhöhte Tonlage (Gegenteil: gravior) gemeint ist (Plin. nat. 11,269: bubus tantum feminis vox gravior, in alio omni genere exilior quam maribus). Nach Quintilian gehört die exilitas vocis zu Frauen, Kranken und Eunuchen (inst. 11,3,19: ne ad spadonum et mulierum et aegrorum exilitatem vox nostra tenuetur, inst. 1,11,1: non enim puerum … aut femineae vocis exilitate frangi volo aut seniliter tremere). Vgl. auch Stat. Theb. 7,362: exile profatur (hier spricht ein Weinender, dessen Stimme durch häufiges Schluchzen unterbrochen wird). Eine vox exilis wird also mit Kraftlosigkeit und eher mit hohem Ton verknüpft (ebenso MÜLLER [1969], S. 35, ZICARI [1969], S. 39, WILLE [1967], S. 477), im Gegensatz zur vox plena ist sie dadurch klanglos. et levis et aspera: Das gleiche Gegensatzpaar levis/asper verwendet Cicero mit Bezug auf die Stimme (de nat. deor. 2,146, de orat. 3,216). levis bezeichnet Dinge, die glatt sind, die keine Unregelmäßigkeiten auf der Oberfläche aufweisen. Diese Bedeutung wird übertragen auf geschmeidige Sprache und Stil (vgl. Cic. de orat. 3,171 über Wortverbindungen und Quint. inst.

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10,1,44). Mit Bezug auf Silben verwendet es der Grammatiker Diomedes aus dem späten 4. Jh. n. Chr. (vgl. MÜLLER [1969], S. 36) und meint damit wohl solche ohne hart klingende Konsonanten (wie z. B. »r«) oder ohne Konsonantenverbindungen (Diom. gramm. I 428,22–24). Er nennt als Beispiele für Silben, die asperae sind: trux crux trans. Silben, die man als leves bezeichnet, seien bspw.: lana luna. Bei Tönen und Stimmen heißt das Adjektiv »glatt« oder »sanft« (vgl. ThlL, s. v. levis S. 1223,43 ff. und MÜLLER [1969], S. 36). In der Überlieferung steht neben et levis auch et lenis. lenis (vgl. ThlL, s. v. lenis S. 1144,25 ff., OLD 4) heißt in Bezug auf Töne »sanft, melodisch« (Cic. Brut. 259, Hor. carm. 1,9,19). Die beiden Bezeichnungen sind ziemlich identisch (vgl. die Anmerkungen zu lenis in inst. 11,3,63 sowie MÜLLER [1969], S. 37 und WILLE [1967], S. 478) und leicht zu verwechseln. So wird auch lenis in Opposition zu asper gesetzt (z. B. inst. 10,2,23). asper bezeichnet nicht nur Dinge mit einer rauen Oberfläche, sondern auch alles, was als rau wahrgenommen wird durch Berührung, den Sehsinn, Geschmacks-, Geruchs- und Hörsinn (vgl. dazu ThlL, s. v. asper S. 810,33 ff.). Wie levis wird es über Buchstaben (z. B. Ov. fast. 5,481 über das »r«) gesagt, über Wortverbindungen (z. B. Cic. de orat. 3,171), Wortklang (z. B. Quint. inst. 8,3,17: verba etiam ipso auditu aspera) und über lautliche Äußerungen (z. B. Sil. 11,70–71: asper … clamor). Auch die heisere Stimme kann mit vox aspera gemeint sein, da sie ebenfalls rau ist. Vgl. Isid. orig. 3,20,13: aspera vox est rauca, et quae dispergitur per minutos et indissimiles pulsus (»eine raue Stimme ist die heisere und diejenige, die sich in kleine und ungleiche Schläge zerteilt«; zu Isidor vgl. Kapitel 2.4.2). Mit dem Verb exasperare bezeichnet Quintilian das Raumachen der Stimme (inst. 11,3,20). Quintilian verwendet asper auch zur Bezeichnung einer Stimmart, die der Redner gegebenenfalls im Unterschied zum Stimmkünstler (phonascus) beim Vortrag anschlagen muss (inst. 11,3,23), und zur Charakterisierung der Sprechweise im Affekt des Zorns (inst. 11,3,63). et contracta et fusa: Was mit diesen Partizip-Adjektiven gemeint ist, lässt sich am besten durch den Vergleich der Rede mit einem in seinem Flussbett fließenden Strom veranschaulichen (vgl. Quint. inst. 9,4,7 und GESNER [1738] z. St.). Das Partizip von fundere (Grundbedeutung: »fließen lassen«), fusus, wird in rhetorischem Zusammenhang häufig verwendet (vgl. ThlL, s. v. fundo S. 1572,83 ff.). Es charakterisiert dabei meist einen weitschweifigen, weitläufigen oder üppigen Stil (bzw. eine entsprechende oratio oder einen entsprechenden orator), z. B. Cic. de orat. 2,159 (genus sermonis non fusum ac profluens, sed exile, aridum), Cic. orat. 187, Tac. dial. 31,5, Quint. inst. 9,4,138. 10,1,73.77. Bezogen auf den Rhythmus heißt fusus »frei, uneingeschränkt, unbehindert« (vgl. Quint. inst. 9,4,130: fusiores habet liberioresque numeros). Die vox fusa ist eine flüssige, uneingeschränkte Stimme. Im Ver-

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gleich mit dem Fluss bedeutet das: »eine breit dahinströmende, durch keinerlei Hindernisse in ihrem Fluß gehemmte Stimme« (MÜLLER [1969], S. 37, ähnlich ZICARI [1969], S. 40, vgl. Quint. inst. 9,4,7). Cicero verwendet in seiner Aufzählung verschiedener Sprechweisen diffusum als Gegenteil von contractum (de orat. 3,216). Auch damit ist eine flüssige, fortlaufende Sprechweise gemeint. In der Rede empfiehlt Quintilian die vox fusa für Exkurse (inst. 11,3,64). contrahere heißt mit Bezug auf Sprechen und Schreiben »kürzer/knapper machen« (vgl. ThlL, s. v. contraho, S. 761,64 ff.). contractus hat die Grundbedeutung »eingeschränkt, begrenzt«. Es wird wie fusus häufig zur Bezeichnung eines literarischen Stils verwendet und heißt dann »knapp, gedrängt«: Stoicorum astrictior est oratio aliquantoque contractior quam aures populi requirunt (Cic. Brut. 120), siccum et sollicitum et contractum dicendi propositum (Quint. inst. 11,1,32); mit dem Gegensatz fundere in Bezug auf schriftliche Ausformulierung: fundere (ausbreiten) quae natura contracta (knapp, einfach, wenig vielfältig) sunt (Quint. inst. 10,5,11). Mit Bezug auf die Stimme bedeutet das, dass diese wie ein Strom, der wenig Wasser führt, in ihrem Flussbett gehalten wird (vgl. GESNER [1738] z. St.). Die Stimme ist knapp, eingeschränkt, leise (vgl. ThlL s. v. contractus S. 765,11 ff. mit dem Synonym summissus in Bezug auf die Stimme). Als in der Rede einzusetzende Stimmart empfiehlt Quintilian die vox contracta zum Erregen von Furcht und Scheu und verbindet sie mit einer Dämpfung (summissum/summissa) des Tons (inst. 11,3,48.175). Dabei kann nur aufgrund des Gegensatzes zur vox fusa, der flüssigen Stimme, nicht gefolgert werden, dass die vox contracta eine unflüssige – im Sinne von unterbrochene – Stimme meint. Eine solche Stimmführung wäre vielmehr mit interruptus zu kennzeichnen (vgl. Cic. Cael. 59, Cic. de orat. 3,217, Tac. ann. 1,65,1, Amm. 26,6,18, Schol. Stat. Theb. 6,149). Eine oratio bzw. vox interrupta ist wie ein Strom, in dessen Flussbett sich Hindernisse befinden (vgl. Quint. inst. 9,4,7). Ein durchgängiges Fließen ist – anders als bei der vox contracta – nicht möglich, vgl. die Alternativen in Quint. inst. 9,1,35 (et continuatum et interruptum) und 9,4,7 (conexa … interrupta … oratio). et dura et flexibilis: Wie et levis et aspera findet sich auch dieses Gegensatzpaar mit der gleichen Bedeutung wie hier in der Aufzählung verschiedener Stimmarten bei Cic. nat. deor. 2,146. Ähnlich unterscheidet Aristoteles (de gen. animal. 786b10–11) die Stimme hinsichtlich der Biegsamkeit (εὐκαμψία vs. ἀκαμψία). flexibilis wird über Dinge gesagt, die leicht zu biegen, biegsam oder geschmeidig sind (vgl. ThlL, s. v. flexibilis S. 905,13 ff., OLD 1). Außerdem bezeichnet es Dinge und Personen, die die Möglichkeit zur Veränderung und Modifizierung in sich haben, die fügsam oder formbar sind (vgl. ThlL,

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s. v. flexibilis S. 905,41 ff., OLD 2). Dementsprechend ist eine vox flexibilis eine Stimme, die »gebogen« werden kann, die die Möglichkeit der als angenehm empfundenen Veränderung und Variation bietet (vgl. dazu die häufige Kombination von vocem flectere und Formen von dulcis, bspw. bei Ov. am. 2,4,25, Firm. math. 6,30,9). Diese Veränderung bezieht sich v. a. auf die Tonhöhe (vgl. OLD, s. v. flexibilis 3, ThlL S. 905,53 ff., OLD, s. v. flecto 11, ThlL S. 895,61 ff.), was aus der engen Verbindung zum Gesang (z. B. Ov. am. 2,4,25, Lucr. 5,1406) sowie z. B. aus Vitr. 5,4,2 hervorgeht: vox enim mutationibus cum flectitur, alias fit acuta, alias gravis. Zudem bezeichnet das Adjektiv flexus den Zirkumflex-Akzent, also den in der Tonhöhe variierenden Akzent (vgl. Quint. inst. 11,3,17 und Exkurs 3 [2.1]). Vgl. vom gleichen Wortstamm auch das Nomen flexus sowie flectere in inst. 11,3,25.41.60.64, und die allgemein variationsfähige vox tractabilis in inst. 11,3,40 (ZICARI [1969], S. 40 fasst die beiden Begriffe hingegen als Synonyme auf). Nicht als natürliche Stimme, sondern als Stimmton bei Mitleiderregung und Trauer (miseratio ac maeror) empfiehlt Cicero die vox flexibilis (Cic. de orat. 3,217: flexibile plenum interruptum flebili voce). durus heißt im Unterschied dazu »hart, unempfänglich« und auch »schwer zu bearbeiten/verändern« (vgl. ThlL, s. v. durus S. 2307,42 ff.). Es wird im akustischen Bereich sehr häufig angewendet (vgl. ThlL, s. v. durus S. 2310,43 ff.). Eine vox dura ist somit eine starre Stimme, die nicht variationsfähig ist, was aufgrund der Gegenüberstellung mit flexibilis v. a. auf die Tonhöhe zu beziehen sein dürfte. et clara et obtusa: clarus heißt in Bezug auf Licht »hell, strahlend, klar, deutlich« und auf Töne »laut, volltönend« (z. B. Rhet. Her. 3,14,25). Es bezeichnet zudem deutliche, augenscheinliche Dinge (vgl. ThlL, s. v. clarus S. 1273,32 ff.). So ist eine vox clara eine deutliche Stimme (vgl. MÜLLER [1969], S. 39). Damit ist natürlicherweise eine gewisse Lautstärke verbunden und eine gewisse Tonhöhe, denn nach Quint. inst. 11,3,41 sind tiefe Töne zu wenig deutlich (parum clarus [sc. sonus]). Welche dieser drei Eigenschaften (Tonhöhe, Lautstärke, Deutlichkeit) bei der Verwendung des Adjektivs jeweils im Vordergrund steht, ist auch im Einzelfall meist nur schwer zu entscheiden (vgl. CATREIN [2003], S. 76). Zur deutlichen Stimme gehört auch die richtige Pflege (nach Quint. inst. 11,3,51 wird eine überanstrengte Stimme undeutlich, minus clara) und die richtige Haltung (nach Quint. inst. 11,3,82 wird die Stimme undeutlich, minus clara, wenn man das Kinn auf die Brust presst). Deutlichkeit, claritas, soll Eigenschaft von Exkursen sein (Quint. inst. 11,3,64). Vgl. vox candida in Quint. inst. 11,3,15 und vox pura in Quint. inst. 11,3,40. Das Adjektiv-Partizip obtusus bedeutet »stumpf« oder »abgestumpft«. Mit Bezug auf Licht heißt es »ohne Glanz« oder »matt«. Gleiches gilt für die Stimme. Der Ausdruck vocem obtundere, »die Stimme verdumpfen/heiser

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machen« ist weit verbreitet (vgl. OLD, s. v. obtundo 5). Das passiert z. B. bei einer starken Erkältung (gravedo): haec nares claudit, vocem obtundit (Cels. 4,5,2). Im Unterschied zur vox clara ist eine solche matt-heisere Stimme undeutlich, vgl. Sen. contr. 1,7,18 (vox obtusa sed pugnacissima, die später beschrieben wird als centum raucorum vox) und Cael. Aur. acut. 3,11,103 (bei Tollwut: vox obtusa et velut latrabilis). spiritus: Gemeint ist das Atemvolumen, das sich von Person zu Person unterscheidet. etiam: An die Unterschiede in den natürlichen Stimmeigenschaften fügt Quintilian die Unterschiede im natürlichen Atemvolumen. (16) Nec causas cur quidque eorum accidat persequi proposito operi necessarium est – eorumne sit differentia in quibus aura illa concipitur, an eorum per quae velut organa meat: [an] ipsi propria natura, an prout movetur: lateris pectorisve firmitas an capitis etiam plus adiuvet. Nam opus est omnibus, sicut non oris modo suavitate sed narium quoque, per quas quod superest vocis egeritur. dulcis esse † tamen debet †, non exprobrans sonus. (16) Es ist für die Aufgabe, die wir uns vorgenommen haben, aber nicht notwendig, sich mit den Gründen zu beschäftigen, warum jede dieser Varianten vorkommt – ob der Unterschied von den Körperteilen abhängt, in denen jene Luft aufgenommen wird, oder von denen, durch die sie wie durch Tonwerkzeuge hindurchzieht: ob der Unterschied in der der Luft eigenen Natur liegt oder davon abhängt, wie sie bewegt wird: ob die Kraft des Oberkörpers oder der Brust, oder auch die des Kopfes noch mehr beiträgt. Denn man benötigt das alles, so wie nicht nur einen angenehmen Klang des Mundes, sondern auch der Nase, durch die das, was von der Stimme als Rest übrig ist, nach außen befördert wird. Freundlich muss dieses Geräusch dennoch sein, nicht anfahrend. nec … necessarium: In diesem Paragraphen werden die physischen und anatomischen Grundlagen der verschiedenen Stimmeigenschaften erwähnt. Da sie für die rhetorische Absicht des Werkes nicht notwendig sind, deutet Quintilian sie nur an und gibt damit zu erkennen, dass er Theorien aus Medizin und Philosophie (vgl. Kapitel 2) kennt (vgl. Kapitel 5.2.5). Im Vergleich zum Auctor ad Herennium hält er sich nur kurz mit diesem Thema auf. Dieser bezieht bei seiner Behandlung der firmitudo vocis (Rhet. Her. 3,12,21–3,12,22) in seine rhetorischen Anweisungen auch deren medizinische Hintergründe (die v. a. die Luftwege, d. h. die Arterien inklusive Luftröhre, betreffen) mit ein.

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proposito operi: nämlich die vox (des Redners) für die Praxis auszubilden. Dafür wird die Stimmphysiologie nur herangezogen, insofern sie dafür notwendig erscheint. cur quidque eorum accidat: Gemeint sind die zuvor genannten natürlichen Unterschiede von Stimme und Atem; also die Frage, warum manche Menschen eine vox candida, andere eine vox fusca, manche Menschen eine vox plena, andere eine vox exilis usw. haben. eorum … in quibus aura illa concipitur: Die Atemluft (aura illa/spiritus) ist der Ausgangspunkt von Quintilians kurzen Überlegungen zur Stimmbildung. Bei vielen Autoren der antiken Stimmbildungslehre (mit deutlicher Ausnahme Galens, vgl. Kapitel 2.1.5) erfährt sie mehr Aufmerksamkeit als die Stimmbildungsorgane, siehe v. a. die hippokratische Schrift Περὶ σαρκῶν, Kapitel 18, derzufolge es die Luft ist, die tönt (τὸ πνεῦμά ἐστι τὸ φθεγγόμενον) und die stoische Definition der Stimme als ἀὴρ πεπληγμένος (vgl. Kapitel 2.1.3 und 2.1.4). Gemäß der antiken medizinischen Vorstellung wird die Luft zunächst in der Lunge aufgenommen und gesammelt (so schon GESNER [1738] z. St. mit Verweis auf Cic. nat. deor. 2,138). eorum per quae velut organa meat: Gemeint sind die körperlichen Organe, die der Atemstrom von dem Speicherort Lunge bis zur stimmlichen Äußerung durchströmt, also Luftröhre, Kehle, Mundraum, Nase. Die Stimmbildungsorgane werden z. B. beschrieben von Cicero (Tusc. 1,37 und nat. deor. 2,136, vgl. Kapitel 2.1.4) und Galen (vgl. Kapitel 2.1.5). velut organa: Quintilian vergleicht die Stimmbildungsorgane, durch die die Atemluft strömt (eorum per quae meat), mit organa. Daher sind die organa hier noch nicht die körperlichen Organe selbst (gegen LÖSCHHORN [1971], S. 203 und ThlL, s. v. organum S. 968,74). organum ist ganz generell der »Ausdruck für irgendwelche für die Tonhervorbringung wirksamen musikalischen Geräte« (LÖSCHHORN [1971], S. 209). Der hier gut passende Begriff »Tonwerkzeug« (LÖSCHHORN [1971], S. 211) kann und muss nicht genauer bestimmt werden. Auch der griechische Arzt Galen (vgl. Kapitel 2.1.5) vergleicht den Stimmbildungsapparat mit einem Tonwerkzeug, er wählt jedoch speziell den αυλός (vgl. BAUMGARTEN [1962], S. 121, 164, 171 f.). Quintilian benutzt das Wort organum sonst auch übertragen und bildlich für »Werkzeug/Instrument« (so inst. 1,2,30; falsch erklärt als »Musikinstrument« oder »Orgelpfeife« von SPALDING [1798] z. St., COLSON [1924], S. 32 und OLD, s. v. organum 2c; richtig: ThlL S. 970,25 und LÖSCHHORN [1971], S. 198), andererseits für »Musikinstrument« ohne nähere Bestimmung (inst. 1,10,25. 9,4,10. 11,3,20). organum ist außerdem in eindeutigem Kontext (aber nicht bei Quintilian) die Bezeichnung für die antike Orgel, nicht hin-

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gegen für eine einzige Orgelpfeife, die tibia oder fistula heißt (falsch OLD, s. v. organum 2c, vgl. LÖSCHHORN [1971], S. 209). ipsi propria natura, an prout movetur: Das überlieferte an vor ipsi propria natura hat SPALDING (1816) z. St. getilgt, um parallelen Satzaufbau zu erhalten. Es geht hier immer noch um die Atemluft (so auch WILLE [1967], S. 478) und ihre Bedeutung für die Stimmbildung, nicht um die vox (so RUSSELL [2001], S. 93 und SPALDING [1816] z. St.). Die Frage ist, ob eine Eigenschaft der Atemluft direkt die Stimmeigenschaft beeinflusst (zu denken ist v. a. an viel vs. wenig Atemluft, auch kalte vs. warme Atemluft; vgl. z. B. Aristoteles de gen. animal. 786b7–788b2) oder ob die Eigenschaft der Stimme sich daraus ergibt, wie die Atemluft im Körper mechanisch bewegt wird (z. B. schnelle oder langsame Bewegung, ebenfalls in de gen. animal. 786b7– 788b2). Beide Möglichkeiten werden auch in der antiken Philosophie und Medizin erörtert (vgl. u. a. Kapitel 2.1.2 und 2.1.5). lateris pectorisve firmitas an capitis: Die Alternative ist hier die zwischen der körperlichen Robustheit von latus/pectus (unterhalb des Kopfes) einerseits und caput (Kopfbereich) andererseits. latus bezeichnet den menschlichen (v. a. seitlichen) Rumpf von Achsel bis Oberschenkel (vgl. ThlL, s. v. latus S. 1025,1 ff., OLD 1). Im Zusammenhang mit Stimme und Atem bezeichnet das Wort auch den Sitz der dafür entscheidenden Körperkräfte oder die Kräfte selbst (vgl. ThlL, s. v. latus S. 1026,82 ff., OLD 2a). Gerade mit Bezug auf den Redner ist daher die für die Stimme entscheidende Kraft gemeint, die von diesem Teil des Körpers ausgeht, vgl. z. B. Quint. inst. 1 praef. 27 (sunt et alia ingenita cuique adiumenta, vox latus patiens laboris), Cic. Verr. II 2,52 (nam me dies vox latera deficiant, si hoc nunc vociferari velim), Cic. Verr. II 4,67 (quae vox, quae latera, quae vires huius unius criminis querimoniam possunt sustinere?), Cic. Phil. 13,26 (corycus laterum et vocis meae Bestia), Cic. de orat. 1,114 (quae certe cum ipso homine nascuntur: linguae solutio, vocis sonus, latera, vires), Cic. Tusc. 1,37 (loqui …, quod fieri nec sine lingua nec sine palato nec sine faucium laterum pulmonum vi et figura potest). Ähnlich bezeichnet pectus die Brust als Herkunftsort der Stimme (vgl. ThlL, s. v. pectus S. 913,17 ff., OLD 3c), z. B. Verg. Aen. 1,371 (suspirans imoque trahens a pectore vocem). latus und pectus zusammen decken damit den gesamten Rumpfbereich ab. Vgl. Quint. inst. 1,11,8: ein Ausruf soll unter Anstrengung der Kraft des Oberkörpers, nicht mit der des Kopfes gesprochen werden (ut, quotiens exclamandum erit, lateris conatus sit ille, non capitis). nam opus est omnibus, sicut non oris modo suavitate sed narium quoque: Zum Erzeugen der Stimme benötigt man neben der Atemluft alle bisher

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direkt oder indirekt genannten Körperteile. Quintilian hat sich bei der Reihenfolge ihrer Nennung an ihrer Reihenfolge im Stimmbildungsprozess orientiert, von der Lunge über den Oberkörper bis zum Kopf. Was den Kopf anbelangt, so gibt es dort v. a. zwei für die Stimmformung wichtige Körperteile: den Mund und die Nase. Der Klang von beiden (vgl. OLD, s. v. suavitas 1d) muss für die Ohren angenehm sein. per quas quod superest vocis egeritur: Mit dem »Rest der Stimme« (vgl. OLD, s. v. supersum 4), dem was von (bzw. auch »nach«, vgl. die Verwendung von quod superest im Sinne von »was danach kommt« mit OLD, s. v. supersum 6d) der Stimme noch übrig ist, ist die Atemluft gemeint, die dem Redner (z. B. am Ende einer Periode) übrig bleibt und die dieser (während einer Pause) dann offenbar durch die Nase ausatmet (wohl um danach wieder mehr Luft einatmen zu können). Gemeint ist nicht (wie in Quint. inst. 11,3,56: maiorem partem spiritus in loquendo per nares effundere) das Entweichen von Luft durch die Nase während des Sprechens, also nicht das Näseln (so MÜLLER [1969], S. 41) oder auch nicht ein »Schnarren« der Stimme (so WILLE [1967], S. 479 und MÜLLER [1969], S. 41). Auffällig ist Quintilians Verwendung von vox statt spiritus, die den engen Zusammenhang von beiden in Quintilians medizinischer Vorstellung von der Stimmerzeugung noch einmal unterstreicht und die den akustischen Aspekt des Atmens hervorhebt. Das Ausatmen nach dem Sprechen zählt, da es Geräusch (sonus) ist, also auch noch im weiteren Sinne zu den stimmlichen Äußerungen. dulcis esse † tamen debet †, non exprobrans sonus: debet P : om. B H : dulcis sit tamen non exprobrans sonus Halm: egeritur, dulcis esse decet, non exprobrantes sonos Winterbottom (1970b), S. 203–204 : dulcis est et non exprobratus sonus Murgia (1991), S. 210 : dulcis est et non exprobrandus sonus Winterbottom (2000), S. 44 Es geht hier um das Geräusch, das der Redner in einer Sprechpause mit übrig gebliebener Stimmluft durch die Nase erzeugt. exprobrare heißt »jemandem etwas vorwerfen, jemanden für etwas tadeln, jemanden laut anfahren« (vgl. ThlL S. 1799,13 ff.). Die Objekte müssen nicht direkt angegeben sein (vgl. Quint. inst. 6,3,94. 11,3,176). Das Partizip Präsens kommt auch vor bei Liv. 6,17,1 und Vulg. psalm. 43,17. Im Unterschied dazu ist etwas dulcis, wenn es positive Empfindungen (Freude, Vergnügen, Zuneigung) hervorruft (vgl. OLD, s. v. dulcis 5–7). Das durch die Nase erzeugte Geräusch soll also nicht wie das Geräusch eines Vorwurfs klingen. Quintilian denkt dabei offenbar an ein Verachtung ausdrückendes Nasenschnauben (vgl. engl. to sneer at, »jemanden verachten«, das noch im 16. Jh. auch »schnauben« hieß), das durch ein schnelles und starkes Ausatmen durch die Nase zu Stande kommt.

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SPALDING (1816) z. St. vermutet (ausgehend von der Bedeutung von exprobrare beneficia, »Wohltaten [vorwurfsvoll] erwähnen«) ein geräuschvolles, sich gewissermaßen aufdrängendes Ausatmen durch die Nase, was vom sonstigen Sprachgebrauch weit abweicht. ZICARI (1969), S. 42 denkt an Geräusche wie das Schnauben, durch das man zuweilen Tadel oder Ärger ausdrückt. Quintilian selbst erwähnt in inst. 11,3,80 das Schnauben (inpulso subito spiritu [andere Lesart: spiritum] excutere) als hässlich (indecorum). SITTL (1890), S. 87 verweist darauf, dass auch »starke Missbilligung durch die Nase ausgedrückt« wird, belegt dies allerdings mit Stellen, an denen diese Missbilligung durch die Bewegung der Nase (v. a. Hochziehen der Nasenflügel) oder durch Einatmen ausgedrückt wird. Das konzessive tamen (anstelle eines erwarteten enim, vgl. SPALDING [1816] z. St.), das Winterbottom und Murgia in ihren Konjekturen tilgen, ist tatsächlich sonderbar (da man davon ausgehen darf, dass zwischen suavitas und dulcis kein großer Unterschied besteht, vgl. Sen. contr. 3 praef. 3, wo sie als Synonyme verwendet werden). Ein leichter Eingriff in den Text zu tum (STROH mündlich) anstelle von tamen würde die Hauptschwierigkeit beseitigen. Wenn man den Text so belassen möchte (und damit auch debet akzeptiert, das nur in Lorenzo Vallas Handschrift überliefert ist), muss man offenbar einen nicht explizit genannten, konzessiven Gedanken ergänzen (für den ähnlichen Gebrauch von tamen zur Vorwegnahme von konzessiven Gedanken vgl. tamen, s. v. OLD 4), etwa: »Dieser Klang muss dennoch (auch wenn er nur durch die Nase erzeugt wird) angenehm sein, nicht vorwurfsvoll.«

Dynamik, Tonhöhe und Tempo (11,3,17–18)

(17) Utendi voce multiplex ratio. Nam praeter illam differentiam quae est tripertita, acutae gravis flexae, tum intentis tum remissis, tum elatis tum inferioribus modis opus est, spatiis quoque lentioribus aut citatioribus. (17) Die Art und Weise, wie man die Stimme benutzen kann, ist vielfältig. Denn außer jener Unterscheidung, die dreiteilig ist, die des hohen, tiefen und tonvariierenden Akzents, braucht man bald laute, bald leise, bald hohe, bald tiefere Töne, auch langsamere oder schnellere Zeiteinheiten. multiplex ratio: Traditionell werden drei Ton- bzw. Stimmeigenschaften unterschieden: Tonhöhe/Melodie, (Laut-) Stärke/Dynamik und Tempo (vgl. Quint. inst. 11,3,43 und Cic. de orat. 3,216). Diese ratio besteht aber aus vier Teilen. Daher könnte man entweder das erste Glied (acutae gravis flexae) auf die Tonhöhe, die beiden folgenden Glieder auf die Lautstärke

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und das letzte Glied auf das Tempo beziehen (so MÜLLER [1969], S. 41–46). Dann ergibt sich aber das Problem, dass die Lautstärke doppelt bezeichnet wird. Versuche einer feineren Differenzierung, dass vielleicht »das erste Paar sich mehr auf die Kraft bezieht, die aufgewandt werden muß, um einen Ton von bestimmter Lautstärke hervorzubringen, das zweite dann auf die Lautstärke selbst« (MÜLLER [1969], S. 45) sind nicht überzeugend. Oder man klammert das erste Glied als eine Aussage nicht über die Stimme, sondern über einzelne Akzente bzw. Silben aus dieser Dreierreihe aus (so WILLE [1967], S. 479, RAHN [31995], RUSSELL [2001]). Dafür spricht erstens dessen Sonderstellung als bekannte (illam differentiam) Unterscheidung und zweitens die Tatsache, dass dann im Folgenden drei Paare jeweils die drei wichtigsten Stimmunterscheidungen bezeichnen. Eine feste Terminologie gab es nicht. Quintilian kann also an dieser Stelle durchaus Vokabeln verwenden, die in einem anderen Kontext eine andere Bedeutung haben. illam: Das Pronomen verweist darauf, dass die genannte Dreiteilung der Silbenbetonung sehr verbreitet und bekannt war. acutae gravis flexae: Bezeichnet hier die Tonhöhe von einzelnen Silben (vgl. OLD, s. v. acutus 4b, s. v. gravis 9b, s. v. flecto 11b). Die drei Adjektive stehen für die drei griechischen melodischen Akzentarten (z. B. Quint. inst. 1,5,22– 24. 12,10,33). Die Römer übertragen die griechische Terminologie auf das Lateinische, allerdings nicht nur auf Silben, sondern auch auf Töne, Melodien und Stimmen (vgl. Exkurs 3 [2.1]). acutus heißt daher auch »hoch«, gravis »tief« (Quint. inst. 11,3,41–42). Wie der entsprechende Akzent bezeichnet flexus einen »gebeugten Ton« in dem Sinne, dass er seine Höhe verändert, bald hoch, bald tief ist. Von der Akzentlehre und diesen drei Grundtönen als Bestandteilen der stimmlichen Variation geht auch Cicero (orat. 57) aus: mira est enim quaedam natura vocis cuius quidem e tribus omnino sonis, inflexo acuto gravi, tanta sit et tam suavis varietas perfecta in cantibus (vgl. JAHN/KROLL [51971], S. 60 f.). tum intentis tum remissis: Gemeint sind Töne, die mit oder ohne Spannung in der Stimme vorgetragen werden. An dieser Stelle wird damit die Lautstärke bezeichnet. Die Grundbedeutung von intentus ist »angespannt«. In akustischem Zusammenhang wird das Adjektiv-Partizip nur von Quintilian und nur an dieser Stelle verwendet. Häufig sind aber vocem intendere (z. B. Quint. inst. 11,3,63 und Cic. de orat. 3,216) und (vocis) intentio (z. B. Quint. inst. 11,3,40.41). Alle Begriffe beziehen sich auf die Anspannung der Stimme. Da eine angespannte Stimme sowohl laut als auch hoch werden kann (vgl. Exkurs 3 [1 und 2.5]), beziehen sie sich bald auf die Tonhöhe

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(z. B. Quint. inst. 11,3,42), bald auf die Lautstärke der Stimme (z. B. Quint. inst. 11,3,45). Der entgegengesetzte Begriff für die spannungslose Stimme ist, ebenfalls mit Bezug auf die Tonhöhe (z. B. Quint. inst. 1,10,25. 11,3,42) oder Lautstärke (z. B. Quint. inst. 11,3,45), remissus/summissus (bzw. remittere/summittere, remissio). Die bewusst eingesetzte Stimmart vox remissa/summissa wird an anderen Stellen empfohlen für Exkurse (Quint. inst. 11,3,164), für das Schmeicheln, Gestehen, Genugtun und Bitten (Quint. inst. 11,3,63). tum elatis tum inferioribus: Die beiden Begriffe, die sich prinzipiell auf Lautstärke und Tonhöhe beziehen können, bezeichnen hier die Tonhöhe. Quintilian verwendet diese beiden Begriffe seltener in akustischem Zusammenhang als intentus und remissus. inferior in inst. 11,3,65 (altius vel inferius) und auch imus in inst. 2,8,15 beziehen sich auf die Tonhöhe. Für andere Stellen mit Bezug auf die Lautstärke vgl. die Ausführungen zu ima in inst. 11,3,15. elata ist in Quint. inst. 11,3,43 das Gegenteil von summissa, was sich dort auf die Lautstärke bezieht. elatus ist auch ein Stilbegriff für den hohen, erhabenen Stil (Cic. orat. 124, Cic. Brut. 35, Quint. inst. 1,10,24. 6,2,19, Plin. epist. 7,12,4). modis: Als Terminus technicus der Musik und der Rhetorik kann sich modus auf den Rhythmus (vgl. ThlL, s. v. modus S. 1256,47 ff., OLD 7) oder auf die Tonhöhe, besonders der Stimme (vgl. ThlL, s. v. modus S. 1255,40 ff., OLD 8) beziehen. Hier bezeichnet es Letzteres. modus heißt dann »Ton«, auch »Modulation« (z. B. Cic. de orat. 3,174, Quint. inst. 1,10,27), im Plural auch »Töne in ihrer Abfolge«, also »Weise«, »Melodie« (vgl. OLD 8b, Quint. inst. 1,10,14.31. 9,4,13). spatiis quoque lentioribus aut citatioribus: bezieht sich auf das Sprechtempo. Die Formulierung entspricht inhaltlich Quint. inst. 11,3,43 (longa brevibus) und Cic. de orat. 3,216 (cita tarda). Zunächst zu den spatia: spatium heißt allgemein »(Zeit-) Dauer« (Quint. inst. 9,4,48. 11,3,43). In der Rhetorik, Musik und Metrik bezeichnet es daher auch die Zeitdauer einer Einheit, z. B. eines metrischen Fußes (Cic. orat. 193. 215), oder die Quantität eines Vokals bzw. einer Silbe (Quint. inst. 1,5,18. 9,4,131). Zudem kann es die Zeit bezeichnen, die man für eine bestimmte Aufgabe zur Verfügung hat (vgl. OLD, s. v. spatium 10). Hier ist die Zeit gemeint, die man benötigt, um einen bestimmten Text vorzutragen, also das Tempo der Stimme. Zu den Attributen lentioribus aut citatioribus: Hier ist nicht an Accelerando und Ritardando zu denken (so von KRUMBACHER [1920], S. 97 ohne Begründung ausgehend WILLE [1967], S. 480 und MÜLLER [1969], S. 44).

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Denn Quintilian meint bei dieser ersten systematischen Erwähnung des Themas das Sprechtempo allgemein, und nicht schon »einen besonderen Fall aus dem Gebiet des Sprechtempos« (MÜLLER [1969], S. 44). Auch die beiden anderen Stimmelemente Tonhöhe (acutae gravis flexae) und Dynamik (tum intentis … modis) werden allgemein eingeführt. Über das Tempo allgemein zu sprechen, fügt sich nicht nur wesentlich besser in diese Reihe, sondern macht auch die Parallele zu Cic. de orat. 3,216 (acuta gravis, cita tarda, magna parva) perfekt. Quintilian und Cicero sprechen in ihrer Dreiteilung in Bezug auf die Geschwindigkeit von Schnelligkeit und Langsamkeit und nicht vom Schneller- oder Langsamerwerden. Die Komparative deuten nicht auf die Entwicklung des Tempos hin, sondern höchstens auf die Relativität (mal schneller, mal langsamer), die bei den Begriffen schnell und langsam beachtet werden muss. Überblick über Bezeichnungen für Dynamik, Tonhöhe und Tempo: Stimme

Quint. inst. 11,3,17 Quint. inst. 11,3,43 Cic. de orat. 3,216

(Laut-) Stärke/ intentis – remissis Dynamik Tonhöhe/ [Silben: acutae – Melodie gravis – flexae] elatis – inferioribus Tempo spatiis lentioribus aut citatioribus

elata – summissa

magna – parva

gravia – acuta

acuta – gravis

longa – brevia

cita – tarda

(18) Sed his ipsis media interiacent multa, et ut facies, quamquam ex paucissimis constat, infinitam habet differentiam, ita vox, etsi paucas quae nominari possint continet species, propria cuique est, et non haec minus auribus quam oculis illa dinoscitur. (18) Aber zwischen eben diesen liegen viele Abstufungen in der Mitte, und wie ein Gesicht, obwohl es aus ganz wenigen Einzelelementen besteht, eine unendliche Verschiedenheit besitzt, so besitzt auch jeder eine für ihn charakteristische Stimme, wenn sie auch nur wenige Merkmale aufweist, die benannt werden können, und sie wird nicht weniger mit den Ohren erkannt als ein Gesicht mit den Augen. his ipsis media interiacent multa: Zwischen den in Quint. inst. 11,3,17 vorgestellten Extremen von Tonhöhe, Lautstärke und Tempo gibt es zahllose Zwischenstufen. Vgl. Quint. inst. 11,3,42. ut facies: Für den gleichen Vergleich zwischen Stimme und Gesicht und die Charakteristik von beiden vgl. Plin. nat. 11,271, den Quintilian hier wohl

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benutzt: vox in homine magnam voltus habet partem. adgnoscimus ea prius quam cernamus non aliter quam oculis, totidemque sunt hae, quot in rerum natura mortales, et sua cuique sicut facies. Mit diesem Vergleich geht Quintilian vom Stimmgebrauch (utendi voce ratio, inst. 11,3,17) wieder zur Natur der Stimme über. ex paucissimis: Gemeint sind die Bestandteile des Gesichtes wie Augen, Nase, Mund usw. paucas species: Gemeint sind die natürlichen Eigenschaften einer jeden Stimme.

4.2.2 cura und exercitatio (11,3,19–29) Gemeinsamkeiten mit den phonasci in der cura (11,3,19–21)

(19) Augentur autem sicut omnium, ita vocis quoque bona cura, neglegentia vel inscitia minuuntur. Sed cura non eadem oratoribus quae phonascis convenit, tamen multa sunt utrisque communia, firmitas corporis, ne ad spadonum et mulierum et aegrorum exilitatem vox nostra tenuetur, quod ambulatio, unctio, veneris abstinentia, facilis ciborum digestio, id est frugalitas, praestat. (20) praeterea ut sint fauces integrae, id est molles ac leves, quarum vitio et frangitur et obscuratur et exasperatur et scinditur vox. Nam ut tibiae eodem spiritu accepto alium clusis alium apertis foraminibus, alium non satis purgatae alium quassae sonum reddunt, item fauces tumentes strangulant vocem, obtusae obscurant, rasae exasperant, convulsae fractis sunt organis similes. (19) Es werden aber, wie bei allen Dingen, so auch die Vorzüge der Stimme durch Pflege gefördert und durch Vernachlässigung oder Unwissenheit vermindert. Aber für Redner eignet sich nicht dieselbe Pflege wie für Stimmkünstler. Dennoch haben beide vieles gemeinsam: (erstens) die Robustheit des Körpers, damit unsere Stimme nicht bis zur Dünnheit der Stimme von Eunuchen, Frauen und Kranken geschwächt wird, was das Spazierengehen, das Salben, die Enthaltung vom Geschlechtsverkehr und die leichte Verdauung der Speisen, das heißt Mäßigkeit, gewährleistet. (20) Zweitens dass die Kehle unversehrt sein soll, das heißt geschmeidig und glatt. Durch einen Fehler der Kehle wird die Stimme geschwächt, undeutlich, rau und brüchig. Denn wie Tibien, wenn man auch ein- und denselben Atem geholt hat, einen anderen Ton erzeugen, wenn die Löcher verdeckt sind, als wenn die Löcher geöffnet sind, und wie nicht genügend gereinigte Tibien einen ande-

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ren Ton erzeugen als zerbrochene, ebenso schnürt eine angeschwollene Kehle die Stimme ein, eine abgestumpfte macht sie undeutlich, eine zerkratzte macht sie rau, eine stark verletzte ist gebrochenen Instrumenten ähnlich. vocis … bona: Zur Förderung der natürlichen Stimme durch Pflege vgl. Quint. inst. 12,5,5: sunt et naturalia, ut supra dixi, quae tamen et cura iuvantur, instrumenta, vox, latus, decor. phonascis: Dass die phonasci (vgl. Kapitel 2.2.2) beim Stichwort cura gleich erwähnt werden, deutet darauf hin, dass sie üblicherweise mit der Stimmpflege assoziiert wurden. Bei Quintilian unterrichten die phonasci nicht andere in der Stimmbildung, sondern schulen und üben ihre eigene Stimme (vgl. STROH [2003], S. 11, Anm. 20). Quintilian erwähnt die phonasci außerhalb von diesem Kapitel noch in inst. 2,8,15. Dort sagt er, dass es für einen phonascus nicht ausreichend sei, sich nur in der hohen, mittleren oder tiefen Tonlage oder Teilen davon auszuzeichnen. utrisque: utriusque B : corr. b utrisque bezieht sich direkt auf die Redner und phonasci. Zum ebenfalls überlieferten utriusque müsste man sich curae als Ergänzung denken. firmitas corporis: Das erste der Stimme dienende Element der cura, das Redner und Sänger gemeinsam haben, ist die Robustheit des Körpers, die v. a. für eine starke Stimme nötig ist. Der ne-Satz gibt das Ziel der firmitas corporis mit Blick auf die Stimme an. Der quod-Satz erläutert, wie die firmitas corporis erreicht wird. Mit dem Thema Pflege und Übung des Körpers betritt Quintilian im Folgenden medizinisches Terrain. exilitatem: Vgl. die Ausführungen zur vox exilis in inst. 11,3,15. Nach Quintilians Vorstellung steht die Stärke der Stimme in Zusammenhang mit der Stärke des Körpers. Daher haben Eunuchen, Frauen und Kranke eine schwache Stimme. Die Stärke des Körpers (bzw. genauer der Lunge) ist nach Aristoteles (de gen. animal. 786b7–788b2) sowohl für die Tonhöhe als auch für die Lautstärke entscheidend (vgl. Kapitel 2.1.2). ambulatio: Das Spazierengehen ist eine Form der körperlichen exercitatio (z. B. bei Cels. 1,2,6), die wiederum Teil der medicina ist (Quint. inst. 2,21,11). Die ambulatio wurde bei verschiedenen Krankheiten bzw. zur Erhaltung und Steigerung der Gesundheit empfohlen (vgl. ThlL, s. v. ambulatio S. 1869,46 ff.). Nach Sen. contr. 1 praef. 16 dient sie dem Redner dazu, seine Körperkräfte wiederherzustellen (latus ambulatione reparare). Cicero geht spazieren, um seine geschwächte Stimme zu kräftigen (vgl. mit SPAL-

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Quint. inst. 11,3,14–65

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[1816] z. St. Cic. Att. 2,23,1: cum recreandae voculae causa necesse esset mihi ambulare). Laut Seneca (dial. 9 [= de tranquillitate animi],17,8) erholt sich u. a. beim starken Durchatmen während Spaziergängen auch der Geist. Auch Fortunatian (rhet. 3,16 p. 130,19–21 und 3,18 p. 131,21–22) empfiehlt dem Redner spazieren zu gehen (vgl. Kapitel 2.2.1).

DING

unctio: Die unctio ist ein Teil auch der medicina (Quint. inst. 2,21,11). Dabei wurde der Körper mit Olivenöl oder anderen duftenden Ölen gesalbt. Die Salbung wurde besonders nach der körperlichen Übung angewendet (z. B. Cels 1,2,7: exercitationem recte sequitur … unctio) und diente der Regeneration des Körpers (Sen. epist. 53,5: corpus unctione recreavi). Der Redner beseitigte durch das Salben mit Öl den Schweiß (Sen. contr. 1 praef. 16: sudorem unctione discutere). veneris abstinentia: Zwar wurde maßvoller Geschlechtsverkehr in Teilen der medizinischen Literatur als gesund angesehen, einigen hippokratischen Autoren zufolge schwächte er aber den männlichen Körper (vgl. LEVEN [2005], s. v. Geschlechtsverkehr, Sp. 345). Enthaltsamkeit galt als förderlich für die Stimme (vgl. Kapitel 2.2.1). Um die Stimme durch Enthaltsamkeit zu schonen, zogen sich sogar manche Sänger eine fibula durch die Vorhaut (vgl. Cels. 7,25,3, Mart. epigr. 7,82, Iuv. 6,73). facilis ciborum digestio: Eine gute Verdauung war Ziel der Ernährung und galt als Zeichen für gute Gesundheit (vgl. LEVEN [2005], s. v. Verdauung, Sp. 893 f.). facilis wird ausgehend von seiner Grundbedeutung »was ohne Schwierigkeiten geschieht« (vgl. ThlL, s. v. facilis S. 56,12 ff.) auch über die Verdauung gesagt (vgl. Mart. Cap. 5,541 über den Zusammenhang von Spazierengehen, Verdauung und Stimme: qui motus cum digestionem facilem praestat, sine dubio purgat et vocem) und dann metonymisch über Speisen, die leicht verdaulich sind, z. B. in Cels. 3,23,3 (faciles cibi), 4,12,6 (cibi faciles et stomacho non alieni), Plin. nat. 23,73 (nigra oliva … ventri facilior). Die ciborum qualitas ist ein Teil auch der medicina (Quint. inst. 2,21,11). id est frugalitas: frugalitas mit der Bedeutung »Enthaltsamkeit, Mäßigkeit« (vgl. ThlL, s. v. frugalitas S. 1400,81 und Cic. Deiot. 26: frugalitatem, id est modestiam et temperantiam) bezeichnet eine in Hinblick auf Essen, Trinken und Sexualität maßvolle Lebensweise (z. B. Val. Max. 2,5,6: frugalitas inimica luxuriosis epulis et aliena nimiae vini abundantiae et ab immoderato veneris usu aversa). Ihr Gegenteil ist luxus bzw. luxuria (vgl. z. B. Quint. inst. 5,10,73 und Cels. 1 prooem. 53). Sie hat nach Quintilian den größten Anteil an einer bona valetudo (vgl. inst. 10,3,26).

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vox … ut tibiae … fauces: Quintilian nennt der Reihe nach vier Veränderungen der Stimme (frangitur; obscuratur; exasperatur; scinditur), vier Zustandsformen der tibiae (clusis foraminibus; apertis foraminibus; non satis purgatae; quassae) und vier Fehler der Kehle samt deren jeweiliger Auswirkung auf die Stimme (fauces tumentes strangulant vocem; obtusae obscurant; rasae exasperant; convulsae fractis sunt organis similes). Dabei werden die fauces in einem lockeren Vergleich mit bestimmten tibiae verglichen. Eine strenge Parallelität und Zuordnung der drei Bereiche, so dass jeweils das erste Glied über die vox mit dem ersten über die tibiae und mit dem ersten über die fauces usw. korrespondiert, kann aber nicht angenommen werden. Dadurch würden sich unlösbare inhaltliche Schwierigkeiten ergeben. WILLE (1967), S. 481 f. und MÜLLER (1969), S. 46–48 behaupten eine solche direkte Zuordnung der einzelnen Glieder. Dabei ergeben sich folgende unlogische Bezüge: der Vergleich der angeschwollenen Kehle mit den tibiae, deren Löcher zugehalten werden (die zudem einen tiefen und keinen hohen Ton erzeugen würden, wie Müller behauptet, vgl. V. JAN [1896], Sp. 2417 und WEST [1992], S. 95); und v. a. entgegensetzt dazu der Vergleich der tibiae mit offenen Löchern (die einen hohen Ton und keinen tiefen Ton erzeugen würden, wie Müller behauptet, vgl. V. JAN [1896], Sp. 2417 und WEST [1992], S. 95) mit der abgestumpften Kehle und der undeutlichen Stimme. praeterea ut sint fauces integrae, id est molles ac leves: Die zweite Übereinstimmung mit den phonasci ist die Sorge für eine gesunde Kehle, die geschmeidig und glatt sein sollte. Für integer in der Bedeutung »unverletzt« vgl. OLD, s. v. integer 10 und ThlL S. 2073,47 ff. sowie Quint. inst. 8,5,12. 10,4,3. 11,3,55. Die Nennung der beiden Elemente der auf die Stimme abzielenden cura erfolgt nicht konzinn. Abhängig von multa sunt utrisque communia wird als erstes Element ein nominaler Ausdruck (firmitas corporis) ohne direkte Anbindung in den Satz eingeschoben. Diese Konstruktion wird nicht fortgeführt (Anakoluth). Das zweite Element wird als explizierender ut-Satz formuliert (ut sint fauces integrae). quarum vitio: vitium ist der Fachbegriff für ein medizinisches Gebrechen, vgl. OLD, s. v. vitium 2b und z. B. Plin. nat. 16,180 und Quint. inst. 12,8,10. Inwiefern die Kehle krank sein kann (tumentes, obtusae, rasae, convulsae), wird erst später ausgeführt. Zur nicht gesunden Stimme vgl. Fort. rhet. 3,18 p. 131,17–29, Kapitel 2.2.1. frangitur [vox]: Ausgehend von der Grundbedeutung »in Teile zerbrechen/ zerkleinern« findet sich frangere in Bezug auf Töne und Stimmen mit der Bedeutung »nicht ununterbrochen/fortlaufend äußern« (vgl. ThlL, s. v. frango S. 12453 ff.), z. B. in Verg. georg. 4,71–72 (über das stoßweise

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Quint. inst. 11,3,14–65

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Geschmetter von Trompeten: vox/ auditur fractos sonitus imitata tubarum) und Tac. Germ. 3,1 (fractum murmur), in der Bedeutung »widerhallen lassen« (vgl. ThlL, s. v. frango S. 1245,28 ff.) und in der Bedeutung »schwächen« (vgl. ThlL, s. v. frango S. 1245,33 ff.), z. B. in Quint. inst. 12,11,2, Fortun. rhet. 3,18 p. 131,20 (quid si vehementer fracta vox fuerit, quemadmodum eam restituam?). Da bei Quintilian frangere meistens synonym mit imminuere und corrumpere gebraucht wird (z. B. auch mit Bezug auf die Stilistik, vgl. compositione fracta in inst. 8,3,57 und auch fracta compositio in Sen. suas. 2,23), also »schwächen« bedeutet (vgl. BONNELL [1834], S. 353 f., s. v. frango), liegt diese Bedeutung auch im Zusammenhang mit der Stimme nahe. Dass allgemein eine geschwächte Stimme gemeint ist, wird dadurch noch wahrscheinlicher, dass Quintilian mit der Schwäche als erstes einen allgemeinen Stimmdefekt angibt. Für die Bedeutung »erstickte Stimme« (MÜLLER [1969], S. 47 und WILLE [1967], S. 482) gibt es keine Anzeichen. obscuratur [vox]: Was mit Bezug auf den Sehsinn »dunkel machen« heißt, bedeutet übertragen auf den Bereich des Hörens »(Töne, die Stimme) undeutlich machen« (vgl. OLD, s. v. obscuro 4, ThlL, s. v. obscuro S. 167,28 ff. und z. B. Cic. de orat. 3,41 und Quint. inst. 9,4,40, jeweils mit Bezug auf undeutliche Aussprache von Buchstaben). Gleiches gilt für den schriftlichen Stil, unter dem man ebenfalls einen undeutlichen zu verstehen hat, wenn er als obscurus charakterisiert wird (vgl. OLD, s. v. obscurus 8b, ThlL S. 171,26 ff.). Die vox obscura ähnelt damit der vox fusca. Quintilian verwendet das Adjektiv fuscus ausschließlich zur Bezeichnung der natürlichen Rauheit der Stimme (in inst. 11,3,15.171). obscurus wird von Quintilian nicht nur mit Bezug auf die Stimme gebraucht. Die vox obscura ist bei ihm eine allgemein (vorübergehend) undeutliche Stimme, die sich durch eine abgestumpfte Kehle (fauces obtusae, s. u.) ergeben kann oder vom Redner zur Mitleiderregung absichtlich erzeugt wird (inst. 11,3,64). exasperatur [vox]: d. h. es ergibt sich eine vox aspera, eine raue Stimme, als vorübergehende, durch eine zerkratzte Kehle (rasae) ausgelöste Eigenschaft (s. u.). Zur vox aspera als natürliche Stimmeigenschaft vgl. Quint. inst. 11,3,15. scinditur vox: Ausgehend von der Grundbedeutung von scindere, »zerreißen«, lässt sich das Verb in der Bedeutung von »unterbrechen«, »in der Kontinuität stören« auch auf verbale Äußerungen beziehen. In Ov. Pont. 3,1,157 (nec, tua si fletu scindentur verba, nocebit) heißt scindere verba »Rede unterbrechen« (vgl. OLD, s. v. scindo 4b). Das Weinen unterbricht dabei die Rede so, dass sie für diesen Moment aussetzt. Dementsprechend heißt scindere vocem »die Stimme unterbrechen, brüchig machen«. Bei

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Cicero (de orat. 3,216) gibt es die brüchige Stimmart (genus vocis), scissum, im Unterschied zur schwachen Stimmart fractum. vox: Die Endstellung eines Monosyllabons ist in der Prosa selten (vgl. HARKNESS [1910], S. 155–157, HELLEGOUARC’H [1964], S. 50). Dabei wird der beschriebene Inhalt, nämlich dass die Stimme unterbrochen wird, auf sprachlicher Ebene abgebildet, indem das Wort vox vom Rest des Satzes wie abgerissen wirkt. ut tibiae: Die häufige Übersetzung als »Flöte« ist falsch, denn die tibia, das Gegenstück zum griechischen αὐλός, ist ein Rohrblattinstrument, das v. a. mit zwei Rohrblättern vorkam (vgl. VETTER [1936], Sp. 808, WEST [1992], S. 84, ZANONCELLI [2000], Sp. 552) und daher am ehesten mit unserer Oboe vergleichbar ist. Sie bestand aus zwei Röhren, die gleich- oder ungleichlang sein konnten und unterschiedlich klangen (vgl. VETTER [1936], Sp. 808–812 und ZANONCELLI [2000], Sp. 552). Daher kommt tibiae meistens im Plural vor. Quintilian vergleicht hier die Kehle mit tibiae. Vielleicht kennt er einen solchen Vergleich auch aus der Medizin. Ganz ähnlich vergleicht nämlich später Galen den Kehlkopf-Luftröhre-Komplex mit einem αὐλός (vgl. Kapitel 2.1.5). Auch die menschliche Stimme und instrumentale Töne werden häufig verglichen, z. B. Cic. nat. deor. 2,146 (et in vocis et in tibiarum nervorumque cantibus). foraminibus: Gemeint sind die Löcher, die in die Rohrstücke gebohrt sind. Um jedes der Löcher ist (ab ca. 400 v. Chr.) ein drehbarer Ring befestigt. Je nach Stellung dieses Ringes kann man das entsprechende Loch vor Spielbeginn schließen oder öffnen (vgl. V. JAN [1896], Sp. 2418, VETTER [1936], Sp. 809 und WEST [1992], S. 87) und so durch die Auswahl bestimmter Löcher »in verschiedenen Tonarten spielen und leicht modulieren« (ZANONCELLI [2000], Sp. 552). Sind alle Löcher einer tibia/eines αὐλός geschlossen, so erzeugt sie den tiefsten Ton (vgl. V. JAN [1896], Sp. 2417 und WEST [1992], S. 95; falsch hingegen MÜLLER [1969], S. 47). quassae: tibiae quassae sind zerbrochene oder angebrochene tibiae. quassus zur Bezeichnung gebrochener Röhren findet sich noch bei Petron. 69,5 und 134,4 (vgl. ZICARI [1969], S. 47). fauces tumentes strangulant vocem: fauces tumentes meinen eine angeschwollene Kehle (ebenso z. B. bei Cass. Fel. 35.2). Vgl. fauces tumescentes, »anschwellende Kehle«, in Tac. ann. 14,51,1, Firm. math. 8,6,12. Die angeschwollene Kehle behindert den Atemweg und schnürt so auch die Stimme ab. fauces, das hier Subjekt zu strangulant ist, ist in der medizinischen Literatur häufig direktes Objekt von strangulare (z. B. Cels. 2,10,6. 2,17,10), vgl.

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OLD, s. v. strangulare 3a: »to constrict (bodily passages …)«. In der Bedeutung »Äußerungen unterdrücken« (vgl. OLD 3b) auch bei Plin. nat. 2,113: natura strangulante sonitum. [fauces] obtusae obscurant [vocem]: obscurare vocem heißt (s. o.) »die Stimme undeutlich machen«. obtusus bezeichnet Dinge, die ihre Schärfe – im haptischen und optischen Sinne – verloren haben, also stumpf sind (vgl. OLD, s. v. obtusus 1 und 2), oder Dinge, die nicht mehr deutlich wahrnehmen können, wie z. B. die Ohren (vgl. ThlL, s. v. obtunsus S. 299,53 ff.). Mit Bezug auf die Stimme heißt es »undeutlich« (Quint. inst. 11,3,15: [vox] et clara et obtusa). Die Verbindung fauces obtusae findet sich sonst nur noch bei Sil. 4,413–414 (crebro/ clamore obtusae crassoque a pulvere fauces). Dort wird Scipios Kehle beschrieben, die durch lautes Reden und Sand abgestumpft ist. Wie aures, die obtusae sind, nicht mehr deutlich hören können, so kann eine Kehle, die abgestumpft ist, keine deutliche Stimme mehr hervorbringen. [fauces] rasae exasperant [vocem]: rasus bedeutet »(durch Kratzen) verletzt«, also auch »zerkratzt« (so auch WILLE [1967], S. 481 und MÜLLER [1969], S. 47). Nach Lukrez kratzt die Stimme oft die Kehle auf (Lucr. 4,528: radit vox fauces saepe) und Geschrei macht die Luftröhre rau (facitque/ asperiora … arteria [hier: n.pl.] clamor, Lucr. 4,528–529), vgl. Kapitel 2.1.4. Dabei denkt Lukrez offensichtlich an Heiserkeit, eine Form der Rauheit. Eigenschaft der Kehle (zerkratzt) und Eigenschaft der Stimme (rau) liegen hier sehr nah beieinander, ähnlich wie im Deutschen die »kratzige Kehle« und die »kratzige Stimme«. Die fauces sind bei exasperare oft direktes Objekt (vgl. ThlL, s. v. faux, S. 393,63 ff., und z. B. Cels. 1,3,23. 2,1,10, Plin. epist. 8,1,2). In inst. 11,3,13 nennt Quintilian rasae fauces als einen Grund für eine schlechte und schwache Stimme (mala vel inbecilla [vox]). Auch nach Aristoteles hängt die Rauheit der Stimme von der Rauheit der Stimmorgane ab (de gen. animal. 788a22–28), nach Galen u. a. von ihrer Trockenheit (vgl. BAUMGARTEN [1962], S. 243). [fauces] convulsae fractis sunt organis similes: Hier wird der parallele Aufbau, eine bestimmte Kehleigenschaft und ihre direkte Auswirkung auf die Stimme zu nennen, durchbrochen. Stattdessen werden die fauces convulsae mit gebrochenen Tonwerkzeugen (vgl. die Erläuterungen zu organum in inst. 11,3,40) verglichen (vgl. die gerade genannten tibiae quassae). convellere wird in der Bedeutung »stark verletzen« häufig auf Körperteile bezogen (vgl. ThlL, s. v. convello S. 819,5 ff.). Von unkontrollierbaren Nebengeräuschen (so WILLE [1967], S. 481 und MÜLLER [1969], S. 47) wird im Text nichts gesagt.

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fauces tumentes … obtusae … rasae … convulsae: Die vier physiologischen Beeinträchtigungen der Kehle sind steigernd angeordnet: das Anschwellen ist der geringste Fehler (vitium) der Kehle, das Abstumpfen der Kehle ist schlimmer. Dann folgen die leichte Verletzung (Aufkratzen) und die starke Verletzung. (21) Finditur etiam spiritus obiectu aliquo, sicut lapillo tenues aquae, quarum cursus etiam si ultra paulum coit, aliquid tamen cavi relinquit post id ipsum quod offenderat. Umor quoque vocem ut nimius impedit, ita consumptus destituit. Nam fatigatio, ut corpora, non ad praesens modo tempus sed etiam in futurum adficit. (21) Auch wird der Atem durch ein Hindernis gespalten, so wie ein kleiner Wasserlauf durch ein Steinchen, dessen Strom, auch wenn er wenig später wieder zusammenfließt, dennoch ein Loch zurücklässt direkt hinter dieser Stelle, an die er gestoßen war. So ist es auch bei der Flüssigkeit: wie allzu viel die Stimme behindert, so lässt sie sie, wenn sie aufgebraucht ist, im Stich. Denn die Ermüdung hat wie auf den Körper, so auch auf die Stimme negative Auswirkungen, nicht nur für die Gegenwart, sondern auch für die Zukunft. etiam spiritus: Vgl. den gedanklichen Anschluss spiritus etiam in Quint. inst. 11,3,15. Quintilian bespricht weiter die Fehler der Stimme aufgrund von organischen bzw. körperlichen Grundlagen. Nach den direkten Ausführungen über die Kehle (in inst. 11,3,20) werden jetzt Überlegungen über Atem, Mundflüssigkeit und Ermüdung nachgetragen, die die Kehle und die anderen Stimmorgane betreffen. obiectu aliquo: obiectus kann sowohl den Vorgang des Entgegenstellens bezeichnen als auch – wie hier – den Gegenstand, der einer Sache entgegengesetzt wird (vgl. ThlL, s. v. obiectus, S. 63,72). Zu denken ist hier an Probleme bei einer kranken Luftröhre, an Gewebe, Haut, Geschwülste, die sich in den Weg des Atems stellen, oder auch an Krümel, die in die Luftröhre geraten. Vgl. Fortun. 3,18 p. 131,17–19, Kapitel 2.2.1. cursus: spiritus B : cursus Spalding : impetus Winterbottom : rictus Radermacher Das überlieferte, sinnlose spiritus ist wohl wegen des an dieser Stelle häufigen Vorkommens der Vokabel in den Text gelangt. Sinngemäß wird nach einem Wort gesucht, das den andauernden Strom des Wassers bezeichnet, der kurz durch ein Hindernis unterbrochen wird. Quintilian verwendet cursus in der Bedeutung »Flusslauf« auch in inst. 9,4,7. 10,1,46.

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umor: die Flüssigkeit im Mund, der Speichel. Er muss in mittlerer Menge vorhanden sein, zwischen den Extremen nimius und consumptus. Für die Bedeutung des Speichels für die Stimme vgl. auch Ps. Arist. de audibilibus 801a10–21 und Ps. Arist. probl. 900a10–15. Zur Flüssigkeit für die Stimmwege insgesamt vgl. Fortun. 3,18 p. 131,28–29, Kapitel 2.2.1. nam: Quintilian gebraucht die Konjunktion häufig in der Form der sogenannten occupatio bzw. praeteritio (vgl. dazu SEYFFERT [1855] I §23 und KÜHNER/STEGMANN [51976] II,2 §170,8.9, S. 117–119). Vor dem nam-Satz ist dabei ein fiktiver Einwurf zu denken, wie etwa »Warum sprichst du nicht davon?«, auf den der Redner/Autor reagiert. Mit dem nam-Satz antwortet er »Ich spreche nur hiervon, denn …«. Dieser Gebrauch von nam liegt auch hier zugrunde. Gemeint ist »(Ich spreche nur hiervon.) Denn bei der Ermüdung ist es anders…« bzw. »Dies ist ein momentaner Schaden – anders ist es bei der fatigatio (die auch in der Zukunft schadet) …«. fatigatio: Mit der fatigatio meint Quintilian im Gegensatz zu momentanen Schwächen eine besonders starke Form der Erschöpfung, die lange (vgl. in futurum) anhält. Der Redner darf nicht fatigatus sein (inst. 12,11,2). Die fatigatio stammt von einer Anstrengung her, einem labor (vgl. inst. 11,2,43, ähnlich auch inst. 11,3,82), den auch die Stimme zu bewältigen hat (vgl. inst. 11,3,44). Celsus befasst sich mit der Behandlung der fatigatio allgemein, nicht mit direktem Bezug auf die Stimme (Cels. 1,3,4–6). Auch er meint damit eine stärkere, vielleicht sogar chronische (Cels. 2,1,9) Form der Erschöpfung (nach Cels. 1,2,7 stärker als lassitudo), die eine Krankheit auslösen kann (Cels. prooem. 52). Ein fatigatus darf sich nicht zu starker körperlicher Übung aussetzen (Cels. 1,2,5), sondern soll ruhen (Cels. 1,3,9). adficit: Quintilian drückt sich hier kurz aus. Das vocem aus dem vorhergehenden Satz ist aber leicht zu ergänzen (vgl. SPALDING [1816] z. St.). Für adficere in der Bedeutung »negative Auswirkungen haben auf« vgl. OLD, s. v. afficio 5 und ThlL, s. v. adficio S. 1206,41 ff. (dort mit affligere, laedere, debilitare als Synonymen). Für die Kombination adficit fatigatio vgl. Quint. inst. 1,12,11.

Unterschiede zu den phonasci in cura und exercitatio (11,3,22–29)

(22) Sed ut communiter et phonascis et oratoribus necessaria est exercitatio, qua omnia convalescunt, ita curae non idem genus est. Nam neque certa tempora ad spatiandum dari possunt tot civilibus officiis occupato, nec praepa-

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rare ab imis sonis vocem ad summos nec semper a contentione condere licet, cum pluribus iudiciis saepe dicendum sit. (22) Aber wie die Übung, durch die alles an Kraft gewinnt, für Stimmkünstler und Redner gemeinsam notwendig ist, so ist die Art der Pflege nicht dieselbe. Denn weder können einem Mann, der mit so vielen bürgerlichen Pflichten beschäftigt ist, feste Zeiten zum Spazierengehen zugewiesen werden, noch ist es ihm möglich, die Stimme von den tiefsten Tönen zu den höchsten vorzubereiten oder sie dann immer von der Anstrengung wieder zurückzuführen, da er häufig in mehreren Prozessen sprechen muss. exercitatio … curae: Zunächst werden in inst. 11,3,19 genannte cura-Elemente (ambulatio und cibi) aufgegriffen und modifiziert. Ab inst. 11,3,24 kommt Quintilian dann auch auf die exercitatio, die reine Stimmübung, zu sprechen. curae non idem genus: Quintilian kommt zunächst zu den Unterschieden zwischen Rednern und phonasci hinsichtlich der cura. Sie begründen sich v. a. dadurch, dass der Redner aufgrund seiner gesellschaftlichen Aufgaben weniger Zeit zur Verfügung hat. Aus Quintilians Ausführungen lässt sich ex negativo schlussfolgern, wie die cura der phonasci aussah. certa tempora ad spatiandum dari: In inst. 11,3,19 war die ambulatio als Rednern und Sängern gemeinsames Element der cura genannt worden, das einen kräftigen Körper erzeugen solle. tot civilibus officiis occupato: Quintilians Anweisungen sind auf einen aktiv tätigen, ciceronischen Redner ausgerichtet, nicht auf einen Schulredner. praeparare: praeparare A1 : praepare B : del. b (etiam occupato nec deleto) : repetere tempt. Spalding SPALDING (1816) z. St. nimmt ohne weitere Begründung (»neque enim mihi placet verbum praeparare in hoc loco«) Anstoß an praeparare. Er vermutet, dass Quintilian sich an Cic. de orat. 1,251 orientierte und schlägt selbst repetere (oder Ähnliches) vor. Gerade für den Prozess des Vorbereitens der Stimme, der in Cic. de orat. 1,251 beschrieben wird, passt praeparare aber gut (vgl. inst. 10,7,2: dum … vox ac latus praeparetur). praeparare ab imis sonis vocem ad summos: Der Ausdruck bezieht sich hier auf die Tonhöhe. Die phonasci bereiten ihre Stimme vor, indem sie die Tonleiter von unten nach oben durchgehen. Diese Technik des »Einsingens« war auch bei Schauspielern und Rednern verbreitet. Bei Cic. de orat.

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1,251 ist es eine Technik der Griechen und Tragöden, die diese vor ihrem Auftritt anwenden (antequam pronuntient, vocem cubantes sensim excitant), bei Seneca rhetor (Sen. contr. 1 praef. 16) etwas, das der Deklamator für seine Stimme tut (vocis causa facere): illam (sc. vocem) per gradus paulatim ab imo ad summum perducere. Seneca d. J. hingegen verbietet sie Lucilius, wohl weil sie übertrieben kunstvoll ist: veto te per gradus et certos modos (sc. vocem) extollere, deinde deprimere (Sen. epist. 15,7). Vgl. Kapitel 2.3. zur Auf- und Abstiegsübung. semper a contentione condere: »condere a + Ablativ« ist eine auffällige und ungewöhnliche Verbindung. Was gemeint ist, wird mit Bezug auf das vorherige praeparare ab imis sonis vocem ad summos und durch Vergleich mit Parallelstellen klar. Mit a contentione condere wird nämlich die gegenläufige Stimmbewegung zum stufenweisen Ansteigenlassen der Stimme bezeichnet. Vgl. die Beschreibung des gleichen Vorgangs bei Cic. de orat. 1,251 (antequam pronuntient, vocem cubantes sensim excitant eandemque, cum egerunt, sedentes ab acutissimo sono usque ad gravissimum sonum recipiunt et quasi quodam modo conligunt), Cic. de orat. 3,225 (aut remissum excitaret [sonum] aut a contentione revocaret), Sen. contr. 1 praef. 16 (nihil vocis causa facere, non illam per gradus paulatim ab imo ad summum perducere, non rursus a summa contentione paribus intervallis descendere), vgl. Kapitel 2.3. Es geht also darum, dass der Redner seine Stimme von der Stufe der höchsten Anstrengung wieder zurückführt. Eine temporale Erklärung der Präposition a als gleichbedeutend mit post (so SPALDING [1816] z. St., BONNELL [1834], S. 1, s. v. ab (a) und WATT [1982], S. 126) ist daher nicht nötig. Das Adverb semper ist hier zum zweiten Glied hinzugefügt, weil die Steigerung der Stimme den entgegengesetzten Vorgang, das Rückführen der Stimme, immer nötig macht. Die Anspannung bedingt die Entspannung. Falsch ist der Bezug des Ausdrucks a contentione condere auf die oratio statt auf die vox, wie im ThlL, s. v. condo S. 154,15 und s. v. contentio S. 672,39 f. pluribus iudiciis: Für den Lokativ ohne in vgl. Quint. inst. 2,4,29 (cum eadem iudiciis pluribus dicunt) und 11,3,127 (id fieri iudiciis privatis non potest).

(23) Ne ciborum quidem est eadem observatio: non enim tam molli teneraque voce quam forti ac durabili opus est, cum illi omnes etiam altissimos sonos leniant cantu oris, nobis pleraque aspere sint concitateque dicenda et vigilandae noctes et fuligo lucubrationum bibenda et in sudata veste durandum.

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(23) Auch bei den Speisen muss nicht dasselbe beachtet werden: ein Redner braucht nämlich nicht so sehr eine geschmeidige und zarte Stimme wie eine starke und widerstandsfähige, da ja jene (Stimmkünstler) alle Töne, auch die höchsten, durch den Gesang ihres Mundes sanft machen, wir aber sehr vieles schroff und erregt vortragen müssen, Nächte durchwachen müssen, den Ruß der Nachtarbeit in uns aufnehmen und in verschwitzer Kleidung ausharren müssen. ciborum … observatio: Zu observatio in der Bedeutung »was beachtet werden muss« vgl. die Ausführungen zu inst. 11,3,14 und ThlL, s. v. observatio S. 198,37 ff. Die Beachtung der Speisen gehört ebenfalls zur cura. Sowohl Redner als auch Sänger müssen auf eine gute Verdauung achten (vgl. die facilis ciborum digestio in inst. 11,3,19). Die phonasci beabsichtigen aber offenbar zudem mit einer bestimmten Ernährung, eine geschmeidige und zarte Stimme zu erreichen. In der antiken Stimmdiätetik, v. a. bei Plinius d. Ä., fehlt es nicht an zahlreichen Empfehlungen für solche stimmfördernden Nahrungsmittel. Besonders beliebt war Lauch (vgl. Kapitel 2.2.1). molli teneraque voce: Das ist die Zielstimme der phonasci. mollis bezeichnet Dinge, die weich sind, die einer Berührung leicht nachgeben. Dies bedeutet oft in negativem Sinn »nicht hart genug« (vgl. ThlL, s. v. mollis, S. 1378,13 ff.). Diese Eigenschaft wird in Verbindung mit Frauen (vgl. OLD, s. v. mollis 3a, 13, 15 und z. B. Cic. off. 1,129) und Jugendlichen (vgl. OLD 3b), also mit Unmännlichkeit gebracht. mollis charakterisiert auch – sowohl positiv wie negativ – einen weichen, geschmeidigen Stil (vgl. OLD 8b und z. B. Cic. de orat. 2,95) sowie feminine, tänzerische Körperbewegungen (z. B. Sen. epist. 90,19, Quint. inst. 11,3,128). Allen Verwendungen des Wortes kann ein moralischer Beigeschmack gegeben sein (z. B. Cic. Tusc. 4,64, Sen. contr. 2 praef. 1, Plin. epist. 9,17,2). Da ausgehend von der Grundbedeutung etwas, das mollis ist, leicht »gebogen« werden kann (flecti), ist mit Bezug auf die Stimme eine solche gemeint, die leicht (v. a. in der Tonhöhe, vgl. flexibilis und flecti in inst. 11,3,15.41) variiert werden kann (vgl. Isid. orig. 3,20,13 [Kapitel 2.4.2]: Die liebliche Stimme [vinnola] ist eine geschmeidige und variationsfähige [mollis atque flexibilis]). Daher wird mollis zur Charakterisierung von Gedichten und Gesang verwendet (z. B. Cic. de orat. 3,98, Vell. 1,7,1). Die Verbindung von mollis mit tener und einer Form vom Stamm flect* findet sich mit Bezug auf die oratio auch in Cic. Brut. 38 bei der Beschreibung der Leistung des Theophrast (hic primus inflexit orationem et eam mollem teneramque reddidit) und Cic. orat. 52 (nam cum est oratio mollis et tenera et ita flexibilis, ut sequatur quocumque torqueas). tener und mollis liegen also sehr nahe beieinander. Die vox mollis ist demnach eine geschmeidige, leicht variierbare und gesangsartig

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wirkende Stimme. Cicero empfiehlt dem Redner, sie zu vermeiden (de orat. 3,41). Beim Auctor ad Herennium (3,11,20) ist die mollitudo vocis dagegen ein positiver Begriff, der die Fähigkeit zur Stimmvariation bezeichnet. Und auch Quintilian empfiehlt in inst. 11,3,165, dass die Stimme etwas geschmeidiger sein soll (als in Exkursen), wenn man die Gegenseite nachahmt und tadelt: mollior nonnumquam cum reprensione diversae partis imitatio. forti ac durabili: Die Stimme des Redners muss also stärker und abgehärteter gegen körperliche Anstrengung sein. Vgl. die Ausführungen zu diesen Attributen in inst. 11,3,64 und 11,3,40. Das Attribut durabilis findet sich mit Bezug auf die Stimme nur bei Quintilian. Es bezeichnet etwas, das andauert, also nicht schnell zugrunde geht oder Schaden nimmt (vgl. ThlL, s. v. durabilis S. 2286,56). Die vox durabilis hält auch bei Überanstrengung und Erkältung durch, ist also widerstandsfähig (vgl. MÜLLER [1969], S. 115). fuligo lucubrationum bibenda: lucubratio bezeichnet das Arbeiten bei Nacht, zu dem man eine Lampe benötigt. Der Qualm, den diese abgibt, ist fuligo. Die Nacht ist die Zeit, die der geistigen Arbeit vorbehalten ist. Vgl. den Vorwurf des Pytheas an Demosthenes, seine Argumentationen röchen nach Lampendocht: καὶ Πυθέας ἐπισκώπτων ἐλλυχνίων ἔφησεν ὄζειν αὐτοῦ τὰ ἐνθυμήματα (Plut. Dem. 8,3). (24) Quare vocem deliciis non molliamus, nec inbuatur ea consuetudine quam desideratura sit, sed exercitatio eius talis sit qualis usus, nec silentio subsidat, sed firmetur consuetudine, qua difficultas omnis levatur. (24) Daher wollen wir die Stimme nicht durch Spielereien verweichlichen, und sie soll sich (in der Übungsphase) nicht mit einer solchen Gewohnheit vertraut machen, die sie dann (in der Realität) vermissen würde, sondern ihre Übung soll solcher Art sein wie die tatsächliche Praxis, und sie soll nicht durch Schweigen nachlassen, sondern durch die Gewohnheit gekräftigt werden, durch die jede Schwierigkeit leichter wird. vocem deliciis non molliamus: Mit deliciae sind abwertend die Praktiken der phonasci gemeint. Aus der Sicht des Redners erscheinen diese als luxuriöse und selbstnachgiebige (vgl. OLD, s. v. delicia 4b) Spielereien und Flausen (vgl. ThlL, s. v. delicia S. 447,58 ff.). Durch diese deliciae wird die Stimme verweichlicht (vgl. vox mollis in inst. 11,3,23). Eine verweichlichte Übung kann aber nicht auf den harten Ernstfall vorbereiten. Die übertriebene cura wird daher abgelehnt.

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ea consuetudine quam desideratura sit: Gedanklich zu ergänzen ist quam 〈in foro〉desideratura sit, die reale Situation, die härter und schwieriger

ist als die Übungssituation. exercitatio/usus: Quintilian geht zur richtigen Form der exercitatio über. Im Folgenden geht es zunächst um das Verhältnis von rednerischer Übungsform und Praxis. Die beste Übung und Vorbereitung für die Praxis ist, wenn die Übung bereits der Praxis entspricht. nec silentio subsidat: Vorausgesetzt wird, dass andere Berufsgruppen (v. a. die phonasci), die mit der Stimme arbeiten, dieser regelmäßige, lange Pausen gönnen. Nicht zu reden macht nach Quintilian die Stimme (des Redners) aber schwächer (vgl. OLD, s. v. subsido 6b) statt stärker, weil sie dadurch aus der Übung kommt. difficultas omnis: Gemeint sind Schwierigkeiten, die der Redner mit seiner Stimme haben kann, z. B. falsche Atmung, Stottern. Sie lassen sich durch ständiges Training (exercitatio, consuetudo) erleichtern. (25) Ediscere autem quo exercearis erit optimum (nam ex tempore dicentis avocat a cura vocis ille qui ex rebus ipsis concipitur adfectus), et ediscere quam maxime varia, quae et clamorem et disputationem et sermonem et flexus habeant, ut simul in omnia paremur. (25) Das Beste wird sein, dasjenige, womit man sich übt, auswendig zu lernen (denn jene leidenschaftliche Anteilnahme, die direkt aus den Gegenständen entsteht, lenkt die, die Reden aus dem Stegreif halten, von der Beachtung der Stimme ab), und zwar möglichst vielfältige Passagen auswendig zu lernen, die sowohl energisches Reden als auch Erörterung, Alltagston und modulierendes Sprechen bieten, so dass wir gleichzeitig auf alles vorbereitet werden. ediscere: Für das Üben der Stimme soll man zu auswendig gelernten Texten greifen. Der Grund liegt offenbar darin, dass bei Auswendiggelerntem der affectus, den der Redner empfindet, nicht so groß ist wie beim Improvisieren, weil ihm der Stoff der Rede bereits bekannt ist. Dabei soll man möglichst abwechslungsreiche Texte auswendig lernen, die verschiedene Tongebungen erfordern. Eine solche reine Stimmübung ist die ursprüngliche Bedeutung von declamatio (vgl. STROH [2003], S. 8, 13, 27). Genau diese Übung legt Quintilian auch dem Anfänger nahe (inst. 1,11,14: tum mihi diligens aliquis ac peritus adsistat neque solum lectionem formet, verum ediscere etiam electa ex iis cogat et ea dicere stantem clare et quem ad modum

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agere oportebit, ut protinus pronuntiationem, vocem, memoriam exerceat). Er soll zunächst Komödienstellen, dann ausgewählte Reden vortragen. ex tempore dicentis: Quintilian behandelt die Stegreifrede ausführlich in inst. 10,7,1–33. Bei der Begriffsverwendung hier steht nicht die eigentliche Improvisation der Rede im Vordergrund, sondern gemeint ist eine Rede, die sich nicht auf Auswendiggelerntes stützt. ille … adfectus: Gemeint ist ein natürlicher Affekt, verus adfectus, der aus der Anteilnahme des Redners mit seinem Thema entsteht und ihn direkt ergreift. In inst. 11,3,61 grenzt Quintilian natürliche von künstlichen Affekten ab. clamorem: lautes, energisches Reden. Vgl. Rhet. Her. 3,12,21.22. disputationem: Hier ist im Unterschied zum sermo die (v. a. philosophische) Fachdiskussion und Erörterung gemeint (vgl. z. B. Quint. inst. 7,2,14: in utramque partem disputatio). Quintilian charakterisiert eine solche disputatio als kompliziert-theoretisch (z. B. inst. 9,1,7: multiplicem … scrupulosam disputationem) und grenzt sie zuweilen von der eigentlichen Aufgabe des Prozessredners ab (z. B. inst. 5,14,27. 10,1,36. 11,1,70). Vgl. inst. 11,3,64. sermonem: sermo ist der kunstlose Ton des normalen Alltagsgespräches, ohne Modulation der Stimme (vgl. Quint. inst. 11,3,168). Vgl. ZUNDEL (1989), S. 90 f., s. v. sermo 2 und 3. Beim Auctor ad Herennium (Rhet. Her. 3,13,23, vgl. Kapitel 4.1.3) ist sermo einer von drei Redetönen der mollitudo vocis. flexus: flexus sind Veränderungen in der Tonhöhe (vgl. Sen. dial. 10,12,4: flexus modulationis), vgl. vom selben Wortstamm flexibilis in inst. 11,3,15.40, das Adjektiv flexus in inst. 11,3,17.64 und flectere in inst. 11,3,41. Daher findet sich flexus als drittes Element neben intentio und remissio vocis (inst. 1,10,25) und der attollenda vel submittenda vox (inst. 1,8,1). flexus vocis passen v. a. zur Klage und zum Erregen von Mitleid (vgl. inst. 1,3,64.170. 1,11,12). Diese tonvariierende Stimmführung wird mit Sängern und Schauspielern in Verbindung gebracht und kann daher auch unpassend für die Rede erscheinen (vgl. inst. 1,12,3. 11,3,182). Eine Veränderung in der Tonhöhe kann auch mit inflexio bezeichnet werden (vgl. Isid. orig. 3,20,8: cantus est inflexio vocis).

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(26) Hoc satis est. Alioqui nitida illa et curata vox insolitum laborem recusabit, ut adsueta gymnasiis et oleo corpora, quamlibet sint in suis certaminibus speciosa atque robusta, si militare iter fascemque et vigilias imperes, deficiant et quaerant unctores suos nudumque sudorem. (26) Das ist genug. Andernfalls wird jene glänzende und umsorgte Stimme die ungewohnte Anstrengung verweigern, wie die Körper, die an Sportstätten und Öl gewöhnt sind, wie schön und stark sie in ihren eigenen Wettkämpfen auch sein mögen, wohl versagen, wenn man ihnen einen Kriegsmarsch, das Tragen eines Bündels und Nachtwachen befiehlt, und diejenigen vermissen, die sie einsalben, und es vermissen, beim Schwitzen nackt zu sein. nitida illa et curata vox: Das ist die Stimme der phonasci, die mit übertriebener cura behandelt wird. insolitum laborem: Gemeint ist die anstregende rednerische Praxis, an die die übertrieben gepflegte Stimme nicht gewohnt ist. in suis certaminibus: entspricht den Vorbereitungsübungen in ihren Sportstätten, für die sie trainieren, die aber nicht an der Realität (eines Soldaten) ausgerichtet sind. militare iter fascemque et vigilias: Der Beruf des Soldaten wird in diesem Vergleich parallel gesetzt zu dem Beruf des Redners. Vgl. die Zusammenstellung von Forum und Schlachtreihe, also deren Arbeitsplätzen, im Rahmen von Ausführungen zur exercitatio in Cic. de orat. 1,147 (ea, quae agenda sunt in foro tamquam in acie) und in Cic. de orat. 1,157 (educenda deinde dictio est ex hac domestica exercitatione et umbratili medium in agmen, …, in castra atque in aciem forensem). WOLLNER (1886) hat alle Ausdrücke, die die Rhetorik aus der Kriegssprache entlehnt, gesammelt. SPALDING [1816] z. St. verweist zudem auf Verg. georg. 3,346–347: acer Romanus in armis/ iniusto sub fasce viam … carpit. unctores suos nudumque sudorem: Sie sehnen sich nach denen, die sie einsalben (vgl. die unctio in Quint. inst. 11,3,19) und danach, wie in den Sportstätten üblich nackt schwitzen zu können, also ohne Kleidung. Der Redner hingegen muss nach inst. 11,3,23 in verschwitzter Kleidung ausharren. imperes/deficiant et quaerant: Das Versagen der Körper ist parallel zum Versagen der Stimme, die nicht fortis und durabilis ist (vgl. diese Forderung in inst. 11,3,23). Der Konjunktiv Präsens in Bedingungs- und Folgerungs-

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satz ist ein Potentialis. Diese Formen gehören dem gelehrten Stil an (vgl. KÜHNER/STEGMANN [51976] II,2 §214,1b, Anm. 1, S. 395). (27) Illa quidem in hoc opere praecipi quis ferat, vitandos soles atque ventos et nubila etiam ac siccitates? Ita, si dicendum in sole aut ventoso umido calido die fuerit, reos deseremus? Nam crudum quidem aut saturum aut ebrium aut eiecto modo vomitu, quae cavenda quidam monent, declamare neminem qui sit mentis compos puto. (27) Wer könnte es ertragen, wenn bei dieser Aufgabe aber folgende Vorschriften gemacht würden: Sonne, Winde, Wolken und auch Trockenheit müssen gemieden werden? Das heißt, wenn wir in der Sonne oder an einem windigen, feuchten oder heißen Tag reden müssen, werden wir unsere Angeklagten im Stich lassen? Ich spreche nur hiervon, denn ich glaube, niemand, der im Besitz seines Verstandes ist, wird eine Redeübung durchführen, wenn er einen verdorbenen Magen hat, vollgegessen ist, betrunken ist oder sich gerade übergeben hat. Davor warnen ja einige ausdrücklich. in hoc opere: Gemeint ist die Aufgabe und Arbeit des Redners bei der Redeübung. fuerit: fuerit steht hier als Futurum exactum von fit. Zu fuero als Futurum exactum von fio allgemein vgl. KNECHT (1970), S. 213 (ausgehend von Ov. trist. 1,9,6: tempora si fuerint nubila, solus eris). reos deseremus: Die römische Rhetorik denkt primär aus der Sicht des Gerichtsredners und dabei v. a. des Verteidigers. nam … puto: nam wird auch hier in der occupatio verwendet (vgl. die Erläuterungen zu nam in inst. 11,3,21). crudum … vomitu: Diese zweite Gruppe von Vorschriften will Quintilian unbehandelt lassen, weil sie von selbst einleuchtend sind. Nach Ps. Arist. probl. 900b39–901a6 spricht man nach dem Trinken und nach dem Erbrechen tiefer (Διὰ τί ἐκ τῶν πότων καὶ τῶν ἐμέτων … βαρύτερον φθέγγονται), weil danach Schleim die Kehle versperrt (διὰ τὴν ἔμφραξιν τοῦ φάρυγγος τὴν γινομένην ὑπὸ τοῦ φλέγματος) und sich der Atem langsamer bewegt. declamare: Hier liegt die ursprüngliche Bedeutung von declamare vor: »eine Stimmübung durchführen« (vgl. STROH [2003], S. 14). Um den gedanklichen Übergang vom Reden vor Gericht (Ita … reos deseremus) zum Reden in der

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Schule (declamare) deutlich zu markieren, schlägt WINTERBOTTOM (2000), S. 175 vor, ein vel (»auch nur«) vor declamare einzufügen, was aber nicht notwendig ist. Der Gedankengang ist auch ohne diese Einfügung verständlich.

(28) Illud non sine causa est ab omnibus praeceptum, ut parcatur maxime voci in illo a pueritia in adulescentiam transitu, quia naturaliter impeditur, non, ut arbitror, propter calorem, quod quidam putaverunt (nam est maior alias), sed propter umorem potius (nam hoc aetas illa turgescit). (29) Itaque nares etiam ac pectus eo tempore tument, atque omnia velut germinant eoque sunt tenera et iniuriae obnoxia. (28) Jene Vorschrift wird nicht ohne Grund von allen gegeben: dass die Stimme am meisten in der Übergangszeit von der Kindheit ins Jünglingsalter geschont werden soll, weil sie da von Natur aus behindert wird, nicht, wie ich meine, wegen der Körperhitze, was manche geglaubt haben (denn diese ist zu einer anderen Zeit größer), sondern eher wegen der Feuchtigkeit (denn sie schwillt in diesem Lebensalter an). (29) Daher sind in dieser Zeit auch die Nase und die Brust angeschwollen, und alles sprießt gleichsam hervor und ist daher empfindlich und anfällig für Verletzung. illud … praeceptum: Auf Vorschriften, die als falsch abgelehnt werden, und Vorschriften, die zwar richtig, aber trivial sind (beides direkt zuvor in inst. 11,3,27), folgt jetzt eine Vorschrift zur exercitatio, die richtig und allgemein bekannt ist. in illo a pueritia in adulescentiam transitu: also um ein Alter von 15 Jahren herum, während des Stimmbruchs (vgl. WILLE [1967], S. 482). RUSSELL (2001), S. 98, Anm. 16, erinnert daran, dass Quintilians Schüler zwischen 13 und 18 Jahre alt waren. Aristoteles (de gen. animal. 787b29–788a1) behandelt die Stimmveränderung beim Menschen im Zuge der Geschlechtsreife (vgl. Kapitel 2.1.2). quia naturaliter impeditur: Während des Stimmbruchs wird die Stimme durch ihre eigene Natur eingeschränkt, weil sie bricht. Nach Arist. de gen. animal. 788a1 wird die Stimme in der Pubertät uneben (ἀνώμαλος). Die Stimme der Pubertierenden wird entweder mit der Stimme eines Bockes (τραγίζειν, »eine Bocksstimme haben«, in Arist. de gen. animal. 788a1, übersetzt als hirquitallire in Censor. 14,7) oder eines Hahnes (gallulascere, »eine Stimme wie ein Hahn haben«, in Novius Atell. 20) verglichen.

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propter calorem: Nach Celsus z. B. ist die Körperwärme im ersten Lebensabschnitt am größten: aetas media tutissima est, quae neque iuventae calore, neque senectutis frigore infestatur (Cels. 2,1,5). Der Einfluss der Wärme auf die Stimme wird in antiken Schriften zur Stimmbildung häufig reflektiert (vgl. Kapitel 2.1.2, 2.1.4 und 2.1.5). Aristoteles z. B. erwähnt den Einfluss der Wärme des Ortes und der Luft (de gen. animal. 788a16–20). Zudem hängt bei ihm die Höhe und Tiefe des Tones eines αὐλός u. a. von der Wärme des Atems ab, der in ihn hineingeblasen wird (de gen. animal. 788a20–22 und WEST [1992], S. 95, ebenso Ps. Arist. probl. 900a28–31, vgl. Kapitel 2.1.2). propter umorem: Die alternative Erklärung für die Stimmlage in der Pubertät bezieht sich auf die Körperflüssigkeit statt auf die Körperwärme. Iul. Vict. rhet. 24 p. 442,2–5 übernimmt Quintilians Begründung. Den Körperflüssigkeiten kam in verschiedenen Zweigen der antiken Medizin eine große Bedeutung zu (vgl. NUTTON/V. REPPERT-BISMARCK [2002], Sp. 1208–1210). Laut Macrobius ist natürliche Körperflüssigkeit in der Kindheit (pueritia) in großem Maß vorhanden (Macr. Sat. 7,10,9. 7,10,10. 7,16,25). Nach Macr. Sat. 7,7,3 (umor naturalis in corpore, quando aetas transit in pueritiam, fit durior et acuitur in pilos) sorgt diese Körperflüssigkeit für das Haarwachstum. nam … alias/nam … turgescit: In zwei kurzen Parenthesen begründet Quintilian seine Position und offenbart zudem sein medizinisches Interesse. nares etiam ac pectus: Nase und Brust werden hier genannt, weil sie für die Stimmbildung wichtige Organe sind.

Sed, ut ad propositum redeam, iam confirmatae constitutaeque voci genus exercitationis optimum duco quod est operi simillimum, dicere cotidie sicut agimus. Namque hoc modo non vox tantum confirmatur et latus, sed etiam corporis decens et accommodatus orationi motus componitur. Aber, um zu meinem Anliegen zurückzukommen, für eine bereits gestärkte und gut vorgebildete Stimme halte ich die Übungsform für die beste, die der echten Aufgabe am ähnlichsten ist, nämlich das tägliche Sprechen, so wie wir es in der Öffentlichkeit als Redner tun. Denn auf diese Art und Weise werden nicht nur die Stimme und die Körperkräfte gestärkt, sondern wird auch die angemessene und an die Rede angepasste Bewegung des Körpers erreicht.

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operi simillimum, dicere cotidie sicut agimus: operi entspricht dem usus in inst. 11,3,24. Die Realitätsnähe wird als beste Vorbereitung für den Ernstfall gefordert (vgl. KRAUS [1996], Sp. 71). Das gilt schon für die ersten echten Redeübungen des Schülers beim Schauspieler (Quint. inst. 1,11,14). Vgl. Quint. inst. 2,10,4 über die Ähnlichkeit der Deklamation mit den echten Reden, auf die sie vorbereiten soll. accomodatus orationi motus componitur: Die Gestik wird durch Quintilians empfohlene Übungsform der mündlichen Rede (oratio) angepasst.

4.2.3 ratio pronuntiationis: Die vier Tugenden des Vortrags (11,3,30–65)

(30) Non alia est autem ratio pronuntiationis quam ipsius orationis. Nam ut illa emendata dilucida ornata apta esse debet, ita haec quoque. (30) Die Art und Weise des Vortrags aber ist keine andere als die der Rede selbst. Denn wie jene fehlerfrei, deutlich, schmuckvoll und angemessen sein muss, so muss es auch der Vortrag. non alia est autem ratio pronuntiationis quam ipsius orationis: Mit ratio sind hier die theoretischen Grundlagen gemeint, die pronuntiatio und oratio die Regeln vorgeben, nämlich die virtutes dicendi. Quintilian überträgt die Tugenden der schriftlichen Rede (oratio) auf den mündlichen Vortrag (pronuntiatio). Er ist der erste Autor, der diesen Parallelismus zwischen Stilqualitäten und Vortragsqualitäten herstellt (vgl. ZICARI [1969], S. 54). illa/haec: illa bezieht sich hier auf das nähere (oratio), haec auf das weiter entfernte Bezugswort (pronuntiatio). Diese Stellung der Pronomen ille und hic ist bei Quintilian häufig (z. B. inst. 3,10,1. 6,1,21. 6,2,21. 11,3,41, vgl. BONNELL [1834], S. 381, s. v. hic und S. 298, s. v. ille). U. a. findet sich dieses Verhältnis der beiden Pronomina ille und hic, wenn das mit hic, haec, hoc Bezeichnete dem Sprecher nähersteht (vgl. KÜHNER/STEGMANN [51976] II,1 §118,2, Anm. 7, S. 623). Quintilian steht die pronuntiatio hier näher, weil sie Thema seiner Ausführungen ist. ita haec quoque: Der Satz endet hier, vgl. WINTERBOTTOM (1970b), S. 204 und die Parallelstelle bei Fortun. rhet. 3,19 p. 132,1–3: quoniam ut elocutio emendata esse debet, dilucida, ornata, apta, ita et pronuntiatio. emendata dilucida ornata apta: Die vier virtutes dicendi bilden für Quintilian das Einteilungsprinzip der elocutio in inst. 8.1–11.1: latinitas (inst. 8,1),

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Quint. inst. 11,3,14–65

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perspicuitas (inst. 8,2), ornatus (inst. 8,3–9,4), aptum (inst. 11,1). Dieses System der Stilqualitäten (gr. Ἑλληνισμός, τὸ σαφές/σαφήνεια, τὸ πρέπον, κατασκευή/κόσμος) geht auf Theophrast zurück (vgl. STROUX [1912], S. 13–28).

Die erste Tugend: emendata pronuntiatio, der fehlerfreie Vortrag (11,3,30–32)

Emendata erit, id est vitio carebit, si fuerit os facile explanatum iucundum urbanum, id est in quo nulla neque rusticitas neque peregrinitas resonet. (31) (Non enim sine causa dicitur barbarum Graecumve: nam sonis homines ut aera tinnitu dinoscimus.) Ita fiet illud quod Ennius probat cum dicit »suaviloquenti ore« Cethegum fuisse, non quod Cicero in iis reprehendit quos ait »latrare, non agere«. sunt enim multa vitia, de quibus dixi cum in quadam primi libri parte puerorum ora formarem, oportunius ratus in ea aetate facere illorum mentionem in qua emendari possunt. Fehlerfrei wird er sein, das heißt er wird keinen Fehler haben, wenn die Aussprache leicht, deutlich, angenehm und städtisch ist, das heißt wenn in ihr weder Bäurisches noch Ausländisches durchklingt. (31) (Nicht ohne Grund nennt man sie andernfalls nämlich barbarisch oder griechisch: denn wir erkennen Menschen an ihren Tönen wie Erze an ihrem Klirren.) So wird das eintreten, was Ennius lobt, wenn er sagt, dass Cethegus einen »süß sprechenden Mund« gehabt habe, und nicht das, was Cicero an denen tadelt, die, wie er sagt, »bellen, nicht vortragen«. Es gibt nämlich viele Fehler, über die ich gesprochen habe, als ich in einem bestimmten Teil des ersten Buches die Münder der Knaben geformt habe. Ich glaubte, es sei dienlicher, sie im Zusammenhang mit dem Alter zu erwähnen, in dem sie noch verbessert werden können. fuerit: Hier steht fuerit sinngemäß statt factum erit (wenn die Aussprache … geworden ist). Vgl. die Ausführungen zu fuerit in inst. 11,3,27. os: Kann hier aufgrund der deutlichen Unterscheidung von der ipsa vox in inst. 11,3,32 nicht gleichbedeutend mit vox sein. Gemeint ist das, was der Mund (os) zur Stimme beiträgt, nämlich die Aussprache/Artikulation, die mit dem Mund bzw. den Mundwerkzeugen durchgeführt wird. Die Bedeutung »Aussprache« hat os ebenfalls in Quint. inst. 1,1,37. 1,11,4. 11,3,52 sowie Plin. epist. 4,7,4 (os confusum) und Nep. Att. 1,3 (suavitas oris atque vocis).

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facile: eine leichte, gewandte Aussprache ohne Anstrengung. facilitas bedeutet Leichtigkeit, Geläufigkeit, Gewandtheit (vgl. ZUNDEL [1989], S. 39, s. v. facilitas, facilis). Nach Quint. inst. 10,1,12 gehört sie zu den wichtigsten Dingen für einen Redner und ist nicht nachahmbar. Quintilian übersetzt ἕξις mit firma quaedam facilitas (inst. 10,1,1). Die ἕξις ist das Ziel der rhetorischen exercitatio, nämlich die Fähigkeit, die rhetorische Technik souverän praktisch umsetzen zu können (vgl. KRAUS [1996], Sp. 71). Die Vortragsübung fördert vocis firmitatem, oris facilitatem, motum corporis (Quint. inst. 10,7,26). In Quint. inst. 10,1,111 ist facilitas die Eigenschaft einer ciceronischen Rede und steht in gedanklichem Gegensatz zu Anspannung und Anstrengung. explanatum: explanare heißt nicht nur »deutlich machen, erklären« (vgl. OLD, s. v. explano 2), sondern auch »deutlich äußern« (vgl. OLD, s. v. explano 3, ThlL S. 1713,21 ff.). Das Partizip explanatus kommt in der Bedeutung »klar und deutlich ausgesprochen« häufig vor (vgl. ThlL, s. v. explano S. 1713,30 ff.). iucundum: iucundus ist die allgemeine Bezeichnung für etwas, das von den Sinnen als angenehm empfunden wird (vgl. OLD, s. v. iucundus 3), also auch für von den Ohren als angenehm empfundene Reden (oratio, dicta, verba), Töne (soni) und die Stimme (vox). Gleiches gilt für die Personen, die diese äußern (vgl. ThlL, s. v. iucundus S. 594,19 ff.). urbanum, id est in quo nulla neque rusticitas neque peregrinitas resonet: urbanitas bezeichnet die städtische Weise und das städtische Wesen. Mit Bezug auf die Rede kann es allgemein die Feinheit der Aussprache oder des Ausdrucks bedeuten, die mit der Stadt Rom in Verbindung gebracht wurde (vgl. z. B. Cic. Brut. 171, Cic. fam. 3,8,3, Quint. inst. 8,3,35). Die urbanitas wird dem Ländlich-Bäurischen (rusticitas) und dem Ausländischen (peregrinitas) gegenübergestellt (vgl. Quint. inst. 6,3,17.107, Cic. de orat. 3,44). non enim … dinoscimus: Sinngemäß ist hier ein »andernfalls« (z. B. aliter) zu ergänzen im Sinne von »wenn das gerade Genannte nicht zutrifft, dann«. Für Ellipsen dieser Art vgl. z. B. Hor. ars 303 mit STROH (1989), S. 43. barbarum Graecumve: Hierbei muss es sich nicht um ein nur einmal vorkommendes Sprichwort oder eine Redewendung handeln, wie die Forschung allgemein annimmt (vgl. SPALDING [1816] z. St. und RUSSELL [2001], S. 100, Anm. 18). Gemeint ist noch die falsche Aussprache (os), die nicht echt lateinisch ist. Zu os Graecum vgl. Plin. epist. 6,11,2 (os Latinum) und Gell. 19,9,2 (Hispano ore). Dabei zeigt sich deutlich die Übertragung der Stilqualität latinitas auf die Vortragsweise, bzw. hier genauer auf die Aus-

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sprache. Eine solche nicht-lateinische Aussprache (os) kann entweder allgemein barbarum sein, im Sinne von »unkultiviert« wie in Quint. inst. 1,6,30. 1,8,14. 12,10,28, wo es ebenfalls auf die Aussprache bezogen wird (vgl. ThlL, s. v. barbarus S. 1739,79 ff.). Dann drückt sich in ihr z. B. die eben genannte rusticitas aus. Nach Gell. 13,6,2 hieß der Sprachfehler, den die Römer mit barbarum bezeichnen, bei den Griechen rusticum (also wahrscheinlich ἄγροικον). Zur Nähe von rusticus und barbarus vgl. Quint. inst. 2,20,6. Allgemein ist barbarus noch eine Steigerung von rusticus (vgl. z. B. Calp. Sic. 2,61 und Plin. nat. praef. 13). Oder eine solche nicht-lateinische Aussprache (os) kann Graecum sein, dann drückt sich in ihr z. B. die gerade ebenfalls erwähnte peregrinitas aus. In inst. 1,1,13 warnt Quintilian davor, dass der Schüler zu lange Griechisch lernt, da er sonst einen griechischen Einschlag in seinen römischen Klang mischt (vgl. GESNER [1738] z. St.: »hoc [sc. dadurch, dass der Schüler lange Zeit nur Griechisch spricht oder lernt] enim accidunt et oris plurima vitia in peregrinum sonum corrupti et sermonis«). nam sonis homines ut aera tinnitu dinoscimus: Hier ist nicht die persönlich-charakteristische Stimme eines einzelnen Menschen gemeint (wie in inst. 11,3,18), sondern der Klang der Stimmen von Menschen mit gemeinsamer Herkunft. So wie wir am Klang erkennen, aus welcher Gegend Deutschlands oder aus welchem anderen Land jemand kommt, erkannte man sicherlich auch, ob jemand aus der Stadt Rom, vom Land oder aus Griechenland kam. Siehe Quint. inst. 1,5,33: Bestimmte Völker (nationes) lassen sich an den ihnen eigentümlichen und nicht beschreibbaren Klängen (proprii quidam et inenarrabiles soni) erkennen. Quintilian vergleicht das Erkennen und Unterscheiden von Menschen anhand ihres Stimmklanges mit dem Erkennen von verschiedenen Erzen an ihrem Klang. tinnitus, »Klirren«, ist die übliche Bezeichnung für den Klang von Erz (z. B. Sen. dial. 5 [= de ira 3],35,3, Plin. nat. 11,68, Diom. gramm. I 478,19). Nach Donat handelt es sich dabei um eine onomatopoetische Wortschöpfung: Onomatopoeia est nomen de sono factum, ut tinnitus aeris, clangor tubarum (Don. gramm. IV 400,30–31). Um welche Erze es hier genau geht, muss offen bleiben. Am wahrscheinlichsten ist wohl, dass Quintilian hier verschiedene Geldmünzen aus Erz (so Bickel im ThlL, s. v. aes, S. 1074,75) meint. Man kann Geld mit falscher Beimischung an seinem Klang erkennen, auch wenn es keine antiken Quellen gibt, die dies belegen. Gerade dabei besteht ja ein Interesse an der Unterscheidung der Erze (so deutet diese Stelle auch Prof. Dr. Reinhard Wolters, Professor für Numismatik und Geldgeschichte in Wien, per litteras). ita … Ennius … Cethegum … Cicero … latrare, non agere: Hier bezieht sich Quintilian stark auf Cic. Brut. 57–58 (vgl. Kapitel 3.2.2). Dort wird Q.

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Ennius als Gewährsmann für die Beredsamkeit (eloquentiae auctor) des Cethegus, des ersten beredten Mannes (eloquens), angeführt. Es folgt das Ennius-Zitat aus ann. 303–304 (ed. Vahlen): Additur orator Cornelius suaviloquenti/ ore Cethegus Marcus. Dann wird noch einmal des Cethegus’ angenehmer Vortrag hervorgehoben (et oratorem appellat et suaviloquentiam tribuit) und in einer Parenthese zu dieser suaviloquentia hinzugefügt: quae nunc quidem non tam est in plerisque: latrant enim iam quidam oratores, non loquuntur. Ennius und Cicero erkennen dem Cethegus also eine angenehme Aussprache (suaviloquens os) und eine angenehme Wirkung im Vortrag (suaviloquentia) zu. Quintilian geht es hier im Rahmen der emendata pronuntiatio in erster Linie um die Aussprache. Das Bellen wird dann mit mangelnder Süße des Klanges und mangelnder Genauigkeit der Artikulation verbunden. Quintilian zitiert Cicero aus dem Kopf. Aus Ciceros latrant, non loquuntur wird dabei latrare, non agere. enim: bezieht sich auf den gesamten Zusammenhang; Quintilian begründet, warum er über die Aussprache (os) so ausführlich spricht: weil es viele Fehler gibt, die in diesem Bereich auftreten können und die an anderer Stelle bereits erwähnt worden sind. in quadam primi libri parte: nämlich in inst. 1,11,4–8 (vgl. Kapitel 2.4.1). Vgl. aber auch inst. 1,5,32 über vitia oris et linguae, die sich schriftlich nicht darstellen lassen. in ea aetate facere illorum mentionem in qua emendari possunt: Viele Sprechfehler müssen in den ersten Jahren beseitigt werden, da sie sonst nicht mehr behoben werden können (vgl. Quint. inst. 1,1,37).

(32) Itemque si ipsa vox primum fuerit, ut sic dicam, sana, id est nullum eorum de quibus modo retuli patietur incommodum, deinde non surda rudis inmanis dura rigida vana praepinguis, aut tenuis inanis acerba pusilla mollis effeminata, spiritus nec brevis nec parum durabilis nec in receptu difficilis. (32) Und ebenso wird der Vortrag fehlerfrei sein, wenn die Stimme selbst erstens gesund ist, um es so zu sagen, das heißt keinen von den Fehlern aufweist, über die ich eben gesprochen habe, und zweitens nicht dumpf, grob, ungeschlacht, unflexibel, starr, undurchdringend, übervoll oder dünn, klanglos, schrill, sehr leise, weichlich oder weibisch ist, und der Atem weder kurz noch wenig ausdauernd noch schwer zu holen ist. itemque: zu ergänzen ist aus inst. 11,3,31: pronuntiatio emendata erit.

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ipsa vox: Gemeint ist die natürliche Stimme als Gesamtergebnis aller an der Stimmbildung beteiligten Organe, im Unterschied zu os, der durch den Mund gebildeten Aussprache im engeren Sinn. fuerit: vgl. fuerit in inst. 11,3,30. sana: Dass die Stimme gesund sein muss, heißt, dass sie nicht von Natur aus Fehler besitzen darf, die nicht korrigiert werden können. Unheilbare Sprachfehler würden einen guten Vortrag unmöglich machen (vgl. Quint. inst. 11,3,12). Vielmehr muss die Stimme ganz frei von Fehlern sein, wenn der Vortrag perfekt werden soll (vgl. inst. 11,3,13). nullum eorum de quibus modo retuli patietur incommodum: Hier bezieht sich Quintilian auf seine Ausführungen zur Auswirkung einer kranken Kehle (vitio faucium) auf die Stimme in inst. 11,3,20. Je nach Zustand der Kehle ergibt sich eine vox fracta, obscura, aspera oder scissa. Die Grundbedingung für die emendata pronuntiatio ist, dass die Stimme gesund ist, also nicht an einem solchen Fehler leidet. surda: Alle älteren Handschriften überliefern das Simplex surda (ed. SPALDING [1816]), das auch mit dem guten Sinn »dumpf« beibehalten werden kann. Ähnlich wie caecus, das nicht nur »blind« heißt, sondern auch »dunkel« und Dinge bezeichnet, die nicht gesehen werden (vgl. SPALDING [1816] z. St. und Isid. 3,20,13: caeca vox, eine Stimme, die nur kurz gehört wird, weil sie gleich wieder erstickt wird, vgl. Kapitel 2.4.2), heißt surdus sowohl »taub«, als auch »lautlos«, »dumpf«, »gedämpft« (vgl. OLD, s. v. surdus 4a). Auch mit Bezug auf Farbe und Licht wird es in der Bedeutung »dumpf« bzw. »glanzlos«, »matt« verwendet (vgl. OLD 4b). Im akustischen Bereich charakterisiert es Dinge, die keinen hörbaren Ton oder – wie hier – keinen klangvollen Ton erzeugen können, z. B. Prop. 4,3,53, Stat. silv. 1,4,19, Plin. nat. 19,20, Iuv. 7,71 (vgl. CATREIN [2003], S. 89 f.). Bei Vitruv ist ein locus surdus ein dumpftönender Ort, an dem die Stimme sich nicht klar ausbreiten kann: etiam diligenter est animadvertendum, ne sit locus surdus, sed ut in eo vox quam clarissime vagari possit (Vitr. 5,3,5). Seneca rhetor bezieht surdus auf die Stimme (contr. 1 praef. 16): vox robusta, sed surda, lucubrationibus et neglegentia, non natura infuscata. Damit meint er offenbar eine Stimme, die zwar stark ist, aber durch Überarbeitung und Vernachlässigung gedämpft und belegt, also nicht klangvoll. Das Kompositum subsurda (ed. WINTERBOTTOM [1970a]) findet sich erst in den humanistischen Handschriften und im Zusammenhang mit der Stimme nur dort an dieser Textstelle (vgl. SPALDING [1816] z. St.). Eine durch das Präfix sub- bewirkte Abschwächung (vgl. LEUMANN u. a. [1977] I §339, 3a, S. 401) des Aspektes »dumpf« ist aber hier nicht sinnvoll. subsurda ist

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auch nicht mit absurda, »misstönend« (vgl. ThlL, s. v. absurdus S. 221,57 ff. und OLD 1 sowie Cic. de orat. 3,41), gleichzusetzen (so aber GESNER [1738] z. St.). rudis: Das Adjektiv beschreibt Dinge, die noch in ihrem natürlichen Zustand sind, die noch nicht verarbeitet sind, und Kunstwerke, die kunstlos, unausgebildet sind (vgl. OLD, s. v. rudis 2). Es wird übertragen auf literarische und musikalische Werke (vgl. OLD 2b). Quintilian verwendet es nicht nur (wie hier) mit negativer Konnotation. Es bezeichnet bei ihm v. a. unbearbeitete oder (noch) kunstlose, unkultivierte Dinge (z. B. inst. 1,2,27. 1,10,9. 2,12,3. 2,19,3. 3,1,7). Eine vox rudis ist demnach eine kunstlose, unkultivierte Stimme. inmanis: Quintilian verwendet das Adjektiv in der Institutio oratoria überhaupt nur einmal, an dieser Stelle. Es bezeichnet in der Grundbedeutung Dinge, die ungezähmt, roh oder unbändig sind (vgl. ThlL, s. v. immanis S. 439,28 ff.) und ist insofern dem zuvor genannten rudis nicht unähnlich. Die vox immanis ist demnach eine rohe, ungeschlachte Stimme (vgl. MÜLLER [1969], S. 107). Diese Komponente des Ungezähmten, Unbändigen lässt sich auch bei anderen Verwendungen des Wortes in akustischem Zusammenhang nachweisen, wobei häufig heftige, laute Geräusche v. a. in der Natur bezeichnet werden: z. B. Ov. trist. 1,2,25 (fremunt immani murmure venti), Stat. silv. 4,3,1–2 (duri silicis gravisque ferri/ immanis sonus), Vopisc. Car. 8,3 (immani coruscatione, immaniore … tonitru). Ungeschlacht ist auch die Stimme eines energischen Anklägers bei Apuleius (met. 3,4): sic profatus accusator acerrimus immanem vocem repressit. dura: Quintilian erwähnt die vox dura als eine natürliche Stimmart und als Gegenteil der vox flexibilis in inst. 11,3,15. Durch diese Gegenüberstellung wird klar, dass es sich um eine Stimme handelt, die nicht variiert, und dies v. a. im Bezug auf die Tonhöhe (vgl. die Ausführungen zu inst. 11,3,15). rigida: rigidus heißt wie durus in der Grundbedeutung »steif«, »nicht biegsam«, »hart«, wird allerdings viel seltener in akustischem Zusammenhang verwendet. Quintilian sagt es z. B. über starre Augen (inst. 11,3,76: oculi rigidi), über eine steife Körperhaltung (inst. 11,3,160: stare rigidum) und über einen steifen Nacken (inst. 11,3,82: cervicem rigidam). Sowohl rigidus als auch durus bezeichnen Stimmen, die nur gering oder schwer variieren können. Bei der Beschreibung von Statuen in inst. 12,10,7 sind durus und rigidus synoym, ihr Gegenteil ist mollis, bei der Beschreibung der Kopfhaltung in inst. 11,3,69 werden rigens und praedurus nebeneinandergestellt. durus dürfte sich (aufgrund des gegenteiligen flexibilis in inst. 11,3,15) v. a. auf mangelnde Flexibilität in der Tonhöhe, rigidus allgemein auf mangelnde

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Flexibilität beziehen, also z. B. auch Geschwindigkeit und Tonfärbung (so auch MÜLLER [1969], S. 107) sowie Tempo (vgl. WILLE [1967], S. 482) mitumfassen. Bei Mart. 7,92,3 ist mit der rigida vox eines seine Miete verlangenden Vermieters die Unbeugsamkeit des Sprechers auf dessen Stimme übertragen. vana: vana Mss.: rava Burmann : rauca Wilson : vasta Burmann : varia Gesner In allen Handschriften ist das Adjektiv vana überliefert, das sonst nicht als Attribut für vox verwendet wird. Was genau darunter zu verstehen ist, ist nicht leicht zu sagen (vgl. SPALDING [1816] z. St.). Das Adjektiv bezeichnet – wie das folgende inanis – Dinge, die leer, gehaltlos, erfolglos sind. Wie inanis heißt es in Bezug auf sprachliche Äußerungen und mit Blick auf deren Inhalt »erfolgslos« (vgl. OLD, s. v. vanus 2b und 3a), z. B. Liv. 39,37 und Ov. met. 3,349. Zur Charakterisierung von Tönen o. Ä. wird es aber sonst nicht verwendet. Überträgt man die häufigste Bedeutung »erfolglos« auf die Stimme, so ist eine vox vana wohl eine Stimme, die nicht zum Hörer durchdringt. Damit ist die vox vana, die nicht-durchdringende Stimme, sehr nahe mit der folgenden vox inanis, der klanglosen Stimme, verwandt. Die Ähnlichkeit dieser beiden Stimmen hat zum Verwerfen der Überlieferung vana und zu zahlreichen Konjekturen geführt. Quintilian verwendet aber häufig Adjektive, die in ihrer Bedeutung sehr nahe beieinander liegen (z. B. hier: dura rigida). Die eindeutig überlieferte Lesart sollte daher beibehalten werden. Zu den Konjekturen: Burmann konjizerte rava, eine heisere, raue Stimme. Eine rau und heiser klingende Stimme würde zu einem schmuckvollen Vortrag im Sinne Quintilians in der Tat nicht passen. Das Adjektiv ist in akustischem Bereich selten. Das dazugehörige Verb ravire, »sich heiser reden«, gibt es schon bei Plautus (vgl. ZICARI [1969], S. 61). Der Grammatiker Festus (Paul. Fest. p. 355, ed. LINDSAY) definiert die rava vox als rauca et parum liquida, proxime canum latratum sonans, also als raue und wenig flüssige Stimme (da Heiserkeit von Trockenheit kommt, vgl. Fest. p. 366, ed. LINDSAY, zu raucos: a ravi, id est ab ariditate faucium), die sehr ähnlich wie das Bellen der Hunde klingt. Zum Zusammenhang von ravus und Heiserkeit vgl. auch Non. p. 164,13: ravis [Dativ Plural] est raucitas. Bei Sidon. epist. 8,11,3 (carm. 49–50) bezieht sich ravus auf raue, heisere Gesänge: Hic cum festa dies ciere ravos/ cantus coeperit. Wilsons vox rauca ist semantisch mit Burmanns vox rava identisch. raucus ist in Bezug auf menschliche Stimmen (vgl. OLD, s. v. raucus 1), Töne und Geräusche von Tieren, Vögeln und Musikinstrumenten (vgl. OLD 2 und OLD 3) häufig belegt, kommt bei Quintilian sonst aber auch nicht vor und ist weiter von der Überlieferung entfernt.

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vastus ist im akustischen Zusammenhang in der Bedeutung »ungeschlacht, ungeheuer, stark, intensiv« (vgl. OLD, s. v. vastus 3c) häufig belegt, z. B. Cic. de orat. 3,45, Cic. Tusc. 2,24, Verg. Aen. 1,245, Colum. 1,9,2. Vom Überlieferten ist es allerdings weiter entfernt als rava. Zudem ließe sich dann ein Bedeutungsunterschied zur vox immanis nur schwer feststellen. Mit seiner Konjektur vox varia meint GESNER (1738) z. St. eine instabile und unkontrollierbare Stimme, die keinen Ton halten kann. Das Adjektiv wird sonst aber, auch bei Quintilian, zur Bezeichnung einer positiv abwechslungsreichen Stimme verwendet, vgl. inst. 11,3,145 und Plin. nat. 10,85. praepinguis, aut tenuis: Das Präfix prae- steigert meist das Adjektiv, dem es beigesetzt wird (vgl. LEUMANN u. a. [1977] I §339, 3a, S. 401), vgl. praetenuis in inst. 11,3,41. pinguis und tenuis sind ganz allgemein Gegenteile, auch im grammatischen und rhetorischen Bereich. Ausgehend von der Grundbedeutung bezeichnet dabei pinguis die Fülle, tenuis die Dünnheit einer Sache. Dies gilt für literarischen Stil (vgl. OLD, s. v. pinguis 7b, s. v. tenuis 12, vgl. z. B. Quint. inst. 9,4,17. 12,10,38) sowie für die Aussprache (vgl. ThlL, s. v. pinguis S. 2167,35 ff., OLD, s. v. tenuis 13). pinguitudo und tenuitas (oder auch: exilitas) sind Termini der grammatischen Diktion, die die Fülle oder Dünnheit bei der Aussprache einzelner Buchstaben bezeichnen (vgl. DAHLMANN [1970], S. 104, Anm. 3, mit zahlreichen Beispielen), wie z. B. in Quint. inst. 1,7,27. 1,11,4, Lucil. 369–370, Gell. 13,21,4–5. Auch die Aspiration eines Vokales wird mit diesen Begriffen bezeichnet (vgl. ThlL, s. v. pinguis S. 2167,55 ff. und DAHLMANN [1970], S. 104, Anm. 3, sowie z. B. Explan. in Don. gramm. IV 526,3). Die vox pinguis wird bei Isidor (vgl. Kapitel 2.4.2) mit großem Atemeinsatz und mit Männlichkeit assoziiert (vgl. Isid. orig. 3,20,12: pingues sunt voces, quando spiritus multus simul egreditur, sicut virorum) und der vox subtilis (Isid. orig. 3,20,11) gegenübergestellt, einer Stimme ohne (viel) Atemeinsatz, wie der der Kinder, Frauen und Kranken. Ähnlich wird die vox tenuis mit Schwäche (Claud. 15,21: vox tenuis des geschwächten Rom; in Quint. inst. 11,3,82 gemeinsam mit Ermüdung: tenuaturque vox ac fatigatur), Weiblichkeit (in Physiogn. 6: vox tenuis als Zeichen der Frauen) und Höhe des Tons (Paul. Fest. p. 391, ed. LINDSAY: succrotilla vox, tenuis et alta) assoziiert. Die vox tenuis ist somit eine dünne (so auch MÜLLER [1969], S. 109), schwache, hohe, eher weibliche Stimme. Die vox praepinguis ist hingegen als Gegenteil der vox tenuis und als Steigerung einer vox pinguis eine zu volle und auch tiefe (vgl. ebd., S. 108) Stimme. inanis: Das Adjektiv wird von Quintilian (ebenso wie vanus) in der Bedeutung »leer« verwendet, wobei das, was fehlt, ganz unterschiedlicher Art sein kann. Mit Bezug auf lautliche Äußerungen heißt inanis in den meisten Fällen »leer« im Sinne von »gehaltlos«, »eitel«, »nichtig«, ähnlich unseren »lee-

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ren Worten« (z. B. Quint. inst. 10,3,2, Cic. de orat. 1,51, Cic. Tusc. 3,42, Petron. 2,2, Gell. 1,15,5), was sich allerdings auf den Inhalt des Gesagten bezieht (so auch inanes … rhetorum ampullae in Verg. catal. 5,1), nicht auf die Art und Weise der lautlichen Äußerung. In Don. vita Verg. 29 meint inanis das Gegenteil eines von der Persönlichkeit des Vortragenden belebten Klanges (eosdem enim versus ipso [sc. Vergilio] pronuntiante bene sonare, sine illo inanes esse mutosque). An zwei anderen Stellen wird inanis allerdings – wie hier bei Quintilian – mit Bezug auf die (akustische) Klangqualität verwendet (vgl. ThlL, s. v. inanis S. 823,68 ff.). In Cic. progn. frg. 6 beschreibt es das nicht-sonore Gequake von Fröschen und wird mit mißtönendem Klang gemeinsam genannt (inanes fundere voces absurdoque sono). Im Zusammenhang mit dem Prosarhythmus ist es in Cic. Brut. 34 Gegenteil eines abgerundeten Klanges (nam et aures ipsae quid plenum, quid inane sit iudicant). Nimmt man diese Stellen zusammen, so lässt sich die vox inanis nur allgemein als klanglose, unsonore Stimme verstehen (vgl. MÜLLER [1969], S. 109: »eine dünne und resonanzlose Stimme«). acerba: Die Grundbedeutung »bitter, sauer, herb« bezieht sich auf den Geschmack. Übertragen auf Töne heißt das Adjektiv »grell, schreiend, schrill, kreischend« (vgl. OLD, s. v. acerbus 1b, ThlL S. 367,81 ff.), z. B. Lucr. 2,410 über das Geräusch einer Säge (serrae stridentis acerbum horrorem), Plin. nat. 29,90 über das Geräusch, das der Gecko von sich gibt (stridoris acerbi), zur Charakterisierung des Wehklagens und Schreiens vor Schmerzen in Cic. har. resp. 39 und Val. Fl. 2,458, jeweils als Attribut von gemitus (vgl. MÜLLER [1969], S. 110). Eine vox acerba gibt es auch bei Sen. epist. 56,5, wo die schneidende, als bitter empfundene Stimme des Rudermeisters gemeint ist, der den Ruderern den Takt vorgibt (vox acerbissima). In Rhet. Her. 4,47,60 wird ein Kitharöde u. a. aufgrund seiner vox acerbissima lächerlich gemacht, verspottet und hinausgeworfen. Ein wichtiges Zeugnis ist Val. Max. 8,7, ext. 1 über die Stimme des Demosthenes: Deinde propter nimiam exilitatem acerbam auditu vocem suam exercitatione continua ad maturum et gratum auribus sonum perduxit. Die Stimme des Redners ist zunächst acerba auditu und zwar wegen ihrer allzu großen exilitas (vgl. inst. 11,3,15). Vermutlich muss Demosthenes seine dünne Stimme zu stark anstrengen, so dass sie unangenehm klingt. Durch ständige Übung verleiht er ihr aber einen reifen (maturum) – hier schwingt die Bedeutung »unreif« von acerbus mit – und für die Ohren angenehmen Klang. Demnach ist die vox acerba eine zu dünne, nicht voll ausgebildete und für die Ohren unangenehm klingende Stimme. Vgl. MÜLLER (1969), S. 110: »eine scharfe und spitze Stimme« und WILLE (1967), S. 483: »eine schneidende Stimme«.

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Das Adjektiv acerbus kommt in akustischem Zusammenhang auch in inst. 11,3,169 vor. Dort beschreibt Quintilian eine Stimme, die die Griechen amaritudo genannt hätten. Diese Stimme sei paene extra organum, beinahe außerhalb des menschlichen Stimminstrumentes bzw. »außerhalb des Stimmapparates« (LÖSCHHORN [1971], S. 204; zum Begriff organum vgl. die Erläuterungen zu inst. 11,3,16.40), und super modum ac paene naturam vocis humanae acerba, über das Maß und beinahe über die Natur der menschlichen Stimme hinaus unangenehm, also extrem schrill. Nach MÜLLER (1969), S. 109 und der bei ERNESTI (1795), S. 264 zitierten Meinung des (PSEUDO-) TURNEBUS (1556) sei damit eine griechische Stimmart namens πικροφωνία gemeint. πικρός wird häufig für Klangliches gebraucht (vgl. LSJ, s. v. πικρός II 3: »piercing, shrill«). Zwar gibt es für eine Stimmart πικροφωνία keine antiken Zeugnisse und auch πικρία und πικρότης lassen sich nicht zur Bezeichnung einer Stimmeigenschaft nachweisen. Angesichts unseres geringen Wissens über die Sprache der griechischen Stimmbildner schließt das eine Existenz dieser Begriffe aber auch nicht aus. COUSIN (1979), S. 373 f. vermutet hingegen, dass Quintilian hier amaritudo nicht ganz passend für ὀξυφωνία verwendet, da amarus, acerbus und ὀξύς in ihrer Bedeutung sehr nahe beieinander liegen. pusilla: klein, gering. Unter der Größe der Stimme versteht Quintilian ihre Lautstärke (vgl. inst. 11,3,15). Die vox pusilla ist also eine ganz leise, schwache Stimme (vgl. ZICARI [1969], S. 63 und MÜLLER [1969], S. 110). mollis: Die vox mollis ist eine geschmeidig-weichliche, leicht variierbare und zum Gesang geeignete Stimme. Für einen Redner ist sie zu stark modulierend. Siehe die Ausführungen zu inst. 11,3,23. Häufig schwingt in mollis die Bedeutung »unmännlich« mit, da Eigenschaften wie sanft und zart v. a. Frauen und Entmannten zugeschrieben werden (vgl. OLD, s. v. mollis 3a, 13 und 15). Cicero nennt in de orat. 3,41 die geschmeidige Stimme in einem Atemzug mit der weiblichen Stimme (mollis vox aut muliebris), in de off. 1,129 wird davor gewarnt, dass die Haltung und Bewegung etwas Unmännliches oder Geschmeidiges (quid effeminatum aut molle) habe. Auch in der Physiognomik gilt die vox mollis als Zeichen der verweichlichten Männer (Physiogn. 78: Qui acutam et mollem habent vocem, effeminati sunt). effeminata: Das vom Verb effeminare abgeleitete Adjektiv-Partizip mit der Grundbedeutung »unmännlich, weibisch, eines Mannes unwürdig« wird auch auf den (literarischen) Stil übertragen (z. B. allgemein in Quint. inst. 2,5,10 und über die compositio in inst. 9,4,142). In inst. 1,8,2 (vgl. Kapitel 2.4.1) wird es in Zusammenhang mit der Modulation der Stimme gebracht. Dort heißt es über das Vorlesen des Schülers von Dichterlektüre: lectio … non tamen in canticum dissoluta nec plasmate (= Stimmmodulation, vgl.

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ThlL, s. v. plasma S. 2347,68 ff.), ut nunc a plerisque fit, effeminata. Die Nähe der vox effeminata zur Stimmmodulation und zum Gesang legt auch inst. 1,10,31 nahe: (musice) nunc in scaenis effeminata et inpudicis modis fracta. (In inst. 11,3,91 ist die vox effeminata allerdings die Stimme eines männlichen Schauspielers, der eine Frau nachahmt.) Auch bei anderen Autoren gibt es die vox effeminata: Plin. paneg. 54,1 (effeminatis vocibus modis gestibus), Apul. met. 8,26 (fracta et rauca et effeminata voce). Die vox effeminata ist also eine unmännlich-weibliche, zum Sington neigende Stimme (vgl. MÜLLER [1969], S. 111). surda … effeminata: Rückblickend lässt sich über diese 13 Adjektive, die natürliche Eigenschaften der Stimme bezeichnen, die einer emendata pronuntiatio im Wege stehen, Folgendes festhalten: 1. Quintilian reiht die Adjektive locker und assoziativ aneinander; es gibt keine strenge Gliederung. Allerdings sind sich die jeweils nacheinander genannten vox dura und vox rigida sowie die vox mollis und vox effeminata sehr ähnlich, die zweitgenannte kann jeweils als Steigerung der erstgenannten aufgefasst werden. Zudem bezeichnen vox dura und rigida mit einer variationsunfähigen Stimme das Gegenteil einer vox mollis und effeminata, die zu geschmeidig ist. 2. Die Zweiteilung der Reihung durch das aut ergibt keine klare inhaltliche Zweiteilung. praepinguis und tenuis sind allerdings antithetisch zueinander gestellt. Ungefähr lässt sich als Unterschied bestimmen, dass die ersten sieben Stimmen eher zu laut, zu rau, zu unausgebildet und eher zu männlich sind, die Stimmen der zweiten Gruppe hingegen zu schwach, zu geschmeidig, zu hoch und eher zu weiblich. spiritus: Wieder wird das richtige Atmen am Ende eines Abschnittes behandelt (vgl. inst. 11,3,15.21). Drei Atemfehler werden genannt, die eine emendata pronuntiatio beeinträchtigen. brevis: Bei der Kurzatmigkeit muss man zu oft Atem holen, man kann nicht lange genug am Stück (z. B. eine ganze Satzperiode) sprechen. parum durabilis: durabilis gibt es als Attribut von spiritus nur bei Quintilian. Analog zur vox durabilis (vgl. die Ausführungen zu inst. 11,3,23.40) ist ein spiritus durabilis ein Atem, der über eine lange Zeit hinweg anhält, d.h mit dem man lange Reden über Stunden hinweg halten kann. in receptu difficilis: Auch in inst. 11,3,53 bezeichnet Quintilian das Atemholen mit receptus bzw. recipere. In den ciceronischen Rhetorica kommt es in dieser Bedeutung nicht vor.

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emendata (30) … difficilis (32): Zusammenfassung: Eine pronuntiatio ist dann emendata, wenn sie keinen Fehler aufweist. Sie besteht aus drei Elementen: 1. os: facile explanatum iucundum urbanum (inst. 11,3,30) 2. ipsa vox: a) primum: sana (inst. 11,3,32) b) deinde: non surda rudis inmanis dura rigida vana praepinguis, aut tenuis inanis acerba pusilla mollis effeminata (inst. 11,3,32) 3. spiritus: nec brevis nec parum durabilis nec in receptu difficilis (inst. 11,3,32). Diese Elemente werden als so grundlegend angesehen, dass man zwar fehlerfrei spricht, wenn man über sie verfügt, sich aber, wenn man nur über sie verfügt, noch nicht besonders auszeichnen kann. Sie sind die Grundlagen eines erfolgreichen Vortrags. Die Übertragung der schriftlichen Tugend latinitas wird am deutlichsten in der Forderung nach einer echt lateinischen Aussprache. Die zweite Tugend: dilucida pronuntiatio, der deutliche Vortrag (11,3,33–39) Die deutliche Aussprache der Laute (11,3,33–35)

(33) Dilucida vero erit pronuntiatio primum si verba tota exierint, quorum pars devorari, pars destitui solet, plerisque extremas syllabas non perferentibus dum priorum sono indulgent. Ut est autem necessaria verborum explanatio, ita omnis inputare et velut adnumerare litteras molestum et odiosum: (34) nam et vocales frequentissime coeunt et consonantium quaedam insequente vocali dissimulantur. Utriusque exemplum posuimus: »multum ille et terris«. (35) Vitatur etiam duriorum inter se congressus, unde »pellexit« et »collegit« et quae alio loco dicta sunt. Ideoque laudatur in Catulo »suavis appellatio litterarum«. (33) Der Vortrag wird aber deutlich sein, wenn erstens die Wörter vollständig ausgesprochen werden. Gewöhnlich wird ein Teil von ihnen verschluckt, ein Teil fallengelassen. Sehr viele bringen die letzten Silben nicht zu Ende, weil sie sich ganz dem Klang der vorderen hingeben. Wie aber die deutliche Aussprache der Wörter notwendig ist, so ist es kleinlich und anstößig, jeden Laut auf die Rechnung zu setzen und gleichsam einzeln dazuzuzählen. (34) Denn sehr häufig schließen sich Vokale zusammen und bestimmte Konsonanten werden aufgrund eines unmittelbar auf sie folgenden Vokals verborgen. Wir haben ein Beispiel für jedes der beiden Phänomene angeführt: »multum ille et terris«. (35) Außerdem wird das Aufeinandertreffen von sehr harten Konsonanten vermieden, weshalb man »pellexit«

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und »collegit« sagt und was schon an anderer Stelle gesagt worden ist. Daher wird an Catulus seine »angenehme Aussprache der Laute« gelobt. dilucida … pronuntiatio: Übergang zur zweiten Vortragstugend (vgl. inst. 11,3,30). exierint: Zu exire ist gedanklich ex ore zu ergänzen. exire kommt in der Bedeutung »(Wörter/Töne etc.) äußern« häufig vor (vgl. ThlL, s. v. exeo S. 1361,52 ff. und OLD 2d und z. B. Cic. Brut. 265, Ov. epist. 8,116). verba tota: Quintilian beginnt mit der Betrachtung der Einzelwörter, die vollständig ausgesprochen werden müssen. Aus den Anweisungen, die er gibt, kann man erschließen, welche Fehler in der zeitgenössischen Aussprache gemacht wurden. devorari: Laute, die »verschlungen« werden, werden gar nicht ausgesprochen. Vgl. Apul. met. 11,24 (lacrimis obortis, singultu crebro sermonem interficiens et verba devorans): Unter Tränen und Schluchzen wird dort die Rede erstickt und die Wörter werden verschlungen. destitui: destituere heißt »verlassen«, auch »eine Sache verlassen, die man begonnen hat« (vgl. ThlL, s. v. destituo S. 764,46 ff.). Übertragen auf Laute bedeutet es, diese nicht voll und deutlich (vgl. SPALDING [1816] z. St.) auszusprechen, sondern nur anklingen zu lassen. extremas syllabas: Beim jungen Schüler sorgt der Lehrer dafür, dass dieser die Endsilben ausspricht: curabit etiam, ne extremae syllabae intercidant (Quint. inst. 1,11,8). Ein schönes Beispiel für das Nicht-Aussprechen der Endsilben findet sich in Cic. de div. 2,84, wonach die Ausdrücke cauneas (»Feigen aus Kaunos«) und cav(e) ne eas (»sorge dafür, dass du nicht losfährst«) lautlich identisch waren. Abgesehen von der korrekten Synaloiphe ist hier das -e umgangssprachlich ausgefallen. explanatio: das verständliche und deutliche Aussprechen der Wörter (vgl. ThlL, s. v. explanatio S. 1710,42 ff.), ebenso in Quint. inst. 1,5,33 (ὀρθοέπεια, id est emendata cum suavitate vocum explanatio) und in Plin. nat. 7,70 (dentes … cum defuere, explanationem omnem adimentes). omnis inputare et velut adnumerare litteras: littera ist der Ausdruck für den ausgesprochenen Buchstaben, also seinen Laut (vgl. OLD, s. v. littera 1b). imputare heißt »etwas anrechnen, etwas auf die Rechnung setzen«. Hier wird es scherzhaft verwendet (vgl. ThlL, s. v. imputo S. 730,76 ff.). Ein Laut, der »angerechnet« wird, wird auf der (imaginären) Rechnung (des Redners)

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genau vermerkt, also einzeln genau beachtet. Für adnumerare in übertragener Bedeutung vgl. Ciceros Rechtfertigung dafür, dass er nicht Wort für Wort übersetzt in Cic. opt. gen. 14: non enim ea (sc. verba) me annumerare lectori putavi oportere, sed tamquam appendere. Auf das erste Extrem, Wortteile zu verschlingen, folgt hier das zweite Extrem, jeden Buchstaben einzeln auszusprechen, das auch abgelehnt wird. Diese Alternative gibt es auch bei Cic. de orat. 3,41 (nolo exprimi litteras putidius, nolo obscurari neglegentius) und Cic. off. 1,133 (über die Aussprache der Catuli: litterae neque expressae neque oppressae, ne aut obscurum esset aut putidum). Das Thema, nicht zu viel und nicht zu wenig zu sagen, ist ein Thema der perspicuitas allgemein (vgl. Quint. inst. 8,2,23). Sonst bezogen auf Sachverhalte oder Wörter überträgt Quintilian es hier auf die Aussprache der Laute. vocales frequentissime coeunt: Als erster hat Cicero im Orator eine Hiattheorie für die lateinische rednerische Kunstprosa systematisch entworfen (vgl. R. MÜLLER [1999], S. 740). Er unterscheidet zwischen streng zu meidender Vokalkollision bei gleichen Langvokalen einerseits (vgl. dazu Quint. inst. 9,4,33) und geduldeten Vokalfolgen, an denen mindestens eine Kürze beteiligt ist (vgl. R. MÜLLER [1999], S. 745). Wie genau die Aussprache in diesem Fall war, ist noch zu klären (vgl. ebd., S. 743, 745 und das – in diesem Fall allerdings wenig hilfreiche – Experiment von HALL/BOND [2002], S. 210–212). Die erste Gruppe bezeichnet Cicero als hiulcae voces bzw. hiulce loqui, die zweite als hiatus (vgl. R. MÜLLER [1999], S. 737). Bei Quintilian (vgl. v. a. inst. 9,4,33–37) gibt es diese Unterscheidung nicht mehr (vgl. R. MÜLLER [1999], S. 746). Vgl. auch SOUBIRAN (1966), S. 55–91. consonantium quaedam insequente vocali dissimulantur: Ein auf einen Konsonanten folgender Vokal kann die Aussprache des Konsonanten verhindern. Ein -m am Ende eines Wortes wird von einem folgenden Vokal verwischt und wenig ausgesprochen, vgl. Quint. inst. 9,4,40: Atqui eadem illa littera, quotiens ultima est et vocalem verbi sequentis ita contingit ut in eam transire possit, etiam si scribitur, tamen parum exprimitur, ut »multum ille« et »quantum erat«, adeo ut paene cuiusdam novae litterae sonum reddat. Neque enim eximitur sed obscuratur, et tantum in hoc aliqua inter duas vocales velut nota est, ne ipsae coeant. Vermutlich fand durch den labionasalen m-Laut eine Nasalisierung des vorhergehenden Vokals statt (vgl. ZICARI [1969], S. 65 f.). utriusque exemplum posuimus »multum ille et terris«: Quintilian gibt ein Beispiel (Verg. Aen. 1,3), in dem sowohl zwei Vokale verschmolzen werden (illE Et) als auch ein auslautender Konsonant durch einen nachfolgenden Vokal zum Verschwinden gebracht wird (multuM Ille). Den Fall multu(m)

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ille hatte er in inst. 9,4,40 behandelt. Dort ging es allerdings nur um das auslautende -m. duriorum inter se congressus: pellexit statt peR-Lexit, collegit statt coNLegit.MM alio loco: Das Zusammentreffen von Konsonanten behandelt Quintilian auch in inst. 9,4,37–38. Siehe zudem inst. 1,5,69. laudatur in Catulo »suavis appellatio litterarum«: Cicero (vgl. Kapitel 3.2.2) lobt den berühmten Q. Catulus, den Konsul von 102 v. Chr. (vgl. RUSSELL [2001], S. 102): suavitas vocis et lenis appellatio litterarum bene loquendi famam confecerat (Brut. 259). Vgl. auch Brut. 133: de sono vocis et suavitate appellandarum litterarum. appellatio ist hier gleichbedeutend mit pronuntiatio (vgl. ThlL, s. v. appellatio 271,46 ff.) und appellare mit pronuntiare (vgl. ThlL, s. v. appello S. 274,43 ff.).

oratio distincta, der richtig phrasierte Vortrag (11,3,35–39)

Secundum est ut sit oratio distincta, id est, qui dicit et incipiat ubi oportet et desinat. Observandum etiam quo loco sustinendus et quasi suspendendus sermo sit, quod Graeci ὑποδιαστολήν vel ὑποστιγμήν vocant, quo deponendus. Zweitens muss die Rede richtig phrasiert sein, das heißt, der Redner soll anfangen und aufhören, wo er muss. Man muss auch darauf achten, an welcher Stelle der Vortrag (in seinem Ton) oben gehalten und gleichsam in der Schwebe gehalten werden muss, was die Griechen ὑποδιαστολή oder ὑποστιγμή nennen, und an welcher Stelle er gesenkt werden muss. secundum: die zweite Bedingung für eine dilucida pronuntiatio. distincta: Da der stimmlich richtig phrasierte Vortrag auch vom Grammatiker im Rahmen der lectio anhand von Gedichten geübt wird, ergeben sich hier Überschneidungsbereiche zwischen Rhetorik und Grammatik (vgl. Kapitel 2.4.1 und 5.2.2). Sowohl bei der lectio als auch beim rhetorischen Vortrag soll jeweils der Text zur Wirkung gebracht werden (vgl. R. W. MÜLLER [1964], S. 67). Die grammatische Lehre von den distinctiones, wie sie in den späteren römischen Schulgrammatiken behandelt wird, hilft auch beim Verständnis der Quintilian-Passage. Sie soll daher kurz vorgestellt werden.

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Die Grammatiker unterscheiden drei Arten von distinctiones, Pausen (vgl. z. B. Dosith. gramm. VII 380,7: distinctio est silentii nota) zur Gliederung des Textes, die beim Vortrag beachtet werden sollen und die auch schriftlich als Interpunktionszeichen fixiert werden (vgl. dazu insgesamt am besten R. W. MÜLLER [1964], S. 78–82 sowie Don. gramm. IV 372,15–22 und Serv. gramm. IV 484,22–30). Zwischen der Sprechpause (vgl. ThlL, s. v. distinctio S. 1521,32 ff. sowie s. v. distinguo S. 1528,8 ff.) und ihrem schriftlichen Zeichen wird dabei begrifflich nicht streng unterschieden (vgl. R. W. MÜLLER [1964], S. 70). Die distinctio finalis oder plena, die manchmal auch nur distinctio genannt wird, steht am Ende eines vollständig ausgedrückten Gedankenzusammenhangs (sententia, sensus). Man darf länger durchatmen und pausieren. Die subdistinctio steht, wenn der Gedankenzusammenhang noch nicht vollständig ausgedrückt und beendet ist. Hier gibt es nur eine kleine Pause. Nachgeatmet wird nur ausnahmsweise. Bei der media distinctio ist nicht vom Sinnzusammenhang, sondern von der Atmung auszugehen. Sie dient als notwendige, aber kurze und unauffällige Nachatmungspause in längeren Perioden, an Stellen, an denen sich inhaltlich kein Einschnitt zum Atmen bietet. Die distinctiones dienen einerseits also dazu, den Sinn des Gesagten zur Wirkung zu bringen, andererseits der Atmung. Ein Codex, bei dem diese Interpunktionszeichen schriftlich gesetzt sind, heißt codex distinctus (vgl. Fronto p. 187,10 v. d.H. bzw. p. 190 N. und Serv. gramm. IV 484,27). Insgesamt geht diese Lehre auf Dionysios Thrax zurück, der diese spätere distinctio-Lehre unter dem Stichwort διαστολή/στιγμή im Rahmen der ἀνάγνωσις, die bei ihm der erste Teil der Grammatik ist, behandelt hat (vgl. Dion. Thrax 630b5 ff.). Wichtig ist dabei zu wissen, dass man von der gesprochenen Sprache, von der lectio und von der pronuntiatio, ausgehen muss, um die grammatische Lehre von den distinctiones zu verstehen und nicht andersherum (vgl. R. W. MÜLLER [1964], S. 3 und SCAPPATICCIO [2012], S. 115; falsch bei MEYERKALKUS [2008], S. 684: »vermutlich hatten bereits hellenistische Vortragslehren diese Termini aus dem Graphischen ins Phonetische übertragen«). Die Anweisungen, die hier gegeben werden, sind primär. Die späteren »Interpunktionsanweisungen sind nur deren schriftlicher Aspekt« (R. W. MÜLLER [1964], S. 69, vgl., S. 72, 73). Quintilian kennt diese drei Arten grammatischer distinctiones, wie sich gleich zeigen wird, seine Behandlung des Themas ist aber weniger schematisch, wesentlich umfangreicher und subtiler als bei den Grammatikern (vgl. R. W. MÜLLER [1964], S. 94, 98). et incipiat ubi oportet et desinat: Diese Formulierung bezieht sich auf die zu machenden Pausen.

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sustinendus et quasi suspendendus sermo … deponendus: sermo ist hier die zusammenhängende vorgetragene Rede. sustinere/suspendere, »in der Höhe/in der Schwebe halten«, und deponere, »ablegen«, sind als Gegenteile zu verstehen, vgl. Cic. Verr. II 5,179 (potero ego hoc onus tantum aut in hoc iudicio deponere aut tacitus sustinere) und Apul. met. 1,8 (caelum deponere, terram suspendere). Hier beziehen sich die drei Begriffe auf die Tonhöhe. deponere heißt »den Ton senken« (vgl. ThlL, s. v. depono S. 577,1 ff.) wie in Isid. orig. 1,18,2 (acutus accentus dictus, quod acuat et erigat syllabam, gravis, quod deprimat et deponat) und Ps. Prisc. gramm. III 521,28 (vox deponitur im Gegensatz zu elevatur vox), das Nomen depositio entspricht gr. θέσις, dem Senken der Stimme (vgl. STROH [2000], S. 202). sustinere heißt »etwas aufrecht halten, erhalten, nicht sinken lassen«. Hier bedeutet es, die Stimme in ihrer Höhe zu erhalten, den Ton nicht zu senken. suspendere bezeichnet ebenfalls das Halten der Tonhöhe, das Noch-Nicht-Senken der Stimme, ist aber, wie der Zusatz von quasi zeigt, weniger üblich. Quintilian verwendet suspendere wie der Grammatiker Diomedes (Diom. gramm. I 437,14–19 und 438,5–6) bei der Behandlung der subdistinctio: Atem und Stimme werden kurz angehalten, aber man atmet nicht nach (vgl. R. W. MÜLLER [1964], S. 78). suspendere bezeichnet in ähnlichem Zusammenhang bei den Grammatikern auch das Noch-nicht-abgeschlossen-Sein des Sinnzusammenhanges (vgl. z. B. Serv. gramm. IV 30). Eine sententia suspensa ist ein Sinnzusammenhang, der noch nicht vollständig ausgedrückt ist (vgl. z. B. Serv. gramm. IV 30). Ähnlich ist die oratio suspensa in Quint. inst. 10,7,22 eine Redeweise, bei der man noch überlegt (suspensa ac velut dubitans oratio, ut tamen deliberare, non haesitare videamur), also den Sinnzusammenhang noch nicht vollständig ausgedrückt hat. ὑποδιαστολήν vel ὑποστιγμήν: Hier beginnt eine Reihe von vielen griechischen Ausdrücken in inst. 11,3,35–55 (vgl. VALLOZZA [2000], S. 227 und [2004], S. 188–190). Mit ὑποδιαστολή bzw. ὑποστιγμή bezeichnen die Griechen nach Quintilian den Sachverhalt, wenn die Stimme (bei einer kurzen Pause) (noch) nicht gesenkt wird. Dionysios Thrax bezeichnet sowohl mit διαστολή (Dion. Thrax 629b,10 ff.) als auch mit στιγμή (Dion. Thrax 630b,5 ff.) den Vorgang des Gliederns beim Lesen. Die grammatischen Begriffe διαστολή und στιγμή können also beide der lateinischen distinctio entsprechen (vgl. R. W. MÜLLER [1964], S. 83 und ThlL. s. v. distinctio S. 1519,43 und S. 1521,36). ὑπο-διαστολή und ὑπο-στιγμή entsprechen der Wortzusammensetzung nach der späteren lateinischen Bezeichnung sub-distinctio, die zu Quintilians Zeiten offenbar noch nicht üblich war (vgl. R. W. MÜLLER [1964], S. 93). Dionysios Thrax definiert die ὑποστιγμή genau so wie die späteren römischen Schulgrammatiker die subdistinctio (vgl. Dion. Thrax

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630b9–10). Bei ihr soll man sich beim Lesen nur ganz wenig Zeit lassen (vgl. Dion. Thrax 630b14–15). Die Gleichsetzung von subdistinctio und ὑποστιγμή findet sich später bei Diom. gramm. I 437,18–19: imo (loco distinctio ponitur), cum lectionis interruptum tenorem aliud adhuc inlatura suspendit, et vocatur a Graecis ὑποστιγμή, a nostris subdistinctio (»An der untersten Stelle [sc. auf der Linie] setzt man die Markierung der Pause, wenn die Pause den unterbrochenen Lauf des Lesens in der Schwebe hält, um darauf noch etwas Anderes [Neues] folgen zu lassen, und diese Pause wird von den Griechen ὑποστιγμή genannt, von den Unsrigen subdistinctio«). Eine solche subdistinctio/ὑποστιγμή ist nach Diomedes eine kurze Pause (vgl. dazu Dosith. gramm. VII 428,16–17: subdistinctio est diuturnitas quaedam temporis differens orationem ad sententiae qualitatem. »Die subdistinctio ist eine gewisse Zeitdauer, die die fortlaufende Rede hinhält, bis sie dann die Eigenschaft eines Sinnganzen hat.«) an einer Stelle, an der der Sinnzusammenhang noch nicht vollständig ausgedrückt ist und an der der Vortrag daher noch nicht zu einem Ende kommt (vgl. Diom. gramm. I 438,5–7: subdistinctio est silentii nota legitimi, qua pronuntiationis terminus sensu manente ita suspenditur, ut statim id quod sequitur succedere debeat. »Die subdistinctio ist das Zeichen für ein vorgeschriebenes Schweigen an einer Stelle, wo der Gedanke noch andauert und darum das Ende des Vortrages derart in der Schwebe gehalten wird, dass das, was noch folgt, sofort nachfolgen muss.«). Diese Ausführungen entsprechen denen Quintilians. Die ὑποδιαστολή, die bei Quintilian ganz gleichbedeutend mit der ὑποστιγμή ist, bezieht sich bei den griechischen Grammatiker allerdings häufiger auf die Trennung zwischen Einzelwörtern (vgl. RUSSELL [2001], S. 102, Anm. 26 und in den Scholien zu Dionysios Thrax, ed. HILGARD [1901], z. B. S. 569,11 und S. 296,38 ff.).

(36) Suspenditur »arma virumque cano«, quia illud »virum« ad sequentia pertinet, ut sit »virum Troiae qui primus ab oris«, et hic iterum. Nam etiam si aliud est unde venit quam quo venit, non distinguendum tamen, quia utrumque eodem verbo continetur »venit«. (37) Tertio »Italiam«, quia interiectio est »fato profugus« et continuum sermonem, qui faciebat »Italiam Lavinaque«, dividit. Ob eandemque causam quarto »profugus«, deinde »Lavinaque venit litora«, ubi iam erit distinctio, quia inde alius incipit sensus. Sed in ipsis etiam distinctionibus tempus alias brevius, alias longius dabimus: interest enim sermonem finiant an sensum. (38) Itaque illam distinctionem »litora« protinus altero spiritus initio insequar; cum illuc venero: »atque altae moenia Romae«, deponam et morabor et novum rursus exordium faciam.

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(36) Der Ton wird in der Höhe gehalten nach »arma virumque cano«, weil jenes »virum« sich auf das Folgende bezieht, so dass es »virum Troiae qui primus ab oris« ergibt, und ebenso an dieser Stelle. Denn auch wenn es etwas anderes ist, woher er gekommen ist, als wohin er kommt, darf man beide dennoch nicht voneinander trennen, weil sie durch dasselbe Verb zusammengehalten werden, durch »venit«. (37) Drittens muss man den Ton halten nach »Italiam«, weil »fato profugus« ein Einschub ist und den zusammengehörenden Gedanken, der »Italiam Lavinaque« gebildet hätte, trennt. Aus demselben Grund muss man viertens nach »profugus« kurz den Ton anhalten, danach nach »Lavinaque venit litora«, wo es dann (endlich) eine Pause geben wird, weil dort ein anderer Gedanke beginnt. Aber auch bei den Pausen selbst werden wir uns bald weniger, bald mehr Zeit lassen: es ist nämlich ein Unterschied, ob sie einen Gedankenzusammenhang oder eine Sinneinheit beenden. (38) Daher werde ich bei jener Pause nach »litora« unverzüglich mit einem zweiten Atemansatz fortfahren; wenn ich aber dort bei »atque altae moenia Romae« angekommen sein werde, werde ich die Stimme senken, etwas warten und dann wieder einen Neuanfang machen. suspenditur … faciam: Bei Quintilians Vorschriften zum Vortrag des Aeneis-Prooemiums fällt auf, dass es ihm in erster Linie darum geht, den Sinn des Textes verständlich und wirkungsvoll zur Geltung zu bringen. Dazu bedient er sich v. a. der Interpretation des Inhalts (vgl. R. W. MÜLLER [1964], S. 93). Die Pausen (vgl. SCAPPATICCIO [2012], S. 118), die er setzt, dienen daher auch in erster Linie dazu, die Bedeutung des Textes zu vermitteln und nicht etwa der Atmung (vgl. PARKES [1993], S. 19, 66; vgl. die Erkärung von SCAPPATICCIO [2012], S. 117 zu sustinere: »sospendere con una breve pausa facendo capire che sintassi e senso non sono affatto conclusi«). suspenditur: Gemeint sind hier (vgl. die Ausführungen zu suspendendus in inst. 11,3,35) jeweils ganz kurze Pausen (vgl. PARKES [1993], S. 66: »momentary hesitation«, »brief pause«), bei denen der Ton gehalten wird, Einschnitte ersten Grades, »ein Einschnitt, aber doch so, dass der Redeablauf aufrechterhalten, in der Schwebe gehalten werden muss« (AX [2011], S. 352). non distinguendum tamen: distinguere bezeichnet bei Quintilian also im Vergleich zu suspendere einen deutlich stärkeren Einschnitt, im Sinne einer stärkeren distinctio, keiner subdistinctio oder ὑποδιαστολή/ὑποστιγμή (so auch R. W. MÜLLER [1964], S. 93). Vgl. versum distinguere, »(beim Vortrag) einen Einschnitt im Vers machen« in inst. 1,8,1 mit AX (2011) z. St. (siehe auch Kapitel 2.4.1).

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continuum sermonem/sensus: Während sermo den größeren (fortlaufenden) Gedankenzusammenhang bezeichnet, ist sensus ein einzelner Gedanke. sermo meint also ungefähr das, was die Grammatiker mit sententia (oder auch mit sensus) bezeichnen. continuus sermo ist der noch fortlaufende, andauernde Sinnzusammenhang. faciebat: Für facere im Sinne von »bilden« in grammatikalischem Kontext vgl. auch Quint. inst. 1,6,13. Das Imperfekt ist ein imperfectum de conatu. Italiam und Lavinaque bilden gedanklich einen zusammengehörenden Ausdruck, werden aber durch den Einschub fato profugus daran gehindert, direkt zusammenzustehen. distinctio: Nach litora folgt der erste deutlich fühlbare Einschnitt, ein Einschnitt zweiten Grades, »eine deutliche Sprechpause« (AX [2011], S. 352). Dabei wird geatmet (altero spiritus initio). Auch nach dem noch größeren Einschnitt nach Romae darf sicherlich geatmet werden (vgl. PARKES [1993], S. 66: »a longer pause is necessary and the reader may take breath«). Zu distinctio in der Bedeutung »Pause« vgl. BONNELL (1834), S. 249, s. v. distinctio III (»mora in dicendo«) und z. B. inst. 1,5,27 über die Aussprache von circum litora an einem Stück ohne Unterbrechung: cum dico »circum litora«, tamquam unum enuntio dissimulata distinctione. alias brevius, alias longius: Bei der distinctio kann sich der Redner mehr oder weniger Zeit lassen (abhängig von der Größe des Einschnitts, den er markieren will). In seinem Aeneis-Beispiel empfiehlt Quintilian nach litora eine kürzere distinctio, weil nur ein sensus (einzelner Gedanke) beendet wird, nach Romae eine längere distinctio, weil der gesamte sermo (längerer Gedankenzusammenhang) beendet wird. Der Begriff distinctio sagt also über die Länge der Pause noch nichts aus. illam distinctionem … protinus … insequar: Gemeint ist, »der Pause unmittelbar nachzufolgen«, also ohne lange Unterbrechung fortzufahren (vgl. ThlL, s. v. insequor S. 1866,77 ff. mit continuare als Synonym), vgl. AX (2011), S. 352: »eine distinctio mit kurzer Pause innerhalb der Periode«. deponam: vgl. inst. 11,3,35. Zum hier absolut gebrauchten Verb ist sinngemäß sowohl sermonem zu ergänzen (vgl. OLD, s. v. depono 8e), da der Sinnzusammenhang abgeschlossen wird, als auch vocem (vgl. ThlL, s. v. depono S. 577,3), da man an dieser Stelle die Stimme senkt. morabor: Gemeint ist im Unterschied zu protinus insequar das etwas längere Pausieren nach Abschluss des sermo. Hier erfolgt also die längste Pause

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(vgl. PARKES [1993], S. 66), ein Einschnitt dritten Grades, eine »distinctio mit langer Pause am Abschluss der Periode« (AX [2011], S. 352). (39) sunt aliquando et sine respiratione quaedam morae etiam in perihodis. Vt enim illa »in coetu vero populi Romani negotium publicum gerens magister equitum« et cetera multa membra habent (sensus enim sunt alii atque alii) sed unam circumductionem: ita paulum morandum in his intervallis, non interrumpendus est contextus. Et e contrario spiritum interim recipere sine intellectu morae necesse est, quo loco quasi surripiendus est: alioqui si inscite recipiatur, non minus adferat obscuritatis quam vitiosa distinctio. Virtus autem distinguendi fortasse sit parva, sine qua tamen esse nulla alia in agendo potest. (39) Auch ohne Atemholen gibt es sogar in den Perioden bisweilen gewisse Pausen. Wie nämlich »in coetu vero populi Romani negotium publicum gerens magister equitum« usw. aus vielen Gliedern besteht (es gibt nämlich verschiedene Gedankeneinheiten), aber nur aus einer Periode, so muss man bei diesen Pausen ein wenig verzögern, der Zusammenhang darf aber nicht unterbrochen werden. Und im Gegenteil muss man manchmal an einer Stelle Atem holen, ohne einen Einschnitt erkennen zu lassen, an der der Atem dann gleichsam unvermerkt geholt werden muss: sonst, falls er ungeschickt geholt wird, wird er wohl nicht weniger Unverständlichkeit hervorrufen als eine fehlerhafte Gliederung durch Pausen. Die Tugend des Gliederns durch Pausen aber mag vielleicht klein sein, dennoch kann es ohne sie keine andere beim Vortragen geben. et sine respiratione quaedam morae: Mit morae sind hier unterminologisch distinctiones gemeint (vgl. ThlL, s. v. distinctio S. 1521,32 ff. und s. v. mora S. 1468,65 ff. sowie Cic. orat. 53: distincta … et interpuncta intervalla, morae respirationesque delectant), also in ihrer Länge zunächst undefinierte Pausen im Vortrag (vgl. Quint. inst. 7,9,11: divisio [deutliche Trennung von Wörtern] respiratione et mora constat). Bei den Grammatikern werden die Begriffe morae und distinctiones auch synonym verwendet (vgl. ThlL, s. v. mora S. 1468,79 ff. und z. B. Diom. gramm. I 437,15). V. a. für die media distinctio, die speziell für die Atmung eingeführte Pause, ist der Begriff mora üblich (vgl. Diom. gramm. I 438,13 ff.). Bei den Grammatikern wird es manchmal als das Ziel aller distinctiones genannt, die Möglichkeit zum Atemholen zu bieten (z. B. Diom. gramm. I 437,11: [distinctiones] inter legendum dant copiam spiritus reficiendi; Dosith. gramm. VII 380,7–8: distinctio est silentii nota, quae in legendo dat copiam spiritus recipiendi). In der Regel ist dies aber nur an einer vollen distinctio und einer media distinctio möglich (vgl. R. W. MÜLLER [1964], S. 82 sowie Don. gramm. IV 372,19–

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21, Serv. gramm. IV 484,30, Diom. gramm. I 437,17). Auch in seiner gerade analysierten Periode Verg. Aen.1,1–7 wurde an beiden distinctiones (nach litora und – sehr wahrscheinlich auch – nach Romae) Atem geholt. Jetzt kommt er zu kurzen Pausen in Perioden, an denen kein Atem geholt wird. Quintilian verlangt dabei nur »ein knappes, mehrfach wiederholtes Innehalten zwischen den einzelnen Gliedern der Amplifikation« (R. W. MÜLLER [1964], S. 94). Anders gesagt, es geht jetzt um die ὑποδιαστολή/ὑποστιγμή in Perioden (vgl. R. W. MÜLLER [1964], S. 94). Indirekt lässt sich aus Quintilians Formulierung folgern, dass innerhalb der Periode üblicherweise nachgeatmet werden konnte (vgl. R. W. MÜLLER [1964], S. 97). Cicero (Brut. 34) und Dionysios von Halikarnassos (de comp. verb. 6,23,5) vertreten eine andere Auffassung, nach der die Periode (nur) so lang sein soll, dass sie in einem Atemzug gesprochen werden kann. etiam in perihodis: Auf dieser Formulierung liegt der Nachdruck in Quintilians Aussage (vgl. R. W. MÜLLER [1964], S. 94). Gemeint ist: »auch in der rednerischen (Prosa-) Periode (vgl. ThlL, s. v. periodus 1486,61 ff.) im Unterschied zur Dichtung«. In einer Periode wird ein gesamter Sinnzusammenhang ausgedrückt, der bei Quintilian hier sermo heißt, bei den Grammatikern meist sententia, manchmal sensus, vgl. Don. gramm. IV 372,22 (in lectione tota sententia periodus dicitur) und Serv. gramm. IV 484,30–31 (sciendum est autem quod in lectione textus unius sensus periodus nominatur). »in coetu vero populi Romani, negotium publicum gerens, magister equitum« et cetera: Das Zitat entstammt der zweiten Rede Ciceros gegen Antonius (Cic. Phil. 2,63). Diese wird häufiger zitiert (insgesamt 15 Mal) als alle anderen Philippischen Reden zusammen. Elf der 15 Zitate aus dieser Rede entstammen dem Abschnitt Phil. 2,63–64 (vgl. FANTHAM [1982], S. 247). Diese Stelle ist also Quintilians Schülern sehr bekannt gewesen. Daher wird sie von ihm zur Verdeutlichung seiner Lehraussagen herangezogen und muss nicht ganz ausgeschrieben werden (et cetera), die Schüler ergänzen den Rest aus dem Gedächtnis. Zu Quintilians Benennung der Reden Ciceros gegen Antonius allgemein vgl. STROH (1983), S. 46. membra/sensus: membra (gr. κῶλα) sind Bestandteile einer Periode (vgl. ThlL, s.v membrum S. 644,69 ff. und Quint. inst. 9,4,22). Hier entspricht offenbar einem membrum jeweils ein sensus. Vgl. dazu die Definition in Quint. inst. 9,4,123: membrum autem est sensus numeris conclusus, sed a toto corpore abruptus et per se nihil efficiens. circumductionem: bezeichnet die Periode (vgl. ThlL, s. v. circumductio S. 1135,40 ff.). Sie soll hier offenbar in einem Atemzug gesprochen werden.

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Aus der Anekdote, Demosthenes habe dem Schauspieler Neoptolemos 10000 Drachmen gezahlt, damit er ihn lehre, ganze Perioden in einem Atemzug zu sprechen (vgl. KRUMBACHER [1920], S. 23), lässt sich schließen, dass dies nicht selbstverständlich war. in his intervallis: an den Grenzen der membra. An diesen kann normalerweise nachgeatmet werden (vgl. R. W. MÜLLER [1964], S. 94). non interrumpendus est contextus: Der Zusammenhang der Periode, des fortlaufenden Textes, soll trotz der kleinen Pausen nicht unterbrochen werden (vgl. Mart. Cap. 5,552: [narrationes] continuae, quae perpetuo contextu sine ulla interruptione dicuntur). Den zusammenhängenden Verlauf genau dieser Periode betont Quintilian auch in inst. 8,4,8 (in contextu et cursu). e contrario: Gerade hat Quintilian die Fälle behandelt, in denen es zwar für das Publikum erkennbare Pausen (morae) gibt, der Redner aber keinen Atem holt. Das Gegenteil sind die Stellen, wo der Redner Atem holen muss, das Publikum aber keine Pause bemerken soll. sine intellectu morae: Der Ausdruck bezieht sich auf die Wahrnehmung von Pausen durch das Publikum (vgl. ZICARI [1969], S. 71). Die hier umschriebene Pause hieße bei den Grammatikern media distinctio (vgl. R. W. MÜLLER [1964], S. 94). surripiendus: Der Redner muss den Atem »heimlich«, also ohne dass das Publikum es bemerkt, holen. obscuritatis: Die obscuritas ist ein vitium und in der elocutio das Gegenteil der perspicuitas (vgl. Quint. inst. 6,2,12–23), hier der dilucida pronuntiatio. sine qua tamen esse nulla alia in agendo potest: Die Kunst, richtige Pausen zu setzen, ist für den Redner so essentiell, dass ihm, wenn er sie nicht beherrscht, die anderen Künste beim Vortrag auch nichts mehr nützen werden. Zur hohen Wertschätzung des Pausensetzens vgl. Cic. Brut. 234 (und Kapitel 3.2.2). (33) dilucida … pronuntiatio … potest (39): Zusammenfassung: Der Vortrag wird deutlich, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: 1. Deutlichkeit bei Lauten/Einzelwörtern: Die Aussprache der Wörter, hier besonders der Silben, Vokale und Konsonanten, muss deutlich (d. h. nicht zu undeutlich, aber auch nicht zu kleinlich) sein (inst. 11,3,33–35). 2. Deutlichkeit der zusammenhängenden Rede durch die richtige Gliederung, v. a. durch sie markierende Pausen (oratio distincta, inst. 11,3,35–39).

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Wie bei der Besprechung der perspicuitas als virtus dicendi in inst. 8,2 behandelt Quintilian zuerst die kleineren, dann die größeren Elemente der Rede, in inst. 8,2 Einzelwörter und den zusammenhängenden Text (vgl. z. B. seine Zusammenfassung in inst. 8,2,22). Quintilian kennt die Tugend der perspicuitas unter drei Aspekten: inhaltliche Deutlichkeit, die rerum perspicuitas (inst. 8,2,22), wie sie v. a. in der narratio erwartet wird; Deutlichkeit bei der schriftlichen Gestaltung der Rede (als virtus dicendi in inst. 8,2); und Deutlichkeit im mündlichen Vortrag, die hier behandelt wird. In inst. 8,2,22 verweist Quintilian darauf, dass für alle ein ähnliches System gilt: similis autem ratio est in omnibus.

Die dritte Tugend: ornata pronuntiatio, der schmuckvolle Vortrag (11,3,40–65) Eigenschaften der vox (11,3,40)

(40) Ornata est pronuntiatio cui suffragatur vox facilis magna beata flexibilis firma dulcis durabilis clara pura, secans aera et auribus sedens (est enim quaedam ad auditum accommodata non magnitudine sed proprietate), ad hoc velut tractabilis, utique habens omnes in se qui desiderantur sonos intentionesque et toto, ut aiunt, organo instructa, cui aderit lateris firmitas, spiritus cum spatio pertinax, tum labori non facile cessurus. (40) Schmuckvoll ist ein Vortrag, den eine gewandte, laute, reichhaltige, modulierende, kräftige, angenehme, widerstandsfähige, deutliche, reine Stimme unterstützt, die die Luft durchschneidet und in den Ohren hängen bleibt (es gibt nämlich eine gewisse Art von Stimme, die nicht durch die Lautstärke, sondern durch ihre Eigentümlichkeit für das Gehör geeignet ist), die zudem sozusagen leicht zu bearbeiten ist, jedenfalls in sich Töne von jeglichem Klang und jeglicher Spannung hat, die gewünscht werden, und die, wie man sagt, über das volle Instrument verfügt, der die Stärke des Oberkörpers und ein Atem zur Seite stehen, der sowohl zeitlich ausdauernd ist als auch besonders der Anstrengung nicht leicht unterliegen wird. ornata: Die Behandlung der dritten virtus pronuntiandi (vgl. inst. 11,3,30): Quintilian überträgt den Gedanken eines geschmückten Schreibstils (ornatus) auf den mündlichen Vortrag. Die Adjektive, die im Folgenden die vox beschreiben, sind locker aneinander gereiht und meist sehr allgemein gehalten (vgl. MÜLLER [1969], S. 117 und WILLE [1967], S. 484). facilis: Das Adjektiv bezeichnet Dinge, die ohne Mühe und Schwierigkeit geschehen (vgl. ThlL, s. v. facilis S. 56,13 f.) bzw. etwas ohne Mühe und

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Schwierigkeit tun (vgl. ThlL S. 60,72 ff.). In diesem Sinne bedeutet facilis mit Bezug auf die Stimme »leicht hervorzubringen, gewandt, geläufig«. Dem entspricht die Bedeutung der facilitas bei Quintilian: Leichtigkeit, Geläufigkeit, Gewandtheit (vgl. ZUNDEL [1989], S. 39, s. v. facilitas, facilis). Eine vox facilis gibt es noch bei zwei anderen Autoren. Bei Fronto (p.147,1 v. d.H. bzw. p. 149 N.: balbutientium vox his ferme verbis significatur: vox impedita, … vox difficilis, … vox absona. His contraria quaerenti tibi subvenisse certum habeo, vox expedita, … vox facilis …) handelt es sich um eine Stimme, die neben anderen, die genannt werden, nicht durch Stammeln beeinträchtigt ist (daher die Definition der vox facilis von WILLE [1967], S. 483: »eine bewegliche, geläufige Stimme im Unterschied zu einer stammelnden«). Bei einem anonymen Physiognomiker wird einer Stimme die Eigenschaft facilis an die Seite von Schnelligkeit gestellt (Scriptores physiognomonici Graeci et Latini, rec. FOERSTER [1893], II S. 125 § 101: vocem summissam facilem ac volubilem). magna: Größe bezieht sich bei der Stimme auf ihre (Laut-) Stärke (vgl. Exkurs 3 [2.4]). magna ist daher synonym mit grandis in inst. 11,3,15 und bezeichnet ganz allgemein eine laute bzw. starke Stimme (vgl. OLD, s. v. magnus 5 und ThlL S. 128,56 ff.). Vgl. mit den Erläuterungen zu inst. 11,3,15: Cic. de orat. 3,216 (acuta gravis, cita tarda, magna parva). beata: beatus charakterisiert Dinge, die reich (ausgestattet) sind. Es wird dann z. B. auch über die Redegabe, die Rede oder die Wortfülle gesagt (vgl. OLD, s. v. beatus 3b, ThlL S. 1918,68 ff., vgl. Quint. inst. 10,1,61: beatissima rerum verborumque copia). Gemeint ist eine hochqualifizierte Stimme, die mit allem ausgestattet ist, was der Redner für eine ornata pronuntiatio braucht. Die vox beata ist also ein Sammelbegriff für positive Stimmeigenschaften (vgl. schon GESNER [1738] z. St.). Sie entspricht daher der vox bona aus inst. 11,3,13 (vgl. MÜLLER [1969], S. 114). flexibilis: eine v. a. im Hinblick auf die Tonhöhe variationsfähige Stimme, vgl. die Ausführungen zu inst. 11,3,15. firma: Etwas, das firmus ist, verfügt über natürliche Kräfte, ist kräftig und stark. In Quint. inst. 11,3,13 ist die vox firma das Gegenteil der vox inbecilla. Zusammen mit der vox bona wird sie dort als Stimme genannt, die man verwenden kann, wie man will. Hat man hingegen eine schwache Stimme, so ist man starken Beeinträchtigungen unterworfen. WILLE (1967), S. 476 (ebenso ERNESTI [1797], S. 172) vergleicht die vox firma mit Ciceros vox permanens (Brut. 141 über Antonius: vox permanens, verum subrauca natura), einer »ausharrenden Stimme«, bei der die Tonlage gleich bleibe und der Atem ausreiche trotz Anstrengung. Die Einschränkung auf das

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Halten der Töne, die MÜLLER (1969), S. 114 f. und ZICARI (1969), S. 72 wohl im Anschluss an ERNESTI (1797), S. 172 postulieren, um die vox firma von der vox durabilis abzugrenzen, ist nicht nachvollziehbar. Beide Begriffe meinen eine starke, widerständsfähige Stimme. Die vox firma betont mehr die eigene Kraft der Stimme, die vox durabilis mehr die Widerstandsfähigkeit gegen Strapazen von außen (vgl. zu inst. 11,3,23). Der Auctor ad Herennium befasst sich ausführlich mit der Frage, wie die firmitudo vocis (bei ihm: »Ausdauer der Stimme«) im Laufe einer Rede erhalten werden kann (Rhet. Her. 3,12,21–3,12,22, vgl. Kapitel 4.1.3). dulcis: Das Adjektiv wird häufig mit Bezug auf die Stimme (auch Klänge, Rede, Gesang u. ä.) verwendet, vgl. ThlL, s. v. dulcis S. 2191,53 ff. Seneca z. B. nutzt das Adjektiv, um die Stimme der Nachtigallen (luscinii) zu beschreiben (Sen. epist. 76,9). In Quint. inst.1,10,24 wird dulcis im Zusammenhang mit der Stimmmodulation in der Musik genannt (et voce et modulatione … iucunda dulciter … canit). Nach Quint. inst. 11,3,167 wird der Vortrag dulcius, wenn er voller und langsamer wird (plenius adhuc et lentius ideoque dulcius). In Quint. inst. 11,3,164 wird dieser Ton für Abschweifungen empfohlen (egressiones fere lenes et dulces et remissae). Gemeint ist also recht allgemein eine für die Zuhörer (z. B. durch Modulation) angenehme, wohlklingende Stimme (vgl. MÜLLER [1969], S. 114 f.). Nach Sen. contr. 3 praef. 3 ist eine Stimme, die gleichzeitig angenehm (suavitas, dulcis) und kräftig (valentissima, solida) ist, eine Seltenheit. durabilis: eine widerstandsfähige Stimme, die körperliche Strapazen aushalten kann (vgl. ähnlich dazu die vox firma oben). Der Redner braucht sie unbedingt (vgl. Quint. inst. 11,3,23). clara: eine deutliche Stimme, vgl. die Ausführungen zu inst. 11,3,15. pura: Ist als Attribut von vox im Unterschied zu clara nicht üblich. Gemeint ist eine reine Stimme, die daher klar und deutlich ist. Sie entspricht in gewisser Weise der vox clara, erhält ihre Deutlichkeit aber von der Reinheit (vgl. MÜLLER [1969], S. 115 und WILLE [1967], S. 484). secans aera et auribus sedens: durch et werden die beiden Ausdrücke zu einem einzigen Glied verbunden (vgl. SPALDING [1816] z. St. und ZICARI [1969], S. 74). secare aera (oder auch auras) heißt »durch die Luft (in schneller oder heftiger Bewegung) laufen/fahren/hindurchgehen; sich einen Weg durch die Luft bahnen« (vgl. OLD, s. v. seco 5 und bspw. Lucan. 9,685–686, Verg. Aen. 12,267–268). Im Ausdruck auribus sedens kommen zwei Bedeutungen des Verbs sedere zusammen. Erstens heißt sedere »kleben bleiben, hängen

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bleiben, festsitzen«, z. B. von Schiffen in Untiefen (vgl. OLD, s. v. sedeo 9 und z. B. Vitr. 10,16,9, Lucan. 9,337). Die Stimme bleibt im Ohr hängen. Zweitens »passt« sie dort gut, sie »sitzt« wie ein passgenaues Kleidungsstück, vgl. z. B. Quint. inst. 11,3,140 (pars togae … sedet melius et continetur) und 11,3,161 (sedens umero toga). Zusammengenommen beschreiben die beiden Ausdrücke den Weg der Stimme vom Emittenten zum Hörer, wie er auch in der antiken Philosophie und Medizin beschrieben wird (vgl. v. a. Aristoteles’ Theorie der Schallerzeugung und -leitung in De anima 419b9–11, 420a3–14, die er auch auf die Stimme anwendet). Gemeint ist also eine Stimme, die es erstens durch das Medium Luft zum Ohr des Hörers schafft und dann auch noch dort »hängen bleibt« und »sitzt«. Im Folgenden wird das Erste durch die magnitudo, das Zweite durch die proprietas der Stimme erläutert (vgl. MÜLLER [1969], S. 115 f. und WILLE [1967], S. 484). est enim quaedam: Zu »est quidam (+Substantiv)« in der Bedeutung »es gibt nämlich einen gewissen/eine gewisse Art von …« vgl. z. B. Ov. ars. 3,755 f. mit STROH (2000), S. 178 f. magnitudine: gebräuchlicher Begriff (vgl. Exkurs 3 [2.4]) für die (Laut-) Stärke/Quantität der Stimme, vgl. oben magna vox. Mit Kraft, Intensität, Stärke (vgl. OLD, s. v. magnitudo 4, ThlL S. 116,82 ff. und z. B. Cic. Brut. 235, Quint. inst. 12,10,64) kann die Stimme den Weg durch das Medium Luft bewältigen. Der Auctor ad Herennium behandelt die magnitudo vocis in Rhet. Her. 3,11,20. proprietate: proprietas bezieht sich allgemein auf die inhärente Qualität, den eigentlichen Gehalt einer Sache, durch den sich diese von anderen unterscheidet (vgl. die Definition im ThlL, s. v. proprietas S. 2085,46 ff.), hier auf die Qualität, die eigentümliche Beschaffenheit der Stimme, die unabhängig von der Lautstärke ist. MÜLLER (1969), S. 116 denkt an eine Stimme, die einen angenehmen Eindruck hinterlässt, wie z. B. die vox beata, dulcis, clara, pura. velut tractabilis: tractabilis ist die Eigenschaft von Dingen (Materialien, Werkzeugen), leicht angewendet, be- oder verarbeitet werden zu können (vgl. OLD, s. v. tractabilis 2a). Nach ZICARI (1969), S. 74 bezieht sich das Adjektiv prinzipiell auf Dinge, die in verschiedene Formen gebracht werden können, z. B. auf geschmeidige Metalle. Das velut zeige, dass Quintilian das Adjektiv metaphorisch aus einem anderen Bereich auf die Stimme überträgt. Gemeint ist also eine Stimme, die sich leicht in verschiedene Formen bringen lässt, die allgemein variationsreich ist. Ähnlich, jedoch nicht gänzlich synonym ist die vox flexibilis, die v. a. in Hinsicht auf die Tonhöhe variationsfä-

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hige Stimme (vgl. vox flexibilis in inst. 11,3,15 und mit Bezug auf die Silbenbetonung acutae gravis flexae in inst. 11,3,17). Zu den bisher (ad hoc) genannten Eigenschaften kommt also die Fähigkeit, diese einzelnen Eigenschaften (magna … auribus sedens) variationsreich einsetzen zu können. utique: »jedenfalls« im Sinne von »unbedingt, notwendigerweise, auf jeden Fall« (vgl. OLD, s. v. utique 1a, 2a, 3a und 4). Das Adverb soll weniger das zuvor Gesagte einschränken als das Folgende betonen, nämlich die Bedeutung der Tonhöhen und Lautstärkegrade, die die Stimme aufweisen muss. sonos: sinus B, ed. Winterbottom : sonos b Die beiden Überlieferungen sind als gleichwertig zu betrachten. sinus käme in dieser Bedeutung (vgl. OLD, s. v. sinus 12 mit nur diesem Beleg; ZICARI [1969], S. 75 erklärt ohne Belege sinus als flexus, RUSSELL [2001], S. 105 übersetzt es mit »inflexions«) nur an dieser Stelle vor (vgl. das Urteil SPALDINGS [1816] z. St., diese Lesart sei dem Anschein nach verlockend, aber gehaltlos: »blandienti, sed inani, specie«). Auch der häufige Begriff sonus hingegen kann hier ganz allgemein Töne bezeichnen, über die die Stimme verfügt. Dass aufgrund der Zusammenstellung mit intentiones ganz konkret nur die Höhe des Tons gemeint sein muss (vgl. für diese Bedeutung von sonus OLD, s. v. sonus 1c und z. B. Cic. de orat. 1,251, Quint. inst. 12,10,68), ist nicht richtig (so aber MÜLLER [1969], S. 117). Der Begriff intentio lässt sich nämlich auch nicht auf die Lautstärke beschränken (so aber ebd., S. 116), vgl. Exkurs 3 (2.5). intentiones: Mit Bezug auf die Stimme werden sowohl das Verb intendere (vgl. das Partizip intentus in inst. 11,3,17) als auch das Substantiv intentio häufig verwendet (vgl. OLD, s. v. intendo 4a, ThlL S. 2114,69 ff. sowie OLD, s. v. intentio 2b, ThlL S. 2121,57 ff.). Von der Grundbedeutung »anspannen« bzw. »Anspannung« ausgehend, wird damit – wie bei den Saiten eines Instruments (vgl. dazu z. B. Cic. de orat. 3,216, Quint. inst. 11,3,42) – das Anspannen der Stimme bezeichnet. In diesem allgemeinen Sinne »der Stimme Spannung/Nachdruck verleihen« können intendere vocem/intentio vocis benutzt werden (z. B. Quint. inst. 11,1,53). Spezifischer kann mit diesen Begriffen auch das Steigern der Lautstärke (z. B. Quint. inst. 11,3,17) oder das Erhöhen der Stimme (z. B. Quint. inst. 1,10,25.27) gemeint sein. Der Plural kann daher verschiedene Lautstärkegrade oder Tonhöhen (so in Ps. Cens. frg. 12,3: organum quondam habuit tres intentiones, gravem, mediam et acutam) bezeichnen. Wie die soni zuvor bleiben auch die intentiones absichtlich recht unbestimmt. Gemeint sind jeweils nur Töne verschiedener Höhe und Lautstärke, einmal unter der Perspektive des Klangs, den sie erzeugen (soni), und einmal unter der Perspektive der Stimmspannung, die sie hervorbringt (intentiones).

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Quint. inst. 11,3,14–65

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et toto, ut aiunt, organo instructa: Quintilian verwendet das Wort organum in der Institutio oratoria sieben Mal. Einmal bezeichnet es Werkzeuge allgemein (inst. 1,2,30), vier Mal Musikinstrumente (inst. 1,10,25. 9,4,10. 11,3,16.20). Die Stelle hier ist inst. 11,3,169 ähnlich. Dort geht es um eine Stimme, die paene extra organum, »beinahe außerhalb des menschlichen Stimmapparates« sei (vgl. die Ausführungen zu acerba in inst. 11,3,32). Die Deutungen dieser Stelle von organum als »Orgel« und toto organo instructa als »mit allen Registern der Orgel ausgestattet« (vgl. GESNER [1738] z. St., MÜLLER [1969], S. 116, ZICARI [1969], S. 75 f.) sind abzulehnen. Sie beziehen sich auf ältere, falsche Erklärungen des quintilianischen Wortgebrauches (vgl. LÖSCHHORN [1971], S. 204, Anm. 28). Denn organum lässt sich in der Bedeutung »Orgel« erst ab Tertullian nachweisen (vgl. ebd., S. 210). Im 1. und 2. Jh. gibt es hingegen (seit Plinius d. Ä.) zur Bezeichnung der Orgel nur die vollständige Form organum hydraulicum (vgl. ebd., S. 209 und schon BÜRCHNER [1914], Sp. 62). Das für den Sinn entscheidende Beiwort hydraulicum konnte nämlich erst abgelegt werden, als die Wasserorgel durch die pneumatische, mit einem Blasebalg betriebene Orgel verdrängt wurde, in der späteren Kaiserzeit (vgl. BÜRCHNER [1914], Sp. 62). LÖSCHHORN (1971), S. 204 kommt im Rahmen seiner Arbeit zum Thesaurus-Artikel »organum« zu dem Ergebnis, dass hier in inst. 11,3,40 und auch in inst. 11,3,169 eine musikalische Deutung des Begriffs organum nicht zulässig sei. Beide Male seien hingegen jeweils die menschlichen Sprachwerkzeuge, der Stimmapparat gemeint (vgl. ThlL, s. v. organum S. 969,10 ff.). Seine Aussage ist nur dahingehend zu modifizieren, dass diese Verwendung von organum als »menschliche Sprachwerkzeuge«, für die weitere Nachweise erst ab dem 4. Jh. n. Chr. (vgl. LÖSCHHORN [1971], S. 204 und ThlL S. 969,10 ff.) bestehen, aber auf der Vorstellung von der menschlichen Stimme als einem Musikinstrument beruht. Die Stimme verfügt »wie man sagt, über das volle (Stimm-) Instrument«. Das ut aiunt weist dabei auf einen gängigen Ausdruck hin. Richtig erklärt schon ERASMUS (1553), S. 12: Ea toto organo instructa recte dixeris, quae numeris omnibus constant & undique quadrant. Sumptum & hoc a musicorum instrumentis. Vgl. OTTO (1890), S. 259: »eine Aussprache, der jeder Ton zu Gebote steht«. lateris firmitas: Quintilian betont noch einmal die Bedeutung der körperlichen Konstitution. spiritus: Der Atem wird wie in inst. 11,3,15.21.32 wieder am Ende eines Sinnabschnittes erwähnt. spatio pertinax: Der Atem soll der Ausdehnung nach (spatio ist ein ablativus limitationis) anhaltend/lange ausreichend sein. Dies entspricht der Forderung an den Atem nec brevis (Quint. inst. 11,3,32) für eine pronuntiatio

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emendata. Die andere Formulierung für denselben Sachverhalt ist entsprechend der Einordnung in der ornata pronuntiatio schmuckvoller. Nach Plinius d. Ä. besitzt die Nachtigall einen lange anhaltendem Atem, einen pertinax spiritus (Plin. nat. 10,81). labori non facile cessurus: Gemeint ist hier ein Atem, der die Befähigung hat, die Anstrengung, die eine längere Rede mit sich bringt, die ganze Zeit auszuhalten (zum labor der Stimme vgl. 11,3,44). Dies entspricht der Forderung an den Atem nec parum durabilis (Quint. inst. 11,3,32) für eine pronuntiatio emendata. Auch hier ist die andere Formulierung für denselben Sachverhalt entsprechend der Einordnung in der ornata pronuntiatio schmuckvoller. ornata … cessurus: Rückblick auf die genannten Stimmeigenschaften: Im Unterschied zur Beschreibung der emendata pronuntiatio, wo Adjektive aufgelistet werden, wie die Stimme von Natur aus nicht sein soll (inst. 11,3,32), wird in inst. 11,3,40 positiv formuliert, welche Eigenschaften eine Stimme für den schmuckvollen Vortrag aufweisen muss. Im Unterschied zu vorherigen Auflistungen (inst. 11,3,15 und 11,3,32) fällt hier die Betonung der gewünschten Vielfältigkeit und Variationsfähigkeit auf (beata, flexibilis, velut tractabilis, habens omnes in se qui desiderantur sonos intentionesque) sowie die Betonung der Wirkung auf die Zuhörer (dulcis, auribus sedens) und die Betonung der Stärke der Stimme (firma, durabilis).

Mittlere Tonlage (11,3,41–42)

(41) Neque gravissimus autem in musica sonus nec acutissimus orationibus convenit: nam et hic parum clarus nimiumque plenus nullum adferre animis motum potest, et ille praetenuis et inmodicae claritatis cum est ultra verum, tum neque pronuntiatione flecti neque diutius ferre intentionem potest. (41) Aber weder der tiefste noch der höchste Ton in der Musik passt zu Reden: denn dieser tiefste Ton ist zu wenig deutlich und allzu voll und kann die Gemüter in keine Erregung versetzen, und jener zu dünne und unmäßig helle Ton geht über das Natürliche hinaus und kann v. a. weder beim Vortrag variiert werden noch eine Anspannung länger durchhalten. gravissimus: zu gravis vgl. inst. 11,3,17. in musica: Während in der Musik – gemeint ist hier wohl eher der Gesang als die Instrumentalmusik (so aber SPALDING [1816] z. St.) – äußerst tiefe und äußerst hohe Töne passend sind, sind sie es in Reden nicht. Die

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Quint. inst. 11,3,14–65

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Stimme des Redners muss also doch nicht über wirklich alle Töne verfügen, wie in inst. 11,3,40 zunächst gefordert. Insofern hilft in musica zu verstehen, dass höchste und tiefste Töne nur im Vortrag nicht passend sind. WINTERBOTTOM (1970b), S. 205 aber tilgt in musica, da es nichts beitrage und Quintilian an dieser Stelle nicht von Tönen der Musik handle. Es könne als Marginalbemerkung zum vorhergehenden toto, ut aiunt, organo (inst. 11,3,40) in den Text eingedrungen sein. acutissimus: zu acutus vgl. inst. 11,3,17. hic: bezieht sich hier nicht auf das näher stehende acutissimus, sondern auf das entferntere gravissimus. Vgl. die gleiche Stellung der Pronomen in inst. 11,3,30. parum clarus: vgl. die vox clara in inst. 11,3,15 und 60, die deutliche, klare und somit auch helle und laute Stimme. Schlechte Hörbarkeit aufgrund der Tiefe der Stimme wird Prodikos von Keos nachgesagt von Philostrat (soph. 496: καίτοι δυσήκοον καὶ βαρὺ φθεγγόμενος) und Platon (Prot. 316a1– 2), vgl. GLEASON (1995), S. 101. nimiumque plenus: vgl. die positive vox plena in inst. 11,3,15. adferre animis motum: Die Affektbeeinflussung ist eines der Ziele des Redners, vgl. Quint. inst. 11,3,14. praetenuis: vgl. die vox tenuis in inst. 11,3,32. ultra verum: Gemeint ist ein Ton, der über das Natürliche hinausgeht (vgl. auch GEORGES [71910], s. v. widernatürlich). Zu verus/veritas in dieser Bedeutung vgl. Quint. inst. 10,2,11 (namque iis [orationibus] quae in exemplum adsumimus, subest natura et vera vis, contra omnis imitatio facta est et ad alienum propositum commodatur). 11,3,61 (veri adfectus: auf natürliche Art und Weise entstehende Affekte). 12,10,40 (über das, was der natürlichen Form der Beredsamkeit, der naturalis eloquentia, hinzugefügt sei: id esse adfectationis et ambitiosae in loquendo iactantiae, remotum a veritate). pronuntiatione flecti: flectere sonum (ebenso: flectere vocem), den Ton bzw. die Stimme zu beugen, heißt »den Ton in Hinsicht auf die Tonhöhe variieren«, also zu modulieren, vgl. OLD, s. v. flecto 11a, ThlL S. 895,61 ff. und z. B. Ov. am. 2,4,25, Plin. nat. 16,171. Der Bezug auf die Tonhöhe zeigt sich v. a. darin, dass flectere auch »singen« heißen kann (vgl. ThlL S. 895,71 ff. und z. B. Lucr. 5,1406 und Stat. silv. 3,5,65) sowie Vitr. 5,4,2 (vox enim

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mutationibus cum flectitur, alias fit acuta, alias gravis). Vgl. den Zirkumflex-Akzent in inst. 11,3,17, die vocis flexus in inst. 11,3,25 und die vox flexibilis in inst. 11,3,15.40. Siehe auch Exkurs 3 (2.3). intentionem: Gemeint ist die Anspannung der Stimme (vgl. Quint. inst. 11,3,40), die den höchsten Ton produziert. Sie kann nicht lange gehalten werden. Der Bezug zum vorhergehenden neque pronuntiatione flecti ist klar: Der höchste Ton ist abzulehnen, da er weder variiert werden kann noch – das wäre die Alternative – gehalten werden kann. Beide Alternativen sind eng durch neque … neque … verbunden. Dies spricht gegen WILLES (1967), S. 484 Deutung von intentionem als intentionem (animi), »die Aufmerksamkeit der Zuhörer« (gegen Willes Interpretation auch die Einordnung im ThlL, s. v. intentio S. 2121,60 f. sowie die bei ihm vorausgesetzte, aber sonst nicht vorkommende Wendung intentionem ferre, »Aufmerksamkeit festhalten«).

(42) Nam vox, ut nervi, quo remissior hoc gravior et plenior, quo tensior hoc tenuis et acuta magis est. Sic ima vim non habet, summa rumpi periclitatur. Mediis ergo utendum sonis, hique tum augenda intentione excitandi, tum summittenda sunt temperandi. (42) Denn die Stimme ist, wie die Saiten eines Instruments, je entspannter sie ist, desto tiefer und voller, je angespannter sie ist, desto dünner und höher. So hat eine sehr tiefe Stimme keine Kraft, eine sehr hohe ist in Gefahr zu zerspringen. Also muss man mittlere Töne verwenden und diese müssen bald durch Steigerung der Anspannung erhöht werden, bald durch Lösung der Anspannung gemäßigt werden. vox, ut nervi: Die Stimme wird mit den Saiten eines Musikinstrumentes verglichen. Der Vergleichspunkt ist die unterschiedliche Form der Anspannung (remissior/tensior), die unterschiedlich hohe Töne hervorbringt. Das Bild lässt an die Stimmbänder denken. Allerdings sind diese, soweit wir der medizinischen Literatur entnehmen können, erst ab Galen bekannt (vgl. Kapitel 2.1.5). quo remissior … acuta magis: Chiasmus: gravior ist magis acuta gegenübergestellt und plenior ist magis tenuis gegenübergestellt. gravior et plenior: vgl. die Erläuterungen zu inst. 11,3,17 und 11,3,15. tenuis et acuta: vgl. die Erläuterungen zu inst. 11,3,32 und 11,3,17.

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Quint. inst. 11,3,14–65

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ima/summa: vgl. die Erläuterungen zu inst. 11,3,15. rumpi: Mit dem Zerbrechen der zu hohen Stimme ist hier ein abruptes Abreißen/Abbrechen der Stimme gemeint (zu rumpere in dieser Bedeutung vgl. OLD, s. v. rumpo 6a). Der Vergleich zur Saite wirkt hier noch fort. Denn auch eine zu stark gespannte Saite kann reißen und bringt dann keinen Ton mehr hervor. Laut Auctor ad Herennium muss man hohe (und laute) Töne aufgrund der Verletzungsgefahr meiden, vgl. Rhet. Her. 3,12,21 (acutas vocis exclamationes vitare debemus) und 3,12,22 (acuta exclamatio vocem volnerat). mediis … sonis: Quintilian betont die Mittellage der Stimme als die für den Redner richtige. Sie ist der Ausgang für Erhöhung und Herabsetzen des Tons. Zur mittleren Tonlage mit Bezug auf die Lautstärke vgl. Cic. de orat. 3,227. Zur mittleren Tonlage und den Auftrittsbedingungen der griechischen Redner des 5. Jh. v. Chr. vgl. die Untersuchung von JOHNSTONE (2001), besonders S. 131–133. excitandi/temperandi: Durch eine Steigerung der Anspannung (augenda intentione) müssen die Töne der mittleren Tonlage höher gemacht werden. Zur Bedeutung »Tonlage erhöhen« von excitare vgl. OLD, s. v. excito 7b, ThlL S. 1260,41 ff. sowie Quint. inst. 12,10,33 und Cic. de orat. 1,251. Durch ein Nachlassen der Anspannung (summitenda intentione) müssen sie gemäßigt bzw. herabgesetzt, d. h. tiefer gemacht werden. aequalitas und varietas (11,3,43–51)

(43) Nam prima est observatio recte pronuntiandi aequalitas, ne sermo subsultet inparibus spatiis ac sonis, miscens longa brevibus, gravia acutis, elata summissis, et inaequalitate horum omnium sicut pedum claudicet. Secunda varietas. Quod solum est pronuntiatio. (43) Denn das Erste, was für das richtige Vortragen beachtet werden muss, ist die Gleichmäßigkeit: dass nicht die Rede zwischen ungleichartigen Zeitdauern und Tönen hin- und herspringt, Langes mit Kurzem vermengt, Tiefes mit Hohem, Lautes mit Leisem, und aufgrund der Ungleichheit von all diesen gleichsam wie aufgrund der Ungleichheit von Füßen hinkt. Das Zweite ist die Abwechslung. Das macht mehr als alles andere den Vortrag aus. nam: Das Adverb bildet die Überleitung zu den allgemeinen Grundsätzen, auf denen das gerade Gesagte (zur Empfehlung der mittleren Stimmlage in

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inst. 11,3,41–42) beruht, vgl. die Funktion »in transitu« bei BONNELL (1834), S. 547, s. v. nam γ), KROON (1989), S. 234 und OLD, s. v. nam 4. observatio: Zu observatio in der Bedeutung »was beachtet werden muss; Regel« vgl. die Ausführungen zu inst. 11,3,14 und ThlL, s. v. observatio S. 198,37 ff. recte: Das allgemeine Qualitätsadverb bedeutet hier »richtig im Sinne der ornata pronuntiatio«, nicht »richtig im Sinn elementarer Richtigkeit«. aequalitas: Der im Hinblick auf die drei Grundeinteilungen und Unterscheidungen der Stimme (vgl. die Tabelle zur utendi voce multiplex ratio in inst. 11,3,17) gleichmäßige Vortrag. Zwischen den jeweiligen Extremen soll nicht hin- und hergesprungen werden. Das Gegenteil ist inaequalitas. Siehe zur gleichen Verwendung des Adjektivs aequalis Hor. sat. 1,3,7–9: modo summa/ voce, modo hac resonat quae chordis quattuor ima./ Nil aequale fuit illi. subsultet: Das Verb wird auch verwendet für die Wortfügung, die durch viele aufeinander folgende einsilbige Wörter ins Hüpfen kommt (vgl. Quint. inst. 9,4,42). Es geht eindeutig um das falsche Abwechseln von Extremen, nicht um das Singen, wie COUSIN (1979), S. 360 denkt. Vgl. ähnlich resultare in Quint. inst. 11,3,183. Dort wird ein Vortrag getadelt, bei dem die Stimme in den Tonvariationen unbeständig ist (wie beim Schauspieler): non inmerito reprenditur pronuntiatio … vocis mutationibus resultans. spatiis ac sonis: spatiis bezieht sich auf das Tempo (Nr. 1 in der Tabelle zu inst. 11,3,17), sonis auf Lautstärke und Tonhöhe bzw. Melodie (Nr. 2 und 3 in der Tabelle). Zum Begriff spatium vgl. die Ausführungen zu inst. 11,3,17. longa brevibus: erläutert die spatia: lange oder kurze Zeitdauer bezieht sich auf das Tempo. gravia acutis: bezieht sich auf die Höhe des Tons bzw. die Melodie der Stimme. Vgl. inst. 11,3,17 und Exkurs 3 (2.1). elata summissis: bezieht sich auf die (Laut-) Stärke. In inst. 11,3,17, wo ebenfalls Lautstärke, Tonhöhe und Tempo der Stimme genannt werden, bezeichnet elatis hingegen hohe Töne und remissis leise Töne. Daran lässt sich erkennen, dass Quintilian keine einheitliche Terminologie verwendet. Vgl. auch Exkurs 3 (2.2 und 2.5).

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claudicet: Hinken und Hin- und Herhüpfen als ruckartige, unflüssige Bewegungen stehen als Metaphern für die inaequalitas. Die Metapher des Hinkens findet sich mit Bezug auf die Rede auch bei Cic. de orat. 3,198, Cic. Brut. 227, Cic. orat. 173.198. varietas: bezeichnet die richtige, flüssige und passende Abwechslung der Stimmführung in Bezug auf Tempo, Melodie und Dynamik. Zur Wertschätzung der varietas vgl. Cic. orat. 57 und de orat. 3,225. Dafür bedarf es v. a. einer vox tractabilis (vgl. Quint. inst. 11,3,40). quod solum est pronuntiatio: qua salem habet pronuntiatio Shackleton Bailey : del. M. Winterbottom (2000), S. 175 : quod solum multis est pronuntiatio Watt Die Schwierigkeiten, die der überlieferte Text bereitet, sind sprachlicher und inhaltlicher Natur. SHACKLETON BAILEY (1983), S. 228 f. hält den überlieferten Text für »manifest nonsense and more than questionable Latin«, WINTERBOTTOM (2000), S. 175 für »strangely phrased and untrue« und das Werk eines »Idiot Glossator«. Dennoch ist es nicht unmöglich, den überlieferten Text zu verstehen und Sinn in ihm zu erkennen. Der Schlüssel dazu liegt zunächt im Verständnis des solum. Es drückt nämlich nicht immer den Status der Einzigartigkeit aus, sondern auch den des Herausragens. solum heißt hier nicht »allein; nur« (so aber explizit SHACKLETON BAILEY [1983], S. 228 und WATT [1988], S. 158), sondern »außerordentlich; mehr als alles andere« (vgl. SEYFFERT [21876], S. 10, OLD, s. v. solus 6 und Ov. ars 1,131 mit dem Kommentar von HOLLIS [1977], S. 57 sowie Quint. inst. 11,1,11. 12,1,34). Dann stellt sich die Frage, was mit dem Neutrum quod solum genau gemeint ist. Die Formulierung im Singular erschwert, es auf aequalitas und varietas gleichermaßen zu beziehen. Unmöglich ist das aber nicht (so auch akzeptiert von SHACKLETON BAILEY [1983], S. 229). Tut man dies, so behauptet Quintilian, dass der gleichmäßige und richtig variierende Einsatz von Melodie, Tempo und Lautstärke der Stimme mehr als alles andere die pronuntiatio ausmacht. Sachlich ist das nicht falsch und es entspricht der Wertschätzung der Stimmvariation durch Quintilian, der ihr neun Paragraphen (inst. 11,3,43–51) und die Analyse des Milo-Prooemiums widmet. Denn unter den genannten drei Hauptaspekten der Stimme lassen sich auch alle anderen Themen, die die Stimmgestaltung betreffen, einordnen. Insofern können aequalitas und varietas als die übergeordneten Tugenden, die die pronuntiatio bestimmen, betrachtet werden. Erklärungsbedürftig bleibt dann noch das Ausbleiben der Attraktion des Prädikativs an das Subjekt. Nach den üblichen Kongruenzregeln wäre quae sola est pronuntiatio zu erwarten. Diese Attraktion kann aber in verschiedenen Fällen unterbleiben (vgl. KÜHNER/STEGMANN [51976] II,1 §10,2, S. 33 und

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Kommentar zu den beiden Hauptquellen

§12,2b, Anm. 1, S. 36) und sie tut es bei Quintilian in einem ähnlichen Fall in inst. 9,4,17: quod ipsum compositio est. Auch dort bezieht sich das Pronomen quod auf einen gesamten, vorher ausgeführten Sachverhalt.

(44) Ac ne quis pugnare inter se putet aequalitatem et varietatem, cum illi virtuti contrarium vitium sit inaequalitas, huic quae dicitur μονοείδεια, quasi quidam unus aspectus. Ars porro variandi cum gratiam praebet ac renovat aures, tum dicentem ipsa laboris mutatione reficit, ut standi ambulandi sedendi iacendi vices sunt nihilque eorum pati unum diu possumus. (44) Und niemand glaube, dass Gleichmäßigkeit und Abwechslung einander widersprechen, denn der Fehler, der das Gegenteil der Tugend der Gleichmäßigkeit ist, ist die Ungleichmäßigkeit, der Fehler, der das Gegenteil der Abwechslung ist, ist die sogenannte μονοείδεια, sozusagen eine Art »einheitlicher Anblick«. Ferner erwirkt die Kunst des Abwechselns die Gunst (des Publikums) und erfrischt die Ohren, und lässt v. a. den Redenden sich erholen gerade durch die Veränderung der Anstrengung, wie wir ja auch zwischen Stehen, Umhergehen, Sitzen und Liegen abwechseln und nichts davon alleine lange aushalten können. contrarium vitium: Um die unterschiedliche Bedeutung seiner Begriffe klarzumachen, gibt Quintilian mit der Nennung des gegenteiligen Fehlers eine Definition ex negativo. μονοείδεια, quasi quidem unus aspectus: ΜΟΝΟΙΔΙa B : μονοειδία Obrecht : μονοείδεια Halm (vgl. VALLOZZA [2000], S. 227, Anm. 35 und [2004], S. 191 f.) Für die von Obrecht hergestellte Form μονοειδία gibt es laut Thesaurus Graecus keinen einzigen Beleg, für μονοείδεια drei Belege (bei Sextus Empiricus, Adversus Mathematicos 1,117.226 und in den Scholia in Iliadem, ed. ERBSE, 21,18a, Zeile 5 – jeweils mit eindeutiger Überlieferung). μονοείδεια heißt allgemein »Einförmigkeit« (vgl. LSJ s. v.). Die Übertragung auf eine Stimme, die nur einen Stimmaspekt verwendet (entweder schnell oder langsam, laut oder leise, hoch oder tief), die Bezeichnung des Gegenteils der varietas, ist einleuchtend. Mit unus aspectus werden die beiden Bestandteile des griechischen Wortes (μόνος; εἶδος) im Lateinischen wiedergegeben. dicentem ipsa laboris mutatione reficit: Die Stimme hat beim Vortrag einen labor zu bewältigen. Durch die Abwechslung und Verschiedenheit der Anstrengung gelingt ihr dies leichter. Vgl. zum labor auch Quint. inst. 11,3,26.40.60. Celsus (1,3,8) empfiehlt gegen Müdigkeit allgemein (lassi-

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Quint. inst. 11,3,14–65

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tudo) Abwechslung in der Anstrengung, die man unternimmt (laboris mutatio). (45) (Illud vero maximum – sed id paulo post tractabimus –, quod secundum rationem rerum de quibus dicimus animorumque habitus conformanda vox est, ne ab oratione discordet.) Vitemus igitur illam quae Graece μονοτoνία vocatur, una quaedam spiritus ac soni intentio, non solum ne dicamus omnia clamose, quod insanum est, aut intra loquendi modum, quod motu caret, aut summisso murmure, quo etiam debilitatur omnis intentio, (46) sed ut in isdem partibus isdemque adfectibus sint tamen quaedam non ita magnae vocis declinationes, prout aut verborum dignitas aut sententiarum natura aut depositio aut inceptio aut transitus postulabit: ut qui singulis pinxerunt coloribus, alia tamen eminentiora alia reductiora fecerunt, sine quo ne membris quidem suas lineas dedissent. (45) (Am wichtigsten aber ist es – aber das werden wir etwas später behandeln – dass die Stimme in Übereinstimmung mit der Art und Weise der Dinge, über die wir sprechen, und der Beschaffenheit der Empfindungen [des Redners] gestaltet werden muss, damit sie nicht mit der Rede in Widerspruch steht.) Daher wollen wir das vermeiden, was griechisch μονοτoνία genannt wird, gewissermaßen ein einziger Spannungsgrad von Atem und Ton, nicht nur damit wir nicht alles laut schreiend sprechen, was wahnsinnig ist, oder beschränkt auf die Modulation des alltäglichen Sprechens, was keine Regung aufweist, oder mit gedämpftem Murmeln, wodurch die ganze Aufmerksamkeit sogar geschwächt wird, (46) sondern damit in denselben Partien und in denselben Gefühlen dennoch gewisse, nicht so große Stimmveränderungen stattfinden, je nachdem wie es die Schönheit der Wörter, die Natur der Gedanken oder das Absetzen oder das Ansetzen oder der Übergang fordern wird: wie auch diejenigen, die mit einer einzigen Farbe ein Bild gemalt haben, dennoch manches stärker hervortreten, anderes stärker zurücktreten ließen. Ohne diese Technik hätten sie nicht einmal den Gliedmaßen Umrisse geben können. (Illud … discordet.): Mit diesem Einschub unterbricht Quintilian die Ausführungen zum abwechslungsreichen Vortrag und gibt einen Ausblick auf die Behandlung der apta pronuntiatio in inst. 11,3,61–64. secundum rationem rerum de quibus dicimus animorumque habitus: Die Behandlung des Themas in inst. 11,3,61 gibt einen Hinweis darauf, wie hier die animi zu verstehen sind, nämlich als jeweilige Gemütsregungen des Redners. Dort wird nämlich als apta pronuntiatio die definiert, die an das Thema der Rede (his, de quibus dicimus) angepasst ist. Diese Anpassung

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Kommentar zu den beiden Hauptquellen

leiste zum größten Teil die innere Erregung des Redners selbst (ipsi motus animorum). Der Plural animorum bezieht sich auf die jeweilige Gemütsregung des jeweiligen Redners, vgl. den Plural in 11,3,66 (habitus animorum, die jeweilige Verfassung des Gemüts). Zur Anpassung des Vortrages an den Inhalt der Rede aufgrund der varietas in den Redeteilen vgl. auch inst. 11,3,174. vox … ab oratione: Die Stimme realisiert die Rede (oratio) und muss sich dabei an sie anpassen. igitur: Quintilian knüpft an den Gedanken vor der Parenthese an, gemeint ist »daher, weil Abwechslung für den Redner nützlich und für den Hörer angenehm ist«. μονοτoνία: wird definiert als una quaedam spiritus ac soni intentio, als »gewissermaßen ein einziger Spannungsgrad von Atem und Ton«. Zur intentio des Atems vgl. inst. 11,3,55. Nach Galen, der allerdings erst nach Quintilian schreibt, hat die Spannung (τόνος) der Atemluft Einfluss auf die Lautstärke der Stimme (vgl. BAUMGARTEN [1962], S. 171 und Kapitel 2.1.5). Aus der Definition und dem explizierenden Finalsatz geht hervor, dass also eine einseitige Gestaltung der Stimme in Hinblick auf Tonhöhe und auch Lautstärke gemeint ist. Der Aspekt der Spannung, der in intentio steckt, ist auch dem Wortbestandteil -τoνία zu entnehmen, abgeleitet von τόνος (vgl. LSJ, s. v. τόνος II 2 a: »pitch of the voice, … including volume«). In griechischen Texten findet sich das Wort μονοτoνία aber nicht (vgl. VALLOZZA [2000], S. 228). Monotone Sprechweise steht bei Cicero im Zusammenhang mit geringem stimmlichen Aufwand: vocis parva contentio, omnia fere ut similiter atque uno modo dicerentur (Cic. Brut. 233). Der Begriff μονοείδεια (inst. 11,3,44) ist allgemeiner. Er bezieht als allgemeines Gegenteil der varietas auch das Sprechtempo mit ein. quod insanum est: insanus wird häufiger mit Bezug auf eine maßlose Art zu reden oder zu schreiben verwendet (vgl. ThlL, s. v. insanus S. 1834,83 ff.). In Cic. Brut. 233 wird es ebenfalls in Zusammenhang mit Lautstärke gebracht: qui (sc. C. Fimbria) omnia magna voce dicens … ita furebat tamen, ut mirarere tam alias res agere populum, ut esset insano inter disertos locus. intra loquendi modum: die Form der μονοτoνία, bei der alles in durchschnittlicher Lautstärke (und Tönhohe) gesprochen wird, wie im Alltagsgespräch. Für loqui in der Bedeutung »Alltagssprache gebrauchen, sich unterhalten« (im Unterschied zu einer formalen Unterhaltung oder einer Fachsprache) vgl. ThlL, s. v. loquor S. 1673,63 ff. und OLD 3 sowie z. B.

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Quint. inst. 11,3,14–65

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Quint. inst. 4,2,118. 9,4,110. Für modus in der Bedeutung »Modulation« vgl. inst. 11,3,17. quod motu caret: motus bezeichnet die Gefühlsregung, die durch die Rede im Hörer hervorgerufen wird (vgl. ThlL, s. v. motus S. 1536,48 ff.). Dass solche Gefühlsregungen im Alltagsgespräch nicht vorkommen sollen, fordert Cicero: eius modi motibus sermo debet vacare (Cic. off. 1,136). Quint. inst. 10,1,55 bezeugt, dass varietas zur Gefühlserregung notwendig ist: Arati materia motu caret, ut in qua nulla varietas, nullus adfectus. summisso murmure: die Form der μονοτoνία, bei der alles sehr leise gesprochen wird. Zu summissus vgl. die Erläuterungen in inst. 11,3,43. quo etiam debilitatur omnis intentio: Da sich auch die beiden anderen Einschübe (quod insanum est; quod motu caret) auf die Wirkung der jeweiligen μονοτoνία beim Zuhörer beziehen, dürfte intentio hier die Aufmerksamkeit des Zuhörers meinen, die geschwächt wird, wenn der Redner zu lange leise spricht. Liest man hingegen intentio als intentio vocis des Redners (was der sonstige Gebrauch von intentio in Quint. inst. 11,3 zunächst nahelegt), so ergibt sich eine sachliche Ungenauigkeit. Denn nicht durch das leise Murmeln (quo) wird jegliche Anspannung der Stimme geschwächt. Vielmehr ergibt sich das leise Murmeln erst durch ein Nachlassen in der Anspannung (vgl. Quint. inst. 11,3,42). non ita magnae vocis declinationes: vocis declinationes steht hier anstelle des sonst üblicheren vocis inclinationes (Cic. Brut. 158, Sen. suas. 2,10, Diom. gramm. I 430,30). Von der Grundbedeutung ausgehend ist an ein Neigen bzw. Senken der Stimme zu denken (vgl. OLD, s. v. inclinatio 7: »the lowering of the voice in pitch«). Quintilian meint allerdings die Variationen der Stimme allgemeiner (so auch MÜLLER [1969], S. 118). In inst. 11,3,168 werden als inclinationes vocis die (gesangsartigen) Stimmführungen von Demosthenes und Aischines bezeichnet, die diese sich gegenseitig vorwerfen und die von Quintilian gebilligt werden. So sprechen Aischines (adv. Ctes. 210) und Demosthenes (de cor. 280) jeweils vom τόνος τῆς φωνῆς des anderen (vgl. Kapitel 3.1.1). aut verborum dignitas aut sententiarum natura: Die Stimme kann und muss sich den Erfordernissen von Einzelwörtern (verba) oder Gedanken (sententiae) angleichen. Nach Quint. inst. 11,3,174 wird die pronuntiatio den Gedanken immer angepasst, den Wörtern nur manchmal. Auch nach Cic. inv. 1,9 soll sich die Stimme der dignitas der Wörter anpassen: pronuntiatio est ex rerum et verborum dignitate vocis et corporis moderatio. Die dignitas ist eine Eigenschaft, die Wörter aufweisen (z. B. Cic. fin. 2,75: verbum ipsum

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voluptatis non habet dignitatem, Cic. de orat. 3,153: sed tamen raro habet etiam in oratione poeticum aliquod verbum dignitatem), ihre mehr oder minder große Schönheit und Würde (vgl. OLD, s. v. dignitas 2c). aut depositio aut inceptio aut transitus: Die Begriffe beziehen sich auf das Ende, den Anfang und den Übergang von etwas, womit die Stellen am Ende (so auch Jachmann im ThlL-Artikel depositio, S. 591,76: »i. q. finis periodi«; vgl. deponere mit Bezug auf die Stimme in Quint. inst. 11,3,38) und am Anfang einer Periode (bzw. eines in einer Periode ausgedrückten Gedankens) sowie am Übergang (zu transitus in der Bedeutung »Übergang von Gedanken« siehe z. B. inst. 7,6,5. 7,10,17. 9,3,65) zwischen Perioden gemeint sein dürften (so auch Zicari [1969], S. 79). An diesen drei Stellen verlangt Quintilian kleine Veränderungen in der Stimmführung. ut qui singulis pinxerunt coloribus: Der einzigen Farbe der Maler entspricht in diesem Vergleich eine einzige Stimmeigenschaft (Lautstärke, Tonhöhe) des Redners, die nur in verschiedenen Schattierungen auftritt. Vgl. über die Einfarbigkeit am Anfang der Malerei Plin. nat. 33,117. 35,15.29. eminentiora/reductiora: Vgl. eminere und recessisse in Bezug auf die Kunst des Malers in Quint. inst. 2,17,21.

(47) Proponamus enim nobis illud Ciceronis in oratione nobilissima pro Milone principium: nonne ad singulas paene distinctiones quamvis in eadem facie tamen quasi vultus mutandus est? »Etsi vereor, iudices, ne turpe sit pro fortissimo viro dicere incipientem timere«: (48) etiam si est toto proposito contractum atque summissum, qua et exordium est et solliciti exordium, tamen fuerit necesse est aliquid plenius et erectius dum dicit »pro fortissimo viro« quam cum »etsi vereor« et »turpe sit« et »timere«. (47) Wir wollen uns also jenen Anfang von Ciceros hochberühmter Rede Für Milo vornehmen: Muss man nicht fast bei allen einzelnen Abschnitten, obwohl das Gesicht dasselbe bleibt, dennoch gleichsam die Miene verändern? »Wenn ich auch fürchte, ihr Richter, dass es schimpflich ist, wenn man beginnt, für einen äußerst tapferen Mann zu sprechen, Angst zu empfinden«. (48) Auch wenn diese Stelle gemäß ihrem gesamten Thema beklommen und leise ist, insofern es der Redebeginn ist und noch dazu der Redebeginn eines Beunruhigten, muss sie dennoch etwas kraftvoller und lauter gewesen sein, während er sagte »für einen äußerst tapferen Mann« als bei »wenn ich auch fürchte«, »dass es schimpflich ist« und »Angst zu empfinden«.

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proponamus: Am Milo-Prooemium wird die varietas der Stimme in einem Abschnitt veranschaulicht (vgl. inst. 11,3,51). Vgl. die Paraphrasen bzw. Übersetzungen bei GUNDERSON (2000), S. 44–46 und BLÄNSDORF (2001), S. 226. Die Analyse eines Beispiels gehört nicht nur zur Tradition der Traktate, sondern v. a. in den rhetorischen Unterricht (vgl. ZICARI [1969], S. 80). Parallel zu dieser Stelle analysiert Quintilian in inst. 11,3,108–110 den Anfang von Pro Ligario in Hinblick auf die gestische Gestaltung. Eine ähnliche Analyse einer Demosthenes-Rede (mit allerdings anderer Zielsetzung) führt Dionysios von Halikarnassos in Dem. 54 durch (vgl. Kapitel 3.2.4). Ciceronis in oratione nobilissima pro Milone: Die schriftliche Fassung von Pro Milone galt in der Antike als Ciceros beste Rede, vgl. Ascon. In Milonianam 36: scripsit vero hanc (sc. orationem) quam legimus ita perfecte ut iure prima haberi possit. ad singulas paene distinctiones: Mit distinctiones sind hier, wie die folgende Analyse des Milo-Prooemiums zeigt, kleinere Abschnitte gemeint, die sich durch das richtige Gliedern mit der Stimme ergeben (gegen Hofmanns Einordnung dieser Stelle im ThlL-Artikel distinctio, S. 1521,35 unter »de moris, pausis pronuntiandi«). distinctio bezeichnet bei Quintilian sowohl die Trennung bzw. Pause zwischen Wörtern oder in einem fortlaufenden Text (vgl. inst. 1,5,27. 8,4,8. 11,3,37.38 und BONNELL [1834], S. 249, s. v. distinctio III sowie ThlL, S. 1521,28 ff.), als auch den Abschnitt, der dadurch entsteht (vgl. Quint. inst. 11,3,47, ähnlich OLD 1a: »a portion [resulting from division]«) und den Vorgang des Einteilens und Gliederns mit der Stimme selbst (vgl. Quint. inst. 11,3,39.52 und OLD 1a). facie/vultus: facies ist die größere Einheit als vultus, denn das Gesicht kann mehrere Mienen zeigen und dabei das gleiche bleiben. Das Gleiche gilt übertragen für das Milo-Prooemium. timere: Warum Cicero angeblich Angst empfindet, erklärt sich durch die besonderen Umstände der Rede für Milo. Pompeius hatte das Forum durch Truppen abgesichert, nachdem es am ersten Tag der Verhandlung zu Tumulten gekommen war. toto proposito: propositum bezeichnet das Thema bzw. Ziel, das sich der Redner vorgenommen hat (vgl. OLD, s. v. propositum 3a und Quint. inst. 5,11,31. 10,1,105). Hier ist konkret das Thema der direkt zuvor zitierten Stelle (so auch BONNELL [1834], S. 711, s. v. propositum), nicht des gesamten Prooemiums gemeint, was den noch folgenden Anweisungen zur Stimme (z. B. paene apertis, ut aiunt, tibiis und latum etiam atque fusum) widersprechen würde.

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contractum atque summissum: Das gleiche Wortpaar wird in Quint. inst. 11,3,175 verwendet: summissa atque contracta (voce) sollen die Wörter misellus und pauperculus ausgesprochen werden. Vgl. die vox contracta, die gehemmte Stimme, in Quint. inst. 11,3,15. In inst. 11,3,64 wird sie als richtige Stimmart für Furcht und Scheu empfohlen. summissum/remissum bezieht sich v. a. auf geringe Ton- und Lautstärke (vgl. inst. 11,3,17.43 und Exkurs 3 [2.5]). Das gegenteilige Begriffspaar ist hier plenius et erectius. qua: qua B : quia J Die Handschrift J aus dem 12. Jh. ist eine Abschrift von B aus dem 9. Jh. Die bessere Überlieferung qua kann mit dem Sinn »insofern/soweit« (vgl. OLD, s. v. qua 5a und z. B. Quint. inst. 4,1,17) beibehalten werden. exordium: Für den Anfang der Rede empfiehlt Quintilian eine sanfte Vortragsweise: prooemio frequentissime lenis (zu lenis und seiner semantischen Nähe zu summissus vgl. inst. 11,3,63) convenit pronuntiatio (inst. 11,3,161). Ebenso Cic. de orat. 3,227 (nam a principio clamare agreste quiddam est) und Rhet. Her. 3,12,21 (quam maxime sedata et depressa voce principia dicemus). fuerit: Quintilian rekonstruiert Ciceros damaligen Vortrag. Wie zuvor bei est … contractum atque summissum ist als gedankliches Subjekt die stimmliche Ausgestaltung des Textes, der gerade besprochen wird, gemeint. RUSSELLS (2001), S. 108 Konjektur sonuerit ist nicht nötig. plenius et erectius: muss hier inhaltlich das Gegenteil von contractum atque summissum bezeichen. Vgl. Quint. inst. 11,3,175, wo ganz ähnlich der vox summissa atque contracta die vox erecta et concitata gegenübergestellt wird. plenus bedeutet nach inst. 11,3,15 »(klang)voll«. erectius ist hier summissum gegenübergestellt und daher mit »lauter« zu übersetzen (vgl. MÜLLER [1969], S. 121). In inst. 11,3,63 wird das Adjektiv für kämpferisches Sprechen empfohlen. »pro fortissimo viro«/»etsi vereor« et »turpe sit« et »timere«: Hier orientiert sich die Stimmgestaltung deutlich an der emotionalen Bedeutung der einzelnen Phrasen (vgl. FANTHAM [1982], S. 255), was nach Quintilian nur manchmal der Fall sein soll (vgl. inst. 11,3,174).

(49) Iam secunda respiratio increscat oportet et naturali quodam conatu, quo minus pavide dicimus quae secuntur, et quod magnitudo animi Milonis ostenditur: »minimeque deceat, cum Titus Annius ipse magis de rei publicae

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salute quam de sua perturbetur.« Deinde quasi obiurgatio sui est: »me ad eius causam parem animi magnitudinem adferre non posse.« (49) Mit dem zweiten Atemzug muss sich die Stimme jetzt steigern, sowohl in einem gleichsam natürlichen Beginnen, wodurch wir die folgenden Wörter weniger ängstlich sagen, als auch weil die Größe von Milos Charakter gezeigt wird: »und dass es sich ganz und gar nicht schickt, da doch Titus Annius selbst mehr um das Heil des Staates als um sein eigenes beunruhigt ist«. Danach folgt sozusagen ein Tadel der eigenen Person: »dass ich die für seine Sache angemessene Geistesgröße nicht aufbringen kann«. secunda respiratio: bezeichnet hier metonymisch den Text bzw. die Worte, die mit dem zweiten Atemzug gesprochen werden (vgl. inst. 11,3,38: altero spiritus initio). Nach der Terminologie der Grammatiker läge hier eine media distinctio vor (vgl. die Ausführungen zu inst. 11,3,35 und R. W. MÜLLER [1964], S. 97). increscat oportet: d. h. kraftvoller und lauter werden. et … et …: die Konstruktion ist nicht konzinn. Es wird ein eher instrumentaler als kausaler Ablativ mit einem kausalen Nebensatz verbunden. naturali quodam conatu: conatus bezeichnet hier den Neuansatz der Stimme nach dem ersten Atemholen, mit dem sich die Befangenheit des Redners von selbst, ganz natürlich, mindert. Vgl. vocis conatus in der Bedeutung »Stimmansatz« in Quint. inst. 1,11,10. »natürlich«, naturalis, ist der Beginn hier genauer in dem Sinne, dass er aus den Umständen auf natürliche Art und Weise hervorgeht (zu dieser Bedeutung vgl. OLD, s. v. naturalis 7b und z. B. Quint. inst. 4,1,9). quasi obiurgatio sui: Statt einer konkreten Stimmanweisung soll die Angabe des Sinns bzw. Ziels der Aussage die entsprechende natürliche Stimmgestaltung andeuten. (50) tum invidiosiora: »tamen haec novi iudicii nova forma terret oculos.« Illa vero iam paene apertis, ut aiunt, tibiis: »qui, quocumque inciderunt, consuetudinem fori et pristinum morem iudiciorum requirunt.« Nam sequens latum etiam atque fusum est: »non enim corona consessus vester cinctus est, ut solebat.« (50) Die folgenden Worte dann so, dass sie mehr Unmut erzeugen: »Dennoch erschreckt diese neuartige Form des neuartigen Gerichtes meine

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Augen«. Diese Worte aber schon beinahe – wie man sagt – mit unbedeckten Grifflöchern: »die, wohin ihr Blick auch trifft, nach der gewohnten Einrichtung des Gerichts und der alten Art der Prozesse suchen«. Denn das Folgende ist dann sogar breit und sich ergießend: »eure Versammlung ist nämlich nicht von Zuschauern umringt, wie das früher der Fall zu sein pflegte«. invidiosiora: Das Adjektiv invidiosus kommt in rhetorischem bzw. forensischem Zusammenhang häufig vor (vgl. ThlL, s. v. invidiosus S. 208,11 ff.). Es bezeichnet Wörter o. Ä., die vom Redner mit dem Ziel vorgebracht werden, in seinen Zuhörern das Gefühl von invidia (Missgunst, Unmut, Entrüstung) gegenüber dem Gegner hervorzurufen, also Stimmung gegen den Gegner zu machen. Vgl. Quint. inst. 6,2,21 über die zwei Formen von invidia: altera invidum, altera invidiosum facit. Falsch ist daher die Übersetzung von MÜLLER (1969), S. 121: »Darauf die vorwurfsvollen Worte an die Zuhörer«. Zum Erzeugen von invidia empfiehlt Quintilian in inst. 11,3,63 eine langsamere Stimme. Hier setzt er voraus, dass seine Leser wissen, wie eine Stimme, die Missgunst hervorrufen will, klingt. Er beschreibt sie nämlich nicht weiter in den Kategorien, die er vorher eingeführt hat. haec novi iudicii nova forma: Pompeius, der consul sine collega, hatte in Sondergesetzen (zur lex de vi und lex de ambitu vgl. ROTONDI [1912], S. 410 f.) für diesen Prozess das Verfahren festgelegt. Dagegen macht Cicero versteckt Stimmung (invidia). apertis, ut aiunt, tibiis: Das ut aiunt deutet an, dass Quintilian hier ein Sprichwort verwendet. Das iam paene verweist darauf, dass es sich um eine Vorstufe des folgenden breit dahinströmenden Vortrags (latum etiam atque fusum) handelt. apertis bezieht sich auf die unbedeckten Grifflöcher der tibiae (genauer: apertis foraminibus tibiae wie in inst. 11,3,20). Die Luft kann also frei strömen. OTTO (1890), S. 348 erklärt die Redewendung daher als »mit offenen Löchern der Flöten, d. h. mit lauter Stimme, mit aller Anstrengung«. ERASMUS (1553), S. 88 denkt an Lautstärke (Einordnung unter clamosus), Deutlichkeit (clariore voce) und Tonhöhe (acriore sonitu). Ähnlich ist unsere Formulierung »mit vollen Registern«. Das Sprichwort bezieht sich nicht auf die inhaltliche Aussage (wie WILLE [1967], S. 495 glaubt: »kein Blatt vor den Mund nehmen« oder »große Töne von sich geben«). In eine ähnliche Richtung zielt Soph. fr. 768 (Radt), vgl. schon SPALDING (1816) z. St.: φυσᾷ γὰρ οὐ σμικροῖσιν αὐλίσκοις ἔτι,/ ἀλλ᾽ ἀγρίαις φύσαισι φορβειᾶς ἄτερ. Hier wird wildes Blasen in kleine Flöten (vgl. zu den Redewendungen um »kleine Flöten« und »große Flöten« mit HÄUSSLER [1968], S. 289 auch Cass. Dio 64,7,1 sowie Suet. Otho 7 und IMMISCH [1893];

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um die Länge der Flöte geht es bei Quintilian aber nicht) in Zusammenhang gebracht mit der Entfernung der φορβειά, des ledernen Mundstücks, das den Ton der Flöte mäßigte. Das ist allerdings etwas anderes als das Öffnen der Grifflöcher. latum etiam atque fusum: Das Hendiadyoin bezeichnet eine breit dahinströmende Stimme. Vgl. die vox fusa in inst. 11,3,15.

(51) Quod notavi ut appareret non solum in membris causae sed etiam in articulis esse aliquam pronuntiandi varietatem, sine qua nihil neque maius neque minus est. (51) Dies habe ich angemerkt, damit deutlich wird, dass es nicht nur in den großen Gliedern einer Rede, sondern auch in ihren kleinen Gelenken eine gewisse Abwechslung des Vortragens gibt, ohne die nichts mehr oder weniger bedeutend ist. non solum in membris causae sed etiam in articulis: Für causa in der Bedeutung von »Rede« vgl. ThlL, s. v. causa S. 689,12 ff. Die Gestaltung der Rede und des Vortrags betrifft nicht nur die großen, sondern auch die kleinen Teile, was Quintilian betont (vgl. die Anweisungen zur oratio distincta). Um dies zu verdeutlichen, verwendet Quintilian allgemeine Metaphern vom Körper: membra sind Glieder des Körpers, articuli sind dessen kleinere Glieder (vgl. ThlL, s. v. articulus S. 693,23 ff.). Hier ist keine rhetorischgrammatische Terminologie verwendet (falsche Einordnung im ThlL, s. v. articulus S. 694,58 f. und s. v. membrum S. 644,77), nach der mit membra Kola und mit articuli Kommata gemeint sein könnten (vgl. zur Terminologie von membrum = Kolon Quint. inst. 9,4,122; zu articulus vgl. ThlL, s. v. articulus, S. 694,45 ff.). Denn Quintilian hat seine Ausführungen nicht speziell an Kola und Kommata gezeigt. neque maius neque minus: Die varietas dient der Hervorbringung von Großem und Kleinen und somit der Akzentuierung.

Überanstrengung und richtige Geschwindigkeit (11,3,51–52)

Vox autem ultra vires urgenda non est: nam et suffocata saepe et maiore nisu minus clara est, et interim elisa in illum sonum erumpit cui Graeci nomen a gallorum inmaturo cantu dederunt. (52) Nec volubilitate nimia confundenda quae dicimus, qua et distinctio perit et adfectus, et nonnumquam etiam verba

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aliqua sui parte fraudantur. cui contrarium est vitium nimiae tarditatis: nam et difficultatem inveniendi fatetur et segnitia solvit animos, et, in quo est aliquid temporibus praefinitis, aquam perdit. Promptum sit os, non praeceps, moderatum, non lentum. Die Stimme darf aber nicht über ihre Kräfte hinaus beansprucht werden: denn sie ist (dann) oft erstickt und wegen zu großer Anstrengung weniger deutlich und bricht bisweilen, wenn sie herausgequetscht wurde, in jenen Klang aus, dem die Griechen seinen Namen nach dem unreifen Krähen der Hähne gegeben haben. (52) Auch durch allzu große Geschwindigkeit darf nicht entstellt werden, was wir sagen, wodurch sowohl die Gliederung als auch der Gefühlsausdruck zugrunde geht und manchmal auch einige Wörter eines Stückes von sich beraubt werden. Das Gegenteil von diesem Fehler ist der der allzu großen Langsamkeit: denn sie zeigt die Schwierigkeit beim Auffinden der Gedanken, verliert aufgrund der Trägheit die Aufmerksamkeit der Zuhörer, und – auch das ist von einiger Bedeutung, wenn die Redezeiten begrenzt sind – verschwendet das Wasser der Uhr. Flink sei der mündliche Vortrag, aber nicht überstürzt, ruhig, aber nicht zähfließend. ultra vires: Der Auctor ad Herennium behandelt das Thema ausführlich unter dem Stichwort firmitudo vocis in Rhet. Her. 3,12,21–22 (vgl. Kapitel 4.1.3). suffocata: suffocata B : sufocat b : suffocatur ed. Campanus (1470), Spalding Das Verb suffocare heißt »ersticken, erwürgen« und kommt bei Quintilian nur an dieser Stelle vor. Das hier verwendete Adjektiv-Partizip ist durch et … et … mit minus clara verbunden. Beide beschreiben den Zustand der Stimme nach zu großer Beanspruchung. Die erstickte Stimme, vox suffocata, kennt auch Isidor (orig. 3,20,13), vgl. Kapitel 2.4.2. maiore nisu: nisus bezeichnet »Anspannung, Anstrengung, Druck« (vgl. OLD, s. v. nisus 2a-c), hier die Anspannung der Stimme (ähnlich der intentio vocis). Vgl. ebenfalls im Zusammenhang mit der Stimme: Petron. 9,7 (maiore nisu clamavit) und Plin. paneg. 75,4 (qua contentione, quo nisu, quibus clamoribus expostulatum est …). elisa: elidere wird in der Bedeutung »von sich geben, ausstoßen« auch über Töne, Geräusche und Stimmen gesagt, vgl. OLD, s. v. elido 3b und ThlL S. 371,6 ff. und 371,9 ff. sowie Sen. Oed. 734 (über den Ton der Trompete), Plin. nat. 11,269 (über das dem Niesen ähnliche Geräusch, das der Elefant von sich gibt), Plin. nat. 11,173 (über den ululatus, das Quaken der Frösche), Plin. nat. 10,108 (über den strepitus, den die Tauben mit ihren Flügeln erzeugen).

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An den Stellen, bei denen eine menschliche vox ausgestoßen wird, ist einmal eine Stimme gemeint, die erstickt wird (vgl. OLD, s. v. elido 1d und gerade hier in inst. 11,3,51 suffocatur), vgl. Sen. contr. 1,1,8: summissa et tenui atque elisa ieiunio voce, ut vix exaudiri posset. Ein anderes Mal (Sen. epist. 24,14) werden schmerzlich klingende Stimmen während der Folter ausgestoßen (vocum inter lacerationem elisarum acerbitatem). An einer dritten Stelle (Sil. 1,531–532) wird ein Geräusch unter Keuchen und Anstrengung hervorgebracht (nisuque elisus anhelo/ auditur gemitus). Dabei ist neben der Anstrengung auch mangelnde Kontrolle über die geäußerte Stimme festzustellen. elidere vocem heißt demnach »die Stimme unter einer bestimmten Anstrengung (ohne Kontrolle über sie zu haben) herausstoßen«. Gemeint ist hier also, dass eine Stimme angestrengt und erzwungen herausgequetscht wird und dann in einen krächzenden Ton mündet (vgl. MÜLLER [1969], S. 119: »eine durch Überanstrengung völlig geschwächte und infolgedessen nur noch stoßweise hervorbrechende Stimme«). Der vorherige Gedanke (maiore nisu) wird fortgeführt und offenbar gesteigert. illum sonum: Gemeint ist eine hohe, schrille, krächzende, schreiende Stimme. Vgl. MÜLLER (1969), S. 119. erumpit: erumpere wird hier in der Bedeutung »vertere in, fieri« (vgl. ThlL, s. v. erumpo S. 841,34 ff.) gebraucht. Es setzt aber, wenn man bei der wörtlichen Bedeutung bleibt, auch den Vorgang des elidere fort. Die Stimme wird mühevoll herausgestoßen und umgebrochen. Graeci nomen a gallorum inmaturo cantu: Quintilian hat – soweit die Überlieferung erkennen lässt – auf den griechischen Begriff, an den er denkt, nur angespielt, ihn aber nicht in seinem Text genannt. Zunächst ist zu klären, ob mit den galli Hähne oder die Galli, die Priester der Cybele, gemeint sind. 1. Im Zusammenhang mit den Galli berichten einige Quellen (Lukr. rer. nat. 2,618–620, Cat. 64,261–264, Ov. met. 4,29, Ov. Fast. 4,183) von Musik und Tanz der Cybele-Anhänger. Von lautlichen Äußerungen der Galli selbst (in Cat. 63,11 ist der Gesang von Attis gemeint) erfahren wir nur bei Lukian (Syr. D. 50: ἀείδουσιν ἔνθεα καὶ ἰρὰ ᾄσματα) und Apuleius (Met. 8,27,4: absoni ululatus). Ein eigenes Wort für diesen »Gesang« (cantus) scheint es aber nicht gegeben zu haben. Zudem wäre die Charakterisierung als inmaturus unpassend. 2. Daher sind wahrscheinlich eher Hähne gemeint, wie die Forschung auch grundsätzlich ohne Erwägung der Alternative (Galli) annimmt (vgl. VALLOZZA [2004], S. 192 f.). Dann kann mit dem cantus nur das Krähen der Hähne (zur Unzeit) gemeint sein. Da das Lateinische kein eigenes Wort für

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das Krähen hat, verweist Quintilian hier auf das Griechische. Aber auch dabei gibt es wiederum zwei Möglichkeiten. Entweder meint Quintilian das Krähen der Hähne allgemein, wobei inmaturus bedeuten würde, dass jedes (weckende) Krähen der Hähne als zu früh empfunden wird – was dann wohl mit leichter Ironie gesagt würde. Oder Quintilian meint speziell metonymisch das Krähen von jungen Hähnen. Es scheint aber weniger wahrscheinlich, dass es ein eigenes Wort für das Krähen junger Hähne gegeben hat, als dass Quintilian hier das Krähen als grundsätzlich zu früh bezeichnet. Somit bleiben drei (bzw. vier) Vorschläge übrig, an welches Wort Quintilian gedacht haben könnte: a) Nach SPALDING (1816) z. St. ist κλωσμός (= κλωγμός) (im Akkusativ) in einige Manuskripte in den Text nach Graeci nomen eingefügt. Dort scheint es als ursprüngliche Glosse hingelangt zu sein. κλωσμός bezeichnet verschiedene Laute des Glucksens, u. a. das Glucksen der Hennen (vgl. Plut. mor. 129A: κλωσμοῖς ἀλεκτορίδων) und damit ein anderes Geräusch als das offenbar hier gemeinte (vgl. SPALDING [1816] z. St. und MÜLLER [1969], S. 119). b) RUSSELL (2001), S. 110 denkt an κρωγμός, das Krähen, v. a. das Krächzen bzw. heisere Schreien von Vögeln (dafür 21 Belege). Vgl. Jul. Mis. 337c: τοῖς κρωγμοῖς τῶν τραχὺ βοώντων ὀρνίθων, Anth. Pal. 7.713 (Antip.) über den Gesang des Schwans (κύκνου κρωγμός). Da dieser Begriff immerhin auf verschiedene Vogelarten angewendet werden kann und etwas Krächzendes, Heiseres zum Ausdruck bringt, was der überanstrengten menschlichen Stimme nahe kommt, ist er nicht ganz auszuschließen. c) BUTLER vermutet κοκκυσμός (insgesamt vier Belege), was den Ton des Kuckucks (vgl. dt. »kikeriki«, engl. »cock-a-doodle-doo«, frz. »cocorico«) und einer sehr hohen (schreienden) Stimme bezeichnet, vgl. dafür bei dem Mathematiker Nicomachus Gerasenus (etwa 50 Jahre nach Quintilian): Nicom. Harm. 11,1 und Nicom. Exc.4. Der Vorschlag gilt RUSSELL (2001), S. 110 (trotz seines eigenen Vorschlags κρωγμός), ZICARI (1968), S. 110 und MÜLLER (1969), S. 120 als der beste. Zwar trifft weder das Kuckucksgeräusch noch die hohe menschliche Stimme das, was hier gemeint ist, es kann aber durchaus Zufall sein, dass κοκκυσμός in der Bedeutung »das Krähen« nicht belegt ist. Immerhin ist nämlich das Verbum κοκκύζειν häufig belegt. Wahrscheinlich denkt Quintilian hier an dieses Verb (zu nomen zur Bezeichnung eines Verbums bei Quintilian vgl. inst. 9,3,80). volubilitate nimia/nimiae tarditatis: Die gleiche Anweisung, Extreme in der Sprechgeschwindigkeit zu vermeiden, findet sich (allerdings mit anderer Absicht) bei Sen. epist. 40,3: Aeque stillare illum (sc. virum agentem rem magnam) nolo quam currere: nec extendat aures nec obruat.

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Quint. inst. 11,3,14–65

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distinctio perit: Die Gliederung, Einteilung des Gesagten, die durch Pausen verschiedener Länge erfolgt, geht verloren. Vgl. die vitiosa distinctio in Quint. inst. 11,3,39 und die Erläuterungen zu inst. 11,3,47. verba aliqua sui parte fraudantur: Vgl. die Anweisung zur pronuntiatio dilucida, die Wörter ganz auszusprechen und nicht in Teilen zu verschlingen, in Quint. inst. 11,3,33. est aliquid: Nach SPALDING (1816) z. St. Ellipse von momenti wie bspw. in Quint. inst. 9,4,65 (ohne Ellipse z. B. in inst. 9,4,84). Für esse aliquid in dieser Bedeutung »etwas wert sein« vgl. mit STROH (2000), S. 178: ThlL, s. v. aliquis, S. 1614,48 ff. temporibus praefinitis: Für den Milo-Prozess hatte Pompeius in der lex Pompeia de ambitu die Zeit für den Ankläger auf zwei Stunden, die für den Verteidiger auf drei Stunden festgelegt (vgl. Cic. Brut. 324 und Tac. dial. 38,1–2 mit MAYER [2001], S. 206 f. sowie KUNKEL [1963], Sp. 764 und ROTONDI [1912], S. 410 f.). Das Verhältnis 2: 3 findet sich auch bei Plin. epist. 4,9,9 (vgl. SHERWIN-WHITE [1966], S. 167). aquam: Gemeint ist das Wasser der Wasseruhr, der clepsydra (vgl. Quint. inst. 12,6,5). In griechischen und römischen Gerichten wurde damit die Redezeit bestimmt und gemessen (vgl. z. B. Plin. epist. 2,11,14), vgl. mit verschiedenen Wendungen im ThlL, s. v. aqua S. 362,73 ff. sowie die gr. Redewendungen unter LSJ, s. v. ὕδωρ 4, »Redezeit vor Gericht«, z. B. ἐν τῷ ἐμῷ ὕδατι, »in der mir zugestandenen Zeit«. promptum … non praeceps, moderatum non lentum: streng paralleler Aufbau, der in zwei antithetische Glieder zerfällt. Der erste Begriff bezeichnet jeweils die positive Eigenschaft, der zweite die negative Eigenschaft. promptum/non praeceps: Das Adjektiv-Partizip promptus bezeichnet Dinge, die ohne Mühe und ohne Verzögerung geschehen. Es wird häufig für eine flüssige Redeweise (oder Aussprache) verwendet (vgl. ThlL, s. v. promo S. 1883,22 ff. und S. 1889,71 ff. und OLD, s. v. promptus 4c). praeceps mit der Grundbedeutung »kopfüber« heißt im Unterschied dazu »zu schnell«, »übereilt«, »sich überstürzend«, vgl. Cic. Flacc. 48 (celeritate dicendi), Hor. ars 217 (facundia praeceps). In der Physiognomik gilt die zu schnelle Stimme als Zeichen des Unklugen (vgl. Physiogn. 78: Tarda vox inertem, praeceps imprudentem declarat). Ähnlich auf (zu) hohe Geschwindigkeit zu beziehen ist praeruptus in Sen. dial. 3,1,4 (über die Redeweise des Zornigen): parum explanatis vocibus sermo praeruptus (vgl. ThlL, s. v. praerumpo, S. 803,21 f.).

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spiritus (11,3,53–56)

(53) Spiritus quoque nec crebro receptus concidat sententiam nec eo usque trahatur donec deficiat. Nam et deformis est consumpti illius sonus, et respiratio sub aqua diu pressi similis et receptus longior et non oportunus, ut qui fiat non ubi volumus sed ubi necesse est. Quare longiorem dicturis perihodon colligendus est spiritus, ita tamen ut id neque diu neque cum sono faciamus, neque omnino ut manifestum sit: reliquis partibus optime inter iuncturas sermonis revocabitur. (53) Auch soll der Atem weder häufig geholt werden und so den Sinnzusammenhang zerstückeln noch soll er so lange hinausgezogen werden, bis er versagt. Denn der Klang jenes aufgebrauchten Atems ist hässlich und das Atemholen ähnelt dann dem von jemandem, der lange unter Wasser gedrückt war, und das Einatmen dauert zu lange und ist nicht günstig, da es ja nicht da geschieht, wo wir wollen, sondern wo es nötig ist. Daher muss der Atem von denen, die im Begriff sind, eine längere Satzperiode zu sprechen, gesammelt werden, aber so, dass wir das weder zu lange noch mit einem Geräusch tun, und überhaupt so, dass es nicht auffällig ist: bei den übrigen Stellen wird er am besten an den Verbindungsstellen der Rede wieder geholt. nec crebro receptus concidat sententiam: spiritum recipere heißt »Atem holen« (z. B. Quint. inst. 11,3,39.55.110, Plin. nat. 11,266, Sen. nat. 6,24,2). Wenn zu häufig Atem geholt werden muss, ist dieser brevis (so in Quint. inst. 11,3,32) bzw. nicht spatio pertinax (so in Quint. inst. 11,3,40). sententia ist der durch den Text ausgedrückte Sinn. Das Wort heißt bei Quintilian u. a. »Satz als Teil des Textes« (ZUNDEL [1989], S. 89, s. v. sententia, vgl. OLD, s. v. sententia 8), so z. B. in inst. 6,5,1. 9,4,18. 10,5,7, allerdings weniger im grammatikalischen Sinne, als mehr in der Bedeutung von Sinnzusammenhang oder Gedanke (vgl. auch ZUNDEL [1989], S. 89, s. v. sententia, BONNELL [1834], S. 818 f., s. v. sententia III). nec eo usque trahatur donec deficiat: Das ist das dem häufigen Atemholen entgegengesetzte Extrem. Man spricht so lange in einem einzigen Atemzug, bis der Atem ausgeht. Dagegen sprechen die folgenden drei Gründe (et … et … et …). deformis est consumpti illius sonus: Gemeint ist der unschöne Klang der Stimme, wenn man mit aufgebrauchtem, d. h. ausgehendem Atem (illius sc. spiritus) spricht.

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receptus: Für receptus in der Bedeutung »das Einatmen«, also gleichbedeutend mit dem zuvor genannten respiratio, vgl. Quint. inst. 11,3,32. ut qui fiat non ubi volumus sed ubi necesse est: Das Atmen muss aber vom Redner geplant werden. Zum planvollen Atmen vgl. Quint. inst. 11,3,39. neque diu neque cum sono: Wer für eine längere Periode Atem holt, darf das weder zu lange tun noch geräuschvoll (wie z. B. beim gerade erwähnten Nach-Luft-Schnappen eines Ertrinkenden). neque omnino ut manifestum sit: Beide Fehler führen dazu, dass das Atmen auffällt. Ideal ist aber, wenn das tiefe Atemholen vor einer längeren Periode als Kunst im Verborgenen vom Hörer gar nicht wahrgenommen wird. reliquis partibus … inter iuncturas sermonis: In den Partien mit kürzeren Perioden (im Unterschied zur longior periohodos) kann der Atem bequem zwischen den Perioden, an den iuncturae, geholt werden. Vorausgesetzt wird also, dass zumindest diese kürzeren Perioden in der Regel in einem Atemzug gesprochen werden. Zu sermo vgl. die Ausführungen zu inst. 11,3,37. revocabitur: spiritum revocare, »Atem holen«, auch in Plin. nat. 10,81. Übertragen in der Bedeutung »Lebensatem holen, Lebensgeist erneuen« bei Sen. epist. 104,3, Petr. 101,2. (54) Exercendus autem est ut sit quam longissimus: quod Demosthenes ut efficeret scandens in adversum continuabat quam posset plurimos versus. (Idem quo facilius verba ore libero exprimeret, calculos lingua volvens dicere domi solebat.) (54) Der Atem muss aber trainiert werden, damit er möglichst lange durchhält: um das zu erreichen, sagte Demosthenes, während er bergauf lief, möglichst viele Verse am Stück auf. (Derselbe pflegte zu Hause zu sprechen, indem er mit der Zunge Kieselsteine im Mund hin- und herrollte, damit er die Wörter mit leerem Mund um so leichter aussprechen konnte.) quam longissimus: Mit einem möglichst lang anhaltenden Atem ist hier ein Atem gemeint, mit dem man möglichst lange am Stück sprechen kann, wie aus dem folgenden Demosthenes-Beispiel hervorgeht. Demosthenes: Beide Anekdoten über die Stimmübungen des Demosthenes überliefert Plutarch (Dem. 11) nach dem Zeugnis des Demetrios von Phale-

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ron, dem Demosthenes selbst davon erzählt habe. Sie finden sich später u. a. in Cic. de orat. 1,260–261 und Cic. div. 2,96 (über die Aussprache), vgl. Kapitel 2.2.2. Mit dem Verserezitieren beim Ersteigen von Anhöhen werden die Atemlänge und Stimmstärke trainiert (so auch SCHAEFER [1856], S. 299 und BLASS [21893], S. 24). Plutarch (Dem. 11) spricht allgemeiner vom Kräftigen der Stimme: τὴν δὲ φωνὴν ἐν τοῖς δρόμοις γυμνάζεσθαι. Die zweite Anekdote gehört nicht zum Thema spiritus und ist hier wohl assoziativ zum Stichwort Demosthenes aufgeführt. Mit den Steinchen im Mund arbeitete Demosthenes gegen »die Undeutlichkeit der Stimme und das Anstossen bei einzelnen Lauten, insbesondere beim Buchstaben R« (BLASS [21893], S. 23, vgl. SCHAEFER [1856], S. 299; beide im Anschluss an Plut. Dem. 11: Die Methode richte sich gegen τὴν μὲν ἀσάφειαν καὶ τραυλότητα τῆς γλώττης). Eine andere, wenig einleuchtende (vgl. STROH [2009], S. 188) Absicht vermutet LEHMANN (2004), S. 62. calculos lingua volvens dicere: Diese Technik wird schon allein aufgrund der Verschluckungsgefahr in der heutigen Logopädie nicht mehr angewendet.

(55) Est interim et longus et plenus et clarus satis spiritus, non tamen firmae intentionis ideoque tremulus, ut corpora quae aspectu integra nervis parum sustinentur. Id βρασμόν Graeci vocant. sunt qui spiritum cum stridore per raritatem dentium non recipiunt sed resorbent. sunt qui crebro anhelitu et introrsum etiam clare sonante imitentur iumenta onere et iugo laborantia: (56) quod adfectant quoque, tamquam inventionis copia urgeantur maiorque vis eloquentiae ingruat quam quae emitti faucibus possit. (Est aliis concursus oris et cum verbis suis conluctatio.) (55) Bisweilen gibt es einen Atem, der ausreichend langanhaltend, voll und klar ist, doch keine starke Anspannung aufweist und daher zittert, wie Körper, die dem Aussehen nach bei voller Kraft sind, aber zu wenig von Muskeln gestützt werden. Die Griechen nennen das βρασμός. Es gibt Leute, die den Atem mit einem Zischen durch ihre Zahnzwischenräume nicht einholen, sondern einschlürfen. Es gibt Leute, die durch häufiges und beim Lufteinziehen auch deutlich hörbares Atmen Zugtiere nachahmen, die sich mit ihrer Last und dem Joch abmühen: (56) diesen Eindruck erwecken sie auch absichtlich, als ob sie von der Fülle ihrer Gedanken bedrängt würden und deren Gewalt ihre Beredsamkeit zu stark bedrängt, als dass sie aus ihrer Kehle hinausbefördert werden könnte. (Bei anderen gibt es ein Verschließen des Mundes und dessen Ringen mit den eigenen Worten.)

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Est … conluctatio: Quintilian nennt im Folgenden drei Fehler des Atems und einen Fehler der Artikulation, der eigentlich thematisch nicht dazugehört. et longus et plenus et clarus satis: Hier sind die drei Grundbedingungen für den richtigen Atem zusammengefasst: Der Atem muss langanhaltend (zeitliche Komponente: Dauer des Atems), voll (quantitative Komponente: Atemvolumen) und rein (qualitative Komponente, z. B. nicht verschleimt) sein. plenus gibt es mit Bezug auf spiritus nur bei Quintilian. non tamen firmae intentionis ideoque tremulus: Erster Fehler des Atems: Mangelnd kräftiger Atemdruck führt zu einem Zittern im Atem und – so muss man ergänzen – damit in der Stimme. Die Stimme eines alten Mannes ahmt man mit einer tremula vox nach (Quint. inst. 11,3,91). Aus antikmedizinischer Sicht muss der Atem unter Spannung gesetzt werden, um aus ihm die Stimme erzeugen zu können, vgl. z. B. Sen. nat. 2,6,3 (quid enim est vox nisi intentio aeris?) und v. a. Galen über den τόνος der Atemluft (vgl. Kapitel 2.1.5). Vgl. spiritus intentio in Quint. inst. 11,3,45: Die Spannung des Atems darf nicht immer die gleiche sein, sonst wirkt der Vortrag monoton. ut corpora quae aspectu integra nervis parum sustinentur: vgl. den Vergleich mit corpora in Quint. inst. 11,3,26. βρασμόν: βραμον B : βράγχον P : βρασμόν Butler (vgl. VALLOZZA [2004], S. 193) Alle Manuskripte außer P überliefern βραμον, was ohne Bedeutung ist. Nur in Lorenzo Vallas Handschrift P aus dem 15. Jh. ist βράγχον überliefert, »Heiserkeit« (vgl. z. B. Thuk. 2.49, Arist. probl. 860a30). Dabei handelt es sich vermutlich um eine Konjektur, evtl. von Valla selbst (vgl. ZICARI [1969], S. 86 und FANTHAM [1982], S. 258, Anm. 44). Quintilian beschreibt hier aber eine bestimmte Art des Atems, nicht der Stimme. Butler konjiziert daher βρασμόν, was von βράσσειν (»schütteln«, »erschüttern«) abgeleitet wird und in den Handschriften leicht zu βραμον werden konnte. Es bezeichnet u. a. (vgl. LSJ, s. v. βρασμός) häufig die Bewegung und Erschütterung der Erde, aber auch das Zittern des Körpers wie bei einer Erkältung (vgl. z. B. Sor. 1,80, Aret. SD 2,3, vgl. VALLOZZA [2000], S. 228). Für das Zittern des Atems (oder der Stimme) gibt es sonst keinen Beleg. Immerhin mit Bezug des Zitterns auf Luft: Hippolytos (3. Jh. n. Chr.) über die heftige Bewegung des Windes (ὁ ἄνεμος ἐν βρασμῷ [andere Lesart: βρόμῳ] καὶ ταράχῳ ἐπεγείρας κύματα) in seiner Refutatio omnium haeresium (Hippol. Haer. 5,19,16). Vgl. auch Theodoros Ducas Lascaris (13. Jh.): νότοι ὄμβρους τε καὶ βρασμοὺς τῷ ἀέρι καὶ τῇ ψυχῇ μοῦ

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ποιοῦντες ὑλικούς τε καὶ νοητούς (Brief 184, Z.7, ed. FESTA) – »Winde, die Regen und Erschütterungen in der Luft und in meiner Seele erzeugen, sowohl körperlich als auch geistig wahrnehmbar«. cum stridore: Zweiter Fehler des Atems: stridor ist ein zischendes, saugendes Geräusch wie das des Windes oder der Schlange. Hier ist es das Geräusch, das entsteht, wenn man Luft durch die Zahnzwischenräume einsaugt. per raritatem dentium: Gemeint sind die Zwischenräume zwischen den Zähnen, durch die der Redner den Atem einsaugt. Mit der gleichen Wortwahl erklärt Pseudoacro die Harke, bei der die einzelnen Zinken weit auseinanderstehen. Zu ligonibus duris in Hor. epod. 5,30 erläutert er: rastris; dicti autem rastri a raritate dentium (ed. KELLER [1902], S. 398). sunt qui/sunt qui: Der erste sunt qui-Satz steht mit Indikativ, der zweite mit Konjunktiv. Ein Bedeutungsunterschied ist dabei nicht zu erkennen. Vgl. weitere Bespiele für sunt qui mit Indikativ oder Konjunkiv bei BONNELL (1834), S. 870, s. v. sum IV) α) und β). crebro anhelitu: Dritter Fehler des Atems: Gemeint ist häufiges, (allzu) starkes Atmen (vgl. ThlL, s. v. anhelitus S. 65,47 ff.), ohne dass dabei zunächst zwischen Ein- und Ausatmen unterschieden würde (ebenso in inst. 2,12,9). Nach Sen. nat. 6,14,2 (suspiria atque anhelitus laborantis ac fessi signa sunt) und Cic. off. 1,131 ist es ein Zeichen für Erschöpfung. Bei Quintilian verwenden es Redner, die von Gedankengewalt bedrängt erscheinen wollen. introrsum: Das Adverb gibt zumeist wie hier die Richtung (vgl. ThlL, s. v. introrsum S. 82,84 ff.) an, kann aber auch den Ort bezeichnen (vgl. ThlL S. 84,56 ff.). Quintilian verwendet es nur an dieser Stelle und bezeichnet damit (wie in Amm. Marc. 14,6,25: fragosis naribus introrsum reducto spiritu) die »Richtung« des Atmens. Gemeint ist also, dass beim beschriebenen häufigen Atmen (nicht nur aus Ausatmen, was naheliegend ist, sondern auch) das Einatmen geräuschvoll ist. quod adfectant quoque: Gemeint ist das betonte, geräuschvolle, nachhallende Atmen, das Redner absichtlich anwenden. tamquam inventionis copia urgeantur: Die Redner geben vor (vgl. ThlL, s. v. affecto S. 1184,6 ff.), von einer Fülle an Gedanken bedrängt zu werden. inventio steht hier nicht für den Vorgang des Auffindens von Gedanken,

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sondern für das bereits Gefundene, die Gedanken selbst (vgl. ThlL, s. v. inventio S. 153,77 ff. und v. a. S. 156,6 ff.). concursus oris et cum verbis suis conluctatio: os concurrit heißt »der Mund schließt sich«, »nicht sprechen«, z. B. in Quint. inst. 10,7,8 (wegen mangelnder Übung, bei der Stegreifrede), in Sen. benef. 2,1,3 (homini probo ad rogandum os concurrat) und Sen. dial. 5(= de ira 3),15,1 (non defuerunt misero verba, non os concurrit). Der Mund des Redners schließt sich und kämpft mit den Wörtern, die er eigentlich hervorbringen sollte, hat also Probleme mit der Artikulation. Dies ist allerdings kein Fehler des Atems mehr. Ähnlich wie bei Demosthenes in der Passage zuvor (inst. 11,3,54) und vielleicht angeregt durch die dort zusätzlich genannte Anekdote um die Kieselsteine, die ebenfalls die Artikulation betrifft, reiht er diesen Fehler eher assoziativ an, bevor er zu den weiteren Fehlern im Zusammenhang mit der Stimme kommt.

Fehler im Zusammenhang mit der Stimme (11,3,56)

Iam tussire et exspuere crebro et ab imo pulmone pituitam〈tamquam〉trochleis adducere et oris umore proximos spargere et maiorem partem spiritus in loquendo per nares effundere, etiam si non utique vocis sunt vitia, quia tamen propter vocem accidunt potissimum huic loco subiciantur. Ferner zu husten, häufig zu spucken, tief aus der Lunge wie mit Winden den Schleim heraufzuziehen, die Personen in der direkten Nähe mit der Flüssigkeit aus dem Mund zu bespritzen und den größeren Teil des Atems beim Sprechen durch die Nase auszustoßen: auch wenn das nicht allemal Fehler der Stimme sind, sollen sie doch am besten zu diesem Punkt zusätzlich erwähnt werden, weil sie ja doch wegen der Stimme auftreten. pituitam: zähe Feuchtigkeit, Schleim als natürliche Körperflüssigkeit des Menschen (vgl. ThlL, s. v. pituita S. 2227,24 ff.), hier in der Lunge befindlich. Über pituita in Kopf, Rachen, Lunge und Nase vgl. Cels. 4,5,1. 〈tamquam〉trochleis: Quintilian vergleicht den Vorgang, bei dem mit einer

trochlea, einer Winde (bzw. einem Flaschenzug, vgl. Lucr. 4,905 und Vitr. 9,8,3. 10,2,1), Lasten in die Höhe gezogen werden, mit dem Vorgang, bei dem Leute Schleim aus der Lunge bis in den Mund hinaufziehen. Der Vergleichspunkt ist einerseits die Beförderung über eine längere, vertikale Distanz, andererseits das Geräusch dabei, das man sich als knarrendes, dem Schnarchen ähnliches Geräusch vorzustellen hat (nicht aber als Räuspern,

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wie ZICARI [1969], S. 87 vermutet). Quintilian dürfte diesen Vergleich sprachlich markiert haben. SPALDING (1816) z. St. schlägt daher〈velut〉trochleis vor. velut übernimmt diese Funktion (vgl. BONNELL [1834], S. 940, s. v. velut II: »in translate aut per similitudinem dictis«) sehr häufig bei Quintilian, vgl. z. B. inst. 11,3,29.40.63. Ein einfaches ut übernimmt sie nicht (vgl. BONNELL [1834], S. 923–927, s. v. ut). COURTNEY (2003), S. 363 bevorzugt 〈tamquam〉trochleis, da die Textverderbnis dann leichter durch das Homoioteleuton pituitam tamquam erklärt werden könne. maiorem partem spiritus in loquendo per nares effundere: Den größeren Teil des Atems beim Sprechen durch die Nase (statt durch den Mund) ausströmen zu lassen, bedeutet zu näseln, durch die Nase zu sprechen. Zum aus der Nase entweichenden Atem vgl. Quint. inst. 11,3,16. Zum Näseln vgl. GLEASON (1995), S. 82 f. Eine Sensibilität für den durch erhöhte Nasenresonanz erzeugten Ton beweisen zwei unterschiedliche Zeugnisse: Bei Pers. 1,33 wird durch die Nase zu sprechen (balba de nare locutus) assoziiert mit gezierter Aussprache und künstlicher Vornehmheit (vgl. KISSEL [1990], S. 158 f.). In Physiogn. 78 gilt es als Zeichen der Lügner, der Missgünstigen, der Neider und Schadenfreudigen: Quorum vox incurrit in nares, ita ut resonent nares, mendaces, malivoli, invidi, gaudentes malis alienis sunt.

Singen (11,3,57–60)

(57) Sed quodcumque ex his vitium magis tulerim quam, quo nunc maxime laboratur in causis omnibus scholisque, cantandi, quod inutilius sit an foedius nescio. Quid enim minus oratori convenit quam modulatio scaenica et nonnumquam ebriorum aut comisantium licentiae similis? (57) Aber jeden von diesen Fehlern könnte ich besser ertragen als denjenigen, an dem man heutzutage in allen Prozessen und Schulen am meisten leidet: das Singen. Ob das nutzloser oder hässlicher ist, weiß ich nicht. Was nämlich passt weniger zum Redner als ein Modulieren der Stimme, wie es auf die Bühne gehört und manchmal der Zügellosigkeit von Betrunkenen oder von nach Weingenuss Umherziehenden ähnelt? nunc: Quintilian übt Kritik an der gesamten zeitgenössischen Beredsamkeit und zwar sowohl an der praktischen (in causis) als auch an der Deklamationspraxis der Schulen (scholisque). Quintilians Schrift De causis corruptae eloquentiae, die sich ausführlicher mit diesem Thema befasst hat (vgl. inst. 6 prooem. 3), ist verloren.

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vitium … cantandi: Die späte Nennung von cantandi hält die Leser in gespannter Erwartung dessen, was für Quintilian der schlimmste Fehler der zeitgenössischen Rhetorik ist: das Singen beim Vortrag (vgl. Kapitel 5.2.4). Es habe weder praktischen Nutzen (inutilius) noch ästhetische Vorzüge (foedius). Seine weite Verbreitung hat Quintilian bereits an anderer Stelle (inst. 11,1,56: cantare quod vitium pervasit) betont. Auch bei der Behandlung der Dichterlektüre (lectio) beim Grammatiker in inst. 1,8,2 hatte Quintilian das zeitgenössische (ut nunc a plerisque fit) Modulieren (plasmate) kritisiert (vgl. Kapitel 2.4.1). Ganz allgemein und über Grammatik und Rhetorik hinausgehend wirft Seneca d. Ä. der zeitgenössischen, verweiblichten Jugend insgesamt vor, ein schändliches Interesse für Gesang und Tanz zu besitzen (Sen. contr. 1 praef. 8: cantandi saltandique obscena studia effeminatos tenent). Gegen das Singen beim rednerischen Vortrag wendet sich auch Cicero im Orator, der es dort in engen Zusammenhang mit Rednern aus Teilen Kleinasiens bringt (vgl. Kapitel 3.2.2). Später folgt Iulius Victor (rhet. 24 p. 443,15, vgl. Kapitel 3.3.2) Cicero explizit und referiert dessen Aussagen aus dem Orator. Hieronymus lehnt in seinen Commentarii in Osee prophetam ebenfalls das in narrationibus atque epilogis Asiatico more cantare ab (Hier. in Os. 1,2 p.29, ed. ADRIAEN [1969]). Weitere Kritik am Gesang in der Rhetorik üben Seneca, Plinius d. J. und Tacitus. Seneca stellt die Nähe der zeitgenössischen corrupti generis oratio zum Lied fest (in morem cantici ducta) und führt die schlechte Redeweise auf ein schlechtes Leben zurück (Sen. epist. 114,1). Plinius schämt sich zu berichten von der verkommenen Art der Redekunst, von den Gesängen (cantica) der zeitgenössischen Redner, die mit Modulation (fracta pronuntiatione) vorgetragen werden und wie Geheul (ululatus) klingen (Plin. epist. 2,14,12–13). In Tac. dial. 26,1–3, einer nicht leicht verständlichen Partie, kritisiert Messalla die Nähe der zeitgenössischen Redekunst zu Gesang, Tanz und Theater. Sehr viele Redner rühmten sich angeblich damit, dass ihre Modellreden (zu dieser Bedeutung »model speeches« von commentarii vgl. MAYER [2001] z. St. und S. 164 im Anschluss an REITZENSTEIN [1915], S. 216, Anm.) – wohl aufgrund der stark musikalisch-theatralischen Melodie und Rhythmik – von ihren Schülern (so u. a. die Annahme von WILLE [1967], S. 472) gesungen und getanzt (plerique iactant cantari saltarique commentarios suos) werden, d. h. dass der stimmliche Vortrag dem Gesang, der gestische Vortrag dem Tanz ähnelte (vgl. ebd.). In diesem Zusammenhang werden (von ZICARI [1969], S. 89 f. und RUSSELL [2001], S. 112) noch weitere Stellen genannt, die bei genauerer Betrachtung aber nicht hierher gehören: Sen. suas. 2,10 spricht zwar von moduliertem Vortrag (inclinatione vocis; modulatione), aber in einer neutralen Beschreibung. Auch Sen. contr. 2,1,26 gibt die Beschreibung einer Sprechweise (paene cantantis modo) ohne allgemeine Kritik.

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Kommentar zu den beiden Hauptquellen

modulatio scaenica: modulatio an sich ist das Modulieren der Stimme, das Erzeugen einer Melodie (vgl. ThlL, s. v. modulatio S. 1244,26 ff. und OLD 1), vgl. modulatio in Quint. inst. 1,10,16.24. Die modulatio zielt auf die Affekterregung (Quint. inst. 1,10,25). Der Begriff kann sich aber auch nur auf den Rhythmus beziehen (in Quint. inst. 1,6,2. 1,10,22). Mit der modulatio scaenica, der Stimmführung, wie sie auf der Bühne vorkommt, sind offenbar die cantica gemeint. Erlaubt sind dem Redner aber nur die vocis declinationes (vgl. Quint. inst. 11,3,46), die inclinationes (Quint. inst. 11,3,168) und die flexus (vgl. Quint. inst. 11,3,25.60), vgl. MÜLLER (1969), S. 118. ebriorum aut comisantium licentiae similis: comissor (vgl. gr. κωμάζω) heißt »einen κῶμος abhalten« (vgl. LAMER [1922], Sp. 1286). Einen solchen ausgelassenen Umzug veranstalteten junge Männer nach dem convivium/ συμπόσιον (vgl. COPLEY [1956], S. 4). Sie zogen betrunken und lärmend durch die Straßen auf der Suche nach weiterer Unterhaltung (vgl. COPLEY [1956], S. 5 und SCHMITZ [2004], S. 283). Dieser Umzug war von Musik und Gesang, wohl auch von Tanz begleitet (vgl. COPLEY [1956], S. 5 und 15, GRAF [1999], Sp. 706, SCHMITZ [2004], S. 282, vgl. auch PICKARD-CAMBRIDGE [21968], S. 102 f.). Für den Umzug nach dem abendlichen Gelage in der römischen Kaiserzeit vgl. Suet. Dom. 21 (convivabatur frequenter ac large, sed paene raptim, certe non ultra solis occasum nec ut postea comisaretur) und Sen. benef. 6,32,1. Auch das Partizip comissans ist gebräuchlich (vgl. ThlL, s. v. comissor S. 1790,47 ff.), vgl. z. B. Liv. 3,29,5 und Petron. 23,1. Die Verbindung von comissor mit dem betrunkenen Zustand gibt es auch bei Curt. 8,10,18 (temulentos comissantesque).

(58) Quid vero movendis adfectibus contrarium magis quam, cum dolendum irascendum indignandum commiserandum sit, non solum ab his adfectibus, in quos inducendus est iudex, recedere, sed ipsam fori sanctitatem ludorum talarium licentia solvere? Nam Cicero illos ex Lycia et Caria rhetoras paene cantare in epilogis dixit: nos etiam cantandi severiorem paulo modum excessimus. (58) Was ist vollends nachteiliger für die Erregung von Affekten, als, wenn Schmerz, Zorn, Empörung oder Mitleid empfunden werden muss, nicht nur sich von diesen Affekten zu entfernen, in die der Richter versetzt werden muss, sondern sie, die Ehrwürdigkeit sogar des Forums, durch die Freizügigkeit der talarischen Spiele aufzulösen? Denn Cicero sagte, dass jene Rhetoren aus Lykien und Karien in ihren Epilogen beinahe sängen: wir haben sogar das etwas ernsthaftere Maß des Singens überschritten.

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movendis adfectibus: Das erste von Quintilian vorgebrachte Argument gegen das Singen zielt auf dessen negative Einwirkung auf die Affektbeeinflussung. Der Redner kommt von den Affekten ab, die er im Richter hervorrufen will und dazu selbst erst empfinden muss (vgl. Quint. inst. 6,2,26). dolendum, irascendum, indignandum, commiserandum: Der Redner muss diese Affekte in sich selbst und im Zuhörer hervorrufen. Quintilians Formulierung an dieser Stelle lässt unbestimmt, an wen genau zu denken ist. Er erwähnt hier besonders starke Affekte (vgl. für ira und miseratio Quint. inst. 6,2,20). Empörung und Mitleid sind v. a. Affekte für den Schluss der Rede. Das erste richtet sich gegen den Gegner, die Erregung von Mitleid geschieht für den eigenen Mandanten. Dass das Singen nicht zur Gefühlserregung passt und von dieser ablenkt, leuchtet aber nicht wirklich ein. In inst. 11,3,59 gesteht Quintilian zu, dass das Singen noch eher zu großen Kapitalverbrechen passen würde, bei denen auch mit stärkerer Affekterregung gerechnet werden darf. fori sanctitatem: Quintilian denkt hier v. a. an Gerichtsreden (forum), vgl. iudex statt des neutralen auditor. ludorum talarium: talariorum Winterbottom (nach Russell [2001], S. 114) : saltatoriorum Radermacher : theatralium Slothouwer : Lyciorum et Carum Daniel : talium Gesner ludi talares sind nur an dieser einen Stelle überliefert. Das nicht selten vorkommende Adjektiv talaris bedeutet mit Bezug auf ein Gewand »bis zu den Knöcheln reichend, die Knöchel bedeckend«, mit Bezug auf Flügel »an den Knöcheln befindlich« (vgl. OLD, s. v. talaris). Das ähnliche Adjektiv talarius kommt nur in Verbindung mit ludus vor. Seine Bedeutung ist umstritten. Für ludi talarii bzw. ludus talarius gibt es drei Belege: 1. Aus Cic. off. 1,150 erfahren wir, dass es sich beim ludus talarius um ein Gewerbe handelt, das nicht ehrbar ist, weil es den Genüssen dient. Dabei werden in einem Atemzug Salbenhändler und Tänzer und alles, was zum ludus talarius gehört (also offenbar mehrere verschiedene Personen), genannt: minimeque artes eae probandae, quae ministrae sunt voluptatum … adde huc, si placet, unguentarios, saltatores, totumque ludum talarium. 2. Aus Cic. Att. 1,16,3 lässt sich schließen, dass die Versammlung bei einem ludus talarius als unsittlich betrachtet wurde. Cicero schreibt über die bei einem Prozess Anwesenden: non enim umquam turpior in ludo talario consessus fuit: maculosi senatores, nudi equites, tribuni non tam aerati quam, ut appellantur, aerarii. 3. Nach Fronto (p.157,10 v. d.H. bzw. p. 160 N.) wurden die ludi talarii von einem Censor verboten, weil es ihm nach eigener Bekundung schwerfiel, seine Würde (dignitas) zu bewahren, wenn er an ihnen vorbeiging, und

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nicht zu den (bei den ludi talarii also offenbar zu hörenden) Kastagnetten und Zimbeln zu tanzen: laudo Censoris factum, qui ludos talarios prohibuit, quod semet ipsum diceret, quom ea praeteriret, dignitati difficile servire, quin ad modum crotali aut cymbali pedem poneret. Aus diesen drei Stellen ergibt sich kein klares Bild der ludi talarii. Was genau darunter zu verstehen ist, hängt vielmehr entscheidend von der Bedeutung des Adjektivs talarius ab. Es wird vom Großteil der Forscher von talus, »Knöchel«, abgeleitet und ist dann identisch mit talaris. Seltener wird es von talus, »Würfel«, hergeleitet. Im ersten Fall kommt man auf eine niedrige Unterhaltungsform (Tanz/Theater), die in knöchellangen – und daher unmännlichen (vgl. JORY [1995], S. 146 über die Kritik an der tunica talaris) – Gewändern vorgeführt wird. Zu diesem Ergebnis kommen ALTHEIM (1932), SHACKLETON BAILEY (1965), S. 315, GROSS (1975), SUTTON (1984), S. 33, JORY (1995), S. 146–150, V. D. HOUT (1999), S. 371, GARELLI-FRANÇOIS (2000) und OLD, s. v. talarius. Wie bei anderen Theaterarten (z. B. palliata, togata) verleiht das Gewand, das dabei getragen wird, der Gattung den Namen (vgl. JORY [1995], S. 146). Im zweiten Fall denkt man an ein Spielhaus (so DYCK [1996], S. 336 und HAINES’ [21929] Übersetzung der FrontoStelle) und setzt offenbar musikalische Aktivität in diesem Spielhaus voraus. Für die erste Bedeutung, die in der Forschung deutlich bevorzugt wird, spricht die Erwähnung von Tänzern (Cic. off. 1,150) und der Musikbegleitung (bei Fronto). Cic. Att. 1,16,3 bezieht sich dann auf die Zuschauer (vgl. ThlL, s. v. consessus S. 424,71 ff. und OLD 1). Auch die Quintilian-Stelle lässt sich hier gut einordnen, wenn man das zwar nur bei Quintilian, aber einhellig überlieferte ludorum talarium als synonym mit ludorum talariorum akzeptiert. Quintilian beklagt sich also, »daß die singenden Redner aus dem Forum einen Festplatz für talarische Spiele machten« (WILLE [1967], S. 472). Vergleichspunkt zwischen den ludi talarii/talares und dem Gesinge auf dem Forum ist einerseits die Unsittlichkeit von beidem (sie stehen im Widerspruch zu sanctitas [Quint. inst. 11,3, 58] und dignitas [siehe Fronto]), und andererseits wohl der Gesang selbst (vgl. JORY [1995], S. 148) – auch wenn es in der spärlichen Überlieferung keine direkten Zeugnisse für den Gesang bei ludi talarii/talares gibt. Cicero … dixit: Vgl. Cic. orat. 57: hic e Phrygia et Caria rhetorum epilogus paene canticum. Quintilian zitiert wahrscheinlich aus dem Gedächtnis und verwechselt so die kleinasiatischen Landschaften Phrygia und Lycia. nos … excessimus: Mit dem cantandi severiorem paulo modum ist das Maß des Singens gemeint, das Cicero an den kleinasiatischen Rhetoren kritisiert. Quintilian gesteht ihm noch eine gewisse Ernsthaftigkeit zu, es wird auch

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nur als paene cantare charakterisiert. Aber selbst dieses Maß, das die kleinasiatischen Redner immerhin noch eingehalten hatten, ist von den zeitgenössischen Rednern (nos) überschritten worden. (59) Quisquamne, non dico de homicidio sacrilegio parricidio, sed de calculis certe atque rationibus, quisquam denique, ut semel finiam, in lite〈non〉cantat? Quod si omnino recipiendum est, nihil causae est cur non illam vocis modulationem fidibus ac tibiis, immo mehercule, quod est huic deformitati propius, cymbalis adiuvemus. (59) Singt denn irgendjemand – ich spreche nicht von Totschlag, Tempelraub oder Verwandtenmord, sondern allenfalls von Kalkulationen und Rechnungen – singt denn schließlich irgendjemand, um es kurz zu machen, in einem Prozess nicht? Wenn das aber überhaupt gestattet werden soll, gibt es keinen Grund, warum wir jene Modulation der Stimme nicht mit Lyren und Tibien, ja beim Herkules – was dieser Unanständigkeit noch näher steht – mit Zimbeln unterstützen sollten. quisquamne …〈non〉cantat: quisquam steht in rhetorischen Fragen, auf die eine negative Antwort erwartet wird (vgl. KÜHNER/STEGMANN [51976] II,1 §119,3b, S. 638). Quintilian erwartet aber hier eine eindeutig positive Antwort, will darauf hinaus, dass jeder singt. Mit dieser Aussage übertreibt er sicherlich, aber die Wiederholung von quisquam und die Ausdrücke denique und ut semel finiam deuten auf einen rhetorischen Höhepunkt hin (vgl. JONES [1988], S. 568), der zu dieser Übertreibung passt, und das Singen ist für Quintilian eben der schlimmste Fehler der zeitgenössischen Rhetorik. Daher folge ich dem Vorschlag von JONES (1988), S. 568 (der einen katalektischen Dicreticus als Schlussklausel erzeugt):〈non〉cantat. Jones paraphrasiert: »Does anyone, not just in (less inappropriate) serious cases, but actually in trivial ones, does anyone, to sum it all up, in any action not sing?« Beließe man hingegen den überlieferten Text, so müsste man quisquam als verkürzt auffassen für »Welcher Vernünftige?« (daher durchdenkt JONES [1988], S. 568 probeweise die Variante »anyone in his right mind«, verwirft sie aber ebenfalls). de homicidio sacrilegio parricidio: eine Reihe von besonders schlimmen und verabscheuungswürdigen Verbrechen. Hier wäre das Singen nicht ganz so unangebracht (non dico) wie bei den folgenden Prozessbeispielen. certe: Das Adverb ist hier einschränkend zu verstehen (vgl. KÜHNER/STEG5 MANN [ 1976] II,1 §114, S. 801). Selbst wenn man das Singen in Prozessen

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von besonders schlimmen Verbrechen zugesteht, so doch aber nicht in denen von geringem Gewicht. ut semel finiam: in der Bedeutung »um endlich (vgl. BONNELL [1834], S. 814, s. v. semel δ: »i. q. tandem«) zum Schluss zu kommen/um es kurz zu machen« am Ende eines Gedankens auch in inst. 1,12,6. 5,13,3. 8,3,55. 9,4,138. de calculis … atque rationibus: Gemeint sind im Gegensatz zu den zuvor genannten Verbrechen Prozessthemen von geringerem, rein finanziellem Gewicht. Für derartige Fälle (causae paucorum calculorum) empfiehlt sich eine reine, einfache Redeweise ohne auffällige Sorgfalt (Quint. inst. 8,3,14). calculi sind die Rechensteinchen auf dem Rechenbrett. Von dieser Bedeutung ausgehend wird der Begriff auch metonymisch gebraucht (z. B. Rechnung, Berechnung, Abrechnung) und kann insbesondere mit ratio gleichbedeutend sein (vgl. ThlL, s. v. calculus S. 143,4 ff. und OLD 3). Die genaue Bedeutung ist dann im Einzelfall oft schwer zu fassen, vgl. Quint. inst. 7,4,35: in quo iudicio (sc. tutelae) solet quaeri, an alia de re quam de calculis cognosci oporteat (RUSSELL [2001]: »the accounts«, RAHN [31995]: »Rechnungsführung«), Quint. inst. 8,3,14: privatum consilium causasque paucorum, ut frequenter accidit, calculorum purus sermo … decuerit (RUSSELL [2001]: »money«, RAHN [31995]: »Geld«), Quint. inst. 12,11,18: adice tot genera ludendi et insanam corporis curam … calculorum anxiam sollicitudinem (RUSSELL [2001]: »accounts«, RAHN [31995]: »Rechnungsbücher«, SPALDING [1816] z. St.: Vermögen). Auch nach Iulius Victor gehören an dieser Stelle calculis und rationibus eng zusammen, wie seine Paraphrase zeigt: de calculi ratione et ceteris quaestionibus loquens (Iul. Vict. rhet. 24 p. 443,12). In Colum. 5,1,3 (inposito calculo perfecti operis rationem conputant) sowie in Cic. Lael. 58 in übertragenem Sinn (hoc quidem est … ad calculos vocare amicitiam, ut par sit ratio acceptorum et datorum) bezeichnet calculus eher den Prozess des Abrechnens, die Kalkulation, während ratio mehr die Rechnung als Ergebnis ins Auge fasst (vgl. auch Colum. 1,3,8: ratio calculorum). illam vocis modulationem: vgl. die Ausführungen zu inst. 11,3,57. fidibus ac tibiis: Ein Saiten- und ein Blasinstrument: fides (im Singular oder Plural) bezeichnet die Lyra oder die dieser sehr ähnliche Kithara (vgl. ThlL, s. v. fides S. 692,14 ff.). Zum Rohrblattinstrument tibiae vgl. die Ausführungen zu inst. 11,3,20. Quintilian erwähnt beide Instrumente gemeinsam auch in inst. 1,10,14.20.

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cymbalis: Ein Schlaginstrument: Die Kymbala bestanden aus zwei metallenen Becken, die man gegen einander schlug (vgl. ZAMINER [2000], Sp. 550). Sie wurden v. a. »im Kult, bei Tänzen und Zechgelagen« verwendet (ebd.). Die Kymbala gehörten auch zu den Eunuchenpriestern der Cybele und stehen damit für das unmännliche Verhalten, das Quintilian vermeiden will (vgl. SPALDING [1816] z. St. und RUSSELL [2001], S. 115, Anm. 41). Gegen die verweichlichte Form der zeitgenössischen Musik vgl. auch Quint. inst. 1,10,31. ZICARI (1969), S. 91 vergleicht Plin. epist. 2,14,13: sola cymbala et tympana illis canticis desunt. Mit den cymbala ist also im Vergleich zu fidibus ac tibiis ein noch höheres Maß an Ausgelassenheit und Freizügigkeit zu verbinden.

(60) Facimus tamen hoc libenter: nam nec cuiquam sunt iniucunda quae cantant ipsi, et laboris in hoc quam in agendo minus est. Et sunt quidam qui secundum alia vitae vitia etiam hac ubique audiendi quod aures mulceat voluptate ducantur. Quid ergo? non et Cicero dicit esse aliquem in oratione »cantum obscuriorem« et hoc quodam naturali initio venit? Ostendam non multo post ubi et quatenus recipiendus sit hic flexus et cantus quidem, sed, quod plerique intellegere nolunt, obscurior. (60) Trotzdem machen wir das gern: denn einerseits ist niemandem das unangenehm, was er selbst singt, andererseits steckt darin weniger Anstrengung als im Vortrag. Es gibt auch einige Leute, die in Übereinstimmung mit den anderen Lastern in ihrem Leben auch von dieser Lust geleitet werden, überall zu hören, was die Ohren liebkost. Aber was denn? Sagt nicht auch Cicero, dass es in der Rede eine Art von »ziemlich verborgenem Gesang« gebe und kommt das nicht von einem gleichsam natürlichen Ursprung? Ich werde nicht viel später zeigen, wo und wie stark diese Modulation und dieser Gesang angenommen werden können, der zwar durchaus Gesang ist, aber, was die meisten nicht begreifen wollen, ziemlich verborgener Gesang. libenter: Quintilian nennt zwei Gründe dafür (nec … et …), warum der Redner gerne singt. Erstens gefällt er sich selbst darin und zweitens ist das Singen müheloser als das ordentliche Vortragen. laboris … minus: Zum labor, den die Stimme beim Vortrag bewältigen muss, vgl. Quint. inst. 11,3,26.40.44. Das Singen diene im Unterschied dazu sogar zur Erholung der schlechten und schwachen Stimme (Quint. inst. 11,3,13). Sachlich richtig ist diese Behauptung dann, wenn man von anstrengenden Redepartien z. B. mit vielen lauten Ausrufen ausgeht.

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Kommentar zu den beiden Hauptquellen

in agendo: Gemeint ist der in Quintilians Sinne richtige rhetorische Vortrag, der auf den Gesang verzichtet. quidam qui secundum alia vitae vitia: Die Kritik geht von den Rednern jetzt auf die Zuhörer über, denen die gesungene, weiche Vortragsart gefällt. Quintilian begründet ihren Gefallen daran mit ihrer allgemeinen Lasterhaftigkeit. Ähnlich ist Quint. inst. 1,8,9: Auch in der Art und Weise der Sprache (dicendi quoque ratione) sind die Zeitgenossen (nos) auf die Laster des Luxus (in omnia deliciarum vitia) herabgesunken. Für den Zusammenhang zwischen Lebensart und Redeweise vgl. Sen. epist. 114,1 (talis hominibus fuit oratio qualis vita), und vgl. auch die Untersuchung von HELZLE (1996) über Redner und die ihnen jeweils aufgrund ihres Charakters eigene Redeweise im Epos. Quid ergo: Quintilian führt mit dieser Frage »Was denn?« ein Gegenargument (eines fiktiven Gegners) gegen sich selbst an, um es zu widerlegen. Eine ähnliche Funktion übernimmt quid ergo in Quint. inst. 2,3,7. 2,10,5. 2,21,16. Vgl. ThlL, s. v. ergo S. 764,82 ff. und SEYFFERT (1855), S. 96. Cicero … »cantum obscuriorem«: Cicero behandelt den cantus obscurior in orat. 57 (vgl. Kapitel 3.2.2). Dabei grenzt er den cantus obscurior eindeutig vom Gesang (canticum) ab. Der Vergleich zum Gesang bleibt in der Verwendung des Komparativs obscurior zu erkennen. Cicero definiert den cantus obscurior als vocis flexiones, als Tonhöhenvariationen der Stimme (gleichbedeutend mit Quintilians flexus in diesem Paragraphen), die schon Demosthenes und Aischines verwendet und sich gegenseitig vorgeworfen haben (vgl. dazu Quint. inst. 11,3,168 und die Ausführungen zu non ita magnae vocis declinationes in inst. 11,3,46). Nach Cicero verwendet nur noch Iulius Victor den Begriff cantus obscurior (in abgewandelter Form). Er referiert Cic. orat. 57, wonach beim Vortrag (im Epilog) nur eine gewisse verborgene Tonhöhenvariation (obscuro quodam flexu) nötig sei, was er von moduliertem Gesang (modulata … cantatione) abgrenzt (Iul. Vict. rhet. 24 p. 443,15–19, vgl. Kapitel 3.3.2). naturali initio: deutet auf die Herkunft des cantus obscurior aus der natürlichen, gesprochenen Sprache. Vgl. ausführlich WILLE (1967), S. 473 f. über den cantus obscurior als »melodisches Substrat der gesprochenen Sprache« und auch COUSIN (1979), S. 363. non multo post: Quintilian deutet wohl auf inst. 11,3,172 voraus. Dort nennt er kurze Beispiele für gesangsartige Redepartien aus Cicero-Reden, nämlich aus Phil. 2,25,63 und Mil. 85, v. a. aber Mil. 102 (vgl. dazu das Vortragsexperiment von HALL/BOND [2002], S. 205 f.) und Rab. Post. 46.

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flexus: Variation in der Tonhöhe, vgl. flexus in inst. 11,3,25, das Adjektiv flexus in inst. 11,3,17 und die vox flexibilis in inst. 11,3,15.

Die vierte Tugend: apta pronuntiatio, der angemessene Vortrag (11,3,61–65)

(61) Iam enim tempus est dicendi quae sit apta pronuntiatio: quae certe ea est quae iis de quibus dicimus accommodatur. Quod quidem maxima ex parte praestant ipsi motus animorum, sonatque vox ut feritur: sed cum sint alii veri adfectus, alii ficti et imitati, veri naturaliter erumpunt, ut dolentium irascentium indignantium, sed carent arte ideoque sunt disciplina et ratione formandi. (62) Contra qui effinguntur imitatione, artem habent; sed hi carent natura, ideoque in iis primum est bene adfici et concipere imagines rerum et tamquam veris moveri. (61) Jetzt ist es nämlich Zeit zu sagen, was der angemessene Vortrag ist: das ist sicherlich der Vortrag, der den Dingen, über die wir sprechen, angepasst ist. Das leisten freilich zum größten Teil die Gemütsbewegungen selbst und die Stimme klingt so, wie sie angeschlagen wird. Aber da die einen Gefühle wahrhaftig, die anderen vorgetäuscht und nachgeahmt sind, brechen die wahrhaftigen auf natürliche Art und Weise hervor, wie wenn man Schmerz, Zorn oder Empörung empfindet, sind aber frei von Kunst und müssen daher durch Unterweisung und Methode geformt werden. (62) Dagegen weisen die Gefühle, die durch Nachahmung hervorgebracht werden, Kunstfertigkeit auf; aber ihnen fehlt Natürlichkeit, und daher ist bei ihnen das Wichtigste, sich richtig in Stimmung zu versetzen und sich Bilder von den Dingen vorzustellen und sich von ihnen wie von wahren Dingen ergreifen zu lassen. iam: steht hier im Gegensatz zu non multo post in inst. 11,3,60. apta pronuntiatio: Übergang zur vierten Vortragstugend (vgl. inst. 11,3,30). Die Tugend des aptum (ausführlich behandelt in Quint. inst. 11,1 nach latinitas, perspicuitas und ornatus in Buch 8 bis 10) ist insofern die wichtigste virtus dicendi (und agendi), als sie ein übergeordnetes Regulativ darstellt, an das sich auch die anderen Tugenden halten müssen (vgl. Quint. inst. 11,1,1–2). Hier beschreibt das aptum das richtige Verhältnis zwischen Thema (iis de quibus dicimus) und Vortrag bzw. die korrekte Anpassung des Vortrags an das Thema.

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motus animorum: Bei der Frage, wie die Anpassung von Vortrag an Thema zustande kommt, spielen die Affekte die wichtigste Rolle. Der animus ist der Ort, wo die Gefühle entstehen (vgl. Quint. inst. 1,2,30. 6,2,26). sonatque vox ut feritur: Die Stimme wird von einem Affekt angeschlagen und gibt einen diesem Affekt entsprechenden Klang ab. Dabei wird die Stimme mit einem (Schlag-, Saiten-) Instrument verglichen (vgl. Kapitel 5.2.4). Dass es sich dabei genauer um einen Vergleich mit den Saiten eines Saiteninstruments handelt, legt Cic. de orat. 3,216 nahe: omnesque voces, ut nervi in fidibus, ita sonant, ut a motu animi quoque sunt pulsae. Jeder Affekt (motus animi) hat seinen eigenen Klang, zudem seine eigene Mimik und Gestik (vgl. Cic. de orat. 3,216). adfici: adficere wird sehr häufig mit Bezug auf den animus verwendet (z. B. Quint. inst. 1,2,30. 1,10,25) und dabei auch passivisch und absolut (z. B. Quint. inst. 6,1,26. 11,3,66) gebraucht (vgl. ThlL, s. v. adficio S. 1208,37 ff.). Für adfici in der Bedeutung »sich in eine (heftige) Gefühlsregung versetzen« vgl. Quint. inst. 6,2,14.36. Der Redner muss selbst von den Gefühlen ergriffen sein, die er in anderen hervorrufen will (vgl. Quint. inst. 6,2,26: summa enim, quantum ego quidem sentio, circa movendos adfectus in hoc posita est, ut moveamur ipsi). Er muss sich daher von den Affekten ergreifen lassen, die er im Richter erzeugen will (vgl. Quint. inst. 6,2,28: adficiamurque antequam adficere conemur). Das Gleiche fordert Horaz vom Dichter: si vis me flere, dolendum est/ primum ipsi tibi (ars 102–103). concipere imagines rerum: Gemeint ist, sich Dinge bildhaft im Inneren (im animus) vor Augen zu führen (zur Formulierung vgl. Quint. inst. 1,2,30. 8,3,64). Der Redner benötigt diese Technik, um in sich selbst Ergriffenheit hervorzurufen (vgl. Quint. inst. 6,2,29–31). tamquam veris moveri: Durch die leibhaftige Vorstellung der Dinge werden diese so anschaulich, dass die Gefühlswirkungen so folgen, als wären die Dinge, die man sich nur vorstellt, wahr (vgl. Quint. inst. 6,2,32: et adfectus non aliter, quam si rebus ipsis intersimus, sequentur). Bei der Erzeugung von Mitleid soll man sich z. B. vorstellen, einem selbst sei das zugestoßen, wofür man Mitleid erregen will (vgl. Quint. inst. 6,2,34 und Cic. de orat. 2,195). Sic velut media vox, quem habitum a nostris acceperit, hunc iudicum animis dabit: est enim mentis index ac totidem quot illa mutationes habet. (63) Itaque laetis in rebus plena et simplex et ipsa quodam modo hilaris fluit; at in certamine erecta totis viribus et velut omnibus nervis intenditur. Atrox in ira

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et aspera ac densa et respiratione crebra: neque enim potest esse longus spiritus cum immoderate effunditur. Paulum in invidia facienda lentior, quia non fere ad hanc nisi inferiores confugiunt; at in blandiendo fatendo satisfaciendo rogando lenis et summissa. (64) suadentium et monentium et pollicentium et consolantium gravis: in metu et verecundia contracta, adhortationibus fortis, disputationibus teres, miseratione flexa et flebilis et consulto quasi obscurior; at in egressionibus fusa et securae claritatis, in expositione ac sermonibus recta et inter acutum sonum et gravem media. So wird die Stimme gleichsam wie eine Vermittlerin diese innere Verfasstheit, die sie von unserem Gemüt empfangen hat, an die Gemüter der Richter weitergeben: sie ist nämlich ein Anzeichen der Verfassung der Seele und weist ebenso viele Veränderungsmöglichkeiten wie jene auf. (63) Daher fließt sie bei fröhlichen Themen voll und einfach und von selbst auf eine gewisse Art und Weise heiter; aber bei einem Wortgefecht strengt sie sich mutig mit allen Kräften und gleichsam allen ihren Muskeln an. Schrecklich ist sie im Zorn, rau, dicht gedrängt und mit häufiger Atmung: der Atem kann nämlich nicht langanhaltend sein, wenn er maßlos ausgestoßen wird. Beim Erzeugen von Missgunst ist sie etwas langsamer, weil zu ihr beinahe nur die Unterlegenen Zuflucht nehmen; aber beim Schmeicheln, Gestehen, Genugtun und Bitten ist sie sanft und leise. (64) Die Stimme derer, die zureden, ermahnen, versprechen und trösten, ist tief: bei Furcht und Scheu ist sie beklommen, bei Anfeuerungen kraftvoll, bei Erörterungen geschliffen, im Mitleid modulierend, weinerlich und mit Absicht gleichsam etwas undeutlich; aber bei Exkursen ist sie weit dahinströmend und von unbekümmerter Deutlichkeit, bei der Darstellung und bei Gesprächen auf einer Höhe in der Mitte zwischen hohem und tiefem Ton. habitum: Der habitus, abgeleitet von se habere, bezeichnet eine Zustandsform des animus. Vgl. Quint. inst. 1,10,25. 6,2,1, Sen. epist. 36,6. Plinius d. Ä. z. B. listet als mögliche animi habitus auf: pudor, ira, metus (Plin. nat. 11,224). velut media vox: Die Stimme ist das Bindeglied, die Vermittlerin zwischen Redner und Zuhörer bzw. deren Gefühlen. Für medius in der Bedeutung »Vermittler, Mittelsmann« vgl. Quint. inst. 11,2,3. 12,8,4 und ThlL, s. v. medius S. 590,48 ff. sowie OLD 11. Die vox überträgt den Affekt, der sie hervorgebracht hat, auf den Zuhörer. Der animus des Redners beeinflusst also die vox, die wiederum die animi der Zuhörer beeinflusst (vgl. Cic. orat. 55: animorum, qui maxime voce commoventur). Auch nach Cic. orat. 55 wählt der Redner einen bestimmten Stimmton für die Darstellung seiner Verfasstheit und die Beeinflussung der Gefühle der Zuhörer: itaque ille perfectus, …

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utcumque se affectum videri et animum audientis moveri volet, ita certum vocis admovebit sonum. mentis index ac totidem quot illa mutationes habet: Die Stimme offenbart unsere innere Verfasstheit. Mit mutationes sind nicht näher bestimmte, allgemeine Stimmvariationen (Tonhöhe, Lautstärke, Geschwindigkeit) gemeint (vgl. MÜLLER [1969], S. 117), vgl. auch die mutatio im Rahmen der variatio in Quint. inst. 11,3,44. Es gibt ebenso viele Veränderungen der Stimme wie der inneren Verfasstheit (mens, animus), vgl. Cic. orat. 55: vocis mutationes totidem sunt quot animorum. laetis in rebus: Der Ton der Freude (voluptas) erfordert bei Cic. de orat. 3,219 (vgl. Kapitel 3.2.2) als Stimmart: effusum, lene, tenerum, hilaratum ac remissum. plena: Die vox plena ist eine (klang)volle Stimme. Siehe die Ausführungen zu inst. 11,3,15.41. simplex: »einfach« in Bezug auf Wortschmuck oder Stil heißt »schlicht, ohne Zier, ungekünstelt« (vgl. OLD, s. v. simplex 7 und z. B. Quint. inst. 9,4,17). In inst. 10,2,16 grenzt Quintilian Schriftsteller (auctores) mit natürlich-einfachem Stil (simplices) von solchem mit nachlässigem Stil (neglegentes) ab. Übertragen auf den Ton (der Stimme) ist ein natürlicher (vgl. Quint. inst. 1,11,6), schlichter Ton ohne auffällige Kunstanstrengung gemeint. Dieser Ton steht dem Ton von Alltagsgesprächen nahe und Quintilian empfiehlt ihn für die narratio: vocem sermoni proximam et tantum acriorem, sonum simplicem (inst. 11,3,162). Nach Cic. de orat. 3,45 (ebenso Iul. Vict. rhet. 10 p. 411,12–13) ist der einfache Stimmton frei von Zurschaustellung und Nachahmung: [Laelia] sono ipso vocis ita recto et simplici est, ut nihil ostentationis aut imitationis adferre videatur. ipsa quodam modo hilaris: Die Stimme ist von selbst heiter wie die Dinge, über die sie spricht (laetis in rebus). Als Vermittlerin (media) nimmt sie die Heiterkeit des Gegenstandes, den sie vorträgt, selbst an. fluit: fluere heißt mit Bezug auf die Rede (vgl. ThlL, s. v. fluo S. 972,78 ff.) »gleichmäßig dahinfließen«. Quintilian benutzt das Verb v. a. im Zusammenhang mit der Wortfügung und dem Prosarhythmus (z. B. inst. 9,4,7.18.20.112), verwendet es hier aber für die Gleichmäßigkeit und Flüssigkeit der Stimme. Zur Vorstellung vom Fließen der Stimme vgl. Vitr. 5,3,6 (vox autem est spiritus fluens aeris, vgl. Kapitel 2.1.4) und Fortun. rhet. 3,17 p. 131,16 (nam per illas [sc. arterias] vox fluit, vgl. Kapitel 2.2.1).

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in certamine: Gemeint ist allgemein die Situation eines verbalen Wettstreits. certamen bezeichnet sowohl Auseinandersetzungen, die kriegerisch bzw. mit Waffen als auch solche, die mit Worten geführt werden (vgl. ThlL, s. v. certamen S. 885,29 ff. und OLD 4). erecta: Im Wettkampf soll die Stimme »selbstsicher, überzeugt, mutig« sein (vgl. OLD, s. v. erectus 2a). Vgl. dazu die Kombination erectum et audax in Quint. inst. 11,1,31 über einen Stil (eloquentiae genus), der nicht zu einem alten Menschen passt. Diese Stimmart wird z. B. bei Einzelwörtern angewendet, die Mut, Tapferkeit o. Ä. ausdrücken, z. B. pro fortissimo viro in Quint. inst. 11,3,48, fortis, vehemens, latro in Quint. inst. 11,3,175. Ähnlich fordert Donat bei seinen Ausführungen zu einer Aeneis-Passage, dass der Vortrag bei der Nennung von Camillas Namen »aufgerichtet« werden soll: erigenda pronuntiatio est in Camillae nomine (Claud. Don. Aen. 11,895, p. 542,16). Gemeint ist wohl eine Stimme, die den Mut Camillas widerspiegelt und betont. Sachlich gehört zu einer vox erecta daher auch eine gewisse Lautstärke (vgl. WILLE [1967], S. 486: »die laute, erhobene Stimme, vergleichbar der Vox intenta«) und die Fülle des Tons, was die Zusammenstellungen plenum et erectum (in Quint. inst. 11,1,31) und plenius et erectius (in Quint. inst. 11,3,48) nahelegen (vgl. die vox plena in Quint. inst. 11,3,15). In Gell. 1,11,15 heißt orationem erigere »die Rede lebhafter gestalten«. totis viribus et velut omnibus nervis intenditur: Das velut dämpft den Ausdruck, der sonst zu bildhaft wäre (vgl. ZICARI [1969], S. 100). Quintilian verwendet nervi sonst in diesem Zusammenhang in der Bedeutung »Saiten«, z.B inst. 2,8,15 (nam sicut cithara, ita oratio perfecta non est, nisi ab imo ad summum omnibus intenta nervis consentiat). Vgl. dazu Cic. de orat. 3,216: voces ut chordae sunt intentae. Die beiden durch et verbundenen Ablative gehören eng zusammen (gegen RUSSELL [2001], S. 117 und MÜLLER [1969], S. 121, die totis viribus auf erecta, omnibus nervis auf intenditur beziehen). Sie beziehen sich beide auf intenditur (so auch RAHN [31995], S. 633), nicht auf erecta (so aber ZICARI [1969], S. 100). Dafür sprechen die häufigen Verbindungen von intendere mit vires und v. a. nervi, wobei zuweilen auch das übertragene Sprechen durch velut oder quasi markiert wird, vgl.: Val. Fl. 3,103 (intentis … viribus), Gell. 2,3,4 (ut firmitas et vigor vocis [hier: Wort] quasi quibusdam nervis additis intenderetur), Quint. inst. 9,4,9 (quare mihi compositione velut ammentis quibusdam nervisve intendi et concitari sententiae videntur), Quint. inst. 10,1,76 (über den Stil des Demosthenes: [omnia] quibusdam nervis intenta sunt).

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atrox: Das Adjektiv bezeichnet Dinge von Furcht erregender Erscheinung (vgl. ThlL, s. v. atrox S. 1108,18 ff.: »de rerum, quibus sensus tanguntur, habitu et specie terribili«), z. B. in Gell. 18,7,3 (voce atque vultu atrociore). Mit Bezug auf stimmliche Äußerung wird es mit Lautstärke in Verbindung gebracht: Cic. orat. 56 (contenta voce atrociter dicere), Tac. ann. 1,25,2 (atrox clamor) und 1,35,2 (atrocissimus veteranorum clamor). U. a. durch Lautstärke Furcht erweckendes Sprechen eignet sich gut für den Zorn. in ira: Nach Seneca spricht der Zornige undeutlich: parum explanatis vocibus sermo praeruptus (Sen. dial. 3,1,4). Vgl. die Sprechanweisung für iracundia in Cic. de orat. 3,217: acutum, incitatum, crebro incidens. aspera: Vgl. die vox aspera in Quint. inst. 11,3,15. densa et respiratione crebra: Das Adjektiv mit der Grundbedeutung »dicht (gedrängt/aufeinanderfolgend), ununterbrochen« wird mit Bezug auf die Stimme nur von Quintilian verwendet. Es charakterisiert sonst aber auch andere lautliche Äußerungen (vgl. ThlL, s. v. densus S. 545,76 ff.). In Cic. progn. frg. 3 (densus stridor cum celso e vertice montis/ ortus adaugescit) bezeichnet es das anhaltende Geräusch eines starken Windes, in Verg. georg. 4,216 (omnes/ circumstant fremitu denso stipantque frequentes) das ununterbrochene Summen einer großen Bienenmenge, in Stat. Theb. 3,428 (trepidas denso cum murmure plumas/ excutit) das Geräusch, das die Federn der Fama erzeugen, wenn sie aufgeschüttelt werden, in Amm. 17,12,2 (prodant hinnitu densiore vectores) das Wiehern von Pferden. Gemeinsam ist dabei stridor, fremitus, murmur, hinnitus die Ununterbrochenheit des Geräusches und eine gewisse Lautstärke (vgl. MÜLLER [1969], S. 122, Anm. 303). Quintilian verwendet das Adjektiv densus zudem im Zusammenhang mit der Wortfügung für einen knappen, gedrängten Stil wie den des Thukydides oder Demosthenes (vgl. inst. 10,1,73.76.106). In Quint. inst. 11,3,164 wird eine densanda oratio in der argumentatio gefordert, wenn man eindringlich werden muss (instandum). Auch im Bereich des Stils bezeichnet das Adjektiv also das Dichtgedrängte und Intensive. Durch den Zusatz, man hole mit der zornigen Stimme auch häufig Atem (die Stimme ist »häufig in Hinblick auf die Atmung«), scheint sich ein Widerspruch zu ergeben. Das et hat hier offenbar adversative Bedeutung im Sinne von et tamen (vgl. BONNELL [1834], S. 292, s. v. et IIIb). So lässt sich beides gemeinsam ungefähr so verstehen, dass der Redner im Zorn die Worte laut, dicht aneinander und am Stück äußert, was dann aber so anstrengend ist, dass man zwischen diesen Äußerungsphasen immer wieder Luft holen muss (vgl. MÜLLER [1969], S. 122, Anm. 303, ZICARI [1969], S. 100 und WILLE [1967], S. 486).

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Andere Auffassungen von densa sind abzulehnen. Die Bedeutung »rau« nur aufgrund der Zusammenstellung mit aspera (vgl. SPALDING [1816] z. St.) oder aufgrund der Verwandtschaft mit gr. δασύς, »aspiriert«, (vgl. WILLE [1967], S. 486) ist unwahrscheinlich (vgl. MÜLLER [1969], S. 122, Anm. 303, und ZICARI [1969], S. 100). Die Nähe von densus und δασύς ist zwar etymologisch gegeben, aber die Begriffe sind dennoch recht weit voneinander entfernt. Die Bedeutung »laut« (vgl. WILLE [1967], S. 486, MÜLLER [1969], S. 122, Anm. 303, und ZICARI [1969], S. 100 mit Berufung auf gr. δασύς, das aber gar nicht »laut« heißt) passt zwar gut zu den sonstigen Verwendungen des Wortes im akustischen Bereich. Dennoch muss hier zusätzlich etwas anderes gemeint sein, da der Aspekt der Lautstärke sonst mit anderen Adjektiven ausgedrückt wird. invidia: Gemeint ist die schlechte Stimmung, die der Redner üblicherweise gegen seinen Gegner machen will (für invidia in rhetorischen Vorschriften vgl. ThlL, s. v. invidia S. 202,52 ff. Vgl. invidiosiora in Quint. inst. 11,3,50). Dazu greift er v. a., wenn er sich in einer unterlegenen Position befindet, weil es ihm dann nicht möglich ist, offen und z. B. zornerfüllt aufzutreten. So ist auch die Situation Ciceros zu Beginn von Pro Milone, weswegen er zu dem Mittel greift, invidia zu erregen (vgl. Quint. inst. 11,3,50). lentior: Bezieht sich v. a. auf die Geschwindigkeit und heißt »langsamer, langgezogener« (als im Zorn), vgl. ThlL, s. v. lentus S. 1165,9 ff. und z. B. Quint. inst. 1,1,33. 11,3,17.52. Das Adjektiv enthält zudem die Bedeutungskomponente »geschwächt in der Intensität, entspannt, lässig, ruhig«, vgl. ThlL S. 1163,9 ff. und ZICARI (1969), S. 101 sowie die Kombination lenti ac remissi über den Stil der Rhodier in Quint. inst. 12,10,19 und Cic. Brut. 178: erat T. Iuventius nimis ille quidem lentus in dicendo et paene frigidus. quia … inferiores: Wer sich sicher und überlegen fühlt, greift den Gegner (z. B. mit Zorn) direkt an. Wer sich hingegen unterlegen, schwächer fühlt (inferiores; vgl. Cic. Brut. 30: causa inferior, die schwächere Sache), wird zu sanfteren Mitteln greifen, die nicht sofort als solche wahrgenommen werden. Dazu passt nicht die deutlich heftige Stimme des Zorns, sondern eine langsamere und weniger heftige. satisfaciendo: satisfacere heißt (vgl. OLD, s. v. satisfacio 2) »durch Rechtfertigung oder Entschuldigung (einem Geschädigten gegenüber) Wiedergutmachung/Genugtuung leisten«, vgl. z. B. Caes. Gal. 5,54,3 und Suet. Tib. 27. lenis: sanft und glatt; lenis ist ungefähr identisch mit levis (vgl. die Ausführungen dazu in inst. 11,3,15). Das im akustischen Bereich häufig vorkommende Adjektiv (vgl. ThlL, s. v. lenis S. 1144,25 ff.) wird von Quintilian auch

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an anderen Stellen verwendet, um den Vortrag zu charakterisieren. Nach Quint. inst. 11,3,161 drückt die lenis pronuntiatio Zurückhaltung (verecundia) aus und wird daher für das Prooemium empfohlen. Auch für die Besänftigung (Quint. inst. 11,3,170) und für Exkurse (Quint. inst. 11,3,164) ist sie passend. In Cic. de orat. 2,183 ist die lenis oratio Teil der Redeweise, die den Angeklagten empfiehlt: non enim semper fortis oratio quaeritur, sed saepe placida, summissa, lenis, quae maxime commendat reos. summissa: »leise«; vgl. die Ausführungen zu inst. 11,3,17.43.48. gravis: Das Adjektiv bezeichnet die tiefe Stimme, vgl. Quint. inst. 11,3,17.41. in metu et verecundia: Vgl. die Sprechanweisung für metus in Cic. de orat. 3,218: demissum et haesitans et abiectum. contracta: eine beklommene, kleinlaute, gehemmte, gepreßt und unfrei klingende Stimme (vgl. MÜLLER [1969], S. 38, Anm. 86, und S. 122), vgl. die Ausführungen zu inst. 11,3,15.48. fortis: Die Stimme ist stark im Sinne von »kraftvoll« (vgl. Quint. inst. 11,3,23 und z. B. Cic. de orat. 2,183). disputationibus: Gemeint ist allgemein eine intellektuelle verbale Auseinandersetzung, bei der erörtert und argumentiert wird. ZICARIS (1969), S. 102 »Gerichtsdebatten« (»dibattiti giudiziari«) sind zu spezifisch, WILLES (1967), S. 486 Übersetzung »Gespräche« ist zu allgemein. teres: Quintilian verwendet das Adjektiv nur an dieser Stelle. Es wird von keinem anderen Autor mit Bezug auf die Stimme benutzt. Am ähnlichsten ist die Verwendung des Wortes im Zusammenhang mit Stilphänomenen (vgl. OLD, s. v. teres 2). teres heißt dann »abgerundet, fein, geschmeidig«, z. B. in Cic. de orat. 3,199 (mit Abgrenzung von einem vollen Stil: est et plena quaedam [oratio], sed tamen teres) und in Gell. 6,14,10 (über den bewunderten Stil des Critolaus: scita et teretia [dicebat]). Demnach dürfte an dieser Stelle eine kultiviert-geschliffene Stimme gemeint sein. Ausgehend von GESNER (1738) z. St. erklären auch SPALDING (1816) z. St. und MÜLLER (1969), S. 122 teres, »rundgedreht« fälschlicherweise als Synonym mit volubilis und deuten die vox teres dann – durch Übertragung der Eigenschaft »fließend« (vgl. OLD, s. v. volubilis 4a) – als eine schnelle und bewegliche Stimme. WILLE (1967), S. 486 kombiniert nicht recht überzeugend beide Ergebnisse zu: »abgerundet und beweglich«.

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miseratione: Vgl. die Sprechanweisung für miseratio ac maeror in Cic. de orat. 3,217: flexibile, plenum, interruptum, flebili voce. flexa: Gemeint ist eine Stimme, die in der Tonhöhe variiert und daher leicht singend und weinerlich wirkt. Vgl. die Ausführungen zu den verwandten Ausdrücken flexibilis, flexus und flectere in Quint. inst. 11,3,15.17.25.40.41.60. In Quint. inst. 1,11,12 wird für die miseratio ein flexus der Stimme gefordert. In inst. 11,3,170 empfiehlt Quintilian für das Erregen von Mitleid: flexum vocis et flebilem suavitatem. Als Beispiel sollen die Worte me miserum, me infelicem so gesprochen werden (Quint. inst. 11,3,172, vgl. HALL/BOND [2002], S. 205 f.). Auch bei Cicero (de orat. 2,193: inflexa ad miserabilem sonum voce), Seneca rhetor (contr. 7,4,6) und Ausonius (418,65) werden Mitleid/Klage und Stimmmodulation zusammengebracht. Für eine Mitleid erregende Stimme kann man sich den zwischen Höhe und Tiefe variierenden Ton gut vorstellen. quasi obscurior: Die Stimme ist absichtlich etwas unverständlicher (vgl. inst. 11,3,20). Wie beim Weinen oder Klagen wird sie undeutlicher. obscurus charakterisiert lautliche Äußerungen, die (aus verschiedenen Gründen) nicht deutlich wahrgenommen werden (können), vgl. ThlL, s. v. obscurus S. 173,32 ff. In Cael. Aur. acut. 2,3,17 sind mit dunklen Wörtern (ut … sint … obscurae vocis) im Zustand der Lethargie geäußerte »undeutliche Wörter« gemeint. In Boeth. mus. 1,14 bezeichnet das Adjektiv eine Stimme, die aus der Entfernung schwächer gehört wird (illi est obscurior vox, qui longius steterit). Auch in Ter. Maur. 92 ist der sonus obscurior der schlecht wahrzunehmende Klang der Halbvokale (vgl. CIGNOLO [2002], S. 250: »il suono che si percepisce con difficoltà«). Prisc. gramm. I 29,15 nennt das auslautende -m obscurum, »weniger deutlich hörbar«, im Unterschied zum m- am Wortanfang, das apertum sei. In Cic. off. 1,133 ist obscurum der Mangel an Klarheit in der Aussprache (sonus erat dulcis, litterae neque expressae neque oppressae, ne aut obscurum esset aut putidum). Der Zusatz quasi deutet die uneigentliche Verwendung des Adjektivs an (vgl. OLD, s. v. quasi 9a). Zur Übertragung des Verbs obscurare aus dem Bereich des Sehsinns vgl. die Erläuterungen zu inst. 11,3,20 (obscuratur … vox). Vgl. die vox fusca in Quint. inst. 11,3,15. Zum cantus obscurus vgl. die Erläuterungen zu inst. 11,3,60. in egressionibus: Nach Quint. inst. 11,3,164 sind Exkurse gewöhnlich sanft, lieblich und entspannt (egressiones fere lenes et dulces et remissae). Exkurse machen die Rede anmutig (vgl. Quint. inst. 12,10,60). Quintilian behandelt den Exkurs in inst. 4,3,1–17.

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fusa: Eine vox fusa ist eine breit dahinströmende, ungehemmte Stimme, vgl. Quint. inst. 11,3,15. securae claritatis: Die claritas bezieht sich auf die Deutlichkeit und gute Verstehbarkeit der Stimme, vgl. Quint. inst. 11,3,15. Die Kombination mit securus gibt es nur an dieser Stelle. Das Adjektiv heißt im positiven Sinn »ungezwungen, unbekümmert, mühelos« (vgl. OLD, s. v. securus 4a und z. B. Quint. inst. 10,6,6). Gemeint ist, dass die Stimme ohne Zwang, gleichsam natürlich und ohne Aufwand klar und deutlich klingt. expositione ac sermonibus: expositio ist die Bezeichnung für eine erzählende Passage allgemein und in der Rede (vgl. ThlL, s. v. expositio S. 1774,1 ff. und z. B. Quint. inst. 4,3,12. 11,3,91) sowie speziell für die rhetorische narratio (vgl. ThlL, S. 1774,84 ff. und z. B. Quint. inst. 4,2,2). sermones sind – wie auch z. B. in Quint. inst. 9,4,19 und 6,3,4.28 – einfache, kunstlose Alltagsgespräche (vgl. OLD, s. v. sermo 2 und ZUNDEL [1989], S. 90, s. v. sermo 3). recta: Die nur bei Quintilian vorkommende vox recta ist im Gegensatz zur vox flexa die auf der gleichen Höhe ohne Modulation verweilende Stimme (vgl. ZICARI [1969], S. 103, MÜLLER [1969], S. 123, WILLE [1967], S. 486). In Quint. inst. 11,3,168 wird der rectus sonus den vocis inclinationes, den Stimmmodulationen, gegenübergestellt. Aus der Beschreibung von Laelias unmoduliertem, einfachem und daher ungekünsteltem Stimmklang in Cic. de orat. 3,45 macht Iulius Victor eine Vorschrift: sonus ipse vocis ita rectus et simplex esse debet, ut nihil ostentationis aut imitationis habere videatur (Iul. Vict. rhet. 10 p. 411,12–13). Seneca (dial. 10 [= de brevitate vitae],12,4) stellt dem natürlichen rectus cursus der Stimme, dem unmodulierten Sprechen, die flexus modulationis, die Modulationen, gegenüber. inter acutum sonum et gravem media: Die gewünschte gleichbleibende Höhe (recta) ist die mittlere Tonhöhe. Zu acutus und gravis vgl. Quint. inst. 11,3,17, zu den Zwischenstufen zwischen ihnen (media) Quint. inst. 11,3,18. Zur mittleren Tonlage allgemein vgl. Quint. inst. 11,3,41–42. Vgl. Quint. inst. 4,2,39: In der narratio soll man die Stimme nicht zu sehr variieren. itaque laetis … media: Rückblick und Zusammenfassung: Bei den Korrelationen, die Quintilian zwischen Redesituationen und den für sie angemessenen Stimmführungen herstellt, fällt auf, dass sich auf der Seite der Situationen ganz verschiedene Dinge finden wie Thema (laetis in rebus), Gesprächsarten (in certamine, in disputationibus, in sermonibus), Redeteile (in egressionibus, in expositione), Affekte, von denen der Redner

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ergriffen ist (in ira, in metu et verecundia) und Sprechakte des Redners mit einer bestimmten, beabsichtigten Affektbeeinflussung (in invidia facienda, in blandiendo fatendo satisfaciendo rogando, suadentium et monentium et pollicentium et consolantium, in adhorationibus, in miseratione). Diese Vielfalt wird auch sprachlich nachgebildet. Neben Präpositionalausdrücken mit in finden sich solche, bei denen in ergänzt werden muss. Neben Gerundien im Ablativ mit in finden sich Ausdrücke im Genitiv Plural. Die inkonzinne sprachliche Formulierung wirkt dabei vielfältig und abwechslungsreich. Bei den Arten der vox mischen sich bereits bekannte Begriffe (z. B. plena, aspera, summissa) mit neuen (z. B. simplex, recta) sowie mit längeren Beschreibungen und mit Begriffen, die sich nicht direkt und nicht nur auf Stimmeigenschaften beziehen lassen (z. B. atrox, gravis). Eine logische Abfolge ist auch dabei nicht zu erkennen, so dass Quintilian auch nicht von den verschiedenen Arten der vox auszugehen scheint. Vielmehr erfolgt die Aneinanderreihung rein assoziativ. Die sprachliche Formulierung erzeugt auch hier den Eindruck von Vielfalt und Abwechslungsreichtum. Ähnlich, aber auf Affekte beschränkt, ist die Auflistung bei Cic. de orat. 3,217–219 (vgl. Kapitel 3.2.2). Dort gibt es Sprechanweisungen zu iracundia, miseratio ac maeror, metus, vis, voluptas und molestia.

(65) Attollitur autem concitatis adfectibus, compositis descendit, pro utriusque rei modo altius vel inferius. Quid autem quisque in dicendo postulet locus paulum differam, ut de gestu prius dicam, qui et ipse voci consentit et animo cum ea simul paret. (65) Die Stimme wird aber angehoben, wenn Gefühle erregt werden, sie senkt sich, wenn sie besänftigt werden, entsprechend dem Maß der beiden Gefühlsbewegungen stärker oder schwächer. Was aber jeder Redeteil beim Vortragen erfordert, werde ich ein wenig aufschieben, um vorher über die Gestik zu sprechen, die sowohl selbst mit der Stimme übereinstimmt als auch mit ihr gemeinsam der inneren Verfasstheit folgt. attollitur … concitatis adfectibus: attollere vocem kann sich auf das Anheben der Lautstärke beziehen, wie z. B. in Quint. inst. 1,8,1 (quando attollenda vel submittenda sit vox), wo der Unterschied in der Tonhöhe mit dem folgenden flexus bezeichnet wird, oder auf das Anheben der Tonhöhe (z. B. Sulp. Sev. dial. 2,3,6: adtollentibus altius vocem magistris). Aus Sen. epist. 75,2 (adtollere vocem) lässt sich nichts über das Problem gewinnen. Die folgenden Begriffe descendere, altus und inferior legen allerdings eher nahe, dass hier auch die Tonhöhe gemeint ist (vgl. Exkurs 3 [2.2]).

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Kommentar zu den beiden Hauptquellen

compositis descendit: descendere bezeichnet meistens das Herabschreiten in der Tonhöhe, vgl. Cic. de orat. 3,227, Sen. contr. 1 praef. 16, Gell. 13,26,1. Wohl eher mit Bezug auf die Lautstärke hingegen Sen. epist. 15,8: (vox) modesta … descendat, non decidat. altius vel inferius: Das Adjektiv inferior kann sich auf Tonhöhe oder Lautstärke beziehen (vgl. die Ausführungen zu inst. 11,3,17 und zu ima in inst. 11,3,15). Auch altus kann die Tonhöhe (so z. B. wohl in Isid. orig. 3,20,14 [zu Isidor vgl. Kapitel 2.4.2]: perfecta vox est alta, suavis et clara: alta, ut in sublime sufficiat; vgl. Quint. inst. 11,3,23) oder Lautstärke (so z. B. wohl in Catull. 42,18) oder beides (so wohl z. B. in Paul. Fest. p. 391, ed. LINDSAY: succrotilla vox, tenuis et alta) bezeichnen. Vgl. Exkurs 3 (2.2). attollitur … inferius: attollere bezeichnet eher die Lautstärke, descendere eher die Tonhöhe, altus (v. a. bei Quintilian) eher die Tonhöhe, inferior sowohl Tonhöhe als auch Lautstärke. Quintilian verwendet hier absichtlich Begriffe, die sich auf die Tonhöhe oder die Lautstärke beziehen können (vgl. Exkurs 3 [2.2]). Denn vermutlich denkt er an beides gleichermaßen. Zur Steigerung der Affekte steigert man auch die Stimme, zur Minderung der Affekte senkt man die Stimme. Dabei ist das Steigern und Senken der Stimme je nach der Größe der Affektbewegung stärker oder schwächer ausgeprägt. quisque in dicendo … locus: Mit locus ist hier nicht nur irgendeine Stelle (in der Rede) gemeint (vgl. dazu OLD, s. v. locus 23a und ZUNDEL [1989], S. 59, s. v. locus 4), sondern offenbar speziell der Redeteil. Die Verwendung des Wortes locus für pars orationis kommt allerdings sonst nicht vor. paulum differam: Quintilian behandelt die pronuntiatio der partes orationis in inst. 11,3,161–173 (vgl. Kapitel 3.2.5). de gestu: Überleitung zum Kapitel über die Gestik, den zweiten Teilbereich der actio.

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5. Schlussfolgerungen

5.1 Die Geschichte der Stimme in der antiken Rhetorik 5.1.1 Chronologischer Überblick

Der für die Geschichte der Stimme und des gesamten Vortrags in der Rhetoriktheorie wohl wichtigste Satz stammt vom römischen Auctor ad Herennium (1. Jh. v. Chr.). Zu Beginn seiner Ausführungen zur pronuntiatio sagt er, vor ihm habe noch niemand sorgfältig über den Vortrag geschrieben: nemo de ea re diligenter scripsit (Rhet. Her. 3,11,19). Angesichts der hohen Bedeutung, die dem Vortrag seit jeher in der Rhetorik zugesprochen wurde, und der schon früh ausdifferenzierten Theorien zu den anderen officia oratoris ist diese Behauptung zunächst erstaunlich.1 Die Aussage des Auctor wird aber bestätigt durch die Texte, die uns aus der Zeit vor ihm überliefert sind.2 Die ersten Zeugnisse für eine Beschäftigung mit dem mündlichen Vortrag finden wir außerhalb der rhetorischen Theorie bei den griechischen Rednern. Isokrates weiß um den Vorteil der Stimme beim Vortrag (Phil. 25–27) und tritt wegen seiner schwachen Stimme selbst nicht auf. Der Vortrag von Perikles und Kleon dient Späteren (z. B. Aristoteles und Plutarch) zur Bewertung des gegensätzlichen Charakters dieser Redner und wird mit ihrer politischen Grundeinstellung begründet. Demosthenes und Aischines machen in ihren Reden (v. a. in de cor. und de fals. leg.) die Stimme des jeweils anderen zum Thema und gewinnen daraus Argumente gegen ihren Gegner. Theoretische Überlegungen zum Vortrag gibt es in diesen ersten Zeugnissen nicht. Eine rudimentäre Theorie des Vortrags beginnt mit Thrasymachos und Platon. Wahrscheinlich hat Thrasymachos den mündlichen Vortrag in seinen Eleoi behandelt (vgl. Arist. rhet. 1404a14–15). Bei Platon, der sich in der Politeia mit dem Vortrag (allerdings von Dichterwerken) beschäftigt, steht wie bei den griechischen Rednern die enge Bindung des Vortrags an den Charakter des Redenden im Vordergrund. Der wahrhaft gute Mann

1 Zum Wahrheitsgehalt dieser Aussage des Auctor und zu seiner nicht unumstrittenen Datierung in die späten 80er Jahre vgl. Kapitel 3.2.1. 2 Diese im Folgenden genannten Texte werden alle ausführlich in Kapitel 3.1 besprochen.

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Schlussfolgerungen

verändere Melodie und Rhythmus im Vortrag nur leicht (pol. 397b6-c1). Platon unterscheidet das, was gesagt werden muss, davon, wie etwas gesagt werden muss, und ordnet den Vortrag gemeinsam mit dem Stil Letzterem zu (pol. 392c7–8; 394c7–8). Diese Unterscheidung übernimmt Aristoteles. Zu Beginn des dritten Buches seiner Rhetorik schließt er den Vortrag einerseits weitgehend aus seiner eigentlichen Besprechung dessen, wie etwas gesagt werden muss, aus. Er befasst sich nur mit der Formulierungskunst, der λέξις. U. a. gibt er als Gründe dafür an, der Vortrag sei unphilosophisch, vulgär (1403b36–1404a1) und v. a. eine kunstferne Sache der Naturbegabung (1404a15–16). Andererseits erkennt er dem Vortrag aber eine außerordentlich große Wirkungsmacht zu (rhet. 1403b21). Aristoteles referiert eine Auffassung von Schauspieltheoretikern, der er sich offenbar anschließt. Sie beschränkt sich auf den mündlichen Vortrag (rhet. 1403b27–32): Die Stimme müsse sich beim Vortrag an jeden Affekt anpassen und lasse sich in die drei Bestandteile Lautstärke, Tonhöhe und Rhythmus (bzw. evtl. Tempo) einteilen. Genaueres darüber, wie Aristoteles’ Schüler Theophrast den Vortrag behandelt hat, ist heute kaum mehr zu erfahren. Wir wissen aber, dass auch er die Affekte mit dem Vortrag verbunden hat und dass er sehr wahrscheinlich die später kanonische Zweiteilung des Vortrags in Körper und Stimme eingeführt hat. Konkrete Anweisungen für den Redner hat aber auch er wohl nicht gegeben. Über die 200 Jahre nach Theophrast wissen wir fast nichts. Die Texte aus dieser Zeit, die sich mit der Stimme befasst haben (könnten), sind nicht erhalten. Bis in das erste Jahrhundert v. Chr. hinein hat es aber offenbar keine an den Redner gerichtete schriftliche Theorie des Vortrags mit konkreten Sprechanweisungen gegeben. Tatsächlich beginnt also eine neue Phase in der Theorie des mündlichen Vortrags mit dem Auctor ad Herennium, da dieser erstmals detaillierte schriftliche Vortragsanweisungen, orientiert an der Praxis des Redners, gibt. Der Vortrag dient seiner Auffassung nach der Erweckung von Glaubwürdigkeit (Rhet. Her. 3,15,27). Er sei herausragend nützlich, aber eine Theorie sei eben bisher in schriftlicher Form noch nicht sorgfältig genug ausgearbeitet worden (Rhet. Her. 3,11,19). Dafür gibt er die Erklärung, dass alle gelaubt hätten, es sei kaum möglich, über die Stimme, Mimik und Gestik klar und deutlich zu schreiben, weil diese Dinge sich auf unsere Sinneswahrnehmung bezögen: nam omnes vix posse putarunt de voce et vultu et gestu dilucide scribi, cum eae res ad sensus nostros pertinerent. Dass die pronuntiatio als Sache der Sinne schwierig schriftlich zu beschreiben sei,3 ist nicht unmittelbar einleuchtend – und z. B. auch keiner der Gründe, die

3 Vgl. SCHIRREN (2008), S. 673: Die pronuntiatio scheint also »als rein sinnliches Ereignis … schwer fassbar zu sein«.

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Die Geschichte der Stimme in der antiken Rhetorik

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Aristoteles für eine Vernachlässigung der Vortragstheorie nennt.4 Das, was man sinnlich wahrnimmt, was man hört und sieht, müsste doch eigentlich besonders leicht zu beschreiben sein. Allerdings denkt der Auctor hier wohl insbesondere an die Stimme, die er direkt im Anschluss an diese Aussage und wesentlich ausführlicher als die Gestik bespricht. Eine bestimmte Geste und einen Gesichtsausdruck zu beschreiben ist nämlich relativ leicht, einen Redeton abstrakt und theoretisch in der Schriftform zu erläutern ist hingegen (auch heute noch) wesentlich schwieriger. Um zu erklären, was bspw. ein argumentum ex minori oder der status coniecturalis ist, genügt es, schriftliche Erklärungen und Beispiele zu gebrauchen. Hingegen bleiben selbst einfache Begriffe, die die Stimme beschreiben – wie »hoch«, »rau« oder »schön« – schwer auf allgemein verständliche Art genau zu definieren, wenn man keine Tonbeispiele zur Verfügung hat. Das Hauptproblem bei der theoretischen Erörterung des Vortrags ist aus der Sicht des Auctor also, ein Phänomen der Mündlichkeit bzw. der Körperlichkeit, das performativ erlebt wird, im Medium der Schrift darzustellen.5 Das betont er noch einmal am Ende des Abschnitts über den Vortrag (Rhet. Her. 3,15,27). Er wisse sehr wohl, was für eine große Aufgabe er auf sich genommen habe mit dem Versuch, die Bewegungen des Körpers (motus corporis) mit Worten auszudrücken (exprimere verbis) und Stimmen (voces) mit der Schrift nachzuahmen (imitari scriptura). Die zwei gegensätzlichen Begriffspaare – motus corporis und voces für das sinnliche Erleben, exprimere verbis und imitari scriptura für die theoretische Verschriftlichung – verdeutlichen, dass die Trennung zwischen performativem Akt und rein schriftlicher Darstellung nicht ganz zu überwinden ist. Der Auctor betont abschließend, dass er auch gar nicht darauf vertraut habe, dass es möglich sei, über diese Dinge treffend genug (satis commode) zu schreiben. Aber er halte das, was er getan habe, auch nicht für nutzlos, denn er habe hier nur über das belehrt, was nötig sei. Um nämlich die Brücke zu schlagen zwischen dieser schriftlichen Theorie und dem Vortrag der Rede, gibt er den wichtigen Rat, das Übrige, also das, was die schriftlichen Anweisungen nicht abdecken können, der Übung zu überlassen: reliqua trademus exercitationi. Am Erlernen des Vortrags haben die theoretischen Anweisungen (ars) also nur einen gewissen Anteil. Darüber hinaus aber kann der Vortrag nicht ohne Übung (exercitatio) auskommen. Die Bedeutung der Naturanlage (natura) hingegen, neben ars und exercitatio die dritte Voraussetzung

4 Zu Aristoteles’ Gründen für das Fehlen einer Vortragstheorie vgl. die Zusammenfassung in Kapitel 3.1.3. 5 Vgl. SCHIRREN (2008), S. 670 und 674 zum »medialen Wechsel« von der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit.

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Schlussfolgerungen

des Redners für den erfolgreichen Vortrag, blendet der Auctor (im Gegensatz zu z. B. Aristoteles) so weit wie möglich aus.6 Damit hat der Auctor nicht nur eine Aussage getroffen, die seiner eigenen Wertschätzung der exercitatio entspricht.7 Er hat zudem einen weiteren Hinweis darauf gegeben, warum der Vortrag bislang nicht theoretisch in Schriftform behandelt worden war. Man darf nämlich davon ausgehen, dass die rhetorische Schulung der Stimme und des Körpers von Anfang an v. a. in der praktischen Übungsrede des Unterrichts stattgefunden hat. Auch der Auctor ordnet ja die rhetorische Stimmflexibilität (mollitudo vocis) der exercitatio declamationis, der Deklamationsübung, zu (Rhet. Her. 3,11,20).8 Man kann sich leicht vorstellen, dass es nach einer Reihe allgemeiner Hinweise v. a. die konkrete Kritik des einzelnen Schülers gewesen ist, die seinen Vortrag am effektivsten verbessert hat. Diese Mischung aus einführenden Vorschriften und viel Übung finden wir auch in der Aussage des Crassus (in Cic. de orat. 1,145), er habe in Griechenland mit Bezug auf die actio (und die memoria) einige kurze Vorschriften (brevia praecepta) erfahren, zu denen aber viel Übung (magna cum exercitatione) hinzugekommen sei.9 Vielleicht spiegeln sich solche brevia praecepta noch in manchen Vorschriften, die der Auctor ad Herennium macht, um so die Ausbilung des Schülers und seine Vortragsfähigkeiten zu verbessern – worin er sich eben maßgeblich von Theoretikern wie Aristoteles und Theophrast unterscheidet. Auf diesen konkreten Zweck der Ausbildung ist seine Betonung der Übung und seine Pionierleistung in der Vortragstheorie ausgerichtet. In den folgenden 170 Jahren bis zu Quintilian finden sich dann allerdings Zeugnisse für andere und sehr unterschiedliche Hauptinteressen an der Beschäftigung mit dem rhetorischen Vortrag und der Stimme.10 Anders als dem Auctor kommt es Cicero nämlich nicht auf konkrete Anweisungen für den Redner an. Vielmehr setzt er sich in De oratore und im Orator mit den theoretischen Grundlagen des mündlichen Vortrags auseinander, im Brutus werden die stimmlichen Leistungen mancher Redner kurz erwähnt.11 Der Vortrag müsse, so Crassus in De oratore, die Gefühls6 Vgl. die Erläuterungen zu ratione et industria comparatum (Rhet. Her. 3,11,19) in Kapitel 4.1.2. 7 Zur grundsätzlichen Wertschätzung der exercitatio beim Auctor ad Herennium vgl. auch Rhet. Her. 1,1,1. 3,24,40. 4,56,69. 8 Vgl. die Erläuterungen in Kapitel 4.1.3. 9 Vgl. Kapitel 3.2.2. 10 Zu den Texten aus dieser Zeit vgl. ausführlich Kapitel 3.2.2. bis 3.2.4. 11 Datierte man hingegen den Auctor ad Herennium (vgl. Kapitel 3.2.1 zur Datierung des Auctor) später als Cicero, so ergäben sich folgende Änderungen. Erstens wäre Cicero dann der Erste, der sich überhaupt in umfassender Weise mit dem rhetorischen Vortrag (und mit allen fünf officia oratoris) auseinandersetzt. Zweitens wäre daher die Behauptung des Auctor (Rhet. Her. 3,11,19), er sei der Erste, der sich sorgfältig (diligenter) mit dem Vortrag befasst,

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Die Geschichte der Stimme in der antiken Rhetorik

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regung des Redners ausdrücken (de orat. 3,215; vgl. orat. 55), dabei habe die Stimme die wichtigste Rolle (de orat. 3,224). Die Grundeinteilung der Stimme sei die in Tonhöhe (acuta, gravis), Geschwindigkeit (cita, tarda) und Lautstärke (magna, parva) (de orat. 3,216). Der Redner solle die verschiedenen Stimmarten kunstvoll einsetzen, um den Vortrag abwechslungsreich zu gestalten (de orat. 3,217). Im Orator gelangt Cicero von der Frage der Stimmvariation zum cantus obscurior des Redners, der Stimmmodulation im Vortrag, die vom Gesang (insbesondere der Redelehrer aus Kleinasien) abgegrenzt wird (orat. 57).12 Es ist durchaus wahrscheinlich, dass Philodem, der Ciceros Zeitgenosse war, mit seinen Ausführungen gegen den rhetorischen Vortrag u. a. auf diese Entwicklungen reagiert, wie wir sie beim Auctor ad Herennium und bei Cicero vorfinden. Der Epikureer gesteht dem Vortrag zwar eine außerordentlich große Wirkungsmacht zu (rhet.4 Col.XIa12–25), er hält ihn aber, ähnlich wie Aristoteles, v. a. für eine Sache der Natur (rhet.4 Col.XIVa8– 12). Die Affekte und die Tatsachen selbst gestalten seiner Meinung nach automatisch einen abwechslungsreichen Vortrag (rhet.4 Col.XIVa8–12). Daher seien technische Anweisungen für den Vortrag, wie sie die Rhetoren in jüngster Zeit gäben, sinnlos und garantierten auch nicht den Erfolg des Auftritts (rhet.4 Col.XVIIIa18–21). Insbesondere sei das Ansinnen der Rhetoren, den Vortrag in anderen Disziplinen regeln zu wollen, unberechtigt (rhet.4 Col.XIXa16-XXa4). Gänzlich anders ist die Beschäftigung des Dionysios von Halikarnassos mit dem Vortrag der Reden des Demosthenes in der gleichnamigen Abhandlung (Dem. 53–54). Dionysios geht es nämlich weder um konkrete Anweisungen für den Redner (wie Quintilian bei seiner Analyse des MiloProoemiums in inst. 11,3,47–50) noch um eine Vortragstheorie noch um den Vortrag überhaupt. Dionysios behandelt den Vortrag letztlich nur, um auch an ihm die Überlegenheit des demosthenischen Stils zu demonstrieren.13 Das Interesse an einer praxisorientierten Grundlegung des rhetorischen Vortrags zeigt sich nach dem Auctor ad Herennium dann erst wieder bei Quintilian und erreicht mit ihm seinen Höhepunkt.14 Quintilian gibt die detailliertesten Sprechanweisungen für den Redner, die er anschaulich und lebendig mit verständlichen Beispielen versieht. Dabei werden insbesondere Einflüsse der Grammatik (z. B. in inst. 11,3,33–39) und der Stimmdiätetik (v. a. in inst. 11,3,19–29) auf die Rhetorik deutlich. merkwürdig (oder gelogen). Er müsste dann mit »sorgfältig« speziell eine systematische, schulbuchmäßige Darstellung meinen, die Cicero in der Tat nicht gegeben hat. 12 Zum rhetorischen cantus obscurior vgl. Kapitel 5.2.4. 13 Zum Zusammenhang von Vortrag und Stil vgl. Kapitel 5.1.2. 14 Vgl. Kapitel 3.2.5 und Kapitel 4.2.

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Schlussfolgerungen

Im 3. Jh. n. Chr. liefert der Grieche Kassios Longinos, der als Rhetoriker wenig rezipiert wird, ausgehend von den Affekten und v. a. den Redeteilen die längste uns aus der Antike überlieferte Theorie des mündlichen Vortrags in griechischer Sprache.15 Er erweitert dabei bereits Bekanntes (z. B. die künstliche Imitation natürlicher Affekte) durchaus um eigene Gedanken (wie den der Stimmveränderung in dem Moment, wo man den Zuhörer auf seiner Seite weiß). Weitestgehend auf Quintilian und auch auf Cicero basieren die theoretischen Erläuterungen zur pronuntiatio in der nachquintilianischen lateinischen Rhetorik.16 Fortunatian, der sich sehr stark an Quintilian orientiert, stellt den angemessenen Vortrag, die apta pronuntiatio, die an den gesamten Fall, die Redeteile, die Gedanken, die Wörter, die Personen, den Ort und die Zeit angepasst sein muss, ins Zentrum seiner Ausführungen. Er behandelt als einziger Rhetor gleichermaßen Stimmpflege und rhetorischen Vortrag.17 Iulius Victor, der fast vollständig auf Quintilian und Cicero zurückgreift, dient wiederum als Vorbild für Alkuin.

5.1.2 Thematischer Überblick

In der Geschichte des mündlichen Vortrags in der antiken Rhetorik lässt sich somit keine stringente Entwicklung erkennen. Nur teilweise bauen Autoren mit ihren Gedanken direkt auf Vorgänger auf. Ein chronologischer Überblick (wie der in Kapitel 5.1.1) ist insofern v. a. für die Frage interessant, wann der Vortrag Eingang in die rhetorische Theorie gefunden hat. Außerhalb dieser Überlegung bietet sich eher ein inhaltsbezogener Überblick an, der sich an den wichtigsten Themen in den rhetorischen Texten orientiert. Diese sind die hohe Wertschätzung des Vortrags, die enge Bindung des Vortrags an den Stil der Rede, der Zusammenhang zwischen Vortrag und Affekten, die Verbindung zwischen Vortrag und Rednerperson sowie die praxisorientierten Anweisungen der Rhetoren. Ein Merkmal, das alle Texte, die sich mit dem rhetorischen Vortrag befassen, vereint, ist die Betonung der hohen Bedeutung und Wirkungsmacht des Vortrags.18 Selbst die Autoren, die bevorzugen würden, es käme beim Reden weniger auf den Vortrag an, schließen sich dieser Auffassung an.19 Nur ausgerechnet der Auctor ad Herennium, der als Erster konkrete Sprechanweisungen gibt, macht eine leichte Einschränkung (Rhet. Her. 15 16 17 18 19

Vgl. Kapitel 3.3.1. Vgl. Kapitel 3.3.2. Zur Stimmpflege bei Fortunatian vgl. Kapitel 2.2.1. Vgl. Kapitel 1.1. Das gilt insbesondere für Aristoteles (rhet. 1403b21.32–35; 1404a2–3.7–8.12–13), der

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Die Geschichte der Stimme in der antiken Rhetorik

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3,11,19).20 Diese durchgehende Anerkennung der Wirkungsmacht des Vortrags führt noch einmal deutlich vor Augen, was schon bekannt ist, aber nicht zu stark betont werden kann: Die antike Rhetorik ist ganz auf den Vortrag der Rede angelegt, dem alles andere untergeordnet wird. Häufig wird dabei die Stimme, die wahrscheinlich seit Theophrast neben dem Körper als einer von zwei Bestandteilen des Vortrags gilt,21 als der wichtigste Teil des Vortrags hervorgehoben. So geht Aristoteles in seinen kurzen Ausführungen zum Vortrag nur auf die Stimme ein (rhet. 1403b27–32).22 Bei den Römern behandelt der Auctor ad Herennium die Gestik viel kürzer als die Stimme und ordnet sie in die Kategorien ein, die er zuvor für die Stimme entworfen hat.23 Cicero (de orat. 3,224) sagt sogar explizit, dass die Stimme am wichtigsten sei, dann folge die Mimik, v. a. die Augen, und dann erst die Gestik (Cic. de orat. 3,223; orat. 60).24 Die Frage, wo dieser wichtigste Bestandteil des Redens im rhetorischen System erscheint, führt auf die enge Verbindung von Vortrag und Stil der Rede. Sie ist erstmals bei Aristoteles greifbar, der die Aufteilung in ein Was und ein Wie der Rede in die Rhetorik einführt (rhet. 1403b15–18), wobei unter dem Wie der Rede der Vortrag und der Stil zusammengefasst werden.25 Im 12. Kapitel des dritten Buches der Rhetorik zeigt sich zudem, dass Aristoteles den Stil einer Rede und ihren Vortrag für jeweils voneinander abhängig gehalten hat. Seine Ausführungen dort über den Stil der Mündlichkeit bzw. den Stil der kämpferischen Debatte (λέξις ἀγωνιστική), der auf den mündlichen Vortrag ausgerichtet ist, zeigen, dass der Redner beim Verfassen der Rede bereits an den Vortrag denken und seinen Stil, z. B. Stilmittel wie Asyndeta und Wiederholungen, daran anpassen muss. Cicero den Vortrag für vulgär, aber auch für notwendig und äußerst wirkungsmächtig in einem nicht-idealen Staat bzw. vor nicht-idealen Bürgern hält (vgl. Kapitel 3.1.3). 20 Der Vortrag sei herausragend nützlich (egregie utilis), aber so wie die anderen Aufgaben des Redners des Vortrags bedürften, hänge auch er von ihnen ab. Vgl. Kapitel 3.2.1 und die Erläuterungen in Kapitel 4.1.1. Eine Einschränkung macht implizit auch Philodem (wenn er betont, dass der Vortrag des Demosthenes negativ bewertet worden sei, vgl. Kapitel 3.2.3), obwohl er allerdings zu Beginn seiner Partie über den Vortrag (rhet.4 Col.XIa12–25) zunächst dessen große Wirkungsmacht eingesteht. 21 Vgl. Kapitel 3.1.4, insbesondere zur entscheidenden Konjektur φωνῆς von Rabe. Daneben gibt es die Dreiteilung in Stimme, Mimik und Gestik, vgl. Rhet. Her. 3,11,19 (Kapitel 4.1.1). In der Zeit nach Quintilian finden sich auch anders strukturierte Einteilungen des Vortrags bei Kassios Longinos (rhet. p. 194,21–24; vgl. Kapitel 3.3.1), Fortunatian (rhet. 3,15 p. 130,8–9; vgl. Kapitel 3.3.2), Iulius Victor (rhet. 24 p. 441,4; vgl. Kapitel 3.3.2) und Alkuin (Alb. disp. p. 546,11–13; vgl. Kapitel 3.3.2). 22 An anderen Stellen erwähnt Aristoteles Gesten aber durchaus, vgl. Kapitel 3.1.3. 23 Vgl. Kapitel 3.2.1. 24 Vgl. Kapitel 1.1 und 3.2.2. 25 Vgl. Kapitel 3.1.3. Zu einem Vorläufer dieser Einteilung bei Platon vgl. Kapitel 3.1.2.

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Schlussfolgerungen

übernimmt die aristotelische Aufteilung, wenn er im Orator unter dem Wie des Redens ebenfalls Stil und Vortrag versteht (orat. 55) und sich mit der Abgrenzung vom asianischen Redegesang auch im Bereich der actio gegen den Vorwurf wehrt, er sei ein asianischer Redner.26 Auch sein Zeitgenosse Philodem (rhet.4 Col.XVIa5–8) geht von einem Zusammenhang von Stil und Vortrag aus, wenn er anhand des Stils der epideiktischen Redner (v. a. bei Isokrates), z. B. an ihren langen Perioden, erkennen will, dass auch ihr Vortrag schlecht gewesen sein muss.27 Am anschaulichsten wird die enge Verbindung von Stil (λέξις) und Vortrag (ὑπόκρισις) bei Dionysios von Halikarnassos beschrieben, der sich allerdings nicht grundsätzlich mit dem Thema befasst, sondern speziell aus der Perspektive des demosthenischen Stils, seines Idealstils. An mehreren Auszügen aus dessen dritter Philippischer Rede will er zeigen, dass der zwingende Zusammenhang zwischen Stil und Vortrag charakteristisch für Demosthenes ist (z. B. Dem. 53, p. 245,4– 7).28 Eines der Merkmale dieses abwechslungsreichen Idealstils sei es nämlich, dass er den richtigen mündlichen Vortrag von selbst erzeuge. Später nutzt Quintilian die Verbindung von elocutio und actio sogar zur Systematisierung seiner Anweisungen für die Stimme, indem er die theophrastischen Stilqualitäten direkt auf den mündlichen Vortrag überträgt (inst. 11,3,30–65).29 Vortrag und Stil aber hängen beide von dem gewünschten Affektausdruck des Redners ab. Diesen Affekt auch im Zuhörer durch die Stimme hervorzurufen ist eines der Hauptziele des Vortrags. Schon in Thrasymachos’ Eleoi gab es wohl erste Anweisungen zur Affekteinwirkung im Vortrag des Redners, wenn wir Aristoteles glauben.30 Er selbst rückt die Affekte ins Zentrum des Vortrags (rhet. 1403b27–28), denn der Vortrag liege in der Stimme, wie diese in Hinblick auf jeden Affekt (πρὸς ἕκαστον πάθος) eingesetzt werden muss.31 Theophrast ist seinem Lehrer hierin wohl gefolgt.32 Auch bei Cicero spürt man diese Tradition deutlich, wenn er in De oratore in einem großen Teil seiner Darstellung von den Affekten ausgeht und anhand von Zitaten aus Tragödien zeigt, welche Stimmführung jeweils zu ihnen passe (de orat. 3,217–219).33 Die Affekttheorie, die hinter dieser

26 Vgl. Kapitel 3.2.2. 27 Vgl. Kapitel 3.2.3. 28 Vgl. Kapitel 3.2.4. 29 Zu Quintilians ratio pronuntiationis vgl. Kapitel 4.2.3. 30 Zu Thrasymachos vgl. Kapitel 3.1.2, zum Aristoteles-Zeugnis über Thrasymachos vgl. Kapitel 3.1.3. 31 Genauer gesagt ist dies die Auffassung nicht-rhetorischer Vortragstheoretiker, die Aristoteles aber übernimmt, vgl. Kapitel 3.1.3. 32 Vgl. Kapitel 3.1.4. 33 Vgl. die Erläuterungen in Kapitel 3.2.2.

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engen Verbindung von Vortrag und Affekt steht, wird bei ihm und bei Quintilian am deutlichsten.34 Von Natur aus entspräche jedem Affekt auch eine bestimmte Äußerung in der Stimme (sowie in Mimik und Gestik).35 Der Redner, der einen Affekt (natürlich oder künstlich hervorgerufen) empfindet, müsse diesen durch den Vortrag mit der richtigen Stimmführung klar und eindeutig darstellen, um ihn auch im Zuhörer hervorrufen zu können. Die Stimme sei das Medium (media) dieses Affektausdrucks, die den Affekt zu den Zuhörern »transportiert« (Quint. inst. 11,3,62). Die affektische Erregung des Adressaten beruht also zu einem Großteil auf dessen physischer Anwesenheit, womit sich ein weiteres Mal die Bedeutung des Vortrags zeigt. An der Stimme des Redners sollen die Zuhörer aber nicht nur erkennen, von welchem Gefühl er jeweils gerade affiziert ist, sondern auch viel grundlegendere Rückschlüsse über seine gesamte Persönlichkeit, seinen Charakter ziehen. Die physiognomische Literatur belegt, dass die Vorstellung, Stimme und Charakter seien korreliert, in der antiken Kultur durchaus verbreitet war.36 Aus den Anweisungen, die speziell dem Redner erteilt werden, geht hervor, dass er v. a. als würdevoller römischer Mann sprechen soll.37 Dabei soll er natürlich und ungekünstelt, nicht wie ein Schauspieler wirken.38 Hierzu passt v. a. eine tiefe Stimme. Eine hohe oder stark modulierende Stimme wird dagegen prinzipiell verboten, da sie mit Weiblichkeit und Künstlichkeit assoziiert wird.39 Dies ist keineswegs überraschend und muss auch als Erklärung für die negative Bewertung des Gesangs herangezogen werden, der somit nicht nur aus ästhetischen Gründen abgelehnt wird.40 Nicht einmal zu therapeutischen oder zu Übungszwecken darf der Redner Stimmen nachahmen, die diesem männlich-natürlichen Ideal widerspre34 Für diese Affekttheorie siehe am besten Cic. de orat. 3,214–219, Cic. orat. 55, Quint. inst. 11,3,2.61–65 (mit den Erläuterungen in Kapitel 4.2.3). Zu den Vergleichen, die in diesem Zusammenhang zwischen der Stimme und Musikinstrumenten angestellt werden, vgl. Kapitel 5.2.4. 35 Für diesen natürlichen Zusammenhang vgl. auch Philodem (rhet.4 Col.XIVa8–17; Kapitel 3.2.3), Dionysios von Halikarnassos (Dem. 54, p. 246,3–4; Kapitel 3.2.4), Kassios Longinos (rhet. p. 195,17–23; Kapitel 3.3.1). 36 Zur physiognomischen Literatur vgl. Kapitel 2.1.2. 37 Vgl. z. B. die Erläuterungen zum Ton der dignitas in Rhet. Her. 3,13,23 und 3,14,24 (in Kapitel 4.1.3). 38 Zur Abgrenzung des Redners vom Schauspieler vgl. Kapitel 5.2.3. 39 Die tiefe Stimme wirkt würdevoll (gravis) nach Cic. orat. 56 (vgl. Kapitel 3.2.2). Eine zu hohe Stimme geht über das Natürliche (ultra verum) hinaus, vgl. Quint. inst. 11,3,41 (Kapitel 4.2.3). Zur Ablehnung der modulierten Stimme vgl. die Erläuterungen zu mollis und effeminata (Quint. inst. 11,3,32) in Kapitel 4.2.3. 40 Zum Verbot des Singens für den Redner vgl. zusammenfassend Kapitel 5.2.4. Zu ästhetischen Gründen gegen den Gesang vgl. Quint. inst. 11,3,57 (Kapitel 4.2.3).

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Schlussfolgerungen

chen. Von medizinischer Stimmübung in hohen (oder modulierten) Tönen wird teilweise explizit abgeraten (coll. med. 6,10).41 Quintilian (inst. 1,11,1– 2) will aus Angst vor einer Habitualisierung (nam frequens imitatio transit in mores)42 den Rhetorikschüler im Unterricht beim Komöden nicht die Stimmen von Frauen oder älteren Männern nachahmen lassen.43 In der Vorstellung der rhetorischen Idealstimme fließen demnach kulturell tief verwurzelte Konzepte von Männlichkeit, Natürlichkeit und Habitualisierung zusammen. Dafür, dass die Stimme eines Redners tatsächlich zur Deutung und Beurteilung seiner Persönlichkeit herangezogen wurde, gibt es zahlreiche Belege. Zwei ganz unterschiedliche Beispiele zeigen, wie weit die Interpretation einer Rednerstimme dabei gehen konnte und mit welchen anderen gesellschaftlichen Vorstellungen diese Interpretation verbunden war. So finden wir erstens die Auffassung, Vortragsart und politische Einstellung eines Redners seien nicht unabhängig voneinander, z. B. wenn Aristoteles Kleons Vortrag als den eines Demagogen analysiert (Ath. pol. 28,1–3).44 Demagogische Stimmführung zeichne sich v. a. durch Maßlosigkeit und Lautstärke aus, die grundsätzlich über Inhaltlosigkeit hinwegtäuschen solle.45 Dazu passt Aristoteles’ Überzeugung, bei Politikern komme es für den Erfolg beim Publikum v. a. darauf an, wie man etwas sage, und nicht darauf, was man sage (rhet. 1403b32–35), sowie seine Zuordnung verschiedener Vortragsstile zu Redegattungen (rhet. 1414a7–18).46 Gerade vor dem Volk sei mehr der Vortrag, besonders die laute Stimme, gefragt, nicht die sachliche Genauigkeit. Zweitens setzen Demosthenes und Aischines in ihren Reden die Stimme des politischen Gegners als Argument gegen ihn ein, um bei den Zuhörern Misstrauen zu schüren.47 An der künstlich geformten, starken und schönen Stimme des Gegners könne man insbesondere erkennen, dass er nicht ernst meine, was er sage, und dass seine Gefühle nicht echt, sondern nur professionell vorgespielt seien. Beide versuchen, so die Authentizität von Stimme und Person zu zerstören. Dies gelingt gerade bei Aischines, der selbst auch Schauspieler gewesen ist, und Demosthenes, der

41 Zu coll. med. 6,10 vgl. ausführlich Kapitel 2.3. 42 Vgl. ähnlich Plat. pol. 395d1–3 (in Kapitel 3.1.2). 43 So auch Iul. Vict. rhet. 24 p. 441,32–35. Zur Abgrenzung des Redners vom Schauspieler vgl. Kapitel 5.2.3. 44 Zur Bewertung von Kleons Vortrag bei Aristoteles, Aristophanes und Plutarch vgl. Kapitel 3.1.1. 45 Vgl. Arist. rhet. 1408a24–25 und Kapitel 3.1.1. 46 Vgl. Kapitel 3.1.3. 47 Vgl. Kapitel 3.1.1.

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seinen Vortrag mit einem Schauspieler gemeinsam geübt hat, durch den Vorwurf, der Redner sei ein Schauspieler.48 Wie der Redner den richtigen Eindruck als Person erwecken, den gewünschten Affekt im Zuhörer hervorrufen und den Vortrag mit dem Stil abstimmen kann, wurde teilweise besonders für eine Sache der Naturbegabung49 oder v. a. der Übung gehalten.50 Letzteres zeigt sich noch beim Auctor ad Herennium, wo wir erstmals detaillierte praxisorientierte Sprechanweisungen finden (Rhet. Her. 3,13,24–3,14,25).51 Solche Anweisungen unterscheiden sich bei den einzelnen Autoren in Hinblick auf ihre gliedernde Systematik. Der Auctor wählt als Gliederungsprinzip für die Stimmflexibilität (mollitudo), die durch die rhetorische Deklamationsübung (exercitatio declamationis) erreicht werde, verschiedene Stimmtöne, die am Ablauf der Rede und damit an den partes orationis orientiert sind.52 Sie werden zunächst definiert (Rhet. Her. 3,13,23–24) und dann mit Sprechanweisungen versehen (Rhet. Her. 3,13,24–3,14,25).53 Mit seiner Übertragung der theophrastischen Stilqualitäten entscheidet sich Quintilian später für eine andere Gliederung, die ihm eine umfassende Systematisierung zahlreicher Stimmarten ermöglicht.54 Dem Modell des Auctor, nach Stimmtönen zu gliedern, die an den Redeteilen orientiert sein können, folgt teilweise auch Kassios Longinos (rhet. p. 196,5–197,18).55 Fortunatian kombiniert zwei verschiedene Konzepte, indem er für den ersten Abschnitt über die diligentia und cura der Stimme eine dem Auctor ähnliche Einteilung verwendet,56 während er den zweiten, spezifisch rhetorischen Teil wie bei Quintilian nach den theophrastischen Tugenden organisiert.57 Gemeinsam aber ist 48 Zur gewünschten Abgrenzung der Rhetorik von der Schauspielerei vgl. Kapitel 5.2.3. 49 So ordnet Aristoteles (rhet. 1404a15–16) den Vortrag als äußerst kunstfremd v. a. der Naturbegabung zu, vgl. Kapitel 3.1.3. Auch Crassus (Cic. de orat. 1,145. 3,224; vgl. Cic. orat. 59) hält die Naturanlage für einen wichtigen Bestandteil des Vortrags, vgl. Kapitel 3.2.2. Der Epikureer Philodem (z. B. rhet.4 Col.XIVa18–27) hebt ebenso die Bedeutung der natürlichen Begabung für den Vortrag hervor, vgl. Kapitel 3.2.3. Selbst Quintilian (inst. 11,3,11) gesteht der Naturbegabung die wichtigste Rolle beim Vortrag zu, vgl. Kapitel 3.2.5. Hingegen gilt Demosthenes als das Beispiel schlechthin für den Sieg der beständigen Übung über schlechte Naturanlagen, vgl. Kapitel 2.2.2. und 3.1.1. 50 Zum Vortrag als Sache der Übung vgl. Kapitel 5.1.1. 51 Vgl. die Erläuterungen dazu in Kapitel 4.1.3. 52 Vgl. Kapitel 3.2.1 und die Erläuterungen in 4.1.3. 53 Zur mollitudo vocis vgl. ausführlich Kapitel 4.1.3. 54 Vgl. Kapitel 4.2.3. Im Rahmen des aptum des Vortrags, wo Stimme und Gestik gemeinsam besprochen werden, gibt es aber auch eine Sektion (inst. 11,3,154–173) mit Anweisungen, die an den Redeteilen orientiert sind, vgl. Kapitel 3.2.5. 55 Vgl. Kapitel 3.3.1. 56 Zur Stimmpflege bei Fortunatian vgl. Kapitel 2.2.1. und 5.2.5. 57 Vgl. Kapitel 3.3.2. Dort gibt Fortunatian im Anschluss an Quintilian unter der apta pronuntiatio Anweisungen, die sich nach den Redeteilen richten.

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Schlussfolgerungen

den praxisorientierten Texten die Betonung der Körperlichkeit auch des stimmlichen Vortrags, der Kraft und Ausdauer der Stimme. Das mag aus moderner Sicht auffällig scheinen, ist aber aus antiker Sicht leicht erklärbar.58 Denn dass der Redner stundenlang ohne Mikrophon, teils bei schlechter Witterung, vor großen Menschenmassen sprechen muss,59 erfordert eine enorme körperliche Leistung gerade der Stimme, die somit beim Vortrag, wie Quintilian (inst. 11,3,44) weiß, einen labor zu bewältigen hat.60 So erklärt sich die Mischung von dezidiert rhetorischen Anweisungen mit solchen, die der medizinischen Stimmpflege entstammen.61

5.2 Die Rhetorik und die angrenzenden Wissenschaften von der Stimme 5.2.1 Allgemeines

Bei der Beschäftigung mit den antiken rhetorischen Texten zur Stimme (Kapitel 3 und 4) hat sich die Annahme bestätigt, dass für ein Verständnis der rhetorischen Texte auch die Vorstellungen von der Stimme in den angrenzenden Disziplinen betrachtet werden müssen (Kapitel 2). Die antike Rhetorik kommt bei ihren Überlegungen zur Stimme nicht ohne andere Wissenschaften aus, sei es weil sie deren Erkenntnisse heranzieht oder weil sie sich von ihnen abgrenzt. Abschließend sollen daher die Überschneidungsbereiche der Rhetorik mit den angrenzenden Wissenschaften von der Stimme kurz zusammengefasst werden, wie sie sich aus den rhetorischen Texten ergeben, nämlich mit der Grammatik, der Schauspielkunst, der Musik, und der Medizin.62 Dabei liegt die Einflussnahme der Wissenschaften auf jeweils anderen Ebenen. Zwischen der Rhetorik und der Grammatik besteht ein primär institutionelles Verhältnis. In beiden Fächern wird der Schüler in der Antike im wirkungsvollen Vortrag unterrichtet. Zwischen der Rhetorik und der Schauspielkunst sowie der Rhetorik und der Musik besteht hingegen ein Konkurrenzverhältnis, denn der Vortrag von Redner, Schauspieler und Sänger ist direkt vergleichbar. Der Vergleichspunkt liegt 58 Siehe auch die Erläuterungen zu magnitudo und firmitudo beim Auctor ad Herennium (Kapitel 4.1.3) sowie zu quantitas bei Quintilian (Kapitel 4.2.1). Vgl. auch Isokrates (or. 5,81) über das Scheitern seiner politischen Karriere u. a. aufgrund der mangelnden Stärke seiner Stimme (Kapitel 3.1.1) und Cicero (Brut. 313–316) über seine für eine Rednerstimme zu schwache Konstitution am Anfang seiner Karriere (in Kapitel 2.3). 59 Zu den Bedingungen, unter denen der Redner vortragen muss, vgl. Quint. inst. 11,3,27 (in Kapitel 4.2.2). 60 Vgl. die Erläuterungen in Kapitel 4.2.3. 61 Zum Verhältnis von Rhetorik und Medizin vgl. Kapitel 5.2.5. 62 Zu Grammatik und Medizin vgl. auch die Zusammenfassung in Kapitel 2.5.

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hier bei den Akteuren und ihrer Leistung. Zwischen der Rhetorik und der Medizin besteht ein ganz anderes Verhältnis des Wissenstransfers, denn die Medizin liegt außerhalb des genuin rhetorischen Bereiches. Theorien und praktische Ratschläge aus der Medizin haben sich aber in den Überlegungen der Rhetoriker zur Stimme niedergeschlagen.

5.2.2 Grammatik und Rhetorik

Aus rhetorischer Perspektive dient die Grammatik v. a. der frühen Ausbildung des Redners. Was der junge Rhetorikschüler schon beim Grammatiker in der lectio, beim Vorleseunterricht, übt, so erfahren wir v. a. aus Quintilian, lernt er ähnlich später beim Rhetor in der pronuntiatio, beim Vortrag.63 Der Grammatiker bringt dem Schüler anhand von Dichtertexten Grundlagen der pronuntiatio bei, nämlich »wie ein Knabe wissen kann, wo er den Atem in der Schwebe halten muss, an welcher Stelle eines Verses er einen Einschnitt machen muss, wo ein Gedanke abgeschlossen wird, wo er beginnt, wann die Stimme gehoben oder wann sie gesenkt werden muss, was mit jeweils welcher Modulation vorgetragen werden muss, was langsamer, was schneller, was erregter, was sanfter« (inst. 1,8,1). Und der Grammatiker achtet u. a. darauf, dass der Rhetorikschüler keine zu starke Stimmvariation einübt, auch wenn sie der Darstellung verschiedener Personen gilt (inst. 1,8,3). Bei der Behandlung des rednerischen Vortrags greift Quintilian auf diese Kenntnisse aus dem Grammatikunterricht zurück. Insbesondere sein Abschnitt über die oratio distincta (inst. 11,3,35–39), die richtig phrasierte Rede, setzt Wissen aus dem Grammatikunterricht voraus, denn der Vortrag des Redners werde dann richtig phrasiert, wenn der Redner die unterschiedlichen Arten an Pausen, die ihm zur Verfügung stehen, richtig setzt und das hat er beim Grammatiker durch den Vortrag von Dichtung bereits gelernt.64 Quintilian veranschaulicht seine rhetorischen Vorschriften dann auch wie im Grammatikunterricht zunächst anhand eines poetischen Textes, nämlich der Aeneis Vergils. Neben der richtigen Phrasierung der Rede (oratio distincta) ist bei ihm die deutliche Aussprache der Einzellaute (inst. 11,3,33–35) eine von zwei Bedingungen für den deutlichen Vortrag (dilucida pronuntiatio). Quintilian hat die richtige Aussprache allerdings, obwohl sie ein Kerngebiet der Grammatiker ist,65 dem Komöden anvertraut (vgl. inst. 1,11,4–8).

63 Vgl. Kapitel 2.4.1. 64 Zur oratio distincta vgl. Kapitel 4.2.3. 65 Zum Interesse der Grammatiker an der Artikulation vgl. Kapitel 2.4.1.

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Schlussfolgerungen

5.2.3 Schauspielkunst und Rhetorik

Der Schauspieler erhält bei Quintilian durch diese Aufgabe in der Früherziehung des Redners wie der Grammatiker eine propädeutische Funktion.66 Im Unterschied zum Grammatiker tritt der Schauspieler aber wie der Redner auch selbst öffentlich auf. So wird der Vortrag von beiden schon im Griechischen mit ein und demselben Wort bezeichnet, mit ὑπόκρισις.67 Die Rhetoren wissen, dass der Redner wie der Schauspieler von seinem Vortrag abhängig ist. So verweist Dionysios von Halikarnassos (Dem. 53, p. 244,5–11) im 1. Jh. v. Chr. zur Betonung der Wichtigkeit des rednerischen Vortrags auf den der Schauspieler, deren Wirkung je nach Qualität des Vortrags ganz unterschiedlich ausfalle.68 Ähnlich macht im 3. Jh. n. Chr. Kassios Longinos darauf aufmerksam, dass man von den besten Schauspielern genau lernen könne, welchen Unterschied in Hinblick auf Wohlwollen oder Ablehnung der Zuhörer es für einen Vortragenden mache, ob man mit oder ohne Vortragskunst vortrage (rhet. p. 196,2–5). Vielleicht hat Kassios Longinos auch erklärt, wie der Redner von den Schauspielern die Darstellung der Einzelaffekte erlernen kann.69 Daher wird die Schauspielkunst von den Rednern und Rhetoren zu einem gewissen Grad als Vorbild für die Rhetorik betrachtet. Der Redner kann vom Schauspieler lernen. Schon Demosthenes holt sich angeblich bei einem Schauspieler Hilfe, um seine schlechten Vortragsleistungen zu verbessern und hat damit Erfolg.70 Sein Zeitgenosse Aristoteles prophezeit, dass eine Kunst des rhetorischen Vortrags, wenn sie denn entwickelt würde, das Gleiche erreichen werde wie die Kunst des Schauspielers (rhet. 1404a12–13). Redner, die sich auf die Vortragskunst stützen, würden so erfolgreich sein wie Schauspieler.71 An anderer Stelle wird der abwechslungsreiche Vortrag des Schauspielers von Aristoteles als vorbildlich für den Redner ausgewiesen (rhet. 1413b21–31). In Rom bewundern später 66 Einen Überschneidungsbereich weniger der Rhetorik, sondern mehr der Grammatik und Schauspielerei mit Bezug auf den mündlichen Vortrag stellt der Terenzkommentar des Grammatikers Aelius Donatus (4. Jh.) dar. Aus der Sicht Donats dient der Vortrag (des Schauspielers) v. a. der richtigen Charakterzeichnung (vgl. JAKOBI [1996], S. 8–14). 67 Dies ist v. a. von Aristoteles an in der peripatetischen Schule üblich (vgl. ZUCCHELLI [1962], S. 63, 66). Seit wann genau der Begriff ὑπόκρισις in der Rhetorik gebraucht wurde, lässt sich nicht sagen (vgl. ebd., S. 65). Zur Bedeutungsentwicklung des Wortes ὑπόκρισις vgl. ebd., S. 57–73. 68 Zu Dionysios von Halikarnassos vgl. Kapitel 3.2.4. 69 Eine Textlücke an dieser Stelle ist nämlich nicht unwahrscheinlich, vgl. Kapitel 3.3.1. 70 Zu Demosthenes’ Schwächen im Vortrag und den Übungen, die sie beheben sollten, vgl. Kapitel 2.2.2. 71 Zu Aristoteles vgl. Kapitel 3.1.3.

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Cicero und Quintilian den Vortrag von komischen und tragischen Schauspielern wie Roscius und Aesopus.72 Quintilian erwähnt dabei die Feinheit (elegantia) des Schauspielers als erstrebenswert (inst. 11,3,184). Trotz aller Bewunderung für die Schauspielkunst darf aber der Vortrag des Redners aus Sicht der Rhetorik nicht wie der Vortrag eines Schauspielers wirken. Die gerade erwähnte Feinheit des Schauspielers bspw. steht nämlich nach Quintilian in gewissem Widerspruch zur Eigenschaft der auctoritas, die der Redner (auch im Vortrag) zeigen muss (inst. 11,3,184). Insofern bemüht sich die Rhetorik um eine Abgrenzung des Redners vom Schauspieler und um eine Abgrenzung der rednerischen Vortragsart von der schauspielerischen.73 Daher lobt Seneca d. Ä. am Vortrag des Severus Cassius, dass er einen Schauspieler hätte auszeichnen74 können – womit er an dieser Stelle implizit die Anforderungen an den Vortrag des Schauspielers über die an den Redner stellt –, aber dennoch nicht wie der eines Schauspielers erschien: pronuntiatio quae histrionem posset producere,〈nec〉 tamen quae histrionis posset videri (contr. 3 praef. 3). Redner, deren Auftritt zu stark an den von Schauspielern erinnert, werden kritisiert. So wird Hortensius wegen seiner lebhaften Gestik als Schauspieler abgetan (Gell. 1,5,2)75 und Messalla nimmt in Tacitus’ Dialogus Anstoß an den histrionales modi, den schauspielerischen76 Rhythmen77 der zeitgenössischen Redner (Tac. dial. 26,1–3). Den Hauptunterschied macht dabei aus Sicht der römischen Rhetorik die Verwurzelung des Redners und seines Vortrags in der Realität im Vergleich zur fiktiven Welt des Schauspielers und seines Vortrags aus.78 Der Redner, so meinen Ciceros berühmte Dialogfiguren in De oratore, Antonius (de orat. 2,34) und Crassus (de orat. 3,214), die selbst herausragende Redner waren, tritt in einer wirklichen, realen Situation auf und spielt seine 72 Siehe z. B. Cic. de orat. 3,102 und Quint. inst. 11,3,111. Insbesondere Roscius gilt als so großer Könner seiner Kunst, dass sein Name zum Inbegriff des vollendeten Künstlers wird (vgl. Cic. de orat. 1,130.258 und Brut. 290). 73 Zur Ablehnung der schauspielerischen actio insgesamt vgl. Cic. orat. 86 (accedet actio non tragica nec scaenae) sowie Quint. inst. 1,12,14 (non comoedum in pronuntiando nec saltatorem in gestu facio) und 11,3,181 (non enim comoedum esse, sed oratorem volo). Zur Abgrenzung der Gestik des Redners von der des Schauspielers vgl. Cic. de orat. 3,220. 74 Zu dieser Bedeutung von producere vgl. ThlL, s. v. produco S. 1637,44 ff. 75 Nach Valerius Maximus (8,10,2) haben sogar die Schauspielergrößen Aesopus und Roscius von Hortensius gelernt, indem sie sich bei seinen Vorträgen Gesten von ihm abschauten, um diese dann selbst auf der Bühne zu zeigen. 76 Hier ist v. a. an Mimendarsteller gedacht, vgl. MAYER (2001), S. 172 und GUDEMAN (21914), S. 393. 77 Diese Rhythmen ergeben sich durch lascivia verborum, levitas sententiarum und licentia compositionis. 78 Vgl. FANTHAM (2002), S. 363.

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Schlussfolgerungen

eigene Rolle, während der Schauspieler nur in der fiktiven Theaterwelt die Rolle, die ein Dichter erdacht hat, übernimmt. Die Redner stellten daher mit ihrem Vortrag Wirklichkeit (veritatis actores), d. h. v. a. echte Emotionen dar, die Schauspieler ahmten sie nur nach (imitatores veritatis).79 Crassus kritisiert dabei, dass die Redner den Schauspielern das gesamte Gebiet der Vortragskunst überlassen hätten (de orat. 3,214).80 Auch Quintilian macht die Fiktivität des Vortrags zum entscheidenden Unterschied von Redner und Schauspieler (inst. 11,3,5). Wenn er seinen Rhetorikschüler daher auch beim Komödienschauspieler in den Vorunterricht schickt, so soll sich der (angehende) Redner dennoch in seinem Vortrag deutlich vom Schauspieler unterscheiden (plurimum tamen aberit a scaenico), da die Kunstleistung (ars) beim Redner nicht erkannt werden dürfe (inst. 1,11,3). Anders als der Schauspieler verwandelt sich der Redner beim Vortrag auch nicht in eine andere Person, die er nachahmt, sondern bleibt er selbst. Er soll sich selbst kennen (norit se quisque) und den Plan, wie er seinen Vortrag gestalten will, nicht nur aus allgemeinen Vorschriften, sondern auch aus seinem eigenen Wesen (ex natura sua) gewinnen (inst. 11,3,180), was Quintilian im Zusammenhang mit dem aptum des Vortrags ausführt, wobei das Schauspielerische als unangemessen für den Redner vom rhetorischen Vortrag abgegrenzt wird.81 Dieses Spannungsverhältnis, das die Rhetorik mit der Schauspielkunst verbindet, die in manchem als Vorbild gilt, aber aufgrund der fiktiven Situationen, auf die sie sich bezieht, andere Voraussetzungen hat, lässt sich auch speziell mit Bezug auf die Stimme feststellen. Die Stimme des Schauspielers gilt den Rhetoren nämlich durchaus als Vorbild. Nach Cicero (de orat. 1,128) benötigt der Redner die Stimme der Tragöden (vox tragoedorum). Quintilian, der sich auf diese Cicero-Stelle bezieht, bewundert am Vortrag seines Zeitgenossen Trachalus, dass dessen Stimme sogar alle Tragöden überragt habe: vox quidem non, ut Cicero desiderat, paene tragoedorum, sed super omnis, quos ego quidem audierim, tragoedos (inst. 12,5,5). Auch aus der anderen Stelle, an der Trachalus von Quintilian gelobt wird (inst. 10,1,119), geht hervor, dass Quintilian die stimmlichen Anforderungen an den Vortrag der Schauspieler noch über die der Redner setzt. Denn er lobt Trachalaus dafür, dass nicht zuletzt dank der glücklichen Naturanlage seiner Stimme (vocis, quantam in nullo cognovi, felicitas) seine Vor-

79 Vgl. Kapitel 3.2.2. 80 Bei Philodem findet sich die entgegengesetzte Kritik (vgl. Kapitel 3.2.3). Er wendet sich gegen das Eindringen der Rhetoriker in Bereiche, die ihnen nicht zustehen. Daher betont er, dass die Schauspieler im Vortrag keine Hilfe von den Rhetoren benötigen (rhet.4 Col.XIIa8– 14). 81 Vgl. Kapitel 3.2.5.

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tragsleistung sogar für die Bühne ausgereicht hätte (pronuntiatio vel scaenis suffectura). Dabei scheint ein starker, angenehmer, glänzender Klang der Stimme mit Schauspielern assoziiert worden zu sein. Cicero (Brut. 203) beschreibt jedenfalls die Stimme eines Redners, der »sozusagen ein Redner wie ein Tragödienschauspieler« (ut ita dicam, tragicus orator) gewesen sei.82 Neben der Schönheit ist offenbar auch der Affektausdruck in der Stimme der Schauspieler als vorbildhaft empfunden worden. Cicero lässt Crassus in De oratore (3,217–219) nämlich die verschiedenen Gestaltungen der Stimme für verschiedene Affekte anhand von zehn Zitaten aus Tragödien (und einer Komödie) erläutern.83 Quintilian trägt dem Komödienschauspieler auf, beim angehenden Redner nicht nur Aussprachefehler und allgemeine Vortragsfehler zu korrigieren (inst. 1,11,4–8), sondern auch geeignete Stellen aus Komödien auszuwählen, die Prozessreden sehr ähnlich seien und anhand derer er dem Rhetorikschüler u. a. die Stimmführung beim Erzählen, beim Überreden, im Zorn und im Mitleid – also auch bei Affekten – beibringen könne (inst. 1,11,12). Der Komöde soll dabei aber in der Wissensvermittlung nur so weit gehen, wie es der Vortrag des zukünftigen Redners verlangt (eatenus, qua pronuntiandi scientiam futurus orator desiderat), was insbesondere die Stimmnachahmung von z. B. Frauen oder Greisen durch den angehenden Redner ausschließt (inst. 1,11,1).84 Das Gleiche verlangt Iulius Victor (rhet. 24 p. 441,26–35) von einem Redner, der sich – was durchaus erlaubt ist – einen Schauspieler als lebendes Vorbild (vivum exemplum) im Vortrag genommen hat.85 Die Einschränkungen, die Quintilian und Iulius Victor machen, zeigen somit bei aller Beachtung der schauspielerischen vox auch deutliche Unterschiede zwischen Redner- und Schauspielerstimme auf. Erstens muss die Stimme des Redners nämlich wie sein Vortrag insgesamt natürlich wirken. Der Vorwurf der Schauspielerei an einen Redner bzw. an seine Stimmführung zielt daher auf den Vorwurf der Unechtheit des in der Stimme dargestellten Gefühls. Wenn er nicht natürlich wirkt, kann ihm leicht Künstlichkeit unterstellt werden. So behauptet Demosthenes (de cor. 287), dass sein Gegner Aischines im Ton der Trauer beim Beklagen des Loses von Gefallenen zwar »mit seiner Stimme weine« (τῇ φωνῇ δακρύειν), aber dies wie ein Schauspieler tue (ὑποκρινόμενον), d. h. dass er nicht im Herzen mittrauere (τῇ ψυχῇ συναλγεῖν).86 82 Zu den Bewertungen von Rednerstimmen im Brutus vgl. Kapitel 3.2.2. 83 Vgl. ebd. 84 Zum Unterricht im mündlichen Vortrag beim Komöden im Einzelnen (Quint. inst. 1,11) vgl. Kapitel 2.4.1. 85 Zu Iulius Victor vgl. Kapitel 3.3.2. 86 Zu Demosthenes und Aischines vgl. Kapitel 3.1.1.

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Schlussfolgerungen

Neben der Forderung nach Natürlichkeit wird auch die Forderung nach dem Maßvollen erhoben, das der Stimme des Redners im Vergleich zum Schauspieler eignen soll, wie Quintilian bei seinem Vergleich des Vortrags von Redner und Komödienschauspieler (anhand von Ter. Eun. 46–48) zeigt (inst. 11,3,182). Wo der Schauspieler zögernde Pausen und Variationen in der Stimmhöhe, dubitationis morae, vocis flexus, (sowie verschiedene Handund Kopfbewegungen) anwendet, sei der Redner vorsichtiger. Denn die Rede schmecke anders und wolle weniger gewürzt sein (als das Bühnenstück): aliud oratio sapit nec vult nimium esse condita. Im Vergleich zum Komöden muss der Redner also v. a. maßvoller, weniger variierend und natürlicher sprechen. Mit dem Tragöden verbindet den Redner, zumindest wenn er im dignitas-Ton, wie ihn der Auctor ad Herennium beschreibt, spricht, wohl der besondere, würdevolle Wohlklang der Stimme. Der Auctor warnt aber davor, dass dieser würdevolle Ton, eine Art Grundton des römischen Redners, ins Tragische (ab oratoria consuetudine ad tragicam) geraten könne (Rhet. Her. 3,14,24).87 Diese Gefahr besteht wohl, weil der würdevolle Ton volltönend-sonor (plenis faucibus) und äußerst ruhig und tief (quam sedatissuma et depressissuma vox) klingt. Zweitens muss und darf die Stimme des Redners nicht in gleichem Maße wie die Stimme des Schauspielers umsorgt und gepflegt werden.88 Antonius fordert in De oratore, der Redner solle seine Stimme, so notwendig sie ihm auch ist, nicht mit der speziellen Auf- und Abstiegsübung pflegen, wie dies die griechischen Tragödienschauspieler täten (de orat. 1,251).89 Crassus grenzt in De oratore (3,224), wie auch der Auctor ad Herennium,90 den Bereich Stimmpflege (cura) ganz aus seinen Ausführungen zum stimmlichen Vortrag aus. Quintilian hingegen nennt einige grundsätzliche Gemeinsamkeiten (inst. 11,3,19–21)91 und etwas mehr Unterschiede (inst. 11,3,24–29)92 in der Stimmpflege des Redners mit den phonasci.93 Der Redner muss nach Quintilian einen Mittelweg gehen zwischen der Vernachlässigung der Stimmpflege, zu der ihn sein anspruchsvoller Beruf wohl zwingen könnte, und der Übertreibung der Stimmpflege, die ihn in die Nähe von (realitätsfernen) Künstlern rückt und ihm zu viel Zeit für die wirklich wichtigen Aufgaben stiehlt. Zudem sieht man Rednern offenbar eine nicht 87 Vgl. Kapitel 4.1.3. 88 Zur Stimmpflege in der Rhetorik vgl. Kapitel 5.2.5. 89 Zur Auf- und Abstiegsübung vgl. Kapitel 2.3. 90 Vgl. Kapitel 5.2.5. 91 Vgl. Kapitel 4.2.2. 92 Vgl. ebd. 93 Auf Quintilians Ausführungen basiert noch maßgeblich Fortunatians Kapitel zur diligentia et cura vocis, der Stimmpflege (rhet. 3,15–18 p. 130,14–131,29), vgl. Kapitel 2.2.1 und 5.2.5.

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perfekt gepflegte Stimme eher nach. Gerade beim Schauspieler bleibt die Vernachlässigung der Stimme aber nicht ohne negative Folgen. So wird Aesopus, den Cicero (Sest. 123) für seine Stimme lobt (vox eius illa praeclara), einmal aufgrund seiner Heiserkeit vom Publikum ausgebuht (vgl. Cic. de orat. 1,259 und fam. 7,1,2). Beim Schauspieler komme es auch nur darauf an, den Ohren der Zuhörer akustischen Genuss (voluptas aurium) zu bereiten, der Redner hingegen könne auch durchaus einmal heiser auftreten (de orat. 1,259). Dies sagt der große Redner Antonius, dem ja, wenn wir Cicero glauben dürfen, seine von Natur aus etwas heiser klingende Stimme sogar zum Vorteil gereichte (Brut. 141–142).94

5.2.4 Musik und Rhetorik

Auf ganz ähnliche Art gespalten ist das Verhältnis der Rhetorik zur Musik. Der Überschneidungsbereich liegt dabei in der Stimmmodulation, mit Quintilians Worten in den flexus vocis (inst. 1,10,22).95 Bei jedem Menschen wirkten unterschiedliche Gefühle auf natürliche Art und Weise unterschiedlich auf die Modulation der Stimme ein. So soll schon der Aristoteles-Schüler Theophrast gesagt haben, dass die Emotionen Trauer (λύπη), Freude (ἡδονή) und Verzückung (ἐνθουσιασμός) die Stimme von ihrer üblichen Gestaltung ablenken und sie verändern (παρατρέπειν ἐκ τοῦ συνήθους καὶ παρεγκλίνειν) (Plut. mor. 623A).96 Auch nach Cicero (de orat. 3,216) und Quintilian (inst. 11,3,61) besteht ein natürlicher Zusammenhang zwischen einem empfundenen Affekt und seinem spezifischen Ausdruck in der Stimme.97 Eine besonders starke Stimmmodulation erzeugten dabei Gefühle von Trauer, Klage und Mitleid, denen von Natur aus etwas Gesanghaftes innewohne.98 Gerade in den Partien der Rede, in denen der Redner diese Gefühle äußert, nähert sich seine Stimme offenbar dem Gesang an. Dies zeigen auch Kassios Longinos’ Ausführungen zum Mitleid.99 Um es stimmlich auszudrücken, sei es nötig, einen Klang zwischen Rede und Gesang zu erzeugen (οἰκτιζόμενον δὲ δεῖ μεταξὺ λόγου 94 Zur Bewertung von Antonius’ Vortrag im Brutus vgl. Kapitel 3.2.2. 95 Vgl. auch inst. 1,10,27: age, non habebit in primis curam vocis orator? quid tam musices proprium? Zur Bedeutung der Musik für die römische Rhetorik insgesamt vgl. WILLE (1967), S. 447–459. 96 Vgl. Kapitel 3.1.4. 97 Vgl. Kapitel 3.2.2 und 4.2.3. 98 Diesen natürlichen Zusammenhang thematisierte zuerst Theophrast (nach dem bereits erwähnten Zeugnis von Plut. mor. 623A-C). Vgl. auch Longin, rhet. p. 197,6–10. Zu dem entsprechend durch den Redner erzeugten Ton vgl. Cic. de orat. 3,217 und Quint. inst. 11,3,64. 99 Zu Kassios Longinos vgl. Kapitel 3.3.1.

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Schlussfolgerungen

τε καὶ ᾠδῆς τὸν ἦχον ποιήσασθαι) (rhet. p. 197,4–6). Diese Erregung von Mitleid und ähnlichen Affekten geschieht zumeist im Epilog der Rede. Nach Theophrast (Plut. mor. 623B) nähern deshalb auch die Redner in den Epilogen allmählich ihre Stimme dem Singen an (τῷ μελῳδεῖν προσάγειν … τὴν φωνήν). Genau darin liegt für die Rhetoriker von Cicero an aber auch die Gefahr. Denn der Vortrag des Redners soll nicht wie Gesang wirken. Der Redner ist nicht nur kein Schauspieler, er ist auch kein Sänger. Schon im Zusammenhang mit der Dichterlektüre beim Grammatiker fordert Quintilian, dass die Stimmmodulation des Rhetorikschülers nicht zu stark ausfallen dürfe, weil sie dann gesanghaft wirke (inst. 1,8,2).100 Cicero kritisiert das Singen (paene canticum) kleinasiatischer Rhetoren aus Phrygien und Karien im Epilog (orat. 57) und Quintilian tadelt das Singen als schlimmsten Fehler der zeitgenössischen Redner überhaupt (inst. 11,3,57–60). Die rhetorische Modulation, die dem Redner hingegen erlaubt ist, nennt Cicero (und in seiner Folge auch Quintilian und Iulius Victor) cantus obscurior, eine Art verborgenen Gesang (orat. 57).101 Er erlaubt Stimmmodulationen (vocis flexiones), wie sie Demosthenes und Aischines eingesetzt und sich gegenseitig vorgeworfen haben. Auch Quintilian gestattet solche Stimmmodulationen im Rahmen des cantus obscurior (inst. 11,3,60), die er flexus (inst. 11,3,60) bzw. inclinationes vocis (inst. 11,3,168) nennt.102 Cicero und Quintilian folgt auch Iulius Victor (rhet. 24 p. 443,5–19), der eine männliche und unmodulierte Aussprache (virilis et recta pronuntiatio) verlangt, gewissermaßen eine (nur leichte) Tonhöhenvariation im Verborgenen (obscurus quidam flexus). Den melodischen Gesang (modulata cantatio) aber lehnt auch er ab.103 Neben der Stimmmodulation als Vergleichspunkt zwischen Redner und Sänger gibt es noch einen anderen Überschneidungsbereich von Rhetorik und Musik im Zusammenhang mit der Stimme, der nicht den Vortrag betrifft, sondern Vorstellungen von der Erzeugungsweise der Töne. Er setzt bei den »Instrumenten« der beiden Künste an.104 Cicero und Quintilian nämlich vergleichen die menschliche Stimme mit einem Saiteninstrument.105 Crassus (de orat. 3,216) stellt diesen Vergleich im Zusammenhang mit seinen Ausführungen zur natürlichen Entsprechung von Affekt (motus 100 Vgl. Kapitel 2.4.1. 101 Vgl. Kapitel 3.2.2. 102 Vgl. Kapitel 4.2.3. 103 Vgl. Kapitel 3.3.2. 104 Zu Quintilians Auffassung der Stimme als »Instrument« vgl. inst. 12,5,5: sunt et naturalia … quae tamen et cura iuvantur instrumenta, vox latus decor. 105 In inst. 11,3,16 hingegen vergleicht Quintilian die stimmerzeugenden Organe mit Instrumenten bzw. Tonwerkzeugen (organa) ganz allgemein. Vgl. Kapitel 4.2.1.

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animi) und dessen Ausdruck in Gesicht, Körper und Stimme (vultus et sonus et gestus) an.106 Sein Vergleich insbesondere der vox mit einem Saiteninstrument soll zeigen, dass eine Stimme, je nachdem wie und von welchem Affekt sie »gespielt« wird, unterschiedlich tönen und klingen kann. Jeder Affekt spielt auf dem Instrument der Stimme anders. Stimmen bzw. die Töne der Stimme seien gespannt wie die Saiten eines Instruments (voces ut chordae sunt intentae), die auf jede Berührung, d. h. jede Gefühlsregung, entsprechend antworten (quae ad quemque tactum respondeant), und zwar hoch oder tief (acuta gravis), schnell oder langsam (cita tarda) und laut oder leise (magna parva). Auch Quintilian vergleicht – im Rahmen seiner Ausführungen zur mittleren Tonlage – die Stimme mit einem Saiteninstrument (inst. 11,3,42), wobei er sich besonders für das Verhältnis von Spannung und Tonfülle sowie Tonhöhe interessiert.107 Die Stimme sei wie die Saiten eines Instruments (ut nervi): je entspannter sie sei, desto tiefer und voller (quo remissior hoc gravior et plenior), je angespannter sie sei, desto dünner und höher (quo tensior hoc tenuis et acuta magis). An dieser Stelle ist also die Anspannung der Saiten bzw. der Stimme der entscheidende Vergleichspunkt. Dabei hat Quintilian, so naheliegend es uns zunächst auch scheinen mag, sicher nicht an die Stimmbänder des Menschen gedacht. Denn diese sind der Antike erst ab Galen bekannt.108 Enger an Cicero (de orat. 3,216) angelehnt, der v. a. die Veränderung durch die Technik, die »Spielweise« an der Saite bzw. Stimme im Blick hat, ist Quintilians spätere Äußerung, die Stimme klinge so, wie sie angeschlagen würde: sonatque vox ut feritur (inst. 11,3,61). Sie steht wie bei Cicero im Zusammenhang mit dem Ausdruck verschiedener Affekte in der vox.109 Darüber hinaus vergleicht Quintilian (inst. 11,3,20) die Kehle (fauces), deren Eigenschaften sich auf die Stimme, die sie produziert, auswirken, mit dem Instrument tibiae, das unserer heutigen Oboe am ähnlichsten ist.110 Denn wie bei der Stimme hänge auch bei den tibiae der hervorgebrachte Ton wesentlich von der Eigenschaft des Instrumentes ab. Es ist gut denkbar, dass hier ein Schnittpunkt der Rhetorik nicht nur mit der Musik, sondern auch mit der Medizin vorliegt und Quintilian sich bei seiner Parallele von fauces und tibiae auch auf medizinisches Wissen seiner Zeit stützt. Denn ähnlich vergleicht (allerdings gut 100 Jahre später) der Arzt Galen den 106 Vgl. dazu ausführlich Kapitel 3.2.2. 107 Vgl. Kapitel 4.2.3. 108 Dass Galen auch die Vibration der Stimmbänder bzw. der Stimmlippen kannte, ist nicht ganz auszuschließen, lässt sich aber auch nicht mehr eindeutig nachweisen, vgl. Kapitel 2.1.5. 109 Vgl. Kapitel 4.2.3. 110 Vgl. Kapitel 4.2.2.

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Schlussfolgerungen

Kehlkopf-Luftröhre-Komplex mit einem αὐλός, dem griechischen Gegenstück der tibia.111

5.2.5 Medizin und Rhetorik

An anderen Textstellen lässt sich der Einfluss der medizinischen Theorien, die in der Antike auch in philosophischen Schriften verhandelt werden, deutlicher zeigen. Ihre Kenntnis trägt dort maßgeblich zum Verständnis gerade der bislang nicht erklärbaren Partien (wie Rhet. Her. 3,12,21 über die arteria(e) und Quint. inst. 11,3,16 über den spiritus)112 bei. Der Einfluss der Medizin auf die Rhetorik zeigt sich dabei insgesamt in drei Formen. Erstens sind die Rhetoren von bestimmten Vorstellungen von der Bildung der Stimme beeinflusst, die ihren Ausführungen zugrunde liegen, ohne dass sie sie explizit machen müssen. Um den wichtigsten Unterschied zwischen der antiken und modernen Stimmbildungstheorie vorab noch einmal zu betonen: Die Vibration der Stimmlippen, die die Stimme erzeugen, ist der Antike noch nicht bekannt.113 Stattdessen sind die zwei Konzepte eines stimmerzeugenden Schlages (πληγή/ictus) und der (Körper- oder Luft-) Spannung (τόνος/intentio) vorherrschend, die wiederum in ganz unterschiedlichen Ausformungen existieren.114 Aristoteles z. B. hält den Schlag der Atemluft gegen die Luftröhre für den stimmerzeugenden Schlag.115 Stoiker (und Grammatiker), die sich allerdings mit der artikulierten Sprache befassen, gehen von einem Schlag der Zunge gegen die Atemluft aus.116 Die Spannung von Körper und Luft wird ebenfalls v. a. in der Stoa, bei Cicero und Seneca, als wichtig für die Stimmerzeugung betrachtet.117 Diese Theorien finden sich auch in den rhetorischen Texten. Ohne

111 Zu diesem Vergleich Galens vgl. Kapitel 2.1.5. 112 Vgl. Kapitel 4.1.3 und 4.2.1. 113 Vgl. Exkurs 1. Selbst falls Galen in Περὶ φωνῆς doch die Vibration der Stimmlippen beschrieben haben sollte (was sich nicht sicher nachweisen lässt), hat sich diese Kenntnis aufgrund des frühen Verlustes der Schrift nicht verbreitet, vgl. Kapitel 2.1.5. 114 Vgl. zusammenfassend Kapitel 2.5. 115 Genauer gesagt handelt es sich um den mittels der eingeatmeten Luft ausgeführten Schlag der in der Luftröhre befindlichen Luft gegen die Luftröhre, vgl. Kapitel 2.1.2. 116 Vgl. Kapitel 2.1.4 und 2.4.1. Außerhalb der wissenschaftlichen Texte findet sich ein Beispiel für die Verbreitung der Schlagtheorie in Ov. met. 9,584, wo die Erzeugung der Wörter (hier offenbar gedacht als artikulierte Stimme, voces) von der Zunge ausgeht und mittels geschlagener Luft erfolgt: linguaque vix tales icto dedit aere voces (»und die Zunge gab kaum mittels der geschlagenen Luft folgende Worte von sich«). 117 Vgl. Kapitel 2.1.4.

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direkten Einfluss auf die Rhetorik bleibt allerdings die atomistische Theorie.118 Zwar lässt sich nicht immer eindeutig klären, welche der philosophischen und medizinischen Autoren den Rhetorikern jeweils bekannt waren. Man kann aber die Stimmtheorien teilweise auch aus den rhetorischen Texten selbst rekonstruieren. Am einfachsten lässt sich die Frage nach medizinischem Hintergrundwissen bei Cicero beantworten, da er sich auch außerhalb der rhetorischen Werke mit der Stimme befasst hat. Seine Auffassungen zur Entstehung der Stimme, wie sie Balbus in De natura deorum vertritt, und seine eigenen Erfahrungen mit dem Stimmtraining, wie er sie im Brutus beschreibt, sind hierfür wichtige Zeugnisse.119 Schwieriger ist der medizinische Hintergrund des Auctor ad Herennium ausfindig zu machen, über den man am meisten bei seiner Besprechung der firmitudo vocis erfährt (Rhet. Her. 3,12,21–22). Hier gibt der Auctor voraussetzungsreiche, nicht leicht verständliche Anweisungen zur Erhaltung der Stimmausdauer (während der Deklamationsübung), die auf einer medizinischen Vorstellung beruhen, deren Rekonstruktion durch einen Text von Plutarch aus De tuenda sanitate praecepta (mor. 130B-C) erleichtert wird.120 Vor diesen physiologischen Hintergründen werden die Anweisungen des Auctor verständlicher. Demnach soll man am Anfang ruhig und gedämpft sprechen, längere Pausen machen, nicht durchgehend laut sprechen, abwechslungsreich sprechen, keine schrillen Ausrufe machen und erst am Ende der Rede lange am Stück ohne Atempause sprechen. Diese Anweisungen sind immer rückgebunden an die arteriae, die der Auctor für wichtig bei der Stimmerzeugung hält.121 Damit meint er die Luftwege, in denen die Atemluft, die ja auch die Stimme erzeugt, transportiert wird, die »Arterien«. Zu diesen zählt nach antiker Vorstellung offenbar auch die Luftröhre, die der Auctor mit dem Singular arteria bezeichnet.122 Die Luftröhre soll erst mit sanfter Stimme geschmeidig gemacht werden, danach dürfen heftigere Töne folgen. Durch Schweigen kommen die Luftwege zur Ruhe, am Ende der Rede füllen sie sich stärker mit Luft an – vermutlich aufgrund der gestiegenen Körperwärme, die die Organe weitet. Auch zur Vorstellung des Auctor von der Stimmentstehung erfahren wir hier etwas. Demnach gibt es bei der Bildung der Stimme einen Schlag (ictus) in der Luftröhre (wie bei 118 Vgl. ebd. 119 Vgl. Kapitel 2.1.4 und 2.2.2. Zur Stimme in Ciceros rhetorischen Werken vgl. Kapitel 3.2.2. 120 Zu den Einzelheiten siehe die Erläuterungen in Kapitel 4.1.3. 121 Zu dem schwierigen Begriff arteria(e) siehe den Exkurs 4 in den Erläuterungen zu Rhet. Her. 3,12,21 (in Kapitel 4.1.3). 122 Der medizinische und im Unterschied zu arteria eindeutige Fachbegriff für die Luftröhre ist arteria aspera (Cic. nat. deor. 2,136).

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Schlussfolgerungen

Aristoteles), der zu einer Verletzung (vulnus) führen kann, wenn man schrill und hoch schreit, weil er dann wohl zu heftig ausfällt. Der Auctor kennt also (ähnlich auch bei Plutarch bezeugte) Anweisungen zur rhetorischen Stimmpflege und offenbar auch eine auf Aristoteles basierende Vorstellung des stimmerzeugenden Schlages in der Luftröhre.123 Auch bei Quintilian gibt es eine Variante der akustischen Schlagtheorie: Aus einem Schlag (conflictio) zweier Körper aufeinander entstehe ein Klang (sonus).124 Einflüsse dieser allgemeinen Klangtheorie konkret auf die Vorstellung von der Stimmbildung lassen sich allerdings nicht ausmachen. Von der aristotelischen Grundidee des Schlages der Luft gegen die Luftröhre z. B. findet sich bei ihm, anders als beim Auctor ad Herennium, keine Spur. Insgesamt scheinen Quintilians Auffassungen vielmehr von Cicero und Plinius d. Ä. sowie von Einflüssen aus Diätetik und Grammatik geprägt.125 So bleiben die Anspielungen auf seine Kenntnis von verschiedenen Theorien der Stimmerzeugung bzw. der Stimmunterschiede, die sich v. a. auf die Atemluft und ihren Weg durch den Körper (inst. 11,3,16) beziehen, sehr allgemein, weil er sie als nicht notwendig für die praktische Ausbildung der Rednerstimme aus seinem Themengebiet ausgrenzt.126 Dabei steht neben dem Atem (spiritus) auch dessen Anspannung (intentio) im Vordergrund. Denn die Anspannung des Atems sei für die unterschiedliche Gestaltung der Stimme notwendig (inst. 11,3,41.45.55). Darin ist Quintilian Seneca nicht unähnlich.127 Der zweite Einflussbereich der Medizin auf die Rhetorik liegt in den Anweisungen zur Pflege der Stimme, die auf alle Berufsgruppen, die von ihrer Stimme lebten, eingewirkt haben, d. h. v. a. auf Redner, Sänger und Schauspieler.128 Die Rhetorik grenzt sich zwar, wie bereits gezeigt wurde, von Schauspielern und auch Sängern u. a. dadurch ab, dass sie deren als übertrieben erachtete Pflege der Stimme ablehnt.129 Sie übernimmt aber nichtsdestoweniger immerhin einige Vorschriften, die auch dem Redner nützen, und die beiden Hauptquellen zur Stimme, der Auctor ad Heren123 Zu Aristoteles’ Schlagtheorie vgl. Kapitel 2.1.2. 124 Quintilian gibt diese seiner Meinung nach richtige Definition des sonus, die stoisch anmutet (vgl. dazu Kapitel 2.1.4 über die bei Gellius referierte Debatte der Klangentstehung zwischen Stoikern und Akademikern), in inst. 3,6,6: non enim sonus est conflicitio (sc. duorum inter se corporum), sed ex conflictione. 125 Zu den Einflüssen der Grammatik vgl. Kapitel 5.2.1. 126 Vgl. im Einzelnen Kapitel 4.2.1. Natürliche Stimmunterschiede würden erklärt durch Unterschiede in Organen der Luftspeicherung, also der Lunge (ea, in quibus aura illa concipitur), oder des weiteren Stimmweges (ea, per quae velut organa meat) sowie durch die Atemluft selbst (ipsi propria natura) oder die Art, wie sie im Körper bewegt wird (prout movetur). 127 Zu Seneca und der Bedeutung der intentio für die Stimme vgl. Kapitel 2.1.4. 128 Vgl. Kapitel 2.2 und 2.3. 129 Vgl. Kapitel 5.2.3 und 5.2.4.

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nium und Quintilian, thematisieren die Stimmpflege des Redners zumindest kurz. Für den Auctor dient die cura der Stimme der Erhaltung der Lautstärke und dem Erwerb der Stimmausdauer. Der Redner soll sich die richtige Methode der Stimmpflege (ratio curandae vocis) aber von den dafür zuständigen Fachleuchten (ii qui non inscii sunt eius artificii) einholen (3,11,20).130 Quintilian bespricht die Stimmpflege etwas ausführlicher. In seinem Abschnitt zu cura und exercitatio (inst. 11,3,19–29) grenzt er die Stimmpflege des Redners ganz deutlich von der der phonasci ab.131 Die Maßnahmen der professionellen Stimmbildner zur Stimmpflege sind ihm also bekannt. Die rhetorische Stimmpflege, die nicht übertrieben werden darf und sich daher von der der phonasci abgrenzt, betrifft die allgemeine Lebensführung (spazieren gehen, Salben, Enthaltsamkeit, Ernährung) und auch die Pflege der Kehle.132 Nach Quintilian finden sich deutliche Spuren für das Interesse an der Pflege der Stimme bei Iulius Victor, Fortunatian und Martianus Capella. Iulius Victor stützt sich im 4. Jh. bei seiner Behandlung der pronuntiatio (rhet. 24 p. 440,30–443,19) auch in den Anweisungen zur Stimmpflege, die er dabei gibt, ganz auf Quintilian, den er meistens sogar (fast) wörtlich übernimmt.133 Fortunatian (4. Jh.?), dem später Martianus Capella folgt, zeigt in seinen Ausführungen zur pronuntiatio im Verhältnis die größte Wertschätzung der Stimmpflege.134 Seine Dreiteilung der bonitas vocis in claritas (Deutlichkeit), firmitas (Stärke) und suavitas (angenehmer Klang) ist der Dreiteilung des Auctor der figura vocis in magnitudo (Stärke), firmitudo (Ausdauer) und mollitudo (Flexibilität) nicht ganz unähnlich.135 Die magnitudo fällt beim Auctor teilweise in den Bereich der cura, wie bei Fortunatian die claritas. Die firmitudo wird beim Auctor durch cura und auch durch exercitatio declamationis erreicht. Der Auctor gibt zu ihr ganz ähnliche Anweisungen wie Fortunatian zur firmitas. Die mollitudo fällt beim Auctor aber, anders als die suavitas bei Fortunatian, ganz in den rhetorischen Bereich und nicht mehr in den der Stimmpflege. Neben den Vorstellungen zu Bildung und Pflege der Stimme bei einzelnen Autoren der Rhetorik haben sich die Stimmtheorien der antiken Wissenschaften aber drittens auch in einem noch viel umfassenderen Sinne in den rhetorischen Texten niedergeschlagen, indem sie sich so tief im Denken und in der Sprache verwurzelt haben, dass sie sich auch im akustischen 130 131 132 133 134 135

Vgl. Kapitel 4.1.3. Zu den phonasci vgl. Kapitel 2.2.2. Vgl. Kapitel 4.2.2. Zu Iulius Victors Anweisungen zur Stimme vgl. Kapitel 3.3.2. Vgl. Kapitel 2.2.1. Vgl. Kapitel 4.1.3.

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Schlussfolgerungen

Vokabular ausdrücken. In den medizinischen Texten werden Eigenschaften der Stimme abhängig gemacht von der Eigenschaft der Atemluft, ihrer Menge und Temperatur, oder von der Eigenschaft der stimmerzeugenden Organe und dem Spannungszustand des Körpers.136 Gerade der Einfluss dieser um die Atemluft, ihre Menge und ihre Spannung kreisenden Theorien zeigt sich dabei nicht zuletzt in vielen Begriffen der akustischen Terminologie, z. B. indem die Spannung des Körpers oder der Atemluft als verantwortlich gilt für die Erhöhung von Lautstärke und Tonhöhe und so eine vox intenta eine laute oder hohe Stimme bezeichnen kann.137 Der Einfluss der Medizin auf die Rhetorik, wenn er sich auch auf die actio beschränkt, hat somit ein größeres Ausmaß als bisher angenommen.

136 Siehe v. a. Kapitel 2.1.2 und 2.1.5. 137 Vgl. dazu Exkurs 3 (1 und 2.5).

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Indices

Personen Aischines: 57, 85, 86, 87–89, 114, 128, 140, 157 f., 161 Anm. 375, 313, 338, 351, 360, 367, 370 Alkidamas: 20, 100 Anm. 80 Alkuin: 175–177, 356, 357 Anm. 21 Anaxagoras: 86 Anaximander von Milet d. J.: 23 Anm. 5 Anonymus Parisinus: 65 Antiphon: 21, 50 Antyllos: 17, 61 f., 64 Apthonius: 70, 71 Apuleius: 56, 280, 321 Archytas von Tarent: 24 Anm. 10 Aretaios: 61 Aristides (Redner): 86 Aristides Quintilianus: 56 Aristoteles: 19, 20, 164 Anm. 386, 180, 220, 358 – Stimmphysiologie: 23 Anm. 2, 25–35, 36, 37, 39, 40, 41, 43, 44 Anm. 98, 46 Anm. 118, 49, 60, 67, 73, 77, 78, 80, 81, 179, 199, 204, 249, 256, 261, 272, 273, 301, 372, 374 – rhetorischer Vortrag: 85, 86, 87, 90, 91, 92–102, 104, 105, 106 Anm. 112, 111 Anm. 137, 117 Anm. 163, 120, 145, 149, 150, 154, 163, 168, 216, 242, 245, 351, 352, 353, 354, 355, 356 Anm. 19, 357, 360, 361 Anm. 49, 364 Athenaios (Rhetor): 106, 136, 140 Auctor ad Herennium: 13 Anm. 3, 14, 15, 16 Anm. 12, 18, 19, 20, 51 Anm. 150, 54 Anm. 167, 60 Anm. 201, 76, 84 Anm. 3, 105, 107, 108, 109–113, 117 Anm. 167, 120, 121 Anm. 194 f. und 197, 138, 142 Anm. 292, 148 Anm. 316, 158 Anm. 363, 171 Anm. 416, 174, 182, 185–237, 247, 267, 269, 300, 301, 307, 320, 351–356, 357, 361, 362 Anm. 58, 368, 373, 374, 375 Audax (Grammatiker): 69

Augustinus: 74 f., 79, 231 Balbus, s. Cicero, De natura deorum Bellermannscher Anonymus: 56 Caelius Aurelianus: 61, 65 Catulus: 130, 287, 289 Celsus: 43, 51, 60, 61, 78, 161 Anm. 374, 263, 273, 310 Cethegus: 129, 275, 278 Chrysipp: 38, 39, 105 Cicero: 14, 17, 18, 19, 20, 21, 77, 105, 107, 109 Anm. 130, 110 Anm. 135, 113 f., 132, 133, 135, 150, 151, 152, 154, 161, 162, 168, 173, 175, 176, 187, 188, 231, 264, 275, 288, 345, 354, 355, 356, 357, 365, 366, 367, 369, 370, 371, 372, 373, 374 – De natura deorum: 39 f., 41, 44, 47, 72, 198 f., 208, 373 – De oratore: 56, 62, 64, 114–125, 137 Anm. 271, 138, 142, 144, 147, 164 Anm. 388, 208 f., 358 – Orator: 125–129, 331, 332, 334 f., 337, 338 – Brutus: 59, 129–132, 277 f. – Ciceros Stimme: 59, 157, 159, 314–318 Crassus (Redner): 129, 131, 151 – als Dialogfigur in Ciceros De oratore: 114–122, 136 Anm. 269, 161 Anm. 373, 178, 197, 241, 354, 361 Anm. 49, 365, 366, 367, 368, 370 Crassus (Triumvir): 129 Demetrios von Phaleron: 56 Anm. 176, 104, 110 Anm. 134, 140, 158 Anm. 357, 325 f. Demetrius (Schauspieler): 160 Demokrit: 37, 41, 52, 69 Demosthenes: 57, 58, 85, 87–89, 128, 136 Anm. 268, 139 f., 144–150, 157, 158, 161 Anm. 375, 168 Anm. 401, 267, 283, 313, 315, 338, 343, 344, 351, 355, 357 Anm. 20, 358, 360, 364, 367, 370 – Stimmübungen: 14, 55, 56, 81 Anm. 300, 297, 325, 326, 329, 361 Anm. 49

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Indices

– Wertschätzung des Vortrags: 13, 103, 107 Anm. 119, 110, 114, 126, 131, 132, 151, 164, 173 Diogenes Laertios: 39, 55, 102 Diogenes von Babylon: 39 Diomedes (Grammatiker): 70, 244, 291 f. Dionysios Thrax: 180, 290, 291 f. Dionysios von Halikarnassos: 66 f., 78, 83, 144–150, 162, 168, 174, 180, 221, 296, 315, 355, 358, 359 Anm. 35, 364 Donat: 69, 277, 313, 364 Anm. 66 Ennius: 118 f., 129, 275, 277 f. Epikur: 37, 41, 69, 77, 133 Ferrein, Antoine: 46 Anm. 114, 79 Anm. 294 Fimbria, C. Flavius: 129, 312 Fortunatian: 18, 53–55, 61, 63, 64, 66, 107 Anm. 123, 154 Anm. 337, 168–173, 182, 356, 357 Anm. 21, 361, 375 Galen: 17, 28, 31 Anm. 34, 40 Anm. 80, 41, 45–49, 51, 58 Anm. 187, 65, 71, 73, 77, 78, 80, 81, 82, 83, 87, 179, 183 Anm. 10, 248, 260, 261, 306, 312, 327, 371, 372 Anm. 111 Gallus, L. Plotius : 110 Anm. 133 Gellius: 41 f., 84 Anm. 1, 123 Anm. 205, 124 f., 181, 374 Anm. 124 Glaukon von Teos: 94 Gorgias: 20, 21, 188 Gracchus, C. Sempronius: 114 f., 121, 122– 125, 151, 175 Hermagoras von Temnos: 106, 107 Anm. 119, 175 Anm. 438 Hieronymos (Peripatetiker): 141 Hieronymus: 331 Hippokrates: 19, 35 f., 49, 77, 80, 198, 248, 257 Homer: 84 f., 143 Anm. 293 Hortensius: 130 f., 151, 365 Isidor von Sevilla: 17, 19, 71, 74, 75 f., 79, 205, 244, 282, 320, 350 Isokrates: 20, 85, 100 Anm. 80, 139, 140–142, 351, 358, 362 Anm. 58 Iulius Victor: 173–175, 176, 177, 331, 336, 338, 348, 356, 357 Anm. 21, 367, 370, 375 Kallippides (Schauspieler): 139 Karl der Große: 175, 177 Kassios Longinos: 162–168, 356, 357 Anm. 21, 359 Anm. 35, 361, 364, 369 Kleon: 85–87, 95 Anm. 62, 351, 360 Laktanz: 73 f., 79 Latro (Redner bei Seneca rhetor): 52, 62

Lentulus, Cn. Cornelius Clodianus: 131, 151, 227 Lentulus, Cn. Marcellinus: 130 Lentulus, L. Cornelius Crus: 130 Anm. 238 Lentulus, P. Cornelius Sura: 132 Licinius (Sklave des Gracchus): 124 f. Longin, s. Kassios Longinos Lukrez: 17, 36–38, 39, 201, 230, 261 Lykon (Schauspieler): 139 M. Antonius (Redner): 131, 151, 158 f., 242, 299 – als Dialogfigur in Ciceros De oratore: 62, 115 Anm. 156 f., 118 Anm. 177, 131, 365, 368, 369 M. Antonius (Triumvir): 157, 296 Macer, C. Licinius: 130 Marcellus, M. Claudius : 130 Anm. 236 Marius Victorinus: 70, 71 Martianus Capella: 53 Anm. 162, 62, 63 f., 71, 108, 375 Menelaos: 84 f. Molon: 59 Neoptolemos (Schauspieler): 56, 297 Nero: 50, 56 f., 58 Anm. 190, 81 Anm. 300, 242 Nestor: 84 f. Nigidius: 161 Anm. 374 Nikostratos (Schauspieler): 139 Odysseus: 84 f. Oribasius: 45 Anm. 107, 48, 61, 62, 64 P. Antistius: 129 P. Autronius: 130 Pansa: 135 Perikles: 85–87, 351 Philipp II.: 85, 146–149 Philiskos (Sophist): 86 Anm. 11 Philodem: 13 Anm. 1, 106, 133–144, 158 Anm. 357, 355, 357 Anm. 20, 358, 359 Anm. 35, 361 Anm. 49, 366 Anm. 80 Platon: 19, 20, 23–25, 28 Anm. 23, 30, 37, 41 f., 57, 68, 76, 77, 90–92, 95 Anm. 58, 125, 305, 351, 352, 357 Anm. 25 Plinius d. Ä.: 17, 43 f., 50, 51, 60, 61, 77 Anm. 290, 78, 161 Anm. 374, 205, 242, 243, 266, 303, 304, 341, 374 Plinius d. J.: 107, 331 Plutarch: 50, 51, 56 Anm. 176, 59 Anm. 194, 60, 61, 86, 87, 105, 124 f., 205, 207, 325 f., 351, 373, 374 Pompeius: 130, 315, 318, 323 Porphyrios: 33, 162

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Indices Priscian: 70, 71 Quintilian: 13, 15, 17, 18, 19, 20, 23, 58, 63, 84 f., 108, 123 f., 149, 150–162, 168, 169, 170, 172, 173, 174, 175, 180, 217, 231, 235, 237–350, 354, 355, 356, 359, 360, 362, 364, 365, 366, 367, 368, 369, 370, 371, 374, 375 – Grammatik: 67 f., 78, 363 – theophrastische Stiltugenden: 106, 358, 361 Seneca d. Ä.: 18, 52, 53, 62, 64, 107, 265, 279, 331, 347, 365 Seneca d. J.: 18, 39 Anm. 71, 40 f., 47, 60, 61, 62, 63, 71, 77, 179, 201, 257, 265, 300, 331, 344, 348, 372, 374 Sidonius Apollinaris: 198 Sokrates: 90, 208 Soranos: 58, 61 Stratokles (Schauspieler): 160 Straton von Lampsakos: 33

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Sueton: 57, 58, 198, 242 Sulpicius, P. Rufus: 129 Tacitus: 198, 331, 365 Terentianus Maurus: 71 f., 83 Terenz: 161, 364 Anm. 66 Terpnos (Kitharöde): 57 Themistokles: 86 Theodoros (Autor über Stimmbildung): 55 Theodoros (Schauspieler): 94 Anm. 55 Theophrast: 13 Anm. 4, 91, 102–106, 110, 132, 153, 161, 163, 167 Anm. 398 f., 168, 190, 236, 266, 275, 352, 354, 357, 358, 361, 369, 370 Thrasymachos: 90, 98, 351, 358 Valerius Maximus: 17, 123, 124, 365 Anm. 75 Varro: 51 Vitruv: 42 f., 49 Anm. 135, 77 f., 239, 279 Zenon: 38, 39, 133

Sachbegriffe Affekt, s. a. Freude, Klage, Mitleid, Pathos, Schmerz, Trauer/Traurigkeit, Zorn: 34, 88, 89, 90, 94, 95, 96, 97, 102, 103 Anm. 90 und 97, 105, 106, 115, 116, 118– 120, 126, 127, 132, 136, 138, 144, 145, 146, 147, 150, 154, 155, 156, 160, 163, 164, 165, 168, 170, 200, 217, 223, 224, 238, 244, 269, 305, 332, 333, 340, 341, 348, 349, 350, 352, 355, 356, 358 f., 361, 364, 367, 369, 370f. Akzent: 71 Anm. 260, 127, 180, 182, 251 f. Angemessenheit, s. a. unten aptus: 137, 153, 160, 165, 170, 172, 213, 348, 356, 366 argumentatio, s. a. Redeteile: 155, 156, 166, 171, 216, 217, 220, 344 arteria/Arterie, s. a. Luftröhre: 17, 40, 43 Anm. 97, 54, 55, 56, 58 Anm. 191, 76, 198–200, 201, 202, 204, 205, 206, 207, 218, 247, 261, 342, 372, 373 Artikulation, s. a. unten articulare, articulatus: 29, 33, 35, 40, 41, 44, 47, 56 Anm. 177, 66, 69, 71 Anm. 261, 72, 73, 76, 77, 78, 79 Anm. 294, 80, 83, 119 Anm. 185, 130 Anm. 239, 173, 275, 278, 327, 329 Asianismus: 125, 128, 132, 236, 358

Atem(luft)/Atmung, s. a. unten aer ictus, aura, πνεῦμα: 18 Anm. 14, 27 f., 29, 31, 32, 33, 36, 38, 41, 43, 46 f., 56, 57, 61, 64, 66, 67, 68, 71, 73, 74, 76, 77, 78, 79, 80– 82, 90, 117, 138, 166, 176, 179, 183, 199, 202, 203, 204, 205, 206, 239, 247, 248– 250, 255, 260, 262, 268, 271, 278, 282, 285, 290, 291, 293, 295, 296, 297, 298, 299, 303, 304, 311, 312, 317, 324–330, 341, 344, 363, 372, 373, 374, 376 Attizismus: 125 Anm. 211, 236 Auf- und Abstiegsübung, s. a. Tonleiter: 53, 54, 62–66, 368 Aulos, s. a. tibia(e): 32, 33, 45, 48 f., 78, 248, 260, 273, 372 Begabung, s. Naturanlage cantus obscurior, s. a. Gesang: 125, 127, 132, 154, 159, 175, 337, 338, 355, 370 Charakter, s. a. Ethos: 34, 35, 86, 155, 218, 224, 317, 338, 351, 359 cura, s. Stimmpflege Deklamation, s. u. declamare, declamatio Enthaltsamkeit, s. Sexualität Enthymem: 166 Epilog, s. peroratio

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Indices

Ermüdung: 38, 62, 152, 159, 212, 262, 263, 282, 310 Ethos, s. a. Charakter: 92, 136, 142, 143, 155 Anm. 341 Eunuch: 32, 49, 243, 255, 256, 337 Exkurs, s. a. Redeteile: 156, 267, 300, 341, 346, 347, 348 exordium, s. prooemium fistula: 74 Anm. 274 f., 121–125, 249 Freude, s. a. Affekt: 29 Anm. 25, 94, 96, 105, 119, 167, 250, 342, 369 Gefühl/Gefühlsregung, s. Affekt Gesang, s. a. cantus obscurior, Sänger: 41, 56, 57, 63, 68, 75, 79 Anm. 294, 105, 127, 128, 152, 157, 167, 175, 202, 246, 266, 281, 284, 285, 300, 304, 313, 321, 322, 330–338, 355, 358, 359, 369 f. Gestik: 20, 21, 56, 85, 86, 94 Anm. 54, 95 Anm. 57, 108, 109, 112, 115 Anm. 159, 116, 120, 126, 129, 130, 138, 144, 147, 150, 151, 153, 154, 155, 160, 161, 164, 166, 168, 169, 174, 175, 176, 191, 200, 274, 285, 315, 331, 340, 350, 352, 353, 357, 359, 365 – ein Teil der actio neben der Stimme: 91, 105, 110, 125, 131, 145, 152, 190, 237, 238 Heiserkeit, s. a. unten asper, asperitas, exasperare, subraucus, raucitas, raucus, ravus: 35, 37, 49, 50, 51, 75, 131, 205, 242, 244, 246, 247, 261, 281, 322, 327, 369 Herz: 27, 31, 32, 38, 46 Anm. 118, 49, 77 Hören/Hörvorgang: 23, 24, 25, 28 Anm. 22, 34, 36, 37, 38, 42, 74, 75, 76, 77, 85, 86, 105, 301 Infibulation: 43 Instrument, s. a. Aulos, fistula, organum, tibia(e), τονάριον: 33, 41, 45, 69, 70, 75, 116, 120, 158, 183, 256, 281, 284, 298, 302, 303, 304, 306, 340, 370–372 Interpunktion, s. a. unten distinctio, distinctus, distinguere, subdistinctio, διαστολή, στιγμή, ὑποδιαστολή, ὑποστιγμή: 153, 290 Ironie: 14, 149 Anm. 319, 156, 224, 230 Kehlkopf: 23 Anm. 5, 27, 29, 31, 32, 39, 40 Anm. 80, 45, 46, 47, 48, 49, 74 Anm. 274, 81, 82, 179, 372 Klage, s. a. Affekt und unten conquestio, flebilis: 34, 88, 90, 105, 119, 131, 146, 158, 167 Anm. 398, 223, 236, 237, 269, 347, 369 Klima: 35, 42

Knorpel: 27 Anm. 20, 40 Anm. 80, 47, 48, 49, 81 Konsonanten: 29, 47, 67 Anm. 232, 83, 130, 244, 286, 288, 289, 297 Körperlichkeit: 37 f., 39, 41, 42, 69, 77, 78, 353, 362 Körperwärme, s. Wärme Lachen: 217, 220, 230, 231 latus, eris n.: 17, 40 Anm. 82, 41 Anm. 85, 52, 59, 67, 152, 247, 249, 256, 264, 273, 298, 303 Lauch (Schnittlauch, Kopflauch, Knoblauch): 34, 50, 52, 205, 266 Lautstärke: 49, 82, 178–184, 251, 254, 352, 355, 376 Lippen: 23 Anm. 5, 29, 33, 38, 72, 83 Luftröhre, s. a. arteria/Arterie: 33, 37, 39, 40, 41, 45, 46 Anm. 111, 47, 48, 49, 50 Anm. 143, 55, 56, 66, 67, 74 Anm. 274 f., 75 Anm. 284, 76, 77, 78, 80 Anm. 298, 81, 198–200 – bei Aristoteles: 27 f., 32, 372 – beim Auctor ad Herennium: 201, 202, 204, 205, 213, 247, 248, 260, 261, 262, 373, 374 Lunge: 23 Anm. 5, 27, 31, 33, 40, 43 Anm. 97, 46, 49, 57, 60, 76, 77, 80, 81, 199, 248, 249, 250, 256, 329, 374 Anm. 126 Männlichkeit: 20, 35, 64 Anm. 219, 125, 170, 175, 210, 213, 226, 266, 282, 284, 285, 334, 337, 359, 360, 370 membrum/κῶλον: 221, 296, 297, 311, 319 Mimik: 94 Anm. 54, 99 Anm. 78, 110, 112, 116, 120, 125, 126, 150, 161, 166, 173, 174, 175, 176, 190, 231, 340, 352, 357, 359 Mitleid, s. a. Affekt: 14, 90, 95 Anm. 57, 114, 118, 119, 127, 131, 149, 158, 159, 167, 171, 174, 177, 215, 217, 223, 236, 237, 246, 259, 269, 332, 333, 340, 341, 347, 349, 367, 369, 370 Mittellage: 21, 35, 43, 94, 117, 121 f., 127 Anm. 222, 153, 170, 175, 211, 241, 304– 307, 348, 371 Modulation, s. a. Variation und unten flexus, modulatio, plasma: 35, 65 Anm. 224, 68, 75, 86, 87, 104, 105, 122, 128, 131, 132, 156, 157, 158, 159, 161, 165 Anm. 391, 195, 253, 269, 284 f., 300, 311, 331, 347, 348, 355, 363, 369, 370 Mündlichkeit: 14, 21, 99, 100 Anm. 80, 108, 353, 357

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Indices Nachahmung: 68, 91, 94 Anm. 55, 115, 155, 156, 163, 173, 174, 326, 339, 342, 359, 360, 366, 367 narratio, s. u. Nase: 40, 47, 74, 82, 83, 247, 248, 250 f., 272, 273, 329, 330 Naturanlage/Naturbegabung: 53, 56, 87, 98, 99, 102, 111, 114, 120, 128, 134 Anm. 259, 138, 139, 144, 145, 150, 151, 152, 169, 192, 193 f., 197, 239, 241 f., 285, 352, 353, 361, 366 Natürlichkeit: 67, 94 Anm. 55, 115 Anm. 157, 128, 138, 147, 164, 165, 168, 174, 177, 188, 196, 280, 304, 305, 339, 359, 360, 367 f. organum: 70, 158, 248 f., 261, 284, 298, 303, 305 partitio, s. a. Redeteile: 171 Pathos, s. a. Affekt: 88, 90 Anm. 38, 92, 94, 95, 96, 102, 103, 104, 105, 106, 136, 138, 140 Anm. 284, 141, 142, 143, 145, 149, 155 Anm. 341, 163, 358 Pause, s. u. distinctio, intervallum, mora, διαστολή, στιγμή, ὑποδιαστολή, ὑποστιγμή Periode, s. a. unten circumductio: 56, 90, 113, 140, 141, 206, 213, 220, 221, 222, 232, 250, 285, 290, 294, 295, 296, 297, 314, 324, 325, 358 peroratio, s. a. Redeteile: 65, 68 Anm. 237, 105, 127 f., 155, 156, 158, 159, 167, 171, 213, 217, 223, 236, 238, 331, 332, 338, 370 Phonation: 77, 80, 81 Anm. 303 Phonetik: 23, 24, 28 Anm. 23, 42, 74, 75, 76 Anm. 286, 79, 81 Anm. 305 Physiognomie: 34 f., 284, 323 prooemium, s. a. Redeteile: 136, 149, 153, 155, 201, 210, 211, 292, 293, 314, 316, 346, 355 Pubertät: 32, 272, 273 Redegattungen: 100, 101, 170, 360 Redeteile, s. a. argumentatio, Exkurs, partitio, peroratio, prooemium und unten narratio: 92, 135, 154, 155, 159, 160, 165, 170, 171, 172, 176, 216, 312, 348, 349, 350, 356, 361 Redeton, s. a. unten amplificatio, cohortatio, conquestio, contentio, continuatio, demonstratio, dignitas, distributio, iocatio, narratio, sermo: 112 f., 174, 177, 215, 224, 231, 353

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Rhythmus: 91, 94, 95, 125, 166, 188, 203, 244, 253, 283, 331, 332, 342, 352, 365 Säftelehre: 49 Sänger, s. a. Gesang: 52, 55, 57, 58, 64, 78, 132, 197, 256, 257, 264, 266, 269, 362, 370, 374 Schauspieler/Schauspielkunst: 20, 21, 52, 55, 56, 57, 58, 64, 67, 78, 87, 88, 89, 93, 94, 95, 98, 100, 102, 107 Anm. 120, 115, 116, 118, 129, 136, 139, 144, 150, 151, 160, 161, 162, 165, 174, 175, 197, 225, 226, 264, 269, 274, 285, 297, 308, 352, 359, 360, 361, 362, 364–369, 370, 374 Schlag, s. u. ictus, πληγή Schmerz, s. a. Affekt: 29 Anm. 25, 50, 131, 159, 283, 332, 333, 339, 340 Schreien, s. a. unten adclamatio, clamor, clamosus, exclamare, exclamatio: 60, 88, 283, 322 Schriftlichkeit: 14, 21, 69, 71, 99 f., 112, 151, 290 Seele/ψυχή: 24, 27, 28, 29, 38, 46, 80 Anm. 298, 102, 103, 104, 141, 238, 341 Sexualität: 51 f., 53, 60, 255, 257, 375 Spannung, s. a. unten contentio, intentio, τόνος: 46 f., 183 f. Spazierengehen: 51, 52, 53, 54, 55, 60, 63, 255, 256 f., 264 Stil: 17, 21, 22, 84 f., 90, 91 f., 98–101, 102, 106, 125, 126, 132, 133, 134, 135, 140, 141, 142, 144, 145, 146, 148, 149, 150, 153, 161, 167, 173, 187, 224, 274 f., 352, 355, 356, 357 f., 360, 361 Stimmlippen/Stimmbänder: 24, 27 Anm. 18, 46, 47 Anm. 120, 48, 49 Anm. 137, 78, 81, 82, 183 Anm. 9, 306, 371, 372 Stimmpflege: 50–55, 59, 62–64, 66, 76, 78, 80, 111, 120, 152, 169, 175, 192 f., 194, 195, 197, 239, 246, 255–274, 356, 362, 368, 374 f. Stimmtraining, s. a. unten phonascus, ἀναφώνησις, φωνασκεῖν, φωνασκία, φωνασκικός, φωνασκός: 55–59, 62, 64, 65, 78, 80 Anm. 299, 89, 145, 152, 164, 263–274, 373 Syrinx, s. fistula Tempo, s. a. unten acceleratio, celer, celeriusculus, celeritas, citus, spatium, tarditas, tardus: 95, 152, 178, 251, 254, 319 Thorax: 46, 56 Anm. 178, 62, 67

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Indices

tibia(e): 124, 249, 258, 260, 315, 317, 318 f., 335, 336, 337, 371, 372 τονάριον: 124 Tonhöhe: 49, 82, 178–184, 251, 254, 352, 355, 376 Tonleiter, s. a. Auf- und Abstiegsübung: 122 Anm. 202, 184, 264 Trauer/Traurigkeit, s. a. Affekt: 88, 94, 96, 105, 115 Anm. 159, 118, 155, 167, 228, 246, 367, 369 Variation, s. a. Modulation und unten commutatio, varietas, varius: 32, 75, 91, 100, 102, 118, 121, 127, 129, 148, 166, 173, 175, 177 Anm. 445, 207, 237, 241, 246, 252, 266, 267, 285, 301 f., 304, 308, 309, 313, 338, 342, 355, 363, 368, 370 Verdauung: 52, 53, 54, 60, 61, 63, 255, 257, 266 Verschriftlichung: 110, 190 f., 351 f., 353 f. Vibration: 24, 46, 48, 70 Anm. 150, 78, 81, 82, 183 Anm. 9, 371 Anm. 108, 372

Vivisektion: 45 Anm. 104 Vokale: 29, 47, 66 f., 71, 83, 157, 253, 282, 286, 288, 297 Wärme: 27, 32, 34, 49, 60, 64, 65, 82 Anm. 309, 206, 207, 214, 273, 373 Weiblichkeit, s. a. unten effeminatus: 20, 35, 61, 205, 213, 282, 359 Wein: 43, 51, 55, 330 Weinen: 60, 88, 89, 115, 168, 243, 259, 287, 347, 367 Zähne: 23 Anm. 5, 36, 40, 44, 56 Anm. 177, 72, 78, 287, 326, 328 Zorn, s. a. Affekt: 14, 34, 90, 115 Anm. 159, 116 Anm. 160, 118, 124, 146, 167, 174, 177 Anm. 447, 215, 217, 223, 234, 244, 323, 332, 333, 339, 340, 341, 344, 345, 349, 367 Zunge: 23 Anm. 5, 27, 29, 36, 38, 39, 40, 41, 44, 47, 55, 70 Anm. 250, 71 Anm. 260, 72, 73, 74 Anm. 275, 75 Anm. 284, 76, 77, 78, 83, 84, 116 Anm. 160, 173, 176, 199, 249, 278, 325, 372

Lateinische Begriffe zur Stimme abiectus: 119, 346 acceleratio: 220, 221, 232, 233 acerbus: 158, 283 f., 286, 303, 321 acris: 67, 118 Anm. 177, 156, 160, 171, 199, 201 f., 204, 205, 215, 220, 221, 223, 227, 228, 229, 318, 342 acutus: 34 Anm. 50, 35, 43, 62, 75, 116, 118, 119, 122, 127, 138 Anm. 276, 157, 178, 180, 181 Anm. 7, 199, 201, 204, 205, 210, 240, 241, 242, 246, 252, 254, 265, 284, 291, 299, 302, 304, 306, 307, 308, 341, 344, 348, 355, 371 adaugere: 194, 232, 233 adclamatio: 199, 201, 204, 213 aequabilis: 207, 235, 237 aequalitas: 153, 173, 235, 308, 309, 310 aer ictus, s. a. oben Atem(luft): 40 Anm. 83, 69, 70 Anm. 251, 71, 73 Anm. 270, 78 altitudo: 71 altus: 75, 181, 253, 265, 282, 350 amaritudo: 158, 284 amplificatio: 111,113, 217, 223, 224, 225, 234 amputatio: 65 anaphonesis, s. u. ἀναφώνησις

aptus, s. a. oben Angemessenheit: 154, 170, 172, 274, 311, 339, 356, 361 Anm. 57 arteria, s. o. articulare, s. a. oben Artikulation: 38, 40 Anm. 80 articulatus, s. a. oben Artikulation: 69–71 asper, s. a. oben Heiserkeit: 75, 117, 118 Anm. 172, 173, 234, 241, 242, 243 f., 259, 265, 279, 341, 345, 349 asperitas, s. a. oben Heiserkeit: 38 attenuatus: 199, 201, 205, 227, 234, 236, 237 attollere: 68, 181, 269, 349, 350 auctoritas: 174, 177 augere: 57, 117, 194, 232, 306, 307 aura, s. a. oben Atem(luft): 70, 248, 374 Anm. 126 beatus: 299, 301, 304 bonitas: 53, 128, 193, 239, 375 bonus: 152, 299 brevis: 222, 234, 253, 254, 285, 286, 294, 303, 308, 324 caecus: 75, 279 candidus: 52, 241, 242, 246, 248

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Indices canorus: 50, 118 Anm. 172, 130, 131, 212, 242 celer: 68, 121, 231, 233 celeriusculus: 227 celeritas: 221, 234, 237, 323 circumductio: 295, 296 circumductus: 159 citatus: 253 f. citus: 116, 138 Anm. 276, 178, 253 f., 299, 355, 371 clamor: 37, 54, 122, 156 Anm. 344, 173, 176, 199, 200, 201 f., 203, 204, 205, 206, 210, 211, 212, 231, 232, 234, 237, 244, 261, 268, 320, 344 clamosus: 220, 221, 223, 232, 311, 318 claritas: 53, 193, 246, 304, 341, 348, 375 claritudo: 56 clarus: 60, 63, 75, 84 Anm. 2, 128, 231, 232, 233, 241, 242, 246 f., 261, 268, 279, 298, 300, 301, 305, 318, 319, 326, 327, 350 cohortatio: 112 Anm. 140, 223, 224, 225, 234, 235, 237 commutatio: 121, 203, 207, 209, 228, 234, 235, 237 concentus: 44, 59 Anm. 192 concitatus: 68, 123, 160, 265, 316 confusus: 69, 70 Anm. 257, 71, 275 conquestio, s. a. oben Klage: 112 Anm. 140, 223, 224, 225, 234, 235, 236, 237 constans: 192, 200, 207 contendere: 157, 184 Anm. 14, 231 contentio: 41 Anm. 85, 59, 62, 63, 111, 112 Anm. 140, 113, 121, 122, 123, 129, 156, 183 Anm. 10, 184, 201, 212, 215, 216, 220, 221, 222, 224, 225, 264, 265, 312, 320 contentus: 119, 120, 127, 184, 344 continens: 16 Anm. 12, 117, 206, 210, 213 f. continuatio: 112 Anm. 140, 117 Anm. 167, 148 Anm. 316, 158, 201, 220 f., 222, 223, 224, 225, 231, 232, 233 continuus: 202, 203, 210, 283, 292, 294, 297 contractus: 117, 119 Anm. 180, 159, 160 Anm. 372, 239, 241, 244 f., 314, 316, 341, 346 cura, s. o. Stimmpflege declamare: 271 f. declamatio: 18, 58, 66, 111, 192, 193, 195, 196, 197, 198, 200, 216, 268, 354, 361, 375 declinatio: 91 Anm. 43, 311, 313, 332, 338 deflectere: 152 demissus: 65, 119, 120, 159, 184, 346

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demonstratio: 65, 112 Anm. 140, 217, 218, 219, 224, 225, 227, 229 densus: 16 Anm. 12, 118 Anm. 177, 234, 344 f. deponere: 289, 291, 294, 314 depositio: 291, 311, 314 depressus: 181, 200 f., 211, 225, 226, 227, 234, 236, 237, 243, 316, 368 deprimere: 63, 181, 200, 265, 291 descendere: 62, 181, 265, 349, 350 dignitas: 112 Anm. 140, 113, 168 Anm. 403, 173, 176 Anm. 440, 213, 217, 218, 219, 224, 225, 226, 227, 311, 313, 359 Anm. 37, 368 dilucidus: 153, 189, 190, 225, 274, 286, 297 f., 323, 352, 363 distinctio: 160, 187, 202, 290, 291, 292, 293, 294, 295, 296, 297, 314, 315, 317, 319, 323 distinctus: 40, 153, 202, 227, 289 f., 297, 319, 363 distinguere: 68, 292, 293, 295 distributio: 112 Anm. 140, 117 Anm. 167, 148 Anm. 316, 220, 221, 222, 223, 224, 225, 231, 233, 234 divisio: 210, 211, 218, 221, 225, 227, 295 dulcis: 58 Anm. 191, 84 Anm. 4, 128, 156, 157, 243, 246, 247, 250, 251, 298, 300, 301, 304, 347 durabilis: 265, 267, 270, 278, 285, 286, 298, 300, 304 durus: 16, 75, 118 Anm. 172, 239, 241, 242, 245 f., 278, 280, 281, 285, 286, 289 effeminatus, s. a. oben Weiblichkeit: 35, 68, 278, 284 f., 286, 331 effusus: 119, 121, 202, 203, 209, 212, 342 elatus: 181, 251, 253, 254, 307, 308 elisus: 319, 320 f. emendatus: 153, 169, 274, 275, 278, 279, 285, 286, 287, 304 erectus: 160, 181, 314, 316, 340, 343 erigere: 64, 181, 189, 190, 191, 291, 343 exasperare, s. a. oben Heiserkeit: 244, 255, 258, 259, 261 exclamare: 41 Anm. 85, 152, 183 Anm. 10, 249 exclamatio: 131, 201, 204, 210, 213, 222, 231, 233, 307 exercitatio, s. o. Stimmtraining exiguuus: 182, 239, 240 exilis: 44, 70, 117 Anm. 170, 151 Anm. 327, 239, 241, 243, 244, 248

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Indices

exilitas: 67, 243, 255, 256, 282, 283 exire: 287 expeditus: 171, 299 explanatio: 44, 286, 287 explanatus: 70, 275, 276, 286, 323, 344 expressus: 67, 288, 347 exprimere: 38, 74, 112, 191, 219, 227, 230, 288, 325, 353 exprobrans: 247, 250 f. extentus: 65, 241 extenuatus: 117, 205 extollere: 63, 181, 265 facilis: 275 f., 286, 298 f. figura vocis: 110 f., 191, 192, 214, 234, 375 firmitas: 53, 193, 247, 249, 255, 256, 258, 276, 298, 303, 343, 375 firmitudo: 51 Anm. 150, 111, 192, 193, 194, 195, 196, 197, 198, 200, 209, 210, 214, 247, 300, 320, 373, 375 firmus: 54 Anm. 167, 152, 200, 276, 298, 299 f., 304, 326, 327 flebilis, s. a. oben Klage: 105 Anm. 110, 119, 131, 156, 158, 167 Anm. 398, 236, 246, 341, 347 flectere: 157 Anm. 355, 177, 180, 181, 207, 246, 266, 269, 304, 305 f., 347 flexibilis: 118, 120, 182, 196, 239, 241, 242, 245 f., 266, 269, 280, 298, 299, 301, 304, 306, 339, 347 flexus, a, um: 75 Anm. 281, 105 Anm. 110, 117, 119 Anm. 179, 120, 159, 167 Anm. 398, 180, 182, 236, 246, 251, 252, 254, 302, 339, 341, 347, 348 flexus, us m.: 68, 158, 161, 174, 175, 181, 196, 268, 269, 302, 306, 332, 337, 338, 339, 347, 348, 349, 368, 369, 370 fortis: 265, 267, 270, 341, 346 fractus: 55, 117, 255, 258, 259, 260, 261, 279, 285, 331 frangere: 117 Anm. 168, 158, 176, 177 Anm. 445, 243, 255, 258 f. frequens: 220, 221, 222, 234 fuscus: 52, 118, 131 Anm. 245, 158, 239, 240, 241, 242, 248, 259, 347 fusus: 117 Anm. 166, 239, 241, 242, 244 f., 315, 317, 318, 319, 341, 348 gallulascere: 272 grandis: 182, 239, 240, 299 gravis: 34 Anm. 50, 35, 43, 44, 54, 62, 63, 64, 116, 117 Anm. 170, 118 Anm. 172, 119, 120 Anm. 188, 122, 127, 138 Anm. 276,

178, 180, 201, 218, 223, 241, 242, 243, 246, 251, 252, 254, 265, 291, 299, 302, 304, 305, 306, 307, 308, 341, 346, 348, 349, 355, 359 Anm. 39, 371 gravitas: 119, 217, 218, 226 graviusculus: 124 haesitans: 119, 120, 346 hilaratus: 119, 342 hirquitallire: 272 hiulcus: 173, 288 ictus, a, um, s. aer ictus ictus, us m., s. a. unten πληγή: 19 Anm. 15, 41, 44, 70, 71, 72, 73, 78 Anm. 291, 199, 204 f., 372, 373 illiteratus: 71 imus: 62, 63, 181, 182, 239, 240 f., 253, 264 f., 306, 308, 343 inaequalitas: 44, 235, 307, 308, 309, 310 inanis: 278, 281, 282 f., 286 inarticulatus: 71 inbecillus: 152, 261, 299 incitatus: 118, 120, 344 inclinatio: 128 Anm. 226, 131, 157, 313, 331, 332, 348, 370 inclinatus: 16, 127, 128, 158, 182, 234, 236, 237 inferior: 181, 240, 251, 253, 254, 341, 345, 349, 350 inflammatio: 174 inflectere: 180, 181 inflexibilis: 35 inflexus: 127, 180, 182, 252 infuscatus: 52, 279 inmanis: 278, 280, 282, 286 inrationalis: 70 insuavis: 210 insurgere: 152 intendere: 54, 123, 129, 184, 252, 302, 340, 343 intentio: 41, 60, 63, 71, 78 Anm. 291, 127 Anm. 217, 129 Anm. 235, 183, 184, 252, 269, 298, 302, 304, 306, 307, 311, 312, 313, 320, 326, 327, 372, 374 intentus: 116, 127 Anm. 217, 183 Anm. 11, 184, 251, 252, 253, 254, 302, 343, 371, 376 interruptus: 119, 245, 246, 292, 347 intervallum: 62, 131, 202, 206, 210, 211, 220, 221, 222, 225, 227, 231, 234, 236, 237, 265, 295, 297 iocatio: 112 Anm. 140, 217, 218, 220, 224, 225, 230, 231

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Indices iucundus: 160, 243, 275, 276, 286, 300 latitudo: 71 latrare: 275, 277 f. latus, a, um: 117 Anm. 166, 315, 317, 318, 319 lenis: 65, 119, 120, 130, 155, 199, 200, 201, 202, 211, 216, 234 f., 237, 244, 289, 316, 341, 342, 345 f. lentus: 54, 63, 64, 68, 157, 243, 251, 253, 254, 300, 320, 323, 341, 345 levis: 44, 74, 117, 120, 239, 241, 243 f., 258, 345 levor: 38 literatus: 71 littera: 67, 69, 70, 71, 78, 130, 286, 287 f., 289, 347 longitudo: 71 longus: 202, 206, 222, 234, 236, 237, 239, 253, 254, 292, 294, 307, 308, 324, 325, 326, 327, 341, 347 magnitudo: 44, 111, 132, 138, 182, 192, 193, 194, 195, 196, 197, 298, 301, 316, 317, 362 Anm. 58, 375 magnus: 116, 117 Anm. 171, 129, 130, 138 Anm. 276, 178, 182, 196, 254, 298, 299, 312, 355, 371 malus: 152, 261 moderatio: 59, 113, 118, 168, 173, 176, 190, 196, 197, 198, 200, 313 moderatus: 320, 323 modulatio: 174 Anm. 433, 196, 207, 269, 300, 330, 331, 332, 335, 336, 348 modulatus: 70, 175, 338, 370 modus: 63, 123, 124, 251, 253, 254, 265, 285, 313, 365 mollire: 44, 267 mollis: 35, 75 Anm. 281, 156, 157 Anm. 356, 182, 195, 196, 216, 265, 266, 267, 278, 280, 284, 285, 286, 359 Anm. 39 mollitudo: 32 Anm. 42, 66 Anm. 227, 111, 138, 182, 192, 193, 194, 195 f., 215, 218, 224, 267, 269, 354, 361, 375 monotonia, s. a. unten μονοτoνία: 170 mora: 295, 297, 368 murmur: 43, 63, 64, 201, 202, 259, 280, 311, 313, 344 narratio, s. a. oben Redeteile: 65, 112 Anm. 140, 113, 155, 156, 166, 171, 217, 218, 219, 221, 224, 225, 227, 228, 229, 298, 331, 342, 348 nisus: 71, 319, 320, 321

399

nitidus: 270 obscurare: 115, 116, 255, 258, 259, 261, 288, 347 obscuritas: 221, 295, 297 obscurus: 119 Anm. 179, 125, 127, 132, 154, 159, 175, 259, 279, 288, 337, 338, 341, 347, 355, 370 obtundere: 51, 246 f. obtusus: 239, 241, 246 f., 255, 258, 259, 261, 262 ornatus, a, um: 153, 154, 161, 170, 274, 298, 299, 304, 308 ornatus, us m.: 188, 275, 339 os: 38, 40, 58 Anm. 191, 67, 71, 72, 73, 74, 151, 153, 173 Anm. 423, 176, 243, 275, 276 f., 278, 279, 286, 287, 320, 325, 326, 329 ostentatio: 173, 176, 342, 348 peracutus: 130 peregrinitas: 275, 276, 277 perfectus: 75, 350 permanens: 131, 299 perspicuitas: 190, 275, 288, 297, 298, 339 perspicuus: 75 phonascus, s. a. φωνασκός: 57–59, 63, 64, 78, 152, 197, 244, 255 f., 258, 263 f., 266, 267, 268, 270, 368, 375 pinguis: 71 Anm. 258, 282 pinguitudo: 67, 282 plasma: 68, 284 f., 331 plenus: 67, 119, 120, 157, 160 Anm. 372, 178, 202, 225 f., 227, 239, 241, 243, 246, 248, 283, 290, 300, 304, 305, 306, 314, 316, 326, 327, 340, 342, 343, 346, 347, 349, 368, 371 praeceps: 320, 323 praeclarus: 369 praefractus: 173 praepinguis: 67 Anm. 231, 278, 282, 285, 286 praetenuis: 205, 282, 304, 305 pressim: 173 pressus, a, um: 40, 119 Anm. 185, 130 Anm. 239, 243 pressus, us m.: 119 promptus: 320, 323 proprietas: 160, 298, 301 purus: 67, 242, 246, 298, 300, 301 pusillus: 182, 278, 284, 286 qualitas: 152, 169, 239, 241 quantitas: 152, 169, 182, 239, 240, 362 Anm. 58 rationalis: 70

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400

Indices

raucitas, s. a. oben Heiserkeit: 50, 281 raucus, s. a. oben Heiserkeit: 131 Anm. 245, 205, 244, 247, 281, 285 ravus, s. a. oben Heiserkeit: 281 f. rectus: 38, 117 Anm. 169, 158, 173, 175, 177 Anm. 445, 181, 196, 341, 242, 348, 349, 370 remissio: 59, 122, 184, 210, 211 f., 216, 217, 218, 226, 253, 269 remissus: 119, 120, 121, 123, 127 Anm. 217, 156, 184, 215, 216, 217, 218, 219, 251, 252 f., 254, 265, 300, 306, 308, 316, 342, 345, 347, 371 remittere: 129, 184, 202, 203, 253 retardare: 113, 227, 229 rigidus: 278, 280 f., 285, 286 rudis: 278, 280, 286 rusticitas: 189, 275, 276, 277 sanus: 278, 279, 286 scindere: 117 Anm. 168, 255, 258, 259 f. scissus: 117, 260, 279 sedatus: 200, 210, 211, 225, 226, 227, 316, 368 sensus: 19 Anm. 15, 37, 68, 73 Anm. 269, 76, 122, 170, 172, 176 Anm. 440, 189, 190, 227, 230, 237, 290, 292, 294, 295, 296, 352 sermo: 19, 43, 44, 67, 111, 112 Anm. 140, 126, 130, 155, 156, 158, 188, 202, 203, 210, 212, 213, 215 f., 217 f., 219, 221, 224, 225, 227, 228, 229, 230, 231, 244, 268, 269, 287, 289, 291, 292, 294, 296, 307, 313, 323, 324, 325, 336, 341, 342, 344, 348 sermocinatio: 174 simplex: 55, 67, 119 Anm. 183, 156, 171, 173, 177 Anm. 445, 196, 228, 239, 340, 342, 348, 349 simplicitas: 174, 177 sonus: 16, 37, 44, 69, 70, 71, 72 Anm. 168, 73, 74, 117 Anm. 169, 119 Anm. 187, 130 Anm. 242, 156, 170, 173, 199, 201, 205, 235, 241, 246, 247, 249, 250, 280, 302, 304, 324, 347, 348, 371, 374 spatium: 210, 222, 231, 233, 234, 236, 237, 251, 253, 254, 298, 303, 307, 308, 324 spiritus, s. o. Atem(luft) splendidus: 129, 130 splendor : 50, 129 Anm. 233, 130, 204, 205, 206 stridere: 283 stridor: 43, 283, 326, 328, 344 suaviloquens: 275, 278

suaviloquentia: 129, 278 suavis: 75, 114, 127, 128 Anm. 229, 129, 130 Anm. 242, 131, 196, 232, 243, 252, 286, 289, 350 suavitas : 53, 114 Anm. 154, 121, 122, 128, 130, 132, 155, 158, 193, 196, 203, 208 f., 212, 214, 247, 249 f., 251, 275, 287, 289, 300, 347, 375 suavitudo: 210, 214 subdistinctio: 290, 291 f., 293 subraucus, s. a. oben Heiserkeit: 131, 242, 299 subsultare: 235, 307, 308 subtilis: 75, 84, 282 summissio: 184 summissus: 117 Anm. 166, 127, 155, 159, 160, 184, 245, 253, 254, 299, 307, 308, 311, 313, 314, 316, 321, 341, 346, 349 summittere: 68, 117 Anm. 170, 184, 253, 306, 307 summus: 62, 63, 157, 181, 182, 201, 212, 239, 240 f., 264 f., 306, 307, 308, 340, 343 suppressus: 181 surdus: 278, 279 f., 285, 286 suspendere: 68, 289, 291, 292, 293 sustinere: 289, 291, 293 tarditas: 221, 320, 322 tardus: 116, 139 Anm. 276, 178, 253, 254, 299, 323, 355, 371 temperatus: 155 tener: 119, 196, 265, 266 f., 272, 342 tensus: 205, 306, 371 tenuis: 67 Anm. 231, 71 Anm. 258, 205, 243, 278, 282, 285, 286, 305, 306, 321, 350, 371 tenuitas: 174, 282 teres: 341, 346 tinnitus: 70, 275, 277 torquere: 66 Anm. 227, 192, 196, 230, 231, 232, 266 tractabilis: 128 Anm. 230, 207, 246, 298, 301 f., 304, 309 tremebundus: 230 urbanus: 231, 275, 276, 286 usus: 14, 53, 120, 128, 239, 267, 268, 274 vanus: 231, 278, 281, 282, 286 varietas: 121, 122, 123, 127, 153, 183 Anm. 13, 203, 207, 210, 212, 227, 228, 233, 235, 252, 307, 309, 310, 312, 313, 315, 319 varius: 124, 156, 170, 171, 206, 207, 216, 239, 268, 281 f.

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Indices vastus: 173, 281 f. vehemens: 60, 118 Anm. 177, 119, 131 vinnolus: 75, 266

401

vociferare: 176, 213, 249 vociferatio: 66, 210, 213, 220, 221, 223, 231, 232

Griechische Begriffe zur Stimme ἀγαθός: 59 Anm. 194 ἀὴρ πεπληγμένος, s. a. oben aer ictus: 38, 39, 69, 71, 248 ἀκαμψία: 30, 245 ἀμαυρός: 33 ἀναφώνησις: 18, 53, 59–66, 78 ἀνώμαλος: 32, 272 ἄπλαστος: 59 Anm. 194 βαρύς: 24, 26, 30, 34, 94, 180, 271, 305 βρασμός: 326, 327 f. βραχύς: 67, 240 δασύς: 345 διάλεκτος: 26 f., 29 f., 47 διαστολή: 290, 291 ἐπαρθείς: 141 εὐκαμψία: 30, 32, 245 εὐμέλεια: 65, 138 εὐφωνία: 50 Anm. 142 εὔφωνος: 88 ἡδύς: 86 θέσις: 291 ἰσχνόφωνος: 85 Anm. 8 κεκλιμένος: 142 κλωσμός: 322 κοιλοφώνως: 142 κοκκύζειν: 322 κοκκυσμός: 322 κρωγμός: 322 λαμπρός: 33, 88 λαρυγγίζειν: 88, 142 λεῖος: 24, 26 λειότης: 30, 32, 95 Anm. 58, 141, 242 λεπτός: 33 λευκός: 242 λιγυρός: 33 λόγος: 26, 30, 58, 85, 86, 90, 91, 92, 99, 100 Anm. 80, 106 Anm. 116, 141, 145, 146 Anm. 306, 165, 166, 167, 369 μακρός: 140 μαλακός: 32, 125, 140 μέγας: 24, 30, 85, 88, 89, 94, 101, 182 μέγεθος: 94, 95 Anm. 58, 138, 242

μέλας: 240, 242 μιαρός: 86 Anm. 13 μικρός: 24, 30, 91, 94 μονοείδεια: 183 Anm. 13, 235, 310, 312 μονοτoνία, s. a. oben monotonia: 129 Anm. 235, 183, 311, 312, 313 ὁμαλός: 24 ὀξύς: 24, 26, 30, 89, 94, 95 Anm. 58, 140, 165, 180, 242, 284 παχύς: 33 πεπλασμένως: 142, 166 περισπώμενος: 180 πικρός: 158 Anm. 360, 284 πικροφωνία: 284 πληγή, s. a. oben ictus: 24, 26, 27, 37, 42, 47, 67, 77, 204, 372 πνεῦμα, s. a. oben Atem(luft): 33, 36, 39, 60, 61, 66, 67, 138, 149, 166, 205, 207, 248 πολύς: 24, 59 Anm. 194 ῥωννύμενος: 60, 207 σαθρός: 33 σκληρός: 32, 33, 59, 99 στιγμή: 290, 291 τόνος: 47, 71, 89, 94, 103, 125, 138, 141, 142, 146, 163, 164, 166 Anm. 394, 183 f., 312, 313, 327, 372 τραγίζειν: 272 τραχύς: 24, 33, 322 τραχύτης: 30, 32, 95, 242 ὑποδιαστολή: 16, 289, 291 f., 293, 296 ὑποστιγμή: 289, 291 f., 293, 296 ὑφειμένος: 141 φαῦλος: 89 φθέγγεσθαι: 27, 36, 88, 89, 248, 271, 305 φθέγμα: 95 Anm. 8, 165, 166, 167 φωνασκεῖν: 57 f., 88, 89 φωνασκία: 57 f., 89 φωνασκικός: 55, 58 f., 124 φωνασκός, s. a. oben phonascus: 58 χρηστοφωνία: 65 ψιλός: 33, 66 ψόφος: 25–29, 36

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525253021 — ISBN E-Book: 9783647253022

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Hypomnemata Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachleben Band 193: Werner Tietz Dilectus ciborum Essen im Diskurs der römischen Antike

Band 192: Jan Felix Gaertner / Bianca Hausburg Caesar and the Bellum Alexandrinum

2013. 408 Seiten mit 1 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-25301-4 Auch als eBook erhältlich

An Analysis of Style, Narrative Technique, and the Reception of Greek Historiography

Das Essen wird in der römischen Literatur häufig als Symbol für nicht-kulinarische Sachverhalte verwendet. So repräsentiert die Erwähnung besonders zubereiteter Speisen gewisse Verhaltensweisen des Verzehrenden. Werner Tietz untersucht den Zeichencharakter von Essen in der römischen Gesellschaft und dessen Bedeutung für die soziale Kommunikation unter besonderer Berücksichtigung des Diskurses über den mos maiorum, die um 200 v. Chr. erstmals zu beobachtende Auseinandersetzung mit den Kulturgütern der hellenistischen Welt.

2013. 372 Seiten, mit 2 Karten und 27 Tab., gebunden ISBN 978-3-525-25300-7 Auch als eBook erhältlich

Das Bellum Alexandrinum beschreibt die Ereignisse des römischen Bürgerkriegs zwischen 49 und 47 v.Chr. und berichtet von Caesars Aufenthalt im ägyptischen Alexandria. Die beiden Autoren weisen nach, dass der Bericht hinsichtlich seiner Sprache und Erzähltechnik sowie der Dichte und Qualität der historischen Informationen höchst heterogen ist und aus verschiedenen Einzelberichten zusammengefügt wurde. Die Analyse wirft ein neues Licht auf die Entstehung des Corpus Caesarianum und auf die Entwicklung der römischen Geschichtsschreibung im ersten Jahrhundert v. Chr.

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525253021 — ISBN E-Book: 9783647253022

Hypomnemata Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachleben Band 191: Moritz Schnizlein Patchworkfamilien in der Spätantike 2012. 342 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-25299-4 Auch als eBook erhältlich

Untersucht wird die Entwicklung der römischen Gesetzgebung zu Wiederverheiratung nach Scheidung oder Verwitwung von der Kaiserzeit bis zum Ende der Spätantike. Möglichkeiten der Ehetrennung stehen ebenso im Zentrum wie Bestimmungen zum Erb- oder Sorgerecht. Daneben wird die Entstehung und Verbreitung einer christlichen Ehe- und Scheidungslehre sowie deren potentieller Einfluss auf weltliche Rechtsregelungen beleuchtet. Die Rekonstruktion konkreter Lebensumstände einer womöglich stigmatisierten Patchworkfamilie geschieht neben rechtlichen und christlichen Quellen auch auf der Basis heidnisch-prosaischer Quellenzeugnisse.

Band 190: Nils Rücker Ausonius an Paulinus von Nola Textgeschichte und literarische Form der Briefgedichte 21 und 22 des Decimus Magnus Ausonius 2012. 376 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-25297-0 Auch als eBook erhältlich

Etwa um 390 n. Chr. schrieb der Rhetor Ausonius mehrere poetische Briefe an seinen ehemaligen Schüler Paulinus, den späteren Bischof von Nola. Im Zentrum dieser Briefgedichte steht die Klage über das lange Schweigen des Freundes und über dessen Entschluss, das Leben als reicher Grundbesitzer gegen ein christlich-asketisches Leben einzutauschen. Paulinus antwortete in zwei Briefgedichten, in denen er sein Verhalten rechtfertigte. Dieser Briefwechsel fasziniert auch aufgrund seiner existenziellen Thematik: Ein junger Mann am Scheideweg schlägt den Rat eines alten Mannes aus und verlässt ihn.

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525253021 — ISBN E-Book: 9783647253022