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German Pages 386 [388] Year 1997
Soziale Sicherung Systematische Einfuhrung
Von Professor
Dr. Detlev Zöllner
R. Oldenbourg Verlag München Wien
Für Christa Zöllner mit Dank für Vieles
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Zöllner, Detlev: Soziale Sicherung : systematische Einführung / von Detlev Zöllner. - München ; Wien : Oldenbourg, 1997 ISBN 3-486-24167-2
© 1997 R. Oldenbourg Verlag Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Telefon: (089) 45051-0, Internet: http://www.oldaibourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronisch«) Systemen. Gedruckt auf säure- und chlorfreiem Papier Gesamtherstellung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe GmbH, München ISBN 3-486-24167-2
Vor-Sätze Dieses Buch möchte den Zugang zu und das Verständnis für den komplexen Seinsbereich der sozialen Sicherung erleichtern; soll dies in nur einem Bande geschehen, so kann es sich nur um eine Einführung handeln. Damit die Einführung ihren Zweck der Zugangserleichterung erfülle, kann sie nicht herkömmlich nach institutionellen Merkmalen gegliedert sein; es wurde ein Gliederungssystem gewählt, das Vergleiche in Zeit und Raum erleichtert. Die Einfuhrung möchte den gesamten Bereich der sozialen Sicherung erkennbar machen, kann jedoch nicht alle Teilbereiche ausleuchten; Hinweise auf Gesetzestexte und Literatur ermöglichen dem Leser eine Weiterfuhrung. Damit die Einführung ihren Zweck der Verständniserleichterung erfülle, ist sie problemorientiert; die auch hier erforderliche Auswahl erfolgte nach dem Kriterium der Politik-Relevanz der Probleme. Da Maßnahmen der sozialen Sicherung vielfach historisch bedingt sind, erfordert ihr Verständnis Rückblicke auf die bisherige Entwicklung; solche werden nicht als Selbstzweck, sondern als Hinweise auf die historische Verstrebung der Problemlösungen geboten. Soziale Sicherung ist ein dynamischer Prozeß, der sich in Zukunft fortsetzen wird; darum wird als weiteres Auswahlkriterium für Gesichtspunkte deren Zukunfts-Relevanz herangezogen. Im Vordergrund der Darstellung steht soziale Sicherheit als ökonomischer Vorgang; da soziale Sicherung durch Recht vermittelt wird, ist die Rechtslage in dem zum Verständnis des Systems erforderlichen Umfange angezogen. Über Maßnahmen der sozialen Sicherung wird in einem Spannungsfeld zwischen expansiv und kontraktiv wirkenden Kräften entschieden. Das relative Gewicht dieser Kräfte variiert im Zeitablauf; im Zeitpunkt des Erscheinens dieses Buches haben die kontraktiv wirkenden Kräfte ungewöhnlich hohes Gewicht. Soziale Sicherung wird realisiert durch leistungspftichtige Institutionen. Die historische Bedingtheit von Maßnahmen der sozialen Sicherung, ihre Variation im Zeitablauf sowie zwischen den Staaten und ihr Erwachsen in einem Spannungsfeld sind ursächlich dafür, daß ihre Institutionen als unübersichtlich, unrational und hypertrophiert empfunden werden. Der gleichen Gefahr unterliegen Darstellungen, die an Institutionen der sozialen Sicherung anknüpfen. Zur Minderung dieser Gefahr geht die folgende Darstellung von den Funktionen der sozialen Sicherung aus, nicht von ihren Institutionen. Dadurch werden auch zeitliche und
VI
Vor-Sätze
internationale Vergleiche erleichtert. Schließlich erleichtert die funktionale Betrachtung den Widerstand gegen gefahrvolle Versuchungen, wie insbesondere: Ein Buch über andere Bücher zu schreiben, vom Bestehenden fasziniert, durch geltendes Recht gehemmt, von Wunschvorstellungen verlockt oder durch Finanzierungsprobleme verschreckt zu sein. Die vorliegende Darstellung geht von folgenden Fragen aus, die zugleich das Gliederungsschema andeuten: - Warum ist soziale Sicherung erforderlich? - Welche prinzipiellen Lösungsmöglichkeiten gibt es für soziale Sicherung? - Welche Tatbestände lösen Sozialleistungen aus? - Welche Personen sind leistungsberechtigt? - Wie werden Geldleistungen bemessen? - Wie werden Gesundheitsleistungen sichergestellt? - Wie werden Sozialleistungen finanziert? - Wie wird soziale Sicherung organisiert? - Welche Wirkungen übt soziale Sicherung auf Wirtschaft und Gesellschaft aus? - Wie könnte ein transparentes Modell sozialer Sicherung gestaltet sein? Die Darstellung möchte über das System der sozialen Sicherung in der Bundesrepublik Deutschland informieren. Die unumgängliche Auswahl der mitzuteilenden Tatsachen und Probleme erfolgte unter dem Gesichtspunkt ihrer Entscheidungsbedürftigkeit durch den Gesetzgeber und ihrer ökonomischen Relevanz. Der problemorientierte funktionale Ansatz der Fragestellung soll dazu dienen, das deutsche, aber auch andere Systeme der sozialen Sicherung leichter zu verstehbar zu machen. Indem für einzelne Problemlösungen auch tatsächliche oder mögliche Alternativen geschildert werden, kann die Darstellung schließlich auch als Hilfe für die Meinungsbildung dienlich sein. Bei der auch hier unvermeidlichen Selektion von Gesichtspunkten wurde solchen der Vorzug gegeben, die universalen Charakter haben, d.h. in jedem System zu lösen sind.
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1: Das System der sozialen Sicherung ...1 I. II. III. IV. V. VI.
Hinfuhrung ...1 Sozialleistungen ...3 Sicherungsinstitutionen ...8 Sicherungsmethoden ...15 Konzeptionen und Begriffe ... 17 Systemvergleich ...22
Kapitel 2: Leistungsauslösende Tatbestände ...25 I.
II. III.
IV.
V. VI.
Unzureichendes Einkommen ...26 a) Nicht gedeckter Mindestbedarf ...26 b) Mehrbedarf ...28 c) Unzumutbare Mietbelastung ...28 d) Häufigkeit und Ursachen der Armut ...29 Krankheit ...31 a) Der Zustand Krankheit ...32 b) Krankheitshäufigkeit ...36 Invalidität ...41 a) Behinderung ...42 1. Behinderungsgrad ...43 2. Behinderungsursache ...46 b) Erwerbsbehinderung ...49 1. Soziale Bedingtheit ...49 2. Stufungen ...50 3. Verweisbarkeit ...54 4. Berücksichtigung von Erwerbseinkommen ...56 c) Pflegebedürftigkeit ...59 d) Invaliditätshäufigkeit ...62 Alter ...65 a) Allgemeine Altersgrenze ...65 b) Besondere Altersgrenzen ...69 c) Flexibilisierung ...73 Tod eines Angehörigen ...73 a) Das Problem und seine Entwicklung ...73 b) Leistungsvoraussetzungen ...77 Arbeitslosigkeit ...78 a) Leistungsvoraussetzungen ...79 b) Arbeitslosenquote ...82
V11
VIII VII. VIII.
Inhaltsverzeichnis
Erziehung ...83 a) Begründungen ...83 b) Leistungsvoraussetzungen ...86 Ausbildung ...89
Kapitel 3: Leistungsberechtigung ...94 I. II.
III. IV. V.
Nicht versicherungsbedingte Leistungsberechtigung ...94 Versicherungsbedingte Leistungsberechtigung ...95 a) Versicherte ...96 b) Angehörige ...102 c) Umfassende Sicherung ...104 Beginn und Ende der Leistungsberechtigung ... 106 Leistungsberechtigung bei Ein- und Auswanderung ... 109 Verhaltensanforderungen ... 113
Kapitel 4: Bemessung der Geldleistungen ...116 I.
II. III.
IV.
Bedarfsdeckungsleistungen ... 117 a) Hilfe zum Lebensunterhalt ...117 b) Standardisierte Leistungen ...119 c) Kindergeld ...121 Entschädigungsleistungen ...124 Einkommensersatzleistungen ...127 a) Kurzfristige Leistungen ...128 b) Bemessung der Altersrente ...129 1. Einkommensfaktor ...130 2. Zeitfaktor ...133 3. Rentenformel ...136 c) Bemessung der Rente wegen Todes ... 138 d) Individuelles Renteniveau ...140 e) Modifizierungen der Einkommensbezogenheit ...143 Anpassung von Geldleistungen ...147
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 5: Sicherstellung von Gesundheitsleistungen ...156 I. II.
III.
IV. V.
VI. VII. VIII.
Methoden und Konflikte ... 156 Ambulante arztliche Behandlung ... 161 a) Der formale Rahmen ...161 b) Art und Menge der Leistungen ...165 c) Vergütung ...170 1. Einzel Vergütung ...170 2. Gesamtvergütung ...174 d) Leistungsbeobachtung 177 Versorgung mit Arzneimitteln ... 179 a) Vertrieb ...179 b) Verordnung ...181 c) Ausgabensteuerung ... 182 Versorgung mit Heil- und Hilfsmitteln ... 186 Krankenhausbehandlung ...189 a) Sach- und Rechtslage ...189 b) Leistungsgeschehen ...191 c) Finanzierung ...193 Ergänzende Geld- und Dienstleistungen ... 196 Pflegeleistungen ...198 Globale Ausgabensteuerung ...199 a) Arztdichte ...199 b) Kostenbeteiligung ...201 c) Die Mehr-Markt-These ...204 d) Ziel- und Grenzproblematik ...206
Kapitel 6: Finanzierung ...210 I. II.
III.
Finanzierungsbedarf ...211 Finanzierungsquellen ...213 a) Der Befund ...213 1. Beiträge ...214 2. Steuern ...217 b) Argumente ...219 Beitragsbemessung ...224 a) Beitragspflichtige ...224 b) Bemessungsgrundlage ...225 1. Versichertenbeitrag ...225 2. Arbeitgeberbeitrag ...227 c) Beitragssatz ...229 1. Individuelle Differenzierung ...230 2. Generelle Differenzirung ...231 3. Finanzausgleichsregelungen ...233
IX
X
IV. V.
Inhaltsverzeichnis
Finanzierungsverfahren ...236 Umverteilungswirkungen ...242 a) Definitionen und Abgrenzungen ...242 b) Intertemporale Umverteilung als Modellvorstellung ...244 c) Vertikale Umverteilung ...247 d) Risikoausgleich ...249 e) Horizontale Umverteilung ...251
Kapitel 7: Sozialleistungsträger ...258 I. II. III.
IV. V. VI. VII.
Überblick ...258 Verwaltungsaufgaben ...261 Gliederungskriterien ...264 a) Leistungsauslösender Tatbestand ...264 b) Region ...267 c) Wirtschaftszweig ...268 d) Art und Ort der Tätigkeit ...269 e) Zur Bewertung ...271 Gliederung der Krankenversicherungsträger ...276 a) Ausgangslage ...276 b) Wettbewerb zwischen Krankenkassen ...278 Koordinationsaufgaben ...280 Selbstverwaltung ...282 Aufsicht und Rechtschutz ...286
Kapitel 8: Soziale Sicherung in Wirtschaft und Gesellschaft ...289 I.
II.
III. IV. V.
VI.
Die Sozialleistungsquote ...289 a) Entwicklung in Deutschland ...290 b) Bestimmungsgründe ...294 c) Zur künftigen Entwicklung ...297 Ergänzende Sicherungsmaßnahmen ...300 a) Privatversicherung ...301 b) Betriebliche Altersversorgung ...302 c) Tarifvertragliche Regelungen ...305 Leistungskumulation ...305 Der Substitutionseffekt öffentlicher Sozialleistungen ...309 Makroökonomische Wirkungen der Sozialleistungen ...312 a) Umverteilungsziele ...313 b) Effekte und Argumente ...317 c) Insbesondere Belastungsargument ...320 d) Vermögensbildung und soziale Sicherung ...322 Leitbilder ...325
Inhaltsverzeichnis
VII. VIII. IX.
X.
Zur Rechtsetzung ...330 Planungsprobleme in wenig industrialisierten Ländern ...333 Zur Angemessenheit von Gesundheitsausgaben ...340 a) Anstieg der Gesundheitsausgaben ...341 b) Suche nach Steuerungszielen ...343 c) Das magische Dreieck ...348 d) Budgetierung ...350 Zum Transparenzziel ...352 Übersichten ...360 Abkürzungsverzeichnis ...364 Literaturverzeichnis ...365 Sachwortverzeichnis ...370
XI
Kapitel 1: Das System der sozialen Sicherung I. Hinführung 1.
Dem Menschen
stehen zur Befriedigung seiner Bedürfnisse
drei
Einkommensquellen zur Verfügung: Erwerbseinkommen, Unterhalt durch Angehörige und Sozialleistungen. Von der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland beziehen etwa 40 v.H. ihr Einkommen Uberwiegend durch Erwerbstätigkeit, weitere 40 v.H. durch Unterhalt von Angehörigen und 20 v.H.
durch
Sozialleistungen.
Außerdem
erhalten
viele
Erwerbstätige
Sozialleistungen zusätzlich zum Erwerbseinkommen. Das Bruttosozialprodukt wird zu rund einem Drittel für Sozialleistungen verwendet. Mit dieser Größenordnung liegt Deutschland im internationalen Vergleich zwar in der Spitzengruppe, nimmt jedoch keine Sonderstellung ein. Alle industrialisierten Länder verwenden große Teile ihres Sozialprodukts für Sozialleistungen. In wenig industrialisierten Ländern ist dieser Anteil geringer, doch gibt es kein Land der Welt, in dem nicht Teile des Sozialprodukts als Sozialleistungen verwendet werden. 2. Der Mensch strebt nach Sicherheit des Einkommensbezuges im Zeitablauf. Dies ergibt sich aus seiner Natur als denkendem Wesen, das in seine Entscheidungen und Wünsche die Dimension der Zukunft einbezieht. Aus der prinzipiellen Unsicherheit der Zukunft erwächst das Streben nach dem Zustand der Sicherheit. Dieses Sicherheitsstreben unterliegt aller wirtschaftlichen und politischen Aktivität des Menschen. 3. Die Herbeiführung oder Aufrechterhaltung des Zustandes Sicherheit erfordert Maßnahmen der Sicherung. Solche Sicherungsmaßnahmen gibt es hinsichtlich des Erwerbseinkommens (insbesondere Vertragsabschluß), des Unterhalts (Unterhaltsrecht) und der Sozialleistungen. Die Sicherungsmaßnahmen sind ein Vorgang in der Zeit, der in Bezug auf Sozialleistungen als
soziale
2
Kapitel 1: Das System der sozialen Sicherung
Sicherung
bezeichnet wird.
Sozialleistungen sind
Mittel der
sozialen
Sicherung. 4. Das Problem der Sicherheit hat den Menschen von Beginn seiner Existenz an beschäftigt und ihn zur Erfindung von Mitteln der Sicherung veranlaßt. Sicherung als Maßnahme staatlicher Politik ist demgegenüber ein j u n g e s Phänomen. Die Lehre Uber soziale Sicherung ist noch jünger als das Phänomen selbst. Dies hat zur Folge, daß die Lehre sich noch weitgehend im deskriptiven Zustand befindet; sie ist noch unvollständig und vor allem uneinheitlich in der Benennung der relevanten Fakten und Vorgänge. 5. Ungeachtet ihrer kaum mehr als hundertjährigen Geschichte sind die heutigen Maßnahmen der sozialen Sicherung historisch bedingt. Sie erwuchsen aus sozio-ökonomischen
Daten,
früheren
Erfahrungen
und
politischen
Wertsetzungen, die im Zeitablauf Änderungen unterlagen und zwischen Staaten unterschiedlich sind. Die historische Bedingtheit ist ursächlich für die Komplexität der Systeme der sozialen Sicherung und für die Unterschiede der Systeme zwischen Staaten. 6. Maßnahmen der sozialen Sicherung ändern sich im Zeitablauf nach Ziel, Inhalt und Methode. Sie müssen daher als dynamischer Prozeß verstanden werden. Die Grundtendenz dieses Prozesses war eine quantitative Expansion und eine qualitative Verbesserung; doch gab es zwischenzeitlich auch Phasen der Reduktion. Expansions- oder Reduktionsvorgänge sind hauptsächlicher Inhalt der
tagespolitischen
Diskussion;
sie
erscheinen
in
dieser
oft
überdimensioniert und perspektivisch verzerrt. 7. Soziale Sicherung wird bewirkt durch Umverteilung von Geld. Das Geld schafft bei berechtigten Personen Kaufkraft oder schaltet die begrenzende Wirkung fehlender Kaufkraft auf die Befriedigung eines Bedarfs an Sach- oder Dienstleistungen aus. Das benötigte Geld wird aus dem Einkommen anderer Personen
aufgebracht. Soziale Sicherung ist also ein
ökonomischer
Vorgang. 8. Soziale Sicherung wird vermittelt durch Recht. Die Rechtsnormen, die das
wirtschaftliche
Geschehen
steuern,
Leistungspflicht
und
Kapitel I: Das System der sozialen Sicherung
3
Leistungsberechtigung festlegen, werden zusammenfassend als Sozialrecht bezeichnet. Eine Darstellung des Systems der sozialen Sicherung erfordert enge Bezugnahme auf die Rechtsnormen. 9.
Soziale
Sicherung
schaffende
Rechtssetzungsakte
sind
normierte
Wertsetzung-Akte. Wertsetzungen erfolgen in einem Kranz von Daten psychologischer, sozialer, ökonomischer und rechtlicher Art; sie erfolgen durch politische Entscheidung im Gesetzgebungsverfahren. Diese Entscheidungen ergehen in einem Spannungsfeld konfligierender Zielsetzungen. In diesem Spannungsfeld wirken expandierende und retardierende Kräfte. 10. Diese Kräfte wirken auf drei Ebenen: - Die Erkenntnisebene: Es wird ein Sicherungsbedarf erkannt und begründet oder geleugnet; - die Bewertungsebene: Es werden Sicherungsmaßnahmen gefordert - oder abgelehnt, - die Entscheidungsebene: Es werden Sicherungsmaßnahmen im politischen Prozeß beschlossen - oder nicht beschlossen. Unterschiede und Veränderungen auf diesen Wirkungsebenen, also in der Erkenntnis, der Bewertung und Entscheidung Uber Situationen sind ursächlich für Veränderungen der Rechtslage innerhalb eines Staates im Zeitablauf und für Unterschiede in den Systemen der sozialen Sicherung zwischen Staaten.
11. Sozialleistungen 11. Über den Begriff Sozialleistung gibt es keinen allgemein anerkannten Konsens. Geht man von den drei Einkommensquellen aus, so ergibt sich als allgemeine Definition der Sozialleistung: Ein Einkommen oder eine geldeswerte Sach- oder Dienstleistung, die nicht Erwerbseinkommen und nicht Unterhaltsleistung ist. Diese allgemeine Definition deckt allerdings eine Vielzahl von Vorgängen, wie zum Beispiel: Schenkung, Erbschaft, Zahlung aus Versicherungsvertrag,
staatliche
Subvention,
freiwillige
Leistung
des
Arbeitgebers. Sie deckt auch die gesamten Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge, soweit diese nicht oder nicht voll zu entgelten sind. Dazu
4
Kapitel 1: Das System der sozialen Sicherung
gehören
z.B.
die
schulische
Ausbildung,
kulturelle
Angebote,
Sicherheitsvorkehrungen, Vorsorgemaßnahmen. Es wäre weder zutreffend noch zweckmäßig, alle diese Leistungen als Sozialleistung zu bezeichnen. 12. Das von der Bundesregierung periodisch vorgelegte Sozialbudget (Übersicht I, Anhang) berichtet über Leistungen, die "von öffentlichen und nicht-öffentlichen Stellen für Ehe und Familie, Gesundheit, Beschäftigung, Alter und Hinterbliebene, Folgen politischer Ereignisse, Wohnen, Sparen und als Allgemeine Lebenshilfen aufgewandt werden." Das Sozialbudget bezeichnet diese Leistungen als Sozialleistungen, verzichtet aber auf eine Definition des Begriffs. Es bleibt offen, was im einzelnen als "Sozial"-Leistung anzusehen ist, welche nicht-öffentlichen Stellen einzubeziehen sind,
wie die Zweck-
bestimmung der Leistung abzugrenzen ist. Diese Offenheit ist zweckmäßig für eine Dokumentation, die in erster Linie informieren will und möglichst viele Daten sammelt, um möglichst vielen Fragestellungen gerecht werden zu können. Bei manchen der ausgewiesenen Leistungen kann jedoch gefragt werden, ob es zweckmäßig und zutreffend ist, sie zur sozialen Sicherung zu zählen. Eine Entscheidung darüber setzt jedoch die Anwendung abgrenzender Kriterien voraus. 13. Eine Definition der sozialen Sicherung hat erstmalig im Jahre 1953 das Internationale
Arbeitsamt
vorgenommen.
Den
vergleichenden
Untersuchungen dieses Amtes über die Kosten der sozialen Sicherung liegt jetzt folgende Definition zugrunde:1 1)
Das Ziel des Systems muß darin bestehen, a) heilende oder verhütende medizinische Leistungen zu gewähren, b) Einkommen aufrecht zu erhalten im Falle unfreiwilligen Verlustes des ganzen oder eines bedeutenden Teiles des Einkommens oder c) Einkommen zu ergänzen für Personen mit familiären Unterhaltsverpflichtungen.
2)
Das System muß durch Gesetzgebung geschaffen sein, die bestimmte individuelle Rechtsansprüche gewährt oder öffentlichen, halböffentlichen oder autonomen Stellen bestimmte Verpflichtungen auferlegt
Kapitel 1: Das System der sozialen Sicherung
3)
5
Das System muß durch eine öffentliche, halböffentliche oder autonome Stelle verwaltet werden.
14. Diese Definition grenzt Leistungen aus, die nicht einem bestimmten Zweck dienen, und auf die kein Rechtsanspruch besteht. Sie enthält somit ein Sozialkriterium (Zweck?) und ein Sicherungskriterium (Rechtsanspruch?). Das Sicherungskriterium wird
nachfolgend als erfüllt angesehen,
wenn
ein
persönlicher Anspruch auf eine Leistung gegen einen Leistungspflichtigen gesetzlich normiert ist. Das Sozialkriterium wird als erfüllt angesehen, wenn die Leistung wegen bestimmter Tatbestände und mit bestimmtem Zweck erbracht wird. Abgrenzungskriterien einer Sozialleistung von anderen Leistungen sind somit: Leistungsberechtigung, LeistungsVerpflichtung, Zweckbestimmung, der Leistung, leistungsauslösender Tatbestand. 15.
Die
Ausgrenzung
einer
nicht
auf
Gesetz
beruhenden
Leistungsberechtigung erfolgt unter Anwendung des Sicherungskriteriums. Sie betrifft auch tarifvertragliche Berechtigungen, weil diese im Prinzip ohne gesetzgeberische Entscheidung einseitig gekündigt werden können. 16. Unter dem Gesichtspunkt der Leistungsberechtigung sind die Leistungen der S o z i a l h i l f e als Sozialleistungen anzusehen, soweit auf sie ein klagbarer Anspruch besteht. Das trifft zu für die sogenannten "Ist-Leistungen" ("ist zu gewähren"), wie die Leistungen zum laufenden Lebensunterhalt und die Leistungen in besonderen Lebenslagen. Die Soll- und Kann-Leistungen sind als öffentliche Daseinsvorsorge anzusehen. 17.
Hinsichtlich der
Leistungsverpflichtung
hebt das
Internationale
Arbeitsamt auf öffentliche oder autonome Stellen ("body") ab. Als Ausnahme werden Leistungen wegen Arbeitsunfall hinzugerechnet, wenn der Arbeitgeber leistungspflichtig ist, wie dies in manchen Ländern der Fall ist. Diese Ausnahme bringt Unscharfe in die Abgrenzung, weil Arbeitgeber auch bei anderen Tatbeständen (z.B. Krankheit) leistungspflichtig sind, und weil es außer Arbeitgebern auch andere Leistungspflichtige gibt, wie insbesondere nach dem Recht des familiären Unterhalts. Gesetzgeberische Maßnahmen der sozialen Sicherung, die in den privatrechtlichen Bereichen des Unterhaltsrechts und des
6
Kapitel I: Das System der sozialen Sicherung
Arbeitsrechtsansetzen, sind als intemalisierende Lösungen bezeichnet worden 2 . Bei extemalisierenden Lösungen sind größere Sozialverbände leistungspflichtig, die Uber Familie und Betrieb hinausgehen. Die Definition des IAA spricht von Verwaltung des Systems durch eine öffentliche, halböffentliche oder autonome Stelle. Das können bereits bestehende (z.B. Gemeinde) oder speziell für den Zweck
der
sozialen
Sicherung
geschaffene
Verbände
sein.
Leistungsverpflichtete Stellen - das sind in Deutschland Behörden oder Körperschaften - werden als Sozialleistungsträger bezeichnet. 18. Die Tatbestände, derentwegen Sozialleistungen erbracht werden, sind in Rechtsnormen vielfältig bezeichnet. Gebräuchliche Sammelbezeichnungen (z.B. Wechselfällen des Lebens, Risiko, Versicherungsfall) sind unterschiedlich definiert und auch unzureichend zur Bezeichnung aller vorkommenden Fälle. Andererseits gehen verschiedene Einzelbezeichnungen (z.B. Berufsunfähigkeit, Verletzung, Minderung der Erwerbsfähigkeit) auf den gleichen Tatbestand zurück. Deshalb werden im Folgenden mit dem Ziel verbesserter Transparenz die
leistungsauslösenden
Tatbestände
einerseits
zusammengefaßt,
andererseits schärfer abgegrenzt. 19.
Leistungsauslösende
Tatbestände
können
zur
Folge
haben
einen
Einkommensverlust, einen Bedarf oder einen bleibenden Gesundheitsschaden. Entsprechend
besteht
Einkommensersatz,
der
Zweck
Bedarfsdeckung
einer
oder
Sozialleistung
Entschädigung.
Der
in Ein-
kommensersatz kann ganz oder teilweise in Form einer Einkommensergänzung erfolgen. Die Entschädigung erfolgt nur bei bestimmten Schadensursachen. Die Bedarfsdeckung kann sich auf einen nicht gedeckten Mindestbedarf (z.B. Lebensunterhalt), auf einen zusätzlichen Bedarf (z.B. wegen Kindererziehung) oder
auf
einen
Entsprechend
speziellen
Bedarf
(z.B.Gesundheitsleistungen)
ihrer Zweckbestimmung
werden
die
richten.
Sozialleistungen
als
Geldleistung (etwa vier Fünftel aller Ausgaben) oder als Dienst- oder Sachleistung erbracht. 20. Als s p e z i e l l e Definition des Begriffes Sozialleistung ergibt sich: Eine zweckbestimmte Leistung, auf die bei Vorliegen eines leistungsauslösenden Tatbestandes individuelle Leistungsberechtigung gegenüber einem öffentlich-
Kapitel I: Das System der sozialen Sicherung
rechtlich Leistungsverpflichteten besteht. Die Kriterien Zweckbestimmung und Tatbestand dienen der Abgrenzung
zu
Leistungen
mit
unzureichender
Sicherungswirkung. Nur wenn alle vier Kriterien erfüllt sind,
wird im
Folgenden von sozialer Sicherung gesprochen; der Begriff "Sozialleistung" ist in diesem engeren Sinne als öffentliche Sozialleistung zu verstehen. 21. Jedes der vier Kriterien ist mit den jeweils anderen Kriterien wie folgt verbunden: Berechtigung bestehtauf die Erbringung - einer zweckbestimmten Leistung -
bei Vorliegen eines leistungsauslösenden Tatbestandes
- gegenüber einem Leistungspflichtigen.
Verpflichtung besteht zur Erbringung - einer zweckbestimmten Leistung - bei Vorliegen eines leistungsauslösenden Tatbestandes - an einen Leistungsberechtigten.
Ein Tatbestand löst aus die Erbringung - einer zweckbestimmten Leistung - an Leistungsberechtigte - durch einen Leistungspflichtigen.
Eine zweckbestimmte Leistung wird erbracht - bei Vorliegen eines leistungsauslösenden Tatbestandes - an einen Leistungsberechtigten - durch einen Leistungspflichtigen.
7
8
Kapitel I: Das System der sozialen Sicherung
III. Sicherunesinstitutionen 22. Die Sozialleistungen werden von einer Vielzahl von Sozialleistungsträgern erbracht. Diese Sozialleistungsträger faßt das Sozialbudget zu 30 "Institutionen" zusammen (Übersicht I). Die Kriterien für diese Zusammenfassung sind nicht angegeben, doch läßt sich erkennen, daß die Träger in erster Linie nach Maßgabe der für sie geltenden Rechtsquellen (Gesetz, daneben auch Vertrag oder
Zusage)
zusammengefaßt
wurden.
Demnach
ist
eine
Sicherungsinstitution: Ein oder mehrere Sozialleistungsträger, die - bei Vorliegen eines leistungsauslösenden Tatbestandes - eine zweckbestimmte Leistung - an Leistungsberechtigte - aufgrund eines gleichen oder inhaltsgleichen Gesetzes zu erbringen haben. Sobald
die
verschiedenen
Sozialleistungsgesetze
im
Sozialgesetzbuch
zusammengefaßt sind, ist an Stelle des gleichen Gesetzes vom gleichen Buch des Sozialgesetzbuches zu sprechen. 23. Aus den genannten Kriterien ergibt sich folgende Abgrenzung: Von den im Sozialbudget aufgeführten 30 Sicherungsinstitutionen erbringen 14 keine Sozialleistungen nach der hier zugrunde gelegten Definition. Das gilt für die Entgeltfortzahlung und die Familienzuschläge nach dem Beamtenrecht, die beide Arbeitsentgelt sind. Weitere Institutionen erfüllen mindestens eines der 4 genannten Abgrenzungskriterien nicht: a)
Keine öffentlich-rechtliche Leistungsverpflichtung:
- Zusatzversicherung im öffentlichen Dienst, - Betriebliche Altersversorgung, - Sonstige Arbeitgeberleistungen, - Beihilfen nach Beamtenrecht (beruhen auf Verwaltungsvorschriften). b)
Keine individuelle Leistungsberechtigung: Jugendhilfe,
Kapitel 1: Das System der sozialen Sicherung
9
- Öffentlicher Gesundheitsdienst. c) -
Abweichende Zweckbestimmung: Steuerermäßigungen,
- Vergünstigungen im Wohnungswesen (außer Wohngeld). d)
Kein
leistungsauslösender
Tatbestand
(ausschlaggebend
sind
Vermögensgrößen): -
Lastenausgleich
-
Wiedergutmachung
- Sonstige Entschädigungen, -
Vermögensbildung.
24. Bei Anwendung des Sozial- und des Sicherungskriteriums (TZ 14) verbleiben 16 Sicherungsinstitutionen. Die Rentenversicherung der Arbeiter, der Angestellen und die knappschaftliche Rentenversicherung können wegen ihrer Ähnlichkeiten zu einer Institution zusammengefaßt werden. Hinzuzurechnen ist die Unterhaltssicherung
nach
dem
Unterhaltsvorschußgesetz,
die
im
Sozialbudget in der Position "Jugendhilfe" enthalten ist. Geht man die für diese 14 Institutionen geltenden Rechtsnormen durch, so ergibt sich eine Vielzahl verschieden bezeichneter Sozialleistungen. Wollte man sie hinsichtlich Voraussetzung, Funktion und Bemessungsweise beschreiben, so verlöre man sich in ermüdender Enumeration. Deshalb sind Zusammenfassungen und eine Hinfuhrung zu den funktionalen Problemen zweckmäßig. 25. Zunächst liegt ein Vergleich mit dem Sozialgesetzbuch nahe. Die in Ubersicht II aufgeführten Institutionen und Sozialleistungen decken sich im wesentlichen mit den im Allgemeinen Teil des Sozialgesetzbuches aufgeführten Leistungen und Leistungsträgern. Diese werden auch dort (ohne den Ausdruck zu verwenden) zu Sicherungsinstitutionen
zusammenfaßt.3 Von den in
Übersicht II genannten Institutionen sind im Sozialgesetzbuch nicht enthalten: - Die Versorgungswerke, weil sie auf Landesrecht beruhen,
10
Kapitel 1: Das System der sozialen Sicherung
- die Beamtenversorgung, weil sie traditionell nicht als Sozialleistung angesehen wird. Von den im Sozialgesetzbuch aufgeführten Institutionen sind in der Übersicht II nicht enthalten: - Zusätzliche
Leistungen
für
Schwerbehinderte,
weil
ein
anderer
Leistungszweck vorliegt; - Jugendhilfe, weil keine individuelle Leistungsberechtigung vorliegt; - Leistungen
zur Eingliederung Behinderter,
weil es sich
um
eine
(entbehrliche) Enumeration verschiedener Leistungen durch verschiedene Leistungsträger handelt. Die Übersichten im Anhang sind ab 1995 um Angaben zur neu geschaffenen Pflegeversicherung zu ergänzen. 26. Die vergleichende Statistik des Internationalen Arbeitsamtes Uber die Kosten der sozialen Sicherung bezieht aufgrund ihrer Definition nicht alle im Sozialbudget genannten Institutionen in Deutschland ein. Auch im Vergleich zur hier vorgenommenen Abgrenzung ergeben sich einige Abweichungen. In der Zusammenstellung des IAA fehlen die Ausbildungsförderung, die Versorgungswerke und das Wohngeld. Andererseits sind aufgenommen die Familienzuschläge an Beamte, der öffentliche Gesundheitsdienst und der Lastenausgleich. 27. Sozialleistungen stehen zu, wenn ein leistungsauslösender Tatbestand vorliegt. Man kann den für die Sicherungsinstitutionen geltenden Rechtsnormen eine
Vielzahl
solcher
Tatbestände
entnehmen:
Berufsunfähigkeit,
Erwerbsunfähigkeit, Alter, Tod eines Angehörigen, verminderte bergmännische Berufsfähigkeit, Krankheit, Verletzung, Arbeitslosigkeit, Kindererziehung, Dienstunfähigkeit, Beschädigung, nicht gedeckter Lebensunterhalt, Ausbildung, Erziehung, unzumutbare Mietbelastung, Unterhaltsausfall, Pflegebedürftigkeit. Im Hinblick auf die Situation des Betroffenen lassen sich einige dieser Tatbestände zusammenfassen und bezeichnen als
Kapitel I: Das System der sozialen Sicherung
- Invalidität;
alle
Bezeichnungen
für
dauerhafte
gesundheitliche
11
Be-
einträchtigung, - unzureichendes Einkommen; den nicht gedeckten Lebensunterhalt und die unzumutbare Mietbelastung, - Erziehung; auch den Unterhaltsausfall. Somit ergeben sich acht situational unterschiedliche Tatbestände,
die
hier
nach
dem
Zweck
der
leistungsauslösende
durch
sie
ausgelösten
Sozialleistungen geordnet sind.
Tatbestand
Leistungszweck
1. 2. 3. 4.
Alter Tod eines Angehörigen Arbeitslosigkeit Krankheit
5.
Invalidität
6.
Erziehung
7. 8.
Ausbildung Unzureichendes Einkommen
Einkommensersatz Einkommensersatz Einkommensersatz Einkommensersatz, spezielle Bedarfsdeckung Einkommensersatz, Entschädigung Bedarfsdeckung Einkommensersatz, Ei nkommensergänzung Bedarfsdeckung Bedarfsdeckung
28. Für den gleichen leistungsauslösenden Tatbestand gibt es
mehrere
Sicherungsinstitutionen. So werden z.B. Leistungen wegen des Tatbestandes Alter von der Rentenversicherung der Arbeiter, der Angestelltenversicherung, der knappschaftlichen Rentenversicherung erbracht. Wegen vieler Ähnlichkeiten faßt
man
diese
drei
Institutionen
oft
unter
der
Bezeichnung
"Rentenversicherung" zusammen. Der Alterssicherung dienen jedoch auch die Alterssicherung
der
Landwirte,
die
Versorgungswerke
und
die
Beamtenversorgung. Unter speziellen Fragestellungen ist es möglich und hilfreich, die Sicherungsinstitutionen im Hinblick auf ihre Funktion zusammenzufassen.
Man kann die genannten sechs Institutionen
als
12
Kapitel I: Das System der sozialen Sicherung
"Alterssicherung" bezeichnen. Sie alle dienen allerdings zugleich auch der Hinterbliebenensicherung und der Invaliditätssicherung; spricht man von den letztgenannten Funktionen, so sind auch die Unfallversicherung und die soziale Bitschädigung in die Betrachtung einzubeziehen. 29. Damit werden Grenzen funktionaler Zusammenfassungen erkennbar. Denn die Leistungen der Unfallversicherung und der sozialen Entschädigung dienen einem anderen Zweck (Entschädigung) als diejenigen der übrigen Institutionen (Einkommensersatz). Beide unterscheiden sich wiederum in der Bemessung und der Finanzierung ihrer Leistungen. Solche Unterschiede bestehen z.B. auch zwischen Rentenversicherung und Beamtenversorgung sowie zwischen Sozialhilfe und Wohngeldsicherung. Es hängt von der Fragestellung ab, ob man bei Zusammenfassungen von solchen Unterschieden absehen kann oder nicht. 30. Das Sozialbudget weist die Sozialleistungen auch in funktionaler Gliederung aus. Dabei werden 8 Funktionen unterschieden: - Ehe und Familie, -
Gesundheit,
-
Beschäftigung,
- Alter und Hinterbliebene, - Folgen politischer Ereignisse, -
Wohnen,
- Sparförderung und - Allgemeine Lebenshilfen. Die Definition dieser Funktionen sowie die Zuordnung der Sozialleistungen zu diesen Funktionen erscheint in mancher Hinsicht unscharf und fraglich. So stellen sich u.a. folgende Fragen: Soll man Waisenrenten und Kindergeld trotz unterschiedlicher Zweckbestimmung zusammenfassen und unter Ehe und Familie führen, obwohl diese gar nicht existieren (Vollwaise, alleinerziehender Eltemteil)?
Soll
man
Renten
wegen
Invalidität
mit
den
"echten"
Gesundheitsleistungen der Krankenversicherung zusammenfassen? Sind die Ausbildungsförderung und das Arbeitslosengeld richtig als "Beschäftigung"
Kapitel I: Das System der sozialen Sicherung
13
zugeordnet, obwohl eine solche eben nicht vorliegt? Die Funktionen "Folgen politischer Ereignisse" und "Allgemeine Lebenshilfen" sind wenig anschaulich und fassen die verschiedensten Leistungen zusammen. Die funktionale Gliederung des Sozialbudgets war ein Fortschritt gegenüber der
nur
institutionalen Gliederung; sie sollte jedoch verfeinert und präzisiert werden. 31. In Übersicht II (Anhang) sind die Sicherungsinstitutionen und ihr Ausgabenvolumen im Jahr 1994 zusammengestellt. Dabei wurden die Rentenversicherung der Arbeiter, die Angestelltenversicherung knappschaftliche Rentenversicherung zur Institution
und
die
"Rentenversicherung"
zusammengefaßt. Weitere Zusammenfassungen erscheinen aus den genannten Gründen nicht zweckmäßig. Die Institutionen sind in der Reihenfolge des Anteils aufgeführt, den ihre Ausgaben an den Gesamtausgaben der sozialen Sicherung (in der hier gewählten Abgrenzung) betragen. Danach steht die Rentenversicherung mit 38 v. H. der Gesamtausgaben an der Spitze, gefolgt von
der
Krankenversicherung
Beamtenversorgung,
der
mit
26
Alterssicherung
v.H.
Unter
der
Einschluß
Landwirte
und
der der
Versorgungswerke dienen mehr als die Hälfte aller Ausgaben der Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenensicherung. Hinsichtlich der Zweckbestimmung ergeben sich folgende Größenordnungen: 60 v.H. aller Sozialleistungen dienen dem Einkommenssteuersatz, 35 v.H. der Bedarfsdeckung und 5 v.H. der Entschädigung. 32. Die im Sozialbudget aufgeführten Institutionen leisteten Ausgaben in Höhe von 1.106 Mrd. DM; das Bruttosozialprodukts (Sozialleistungsquote).
im Jahr 1994
entsprach etwa 34 v.H. des Die hier
vorgenommene
Eingrenzung deckt ein Ausgabevolumen von 878 Mrd. DM und entspricht einer Sozialleistungsquote von 27 v.H. Doch ist eine Einschränkung zu machen. 33. In den Ausgaben der Sicherungsinstitutionen sind auch solche für Leistungen enthalten, die nach der hier gewählten Definition nicht als Sozialleistung anzusehen sind, weil auf sie kein individueller Rechtsanspruch besteht. Hierzu gehören u.a. Gesundheitsmaßnahmen der Rentenversicherung, Unfall Verhütungsmaßnahmen
der
Unfallversicherung,
die
Soll-
und
Kannleistungen der Sozialhilfe sowie im Rahmen der Arbeitsförderung
14
Kapitel 1: Das System der sozialen
Sicherung
Beratungs- und Vermittlungsdienst, beschäftigungspolitische Maßnahmen, allgemeine Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung. Eine Sozialleistung im engeren Sinne dient der
Sicherung
bei
Vorliegen
eines
leistungsauslösenden
Tatbestandes; die eben genannten Leistungen dienen der Sicherung vor Eintreten eines solchen Tatbestandes. Die Größenordnung solcher Vorsorgeleistungen - in Bezug auf Gesundheit auch als Prävention bezeichnet - beläuft sich auf etwa 3-4 v.H. aller Sozialleistungen oder ein Prozentpunkt der Sozialleistungsquote. 34. Diese Feststellung besagt nichts über die Zweckmäßigkeit der Betrauung von Sicherungsinstitutionen mit Vorsorgeleistungen; diese steht in den meisten Fällen außer Frage. Doch übernehmen die Sicherungsinstitutionen damit Aufgaben
der
allgemeinen
Daseinsvorsorge,
die
zum
Bereich
der
Gesundheitspolitik oder der Beschäftigungspolitik gehören. Würden z.B. die Unfallverhütung allein den Behörden der staatlichen Gewerbeaufsicht oder die beschäftigungspolititschen Maßnahmen der Wirtschaftspolitik übertragen, so würden deren Ausgaben nicht in der Sozialleistungsquote, sondern in einer anderen statistischen Größe enthalten sein. Die Sicherungsinstitutionen entlasten andere öffentliche Haushalte.
Dieser
Entlastungseffekt
ist
bei
der
Beurteilung der Sozialleistungsquote zu berücksichtigen. 35. Nach der hier gewählten Definition zählt die Entgeltfortzahlung nicht zur sozialen Sicherung, weil sie formal Einkommen, nicht Einkommensersatz und weil sie als internalisierende Lösung (TZ 17) anzusehen ist. Das Gleiche gilt für die an Beamte im Krankheitsfall fortgezahlten Bezüge, die im Sozialbudget der Bundesregierung nicht ausgewiesen sind. Wenn man allerdings Vergleiche von Sozialleistungsquoten und insbesondere von Ausgaben der Krankenversicherung anstellt, so ist eine Information über die Entgeltfortzahlung unerläßlich. Denn die Alternative zur Entgeltfortzahlung sind erhöhte Ausgaben der Krankenversicherung für Einkommensersatzleistungen. Dies gilt für einen zeitlichen Vergleich in Deutschland, wo 1970 die Lohnfortzahlungspflicht auch für Arbeiter eingeführt wurde, und es gilt für internationale Vergleiche.
Kapitel I: Das System der sozialen Sicherung
15
IV. Sicherungsmethoden 36. Staatliche Maßnahmen der sozialen Sicherung knüpften bei ihrer Entstehung an vier Phänomene an, die mit der Entwicklung von gewerblicher Produktion und Geldwirtschaft entstanden waren. Es waren dies die Tatsachen, daß 1. Haushalte zum Zwecke des intertemporären Einkommensausgleichs oder der Vermögensbildung sparen, 2. Haushalte sich zum Zwecke des Risikoausgleichs versichern, 3. Arbeitgeber für ihre Arbeitnehmer
Maßnahmen der sozialen
Sicherung treffen und 4. eine staatliche Verpflichtung zur Deckung des Mindestbedarfs anerkannt
wurde.
Aus
diesen
historischen
Ansatzpunkten
entwickelten sich die Grundmethoden der sozialen Sicherung; Sparzwang, Versicherungspflicht, Arbeitgeberverpflichtung und Transferzahlung. 37. Der Sparzwang hat als Methode der sozialen Sicherung in Europa keine Bedeutung erlangt. In Ländern Asiens und Afrikas, die früher unter britischem Einfluß standen, finden sich "provident fund" genannte Einrichtungen auf gesetzlicher Grundlage. Arbeitnehmer und Arbeitgeber zahlen Prämien an einen Fond, der beim Vorliegen bestimmter Tatbestände die auf das individuelle Konto eingezahlte Summe einschließlich der angewachsenen Zinsen in Form einer Bnmal-Zahlung zurückzahlt. Zur Auszahlung berechtigende Tatbestände sind in der Regel Alter, Invalidität und Tod. Die Auszahlungen können nach längerer Einzahlungsperiode Erleichterung bedeuten; sie sind jedoch nicht als ausreichende
soziale
Sicherung
anzusehen,
insbesondere,
wenn
der
leistungsauslösende Tatbestand in jüngerem Lebensalter eintritt. 38. Die Arbeitgeberverpflichtung hat eine lange Tradition. Arbeitgeber hatten in bestimmten Bereichen neben dem Lohn auch Leistungen an ihre Arbeitnehmer im Falle der Arbeitsunfähigkeit erbracht. Hieran anknüpfend normierte die Preußische Gesindeordnung von 1810 eine Fürsorgepflicht der Herrschaft für erkrankte Dienstboten; ihnen war Verpflegung und "Kur" (ärztliche Versorgung) zu gewähren. Das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch von 1861 schrieb den Arbeitgebern bei Erkrankung von Seeleuten die Aufbringung der Kosten für Verpflegung und Heilung sowie die begrenzte Fortzahlung der Heuer vor. Weiter wurde den Handlungsgehilfen der Anspruch
16
Kapitel I: Das System der sozialen Sicherung
auf Gehaltsfortzahlung für die Dauer von 6 Wochen im Krankheitsfalle eingeräumt. Das Reichshaftpflichtgesetz von 1871 schränkte für Unternehmer das Verschuldensprinzip zugunsten einer Erweiterung der Schadensersatzpflicht ein. Hiervon ausgehend löste die Unfallversicherung die privatrechtliche Haftpflicht ab und ist allein von den Unternehmern zu finanzieren. 39. Seit dem Mittelalter waren bei den Zünften der Handwerker "Zunftbüchsen" gebildet worden, in die jeder Zunftangehörige (aufgrund einer zünftischen Satzung oder Ordnung) regelmäßig einen Beitrag zu zahlen hatte. Die Kasse zahlte im Krankheitsfalle Unterhalt im Spital, bei Invalidität Verpflegung und Wohnung, im Todesfall Beerdigungskosten. Nach dem Vorbild der Zünfte schlössen sich die Bergleute genossenschaftlich zu Knappschaften zusammen, die gleichfalls eine Fürsorge für erkrankte und verunglückte
Bergleute
übernahmen, die durch einen "Büchsenpfennig" finanziert wurde. In beiden Fällen handelte es sich um die Bildung von Gefahrengemeinschaften, innerhalb derer ein Risikoausgleich stattfand, d.h. um Versicherung. 1854 wurde in Preußen Versicherungspflicht für alle Bergarbeiter eingeführt. Hieran knüpfte die ab 1883 entstandene Sozialversicherungsgesetzgebung an. Eine ihrer
entscheidenden
Neuerungen
war
die
Verallgemeinerung
der
Versicherungspflicht. 40. Eine staatliche Verpflichtung zur Fürsorge für Bedürftige wurde erstmalig im preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 postuliert: "Dem Staat kommt es zu, für die Ernährung und Verpflegung deijenigen Bürger zu sorgen, die sich ihren Unterhalt nicht selbst verschaffen, und denselben auch von anderen Privatpersonen... nicht erhalten können". Die Durchführung und Finanzierung der Fürsorge wurde bestehenden Korporationen (Zunft, Innung, Knappschaft) sowie den Städten und Gemeinden auferlegt. Ein preußisches Gesetz Uber die Verpflichtung zur Armenpflege von 1842 wurde inhaltlich 1876 als Reichsrecht übernommen. Nach der Methode der Transferzahlung ist die heutige Sozialhilfe gestaltet, daneben auch die soziale Entschädigung und einige Bedarfsdeckungsleistungen. 41. In den Sicherungsinstitutionen der Bundesrepublik Deutschland (Übersicht II) kommt in 8 Institutionen die Methode der Transferzahlung, in den übrigen 6
Kapitel 1: Das System der sozialen Sicherung
17
die Methode der Versicherung zur Anwendung. Vom Ausgabevolumen her steht allerdings die Versicherung
im Vordergrund, rund ein Fünftel aller
Sozialleistungen beruhen auf Transferzahlung, vier Fünftel auf Versicherung. 42. Im internationalen Vergleich gibt es hinsichtlich der überwiegend angewandten Methode zwei Gruppen von Landern: In Deutschland (1883) und nachfolgend
in
vielen
kontinentaleuropäischen
Ländern
wurde
schwerpunktmäßig die Methode der Versicherung angewandt. Man normierte Versicherungspflicht für bestimmte Personengruppen, die im Laufe der Zeit weiter ausgedehnt wurde. In Dänemark (1891) und nachfolgend in den skandinavischen Ländern sowie Großbritannien, Australien und Neuseeland wurde vorwiegend die Methode der Transferzahlung angewandt. Ausgehend von der staatlichen Fürsorge
wurde
für
bestimmte Tatbestände
die
Bedürftigkeitsprüfung beseitigt und ein Leistungsanspruch für alle Bürger geschaffen. Es wurde nicht, wie im ersten Falle, ein Versicherungssystem neben der Fürsorge errichtet, sondern die Fürsorge zu einem System staatlicher Transferleistung weiterentwickelt.
V. Konzeptionen und Begriffe 43. Die Sicherungsinstitutionen sind zu verschiedenen Zeitpunkten entstanden; sie unterscheiden sich nach der in ihnen angewandten Methode, nach Ieistungsauslösendem Tatbestand, Leistungszweck, Leistungsberechtigung, Art der Sozialleistungsträger und zusätzlich nach ihrer Bezeichnung. Diese Vielfalt die sich bei internationalen Vergleichen potenziert - hat zur Entwicklung von Konzeptionen,
d.h.
zu
Institutionen
übergreifenden,
leitbildhaften
Vorstellungen und zur Bildung von Begriffen geführt, die teils die Deskription erleichtern, teils aber auch normative Vorstellungen vermitteln sollen. Die vorliegende Darstellung geht nicht von solchen Konzeptionen und Begriffen aus, sondern von den Gegebenheiten des Vorgangs der sozialen Sicherung. "Es ist die Ursünde jeder Erfahrungswissenschaft, nicht von den Tatbeständen und nicht von den faktischen Problemen auszugehen. Häufig verdrängt das Wort die Tatsache, die Analyse von Begriffen die Analyse von Sachverhalten."4
18
Kapitel l: Das System der sozialen Sicherung
Gleichwohl werden einige dieser Begriffe vorgestellt, weil sie in der Literatur benutzt werden. 44. Eine erste Begriffstrias ist die Unterscheidung zwischen Fürsorge, Versorgung
und
Versicherung.
Diese Begriffe werden
wie folgt
beschrieben: Fürsorge:
Leistungsgrund ist allein die Hilfsbedürftigkeit ohne Rücksicht auf
deren Ursache; die Leistungsauslösung erfolgt aufgrund einer Bedarfsprüfung; die Leistungshöhe richtet sich nach einem fixierten Mindestbedarf und den Besonderheiten des Einzelfalles; die Finanzierung erfolgt aus Steuermitteln. Versorgung:
Leistungsgrund ist ein auf bestimmter Ursache beruhender
Schaden; die Leistungsauslösung erfolgt durch Schadensfeststellung; die Leistungshöhe richtet sich nach der Schwere des Schadens; die Finanzierung erfolgt aus Steuermitteln. Versicherung:
Sie
ist der Zusammenschluß von Personen zu Gefah-
rengemeinschaften, innerhalb derer ein Risikoausgleich stattfindet, der durch Zahlung von Beiträgen (Prämien) finanziert wird. Die Beiträge sind so zu bemessen, daß ihre Summe die Summe des auftretenden Schadens deckt (allgemeines Äquivalenzprinzip). Leistungsgrund ist die Beitragsleistung des Versicherten. Die Leistungshöhe entspricht der Höhe des vorher gezahlten Beitrages (individuelles Äquivalenzprinzip). 45. Unbeschadet ihrer Langlebigkeit ist die genannte Begriffstrias nicht erkenntnisfordernd, denn es ist nicht möglich, viele der vorhandenen Sicherungsinstitutionen einem dieser drei Begriffe zuzuordnen. Die Krankenversicherung" erfüllt zwar einige Kriterien der Versicherung (Beiträge, Risikoausgleich), nicht aber das individuelle Äquivalenzprinzip, weil die Leistungen (Deckung des medizinischen Behandlungsbedarfs) in keiner Beziehung
zum
Beitrag
stehen;
die
Beamten"versorgung"
leistet
Einkommensersatz, nicht Entschädigung; bei Kindererziehung erfolgt keine Bedarfsprüfung und liegt kein Schaden vor, welchem Begriff sollte man das Kindergeld
zuordnen?
Die
gleiche
Frage
stellt
sich
für
die
Ausbildungsförderung, das Erziehungsgeld und die Unterhaltssicherung.
Kapitel 1: Das System der sozialen Sicherung
19
Angesichts dieser nur willkürlich zu entscheidenden Fragen ist die Begriffstrias weder für beschreibende noch für erklärende Zwecke geeignet. 46. Eine neuere Dreiteilung unterscheidet zwischen Vorsorge,
soziale
5
Entschädigung sowie soziale Hilfe und Förderung. Der Ausdruck soziale Entschädigung ist in die Umgangs- und Gesetzessprache eingegangen. Als Vorsorge werden alle Institutionen bezeichnet, in denen mittels Beitragszahlung für
bestimmte
Tatbestände
vorgesorgt
wird;
hierzu
wird
auch
die
Beamtenversorgung gezählt, wobei an die Stelle der Beitragszahlung eine Leistungszusage tritt. Soziale Hilfe und Förderung umfaßt alle übrigen Institutionen, darunter so verschiedene wie die Sozialhilfe und das Kindergeld, das Wohngeld und die Ausbildungsförderung. 47. Ein anderes Begriffspaar ist die Unterscheidung zwischen Kausaiprinzip und Finalprinzip. Ist allein ein situationaler Tatbestand (z.B. Invalidität) bedingend für die Leistungsberechtigung, so spricht man vom Finalprinzip. Ist außerdem
die
Ursache
leistungsbedingend,
(causa) des
Tatbestandes
(z.B.
so spricht man vom Kausalprinzip.
Arbeitsunfall) Während
das
Finalprinzip bei gleichem Tatbestand gleichartige Leistungen verlangt, erlaubt das Kausalprinzip bei gleichem Tatbestand Unterscheidungen in Art und Höhe der Leistungen je nach der Ursache des Tatbestandes. So löst z.B. in Deutschland der Tatbestand der Invalidität unterschiedliche Leistungen aus, je nachdem, ob er auf normalen Verschleißerscheinungen (Rentenversicherung), auf einem Arbeitsunfall (Unfallversicherung) entschädigungspflichtigen Entschädigungsleistungen Kausalprinzips
Tatbestand sind
verbunden,
beruht
oder
auf
(soziale
typischerweise mit der
während
Leistungen
der
einem
anderen
Entschädigung). Anwendung
des
Bedarfsdeckung
typischerweise nach dem Finalprinzip gestaltet sind. 48. Damit lassen sich die Unfallversicherung und die soziale Entschädigung dem Kausalprinzip zuordnen. Dem Finalprinzip unterliegen die Sozialhilfe, das Wohngeld, das Kindergeld und die Ausbildungsförderung. Die Zuordnung der Krankenversicherung, der Rentenversicherung, der Pflegeversicherung, der -Arbeitsförderung und der Beamtenversorgung bleibt unklar. Zwar wird nicht nach der Ursache des leistungsauslösenden Tatbestandes gefragt, doch sind
20
Kapitel l : Das System der sozialen Sicherung
Zusatzbedingungen
zu
erfüllen
(vorheriges
Versicherungs-
oder
Beamtenverhältnis) und die Leistungshöhe ist nach dem vorherigen Einkommen differenziert Beide Tatsachen können nicht dem Finalprinzip zugeordnet werden. Kann man sie also zum Kausalprinzip gehörig betrachten? Für die große Mehrzahl der Sozialleistungen bleibt die Zuordnung zu einem der Prinzipien unklar. 49. Diezwischen 1883 und 1889 geschaffenen Sicherungsinstitutionen wurden als
Versicherung
bezeichnet
(Krankenversicherung,
Unfallversicherung,
Invaliditäts- und Altersversicherung). Zunächst wurden sie zusammenfassend als " Arbeiterversicherung" bezeichnet. Diese war jedoch von Anfang an durch Besonderheiten
gekennzeichnet,
"Sozialversicherung"
die
eintrugen.
6
ihr Die
später
die
Bezeichnung
Besonderheiten
waren:
Das
Versicherungsverhältnis wurde kraft Gesetzes begründet, die Beitragshöhe wurde
nur
nach
dem
allgemeinen,
nicht
nach
dem
individuellen
Äquivalenzprinzip festgesetzt; Alter und Familienstand blieben unberücksichtigt. Ob die Sozialversicherung wegen solcher Besonderheiten der Versicherung zuzuordnen oder als eigene Rechtsform sozialer Sicherung anzusehen sei, war lange Zeit kontrovers. Diese Fragestellung verlor später an Bedeutung, weil die Entwicklung neue Tatsachen schuf, zialversicherung
stärker
Umverteilungsvorgänge,
hervortreten die
die die Eigenständigkeit ließen.
Hierzu
der
So-
gehörten
die
unmittelbare Schadensverhütung
durch
Sozialversicherungsträger und ihr andersartiges Finanzierungsverfahren.
die
7
50. Der Begriff Sozialversicherung (social insurance) stand im Mittelpunkt des ersten geschlossenen Gesamtkonzepts der sozialen Sicherung für ein Land. Der 1942 in Großbritannien vorgelegte Beveridge-Plan 8 ging deduktiv von 3 Annahmen
aus,
nämlich
Familienzulagen und
der
Existenz
von
Vollbeschäftigung,
eines nationalen Gesundheitsdienstes.
Er sah
von zur
Zielerreichung drei Methoden von Die Sozialhilfe (national assistance) für spezielle Bedarfsfälle, die freiwillige Versicherung (voluntary insurance) für Ergänzungsleistungen und die Sozialversicherung sollte in allen Normalfällen ein Mindesteinkommen sicherstellen. Sie sollte nach Risiken und Personenkreis umfassend sein (principle of comprehensiveness) und es sollte eine einheitliche
Kapitel 1: Das System der sozialen Sicherung
21
Verwaltungszuständigkeit bestehen (principle of unification). Das Konzept des Beveridge-Plans ist nur in begrenztem Umfange verwirklicht worden. 51. Im internationalen Vergleich ist es besonders schwierig, die Systeme der sozialen Sicherung mit zusammenfassenden Begriffen zu beschreiben.^ In den
meisten
Systemen
sind
Versicherungs-,
Versorgungs-
und
Fürsorgeelemente, Äquivalenz-, Bedarfs- und Entschädigungsgesichtspunkte vielfach miteinander vermischt. 52. Deshalb wird zweckmäßig allein der Begriff soziale Sicherung gebraucht. Er leitet sich her von "social security", ein Begriff, der gesetzlich zum ersten Mal im "Social Security Act" von 1935 der USA vorkam. Dieses Gesetz regelte eine beitragsfinanzierte Versicherung, aber auch aus Steuern finanzierte andere Sicherungsmaßnahmen; insofern war der Begriff eine Sammelbezeichnung für verschiedene Maßnahmen. Weder der Begriff social security noch seine beiden deutschen Übersetzungen - Soziale Sicherung und Soziale Sicherheit - sind klar definiert. Das Wort "sozial" hat einen doppelten Sinngehalt: In Verbindungen wie z.B. "soziales Gefüge", "soziale Stellung" beschreibt das Wort einen Zustand und könnte durch "gesellschaftlich" ersetzt werden. Spricht man von sozialer Einstellung oder sozialen Maßnahmen, so verbindet sich damit die Vorstellung eines zielgerichteten Wollens; das Wort könnte durch "hilfreich" oder "gemeinnützig" ersetzt werden. 53. Das Wort soziale "Sicherheit" drückt das Streben nach einem Zustand aus, der jedoch inhaltlich offen ist. Auf den Begriff und den Zustand soziale "Sicherheit" wird hier nicht eingegangen. Die Maßnahmen zur Herbeiführung des Zustandes der Sicherheit werden als soziale
Sicherung bezeichnet.
Wegen der Offenheit des Attributs "sozial" muß ein Konsens Uber geeignete Abgrenzungskriterien herbeigeführt werden. Der Vorschlag für einen solchen Konsens ist oben (TZ 20) begründet worden.
22
Kapitel 1: Das System der sozialen Sicherung
VI. Systemvergleich 54. Die Gesamtheit der Sicherungsinstitutionen eines Staates wird als System der
sozialen
Sicherung bezeichnet. Mit Blick auf die horizontale
organisatorische Gliederung stellt man Begriffe wie "Bnheitsversicherung" und "gegliedertes System" gegenüber. Die vertikale Gliederung wird angesprochen mit
den
Begriffen einschichtiges
und
mehrschichtiges
System.
En
einschichtiges System ist darauf angelegt, den jeweiligen Tatbestand voll abzudecken, wie z.B. die deutsche Rentenversicherung für die Alterssicherung. Bestehen mehrere Institutionen, von denen eine die Grundversorgung, die andere eine Zusatzversorgung gewährleistet, spricht man von einem mehrschichtigen System. In der Schweiz z.B. erbringt eine Versicherungsinstitution (AHV) eine Mindestsicherung; zusätzlich haben die Arbeitgeber obligatorisch Betriebsrenten zu erbringen. 55. Zeitliche oder internationale Vergleiche von Systemen der sozialen Sicherung, die sich auf eine Beschreibung der Institutionen beschränken, sind wenig ergiebig; sie erfordern Wiederholungen und erschweren den Zugang zu politik-relevanten Problemen. Schutz vor Redundanz und erleichterten Zugang zur Problemerkenntnis bietet das Ausgehen von Tatbeständen und Funktionen sowie die Beschreibung der sie betreffenden Rechtsnormen. Es ergibt sich dann ein Verständnis des Systems der sozialen Sicherung als System von funktionalen Rechtsnormen. Zweckmäßig gliedert man - wie im folgenden geschehen
-
nach
Tatbestandsnormen,
Berechtigungsnormen,
messungsnormen, Erbringungsnormen (für Dienst- und
Be-
Sachleistungen),
Finanzierungsnormen und Organisationsnormen. 56. Die Darstellung eines Systems der sozialen Sicherung erfordert die Anwendung bestimmter Merkmale. Solche Darstellungsmerkmale sind auch zweckmäßig für einen Vergleich verschiedener Systeme und können daher auch als Vergleichsmerkmale dienen. Darstellung und Vergleich können sein: - Situational:
Welche Tatbestände lösen Sozialleistungen aus und wie sind diese definiert? (Kap.2)
Kapitel 1: Das System der sozialen Sicherung
- Determinal:
23
Welcher Zweckbestimmung dienen Sozialleistungen? (Kap. 2)
- Personal: - Graduell:
Wie ist die Leistungsberechtigung bedingt? (Kap.3) Welcher Grad des Einkommensersatzes, der Entschädigung und der Bedarfsdeckung wird erreicht? (Kap. 4)
- Instrumental:
Wie werden Gesundheitsleistungen sichergestellt? (Kap.5)
- Finanziell:
Wie hoch ist der Finanzierungsbedarf und wie wird dieser gedeckt? (Kap. 6)
- Institutional:
Welche Institutionen sind leistungspflichtig? (Kap.7)
57. Um auch die quantitative Bedeutung eines Systems der sozialen Sicherung beurteilen zu können, muß die Beschreibung funktionaler Rechtsnormen ergänzt werden durch Erfolgsindikatoren. Ein erster solcher Indikator ist die Sozialleistungsquote. Sie bedarf der Ergänzung durch Antworten auf Fragen, wie: Welche Tatbestände sind leistungsauslösend? Wieviele Personen sind leistungsberechtigt? Wie hoch sind die Sozialleistungen? In welcher Qualität werden Dienst- und Sachleistungen erbracht? 58. Das System der sozialen Sicherung ist schrittweise ausgebaut worden. Die Grundtendenz dieses Prozesses war eine Expansion in personaler und monetärer Hinsicht. Als in Deutschland die ersten Sozialversicherungsgesetze in Kraft traten, waren in der Krankenversicherung (1883) kaum 10 v.H., in der Rentenversicherung (1891) etwa 23 v.H. der Bevölkerung erfaßt. Gegenwärtig umfassen diese Institutionen mehr als 90 v.H. der Bevölkerung. Die monetäre Expansion ist dadurch gekennzeichnet, daß die Sozialleistungsquote von kaum 2 v.H. im Jahre 1885 auf über 30 v.H. anstieg. Die Expansion der sozialen Sicherung folgte zwar einem kontinuierlichen Grundzug. Dieser war jedoch Uberlagert durch diskontinuierliche Expansionsschübe.
Es
waren
dies
Rechtsetzungsakte mit erheblichen personalen und/oder monetären Folgen, wie z.B. die Einführung der Arbeitslosenversicherung 1927 oder die Rentenreform
24
Kapitel 1: Das System der sozialen Sicherung
1957. Die Expansion war unterbrochen oder gebremst durch gesetzgeberische Entscheidungen, die eine Reduktion des berechtigen Personenkreises, der Anspruchsvoraussetzungen oder der Leistungshöhe zur Folge hatten. Solche Reduktionsphasen waren insbesondere die Jahre 1930 - 33 und 1982 - 1989. 59. Soziale Sicherung expandiert auch international. Ausgehend von der gesetzlichen Rentenversicherung in Deutschland im Jahre 1891 hat sich eine die Alterssicherung betreffende Gesetzgebung schrittweise auf viele Staaten der Erde ausgeweitet
Bis zum ersten Weltkrieg entstand eine gesetzliche
Alterssicherung in 12 europäischen Ländern, vor allem in Mittel-, Nord- und Westeuropa. In der Zeit zwischen den großen Kriegen folgten die Länder Lateinamerikas. Bis 1940 hatten 33 Länder eine gesetzliche Alterssicherung. In der Zeit danach wurde eine Alterssicherung in 58 weiteren Ländern eingeführt. In Europa wurden die letzten Lücken geschlossen, in Lateinamerika folgten alle größeren Länder. Gesetzliche Regelungen entstanden in größerer Zahl auch in Asien und Afrika. Diese Entwicklung setzte sich nach dem zweiten Weltkrieg stürmisch fort und erstreckte sich auch auf andere Sicherungszweige. Gegenwärtig gibt es kaum einen Staat, in dem nicht ein - wenn auch bescheidenes - System der sozialen Sicherung besteht.
Internationales Arbeitsamt (Hsg.): The cost of social security 1978-80,1985,1 H.F.Zacher: Zur Anatomie des Sozialrechts, Schweizerische Zeitschrift für Sozialversicherung... 1983,228 §§ 18-29 SGBI W. Eucken: Die Grundlagen der Nationalökonomie; 5. Aufl. 1947, 379 H.F.Zacher, zuerst 1970 Der Begriff Sozialversicherung ist in der Literatur seit 1906 nachweisbar und ging 1921 in das Sachverzeichnis des Reichsgesetzblattes ein (nach W. Bogs) Ob außer den genannten Sicherungsinstitutionen auch die Arbeitslosenversicherung zur Sozialversicherung gehört, wird unterschiedlich beurteilt Beveridge1942
Kapitel 2: Leistungsauslösende Tatbestände 60.
Soziale Sicherung ist direkte (Geldleistung) oder indirekte (Sach- und
Dienstleistung) Einkommenszuteilung an Berechtigte und Einkommensableitung von Verpflichteten. Da es sich bei den Verpflichteten, die die Sozialleistungen zu finanzieren haben, ganz überwiegend um Erwerbstätige handelt, muß die Politik der sozialen Sicherung dem Menschen grundsätzlich Arbeit zumuten. Sie geht vom Grundsatz des Arbeitsprimats aus. Arbeit wird verstanden als eine unter Anstrengung und Verzicht auf Freizeit ausgeführte Tätigkeit, die unter Anwendung erlaubter Mittel auf die Erzielung von Einkommen gerichtet ist. Eine der Hauptaufgaben der Politik der sozialen Sicherung besteht darin, die Bedingungen zu normieren, unter denen Arbeit nicht zugemutet wird. Das geschieht durch Normierung der leistungsauslösenden Tatbestände. 61.
Mit den leistungsauslösenden Tatbeständen werden die Voraussetzungen
normiert,
unter
denen
Voraussetzungen Voraussetzung
Sozialleistungen
ist zu
(z.B.
unterscheiden
arbeitslos,
krank,
zustehen.
Nach
Art
der
zwischen
einer
situationalen
invalide),
und
limitierenden
Zusatzvoraussetzungen. Die Zusatzvoraussetzungen können ihrer Art nach sein: formal, kausal oder verweisend. Formale Voraussetzungen beziehen sich z.B. auf das Versicherungsverhältnis, die Versicherungsdauer, den Beamtenstatus oder die Staatsangehörigkeit. Kausale Voraussetzungen beziehen sich auf das schädigende Ereignis (z.B. Arbeitsunfall). Verweisende
Voraussetzungen
beziehen sich auf die Erwerbstätigkeit und zwar auf eine tatsächlich ausgeführte (z.B. besondere Altersgrenze für Frauen) oder deren Zumutbarkeit (z.B. Berufsunfähigkeit; sie beziehen sich ferner auf das Einkommen entweder des Berechtigten (z.B. Wohngeld) oder der ihm Unterhaltspflichtigen (z.B. Hilfe zum Lebensunterhalt). Übersicht III (Anhang) enthält eine Zusammenstellung der Sozialleistungen. Diese sind den leistungsauslösenden Tatbeständen und den leistungspflichtigen Institutionen zugeordnet; außerdem sind die wichtigsten Zusatzvoraussetzungen angegeben. 62.
Entscheidungen
Uber
die
Normierung
der
leistungsauslösenden
Tatbestände haben Auswirkungen auf die wirtschaftliche und psychologische Situation der Leistungsberechtigten sowie auf die Höhe des erforderlichen
26
Kapitel 2: Leistungsauslösende Tatbestände
Finanzaufwandes. Da die leistungsauslösenden Tatbestände den Charakter des Besonderen, der Ausnahme haben, setzt die Entscheidung ein Vorverständnis über den Normalzustand voraus. Dieses Vorverständnis über Normalzustände, von
denen
leistungsauslösende
Tatbestände
abzugrenzen
sind,
setzt
Wertentscheidungen voraus und verändert sich in Zeit und Raum. Die Politik der sozialen Sicherung steht insbesondere vor der Entscheidung Uber die Zumutbarkeit von Arbeit, darüber hinaus auch über die Bewertung von Zeiten nicht entlohnter Arbeit, wie z.B. der Lernarbeit von Auszubildenden oder der Erziehungsarbeit von Eltern.
I.
Unzureichendes Einkommen
63.
Wegen unzureichenden Einkommens besteht Anspruch auf Hilfe
zum Lebensunterhalt, Hilfe in besonderen Lebenslagen und Wohngeld. Die auslösenden Unter-Tatbestände sind ein nicht gedeckter Mindestbedarf, ein Mehrbedarf
sowie eine unzumutbare Mietbelastung.
Leistungspflichtige
Institutionen sind die Sozialhilfe und die Wohngeldsicherung. Von nicht gedecktem
Mindestbedarf
Mietbelastung
erhöhen
zum
Mehrbedarf
sich
die
und
einer
unzumutbaren
Einkommensgrenzen
für
die
Leistungsberechtigung stufenweise.
a)
Nicht gedeckter Mindestbedarf
64.
Nach dem Bundessozialhilfegesetz ist es Aufgabe der Sozialhilfe, dem
Empfänger der Hilfe die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht. Sie erfüllt diese Aufgabe durch Hilfe Lebensunterhalt.
Der notwendige Lebensunterhalt
umfaßt
zum
besonders
Ernährung, Unterkunft, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Heizung und persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens. Er wird auf der Grundlage eines Warenkorbes in einem absoluten Geldbetrag festgelegt.
Kapitel 2: Leistungsauslösende
65.
Die Hilfe zum Lebensunterhalt unterliegt dem
Nachranges.
Anspruch
hat nur deijenige, der
Tatbestände
Grundsatz
seinen
27
des
notwendigen
Lebensunterhalt nicht aus eigenen Kräften und Mitteln beschaffen kann; der Anspruch ist ausgeschlossen, wenn Möglichkeiten der Selbsthilfe oder Leistungsverpflichtungen Dritter vorliegen. 66.
Die Hilfe wird demjenigen nicht gewährt, der seinen notwendigen
Lebensunterhalt aus seinem Einkommen und Vermögen beschaffen kann. Es gilt der Grundsatz der Selbsthilfe. Soweit ein Vermögen nicht sofort verwertbar ist, soll die Hilfe als Darlehen gewährt werden. Ferner besteht kein Anspruch für denjenigen, der sich weigert, eine zumutbare Arbeit zu leisten. Unzumutbar ist eine Arbeit, wenn der Hilfesuchende körperlich oder geistig dazu nicht in der Lage ist, ihm die künftige Ausübung seiner bisherigen überwiegenden Tätigkeit wesentlich erschwert würde, oder der Arbeit ein wichtiger Grund entgegensteht; hierzu gehört vor allem die Gefährdung der geordneten Erziehung eines Kindes. 67.
Haben Ehegatten oder Eltern von mindeijährigen, unverheirateten
Kindern, die deren Haushalt angehören, Einkommen oder Vermögen, so schließt dies den Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt wegen der bestehenden Unterhaltspflicht aus. Der Anspruch ist nicht ausgeschlossen, wenn andere Unterhaltsverpflichtete Hilfsmöglichkeiten haben; doch kann der Träger
der
Sozialhilfe
Ansprüche
des
Hilfeempfängers
gegen
1
Unterhaltsverpflichtete auf sich überleiten. Verwandten in gerader Linie ist die Aufbringung der Mittel in angemessenem Umfange zuzumuten; dabei sind die Art des Bedarfs, Dauer und Höhe der Aufwendungen sowie besondere Belastungen der Angehörigen zu berücksichtigen. Für Verwandte zweiten Grades entfällt die Heranziehung. 68.
Art, Form und Maß der Sozialhilfe richten sich "nach der Besonderheit
des Einzelfalles, vor allem nach der Person des Hilfeempfängers, der Art seines Bedarfs und den örtlichen Verhältnissen."2 Der in dieser Norm ausgedrückte Grundsatz der Individualisierung soll der Sozialhilfe Vielseitigkeit und Anpassungsfähigkeit verleihen. Das Korrelat des Individualisierungssatzes ist die Bedarfsprüfung. Zu prüfen sind die persönlichen Lebens-, Einkommens-
28
Kapitel 2: Leistungsauslösende
Tatbestände
und Vermögensverhältnisse nicht nur des Hilfesuchenden, sondern auch unterhaltsverpflichteter Dritter.
b)
Mehrbedarf
69.
Treten zum Tatbestand unzureichenden Einkommens andere Tatbestände
hinzu, so sind die Anforderungen an Selbsthilfe und Leistungsverpflichtung Dritter gemildert. Dies trifft für die von der Sozialhilfe zu gewährenden Hilfen in besonderen Lebenslagen zu, die von einem Mehrbedarf (über die Hilfe zum Lebensunterhalt hinausgehend) ausgehen. Es handelt sich dabei um einen Katalog von insgesamt 12 Hilfearten3 die im wesentlichen Gesundheits- und Pflegeleistungen sind. Diese beiden Leistungen erfordern etwa zwei Drittel der Gesamtausgaben der Sozialhilfe. Für die Hilfe in besonderen Lebenslagen wird der Einsatz von Arbeitskraft nicht verlangt. Als unterhaltspflichtig werden nur noch herangezogen der nicht getrennt lebende Ehegatte sowie Eltern von minderjährigen und unverheirateten Kindern. Für den Einsatz des Einkommens bestehen besondere, gegenüber der Hilfe zum Lebensunterhalt erhöhte Grenzen.
c)
Unzumutbare Mietbelastung
70.
Von den zahlreichen Transfers im Wohnungsbereich ist aufgrund der
oben genannten Abgrenzungskriterien (TZ 20) nur das Wohngeld als Sozialleistung anzusehen. Das Wohngeld dient der wirtschaftlichen Sicherung angemessenen und familiengerechten Wohnraums;4 es soll die Belastung des Haushalts durch Aufwendungen für die Wohnung in zumutbaren Grenzen halten. Die Zumutbarkeitsgrenze bestimmt sich in Abhängigkeit von der Zahl der Familienmitglieder durch Höchstgrenzen des Familieneinkommens und der Miete. Das Wohngeld wird in Form von Miet- und Lastenzuschuß gezahlt 71.
Voraussetzung für das Wohngeld ist neben einem nicht ausreichenden
Einkommen eine angemessene Mietaufwendung. Wohngeld steht nicht zu, wenn das Familieneinkommen eine Höchstgrenze übersteigt, die nach der Zahl
Kapitel 2: Leistungsauslösende
Tatbestände
29
der Familienmitglieder gestaffelt ist. Bleibt das Familieneinkommen unterhalb dieser Grenze, so wird das Wohngeld gezahlt für Mietbeträge innerhalb bestimmter Höchstgrenzen, die nach Familiengröße, Gemeindegröße sowie nach Alter und Ausstattung des Wohnraums gestaffelt sind. Es werden also nicht Mieten in jeder Höhe berücksichtigt. Wohngeld wird gezahlt innerhalb eines Korridors, dessen Untergrenze die Hilfe zum Lebensunterhalt der Sozialhilfe und dessen Obergrenze das höchstzulässige Familieneinkommen ist. Weitere
Voraussetzungen
hinsichtlich
Selbsthilfe
und
Heranziehung
Unterhaltspflichtiger bestehen nicht.
d)
Häufigkeit und Ursachen der Armut
72.
Der Tatbestand unzureichenden Einkommens wird oft als Armut
bezeichnet und diskutiert. Absolute Armut liegt vor, wenn das physische Existenzminimum nicht gesichert ist. Diese absolute Armut war lange Zeit allein Gegenstand der öffentlichen Fürsorge ("unentbehrlicher Lebensbedarf); sie ist heute in wenig industrialisierten Ländern eine zahlreiche Erscheinung. In industrialisierten Ländern ist die Sicherstellung nicht nur des physischen, sondern auch des sozio-kulturellen Existenzminimums als Ziel anerkannt. Außer der Ernährung sollen auch angemessene Wohnung, Kleidung, Körperpflege und soziale Kontakte sichergestellt werden. Die Angemessenheit dieser Bedürfnisse läßt sich nur im Vergleich zu normalen Situationen beurteilen; Mängel der Bedarfsdeckung erscheinen als relative Armut. Für die Definition einer Armutsgrenze gibt es zwei Methoden: Die Kostenrechnung und den Vergleich mit Normaleinkommen. 73.
Nach der ersten Methode werden die Regelsätze der Sozialhilfe
festgelegt. Man definiert, quantifiziert und bewertet die zur Aufrechterhaltung des notwendigen Lebensunterhalts erforderlichen Güter und Dienstleistungen. Daraus ergibt sich der Regelsatz als ein Geldbetrag je Person und Zeiteinheit. Viele Untersuchungen zur Armutsfrage knüpfen an die Methode der Kostenrechnung an und legen dabei entweder den Regelsatz oder eine eigene Armutsgrenze zugrunde.
30
74.
Kapitel 2: Leistungsauslösende Tatbestände
In anderen Untersuchungen wird die Armutsgrenze im Vergleich zu
Normaleinkommen festgesetzt Eine Person gilt als arm, wenn ihr Einkommen einen bestimmten Prozentsatz des durchschnittlichen Pro-KopfEinkommens der Bevölkerung eines Landes nicht übersteigt. Je nachdem, wie man die relative Armutsgrenze definiert, ergeben sich erhebliche Unterschiede im Armutsniveau. 75.
Von der objektiven, nach definierten Merkmalen erfaßten Armut, ist die
subjektive Armut zu unterscheiden. Sie liegt vor, wenn sich Menschen arm fühlen, obwohl sie die Kriterien nicht erfüllen; umgekehrt gibt es Menschen, die sich trotz Erfüllung der Kriterien nicht arm fühlen, jedenfalls ihre Armut nicht bekunden . Ursächlich für diese latente Armut sind mangelnde Information oder eine Scheu, vor Behörden und dem sozialen Umfeld seine Armut zu bekunden. Dies trifft besonders für alte Menschen zu, die in einer "dichten" sozialen Umwelt leben. Eine bundesweite Untersuchung zeigte, daß von 100 sozialhilfeberechtigten Haushalten nur 52 tatsächlich Sozialhilfe beziehen; dieser Anteil lag in den Stadtstaaten deutlich höher als in den Flächenstaaten.5 Mit dieser Einschränkung sind
Angaben Uber die Sozialhilfehäufigkeit zu
interpretieren. 76.
Die Sozialhilfehäufigkeit (Anteil der Empfänger von Sozialhilfe in
der Bevölkerung) hat sich während eines Jahrhunderts nicht verringert. Sie betrug im Jahr 1981 ebenso wie im Jahr 1885 3,5 v.H. 6 Ursächlich dafür sind mehrere Faktoren: 1.
Der Abbau institutioneller und subjektiver Hemmschwellen für die Inanspruchnahme von Leistungen.
2.
Die Erleichterung der Leistungsvoraussetzungen hinsichtlich Selbsthilfe, Nachrang und Anerkennung von Mehrbedarf; dies geschah insbesondere durch Gesetzgebung in den Jahren 1924, 1961 und 1974.
3. 77.
Die Erhöhung des Regelsatzes im Verhältnis zum Durchschnittslohn. Ehe Sozialhilfehäufigkeit korreliert mit der Arbeitslosigkeit. Sie
stieg in der Zeit der Weltwirtschaftskrise 1929-33 bis auf 15 v.H. an.
Kapitel 2: Leistungsauslösende Tatbestände
31
Ursächlich war der enorme Anstieg der Zahl der Arbeitslosen und eine drastische Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes. In der Periode der Vollbeschäftigung 1955 - 1960 sank die Sozialhilfehäufigkeit auf 2,0 v.H. Mit
zunehmender
Arbeitslosigkeit
und
vor
allem
zunehmender
Langzeitarbeitlosigkeitistdie Sozialhilfehäufigkeit seit 1982 wieder Uber 5 v.H. angestiegen. 78.
Die Sozialhilfehäufigkeit reflektiert auch
in
anderer
Beziehung
Sicherungsdefizite im Gesamtsystem der sozialen Sicherung. Dies zeigt sich bei einer Betrachtung der Hilfearten und der sozialen Merkmale der Hilfeempfänger: - Herausragende Hilfeart ist die Hilfe zur Pflege; - der Anteil alter Menschen an den Sozailhilfeempfängern ist überdurchschnittlich; - weit mehr Frauen als Männer beziehen Sozialhilfe; - von den Empfängern laufender Hilfe zum Lebensunterhalt sind fast ein Drittel alleinerziehende Eltern (ganz Uberwiegend Frauen) mit Kindern. 79.
Der Anteil der Wohngeld beziehenden Haushalte an der Gesamtzahl der
Haushalte schwankt in Abhängigkeit von der Zahl der Arbeitslosen und dem Anpassungszyklus der Einkommenshöchstbeträge zwischen 7 und 10 v.H.. Etwa ein Drittel der Wohngeldempfänger sind Rentenbezieher.
II.
Krankheit
80.
Im Falle der Krankheit besteht Anspruch auf Geldleistungen zum
Einkommensersatz (Krankengeld) sowie auf Dienst- und Sachleistungen zur Beseitigung oder Linderung des Zustandes Krankheit. Leistungspflichtige Institution
ist
die
Krankenversicherung.
Früherkennungsuntersuchungen
und
Mit
"sonstigen
Ausnahme
von
Hilfen"
ist
leistungsauslösender Tatbestand das Vorliegen des Zustandes Krankheit Dieser Zustand löst in jedem Falle Behandlungsbedarf, in vielen Fällen auch Arbeitsunfähigkeit und zusätzliche Belastungen aus.
32
Kapitel 2: Leistungsauslösende
Tatbestände
a)
Der Zustand Krankheit
81.
Krankheit wird von Menschen als ein vom normalen abweichenden
Zustand empfunden, der sich als Schmerz oder Funktionsbeeinträchtigung äußert. Das Krankheitsempfinden löst den Wunsch aus, den Schmerz oder die Funktionsbeeinträchtigung durch sachkundige Behandlung zu beseitigen. Die
Intensität
des
Krankheitsempfindens
schwankt
insbesondere
im
psychosomatischen Bereich innerhalb weiter Grenzen; sie wird bei der gleichen Person von wechselnden Situationen, bei verschiedenen Personen von deren Eigenschaften und Verhaltensweisen beeinflußt. Ebenso wie Krankheit ist der Zustand Gesundheit im Befinden des Menschen begründet. Gesundheit ist in der
Verfassung der
Weltgesundheitsorganisation
definiert als
"Zustand
vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens, und nicht allein das Fehlen von Krankheiten und Gebrechen". Diese Umschreibung definiert eine utopische Zielvorstellung; sie überläßt die Entscheidung über Krankheit oder Gesundheit dem Wohlbefinden des Individuums. Angesichts dessen fragt man sich, wie der Zustand Krankheit objektiviert werden kann und insbesondere wie und durch wen Uber den Behandlungsbedarf entschieden werden soll. 82.
Die Erstentscheidung liegt bei der von Krankheit betroffenen Person.
Ein Krankheitsempfinden veranlaßt diese zur Kontaktauf nähme mit einer heilkundigen Person. Die Rechtsnormen der sozialen Sicherung Ubertragen die weitere Entscheidung einem Arzt. Anspruch auf Hilfeleistung anderer Personen besteht nur, wenn sie von einem Arzt angeordnet und von ihm zu verantworten ist. Es wird also dem Arzt übertragen, mittels einer Diagnose den vom Patienten empfundenen Zustand nach den Erkenntnissen der Medizin zu objektivieren. 83.
Medizinische Definitionen der Krankheit beziehen sich auf Begriffe
wie Befinden, Normalität und Funktion. Das Befinden ist ein subjektives Gefühl; eine Normalität ist schwierig zu definieren. Funktion kann auf Leistung bezogen werden,
doch
ist ein Leistungsvergleich zwischen
Individuen
schwierig. In Bezug auf eine Person ändert sich die Leistung und das Gefühl für Leistungsvermögen im Zeitablauf; Motivation und Leistungsbereitschaft
Kapitel 2: Leistungsauslösende Tatbestände
33
haben Einfluß und sind ihrerseits abhängig von sozialen Zuständen. "Es ist die soziale Leistungsfähigkeit, welche Gesundheit oder Krankheit bestimmt". Solche Einsichten könnten dazu führen, "daß an die Seite der bisher üblichen medizinischen Untersuchung eines zu begutachtenden Versicherten eine systematische und differenzierte Analyse der sozialen Rollen treten könnte, in denen er auftritt oder auftreten könnte".7 84.
Die
Unbestimmtheit
des
Krankheitsbegriffs
läßt
auch
der
Verhaltensweise des Arztes gegenüber dem Zustand des Patienten weiten Spielraum. Diese Verhaltensweise ist abhängig von persönlichen Eigenschaften, der äußeren Situation sowie sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Arzt und Patient oder dem Kostenträger der Leistung. Innerhalb gewisser Grenzen hängt die Unterscheidung zwischen
Krankheit
und
Gesundheit von Verhaltensweisen des Patienten und des Arztes ab. Der Zustand Krankheit ist malleabel.8 Aus der Malleabilität der Krankheit ergeben sich Konsequenzen für die Art der Sicherstellung medizinischer Dienst- und Sachleistungen und die Steuerung der Gesundheitsausgaben. 85.
Das Gesetz enthält keine Definition des Krankheitsbegriffs. Die
Rechtsprechung hat Krankheit definiert als ein "regelwidriger Körper- und Geisteszustand, der in der Notwendigkeit einer Krankenpflege ... oder in Arbeitsunfähigkeit wahrnehmbar zu Tage tritt".9 Nach der juristischen Definition werden also Sozialleistungen (abgesehen von einer die Krankheit verneinenden Erstuntersuchung) ausgelöst durch die Regelwidrigkeit eines Zustandes und die Notwendigkeit einer Krankenbehandlung (medizinischer Behandlungsbedarf). Beide Begriffe sind ihrerseits unbestimmt. 86.
Die Regelwidrigkeit wird von der Rechtssprechung am Leitbild des
gesunden Menschen gemessen. Da die Rechtsprechung andererseits eine Leistungspflicht der Krankenversicherung auch dann bejaht hat, wenn eine Regelwidrigkeit droht, falls nicht ärztliche Behandlung einsetzt, könnte man auf dieses Merkmal verzichten und allein auf die Behandlungsbedürftigkeit abstellen. 87.
Die Behandlungsbedürftigeit,
ärztlichen Behandlung wurde anerkannt:
d.h.
die
Notwendigkeit
einer
34
Kapitel 2: Leistungsauslösende Tatbestände
- Zuerst zur Heilung oder zur Abwendung einer Gefahr der Verschlimmerung der Krankheit, - später auch zur Linderung von Beschwerden oder Schmerzen, - jetzt auch, wenn die Regelwidrigkeit behandelbar und die Behandlung sinnvoll ist und zwar auch dann, wenn die Behandlung lediglich bezweckt, das Leben für eine begrenzte Zeit zu verlängern.10 88.
Zum Begriff der Notwendigkeit einer Behandlung wird aus fachlicher
Sicht folgendes festgestellt "Die Subjektivität des Krankheitsbegriffes, die Therapiefreiheit des Arztes und die beschränkte Wissenschaftlichkeit der Medizin macht es unmöglich, das medizinisch notwendige stringent abzuleiten. -
Das weite Spektrum von Reaktionen der Ärzte — das nicht zuletzt auch
durch die Art der Honorierung beeinflußt wird, weist große interkulturelle Unterschiede auf und läßt den Eindruck der Beliebigkeit des medizinischen Leistungsgeschehens aufkommen: Ein objektiver Bedarf ist nicht abzuleiten.11
89.
Angesichts der expansiven Tendenz, mit der die Notwendigkeit
ärztlicher Behandlung bejaht wird, ist vorgeschlagen worden, auf den Begriff Krankheit ganz zu verzichten und einen Anspruch zu statuieren auf "alle medizinischen
Leistungen,
die
zur
Verbesserung,
Wiederherstellung der Gesundheit erforderlich sind".
12
Erhaltung
oder
In diesem Falle wären
gesundheitsdienliche Maßnahmen einzugrenzen, weil anderenfalls ein weiter Bereich bis hin zu Urlaub und Sport umfaßt wäre. Der genannte Vorschlag grenzt in der Weise ein, daß er nur Leistungen eines Arztes einschließt und alle Güter und Dienstleistungen ausschließt, die Uberwiegend zum Gebiet der Hygiene oder der persönlichen Pflege gehören, auch wenn diese indirekt der Gesundheit förderlich sind. Anstelle der Behandlungsbedürftigkeit hätten die Ärzte die gesundheitsdienliche Wirkung einer Dienstleistung zu beurteilen. Es bleibt aber hinsichtlich der Krankheit und damit der Leistungspflicht eines Sozialleistungsträgers bei einer ärztlichen Letzt-Entscheidung Uber die Notwendigkeit ärztlicher Behandlung. Dies hat weitreichende Konsequenzen, wenn der Arzt an einer Behandlung wirtschaftlich interessiert ist.
Kapitel 2: Leistungsauslösende
90.
Tatbestände
35
Ärzte entscheiden auch über Arbeitsunfähigkeit. Arbeitsunfähigkeit
ist die durch Krankheit verursachte Unfähigkeit zur Ausübung der bisherigen Erwerbstätigkeit. Als bisherige Erwerbstätigkeit gilt im allgemeinen konkret die Tätigkeit am letzten Arbeitsplatz. Eine Verweisung auf andere Tätigkeiten ist nur sehr eingeschränkt zulässig; nämlich nur auf Tätigkeiten gleicher Art im gleichen Betrieb. Für die Entscheidung Uber die Arbeitsunfähigkeit gelten die gleichen Gesichtspunkte, wie für diejenige über die BehandlungsbefürftigkeiL Allerdings ist im Regelfall die Malleabilität des Zustandes geringer, seine Objektivierung leichter als im Fall der Behandlungsbedürftigkeit.13 91.
Das Gesetz normiert auch eine Teilarbeitsunfähigkeit. Der Arzt soll
auf der Bescheinigung
über Arbeitsunfähigkeit vermerken, wenn
der
Versicherte seine bisherige Tätigkeit teilweise verrichten kann und er durch eine stufenweise Wiederaufnahme seiner Tätigkeit voraussichtlich besser wieder in das Erwerbsleben eingegliedert werden kann (§ 74 SGB V. Eine solche stufenweise Wiederaufnahme der Arbeit kommt insbesondere nach längeren Erkrankungen in Betracht. Der Versicherte bleibt ungeachtet der Teilarbeit arbeitsunfähig im
Rechtssinne; ein bezogenes Arbeitsentgelt wird auf das
Krankengeld angerechnet. 92.
Bei wiederholter oder langandauernden Arbeitsunfähigkeit entsteht ein
Interesse des Arbeitgebers, das Arbeitsverhältnis aufzulösen. Als Schutz dagegen ist in einigen Ländern eine Kündigung wegen Krankheit für begrenzte Zeit ausgeschlossen. In Deutschland wird eine Kündigung wegen Krankheit als sozial gerechtfertigt angesehen, wenn die Fehlzeiten zu betrieblichen Störungen führen. Dieses Kriterium ist praktisch nicht meßbar, denn es dürfte keinen Krankheitsfall
geben,
der
nicht
zu
betrieblichen
Störungen
führt.
Wünschenswert wäre eine gesetzliche Regelung des Kündigungsschutzes im Falle der Krankheit nach leicht feststellbaren Kriterien in Verbindung mit Regelungen, die im Falle der Kündbarkeit den Zugang zu Leistungen wegen I nvalidität sichern. 93.
Ist
die
durch
Krankheit
verursachte
Funktionsbeeinträchtigung
erheblich, so liegt neben Behandlungsbedürftigkeit auch Pflegebedürftigkeit vor. Die erforderliche Pflege wird in der Regel von Haushaltsangehörigen
36
Kapitel 2: Leistungsauslösende
Tatbestände
erbracht. In anderen Fällen ist Pflege in einem Krankenhaus erforderlich. Anspruch auf Krankenhauspflege besteht, wenn die Aufnahme in ein Krankenhaus erforderlich ist, weil das Behandlungsziel nicht durch ambulante Behandlung einschließlich häuslicher Krankenpflege erreicht werden kann (§ 39 SGB V). Auch hierüber entscheidet der behandelnde Arzt. Das Grundkriterium seiner Entscheidung ist (oder sollte sein), die Intensität der erforderlichen medizinischen Behandlung nach Zeit (regelmäßige Behandlung, Kontrolle, Beobachtung)
oder deren
Qualifikationsgrad (spezielle Diagnose-
oder
Therapiemöglichkeiten). Erfahrungsgemäß stellt sich der Arzt bei seiner Entscheidung auch die Frage, ob die nach seiner Meinung erforderliche Pflege zu Hause erbracht werden kann oder nicht. Insofern dabei die Persönlichkeit des Kranken und seine familiäre Situation zu berücksichtigen sind, liegt Ermessensspielraum vor. 94.
Dieser Ermessensspielraum erweitert sich, je mehr die erforderliche
Behandlungsintensität sinkt, wie es mit zunehmender Aufenthaltsdauer im Krankenhaus die Regel ist. Der (Krankenhaus-)Arzt steht vor einem Konflikt, wenn der weitere, kostenfreie Krankenhausaufenthalt nicht mehr wegen der Behandlungsintensität, wohl aber wegen fehlender oder kostenträchtiger Pflegemöglichkeit andernorts erforderlich ist. Dies ist besonders bei älteren Menschen häufig der Fall. Der Arzt steht nicht selten unter Druck seitens der Gepflegten, und seiner Angehörigen, die auf längere Verweildauer drängen, und
andererseits
seitens
des Sozialleistungsträgers,
der
auf
kürzere
Verweildauer drängt. Zur Erleichterung der Entscheidung, zur Vermeidung von Konfliktsituationen und zur klaren Kompetenzabgrenzung würde es beitragen, wenn die durch Krankheit bedingte Pflegebedürftigkeit ex definitione zeitlich begrenzt wäre. Nach Ablauf einer solchen Periode würde automatisch die Anschluß-Regelung für den Fall der (reinen) Pflegebedürftigkeit greifen.
b)
Krankheitshäufigkeit
95.
Ein allgemeines Indiz für den Gesundheitszustand einer Bevölkerung ist
die durchschnittliche Lebenserwartung. Diese hat sich im Laufe der letzten 100 Jahre fast kontinuierlich erhöht. Die Lebenserwartung Neugeborener stieg
Kapitel 2: Leistungsauslösende Tatbestände
37
im Zeitraum 1880 - 1990 bei Mannern von 36 auf 72 Jahre, bei Frauen von 38 auf 78 Jahre. Die Verdoppelung der Lebenserwartung Neugeborener beruht zu einem guten Teil auf einer gesunkenen Säuglingssterblichkeit. Doch ist auch die Lebenserwartung älterer Menschen deutlich gestiegen. Ursächlich für den Anstieg der Lebenserwartung waren neben Fortschritten der Medizin vor allem eine bessere Ernährung
und verbesserte hygienische Verhältnisse.
In
verschiedenen Landern (z.B. Skandinavien, Schweiz und Niederlande) ist die Lebenserwartung der Menschen höher als in Deutschland.
In vielen
außereuropäischen Ländern ist sie deutlich niedriger. 96. Die Vermeidung von frühem Tod ist jedoch nicht identisch mit lebenslanger Gesundheit. Von der Bevölkerung beurteilte den eigenen Gesundheitszustand als gut/sehr gut zufriedenstellend weniger gut/schlecht Obwohl 82 v.H.
44 v. H. 38 v. H. 18 v. H.14 der Bevölkerung ihren Gesundheitszustand
als zu-
friedenstellend oder besser bezeichnen, hatten 73 v.H. in den letzten 3 Monaten einen Arzt aufgesucht. Eine repräsentative Anzahl der Bevölkerung wurde gefragt, ob sie sich am Stichtag der Befragung oder in den Wochen davor so beeinträchtigt fühlte, daß sie ihre übliche Beschäftigung (Berufstätigkeit, Hausarbeit, Schulbesuch usw.) nicht voll ausüben konnte. Danach waren 15 v.H. krank. 97.
Die Krankheitshäufigkeit (Morbidität) steigt mit dem Lebensalter. In
den Altersgruppen waren (in v.H.):15 krank 5,4 8,0 17.8 34.9
Bis 15 Jahre 15-40 Jahre 40-65 Jahre Uber 65Jahre 98.
darunter chronisch krank 0,8 2,7 12,7 30,7
Entsprechend stiegen die finanziellen Aufwendungen für medizinische
Behandlung
mit
dem
Lebensalter.
Untersuchungen
zeigen
für
alle
Leistungsausgaben einen mit dem Alter ansteigenden Aufwand. Gemessen an
38
Kapitel 2: Leistungsauslösende
Tatbestände
dem Aufwand für 41 - 45jährige Männer (= 1) war der Aufwand für über 70jährige für ambulante Leistungen stationäre Leistungen Arzneien
2,4 5,0 6,516
Die starke Abhängigkeit der Krankheitshäufigkeit vom Lebensalter muß bei einem Vergleich der Krankheitshäufigkeit verschiedener Personengruppen berücksichtigt werden, weil sie durch eine unterschiedliche Altersstruktur bedingt sein kann. 99.
Die Altersabhängigkeit der Morbidität hat in Verbindung mit der
sinkenden
Mortalität
eine
Erscheinung
zur
Folge,
die
man
als
Morbiditätsparadoxon bezeichnen kann. Früher überlebten nur relativ gesunde Mitglieder einer Alterskohorte. Die Vermeidung von Tod in jüngeren Jahren führte dazu, daß auch relativ weniger Gesunde ein hohes Alter erreichten .Ältere Kohorten Behandlungsbedarf,
haben jetzt und künftig noch zunehmend weil
sie
erstens
stärker
besetzt
und
höheren zweitens
durchschnittlich weniger gesund sind. Das Paradoxon besteht darin, daß sinkende Mortalität zu steigender Morbidität führt. 100.
Die Krankheitshäufigkeit der versicherten Erwerbstätigen wird als
Krankenstand bezeichnet. Er bezieht sich auf die von Ärzten bescheinigte Arbeitsunfähigkeit Erwerbstätiger. Der Krankenstand ist definiert als die Zahl, der arbeitsunfähig Erkrankten im Verhältnis zur Zahl der erwerbstätigen Versicherten
an
einem
Stichtag.
Diskutiert
wird
das
Niveau
des
Krankenstandes, seine Veränderung im Zeitablauf und seine Unterschiede in Bezug auf Personengruppen. Aussagen darüber setzen voraus, daß die statistische Erfassungsmethode sowie die Rechtslage insbesondere hinsichtlich der Zahlung von Krankengeld und der Entgeltfortzahlung übereinstimmen. 101.
Weil diese Voraussetzungen nicht vorliegen, sind Angaben über den
Krankenstand für die Zeit vor 1970 - dem Jahr der Einführung der Entgeltfortzahlung für Arbeiter - nicht vergleichbar mit Angaben für die Zeit danach. Im Zeitvergleich oszillierte der Krankenstand von 1970 bis 1980
Kapitel 2: Leistungsauslösende Tatbestände
39
zwischen 5 und 6 v.H. Ab 1981 zeigt sich ein Einbruch, der auf einen wichtigen Bestimmungsgrund des Krankenstandes hinweist. 102.
Der Krankenstand zeigt eine deutliche Arbeitsmarktabhängigkeit.
Er sinkt in Perioden zunehmender Arbeitslosigkeit: In der Weltwirtschaftskrise (1929 - 1931) sank er um zwei Prozentpunkte ab; in der Rezession 1966/67 sank er um einen Prozentpunkt und das gleiche traf für die Periode 1980 - 1982 zu. In allen diesen Perioden war die Zahl der Arbeitslosen sprunghaft gestiegen. Aus
der
Tatsache des
sinkenden
Krankenstandes
bei
zunehmender
Arbeitslosigkeit wird gefolgert, daß der Krankenstand in hohem Maße verhaltensbedingt sei. Die Furcht vor drohendem Arbeitsplatzverlust veranlasse die Versicherten, sich weniger häufig Arbeitsunfähigkeit bescheinigen zu lassen. Eine These besagt, daß diese Furcht sonst vorhandenes überhöhtes Anspruchs- oder gar Mißbrauchsverhalten einschränke und den "wahren" Krankenstand erkennen lasse. Eine andere These besagt, daß unter solchen Bedingungen eine an sich notwendige Arbeitsunterbrechung verschleppt und damit späterer, schwererer Gesundheitsschaden verursacht werde. 103.
Beide Thesen sind nicht bewiesen und bedürften auf jeden Fall
erheblicher Einschränkung, weil der Krankenstand stark durch eine geringe Zahl langdauernder Krankheitsfälle beeinflußt wird. Es verursachten z.B. im Jahre 1993 6 v.H. der Fälle mit langer Krankheitsdauer (Uber 42 Tage) 45 v.H. der Arbeitsunfähigkeitstage. Dazu kommt, daß die Krankheitsdauer mit steigendem Lebensalter zunimmt, und zwar von 12 Tagen im Alter unter 20 Jahre auf 52 Tage im Alter über 60 Jahre.17 Lange Arbeitsunfähigkeit ist bei älteren Versicherten häufiger als bei jüngeren. Dies hat erheblichen Einfluß auf den Krankenstand, weil die Erwerbsquote in höheren Altersgruppen in Zeiten zunehmender Arbeitslosigkeit Uberproportional abnimmt. Ursächlich dafür sind: - die Tatsache, daß Arbeitnehmer mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen eher arbeitslos werden, - der frühere Bezug von Altersrente wegen längerer Arbeitslosigkeit und - der erhöhte Zugang an Renten wegen Invalidität.18
40
Kapitel 2: Leistungsauslösende Tatbestände
Bei hoher Arbeitslosigkeit findet also eine Selektion der älteren Arbeitnehmer nach
der
gesundheitlichen
Beeinträchtigung
statt.
Diese
Gesundheitsselektion hat eine geringere Erwerbsquote älterer Versicherter mit längerer Krankheitsdauer zur Folge und erklärt in hohem Maße das Absinken des Krankenstandes bei hoher Arbeitslosigkeit 104.
Der Krankenstand der Frauen liegt unter demjenigen für Männer. Dies
könnte dadurch bedingt sein, daß die erwerbstätigen Frauen im Durchschnitt jünger sind als die erwerbstätigen Männer. Die Krankheitshäufigkeit der Frauen im Vergleich zu derjenigen der Manner variiert in den Altersgruppen; sie liegt im Vergleich zu derjenigen der Manner im Alter 15-20 Jahre niedriger, 20-30 Jahre höher, 30-50 Jahre gleich hoch, ab 50 Jahre niedriger.
Es gibt Hinweise darauf, daß die vergleichsweise höhere Kiankheitshäufigkeit im Alter 20-30 Jahre mit häuslicher Doppelbelastung insbesondere durch Kindererziehung im Zusammenhang steht. 105.
Die Art der Arbeit beeinflußt den Krankenstand; dieser ist bei
Arbeitern höher als bei Angestellten. Ursächlich dafür ist das höhere Durchschnittsalter, die höhere körperliche Beanspruchung von Arbeitern, ihre einseitige Belastung durch monotone Arbeit sowie die relativ häufigere Beteiligung an Schichtarbeit, die die Krankheitshäufigkeit ebenfalls erhöht. 106.
Arbeitsunfähigkeit ist vom behandelnden Arzt zu bescheinigen. Die
Zweckmäßigkeit einer solchen Regelung kann bezweifelt werden. Der Arzt kann einem
Patienten,
der
sich
arbeitsunfähig
fühlt,
die
entsprechende
Bescheinigung zumindest für begrenzte Zeit nicht verweigern, weil er bei der Erstuntersuchung eine Krankheit nicht mit Sicherheit ausschließen kann. Aus diesem Grunde besteht die Tendenz, Bescheinigungen mindestens für eine Woche auszustellen. Eine Bescheinigung der Arbeitsunfähigkeit durch den
Kapitel 2: Leistungsauslösende
Tatbestände
41
behandelnden Arzt bedarf es in den Niederlanden und Dänemark nicht. Der leistungsverpflichtete Träger kann bei länger dauernder Krankheit vom Leistungsbezieher eine ärztliche Bescheinigung anfordern (Dänemark) oder einen angestellten, nichtärztlichen Kranken-Besucher in sein Haus entsenden (Niederlande). 107.
Arbeitsunfähigkeit wird an Montagen häufiger bescheinigt als an den
übrigen Wochentagen; fast ein Drittel aller Arbeitsunfähigkeitsfälle beginnt an einem Montag. Hierauf gründet sich der in der Tagesdiskussion vorkommende Begriff des "blauen Montag",
der suggeriert,
daß Versicherte durch
Krankmeldung ihr Wochenende verlängern und somit Mißbrauch treiben. Diese Folgerung ist aus zwei Gründen falsch. Der physiologische Krankheitsbeginn ist auf die Wochentage gleichmäßig verteilt, d.h., es beginnen je Tag 14,3 v.H. der Fälle. Da an Sonnabenden und Sonntagen nur verschwindend wenig Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ausgestellt werden, müssen die am Montag ausgestellten Bescheinigungen durch drei (Tage) dividiert werden. Danach ist der "Montags-Effekt" nicht nur eleminiert, sondern es ergibt sich sogar ein unterdurchschnittlicher Zugang an Arbeitsunfähigkeitsfällen. Weiter zeigt sich, daß der Zugang von Fällen mit kurzfristiger Arbeitsunfähigkeit an Montagen geringer ist als derjenige von Fällen mit längerfristiger Arbeitsunfähigkeit; auch dies spricht gegen die Mßbrauchs-These.
III.
Invalidität
108.
Wegen des Tatbestandes Invalidität werden von 7 Institutionen fast
zwei Dutzend verschiedene oder verschieden bezeichnete Sozialleistungen erbracht (Übersicht III, Anhang). Allerdings kommt der für die deutsche Sozialversicherung ursprünglich zentrale Begriff Invalidität heute in der Gesetzessprache nicht mehr vor. Diese verwendet im Zusammenhang mit verschiedenen Sozialleistungen die Begriffe Behinderung,
Beschädigung,
Minderung der Erwerbsfähigkeit, Berufsunfähigkeit, Erwerbsunfähigkeit, Dienstunfähigkeit. Allen diesen Begriffen liegt ein gemeinsamer Sachverhalt zugrunde, der die Verwendung des zusammenfassenden Begriffs Invalidität zweckmäßig erscheinen läßt. Außerdem ist der Begriff Invalidität in der
42
Kapitel 2: Leistungsauslösende Tatbestände
internationalen Diskussion unentbehrlich. Die Mehrzahl der Sozialleistungen wegen Invalidität
dient dem Einkommensersatz.
Auf
Unfallversicherung und der sozialen Entschädigung
Leistungen besteht
der
allerdings
Anspruch, auch wenn kein Einkommen zu ersetzen ist; die Leistung dient in diesem Falle der Entschädigung. Ferner gibt es Leistungen, die der Deckung eines Pflegebedarfs dienen.
a)
Behinderung
109.
Invalidität beruht zunächst und immer auf dem Zustand einer
Behinderung. Behinderung ist wie Krankheit ein regelwidriger körperlicher oder geistiger Zustand. Zum Unterschied zu einer Krankheit kommt es bei der Behinderung nicht darauf an, daß sie medianisch behandlungsbedürftig und -fähig ist. Als Behinderung gelten auch eine Schwäche der körperlichen oder geistigen Kräfte. Ein zweiter Unterschied zur Krankheit liegt darin, daß Behinderung gekennzeichnet ist durch die Dauerhaftigkeit des regelwidrigen Zustandes. Das Element der Dauerhaftigkeit wird in Gesetzen ausgedrückt durch Zusätze wie "auf nicht absehbare Zeit" oder "auf absehbare Zeit nicht änderungsfähig". 110.
Hinsichtlich der Art der Behinderung werden drei Sachverhalte
unterschieden:19 - Organschädigung (impairment); - Funktionale Einschränkung (physiologisch oder geistig), die auf einer Organschädigung beruht (disability); - Soziale Beeinträchtigung (handicap).
Die Organschädigung hebt allein auf den medizinischen Befund ab, wie z.B. eine Krankheit des Auges. Die funktionale Einschränkung bezeichnet die Beschränkung der Fähigkeit, eine normale Aktivität auszuüben, also z.B. die aufgrund einer Augenkrankheit eingeschränkte Sehfähigkeit. Die soziale
Kapitel 2: Leistungsauslösende Tatbestände
43
Beeinträchtigung bezeichnet eine begrenzte Fähigkeit zur Erfüllung einer als normal angesehenen sozialen Rolle, also z.B. die wegen der beschränkten Sehfähigkeit eingeschränkte Orientierungsfähigkeit. 111.
Im Hinblick auf die Zweckbestimmung von Sozialleistungen -
Entschädigung, Einkommensersatz, Bedarfsdeckung - werden zweckmäßig drei Unterfälle der Invalidität unterschieden: 1.
Behinderung: Minderung der normalen Vitalfunktion einschließlich unnormaler Schmerzen.
2.
Erwerbsbehinderung: Minderung der Fähigkeit zum Einkommenserwerb.
3.
Pflegebedürftigkeit: Minderung der Fähigkeit zur Selbstbetreuung.
Entscheidungsbedürftig sind die Fragen, unter welchen Bedingungen - eine Behinderung Entschädigungsleistungen, - eine Erwerbsbehinderung Einkommensersatzleistungen und - Pflegebedürftigkeit Bedarfsdeckungsleistungen auslösen soll. In allen Fällen muß der Grad der Behinderung festgestellt werden.
1.
Behinderungsgrad
112.
Der Behinderungsgrad wird gemessen am Zustand der Nicht-
Behinderung. Es erfolgt eine abstrakte Bemessung allein im Hinblick auf den medizinischen Befund ohne Rücksicht auf die konkrete Einkommens- oder Bedarfssituation. Verwaltungsvorschriften und ergänzende "Anhaltspunkte" beschreiben in detaillierter Form Funktionsbeeinträchtigungen und bewerten diese prozentual ("Gliedertaxe"). 113.
Das Schwerbehindertengesetz gilt für Personen mit einem Grad der
Behinderung von wenigstens 50; es räumt diesen Personen Vergünstigungen im Steuer-, Gebühren, Arbeits- und Sozialrecht ein. Kritisiert wird, daß die
44
Kapitel 2: Leistungsauslösende
Tatbestände
Anerkennung als sogenannter Schwerbehinderter leicht zu erlangen sei, auch bei Behinderungen, die bei einer großen Anzahl von Menschen früher oder später, jedoch häufig mitzunehmendem Alter auftreten. 114.
Ungeachtet der abstrakten Bemessung allein nach medizinischen
Merkmalen spricht das soziale Entschädigungsrecht und das Recht der Unfallversicherung von "Minderung der Erwerbsfähigkeit".
In der
Unfallversicherung wird der Behinderungsgrad definiert als Minderung der Fähigkeit, sich einen Erwerb zu schaffen, und im sozialen Entschädigungsrecht (Bundesversorgungsgesetz) als körperliche und geistige Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben.20 Die Verwendung dieser Begriffe ist irreführend. Nach beiden Gesetzen werden Entschädigungsleistungen in großer Zahl an Personen gewährt, die ein normales Erwerbseinkommen beziehen. Entschädigt werden in diesen Fällen erschwerte Bedingungen des Einkommenserwerbs. Dies rechtfertigt jedoch die Verwendung des Begriffs ebenfalls nicht, weil Entschädigungsleistungen auch an Personen gezahlt werden, die nicht erwerbstätig
sind.
Auch
hier
sollte
der
Begriff
"Minderung
der
Erwerbsfähigkeit" durch den Begriff "Grad der Behinderung" ersetzt werden, wie dies im Schwerbehindertengesetz 1986 geschehen ist. 115.
Entschädigungsleistungen werden bei bestimmten Grenzwerten des
Behinderungsgrades ausgelöst. Nach dem sozialen Entschädigungsrecht besteht Anspruch auf: Grundrente, wenn die Erwerbsfähigkeit um mindestens 25 v.H. gemindert ist; Ausgleichsrente, wenn - die Erwerbsfähigkeit um mindestens 50 v.H. gemindert ist und - der Beschädigte eine ihm zumutbare Erwerbstätigkeit nicht oder in beschränktem Umfang oder nur mit überdurchschnittlichem Kräfteaufwand ausüben kann; Schwerbeschädigtenzulage, wenn - die Erwerbsfähigkeit um mehr als 90 v.H. gemindert ist und
Kapitel 2: Leistungsauslösende Tatbestände
45
- der Beschädigte durch die Schädigungsfolgen gesundheitlich außergewöhnlich betroffen ist; Pflegezulage, wenn der Beschäftigte infolge der Schädigung so hilflos ist, daß er für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfang fremder Hilfe dauernd bedarf; Berufsschadensausgleich, wenn das Einkommen aus gegenwärtiger oder früherer Tätigkeit durch die Schädigungsfolgen gemindert ist. 116.
In der gesetzlichen Unfallversicherung besteht Anspruch auf
- Verletztenrente, wenn die Erwerbstätigkeit um 20 v.H. gemindert ist, - Schwerverletztenzulage, wenn die Erwerbsfähigkeit um 50 v.H. gemindert ist, - Pflege oder Pflegegeld unter ähnlichen Bedingungen wie bei der sozialen Entschädigung. Die abstrakte Bemessung des Behinderungsgrades ist in der Unfallversicherung ergänzt durch ein Element der Konkretisierung. Bei der Bemessung sind Nachteile zu berücksichtigen, die der Verletzte dadurch erleidet, daß er besondere berufliche Kenntnisse und Erfahrungen infolge des Unfalls nicht mehr oder nur gemindert ausüben kann. Dies hat Bedeutung für spezielle Berufe (z.B. Musiker), bei denen die Verletzung einer Gliedmaße (z.B. Hand) zu einer übemormalen Einkommenseinbuße führen kann. Dem wird dadurch Rechnung getragen,
daß
in
solchen
Fällen
der
Behinderungsgrad
(nach
dem
Gesetzeswortlaut: Minderung der Erwerbsfähigkeit) höher bemessen wird als im Normalfall. 117.
Der Behinderungsgrad wird im Grundsatz nach dem medizinischen
Befund eines Verlustes von Körperorganen, -geweben oder -funktionen bewertet. Das Bundesversorgungsgesetz bestimmt, daß dabei
seelische
Begleiterscheinungen und Schmerzen zu berücksichtigen sind. Eine solche
46
Kapitel 2: Leistungsauslösende Tatbestände
soziale Bewertung medizinischer Befunde ist wenig ausgeprägt und unter den Sozialleistungen mit Entschädigungsfunktion nicht abgestimmt Die Fragen, welche Art von Behinderung berücksichtigt werden sollen, und wie diese im Verhältnis zueinander bewertet werden sollen, sind weder wissenschaftlich noch politisch mit der notwendigen Gründlichkeit diskutiert worden. Dabei wäre auch zu erörtern, wie z.B. eine ästhetische Beeinträchtigung, höheres Arbeitsleid,
Diskriminierungsgefühle, Todesfurcht,
Beeinträchtigung
bei
Freizeitgestaltung und Kulturgenuß zu berücksichtigen sind. Weiter sollte Konsens darüber herbeigeführt werden, daß nur eine altersspezifische Beeinträchtigung
der
Vitalfunktion zu
berücksichtigen
ist.
Die
mit
zunehmendem Alter normale Funktionseinbuße sollte nicht als Behinderung im Sinne eines leistungsauslösenden Tatbestandes angesehen werden.
2.
Behinderungsursache
118.
Sozialleistungen mit Entschädigungsfunktion sind an die Voraussetzung
gebunden, daß die Behinderung auf einer bestimmten Ursache beruht. Als solche Behinderungsursachen sind normiert a)
ein Gesundheitsschaden, "für dessen Folgen die staatliche Gemeinschaft in Abgeltung eines besonderen Opfers oder aus anderen Gründen"21 einsteht (Aufopferungstatbestand) und
b)
ein Unfall, den ein in der gesetzlichen Unfallversicherung Versicherter bei bestimmten Tätigkeiten erleidet (Arbeitsunfall).
119.
Als Aufopferungstatbestände
gelten Gesundheitsschäden,
entstanden sind durch: - Eine unmittelbare Kriegseinwirkung, - eine militärische Dienstverrichtung (einschließlich Wehr- und Zivildienst), - eine Impfung, die vorgeschrieben oder öffentlich empfohlen war, - eine Gewalttat.22
die
Kapitel 2: Leistungsauslösende
Aufopferungstatbestand war ursprünglich
ein
Tatbestände
Schaden
während
47
einer
militärischen Dienstverrichtung, also einer Tätigkeit. Später wurden auch Schäden durch bestimmte Einwirkungen anerkannt. Dies geschah nacheinander für Kriegseinwirkungen, Einwirkungen durch Impfung und (seit 1976) Gewalttaten. Die Kriterien für die Abgrenzung von Aufopferungstatbeständen sind wenig diskutiert. Die Abgrenzung erfolgt pragmatisch durch punktuelle Gesetzgebungsakte. 120.
Die Entschädigung
für das
Opferentschädigungssgesetz.
Opfer einer Gewalttat
regelt
das
Als Gewalttat gilt ein gesundheitlicher
Schaden, der durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff oder durch dessen Abwehr entstanden ist. Dabei ist unerheblich, ob der Angriff gegen den Geschädigten oder eine andere Person gerichtet war. Vorsätzliches Handeln setzt nicht die Schuldfähigkeit des Handelnden voraus, so daß auch Handlungen von Kindern oder Geisteskranken zur Entschädigung berechtigen. 121.
Daß der Arbeitsunfall als leistungsauslösende Behinderungsursache
anerkannt wurde, geht zurück auf die Unzulänglichkeiten der zivilrechtlichen Regelungen zum Schadensausgleich, die auf dem beruhen.
Verschuldungsprinzip
Danach mußte ein verletzter Arbeitnehmer seine
Ansprüche
privatrechtlich durchsetzen und ein Verschulden des Unternehmers nachweisen. Das Unfall Versicherungsgesetz von 1884 löste die privatrechtliche Haftpflicht des Unternehmers ab und räumte dem verletzten Arbeitnehmer ohne Rücksicht auf ein Verschulden einen öffentlich-rechtlichen Anspruch ein. Versichert waren zunächst nur Unfälle in einer begrenzten Zahl als besonders gefährlich erachteter Betriebe. 1942 wurde die Bindung an einen versicherten Betrieb aufgegeben; versichert war fortan die Tätigkeit 122.
Als Arbeitsunfall gilt ein Unfall, den ein Versicherter in ursächlichem
Zusammenhang mit einer versicherten Tätigkeit erleidet. Als versicherte Tätigkeit
gilt jede
Tätigkeit aufgrund
eines
Arbeits-,
Dienst-
oder
Lehrverhältnisses. Entscheidend ist, ob die zum Unfall führende Tätigkeit den Interessen des Unternehmens gedient hat oder ob sie dem persönlichen Lebensbereich des Versicherten zuzurechnen ist. Als Arbeitsunfall gilt (seit
48
Kapitel 2: Leistungsauslösende Tatbestände
1925) auch ein
Unfall
auf
einem
mit
einer
versicherten
Tätigkeit
zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit (Wegeunfall). Ferner gelten bestimmte Krankheiten als Arbeitsunfall (Berufskrankheit). 123.
Außer den aufgrund eines Arbeitsverhältnisses Versicherten sind seit
1928 in mehreren Schritten weitere Personen in die Versicherung einbezogen worden. Dies gilt für einige Gruppen selbständig Erwerbstätiger, wie insbesondere
landwirtschaftliche
Unternehmer
und
deren
Ehegatten,
Küstenschiffer und KUstenfischer, Hausgewerbetreibende sowie die im Gesundheitswesen
oder der Wohlfahrtspflege Tätigen.
Ferner
besteht
Versicherungsschutz bei bestimmten nicht berufsgebundenen Tätigkeiten; dies gilt u.a. für Helfer in Unglücksfällen, Blutspender und in der Selbstverwaltung ehrenamtlich Tätige. Die jüngste Entwicklung hat dahin geführt, daß es auch auf eine Tätigkeit nicht mehr ankommt. So sind auch versichert Kinder während eines Besuches von Kindergärten, Schüler während des Besuches von Schulen und Studierende während der Ausbildung an Hochschulen.23 Versicherung von Personen, die nicht aus ihrem Arbeitsverhältnis heraus, sondern wegen einer bestimmten, im öffentlichen Interesse liegenden Tätigkeit versichert sind, wird als "unechte Unfallversicherung" diskutiert. Die Art dieser Tätigkeiten kommt systematisch den AufOpferungstatbeständen nahe. 124.
Die Erweiterung der Unfallversicherung von der ursprünglichen
Betriebsversicherung
auf
jede Arbeitnehmertätigkeit,
auf
Wegeunfälle,
Berufskrankheiten, auf Selbständige und Nicht-Erwerbstätige hat dazu geführt, daß die Abgrenzung der Behinderungsursache "Arbeitsunfall" zunehmend unscharf wird. Die Zahl der anerkannten Berufskrankheiten wurde von ursprünglich (1925) elf auf jetzt rd. 60 erhöht. Bei einem internationalen Vergleich
der
anerkannten
Berufskrankheiten
zeigen
sich
erhebliche
Unterschiede, die in verschiedenartige Bewertung der gleichen Erkrankung begründet
sind.
Ein
Drittel
der
Fälle,
in
denen
die
gesetzliche
Unfallversicherung Entschädigung wegen Tod oder Erwerbsunfähigkeit zahlt, betreffen Wegeunfälle. Knapp 20 v.H. der Gesamtausgaben sind den Wegeunfällen zuzuschreiben. Die Sozialgerichte haben eine unverhältnismäßige Vielzahl von Fällen zu bearbeiten, "bei denen sozusagen jeder Schritt vom Wege
Kapitel 2: Leistungsauslösende
Tatbestände
49
(oder gar auf dem Wege) dafür maßgebend sein kann, ob man den privilegierten Status des Unfallversicherten einbüßt".24 125.
Die Ausdehnung des Unfallversicherungsschutzes macht verbleibende
Lücken bewußt. Neuere Diskussionsthemen sind z.B. die Entschädigung bei Schäden durch medizinische Kunstfehler oder durch Produkt-Fehler, wie z.B. Medikamente. Von daher liegt der Gedanke einer Erfassung aller Unfälle nahe. In der Schweiz sind seit längerem Arbeitnehmer gegen jede Art von Unfall versichert. In Neuseeland erhalten alle Einwohner Entschädigung für jede Art von Unfall. 126.
Angesichts der geschilderten Probleme kann man auch zu der Folgerung
gelangen, daß der Arbeitsunfall "allmählich seine praktische Bedeutung als eigenständiges Phänomen verliert und zusammen mit den nicht berufsbedingten Risiken in den modernen, umfassenden Systemen der sozialen Sicherheit aufgeht".25 Ein solches Aufgehen ist 1966 in den Niederlanden erfolgt. Ein umfassendes System der Invaliditätssicherung hat ermöglicht, auf spezielle Regelungen für den Arbeitsunfall zu verzichten. Jeder Einwohner mit einem Behinderungsgrad von wenigstens 25 v.H. erhält eine Rentenleistung, die allerdings von anderen Versicherungsleistungen abgezogen wird. Damit sind auch angeborene Behinderungen erfaßt.26
b)
Erwerbsbehinderung
1. Soziale Bedingtheit 127.
Im Gegensatz zu Sozialleistungen mit Entschädigungsfunktion haben die
Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung eine EinkommensersatzFunktion. Sie heben daher nicht allein auf eine Behinderung ab, sondern zusätzlich auf die Fähigkeit zur Einkommenerzielung oder das tatsächliche Einkommen.
Die
Normierung
der
Voraussetzungen
für
Einkommensersatzleistungen im Falle der Erwerbsbehinderung setzt die Beantwortung folgender Fragen voraus: - Wie soll der Grad der Erwerbsbehinderung gemessen werden?
50
Kapitel 2: Leistungsauslösende
Tatbestände
- Welcher Grad der Erwerbsbehinderung löst Leistungen aus? - Soll dem Erwerbsbehinderten eine andere als seine bisherige Tätigkeit zugemutet werden? - Soll berücksichtigt werden, ob ihm ein Arbeitsplatz tatsächlich zur Verfügung steht? - Soll neben der Erwerbsbehinderung der tatsächliche Einkommensverlust berücksichtigt werden? 128.
Erwerbsbehinderung ist in erheblichem Maße sozial bedingt Der
Erwerbsbehinderte
muß
einen Antrag
auf
Leistungen
stellen.
Antragstellung ist länger reflektiert und beruht in vielen Fällen
Diese auf
Entscheidungen Uber die künftige Lebensweise, nämlich der Überzeugung, die Erwerbstätigkeit aufgeben zu müssen oder dem Wunsch, sie aufgeben zu wollen. Solche Entscheidungen oder Wünsche sind außer von der vorhandenen Behinderung auch abhängig von den Arbeitsbedingungen, von der subjektiven Arbeitszufriedenheit, von Alternativen des sozialen Selbstverständnisses und des Einkommenserwerbs. 129.
Die soziale Bedingtheit der Erwerbsbehinderung hat zur Folge, daß bei
ihrer Feststellung
neben medizinischen auch andere Sachverhalte zu
berücksichtigen sind. Dies hat in einigen Ländern (z.B. Niederlande, Schweiz) zu Regelungen Anlaß gegeben, nach denen die Feststellung oder Überprüfung einer Einkommensersatzleistung wegen Invalidität durch Kommissionen erfolgt, in denen neben Ärzten auch Fachleute auf dem Gebiet des Arbeitslebens, der Berufsausbildung, der Sozialarbeit vertreten sind. Die soziale, orts-, berufs-, und betriebsbezogene Bedingtheit der Erwerbsbehinderung kommt bei ihrer Feststellung in Deutschland wenig zur Geltung, weil allein auf der Grundlage eines medizinischen Befundes entschieden wird.
2.
Stufungen
130.
Die Sozialleistung im Falle der Erwerbsbehinderung soll ein wegen der
Behinderung ausgefallenes Einkommen ersetzen. Von daher läge es nahe, bei einem
bestimmten
Behinderungsgrad
nach
dem
tatsächlichen
Kapitel 2: Leistungsauslösende
Tatbestände
51
Einkommensausfall zu fragen. Diesen Weg wählte man bei der Einführung der Invalidenversicherung in Deutschland nicht; es sollte kein Anspruch bestehen, solange noch die Möglichkeit des Einkommenserwerbs bestand. Man stellte deshalb auf die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten ab. Diese wurde beurteilt nach der Erwerbsfähigkeit einer gesunden
Vergleichsperson.
Ob eine
Einkommenseinbuße vorlag und ob eine Möglichkeit zur Verwertung der verbliebenen Erwerbsfähigkeit (Arbeitsplatz) bestand, blieb unberücksichtigt. Man wandte eine abstrakte Betrachtungsweise an. 131.
Vergleichsperson ist (seit 1957) ein gesunder Versicherter mit ähnlicher
Ausbildung
und
gleichwertigen
Kenntnissen
und
Fähigkeiten.
Der
Behinderungsgrad im Verhältnis zur Vergleichsperson (Minderung der Erwerbsfähigkeit) mußte ursprünglich 5/6, später (1899) 2/3 und seit 1949 die Hälfte betragen. 132.
Ein grundlegender Unterschied zu den Entschädigungsleistungen besteht
darin, daß im Falle der Einkommensersatzleistungen eine AlIes-oder-NichtsEntscheidung über den Rentenbezug und damit über die Möglichkeit der Aufgabe der Erwerbstätigkeit oder den Zwang zu deren Fortsetzimg zu fällen ist. Um den Zwang zu einer Alles-oder-Nichts-Entscheidung zu mildern, wurde 1957 die Invalidität in zwei Unterfälle aufgeteilt. Motiv war der damalige Eindruck, daß Invaliditätsrentenbezieher teilweise noch ein, wenn auch gemindertes, Erwerbseinkommen beziehen. Der Gesetzgeber ging davon aus, daß in diesen Fällen kein voller Einkommensersatz notwendig sei. Seither wird die
Erwerbsbehinderung
bezeichnet
als
Berufsunfähigkeit
oder
Erwerbsunfähigkeit. Berufsunfähig sind Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung auf weniger als die Hälfte derjenigen eines gesunden Versicherten gesunken ist. Erwerbsunfähig sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben. Es wird also unterschieden
zwischen
Erwerbsunfähigkeit.
27
einer
Eine
geminderten
solche
Erwerbsfähigkeit
Differenzierung
-
meist
und
der
mit
den
Bezeichnungen Voll- und Teil-Invalidität - ist im internationalen Vergleich häufig.
52 133.
Kapitel 2: Leistungsauslösende
Tatbestände
Im Falle der Berufsunfähigkeit soll nach dem Wortlaut des Gesetzes
beurteilt werden, ob die Erwerbsfähigkeit im Vergleich zu einem Gesunden um die Hälfte gesunken ist. Danach ist also erforderlich, einen medizinischen Befund, der seiner Natur nach qualitativer Art ist, in eine quantitative Skala zu Ubersetzen. Man löst das Übersetzungs-Problem, indem man den Zeitmaßstab zugrunde legt. Es wird gefragt, ob die üblichen Leistungsanforderungen während der halben (normalen) Arbeitszeit bewältigt werden können.
Die
theoretisch mögliche Frage, ob das halbe Arbeitspensum bei voller Arbeitszeit bewältigt werden kann, wird aus Gründen der betrieblichen Praktikabilität nicht gestellt. Kann der Versicherte nicht mehr als die Hälfte der üblichen Arbeitszeit tätig sein, so gilt er als berufsunfähig. Man beurteilt, ob der Versicherte noch "vollschichtig" oder nur "halbschichtig" tätig sein kann. Im Falle Erwerbsunfähigkeit
soll
beurteilt
werden,
ob
der
Versicherte
der eine
Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit ausüben kann. Diese Fähigkeit wird in der Praxis verneint, wenn der Versicherte nicht in der Lage ist, täglich 2 Stunden zu arbeiten. Angesichts dieser Entwicklung liegt es nahe,
den
Zeitmaßslab in das Gesetz aufzunehmen. 134.
Aber auch dies würde die Grundproblematik der medizinischen
Beurteilung der Erwerbsbehinderung nicht lösen. Diese Schwierigkeit wird aus ärztlicher Sicht so beschrieben: "Das Gesetz der Sozialpolitik hat die Macht in die Hand des Arztes gegeben; aber hat die Medizin ihm auch die Erkenntnis gegeben, kraft derer er diese Macht brauchen kann? Gibt es ein System der Pathologie, durch welches wir die Arbeits- und Existenzfähigkeit eines Menschen befriedigend klar erkennen können? Ich behaupte nach sorgfältiger Prüfung: nein". 28 Aus dieser auch vielfach anderweitig belegten Feststellung ergibt sich, daß der Zustand Erwerbsbehinderung wie der Zustand Krankheit malleabel ist (TZ 84). Dennoch gibt die Begutachtungspraxis keinen Anlaß zu grundsätzlicher Kritik. Man urteilt Uber den einzelnen Fall pragmatisch und betrachtet ihn konkreter als der Wortlaut des Gesetzes es nahelegen würde. Ein Beleg dafür ist die Tendenz zur höchsten Einstufung. 135. daß
Ungeachtet aller Differenzierungen des Invaliditätsbegriffs zeigt sich, die
große
Mehrzahl
aller
Empfänger
von
Leistungen
wegen
Erwerbsbehinderung zur Gruppe mit dem höchsten Behinderungsgrad gehört.
Kapitel 2: Leistungsauslösende
Tatbestände
53
Von allen Invaliditätsrenten wird die große Mehrzahl wegen Erwerbsunfähigkeit zuerkannt. Die Rente wegen Berufsunfähigkeit ist praktisch bedeutungslos geworden. Diese Tendenz zur höchsten Einstufung wird auch in anderen Ländern, in denen es mehrere Invaliditätsgrade gibt, beobachtet. Sie dürfte damit zu erklären sein, daß der gutachtende Arzt sich in der Mehrzahl der Fälle vor der erwähnten Alles-oder-Nichts-Entscheidung sieht. Er beurteilt im Regelfall einen Patienten, der sich nicht mehr in der Lage fühlt, seine bisherige Erwerbstätigkeit fortzusetzen und der einen Entschluß hinsichtlich seiner künftigen Lebensweise gefaßt hat. Der Gutachter muß darüber befinden, ob der Antrag abgelehnt, oder ob ihm stattgegeben werden soll. Es besteht ein Zwang zu einer Entscheidung über Alles oder Nichts. 136.
Dieser
Zwang
hilft
dem
Gutachter
Uber
die
gedanklichen
Schwierigkeiten einer Bemessung der Erwerbsbehinderung in Prozentsätzen hinweg. Die Erfahrung zeigt, daß der begutachtende Arzt nicht den Antragsteller in
die
Gesetzesbestimmungen
eingruppiert,
sondern
umgekehrt
vom
medizinischen Befund und den Arbeitsbedingungen ausgeht und die Frage stellt: Kann der Antragsteller seinen Arbeitsplatz ausfüllen? Bei einer Verneinung der Frage wird das Gutachten so abgefaßt, daß den Rechtsnormen Genüge getan ist. Hierauf weist auch die Tatsache hin, daß die Herabsetzung des Behinderungsgrades
(im
Verhältnis
zur
Vergleichsperson)
in
der
Arbeiterrentenversicherung von 66 2/3 auf 50 v.H. im Jahre 1949 entgegen allen Erwartungen keinerlei meßbare Auswirkungen auf den Zugang an Invaliditätsrenten hatte.29 So dürfte sich auch erklären, daß die erheblichen Variationen hinsichtlich des Mindestgrades der Erwerbsbehinderung (z.B. 15 v.H. in den Niederlanden und 66,6 v.H. in Frankreich) nicht ebenso große Unterschiede der Invaliditätshäufigkeit zur Folge haben. Es läßt sich folgern, daß es sowohl für den Versicherten im Einzelfall, wie auch für die Invaliditätshäufigkeit insgesamt nicht erheblich ist, welcher
Prozentsatz
hinsichtlich des Grades der Erwerbsbehinderung für den Rentenbezug normiert wird, und ob Differenzierungen des Invaliditätsbegriffs vorgenommen werden. Die Begutachtungspraxis löst das "Übersetzungs-Problem" pragmatisch und zielgerecht.
54
Kapitel 2: Leistungsauslösende
137.
Tatbestände
In bestimmten Fällen wird auf die medizinische Begutachtung der
Erwerbsbehinderung verzichtet. Bergleute erhalten Rente, wenn sie - eine Wartezeit von 25 Jahren erfüllt haben, - das 50. Lebensjahr vollendet haben und - im Vergleich zu der von ihnen ausgeübten knappschaftlichen Beschäftigung eine wirtschaftlich gleichwertige Beschäftigung nicht mehr ausüben.30 Die letzte Bedingung wird bei einer Lohnminderung um 7,5 v.H. als erfüllt angesehen. Diese Regelung zeigt, daß es im Prinzip möglich ist, Kriterien für das Vorliegen von Erwerbsbehinderung festzulegen, die unabhängig von medizinischen Befunden sind.
3.
Verweisbarkeit
138.
Kann der Versicherte seine bisherige Tätigkeit nicht mehr ausüben, so
stellt sich das Problem der Verweisbarkeit, d.h. die Frage, ob und gegebenenfalls auf welche andere Tätigkeit er "verwiesen" werden soll. Problem ist die Zumutbarkeit einer anderen als der bisherigen Tätigkeit. Den Versicherten der gesetzlichen Rentenversicherung wird grundsätzlich die Aufnahme einer anderen als der bisherigen Tätigkeit zugemutet. Bei Einführung der Rentenversicherung (1891) wurde dem Arbeiter jede beliebige andere Tätigkeit zugemutet. Als die Rentenversicherung der Angestellten eingeführt wurde (1912), wurde der Tatbestand Invalidität mit "Berufsunfähigkeit" bezeichnet; er besagte, daß Angestellte nicht auf Arbeiterberufe verwiesen werden konnten. Angesichts der Vielfalt von Angestelltentätigkeiten wurde später die Verweisbarkeit auf Tätigkeiten etwa gleicher Qualifikation eingeschränkt; dies gilt seit 1957 auch für Arbeiter. 139.
Für die Rente wegen Berufsunfähigkeit umfaßt der Kreis der
Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten zu beurteilen ist, alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm zugemutet werden können. Bei der Zumutbarkeit einer anderen Tätigkeit sollen berücksichtigt werden: Dauer und Umfang der Ausbildung, der bisherige
Kapitel 2: Leistungsauslösende
Tatbestände
55
Beruf und die besonderen Anforderungen der bisherigen Berufstätigkeit.31 Die Rechtsprechung hat entscheidend darauf abgehoben, daß der Versicherte vor einem sozialen Abstieg durch Verweisung auf eine andere Tätigkeit geschützt werden soll. Als sozialer Abstieg wird eine finanzielle Einbuße oder eine Tätigkeit mit geringerer öffentlicher Wertschätzung angesehen. 140.
In der Praxis wird auch hier pragmatisch verfahren. Man unterscheidet
aufgrund von Gerichtsurteilen verschiedene Kategorien: Für Arbeiterzwischen einfachen ungelernten Tätigkeiten und besonders qualifizierten Facharbeitern mit Vorgesetztenfunktion, für Angestellte zwischen Berufen ohne und
mit
besonders qualifizierter Ausbildung. Als zumutbar gilt eine Verweisung auf die nächstniedrigere Kategorie, wenn sich innerhalb der gleichen Kategorie keine Tätigkeit finden läßt, für Angestellte ist eine Verweisung auf eine Tätigkeit zumutbar, deren Vergütung eine tarifliche Gehalts- oder Vergütungsgruppe unter der bisherigen liegt. Praktisch läuft dies darauf hinaus, daß eine Verweisung ausgeschlossen ist auf Tätigkeiten, die wesentlich geringer entlohnt werden
als
die
bisherige
Tätigkeit.
Es
besteht
ein
Einkommensminderungsschutz; ein solcher ist ausdrücklich angesprochen in den Voraussetzungen für die Bergmannsrente. Eine Verweisung in diesem Falle ist nur zulässig, wenn (u.a.) die andere Tätigkeit gegenüber dem Hauptberuf des Versicherten keine höhere Einkommensminderung als 12,5 v.H. bedingt. Für Beamte gilt eine Einkommensgarantie. Der Beamte gilt als dienstunfähig, wenn er unfähig zur Erfüllung seiner Dienstpflichten ist. Zwar kann ihm eine andere Tätigkeit zugewiesen werden, ohne seine Zustimmung jedoch nur dann, wenn es sich um ein Amt im Bereich des bisherigen Dienstherren handelt, und wenn das neue Amt derselben Laufbahn angehört und mit mindestens demselben Endgrundgehalt verbunden ist wie das bisherige Amt.32 141.
Die Frage, ob ein zumutbarer Arbeitsplatz tatsächlich vorhanden ist, war
für das Vorliegen von Erwerbsbehinderung lange Zeit unerheblich. Seit 1969 ist durch Rechtssprechung die konkrete
Betrachtungsweise
eingeführt
worden. Danach muß zur Verneinung der Berufsunfähigkeit ein Arbeitsplatz, auf den der Versicherte verwiesen werden kann, auch praktisch vorhanden sein. Ist dies nicht der Fall, so liegt ungeachtet einer gegebenen Verweisbarkeit
56
Kapitel 2: Leistungsauslösende
Tatbestände
Berufsunfähigkeit vor. Ist dem Versicherten der Arbeitsmarkt praktisch auf Dauer verschlossen, so ist die Verneinung der Berufsunfähigkeit unzulässig. Als verschlossen gilt der Arbeitsmarkt für einen Versicherten, wenn es nicht möglich war, ihm innerhalb eines Jahres einen geeigneten und zumutbaren Arbeitsplatz anzubieten. Der Arbeitsplatz muß im Wohnort des Versicherten oder in dessen näherer, täglich zu erreichender Umgebung vorhanden sein. Wegen geringer Vermittlungserfolge wird in der Praxis normalerweise die Rente vor Ablauf der Jahresfrist zuerkannt. 142.
Die medizinischen Ursachen einer Erwerbsbehinderung wie auch die
Arbeitsmarktlage können sich im Zeitablauf
verändern.
Wenn
hierauf
begründete Aussicht besteht, sollen die Renten zeitlich befristet werden (§ 102 SGB VI). Die Praxis hat gezeigt, daß diese Zeitrenten in der weitaus überwiegenden Zahl zunächst verlängert und schließlich in Dauerrenten umgewandelt werden.
4.
Berücksichtigung von Erwerbseinkommen
143.
Dem
Zweck
einer
Einkommensersatzleistung
wegen
Erwerbsbehinderung würde es entsprechen, wenn die Leistung davon abhängen würde, daß vorher Erwerbseinkommen bezogen wurde und gegenwärtig kein oder ein gemindertes Erwerbseinkommen bezogen wird. In dieser Hinsicht sind die Bedingungen in den verschiedenen Sicherungsinstitutionen unterschiedlich. In der Unfallversicherung hängt der Leistungsanspruch nicht davon ab, ob eine Einkommensminderung vorliegt. Die Verletztenrente steht auch dann zu, wenn
keine
Einkommensminderung
Entschädigungsfunktion
der
vorliegt.
Leistung.
Dies
entspricht
Allerdings
der diese
wird
Entschädigungsfunktion bei höherem Behinderungsgrad faktisch verdrängt; kann eine Erwerbstätigkeit nicht mehr ausgeübt werden,
so
hat
die
Verletztenrente allein Einkommensersatzfunktion. 144.
In der sozialen Entschädigung sind die Funktionen getrennt. Neben
der Grundrente mit Entschädigungsfunktion wird eine Ausgleichsrente mit Einkommensersatzfunktion gezahlt; sie steht zu, wenn Schwerbeschädigte eine
Kapitel 2: Leistungsauslösende
Tatbestände
57
ihnen zumutbare Erwerbstätigkeit nicht oder nur in beschränktem Umfange oder nur mit überdurchschnittlichem Kräfteaufwand ausüben können. Auf die Ausgleichsrente angerechnet.
wird
Einkommen
oberhalb
bestimmter
Ferner steht ein Berufsschadensausgleich
Schädigungsfolgen ein Einkommensverlust eingetreten ist. 145.
Die
Definition
der
Berufs-
und
Freigrenzen
zu,
wenn
als
33
Erwerbsunfähigkeit
in
der
Rentenversicherung hebt allein auf die Fähigkeit ab, ein Erwerbseinkommen zu verdienen; sie läßt außer Betracht, ob vorher oder gegenwärtig ein Einkommen bezogen
wurde.
Allerdings
begründet
ein
gegenwärtiges
Einkommen die Vermutung, daß die Erwerbsfähigkeit diesem Einkommen entspricht und hat Einfluß auf die Höhe der Rente. 146.
Ein Abgehen von der
Beurteilung
allein der
Fähigkeit
zum
Einkommenserwerb wurde 1984 eingeführt. Seither ist der Rentenanspruch zusätzlich davon abhängig, daß zuletzt vor Eintritt der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit
(3
Jahre
innerhalb
von
5
Jahren)
eine
versicherungspflichtige Tätigkeit ausgeübt worden ist. Damit sind früher oder zuletzt freiwillig
Versicherte,
wie insbesondere
nicht erwerbstätige
Ehepartner, Selbständige und Beamte von dem Anspruch ausgeschlossen. Es handelt
sich
Rentenzugängen
dabei
um
wegen
beträchtliche
Invalidität
der
Größenordnungen:
Von
Bundesversicherungsanstalt
den für
Angestellte der Jahre 1979/80 hatten während der letzten 3 Jahre mehr als die Hälfte keinen Pflichtbeitrag entrichtet. Die Neuerung war in erster Linie durch Einsparungsabsichten motiviert. Sie ist kaum kritisiert worden, weil die Verweisbarkeit Erwerbstätiger und deren Abhängigkeit vom Vorhandensein geeigneter Arbeitsplätze im Hinblick auf Personen, die längere Zeit nicht pflichtversichert waren, des Sinnes entbehrt; hinzu kommt, daß in diesen Fällen kein weggefallenes Einkommen zu ersetzen ist.
58
Kapitel 2: Leistungsauslösende Tatbestände
147.
Die Tatsachen, daß
- Stufungen des (abstrakten) Invaliditätsbegriffs sich als nicht operationabel erwiesen haben, - die Verweisbarkeit von Arbeitsangelegenheiten abhängig ist, und - ein Arbeitsplatzwechsel grundsätzlich zugemutet wird, legen
eine
weitere
Konkretisierung
der
Voraussetzungen
für
Ein-
kommensersatzleistungen nahe. In vielen Ländern (darunter Kanada, USA, Großbritannien) besteht ein Anspruch nur, wenn eine versicherungspflichtige Tätigkeit nicht mehr ausgeübt wird. Eine solche Voraussetzung der Aufgabe der Tätigkeit erhöht abermals den Zwang zu einer Alles-oder-Nichts-Entscheidung. Sie werden den Situationen nicht gerecht, in denen tatsächlich eine andere als die bisherige Tätigkeit bei erheblicher Einkommensminderung ausgeübt wird, oder in denen ein Arbeitsplatzwechsel zwar aus gesundheitlichen Gründen zumutbar, die damit verbundene Einkommensminderung jedoch nicht zumutbar ist. In diesen Fällen würde kein Einkommensersatz nötig, sondern Einkommensergänzung ausreichend sein. 148.
Aus solchen Erwägungen heraus ist vorgeschlagen worden, "an die
Stelle der Berufsunfähigkeitsrente ... eine nach Einkommensausfall wegen Krankheit abgestufte Lohn- und Gehaltsausgleichsrente treten zu lassen."34 Bei der Verwirklichung dieses Vorschlages wäre im Falle der Erwerbsbehinderung zu entscheiden, welche Einkommensminderung zugemutet werden soll. Die gegenwärtige Rechtslage - wie wenig praktische Bedeutung sie auch haben mag (TZ 135) -, nach der ein Einkommensrückgang um 50 v.H. zugemutet werden kann, erscheint zu weitgehend. Besser angemessen für die Auslösung einer Einkommensergänzung erscheinen 30 v.H. Im Rahmen einer solchen Konzeption läge Invalidität vor, wenn a) eine Erwerbsbehinderung medizinisch festgestellt
ist
und
b)
nach
Wechsel
des
Einkommensminderung um wenigstens 30 v.H. vorliegt. 149.
Arbeitsplatzes
eine
35
Die vorstehenen Darlegungen führen zu folgendem Vorschlag für die
Definition der Erwerbsbehinderung, der Verweisbarkeitsgrenzen und der Zumutbarkeitvon Einkommensminderung:
Kapitel 2: Leistungsauslösende Tatbestände
59
Erwerbsbehinderung liegt vor wenn der Behinderte a) die üblichen Leistungsanforderungen seiner bisherigen Tätigkeit nicht mehr erfüllen kann, und b) nicht auf einen anderen Arbeitsplatz innerhalb des gleichen Betriebes bei einer Enkommensminderung um höchstens 15 v.H. wechseln kann, und c) ihm kein anderer Arbeitsplatz außerhalb des bisherigen Betriebes bei einer Einkommensminderung um höchstens 10 v.H. angeboten werden kann. Die Verweisung auf eine Arbeitsplatz außerhalb des bisherigen Betriebes ist ausgeschlossen, wenn der Behinderte a) das 60. Lebensjahr vollendet hat oder b) seit 25 Jahren seinem Betrieb angehört hat oder c) seine gegenwärtige Tätigkeit seit 20 Jahren ausgeübt hat. Übt
der
Erwerbsbehinderte
nach
Wechsel
des
Arbeitsplatzes
eine
Erwerbstätigkeit aus, so besteht Anspruch auf Erwerbsunfähigkeitsrente, wenn eine Einkommensminderung um wenigstens 30 v.H. vorliegt.
c)
Pflegebedürftigkeit
150.
Pflegebedürftigkeit ist die geminderte Fähigkeit zur Selbstbetreuung.
Sie ist der höchste Grad der Invalidität, weil nicht nur eine Organschädigung und eine Einschränkung von Funktionen, sondern auch
eine soziale
Beeinträchtigung vorliegt. Der Pflegebedürftige ist auf die regelmäßige Hilfe anderer Menschen angewiesen. Der Zustand Pflegebedürftigkeit ist hinsichtlich der zeitlichen Dimension und des Schweregrades innerhalb gewisser Grenzen malleabel (TZ 84). Bei gegebenem medizinischen Befund entscheiden innerhalb gewisser Grenzen auch subjektive Faktoren wie Veriialten und Willensimpuls des Menschen darüber, ob er sich pflegebedürftig fühlt. Zum Beispiel: Die Fähigkeit zur Verrichtung hauswirtschaftlicher Tätigkeiten hängt nicht nur von
60
Kapitel 2: Leistungsauslösende
Tatbestände
Art und Grad der Behinderung, sondern auch von Gewöhnung, Training und Willenskraft des Betroffenen ab. 151.
Die wegen Pflegebedürftigkeit zustehenden Sozialleistungen dienen der
Deckung eines zusätzlichen Bedarfs. Pflegeleistungen sind entweder die volle oder teilweise Übernahme der durch die Pflege bedingten zusätzlichen Kosten oder eine pauschalierte Geldleistung. Solche Bedarfsdeckungsleistungen sind: Die häusliche Pflegehilfe sowie die Übernahme stationärer Pflegekosten nach dem SGB XI, die Pflegekostenerstattung der Beamtenversorgung (nach Dienstunfall), die Pflege oder das Pflegegeld der Unfallversicherung, die Pflegezulage der sozialen Entschädigung und die häusliche Krankenhilfe der Krankenversicherung; außerdem leistet die Sozialhilfe unter der Voraussetzung unzureichenden Einkommens Hilfe zur Pflege. 152.
Voraussetzung für die Übernahme der Pflegekosten für Unfallopfer
ist, daß der Verletzte so hilflos ist, daß er nicht ohne fremde Wartung und Pflege auskommen kann. Nach dem sozialen Entschädigungsrecht steht eine Pflegezulage zu, wenn der Geschädigte so hilflos ist, daß er für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfange fremder Hilfe dauernd bedarf. In der Sozialhilfe werden nach dem Zeitaufwand der erforderlichen Fremdhilfe drei Stufen der Pflegebedürftigkeit normiert: - wenn Personen nicht ohne Wartung und Pflege bleiben können, - wenn sie in erheblichem Umfange der Wartung und Pflege dauernd bedürfen, - wenn der Zustand außergewöhnliche Pflege erfordert.36
153.
Die
Anzahl
der
durch
Dienst-
oder
Arbeitsunfall
und
Aufopferungstatbestand bedingten Fälle von Pflegebedürftigkeit ist begrenzt. Für die große Mehrzahl der Bevölkerung war Pflegebedürftigkeit bis 1994 nicht als Tatbestand normiert. Man verließ sich bis zur späten Normierung darauf, daß die Pflegeleistungen innerhalb der Familie erbracht werden. Infolgedessen war Pflegebedürftigkeit ein Schicksal nicht nur für den Pflegebedürftigen, sondern auch für die pflegenden Angehörigen. Dies sind in erster Linie
Kapitel 2: Leistungsauslösende
Tatbestände
61
Ehegatten, vor allem Töchter und Schwiegertöchter, d.h. Frauen im mittleren Alter, die nach einer Periode der Kindererziehung in eine Periode der Altenpflege eintreten. Pflege bedeutet zusätzliche Arbeit, psychische Belastung, vor allem auch zeitliche Bindung bis hin zur Aufgabe oder Hinderung an der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit. 154.
Sind Angehörige nicht vorhanden oder zur Pflege nicht willens oder in
der Lage, so ist Pflege in einem Heim erforderlich. Die Kosten einer Heimpflege übersteigen in vielen Fällen die Altersrente des Gepflegten auch dann, wenn diese auf langer Versicherungsdauer und normalem Einkommen beruht.
Mehr als zwei
Drittel
der
stationär
Gepflegten
waren
vor
Verabschiedung des Pflege-Versicherungsgesetztes auf Sozialhilfe angewiesen. Die Sicherungslücke bestand darin, daß Personen, die während ihres Erwerbslebens ausreichendes Einkommen, danach ausreichende Alterseinkünfte hatten, am Ende ihres Lebens in großer Zahl bedürftig wurden. Es gab ein erhebliches Potential pflegebedingter Armut, das nach Verabschiedung des Gesetzes zwar deutlich geringer, keineswegs aber ganz beseitigt ist. 155.
Die Sicherungslücke hatte weiter zur Folge, daß Pflegebedürftige
mangels häuslicher Pflegemöglichkeit oft in ein Krankenhaus eingewiesen wurden und dort länger verweilten, als die Behandlung der Krankheit erfordert hätte. Je mehr mit zunehmender Zeit die Behandlungsbedürftigkeit gegenüber der Pflegebedürftigkeit zurücktritt, um so mehr steht der Arzt vor der Entscheidung, den Krankenhausaufenthalt zu verlängern
oder
dem
Patienten zu bestätigen, daß sein Gesundheitszustand nicht mehr verbessert werden kann und ihn zu veranlassen, sich in ein Pflegeheim zu begeben, dessen Kosten er selbst zu tragen hat. Wenn und soweit eine solche Entscheidung verzögert wird, ist der Tatbestand Pflegebedürftigkeit statistisch im Tatbestand Krankheit enthalten. Dieser Effekt wird durch das Pflegeversicherungsgesetz gemildert,
doch
ebenfalls
nicht
vollständig
beseitigt,
weil
die
Pflegeversicherung die Kosten für Unterkunft und Verpflegung in der Pflegeeinrichtung nicht übernimmt 156.
Das am 01.04.1995 in Kraft getretene Pflege-Versicherungsgesetz
(SGB XI) definiert als pflegebedürftig Personen, die wegen einer Krankheit
62
Kapitel 2: Leistungsauslösende
Tatbestände
oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Maße der Hilfe bedürfen. 37 zuzuordnen:
Pflegebedürftige Personen Erheblich
sind
Pflegebedürftige,
einer
von
3
Pflegestufen
Schwerpflegebedürftige
und
Schwerstpflegebedürftige. 157.
Die Prüfung der Voraussetzungen für Pflegeleistungen und die
Feststellung der in Betracht kommenden Pflegehilfe erfolgt seitens der Pflegekassen durch den medizinischen Dienst der Krankenversicherung.
d)
Invaliditätshäufigkeit
158.
Es gab in der Bundesrepublik Deutschland Ende 1988 5,1 Mio.
Personen,
die
nach
den
Kriterien
des
Schwerbehindertengesetzes
(Behinderungsgrad 50 v.H. und mehr) behindert waren; das entsprach 8 v.H. der Bevölkerung. Zwei Drittel der Behinderten waren älter als 55 Jahre. In der
genannten
Zahl
sind
Bundesversorgungsgesetzes
die
enthalten;
Beschädigten die
Mehrzahl
im dieser
Sinne
des
Fälle
sind
Beschädigte des Zweiten Weltkrieges, deren Zahl kontinuierlich zurückgeht. 159.
Ferner enthält die Gesamtzahl die durch Arbeitsunfall Behinderten. Die
Zahl der erstmals entschädigten Arbeitsunfälle je 1.000 Vollarbeiter (ohne Wegeunfälle und Berufskrankheiten) ist seit 1950 kontinuierlich auf weniger als die Hälfte gesunken: die Zahl der tödlichen Unfälle sank sogar auf ein Fünftel. 38 Diese Feststellungen gelten nicht für die Berufskrankheiten und Wegeunfälle, doch ist hier ein zeitlicher Vergleich wegen der Zunahme der anerkannten Berufskrankheiten und der Verkehrsdichte nicht möglich. Die Bedeutung der Wegeunfälle zeigt sich darin, daß von den gesamten tödlichen Arbeitsunfällen rund ein Drittel auf Wegeunfälle entfallen. 160.
Die
durch
Arbeitsunfälle
Sicherheitsmaßnahmen
beim
bedingte
Invalidität
Produktionsvorgang
und
hängt vom
von
den
sicherheits-
relevanten Verhalten der arbeitenden Menschen ab. Im Produktionsbereich wirkt sich die Einführung weniger risikoreicher Technologie sowie die zunehmende
Kapitel 2: Leistungsauslösende
Zahl der Beschäftigten in relativ
risikoarmen
Tatbestände
Wirtschaftszweigen
63 aus.
(Verwaltung, Dienstleistungen). Nach empirischen Untersuchungen wirken neben technischen Gegebenheiten der Arbeitsumwelt folgende Faktoren erhöhend auf die Unfallhäufigkeit
ein: lange Arbeitszeit, Zeitdruck,
Neurotizismus, Extraversion, Unzufriedenheit 161. Der Anteil der Arbeitsunfälle an der Gesamtzahl der tödlichen Unfälle beträgt etwa lOv.H., weit höhere Anteile haben häusliche Unfälle (ca. 30 v.H.) und Straßenverkehrsunfälle (Uber 40 v. H.). 162. Unter Invaliditätshäufigkeit im engeren Sinne versteht man die Häufigkeit des Rentenzugangs wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit. Dieser Zugang muß für Vergleichszwecke in eine sinnvolle Relation zu Bezugsgrößen gesetzt werden. Weder das durchschnittliche Zugangsalter der Rentenbezieher noch der Anteil der Invaliditätsrenten am gesamten Rentenbestand liefern einen verläßlichen Altersstruktur
Maßstab,
weil
verzerrend
verschiedene
wirken.
Um
Faktoren, den
insbesondere
Einfluß
dieser
die
Faktoren
auszuschalten, vergleicht man den Invaliditätsrentenzugang aus Versicherten einer Altersgruppe. Dabei zeigen sich im Zeitablauf und im Querschnitt erhebliche Variationen der Invaliditätshäufigkeit. Allgemein ist sie bei Arbeitern höher als bei Angestellten. 163.
Die Invaliditätshäufigkeit steigt unter sonst gleichen Verhältnissen mit
zunehmendem Alter. Sie ist in der Altersgruppe 60 - 64 Jahre zehnmal höher als
in
der
Altersgruppe
40
-
44
Jahre.
Diese
Schichtung
des
Invaliditätsrentenzugangs nach dem Alter ist unabhängig vom Niveau der Invaliditätshäufigkeit.39 164. Dieses Niveau, d.h. die Invaliditätshäufigkeit Uber alle Altersgruppen hinweg, schwankt im Zeitablauf um bis zu 100%. Der vorherrschende und allein
nachweisbare
Invaliditätshäufigkeit
Bestimmungsgrund ist
die
für
die
Beschäftigungslage.
40
Schwankungen
der
Der
der
Einfluß
Beschäftigungslage auf die Invaliditätshäufigkeit erklärt sich vor allem dadurch, daß bei Arbeitskräftemangel auch solche Personen einen Arbeitsplatz finden oder behalten, deren Erwerbsfähigkeit bereits teilweise gemindert ist. Die Betriebe sind bei geringem Angebot an Arbeitskräften eher bereit, solche
64
Kapitel 2: Leistungsauslösende
Tatbestände
Personen einzustellen, zu behalten und sich hinsichtlich der Arbeitsplatzgestaltung auf deren besondere Bedürfnisse einzustellen. Umgekehrt neigt man in Zeiten größerer Arbeitslosigkeit dazu, in erster Linie ältere Arbeitskräfte zu entlassen. Dabei spielen nicht nur Rentabilitätsgesichtspunkte eine Rolle, sondern auch die Erwägung, daß solche Personen wahrscheinlich mit Erfolg eine Rente beantragen können. Die Versicherten selbst sind ebenfalls in Zeiten ungünstiger Beschäftigungslage eher geneigt, einen Rentenantrag zu stellen. Hinzu kommt, daß in einer solchen Situation die Verweisungsmöglichkeit auf andere Tätigkeiten (TZ 138) nicht besteht. Die Untersuchungen Uber die Invaliditätshäufigkeit zeigen, daß die wirksamste
Maßnahme gegen
die
vorzeitige Invalidität die Herbeiführung und Erhaltung der Vollbeschäftigung im allgemeinen sowie die Beschäftigung älterer und/oder leistungsgeminderter Personen an Arbeitsplätzen mit geringeren Anforderungen im besonderen ist. Allerdings ist auch bei Vollbeschäftigung stets mit einer "Mindestinvalidität" zu rechnen. 165.
Ursächlich dafür ist, daß alle Menschen mit zunehmendem Alter
biologischen Abnutzungs- und Verbrauchserscheinungen unterliegen. Intensität der Alterungserscheinungen
Die
streut - wie alle menschlichen
Eigenschaften - zwischen den Mitgliedern einer Altersgruppe nach
der
Gauß'schen Zufallskurve um einen Mittelwert. Aus dieser Sicht ist Invalidität eine altersspezifisch überdurchschnittliche Alterungserscheinung. Dessen hat man sich bewußt zu sein, wenn man die Möglichkeiten und Erfolgsaussichten der Invaliditätsbekämpfung beurteilen will. Da Invalidität im wesentlichen eine Alterungserscheinung ist, kann ihr mit verbesserten medizinischen Maßnahmen nur begrenzt begegnet werden. Invaliditätshäufigkeit sind
Ansatzpunkte für eine Minderung
insbesondere
frühzeitiges
der
gesundheitsbewußtes
Verhalten, gesunde Arbeitsbedingungen, mehr Freizeit und Urlaub (und deren gesundheitsfördernde Verwendung), Ermöglichung von Teilzeit-Arbeit. Die Gewährung von Kuren - auch wenn diese nicht "Heilmaßnahmen" - im engeren Sinne sind - ist in dieser Sicht sinnvoll. 166.
Unter sonst gleichen Verhältnissen wirken auch soziale Faktoren auf
die Invaliditätshäufigkeit ein. Eine empirische Untersuchung einer Gruppe neu
Kapitel 2: Leistungsauslösende
Tatbestände
65
zugegangener Invaliditätsrentner zeigte, daß diese im Vergleich zu einer gleich großen Gruppe Versicherter folgende Merkmale aufwies:41 - Mindere Ausbildungsqualität, - häufigere Überbelastung oder Unterauslastung durch Arbeit, - häufiger Arbeitsplatz- und Tätigkeitswechsel, - häufiger arbeitslos, - größere Angst vor Arbeitslosigkeit, - geringere Arbeitszufriedenheit, - niedrigeres Einkommen, - schlechtere Wohnverhältnisse, - höherer Anteil alleinlebender Personen, - höherer Anteil von Personen, die mehr als 3 Kinder erziehen. 167. Die Zahl der Pflegebedürftigten betrug Ende 1996 1,6 Mio. oder
2 v.H.
der Bevölkerung. Davon wurden 400.000 stationär in Pflegeheimen, die übrigen in der Familie versorgt. Die Pflegebedürftigkeit ist noch stärker altersabhängig als Krankheit und Erwerbsbehinderung. Von der gleichaltrigen Wohnbevölkerung sind pflegebedürftig bis zum 60 Lebensjahr
0,5 v.H.
vom 60. - 80. Lebensjahr
5,0 v.H.
nach dem 80. Lebensjahr
20 v. H. 4 2
IV. Alter a) Allgemeine Altersgrenze 168.
Der Anstieg von Krankheit, Invalidität und Pflegebedürftigkeit mit
zunehmendem Lebensalter (TZ 97, 163, 167) belegen einen grundlegenden Sachverhalt
menschlichen
(und
allen)
Lebens:
Gemessen
an
der
Leistungsfähigkeit des mittleren Lebensalters ist zunehmendes Alter mit fortschreitenden Einschränkungen der Funktions- und Leistungsfähigkeit
66
Kapitel 2: Leistungsauslösende
Tatbestände
verbunden. Mit zunehmendem Alter vermindern sich Aufnahmefähigkeit (Gesicht, Gehör, Geschmack, sexuelle Sensibilität), Anpassungsfähigkeit, Kraft und Ausdauer kontinuierlich, wenn auch subjektiv oft in "Schüben" wahrgenommen.
Der Zeitpunkt
des
Eintritts
von
Alterserscheinungen
bestimmter Intensität ist im wesentlichen biologisch bedingt und daher individuell verschieden: Die zahlreich empfohlenen Methoden zur Vermeidung oder
Linderung
von
Alterserscheinungen
können
allenfalls
zeitliche
Verzögerungen bewirken; sie heben das Kontinuum des Alterungsprozesses nicht auf. Die Physiologie gibt keine Anhaltspunkte dafür, wo innerhalb dieses Kontinuums der Zeitpunkt festzulegen wäre, ab dem Arbeit bestimmter Art und Zeitdauer
von
einem
Menschen
nicht
mehr
geleistet
werden
kann.
Erfahrungsgemäß ist im Durchschnitt die Leistungsfähigkeit im Alter 60 bis 65 Jahre gegenüber derjenigen im mittleren Lebensalter um ein Viertel bis ein Drittel herabgesetzt. Soziale Sicherung knüpft an die Tatsache an, daß der Mensch in fortgeschrittenem Alter nur noch bedingt arbeitsfähig ist und will durch die Bereitstellung von Einkommensersatzleistungen ein Recht auf NichtArbeit in fortgeschrittenem Alter realisieren. 169.
Bei
Einführung
der
Rentenversicherung
sah
diese
eine
Invalidenrente vor und bestimmte nur ergänzend: "Altersrente erhält, ohne daß es des Nachweises der Erwerbsunfähigkeit bedarf, deijenige Versicherte, welcher das 70. Lebensjahr vollendet hat. 43 Dies entsprach der Erfahrung, daß in diesem Alter die meisten Menschen erwerbsbehindert sind, und der Meinung, daß ihnen weitere Arbeit nicht zugemutet werden solle. Im Jahr 1904 - 13 Jahre nach Einführung der Rentenversicherung - waren 93 v.H. des Zuganges und 81 v.H. des Bestandes Renten wegen Invalidität; die Rente wegen Erreichens der Altersgrenze war für lange Zeit die Ausnahmeerscheinung. Bei Einführung der Angestelltenversicherung im Jahre 1914 wurde für diesen Personenkreis die Altersgrenze 65 festgelegt; diese Grenze gilt seit 1916 auch für Arbeiter. Sie ist noch heute die allgemeine Altersgrenze, neben der allerdings besondere Altersgrenzen eingeführt wurden. Mit Vollendung des 65. Lebensjahres werden die bereits vorher laufenden Renten wegen Erwerbsbehinderung in Altersrenten umgewandelt.
Kapitel 2: Leistungsauslösende Tatbestände
170.
67
Seit Einführung der Rentenversicherung hat sich der Anteil der
Menschen im Alter 65 und darüber (Altersquote) mehr als verdreifacht. Der Anteil der Uber 80-jährigen ist sogar auf das zwölffache gestiegen. Nach Bevölkerungsvorausberechnungen wird die Altersquote auch künftig weiter ansteigen. Die Altersquote hat bei gegebener Altersgrenze und gegebener Ausscheidefrequenz aus dem Erwerbsleben großen Einfluß auf die Ausgaben der Alterssicherung; umgekehrt ist die Altersgrenze Variable im Hinblick auf die Kosten der Alterssicherung. 171.
Ursächlich für den Anstieg der Altersquote ist erstens ein rückläufiger
Anteil Jugendlicher an der Bevölkerung und zweitens
eine steigende
Lebenserwartung. Die Erhöhung der durchschnittlichen Lebenserwartung beruhte im vorigen Jahrhundert vor allem auf den neuen Möglichkeiten zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten. In diesem Jahrhundert sind nicht so sehr medizinische Fortschritte ursächlich, sondern Verbesserungen in Bezug auf Ernährung, Hygiene, Arbeitssicherheit, Arbeitszeit und Bildung. 172.
Um die wegen der künftig steigenden Altersquote zunehmende
finanzielle Belastung zu mindern, ist eine Erhöhung der Altersgrenze in Aussicht genommen.
Die finanzielle Entlastungswirkung
einer solchen
Maßnahme hängt stark von der jeweiligen Arbeitsmarktlage ab. Nur bei Vollbeschäftigung ist eine beträchtliche Entlastung zu erwarten. Bei höherer Arbeitslosenquote würde eine Heraufsetzung der Altersgrenze die Zahl der Arbeitslosen zusätzlich erhöhen; der Einsparung bei der Alterssicherung stünden Mehrausgaben bei der Arbeitslosensicherung gegenüber. Hinzu kommt, daß wegen der Abhängigkeit der Invaliditätshäufigkeit von Lebensalter und Arbeitsmarktsituation (TZ 163, 164) eine Heraufsetzung der Altersgrenze nur teilweise eine finanzielle Entlastung bewirkt 173.
Hinzu kommt eine nicht-monetäre Problematik: Insbesondere bei
hoher Jugendarbeitslosigkeit ist eine Heraufsetzung der Altersgrenze nicht zu vertreten, weil damit die Öffnung von Arbeitsplätzen für Jugendliche limitiert wird. Zwar sind die Kosten eines Altersrentners etwa doppelt so hoch wie die Kosten eines Arbeitssuchenden, weil nicht alle durch ältere Personen frei werdenden Arbeitsplätze wieder besetzt werden und nicht alle Arbeitssuchenden
68
Kapitel 2: Leistungsauslösende
Tatbestände
leistungsberechtigt sind (jeweils nur etwa zwei Drittel). Die Mehrkosten sind jedoch
abzuwägen
gegen
die
nicht-materiellen
Schäden
einer
Jugendarbeitslosigkeit (Frustration, Verdrossenheit). 174.
Finanziell oder arbeitsmarktpolitisch motiviert sind Regelungen, die
einen Anreiz zur Weiterarbeit nach Erreichen der Altersgrenze geben. Man erstrebt dies durch einen Zuschlag zur Rente, der für Zeiten nach Überschreiten der Altersgrenze höher als für andere Zeiten ist. Derartige Regelungen gibt es in Deutschland und vielen anderen Ländern (z.B. Frankreich, Großbritannien, USA, Schweden). Die Erfahrungen zeigen eine geringe Neigung alter Menschen, auf solche Anreize zu reagieren. 175.
Diese Erfahrungen sprechen gegen die These von der Abwertung des
Menschen
durch
Ausscheiden
aus
dem
Arbeitsprozeß.
Mit
dieser
Abwertungsthese wird gegen eine weitere Herabsetzung der Altersgrenze oder für eine Heraufsetzung argumentiert,
weil
die Altersgrenze zur
"Zwangspensionierung" führe, die psychologisch für die Betroffenen schädlich sei.
"Eine Vorverlegung der Altersgrenze bedeutet, den
Menschen...
abzuwerten, ihn in die "Randgruppe" der Gesellschaft einzureihen. ...für eine Vielzahl älterer Menschen würde nur eine Heraufsetzung der Altersgrenze zur Verbesserung
der
Wohlbefinden
Lebensqualität
fuhren...
Für
beitragen diese
und
Gruppe
zu
einem
würde
größeren
eine
frühe
Zwangspensionierung Siechtum oder gar eine spezifische Form der Euthanasie bedeuten.44 Dies mag für eine Minderheit - vor allem für Inhaber von Machtund Prestigepositionen - zutreffen. Für die große Mehrheit der Arbeitnehmer trifft sie nicht zu, weil diese vor Erreichen der Altersgrenze in großer Zahl invalide wird, von Möglichkeiten der Weiterarbeit über die Altersgrenze hinaus kaum, jedoch von Möglichkeiten eines früheren Rentenbezuges zahlreich Gebrauch macht. 176.
Der Zweck einer Sozialleistung wegen Alters liegt darin, ausgefallenes
Einkommen zu ersetzen. Dementsprechend ist in einer Reihe von Landern (z.B. China, Großbritannien, Japan, USA) Voraussetzung für eine Altersrente außer dem Erreichen der Altersgrenze auch die Aufgabe der Erwerbstätigkeit. In manchen Ländern entfällt diese Voraussetzung bei höherem Lebensalter (z.B.
Kapitel 2: Leistungsauslösende
Tatbestände
69
Großbritannien 70 Jahre). In Deutschland ist die Aufgabe der Erwerbstätigkeit nicht Voraussetzung für die ("normale") Rente wegen Alters. In der ganz überwiegenden Mehrzahl der Fälle wird die Erwerbstätigkeit bei Erreichen der Altersgrenze aufgegeben, weil dies der Wunsch der Betroffenen ist, oder weil entsprechende arbeitsrechtliche Vereinbarungen bestehen. Allerdings wird die Aufgabe oder Einschränkung der Erwerbstätigkeit im Zusammenhang mit besonderen Altersgrenzen zur Bedingung gemacht. 177.
Eine Ausnahme hinsichtlich der allgemeinen Altersgrenze besteht in der
1957 eingeführten Alterssicherung
der
Landwirte.
Landwirtschaftliche
Unternehmer erhalten Altersrente, wenn sie das 65. Lebensjahr vollendet und ihr Unternehmen abgegeben haben. Als Abgabe gilt eine Übergabe
(im
Normalfall an Kinder) oder ein sonstiger Verlust der Unternehmereigenschaft; im Falle der Verpachtung ist eine Mindestdauer von 9 Jahren erforderlich.45 Motiv für die Zusatzbedingung der Hofabgabe ist eine Förderung des Strukturwandels in der Landwirtschaft
b) Besondere Altersgrenzen 178. Neben der allgemeinen gibt es besondere, niedrigere Altersgrenzen für bestimmte Personengruppen oder bei Erfüllung zusätzlicher Voraussetzungen. Diese Voraussetzungen beziehen sich auf die vergangene Tätigkeit des Berechtigten, auf
die gegenwärtigen
Leistungsanforderungen
oder
die
Zumutbarkeit weiterer Tätigkeit. 179. Für Frauen gilt (seit 1957) die Altersgrenze 60 unter der zusätzlichen Bedingung, daß sie nach Vollendung des 40. Lebensjahres mehr als 10 Jahre Pflichtbeitragszeiten und eine Wartezeit von 15 Jahren erfüllt haben. Auch in zahlreichen anderen Ländern ist die Altersgrenze für Frauen - meistens um 5 Jahre - niedriger als für Männer. Als Begründungen für eine geringere Altersgrenze für Frauen werden angeführt a) die geringere physische Belastbarkeit der Frau b) die Doppelbelastung verheirateter Frauen durch
70
Kapitel 2: Leistungsauslösende
berufliche
und
häusliche
Tatbestände
Arbeit
Rentenanwartschaften der Frauen
und
c)
die
Tatsache,
daß
keine Hinterbliebenenrenten
aus
abgeleitet
werden. Der letzte Grund ist seit 1986 entfallen. Die beiden ersten Gründe verlieren durch zunehmende Technisierung sowohl der Arbeitswelt als auch der Haushalte an Gewicht. Die geringere Altersgrenze ist eine Begünstigung der Frauen, weil diese im Alter 60 eine um 4 Jahre längere Lebenserwartung als gleichaltrige Männer haben.
Im Interesse einer Gleichbehandlung
der
Geschlechter wird dafür plädiert, geschlechtsspezifische Unterschiede der Altersgrenze zu beseitigen,46 wie dies in Deutschland mit der Rentenreform 1992 für die Zukunft beschlossen wurde. 180.
Die Tatsache, daß ältere
Arbeitslose schwer wieder in Arbeit zu
vermitteln sind, ist Motiv für eine besondere Altersgrenze im Falle der Arbeitslosigkeit. Rente wegen Alters erhalten 60-jährige, wenn sie innerhalb der letzten eineinhalb Jahre 52 Wochen arbeitslos waren und in den letzten 10 Jahren 8 Jahre Pflichtbeitragszeiten haben. Diese Regelung gilt seit 1929 für Angestellte, seit 1957 auch für Arbeiter. Der Zugang solcher "ArbeitslosenRuhegelder" vervielfacht sich in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit. Auch diese besondere Altersgrenze wird in Zukunft stufenweise angehoben. 181.
Rente wegen Alters erhält - auch dies künftig wegfallend - ab 63.
Lebensjahr, wer eine lange Versicherungsdauer (Wartezeit von 35 Jahren) erfüllt hat. Von der Möglichkeit des früheren Rentenbeginns machen etwa zwei Drittel aller potentiell Berechtigten Gebrauch. Ähnliche Regelungen gibt es auch in anderen Ländern (z.B. Österreich, Dänemark, Frankreich, Belgien). In einigen Ländern wird bei Erfüllung bestimmter langer Versicherungszeiten auf eine
Altersgrenze
verzichtet
(z.B.
Brasilien,
Frankreich
nach
37,5
Versicherungsjahren). 182.
Schwerbehinderte, Berufsunfähige oder Erwerbsunfähige haben
Anspruch auf Altersrente bei Vollendung des 60. Lebensjahres, wenn sie die Wartezeit von 35 Jahren erfüllt haben. 183. Jahren.
Für Bergleute gilt die Altersgrenze 60 nach einer Wartezeit von 25
Kapitel 2: Leistungsauslösende
184.
Tatbestände
71
Beamte können auf eigenen Wunsch mit 63 Jahren Ruhegehalt
beanspruchen. Bei vorliegender Behinderung besteht der Anspruch mit 60 Jahren. Ferner gelten für bestimmte Beamtentätigkeiten im Hinblick auf besondere Leistungsanforderungen insbesondere an Konzentrationsfähigkeit, Reaktionsfähigkeit und Beweglichkeit besondere Altersgrenzen. Für Bedienstete der Bundeswehr, der Polizei, des Strafvollzuges und der Berufsfeuerwehr gilt allgemein die Altersgrenze 60. Für Berufssoldaten ist diese Grenze je nach Dienstgrad weiter herabgesetzt bis auf 53 Jahre; diese Grenze gilt auch für Beamte des Flugkontrolldienstes. Der Extremwert für die Altersgrenze von 41 Jahren gilt für Strahlflugzeugführer der Bundeswehr. 185.
Sonderregelungen
gelten
auch
für
Mandatsträger.
Ehemalige
Mitglieder des Deutschen Bundestages erhalten nach einer Mandatszeit von mindestens 6 Jahren eine Altersversorgung. Diese beginnt grundsätzlich mit dem 65. Lebensjahr, jedoch mit jedem Uber das 6. hinausgehende Mandatsjahr ein Jahr früher. Nach 16 Mandatsjahren beginnt die Zahlung (frühestens) mit Vollendung des 55. Lebensjahres. Ehemalige Minister und Parlamentarische Staatssekretäre erhalten nach 2 Amtsjahren ab dem 60., nach drei Amtsjahren ab dem 55. Lebensjahr Ruhegehalt. 47 186.
Beim Bezug einer Rente wegen Alters vor Vollendung des
65.
Lebensjahres gilt eine Hinzuverdienstgrenze. Die Leistungsberechtigung besteht nur, wenn das Einkommen aus einer Beschäftigung oder selbständiger Tätigkeit nicht höher als ein Siebentel des Durchschnittsverdienstes ist. 48 187.
Die besonderen Altersgrenzen in Verbindung mit der Rentenzahlung
wegen Erwerbsbehinderung haben zur Folge, daß nur eine Minderheit der Versicherten bei Erreichen der allgemeinen Altersgrenze von 65 Jahren aus dem Erwerbsleben ausscheidet,
während
die
Mehrzahl
in jüngeren
Jahren
Rentenbezieher wird. Durch die stufenweise Aufhebung der besonderen Altersgrenzen
bis
zum
Jahr
2014
wird
sich
das
durchschnittliche
Rentenzugangsalter der Grenze 65 Jahre deutlich annähern. 188.
Die besonderen Altersgrenzen haben sich im Prinzip bewährt. Sie haben
in den Jahren hoher Arbeitslosigkeit wesentlich und in humaner Weise dazu beigetragen, daß die Zahl der Arbeitslosen nicht noch höher lag. Allerdings ist
72
Kapitel 2: Leistungsauslösende
Tatbestände
zutreffend, daß die besonderen Altersgrenzen in Verbindung mit der konkreten Betrachtungsweise bei der Beurteilung der Erwerbsbehinderung (TZ 139) dazu geführt haben, daß die finanziellen Folgen der Arbeitslosigkeit nicht ursachengerecht
der
Arbeitslosenversicherung,
sondern
der
Rentenversicherung Ubertragen worden sind. Damit hängt zusammen, daß mit dem Rentenreformgesetz 1992 die stufenweise Anhebung der besonderen Altersgrenzen für Frauen, Arbeitslose und langjährig Versicherte beschlossen wurde. Oberstes Ziel dieser Reform war die finanzielle Konsolidierung der gesetzlichen Rentenversicherung; eine Maßnahme zur Erreichung dieses Ziels war die Beseitigung einiger der besonderen Altersgrenzen. Vom Jahre 2000 an werden die genannten
Altersgrenzen
stufenweise auf
die
allgemeine
Altersgrenze von 65 Jahren angehoben. Für Frauen und Arbeitslose wird die Altersgrenze 65 im Jahre 2004 und für langjährige Versicherte im Jahre 2001 erreicht. 189.
Wegen der ambivalenten arbeitsmarktpolitischen und finanziellen
Auswirkungen der Maßnahme hat der Gesetzgeber einen Prüfungsvorbehalt festgelegt.
Das
Gesetz
schreibt
vor,
daß
im
jährlichen
Rentenversicherungsbericht der Bundesregierung vom Jahr 1997 an auch darzustellen ist, wie sich die Anhebung der Altersgrenzen voraussichtlich auf die Arbeitsmarktlage, die Finanzlage der Rentenversicherung und andere öffentliche Haushalte auswirkt.49 190.
Die Tatbestände Alter, Invalidität und Arbeitslosigkeit sind ineinander
verzahnt. Diese Verzahnung und die Differenzierung der Kriterien für die Altersgrenze hat zu dem Vorschlag geführt, ein "integriertes Risiko" zu normieren. Danach würden Leistungen der Alterssicherung abhängen von den Grundbedingungen der Erreichung eines Mindestalters (etwa 55 Jahre) und einer Einkommensminderung sowie der Zusatzbedingung Invalidität oder Arbeitslosigkeit.50 Dieser Vorschlag wie auch die Differenzierung der besonderen Altersgrenzen zeigt, daß die rein demographisch definierte Altersquote (TZ 170) nicht ausreicht, um die Ausgaben der Alterssicherung abzuschätzen. Die ausgabenrelevante Altersquote hängt außer von
der
Besetzung der Alterskohorten auch von der Erwerbstätigkeitsquote in diesen
Kapitel 2: Leistungsauslösende Tatbestände
73
Kohorten ab. Entscheidend dabei ist die Erwerbsbeteiligung im Alter 55-65 Jahre.
c) Flexibilisierung 191.
In Zukunft (ab 2001)
sollen
Versicherte berechtigt sein,
den
Rentenbeginn flexibel zu gestalten. Sie können dann Altersrente bis zu drei Jahren vor der für sie maßgebenden Altersgrenze beziehen.
S1
Allerdings wird
die Rente für jedes Jahr des Vorziehens um 3,6 v.H. gemindert. Verzichtet der Versicherte nach Vollendung des 65. Lebensjahres auf den Bezug der Altersrente, so erhöht sich die Rente pro Jahr des Verzichts um 6 v.H. 192.
Der Abstufung des Übergangs
zwischen
Erwerbstätigkeit
und
Ruhestand dient die Möglichkeit, die Rente als Teilrente in Anspruch zu nehmen.
52
Teilrenten bei reduzierter Arbeitszeit können auch als Mittel zur
Erhöhung des Arbeitsangebots älterer Menschen angesehen werden, nämlich als Alternative zur Heraufsetzung der Altersgrenze oder als deren Flankierung.53 Praktische Bedeutung dürfte die Teilrente nur unter Bedingungen der Vollbeschäftigung erlangen.
V. Tod eines Angehörigen 193.
Erwerbstätige und Sozialleistungsempfänger unterhalten in den meisten
Fällen Angehörigen. Die Frage, ob und unter welchen Bedingungen diesen Angehörigen Sozialleistungen zustehen, wenn der Unterhaltsträger stirbt, wurde und wird sehr verschieden beantwortet. Die Antwort hängt davon ab, ob und unter welchen Bedingungen den hinterbliebenen Angehörigen Arbeit zugemutet werden soll. Als Hinterbliebene gelten überlebende Ehegatten (Witwe, Witwer) und Kinder (Waisen), daneben auch frühere Hiegatten und Eltern.
74
Kapitel 2: Leistungsauslösende
Tatbestände
a) Das Problem und seine Entwicklung 194.
Zur Zeit der Einführung der gesetzlichen Alterssicherung herrschte im
öffentlichen Bewußtsein das Familienleitbild der bürgerlichen Gesellschaft vor. Dieses Leitbild ging von der Hausfrauenehe aus. Der Mann wurde als Haupt und Ernährer der Familie gesehen, während die Frau im Haushalt zu wirken und ihren Unterhalt durch den Mann aus dessen Einkünften oder Vermögen zu erwarten hatte. Eine Erwerbstätigkeit der Ehefrau entsprach diesem Leitbild nicht. Zu den Pflichten des Mannes gehörte auch die Unterhaltssicherung der Ehefrau für den Fall seines Todes. In krassem Gegensatz zu diesem Leitbild stand die Tatsache, daß die neu geschaffene Alterssicherung nur dem Versicherten Ansprüche einräumte, nicht jedoch dem überlebenden Ehegatten. Dies konnte nicht prinzipiell, sondern nur unter Hinweis auf besondere Umstände begründet werden. Man verstand die Rente als einen Lohnersatz, der ebenso wie der Lohn selbst nach dem Tode des Versicherten nicht mehr zu gewähren sei, und ging davon aus, daß die Witwe des Arbeiters sich selbst ernähren könne und solle. Dies galt auch für den Fall, daß der Verstorbene bereits Rentenempfänger war. 195.
Erst bei Einführung der Alterssicherung für Angestellte im Jahre 1914
wurde dem Widerspruch zum bürgerlichen Leitbild Rechnung getragen. Wie bereits vorher in der Beamtenversorgung und in der Unfallversicherung wurde für Angestellte eine Hinterbliebenensicherung eingeführt. Entsprechend dem Leitbild wurde die Witwenrente nun als Unterhaltsersatz angesehen und aus der Versichertenrente abgeleitet. Der Rentenanspruch war an keine weiteren Bedingungen gebunden; die Witwen der Angestellten hatten einen unbedingten Rentenanspruch 196.
Dieses Ziel wurde für Arbeiterwitwen erst später und in mehreren
Stufen erreicht. Als im Jahre 1912 Arbeiterwitwen rentenberechtigt wurden, war Voraussetzung, daß die Witwe invalide war. Es wurde unterstellt, daß der Arbeiterwitwe eine Erwerbstätigkeit zuzumuten sei auch dann, wenn sie Kinder zu erziehen hatte und vorher nicht erwerbstätig gewesen war. Ab 1927 wurde auf den Invaliditätsnachweis bei vollendetem 65. Lebensjahr und ab 1949 bei vollendetem 45. Lebensjahr verzichtet. 1957 wurde auch für Arbeiterwitwen die
Kapitel 2: Leistungsauslösende Tatbestände
75
unbedingte Witwenrente eingeführt. Erst dann war auch für die Arbeiterwitwe verwirklicht, was dem Familienleitbild der bürgerlichen Gesellschaft zur Zeit der Einführung der Rentenversicherung zwei Generationen zuvor entsprochen hatte. 197.
Inzwischen hatte sich die soziale Wirklichkeit in mehrfacher Hinsicht
verändert. Infolgedessen setzte sich ein Anschauungswandel durch, der zu Modifikationen führte, die von dem alten Leitbild abwichen. Dies war die Rente an die geschiedene Ehefrau, die dem Umstand Rechnung trägt, daß nicht jede Ehe ein Bund fürs Leben ist, sowie die Witwerrente, die die Tatsache anerkennt, daß der Mann nicht in jedem Falle den Familienunterhalt sicherstellt. Frauen waren in zunehmendem Maße erwerbstätig. Die Entwicklung führte zu einer Ausprägung des Gedankens der Teilhabe der Ehegatten am Erwerb des anderen Ehegatten während der Ehe. Im Zivilrecht wurde anerkannt, daß das während der Ehe von einem Ehepartner erworbene Einkommen und Vermögen zur
Hälfte dem
anderen
Ehepartner
zusteht
(Zugewinngemeinschaft).
Entsprechend wurde auch das Steuerrecht gestaltet (Splitting-Verfahren). Gegenüber der sich durchsetzenden Anschauung über die Notwendigkeit einer Gleichbehandlung der Geschlechter ergab sich im Rentenrecht eine faktische Ungleichbehandlung. 198.
Im Gegensatz zur unbedingten Rente für Witwen erhielt der Witwer
eine Rente aus der Versicherung seiner verstorbenen Ehefrau nur dann, wenn diese vor ihrem Tode den Unterhalt der Familie überwiegend bestritten hatte. Diese Ungleichbehandlung hatte für den überlebenden Ehegatten im Falle des Todes des jeweils anderen Ehegatten unterschiedliche Auswirkungen auf die Einkommenssituation. Wenn beide Hiegatten allein von der Rente des Versicherten gelebt hatten, so ergab sich im Todesfall folgendes: Starb der Angehörige, so hatte dies für den überlebenden Versicherten keine Folge für die Rentenhöhe. Starb dagegen der Versicherte, so wurde die Rente des überlebenden Ehegatten auf 60 v.H. der bisherigen Bezüge reduziert. Hatten beide Ehepartner eine Rente aus eigener Versicherung, so erhielt - unter der Annahme, daß beide Renten gleich hoch waren - die Frau beim Todes des Mannes 80 v.H. des bisherigen Betrages, während der Mann auf 50 v.H. absank.
76
199. Zahl
Kapitel 2: Leistungsauslösende
Tatbestände
Die zunehmende Erwerbsquote der Frauen führt zu einer zunehmenden der
Fälle des
Zusammentreffens
von
Versichertenrente
und
Hinterbliebenenrente in einer Person. Gegenwärtig bezieht fast jede zweite Witwe neben ihrer Witwenrente auch eine eigene Versichertenrente. Da heute fast jedejunge Frau ins Erwerbsleben eintritt, ist voraussehbar, daß künftig die Witwe normalerweise neben ihrer Witwenrente auch eine Versichertenrente beziehen wird. 200.
Die Tatsache, daß Ehen geschieden werden, wurde vom Rentenrecht
lange ignoriert. Mit der Scheidung verloren die Ehepartner den Anspruch auf eine
abgeleitete
Rente.
Seit
1957
erhalten
frühere
Ehegatten
Hinterbliebenenrenten, wenn der Verstorbene Unterhalt geleistet hat oder zu leisten hatte. Die Voraussetzung der Unterhaltsleistung besteht seit 1976 nicht mehr. Ausgehend von der zivilrechtlichen Zugewinngemeinschaft wird im Falle der Ehescheidung ein Versorgungsausgleich vorgenommen.54 Mit dem Versorgungsausgleich werden alle während der Ehezeit von einem oder beiden Ehegatten erworbenen Anwartschaften auf Alters- oder Invaliditätsleistungen ausgeglichen. Für den geschiedenen Ehegatten, der ausgleichberechtigt ist, werden zu Lasten des anderen Ehegatten Anrechte übertragen oder begründet.ss Ein abgeleiteter Anspruch für den geschiedenen Ehegatten entfällt damit; er hat Ansprüche nur noch aus eigenem Recht und bei in seiner Person liegenden Tatbeständen. 201.
Eine Gleichbehandlung der Angehörigen verstorbener Versicherter
wurde 1986 eingeführt. Nach dem Tode des versicherten Ehepartners erhält der überlebende Partner eine Witwen- oder Witwerrente.56 Sie soll der erloschenen Unterhaltsverpflichtung des Verstorbenen Rechnung tragen. Im Hinblick auf die zahlreichen werdenden Fälle des Zusammentreffens mehrerer Rentenansprüche in einer Person und um die finanziellen Folgen der Gleichbehandlung in Grenzen zu halten, wird die Hinterbliebenenrente gekürzt, wenn sie mit eigenem Erwerbs- oder Erwerbsersatzeinkommen zusammentrifft. 202.
Diese
Kürzung
ist
für
eine
beitragsfinanzierte,
Versicherungsprinzip beruhende Leistung wesensfremd.
auf
dem
Sie wurde als
notwendig angesehen, weil daran festgehalten wird, daß allein der Tod eines
Kapitel 2: Leistungsauslösende
Tatbestände
77
Angehörigen Leistungen auslöst auch dann, wenn der oder die Berechtigte erwerbstätig ist. Auf die Anrechnung von Einkommen könnte verzichtet werden, wenn der Anspruch auf eine unbedingte Witwen(er)rente beseitigt würde,
d.h.
nur
unter
weiteren
Bedingungen
(Alter,
Invalidität,
Kindererziehung) bestünde. Es ist zunehmend schwerer einsichtig, daß der Tatbestand des
Verheiratet-Seins oder
-gewesen-Seins
für sich allein
leistungsauslösend ist.
b) Leistungsvoraussetzungen 203.
Eine unbedingte Witwenrente, bei der allein der Tod des Ehegatten
leistungsauslösend ist, gibt es nur in wenigen Ländern der Welt. Hierzu gehören neben der Bundesrepublik Deutschland die europäischen Länder Österreich,
Schweden,
Norwegen,
Irland
und
Italien
sowie
einige
lateinamerikanische Länder. In der Mehrzahl der Länder setzt der Anspruch auf Witwenrente die Erreichung eines bestimmten Lebensalters voraus.
Die
Altersgrenze reicht von 35 Jahren (z.B. Kanada) bis zu 60 (z.B. Japan, USA) oder gar 62 Jahren (Dänemark). 204.
Um Mißbrauch, d.h. Heirat mit dem Ziel eines baldigen Erwerbs eines
Rentenanspruchs zu vermeiden, wird in vielen Fällen auf den Zeitpunkt der Eheschließung oder die Ehedauer abgehoben. So schließt das deutsche Beamtenrecht (mit Ausnahmen) ein Witwengeld aus, wenn die Ehe weniger als 3 Monate gedauert hat oder die Ehe erst nach Eintritt des Beamten in den Ruhestand geschlossen wurde und der Beamte zu diesem Zeitpunkt das 65. Lebensjahr vollendet hatte. Femer wird das Witwengeld gekürzt, wenn die Witwe mehr als 20 Jahre jünger als der Verstorbene ist.57 In
der
Unfallversicherung und der sozialen Entschädigung hat die Witwe keinen Rentenanspruch, wenn die Ehe erst nach dem Arbeitsunfall oder der Schädigung geschlossen und der Tod innerhalb des ersten Ehejahres eingetreten ist. In Österreich besteht ein Witwenrentenanspruch nicht, wenn die Ehe nach Rentenbeginn geschlossen wurde, es sei denn, daß sie drei Jahre gedauert hat und der Altersunterschied der Ehegatten nicht mehr als 20 Jahre betragen hat. Eine Mindestehedauer als Voraussetzung für eine Witwenrente ist normiert z.B.
78
Kapitel 2: Leistungsauslösende
Tatbestände
in Luxemburg (1 Jahr), Schweiz, Schweden, Neuseeland (5 Jahre), Dänemark (10 Jahre); die Mindestdauer gilt in der Regel nicht, wenn ein Kind aus der Ehe hervorgegangen ist. 205.
Nach dem Tode eines Versicherten haben dessen Kinder Anspruch auf
Waisenrente. Dieser Anspruch wurde zusammen mit Witwenrenten in der Rentenversicherung
erstmals
1912
eingeführt.
Waisen
erhalten
Rente
uneingeschränkt bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres. Die Rente wird bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres gewährt, wenn die Waise invalide ist oder sich
in Ausbildung
befindet, es
sei
denn,
daß
Ausbildungsverhältnis eine bestimmte Höhe erreichen. 206.
Bezüge
aus
dem
58
In der Unfallversicherung haben Eltern eines durch Arbeitsunfall
Verstorbenen Anspruch auf Elternrente, wenn der Verstorbene diese aus seinem Arbeitsverdienst wesentlich unterhalten hat. Nach dem sozialen Entschädigungsrecht haben Eltern eines an den Folgen der Schädigung Verstorbenen Anspruch auf Elternrente, wenn sie erwerbsunfähig sind oder als Mutter das 50., als Vater das 65. Lebensjahr vollendet haben, und wenn ihr Einkommen unterhalb bestimmter Grenzen liegt.59 207.
Der Tod von Angehörigen löst Ansprüche auf Sterbegeld aus. Nach
dem sozialen Entschädigungsrecht erhalten die Angehörigen eines verstorbenen Beschädigten Bestattungsgeld und Sterbegeld. Sterbegeld erhalten auch die Angehörigen eines durch Arbeitsunfall Verstorbenen sowie diejenigen eines verstorbenen
Versicherten der Krankenversicherung,
wenn
dieser
am
01.01.1989 versichert war. Der Versicherte selbst erhält Sterbegeld beim Tode eines Ehegatten oder Kindes sowie anderer Angehöriger, die mit ihm in häuslicher Gemeinschaft lebten und von ihm unterhalten worden sind.60
VI. Arbeitslosigkeit 208.
Im
Falle
der
Arbeitslosigkeit
Einkommensersatzleistung,
das
besteht
Arbeitslosengeld.
Anspruch Nach
auf
eine
Ablauf
der
Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes besteht Anspruch auf Arbeitslosenhilfe,
Kapitel 2: Leistungsauslösende
der jedoch
von
einer Bedarfsprüfung abhängig
ist.
Tatbestände
Zusätzlich
79
zur
Arbeitslosigkeit wurden weitere Tatbestände normiert, die einen Lohnausfall zur Folge
haben
und
zu
Ausgleichsleistungen
berechtigen.
Das
sind
witterungsbedingter Arbeitsausfall, Kurzarbeit und Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers.
a) Leistungsvoraussetzungen 209.
Anspruch auf Arbeitslosengeld hat, wer arbeitslos ist und der
Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht. Als arbeitslos gilt ein Arbeitnehmer, der vorübergehend nicht in einem Beschäftigungsverhältnis steht oder nur eine geringfügige Beschäftigung ausübt. Als geringfügig gilt eine Beschäftigung, wenn sie auf weniger als 20 Stunden pro Woche beschränkt ist.61 210.
Der Arbeitsvermittlung steht zur Verfügung, wer arbeitsfähig und
arbeitswillig ist. Als arbeitsfähig gilt, wer eine zumutbare Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes ausüben kann und darf. Die Arbeitsfähigkeit wird als gegeben angenommen, solange nicht Invalidität im Sinne der Rentenversicherung vorliegt. Sie wird nicht mehr als gegeben angesehen, wenn der Arbeitslose das 65. Lebensjahr vollendet hat. Als arbeitswillig wird derjenige angesehen, der bereit ist, jede zumutbare Beschäftigung auszuüben. Der Arbeitslose gilt nicht als vermittlungsfähig, wenn er nur während bestimmter Zeiten arbeiten kann (Ausnahmen wegen Betreuung aufsichtsbedürftiger Kinder oder pflegebedürftiger Personen), oder wenn er wegen seines Verhaltens nach der im Arbeitsleben herrschenden Auffassung für eine Beschäftigung als Arbeitnehmer nicht in Betracht kommt. 211.
Bei
der
Beurteilung
der
Zumutbarkeit
einer
angebotenen
Beschäftigung "sind die Interessen der Arbeitslosen und die der Gesamtheit der Beitragszahler gegeneinander abzuwägen." Näheres wird durch Anordnung der Bundesanstalt
für
Arbeit
bestimmt.62
Bei
der
Ausfüllung
des
Zumutbarkeitsbegriffs ist zu beantworten, welche Art anderer Beschäftigung, welcher andere Beschäftigungsort und welche Einkommensdifferenz zugemutet werden soll. Allgemein gilt der Grundsatz, daß bei der Beurteilung der
80
Kapitel 2: Leislungsauslösende Tatbestände
Zumutbarkeit einer Beschäftigung alle Umstände
des
Einzelfalles zu
berücksichtigen sind, wie insbesondere die bisherige berufliche Tätigkeit und die Kenntnisse
und Fähigkeiten des
Arbeitslosen,
seine
persönlichen
Verhältnisse, die Dauer der Arbeitslosigkeit und die Lage des Arbeitsmarktes. 212.
Eine andere als die bisherige Beschäftigung, d.h. eine nach Ansehen
und Prestige geringerwertige Beschäftigung, kann dem Arbeitslosen zugemutet werden, wenn vielseitige Vermittlungsbemühungen in eine dem bisherigen sozialen und beruflichen Verhältnissen
des Arbeitslosen
entsprechende
Beschäftigung erfolglos geblieben sind. Unzumutbar ist eine ungünstigere Beschäftigung nur dann, wenn deren Aufnahme dem Arbeitslosen die spätere Aufnahme einer seiner früheren Tätigkeit nach Kenntnissen und Fähigkeiten entsprechender Beschäftigung wesentlich erschweren würde. Es besteht also nur ein bedingter Berufsschutz. Das Problem für den Arbeitslosen und folglich für die Ausgestaltung des Berufsschutzes besteht in der Frage, ob spätere Einstellungschancen mehr durch geringerwertige Arbeit oder durch Arbeitslosigkeit beeinträchtigt werden. Dies hängt von der zu erwartenden Reaktion des künftigen Arbeitgebers ab. Wird ihn die teilweise Ausübung einer geringerwertigen Tätigkeit - im Vergleich zu teilweiser Arbeitslosigkeit - negativ zur Unterschätzung der
Kenntnisse
und
Fähigkeiten
des
Bewerbers
veranlassen, oder wird er die Arbeitswilligkeit des Bewerbers positiv einschätzen? Die Reaktion dürfte auch vom Alter und der Dauer der früheren Tätigkeit des Bewerbers abhängen. 213.
Die Beschäftigung außerhalb des Tagespendelbereiches ist grundsätzlich
zumutbar,
jedoch
nach
besonderer
Berücksichtigung
der
familiären,
gesundheitlichen und sonstigen persönlichen Umstände des Arbeitslosen. In manchen Ländern wird eine Höchstzeit für die tägliche Abwesenheit von der Wohnung normiert, so z.B. höchstens 12 Stunden in Belgien und Schweden. Unter den genannten Einschränkungen ist nach längerer Arbeitslosigkeit auch ein Beschäftigungsort zumutbar, der nur durch Wochenend-Pendeln erreichbar ist. Im Extremfall kann auch ein Umzug des Arbeitslosen und seiner Familie zugemutet werden. Die Bundesanstalt kann zur Förderung der räumlichen Mobilität Zuschüsse zu Reise - und Umzugskosten zahlen.
Kapitel 2: Leistungsauslösende Tatbestände
214.
Dem Arbeitslosen wird eine Einkommensminderung
81
zugemutet.
Eine Beschäftigung ist nur dann nicht zumutbar, wenn das Nettoarbeitsentgelt geringer ist als das Arbeitslosengeld. Es wird also eine Einkommensminderung um rd. ein Drittel zugemutet. 215.
Es ist vorgeschlagen worden, für Arbeitslosigkeit eine Zeitgrenze
einzuführen, indem Arbeitslosigkeit von mehr als 12 Monaten als unzumutbar anzusehen sei. Dazu solle ein Grundrecht auf Arbeit normiert werden: "Arbeitslose haben nach 12 Monaten Arbeitslosigkeit das Recht auf zumutbare, möglichst
qualifizierungsgerechte,
mindestens
halbtägige
Arbeit
durch
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen." Das nähere solle im Arbeitsförderungsgesetz geregelt werden. 63 216.
Arbeiter in
witterungsbedingtem
Betrieben
des
Baugewerbes
Arbeitsausfall
Anspruch
hatten auf
bis
1995
bei
Schlechtwettergeld.
Seither besteht bei witterungsbedingtem Arbeitsausfall für 21 Tage Anspruch auf Winterausfallgeld, wenn durch Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarungen Leistungen zustehen, die das Arbeitsentgelt angemessen ersetzen. 217.
Bei vorübergehendem Arbeitsausfall (Kurzarbeit) haben Arbeitnehmer
Anspruch auf Kurzarbeitergeld. Der Arbeitsausfall muß auf wirtschaftlichen Ursachen beruhen; Kurzarbeitergeld wird jedoch nicht gewährt, wenn er branchenüblich,
betriebsüblich
oder
saisonbedingt
ist
oder
auf
betriebsorganisatorischen Gründen beruht. Weiter muß der Arbeitsausfall innerhalb von 4 Wochen einen bestimmten Anteil der Arbeitnehmer des Betriebes betreffen und mindestens 10 v.H. der regelmäßigen betriebsüblichen Arbeitszeit ausmachen. Kurzarbeitergeld kann bis zur Dauer von 6 Monaten, bei außergewöhnlichen Verhältnissen bis zu 2 Jahren gewährt werden. 64 218.
Arbeitnehmer haben bei Zahlungsunfähigkeit ihres Arbeitgebers (seit
1974) Anspruch auf Konkursausfallgeld, wenn sie bei Eröffnung des Konkursverfahrens über das Vermögen ihrer Arbeitgeber für die letzten 3 Monate noch Ansprüche auf Arbeitsentgelt haben. 65 219.
Im Anschluß an das zeitlich befristete Arbeitslosengeld besteht ein
Anspruch auf Arbeitslosenhilfe unter der zusätzlichen Bedingung, daß das
82
Kapitel 2: Leistungsauslösende
Tatbestände
Einkommendes Arbeitslosen unzureichend ist (der Arbeitslose "bedürftig" ist). Dies ist der Fall, wenn der Arbeitslose kein Vermögen hat und sein Einkommen den Betrag der Arbeitslosenhilfe nicht erreicht. Dabei bleiben bestimmte Einkünfte - meist Sozialleistungen - unberücksichtigt. Andererseits werden Einkünfte der
im
Haushalt
Freigrenzen berücksichtigt.
lebenden
Angehörigen
oberhalb
gewisser
66
b) Arbeitslosenquote 220.
Die Anzahl der Arbeitslosen in Relation zu den unselbständigen
Erwerbspersonen
wird als Arbeitslosenquote
bezeichnet.
Bei
einem
Vergleich von Arbeitslosenquoten muß geprüft werden, ob die Abgrenzung und Erfassung der Arbeitslosen sowie die Bezugsgrößen identisch sind.
Die
jahresdurchschnittliche Arbeitslosenquote sank nach 1950 von 11 v.H. bis 1961 auf unter 1 v.H. Während der Rezession 1966/67 stieg sie vorübergehend an, fiel aber schnell wieder auf das Vollbeschäftigungs-Niveau. Nach der Ölkrise von 1974 stieg die Arbeitslosenquote auf über 4 v.H. an. Ab 1982 stieg sie auf eine Höhe, die es 30 Jahre lang nicht mehr gegeben hatte. Seit 1983 schwankt die Arbeitslosenqoute zwischen 7 und 9 v.H. In den neuen Bundesländern ist die Arbeitslosenquote deutlich höher als in den alten Bundesländern. 221.
Bei hoher Arbeitslosigkeit gibt es außer den registrierten Arbeitslosen
eine sogenannte "stille Reserve". Es sind dies Personen, die sich wegen mangelnder Aussicht auf Vermittlung und/oder fehlenden Leistungsansprüche nicht arbeitslos melden, ferner Personen, die wegen Erwerbsbehinderung oder längerer Arbeitslosigkeit (TZ 180) Rentenbezieher sind und Personen die eine selbständige Tätigkeit beibehalten oder
aufnehmen, die
sie
bei
guter
Beschäftigungslage nicht ausüben würden. Je höher die Arbeitslosenquote ist, um so höher ist diese stille Reserve. 222.
Nicht
alle
Arbeitslose
sind
Empfänger
von
Einkommen-
sersatzleistungen. Vorwiegend weil sie vor ihrer Meldung als Arbeitssuchender nicht versichert waren, sind im langjährigen Durchschnitt etwa ein Drittel der Arbeitslosen
keine
Leistungsempfänger.
In
Zeiten
ungünstiger
Kapitel 2: Leistungsauslösende Tatbestände
83
Beschäftigungslage kommen Personen hinzu, die wegen langer Arbeitslosigkeit die Höchstdauer des Bezuges von Arbeitslosengeld Uberschreiten und nicht die Zusatzbedingungen für die Arbeitslosenhilfe erfüllen. So ging der Anteil aller Leistungsempfänger an allen Arbeitslosen zwischen 1975 und 1991 von 76 auf 66 v.H. zurück. Der Anteil der Bezieher von Arbeitslosengeld sank im gleichen Zeitraum von 66 und 43 v.H., während derjenige der Bezieher von Arbeitslosenhilfe von 10 auf 23 v.H. anstieg. Die Folge ist, daß ein zunehmender Anteil der Arbeitslosen auf die Sozialhilfe angewiesen ist. Diese Situation ähnelt - wenn auch in geringerem Ausmaß - derjenigen, die sich während der Weltwirtschaftskrise der Jahre 1929 - 1933 ergeben hatte: Im Januar
1933 gab es
leistungsberechtigt.
6 Mio.
Von
Arbeitslose; davon
diesen
erhielten
infolge
waren
4,8
Erschwerung
Mio. der
Leistungsvoraussetzungen und Verkürzung der Leistungsbezugsdauer von 20 v.H.
Arbeitslosengeld;
29
v.H.
bezogen
Krisenunterstützung
(jetzt
Arbeitslosenhilfe) und 51 v.H. Wohlfahrtsleistungen (jetzt Sozialhilfe).
VII. Erziehung 223.
Sozialleistungen wegen des Tatbestandes der Erziehung von Kindern
sind Elemente der Familienpolitik. Im Folgenden werden nur die im Hinblick auf Kinder bestehenden Ansprüche auf Sozialleistungen behandelt, nicht die weitergehenden
Maßnahmen
der
Familienpolitik.
Das
quantitativ
im
Vordergrund stehende Kindergeld dient der Bedarfsdeckung; es ergänzt vorhandenes Erwerbseinkommen. Die übrigen Leistungen: Unterhaltsleistung, Mutterschaftsgeld,
Erziehungsrente
und
Erziehungsgeld
dienen
dem
Einkommensersatz. Die Leistungen werden in der Mehrzahl der Fälle an Erwerbstätige oder Erwerbsfähige gezahlt. Sie sind vergleichsweise spät eingeführt und speziell begründet worden.
84
Kapitel 2: Leistungsauslösende
Tatbestände
a) Begründungen 224.
Das Kindergeld war ursprünglich allein durch Bedarfsdeckung
motiviert. Dies galt zur Zeit seiner erstmaligen Einführung nach dem ersten Weltkrieg in Frankreich - wo man mit seiner Einführung generellen Lohnerhöhungen entgegenwirken wollte - und für Neuseeland, wo die Leistungen zunächst (1926) auf Familien mit geringem Einkommen begrenzt waren. Erst später trat als Motiv hinzu, der sinkenden Geburtenhäufigkeit entgegenzuwirken. Wenn diese Begründung zum Teil noch heute angeführt wird, so beruht sie auf dem Werturteil, daß eine wachsende oder wenigstens gleichbleibende Bevölkerung eines Landes wünschenswert sei. Doch abgesehen davon ist ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Geburtenhäufigkeit und Kindergeld nicht nachgewiesen.67 225.
Eine andere ältere Begründung verweist darauf, daß Kinder erst in der
industriellen Gesellschaft eine wirtschaftliche Belastung für ihre Eltern bedeuten, während sie in der vorindustriellen Zeit in den Haushalten der (damals
vorherrschenden)
produktionswirtschaftliches
Bauern Aktivum
Industrialisierungsargument produktive
Einsatz
von
und gewesen
Handwerker seien.
Bei
ein diesem
wird übersehen, daß der wirtschaftlich
Kindern
früher
wegen
der
unveränderbaren
Betriebsgröße eng begrenzt war. Nicht die Zahl der Arbeitskräfte bestimmte die Einkommenshöhe eines Selbständigen, sondern die Quantität des verfügbaren Bodens bzw. Kapitals. Der Produktionsfaktor Kapital war im Verhältnis zur Arbeitskraft sehr viel teurer als gegenwärtig. Bei gegebenem Boden und/oder Kapitalbesitz mußten Kinder zusätzlich ernährt werden und konnten - wenn überhaupt - so nur mit sehr geringem Grenzertrag der Arbeit eingesetzt werden. Dieser Zusammenhang gilt auch gegenwärtig für wenig industrialisierte Länder. Überzeugende Begründungen für das Kindergeld sind demnach nur der interpersonale Lastenausgleich, die Förderung der Chancengleichheit und die Einkommensverstetigung. 226.
Kinder verursachten Kosten und belasten das Familieneinkommen. Bei
gleichem Einkommen kann eine Familie mit Kindern nur einen geringeren Lebensstandard realisieren als eine kinderlose Familie. Dies gilt um so mehr, je
Kapitel 2: Leistungsauslösende
Tatbestände
85
größer die Zahl der Kinder ist. Noch stärker wird der Lebensstandard der Familie reduziert, wenn die Mutter wegen der Kindererziehung
eine
Erwerbstätigkeit aufgibt. Das Kindergeld bewirkt einen Belastungsausgleich in dem Maße, wie es die durch Kinder verursachte wirtschaftliche Belastung mindert. 227.
Das Aufziehen von Kindern kann auch als Bereitstellung des zu-
künftigen Produktionsfaktors
Arbeit
betrachtet
werden.
Während
die
Regeneration des Produktionsfaktors Kapital von der gesamten Bevölkerung über die Preise finanziert wird, in denen auch die Kosten für Ersatzinvestitionen enthalten sind, werden die Regenerationskosten des Faktors Arbeit, nämlich die Kosten des Aufziehens von Kindern bis zu deren Erwerbstätigkeit allein von den Familien mit Kindern getragen, wenn nicht ein Ausgleich stattfindet. Dieser Ausgleich
erfolgt
durch
die
Bereitstellung
kollektiver
Dienstleistungen (insbesondere Schule) und durch
Güter
und
Sozialleistungen.
Deutschland wird dadurch aber nur etwa die Hälfte der
In
gesamten
Erziehungskosten ausgeglichen. 228.
Das
Kindergeld
wird
auch
mit
der
Notwendigkeit
einer
Einkommensverstetigung begründet. Dabei wählt man das Kind als Bezugsperson und sieht das Kindergeld als Analogon zur Altersrente an. Die Leistung wird in dieser Sicht als Vorgriff (Darlehen) auf
späteres
Erwerbseinkommen gesehen, der in Form von Beiträgen zurückgezahlt wird. Kindergelder werden als "Kredite für die rentabelste aller Investitionen"68 aufgefaßt und aus dem Ertrag dieser Investitionen - dem Erwerbseinkommen zurückgezahlt. In dieser Sicht ist die Sozialleistung eine Hilfe für die Familie, ihr Lebenseinkommen in bedarfsgemäßer Weise temporär umzuschichten. 229.
Das Kindergeld dient nicht nur dem Belastungsausgleich zwischen
Eltern und der Einkommensverstetigung der Eltern, sondern vorrangig auch der Förderung der Chancengleichheit unter Kindern. Denn die durch Kinder verursachte Minderung des Lebensstandards der Familie betrifft nicht nur die Eltern, sondern auch die Kinder selbst. Ein Kindergeld verbessert deren Bedarfsdeckungs-Chancen.
86
230.
Kapitel 2: Leistungsauslösende Tatbestände
Die
Chancengleichheit
ist
insbesondere
bei
Kindern
Alleinerziehender - ganz überwiegend Frauen - beeinträchtigt. Diese Frauen stehen vor der Alternative, entweder das Kind in Pflege zu geben oder dessen Erziehung
wegen
der
Erwerbstätigkeit
zu
vernachlässigen.
Die
Erwerbstätigenquote von ledigen Müttern ist doppelt so hoch wie diejenige verheirateter Mütter. Im Hinblick auf die Belastung alleinstehender Frauen durch die Erziehung von Kindern und das Interesse der Gesellschaft an einer intensiven familiären Betreuung der Kinder ist vorgeschlagen worden, Frauen mit Kindern unter 15 Jahren eine Erwerbstätigkeit nicht zuzumuten.69 231. Besondere Anforderungen stellt die Kleinkinderbetreuung.
Die
erforderliche Betreuungsintensität für ein Kind ist in den ersten Lebensjahren höher als in den späteren. Darum werden für Mütter von Kleinkindern neben oder an Stelle des Kindergeldes besondere Leistungen gezahlt, wie das Mutterschaftsgeld, das Erziehungsgeld
und
die Unterhaltsleistung.
Bei
Leistungen wegen der Betreuung von Kleinkindern stellt sich die grundsätzliche Frage, ob sie als Honorierung einer Leistung für die Gesellschaft oder als Einkommensersatzleistung angesehen werden. Im ersten Falle - so in Deutschland - sind sie allen Müttern zuzuerkennen, im zweiten Falle nur denjenigen, bei denen ein Einkommensausfall zu kompensieren ist, d.h. Frauen, die vor der Geburt des Kindes erwerbstätig waren und es danach nicht mehr sind. Im ersten Falle kompensiert die Leistung die Situation des KinderHabens, im zweiten Falle die Aktivität des Kinderbetreuens. Sieht man den Zweck der Leistung darin, die Betreuung von Kleinkindern durch Eltern zu fördern und einen dadurch bedingten Einkommensausfall zu ersetzen, so wäre als leistungsauslösend der Tatbestand anzusehen, daß nur ein Elternteil erwerbstätig ist; dies würde alleinerziehende Eltern einbeziehen, auch wenn sie erwerbstätig sind, und Eltern ausschließen, die beide erwerbstätig sind.
b) Leistungsvoraussetzungen 232. durch
Entsprechend dem Motiv, allen Personen, deren Haushaltseinkommen die
Erziehung
von
Kindern
zusätzlich
belastet
ist,
eine
Einkommensergänzung zukommen zu lassen, werden für die Zahlung von
Kapitel 2: Leistungsauslösende Tatbestände
87
Kindergeld für das Kindschaftsverhältnis neben den leiblichen Kindern auch berücksichtigt: Adoptivkinder, Stiefkinder und Pflegekinder, die der Berechtigte in seinen
Haushalt aufgenommen hat,
sowie
Enkel
und
Geschwister, die der Berechtigte in seinen Haushalt aufgenommen hat oder überwiegend unterhält 233.
Kindergeld wird grundsätzlich bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres
gezahlt. Diese Altersgrenze erhöht sich auf das 21. Lebensjahr im Falle der Arbeitslosigkeit und auf das 27. Lebensjahr im Falle fortgesetzter Ausbildung und einiger weiterer besonderer Tatbestände. Eine Altersgrenze entfällt ganz, wenn Invalidität vorliegt. Da Kindergeld unter bestimmten Voraussetzungen auch für volljährige Kinder gezahlt wird, entfällt der Anspruch, wenn das Kind Bezüge
in
bestimmter
Höhe
von
anderer
Seite
(Arbeitgeber,
Sozialleistungensträger) erhält. Der Übersichtlichkeit des Rechts und der korrekten Kosten-Zuordnung würde es dienen, wenn Kindergeld nur bis zum 18. Lebensjahr gezahlt würde, und bei Überschreitung dieser (oder einer anderen) Altersgrenze die Leistungsgewährung dem dominanten Tatbestand Ausbildung, Arbeitslosigkeit und Invalidität - zugeordnet würde. Insbesondere die Weiterzahlung des Kindergeldes bei Invalidität des Kindes erscheint als Verlegenheitslösung, weil die Leistung für diesen Fall unzureichend ist. 234.
Hinsichtlich der Rangfolge wurde in Deutschland erstmals 1954 ein
Kindergeld ab drittem Kind je Familie gezahlt. 1961 wurde das zweite und 1975 das erste Kind einbezogen. Der Ausschluß von Erstkindern aus der Leistungsberechtigung kann ausschließlich mit fehlenden Finanzierungsmitteln begründet werden. Für die Familie bedeutet das erste Kind die entscheidende finanzielle Belastung, besonders in den Fällen, in denen die Mutter vorher erwerbstätig war, und nach der Geburt diese Erwerbstätigkeit aufgibt. 235.
Bei der Einführung des Kindergeldes für das zweite Kind (1961) wurde
dieses an die Voraussetzung gebunden, daß das Einkommen der Eltern eine bestimmte Grenze nicht übersteigt. 1975 wurde auf eine Einkommensgrenze verzichtet Seit 1983 wird das Kindergeld für das zweite und jedes weitere Kind oberhalb bestimmter Einkommensgrenzen zwar weiter gezahlt, jedoch in geringerer Höhe. Die Einstellung oder Minderung des Kindergeldes bei einer
88
Kapitel 2: Leistungsauslösende Tatbestände
bestimmten Einkommenshöhe ist insofern gerechtfertigt, als die relative Belastung des Familieneinkommens mit steigendem Einkommen abnimmt (vertikale Betrachtung). Sie ist nicht gerechtfertigt, wenn man Ehepaare gleichen Einkommens mit und ohne Kinder betrachtet (horizontale Betrachtung). 236.
Die Chancengleichheit von Kindern alleinstehender Eltern ist besonders
beeinträchtigt, wenn der andere Elternteil seinen Unterhaltsverpflichtungen nicht nachkommt. Diesem Sachverhalt entspricht die Einräumung eines Anspruchs auf Unterhaltsleistung (seit 1980), der für Kinder bis zum 12. Lebensjahr für längstens 6 Jahre besteht, die bei einem Eltemteil leben, wenn von dem anderen Elternteil nicht ein Mindestunterhalt gezahlt wird.70 237.
Das Mutterschaftsgeld entspringt dem ursprünglichen Motiv des
Schutzes der Gesundheit von Mutter und Kind.
Dafür besteht ein
arbeitsrechtliches Beschäftigungsverbot für Frauen während 6 Wochen vor und 8 Wochen nach der Entbindung. Als Einkommensersatz für diese Zeit wurde 1912 das Mutterschaftsgeld eingeführt, daß von der Krankenversicherung für deren Versicherte zu zahlen ist.71 238.
Mütter (oder Väter) erhalten (seit 1986) für die ersten Lebensmonate
ihres Kindes ein Erziehungsgeld, wenn sie ihr Kind selbst betreuen und nicht oder nicht voll erwerbstätig sind. Für die ab dem 01.01.1993 geborenen Kinder beträgt der Bezugszeitraum 24 Monate.
Vom 7.
Monat an
gelten
Einkommensgrenzen, die eine Minderung oder den Wegfall der Leistung bewirken. Während des ersten Lebensjahres des Kindes besteht auch ein Kündi gungsschutz.72 239. Stelle
Für geschiedene Frauen trat beim Tode des früheren Ehemannes an die der
Unterhaltszahlung
eine
Rente.
Nach
Einführung
des
Versorgungsausgleichs (TZ 200) werden Renten an die frühere Ehefrau nicht mehr gezahlt. Frühere Ehegatten, deren Ehe nach dem 30.6.1977 geschieden ist, erhalten im Falle des Todes des geschiedenen Ehegatten nicht mehr eine abgeleitete Geschiedenenrente, sondern eine Erziehungsrente aus eigenem Recht. Voraussetzung dafür ist, daß der geschiedene Ehegatte nicht wieder verheiratet ist und Kinder zu erziehen hat.73 Die Umstellung auf eine Rente aus eigenem Recht wurde möglich, weil seither im Falle der Scheidung alle während
Kapitel 2: Leistungsauslösende
der
Ehezeit
von
beiden
Ehegatten
erworbenen
Tatbestände
Anrechte
auf
89
eine
Altersversorgung ausgeglichen werden (Versorgungsausgleich). Für die Situation der Frau ergeben sich drastische Unterschiede: Die Witwe erhält, auch wenn sie jung und kinderlos ist, in jedem Fall eine Witwenrente; die geschiedene Frau erhält die Erziehungsrente, wenn sie ein Kind erzieht, die ledige Frau hat nur den zeitlich und der Höhe nach begrenzten Anspruch auf Erziehungsgeld. 240.
Frauen der Geburtsjahrgänge vor 1921 erhalten für jedes lebend
geborene
Kind
eine
Kindererziehungsleistung,
die
von
den
Rentenversicherungsträgern ausgezahlt und vom Bund finanziert wird. Die Leistung entspricht nach Motiv und Höhe der für jüngere Frauen ab 1986 eingeführten
Anrechnung
von
Zeiten
der
Kindererziehung
bei
der
Rentenberechnung.
VIII. Ausbildung 241.
Zur Herstellung von Chancengleichheit beim Zugang zur Ausbildung
wird seit 1971 Ausbildungsförderung geleistet. Sie soll eine Ausbildung ermöglichen, die der Neigung, Eignung und Leistung des Auszubildenden entspricht.74 Ausbildungsförderung erhalten Schüler weiterführender Schulen ab Klasse 10, wenn sie nicht bei ihren Eltern wohnen, sowie Studenten von Hochschulen
und
Fachhochschulen.
Die
Ausbildungsförderung
setzt
Förderungswürdigkeit voraus. Die Leistungen des Auszubildenden müssen erwarten lassen, daß er das angestrebte Ziel erreicht. Dies wird angenommen, solange der Auszubildende die Bildungsinstitution besucht und die jeweils verlangten Studienfortschritte erkennen läßt. Bei längeren Ausbildungswegen sind
Eignungsnachweise
zu
erbringen.
Für
die
verschiedenen
Ausbildungsgänge ist eine Förderungshöchstdauer festgelegt. Eine Förderung nach dem 30. Lebensjahr wird nur gewährt, wenn die Art der Ausbildung oder die Lage des Einzelfalls dies rechtfertigen. 242.
Schüler
erhalten
Ausbildungsförderung
in
Form
eines
nicht
rückzahlbaren Zuschusses, Studenten zur Hälfte in Form eines Zuschusses und
90
Kapitel 2: Leistungsauslösende Tatbestände
in Form eines zinslosen Darlehens. Voraussetzung ist neben der Förderungswürdigkeit eine Förderungsbediirftigkeit. Ausbildungsförderung wird nur gewährt, wenn das Einkommen des Auszubildenden, seines Hiegatten und seiner Eltern bestimmte Höchstgrenzen nicht überschreitet. Jenseits dieser Höchstgrenzen wird der Familie die Finanzierung der Ausbildung zugemutet. Dieser Grundsatz wird dadurch gemildert, daß das elterliche Einkommen unberücksichtigt bleibt, wenn der Auszubildende bereits 5 Jahre (nach vollendetem 27. Lebensjahr 3 Jahre) erwerbstätig war. 243. Die Alternative zur grundsätzlichen Verantwortlichkeit der Eltern für die Ausbildungskosten ihrer Kinder wäre eine Regelung, nach der diese Verantwortlichkeit von einem bestimmten Lebensalter ab - Ende der Schulpflicht, Volljährigkeit - auf einen Sozialleistungsträger übergeht (Studentengehalt). Dabei wären die übrigen den Eltern gewählten Vergünstigungen (Kindergeld, Steuerfreibeträge) abzubauen. Das Studentengehalt könnte zu einem erheblichen Teil als rückzahlbares Darlehen gewährt werden. Denn längere und bessere Ausbildung schlägt sich später in höherem Einkommen nieder. Das durchschnittliche Nettoeinkommen eines Universitätsabsolventen ist etwa doppelt so hoch wie dasjenige eines Hauptschulabsolventen. Diese "Rentabilität" einer verlängerten Ausbildung rechtfertigt die Darlehens-, statt der Zuschußgewährung. Dies würde auch der Umverteilungsgerechtigkeit dienen und vermeiden, daß Erwerbstätige das Studium ihrer Altersgenossen durch Steuern finanzieren.
Kapitel 2: Leistungsauslösende Tatbestände
91
Anmerkungen zu Kap. 2
25
§§ 90, 91, 122 BSHG § 3 BSHG § 27 BSHG § 1 Wohngeldgesetz H. Hartmann: Sozialhilfebediirtigkeit und Dunkelziffer der Armut, hsg. vom BMJFG, 1981 Bis 1961: Öffentliche Fürsorge. Zahl für 1885 nach E. Löning in Hdbuch der politischen Ökonomie, hsg. von G. Schönberg, 3. Aufl., Bd. 3, 1891, 1006 H. Schäfer und P. Novak, in Hdb. der Sozialmedizin, Bd. III, 1976, 73 Engl, malleable, franz. malléable; Ubersetzbar als: geschmeidig, dehnbar, schmiedbar H. Peters: Handbuch der Krankenversicherung, 16. Aufl., 1956, Teil II, 115 BSG vom 10.10.1978, BSGE 47, 83 Sachverständigenrat für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen; Jahresgutachten 1990, TZ 282 Institut Leuven 1978, Art. 157 Internationaler Überblick bei D. Zöllner: Die Lage des Arbeitsnehmers im Falle der Krankheit. Generalbericht zum 9. Internationalen Kongreß für das Recht der Arbeit und der sozialen Sicherheit, Bd. 1, 1979 BMJFG (Hsg.): Daten des Gesundheitswesens, 1977, 62; Bevölkerung ab 14 Jahre BMJFG (Hsg.): Daten des Gesundheitswesens 1983, 83 H. Riedel, in: Verband der privaten Krankenversicherung (Hsg.), PKV Publik 1986, Nr. 6, 66 Arbeitsunfähigkeitstage je Pflichtmitglied (Männer) der Ortskrankenkassen; Durchschnitt 1977 - 1980, nach H. Busch, BAB1. 1982. Heft 9, 11 Belege für diese Erscheinungen unten bei Invalidität, Alter und Arbeitslosigkeit WHO (Hsg.): International classification of impairments, disabilities, and handicaps 1980,47, 143, 183 § 56 SGB VII, § 30 BVG § 5 SGB I § 1 BVG, § 80 Soldatenversorgungsgesetz, § 47 Gesetz über den zivilen Ersatzdienst, § 51 Bundesseuchengesetz, § 1 Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten § 2 SGB VII Schäfer 1972, 62 IAA (Hsg.): Leistungen bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, 1962, 9; gleichsinnig auch IAA 1984, 107 Niederlande: General Act on Work Incapacity, 1975 § 43, 44, SGB VI Näher Verband deutscher Rentenversicherungsträger (Hsg.): Grundsätze zur Berufs- und Erwerbsunfähigkeit in der
92
Kapitel 2: Leistungsauslösende Tatbestände
gesetzlichen Rentenversicherung. Deutsche Rentenversicherung, 1993, Heft 8/9 V. v. Weizsäcker: Soziale Krankheit und soziale Gesundung, 2. Aufl., Göttingen 1955,4 Schewe/Zöllner 1957,52 § 45 SGB VI § 43 SGB VI § 42 i. V. m. § 26 Bundesbeamtengesetz §§ 30 - 33 BVG G. Muhr, Soziale Sicherheit 1979, 38 Einen detaillierten Vorschlag hat eine Arbeitsgruppe des VdR vorgelegt: F. Ruland und H. Rische: Die "Erwerbsminderungsrente"..., Deutsche Rentenversicherung 1980, Heft 1, 12. Für Berücksichtigung von Einkommen auch Transfer-Enquete-Kommission 1981, TZ 285. § 34 BeamtVG, § 44 SGB VII, § 35 BVG, § 68 f BSHG § 14 SGB XI In der Periode 1886 - 1902 gab es durchschnittlich jährlich 0,7 tödliche Arbeitsunfälle je 1.000 Versicherte; im Vergleich zu damals sank die Häufigkeit auf ein Zehntel. Schewe/Zöllner 1957, 14 Schewe/Zöllner 1957 Mörschel/Rehfeld; Dt. Rentenversicherung, 1981, 234 R. Wasilewski (u.a., Inst. f. emp. Soziologie, Nürnberg): Frühinvalidisierung..., Hsg. Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Sozialordnung Baden-Württemberg, 1984 Quelle: Begründung des Pflegeversicherungsgesetzes § 9 Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetz 1889 U. Lehr, Ztschr. für Betriebswirtschaft 1979, 142; vgl. auch dies.: Psychologie des Alterns, 1977 § 21 ALG IAA 1984, TZ85, 109 Bundesministergesetz 1971, Abgeordnetengesetz 1977 und entsprechende Gesetze der Länder § 34 SGB VI § 154 SGB VI IVSS(Hsg-): Social Security, Unemployment and premature Retirement, 1985 § 41 Abs. 3 SGB VI § 42 SGB VI Verband deutscher Rentenversicherungsträger (Hsg.): Zur langfristigen Entwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung. Gutachten der Kommission des VdR, 1987, 169 f. §§ 1587 ff BGB § 8 SGB VI § 46 SGB VI §§ 19,20 BeamtVG § 48 SGB VI § 69 SGB VII, § 49 i.V.m. § 33 BVG § 58 SGB V, § 63 SGB VII, § 36, 37 BVG §§ 100 ff AFG § 103 AFG
Kapitel 2: Leistungsauslösende Tatbestände
63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74
H. Hummel-Liljegren: Zumutbare Arbeit Das Grundrecht des Arbeitslosen, 1981, 186 §§63 f. AFG §§ 141a ff AFG § 134 AFG IAA 1984,96 Schreiber 1964,25 Sozialbudget-Sozialplanung 1971, 25 Unterhaltsvorschußgesetz vom 23.7.1979 §§ 3, 6, 8a Mutterschutzgesetz, § 200 RVO Bundeserziehungsgeldgesetz v. 6.12.1985 47 SGB VI Bundesausbildungsförderungsgesetz 1971
93
Kapitel 3: Leistungsberechtigung 244.
Bei
Vorliegen eines
Anspruch auf
leistungsauslösenden
eine Sozialleistung,
wenn
die
Tatbestandes
besteht
betroffene Person
lei-
stungsberechtigt ist. Die Leistungsberechtigung knüpft an das Vorliegen eines von vier Merkmalen an: Ein Bedarf, eine Schadensursache, ein Beschäftigungs-
oder
Dienstverhältnis,
Entsprechend
ist
die
ein
Versicherungsverhältnis.
Leistungsberechtigung
bedarfsbedingt,
schädigungsbedingt, beschäftigungsbedingt oder versicherungsbedingt. personaler
und
finanzieller Hinsicht
dominiert
in
¡Deutschland
In die
versicherungsbedingte Leistungsberechtigung. 245.
Die Merkmale der Leistungsberechtigung begrenzen den berechtigten
Personenkreis. Der umfassende Zustand wäre deijenige, in dem alle Einwohner bei
allen
leistungsauslösenden
Tatbeständen
leistungsberechtigt
Demgegenüber bestehen vielfach Begrenzungen:
sind.
Die schadensbedingte
Leistungsberechtigung bezieht sich nur auf bestimmte Schadensursachen; die beschäftigungs- (oder dienst-)bedingte Leistungsberechtigung ist aus der Natur der Sache begrenzt; die versicherungsbedingte Leistungsberechtigung gilt nicht für alle Tatbestände und unterliegt Begrenzungen der Versicherungspflicht oder Versicherungsberechtigung. Diese letzteren Begrenzungen unterliegen seit Einführung
der
Sozialversicherung
permanenter
Diskussion
und
Rechtsänderung.
I.
Nicht versicherungsbedingte Leistungsberechtigung
246.
Eine bedarfsbedingte Leistungsberechtigung liegt vor, wenn
außer der speziellen Bedarfssituation keine weiteren Voraussetzungen erfüllt sein müssen. Dies trifft zu für die Leistungen der Sozialhilfe, das Wohngeld, das Kindergeld, das Erziehungsgeld und die Ausbildungsförderung. Alle diese Leistungen werden in Anwendung der Methode der Transferzahlung (TZ 40) finanziert. 247.
Eine beschäftigungsbedingte
Leistungsberechtigung liegt in
den Fällen vor, in denen Anspruch auf eine Leistung nicht gegenüber
Kapitel 3: Leistungsberechtigung
öffentlichen Sozialleistungsträgern,
sondern
95
gegenüber dem Arbeitgeber
besteht. Dies trifft für eine große Anzahl wenig industrialisierter Länder zu. Bei Anwendung der Methode der Arbeitgeberverpflichtung (TZ 38) ist die Leistungsberechtigung beschäftigungsbedingt Ein Spezialfall dessen ist die dienstbedingte Leistungsberechtigung bei der Beamtenversorgung. 248.
Eine dienstbedingte
Leistungsberechtigung entstand - nach
Vorbildern in den Königreichen Bayern und Preußen - für Reichsbeamte im Jahre 1873. Sie ist jetzt im Beamtenversorgungsgesetz von 1976 und entsprechenden Gesetzen der Länder geregelt. Die Leistungsberechtigung setzt einen versorgungsfähigen Status als Beamter, Richter oder Soldat und einen auslösenden Tatbestand voraus. Dienstbedingt leistungsberechtigt sind rd. 10 v.H. der Erwerbspersonen. 249.
Eine schadensbedingte
Leistungsberechtigung
besteht
im
sozialen Entschädigungsrecht. Außer einer gesundheitlichen Schädigung, die auf
bestimmten
Ursachen
(TZ
119)
beruht,
besteht
keine
weitere
Zusatzbedingung.
II.
Versicherungsbedingte Leistungsberechtigung
250.
Versicherungsbedingte
Leistungsberechtigung
setzt
das
Bestehen eines Versicherungsverhältnisses vor oder im Zeitpunkt des Eintritts eines leistungsauslösenden Tatbestandes (Versicherungsfall) voraus. Dies wird durch Versicherungspflicht, daneben auch durch freiwillige Versicherung begründet
Die Frage,
welche Personen
der
Vensicherungspflicht
zu
unterwerfen seien, war und ist eine Kernfrage der Politik der sozialen Sicherung. Sie wird unter dem Gesichtspunkt der Sicherungsbedürftigkeit oder der Sicherungsmöglichkeit beantwortet. Die Antwort wird im Hinblick auf die leistungsauslösenden
Tatbestände
unterschiedlich
gegeben.
Weitere
Differenzierungen entstehen aus der Antwort auf die Frage, ob und bei welchen Tatbeständen aus der Versicherung Leistungsberechtigung nicht nur für den Versicherten selbst, sondern auch für seine Angehörigen erwachsen soll.
96
Kapitel 3:
Leistungsberechtigung
a)
Versicherte
251.
Eine
allgemeine
Versicherungspflicht
wurde
erstmalig
bei
Einführung der Sozialversicherung in Deutschland 1883 eingeführt. Sie war damals und ist weiterhin erforderlich in Ansehung der Minderschätzung künftiger Bedürfnisse durch die Menschen. Zu diesem psychologischen Faktum kommt die objektive Schwierigkeit, die zur Befriedigung künftiger Bedürfnisse erforderlichen Maßnahmen richtig zu beurteilen. Die Versicherungspflicht knüpfte rechtstechnisch an den Arbeitsvertrag an; aus dem privatrechtlichen Arbeitsvertrag
wurde
ein
öffentlich-rechtliches
Versicherungsverhältnis
abgeleitet. Dies war eine ebenso einfache wie wirksame Konstruktion, die sich weltweit durchgesetzt hat. 252.
Allerdings mußte die Versicherungspflicht gegen Widerstände begründet
und
durchgesetzt
werden.
Sicherungsbedürftigkeit
Man
(damals
begründete
sie
Schutzbedürftigkeit)
mit
der
bestimmter
Bevölkerungsgruppen; das hatte Begrenzungen der Versicherungspflicht zur Folge. Die Abgrenzung der Versicherungspflicht war seit jeher und ist noch strittig. Es gibt stets die Meinung, daß die Ausdehnung der Versicherungspflicht mit Gefahren verbunden sei. Diese Meinung wird seit der Zeit vor Einführung der Sozialversicherung mit ermüdender Eintönigkeit wiederholt. Sie beruht teils auf Vorurteilen, teils auf Interessenlagen besonders seitens der privaten Versicherungswirtschaft. 253. die
Entgegen der Ideologie der Sicherungsbedürftigkeit ist in vielen Ländern Einbeziehung
von
Personengruppen
gegenläufig
Schutzbedürftigkeit erfolgt. Für diese inverse
zur
objektiven
Reihenfolge seien zwei
Beispiele gegeben: In Argentinien wurden in die obligatorische Alterssicherung einbezogen: 1904
der öffentliche Dienst
1919
Eisenbahnbedienstete
1921
Bedienstete der Staats- und Kommunalbetriebe
Kapitel 3: Leistungsberechtigung
97
1929 Bedienstete der Banken und Versicherungen 1939 Journalisten, Seeleute 1944 Arbeitnehmer im Handel 1946 Arbeitnehmer in der Industrie 1954 landwirtschaftliche Arbeiter.1
In der ehemaligen Sowjetunion wurden privilegierte Gruppen zuerst in die Alterssicherung einbezogen. 1924 Lehrer 1926 Berufsoffiziere 1928 Ausgewählte Kategorien in staatlichen Bergbau- und Industriebetrieben 1929 Ärzte 1931 Kulturschaffende 1956 alle Arbeiterund Angestellten 1964 Kolchosbauern.2 254. Da bei gesetzgeberischen Entscheidungen die Sicherungsbedürftigkeit nicht im Einzelfall beurteilt werden kann, müssen bestimmte, leicht feststellbare Kriterien für die Abgrenzung der Versicherungspflicht festgelegt werden. Dieser Abgrenzung dienten jahrzehntelange Bemühungen, die ihren kaum zu überschauenden und immer wieder schnell überholten Niederschlag in Gesetzesbestimmungen, Gerichtsurteilen, Ministerialerlassen und in der Literatur gefunden haben. Die wichtigsten Abgrenzungskriterien sind die Arbeitnehmereigenschaft, der Wirtschaftszweig, die Art der Tätigkeit und die Einkommenshöhe. 255. Die Sicherungsbedürftigkeit wurde in der Regel zunächst für Arbeitnehmer anerkannt. Die Arbeitnehmereigenschaft wird aus dem
98
Kapitel 3: Leistungsberechtigung
Beschäftigungsverhältnis abgeleitet. So sind z.B. rentenversichert "Personen, die gegen
beschäftigt sind."3
Arbeitsentgelt...
Beschäftigung
nichtselbständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. 256.
ist
die
4
Die Sicherungsbedürftigkeit wird nach Wirtschaftszweigen und nach
Art der Tätigkeit differenziert beurteilt. So wurde z.B. in Preußen eine Versicherungspflicht für Bergleute bereits 1854 eingeführt - lange vor Einführung der Versicherungspflicht für die übrigen Arbeitnehmer im Reich ab 1883.
Für Arbeitnehmer in der
Versicherungspflicht erst
Landwirtschaft wurde
später (1886)
dagegen
die
eingeführt. Ferner wurde
die
Sicherungsbedürftigkeit für Arbeiter und Angestellte unterschiedlich beurteilt. Für
Angestellte
bestand
im
Gegensatz
zu
Arbeitern
eine
Versicherungspflichtgrenze, die in der Alterssicherung erst 1967 beseitigt wurde; in der Krankenversicherung besteht eine Versicherungspflichtgrenze seit 1989 auch für Arbeiter. 257.
Die Existenz einer Versicherungspflichtgrenze ist insbesondere im
Hinblick auf die Tatbestände Invalidität, Alter und Tod eines Angehörigen schwer
zu
begründen.
Dies gilt
um
so
mehr,
je
niedriger
die
Versicherungspflichtgrenze im Verhältnis zum Durchschnittseinkommen ist. Dieses Verhältnis sinkt mit steigendem Einkommensniveau. Deshalb muß eine Versicherungspflichtgrenze unabhängig von ihrer absoluten Höhe von Zeit zu Zeit den veränderten Verhältnissen angepaßt (dynamisiert) werden. Andernfalls sinkt sie im Verhältnis zum jeweiligen Durchschnittseinkommen ab. Die Versicherungspflichtgrenze der Angestelltenversicherung (beseitigt 1967) betrug im Verhältnis zum Durchschnittsverdienst (=100) ursprünglich (1891) 286, sank in den folgenden Jahren auf 186 und wurde 1913 auf 423 angehoben. Der Vorgang wiederholte sich mehrfach; in der Periode 1952 - 1967 wurde die Grenze dreimal angehoben und sank dennoch von 234 auf 211. Aus dieser Erfahrung wurden erst spät die erforderlichen Konsequenzen gezogen. Die Versicherungspflichtgrenze
in der
Krankenversicherung
ist
seit
1971
dynamisiert. Je nach den kurzfristigen Schwankungen der maßgebenden Berechnungsgrößen endet die Versicherungspflicht bei einem Einkommen, das etwa 120- 130 v.H. des jeweiligen Durchschnittseinkommens entspricht.
Kapitel 3: Leistungsberechtigung
258.
99
Beschäftigungen, die nur geringfügig entlohnt werden oder zeitlich
begrenzt
sind,
haben
keine
Versicherungspflicht
zur
Folge
5
(Geringfügigkeitsgrenze). Hauptmotiv dieser Grenze ist die Annahme, daß die geringfügig Beschäftigten ihren Lebensunterhalt und ihre soziale Sicherung aus anderen Quellen beziehen. Kritisiert wird die Grenze, weil sie Mißbrauchsmöglichkeiten für Arbeitnehmer und Arbeitgeber eröffnet, von denen in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit verstärkt Gebrauch gemacht wird. Zu unterscheiden
sind
geringfügig
Nebentatige,
die
neben
ihrer
Haupterwerbstätigkeit einer geringen Nebentätigkeit nachgehen und geringfügig Beschäftigte; dies sind überwiegend Hausfrauen, ferner Schüler, Studenten, Arbeitslose und Rentner. Sie sind vorwiegend in Privathaushalten, im Handel, im
Reinigungsgewerbe
und
im
Gastgewerbe
tätig.
Gemessen
am
Gesamtarbeitsvolumen beläuft sich der auf versicherungsfrei Beschäftigte und geringfügig Nebentätige entfallende Anteil auf 4 - 5 v.H. Gleichwohl haben diese
Beschäftigungsverhältnisse
eine
arbeitsmarktpolitisch
bedeutsame
Pufferfunktion, die von Arbeitgebern und Arbeitnehmern nachgefragt wird. 259.
Die Sicherungsbedürftigkeit wurde zunächst nur für Arbeitnehmer
bejaht, während man sie für selbständig Erwerbstätige als nicht gegeben oder nicht gleichermaßen dringlich ansah. Es wurde darüber hinweggesehen, daß die Mehrzahl der selbständig Erwerbstätigen auf die Verwertung ihrer Arbeitskraft angewiesen ist, weil das vorhandene Vermögen für sich allein soziale Sicherung nicht gewährleistet. Gleichwohl wurden Selbständige erst allmählich und schrittweise in die Versicherungspflicht einbezogen. Die im Vergleich zu Arbeitnehmern
spätere
Wertenscheidungen
Einbeziehung
("Freiheit",
der
Selbständigen
"Eigeninitiative"),
beruht
auf
interessenbedingten
Widerständen, Schwierigkeiten der Erfassung und des Beitragseinzugs sowie auf mangelnder Einsicht der Betroffenen. 260.
Die schrittweise Einbeziehung selbständig Erwerbstätiger in die
Versicherungspflicht der Rentenversicherung begann zunächst für kleine "arbeitnehmerähnliche" Gruppen (Hausgewerbetreibende 1891, 1895, 1923, selbständige Lehrer 1922, selbständige Musiker und Hebammen 1929). Später wurden Handwerker (1938), Landwirte (1957) sowie selbständige Künstler und Publizisten (1981) in eine obligatorische Alterssicherung einbezogen.
100
Kapitel 3:
Leistungsberechtigung
Weiter entstanden durch Landesrecht oder Kammersatzung berufsständische Versorgungswerke
für freie Berufe. Zwar
wurde die
Mehrzahl
der
Selbständigen schrittweise in eine obligatorische Alterssicherung einbezogen, doch gilt dies nach wie vor nicht für alle selbständig Erwerbstätigen. In vielen Ländern wie z.B. Israel, Japan, Niederlande, Schweiz, Vereinigtes Königreich, umschließt
die
Alterssicherung
Krankenversicherung
erfaßte
alle
selbständig
erstmals
im
Erwerbstätigen.
Jahre
1900
mit
Die den
Hausgewerbetreibenden Nicht-Arbeitnehmer; später kamen weitere Gruppen Selbständiger hinzu (Lehrer, Hebammen, Krankenschwestern). Seit 1972 besteht
Versicherungspflicht
für
selbständige
Landwirte.
Die
Versicherungspflicht Selbständiger in der Krankenversicherung wurde mit Ausnahme der Landwirte 1989 aufgehoben. Die Unfallversicherung schützt heute neben vielen kleineren Gruppen auch landwirtschaftliche Unternehmer (seit 1939). 261.
Die Versicherung wurde schließlich
auf
Nicht-Erwerbstätige
erstreckt - Rentenbezieher sind für den Fall der Krankheit versichert (seit 1941); - Kinder in Kindergärten, Schüler und Studenten sind gegen Unfall versichert (seit 1971); - Studenten sind für den Fall der Krankheit versichert (seit 1975); - Erziehende sind in den ersten drei Lebensjahres eines Kindes für den Fall der Invalidität und des Alters versichert (seit 1986); - In der Rentenversicherung sind ferner versichert Wehr- und Zivildienstleistende, Bezieher von Krankengeld, Arbeitslosengeld und anderer Sozialleistungen sowie unentgeltlich tatige häusliche Pflegekräfte (seit 1995).
262.
Entscheidungen Uber die Sicherungsbedürftigkeit werden in ihren
Auswirkungen beeinflußt durch Regelungen Uber die Zulässigkeit einer freiwilligen
Versicherung.
In
dieser
Hinsicht
hat
es
in
der
Rentenversicherung mehrfach einen Wechsel der Betrachtungsweise gegeben. Bei ihrer Einführung (1891) war eine Selbstversicherung (bis zur Vollendung des 40. Lebensjahres) zulässig. Seit 1922 war eine Weiterversicherung nach Ausscheiden aus der Versicherungspflicht möglich. Mit dem Übergang zum
Kapitel 3: Leistungsberechtigung
101
modifizierten Umlageverfahren wurde 1957 die Selbstversicherung beseitigt und die Möglichkeit der freiwilligen Weiterversicherung beschränkt. Seit 1972 kann jeder Einwohner der Bundesrepublik Deutschland sowie jeder im Ausland lebende Deutsche freiwillig Beiträge zur Rentenversicherung entrichten. Auch in der gesetzlichen Krankenversicherung besteht unter bestimmten Bedingungen eine Versicherungsberechtigung.6 263.
Die versicherungsbedingte Leistungsberechtigung wird beseitigt, wenn
entrichtete Beiträge erstattet werden. Ein Versicherter der Rentenversicherung kann
Beitragserstattung
beantragen,
wenn
er
nicht
mehr
versicherungspflichtig und nicht zur freiwilligen Versicherung berechtigt ist. Dies trifft im wesentlichen für Nicht-Deutsche mit Aufenthalt außerhalb Deutschlands zu. 264.
Zu der
1995 eingeführten sozialen Pflegeversicherung
sind
versicherungspflichtig die Mitglieder - auch freiwillige - der gesetzlichen Krankenversicherung sowie deren Familienangehörige. Neuartig war die Regelung,
daß
Personen,
die
bei
einem
privaten
Krankenversicherungsunternehmen mit Anspruch auf Krankenhausleistungen versichert sind,
verpflichtet werden,
bei
diesem
Unternehmen
einen
7
Versicherungsvertrag zur Absicherung des Pflegerisikos abzuschließen. Es gilt also ohne
Rücksicht auf
sonstige
Kriterien
der
formale
Grundsatz:
Pflegeversicherung folgt Krankenversicherung. 265.
Neu war auch die mit dem Pflege-Versicherungsgesetz 1995 eingeführte
Mißbrauchs-Vermutung. Personen,
die
mindestens
Es besteht die widerlegbare Vermutung, daß 10
Jahre
nicht
in
der
Pflege-
oder
Krankenversicherung versicherungspflichtig waren, eine dem äußeren Anschein nach versicherungspflichtige Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit von untergeordneter
wirtschaftlicher
Bedeutung
aufnehmen,
eine
die
Versicherungspflicht begründende Beschäftigung tatsächlich nicht ausüben. Dies gilt insbesondere für eine Beschäftigung bei Familienangehörigen.8
102
Kapitel 3: Leistungsberechtigung
b)
Angehörige
266.
Angehörige
Verzögerung
in
von die
Versicherten
wurden
Leistungsberechtigung
erst
mit
einbezogen.
erheblicher In
der
Rentenversicherung geschah dies für den Fall des Todes des Versicherten 1912 (TZ 196). In der Krankenversicherung ermächtigte das Einführungsgesetz von 1884
die
Krankenkassen,
Leistungsberechtigung
Angehörige
einzubeziehen.
durch Erst
Satzung 1930
in
wurde
die die
Familienkrankenpflege als Pflichtleistung eingeführt. Die Leistungsberechtigung Angehöriger wird in der Renten- und Unfallversicherung sowie im sozialen Entschädigungsrecht aus der Leistungsberechtigung des Versicherten abgeleitet. In der Krankenversicherung sind seit 1989 Angehörige von Mitgliedern einer Krankenkasse selbst versichert.9 267.
Die Leistungsberechtigung Angehöriger bewirkt eine Umverteilung
zugunsten nicht erwerbstätiger Ehepartner. Die Einbeziehung Angehöriger in die Leistungsberechtigung
erhöht
unter
sonst
gleichen
Umständen
die
Beitragsbelastung der Erwerbstätigen. Die Gegenleistung für die erhöhte Belastung, nämlich Leistungsberechtigung im Falle der Krankheit für den Ehepartner, kommt jedoch nur den Erwerbstätigen mit nicht-erwerbstätigem Ehepartner zugute, weil der erwerbstätige Partner beitragspflichtig ist. Im Ergebnis finanzieren erwerbstätige Ehefrauen den Krankenversicherungsschutz nichterwerbstätiger Ehefrauen zum guten Teil mit. 268.
In der Rentenversicherung hat die Ableitung des Anspruchs Angehöriger
zur Folge, daß diese nicht leistungsberechtigt für den Fall eigener Invalidität sind. Wird eine erwerbstätige Ehefrau invalide, so wird ihr Beitrag zum Unterhalt der Familie (das Erwerbseinkommen) durch eine Sozialleistung ersetzt. Besteht der Beitrag allein in häuslicher Dienstleistung, so ist das nicht der Fall. Invalidität eines nichterwerbstätigen Ehepartners in Form der Unfähigkeit zur Verrichtung häuslicher Arbeiten oder gar in Form von Pflegebedürftigkeit des Ehepartners oder eines Kindes erfordert zusätzliche Arbeit, zeitliche Bindung und zusätzlichen finanziellen Aufwand für die Sicherstellung der notwendigen Dienste. Bei Invalidität nicht erwerbstätiger Angehöriger besteht eine Sicherungslücke; sie hat zur Folge, daß in vielen
Kapitel 3: Leistungsberechtigung
103
dieser Fälle Leistungen wegen unzureichenden Einkommens (Sozialhilfe) in Anspruch genommen werden müssen. 269.
Im Fall der Ehescheidung ist man von der Methode der Ableitung von
Ansprüchen
(früherer)
Angehöriger
übergegangen
zur
Methode
der
Aufteilung von Ansprüchen. Bei nach dem 1.7.1977 geschiedenen Ehen findet ein Ausgleich der in der Ehe erworbenen Rentenanwartschaften auf beide Ehegatten zu gleichen Teilen statt (Versorgungsausgleich, TZ 200). Diese Methode könnte in der Weise verallgemeinert werden, daß die während der Ehe erworbenen Rentenansprüche (eines oder beider Ehegatten) laufend auf beide Ehegatten je zur Hälfte aufgeteilt werden: Dieses (als Splitting bezeichnete) Verfahren würde
eine
eigene Leistungsberechtigung
auch
des
nicht
erwerbstätigen Ehepartners begründen. 270.
Eine dritte Methode zur Begründung einer Leistungsberechtigung
Angehöriger ist die Mitversicherung. Der Ehegatte eines Versicherten wird, sofern er nicht selbst versichert ist, mitversichert.10 Dafür sind Beiträge aus dem Familieneinkommen zu zahlen. Da ein eigener Anspruch jedes Ehegatten entsteht, entfällt die Hinterbliebenensicherung im herkömmlichen Sinne mit der Folge, daß der Beitragssatz je Person entsprechend gesenkt werden kann. Da die Aufwendungen der Rentenversicherung für die Hinterbliebenensicherung rd. ein Drittel betragen, könnte der Beitragssatz je Person in dieser Größenordnung gesenkt werden. Der Alleinverdiener hätte für zwei Beiträge rd. ein Drittel mehr aufzuwenden. Gemessen am bisherigen ArbeitnehmerBeitragsanteil ergäbe sich eine Verdoppelung. Die erhöhte Beitragsszahlung des erwerbstätigen auch für den nichterwerbstätigen Ehepartner würde "recognise the value to him of having a fulltime housewife".11 Die Mitversicherung würde allerdings ebensowenig wie die Aufteilung die Invaliditätssicherung für den nicht erwerbstätigen Ehepartner zur Folge haben. Dazu müßte ein neuer Tatbestand ("hauswirtschaftliche Behinderung") geschaffen werden, der die Finanzierung eines Ersatzdienstes oder die Zahlung eines Ersatzeinkommens an den bisher erwerbstätigen Ehepartner auslöst.12 271.
Die Begrenzung der Leistungsberechtigung auf Ehepartner kann in
Frage gestellt werden im Hinblick auf nicht-eheliche Gemeinschaften. Das
104
Kapitel 3: Leistungsberechtigung
Bundessozialhilfegesetz
bestimmt,
daß
Personen,
die
in
eheähnlicher
Gemeinschaft leben, hinsichtlich der Voraussetzungen und des Umfanges der Sozialhilfe nicht besser gestellt werden dürfen als Ehegatten. Damit wird u.a. die Möglichkeit eröffnet, wie auch beim Anspruch auf Arbeitslosenhilfe, die Einkommens-
und
Vermögensverhältnisse
des
Partners
Leistungsberechtigten zu berücksichtigen, wie dies für Ehepartner gilt. 272.
eines 13
Handelt es sich hier um eine "Abwehr"-Vorschrift, so kann man
umgekehrt fragen, ob zusammenlebende Partner unter bestimmten Bedingungen den Ehepartnern hinsichtlich der Leistungsberechtigung gleichgestellt werden sollten. Eine solche Gleichstellung gibt es in Frankreich und Belgien; dort haben Anspruch auf Leistungen der Krankenversicherung Personen, die vom Versicherten tatsächlich unterhalten werden (" personne ä Charge"). Man empfiehlt, in Bezug auf die Leistungsberechtigung aus der sozialen Sicherung so weit wie praktikabel in die Richtung
zu gehen,
eine de facto
Einkommensteilung zusammenlebender Menschen an Stelle der sich aus einem Ehevertrag ergebenden Unterhaltspflicht anzuerkennen.14 Dabei wäre auf den Begriff "eheähnlich" zu verzichten, weil sonst ausgeschlossen wäre das Zusammenleben z.B. von Bruder und Schwester, Eltern und erwachsenem Kind, gleichgeschlechtlichen Personen. Die Verwirklichung des Vorschlags setzt die Beantwortung weiterer Fragen voraus, wie z.B.: Welche Dauer des Zusammenlebens wird vorausgesetzt? Welche Intensität der gemeinsamen Einkommensverwendung wird vorausgesetzt?
c)
Umfassende Sicherung
273.
Die schrittweise Erweiterung der Versicherungspflicht hat in Verbindung
mit der zunehmenden Arbeitnehmerquote dazu geführt, daß das eingrenzende Prinzip der Schutzbedürftigkeit praktisch gegenstandslos geworden ist. Der Anteil der in der gesetzlichen Rentenversicherung gesicherten Personen an der Bevölkerung ist seit Anfang des Jahrhunderts kontinuierlich von 20 auf über 90 v.H. angestiegen. Unter Einschluß der Beamtenversorgung und der Sondereinrichtungen für Selbständige und freie Berufe ist die Alterssicherung nahezu umfassend. Geringer ist allerdings der Anteil der Personen, die im Alter
Kapitel 3: Leistungsberechtigung
105
tatsächlich Rente beziehen; hier wirkt sich die stufenweise Erweiterung der Versicherungspflicht
und
Versicherungsberechtigung
erst
mit
zeitlicher
Verzögerung aus. Auch in der gesetzlichen Krankenversicherung sind 90 v.H. der Bevölkerung versichert. Hinzu kommen rd. 2 v.H. Personen, die Anspruch auf Heilfürsorge (Sozialhilfe, Bundeswehr, Polizei) haben. Rd. 7 v.H. der Bevölkerung sind privat gegen Krankheit versichert. 274.
Angesichts
dieser
Entwicklung
stellt
sich
hinsichtlich
der
Alterssicherung die Frage, wie der Ausschluß eines kleinen Restes der Bevölkerung aus der Versicherungspflicht begründet werden könnte. Die Begründung dürfte um so schwerer fallen, als es sich bei diesem Rest keineswegs um wirtschaftlich starke Bevölkerungsgruppen handelt. Deshalb wird seit längeren eine generelle Sicherungspflicht für den Fall des Alters vorgeschlagen.15 Gleiches gilt für den Fall der Invalidität, die in frühem Lebensalter und unabhängig von der Erwerbstätigkeit eintreten kann. 275.
Die bedarfsbedingte Leistungsberechtigung (TZ 246) ist umfassend in
dem Sinne, daß alle im Gebiet eines Staates wohnhaften
Personen
leistungsberechtigt sind. Sie kommt stets zur Anwendung im Hinblick auf den Tatbestand unzureichenden Einkommens, weil in diesem Falle zusätzliche Bedingungen hinsichüich Ursache oder vorheriger Versicherung dem Zweck der Leistung widersprechen würden. In einigen Ländern ist eine solche umfassende Leistungsberechtigung auch bei Erweiterung des Systems auf andere leistungsauslösende Tatbestände eingeführt worden. Dabei war die Leistungsberechtigung zunächst noch an eine Bedürftigkeitsprüfung gebunden, die im Laufe der Zeit mehr und mehr abgebaut wurde. Dies geschah zuerst (1891) in Dänemark. Man befreite Personen bei bestimmten Tatbeständen von der Notwendigkeit der Bedürftigkeitsprüfung. Dies war zunächst der Tatbestand Alter, später auch Invalidität, Tod eines Angehörigen und Arbeitslosigkeit. In Großbritannien sicherte im Jahre 1908 ein Gesetz allen Staatsbürgern bei Vollendung des 70.
Lebensjahres eine Alterspension
zu,
wenn
ihr
Jahreseinkommen einen bestimmten Betrag nicht überstieg. 276.
Eine umfassende Leistungsberechtigung für den Fall des Alters besteht
gegenwärtig in Finnland, Island, Niederlande, Norwegen, Schweden sowie
106
Kapitel 3:
Leistungsberechtigung
Neuseeland, Australien und Kanada. Sie besteht für den Fall der Krankheit in den Ländern, in denen Gesundheitsleistungen durch einen öffentlichen Gesundheitsdienst erbracht werden, wie z.B. in Großbritannien. Die Leistungen werden typischerweise aus Steuermitteln finanziert und in einheitlicher Höhe festgesetzt, d.h. nicht auf das vorherige Einkommen bezogen. Da die Leistungshöhe insbesondere hinsichtlich der Alterssicherung als unzureichend empfunden wurde, entstanden in den meisten genannten Ländern später (im Zeitraum 1959 - 1974) auf Beitragszahlung beruhende Zusatzsystem mit einkommensbezogenen Leistungen.16 Die bestehende Leistungsberechtigung wurde durch eine versicherungsbedingte Leistungsberechtigung ergänzt; es entstanden mehrschichtige
Systeme (TZ 54) mit für große Teile der
Bevölkerung zweifacher Leistungsberechtigung. 277.
Um
die
bei
versicherungsbedingter
Leistungsberechtigung
verbleibenden Sicherungslücken zu schließen, bietet sich als konsequente und transparente Lösung an, den Wohnsitzgrundsatz auf die Normierung der Versicherungspflicht anzuwenden. Danach wäre die Versicherungspflicht nicht an das Beschäftigungsverhältnis oder andere Tätigkeitsmerkmale geknüpft, sondern bei Erreichung eines bestimmten Mindestalters an das Merkmal Wohnsitz. Zu entscheiden wäre dann nicht über die Versicherungspflicht, sondern allein Uber die Frage der Beitragspflicht für den Fall, daß der Versicherte nicht über eigenes Einkommen verfügt. Nach diesem Grundsatz ist z.B. die 1947 eingeführte Alters-, Hinterlassens- und Invalidenvorsorge (AHV) in der Schweiz und die 1966 eingeführte Versicherung gegen außergewöhnliche Krankheitsausgaben der Niederlande gestaltet. Grundsätzlich sollte diejenige Person oder Institution mit den Beiträgen belastet werden, die den Unterhalt des nicht Erwerbstätigen (Student, Arbeitsloser, Ehepartner) bestreitet.
III.
Beginn und Ende der Leistungsberechtigung
278.
Die Dauer der Leistungsberechtigung sollte grundsätzlich beginnen und
enden mit dem leistungsauslösenden Tatbestand. Bei versicherungsbedingter Leistungsberechtigung gibt es allerdings Zusatzbedingungen für deren Beginn sowie Fristen oder andere Umstände, die ein Ende der Leistungsberechtigung
Kapitel 3: Leistungsberechtigung
107
zur Folge haben. Für den Beginn der Leistungsberechtigung kommt in den meisten Fällen die Stellung eines Antrags als formale Voraussetzung hinzu. 279.
Zum Ausschluß des Mißbrauchs insbesondere durch Eingehen eines
Beschäftigungsverhältnisses zum Zwecke der Leistungsberechtigung gibt es in der Krankenversicherung vieler Länder eine Wartezeit von bis zu 6 Monaten. Dies ist in Deutschland und anderen Ländern nicht der Fall. Die Länder, in denen es keine Wartezeit mehr gibt, sind solche, in denen es Normalzustand ist, daß nach Abschluß der Ausbildung eine Beschäftigung aufgenommen wird. Die aus der Frühzeit der Sozialversicherung herrührenden Wartezeitbestimmungen sind unter solchen Umständen entbehrlich. 280.
In der Rentenversicherung gilt eine Wartezeit von 5 Jahren für den
Fall der Invalidität und des Todes eines Angehörigen. Um Härtefällen Rechnung zu tragen, wurde für bestimmte Situationen (u.a. Arbeitsunfall) eine Fiktion der Erfüllung der Wartezeit eingeführt. Gleichwohl entstehen nach wie vor Härten, z.B. im Falle einer kindererziehenden Witwe, deren verstorbener Ehemann die Wartezeit nicht erfüllt hat oder einer durch Unfall (außer Arbeitsunfall) verursachten Invalidität vor Erfüllung der Wartezeit. Für den Fall des Alters war die Wartezeit von 15 Jahren um so weniger erklärbar, als in der Praxis ab 60. Lebensjahr eine Invaliditätsrente gewährt wird, wenn der Versicherte diese beantragt (TZ 141); die Wartezeit wurde 1983 auf 5 Jahre reduziert. Längere Wartezeiten sind Voraussetzungen für die Altersrente vor Vollendung des 65. Lebensjahres (TZ 178 ff.). 281.
In der Rentenversicherung wurde früher die Aufrechterhaltung der
Anwartschaft verlangt, mit der eine beständige Beitragszahlung erreicht werden
sollte.
Diese
Bedingung
wurde
mit
dem
Wegfall
fester
Rentenbestandteile 1957 beseitigt. Für den Anspruch auf Arbeitslosengeld ist eine Anwartschaftszeit zu erfüllen,17 die den Charakter einer Wartezeit hat. 282.
Die
Leistungsberechtigung
endet
grundsätzlich,
wenn
der
leistungsauslösende Tatbestand nicht mehr vorliegt, der Leistungsberechtigte verstirbt oder ein neuer leistungsauslösender Tatbestand eintritt, der die Leistungsberechtigung wegen des bisherigen Tatbestandes verdrängt (z.B. Erreichen der Altersgrenze durch Invaliditätsrentner). Abweichend von diesem
108
Kapitel 3:
Leistungsberechtigung
Grundsatz ist der Anspruch auf Arbeitslosengeld zeitlich begrenzt. In Abhängigkeit von der Dauer der vorherigen Beschäftigung und dem Lebensalter steigt sie von 156 bis auf höchstens 832 Tage.
18
Ist diese Bezugsdauer
ausgeschöpft, so besteht bei fortdauernder Arbeitslosigkeit Anspruch auf Arbeitslosenhilfe. Diese ist niedriger als das Arbeitslosengeld und unterliegt der zusätzlichen Bedingung einer Bedarfsprüfung. 283.
Auch der Anspruch auf Krankengeld ist auf 78 Wochen innerhalb von
3 Jahren begrenzt.19 Die zeitliche Begrenzung des Krankengeldes
ist
international der Regelfall; die Höchstbezugsdauer schwankt zwischen 6 Monaten (z.B. Großbritannien, Österreich) und 3 Jahren (z.B. Frankreich). 284.
Die entscheidende Frage für den Leistungsempfänger ist jedoch nicht,
wie lange Anspruch auf eine Leistung im Krankheitsfalle besteht, sondern ob diese Leistung bei andauernder Krankheit "nahtlos" an eine Leistung wegen Invalidität anschließt. Ist diese Nahtlosigkeit gewährleistet, so löst dies Sicherheitsempfinden aus, unabhängig davon, wann die eine in die andere Leistung übergeht und ungeachtet der Tatsache, daß das Krankengeld meistens höher ist, als die Invaliditätsrente. Befriedigend in dieser Hinsicht ist nur eine Regelung, nach der Krankengeld unbegrenzt bis zur Gewährung einer Invaliditätsrente zusteht. Eine klare Regelung der Nahtlosigkeit besteht in den Niederlanden: Dort gilt als erwerbsunfähig, wer länger als ein Jahr arbeitsunfähig war. 285.
Der
Anspruch
auf
Krankenbehandlung
durch
die
Krankenversicherung ist zeitlich unbegrenzt. Die Krankenversicherung ist grundsätzlich
auch
für
einen
voraussichtlich
lebenslangen
Krankenhausaufenthalt leistungspflichtig. Der Anspruch endet nur dann, wenn das Vorliegen einer Krankheit verneint wird. 286.
Die Leistungsberechtigung Angehöriger entfällt bei Wiederverheiratung,
weil damit der leistungsauslösende Tatbestand entfallen ist. Um das davon ausgehende Hemmnis gegen eine Wiederheirat zu mildern, wird bei Wegfall der Leistungsberechtigung eine Abfindung in Höhe des Zweifachen des bisherigen Jahresbetrages der Rente gezahlt.20
Kapitel 3:
Leistungsberechtigung
109
IV.
Leistungsberechtigung bei Ein- und Auswanderung
287.
Die Geltung der die Leistungsberechtigung regelnden Rechtnonnen
endet an den Staatsgrenzen (Territorialprinzip).
Daraus ergeben sich
lösungsbedürftige Fragen für Menschen, die über die Staatsgrenzen wandern. Es ist zu entscheiden, wie die Leistungsberechtigung von Einwanderern und Auswanderern gestaltet werden soll. Dabei werden hier als Einwanderer Personen verstanden, die aus dem Ausland kommend sich jetzt im Inland aufhalten, als Auswanderer Personen, die sich im Ausland aufhalten, aber noch Rechtsbeziehungen zum Inland haben. Geht man davon aus, daß der Staat Verantwortung dafür hat, angemessene soziale Sicherung zu gewährleisten erstens für alle Bewohner seines Territoriums und zweitens für seine Staatsangehörigen im Ausland, so stellt sich die Frage, wie die soziale Sicherung der Wanderer im Verhältnis zu den übrigen Einwohnern des Landes gestaltet werden soll; das sind die neuen Mitbewohner im Falle der Einwanderer und die bisherigen Mitbewohner im Falle der Auswanderer. Die Antworten auf diese Fragen unterscheiden sich danach, ob bedarfsbedingte, schadensbedingte, beschäftigungsbedingte oder versicherungsbedingte
Leistungsberechtigung
besteht (TZ 246). 288.
Bei bedarfsbedingter Leistungsberechtigung entstehen keine
regelungsbedürftigen
Situationen
für
Einwanderer,
die
zugleich
Staatsangehörige sind; sie haben Anspruch auf Leistungen, die
der
Bedarfsdeckung dienen, nämlich Sozialhilfe, Wohngeld, Kindergeld sowie auf Ausbildungsförderung. In Deutschland wohnende Ausländer haben Anspruch auf Kindergeld und Wohngeld, nicht dagegen auf Ausbildungsförderung. Auf Sozialhilfe besteht ein Anspruch für Nicht-Deutsche, es sei denn, diese hätten sich in die Bundesrepublik Deutschland begeben, um Sozialhilfe zu erlangen. Die bedarfsbedingte Leistungsberechtigung endet grundsätzlich mit der Auswanderung. Diese Konsequenz ist jedoch für Staatsangehörige teilweise gemildert. So können deutsche Staatsangehörige auch bei Aufenthalt im Ausland unter bestimmten Bedingungen Kindergeld und Ausbildungsförderung erhalten. Ihnen "soll" im Falle der Hilfsbedürftigkeit Sozialhilfe gewährt werden.
110
Kapitel 3: Leistungsberechtigung
289. In den Fällen, in denen eine nicht versicherungsbedingte Berechtigung für Einkommensersatzleistungen besteht, wird in der Regel eine Mindestdauer des Aufenthaltes im Staatsgebiet vorgeschrieben. Die allgemeine Altersrente in Dänemark setzt einen Aufenthalt von 40 Jahren (alternativ 10 Jahre, wenn 5 Jahre vor der Altersgrenze) voraus. Die Mindestdauer des Aufenthalts beträgt typischerweise 10 Jahre bei Invaliditätsleistungen und 20 Jahre bei Altersleistungen. Mit solchen Bestimmungen soll einer Einwanderung wegen des Anspruchs auf Sozialleistungen entgegengewirkt und der Tatsache Rechnung getragen werden, daß der Leistungsberechtigung normalerweise längere Steuerpflicht vorausgegangen ist. Aus demselben Grunde wird die Leistungsberechtigung in diesen Fällen oft auf Staatsangehörige begrenzt. 290. Die schadensbedingten Leistungen des sozialen Entschädigungsrechts werden deutschen Staatsangehörigen sowie Volkszugehörigen im Ausland gezahlt. Bei anderen Personen ruht der Anspruch bei Auslandsaufenthalt im Grundsatz, doch kann Versorgung in angemessenem Umfang gewährt werden.21 291. Bei versicherungsbedingter Leistungsberechtigung ist über die Versicherungspflicht von Ein- und Auswanderern zu entscheiden. Aus dem Territorialprinzip folgt grundsätzlich, daß Einwanderer nach den bestehenden Vorschriften versichert sind und für Auswanderer die Versicherungspflicht entfällt Zu entscheiden ist für die Fälle, in denen der Wohnort und der Beschäftigungsort des Betroffenen in verschiedenen Staatsgebieten liegen (Einund Auspendler). Die Versicherungspflicht knüpft in Deutschland wie in den meisten anderen Ländern an das Beschäftigungsverhältnis an; maßgebend für die Versicherungspflicht der Pendler ist also der Beschäftigungsort, nicht der Wohnort. Die Versicherungspflicht betrifft nur Personen (einschließlich Nicht-Staatsangehöriger), die einem inländischen Beschäftigungsverhältnis unterliegen, und schließt Staatsangehörige aus, deren Beschäftigungsverhältnis im Ausland begründet ist. 292. Die Anknüpfung an den Beschäftigungsort führt bei befristeter Entsendung von Arbeitnehmern ins Ausland zu Doppelversicherung oder Lücken im Versicherungsschutz. Zur Vermeidung dieser Folgen wurde der
Kapitel 3: Leistungsberechtigung
111
Ausstrahlungsgrundsatz entwickelt, nach dem ein Versicherungsverhältnis auch bei Entsendung ins Ausland aufrechterhalten bleibt, wenn die Entsendung infolge der Eigenart der Beschäftigung oder vertraglich im voraus zeitlich begrenzt
ist.
Das
Gegenstück
zum
Ausstrahlungsgrundsatz
ist
der
Einstrahlungsgrundsatz, nach dem Arbeitnehmer mit einem ausländischen Beschäftigungsverhältnis
bei
Beschäftigung
im
Inland
befristet
versicherungsfrei sind.22 293.
Die Anwendung des Ein- und Ausstrahlungsgrundsatzes verhindert
nicht generell, daß es zu Kollisionen zwischen dem Recht des Wohnortes und des Beschäftigungsortes kommt. Der Vermeidung solcher Kollisionen durch Koordination
verschiedener
nationaler
Regelungen
dienen
zwischenstaatliche Verträge. Diese haben zum Ziel, im Falle der Wanderung einerseits die Leistungsberechtigung zu erhalten, andererseits eine doppelte Leistungsberechtigung auszuschließen. Sie sichern im einzelnen, daß das Recht nur eines Staates maßgebend ist, und zwar in der Regel das Recht des Beschäftigungsortes für die Versicherungspflicht und das Recht des Wohnortes für
die
Leistungsberechtigung.
Soweit
Ein-
und
Auswanderer
Versicherungszeiten in verschiedenen Ländern zurückgelegt haben, sehen zwischenstaatliche Verträge in der Regel eine Zusammenrechnung von Versicherungszeiten aus den Vertragsstaaten vor. Die Bemessung der Lastungen und die Aufteilung der Kosten erfolgt in diesen Fällen nach dem Verfahren "pro rata temporis". 294.
Weiter ist zu entscheiden, ob versicherungsbedingte Leistungen nach
ihrer Feststellung ins Ausland gezahlt werden sollen. Ruhensbestimmungen sehen hier Einschränkungen vor. Der Anspruch auf Krankenbehandlung und Leistungen der Pflegeversicherung ruht bei Auslandsaufenthalt grundsätzlich; dies ist dadurch motiviert, daß die erforderlichen Sach- und Dienstleistungen durch den inländischen Versicherungsträger im Ausland nicht sichergestellt werden können. Die Leistungen der Unfallversicherung werden Deutschen im Ausland gezahlt; für Nicht-Deutsche ruhen sie. Das Recht der Rentenversicherung sah lange Zeit vor, daß die Rente ruht, wenn sich der Berechtigte im Ausland aufhält. Für Deutsche war dieser Grundsatz allerdings durch Sonderbestimmungen weitgehend aufgehoben. Seine Aufrechterhaltung für
112
Kapitel 3:
Leistungsberechtigung
Ausländer wurde damit begründet, daß dadurch die Voraussetzung für Gegenseitigkeitsabkommen
mit
anderen
Staaten
verbessert
würden
("Faustpfandtheorie"). 295.
Diese Ungleichbehandlung wurde 1979 als unvereinbar mit dem
Gleichbehandlungsgebot des Grundgesetzes erklärt. Eine Neuregelung ging von diesem Gebot und der Erwägung aus, daß die Nichtzahlung ins Ausland den Ausländer zwingen könnte, seinen Wohnsitz in Deutschland zu behalten. Die jetzige Regelung sieht von 23 Bei gewöhnlichem Aufenthalt eines Ausländers im Ausland wird die Rente grundsätzlich gezahlt Es werden nur die in der Bundesrepublik Deutschland zurückgelegten Beitragsjahre berücksichtigt und die Rente wird auf 70 v.H. reduziert. Die genannten einschränkenden Bestimmungen gelten jedoch nur für eine geringe Zahl von Fällen. Für die überwiegende Mehrzahl der in Betracht kommenden Fälle ist das Ruhen des Anspruchs und die Rentenminderung durch zwischenstaatliche Verträge aufgehoben. 296.
Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges kamen Millionen von
Flüchtlingen und Vertriebenen in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland, die keine Ansprüche gegen Sozialleistungsträger in ihrer früheren Heimat geltend
machen
konnten.
Zur
sozialrechtlichen
Personenkreises wurde ein Fremdrentenrecht
Integration
dieses
geschaffen. Dies ging
ursprünglich vom Entschädigungsprinzip aus: Die Rentenversicherung trat für den Verlust der im Herkunftsgebiet erworbenen Leistungsberechtigung ein, und zwar wenn und soweit Ansprüche erworben waren. Dies führte zu zahlreichen Ungereimtheiten und vor allem zu schwer erklärbarer Ungleichbehandlung der Flüchtlinge untereinander je nach Herkunftsland und der Flüchtlinge im Vergleich zu den stets in Westdeutschland Ansässigen. Hinzu kam die Schwierigkeit einer Umrechnung von Beiträgen in den
verschiedenen
Währungen der Herkunftsländer in DM-Beträge. 297.
Diese Schwierigkeiten wurden beseitigt, indem das Fremdrentenrecht
1960 umgestellt wurde auf das Eingliederungsprinzip. 24 Seither werden die Zuwanderer - in neuerer Zeit vor allem Aussiedler aus osteuropäischen Ländern - so in die deutsche Rentenversicherung einbezogen, als ob sie ihr Berufsleben
113
Kapitel 3: Leistungsberechtigung
in Deutschland verbracht hätten. Ihnen werden Beitragszeiten bei einem ausländischen Sozialleistungsträger angerechnet Sind solche nicht vorhanden etwa weil keine Versicherungspflicht bestand - so werden unter bestimmten Voraussetzungen Beschäftigungszeiten angerechnet, wenn sie in Deutschland versicherungspflichtig gewesen wären. Bei fehlenden Unterlagen können Beitrags- und Beschäftigungszeiten glaubhaft gemacht werden. 298.
Da Zuwanderer Beiträge in fremden Währungen entrichtet haben,
werden ihren Beitrags- oder Beschäftigungszeiten Tabellenwerte zugeordnet, die dem entsprechen, was in ihrer Tätigkeit vergleichbare Versicherte in vergleichbaren Wirtschaftsbereichen in Deutschland durchschnittlich verdient haben. Auch in dieser Hinsicht werden
die Zuwanderer nach
dem
Eingliederungsprinzip so behandelt, als ob sie ihr Berufsleben in Deutschland verbracht hätten.
V.
Verhaltensanforderungen
299.
Die Leistungsberechtigung hängt außer von dem Vorliegen eines
leistungsauslösenden Tatbestandes und sonstiger zusätzlicher Bedingungen auch
von
bestimmten
Verhaltensweisen
des
Antragsteller
oder
Leistungsempfängers ab. Einige Verhaltensweisen schließen den Anspruch aus, andere werden im Interesse einer Vermeidung leistungsauslösender Tatbestände erwartet.
Hierzu
Schadensverursachung,
gehören
Arbeitswilligkeit,
Mitwirkung und
Duldung.
keine
eigene
Arbeitswilligkeit
ist
Voraussetzung für Leistungen wegen unzureichenden Einkommens, wegen Invalidität und wegen Arbeitslosigkeit. Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe können unter bestimmten Voraussetzungen auf Zeit gesperrt werden. Eine Sperrzeit tritt ein, wenn - vorsätzlich oder grob fahrlässig Arbeitslosigkeit herbeigeführt wird, - eine angebotene Arbeit nicht angenommen wird,
114
Kapitel 3: Leistungsberechtigung
- eine Maßnahme zur beruflichen Ausbildung, Fortbildung oder Umschulung verweigert oder abgebrochen wird. Bei wiederholtem Anlaß für eine Sperrzeit erlischt der Anspruch auf Arbeitslosengeld.2S 300.
Es wird vorausgesetzt, daß leistungsauslösende Tatbestände nicht
selbst verursacht sind. Das Krankengeld kann Personen versagt werden, die sich
ihre
Krankheit
vorsätzlich
zugezogen
haben.
Leistungen
der
Unfallversicherung können versagt werden, wenn der Arbeitsunfall beim Begehen eines Verbrechens oder vorsätzlichen Vergehens erlitten wurde; ein Anspruch besteht nicht, wenn der Arbeitsunfall absichtlich verursacht wurde. Das gleiche gilt für Leistungen wegen Invalidität sowie wegen Tod eines Angehörigen.26 301.
Es
bestehen
Mitwirkungspflichten
des
Antragstellers
oder
Leistungsempfängers. Dieser hat eine Aufklärungsförderungspflicht; er hat die erheblichen Tatsachen anzugeben und der Auskunfterteilung durch Dritte zuzustimmen. Ferner besteht eine Pflicht zur Mitwirkung bei Untersuchungen, Heilbehandlungen
und
berufsfördernden
Maßnahmen.
Bei
fehlender
Mitwirkung kann die Sozialleistung ganz oder teilweise versagt werden. Die Mitwirkungspflicht besteht nicht, soweit ihre Erfüllung nicht in einem angemessenen Verhältnis zu der in Anspruch genommenen Sozialleistung steht oder ihre Erfüllung dem Betroffenen aus einem wichtigen Grunde nicht zugemutet werden kann.27 302.
Insbesondere die bei ärztlicher Behandlung teilweise erforderlichen
medizinischen Eingriffe (Operation) können mit den grundgesetzlich normierten persönlichen Freiheitsrechten in Konflikt stehen. Dabei geht es um die Frage, ob und unter welchen Bedingungen bei solchen Eingriffen Duldungspflicht besteht. Die Rechtsprechung geht dahin, daß ein medizinischer Eingriff nicht zur Folge haben darf: Eine Gefahr für Gesundheit oder Leben, unzumutbare Schmerzen, eine Beeinträchtigung der körperlichen Integrität. Sind diese Gefahren voraussichtlich nicht gegeben, so muß ein von Leistungsträgern für erforderlich gehaltener medizinischer Eingriff geduldet werden.
Kapitel 3: Leistungsberechtigung
115
Anmerkungen zu Kap. 3 1 2 3 5
8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
21 22 23 24 25 26 27
Zöllner 1963,76 P.Stiller: Sozialpolitik in der UDSSR 1950 -80, Baden-Baden 1983, 305 § 1 SGB VI § 7 SGB IV § 8 SGB IV §§ 9 SGB V, 7 SGB VI § § 2 0 ff. SGB XI § 20 Abs. 4 SGB XI § 10 SGB V Ausführliche Darstellung und Begründung bei Krupp/Meinhardt, WSIMitteilungen 1979,669 IAA 1984, 41 Näher Schäfer 1979, insbes. TZ 163 u. 173 § 122 BSHG, § 137 Abs. 2 a AFG IAA 1984; 43 Sozialenquete 1966, 136; Wissenschaftlergruppe des Sozialbeirats, BTDrs. 9/632 vom 3.7.1981, 86; Transfer-Enquete 1981, 161 Näher D. Zöllner. Alterssicherungssysteme im internationalen Vergleich, in SchrR des Dt. Sozialgerichtsverbandes, Bd. XVII 1978, 153 § 104 AFG § 106 AFG § 48 SGB V § 80 SGB VII, § 107 SGB VI. Auf die Abfindung in Form der Kapitalisierung von Rentenansprüchen wird hier nicht eingegangen, weil sie auf 10 Jahre begrenzt ist. § 6 4 BVG §§ 4, 5 SGB IV §113 SGB VI Fremdrentengesetz 1960 §119 AFG §§ 101 SGB VII, 102 SGB VI, § 1 BVG, § 2 OEG, § 52 SGB V § § 6 0 - 6 6 SGB I
Kapitel 4: Bemessung der Geldleistungen 303.
Im Sozialrecht der Bundesrepublik Deutschland gibt es mehr als 40
verschieden
bezeichnete Geldleistungen.
(Übersicht III,
Anhang).
Die
Nomenklatur ist buntscheckig und wird nur allmählich mit fortschreitender Kompletierung des Sozialgesetzbuches harmonisiert. Häufig steht der Begriff "Geld" für Leistungen, die sich auf einen Tatbestand beziehen, dessen Wegfall zu Lebzeiten des Berechtigten erwartet wird (Krankengeld, Arbeitslosengeld, Kindergeld).
"Rente"
bezeichnet meistens Leistungen bei
andauernden
Tatbeständen (Altersrente, Verletztenrente). Diese Unterscheidung ist jedoch nicht durchgängig: sie ist auch nicht erschöpfend, denn es gibt daneben weitere Bezeichnungen
wie
z.B.
Arbeitslosenhilfe,
Ausbildungsförderung,
Berufschadensausgleich. Die unterschiedlichen Bezeichnungen sind historisch bedingt; sie lassen oft erkennen, welchem Tatbestand sie zugeordnet sind, sagen jedoch nichts Uber die Art der Bemessung aus. 304.
Die Geldleistungen dienen der Bedarfsdeckung, der Entschädigung oder
dem Einkommensersatz (TZ 19). Die Bedarfsdeckung soll einem nicht gedeckten Mindestbedarf (z.B. Hilfe zum Lebensunterhalt) oder einem zusätzlichen Bedarf (z.B. wegen Kindererziehung) Rechnung tragen. Die Entschädigung erfolgt bei Vorliegen einer auf bestimmten Ursachen beruhenden Behinderung.
Der
Einkommensersatz
soll
einen
Einkommensverlust
ausgleichen. Aus diesen Funktionen der Geldleistungen leiten sich die drei Grundkriterien für ihre Bemessung ab: Der Bedarf, der Behinderungsgrad oder das vorherige Einkommen des Leistungsberechtigten. Der Bedarf ist typischerweise Bemessungskriterium für Leistungen, die durch die Tatbestande unzureichendes
Einkommen
sowie
Erziehung
ausgelöst
sind.
Der
Behinderungsgrad ist typischerweise Bemessungskriterium für Leistungen, die der Entschädigung dienen. Das vorherige Einkommen ist typischerweise Bemessungskriterium für Leistungen, die durch die Tatbestände Krankheit, Invalidität, Alter, Tod oder Arbeitslosigkeit ausgelöst sind. Die Grundkriterien der Leistungsbemessung werden zum Teil durch Zusatzkriterien ergänzt oder modifiziert. Der Bedarf wird teilweise standardisiert (z.B. Kindergeld). Neben dem Behinderungsgrad
wird
teilweise das
Einkommen
berücksichtigt
Kapitel 4: Bemessung der Geldleistungen
117
(Verletztenrente); eine auf dem Einkommen beruhende Bemessungsgrundlage wird in einigen Fällen unter Bedarfsaspekten modifiziert
I.
Bedarfsdeckungsleistungen
a)
Hilfe zum Lebensunterhalt
305.
Beim Tatbestand unzureichendes Einkommen ist die Bemessung der
Geldleistung identisch mit der Definition dessen, was als zureichendes Einkommen angesehen wird. Zur Aufrechterhaltung des Lebens eines Menschen ist zumindest das physische Existenzminimum sicherzustellen. Dieser Begriff bezeichnet biologische Gegebenheiten hinsichtlich Art und Beschaffenheit der Nahrungszufuhr sowie anderer Bedürfnisse, die zur Aufrechterhaltung des Lebens erforderlich sind. Das Bundessozialhilfegesetz will dem Empfänger der Hilfe die Führung eines Lebens ermöglichen "das der Würde des Menschen entspricht";1 es hat somit die Sicherstellung eines soziokulturellen Existenzminimums zum Ziel. Hierfür gibt es allerdings kein absolutes Maß; das sozio-kulturelle Existenzminimum kann sinnvoll nur in Relation zu konkreten Situationen in Raum und Zeit, d.h. in Bezug auf die jeweilige Umwelt bestimmt werden; seine Feststellung ist nicht
ein
Erkenntnisproblem, sondern ein Wertungsproblem. 306.
Zur Lösung dieses Problems werden die zur Aufrechterhaltung des
Mindestbedarfs
erforderlichen
Güter
und
Dienstleistungen
enumeriert
("Warenkorb") und mit Preisen bewertet. Die sich ergebende Geldsumme wird als Regelsatz bezeichnet; dieser wird im Rahmen einer Rechtsverordnung des Bundes von den Ländern festgesetzt.2 Der Regelsatz besteht aus einem Betrag für
den
Haushaltsvorstand
(Eckregelsatz)
und
Beträgen
für
weitere
Haushaltsmitglieder, die je nach Alter zwischen 45 und 90 v.H. des Eckregelsatzes betragen. Zusätzlich zu dem Regelsatz wird die tatsächliche Miete ersetzt, weil organisch gewachsene Wohneinheiten erhalten, ein Umzug
118
Kapitel 4: Bemessung der Geldleistungen
nicht zugemutet und die Entstehung von Armuts-Ghettos verhindert werden soll. 307. Neben dem Regelbedarf wird ein Mehrbedarf in Höhe von 20 v.H. des Regelsatzes anerkannt für Personen, die älter als 60 Jahre oder erwerbsunfähig sind, für werdende Mütter und Personen, die 2 oder mehr Kinder unter 16 Jahren erziehen und für Alleinerziehende mit einem Kind unter 7 Jahren.3 Außer dem Mehrbedarf zum Lebensunterhalt wird in manchen Fällen ein Sonderbedarf anerkannt. Dies gilt für die von der Sozialhilfe gewährten Hilfen in besonderen Lebenslagen, wie insbesondere Gesundheits- und Pflegeleistungen. Soweit sie als Geldleistung gezahlt werden, sind sie ihrem Zweck entsprechend bemessen, d.h. sie werden in dem erforderlichen Umfange gezahlt 308. Bei der Festlegung des Regelsatzes ist einerseits das sozio-kulturelle Existenzminimum sicherzustellen; dies legt eine Untergrenze fest. Andererseits ist eine Obergrenze zu beachten. Der Regelsatz soll zusammen mit der Miete unter dem durchschnittlichen Netto-Arbeitsentgelt unterer Lohngruppen (zuzüglich Kindergeld und Wohngeld) bleiben. (Lohnabstandsgebot). 4 309. Die Festlegung des Regelsatzes ist im Vergleich mit der Festlegung anderer Geldleistungen gesetzgeberisch wenig konkret geregelt sowohl was deren Höhe als auch das Verfahren ihrer Festsetzung betrifft. Die Verwaltung hat einen erheblichen Ermessensspielraum. Daraus mag sich erklären, daß die relative Höhe des Regelsatzes beträchtlichen Schwankungen unterliegt. Dies läßt sich an der Relation der Höhe des Regelsatzes zum jeweiligen Durchschnittslohn (im Sinne der Rentenversicherung) darstellen. Der Regelsatz für ein Ehepaar mit 2 Kindern (ohne Miete) betrug 1939 35 v.H. des durchschnittlichen Arbeitsverdienstes. Er stieg nach dem Kriege bis 1957 auf 47 v.H. an und ist seither wieder auf das Vorkriegsniveau abgefallen. Diese Tatsache ist schwer zu erklären. Es sollte grundsätzlich entschieden werden, in welchem Verhältnis der Regelsatz zum jeweiligen Durchschnittslohn (oder zu einer anderen Bezugsgröße) stehen soll. Eine solche Grundsatzentscheidung
Kapitel 4: Bemessung der Geldleistungen
119
würde die ständigen Diskussionen Uber die Angemessenheit des "Warenkorbes" entbehrlich machen. 310.
Personen, die sich in einer Anstalt, einem Heim oder einer sonstigen
Einrichtung befinden, erhalten die Hilfe zum Lebensunterhalt als Sach- und Dienstleistung. Sie haben daneben Anspruch auf einen Barbetrag zur persönlichen Verfügung (Taschengeld). 5 Es beträgt mindestens 30 v.H. des Eckregelsatzes. Trägt der Heimbewohner die Kosten des Aufenthaltes teilweise selbst - typischerweise, weil ihm die Rente angerechnet wird - so erhöht sich das Taschengeld um 5 v.H. seines Einkommens, höchstens jedoch um 15 v.H. des Eckregelsatzes.
b) Standardisierte Leistungen 311.
Nach dem Bedarf wird auch das Wohngeld bemessen. Seine Höhe
hängt von der Zahl der Familienmitglieder, vom Familieneinkommen sowie der Mietbelastung ab und ist in Tabellen des Wohngeldgesetzes festgelegt also standardisiert. Die Beträge steigen mit der Anzahl der Familienmitglieder, steigen mit der Höhe der Miete bis zu festgelegten Höchstgrenzen, sinken mit der Höhe des Familieneinkommens. Im Ergebnis wird erreicht, daß die Mietbelastung etwa 20 v.H.
des
Familieneinkommens nicht Ubersteigt. 312.
Auch die Höhe der Ausbildungsförderung ist standardisiert. Man
setzt den Bedarf fest unter Berücksichtigung der Lebenshaltungskosten, der Einkommenshöhe,
des
Konsumverhaltens,
der
finanzwirtschaftlichen
Entwicklung und anderer auf Bedarfsdeckung zielender Sozialleistungen. Die Bedarfssätze sind differenziert nach der Art der Ausbildungsstätte und danach, ob der Auszubildende im Elternhaus oder außerhalb dessen lebt. Der Bedarfssatz für einen außerhalb des
Elternhauses lebenden
Studenten
(Vollförderung) betrug bei Einführung der Ausbildungsförderung im Jahr 1971
120
Kapitel 4: Bemessung der Geldleistungen
36 v.H. des Durchschnittsverdienstes. Diese Relation schwankte in den folgenden Jahren um rund ein Drittel und sank ab 1982 auf ein Viertel. 313. Die Unterhaltsleistung für Kinder, deren einer Eltemteil seiner Unterhaltspflicht nicht nachkommt (TZ 236), ist gleich dem zivilrechtlich festgelegten Regelbedarf für nichteheliche Kinder.6 Dieser Regelbedarf richtet sich nach der Zahl der Unterhaltsberechtigten; er steigt mit dem Alter des Kindes und dem Einkommen des Unterhaltspflichtigen. 314. Eine schwer einzuordnende Sozialleistung ist das Sterbegeld. Dies ist aus historischen Gründen eine Leistung der Krankenversicherung (daneben auch der Unfallversicherung und des sozialen Entschädigungsrechts); da die meisten Menschen als Rentenbezieher sterben, könnte man die Deckung der Beerdigungskosten besser als Abschlußzahlung der Alterssicherung verstehen. Das künftig auslaufende (TZ 207) Sterbegeld aus der Krankenversicherung ist (seit 1989) diskretionär auf 2.100 DM festgesetzt (Angehörige 1.050 DM). 315. Das Erziehungsgeld (TZ 238) beträgt 600,- DM/Monat. Vom 7. Lebensmonat an wird es gemindert wenn bestimmte Einkommensgrenzen überschritten werden. 316. Die Pflegeleistungen sind nach der Häufigkeit des Hilfebedarfs (Pflegestufen I-III) differenziert und ersetzen den entstehenden Bedarf bis zu nominal festgelegten Höchstbeträgen. Als Leistungen sind vorgesehen: Bei Pflege durch Haushaltsangehörige ein Pflegegeld, oder die Übernahme von Kosten einer Sachleistung (z.B. Pflegeeinsatz durch ambulante Dienste). Bei stationärer Pflege übernimmt die Pflegeversicherung die pflegebedingten Aufwendungen bis zu 2.800 DM monatlich. Die Kosten für Unterkunft und Verpflegung werden nicht übernommen.
Kapitel 4: Bemessung der Geldleistungen
121
c)
Kindergeld
317.
Das Kindergeld soll die durch Kinder entstehende zusätzliche
Belastung des Familieneinkommens ausgleichen. Während die Notwendigkeit eines solchen Ausgleichs breit erörtert wird, gibt es kaum normative Vorstellungen über dessen Höhe. Das Kindergeld wird ad hoc in absoluten Beträgen festgesetzt Dabei werden Differenzierungen nach der Situation der Eltern oder deijenigen des Kindes vorgenommen. Zur Beurteilung der Angemessenheit der Höhe des Kindergeldes kann man sich an den Kosten der Kindererziehung oder an der relativen Belastung des Familieneinkommens orientieren. Beide Größen verändern sich unter sonst gleichen Verhältnissen mit der Höhe des Einkommens: Die absoluten Aufwendungen für Kinder steigen, die relative Belastung des Einkommens sinkt mit steigender Einkommenshöhe. 318.
Da Kinder im Familienverband leben, steigen die durch sie verursachten
Ausgaben mit steigender Einkommenshöhe der Eltern absolut an. Von daher kann man der Auffassung sein, daß in jeder Einkommensklasse ein Ausgleich zwischen kinderarmen und kinderreichen Familien herbeigeführt werden soll. Ein solcher Ausgleich ist unter der Bezeichnung "schichten-spezifischer Ausgleich" befürwortet worden. Will man dieses Ziel erreichen, so müßte das Kindergeld als Prozentsatz des individuellen Einkommens bemessen werden. Dies ist jedoch nirgends verwirklicht worden. 319.
Allerdings hat die steuerliche Entlastung mit Rücksicht auf Kinder in
Form der Kinderfreibeträge bei progressivem Steuertarif die Wirkung eines nach der Einkommenshöhe bemessenen Kindergeldes. Die Kinderfreibeträge stehen jedoch primär unter der Zielsetzung, die steuerliche Belastung nach der individuellen
Leistungsfähigkeit
zu
bemessen;
sie
wollen
horizontale
Gerechtigkeit der Steuerbelastung herstellen. 320.
Wegen der mit steigernder Einkommenshöhe zunehmenden Entlastung
wegen Kindererziehung wurden 1975 die Kinderfreibeträge im Steuerrecht beseitigt. Die Entlastung erfolgte danach allein durch das Kindergeld und damit in gleicher Höhe. 1983 wurden die steuerlichen Freibeträge und damit ein
122
Kapitel 4: Bemessung der Geldleistungen
"duales System" des Familienlastenausgleichs wieder eingeführt. Für ein Ehepaar mit 2 Kindern und durchschnittlichem Einkommen betrug die Begünstigung gegenüber einem kinderlosen Ehepaar durch Steuerermäßigung und Kindergeld 240 DM monatlich;7 das entsprach 9,6 v.H. des Einkommens und deckte weniger als ein Drittel der durch die Kinder verursachten Kosten. 321. Für eine Arbeitnehmerfamilie mit durchschnittlichem Einkommen und 2 Kindern wurden die Ausgaben für diese Kinder im Jahr 1992 auf 1040,-- DM je Monat angegeben.8 Das entsprach 28 v.H. des Einkommens dieser Familie. Im gleichen Jahr erhielt die Familie Kindergeld in Höhe von 200,- DM/Monat. Das Kindergeld entsprach demnach 19 v.H. der Erziehungskosten. 322. Statt auf die Erziehungskosten kann man auch auf die relative Höhe des Kindergeldes im Verhältnis zum Einkommen abheben. Insbesondere für zeitliche und internationale Vergleiche ist es zweckmäßig, die Höhe des Kindergeldes auf ein Standardeinkommen zu beziehen. Das einer Familie mit 3 Kindern zustehende Kindergeld entsprach bei dessen Einführung (1955) knapp 7 v.H. des aktuellen Durchschnittslohns; im Jahre 1979 waren dies 15 v.H. Seither sank die Relation wieder ab auf 11 v.H. im Jahre 1992; Diese Relation verdeutlicht in besonderem Maße die Einkommenseinbuße einer Familie, wenn ein Elternteil wegen der Kinder die Erwerbstätigkeit aufgibt. 323. Weil die Belastung des Haushaltseinkommens durch Kinder mit steigendem Einkommen relativ abnimmt, wurden zur Begrenzung der Ausgaben Einkommensgrenzen für den Anspruch auf Kindergeld festgelegt. Dies galt für das Kindergeld für das zweite Kind in der Zeit 1961-1975. 1983 - 1995 wurde das Kindergeld gemindert, wenn das Einkommen der Eltern das Durchschnittseinkommen um etwa ein Viertel überstieg. 324. Die Berücksichtigung der Kindererziehung im Steuerrecht hat nicht nur die Wirkung, daß die monetäre Entlastung mit steigender Einkommenshöhe zunimmt, sondern auch die Folge, daß Bezieher niedriger Einkommen den Kinderfreibetrag nicht oder nicht voll in Anspruch nehmen können. Um dies
Kapitel 4: Bemessung der Geldleistungen
123
auszugleichen, wurde Berechtigten mit geringem Einkommen zeitweise (1985 1995) ein Zuschlag zum Kindergeld gezahlt. 325.
Der besonderen Gefährdung der Chancengleichheit bei
Kindern
alleinerziehender Eltern wird durch eine Unterhaltsleistung Rechnung getragen, die unter bestimmten Bedingungen für höchstens 6 Jahre gezahlt wird (TZ 236,313). Eine umfassendere Lösung bestände darin, das Kindergeld für alleinerziehende Eltern höher festzusetzen als im Normalfall. Eine solche Regelung besteht in Dänemark, wo das Kindergeld für Alleinerziehende fast das 3-fache des normalen Kindergeldes beträgt. Zwar wird auch damit nicht erreicht, daß die Mutter vom Zwang der Erwerbstätigkeit befreit wird, doch ist die Chancenungleichheit für die betroffenen Kinder zumindest wirtschaftlich gemildert 326.
Wegen der mit der Anzahl der Kinder je Familie zunehmenden Belastung
des Einkommens wird das Kindergeld je Kind nach dessen Rangfolge gesteigert. Das Kindergeld beträgt (1996) für das erste und zweite Kind 200 DM, für das dritte Kind 300 DM und für jedes weitere Kind 350 DM. Mit steigender Kinderzahl steigt somit die Kostenentlastung je Kind. 9 327.
Das Alter des Kindes wird bei der Bemessung des Kindergeldes nicht
berücksichtigt, obwohl der Bedarf mit dem Alter ansteigt. Bei der Hilfe zum Lebensunterhalt der Sozialhilfe ist der Regelsatz für ein Kind Uber 16 Jahre etwa doppelt so hoch wie deijenige für ein Kind unter 8 Jahren. 328.
Grundsätzlich besteht kein Anspruch auf Kindergeld für Kinder, die
außerhalb der Bundesrepublik Deutschlands wohnen. Länder der Europäischen Gemeinschaft sind gleichgestellt. Im übrigen ist die Bundesregierung ermächtigt zu bestimmen, daß Berechtigten für ihre außerhalb der Bundesrepublik Deutschland lebenden Kinder "ganz oder teilweise" Kindergeld zu leisten ist, "soweit dies mit Rücksicht auf die durchschnittlichen Lebenshaltungskosten für Kinder, in deren Wohnland ... geboten ist".10 Damit soll berücksichtigt werden, daß die Kosten für Kindererziehung in den Ländern außerhalb der Europäischen Gemeinschaft im Regelfall geringer sind. Ein gleicher absoluter
124
Kapitel 4: Bemessung der Geldleistungen
Betrag in inländischer Währung würde die im Ausland entstehenden Kosten zu einem höheren Prozentsatz kompensieren als im Inland. Mit dem Ziel einer gleichen relativen Entlastung sehen deshalb zwischenstaatliche Verträge Abschläge von dem im Inland zu zahlenden Kindergeld vor.
11. Entschädi gungsleistungen 329.
Entschädigungsleistungen
Entschädigung
und
der
sind
diejenigen
Unfallversicherung.
Soziale
der
sozialen
Entschädigung
(Versorgung) steht zu "wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung". Aufgabe der Unfallversicherung ist es, "den Verletzten... zu entschädigen".11 Schädigung und Verletzung können zusammenfassend als Behinderung
bezeichnet
werden;
es
sollen
also
in
beiden
Fällen
Behinderungsfolgen entschädigt werden. Behinderungsfolgen können sein: Eine Minderung der normalen Vitalfunktionen einschließlich Schmerzen, ein Einkommensausfall oder Pflegebedürftigkeit mit der Folge zusätzlicher Kosten. Formale Voraussetzung für die Leistung ist in beiden Fällen eine "Minderung der Erwerbsfähigkeit".12 Diese wird jedoch abstrakt, d.h. allein nach dem Grad der Behinderung festgestellt (TZ 112). Ein gegebener Behinderungsgrad löst allerdings in den beiden Sicherungszweigen Leistungen unterschiedlicher Höhe aus. Ein Unterschied liegt auch darin, daß die Leistungen der sozialen Entschädigung im Grundsatz standardisiert sind, während diejenigen der Unfallversicherung wegen der Bezugnahme auf das vorherige Einkommen des Verletzten individualisiert sind. 330.
Die Geldleistungen nach dem sozialen
Entschädigungsrecht
(Grundrente, Ausgleichsrente, Schwerstbeschädigtenzulage, Pflegezulage) sind nach Maßgabe des Behinderungsgrades in absoluten Beträgen festgelegt; die Entschädigung ist standardisiert. Für die Ausgleichsrente gilt dies mit der Einschränkung, daß ihre Höhe sich um anrechenbares Einkommen (oberhalb von Freigrenzen) mindert. Die Höhe der Leistungen kann man durch einen Vergleich
mit
dem
Durchschnittseinkommen
veranschaulichen.
Ein
Kapitel 4: Bemessung der Geldleistungen
Berechtigter, der zwar nach
dem
Gesetzeswortlaut
125
"erwerbsunfähig",
gleichwohl aber erwerbstätig ist, erhält eine Grundrente als Entschädigung für die Beeinträchtigung seiner Vitalfunktionen, deren Höhe etwa einem Drittel des Durchschnittseinkommens entspricht. Ist der Berechtigte nicht erwerbstätig, so betragen Grund- und Ausgleichsrente zusammen knapp zwei Drittel des Durchschnittseinkommens; die Entschädigungsleistungen haben in diesem Falle auch
die
Funktion
des
Einkommensersatzes.
Selbst
mit
einer
Schwerstbeschädigtenzulage der höchsten Stufe erreicht die Gesamtleistung nur rd. 80 v.H. des Durchschnittseinkommens. Erst mit der Pflegezulage erreicht oder übersteigt die Gesamtleistung das Durchschnittseinkommen. 331.
Die standardisierte Leistungsbemessung hat zur Folge, daß für Nicht-
Erwerbstätige der Einkommensersatz um so niedriger ist, je höher das frühere Einkommen
war.
Um
diesen
Effekt
zu
mildern,
wird
ein
Berufsschadensausgleich gezahlt, wenn ein Einkommensverlust vorliegt. Dieser errechnet sich als Unterschied zwischen dem gegenwärtigen Einkommen und dem höheren Vergleichseinkommen der Berufs- oder Wirtschaftsgruppe, welcher der Beschädigte wahrscheinlich angehört hätte. Der Einkommensverlust wird in Höhe von vier Zehnteln ausgeglichen. 332.
Die
Verletztenrente
der
Unfallversicherung
beträgt
bei
Erwerbsunfähigkeit zwei Drittel des Arbeitseinkommens des Verletzten im Jahr vor dem Arbeitsunfall (Vollrente). Im übrigen besteht Anspruch auf eine Teilrente, deren Höhe dem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit des Verletzten - ebenfalls bezogen auf sein vorheriges Einkommen - entspricht. 333. Durch die Bezugnahme auf das vorherige Einkommen ist die Verletztenrente einerseits individualisiert. Andererseits Bezugnahme
auf
Schadensbewertung
den
Behinderungsgrad
wird eine
vorgenommen. Bei Einführung der
durch
die
abstrakte gesetzlichen
Unfallversicherung dachte man entsprechend privatrechtlicher Tradition an einen konkreten Schadensersatz: "Gegenstand der Versicherung ist der ... Ersatz des Schadens, welcher durch Körperverletzung ... entsteht".13 Rechtsprechung und Praxis entwickelten jedoch den Grundsatz der abstrakten Schadensbewertung,
126
Kapitel 4: Bemessung der Geldleistungen
indem die Rentenhöhe (in v.H. des letzten Einkommens) nach Maßgabe des Behinderungsgrades bemessen wird. Es wird vom Behinderungsgrad auf die Höhe des Schadens geschlossen, wie dies auch bei der Grundrente nach dem sozialen Entschädigungsrecht der Fall ist. Die abstrakte Schadensbewertung hat zur Folge, daß Verletztenrente auch an Personen gezahlt wird, die keinen Einkommensausfall haben. In diesen Fällen hat die Rente die Funktion einer Kompensation geminderter Vitalfunktionen (Schmerzensgeld); sie hat allein Entschädigungsfunktion, keine Einkommensersatzfunktion. 334.
Die
Entschädigungsfunktion
unterliegt
einer
Degression
mit
zunehmendem Behinderungsgrad. Wenn der Verletzte erwerbstätig ist, erhält er zusätzlich zu seinem Erwerbseinkommen eine Entschädigung, deren Höhe bis zur Hälfte (in Ausnahmefällen mehr) seines Erwerbseinkommens betragen kann. Ist der Verletzte nicht erwerbstätig, so hat die Verletztenrente allein Einkommensersatzfunktion; ihre Entschädigungsfunktion entfällt Angesichts dieses schwer verständlichen Sachverhalts ist vorgeschlagen worden zu prüfen, ob in der Unfallversicherung ebenso wie im Entschädigungsrecht eine Aufgliederung in Grund- und Ausgleichsrente empfehlenswert sei. Dem erwerbstätigen Beamten, dessen Erwerbsfähigkeit durch Verletzung beschränkt ist, wird ein Unfallausgleich in Höhe der Grundrente des Entschädigungsrechts
gezahlt.14
Wenn
neben
sozialen
Erwerbseinkommen
eine
Entschädigung gezahlt wird, so sollte diese möglichst einheitlich und jedenfalls "durchgängig" sein, d.h. nicht mit steigendem Behinderungsgrad abfallen. IS 335.
Der Grundsatz
des
Schadensersatzes
ließe erwarten,
daß
ein
vollständiger Einkommensersatz erfolgt. Abweichend davon wurde die Höchstrente in der gesetzlichen Unfallversicherung auf zwei Drittel des bisherigen Verdienstes festgesetzt, weil dies "billig und gerecht" erscheine, weil beim Rentner gegenüber dem Arbeitenden ein geringerer Bedarf vorhanden sei, und weil schließlich die gesetzliche Unfallversicherung weiter greife als der privatrechtliche Haftpflichtanspruch, indem z.B. auch der selbstverschuldete Unfall einbezogen sei. Doch abgesehen hiervon wird die durch Arbeitsunfall verursachte Erwerbsbehinderung höher kompensiert als eine
"normale"
Erwerbsbehinderung. Dies liegt in der geringeren Zahl dieser Fälle begründet
Kapitel 4: Bemessung der Geldleistungen
127
sowie in der Tatsache, daß die Unfallversicherung den zivilrechtlichen Entschädigungsanspruch gegen den Arbeitgeber ablöst. Das wiederum hat zur Folge, daß die Arbeitgeber die Unfallversicherung finanzieren und deren Leistungshöhe
nicht
kritisieren.
Die
unterschiedliche
Einkommensersatzes bei Erwerbsbehinderung durch
Höhe
des
Unfallversicherung,
Rentenversicherung und soziale Entschädigung widerspricht einer finalen Zielsetzung und wird zunehmend in Frage gestellt 16 336.
Bei
Tod
Angehörigen
durch Anspruch
Unfallversicherung
bemißt
Arbeitsunfall auf sich
oder
Beschädigung
haben
die
Witwenrente
der
Jahresarbeitsverdienst
des
Entschädigung. nach
dem
Die
Verstorbenen; sie beträgt 30 v.H. dieser Größe und erhöht sich auf 40 v.H., wenn die Witwe 45 Jahre alt oder berufsunfähig ist oder ein Kind erzieht. Im letzteren Falle beträgt die Rente 60 v.H. der Vollrente, die der Verstorbene bezogen hat oder bezogen hätte. Auch die Waisen- und Elternrente der Unfallversicherung Verstorbenen.
bemißt
Die
sich
nach
dem
Hinterbliebenenrenten
Jahresarbeitsverdienst (Witwenrente,
des
Waisenrente,
Elternrente) der sozialen Entschädigung sind ebenso wie die Renten an Beschädigte standardisiert. Die Witwe eines Beschädigten, der erwerbsunfähig war, erhält gleichfalls etwa 60 v.H. des Betrages, den der Beschädigte bezogen hatte.
III. Einkommensersatzleistungen 337.
Die Mehrzahl
der
Sozialleistungen
und
der
größte
Teil
der
Sozialausgaben dient dem Ziel, ausgefallenes Einkommen zu ersetzen. Dieses Ziel der Einkommensbezogenheit ist auf Wertentscheidungen gegründet Im Falle marktwirtschaftlich orientierter Wirtschaftssysteme ist dies die prinzipielle Anerkennung des Markteinkommens als Grundlage der Einkommensverteilung. Danach ist das vorherige Einkommen des Leistungsberechtigten grundlegendes Kriterium für die Bemessung
der Sozialleistung.
Allerdings
ist
die
Einkommensbezogenheit der Sozialleistungen in der Praxis vielfach modifiziert
1 28
338.
Kapitel 4: Bemessung der Geldleistungen
Das Verhältnis, in dem die Sozialleistung zum voraufgegangenen
Einkommen des Berechtigten steht - ausgedrückt als Prozentsatz - wird nachstehend als Einkommensersatzrate (EER) bezeichnet. Da für den Leistungsempfänger die wirtschaftliche Situation maßgebend ist, kommt es auf das Verhältnis der (als steuerfrei gedachten) Sozialleistung zum vorherigen Netto-Enkommen an. Man kann zwischen einer direkten und eine indirekten Festlegung der EER unterscheiden. Eine direkte Festlegung liegt vor, wenn die Höhe der Leistung in Relation zum unmittelbar voraufgegangenen Einkommen bemessen wird, wie z.B. beim Kranken- und Arbeitslosengeld. Eine indirekte Festlegung liegt vor, wenn die EER, wie im Falle der Altersrente, von längerfristigen und mehreren Faktoren abhängt.
a) Kurzfristige Leistungen 339.
Das Arbeitslosengeld, (ebenso das Winterausfallgeld, TZ 216)
beträgt für Arbeitslose, die ein Kind haben 67 v.H., sonst 60 v.H. des vorherigen
Nettoarbeitsentgelts. Für
entsprechenden Sätze 57 und 53 v.H.
17
die Arbeitslosenhilfe betragen
die
Diese Leistungshöhe verhindert nicht,
daß das Einkommen der Leistungsempfänger teilweise unter den Mindestbedarf absinkt, mit der Folge, daß ein Teil von ihnen zusätzlich Hilfe zum Lebensunterhalt der Sozialhilfe bezieht 340. Das Krankengeld bträgt 70 v.H. des vorherigen Bruttoeinkommens, darf jedoch 90 v.H. des Nettoeinkommens nicht übersteigen.18 341.
Wenn eine Krankheit in Invalidität Ubergeht, ergibt sich regelmäßig ein
Absinken der Einkommensersatzrate. Auch im Falle der Arbeitslosigkeit sinkt die Einkommensersatzrate mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit wegen des Übergangs vom Arbeitslosengeld auf Arbeitslosenhilfe. Die Tatsache der zeitlichen
Degression der Einkommensersatzrate wird unterschiedlich
bewertet. Eine Expertengruppe kommt zu dem Schluß: "Man kann sicherlich nicht davon ausgehen, daß jede Degression vermieden werden kann; ein voller Ersatz für den Verdienstausfall ist, wenn überhaupt, nur für kurze Zeit zu
Kapitel 4: Bemessung der Geldleistungen
129
rechtfertigen".19 Dem liegt das Urteil zugrunde, daß ein Nicht-Erwerbstätiger prinzipiell nicht das gleiche Einkommen beziehen soll wie ein Erwerbstätiger. Weiter gilt, daß bestimmte Aufwendungen, z.B. für Transport und Kleidung, sich
reduzieren,
wenn
keine
Erwerbstätigkeit
ausgeübt
wird.
Eine
Rechtfertigung für den kurzfristig vollen Einkommensersatz liegt darin, daß die üblichen Haushaltsausgaben und -Verpflichtungen nicht kurzfristig gesenkt werden können. Dem wird entgegengehalten, daß ein Rückgriff auf Ersparnisse oder eine Verschuldung kurzfristig zumutbar ist; daher "wäre es konsequent, die Höhe der öffentlichen Transferzahlungen mit der Dauer der sozialen Notlage zu erhöhen".20 Gegenüber solchen theoretischen Erwägungen ist die höhere Einkommensersatzrate bei kurzfristigen Leistungen darin begründet, daß man sie nur zeitlich begrenzt für finanzierbar hält.
b) Bemessung der Altersrente 342.
Wegen der Zahl der betroffenen Personen, der Dauerhaftigkeit des
Zustandes und der finanziellen Konsequenzen zieht die Einkommensersatzrate im Falle des Alters besonderes Interesse auf sich. Sie ist in Deutschland seit Einführung der Rentenversicherung erheblich angestiegen. Allerdings ist die Einkommensbezogenheit der Alters- (und Invaliditäts)-renten erst im Laufe längerer Zeiträume verwirklicht worden. Um nennenswerte Rentenbeträge zu erreichen, enthielt bei Einführung der Rentenversicherung (1891) jede Rente einen
Grundbetrag
und
einen
festen
Reichszuschuß.
Diese
festen
Rentenbestandteile hatten auf Jahre hinaus die Wirkung, daß praktisch Einheitsrenten gezahlt wurden. Erst langsam bekam der einkommensabhängige Rentenbestandteil größeres Gewicht. Der summierte Steigerungsbetrag - d.h. der Rentenbestandteil
in
Abhängigkeit
von
der
Lohnhöhe
und
der
Versicherungsdauer - betrug bei einem Versicherten mit durchschnittlichem Verdienst im Verhältnis zu den festen Rentenbestandteilen im Jahre 1900 nur ein Drittel; erst 1920 entsprachen sich beide Rentenbestandteile. Weitere 30 Jahre später (1950) machten die festen Rentenbestandteile immer noch ein Drittel der Gesamtrente aus. Erst 1957 wurde die Einkommensbezogenheit durch Beseitigung der festen Rentenbestandteile verwirklicht.
1 30
Kapitel 4 : Bemessung der Geldleistungen
343. E)ie Höhe der Altersrente ergibt sich aus verschiedenen Faktoren ("Rentenformel"). Grundlegend sind die Höhe des Einkommens, von dem Beiträge entrichtet worden sind, die Versicherungsdauer und das gegenwärtige Durchschnittseinkommen. Die sich aus diesen Faktoren ergebende Rentenhöhe wird unter bestimmten Bedingungen modifiziert entweder durch Differenzierung der Faktoren oder durch Zu- und Abschläge von der Rente. Die Renten wegen Erwerbsbehinderung (TZ 127) sowie die Erziehungsrente (TZ 239) werden im Grundsatz ebenso berechnet wie die Altersrente.
1. Einkommensfaktor 344. Die Altersrenten wurden ursprünglich nach Anzahl und Höhe der entrichteten Beiträge bemessen. Die Leistung sollte entsprechend dem Versicherungsprinzip beitragsgerecht sein. Der Bezug zum Einkommen war nur indirekt dadurch gegeben, daß die Beiträge proportional (allerdings nach Lohn- oder Beitragsklassen) zum Einkommen erhoben wurden. Die Beitragsbezogenheit führte im Laufe der Zeit zu einem Absinken der Einkommensersatzrate weil sowohl die Einkommen als auch der Beitragssatz anstiegen. Eine Geldeinheit früher entrichteter Beiträge verlor im Zeitablauf an Wert im Vergleich zum aktuellen Einkommen. Um diesen Effekt zu mildern, hat man nachträglich Korrekturen vorgenommen, die technisch unterschiedlich, im Ergebnis zu einer Aufwertung früher entrichteter Beiträge führten. Dennoch ist die ursprünglich angestrebte Beitragsgerechtigkeit nie verwirklicht worden. Seit 1957 wird die Rente auf das voraufgegangene Einkommen bezogen. Dabei ist unerheblich, welcher Beitragssatz von dem früheren Einkommen abgeführt wurde. 345. Bei einkommensbezogener Leistungsbemessung stellt sich die Frage, welche Bezugsperiode des Einkommens zugrunde gelegt werden soll. Bei kurzfristigen Leistungen empfiehlt sich allein aus praktischen Gründen die Bezugnahme auf das letzte Einkommen. So wird das Arbeitslosengeld und das Krankengeld nach dem Einkommen des letzten Monats vor Leistungsbeginn
Kapitel 4: Bemessung der Geldleistungen
131
berechnet. Hinsichtlich langfristiger Leistungen ist die Situation unterschiedlich. In der Beamtenversorgung wird auf die letzten Dienstbezüge Bezug genommen. Dies ist zielgerecht, weil das Einkommen der Beamten im Verlaufe der Dienstzeit ansteigt und somit die letzten Dienstbezüge den
erreichten
Lebensstandard indizieren. In der Rentenversicherung wird die gesamte Dauer des Arbeitslebens als Bezugsperiode zugrundegelegt. Dies beruht auf der Auffassung, daß die Altersrente Gegenleistung für früher geleistete Arbeit ist. Diese Auffassung wurde bei der Reform der Alterssicherung 1957 stark betont 346.
Die Zugrundelegung des letzten Einkommens ist vorteilhaft für
Personen, deren Einkommen unter sonst gleichen Verhältnissen mit dem Lebensalter ansteigt (Beamte, Angestellte); sie ist nachteilig in den Fällen, in denen das Einkommen mit steigendem Alter (relativ) sinkt. Dies ist häufig bei Arbeitern der Fall, die in mittleren Lebensjahren durch Überstunden-, Schichtoder Akkordarbeit ein relativ höheres Einkommen beziehen als in höherem Lebensalter. Bei einem Übergang auf das letzte Einkommen als Bezugsgröße würde die Hälfte der Versicherten besser gestellt sein, die andere Hälfte insbesondere Arbeiterund weibliche Angestellte - dagegen schlechter.21 347.
Wird
der
Leistungsbemessung
eine
längere
Bezugsperiode
zugrundegelegt, so entsteht die Notwendigkeit einer Aktualisierung früherer Einkommensgrößen. Unterbliebe diese, so hätte die Verwendung früherer Nominalwerte des Einkommens eine Reduzierung der Einkommensersatzrate zur Folge. Um dies zu vermeiden, muß eine Aufwertung früherer Nominalwerte nach Maßgabe der inzwischen eingetretenen Wertänderungen erfolgen. Ein solcher Schritt wurde bewußt und systematisch in Deutschland erstmals mit dem Renten-Mehrbetragsgesetz von 1954 unternommen. Dieses Gesetz erhöhte die Renten differenziert nach dem Alter und dem Rentenbeginn. Seit 1957 wurden die früheren Nominalwerte bei der Rentenberechnung nach Maßgabe der inzwischen erfolgten Lohnerhöhungen aufgewertet, indem die Nominalwerte in Relativwerte
umgewandelt
wurden.
Seit
1992
wird
das
versicherte
Arbeitsentgelt in Entgeltpunkte umgerechnet; diese Entgeltpunkte werden bei der Rentenberechnung mit einem jährlich neu festgesetzten "aktuellen Rentenwert"
132
Kapitel 4: Bemessung der Geldleistungen
vervielfältigt22 Damit sind die Auswirkungen aller zwischenzeitlich erfolgten Einkommensänderungen eliminiert 348.
Der Altersrente wird zwar
zugrundegelegt,
doch
im
werden zur
Prinzip
das
Sicherstellung
Lebenseinkommen
einer
angemessenen
Einkommensersatz-Rate Korrekturen vorgenommen; es handelt sich um die Mindestbewertung der Pflichtbeitragszeiten für eine Berufsausbildung (90 v.H. des Durchschnittsentgelts) und die Mindestbewertung von wenigstens 75 v.H. für Zeiten vor 1992 für Berechtigte, die mindestens 35 Jahre versichert waren (Rente nach Mindesteinkommen).23 Von der Rente nach Mindesteinkommen sind bei deren Einführung (1972) rd. 12 v.H. des Rentenbestandes begünstigt worden. Über 80 v.H. der Begünstigten waren Frauen. Im Hinblick auf die zunehmende Teilzeitarbeit ist vorgeschlagen
worden,
unzureichender Leistungen einen Mindestbeitrag einzuführen. 349.
zur
Vermeidung
24
Die Einkommensbezogenheit der Altersrenten ist der Höhe nach
begrenzt.
Dies
ergibt
sich
daraus,
daß
Einkommen
jenseits
einer
Bemessungsgrenze nicht der Beitragspflicht unterliegen und folglich bei der Rentenbemessung außer Acht bleiben.25 Diese Begrenzung hat ein Absinken der Einkommensersatz-Rate von einer bestimmten Einkommenshöhe ab zur Folge. Die Bemessungsgrenze für Beiträge zur Alterssicherung ist seit 1957 der Idee nach auf das Doppelte des jeweiligen Durchschnittsverdienstes festgelegt. In der Praxis liegt sie bei etwa 180 v.H. des aktuellen Durchschnittsentgelts. Dies hat zur Folge, daß nur bis zu dieser relativen Einkommenshöhe nach 40 Versicherungsjahren die angestrebte Einkommensersatz-Rate von 60 erreicht wird. Bei höherem Einkommen sinkt sie ab und beträgt bei einer persönlichen Bemessungsgrundlage von 300 v.H. nur noch 32. 350.
Die Existenz der Beitragsbemessungsgrenze ist problematisch; sie
beruht auf der Annahme, daß Bezieher höherer Einkommen in der Lage seien, den notwendigen Einkommensersatz auf andere Weise sicherzustellen. Dieses auf dem Gedanken der Schutzbedürftigkeit beruhende Argument wird immer erneut durch Tatsachen widerlegt. Eine dieser Tatsachen ist, daß höher verdienende Arbeitnehmer in Zusatzsicherungssysteme einbezogen werden, die
Kapitel 4: Bemessung der Geldleistungen
133
eine weit höhere als die gesetzliche Beitragsbemessungsgrenze haben. Ein Absinken der Einkommensersatzrate mit steigendem Einkommen gibt es im Beamtenrecht
nicht,
obwohl
hier
der
Abstand
zwischen
Durchschnittseinkommen und höchstem Einkommen erheblich weiter ist als 100:180. Gemessen am Durchschnittseinkommen beträgt das anrechenbare Einkommen des höchsten Beamtengehaltes (B 11) fast das Fünffache. Dieser Unterschied
ist
frappierend.
Abgeordnetenversorgung
gibt
Auch es
in keine
der
Minister
-
und
Bemessungsgrenze.
Die
Beitragsbemessungsgrenze in der Rentenversicherung sollte erhöht werden. Zumindest sollte die Möglichkeit eröffnet werden, freiwillig Beiträge jenseits der Bemessungsgrenze zu entrichten; dies könnte dann auch tarifvertraglich vereinbart werden.
2. Zeitfaktor 351.
Eine überwiegend durch Beiträge finanzierte Altersrente erfordert bei
deren Bemessung die Berücksichtigung der Dauer der Beitragsentrichtung. Die Höhe der Altersrente bestimmt sich daher nach der Zahl der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre.
Berücksichtigt werden Zeiten, für die
Beiträge
entrichtet sind (Beitragszeiten), daneben auch beitragsfreie Zeiten. In der Beamtenversorgung, für die keine Beiträge zu entrichten sind, richtet sich die Höhe des Ruhegehaltes nach der Anzahl der Jahre, die im Beamtenverhältnis zurückgelegt worden sind oder sonst anrechenbar sind (ruhegehaltfähige Dienstzeit).26 352.
Für Zeiten der Erziehung eines Kindes in dessen ersten drei
Lebensjahren gelten Pflichtbeiträge als gezahlt Die Erziehungszeit wird dem Elternteil zugeordnet, der das Kind erzogen hat. Als unbefriedigend wird empfunden, daß die Kindererziehungszeiten nicht mit Beitragszeiten zusammen gerechnet werden; dies trifft diejenigen Frauen besonders hart, die gezwungen sind, während der Eiziehungszeit erwerbstätig zu sein.27
134
353.
Kapitel 4: Bemessung der Geldleistungen
Die Einkommensersatzrate soll nicht dadurch gemindert werden, daß die
Beitragszeit durch Umstände verkürzt wird, die der Versicherte nicht zu vertreten hat. Darum werden neben den Beitragszeiten weitere Zeiten als Versicherungsjahre
angerechnet (Anrechnungszeiten).
insbesondere Zeiten einer Krankheit, Ausbildung.
Beitragsfreie
Zeiten
sind
dies
einer Arbeitslosigkeit und
einer
erhalten
den
Es
Durchschnittswert
an
Entgeltpunkten, der sich aus der Gesamtleistung an Beiträgen ergibt. 354.
Spezielle Probleme hinsichtlich der Versicherungsdauer sind für
Zuwanderer zu lösen. In Anwendung des Eingliederungsgrundsatzes (TZ 297)
werden
Beitragszeiten
bei
bestimmten
nicht-deutschen
Rentenversicherungsträgern in der Bundesrepublik Deutschland angerechnet (Fremdzeiten).
Lag
keine
Versicherungspflicht
Beschäftigungszeiten (wie Beitragszeiten) angerechnet.
vor, 28
so
werden
Im übrigen werden
ausländische Versicherungszeiten in vielen Fällen aufgrund zwischenstaatlicher Verträge angerechnet (TZ 293). 355.
Bei Personen, die wegen Erwerbsbehinderung leistungsberechtigt sind,
ist in der Regel die Versicherungsdauer verkürzt. Um gleichwohl eine befriedigende
Einkommensersatzrate
zu
erreichen,
wird
eine
Zurechnungszeit angerechnet. Es ist dies der Zeitraum zwischen dem Eintritt der Erwerbsbehinderung und der Vollendung des 60. Lebensjahres.29 Dies verhindert die sonst bei jüngeren Personen eintretende erhebliche Minderung der Einkommensersatzrate. 356.
In machen Fällen ist die Leistungsberechtigung von der Erfüllung
bestimmter Mindestbedingungen hinsichtlich der Versicherungsdauer abhängig. Das gilt z.B. für die Invaliditätsrente (TZ 146), die vorzeitige Altersrente wegen langer Versicherungsdauer (TZ 181) und die Rente nach Mindesteinkommen (TZ 348). Um die Erfüllung dieser Voraussetzungen zu erleichtern, werden bestimmte
Zeiten
anspruchsbegründend
berücksichtigt, oder
die
allerdings
rentenerhöhend
selbst
wirken.
nicht Solche
Berücksichtigungszeiten sind unter bestimmten Bedingungen die Zeit der
Kapitel 4: Bemessung der Geldleistungen
135
Erziehung eines Kindes bis zu dessen 10. Lebensjahr sowie die Pflege eines Schwerpflegebedürftigen.30 357.
An Stelle der Anrechnung beitragsfreier Zeiten ist in mehreren Fällen
eine Beitragsentrichtung durch Dritte getreten. So entrichtet der Bund Beiträge für Wehrpflichtige, die Bundesanstalt für Arbeit für Arbeitslose, die Krankenversicherung für Bezieher von Krankengeld, die Pflegeversicherung für Pflegepersonen. Es liegt nahe, diese Regelungen zu verallgemeinern. Eine umfassende Regelung hätte von dem Grundsatz auszugehen, daß vom Beginn der Volljährigkeit an die Kosten des Lebensunterhalts auch die notwendigen Aufwendungen für die Alterssicherung einschließen. Folglich müßte, falls keine Erwerbstätigkeit ausgeübt wird, diejenige Person (Unterhaltspflichtiger) oder Stelle (Sozialleistungsträger), die für den Lebensunterhalt aufkommt, auch die erforderlichen Beiträge übernehmen. Dadurch würde nicht nur das Erreichen der angestrebten Einkommensersatzrate erleichtert, sondern auch ein Beitrag zur Kostentransparenz geleistet. 358.
Die vom Versicherten erworbenen Entgeltpunkte fuhren bei ihrer
Vervielfältigung mit dem aktuellen Rentenwert zu einer für jedes einzelne Jahr gleichbleibenden Erhöhung der Rente. Bei 40 Versicherungsjahren ergibt sich eine Einkommensersatzrate von 60 v.H. Der Steigerungssatz ist linear, d.h. alle Versicherungsjahre werden gleich bewertet. Dadurch ist gewährleistet, daß eine
unterschiedliche
Aufteilung
des
Lebensarbeitsvolumens
(Arbeitsunterbrechung, Teilzeitarbeit) keine Auswirkung auf die Rentenhöhe hat (bei gleichem Einkommensfaktor). In der Beamtenversorgung erfolgt die Berücksichtigung des Zeitfaktors technisch in der Weise, daß die Leistungshöhe in Abhängigkeit von der ruhegehaltfähigen Dienstzeit direkt in v.H. der maßgebenden Einkommensgröße festgelegt wird. Das Ergebnis läßt sich für Zwecke des Vergleichs auch in einem Steigerungssatz ausdrücken. 348.
Der Steigerungssatz ist nach verschiedenen Sicherungsinstitutionen
differenziert. Er beträgt in der Rentenversicherung
1,5
Knappschaftlichen Rentenversicherung
2,0
136
Kapitel 4: Bemessung der Geldleistungen
Beamtenversorgung (rechnerischer Durchschnitt)
1,875
Ministerversorgung (rechnerischer Durchschnitt)
4,2
Abgeordnetenversorgung (rechnerischer Durchschnitt)
4,7
Geht man von einer bestimmten Einkommensersatzrate aus, so errechnet sich aus den unterschiedlichen Steigerungssätzen der zum Erreichen dieses Wertes erforderliche Zeitraum. Die EER 75 wird erreicht in der Rentenversicherung nach 50 Jahren, in der knappschaftlichen Rentenversicherung nach 37,5 Jahren, in der Beamten Versorgung nach 40 Jahren, in der Ministerversorgung nach 18 Jahren und in der Abgeordnetenversorgung nach 16 Jahren. 360.
Eine Abweichung von der Linearitätder Bewertung von Zeiten liegtauch
vor, wenn Zeiten einer bestimmten Tätigkeit oder einer Tätigkeit unter bestimmten Bedingungen besonders bewertet werden.
Die Zeit einer
Verwendung eines Beamten in Ländern, in denen er gesundheitsschädigenden klimatischen Einflüssen ausgesetzt ist, wird
bis
zum
doppelten
als
ruhegehaltsfähige Dienstzeit berücksichtigt. Der Leistungszuschlag in der knappschaftlichen Rentenversicherung bewirkt eine Höherbewertung von Zeiten einer Arbeit unter Tage. 361.
Neben der Versicherungsdauer
hat
auch
eine vom
Normalen
abweichende Rentenbezugsdauer Einfluß auf die Leistungshöhe. Wählt der Versicherte einen früheren oder späteren Rentenbeginn (TZ 191), so wird die Rente für jedes Jahr des Vorziehens um 3,6 v.H. gemindert, für jedes Jahr des Verzichts
um
6
v.H.
erhöht
(Zugangsfaktor).31
Damit
sollen
Umverteilungswirkungen durch den abweichenden Rentenbeginn ausgeglichen werden.
3. Rentenformel 362.
Die seit 1992 geltende Rentenformel stellt sich zusammenfassend wie
folgt dar:
Kapitel 4: Bemessung der Geldleistungen
a)
137
Die Rentenhöhe richtet sich vor allem nach der Höhe der während der Versicherungsdauer durch Beiträge versicherten Arbeitsentgelte.
b)
Das versicherte Arbeitsentgelt wird in Entgeltpunkte umgerechnet; ein Arbeitsentgelt in Höhe des Durchschnittsentgelts ergibt einen Entgeltpunkt.
c)
Für bestimmte beitragsfreie Zeiten werden Entgeltpunkte angerechnet, deren Höhe von den Arbeitsentgelten der Beitragszeiten abhängt.
d)
Bei vorzeitiger Inanspruchnahme der Altersrente oder bei Beginn der Altersrente nach Vollendung des 65. Lebensjahres werden Vor- oder Nachteile der unterschiedlichen Rentenbezugsdauer durch einen Zugangsfaktor vermieden.
e)
Der Monatsbetrag der Rente ergibt sich, indem die Entgeltpunkte mit dem aktuellen Rentenwert vervielfältigt werden.
0
Der aktuelle Rentenwert wird entsprechend der Entwicklung des Durchschnittsentgelts aller Versicherten unter Berücksichtigung der Belastungsveränderung bei Arbeitsentgelten und Renten durch Steuern und Beiträge jährlich angepaßt.
363.
Der für Ehescheidungen ab 1977 geltende Versorgungsausgleich
(TZ 200) wird in der Weise vorgenommen, daß die Werte der in der Ehezeit von den Ehepartnern erworbenen Versorgungsanwartschaften einander gegenüber gestellt werden und der Ehegatte mit den höheren Anwartschaften die Hälfte des Unterschiedsbetrages Anwartschaften
an
den
geschiedenen
Hiegatten
in
der
gesetzlichen
Versicherungskonto
des
Ausgleichsverpflichteten
abzugeben
hat.
werden
vom
Rentenversicherung auf
das
Konto
des
Ausgleichsberechtigten übertragen. Bestehen Versorgungsanrechte aus einem Beamtenverhältnis, werden für den Ausgleichsberechtigten Anwartschaften der gesetzlichen Rentenversicherung begründet. Die Übertragung oder Begründung von Rentenanwartschaften erfolgt durch einen Abschlag an Entgeltpunkten zu
138
Kapitel 4: Bemessung der
Geldleistungen
Lasten des Ausgleichsverpflichteten und einen entsprechenden Zuschlag zugunsten des Ausgleichberechtigten. 364.
Im
Unterschied
Rentenformel
eine
zur Beitragsäquivalenz (TZ 44)
Teilhabeäquivalenz.
Unabhängig
garantiert von
die
den
in
Vergangenheit und Gegenwart gültigen Beitragssätzen wird die Teilhabe des Berechtigten an der Gesamtheit der Versichertengemeinschaft sichergestellt. Der Einkommensfaktor bezeichnet die Rangstelle während der Zugehörigkeit zur Versichertengemeinschaft, der Zeitfaktor die Dauer seiner Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft.
c) Bemessung der Rente wegen Todes 365.
Die Hinterbliebenenrente hat Unterhaltsersatzfunktion. Sie soll die
erloschene Unterhaltsverpflichtung des verstorbenen Ehegatten kompensieren. Ihre Höhe ist daher an der Leistung orientiert, die dem Verstorbenen zustand oder zugestanden hätte. Die Hinterbliebenenrente aus der Rentenversicherung und der Beamtenversorgung beträgt 60 v.H. der Leistung an den Verstorbenen. Diese Grundrelation ist im internationalen Vergleich häufig, doch kommen auch niedrigere (z.B. Frankreich 50 v.H.) und höhere (z.B. Schweiz 80 v.H.) Relationen vor. Die 60 v.H.-Relation wird zunehmend als unbefriedigend angesehen. Die Ausgaben eines Haushaltes verringern sich wegen eines hohen Anteils
fester
Kosten
(Miete,
Energie
u.a.)
beim
Tode
eines
Haushaltsangehörigen nicht um 40 v.H. Dies kommt darin zum Ausdruck, daß der Regelsatz der Sozialhilfe unter Einschluß der (als
gleichbleibend
angenommenen) Mietkosten beim Tode eines Ehegatten für den Uberlebenden Ehegatten nur auf 67 v.H. absinkt. Aus diesem Grund wird unter dem Gesichtspunkt
einer
Aufrechterhaltung
des
Lebensstandards
Rentenversicherung eine Relation von 70-75 v.H. vorgeschlagen. 366.
für
die
32
Die Anhebung der Relation würde erhebliche Mehraufwendungen
erfordern. Eine kostenneutrale Lösung wäre nur möglich, wenn man die 100 v.H.-Relation für den alleinstehenden Versicherten senken würde. Allerdings
Kapitel 4: Bemessung der
139
Geldleistungen
müßte eine solche Absenkung der Relation bei Versichertenrenten (für Alleinstehende) wegen deren vergleichsweise geringer Anzahl erheblich sein. Eine Erhöhung der Hinterbliebenenrenten um 10 v.H. würde eine Herabsetzung der Renten an alleinstehende Versicherte um mehr als das Doppelte erfordern. 367.
Die steigende Erwerbsquote verheirateter Frauen hat eine zunehmende
Zahl des Zusammentreffens von Hinterbliebenenrente mit einer Rente aus eigener Versicherung zur Folge (TZ 199). Deshalb sind Lösungen erforderlich, die sowohl auf die eigenen als auch auf die abgeleiteten Ansprüche beider Ehepartner Bezug nehmen. Dafür gibt es zwei grundsätzliche Ansätze: Die Teilhabe beider Ehepartner an der erworbenen Gesamtversorgung oder die Bemessung
der
Hinterbliebenenrente
unter
Berücksichtigung
eigenen
Einkommens aus Erwerbstätigkeit oder Sozialleistungsansprüchen. 368.
Für die Ausgestaltung beider Lösungen ist zu berücksichtigen, daß
Versichertenrenten an Frauen im Durchschnitt niedriger sind als solche an Männer, weil Frauen im Durchschnitt niedrigere Arbeitsentgelte und eine kürzere Versicherungsdauer haben. Hierin schlagen sich Tatsachen nieder wie geringerer Ausbildungsstand, Beschäftigung in geringer entlohnten Berufen, Teilzeitarbeit,
Unterbrechung
der
Beschäftigung
insbesondere
wegen
Kindererziehung sowie der Umstand, daß Frauen sich bis 1967 aus Anlaß der Heirat die von ihnen entrichteten Beiträge erstatten lassen konnten. Die Alterseinkommen der Frauen mit eigenen und abgeleiteten Renten liegen im Durchschnitt immer noch unter denjenigen der Männer mit nur eigener Rente. 369.
Bei der Teilhabelösung wird die Hinterbliebenenleistung abgeleitet
aus den von beiden Ehegatten während der Ehe erworbenen Ansprüchen (Teilhabe an der Gesamtversorgung) zuzüglich eigener - außerhalb der Ehe erworbener
Ansprüche.
Für
diese
Grundlösung
hatte
sich
die
Sachverständigenkommission für die soziale Sicherung der Frau und der Hinterbliebenen vor allem aus Gründen der Praktikabilität, der Finanzierbarkeit sowie der Rechtskontinuität ausgesprochen.33 Die Hinterbliebenenrente sollte danach 70 oder 75 v.H. der gemeinsamen Ansprüche betragen (mit Garantie des eigenen Anspruchs).
1 40
370.
Kapitel 4: Bemessung der Geldleistungen
Der Gesetzgeber hat sich
1985 für die
Anrechnungslösung
entschieden. Danach erhält der Uberlebende Ehegatte aus den Ansprüchen des Verstorbenen ohne weitere Voraussetzungen eine Hinterbliebenenrente; auf deren Höhe jedoch Erwerbseinkommen und eigene Rentenansprüche oberhalb von Freigrenzen (etwa ein Drittel des jeweiligen Durchschnittsentgelts) zu 40 v.H. angerechnet werden. 371.
Die Höhe der Hinterbliebenenrente ist nach dem Alter differenziert.
Unterhalb der Altersgrenze von 45 Jahren erhält die Witwe - sofern sie nicht Invalide ist oder Kinder erzieht - nur zwei Drittel der normalen Witwenrente. Auch Länder, die eine Witwenrente vom Erreichen einer Altersgrenze abhängig machen, reduzieren die Rentenhöhe bis zum Erreichen einer weiteren (höheren) Altersgrenze. Dies gilt z.B. für die USA zwischen dem 60. und 62., für Island zwischen dem 50. und 59., für Israel zwischen dem 40. und 49. Lebensjahr. In diesen Fällen wird offenbar unterstellt, daß die Witwe in jüngeren Jahren noch Erwerbseinkommen bezieht oder beziehen könnte. 372.
Die Waisenrente beträgt ein Fünftel der Rente, die dem Versicherten
im Falle der Erwerbsunfähigkeit zugestanden hätte zuzüglich eines Zuschlags, der sich an der Versicherungsdauer des Verstorbenen ausrichtet.34 Sie ist also teilweise auf das Einkommen des Versicherten bezogen, zum anderen Teil als Standardbedarf
normiert.
Bei
Ableitung
aus
der
Rente
eines
Durchschnittsverdieners halten sich beide Teile quantitativ etwa die Waage.
d) Individuelles Rentenniveau 373.
Die Einkommensersatzrate in der
Rentenversicherung
wird
als
Rentenniveau diskutiert. Für die Rentenreform 1957 wurde als Ziel formuliert, daß der Versicherte nach einer 40-jährigen Versicherungsdauer 60 v.H. seines durchschnittlichen gegenwartsbezogenen Arbeitsverdienstes und damit zugleich 60 v.H. Arbeitnehmer
erhält.
des gegenwärtigen Verdienstes
Dieses Ziel
wurde
niemals
vergleichbarer
erreicht,
weil
der
Kapitel 4: Bemessung der Geldleistungen
141
Arbeitsverdienst des Versicherten nach dem verabschiedeten Gesetzestext nicht auf die Gegenwart bezogen wurde, sondern auf den Durchschnittsverdienst während der 3 Jahre, die dem Jahr vor Eintritt des Versicherungsfalles vorausgegangen waren. Der zeitliche Abstand zwischen Bemessungsgrundlage und aktuellem Einkommen hatte eine Senkung der Einkommensersatzrate zur Folge. Sie lag faktisch seit 1958 stets unter 50 v.H. Das ursprünglich angestrebte Ziel von 60 v.H. wurde später auch formal zurückgenommen, und zwar durch Aktualisierung der Bemessungsgrundlage im Jahr 1977 und durch diskretionäre Festlegung der Bemessungsgrundlage im Jahr 1978. 374.
Die damaligen Erörterungen bezogen sich auf das Verhältnis zwischen
Rentenhöhe und Bruttoarbeitsentgelt. Angesichts der steigenden Belastung der Arbeitseinkommen durch Steuern und Sozialversicherungsbeiträge setzte sich Anfang der 80er Jahre der Vergleich mit dem Nettoentgelt durch. Dabei wird die Rente
eines
Durchschnittsverdieners
mit
40
Versicherungsjahren
(Standardrente) mit dem durchschnittlichen Netto-Arbeitsentgelt der versicherten Arbeitnehmer verglichen. Dieses Netto-Rentenniveau stieg zwischen 1973 und 1977 von 56 auf 65 v.H. an. Infolge der Konsolidierungsmaßnahmen nach 1976 sank das Rentenniveau auf 63 v.H. und oszilliert seither um diesen Wert. 375.
Die Rente soll im Regelfall die Höhe der Hilfe zum Lebensunterhalt aus
der Sozialhilfe deutlich Ubersteigen. Von daher ist errechnet worden, welche Werte für die Faktoren der Rentenformel mindestens erreicht werden müssen, damit die Höhe der Rente die Leistung der Sozialhilfe übersteigt. Als Mindestwerte ergaben sich: Bei 40 Versicherungsjahren müssen jeweils 0,66 Entgeltpunkte erreicht worden sein: bei jeweils 1,0 Entgeltpunkten müssen 26 Versicherungsjahre vorliegen.35 376. 60
Nahezu die Hälfte der zustehenden Renten erreicht ein Rentenniveau von v.H.
nicht.
Vorrangig
sind
dies
Renten
an
Frauen,
deren
Versicherungsdauer kurz und/oder deren Arbeitsverdienst gering war. Wenn gleichwohl weniger als 2 v.H. der Rentenbezieher zusätzlich Hilfe zum Lebensunterhalt erhalten, so liegt das darin begründet, daß viele Frauen neben ihrer Versichertenrente eine Hinterbliebenenrente beziehen (TZ 199). Hinzu
142
Kapitel 4: Bemessung der Geldleistungen
kommt, daß viele Rentenbezieher über andere Einkünfte verfügen, wie insbesondere
Leistungen
der
betrieblichen
oder
tarifvertraglichen
Alterssicherung. 377.
Für die Beurteilung des Rentenniveaus ist maßgeblich, ob von der
Altersrente Aufwendungen für die Krankenversicherung zu erbringen sind. Rentenbezieher waren in Deutschland lange Zeit nicht gesetzlich gegen Krankheit versichert. Eine etwaige freiwillige Versicherung mußte aus der Altersrente finanziert werden. Als die Rentner 1941 in die Krankenversicherung einbezogen wurden, erfolgte die Finanzierung im wesentlichen durch die Rentenversicherung, nur zum Teil durch die Rentner. Dies war faktisch eine Steigerung des Rentenniveaus. Ab 1949 war der Krankenversicherungsschutz kostenfrei; die Rentenversicherung zahlte Beiträge an die Krankenversicherung. Freiwillig krankenversicherte Rentner erhielten einen Zuschuß zu ihrer Rente. Seit 1983 haben Rentenbezieher einen Krankenversicherungsbeitrag zu zahlen, der
der
Hälfte des
jeweiligen
durchschnittlichen
Beitragssatzes
zur
Krankenversicherung entspricht. 378.
Vergleicht man die Situation von Personen, die eine Sozialleistung
wegen Erwerbsbehinderung beziehen, so ergibt sich folgendes: Ein Versicherter der Rentenversicherung (Arbeiter, männlich) erreicht bei Durchschnittsverdienst und
40
Versicherungsjahren
(gegebenenfalls
einschließlich
der
Zurechnungszeit) ein Rentenniveau (netto) von etwa 60. In gleichem Verhältnis zum Durchschnittseinkommen stehen Grund- und Ausgleichsrente eines erwerbsunfähigen
Beschädigten
(TZ
330).
Die
Verletztenrente
der
Unfallversicherung beträgt bei Erwerbsunfähigkeit zwei Drittel des (Brutto) Arbeitsverdienstes; das entspricht einem Netto-Rentenniveau von mindestens 80 v.H., im Regelfall deutlich mehr. Diese in vielen Ländern bestehende "BerufsPräferenz" wird zunehmend in Frage gestellt. 379.
Es gibt wachsende Unterstützung für die Meinung, daß Sozialleistungen
wegen Erwerbsbehinderung allein nach dem Behinderungsgrad und den dadurch
bedingten
Einkommensverlust,
Behinderungsursache differenziert sein sollten.
nicht 36
dagegen
nach
der
Schon vor Längerem wurde
Kapitel 4: Bemessung der Geldleistungen
143
bemerkt, daß "ein zukünftiger Zustand des Denkens vorstellbar wäre, in dem alle Probleme der langfristigen Schädigung der körperlichen und geistigen Kräfte als einheitlich gesehen würden."37 Es wird eine Integration aller Restitutionsleistungen
(Wiederherstellung,
Entschädigung
und
Einkommenskompensation) für Personenschäden in einem neuen Zweig der sozialen Sicherung vorgeschlagen mit folgender Begründung: "Alle Argumente, die für kausal differenzierende Restitutionsleistungen vorgebracht werden, erweisen sich bei genauerer Betrachtung als von der Finanzierungs-, nicht von der Leistungsseite abgeleitet".38 Aus dieser Sicht wird allein nach dem beim Geschädigten eingetretenen Verlust und dem entstandenen Bedarf gefragt, nicht nach der Schadensursache. Gleiche Schäden sollen nach gleichen Kriterien ausgeglichen werden. Lediglich bei der Finanzierung könne man kausal differenzieren.
e) Modifizierungen der Einkommensbezogenheit 380.
Die einkommensproportionale Bemessung der Renten wird (wurde oder
kann) durch Maßnahmen modifiziert werden, die auf den Bedarf oder die wirtschaftliche Situation
des
überwiegend
Einkommens-
auf
dem
Rentenbeziehers und
Rücksicht dem
nehmen.
Zeitfaktor
Die
beruhende
Rentenformel wurde 1957 eingeführt. Bis zu diesem Zeitpunkt enthielt die Rente einen nominal festgelegten Grundbetrag. Dieser sollte auch bei geringem Einkommen oder nicht ausreichender Versicherungsdauer eine als angemessen
angesehene
Leistungshöhe
gewährleisten.
Ein
fester
Rentenbestandteil hat die Wirkung eines Absinkens der Einkommensersatzrate mit steigendem Einkommen. Andererseits schwächt sich diese Wirkung mit steigender Versicherungsdauer ab. Hieraus folgt, daß feste Rententeile insbesondere Personen mit kurzer Versicherungsdauer begünstigen. Bei einer allgemeinen Erhöhung der Einkommensersatzrate wurde 1957 die Begünstigung von Personen mit kurzen Versicherungszeiten nicht länger als wünschenswert angesehen. Gegenüber allen nominalen Mindestregelungen sind Korrekturen
144
Kapitel 4: Bemessung der Geldleislungen
des Einkommensfaktors oder des Zeitfaktors vorzuziehen, weil sie differenziert und gezielt vorgenommen werden können. 381.
Ungeachtet der
gesetzgeberischen
1957 getroffenen, 1972 und
Entscheidung
für
eine
1989
bestätigten
einkommensbezogene
Rentenbemessung werden immer wieder Alternativmodelle befürwortet. Die durch die geltende Rentenformel bewirkte Teilhabeäquivalenz hat unvermeidlich zur Folge, daß es geringe, unter dem Existenzminimum liegende Renten gibt. Dies gibt Anlaß zu Forderungen nach Einführung einer einheitlichen Grundoder Mindestrente. Die Forderungen laufen im Kern darauf hinaus, eine aus Steuermitteln zu
finanzierende Grundversorgung
einzuführen. Bei
der
Beurteilung solcher Modelle ist zunächst zu bedenken, daß eine geringe Rentenhöhe in aller Regel auf geringer Versicherungsdauer beruht, die ihrerseits ganz unterschiedliche Ursachen hat, darunter Erwerbstätigkeit.
Soweit
Frauen
wegen
auch
eine
selbständige
erziehungsbedingter
kurzer
Erwerbszeiten geringe Renten beziehen ist zu bedenken, daß sie häufig einen vom Ehepartner abgeleiteten Anspruch auf Rente wegen Todes haben; im übrigen sind gezielte Korrekturen, wie insbesondere die Anrechnung von Kindererziehungszeiten (TZ 352) möglich. Ein entscheidendes Argument gegen eine Grundrente ist ein Verstoß gegen die Eigentumsgewährleistung der auf das Arbeitsentgelt bezogenen Rente: Entweder würde die jetzige Generation enteignet, die in der Vergangenheit Beiträge gezahlt hat und dafür keine adäquate Gegenleistung erhält, oder es wäre die Generation betroffen, die jetzt die früher erworbenen Ansprüche der Älteren zu finanzieren hätte, selbst aber nur eine einheiüiche Grundrente zu erwarten hat. 382.
Weniger weit gehen Modelle einer bedarfsorientierten Aufstockung,
nach denen niedrige Renten durch die Rentenversicherung auf einen am Regelsatz der Sozialhilfe orientierten Betrag aufgestockt werden sollen. Motiv solcher Vorschläge ist, dem Problem verschämter Altersarmut (TZ 75) zu begegnen und solchen Rentenbeziehern zu helfen, die ihren an sich vorhandenen Anspruch auf Sozialhilfe wegen vorhandener Hemmschwellen nicht geltend machen. Gegen solche Modelle sprechen grundsätzlich die eben genannten Bedenken. Die Vermischung beider Systeme führt zu der
Kapitel 4: Bemessung der
Geldleistungen
145
Ungerechtigkeit, daß eine Leistung, die der Eine mit Beiträgen erworben hat, dem Anderen ohne Vorleistung und ohne Rücksicht auf den Grund der niedrigen Rente zusteht. Auch würde eine solche Leistung die „normale" Sozialhilfe
abwerten
und
deren
verbliebene
Anspruchsberechtigte
diskriminieren. 383.
Die Höhe der Rente kann durch Erwerbseinkommen gemindert werden.
Nur beim Bezug einer Altersrente nach vollendetem 65. Lebensjahr ist ein Hinzuverdienst in unbegrenzter Höhe ohne Auswirkung auf die Rentenhöhe. Für
alle
Rentenbezieher
vor
dem
65.
Lebensjahr
gelten
Hinzuverdienstgrenzen, bei deren Überschreitung die Rentenhöhe reduziert wird. 384.
Eine weitere Modifikation liegt hinsichtlich der Rentenbemessung bei
Auslandsaufenthalt vor. Ausländer erhalten bei Aufenthalt im Ausland nur 70 v.H. der Rente.39 Diese Reduzierung der Rentenhöhe wird als gerechtfertigt angesehen im Hinblick auf den aus Steuermitteln finanzierten Bundeszuschuß zur Rentenversicherung. Es wird nicht als gerechtfertigt angesehen, daß Ausländer im Ausland am inländischen Produktivitätsfortschritt teilhaben. Diesem Motiv würde es entsprechen, die Rente voll zu zahlen, sie jedoch von späteren
Anpassungen
auszunehmen.
Zur
Begründung
der
hiervon
abweichenden Regelung wurde ausgeführt, es führe etwa zum gleichen Ergebnis, wenn man die Rente bei der Feststellung auf 70 v.H. reduziere, sie dann aber laufend anpasse; aus rentensystematischen Gründen ist die letzte Alternative gewählt worden.40 Hinzu kommt folgendes Argument: Die Kaufkraft der Deutschen Mark ist im Ausland in der Regel höher als im Inland. Selbst wenn dies im Einzelfall zu einem gegebenen Zeitpunkt nicht zutrifft, so dürfte es
nach
Inflationsraten
im
den
bisherigen
Zeitablauf
Erfahrungen
zutreffender
wegen
werden.
unterschiedlicher
Eine
konsequente
Anwendung dieses Argumentes würde allerdings nach Ländern differenzierte Regelungen erfordern, die jedoch den Vorwurf der Ungleichbehandlung auf sich ziehen würden.
146
Kapitel 4: Bemessung der Geldleistungen
385.
Der Tatbestand Pflegebedürftigkeit (TZ 150) wird im deutschen
Rentenrecht nicht berücksichtigt.
Dies war
bis
zum
Inkrafttreten des
Pflegeversicherungsgesetzes 1995 eine empfindliche Sicherungslücke, weil Bezieher von Altersrenten fast regelmäßig zusätzlich auf Sozialhilfe angewiesen waren, wenn stationäre Pflege erforderlich wurde. Diese Lücke ist, wenn auch nicht vollständig, so doch zum großen Teil durch die standardisierten Leistungen nach dem Pflegeversicherungsgesetz (TZ 316) gedeckt. 386.
Standardisierte
und
gestufte
Pflegezulagen
Unfallversicherung und in der sozialen Entschädigung.
gibt
41
es
in
der
Gegenüber solchen
standardisierten Beträgen sind Fortschritte zu größerer Objektivierung denkbar. Ein Vorschlag geht dahin, drei Kostenelemente zu ermitteln: Spezielle Kosten des Behinderten, Kosten besonderer Maßnahmen zur sozialen Integration und Kosten der Hilfe durch andere Personen. Jedes dieser Elemente soll gewichtet werden
nach
den
Kategorien
begrenzter,
gesteigerter
und
absoluter
Notwendigkeit. Je nach dem Ergebnis der Gewichtung wäre eine - zusätzlich zum Einkommen oder Einkommensersatz zu zahlende - Leistung in Höhe von 30, 60 oder 100 v.H. eines Standardeinkommens festzusetzen. 42 Dieser von den
Kosten
ausgehende
Vorschlag enthält
zwar
noch
Elemente
der
Standardisierung, würde aber gegenüber der "reinen" Standardisierung eine Differenzierung insbesondere bei hohem Grad der Pflegebedürftigkeit erlauben, weil er außer dem physischen Zustand
auch
dessen
soziale
Folgen
berücksichtigt. 387.
Für die Beurteilung der Einkommensersatzrate ist schließlich von
Bedeutung, ob die Sozialleistung der Besteuerung unterliegt. Dies ist, weil ziel widrig, bei Leistungen, die der Bedarfsdeckung und der Entschädigung dienen, nicht der Fall. Auch kurzfristige Einkommensersatzleistungen wie das Krankengeld und das Arbeitslosengeld sind steuerfrei. Bei langfristigen Leistungen mit Einkommensersatzfunktion ist die Situation unterschiedlich. Die Versorgungsbezüge
der Beamten werden (abgesehen
erheblichen Freibetrag) normal besteuert. Die Renten
von der
einem
nicht
gesetzlichen
Rentenversicherungen werden - wie Leibrenten - nach einem
fiktiven
"Ertragsanteil" besteuert; dieser ist altersabhängig und beträgt z.B. bei einem
Kapitel 4: Bemessung der Geldleistungen
147
erstmaligen Rentenbezug mit 65 Jahren 24 v.H. der Rente.43 Praktisch sind die Renten dadurch steuerfrei, es sei denn, daß andere Einkommen hinzutreten. 388.
Dies hat zur Folge, daß wegen der Steuerprogression die auf das
Nettoeinkommen bezogene Einkommensersatzrate um so höher ist, je höher das zugrundeliegende Erwerbseinkommen war. Das kuriose Ergebnis ist, daß die Einkommensersatzrate bis zur
Beitragsbemessungsgrenze
mit steigender
Einkommenshöhe ansteigt, jenseits dieser Grenze jedoch wieder absinkt. Zwar läßt sich dieser Effekt bei progressivem Steuersatz nicht völlig vermeiden, doch würde er verringert, wenn Renten wie andere Einkommen besteuert würden. Erstrebte Vergünstigungen sollten auf Tatbestände (wie Alter oder Invalidität) abgestellt werden und nicht auf Einkommensarten. Eine Umstellung könnte so gestaltet werden, daß die große Mehrzahl der Rentner ohne nennenswerte andere Einkünfte steuerfrei bleibt.
IV. Anpassung von Geldleistungen 389.
Eine im Zeitpunkt der Leistungsfeststellung gegebene Leistungshöhe
sinkt im Zeitablauf in ihrem Realwert ab, wenn und soweit die Preise steigen. Bei
einer
dem
Einkommensersatz
dienenden
Leistung
sinkt
deren
Einkommensersatzrate, wenn und soweit die Vergleichseinkommen steigen. In den Anfangsjahren der sozialen Sicherung wurde dieses Problem nicht gesehen; man unterstellte, daß Preise und Löhne sich nicht verändern. Erst allmählich entwickelte sich ein Bewußtsein für die Notwendigkeit von Anpassungen und ihre vorausschauende Planung. Gleichwohl gibt es für die Höhe des Kindergeldes und des Wohngeldes keine Anpassungsregelungen. Soweit für andere Leistungen Regelungen getroffen sind, unterscheiden diese sich nach dem Anpassungsverfahren und dem Anpassungsmaßstab. 390.
Als
Anpassungsmaßstab
kommen
grundsätzlich
die
Preisentwicklung oder die Einkommensentwicklung in Betracht. Man kann neben Preis-und Einkommensentwicklung auch andere Größen zugrunde legen.
148
Kapitel 4: Bemessung der Geldleistungen
So sind die Bedarfssätze und Freibeträge der Ausbildungsförderung (TZ 312) alle zwei Jahre zu überprüfen und gegebenenfalls neu festzusetzen, wobei die Entwicklung
der Einkommensverhältnisse,
der Vermögensbildung,
den
Veränderungen der Lebenshaltungskosten und der finanzwirtschaftlichen Entwicklung Rechnung zu tragen ist. Diese Enumeration unbestimmter Rechtsbegriffe dokumentiert allerdings die weitgehende Beliebigkeit von Anpassungsentscheidungen
in
diesem
Bereich.
Die
Leistungen
der
Pflegeversicherung können durch Rechtsverordnung der Bundesregierung angepaßt werden, jedoch nur ,4m Rahmen des geltenden Beitragssatzes und der sich daraus ergebenden Einnahmeentwicklung.44 391.
Zunächst
wurde
die
Notwendigkeit
einer
Anpassung
von
Sozialleistungen an die Preisentwicklung anerkannt. Erstmals wurde in Dänemark
im
Jahre
1933
gesetzlich
festgelegt,
daß
Sozialversicherungsleistungen erhöht oder vermindert werden sollen, wenn sich der Preisindex um 3 v.H. ändert. Die Aufrechterhaltung der Kaufkraft von Sozialleistungen wird jetzt allgemein als notwendig anerkannt; sie wird teilweise auch
als
ausreichend
angesehen,
weil
dem
Leistungsempfänger
die
Aufrechterhaltung seines Lebensstandards, nicht aber auch die Teilhabe an einem steigenden Lebensstandard der Erwerbstätigen gesichert werden müsse. Auf dieser Anschauung beruhen Anpassungsreglungen nach Maßgabe der Preisentwicklung, wie sie in manchen Ländern gelten. In Deutschland ist die Preisentwicklung ("Entwicklung der tatsächlichen Lebenshaltungskosten") bei einer Neufestsetzung der Regelsätze der Sozialhilfe zu berücksichtigen.45 Die Anpassung von Sozialleistungen nach Maßgabe der Preisentwicklung hat ein Absinken des sozialen Existenzminimums, des realen Bedarfsausgleichs und ein Absinken
der
Einkommensersatzrate
im
Ausmaß
realer
Einkommenssteigerungen zur Folge. Soll dies vermieden werden, so ist eine Anpassung
der Leistung
nach Maßgabe
der
Einkommensentwicklung
erforderlich. 392.
Die Forderung:
"Renten für dauernde
Erwerbsunfähigkeit
und
Hinterbliebenenrenten sollen laufend an wesentliche Änderungen der Lohnhöhe ...
angepaßt
werden"
wurde erstmals
1944 von der
Internationalen
Kapitel 4: Bemessung der Geldleistungen
erhoben.46
Arbeitsorganisation
Einkommensentwicklung
als
Die
149
Normierung
Anpassungsmaßstab
für
der
die
Alters-,
Invaliditats- und Hinterbliebenenrenten erfolgte in Deutschland mit der Rentenreform von 1957. Seither waren die Renten "bei Veränderungen der allgemeinen
Bemessungsgrundlage",
d.h.
bei
Veränderungen
des
Durchschnittsentgelts anzupassen. Später wurde hinzugefügt, daß
dies
alljährlich zu geschehen habe. Auch für die Entschädigungsleistungen der Unfallversicherung
und
der
sozialen
Entschädigung
gilt der
gleiche
Anpassungsmaßstab. 393.
Als Anpassungsverfahren können unterschieden werden eine ad-hoc-Anpassung, bei der weder Anpassungsmaßstab noch Zeitpunkt der Anpassung normiert sind; systematische Anpassung, bei der mindestens der Anpassungsmaßstab, gegebenenfalls auch der Anpassungszeitpunkt normiert sind, die Anpassung jedoch einen Gesetzgebungsakt erfordert; automatische Anpassung, die keinen Gesetzgebungsakt erfordert.
Die Verfahren können
kombiniert werden.
So besteht z.B.
in
der
luxemburgischen Rentenversicherung eine automatische Anpassung an die Preisentwicklung und eine systematische Anpassung an die Lohnentwicklung. 394.
Lange Zeit gab es allein ad-hoc-Anpassungen. Sie waren regelmäßig
von Auseinandersetzungen Uber Notwendigkeit, Zeitpunkt und Höhe der Anpassung begleitet und kamen fast immer mit zeitlicher Verzögerung, d.h. nach einem erheblichen Absinken der Einkommensersatzrate
oder
des
Realwertes der Leistung zustande. Für die Rentenversicherung ergingen allein in der Zeit
1949-1956
-
einer
Anpassungsgesetze.
Die
Lebensunterhalt,
Kindergeld,
Zeit hoher
Lohnsteigerungen
Bedarfsdeckungsleistungen Erziehungsgeld,
(Hilfe
-
8
zum
Wohngeld,
Ausbildungsförderung, Pflegeleistungen) werden nach wie vor ad hoc angepaßt.
150
395.
Kapitel 4: Bemessung der Geldleistungen
Die Renten der gesetzlichen Rentenversicherung wurden von 1958 bis
1991 an Veränderungendes Durchschnittslohns systematisch angepaßt. Die Bundesregierung hatte jährlich einen Rentenanpassungsbericht, insbesondere Uber die voraussichtliche Finanzlage der Rentenversicherungsträger für die künftigen 15 Jahre, und das Gutachten eines Sozialbeirats vorzulegen, der aus Vertretern
der
Versicherten, der
Arbeitgeber
sowie
der
sozial-
und
Wirtschaftswissenschaften zusammengesetzt ist. 396.
Seit 1992 werden die Renten der gesetzlichen Rentenversicherung
automatisch angepaßt. Sie werden zum 1. Juli eines jeden Jahres angepaßt, indem der bisherige aktuelle Rentenwert (TZ 347, 362) durch den neuen aktuellen Rentenwert ersetzt wird.47 Die Anpassung der Renten erfolgt somit nicht mehr nach Maßgabe der Brutto-Lohnentwicklung. Der aktuelle Rentenwert verändert sich nämlich entsprechend der Entwicklung des Durchschnittsentgelts unter Berücksichtigung der Belastungsveränderung bei Arbeitsentgelten und Renten durch Steuern und Beiträge.48 Mit diesem Verfahren wird bewirkt, daß der Anstieg der Renten um Belastungsveränderungen bei den Beitragszahlern korrigiert wird. Auf diese Weise bleibt das Verhältnis zwischen verfügbarem Arbeitseinkommen und verfügbaren Renten konstant; das Nettorentenniveau ist stabilisiert. 397.
Die Renten sollen jährlich angepaßt werden. Nach Maßgabe der
Veränderung der Renten aus der Rentenversicherung werden auch das Krankengeld,
das
Arbeitslosengeld,
die
Leistungen
nach
dem
Bundes Versorgungsgesetz und diejenigen der Unfallversicherung angepaßt.49 Für die Beamtenpensionen löst nicht der Ablauf einer Zeitspanne die Anpassung aus, sondern die tatsächliche Veränderung des Bezugsmaßstabes, d.h. der Beamtengehälter. 398.
Die Anpassung der Renten richtet sich nach einer durchschnittlichen
Einkommensgröße.
Zur
Aufrechterhaltung der
relativen
Stellung
des
Leistungsempfängers im Einkommensgefüge müßte die Leistungserhöhung an der Einkommensentwicklung derjenigen Beschäftigtengruppe ausgerichtet sein, der
der
Leistungsempfänger angehört
hat.
Die Anpassung
der
Kapitel 4: Bemessung der
Geldleistungen
151
Beamtenpensionen wird nach Maßgabe der Besoldungserhöhungen für aktive Beamte vorgenommen. "Werden die Dienstbezüge der Besoldungsberechtigten allgemein erhöht..., sind von demselben Zeitpunkt an die Versorgungsbezüge durch
Bundesgesetz
Schwierigkeiten
-
entsprechend Definition
zu
von
regeln.50
Wegen
Bezugsgruppen,
technischer
Zuordnung
von
Leistungsempfängern zu Bezugsgruppen - wird in der Rentenversicherung als Anpassungsmaßstab eine Durchschnittsgröße zugrundegelegt, nämlich der durchschnittliche Bruttoarbeitsentgelt aller Versicherten der Rentenversicherung (gegebenenfalls mit Korrektur wegen
Belastungsveränderung).
Relative
Verbesserungen oder Verschlechterungen seiner Beschäftigtengruppe im Lohngefüge wirken sich daher für den Leistungsempfänger nicht aus. 399.
Die Höhe der Anpassung richtet sich nach der Veränderung einer
Bezugsgröße innerhalb einer Bezugsperiode. Das Ende der Bezugsperiode wäre idealerweise identisch mit dem Zeitpunkt der Anpassung. Da jedoch die Bezugsgröße im Zeitpunkt der Anpassung nicht bekannt ist, muß auf einen vergangenen Wert zurückgegriffen werden. Dies war ursprünglich nicht nur der Wert eines Jahres, sondern der Durchschnittswert mehrerer Jahre. Für diesen Mehljahresdurchschnitt wurde entschieden, weil man erreichen wollte, daß die Rentenanpassungen im Vergleich zu den jährlichen Lohnerhöhungen verstetigt werden. Die in Kauf genommene Folge war eine Verunstetigung der Einkommensersatzrate im Vergleich zum aktuellen Einkommensniveau. Man beurteilte dies positiv als antizyklischen Effekt der Anpassungsregelung. Später wurde der Anpassungsmaßstab "aktualisiert". Das Motiv dieser Aktualisierung waren allerdings finanzielle Einsparungen, weil sich bei Beibehaltung der früheren Bezugsperiode
höhere Anpassungssätze
ergeben
hätten.
Die
Aktualisierung im Zeitpunkt geringer Lohnzuwachsraten hat eine Senkung des Rentenniveaus bewirkt. Der aktuelle Rentenwert verändert sich jetzt nach Maßgabe der Veränderungen des Durchschnittslohns und der Belastungen vom vorvergangenen
auf
das
vergangene
Jahr.
Damit
sind
geringfügige
Schwankungen des Rentenniveaus im Verhältnis zu aktuellen Werten nicht ausgeschlossen.
152
400.
Kapitel 4: Bemessung der Geldleistungen
Die früher positive Bewertung von Schwankungen des Rentenniveaus
wegen ihres antizyklischen Effekts hat in der Phase anhaltender wirtschaftlicher Schwäche seit 1973 an Gewicht verloren. Man hält stärker als früher eine Verstetigung des Rentenniveaus für wünschenswert. Dies auch deshalb, weil mit dem Rentenniveau auch die Finanzlage der Versicherungsträger schwankt; denn eine Minderung des Rentenniveaus führt pari passu zu Minderausgaben
im
Verhältnis
zu
den
konstanten
oder
im
Konjunkturaufschwung sogar steigenden Einnahmen und umgekehrt. Die schwankende
Finanzlage der Versicherungsträger
Vorausschau
Anlaß
zu
Diskussionen
und
gibt bei
mangelnder
Entscheidungen,
die
bei
gleichbleibender Finanzlage nicht ausgelöst worden wären. Um diese Effekte zu beseitigen, ist zur Diskussion gestellt worden, ein festes Rentenniveau für einen "Eckrentner" im Gesetz festzulegen und zu bestimmen, daß dieses Rentenniveau zu erhalten ist.51 Dieses Ziel läßt sich zwar nicht vollständig erreichen, weil der aktuelle Lohnstand nicht bekannt ist, doch gibt es Annäherungen in der Weise, daß die Bemessungsgrundlage fiktiv - z.B. nach Maßgabe der Werte aus der mittelfristigen Finanzplanung
des
Bundes
-
bis
in
die
Gegenwart
fortgeschrieben und später nach Bekanntwerden der Ist-Werte korrigiert wird. Die Fortschreibung würde sich an dem angestrebten Rentenniveau orientieren. Die Verwirklichung eines solchen Vorschlages würde die Schwankungen der Finanzlage mindern und das Rentenniveau stabilisieren. 401.
Wie in Deutschland Belastungsveränderungen bei Löhnen und Renten
bei dem Anpassungssatz berücksichtigt werden, so geschieht dies in Österreich mit der Arbeitslosenquote. Der im Prinzip nach der Lohnentwicklung berechnete Wert für die Anpassung der Renten wird je 1 v.H. Arbeitslosenquote um 0,1
v.H.
gesenkt.
Diese
finanziell
motivierte
Regelung
wirkt
konjunkturpolitisch prozyklisch. Diese prozyklische Wirkung würde ins Immense gesteigert, wenn dem Vorschlag gefolgt würde, die Höhe der Renten und deren Anpassung von den Einnahmen der Rentenversicherung abhängig zu machen. Nach diesem Vorschlag soll im Gesetz nicht eine konkrete Sozialleistung, sondern allein ein Beitragssatz festgelegt werden.
Die
Rentenhöhe bei Erstfestsetzung und Anpassung soll sich nach dem EinnahmeVolumen richten.S2 Eine solche Deflations-Politik in Reaktion auf die
Kapitel 4: Bemessung der Geldleistungen
153
Weltwirtschaftskrise von 1929, die ihr Heil in umfassenden Ausgabekürzungen suchte, hat mit zu der Katastrophe von 1933 geführt. 402.
Wegen der weitaus geringeren Quantitäten kann man solche Folgerungen
nicht auf die Anpassungsregelung der 1995 eingeführten Leistungen der Pflegeversicherung ziehen. Doch liegt hier erst- und einmalig eine Einnahmeorientierte Anpassung vor. Die Bundesregierung ist ermächtigt, durch Rechtsverordnung die Leistungen ,4m Rahmen des geltenden Beitragssatzes und der sich daraus ergebenden Einnahmenentwicklung anzupassen."" gewährleistet
eine
Anpassung
der
Leistungen
nach
Maßgabe
Dies der
Einkommensentwicklung solange die Relation der Leistungsberechtigten zu den Beitragszahlern konstant bleibt. Nehmen die Leistungsberechtigten jedoch relativ zu, - womit zu rechnen ist - so hat dies wegen der faktischen Budgetierung der Gesamtausgaben ein Absinken des Realwertes der Leistung im Einzellfall zur Folge. Die gleiche Folge würde eintreten, wenn - wie es z. Zt. diskutiert wird - in die Anpassungsformel für die Renten der gesetzlichen Rentenversicherung ein demographischer Faktor eingebaut wird, der dem in Zukunft enger
werdenden
Verhältnis
Leistungsberechtigten Rechnung trägt.
zwischen
Beitragszahlern
und
154
Kapitel 4: Bemessung der Geldleistungen
Anmerkungen zu Kap. 4 § 1BSHG § 22 BSHG; vgl. TZ 64 § 23 f. BSHG § 22 (3) BSHG § 21 Abs. 3 BSHG § 2 Unterhaltsvorschußgesetz i. V.m. Regelunterhaltsverordnung aufgrund § 1615 f BGB BMA: Materialband zum Sozialbudget 1986,254 BMA- Sozialpolitische-Informationen 1994, Nr. 1 Zur aktuellen Höhe des Kindergeldes s. § 6 BKGG § 2 BKGG § 1BVG, § 1 SBG VII § 56 SGB VII, § 30 BVG § 5 Unfallversicherungsgesetz 1884 Unfallausgleich, § 15 Beatenversorgungsgesetz Vorschlag einer Integritätsrente mit Schmerzensgeldfunktion bei Schäfer 1979, 11 Grundlegend Schäfer 1972 §§111, 136 AFG § 47 SGB V Sozialenquete 1966, TZ 830 Gesellschaft für sozialen Fortschritt (Arbeitsgruppe) 1971, 135 Sachverst. Komm. Alterssicherungssysteme 1983, Bd. 1,60 § 62 SGB VI §§ 70, 262 SGB VI Transfer-Enquete-Kommission 1981, 165 § 159 SGB VI § 55 SGB VI, § 6 BeamtVG §§ 56,70 SGB VI §§ 15, 16 FRG § 59 SGB VI 57 SGB VI § 77 SGB VI Sachverständigen Kommission Frauen 1979, 59, DGB 1980,33 Sachverst. Kommission Frauen 1979 §§ 67,78 SGB VI Schmähl, W., Dt. Rentenversicherung 1984, Heft 10, 571 IAA 1984,48 Achinger 1954,97 Schäfer 1972, 258 § 113 SGB VI Begründung zum Rentenanpassungsgesetz 1982, Bundesrat-Drs. 140/81, 77 §§ 44 SGB VII, 35 BVG Institut Leuven 1978, Art. 223 § 22 Einkommenssteuergesetz
Kapitel 4: Bemessung der Geldleistungen
155
§ 30 SGB XI 22 BSHG; tatsächlich hat die Entwicklung der Regelsätze lange Zeit mit der Einkommensentwicklung Schritt gehalten; vgl. TZ 306 Empfehlung Nr. 67 der IAO, 1944 § 65 SGB VI 68 SGB VI §§95 SGB VII, 112 a AFG, 56 BVG, 47 SGB V § 70 BeamtVG Löwe, H. in: Die Rentenversicherung 1975, 181 Tomandl T. in: Social en Zeker, Festschrift f. G. Veldkamp/ Klüver Deventer, 1986, 117 § 30 SGB XI
Kapitel 5: Sicherstellung von Gesundheitsleistungen I. Methoden und Konflikte 403.
Von jeher ist es als Aufgabe der sozialen Sicherung angesehen worden,
Gesundheitsleistungen sicherzustellen. Damit soll eine durch mangelnde Kaufkraft bedingte Nachfrage-Begrenzung vermieden und Chancengleichheit bei der Inanspruchnahme solcher Leistungen hergestellt
werden.
"Die
Krankenversicherung ... hat die Aufgabe, die Gesundheit der Versicherten zu erhalten, wiederherzustellen, oder ihren Gesundheitszustand zu bessern".1 Gesundheitsleistungen sollen nicht nach Maßgabe kaufkräftiger Nachfrage, sondern allein nach Maßgabe des Bedarfs erbracht werden. 404.
Der Gesundheitserhaltung dient eine Vielzahl von Maßnahmen in nahezu
allen Lebensbereichen. Die Gesundheit wird durch Verhalten, Ernährung, Konsumgewohnheiten, Umwelt und Arbeitsbedingungen beeinflußt. Die der Erhaltung
der
Gesundheit
dienenden
zahlreichen
Maßnahmen
der
Gesundheitspolitik werden hier nicht erörtert. Dies gilt auch für die von Trägern der sozialen Sicherung erbrachten Maßnahmen der Gesundheitspolitik. Hierzu gehören insbesondere: Maßnahmen zur Unfallverhütung. Die Unfallversicherungsträger haben mit allen geeigneten Mitteln für die Verhütung von Arbeitsunfällen zu sorgen. Maßnahmen der Rentenversicherung gegen Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit. Maßnahmen der Krankenversicherung zur Beratung und Betreuung Versicherter. Gemäß der zugrundeliegenden Definition werden im folgenden nur Leistungen behandelt, für die beim Tatbestand Krankheit ein gesetzlich normierter Sicherstellungsanspruch und ein Sicherstellungsauftrag besteht.
Kapitel 5: Gesundheitsleistungen
405.
157
Die Sozialleistungsträger haben u.a. Leistungen zur "Rehabilitation"
zu erbringen. Dabei handelt es sich um eine Sammelbezeichnung für Gesundheits-, Ausbildungs- oder Pflegeleistungen. Rehabilitation
ist ein
normativer Begriff, der eine Zielsetzung der Maßnahmen im Falle der Behinderung beschreibt: Gesundheitliche (Wieder-)
Herstellung
sowie
berufliche und soziale (Wieder-) Eingliederung. Die Erreichung dieses Zieles erfordert den sachlich und zeitlich koordinierten Einsatz von mindestens zwei, oft auch aller drei genannten Leistungsarten. 406.
Die
Entlastung
des
Berechtigten
von
den
Kosten
der
Gesundheitsleistungen kann methodisch unterschiedlich erfolgen. In der deutschen Krankenversicherung gilt seit jeher das Sachleistungssystem. Der Berechtigte hat Anspruch auf Erbringung der Leistung gegen die Krankenkasse. Die Krankenkassen schließen mit Leistungserbringern Verträge Uber die Erbringung
der
erforderlichen
Sach-
und
Dienstleistungen.
Nur
in
Ausnahmefällen ist eine Kostenerstattung zulässig. 407.
Die Kostenerstattung ist die von der Privatversicherung angewandte
Methode. Der Versicherte zahlt die Rechnung an den Leistungserbringer und erhält nach dem vereinbarten Tarif die Kosten ganz oder teilweise erstattet. Das Kostenerstattungssystem wird befürwortet mit dem Argument, daß dadurch eine Kostenminderung bewirkt werden könne. Die Kostenminderung entstehe zumindest dadurch, daß der Versicherte die entstehenden Kosten kennt, insbesondere wenn man nicht eine volle Kostenerstattung, sondern eine Kostenbeteiligung des Versicherten vorsieht. 408.
Eine generelle Ausgabenminderung durch das Kostenerstattungssystem
ist nicht nachgewiesen. Gegen die Anwendung des Kostenerstattungssystems spricht die Gefahr, daß die mit ihr oft verbundene Kostenbeteiligung, mindestens aber die in ihrer Höhe ungewisse Votfinanzierung, Berechtigte von der Leistungsinanspruchnahme abhält; diese Gefahr ist um so größer, je geringer das Einkommen der Berechtigten ist. Dies widerspricht dem Ziel der Herstellung von Chancengleichheit. Hinzu kommt, daß bei Anwendung des Kostenerstattungssystems das Leistungsangebot als gegeben angesehen werden
1 58
Kapitel 5:
Gesundheitsleistungen
muß. Eine Einwirkung auf Art, Umfang, Preis und räumliche Verteilung des Leistungsangebots ist nicht möglich. 409.
Im Rahmen des Sachleistungssystems kann die Leistungserbringung
direkt oder indirekt erfolgen. Eine direkte Leistungserbringung liegt vor, wenn der Leistungsträger Ärzte in einem Anstellungsverhältnis beschäftigt oder eigene Einrichtungen (Poliklinik, Ambulatorium) betreibt, in denen angestellte Ärzte arbeiten. Solche Eigeneinrichtungen betreiben Sozialleistungsträger für ihre Versicherten in vielen, insbesondere wenig industrialisierten Ländern, aber auch z.B.
in Spanien und Griechenland. In anderen Ländern
(z.B.
Großbritannien, Italien) betreibt der Staat einen öffentlichen Gesundheitsdienst für die gesamte Bevölkerung. Der Leistungsstandard bestimmt sich in diesen Fällen durch die Organisation sowie die technische und personelle Ausstattung der Einrichtungen. Für die direkte Methode spricht, daß durch sie ein räumlich und inhaltlich ausgeglichener Leistungsstandard gewährleistet werden kann, und daß die Leistungserbringung kostengünstig ist. 410.
Gegen die direkte Leistungserbringung wird eingewandt, daß sie dem
Patienten keine
freie
Arztwahl
ermögliche. Das für einen Erfolg
medizinischer Leistungen notwendige Vertrauen des Patienten zum Arzt stelle sich nur dann ein, wenn ersterer freie Wahl unter mehreren Ärzten habe, was im Verhältnis zu angestellten Ärzten nicht möglich sei. Das Gewicht dieses Arguments wird eingeschränkt durch die Beobachtung, daß Patienten vielfach Vertrauen auch zu Ärzten haben, die sie nicht frei wählen konnten, z.B. bei schwerer
Erreichbarkeit
anderer
Ärzte,
bei
Praxisvertretungen,
bei
Spezialärzten, und insbesondere bei einer Krankenhausbehandlung. 411.
Bei
Anwendung
des
Sachleistungssystems
mit
indirekter
Leistungserbringung hat die Krankenkasse eine Leistungsverschaffungspflicht. Sie entledigt sich dieser Pflicht durch
Abschluß
von
Verträgen
mit
Leistungserbringern. Leistungsträger und Leistungserbringer stehen sich als Nachfrager nach und als Anbieter von Gesundheitsleistungen gegenüber; sie müssen
sich
über
die
Bedingungen
sowie
die
Vergütung
der
Leistungserbringung einigen, und zwar stets erneut. Dies liegt zunächst in der
Kapitel 5: Gesundheitsleistungen
1 59
Malleabilitätdes Tatbestandes Krankheit (TZ 84) begründet. Weiter ändert sich durch wissenschaftlichen und technischen Fortschritt die Art und Qualität der zur Verfügung stehenden Leistungen. Schließlich hängt der Preis der Leistungen von den Herstellungskosten und vom Marktverhalten ihrer Erbringer ab. Es sind also immer wieder neu die Fragen zu beantworten: Welche Art Leistungen soll erbracht werden? Welcher qualitative Standard soll sichergestellt werden? Wie soll die Leistung vergütet werden? Die sich aus unterschiedlicher Interessenlage
ergebenden
Konflikte
zwischen
Leistungsträgern
und
Leistungserbringern erfordern gesetzgeberische Entscheidungen in der Sache oder über Mechanismen der Konfliktlösung. 412.
Solche
Entscheidungen
vollziehen
sich
im
Spannungsfeld
konfligierender Ziele: Die Sicherstellung von Gesundheitsleistungen soll einerseits zweckoptimal, andererseits kostenminimal sein. Die Entwicklung der Regelungen
über
die
Sicherstellung
von
Gesundheitsleistungen
ist
gekennzeichnet durch wechselndes Gewicht, das man dem einen oder anderen Ziel jeweils beimaß. Das Spannungsverhältnis zwischen beiden Zielen wurde nie endgültig gelöst und bleibt prinzipiell bestehen. Die Ausgangssituation in Europa zur Zeit der Einführung der Krankenversicherung bestand in einer Gefährdung des Zieles zweckoptimaler Erbringung wegen Kaufkraft
der
Leistungsbedürftigen
bei
(relativ)
mangelnder
ausreichendem
Leistungsangebot. Nach Beseitigung der nachfragehemmenden Faktoren und erheblicher
Ausweitung
des
Leistungsangebots
hat
in
der
jüngeren
Vergangenheit das Ziel der kostenminimalen Erbringung an Gewicht gewonnen. In wenig industrialisierten Ländern ist typischerweise das Ziel zweckoptimaler Erbringung gefährdet, weil das Leistungsangebot unzureichend ist. 413. als
In vielen Ländern steigen die Gesundheitsausgaben trendmäßig stärker das
Sozialprodukt.
Der
Anteil
der
Gesundheitsausgaben
am
Bruttosozialprodukt (Gesundheitsquote) stieg in Deutschland im Laufe dieses Jahrhunderts von 2 auf 8 v.H. an. Im internationalen Vergleich ergeben sich erhebliche Unterschiede in der Höhe der Gesundheitsquote. Diese ist z.B. in den USA und der Schweiz höher als in Deutschland, in Großbritannien und den Niederlanden niedriger. Die Unterschiede der Gesundheitsquote, die
160
Kapitel 5:
Gesundheitsleistungen
Ursachen ihres tendenziellen Anstiegs und die Möglichkeiten einer Dämpfung dieses Anstiegs sind Gegenstand einer permanenten wissenschaftlichen und politischen Diskussion. 414.
Die Befriedigung des
Bedarfs an Gesundheitsleistungen
ist in
Deutschland für etwa 90 v.H. der Bevölkerung der gesetzlichen Krankenversicherung übertragen. Das dritte Kapitel des SGB V enumeriert 14 Leistungen der Krankenversicherung, auf die der Versicherte Anspruch hat. Man kaum 4 funktional verschiedene Leistungsarten unterscheiden: Behandlungsleistungen: Behandlung durch Ärzte, Zahnärzte oder andere heilkundige Personen (z.B. Hebamme, Heilgymnast). Sachleistungen: Versorgung mit gesundheitsfördernden oder erhaltenden
Sachen; man kann unterscheiden zwischen Heilhilfen
(insbesondere Arznei) und Stabilisierungshilfen (insbesondere Sehhilfen,Hörhilfen, Zahnersatz). Pflegeleistungen: Grundpflege und/oder Behandlungspflege im Haushalt oder im Krankenhaus. Ergänzende Geld- und Dienstleistungen: Haushaltshilfe, Fahrtkosten, Sterbegeld. 415.
Die Leistungsarten können einzeln oder kombiniert erforderlich sein. Sie
können ambulant oder in einem Krankenhaus
erbracht werden.
Die
Leistungserbringung ist personal, institutional und finanziell differenziert. Im Hinblick auf institutionelle Unterschiede werden üblicherweise folgende fünf Leistungsbereiche
unterschieden:
Ambulante
ärztliche
Versorgung,
Versorgung mit Arzneimitteln, Versorgung mit Heil- und Hilfsmitteln, Krankenhausbehandlung sowie ergänzende Geld- und Dienstleistungen.
Kapitel 5: GesundHeitsleislungen
161
II. Ambulante ärztliche Behandlung a) Der formale Rahmen 416.
Bei Errichtung der Krankenversicherung im Jahr
1883 sah
der
Gesetzgeber Anzahl und Verteilung der Ärzte (ebenso der Krankenhäuser) als gegeben an. Die Beziehungen zwischen ihnen und den bestehenden oder neu zu errichtenden Krankenkassen sah er als so problemlos an, daß er keinerlei Regelung vornahm. Das Gesetz enthielt lediglich eine Ermächtigung an die Kassenverbände, mit Ärzten und Apotheken Verträge abzuschließen. Die Krankenkassen sicherten sich die Dienste von Ärzten durch Einzelvertrag; sie stellten damit einerseits eine begrenzte freie Arztwahl sicher, andererseits war nur ein Teil der Arzte zur Behandlung der Kassenmitglieder berechtigt. 1892 bekamen die Kassen das Recht, durch Satzung das Arztsystem festzusetzen sowie Zahl und Person der Kassenärzte zu bestimmen. Von ärztlicher Seite wurde gefordert, daß die Kassen alle Ärzte zuzulassen und mit diesen KollektivVerträge abzuschließen hätten. Doch auch die Reichsversicherungsordnung (1911) sah lediglich vor, daß der Abschluß von Verträgen zwischen Ärzten und Krankenkassen schriftlich erfolgen müsse. 417.
Erst nach Ankündigung und Vorbereitung eines ärztlichen Generalstreiks
im Jahre 1913 kam es zum "Berliner Abkommen", einem Kollektivvertrag zwischen Ärzten und Krankenkassenverbänden. Das Abkommen sah die verfahrensmäßig geregelte Zulassung mindestens eines Arztes auf je 1.350 Versicherte (bei Familienbehandlung auf je 1.000 Versicherte) vor. Damit waren nach heftigen Auseinandersetzungen Grundlagen gelegt, die durch alle späteren gesetzgeberischen Entscheidungen lediglich verfeinert wurden. Der wesentliche Inhalt
des
Berliner
Reichsversicherungsordnung
Abkommens
wurde
übernommen.
Damit
1924 war
in
die
faktisch
eine
Entscheidung gegen die Alternative einer direkten Leistungserbringung gefallen; diese blieb jedoch prinzipiell nach der Rechtslage weiterhin möglich. 418.
Die Frage der direkten oder indirekten
Leistungserbringung
wurde noch einmal während der Weltwirtschaftskrise 1929 - 1932 akut. Die
162
Kapitel 5: Gesundheitsleistungen
Regierung verordnete erhebliche Leistungsreduktionen mit dem Ziel einer Senkung des Beitragssatzes in der Krankenversicherung, um die Erhöhungen des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung zu kompensieren. Als die Ausgaben für ärztliche Behandlung nicht hinreichend sanken, äußerte der Reichsarbeitsminister die Absicht, im Kabinett zu beantragen "daß in der Krankenversicherung das System der festangestellten Ärzte eingeführt wird." 2 Ehe Absicht wurde nicht verwirklicht, vor allem, weil angesichts dieser Drohung die Ärzteschaft sich in einem Abkommen damit einverstanden erklärte, daß die Ausgaben der Krankenkassen für ärztliche Behandlung nicht stärker steigen als die Einnahmen der Kassen. Damit entfiel das entscheidende Motiv für
einen
Übergang
zur
direkten
Leistungserbringung.
Die
rechtliche
Möglichkeit, selbst Ärzte anzustellen, wurde den Krankenkassen erst 1955 (Kassenarztgesetz) genommen. 419.
Leistungsberechtigte in der Krankenversicherung haben Anspruch auf
Krankenbehandlung, die vor allem ärztliche Behandlung umfaßt. Die ärztliche Behandlung
umfaßt die
Tätigkeit
des
Arztes,
die
bei
Verhütung,
Früherkennung und Behandlung von Krankheiten nach den Regeln der ärztlichen Kunst ausreichend und zweckmäßig ist. Zur ärztlichen Behandlung gehört auch die Hilfeleistung anderer Personen, die vom Arzt angeordnet und von ihm zu verantworten ist.3 420.
Die
ärztliche
Behandlung
Leistungsberechtigter
der
Krankenversicherung erfolgt durch zugelassene Vertragsärzte, unter denen der Versicherte
freie
Wahl
hat.
Die
Zulassung
erfolgt
durch
Zulassungsausschüsse, die aus Vertretern der Ärzte und der Krankenkassen in paritätischer Besetzung bestehen. Die früher vereinbarte, später gesetzlich normierte Verhältniszahl zwischen Versicherten und Ärzten war von 1913 (1:1000) bis 1955 (1:500) gesunken. Gleichwohl hatte die steigende Arztdichte zur Folge, daß nicht alle niedergelassenen Ärzte zur Kassenpraxis zugelassen waren. Der Regelfall war eine längere Wartezeit zwischen Niederlassung und Zulassung. Dieser Zustand wurde im Jahre 1960 verfassungsgerichtlich als unvereinbar mit der Berufsfreiheit angesehen. Seither ist (abgesehen von einer Vorbereitungszeit) jeder niedergelassenen Arzt - wenn auch nicht unbedingt am
Kapitel 5: Gesundheitsleistungen
1 63
gewünschten Ort - zur Kassenpraxis zuzulassen. Mit der Zulassung zur kassenärztlichen Versorgung wird der Arzt Mitglied der kassenärztlichen Vereinigung. 421.
In Zusammenhang mit der Einführung einer Gesamtvergütung wurden
1932 Kassenärztliche Vereinigungen errichtet. Sie haben den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts und die Aufgabe, die kassenärztliche Versorgung durch Verträge mit den Verbänden der Krankenkassen zu regeln. Die Vereinigungen haben die Rechte der Vertragsärzte gegenüber den Krankenkassen wahrzunehmen und die Erfüllung der den Vertragsärzten obliegenden
Pflichten zu
überwachen.
Zentral
ist
die
Aufgabe
der
kassenärztlichen Vereinigung, die den Krankenkassen obliegende ärztliche Versorgung sicherzustellen. 422.
Der Sicherstellungsauftrag
geht dahin,
eine bedarfsgerechte,
gleichmäßige ärztliche Versorgung in zumutbarer Entfernung zur Verfügung zu stellen. Richtlinien, die von dem Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen beschlossen werden, wenden sich an den einzelnen Vertragsarzt und bestimmen, welche Methoden nach den Regeln der ärztlichen Kunst als zweckmäßig
und
ausreichend
anzusehen
sind.
Gegenstück
des
Sicherstellungsauftrages ist die Regelung, daß die Krankenkasse mit befreiender Wirkung gegenüber dem einzelnen Arzt eine vertraglich zu vereinbarende Gesamtvergütung
an
die
kassenärztliche
Vereinigung
zahlt.
Der
Sicherstellungsauftrag umfaßt also eine Gewährleistungsfunktion gegenüber dem Versicherten, eine Ordnungsfunktion gegenüber den Ärzten sowie eine Verhandlungsfunktion gegenüber den Krankenkassen. Diese Regelung des Verhältnisses zwischen Krankenkassen und Ärzten auf der Grundlage von Selbstverwaltung, Gesamtvergütung und Sicherstellungsauftrag ging auch in die Neuordnung des Kassenarztrechtes von 1955 ein und ist weiterhin gültig. 423.
Durch das System der vertragsärztlichen Versorgung haben sich die
Rechtsbeziehungen differenziert. Die ursprünglich direkte rechtliche und wirtschaftliche Beziehung zwischen Patient und Arzt wurde mit Einführung der Krankenversicherung abgelöst durch ein Dreiecksverhältnis: Der Versicherte hat
164
Kapitel 5:
Gesundheitsleistungen
Anspruch auf Erbringung der Leistung gegen die Krankenkasse und zahlt dafür Beiträge an diese; die Kasse erbringt die Leistung durch einen vertraglich gebundenen Arzt und zahlt dafür eine Vergütung an diesen. Mit Errichtung der kassenärztlichen Vereinigungen entstand ein Vierecksverhältnis: Der Versicherte hat - gegen Beitragsentrichtung - einen Anspruch gegen die Krankenkasse; die Krankenkasse erfüllt den Anspruch, indem sie (gegef. vermittelt durch den Kassenverband) Verträge über die kassenärztliche Versorgung - gegen Entrichtung einer Gesamtvergütung - mit der kassenärztlichen Vereinigung abschließt; die kassenärztliche Vereinigung erfüllt den Vertrag (Sicherstellungsauftrag) - gegen Entrichtung einer Vergütung - durch die Mitglieder (Vertragsärzte); der Arzt erbringt die Leistung an den Versicherten. Zwischen dem Vertragsarzt und dem Behandelten bestehen weder öffentliche Rechtsbeziehungen - der Arzt ist allein zur Sorgfalt nach dem bürgerlichen Vertragsrecht verpflichtet - noch wirtschaftliche Beziehungen. 424.
Der Sicherstellungsauftrag der kassenärztlichen Vereinigung beinhaltet
auch, eine ärztliche Versorgung in zumutbarer Entfernung zur Verfügung zu stellen, d.h. für eine angemessene regionale Verteilung der Vertragsärzte zu sorgen. Dies geschah bis 1960 uno actu mit der bis dahin begrenzbaren Zulassung als Kassenarzt. Als danach die Zulassungsbegrenzung entfiel, ergaben sich Ungleichgewichte in der regionalen Verteilung. Die Besorgnis der Unterversorgung einzelner Regionen gab 1976 Anlaß zur Einführung des Instruments
der
kassenärztlichen
Bedarfsplanung.
Danach
hat
die
kassenärztliche Vereinigung einen Bedarfsplan zum Zwecke der Sicherstellung der
vertragsärztlichen
Unterversorgung
Versorgung
entgegenzuwirken,
Zulassungsbeschränkungen
aufzustellen. können
angeordnet
Um in
einer
regionalen
anderen
Gebieten
werden.
Solche
Zulassungsbeschränkungen in begrenzten Regionen sind auch im Falle einer Überversorgung möglich und in der jüngeren Vergangenheit vorherrschend.4
Kapitel 5:
Gesundheitsleistungen
425. Die ambulante ärztliche Behandlung wird ganz überwiegend
165 von
freiberuflich tätigen niedergelassenen Ärzten erbracht. Nur etwa 5 v.H. aller Leistungsfälle werden von Krankenhausärzten erbracht, die unter bestimmten Bedingungen zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung ermächtigt werden können. Im Gesamtsystem des Gesundheitswesens läßt sich die Funktion der ambulanten Versorgung "kennzeichnen als Anlauf-, Verteilungs-, Verordnungs-, Koordinations-, und kritische Bewertungsfunktion - im Sinne einer "Anwaltsfunktion" für den Patienten und einer "Notarfunktion" für die Kassen".5
b) Art und Menge der Leistungen 426.
Das
Spannungsverhältnis
zwischen
zweckoptimaler
und
kostenminimaler Erbringung von Leistungen (TZ 412) reflektiert sich in der gesetzlichen Normierung des Anspruchs auf ärztliche Behandlung. Diese soll einerseits "ausreichend und zweckmäßig" sein, darf andererseits "das Maß des Notwendigen nicht überschreiten und muß wirtschaftlich erbracht werden" (Wirtschaftlichkeitsgebot). 6
Die
Ausfüllung
Rechtsbegriffe: ausreichend, zweckmäßig, notwendig
der
unbestimmten
und wirtschaftlich
geschieht praktisch durch Meinungsbildung der Ärzte, denn das Gesetz sagt weiter, daß der Versicherte Anspruch hat auf die "Tätigkeit des Arztes, die zur Verhütung, Früherkennung und Behandlung von Krankheiten nach den Regeln der ärztlichen Kunst ausreichend und zweckmäßig ist". Da nur Ärzte über Regeln der ärztlichen Kunst urteilen können und dürfen, kann man den Inhalt der gesetzlichen Norm auch so ausdrücken: Wenn nach ärztlichem Urteil eine ärztliche Behandlung (oder eine Behandlung durch Dritte) notwendig ist, so soll diese in dem Umfange geleistet werden, der nach ärztlichem Urteil ausreichend und zweckmäßig ist, ohne das Maß des Notwendigen zu überschreiten. 427.
Näheres über die ärztliche Behandlung ist in Richtlinien festgelegt, die
ein "Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen" beschließt. Dieser
166
Kapitel 5:
Gesundheitsleislungen
Ausschuß wird aus Vertretern der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und der Krankenkassenverbände gebildet.7 428.
Ungeachtet bestehender Richtlinien sind Art und Menge der vom Arzt
erbrachten Leistungen in starkem Maße durch Verhaltensweisen sowohl des Arztes als auch des Patienten beeinflußt. Dies liegt in der Natur des Zustandes Krankheit, seiner Malleabilität (TZ 84), in der persönlichen Beziehung zwischen Arzt und Patient sowie in den involvierten Interessenlagen begründet 429.
Ärztliche Behandlung wird ausgelöst, indem der Patient einen Arzt
aufsucht (Primärinanspruchnahme). Der Entschluß dazu hängt von der Intensität des Krankheitsempfindens, aber auch anderen Umständen und Verhaltensweisen ab. In der Anfangsphase einer Behandlung hat der Patient einen beträchtlichen Spielraum innerhalb dessen er bestimmen kann, ob Leistungen erbracht werden. In dieser Phase ist der Arzt außerstande, die Notwendigkeit
einer
Leistungserbringung
zu
verneinen.
Das
gewinnt
Bedeutung dadurch, daß ärztliche Behandlung oft Voraussetzung ist für die Gewährung von Freizeit. Da zur Wiederherstellung der Gesundheit oft auch Freistellung von Pflichten (Arbeit, Schulbesuch) nötig ist, kann das Bedürfnis nach Freizeit in bestimmten Situationen vorrangig sein oder empfunden werden. Da Freizeit nur zu erlangen ist, indem ärztliche Leistungen beansprucht werden, kann in dieser Situation die Nachfrage nach diesen Leistungen sekundär induziert sein. Dieser Zusammenhang spricht dafür, die Zuständigkeit für die Bescheinigung der Arbeitsunfähigkeit nicht dem behandelnden Arzt zu übertragen. In den Niederlanden ist dafür ein Vertrauensarzt zuständig. 430.
Die Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen ist schichtenspezifisch
differenziert. Das Gesundheitsbewußtsein und die Präventionsbereitschaft steigen mit zunehmenden Bildungsstand und beruflicher Qualifikation. Die Inanspruchnahme Bildungsstand;
ärztlicher Leistungen dies
hängt
sinkt hingegen
wahrscheinlich
mit
der
mit
steigendem
abnehmenden
gesundheitlichen Gefährdung durch die berufliche Tätigkeit zusammen.8
Kapitel 5:
431.
167
Gesundheitsleistungen
Nach der Primärinanspruchnahme bestimmt allein der Arzt über die Art
der zu erbringenden Leistung und
deren Menge. Während im allgemeinen
Wirtschaftsleben der Nachfrager die erwünschte Leistung nach Art und Menge bestimmen kann, ist ihm dies auf dem Markt für Gesundheitsleistungen nur sehr bedingt möglich. Im Falle der Krankheit oder Gesundheitsstörung empfindet er das Bedürfnis, die Gesundheit wiederherzustellen. Er sucht deshalb den Arzt in seiner Funktion als Ratgeber auf. Der Arzt ist aber zugleich auch Erbringer der angeratenen Leistung. Da der Nachfrager das Erforderliche nicht beurteilen kann, ist der Anbieter in der Lage (und verpflichtet), Art und Menge der von ihm zu erbringenden Leistungen fast ohne Einschränkung selbst zu bestimmen. Die Beeinflußbarkeit der Leistungsmenge durch den Anbieter erklärt, daß es ungeachtet der Unelastizität des Angebots weder eine Unterbeschäftigung noch eine Versorgungslücke von Ärzten als Massenerscheinung gegeben hat. 432.
Zwischen der Zahl der zugelassenen Vertragsärzte und der Menge der
erbrachten Leistungen besteht eine enge Korrelation. Die Anzahl ambulanter ärztlicher Leistungen zeigt erhebliche regionale Unterschiede. Die Abhängigkeit der Leistungsmenge vom Angebot an ärztlichen Leistungen gilt in besonderem Maße für Labor- und Röntgenleistungen, weniger für Beratungen und Besuche. Hinsichtlich der Hausbesuche ist die Korrelation umgekehrt: Ihre Anzahl sinkt mit steigendem Facharztanteil. Die Vermutung, daß viele ambulante ärztliche Leistungen Ausgaben in anderen Bereichen substituieren, bestätigte sich nicht; die Ausgaben für stationäre Leistungen blieben unverändert, die Ausgaben für Arzneimittel stiegen mit dem ärztlichen Leistungsumfang.9 433.
Die Mengenbestimmung durch den Arzt muß vor dem Hintergrund einer
steigenden Arztdichte gesehen werden. Die Zahl der Ärzte je
10.000
Einwohner stieg von 3,2 im Jahr 1876 auf gegenwärtig über 27. Ebenso stieg die Gesamtzahl der im Gesundheitswesen Tätigen auf das 9-fache an. Im internationalen Vergleich hat Deutschland neben Österreich und Rußland die höchste Arztdichte. Die vorhandenen weiteres
Ansteigen
der
Arztdichte
Ausbildungskapazitäten erwarten.
Da
die
lassen
ein
Expansion
im
Krankenhaussektor als abgeschlossen betrachtet wird, werden die zusätzlichen Ärzte sich vorwiegend im ambulanten Bereich betätigen müssen.
1 68
434.
Kapitel 5:
Gesundheitsleislungen
Unter den ambulant tätigen Ärzten nimmt der Anteil der Fachärzte
kontinuierlich zu; ihre Anzahl ist bereits höher als die der Allgemein- oder praktischen Ärzte. Zwar suchen Patienten überwiegend zunächst einen Allgemeinarzt auf, der sie gegebenenfalls an einen Facharzt überweist. Immerhin erfolgt die Primärinanspruchnahme in etwa 40 v.H. aller Fälle bei Fachärzten. 435.
Die
steigende
Arztdichte
hat
Auswirkungen
auf
das
Leistungsvolumen und die Ausgaben der Krankenversicherung. In den 80er Jahren wurden folgende trendmäßige Entwicklungen beobachtet: Abnahme der Leistungsberechtigten aus demographischen Gründen, Abnahme der Primärinanspruchnahme, Anstieg der Arztzahl Anstieg der behandelten Fälle (behandelte Patienten im Kalendervierteljahr) wegen vermehrter Überweisungen, Abnahme der Fallzahlen je Arzt, Anstieg der Punktzahl je Fall (die Punktzahl spiegelt die Leistungsintensität wieder), Anstieg des gesamten Leistungsvolumens. "Ein wesentlicher Teil der Ausweitung des Leistungsvolumens geht somit auf die gestiegene Behandlungsintensität (Punkte je Fall) und auf die Zunahme von Überweisungen zurück, also auf Faktoren, welche die Ärzte weitgehend selbst bestimmen können."10 436. Die auf den genannten Faktoren beruhende Expansion der ärztlichen Leistungen muß im Zusammenhang mit der Tatsache gesehen werden, daß Ärzte nicht nur selbst Leistungen erbringen, sondern auch Leistungen anderer veranlassen. Eine solche Leistungsveranlassung gilt für die Versorgung mit Sachleistungen, insbesondere Arzneien und Pflegeleistungen insbesondere im Krankenhaus sowie Geldleistungen. Auf je 1 DM Ausgaben für die Vergütung
Kapitel 5:
Gesundheitsleislungen
169
ambulanter ärztlicher Leistungen entfallen etwa 4 DM Ausgaben für veranlaßt© Leastungen. 437. Die zunehmende Arztdichte löst einen Wettbewerb zwischen Ärzten um Patienten aus. "Er führt dazu, Gefälligkeitsleistungen zu erbringen (z.B. bei Verschreibung von Heil- und Hilfsmitteln, Medikamenten, Arbeitsunfähigkeit). Andererseits werden Patienten nicht zu einem anderen niedergelassenen Gebietsarzt (als einem potentiellen "Konkurrenten") Uberwiesen, sondern statt dessen stationär ins Krankenhaus eingewiesen. An beiden Bespielen wird deutlich, wie die "Notarfunktion" des Kassenarztes gegenüber den Kassen durch den zunehmenden Konkurrenzdruck der Ärzte untereinander geschwächt wird."11 438.
Wegen dieser Zusammenhänge schreibt das Gesetz seit 1993 vor, daß
sich die vertragsärztliche Versorgung in die hausärztliche
und
die
fachärztliche Versorgung gliedert. Die hausärztliche Versorgung beinhaltet insbesondere die allgemeine und fortgesetzte ärztliche Betreuung eines Patienten, die Koordination der Leistungen, die Dokumentation von Befunden und
Berichten
sowie
die
Behandlungsmaßnahmen.
12
Integration
nichtärztlicher
Hilfen
in
die
Damit hat der Gesetzgeber einen Zustand als
wünschenswert beschrieben, dessen Verwirklichung noch erhebliche Zeit erfordern wird. 439.
Weitergehend ist der Vorschlag,
zu einem
Primärarztsystem
überzugehen. Danach wählt der Versicherte einen Primär- (Haus-) arzt und ist verpflichtet, diesen im Bedarfsfälle zunächst aufzusuchen. Eine gebiets- (fach-) ärztliche Behandlung Primärarztes.
13
erfolgt grundsätzlich
nur
auf
Derartige Primärarztsysteme bestehen
Anforderung in
des
Großbritannien,
Dänemark und den Niederlanden. Angesichts der zunehmenden Spezialisierung der ärztlichen Versorgung vermindern sie für den Patienten das Risiko einer nicht sachgerechten Entscheidung bei der Primärinanspruchnahme; sie erhöhen die Gewißheit der Einhaltung professionellen Standards.
170
Kapitel 5:
Gesundheitsleistungen
c) Vergütung 440.
Seit Errichtung der kassenärztlichen Vereinigungen vergüten die
Krankenkassen nicht mehr den einzelnen Arzt, sondern entrichten eine vertraglich
vereinbarte
Gesamtvergütung
an
die
Vereinigung.
Die
Gesamtvergütung ist durch die kassenäiztliche Vereinigung unter die Ärzte zu verteilen. Als allgemeines Ziel nennt das Gesetz eine vertragliche Regelung, nach der "... die äiztlichen Leistungen angemessen vergütet werden".14 Die Angemessenheit
der
Vergütung
ärztlicher
Leistungen
durch
Sozialleistungsträger ist seit deren Bestehen permanenter Gegenstand von Konflikten, die sich aus der unterschiedlichen Interessenlage der Ärzte und der Träger ergeben. Die Gesetzgebung hat im Lauf der Zeit Verfahren und Institutionen zur Lösung von Konflikten entwickelt, die sich auf die Grundfragen beziehen, nach welchen Kriterien und wie hoch die ärztliche Leistung vergütet werden soll.
1. Einzelvergütung 441.
Eine Vergütung der ärztlichen Leistung nach dem Heilungserfolg - nach
dem "output" der ärztlichen Leistung - ist nicht möglich, weil der Heilungserfolg nicht meßbar ist und in vielen Fällen nicht allein vom ärztlichen Bemühen abhängt. Die Bemessung kann sich daher nur am Lastungsaufwand am "input" des Arztes orientieren. Als Kriterien dafür kommen in Betracht: - Die Arbeitszeit, - die Zahl der betreuten oder behandelten Personen, - Art und Anzahl der Einzelleistungen. Bei der Entscheidung Uber die Anwendung dieser Kriterien sind deren verschiedene Anreizwirkungen zu bewerten. 442.
Eine Vergütung nach der Arbeitszeit, d.h. nach der Zeit, während der
der Arzt leistungsbereit ist, in Form einer Gehaltszahlung ist administrativ leicht zu handhaben. Sie kann den Arzt dazu verleiten, auf den einzelnen Behandlungsfall
wenig
Zeit
zu
verwenden
und
schwierige
oder
Kapitel 5:
171
Gesundheitsleislungen
arbeitsaufwendige Fälle an Fachärzte oder Krankenhäuser zu überweisen. Wegen dieser Nachteile wird die Leistung frei praktizierender Ärzte nirgends mit Ausnahme der Vergütung ärztlichen Bereitschaftsdienstes - allein nach der Arbeitszeit vergütet. 443.
Bei der Vergütung nach der Zahl der behandelten oder betreuten
Personen wird eine Vergütungssumme je Behandlungsfall (Fallpauschale) pro Zeiteinheit (z.B. Quartal) entrichtet. Eine andere Form ist die Kopfpauschale. Der Versicherte wählt einen Primärarzt (TZ 439), bei dem er eingeschrieben wird. Der Arzt erhält die Vergütung unabhängig davon, ob eine Behandlung notwendig wird oder nicht. Er trägt einerseits das Morbiditätsrisiko, hat andererseits Vorteile an gesunden eingeschriebenen Versicherten. Die Vorteile dieses Systems liegen in geringer Verwaltungsarbeit; der Arzt ist nicht an einer Vermehrung von Leistungen interessiert; sein Interesse liegt in der Erhaltung einer großen Zahl gesunder eingeschriebener Personen. Dieses System wird in den Niederlanden und Großbritannien angewandt und hat als Sprengelarztsystem
in
der
knappschaftlichen
sogen.
Krankenversicherung
Deutschlands befriedigend gearbeitet 444.
Auch die Pauschalhonorierung kann dazu verleiten, schwierige oder
arbeitsaufwendige Fälle an Fachärzte oder Krankenhäuser zu überweisen. Dem wirkt allerdings ein funktionsfähiger Wettbewerb unter den Ärzten entgegen. Auf ungerechtfertigte Überweisungen oder mangelhafte Zuwendung werden die Versicherten durch Abwendung reagieren; ihnen kann auch durch Abschläge von der Pauschale im Falle von Überweisung entgegengewirkt werden. Erleichterungen
ergeben
Arbeitsgemeinschaften
sich,
wenn
(Gruppenpraxen)
sich
einzelne
zusammenschließen
Ärzte und
zu sich
Versicherte bei dieser Arbeitsgemeinschaft einschreiben. Da die Beanspruchung der Ärzte je nach der Zusammensetzung ihrer Klientel (Alter, Beruf) unterschiedlich ist, kann die Kopfpauschale nach Regionen, Altersstruktur oder Patientengruppen differenziert werden. 445.
Die
Vergütung
nach
Art
und
Anzahl
der
Einzelleistungen
(Einzelleistungsvergütung) wird von den ärztlichen Berufsvertretungen als natürliche und gerechteste Vergütungsform angesehen,
weil
sie
allein
172
Kapitel 5:
leistungsbezogen
Gesundheitsleistungen
sei.
Die Einzelleistungsvergütung
bietet einen
Anreiz,
schwierige Fälle eher an ein Krankenhaus zu Uberweisen als an einen Facharzt, weil in letzterem Falle mit einem "Abwandern" des Patienten zu rechnen ist. Sie reizt ferner dazu an, möglichst viele Leistungen pro Zeiteinheit zu erbringen; dem kann dadurch entgegengewirkt werden, daß die Einzelleistungen nicht zu weitgehend differenziert, sondern die zur Behandlung bestimmter Erkrankungen erforderlichen
Leistungen
zu
einem
Leistungskomplex
zusammengefaßt
werden. 446.
Die Vergütungsform unterlag im Laufe der Zeit einer wechselhaften
Entwicklung. Bei Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung wurde die Vergütungsform offen gelassen. Hinsichtlich der Höhe orientierte man sich ursprünglich an der staatlichen Gebührenordnung für privatärztliche Leistungen, doch wurden im Hinblick auf die Zuführung neuer Patienten und erhöhter Besuchsfrequenz geringere Vergütungssätze vereinbart. In den Verträgen mit den Krankenkassen wurde auch die Differenzierung der Vergütung nach der Einkommenshöhe des Patienten fallen gelassen. Um 1930 vergüteten etwa ein Drittel der Kassen nach einer Kopfpauschale, die übrigen nach Einzelleistung mit einer Höchstbegrenzung je Fall. Nach Errichtung der kassenärztlichen Vereinigungen blieb es diesen überlassen, den Maßstab für die Verteilung der Gesamtvergütung festzulegen. Während des zweiten Weltkrieges ging man wegen Ärztemangel und Verwaltungsvereinfachung zur Fallpauschale über. Das Kassenarztrecht von
1955 überließ den Vertragspartnern die Wahl
Vergütungsform. Anfang der 60er Jahre haben die
der
Ärzteorganisationen
gegenüber den (konkurrierenden) Krankenkassen die Einzelleistungsvergütung durchgesetzt. 447.
Nach der geltenden gesetzlichen Regelung
wird die
vereinbarte
Gesamtvergütung nach einem von der kassenärztlichen Vereinigung im Benehmen mit den Krankenkassenverbänden festgesetzten Maßstab auf die Vertragsärzte verteilt.15 Als Grundlage für die Verteilung der Vergütung ist bundesweit ein B ewertungsmaßstab für ärztliche Leistungen zu vereinbaren. Dieser bestimmt den Inhalt der abrechnungsfähigen ärztlichen Leistungen und ihr wertmäßiges,
in Punkten ausgedrücktes
Verhältnis zueinander.
Der
Bewertungsmaßstab ist eine vertraglich vereinbarte Gebührenordnung, die die
Kapitel 5:
173
Gesundheitsleistungen
Anwendung der sonst geltenden staatlichen Gebührenordnung für Ärzte ausschließt. Der monetäre Wert der im Bewertungsmaßstab festgelegten Punkte ergibt sich aus der vereinbarten Gesamtvergütung. 448.
Die Einzelleistungsvergütung ist eine entscheidende Ursache
des
permanenten Anstiegs des Leistungsvolumens (TZ 435). Sie reizt nicht nur zu mehr Leistungen je Kontakt, sondern auch zur Erhöhung der Zahl
der
Kontakte an. Dieser Anreiz führt dazu, daß es in Deutschland
im
internationalen Vergleich zu häufigen Wiederbestellungen mit vergleichsweise kurzer Kontaktzeit kommt. Das führt zu insgesamt längeren Wartezeiten und zusätzlichen Zeiten und Kosten für die zurückzulegenden Wege, d.h. zu vermeidbaren volkswirtschaftlichen Belastungen. 449.
Um der Tendenz zur Mengenausweitung entgegenzuwirken - aber auch
aus
anderen
Gründen
-
ist
vorgeschlagen
worden,16
die
Einzelleistungsvergütung für Primärärzte durch eine Pauschalvergütung zu ersetzen. In diesem Vorschlag soll der Zugang des Versicherten
zum
Gesundheitssystem grundsätzlich über den Primärarzt erfolgen. Dieser soll für jeden bei ihm eingeschriebenen Versicherten eine Pauschale unabhängig vom Volumen der erbrachten Leistungen erhalten. Um die von einer reinen Kopfpauschale ausgehenden negativen Effekte zu vermeiden, soll die Pauschale differenziert werden nach der Patientenstruktur (Alter, Krankheitsarten), nach der ärztlichen Kompetenz (Weiter- und Fortbildung) und nach der technischen Ausstattung der Praxis. Den Primärärzten stehen bei diesem Vorschlag als Wettbewerbsparameter die Qualität der Leistung, die Zuwendung
zum
Patienten, eine Zusatzqualifikation und die Praxisausstattung zur Verfügung. Die
zunehmende
Arztdichte
begründet
die
Annahme,
daß
diese
Honorierungsform die einer Pauschalhonorierung theoretisch zugeschriebenen Nachteile in den Hintergrund treten läßt. Ein Arzt, der die Betreuung seiner (potentiellen) Patienten vernachlässigt, wird diese über kurz oder lang durch Abwanderung verlieren.
174
Kapitel 5:
Gesundheilsleistungen
2. Gesamtvergütung 450.
Die Ausgaben der Krankenversicherung für ärztliche Behandlung und
damit das durchschnittliche Einkommensniveau der Ärzte wird durch die Gesamtvergütung bestimmt. Die Höhe der Gesamtvergütung läßt das Gesetz offen. Ebenso ist die Art ihrer Berechnung den Vertragsparteien (Kassenärztliche Vereinigungen und Landesverbände der Krankenkassen) überlassen; sie kann als Festbetrag, nach Einzelleistungen oder als Pauschale berechnet werden. Vereinbarungen über Veränderungen der Gesamtvergütung sollen erfolgen unter Berücksichtigung der Praxiskosten, der für die kassenärztliche Tätigkeit aufzuwendenden Arbeitszeit sowie der Art und des Umfangs der ärztlichen Leistungen, soweit sie auf einer gesetzlichen oder satzungsmäßigen Leistungsausweitung beruhen. Die Bundesverbände der Krankenkassen und die Kassenärztliche Bundesvereinigung haben gemeinsam jährlich
eine
Empfehlung
über
die
angemessene
Veränderung
Gesamtvergütung abzugeben, die bei den vertraglichen
der
Vereinbarungen
berücksichtigt werden soll. 451.
Eine solche Empfehlung kann entfallen, wenn die "Konzertierte
Aktion im Gesundheitswesen" eine entsprechende Empfehlung abgegeben hat, der die Vertreter der Krankenkassen und der Vertragsärzte zugestimmt haben. Dieses seit 1977 bestehende Gremium besteht aus Vertretern der an der gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung Beteiligten und soll medizinische und wirtschaftliche Orientierungsdaten sowie Vorschläge zur Erhöhung der Leistungsfähigkeit, Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit der gesundheitlichen Versorgung entwickeln. 452.
In den Empfehlungen sind die inhaltlichen Vorgaben so zu gestalten,
daß Beitragssatzerhöhungen vermieden werden, es sei denn, die notwendige medizinische Versorgung ist auch unter Ausschöpfen von Wirtschaftlichkeitsreserven ohne Beitragssatzerhöhungen nicht zu gewährleisten (Grundsatz der Beitragssatzstabilität). Dieser Grundsatz gilt auch für die Vereinbarungen zwischen Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen über die Vergütung der Leistungen.17
Kapitel 5: Gesundheitsleistungen
453.
175
Während das Gesetz die Veränderung des Vergütungsniveaus detailliert
anspricht, sagt es nichts über dessen absolute Höhe. Auch in Praxis und Wissenschaft wird das Vergütungsniveau kaum diskutiert. Zwar ist bekannt, daß Ärzte im Vergleich zu anderen Berufsgruppen ein hohes Einkommen haben, doch gibt es keinen anerkannten Maßstab für die "Angemessenheit" dieses Einkommensniveaus. Im internationalen Vergleich der Ärzteeinkommen liegt Deutschland in der Spitzengruppe. Da die Gesamtvergütung
zwischen
Verbänden vereinbart wird, ist die Wirkung von Marktkräften eliminiert. Es kommt ausschließlich auf die Verhaltensweisen der Vertragspartner an, die im wesentlichen durch Konflikt- und Verhandlungsstrategie bestimmt wird. Tatsächlich hat sich das durchschnittliche Bruttoeinkommen frei praktizierender Ärzte (Praxisumsatz einschließlich Privatpraxis abzüglich Praxiskosten) zum durchschnittlichen Bruttoeinkommen aller Beschäftigten seit Bestehen der gesetzlichen Krankenversicherung konstant wie etwa 5:1 verhalten. Die Konstanz dieses Verhältnisses erstaunt angesichts der Offenheit der Rechtslage und
der wechselnden
Rahmenbedingungen
für die
Bestimmung
der
Gesamtvergütung. 454.
Aufschlußreich ist auch hier die Entwicklung. Die Gesamtvergütung
wurde eingeführt, als während der Weltwirtschaftskrise einerseits dem Defizit der Krankenkassen entgegengewirkt werden sollte und andererseits die Ärzteschaft auf vermehrte Zulassung zur kassenärztlichen Versorgung drängte. Mit der Schaffung der kassenärztlichen Vereinigungen (TZ 421) und der vermehrten Zulassung von Kassenärzten wurde 1932 eine Gesamtvergütung auf der Grundlage einer Kopfpauschale eingeführt. Die Gesamtausgaben der Kassen für ärztliche Behandlung wurden aus den Ergebnissen des Jahres 1930 berechnet und sollten sich künftig nach Maßgabe der Einnahmen der Krankenkassen verändern. Eine Vermehrung der Leistungsmenge blieb dadurch kostenneutral. Damit waren die Kassen gegen einen über den Einnahmeanstieg hinausgehenden Anstieg der Ausgaben für ärztliche Behandlung geschützt. Andererseits war den Ärzten in ihrer Gesamtheit ein bestimmter Anteil an den Kasseneinnahmen gesichert. Im Nachhinein wurde festgestellt: "Dieses System hat so wundervoll funktioniert, daß wir 17 Jahre ohne Streit geblieben sind".18 Allerdings begünstigten die Rahmenbedingungen dieses Funktionieren: Wegen Aufrüstung und Krieg stieg der Bedarf an Ärzten, der Druck auf Zugang zur
176
Kapitel 5:
Gesundheitsleistungen
Kassenpraxis verminderte sich und wegen der Vollbeschäftigung stieg die Zahl der Versicherten und damit die Gesamtvergütung. 455.
Einen Wandel brachte das Gesetz über Kassenarztrecht von 1955. Es
schrieb vor, daß die Höhe der Gesamtvergütung sich bestimme erstens nach der Zahl der Versicherten und zweitens nach dem Jahresbedarf eines Versicherten an kassenärztlichen Leistungen. Für die Ermittlung des Jahresbedarfs waren die tatsächlich ausgeführten ärztlichen Leistungen zugrunde zu legen.
Der
Gesamtvertrag mußte Bestimmungen über die Anpassung des Jahresbedarfs an eine eintretende Vermehrung der kassenärztlichen Leistung enthalten. Das Gesetz sah weiter vor, daß die Gesamtvergütung nach Einzelleistungen berechnet werden kann. Weil die Kopfpauschale dadurch ihrer Funktion beraubt war, und wegen des Wettbewerbs der Krankenkassen untereinander gingen später alle Kassen auf die Einzelleistungsvergütung über. Damit war eine Leistungsausweitung nicht mehr kostenneutral. 456.
Wegen der steigenden Arztdichte und der steigenden Leistungsmenge je
Arzt hatte die Rechtsänderung einen enormen Anstieg der Ausgaben der Krankenkassen für ärztliche Behandlung zur Folge. Allerdings hat sich der Anteil der Kassenausgaben für ärztliche Behandlung an den Gesamtausgaben kaum verändert, weil auch die übrigen Ausgaben,
insbesondere für
Krankenhausbehandlung, Arzneien und andere Sachleistungen anstiegen. Die Folge war ein erheblicher Anstieg des durchschnittlichen Beitragssatzes der Krankenversicherung. Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob bei befriedigender Arztdichte und befriedigender Einkommenslage der Ärzte die wirtschaftlichen Folgen der steigenden Arztdichte weiterhin von der Krankenversicherung zu tragen sind, oder ob darauf hingewirkt werden soll, daß die Mengenausweitung zu einer verringerten Vergütung je Einzelleistung und damit zu geringerem Einkommen je Arzt führt. 457.
Angesichts der fortschreitenden Mengenausweitung (TZ 435) und im
Zusammenhang mit einer Umstrukturierung des Bewertungsmaßstabes für die Einzelleistungen wurde 1986 vertraglich vereinbart, daß die Gesamtvergütung nicht stärker ansteigt, als die Einnahmen der Krankenkassen. Damit war für die Kassen ein Zustand wiederhergestellt, wie er nach 1932 bestanden hatte,
Kapitel 5: Gesundheitsleistungen
nämlich eine Budgetierung
177
der Gesamtvergütung, wie sie mit dem
Gesundheitsstrukturgesetz 1992 bis 1995 auch gesetzlich normiert wurde. Unter diesem Regime gehen von der Vergütung der ambulanten ärztlichen Behandlung keine beitragserhöhenden Wirkungen aus. Für die Ärzte führt die Begrenzung des Zuwachses der Gesamtvergütung bei steigender Arztdichte und Leistungsmenge sowie Einzelleistungsvergütung zu stagnierenden oder gar rückläufigen Punktwerten. Nur wenn und soweit die Anzahl der Leistungen (Punkte) weniger stark anwächst als die Kasseneinnahmen, kann sich der Punktwert erhöhen. Unbefriedigend an dieser Situation ist der Anreiz für den einzelnen Arzt, die Zahl der Leistungen (Punkte) zu erhöhen, weil dies die einzige Möglichkeit ist, seinen Anteil an der Gesamtvergütung zu halten oder zu erhöhen. Will man diese Wirkung vermeiden, so muß die Methode der Einzelleistungsvergütung geändert werden.
d) Leistungsbeobachtung 458.
Zu den Aufgaben der kassenärztlichen Vereinigung gehört auch die
Prüfung der Qualität der erbrachten Leistungen. Sie hat diese im Einzelfall durch Stichproben zu prüfen. Auswahl, Umfang und Verfahren dieser Stichproben sollen im Benehmen mit den Krankenkassen festgelegt werden.19
Allerdings
stecken die Bemühungen um einen Ausbau der Qualitätssicherung noch sehr in den Anfängen, weil die Ärzte unter Berufung auf Therapiefreiheit und Hinweis auf jeweils besondere Erfordernisse des Einzelfalles der Entwicklung diagnostischer und therapeutischer Standards Widerstand entgegensetzen. 459.
Zur Begutachtung und Beratung in medizinischen Fragen steht den
Krankenkassen ein "Medizinischer Dienst der Krankenversicherung " zur Verfügung.20 Dieser ist eine in jedem Bundesland von den Krankenkassen gemeinsam errichtete Körperschaft des öffentlichen Rechts. Die Ärzte des medizinischen Dienstes sind bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben nur ihrem ärztlichen Gewissen unterworfen. Sie sind nicht berechtigt, in die ärztliche Behandlung einzugreifen. Um den eigenen Personalbestand gering zu halten
178
Kapitel 5:
Gesundheitsleislungen
und um einen bleibenden Bezug zur Praxis zu gewährleisten, hat der medizinische Dienst vorrangig Gutachter zu beauftragen, die nicht bei ihm beschäftigt sind. 460.
Die Wirtschaftlichkeit der vertragsärztlichen Versorgung wird von den
Krankenkassen
und
den
Kassenärztlichen
Vereinigungen
gemeinsam
überwacht.21 Für die Wirtschaftlichkeitsprüfung bilden sie bei den Kassenärztlichen Vereinigungen paritätisch besetzte Prüfungsausschüsse. Diese entscheiden
auf Antrag der Krankenkasse
oder
der
Kassenärztlichen
Vereinigung, ob der Arzt gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot verstoßen hat und welche Maßnahmen zu treffen sind. Dabei sollen gezielte Beratungen weiteren Maßnahmen in der Regel vorangehen. Zu den weiteren Maßnahmen können Verwarnungen, Verweise und Honorarkürzungen gehören. 461.
Das Gesetz schreibt drei Prüfarten vor. (1) Prüfung ärztlicher und
ärztlich verordneter Leistungen nach Durchschnittswerten, (2) Prüfung bei Überschreitung der Richtgrößen und (3) Prüfung ärztlicher und ärztlich verordneter
Leistungen
auf
der
Grundlage
von
arztbezogenen
und
versichertenbeziehbaren Stichproben, die 2 v.H. der Ärzte je Quartal umfassen. Die
Prüfungen
umfassen
auch
die
Häufigkeit von
Überweisungen,
Krankenhauseinweisungen und Feststellungen der Arbeitsunfähigkeit. Die Verfahren der Wirtschaftlichkeitsprüfung werden von den Vertragspartnern (Landesverband
der
Krankenkassen
und
Kassenärztliche
Vereinigung)
vereinbart. 462.
Die unter (2) und (3) genannten Prüfarten wurden mit dem Gesundheits-
Reformgesetz 1988 eingeführt. Bis dahin gab es nur die Prüfung nach Durchschnittswerten. Dabei wird geprüft, ob ein Arzt mit den Leistungen (Punkten) je Leistungsfall und Quartal den Durchschnitt seiner Fachgruppe wesentlich
überschreitet.
Die
durchschnittliche
Behandlungs-
und
Verordnungsweise einer Facharztgruppe wird als wirtschaftlich unterstellt. An dem Verfahren wurde kritisiert, daß allein die ärztliche Behandlungsweise, nicht dagegen
andere
kostenwirksame
und
interdependente
Entscheidungen
hinsichtlich Überweisung, Krankenhauseinweisung, Arbeitsunfähigkeit und Behandlungskontinuität kontrolliert wird. Außerdem werde der fachspezifische
Kapitel 5: Gesundheitsleistungen
179
Falldurchschnitt durch gleichgerichtetes Verhalten aller Kassenärzte beeinflußt. Eine grundsätzliche Kritik des vergleichsstatistischen Verfahrens zum Nachweis der Unwirtschaftlichkeit bezieht sich darauf, daß es eine Signalwirkung in zweierlei Richtung ausübt oder ausüben kann: Es wirkt kontraktiv bei Ärzten mit überdurchschnittlichen Fallkosten. Bei Ärzten mit unterdurchschnittlichen Fallkosten wirkt es expansiv, weil die Sorge ausgelöst wird, daß nicht das "Notwendige" an Leistungen erbracht und nicht das Mögliche an Praxisumsatz erwirtschaftet wird. 463.
Gegenüber der Prüfung nach Durchschnittswerten wird die Prüfung bei
Überschreitung von Richtgrößen in Zukunft größere Bedeutung erlangen. Die Partner
der
Gesamtverträge
vereinbaren
arztgruppenspezifisch
jeweils
Richtgrößen für das Volumen der je Arzt verordneten Leistungen, insbesondere von Aiznei- und Heilmitteln.22
III. Arzneimittelversorgung a) Vertrieb 464.
Zur Krankenbehandlung, auf die der Versicherte einen Anspruch hat,
gehört auch die Versorgung
mit Arzneimitteln.
Die Ausgaben
für
Arzneimittel betragen seit zwei Jahrzehnten etwa 15 v.H. der gesamten Leistungsausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung. In diesem Zeitraum ist auch die Relation zwischen den Ausgaben für ambulante ärztliche Behandlung und denjenigen für Arzneimittel konstant geblieben: Auf je 100 CM Gesamtvergütung entfielen etwa 80 DM Arzneimittelausgaben. 465.
Die Funktion des Arzneimittels im Rahmen der Medizin wird wie
folgt beschrieben: "Das Arzneimittel hat dabei eine zweifache Funktion: - als Instrument ärztlichen professionellen Handelns - und als Substanz mit psychologischer Wirkung in der Interaktion zwischen Arzt und Patient.23
Die zweite, auf psychologische Wirkung zielende
180
Kapitel 5:
Gesundheitsleistungen
Funktion bedingt eine große Variationsbreite bei der Herstellung und dem Verbrauch von Arzneimitteln. 466.
Arzneimittel werden ganz Uberwiegend von industriellen Unternehmen
produziert. In der Preisgestaltung sind die Unternehmen in Deutschland im Gegensatz zu fast allen europäischen Nachbarländern frei. Die Folge davon ist ein im internationalen Vergleich hohes Preisniveau. Dazu trägt auch bei, daß im Vergleich zu anderen Markten der Preiswiderstand seitens der Verbraucher und der verordnenden Ärzte gering ist. Der Wettbewerb auf dem Arzneimittel markt vollzieht sich hauptsächlich durch Entsendung von Pharmaberatern und durch Produktdiversifikation. 467.
In
einer Zusammenstellung der Weltgesundheitsorganisation
der
notwendigen Medikamente sind 270 Substanzen in 370 Handelsformen enthalten. Demgegenüber sind in der Bundesrepublik weit über 100.000 Arzneimittel zugelassen. Zwar entfallen 92% des Apothekenumsatzes auf etwa (nur) 2000 Arzneimittel, doch liegt auch diese Zahl weit über der Zahl der Medikamente, die ein Arzt hinsichtlich Wirkung, Neben- und Wechselwirkung beherrschen könnte. Der Produktdiversifikation auf dem Arzneimittelmarkt sollte durch eine Liste verordnungsfähiger Arzneimittel (Positivliste) entgegen gewirkt werden. Auf Druck der Pharmaindustrie wurde diese Vorschrift wieder gestrichen.24 468.
Preiswettbewerb auf dem Arzneimittelmarkt vollzieht sich dadurch, daß
Nachahmer-Produzenten Arzneimittel bzw. die in ihnen enthaltenen Wirkstoffe, deren Patentschutz abgelaufen ist, unter anderem Namen billiger anbieten. Das ist möglich, weil die Hersteller sich bei Beantragung der Zulassung auf die vorliegenden Unterlagen des Erstanmelders berufen können. Sie ersparen damit Kosten für Forschung, Versuche und klinische Prüfungen. Der Marktanteil der Nachahmer-Produzenten steigt tendenziell an. 469.
Der
Vertrieb von Arzneimitteln ist
Qualitätssicherung und
der Verhütung
Begründung
der
von Arzneimittelmißbrauch
mit der
den
Apotheken vorbehalten. Die Kasse erstattet der Apotheke die Kosten der ärztlich verordneten Arzneimittel, die der Berechtigte bezogen hat. Die Apotheke bezieht
Kapitel 5:
Gesundheitsleistungen
181
die Arzneimittel über den Großhandel von Arzneimittelherstellern. Von den Ausgaben der Krankenkassen für Arzneimittel entfallen etwa 50 v.H. auf die Herstellerkosten, die andere Hälfte auf die Handelsspanne, deren wichtigste die staatliche festgelegte Handelsspanne für Apotheken ist (Arzneitaxe). 470.
Lange Zeit bestand für Apotheken eine Zulassungspflicht. Diese
wurde 1960 durch Urteil des Bundesverfassungsgerichts (auf Veranlassung der Apotheker) aufgehoben. Seither hat sich die Zahl der Apotheken mehr als verdoppelt. Dieser Anstieg ist ursächlich für die seit einiger Zeit beklagten wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Apotheker und deren Forderung nach Wiedereinführung
einer
Zulassungspflicht.
Mit
der
Erreichung
der
Niederlassungsfreiheit haben die Apotheker das unternehmerische Gründungsund Erhaltungsrisiko auf sich genommen. Rentabilitätsprobleme einzelner Apotheken sind als Anpassungs- und Strukturwandlungsprozesse anzusehen, die in einer freiheitlichen Marktwirtschaft normal sind.
b) Verordnung 471.
Anzahl und Art der verordneten Arzneimittel sind erst seit Anfang der
80er Jahre im einzelnen bekannt. Diese Informationen liefert seither der unter Federführung des wissenschaftlichen Instituts der Ortskrankenkassen erarbeitete Arzneimittelindex,
in
dem
kontinuierlich
eine
repräsentative
Zufallsstichprobe aus allen Verordnungsblättern der Krankenversicherung gezogen wird. 472.
Die Ergebnisse
Expertengruppen
des
ausgewertet
Arzneimittelindex worden,
mit
sind dem
von
verschiedenen
Ergebnis,
daß
ein
Ubermedikalisierung vorliegt. "Die Aussagen in der Literatur zeigen letztlich übereinstimmend, daß nach Expertenmeinung insgesamt zu viele Arzneimittel, zu viele Arzneimittel mit zweifelhafter Wirkung und Arzneimittel in nicht sinnvoller Kombination verordnet werden.
25
Dies besagt, daß Arzneimittel in
vielen Fällen nach Art (Wirkstoff), Menge (Dosierung) und Kombination nicht dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand entsprechend verordnet werden. In Deutschland ist jeder Arztbesuch (statistisch) mit einer Arzneimittelverordnung
182
Kapitel 5:
Gesundheitsleistungen
verbunden, in den Niederlanden - bei deutlich geringerer Kontakthäufigkeit nur jeder zweite Besuch. 473.
Weiter ist festgestellt worden, daß die Arzneimittel nicht wirtschaftlich
verordnet werden. Bei konsequenter Verordnung des jeweils preisgünstigsten Präparates könnte etwa ein Drittel der Arzneimittelausgaben eingespart werden. Der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen "geht nicht davon aus, daß es möglich ist, die Obergrenzen der fiktiven Einsparpotentiale in einem überschaubaren Zeitraum zu realisieren. Er ist aber der Ansicht, daß die Ausgaben der GKV für Arzneimittel um 20-25 v.H. gesenkt werden könnten ohne die Qualität der medizinischen Versorgung dadurch zwangsläufig zu beeinträchtigen.26
c) Ausgabensteuerung 474.
Die Nutzung von Einsparpotentialen sowie die Minimierung von
Schäden der Übermedikalisierung setzt voraus, daß die geschilderten Mängel bei der Arzneimittelverordnung beseitigt
werden.
Die
pharmakologische
Ausbildung im Medizinstudium ist nach weitverbreiteter Meinung unzureichend; das
gilt
insbesondere
hinsichtlich
der
wirtschaftlichen
Folgen
der
Arzneimittelverordnung. Im Hinblick auf den Wissenschaftsfortschritt und die Produktdiversifikation wird neben einer intensivierten Ausbildung auch eine vom Hersteller unabhängige Fortbildung der Ärzte in der Pharmakologie durch neutrale Institutionen für erforderlich gehalten. 475.
Der Arzt kann dem Wirtschaftlichkeitsgebot dadurch Rechnung tragen,
daß er bei gleichartig wirkenden Arzneimitteln das preisgünstigere verordnet. Nach den vom Bundesausschuß der Äizte und Krankenkassen beschlossenen Arzneimittel-Richtlinien hat der Vertragsarzt die Pflicht, sich im Rahmen des Möglichen über die Preise der Arzneimittel zu unterrichten. Dies ist angesichts der Vielzahl der angebotenen Arzneimittel mit gleichartiger Wirkung erheblich erschwert; darum sollen in den Richtlinien die Arzneimittel so zusammengestellt werden, daß dem Arzt der Preisvergleich und die Auswahl therapiegerechter Verordnungsmengen erleichtert wird. Als Bestandteil der
Kapitel5:
Gesundheitsleistungen
183
Arzneimittel-Richtlinien wird eine laufend aktualisierte Preisvergleichsliste herausgegeben. 476.
Der
Arzt
soll
bei
der
Verordnung
von
Arzneimitteln
die
Preisvergleichsliste beachten und auf dem Verordnungsblatt seine Entscheidung kenntlich machen, ob die Apotheke ein preisgünstigeres wirkstoffgleiches Arzneimittel anstelle des verordneten Mittels abgeben darf. Selbst wenn Ärzte sich in größerer Zahl dafür entscheiden würden, muß die Auswirkung angesichts der Ausgestaltung der Einzelhandelsspanne für Arzneimittel gering bleiben. Diese ist durch die Arzneimittelpreisverordnung als prozentualer Festzuschlag zum Abgabepreis des Herstellers festgelegt (Arzneitaxe). 477.
Dadurch wird ein einheitlicher Apothekenabgabepreis erreicht, der
traditionell als erwünscht angesehen wird. Obgleich die Arzneitaxe mit steigendem absoluten Wert der Verordnung sinkt, bleibt die Apotheke an einem hohen Abgabepreis interessiert. Sie handelt gegen ihr wirtschaftliches Interesse, wenn sie der Ermächtigung des Arztes zur Abgabe eines preisgünstigeren Mittels folgt. Um diese Wirkung zu vermeiden, müßte an Stelle des prozentualen Zuschlags zum Preis ein Festzuschlag pro abgegebener Einheit vorgesehen
werden.
Dies
ist
auch
dadurch
gerechtfertigt,
daß
der
Arbeitsaufwand für Beschaffung, Vorratshaltung und Abgabe einer Einheit (Packung) kaum von deren Preis abhängt. 478.
Angesichts des geringen Preiswiderstandes auf dem Arzneimittelmarkt
(TZ 466) ist eine Einflußnahme auf die Arzneimittelpreise von besonderer Bedeutung für die Ausgabensteuerung. Eine Möglichkeit der Einflußnahme ist eine Regelung, die in Österreich besteht, nach der anläßlich der Aufnahme eines Mittels in das Verzeichnis der erstattungsfähigen Arzneimittel auch dessen Preis festgesetzt,
d.h.
mit
dem
Hersteller
ausgehandelt
wird.
Solche
Verhandlungen über Arzneimittelpreise zwischen Krankenkassen und Arzneimittelherstellem werden auch für Deutschland gefordert. Abgesehen von den dabei zu lösenden Rechtsfragen besteht eine prinzipielle Schwierigkeit darin, daß von den Gesamtkosten der Herstellung eines Arzneimittels nur knapp 40 v.H. auf die reinen Herstellungskosten entfällt. Beim größten Teil der Gesamtkosten (insbesondere Forschung und Entwicklung, wissenschaftliche
184
Kapitel 5:
Gesundheitsleistungen
Information, Werbung, Verwaltung) handelt es sich um Gemeinkosten, deren Zurechnung zu einem einzelnen Produkt für den Außenstehenden nicht nachvollziehbar ist. 479.
Seit 1989 sind für Gruppen von Arzneimitteln unter bestimmten
Bedingungen Festbeträge
festzusetzen. Ist dies für ein Arzneimittel
geschehen, so trägt die Krankenkasse die Kosten nur bis zur Höhe des Festbetrages. In diesem Falle hat der Versicherte die Mehrkosten zu tragen, wenn ein Mittel verordnet wird, dessen Preis den Festbetrag Ubersteigt. Auf die Pflicht zur Übernahme der Mehrkosten hat der Arzt den Versicherten hinzuweisen. Festbeträge werden festgesetzt für Arzneimi ttelgruppen, bei denen NachahmerKonkurrenz besteht. Für Arzneimittel mit denselben Wirkstoffen kann ein Festbetrag erst drei Jahre nach der ersten Zulassung eines wirkstoffgleichen Arzneimittels festgesetzt werden. Dies ist faktisch eine Verlängerung der Patentlaufzeit.
Die
Entscheidung
darüber,
für welche
Gruppen
von
Arzneimitteln Festbeträge festgesetzt werden können, fällt der Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen. Die Höhe des Festbetrages bestimmen die Spitzenverbände der Krankenkassen. Nach Einführung von Festbeträgen sind die Preise der Originalpräparate, für die der Patentschutz abgelaufen ist, auf das Niveau der Festbeträge gesenkt worden. 480.
Die
pharmazeutische
Industrie
macht
geltend,
daß
die
Festbetragsregelung die Finanzierung von Innovationen gefährde. Diesem Innovationsargument ist entgegenzuhalten, daß von der Regelung eher ein Anreiz zu verstärkter Forschung und Innovation erwartet werden kann, weil neu entwickelte Mittel dem Patentschutz unterliegen und die Hersteller in der Preissetzung
dieser
Mittel
frei
sind.
Investitionen,
Forschungsaufwendungen werden grundsätzlich nicht durch
so
auch
vergangene
Gewinne determiniert, sondern durch Gewinnerwartungen in der Zukunft. 481.
Im Übrigen ist ein Abschwächungsfaktor zu beachten: Eingesparte
Ausgaben
der
pharmazeutischen
Krankenkassen
wirken
sich
auf
die
Industrie nur deutlich abgeschwächt
Einnahmen aus,
weil
der vom
Apothekenabgabepreis, auf den sich die Festbeträge beziehen, nur weniger als die Hälfte auf den Herstellerabgabepreis entfällt (TZ 469).
Kapitel 5:
482.
185
Gesundheitsleistungen
Aus der Tatsache, daß der verordnende Arzt darüber entscheidet,
welches Mittel notwendig, zweckmäßig und wirtschaftlich ist, hat man gefolgert, daß es neben guter Aus - und Fortbildung sowie neutraler Information der Ärzte und der Vorgabe von Richtgrößen (TZ 463) ratsam sei, sie
zur
entsprechenden
Verordnungsweise
auch
wirtschaftlich
zu
motivieren. Gegen eine Regelung, die unmittelbar zu Lasten oder zu Gunsten der ärztlichen Einkommen geht, bestehen Bedenken. Sie würde den Arzt oft in eine Konfliktsituation
bringen
und
die
Gefahr
beinhalten,
daß
ihm
einkommensorientiertes Verhalten unterstellt wird, wenn er im Einzelfall vom Medikamentenkonsum abrät oder ein kostengünstigeres Präparat anrät. 483.
Weniger
weit
geht
der
Vorschlag,
die
Mandatsträger
der
kassenärztlichen Vereinigungen wirtschaftlich zu motivieren, um sie zu kollegialer Einwirkung auf die Vertragsärzte zu veranlassen. Die Vertragspartner sollten "in den Vereinbarungen über die Veränderung der Gesamtvergütungen... Arzneimittelhöchstbeträge festlegen und dabei eine Unterschreitung
des
vereinbarten Aizneimittelhöchstbetrages berücksichtigen. Grundgedanke ist, daß die Realisierung von Einsparpotentialen im Arzneimittelbereich sowohl zu Minderausgaben bei den Krankenkassen als auch zu einer Erhöhung der Gesamtvergütung für die kassenäiztliche Versorgung führen sollte... Auf diese Weise käme die KV in den Besitz zusätzlicher Mittel und wäre zum Abschluß derartiger Vereinbarungen motiviert; der einzelne Arzt wäre zu wirtschaftlicher Verordnungsweise motiviert, da er mit seinem Verhalten Einfluß auf die Höhe der Gesamtvergütung nehmen kann, ohne sich im Einzelfall in einer Konfliktlage zu sehen oder in einer solchen gesehen werden zu können." 27 484.
Die
Beeinflußbarkeit
der
Arzneimittelverordnung
wirtschaftliche Anreize hat sich nach Wirksamwerden einer auf Grundlage
beruhenden
Regelung
des
durch dieser
Gesundheitsstrukturgesetzes
1992
deutlich gezeigt. Für das Jahr 1993 hatte der Gesetzgeber ein Arzneimittelbudget als Obergrenze für die insgesamt von den Vertragsärzten
veranlaßten
Arzneimittelausgaben festgelegt. Bei Übersteigen dieses Budgets hatte die Kassenärztliche
Vereinigung den
übersteigenden
Betrag
gegenüber
Krankenkasse zu Lasten der Gesamtvergütung auszugleichen.
der
Angesichts
drohender Kürzungen der Gesamtvergütungen wirkten die Kassenärztlichen
186
Kapitel 5:
Gesundheilsleistungen
Vereinigungen auf die Ärzte ein und erzielten vorher nicht für möglich gehaltene Reaktionen: Während im Mittel der ersten elf Monate des Jahres 1992 65 Millionen Verordnungen getätigt wurden, waren dies im Dezember 82 Mio. (Vorzieh-Effekt), nach Inkrafttreten des Gesetzes im Januar 1993 49 Mio. Die Zahl der Verordnungen lag in den ersten sechs Monaten 1993 um 17.V.H. unter der Vergleichsrate des Vorjahres. Die unterschiedliche Art und Intensität der Einwirkung auf die Vertragsärzte schlug sich in hohen Differenzen des Verordnungs-Rückgangs zwischen den KV-Bezirken nieder. Die Reaktionen auf
das
Arzneimittel-Budget
Einsparpotential vorhanden
haben
bestätigt,
daß
ein
ist, daß die Mandatsträger
beträchtliches
der KVen
für
Einsparbemühungen motivierbar sind und daß die Ärzte auf Einwirkungen aus der Kollegenschaft stärker reagieren als auf andere Methoden der Einwirkung.
IV. Versorgung mit Heil- und Hilfsmitteln 485.
Die Krankenbehandlung umfaßt auch die Versorgung mit Verband-,
Heil-,
und Hilfsmitteln. Heilmittel sind Dienstleistungen, die heilende
Wirkung
auf
den
Organismus
von
außen
ausüben,
Hilfsmittel
sind
Sachleistungen, die dem Ausgleich einer Behinderung dienen. Hierzu gehören insbesondere
orthopädische
Hilfsmittel,
Sehhilfen
und
Hörhilfen.
Im
Unterschied zu Heilhilfen, die regelmäßig während eines vorübergehenden Zeitraumes
(mit
Ausnahmen)
angewandt
werden,
sind
diese
Stabilisierungshilfen einmalig zu beschaffen und wenn Uberhaupt, erst nach längerem Zeitraum zu ersetzen. Die Dialyse ist eine Dienstleistung mit hohem Sachkostenanteil. Die Heil- und Hilfsmittel sind ärztlich zu verordnen und werden in der Regel von freiberuflich Tätigen erbracht. Der Anteil der Aufwendungen der gesetzlichen Krankenversicherung für Heil- und Hilfsmittel an den gesamten Leistungsausgaben liegt bei etwa 6 v.H.. 486.
Über die Versorgung mit Heilmitteln, die als Dienstleistung erbracht
werden,
sowie Uber
deren
Preise
schließen
die
Landesverbände
der
Krankenkassen Verträge mit den Leistungserbringern oder deren Verbände. Das
Kapitel 5: Gesundheitsleistungen
187
Gleiche gilt im Prinzip für Hilfsmittel, doch sollen die Spitzenverbände der Krankenkassen Hilfsmittel bestimmen, für die Festbeträge festgesetzt werden. Für
die
so
bestimmten
Hilfsmittel
setzen
Krankenkassen die Höhe des Festbetrages fest.
28
die
Landesverbände
der
Solche Festbeträge gelten für
Seh- und Hörhilfen. 487.
Der Markt für Heil- und Hilfsmittel ist sehr heterogen. Es bestehen
mehrere Teilmärkte, die sich hinsichtlich Produktart und Angebotsstruktur unterscheiden. Die Transparenz auf den Teilmärkten ist unterschiedlich und unbefriedigend. Daher ist es nur in engen Grenzen möglich, Aussagen zu machen, die für alle Teilmärkte zutreffen. 488.
Zu den physiotherapeutischen Leistungen gehören insbesondere
diejenigen der Masseure, der medizinischen Bademeister, Krankengymnasten, Arbeitstherapeuten, Logopäden. Ein Vorteil der physikalischen Therapie liegt darin, daß sie im Gegensatz zu Arzneimitteln von Nebenwirkungen frei sind. Andererseits sind physiotherapeutische Maßnahmen nur dann hilfreich, wenn sie rechtzeitig und nur über einen begrenzten Zeitraum eingesetzt werden. Regionale Unterschiede der Ausgaben für diese Maßnahmen von bis zu 100 v.H. lassen den Schluß zu, daß sie in besonderem Maße der Beliebigkeit unterliegen. 489.
Sehhilfen werden in Unternehmen der augenoptischen Industrie
produziert und im wesentlichen von Betrieben der Augenoptiker geliefert. Die Krankenkasse zahlt zu den Kosten des Brillengestelles einen Zuschuß von 20 DM. Für die Gläser sind Festbeträge festgesetzt. Die Erfahrung zeigt, daß ein großer Anteil der Versicherten bereit ist, für modische Accessoirs der Brillenfassung
und
medizinisch
nicht
notwendige
Glaseigenschaften
Zuzahl ungen zu leisten. 490.
Bei der Beschaffung wichtiger Bauteile eines Hörgerätes (Mikrofon
und Lautsprecher) sind die Hersteller auf ein Unternehmen angewiesen, daß wegen seines technischen Wissens praktisch eine Monopolstellung innehat. Ungeachtet dessen gibt es eine große Vielfalt der Geräte,
weil die
Krankenkassen verbände bis 1988 mit der Bundesinnung für Hörgeräteakustiker den Preis für jedes einzelne Gerät vereinbarten. Dies schaffte einen Anreiz,
1 88
Kapitel 5:
Gesundheitsleistungen
neue, noch nicht in den Vertragspreislisten enthaltene Geräte auf den Markt zu bringen. Um diesen Anreiz zu beseitigen, wurde 1988 ein Gruppenpreissystem vereinbart, nach dem alle Geräte je nach ihren technischen Merkmalen in 9 Preisgruppen eingeordnet werden. Seit 1989 gelten für diese Preisgruppen Festbeträge, die um 20-30 v.H. unter den bis dahin geltenden Vertragspreisen liegen. Unabhängig davon können die Krankenkassen mit Leistungserbringern, die
ihre
Produkte
zu
Preisen
unterhalb
des
Festbetrages
anbieten,
Sonderverträge abschließen, was in einzelnen Fällen geschehen ist. 491.
Die bei einem Nierenversagen erforderlichen Aufwendungen
der
Krankenversicherung für Dialyse könnten durch eine Nierentransplantation nahezu halbiert werden. Hinzu kommt eine entscheidende Verbesserung der Lebensqualität des Patienten. Der Engpaß für Nierentransplantationen ist die Zahl der zur Verfügung stehenden Spendernieren. Die Beteiligung
der
Krankenhäuser an einer systematischen Vermittlung von Spendernieren an transplantierende Zentren wird als zu gering beurteilt. 492.
Besonders für den Bereich der Heil- und Hilfsmittel stellt sich die Frage,
ob eine direkte Leistungserbringung gegenüber der indirekten vorteilhaft wäre. Von Eigeneinrichtungen
der Krankenkassen
Methode könnte
erwartet werden, daß sie sachliche und räumliche Versorgungslücken ausfüllen, standard-setzend auf die Qualität der Leistungen und regulierend auf deren Preis einwirken
können.
Über
solche
Wirkungen
ist
nichts
Verallgemeinerungsfähiges bekannt, obwohl die Krankenkassen früher in großer Zahl Eigeneinrichtungen betrieben haben. Allein die Ortskrankenkassen betrieben im Jahre 1924 über 1.400 Selbstabgabestellen, hauptsächlich für Verbandsstoffe, darunter aber auch 9 für Brillen und 62 für abgepackte Arzneimittel. Im Jahre 1930 gab es bei diesen Kassen an Eigeneinrichtungen: 6 Krankenhäuser, Ambulatorien,
137 Zahnkliniken, 125
168 Heil- und Erholungsstätten,
Röntgeninstitute.
29
Die
Eigeneinrichtungen
44
konnten
entstehen, weil der Gesetzgeber die Methode der Erbringung von Dienst- und Sachleistungen offen gelassen hatte. Erst in der Zeit nationalsozialistischer Herrschaft wurden die Eigeneinrichtungen bis auf unbedeutende Reste beseitigt.
Kapitel 5: Gesundheilsleistungen
493.
189
Mit dem Gesundheitsreformgesetz 1988 wurde bestimmt, daß die
Krankenkassen am 1.1.1989 bestehende Eigeneinrichtungen weiterbetreiben dürfen. Sie dürfen jedoch neue Einrichtungen nur errichten, soweit sie die Durchführung ihrer Aufgaben bei
der
Gesundheitsvorsorge
Rehabilitation auf andere Weise nicht sicherstellen können.
und
der
30
V. Krankenhausbehandlung a) Sach- und Rechtslage 494.
Bei Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung (1883) wurde
bestimmt, daß an Stelle der ärztlichen Behandlung und der Versorgung mit Arzneimitteln freie Kur und Verpflegung in einem Krankenhaus gewährt werden kann. Die Krankenkassen machten von dieser Ermächtigung bald allgemein Gebrauch. Ein gesetzlicher Anspruch wurde erst 1974 eingeführt. Er besteht, wenn die Aufnahme in ein Krankenhaus erforderlich ist, weil das Behandlungsziel nicht durch ambulante Behandlung einschließlich häuslicher Krankenpflege erreicht werden kann.11 495.
Krankenhäuser sind Einrichtungen, die (u.a.) fachlich-medizinisch unter
ständiger ärztlicher Leitung stehen. Für die Anerkennung als Krankenhaus ist entscheidend, daß die pflegerische Tätigkeit der ärztlichen Behandlung untergeordnet ist. Diese heutige Definition unterscheidet sich wesentlich von der ursprünglichen Funktion der Krankenhäuser. Diese entstanden im Mittelalter im christlichen Kulturbereich als Hospitäler, die zunächst von Kirchen und kirchlichen Orden, sodann auch von Städten errichtet wurden. Hospitäler dienten der Pflege der Armen, die diese Pflege im Familienverband nicht erhalten konnten; sie wurden daher oft als Armenhaus oder Siechenhaus bezeichnet und lagen nicht selten außerhalb der Stadtbefestigung. Erst allmählich trat neben die bloße Verwahrung der Insassen auch eine medizinische Betreuung.
1 90
496.
Kapitel 5:
Aus
Gesundheitsleistungen
der
historischen
Entwicklung
erklären
sich
die
Eigentumsverhältnisse an Krankenhäusern. Krankenhausträger sind zu jeweils etwa einem Drittel Gebietskörperschaften (Stadt, Landkreis, Land), freigemeinnützige Träger (Kirche, Orden, Stiftung) und Privatpersonen. 497.
Die Behandlung der Versicherten erfolgt in Krankenhäusern, die sich
gegenüber den Krankenkassen hierzu bereit erklären. Auch hier erfolgt also eine indirekte Sicherstellung. 498.
Zu den Kosten der Errichtung von Krankenhäusern wurden seit
längerem Zuschüsse der Länder und Gemeinden gezahlt. Gleichwohl hing die Struktur des Angebots an Krankenhausleistungen weitgehend von der Initiative der einzelnen Krankenhausträger ab. Mit dem Krankenhausfinanzierungsgesetz 1972 wurde die Vorhaltung von Krankenhäusern zur öffentlichen Aufgabe erklärt. Zweck dieses Gesetzes war die wirtschaftliche Sicherung
der
Krankenhäuser, "um eine bedarfsgerechte Versorgung der Bevölkerung mit leistungsfähigen,
eigenverantwortlich wirtschaftenden Krankenhäusern
zu
gewährleisten..." ,32 Die Vorhaltung wird dadurch gesteuert, daß die öffentliche Hand (zunächst Bund und Länder, Vorhaltekosten
Ubernimmt; dazu
seit
gehören
1985 allein die Länder) die Kosten
für
Neu-
die und
Erweiterungsbauten sowie für die Wiederbeschaffung langlebiger Anlagegüter. Dieser Teil der Gesamtkosten der Krankenhausbehandlung erscheint nicht in der Ausgaben-Statistik der Sozialleistungsträger. 499.
Die Bettendichte (Krankenhausbetten je 10.000 Einwohner) ist in
Deutschland Uber ein Jahrhundert lang kontinuierlich auf Uber das Vierfache angestiegen, jedoch seit 1975 wieder rückläufig. Mit einem Wert von etwa 110 liegt sie im internationalen Vergleich in einem Mittelfeld. Deutlich geringer ist die Krankenhausdichte in Großbritannien und den USA, deutlich höher in der Schweiz
und
in
Schweden.
Etwa
70
v.H.
der
Betten
stehen
in
Akutkrankenhäusern, 30 v.H. in Spezialkrankenhäusern. 500. die
Die Länder haben Krankenhauspläne aufzustellen, die den Stand und vorgesehene
Entwicklung
der
Krankenhäuser
nach
Standort
und
Versorgungsstufe ausweisen sollen. Hinsichtlich der Versorgungsstufe werden unterschieden Krankenhäuser der Grundversorgung, der Regelversorgung, der
Kapitel 5: Gesundheitsleistungen
191
Schwerpunktversorgung und der Zentralversorgung. Für die Festlegung des Bedarfs an Krankenhäusern gibt der Gesetzgeber keine Kriterien; in der Praxis geht man von Erfahrungswerten aus. Die Krankenhauspläne entscheiden darüber, welche Krankenhäuser gefördert werden. 501.
Bei der Aufstellung der Krankenhauspläne sind
einvernehmliche
Regelungen mit den Beteiligten anzustreben. Die Mitwirkungsrechte der Krankenkassen sind also schwach. Andererseits sind die Kassen verpflichtet, mit allen in diesen Plan aufgenommenen Häusern einen Versorgungsvertrag abzuschließen.
Dieser
kann
allerdings
gekündigt
werden,
wenn
das
Krankenhaus nicht die Gewähr für eine leistungsfähige und wirtschaftliche Krankenhausbehandlung
bietet
oder
für
eine
bedarfsgerechte
Krankenhausbehandlung der Versicherten nicht erforderlich ist. 502.
Bedarf und Standorte medizinisch-technischer Großgeräte werden
zwischen den Beteiligten in einem Großgeräteausschuß abgestimmt. Diesem Ausschuß gehören Vertreter der Krankenhäuser, der Kassenärzte,
der
Krankenkassen sowie ein Vertreter der zuständigen Landesbehörde
an.
Leistungen mit Großgeräten (im stationären wie auch im ambulanten Bereich), die nicht abgestimmt sind, können mit der Krankenkasse nicht abgerechnet werden.33
b) Leistungsgeschehen 503.
Die
Krankenhaushäufigkeit
(Krankenhauspatienten
je
1.000
Einwohner) ist in der Vergangenheit ständig gestiegen. Ursächlich dafür ist insbesondere die gestiegene Altersquote. Hinzu kommt, daß Geburten fast ausschließlich im Krankenhaus stattfinden und daß es zunehmend üblich wird, im Krankenhaus zu sterben (z.Zt. jeder zweite Todesfall). Schließlich vermindern sich wegen der zunehmenden Anzahl der Einpersonen-Haushalte die Möglichkeiten der häuslichen Pflege. Da diese Faktoren fortwirken, ist mit einem weiteren Anstieg der Krankenhaushäufigkeit zu rechnen.
192
504.
Kapitel 5:
Gesundheitsleistungen
Die Krankenhaushäufigkeit hängt auch vom Einweisungsverhalten des
behandelnden Arztes ab. In jüngerer Vergangenheit nimmt allerdings die Zahl der sogen. "Selbsteinweisungen" zu; es handelt sich um Fälle, in denen Berechtigte sich ohne Konsultation eines Vertragsarztes ins Krankenhaus begeben. Über die Notwendigkeit der Krankenhauspflege und damit der Aufnahme in das Krankenhaus entscheidet dann der Arzt des Krankenhauses. Der Gesetzgeber hat den Krankenkassen und Krankenhäusern aufgegeben, vertragliche Regelungen zu treffen Uber die allgemeinen Bedingungen der Krankenhausbehandlung, einschließlich der Aufnahme und Entlassung der Versicherten. Im Grundsatz stellen die Krankenkassen
darauf
ab,
daß
E i n w e i s u n g e n (abgesehen von Notfällen) grundsätzlich der Verordnung durch einen Vertragsarzt bedürfen, während die Krankenhäuser abstellen, daß Uber die Einweisung
grundsätzlich
entscheidet.
reflektieren
In
diesen
Positionen
darauf
der
Krankenhausarzt
sich
unterschiedliche
Interessenlagen und eine Konkurrenzsituation zwischen Vertragsärzten und Krankenhausärzten um Patienten und damit Budgetanteile. 505.
Die zunehmende
abnehmenden
Krankenhaushäufigkeit
Verweildauer
im
geht
Krankenhaus.
einher
Die
mit
einer
durchschnittliche
Verweildauer je Krankenhausfall halbierte sich während der letzten drei Jahrzehnte von 30 auf 15 Tage. Die sinkende Verweildauer liegt offensichtlich darin begründet, daß mehr, aber weniger schwere Fälle (nach dem jeweiligen Stande der ärztlichen Kunst) eingewiesen werden. Im internationalen Vergleich ist die Verweildauer in der Bundesrepublik nach wie vor hoch. 506.
Die
Anzahl
der
Krankenhauseinweisungen
(Fallzahl)
und
die
Verweildauer ergeben die Anzahl der Pflegetage im Krankenhaus. Dieses P f l e g e t a g e v o l u m e n ist im letzten Jahrzehnt relativ konstant geblieben. Es ist vorgeschlagen worden, ein altersabhängiges Pflegetagevolumen mit regionalem Bezug als Orientierungsdatum für die Krankenhausplanung zu nutzen. 34 507.
Über Art und Umfang der Krankenhausbehandlung sowie Verfahrens-
und Prüfungsgrundsätze schließen die Landesverbände der Krankenkassen mit der
Landeskrankenhausgesellschaft
zwischen
Krankenkassen,
Verträge.35 Ebenfalls durch
Kassenärztlichen
Vereinigungen
Verträge und
Kapitel5: Gesundheitsleistungen
193
Krankenhäusern auf Landesebene soll sichergestellt werden, daß durch enge Zusammenarbeit eine nahtlose ambulante und stationäre Behandlung der Versicherten gewährleistet wird. "Aus medizinischen (Krankenbiographie), psychologischen (Kontinuität der Betreuung) und ökonomischen Gründen (Geräteauslastung) wäre eine stärkere Verzahnung wünschenswert."16 Seit 1993 können die Krankenhäuser in begrenztem Rahmen vor- und nachstationäre Behandlungen durchführen; auch dies ist vertraglich zu regeln. 508.
Die steigende Altersquote hat unter anderem zur Folge, daß die
Krankenhäuser fast zur Hälfte mit älteren Patienten über (60 Jahre) belegt sind. Unter diesen gibt es einen beträchtlichen Anteil von Fällen, in denen der Pflegebedarf den Heilbehandlungsbedarf übersteigt (Pflegefall). Sie werden ins Krankenhaus eingewiesen oder verweilen
dort
länger als medizinisch
notwendig, weil es an alternativen Pflegekapazitäten mangelt, oder weil das Einkommen des Patienten nicht ausreicht, um die Kosten eines Pflegeheims zu tragen (TZ 154). In solchen Fällen steht der Krankenhausarzt vor dem Konflikt, ob er über den weiteren Krankenhausaufenthalt allein nach medizinischen Kriterien urteilen oder auch die sozialen Folgen
seiner
Entscheidung
berücksichtigen soll. Soweit dies geschieht, kommt es zu sogenannten Fehlbelegungen im Krankenhaus.
c) Finanzierung 509.
Die Ausgaben für Krankenhausbehandlung betragen mehr als ein Drittel
der Gesamtausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung. Ihre Höhe wird durch drei Kostenfaktoren determiniert: - Die Krankenhaushäufigkeit, d.h. die Anzahl der Personen, die je Zeiteinheit in ein Krankenhaus eingewiesen werden; - die Verweildauer, d.h. die Anzahl der Tage, die ein eingewiesener Patient im Krankenhaus verbringt; - die Kosten der Behandlung.
194
Kapitel 5:
Gesundheitsteistungen
Die letztere Position steht im Vordergrund der Diskussion um die Wirtschaftlichkeit der Krankenhausbehandlung. Dabei geht es um die laufenden Betriebskosten, weil die Vorhaltekosten von der öffentlichen Hand getragen werden (TZ 498). 510.
Die
Finanzierung
der
Krankenhäuser
ist
durch
das
Krankenhausfinanzierungsgesetz von 1972 geregelt, das den Grundsatz der "dualen Finanzierung" festlegte, nach welchem die Investitionskosten von der öffentlichen Hand, die laufenden Betriebskosten dagegen von den Benutzern in Form eines Pflegesatzes getragen werden. Bei gegebener Krankenhaushäufigkeit und -Verweildauer ist also die Höhe des Pflegesatzes der entscheidende
Bestimmungsgrund
für
die
Höhe
der
Ausgaben
für
Krankenhausbehandl ung. 511.
Die Krankenkassen sind verpflichtet, mit dem Krankenhausträger
Pflegesatzverhandlungen nach Maßgabe des Krankenhausfinanzierungsgesetzes zu führen.37 Die Pflegesätze sind im voraus zu bemessen und für alle Benutzer einheitlich zu berechnen. Etwaige Überschüsse aus den PflegesatzEinnahmen verbleiben dem Krankenhaus. Verluste sind vom Krankenhaus zu tragen. Damit ist das früher angewandte Kostendeckungsprinzip aufgehoben zu Gunsten eines Vereinbarungsprinzips. Kommt eine Vereinbarung nicht zustande, so setzt eine Schiedsstelle den Pflegesatz fest.
512.
Das
vom
Krankenhaus
kalkulierte
Budget
ist
für
die
Pflegesatzverhandlungen abteilungsbezogen zu gliedern. Zur Vergütung der Krankenhausleistungen und Abteilungspflegesätze als Entgelt für ärztliche und pflegerische Leistungen und ein für das Krankenhaus einheitlicher Basispflegesatz als Entgelt für nicht durch ärztliche und pflegerischer Tätigkeit veranlaßte Leistungen vorzusehen. Mit den Abteilungspflegesätzen wird den Abteilungs-Chefärzten eine Mitverantwortung für die Wirtschaftlichkeit des Leistungsgeschehens übertragen, was früher nicht der Fall war. 513.
Außerhalb des Budgets werden bestimmte, in der Regel teurere
Leastungen (z.B. Transplantationen) durch Sonderentgelte vergütet. Diese
Kapitel 5: Gesundheitsleistungen
1 95
sollen Risiken auffangen, die innerhalb des Budgets nicht getragen werden können. Außerdem sollen sie zu einer erhöhten Kosten- und Leistungstransparenz beitragen. 514.
Dem gleichen Ziel dienen die für bestimmte Krankheitsarten durch die
Bundespflegesatzverordnung vorgegebenen Fallpauschalen. Damit werden die gesamten Leistungen des Krankenhauses für die Behandlung eines Patienten unabhängig von der Behandlungsdauer vergütet. Die Höhe der Fallpauschalen und
Sonderentgelte
wird
auf
Landesebene
festgelegt,
also
nicht
krankenhausindividuell. 515.
Der
Versicherte
hat
während
der
ersten
14
Tage
der
Krankenhausbehandlung eine Zuzahlung von 11,— DM täglich an das Krankenhaus zu leisten, die den Betrag an die Krankenkasse weiterleitet. Diese Regelung verwundert, weil etwaige Einsparungen der Haushaltsausgaben in den ersten 14 Tagen jedenfalls geringer sind und in höherem Maße durch Mehrausgaben kompensiert werden als später. Außerdem bewirkt sie keine Minderung der Einweisungshäufigkeit, dagegen hohe Verwaltungskosten. 516.
Man schätzt, daß mit Sonderentgelten und Fallpauschalen in absehbarer
Zukunft nicht mehr als rd. ein Drittel des gesamten Kostenvolumens im Krankenhaussektor erfaßt werden können. Darum werden mit dem Ziel einer Begrenzung des Zuwachses der Ausgaben für Krankenhausbehandlung auch weiterhin alternative Vergütungsformen in der Diskussion bleiben. Solche Alternativen sind u.a.: - Degressiver Pflegesatz: Der Pflegesatz sinkt mit zunehmender Verweildauer; - Gruppenpflegesatz: Der Pflegesatz wird nicht für das einzelne, sondern für eine Gruppe gleichartiger Krankenhäuser festgelegt; - Gespaltener Pflegesatz: Es wird unterschieden
zwischen
Diagnose-,
Therapie- und Hotelkosten; - Budgetierung entweder für jedes einzelne oder alle Krankenhäuser einer Region und einer Versorgungsstufe. Jede dieser Alternativen wirft eine Reihe von Fragen auf, deren Beantwortung von Annahmen Uber die Verhaltensweise der Beteiligten abhängt.38
196
517.
Kapitel 5:
Gesundheitsleistungen
Weitergehend
ist
die
Möglichkeit
einer
Finanzierung
von
Krankenhäusern je vorgehaltenem Bett. Ein solches Vorhalte-Budget würde eine verbesserte Planung der Errichtung und Ausstattung von Krankenhäusern erfordern. Unter solchen Voraussetzungen könnten die Krankenhäuser je vorgehaltenem - nicht je belegtem - Bett vergütet werden. Eine modifizierte Lösung bestände darin, im Grundsatz je vorgehaltenem Bett, also nach Maßgabe der entstehenden Festkosten zu vergüten, und daneben nur die durch Belegung (durchschnittlich) entstehenden zusätzlichen Kosten zu ersetzen. Auf diese Weise würde erreicht, daß einerseits der Anreiz zur Verlängerung der Verweildauer
entfiele,
andererseits
kein
Anreiz
zur
Verkürzung
der
Verweildauer entsteht.
VI. Ergänzende Geld- und Dienstleistungen 518.
Ist Krankenhausbehandlung geboten, aber nicht ausführbar, oder kann
diese dadurch vermieden oder verkürzt werden, so erhalten Versicherte neben der ärztlichen Behandlung häusliche
Krankenpflege, wenn eine im
Haushalt lebende Person den Kranken nicht pflegen kann. Zur Sicherstellung der Pflege kann die Krankenkasse die dafür benötigten Personen anstellen oder Beschäftigte anderer Einrichtungen vertraglich in Anspruch nehmen. Ist die Gestellung einer Pflegekraft nicht möglich, so sind die Kosten für eine selbst beschaffte Pflegekraft in angemessener Höhe zu erstatten; dies ist in der Praxis der Regelfall. 519.
Im Falle der Krankheit besteht Anspruch bei Pflegebedürftigkeit nicht
nur des Versicherten, sondern auch seiner Angehörigen. Versicherte haben für längstens 5 Tage pro Jahr und Kind Anspruch auf Freistellung von der Arbeitsleistung gegenüber dem Arbeitgeber und auf Krankengeld gegenüber der Krankenkasse, wenn - es erforderlich ist, daß sie zur Beaufsichtigung, Betreuung, der Pflege eines erkrankten Kindes der Arbeit fernbleiben, und - das Kind das 8. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, und
Kapitel 5: Gesundheilsleistungen
197
- eine andere im Haushalt lebende Person die Betreuung nicht übernehmen kann. 39 520.
Versicherte erhalten Haushaltshilfe, wenn
- ihnen wegen Krankenhausbehandlung die Weiterführung des Haushalts nicht möglich ist, und - eine andere im Haushalt lebende Person den Haushalt nicht weiterführen kann, und - im Haushalt ein Kind lebt, das das 8. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, oder das behindert und auf Hilfe angewiesen ist. In diesem Falle ist eine Ersatzkraft zu stellen; ist dies nicht möglich oder tunlich, so sind die Kosten für eine selbstbeschaffte Kraft in angemessener Höhe zu erstatten; hiervon sind Verwandte und Verschwägerte (mit Ausnahmen) ausgenommen. 40 Der Großteil der Gesamtausgaben für Haushaltshilfe entfällt auf selbst beschaffte Haushaltshilfen. 521.
Landwirtschaftliche Unternehmer erhalten im Falle der Krankheit keine
Geldleistungen. Weil die Einkommenssicherung von der Weiterführung des Betriebes abhängt, erhalten sie bei länger als 2 Wochen
dauernder
Krankenhauspflege für längstens 3 Monate Betriebshilfe, wenn in dem Unternehmen kein Arbeitnehmer und keine Familienangehörigen
ständig
beschäftigt sind. Als Betriebshilfe ist eine Ersatzkraft zu stellen oder die Kosten für eine selbst beschaffte Kraft zu erstatten.41 522.
Wenn im Zusammenhang mit einer Leistung der
Fahrkosten
entstehen,
so
übernimmt
die
Kasse
unter
Krankenkasse bestimmten
Bedingungen diese Kosten bei allerdings spürbarer Eigenbeteiligung des Versicherten.42
198
Kapitel 5:
Gesundheitsleislungen
VII. Pflegeleistungen 523.
Im
Falle
der
Pflegebedürftigkeit (TZ
Leistungsarten unterschieden:
150)
werden
folgende
43
- Pflegesachleistung in Form häuslicher Pflegehilfe; - Pflegegeld für selbstbeschaffte Pflegehilfen; - vollstationäre Pflege; - Pflegehilfsmittel und technische Hilfen. 524.
Die Pflegeversicherung soll mit ihren Leistungen vorrangig die
häusliche Pflege und die Pflegebereitschaft der Angehörigen und Nachbarn unterstützen. Damit soll erreicht werden, daß weder für den Pflegebedürftigen noch für die pflegenden Angehörigen ein Anreiz besteht, Heimpflege anzustreben. Die Erfahrung zeigt, daß die Mehrzahl der Pflegebedürftigen es vorziehen, in gewohnter, häuslicher Umgebung zu verbleiben. Hinzu kommt, daß die Heimpflege im Regelfall teurer ist als häusliche Pflege. Unter den Gesichtspunkten sowohl minimaler persönlicher Inkonvenienz als
auch
minimaler Kosten wird auch in der Praxis dem Pflegegeld seitens der Berechtigten Vorrang eingeräumt.
Dem Pflegebedürftigen verbleibt
die
Entscheidung, ob er das Pflegegeld an seine Angehörigen zu deren Entlastung oder Kompensation abtreten will, oder ob er Pflegeleistungen anderer Personen (Nachbar, freie Vereinigungen) entgelten will. 525.
Die Pflegekassen haben eine bedarfsgerechte und
pflegerische
Versorgung
der
Versicherten
zu
gleichmäßige gewährleisten
(Sicherstellungsauftrag). Sie schließen hierzu Versorgungsverträge und Vergütungsvereinbarungen mit den Trägern von Pflegeeinrichtungen und sonstigen Leistungserbringern. Zur Gewährleistung häuslicher Pflege können die Pflegekassen Pflegekräfte anstellen oder vertraglich verpflichten. 526.
Für die Vorhaltung einer leistungsfähigen, ausreichenden und
wirtschaftlichen verantwortlich.
pflegerischen Die
Versorgungsstruktur
Versorgungsstruktur
besteht
sind aus
die
Länder
Sozialstationen,
Pflegeheimen oder teilstationären Einrichtungen in freigemeinnütziger, privater oder öffentlicher Trägerschaft.
Kapitel 5:
527.
Gesundheitsleistungen
199
Die Pflegeheime und Pflegedienste erhalten eine Vergütung für die
Pflegeleistungen (Pflegevergütung) sowie ein Entgelt für Unterkunft und Verpflegung zu Lasten des Pflegebedürftigen. Die Vergütung für stationäre Pflegeleistungen erfolgt durch Pflegesätze, die zwischen dem Träger des Pflegeheimes und der Pflegekasse vereinbart werden. Kommt eine Einigung nicht zustande, setzt eine Schiedsstelle die Pflegesätze fest.
VIII. Globale Ausgabensteuerung 528.
Die
vorstehenden
Gesundheitsleistungen
Darlegungen
in vielfältiger Weise
sollten und
mit
zeigen,
daß
unterschiedlichen
Instrumenten sichergestellt werden. Das differenzierte Instrumentarium dient gleichermaßen dazu, die Ausgaben für Gesundheitsleistungen zu steuern. Das ist notwendig, weil diese einer starken Expansionstendenz unterliegen. Der durchschnittliche Beitragssatz der gesetzlichen Krankenversicherung ist seit deren Errichtung (1883) bis Mitte der 90er Jahre von 2 auf 13 v.H. des beitragspflichtigen Entgelts der Versicherten angestiegen. Das Sicherstellungsund Steuerungsinstrumentarium wird von mancher Seite als zu weitgehende Regulierung mit freiheitsbeschränkender Wirkung kritisiert. Von daher werden deregulierende Korrekturen vorgeschlagen mit dem Ziel, den Ausgabenanstieg durch einfache, selbst-regulierende Mechanismen zu steuern. Mit diesem (Haupt-)Ziel werden u.a. gefordert: Begrenzung der Arztdichte, Vermehrte Kostenbeteiligung des Versicherten und allgemein die vermehrte Wirksamkeit von Marktkräften. Auch wird eine Budgetierung der Gesundheitsausgaben gefordert sowie die Ziel- und Grenzproblematik von Gesundheitsleistungen problematisierL
a) Arztdichte 529.
Die steigende Arztdichte hat eine Ausweitung der Menge der erbrachten
Leistungen und eine Schwächung der ärztlichen Notarfunktion zur Folge (TZ 437). Dies wiederum führt zu Bemühungen, den Ausgabenzuwachs u.a. für die
200
Kapitel 5:
Gesundheitsleistungen
ambulante ärztliche Behandlung zu begrenzen (TZ 452). Von daher erklärt sich das Bestreben um eine Begrenzung der Arztdichte. Man spricht von einer "Ärzteschwemme" und fordert eine Begrenzung des Zugangs zum Arztberuf und/oder zur vertragsärztlichen Versorgung, weil die Krankenversicherung nicht jedem Arzt eine "Arbeitsplatzgarantie" geben könne. 530.
Insbesondere der ärztlichen Standesorganisationen fordern eine Vermin-
derung der Ausbildungskapazität für Ärzte. Diese Forderung ist allerdings nicht neu. Bereits 1955 - als die Arztdichte halb so hoch war wie gegenwärtig wurde behauptet:" Die Not der deutschen Ärzte beruht in erster Linie auf dem Überangebot an Ärzten. Die Volkswirtschaft und die sozialen Einrichtungen sind einfach nicht in der Lage, dieses Übermaß an Ärzten aufzunehmen.44 Es wird also eine "closed shop-Politik" gefordert. 531.
Mit dem Gesundheitsstrukturgesetz 1992 wurde bestimmt, daß ab 1999
die Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung aufgrund von Verhältniszahlen erfolgt, die gesetzlich festgelegt werden sollen. Es soll also wieder eine Bedarfszulassung eingeführt werden, wie sie bis 1960 bestand (TZ 420). 45 532.
Diese Forderungen und Regelungen erscheinen problematisch. Es ist
schwer einsichtig, einem leistungsfähigen und leistungsbereiten jungen Arzt die Ausübung seiner Tätigkeit zu verwehren. Kostengründe sind nur dann gewichtig, wenn man davon ausgeht, daß Art und Höhe der Vergütung ärztlicher Leistungen unverändert bleiben. Läßt man diese Voraussetzung fallen, so müssen mehr zugelassene Ärzte nicht notwendig höhere Kosten zur Folge haben.
Juristische
Zulässigkeit
Erörterungen
einer
einer Zulassungssperre
verfassungsrechtlichen
zielen
schwerpunktmäßig
(Wieder-) auf
die
Voraussetzungen, d.h. die Verletzung anderer Rechtsgüter als die Berufsfreiheit ab. Nur zu leicht erscheint eine Einschränkung der Berufsfreiheit als mehr oder weniger kaschierte Konkurrenzabwehr. 533.
Der Anstieg der Artzdichte auf das Siebenfache während des letzten
Jahrhunderts und ihre voraussehbare Verdoppelung wirft die Frage auf, ob es einen objektiv feststellbaren Bedarf an ärztlichen Leistungen und damit an Ärzten gibt. Solche Bedarfsermittlungen liegen bisher nicht vor. Ein Zusammenhang zwischen Arztdichte und Gesundheitszustand konnte bisher
Kapitel 5: Gesundheitsleistungen
201
nicht nachgewiesen werden. Man verspricht sich von einer globalen Expansion des Gesundheitswesens generell keine positiven Effekte. Die Festlegung eines Bedarfs an Ärzten dürfte schwierig sein wegen der Unbestimmtheit des Krankheitsbegriffs, der Abhängigkeit des Leistungsumfangs vom Verhalten der Ärzte und Patienten und der emotionalen Scheu vor der Behauptung, daß ärztliche Leistungen überflüssig oder entbehrlich sein könnten. 534.
Eine
Bedarfsermittlung
setzt
Kriterien
für
den
erforderlichen
Leistungsaufwand und normative Entscheidungen über Prioritäten sowie über
Arbeitsbedingungen
marktwirtschaftlich Immerhin
bedürfte
voraus.
organisierten es
einer
Diese
Voraussetzungen
Gesellschaften Begründung,
schwer warum
zu bei
sind
in
realisieren. bestehender
Zugangsbeschränkung zur Ausbildung zum Arzt (Kapazitätsverordnungen der Länder, numerus clausus) die Ausbildungskapazität gerade so - und nicht anders - ausgelegt ist, daß sich in 20 Jahren eine Verdoppelung der Arztdichte ergibt. Diese Entscheidung ist ohne breite, öffentliche Diskussion gefällt worden. Erst nachdem die Folgekosten dieser Entscheidung bewußt wurden, fordert man eine Verringerung der Ausbildungskapazitäten. Auch diese Forderung geht (unausgesprochen) davon aus, daß Art und (relative) Höhe der Vergütung ärztlicher Leistungen mindestens unverändert bleiben. Denn eine zunehmende Zahl von Ärzten ist für sich allein kein Schade. "Auch in der Medizin ist eine Kapazität weder für die Gesamtzahl noch für einzelne Gebietsarztgruppen
zu
bestimmen.
Veränderungen
im
medizinischen
Leistungsgeschehen können in administrativen Planungsrichtlinien prospektiv kaum berücksichtigt werden. Daraus folgt, daß das Risiko der Berufswahl vom einzelnen Bewerber und dem Absolventen des Studiums zu tragen ist."46
b) Kostenbeteiligung 535.
Zur Begrenzung des Zuwachses der Gesundheitsausgaben wird immer
wieder eine Beteiligung der Patienten an deren Kosten vorgeschlagen. Die in zahlreichen Variationen vorliegenden Kostenbeteiligungsmodelle beruhen auf
202
dem
Kapitel 5:
Gesundheitsleistungen
Grundgedanken,
den
Leistungsumfang
und
damit
die
Kosten
medizinischer Leistungen dadurch zu senken, daß diese weniger nachgefragt werden.
Hinsichtlich einer möglichen Verhaltenshemmung
müßte man
allerdings unterscheiden zwischen der Primär-Inanspruchnahme, die allein durch Entschluß des Berechtigten zustande kommt, und der weiteren Inanspruchnahme, die durch Rat des Arztes, oft durch dessen alleinige Entscheidung
ausgelöst
wird.
Befürworter einer
Kostenbeteiligung
vermuten, daß dadurch auch die Verhaltensweisen von Ärzten verändert würden. Dies würde voraussetzen, daß die Kostenbeteiligung so hoch und die Marktübersicht des Patienten so gut ist, daß er bereit und in der Lage ist, mit dem Arzt über die Zweckmäßigkeit und den Preis der von ihm angeratenen Maßnahme
zu
diskutieren.
Dies
erscheint
weder
realistisch
noch
wünschenswert. 536.
Unrealistisch ist auch der als Begründung für Kostenbeteiligungen
gegebene Hinweis auf das sogenannte moral-hazard-Verhalten.
Es
bezeichnet das dem Versicherten unterstellte Bestreben, aus einer Versicherung möglichst
viel,
mindestens
aber
die
eingezahlten
Beiträge
wieder
„herauszuholen". Wenn dies bei einer Hausrat- oder Haftpflichtversicherung wegen der möglichen geldwerten Vorteile noch vorstellbar ist, so ist dies bei der Krankenversicherung kaum vorstellbar, weil niemand einen Arzt oder ein Krankenhaus aufsuchen wird, weil er Beiträge gezahlt hat; man kann bei ihr kein Geld (allenfalls Krankengeld nach 6 Wochen), sondern nur Sach- und Dienstleistungen herausholen. 537.
Das geltende Recht sieht Kostenbeteiligung bei kieferorthopädischer
Behandlung, bei Zahnersatz, Heilmitteln, Krankenhausbehandlung, Fahrkosten und Arzneimitteln vor. Die Zuzahlungen sind nicht zu leisten, wenn der Versicherte dadurch unzumutbar belastet würde. Unzumutbarkeit liegt vor, wenn die Einnahmen des Versicherten eine bestimmte Höhe nicht erreichen. Diese Einkommensanrechnung ist ein Verstoß gegen das Versicherungsprinzip. 538.
Eine die Inanspruchnahme mindernde Wirkung der Kostenbeteiligung
ist empirisch nicht erwiesen. Auch andere Formen eines Anreizes zur Minder-Inanspruchnahme haben sich nicht als wirksam erwiesen. Ab 1969
Kapitel 5: Gesundheitsleistungen
203
bestand in der gesetzlichen Krankenversicherung ein Anspruch auf partielle Beitragsrückzahlung bei nicht in Anspruch genommenen Kassenleistungen. Mangels Erfolges und wegen hoher Verwaltungskosten wurde dieser Anspruch 1973 wieder beseitigt. 539.
Man kann nicht ausschließen, daß eine die Inanspruchnahme mindernde
Wirkung der Kostenbeteiligung deshalb nicht nachweisbar ist, weil die praktizierte Beteiligung sich - gemessen am Einkommen - in engen Grenzen hielt. Hieraus folgt, daß eine Verminderung der Inanspruchnahme nur dann erwartet werden kann, wenn die Kostenbeteiligung hoch ist; sie müßte wirtschaftlich deutlich "merkbar" sein. Damit entsteht ein grundsätzlicher Zielkonflikt. Wenn und soweit Kostenbeteiligung eine Verminderung der Inanspruchnahme bewirkt, ist diese um so größer, je geringer das Einkommen des Betroffenen ist. Dies widerspricht dem Ziel der Chancengleichheit des Zugangs zu Gesundheitsleistungen. In dem Maße, in dem man versucht, diesen Zielkonflikt zu minimieren, etwa durch Begrenzung der Kostenbeteiligung in Abhängigkeit von der Einkommenshöhe oder von Art und Dauer der Krankheit, mindern sich die angestrebten Wirkungen und erhöhen die Verwaltungskosten. Die Kostenbeteiligung widerspricht auch dem Ziel der Gesundheitserhaltung und Krankheitsfrüherkennung, weil sie in erster Linie auf die Primärinanspruchnahme von Heilbehandlung einwirkt. Damit besteht die Gefahr, das Kostenbeteiligung Verschleppung von Krankheiten und höhere Folgekosten bewirkt. Eine beträchtliche Kostenbeteiligung "läuft auf Ent-Versicherung hinaus: sie vereitelt den gesamten Zweck des sozialen Sicherung".47 540.
Erfahrungsgemäß reagieren die Betroffenen auf eine solche Ent-
Versicherung. Wer finanziell dazu in der Lage ist, wird Lücken durch private Versicherung
zu
decken
suchen.
In
Frankreich,
wo
ein
Kostenerstattungssystem mit relativ hoher Kostenbeteiligung existiert, haben die Gewerkschaften für die Mehrzahl der Arbeitnehmer die Lückenschließung durch tarifvertragliche Regelungen Kostenbeteiligung
kein
durchgesetzt.
geeignetes
Somit
Instrument
ergibt zur
sich,
daß
Begrenzung
die der
Inanspruchnahme ist. Sie ist allenfalls eine Finanzierungsquelle, die nicht Kostenminderung, sondern Kostenverlagerung bewirkt.
204
541.
Kapitel 5:
Gesundheitsleislungen
An solche Ziele anknüpfend und im Interesse größerer Freiheit des
Versicherten
wird
Leistungserbringer
immer
wieder
gefordert, in
insbesondere
der
gesetzlichen
von
Seiten
der
Krankenversicherung
Wahltarife einzuführen. Der Versicherte sollte die Möglichkeit haben, zwischen
verschiedenen,
nach
Leistungsumfang
und
Beitragssatz
unterschiedlichen Tarifen wählen zu können. Wahltarife stehen im Gegensatz zum Solidarprinzip der GKV, nach dem die Höhe des Beitrages unabhängig von individuellen Risikofaktoren ist. Auch ist es der Medizin nach deren Aussagen nicht möglich, abwählbare medizinische Leistungen zu definieren. Die immer wieder vorgeschlagene Unterscheidung zwischen Grund- und Zusatzleistungen ist, was die ärztlichen und ärztlich angeordneten Leistungen angeht, niemals realisiert worden. c) Die Mehr-Markt-These 542.
In der Diskussion um Ausgabenbegrenzungen erfreut sich in Abständen
und insbesondere wieder seit Anfang der 80er Jahre die "Mehr-Markt-These" großer Beliebtheit. Sie sieht die Ursache des Ausgabenanstiegs darin, daß es im Gesundheitswesen keine die Nachfrage begrenzenden Faktoren und keinen den Preisanstieg bremsenden Wettbewerb gebe. Die Mehr-Markt-These wird oft mit der Forderung nach stärkerer Kostenbeteiligung der Leistungsberechtigten verbunden. Will sie glaubhaft sein, so muß diese These auch auf ihre Anwendbarkeit
auf
die
Bereiche
der
Leistungserbringung
und
der
Preisgestaltung für die Leistungen überprüft werden. Dies erfordert detaillierte Abwägung im jeweiligen Zusammenhang. Unbeschadet ihrer auf den ersten Blick hohen Plausibilität und großen Popularität ist die Mehr-Markt-These in ihrer allgemeinen Formulierung eine Leerformel, die oft propagandistisch mißbraucht wird. Ihr steht - ebenso allgemein - die Tatsache entgegen, daß soziale
Sicherung
im
Krankheitsfall
gewollte
Intervention
in
das
Marktgeschehen ist. 543.
Die Mehr-Markt-These geht aus von einer Kritik an der Politik der
einnahme-orientierten Ausgaben. Diese als administrative Begrenzung der Ausgaben
angesehene
Gesundheitssektors,
was
Politik
treffe
unerwünscht
die sei,
Wachstumsdynamik und
beseitige
des nicht
Kapitel 5: Gesundheitsleistungen
205
unwirtschaftliches Verhalten der Beteiligten. Deshalb sei eine Reform in Analogie zur marktwirtschaftlichen Versorgung anzustreben. Kernpunkte eines ausführlicher diskutierten Vorschlages in dieser Richtung waren:48 - Einführung des Kostenerstattungssystems mit Kostenbeteiligung; - Ausgrenzung
von Leistungen,
so
daß
nur
"Großrisiken"
in
der
"Zwangsversicherung" verbleiben und die Mitglieder im übrigen auf freiwillige private Versicherungen verwiesen sind; - Vermehrter
Wettbewerb
zwischen
gesetzlichen
und
privaten
Versicherungsträgern durch erweiterte Wahlmöglichkeiten der Versicherten; - Eröffnung der Möglichkeit, daß Krankenkassen Verträge mit einzelnen (oder Gruppen von) Ärzten abschließen, d.h. Beseitigung der kassenärztlichen Vereinigungen und Beseitigung aller Normen, die dem Preiswettbewerb unter Ärzten entgegenstehen. - Eröffnung der Möglichkeit, daß Krankenkassen ein Gesundheitsangebot in eigener Verantwortung entwickeln; sie könnten Krankenhäuser betreiben, Ärzte beschäftigen sowie Arzneimittel selbst beschaffen. 544.
Gegen eine Übertragung des Marktmodells auf das Gesundheitswesen
sprechen mehrere Argumente. Zunächst ist zu erinnern, daß das "administrierte" System
der
ärztlichen
Versorgung
nicht
eine
Erfindung
staatlicher
Planungsinstanzen war; der Abschluß von Kollektiv-Verträgen wurde durch einen Streik der Ärzte durchgesetzt (TZ 417). Würde man die kassenärztlichen Vereinigungen
auflösen, so stände wieder jeder
einzelnen
Krankenkasse gegenüber. Der Sicherstellungsauftrag
Arzt
der
(TZ 422) der
ärztlichen Versorgung müßte anders gestaltet werden. 545.
Im Marktgeschehen wird die Ausrichtung der Produktion auf den vom
Konsumenten geäußerten Bedarf dem Anbieter überlassen. Dabei wird angenommen, daß der Konsument seine Nachfrage unbeeinflußt artikulieren oder ausüben kann. Auf dem Markt für Gesundheitsleistungen besteht keine Konsumentensouveränität. Der Kranke hat einen Bedarf nach Heilung oder Schmerzlinderung. Ob, wie und mit welchem finanziellen Aufwand der Bedarf befriedigt werden kann, wird und kann nur vom Anbieter entschieden werden.
206
Kapitel 5: Gesundheitsleistungen
Eine wichtige Grundvoraussetzung des Marktmodells liegt im Falle der Gesundheitsleistungen nicht vor. 546.
Der entscheidende Einwand gegen die Mehr-Markt-These ist der
Hinweis auf praktische Erfahrungen. In den USA gibt es keine gesetzliche Krankenversicherung Marktkräfte.
Als
und ein nur
Folge
dessen
wenig
gibt
es
eingeschränktes -
abgesehen
Wirken
von
der
einzelnen
Bevölkerungsgruppen, für die staatliche Programme existieren (medicare, medicaid) - keine Chancengleichheit des Zugangs zu Gesundheitsleistungen. Der Markt übt seine Marktausschließungsfunktion aus, die zu beseitigen der Zweck
einer
Krankenversicherung
ist.
Aber
wichtiger
noch:
Die
Gesundheitsausgabenquote der USA ist die höchste der Welt. Sie lag 1993 mit 14,1% des Bruttoinlandsprodukts deutlich über deijenigen Deutschlands mit 8,6%. Wenn eine Mehr-Markt-Strategie nur auf Kosten der Chancengleichheit des Zugangs und mit höheren volkswirtschaftlichen Kosten möglich ist, so ist es müßig, sie weiter zu diskutieren. Dies schließt keineswegs aus, innerhalb des Systems der Sicherstellung von Gesundheitsleistungen ökonomische Anreize einzubauen, wo immer dies möglich ist, ohne das grundlegende Prinzip der Chancengleichheit des Zugangs zu verletzten.
d) Ziel- und Grenzproblematik 547.
Es war und ist hervorragendes Ziel der Medizin, die Lebenserwartung
zu erhöhen. Sie hat in dieser Beziehung grandiose Erfolge gehabt (TZ 95), damit einhergehend aber auch das Morbiditätsparadoxon hervorgebracht (TZ 99), das ursächlich ist für vermehrte Gesundheitsausgaben in höherem Lebensalter. Die Expansion der Gesundheitsausgaben gibt immer wieder Anlaß zu der Erwartung, daß ein Ausbau präventiver Maßnahmen die Ausweitung beenden oder gar zu weniger Leistungen in der Zukunft führen könnten. Solche Erwartungen haben sich bisher nicht erfüllt und werden skeptisch beurteilt. "Der groß angelegte Versuch, durch Prävention Krankenstände und damit Kosten zu senken, darf heute schon als im wesentlichen gescheitert angesehen werden"... "Die Verstärkung präventiver Maßnahmen ist voraussichtlich ineffektiv." 49 Dies folgt aus einer längerfristigen Betrachtung. Wer nicht früh an spezieller Ursache
Kapitel 5: Gesundheitsleistungen
207
stirbt, lebt länger und gerät in eine Phase physischer und/oder psychischer Behinderung. Kosteneinsparung in der früheren Phase wird (über)kompensiert durch Kosten in einer späteren Phase. Prävention kann nur gerechtfertigt werden wegen ihres Beitrages zur Lebensqualität. Dieser Paradigmawandel ist schlaglichtartig dahin ausgedrückt worden, daß an Stelle des früheren "adding years to life" neuerdings das "adding life to years" in den Vordergrund getreten sei. 548.
Keineswegs nur, aber auch unter finanziellem Aspekt ist ein Problem zu
sehen, daß vorwiegend ethischer Natur ist. Dabei geht es um die Normierung der Leistungspflicht bei Grenzzuständen
des menschlichen
Lebens,
insbesondere bei schwerer Behinderung von Kindern und im hohen Alter. Mit dem Fortschreiten der intensivmedizinischen Techniken stellen sich zunehmend dringlicher Fragen nach der Zulässigkeit und Vertretbarkeit ihrer Anwendung in Grenzzustanden. Solche Fragen sind z.B.: Soll man ein unreifes Frühgeborenes mit aufwendigen technischen Mitteln behandeln, auch wenn es mit hoher Wahrscheinlichkeit schwer hirngeschädigt bleiben wird? Soll dies geschehen, auch wenn die Eltern des Kindes die Anwendung der technischen Mittel ablehnen? Sollen Frühgeborene mit extremem Untergewicht aufwendig versorgt werden, wenn man weiß, daß sie in der Mehrzahl lebenslang schwer behindert bleiben und zunächst von den Eltern, später von der Gesellschaft unterhalten und betreut werden müssen? In diesen
Grenzsituationen geraten der
hippokratische Eid und die Rechte des Grundgesetzes in Konflikt mit Gefühlen des Erbarmens. Wenn nach bestem ärztlichen Wissen und Gewissen feststeht, daß körperliche Versehrtheit und freie Entfaltung der Persönlichkeit nicht möglich sind, stellt sich die Frage, ob nicht die Anwendung des medizinisch in der Gegenwart Möglichen Ursache für Zwang und Qual in der Zukunft wird. 549.
Ähnliche Fragen stellen sich für Erwachsene. Die Weltpresse berichtete
über den Fall einer Frau in den USA, die jahrelang im Koma lag, ohne daß eine Heilungschance bestand. Ihre Eltern mußten vor Gericht das Recht erstreiten, die lebenserhaltenden medizinisch-technischen Geräte abzuschalten. Dieser Extremfall verdeutlicht eine Situation, die sich millionenfach bei älteren Menschen wiederholt. Was und wieviel soll aufgewendet werden, um ein
208
Kapitel 5:
Gesundheitsleistungen
erfülltes Leben zu verlängern, dessen Dauer sich der biologischen Grenze nähert, die allem Leben gesetzt ist? 550. Die Beantwortung solcher Fragen kann nicht dem einzelnen Arzt, auch nicht der medizinischen Profession allein überlassen bleiben. Zunächst sollte man dem Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen breiteren Raum geben. Wichtig wäre, den Betroffenen rechtzeitig, d.h. vor Eintreten der Grenzsituation ihr Selbstbestimmungsrecht bewußt zu machen. Niemand wünscht sich qualvolles Siechtum und Abhängigkeit von Apparaten. Man erweitere das Gespräch über die Wahrscheinlichkeit dieser Situation und die Chance, sich vor ihr zu bewahren durch Entlastung der Ärzte von ihrer Pflicht zum Einsatz alles Machbaren. Daneben würde es Betroffenen, Ärzten und Angehörigen Entscheidungen erleichtern, wenn von interdisziplinären Gremien (EthikKomission) Entscheidungshilfen erarbeitet würden. 551. Damit sind gesellschaftspolitische Fragen angesprochen, auf die das System der sozialen Sicherung nur reagieren, nicht jedoch eigenständig agieren kann. "Eine "völlige Gesundheit" im klassischen Sinne kann daher bei älteren Menschen kaum noch vorhanden sein. Entscheidend ist vielmehr deren Einstellung zu ... Behinderungen und zur Lebensqualität. Letztere wiederum wird auch von einer sachgerechten psychosozialen Betreuung abhängen, die den Rahmen der von der Krankenkasse gewährten Leistungen weit überschreitet"50
Kapitel 5: Gesundheitsleistungen
209
§ 1SGBV Reichsarbeitsminister Adam Stegerwald (Zentrum); Zitat nach M.Sauerborn BAB1. 1953, S. 211 § 28 SGB V §§ 99 ff SGB V Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (SV-Rat), Jahresgutachten 1988, TZ 222. §§ 12,70 SGB V § 91 SGB V Vgl. Auch: SV-Rat, JG 87, TZ 97 G. Borchert: Untersuchung der Zusammenhänge zwischen Umfang/Struktur des ambulanten ärztlichen Leistungsvolumens und der Arztdichte, Hrsg. BMA 1979, S. 11-18. SV-Rat, JG 87, TZ 82 SV-Rat, JG 88, TZ 254 § 73 SGB V SV-Rat, JG 89, 106 ff; JG.92, 100 ff. § 72 SGB V § 85 SGB V s.Fn..l3 §§ 71, 141 SGB V M. Sauerborn (damals Staatssekretär im BMA), BAB1. 1953, S. 212 § 136 SGB V §§275 ff SGB V § 106 SGB V § 84 SGB V SV-Rat, JG 87, TZ 195 § 34a SGB V i.d.F. vom 1.1.93; gestrichen mit Wirkung vom 1.1.96 SV-Rat, JG 87, TZ 228 SV-Rat, JG 87, TZ 233 SV-Rat, JG 87, TZ 265 §§ 36, 125, 127 SGB V M. Döhler in: Zeitschrift für Sozialreform 1984, Heft 4, S. 214 f § 140 SGB V § 39 SGB V § 1 Krankenhausfinanzierungsgesetz § 122 SGB V SV-Rat, JG 87, TZ 317 §§ 112, 115 SGB V SV-Rat JG 87, TZ 331 § 109 SGB V Vgl. näher; SV-Rat, JG 1990, TZ 468 ff § 45 SGB V § 38 SGB V §§ 9 ff. Zweites Gesetz über die Krankenversicherung der Landwirte § 60 SGB V § 28 SGB XI J. Hadrich: Die Arztfrage in der Deutschen Sozialversicherung, Berlin 1955, 138 § 102 SGB V
210
46 47 48
49 50
Kapitel 5: Gesundheitsleistungen
SV-Rat, JG 1990, TZ 464 IAA 1984,65 Jahresgutachten 1985/86 des Sachverständignrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Bundestags Drs. 10/4295, TZ 358 ff. H. Schäfer in WIdO (Hrsg.) 1983, 20 u. 41 SV-Rat, JG 90, TZ 156
Kapitel 6: Finanzierung 552.
Sozialleistungen bedürfen der
Finanzierung. Ein erstes Problem
besteht in der richtigen Ermittlung des Finanzierungsbedarfs. Steht dieser fest, so ist zu entscheiden, welche Quellen zur Deckung des Finanzierungsbedarfs herangezogen werden sollen. Grundsätzlich kommen dafür Steuern oder Beiträge in Betracht. Bei der Beitragsfinanzierung ist zu entscheiden, wer beitragspflichtig sein soll, und wie der Beitrag zu bemessen ist. Die Höhe des Beitragssatzes
wird
unter
anderem
auch
von
der
Wahl
des
Finanzierungsverfahrens beeinflußt. Schließlich hat das Zusammenwirken der Finanzierungsregelungen
mit den
Umverteilungswirkungen
zur
Regelungen
Folge.
Diese
der sind
Leistungsbemessung zum
größeren
Teil
zweckimmanent und unterliegen keiner Diskussion wie z.B. die Umverteilung zwischen
Erwerbstätigen
Umverteilungswirkungen
und sind
Nichterwerbstätigen. diskussionsfähig
Andere
und
daher
entscheidungsbedürftig wie z.B. die Umverteilung nach dem Familienstand im Rahmen
der
Alterssicherung.
Die genannten
Fragen
sind
je
nach
leistungsauslösendem Tatbestand, Personenkreis und Sicherungszweig sowie auch im Zeitablauf unterschiedlich beantwortet worden.
I. Finanzierungsbedarf 553.
Der Finanzierungsbedarf
ergibt sich aus der Definition der
leistungsauslösenden Tatbestände, der Abgrenzung des leistungsberechtigten Personenkreises, der Bemessung der Geldleistungen sowie Art und Menge der erbrachten Dienst- und Sachleistungen. Wegen der Auswirkungen dieser Entscheidungen auf den Finanzierungsbedarf werden diese in der Praxis nicht autonom
gefällt,
sondern
in
Ansehung
des
voraussichtlichen
Finanzierungsbedarfs. Zu jeder Entscheidung Uber die genannten Fragen gehört uno acto auch eine Entscheidung Uber die Finanzierung; insofern liegt eine wechselseitige Determinierung vor.
212
537.
Kapitel 6: Finanzierung
Zusammenfassende Informationen über das Finanzvolumen der sozialen
Sicherung liefert das von der Bundesregierung seit 1968 periodisch vorgelegte Sozialbudget. Dieses ist auf eine möglichst breite Datenbasis angelegt, um Material für möglichst viele Fragestellungen liefern zu können. Die Summe der öffentlichen Sozialleistungen im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt wird als Sozialleistungsquote bezeichnet. Diese Quote beträgt in der Abgrenzung des Sozialbudgets etwa ein Drittel, in der hier gewählten Abgrenzung (TZ 20) etwa ein Viertel. Das größte Gewicht innerhalb des Sozialbudgets haben die Ausgaben
der Rentenversicherung
und der Krankenversicherung.
Das
Sozialbudget informiert in erster Linie über den in der Vergangenheit entstandenen Finanzierungsbedarf. Es enthältjedoch auch eine Vorausrechnung des Finanzierungsbedarfs um jeweils 5 Jahre. 555.
Informationen Uber den in Zukunft zu erwartenden Finanzierungsbedarf
liefern Vorausrechnungen
verschiedener
Art.
Wenn
Systeme
oder
Institutionen der sozialen Sicherung neu errichtet oder neue Leistungen eingeführt
werden
sollen,
gehen
dem
versicherungsmathematische
Berechnungen voraus, die sich - in Kenntnis der angestrebten Leistungsnormen - auf Erfahrungen hinsichtlich Krankheitshäufigkeit, Lebenserwartung und anderer Größen
stützen.
Solche
Vorausrechnungen
sind
insbesondere
hinsichtlich der Alters- und Invaliditätssicherung erforderlich, weil hier langfristige Ansprüche entstehen. Diesem Zweck dienten früher die für die Rentenversicherung vorzulegenden versicherungstechnischen Bilanzen. Diese erwiesen sich als wenig hilfreich, weil sie (noch im Jahre 1954) von der Annahme gleichbleibender Löhne und Preise ausgingen. 556. auf
Erst danach setzte sich die Einsicht durch, daß sich Voraussrechnungen plausiblen
Annahmen
über
die
künftige Entwicklung
relevanter
wirtschaftlicher Rahmendaten beruhen müssen; sie haben dann den Charakter von Projektionen.
Um
Konsequenzen möglicher Abweichungen
der
tatsächlichen Entwicklung von den zugrunde gelegten Annahmen ermessen zu können, werden solche Projektionen unter alternativen Annahmen erstellt. Der Abschätzung künftigen Finanzierungsbedarfs dienen neben der Vorausrechnung
Kapitel 6: Finanzierung
des
Sozialbudgets
längerfristige
Vorausrechnungen
213
der
Bevölkerungsentwicklung sowie der Rentenversicherungsbericht. 557. einen
Die Bundesregierung hat den gesetzgebenden Körperschaften jährlich Rentenversicherungsbericht
vorzulegen,
der
insbesondere
Modellrechnungen zur Entwicklung von Einnahmen und Ausgaben sowie zum jeweils erforderlichen Beitragssatz in den künftigen 15 Jahren enthält.1 Die Modellrechnungen enthalten alternative Annahmen Uber die Entwicklung der Arbeitseinkommen und der Zahl der Beschäftigten. Auf diese Weise wird der Korridor möglicher künftiger Entwicklungen erkennbar. 558.
Die
Bevölkerungsentwicklung
Zugrundelegung
verschiedener
wird
Annahmen
gleichfalls
insbesondere
Uber
unter die
Geburtenhäufigkeit auf Jahrzehnte vorausberechnet. Hält man die gegenwärtige Geburtenhäufigkeit konstant, so ergibt sich eine Abnahme der Bevölkerung, vor allem aber eine Veränderung der Altersstruktur in der Weise, daß der Anteil der Kinder und Jugendlichen sinkt, die Altersquote dagegen - vor allem etwa ab 2.020 - erheblich ansteigt. Diese Veränderungen im Altersaufbau der Bevölkerung
haben
erhebliche
Konsequenzen
für
den
künftigen
Finanzierungsbedarf der sozialen Sicherung.
II. Finanzierungsquellen a) Der Befund 559.
Der
Finanzierungsbedarf
muß
im
wesentlichen
aus
dem
Primäreinkommen der Erwerbstätigen gedeckt werden, weil Kaufkraft der Sozialleistungsempfänger nur dadurch
verwirklicht werden
kann,
daß
Erwerbstätigen in der gleichen Periode Kaufkraft entzogen wird. Für die Finanzierung der Sozialleistungen werden drei
Finanzierungsquellen
herangezogen: Beiträge der Versicherten, Beiträge der Arbeitgeber und Steuern. Anders
bezeichnete
Einnahmearten
lassen
sich
einer
dieser
drei
Finanzierungsquellen zuordnen. Vermögenserträge sind zeitlich verschobene
214
Kapitel 6: Finanzierung
Einnahmen aus diesen Quellen, weil Vermögen aus früheren Beiträgen oder Steuern gebildet worden ist. Gebühren oder Kostenbeteiligungen sind eine Sonderform des Versichertenbeitrags. 1. Beiträge 560.
Vor
Einführung
der
Sozialversicherung
wurden
öffentliche
Sozialleistungen (Beamtenversorgung, soziale Entschädigung, Sozialhilfe) allein aus Steuermitteln finanziert. Der Rückgriff auf Beiträge erfolgte mit Einführung
der
Sozialversicherung
aus
praktischen
Gründen.
Die
Unfallversicherung löste die zivile Haftpflicht der Arbeitgeber ab; von daher lag es nahe, die neue Versicherung durch Beiträge der Arbeitgeber zu finanzieren. Bei Einführung der Krankenversicherung hielt man sich an die Verhältnisse bei den bereits zahlreich bestehenden Hilfskassen, bei denen die Beiträge zu einem Drittel von den Versicherten und zu zwei Drittel von den Arbeitgebern gezahlt wurden. 561.
Grundsätzlich
neu
zu
entscheiden
war
bei
Einführung
der
Rentenversicherung. Da die Methode der Versicherung angewandt wurde, waren Beiträge von den Versicherten zu erheben. Um deren Belastung in Grenzen zu halten, wurden im gleichen Verhältnis auch die Arbeitgeber zur Beitragsentrichtung herangezogen. Daneben wurde ein Zuschuß des Reiches in Höhe eines Drittels der Rentenausgaben vorgesehen. Als Motive dafür wurden genannt: Das Interesse des Reiches an der Zweckerfüllung der Versicherung, die Gefahr, daß die Belastung für einzelne Berufszweige zu hoch werde, sowie die Erwartung, daß die Versicherung eine erhebliche Erleichterung der öffentlichen Armenpflege bewirkte.2 Die Entscheidungen hinsichtlich der Heranziehung der Finanzierungsquellen fielen im Hinblick auf erwartete, befürchtete oder angestrebte Wirkungen - wie es auch heute noch der Fall ist. 562.
Auch
nach
Einführung
der
Beitragsfinanzierung
behielt
die
Steuerfinanzierung noch lange das Hauptgewicht. Um die Jahrhundertwende wurde nur ein Drittel der öffentlichen Sozialleistungen aus Beiträgen finanziert; gegenwärtig sind dies rd. zwei Drittel. Entscheidend für diese Entwicklung war
Kapitel 6: Finanzierung
die
Zunahme
der
beitragspflichtigen Personen
und
der
215
Anstieg
des
Beitragssatzes in der Kranken- und Rentenversicherung sowie die Einführung der Arbeitslosenversicherung. Hinsichtlich der Aufteilung der Beitragslast zwischen Versicherten und Arbeitgebern ist es bis heute dabei geblieben, daß in der Unfallversicherung allein die Arbeitgeber beitragspflichtig sind und in der Rentenversicherung der Beitrag je zur Hälfte getragen wird. Diese Hälftelung wurde auch in der Arbeitslosenversicherung (1927) übernommen und 1949 in der Krankenversicherung eingeführt. 563.
Im Vergleich zu Deutschland hat die Steuerfinanzierung in anderen
Ländern weit höheres Gewicht; es handelt sich dabei um Länder, (z.B. Dänemark, Kanada, Rußland) die die Transferzahlung als Grundmethode der sozialen Sicherung angewandt haben (TZ 40). Auch die Verteilung der Beiträge auf Versicherte und Arbeitgeber ist im internationalen Vergleich höchst unterschiedlich.
Die Arbeitgeber zahlen
einen
höheren
Anteil
als
die
Versicherten z.B. in USA, Frankreich, Schweden. 554.
Die
Schwankungsbreite
sowohl
der
Aufteilung
der
Gesamteinnahmen auf Steuern und Beiträge als auch der Aufteilung der Beträge auf Versicherte und Arbeitgeber zeigt, daß es keine allgemeinen Regeln oder Gesetzmäßigkeiten
für
ein
"richtiges"
Aufteilungsverhältnis
gibt.
Ausschlaggebend sind Faktoren, die im Bereich politischer Wertung und Durchsetzbarkeit liegen. Ein hoher oder niedriger Anteil von Steuermitteln an den Gesamteinnahmen eines Systems der sozialen Sicherung läßt keine weiteren Schlüsse auf Umfang oder Qualität des Systems zu. 565.
Die ursprüngliche S i c h t w e i s e des Charakters und der Wirkungen
verschiedener Finanzierungsquellen hat sich erheblich verändert in dem Maße, in dem der Kreis der Beitragszahler mit demjenigen der Steuerzahler identisch wurde. Idealtypisch unterscheidet sich der Beitrag von der Steuer durch seine Zweckbestimmung (im Gegensatz zum Nonaffektationsprinzip der Steuer) und ferner dadurch, daß er eine individuell rechtlich zustehende und ökonomisch zurechenbare Gegenleistung vermittelt. Vom Nonaffektationsprinzip gibt es in Deutschland
Ausnahmen
wie
z.B.
die
Kirchensteuer
und
die
216
Kapitel 6: Finanzierung
Lastenausgleichsabgabe. In anderen Ländern werden zweckgebundene Steuern zur Finanzierung der sozialen Sicherung herangezogen. So werden z.B. in Norwegen die Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung durch einen Beitrag vom versicherungspflichtigen Einkommen und einer zusätzlichen Abgabe vom steuerpflichtigen Einkommen finanziert. Es ist eine Frage der Konvention, ob man diese Abgabe als Steuer oder Beitrag bezeichnen will. 566.
Auch das Merkmal individuell zurechenbarer Gegenleistung für einen
Beitrag ist fragwürdig. Es gab und gibt Fälle, in denen die Zurechenbarkeit eindeutig nicht gegeben ist: Von 1954 bis 1964 wurde das Kindergeld durch Beiträge der Unternehmer finanziert. Der Arbeitgeber hat seinen Beitragsanteil aus Gründen der Wettbewerbsgleichheit auf dem Arbeitsmarkt - auch für Personen zu entrichten, die nicht versicherungspflichtig und infolgedessen (aus diesen Beiträgen) nicht leistungsberechtigt sind.3 Allgemein wurde der Beitrag zur
Rentenversicherung
ursprünglich
in Analogie zur
privatrechtlichen
Versicherungsprämie gesehen. Infolgedessen hing die Leistungsberechtigung von der Beitragsentrichtung ab, und war die Leistungshöhe der Beitragshöhe äquivalent.
Inzwischen
sind
Beitragspflicht
und
Leistungsberechtigung
unabhängig voneinander; die Leistungsberechtigung hängt formal nicht von der Beitragsentrichtung, sondern von der Versicherungspflicht ab; es genügt, wenn der Arbeitgeber den Beitrag einbehalten hat. Die Leistungshöhe richtet sich nach dem früheren Einkommen, nicht nach der Höhe der Beiträge. In Anbetracht dieser Entwicklungen ist es berechtigt, aus ökonomischer Sicht die Beiträge als Sondersteuer auf Arbeitseinkommen zu bezeichnen. 567.
Eine solche Sicht liegtauch für die Krankenversicherung nahe, weil
dort gegenüber dem ursprünglichen Zustand die Sachleistungen entscheidend an Gewicht gegenüber den Geldleistungen gewonnen haben; letztere erfordern jetzt weniger als 10 v.H. der Gesamtausgaben. Da die Leistungen sich am Bedarf orientieren, die Finanzierung dagegen einkommenabhängig ist, kann man auch hier aus ökonomischer Sicht urteilen, daß der Charakter der Beiträge sich dem einer Steuer nähert
Kapitel 6: Finanzierung
568.
21 7
Auch der Beitrag des Arbeitgebers kann als Lohnsummensteuer
verstanden werden.
Allgemein anerkannt ist seit längerem,
daß
der
Arbeitgeberbeitrag nicht eine das Unternehmereinkommen mindernde Abgabe ist, sondern Bestandteil der Arbeitskosten; aus der Sicht des Arbeitnehmers ist er Bestandteil seines Bruttoeinkommens.4 Aus diesem Grunde haben Verschiebungen in der Aufteilung des Gesamtbeitrages auf Arbeitgeber und Arbeitnehmer, wenn sie gleichzeitig und gleichgewichtig erfolgen, keine Wirkungen. Eine Ersetzung des Arbeitgeber- durch einen Arbeitnehmerbeitrag wird befürwortet, weil dies den Vorteil hätte, "daß jeder einzelne ... klar erkennen könnte, in welchem Maße er zu seiner eigenen Sicherung beiträgt".5 569.
Die Sozialversicherung der selbständigen Künstler und Publizisten wird
durch Beiträge der Versicherten sowie durch eine Künstlersozialabgabe finanziert. Diese Abgabe haben Unternehmer zu zahlen, die Kunstprodukte verwerten (z.B. Verlag, Galerie, Zirkel).6 Da die hiermit finanzierten Leistungen weder den Verwertern noch den bei ihnen Beschäftigten zugute kommen, hat das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung Uber die Zulässigkeit der Abgabe diese als "fremdnützigen" Beitrag bezeichnet im Gegensatz zum eigennützigen Beitrag der versicherten Künstler. Mit gleicher Berechtigung könnte man von einer zweckbestimmten Steuer sprechen. 2. Steuern 570.
Die
Steuerfinanzierung
Vollfinanzierung,
kann
in
Defizitfinanzierung
Vollfinanzierung
aus
Steuermitteln
drei
und
Grundformen
erfolgen:
Zuschußfinanzierung.
muß
erfolgen,
wenn
Die eine
Beitragserhebung nicht möglich ist. Dies gilt für die Leistungen wegen unzureichenden
Einkommens
(Sozialhilfe,
Wohngeld)
sowie
die
schadensbedingten Leistungen wegen bestimmter Aufopferungstatbestände (soziale Entschädigung). Im übrigen kann die Vollfinanzierung angewandt werden. In Deutschland ist dies der Fall hinsichtlich der dienstbedingten Leistungen, des Kindergeldes und der Ausbildungsförderung.
218
554.
Kapitel 6: Finanzierung
Die
Defizitfinanzierung
wird
angewandt,
wenn
der
Finanzierungsbedarf eines Leistungsträgers zwar im Prinzip durch Beiträge gedeckt, die Beitragsbelastung jedoch begrenzt werden soll. So trägt der Bund den durch Beitragseinnahmen nicht gedeckten Finanzierungsbedarf
der
knappschaftlichen Rentenversicherung, der Altersicherung der Landwirte und der Arbeitslosenversicherung. In den erstgenannten Fällen soll eine hohe Beitragsbelastung vermieden werden, die sich bei reiner Beitragsfinanzierung ergeben
würde,
weil
das
Verhältnis
zwischen
Beitragszahlern
und
Leistungsberechtigten enger ist als im Durchschnitt der Bevölkerung. Die Defizitfinanzierung der Arbeitslosenversicherung trägt dem Umstand Rechnung, daß der Tatbestand Arbeitslosigkeit letztlich nicht versicherbar ist. Wollte man den infolge hoher Konjunkturreagibilität stark schwankenden Ausgaben allein durch Veränderungen des Beitragssatzes begegnen, so hätte dies prozyklische Wirkungen. In der Praxis trägt der Bund die Ausgaben der Arbeitslosenhilfe, während Ausgaben für das Arbeitslosengeld und die Arbeitsförderung mittels Beiträgen finanziert werden, auch wenn diese bei steigender Arbeitslosigkeit prozyklisch - angehoben werden müßten. 572.
Die
Zuschußfinanzierung
steht
unter
dem
Motiv,
die
Beitragsbelastung zu mindern. Sie erfolgt in verschiedenen Formen: Autonomer Zuschuß: Dieser wird unabhängig vom Finanzierungsbedarf nach autonomen Kriterien festgesetzt wie dies für den Bundeszuschuß zur Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten gilt. Ausgabenzuschuß: Dieser steht in einem festen Verhältnis zu den Ausgaben oder Ausgabenteilen des Leistungsträgers. In der Krankenversicherung der selbständigen Landwirte trägt der Bund die Aufwendungen für die Bezieher von Altersrenten aus der landwirtschaftlichen Alterssicherung. In der Künstlersozialversicherung beteiligt sich der Bund in dem Umfang, in dem die Einnahmen der Künstler nicht auf Verkauf an abgabepflichtige Unternehmer, sondern auf Selbstvermarktung beruhen.
219
Kapitel 6: Finanzierung
573.
Die Variabilität sowohl
der
Höhe
als auch
der
Form
der
Steuerfinanzierung zeigt sich anhand der Geschichte der Bundeszuschüsse zur Rentenversicherung der Arbeiter (zur Angestelltenversicherung wurden erst seit 1941 Reichszuschüsse gezahlt). Im Gesetzentwurf betreffend die Alters- und Invalidenversicherung von 1888 war vorgesehen, daß das Reich ein Drittel der Aufwendungen übernehme (Ausgabezuschuß). Im Gesetzgebungsverfahren wurde ein Einzelleistungszuschuß beschlossen: Das Reich zahlte zu jeder Rente einen Betrag (Grundbetrag) von 50,00/M jährlich. Daneben erstattete das Reich auf Zeiten
militärischer Dienstleistung
entfallende Rententeile.
Solche
Erstattungen gab es später aus mehreren Anlässen; weiter wurde 1927 ein Reichsbeitrag eingeführt. 574.
Die Vielzahl der Zuschußarten des Bundes wurde 1957 durch einen
allgemeinen Bundeszuschuß ersetzt. Von da ab handelte es sich um einen autonomen Zuschuß; seine Höhe wurde nominal festgelegt und an die künftige Lohnentwicklung gebunden. Da die Ausgaben der Rentenversicherung infolge der zunehmenden Altersquote stärker stiegen als die Löhne, sank der Anteil des Bundeszuschusses an den Ausgaben von 30 auf 17.V.H.. 575.
Seit 1992 verändert sich der (autonom festgesetzte) Bundeszuschuß zur
Rentenversicherung nach Maßgabe von Änderungen der Bruttolohn- und Gehaltssumme
je
durchschnittlich
beschäftigtem
Arbeitnehmer.
Bei
Veränderungen des Beitragssatzes ändert sich der Bundeszuschuß zusätzlich um den Prozentsatz der Beitragsänderung.7 Eine Erhöhung des Beitragssatzes in der Rentenversicherung, mit der wegen des Anstiegs der Altersquote (TZ 170) in Zukunft gerechnet werden muß, hat also eine Verringerung des Rentenniveaus (TZ 400) und eine Erhöhung des Bundeszuschusses zur Folge.
b) Argumente 576.
Angesichts der nach Zeit und Raum wechselnden Heranziehung der
verschiedenen Finanzierungsquellen sowie der Ähnlichkeit der Wirkungen von Steuern und Beiträgen wird gefolgert, daß es keine zwingenden ökonomischen
220
Kapitel 6:
Finanzierung
Gründe für die Heranziehung der einen oder anderen Quelle gebe. 8 Immerhin lassen
sich
gesamtwirtschaftlich
verschiedene
Umverteilungswirkungen
konstatieren. Vom Einkommen erhobene Steuern bewirken eine stärkere vertikale Umverteilung als Beiträge, weil sie progressiv bemessen sind (Beiträge proportional), auch höhere Einkommen erfassen (Beitragsbemessungsgrenze), auch Besitzeinkommen erfassen (Beitrage nur Arbeitseinkommen). 577.
Neben
der
stärkeren
vertikalen
Umverteilung
bewirkt
die
Steuerfinanzierung von Sozialleistungen eine horizontale Umverteilung. Dies ist immer dann der Fall, wenn
nicht die gesamte
Bevölkerung
leistungsberechtigt ist. Dieser Zusammenhang hat in wenig industrialisierten Ländern besonderes Gewicht; dort wird die soziale Sicherung aus technischadministrativen
Gründen
oft zunächst
nur
für
kleine
Gruppen
von
Arbeitnehmern eingeführt, die bereits ein überdurchschnittlich hohes und vor allem
sicheres
Einkommen
haben.
Aus
Steuermitteln
finanzierte
Sozialleistungen würden diese Gruppen zu Lasten der übrigen Gruppen weiter begünstigen, also eine inverse Umverteilung bewirken. In
entwickelten
Systemen der sozialen Sicherung entsteht horizontale Umverteilung, wenn und soweit verschiedene Institutionen, Leistungszweige oder Sozialleistungsträger in unterschiedlichem Maße aus Steuern finanziert werden. 578.
Die Verfolgung von Umverteilungszielen spricht für eine möglichst
weitgehende Steuerfinanzierung. Demgegenüber werden andere, überwiegend nicht-ökonomische
Gründe
für
eine
möglichst
weitgehende
Beitragsfinanzierung angeführt. Man meint, daß Beiträge von der Bevölkerung anders eingeschätzt werden als Steuern. Daraus folge der psychologisch bedingte Effekt einer besseren Akzeptanz von Beitragserhöhungen. Es gibt Beispiele, die gegen die Allgemeingültigkeit dieser Meinung sprechen: Die geräuschlose Umstellung der Finanzierung des Kindergeldes von der Beitragsauf die Steuerfinanzierung ( 1964) und der geräuschvolle Widerstand gegen die Erhöhung der Beiträge zur Krankenversicherung Mitte der 70er und Ende der 80er Jahre. Dennoch herrscht die Meinung vor, daß in der Bevölkerung Steuern
Kapitel 6: Finanzierung
221
und Beiträge unterschiedlich bewertet werden. Die Einschätzung von Steuern falle im Allgemeinen negativer aus als die Einschätzung von Beiträgen. 579.
Weiter wird argumentiert, daß eine Bemessung von Sozialleistungen
nach dem Einkommen ihre Rechtfertigung nur dann finde, wenn diese durch Beiträge finanziert werden. In der Tat gibt es in Deutschland wie auch anderswo eine
Affinität zwischen
Leistungsbemessung
und
Finanzierungsquelle.
Einkommensbezogene Leistungen werden ganz oder uberwiegend aus Beiträgen finanziert, wie insbesondere die Rentenversicherung, Arbeitslosenversicherung und Unfallversicherung. Umgekehrt sind die nach dem Bedarf bemessenen Leistungen (Sozialhilfe, Wohngeld, Kindergeld) steuerfinanziert. Doch auch von dieser Affinität gibt es wichtige Ausnahmen: Die einkommensbezogenen Leistungen
der
Beamtenversorgung
werden
ganz,
diejenigen
der
knappschaftlichen Rentenversicherung überwiegend aus Steuern finanziert. Umgekehrt werden die bedarfsbezogenen Leistungen der Pflegeversicherung aus einkommensbezogenen Beiträgen finanziert. 580.
Eine Beitragsentrichtung bewirkt bei den Betroffenen subjektiv ein
stärkeres Sicherheitsgefühl. Viele Menschen betrachten die Beiträge zur Rentenversicherung als eine besondere Form des Sparens für das Alter. Immerhin ist auch hier darauf zu verweisen, daß ein nicht auf Beitragszahlung beruhender beamtenrechtlicher Anspruch psychologisch nicht schwächere, sondern stärkere Sicherheitsgefühle auslöst als die beitragsfinanzierte Rente. 581.
Zugunsten der Beitragsfinanzierung wird weiter geltend gemacht, daß
der Selbstverwaltung der Sozialleistungsträger der Boden entzogen würde, wenn diese allein aus Steuermitteln finanziert würden. Dem steht entgegen, daß Selbstverwaltungskörperschaften auch dann autonom sein können, wenn sie aus Steuermitteln finanziert werden, wie z.B. kommunale Körperschaften und Universitäten. 582.
Die
genießen
Rentenansprüche nach
gegenüber
Entscheidungen
des
den
Sozialversicherungsträgern
Bundesverfassungsgerichts
den
Eigentumsschutz nach Art. 14 des Grundgesetzes. Unter "Eigentum" sind
222
Kapitel 6: Finanzierung
danach auch öffentlich rechtliche Berechtigungen zu verstehen, sofern sie nicht nur auf staatlicher Gewährung beruhen, sondern wesentlich als Äquivalent eigener Leistungen
anzusehen
sind.
Je
höher
der
einem
Anspruch
zugrundeliegende Anteil eigener Leistung sei, desto stärker trete der verfassungsrechtlich wesentliche personale Bezug und mit ihm ein tragender Grund des Eigentumsschutzes hervor. 583.
Die tatsächliche Heranziehung von
Steuern und Beiträgen
zur
Finanzierung der sozialen Sicherung hat sich durch Bewertung und Gewichtung der
erwähnten
zusammenfassende
Gesichtspunkte
entwickelt
Aussage
Zweckmäßigkeit
Uber
und
geändert. und
Umfang
Eine der
Heranziehung der beiden Finanzierungsquellen wäre unvollständig oder ungenau.
Es bedarf
der Differenzierung
nach
leistungsauslösenden
Tatbeständen und dem Grund der Leistungsberechtigung. So sind zunächst die Leistungen, die auf bedarfsbedingter Leistungsberechtigung (TZ 248) beruhen, (Sozialhilfe, Wohngeld), aus der Diskussion auszunehmen, weil es hier keine Alternative zur Steuerfinanzierung gibt. Das gleiche gilt für Leistungen wegen Invalidität, soweit diese auf eine anerkannte Schadensursache zurückgehen (soziale Bitschädigung) sowie die Ausbildungsförderung. Weiter steht die Finanzierung der Unfallversicherung aus Beiträgen der Arbeitgeber außer Diskussion. Ebenso unbestritten ist die Finanzierung der berufsständischen Versorgungswerke aus Beiträgen der Versicherten. 584.
Ungeachtet der möglichen Einwendungen gegen die Argumente, die für
eine Beitragsfinanzierung sprechen, haben diese zusammengenommen unter den gegebenen Umständen für die gesetzliche Rentenversicherung besonderes Gewicht. Vieles spricht dafür, diese dem Einkommensersatz dienenden und nach der Einkommenhöhe bemessenen Leistungen weiterhin überwiegend aus Beiträgen zu finanzieren. Die Höhe des aus Steuermitteln finanzierten Bundeszuschusses hat im Zeitablauf erheblich geschwankt (TZ 573) und war stets umstritten. Daher ist wiederholt gefordert worden, Kriterien für seine Bemessung festzulegen, wie z.B. die Erstattung "versicherungsfremder" Leistungen oder die Übernahme aller Umverteilungsvorgänge, soweit diese nicht Risikoausgleich sind.
Kapitel 6: Finanzierung
223
585. Zur Festlegung solcher Kriterien ist es jedoch nie gekommen vor allem, weil
dies
einen
Konsens
"versicherungsfremd"
darüber
voraussetzen
würde,
was
als
und damit als staatliche Umverteilungsaufgabe
anzusehen ist. Eine Autorengruppe meint, "daß sowohl im Interesse einer langfristigen Finanzplanung der Rentenversicherungsträger als auch im Interesse
des
Vertrauens
der
Versicherten
in
die
Kontinuität
ihrer
Alterssicherung Uber die Höhe der Bundeszuschüsse niemals diskretionär, wie faktisch in der Vergangenheit immer wieder geschehen, entschieden werden darf, "Die Gruppe...
ist, da alle anderen teilweise logisch besser zu
begründenden Schlüssel
für eine solche Regelbindung
nicht eindeutig
quantifizierbar sind, zu der Überzeugung gelangt, daß es immernoch am besten ist, die Bundeszuschüsse in Form eines festen Prozentsatzes an den Gesamtausgaben der Rentenversicherungsträger... zu binden".9 Als Zielbereich werden 20-30 v.H. der Gesamtausgaben vorgeschlagen. 586.
Einkommensersatzfunktion haben und nach der Einkommenshöhe
bemessen sind auch die Beamtenpensionen. Wegen der in diesem Falle dienstbedingten Leistungsberechtigung werden sie allein aus Steuermitteln finanziert. Da eine Beteiligung der Beamten an ihrer Versorgung durch Gehaltsverzicht nicht nachweisbar sei, wird empfohlen, die Beamten an der Finanzierung ihrer Alterssicherung zu beteiligen. "Dadurch soll ein tragender Gedanke der Alterssicherung verwirklicht werden: Nämlich die Beteiligung aller Erwerbstätigen
an der Finanzierung ihrer
Alterssicherung...
und
die
ausgewogene Beteiligung aller Gesicherten insbesondere an den aus der demographischen Entwicklung resultierenden Belastungen".10 587.
Da auch das Arbeitslosengeld dem Einkommensersatz dient und nach
dem Einkommen bemessen wird, ist dessen Finanzierung aus Beiträgen nicht umstritten. Die Arbeitsverwaltung erbringt daneben aber auch Dienstleistungen, wie
Berufsberatung,
Arbeitsvermittlung
sowie
finanzielle
Beschäftigungsförderung, die allen Erwerbstätigen, nicht nur den gegen Arbeitslosigkeit Versicherten, zugute kommen. Im Hinblick darauf wird gefordert, von allen Erwerbstätigen einen Arbeitsmarktbeitrag zu erheben
224
oder
Kapitel 6: Finanzierung
die
beschäftigungsfördernden
Maßnahmen
aus
Steuermitteln
zu
finanzieren. 588.
Die Krankenversicherung erhält - abgesehen von einigen quantitativ
nicht bedeutenden Erstattungen - keine Zuschüsse aus Steuermitteln. Ihre Leistungen sind zu über 90 v.H.
(bis auf das Krankengeld)
nicht
Einkommensersatz; sie werden nicht nach dem Einkommen, sondern nach dem Bedarf an Gesundheitsleistungen erbracht. Für die Finanzierung dieser Leistungen allein aus Beiträgen liegt kein zwingender Grund vor; sie ist historisch überkommen aus einer Zeit, in der die Barleistungen den Hauptausgabeposten
ausmachten.
In
Hinblick
auf
die
von
der
Krankenversicherung erfüllten Aufgaben der allgemeinen Gesundheitspolitik und des Familienlastenausgleichs kann man die Frage stellen, ob die alleinige Finanzierung Uber Beiträge der Art der Aufgaben der Krankenversicherung adäquat ist.
III. Beitragsbemessung a) Beitragspflichtige 589.
Beitragspflichtig ist im Regelfall der Versicherte. Dies gilt für die
Kranken-,
Pflege-,
Renten-
Sicherungsinstitutionen
und
für
Arbeitslosenversicherung,
selbständig
Erwerbstätige.
sowie
die
In
der
Unfallversicherung ist nicht der Versicherte, sondern sein Arbeitgeber beitragspflichtig (TZ 560). Daneben sind Arbeitgeber beitragspflichtig, wenn das Arbeitsentgelt des Versicherten einen Mindestbetrag nicht erreicht. Der Bund trägt die Beiträge für Wehr- oder Zivildienstleistende. Schließlich sind auch
Sozialleistungsempfänger
und/oder
ihre
Sozialleistungsträger
beitragspflichtig. 590.
In der Krankenversicherung
Mitgliedern versichert.
11
sind auch Familienangehörige
von
Sie sind allerdings nicht beitragspflichtig. Dies wirft
die Frage auf, ob die beitragsfreie Versicherung von Ehegatten, die nicht
Kapitel 6: Finanzierung
225
erwerbstätig sind und keine anderen Dienste leisten (wie Kindererziehung oder Pflegeleistungen), gerechtfertigt ist. Die Frage könnte insbesondere von Ehepaaren gestellt werden, die beide erwerbstätig sind - und daher zwei Beiträge zahlen - und daneben
noch Kinder erziehen.
Diese Paare
subventionieren den Krankenversicherungsschutz des nicht erwerbstätigen Ehepartners in der anderen Familie.
b) Bemessungsgrundlage 1. Versichertenbeitrag 591.
Der weitaus größte Teil des Beitragsvolumens wird nach Maßgabe des
Einkommens der Versicherten bemessen. Man wich bei Einführung der Krankenversicherung von der risikogerechten Bemessung ab, weil dies bei den bereits bestehenden Hilfskassen üblich war, und weil die Leistungen der Krankenkassen
Uberwiegend
aus
einkommensbezogenen
Geldleistungen
bestanden. Auch in der Rentenversicherung sollten einkommensbezogene Leistungen gewährt werden, so daß auch die Beiträge nach dem Einkommen zu bemessen waren. Diese Grundentscheidung wurde später auch auf die Arbeitslosenversicherung und die Pflegeversicherung Ubertragen. In allen diesen Zweigen wird der Beitrag nach dem Bruttoarbeitsentgelt aus der die Versicherungspflicht
begründenden
Beschäftigung
bemessen.
Der
Entgeltbegriff ist im Interesse einer Verwaltungsvereinfachung weitgehend mit dem Steuerrecht abgestimmt. 592.
Rentenbezieher zahlen seit 1983 Beiträge an die Krankenversicherung.
Außer der Rente werden diesem Beitrag auch andere Lohnersatzleistungen wie Beamtenpensionen und Betriebsrenten zugrunde gelegt. Damit soll verhindert werden, daß Bezieher hoher Pensionen für einen geringen Beitrag aus einer geringen Rente den vollen Versicherungsschutz erhalten. 593.
Neben den nach dem Einkommen bemessenen Beiträgen werden
zusätzlich Beiträge nach Maßgabe der Inanspruchnahme von Dienst- und
226
Kapitel 6: Finanzierung
Sachleistungen erhoben. Dies geschah erstmals im Jahre 1930, als mit einem Bündel leistungsbegreqzender Maßnahmen der allgemeine Beitragssatz in der Krankenversicherung gesenkt werden sollte. Der Versicherte hatte einen Krankenschein zu lösen und dafür eine Gebühr (von 50 Rpfg.) zu zahlen; weiter hatte er von den Kosten jeder Arzneiverordnung 50 Rpfg. selbst zu zahlen. Damals wurde klargestellt, daß es sich bei der Krankenscheingebühr und der Aizneimittelbeteiligung um Sonderbeiträge neben dem allgemeinen Beitrag handele. Aus ökonomischer Sicht kann man alle Kostenbeteiligungen (TZ 536) als Beiträge nach Maßgabe der Inanspruchnahme ansehen. 594.
Kostenbeteiligungsregelungen nach Maßgabe der Inanspruchnahme
bewirken eine Verlagerung der Belastung von allen Beitragspflichten auf diejenigen, die Leistungen in Anspruch nehmen. Als Motiv dafür wurde und wird die Verhütung von Mißbrauch angegeben. Daß die Kostenbeteiligung als Steuerungsinstrument ungeeignet ist, wurde oben dargelegt (TZ 540) ; sie ist ein Finanzierungsinstrument.
Dies
ergibt
sich
auch
daraus,
daß
Kostenbeteiligungs-Regelungen stets in Zeiten finanzieller Engpässe eingeführt oder verschärft wurden. 595.
Um nachteilige Wirkungen von Kostenbeteiligungen im Hinblick auf
Chancengleichheit, Früherkennung und soziale Zumutbarkeit zu minimieren, besteht eine "Härtefall"-Regelung. Wenn das Einkommen des Versicherten eine bestimmte Höhe nicht erreicht, ist er von den Zuzahlungspflichten befreit. Außerdem soll die Belastung pro Jahr 4 v.H. (bei geringem Einkommen 2 v.H.) des Bruttoeinkommens zum Lebensunterhalt nicht übersteigen.12 Solche Regelungen sind eine Verletzung des
Versicherungsprinzips,
weil
die
Krankenkasse die Einkommensverhältnisse des Versicherten zu prüfen hat. 596.
Für Sozialleistungsempfänger zahlen deren Sozialleistungsträger in einer
Reihe von Fällen Beiträge an andere Sozialleistungsträger zur Finanzierung von gegenwärtigen oder
künftigen Leistungen wegen anderer Tatbestände.
Bemessungsgrundlage ist in diesen Fällen das vorherige Einkommen des Leistungsempfängers, seine Sozialleistung oder ein Einheitsbeitrag. E n wichtiges Beispiel hierfür ist die Vorsorge für den Fall des Alters für
Kapitel 6: Finanzierung
Arbeitslose.
Zeiten
der
Arbeitslosigkeit
wurden
früher
227
bei
der
Rentenberechnung als beitragsfreie Zeit angerechnet Seit 1977 hat die Bundesanstalt für Arbeit Beiträge an die Rentenversicherung abzuführen. Ob die eine oder
andere
Regelung
gewählt
wird,
ist
prinzipiell
für
den
Leistungsempfänger und die langfristigen Gesamtaufwendungen belanglos. Für eine Entrichtung von Beiträgen statt einer beitragslosen Leistungsberechtigung spricht die Kostenklarheit. Aus diesem Motiv heraus zahlt die Bundesanstalt für Arbeitslose
auch
Beiträge an
Pflegeversicherung
entrichtet
die für
Krankenversicherung. Pflegepersonen
Die
Beiträge
soziale an
die
Rentenversicherung.
2. Arbeitgeberbeitrag 597.
Die Beiträge der Arbeitgeber werden im Regelfall ebenfalls nach dem
Entgelt der Versicherten bemessen. Da der Arbeitgeberbeitrag Teil der Arbeitskosten ist, wird immer wieder argumentiert, daß insbesondere ein hoher Beitrag die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen beeinträchtige. Dabei wird unterstellt, daß der Beitrag zusätzlich zu einem gegebenen Lohn gezahlt werde. Diese Annahme ist - abgesehen von sehr kurzen Zeiträumen - unzutreffend. Verminderte Beiträge wurden bald durch höhere Lohn- oder andere Arbeitskosten kompensiert werden und umgekehrt. Die Wettbewerbsfähigkeit eines
Unternehmens
wird
durch
die
gesamten
Arbeitskosten und die übrigen (nicht Arbeits-) Kosten bestimmt. Internationale Vergleiche bestätigen
nicht,
daß
es
einen
Zusammenhang
Sozialbeiträgen und hohen Gesamt-Arbeitskosten gibt. 598.
zwischen
13
Unabhängig vom Argument der internationalen Wettbewerbsfähigkeit
wird gegen die Lohnbezogenheit des Arbeitgeberbeitrags eingewandt, daß sie binnenwirtschaftlich personalintensive
den
Wettbewerb
ungünstig
gegenüber kapitalintensiven
beeinflusse,
Unternehmen
indem
benachteiligt
würden. Die Lohnbezogenheit habe zur Folge, daß der Produktionsfaktor Arbeit im Verhältnis zum Produktionsfaktor Kapital verteuert, d.h. die Substitution
228
Kapitel 6: Finanzierung
von Arbeit durch Kapital begünstigt werde. Dies wirke sich nachteilig auf die Wettbewerbsfähigkeit von Kleinbetrieben und auf den Beschäftigungsstand aus. Daraus wird gefolgert, daß es vorzuziehen sei, den Arbeitgeberbeitrag nicht nach Maßgabe des Lohnes, sondern nach anderen, im Prinzip kapitalorientierten Größen (Umsatz,
Kapitaleinsatz,
Energieverbrauch,
Wertschöpfung) zu
bemessen. Zur Beurteilung solcher Vorschläge ist zunächst zu bedenken, daß der Arbeitgeberbeitrag der geringere Teil der gesamten Arbeitskosten ist; er beträgt etwa ein Fünftel der beitragspflichtigen Lohnsumme. Welche Wirkungen auch
immer
man
den
Arbeitskosten
auf
Wettbewerbsfähigkeit
und
Faktorsubstitution beimißt: Diese Wirkungen gehen von den gesamten Lohnkosten, nicht allein vom Arbeitgeberbeitrag aus. 599.
Das Argument der Wettbewerbsverzerrung zu ungunsten von
Kleinbetrieben durch lohnbezogene Arbeitgeberbeiträge geht davon aus, daß Kleinbetriebe im Vergleich zu größeren Betrieben in jedem Fall lohnintensiver sind. Demgegenüber kam die Bundesregierung zu dem Ergebnis, daß kein eindeutiger Zusammenhang zwischen Lohnintensität und Betriebsgröße besteht. Weiter sei entscheidend, daß nicht alle arbeitsintensiven Betriebe gleichzeitig lohnintensiv sind. Gerade in den kleinsten Betrieben, in denen die Arbeit des Betriebsinhabers und seiner mithelfenden Familienangehörigen dominiert, sei die lohnbezogene Abgabe am wenigsten belastend. Unter Einbeziehung auch anderer Gesichtspunkte, insbesondere der tragenden Grundprinzipien der Sozialversicherung, kam die Bundesregierung 1965 zu der Auffassung, es spreche "nahezu alles dafür, die lohnbezogenen Abgaben nicht durch andere, in ihren Wirkungen nur ungenau abzuschätzende Abgaben zu ersetzen".14 600.
Die Lohnbezogenheit des Arbeitgeberbeitrags wird auch unter dem
Gesichtspunkt ihrer Beschäftigungswirkung kritisiert. Die Tendenz zur Substitution von Arbeit durch Kapital trage zur Arbeitslosigkeit bei. Auch aus diesem Grunde sei als Bemessungsgrundlage für den Arbeitgeberbeitrag die Wertschöpfung
vorzuziehen.
Bemessungsgrundlage
würden
Durch die
Kosten
eine der
kapitalorientierte Betriebe
und
Produktionsmethoden mit hohem Arbeitseinsatz gemindert zu Lasten der Betriebe und Produktionsmethoden mit geringem Arbeitseinsatz. Dies mag
Kapitel 6: Finanzierung
229
kurzfristig erwünscht erscheinen. Grundsätzlich und längerfristig jedoch wird die Grundlage des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts, nämlich die Substitution von Arbeit durch Kapital, verteuert und damit dieser Fortschritt verzögert, so daß die erwünschten Beschäftigungseffekte sich längerfristig in ihr Gegenteil verkehren. "In dem Ausmaß, wie man .. lohnintensiv arbeitende Betriebe entlastet, wird tendenziell der Übergang zu kapitalintensiveren Produktionen gemindert. Die Folge wäre, daß das Sozialprodukt langsamer wächst. " IS 601.
Die Forderung nach Umbasierung des Arbeitgeberbeitrags gründet sich
auch auf die Annahme oder Befürchtung, daß mit zunehmender Kapitalintensität der Produktion die Lohnquote sinke. Populär ausgedrückt heißt die Forderung: Wenn Maschinen den Menschen am Arbeitsplatz verdrängen, so soll für die Maschinen (zusätzlich) gezahlt werden. Dem steht die empirische Evidenz entgegen. Trotz gewaltiger Erhöhung der Kapitalintensität im letzten Jahrhundert ist die Lohnquote nicht gesunken; es gibt keinen Grund zu der Annahme, daß dies künftig der Fall sein wird, wenn man von den üblichen kurzfristigen konjunkturell bedingten Schwankungen absieht.
c) Beitragssatz 602.
Die Höhe des zu entrichtenden Beitrages wird im Regelfall als
Vomhundertsatz der Bemessungsgrundlage festgelegt und als Beitragsatz bezeichnet. Die Höhe des Beitragssatzes bestimmt sich durch den Finanzierungsbedarf. Im einfachsten Fall gilt für alle Beitragspflichtigen das Einkommen als Bemessungsgrundlage und der gleiche Beitragssatz. Gegenüber diesem einfachen Modell gibt es Differenzierungen des Beitragssatzes nach individuellen, institutionellen, sektoralen und regionalen Kriterien.
230
Kapitel 6: Finanzierung
1. Individuelle Differenzierung 603.
Einheitsbeiträge
sowie
Kostenbeteiligungen
nach
Maßgabe
der
Inanspruchnahme von Leistungen haben - gemessen am Einkommen - einen degressiven Beitragssatz zur Folge. Den sonst geltenden proportionalen Beitragssatz gab es ursprünglich in der Rentenversicherung nicht. Bei deren Einführung 1891 war nicht ein Beitragssatz festgelegt, sondern ein nominaler Beitrag für 4 verschiedene Lohnklassen (Lohnhöhenbereiche). Der (errechnete) Beitragssatz war dabei degressiv gestaffelt: Er betrug im Durchschnitt 1,7 v.H., in der niedrigsten Lohnklasse Uber 2 v.H., in der höchsten Lohnklasse nur etwa 1 v.H. Bei Einführung der Angestelltenversicherung (1913) stieg umgekehrt der Beitragssatz progressiv mit der Lohnklasse von etwa 4 auf 7 v.H. Erst 1942 wurde der proportionale Beitragssatz eingeführt. 604.
Die Proportionalität zwischen Beitrag und Einkommen ist eingeschränkt
durch die Existenz von Beitragsbemessungsgrenzen. Diese ist in der Rentenversicherung
durch
eine
Maximumregelung
hinsichtlich
der
Einkommensersatzrate motiviert (TZ 349). Die Beitragsbemessungsgrenze hat die
Wirkung,
daß
die
durchschnittliche
Belastung
durch
den
Arbeitnehmerbeitrag sinkt, wenn das Einkommen über der Bemessungsgrenze liegt.
In
der
Krankenversicherung
bewirkt
die
niedrigere
Beitragsbemessungsgrenze eine noch stärkere Degression der Belastung; allerdings ist dort ein Großteil der Leistungen nicht einkommens-, sondern bedarfsbezogen. 605.
Angesichts der Abhängigkeit des Finanzierungsbedarfs von dem
Verhältnis zwischen Beitragszahlern und Leistungsempfängern sowie der für die Zukunft zu erwartenden Verengung dieses Verhältnisses ist vorgeschlagen worden, den Beitragssatz der Versicherten zur Rentenversicherung nach deren Kinderzahl zu differenzieren, d.h. für Kinderlose zu erhöhen und für Kinderreiche zu ermäßigen. Damit soll ein Ausgleich für den unterschiedlichen Beitrag der
Versicherten
zur
"Reproduktion"
künftiger
Beitragszahler
herbeigeführt werden. Gegen diese Methode einer Lastenverteilung spricht, daß sie die angestrebte Gerechtigkeit nur verwaltungsaufwendig, indirekt und
231
Kapitel 6: Finanzierung
unvollkommen verwirklichen würde. Für einen Ausgleich der durch Kinder verursachten zusätzlichen Belastung sollte das dafür adäquate Instrumentarium für den Tatbestand Erziehung und Ausbildung eingesetzt werden (TZ 225). Dies würde Komplikationen vermeiden, der Kostenklarheit dienen und vor allem die gesamte Bevölkerung, nicht nur den Kreis der Versicherten, erfassen. 606.
Eine Besonderheit der individuellen Beitragsdifferenzierung ist der in der
Alterssicherung der Landwirte zustehende Beitragszuschuß. erhalten zu ihrem bundeseinheitlichen
Beitrag einen
Versicherte
Zuschuß,
der
Abhängigkeit von Einkommen bis zu 80 v.H. des Beitrages ausmacht.
16
in
Diese
Art der Beitragsdifferenzierung kann man auch als spezielle Form des Bundeszuschusses verstehen.
2. Generelle Differenzierung 607.
Wegen der institutionellen Gliederung des Systems der sozialen
Sicherung gibt es nicht einen Beitragssatz, sondern je verschiedene für die Rentenversicherung, die Pflegeversicherung, die Krankenversicherung, die Arbeitslosenversicherung und die Unfallversicherung. Dies gilt auch für Institutionen umfassen
der
und
Rentenversicherung,
besonderem
die
Leistungsrecht
besondere unterliegen,
Personengruppen wie
z.B.
die
knappschaftliche Rentenversicherung und die Alterssicherung der Landwirte. Die institutionale Gliederung des Systems bedingt eine
institutionale
Differenzierung des Beitragssatzes. 608.
Die
Festsetzung
des
Beitragssatzes
erfolgt
für
die
Arbeitslosenversicherung und die Pflegeversicherung durch den Gesetzgeber. In der Kranken- und Unfallversicherung wird der Beitragssatz durch die Selbstverwaltungsorgane der Leistungsträger festgesetzt. In diesen Fällen ist lediglich vorgeschrieben, daß der Beitragssatz so festzusetzen ist, daß der Finanzierungsbedarf des Leistungsträgers gedeckt wird.
232
609.
Kapitel 6: Finanzierung
In der Rentenversicherung wurde der Beitragssatz bis 1991 durch
den Gesetzgeber festgelegt. Seither hat ihn die Bundesregierung durch Rechtsverordnung festzulegen. Der Beitragssatz ist so festzusetzen, daß die voraussichtlichen Beitragseinnahmen zusammen mit dem Bundeszuschuß und den sonstigen Einnahmen ausreichen, um die voraussichtlichen Ausgaben zu decken und sicherzustellen, daß die liquiden Mittel der Schwankungsreserve am Ende des folgenden Jahres dem Betrag der durchschnittlichen Ausgaben für einen Kalendermonat entsprechen.17 Wie oben erwähnt (TZ 396, 575), hat eine Erhöhung
des
Beitragssatzes
eine
gleichgewichtige
Minderung
des
Rentenniveaus und Erhöhung des Bundeszuschusses zur Folge. 610.
Aus
der
Beitragsautonomie
der
Träger
der
Unfall-
und
Krankenversicherung ergibt sich neben der institutionellen auch eine sektorale und
regionale
Leistungsrecht
Diversifizierung
entsteht
bei
den
der
Beitragssätze.
sektoral
und
Bei
regional
gleichem
gegliederten
Sozialleistungsträgern ein unterschiedlicher Finanzbedarf in Abhängigkeit von sozialen und ökonomischen Daten, wie z.B. Lohnhöhe der Beitragspflichtigen, Alters- und Familienstruktur der Leistungsberechtigten, Krankheits-
und
Invaliditätshäufigkeit. Es stellt sich die Frage, ob durch solche Faktoren bedingte sektorale oder regionale Unterschiede des Beitragssatzes erwünscht oder akzeptabel sind. Die Alternative sind Finanzausgleichsmechanismen. 611.
In der Unfallversicherung sieht man unterschiedliche Beitragssätze
zwischen den Berufsgenossenschaften seit jeher als unproblematisch und sogar erwünscht an, weil die Belastung der Arbeitgeber eines Wirtschaftszweiges nach Maßgabe der Unfallhäufigkeit der richtigen Kostenzurechnung und der Ablösung der privatrechtlichen Haftpflicht entspricht. Außerdem erhofft man sich
von
differenzierten
Beitragssätzen
Anreize
für
eine
verstärkte
Unfallverhütung. Deshalb haben die Berufsgenossenschaften nach dem Grad der
Unfallgefahr Gefahrklassen zu bilden;
sie
können
den
einzelnen
Unternehmen nach Maßgabe der anzeigepflichtigen Arbeitsunfälle Zuschläge auferlegen oder Nachlässe bewilligen.
Kapitel 6: Finanzierung
612.
233
In Bezug auf die Arbeitslosenversicherung ist diskutiert worden, ob
der einheitliche Beitragssatz gerechtfertigt ist angesichts der Tatsache, daß Beschäftigte einzelner Wirtschaftszweige Uberdurchschnittlich viel Leistungen in Anspruch
nehmen.
Dies
gilt
insbesondere
für
saisonabhängige
Wirtschaftszweige, wie Bauwirtschaft, Landwirtschaft und Gaststättengewerbe. Um das Interesse des Arbeitgebers an der Vermeidung von Arbeitslosigkeit zu fördern, mindestens aber eine gerechte Zuordnung der Kosten zu erreichen, könnte man daran denken, auch hier sektorspezifische Beiträge zu erheben, oder in Wirtschaftszweigen mit saisonaler Arbeitslosigkeit einen Zusatzbeitrag zu erheben. Diesem Gedanken entspricht die Regelung, daß die Aufwendungen für die Winterbauförderung (Zuschüsse an Arbeitgeber für witterungsbedingte Mehrkosten, Winterausfallgeldan Arbeiter) durch eine Umlage der Arbeitgeber des Baugewerbes finanziert werden.18
3. Finanzausgleichsregelungen 613.
Der Grundsatz sektoral unterschiedlicher Beitragssätze hat sich in der
Unfallversicherung nicht ohne Ausnahme durchhalten lassen. Man mußte dem Umstand Rechnung tragen, daß in einzelnen Sektoren die Zahl der Beschäftigten
und
damit
die
Lohnsumme
Leistungsverpflichtungen rückläufig ist,
im
Verhältnis
und damit ein
zu
den
extrem
hoher
Beitragssatz erforderlich wird. Dies traf für die Bergbaugenossenschaft zu; deshalb wurde zu deren Gunsten 1963 ein Finanzausgleich eingeführt, der im Jahre
1967
verallgemeinert
Berufsgenossenschaften Finanzausgleich
wird
keine
wurde,
jedoch
praktische
wirksam,
bisher
Bedeutung
wenn
das
für
erlangt
andere
hat.
Verhältnis
Der der
Leistungsaufwendungen zur Lohnsumme einer Berufsgenossenschaft das Fünffache des durchschnittlichen Verhältnisses aller Berufsgenossenschaften übersteigt.
234
614.
Kapitel 6: Finanzierung
Bei Einführung der Rentenversicherung der Arbeiter 1891 wurden bei
allen Landesversicherungsanstalten einheitliche Beiträge erhoben. Man nahm an, daß die Risiken sich innerhalb einer Anstalt ausgleichen würden. Die Erfahrung zeigte bald, daß es "reiche" und "arme" Anstalten gab, weil die Altersstruktur und die Lohnhöhe der Versicherten unterschiedlich waren. Zur Aufrechterhaltung des einheitlichen Leistungsrechts und des einheitlichen Beitragssatzes mußte bereits im Jahre 1899 ein regionaler Finanzausgleich eingeführt werden. Da nicht alle Ausgaben in den Ausgleich einbezogen waren, entwickelte
sich
das
Vermögen
der
Versicherungsträger
weiterhin
unterschiedlich. Deshalb wurde das Gemeinlastverfahren in zwei Schritten (1969 und 1977) durch ein Liquiditätsausgleichsverfahren ersetzt, das auch einen Vermögensausgleich unter den Versicherungsträgern vorsah. Seither besteht innerhalb der Träger der Rentenversicherung der Arbeiter ein Finanzverbund. 615.
Wegen der Zunahme der Angestellten im Vergleich zu Arbeitern ist das
Verhältnis
zwischen
Beitragszahlern
Angestelltenversicherung
sehr
viel
und
Rentenbeziehern
günstiger
als
in in
der der
Arbeiterrentenversicherung. In der Angestelltenversicherung konnte daher mit gleichem Beitragssatz (seit 1942) ein höheres Leistungsniveau finanziert werden. Nachdem das Leistungsrecht beider Versicherungszweige seit 1957 angeglichen ist, hatte das unterschiedliche Verhältnis zwischen Beitragszahlem und Rentnern einen Vermögenszuwachs in der Angestelltenversicherung bei gleichzeitigen Finanzengpässen der Arbeiterrentenversicherung zur Folge. Man begegnete dem zunächst (1964) dadurch, daß der Bundeszuschuß nicht mehr in fester Relation an beide Versicherungszweige gezahlt wurde, sondern in kompensierendem Ausgleich. Als sich dies als unzureichend erwies, wurden 1969 unmittelbare Ausgleichszahlungen vorgeschrieben; sie sind seither von der Angestelltenversicherung zu zahlen, wenn und soweit die Schwankungsreserve der Rentenversicherung der Arbeiter insgesamt die Aufwendungen für einen halben Monat unterschreitet Zwischen den Versicherungszweigen findet ein Finanzausgleich statt.19
Kapitel 6: Finanzierung
616.
235
Das Problem unterschiedlicher Beitragssätze bei gleichem Leistungsrecht
verschärfte sich in der institutionell stark gegliederten Krankenversicherung in dem Maße, in dem der durchschnittliche Beitragssatz anstieg. Ursachen der Beitragssatzunterschiede beitragspflichtigen
sind
Einnahmen
vor
der
allem
Unterschiede
Versicherten,
in
der
in
Anzahl
den der
mitversicherten Familienmitglieder sowie in der Alters- und Geschlechtsstruktur der Versicherten. Diese Ursachen sind von den Versicherten nicht zu vertreten und von der einzelnen Krankenkasse nicht zu beeinflussen, weil deren Leistungsverpflichtungen nahezu ausschließlich vom Gesetzgeber bestimmt werden. 617.
Mit dem Ziel einer Verringerung der Beitragsatzunterschiede wurde 1967
ein Ausgleichsverfahren für die Ausgaben für Rentenbezieher eingeführt, um die
unterschiedliche
Rentnerdichte
bei
den
einzelnen
Krankenkassen
auszugleichen. Der Finanzierungsanteil der Krankenversicherung wurde so auf die Kassen verteilt, daß jeder erwerbstätig Versicherte mit einem gleichen Prozentsatz
seines
Rentenversicherung
Beitrages nicht
den
gedeckten
durch
die
Beitragszahlung
der
Teil
der
Ausgaben
die
für
Krankenversicherung der Rentner zu tragen hatte. Dieser Ausgabenausgleich wurde bald kritisiert, weil er dazu anreizt, möglichst viel der Ausgaben einer Kasse auf das Ausgleichskonto zu „verbuchen" und jedenfalls in diesem Ausgabenbereich nicht auf Wirtschaftlichkeit zu achten. Zu einem Extremfall hatte ein Krankenkassen-Landesverband mit den Ärzten für Rentner eine höhere Leistungsvergütung vereinbart als für die übrigen Versicherten. Gegen einen vollständigen
Ausgabenausgleich
spricht,
daß es
auch
Faktoren
für
Beitragssatzunterschiede gibt, die im Verhalten der Versicherten und der Verwaltung liegen. Auch wäre es nicht gerechtfertigt, die durch regionale Unterschiede
im
Angebot
medizinischer
Leistungen
bedingten
Ausgabenunterschiede auszugleichen. 618.
Um solche Wirkungen zu verhüten, mehr
Beitragsgerechtigkeit
herbeizuführen und notwendige Voraussetzung für einen Wettbewerb unter den Krankenkassen zu schaffen wurde 1992 ein Risikostrukturiausgleich eingeführt Damit werden die finanziellen Auswirkungen von Unterschieden in
236
Kapitel 6: Finanzierung
der Höhe der beitragspflichtigen Einnahmen, der Zahl der mitversicherten Angehörigen und der Verteilung der Versicherten nach Alter und Geschlecht ausgeglichen. Demnach werden also nicht tatsächliche Ausgaben, sondern standardisierte
Ausgabe-Determinanten
ausgeglichen.20
Diskutiert
wird
weiterhin, ob die im Gesetz genannten Determinanten ausreichend sind, oder ob nicht weitere, wie die Morbidität bestimmter Versichertengruppen oder die Zahl der Härtefälle (TZ 595) zu berücksichtigen seien. 619.
In
der
1995
eingeführten
Pflegeversicherung
ausgabenorientierter Finanzausgleich eingeführt ,
21
wurde
ein
Die Leistungsaufwendungen
werden von den Pflegekassen im Verhältnis ihrer Beitragseinnahmen getragen. Dies beinhaltet die oben genannten Nachteile des Ausgabenausgleichs, ist aber nicht zu vermeiden, wenn man sich für einen einheitlichen Beitragssatz für diesen Versicherungszweig entscheidet - was sachlich nicht zwingend ist.
4. Finanzierungsverfahren 620.
Der Finanzierungsbedarf und damit die Höhe des Beitragssatzes wird
auch durch das angewandte Finanzierungsverfahren determiniert. Es geht dabei um die Frage, ob die Beitragseinnahmen einer Periode (im Regelfall eines Jahres) so bemessen werden sollen, daß sie (nur) die Ausgaben dieser Periode decken, oder, ob aus den Einnahmen außerdem ein Kapital angesammelt werden soll. Im ersten Fall spricht man vom Umlageverfahren; sollen künftige Ldstungsansprüche aus dem angesammelten Kapital gedeckt werden, so spricht man vom Kapitaldeckungsverfahren, wie es für die Privatversicherung vorgeschrieben ist. Mit der Wahl des Finanzierungsverfahrens wird darüber entschieden,
ob
der
Finanzierungsbedarf
früher
(im
Falle
des
Kapitaldeckungsverfahrens) oder später (im Falle des Umlageverfahrens) gedeckt
werden
soll.
Für
die
Grundentscheidung
über
Finanzierungsverfahren ist auch von Bedeutung, ob es sich um Finanzierung kurz- oder langfristiger Leistungen handelt.
das die
Kapitel 6: Finanzierung
621.
Weil
die
Krankenversicherung
Leistungsverpflichtungen Umlageverfahren
hat,
entschieden,
wurde wie
bei es
nur
ihrer
bei
den
kurzfristige
Einführung bereits
237
für
das
bestehenden
Krankenkassen praktiziert wurde. Man schrieb allerdings vor, daß die Krankenkasse ein Vermögen in Höhe von drei Jahreseinnahmen ansammeln soll. Dieses aus heutiger Sicht hohe Rücklage-Soll wurde von der großen Mehrzahl der Krankenkassen niemals erreicht und später herabgesetzt. Im Krisenjahr
1932 entsprach das Vermögen der Krankenversicherung
Monatsausgaben.
Im
Zusammenhang
mit
9
finanziellen
Konsolidierungsmaßnahmen wurde damals die Rücklage auf höchstens 3 Monatsausgaben begrenzt. Im Zuge neuerlicher Konsolidierungsmaßnahmen wurde die Höchst-Rücklage 1979 abermals reduziert. Die Krankenkassen haben zum
Ausgleich
kurzfristiger
Einnahme-
und
Ausgabeschwankungen
Betriebsmittel in liquider Form zu halten, deren Höhe das 1,5-fache einer Monatsausgabe nicht überschreiten soll. Daneben haben sie eine Rücklage zu bilden, die Beitragssatzstabilität während eines Jahres gewährleisten soll; die Rücklage soll mindestens ein Viertel und darf das Einfache einer Monatsausgabe betragen.22 622.
In
der
Unfallversicherung
entstehen
langfristige
Leistungsverpflichtungen. Bei ihrer Einführung stand deren Schöpfern das in der privaten Versicherung übliche und notwendige Kapitaldeckungsverfahren vor Augen. Dort muß sichergestellt sein, daß vertragliche Verpflichtungen in Zukunft auch dann eingehalten werden können, wenn künftig keine Beiträge mehr eingehen. Folglich muß eine Kapitalsumme vorhanden sein, aus der alle gegenwärtigen und zukünftigen Verpflichtungen gedeckt werden können. Die Beitragseinnahmen der gegenwärtigen Periode müssen also höher sein, als den gegenwärtigen Ausgaben entspricht. Die Verfasser des Gesetzentwurfs über die Unfallversicherung hatten die Anwendung des Kapitaldeckungsverfahrens vorgesehen. Diesen Vorschlag lehnte Bismarck ab, um die Arbeitgeber nicht mit dem dadurch nötigen höheren Beitragssatz zu belasten.23 Auch hier wurde das Umlageverfahren angewandt. Die Unfallversicherungsträger haben lediglich Betriebsmittel und Rücklagen anzusammeln.
238
Kapitel 6: Finanzierung
623.
Der Gesetzgeber hat die Anwendung des Kapitaldeckungsverfahrens für
die Arbeitslosenversicherung nicht in Betracht gezogen. Der Beitragssatz wird gesetzlich festgesetzt, ohne daß Anhaltspunkte für dessen Höhe gegeben sind. Die Bundesregierung kann den Beitragssatz durch Rechtsverordnung zeitweilig senken. Der Gesetzgeber geht offenbar davon aus, daß der Beitragssatz im Normalfalle zu Überschüssen führt, und daß er über längere Zeiträume stabil bleiben soll. Aus den Überschüssen ist eine Rücklage zu bilden" die vorrangig dazu dient, die Zahlungsfähigkeit der Bundesanstalt bei ungünstiger Arbeitsmarktlage sicherzustellen". Über die Höhe der Rücklage ist nichts bestimmt. Da die Ausgaben der Arbeitslosenversicherung besonders schwankungsanfällig in Abhängigkeit von der Beschäftigungslage sind, ist eine Defizitfinanzierung durch den Bund vorgesehen. Kann der Finanzierungsbedarf aus den Einnahmen und der Rücklage nicht gedeckt werden, so gewährt der Bund Darlehen und gegebenenfalls Zuschüsse.24 Diese Konstruktion war motiviert und ist geeignet, Beitragssatzstabilität und antizyklische Wirkungen der Finanzierung herbeizuführen. Beide Effekte sind in der Praxis kurzfristig erreicht worden; auf längere Sicht hat man dies jedoch nicht durchgehalten. 624.
Wiederholt kam es zu Änderungen des Beitragssatzes in Abhängigkeit
zunächst von der Höhe der Rücklage und sodann von der Zuschußpflicht des Bundes. Schritte mit prozyklischen Wirkungen waren: Bei ansteigender Rücklage wurde der Beitragssatz 1955 gesenkt (von 4 auf 3 v.H.) und damit eine Anhebung des Beitragssatzes zur Rentenversicherung (von 10 auf 11 v.H.) kompensiert. Der Vorgang wiederholte sich 1957; der Anstieg des RV-Beitrages von 11 auf 14 v.H. wurde teilweise durch Absenken des Arbeitslosenversicherungsbeitrags von 3 auf 2 v.H. kompensiert. Nach weiterem Anstieg der Rücklage in einer Periode der Vollbeschäftigung Anfang der 60er Jahre bis auf mehr als das Siebenfache einer Jahresausgabe wurde die Beitragserhebung zeitweilig ganz ausgesetzt und dann der Beitragssatz gesenkt.
Kapitel 6: Finanzierung
239
Gleichwohl stieg die Rücklage weiter an bis zur Wirtschaftsrezession 1966/67. Der dadurch ausgelöste Abfall der Rücklage konnte bei gleichbleibendem Beitragssatz aufgefangen werden. Der ab 1970 einsetzende Abfall der Rücklage war durch die LeistungsVerbesserungen des Arbeitsförderungsgesetzes von 1969 bedingt. Er löste 1972 eine Erhöhung des Beitragssatzes aus. Der ab 1974 einsetzende Schwund der Rücklage war die Folge zunehmender Arbeitslosigkeit. Als 1975 erstmals die Zuschußpflicht des Bundes wirksam wurde, reagierte man mit mehrfachen Beitragserhöhungen. Diese Erhöhungen wirkten prozyklisch; sie wurden vorgenommen, um den Bundeshaushalt zu entlasten. 625.
Die
Diskussion
der
Finanzierungsverfahren
konzentriert
sich
insbesondere auf die Rentenversicherung und hat allein hier praktische Bedeutung erlangt. Allerdings hat die Entwicklung diese Diskussion weitgehend gegenstandslos werden lassen. Bei Einführung der Rentenversicherung war nicht strittig, daß man im Hinblick auf die langfristigen Verpflichtungen das Kapitaldeckungsverfahren anzuwenden habe. Allerdings wandte man es nicht uneingeschränkt an; es wurde vorgeschrieben, daß die Höhe der Beiträge für einen 10-jährigen Zeitraum so zu bemessen ist, daß gedeckt werden kann (neben anderen Ausgaben) "der Kapitalwert der von der Versicherungsanstalt aufzubringenden Anteile an denjenigen Renten, welche in dem betreffenden Zeitraum voraussichtlich zu bewilligen sein werden".2S Diese Abweichung vom reinen Kapital deckungsverfahren trug bereits dem Umstand Rechnung, daß eine obligatorische Versicherung mit künftigen Beitragseinnahmen rechnen kann. Immerhin wurde bereits in den ersten 10 Jahren ein Kapital angesammelt, daß 14 Jahresausgaben zu Lasten der Versicherungsträger entsprach. 626.
Die weitere Entwicklung verlief wie folgt: Ein Kapital in Höhe von rd.
11 Jahresausgaben (zu Lasten der Versicherungsträger) ging, weil als Kriegsanleihe gezeichnet, in der Inflation nach dem ersten Weltkrieg verloren; ein wieder angesammeltes Kapital in Höhe von rd. 7 Jahresausgaben (zu Lasten der Versicherungsträger) ging mit dem zweiten Weltkrieg verloren. Ungeachtet dessen bestand bis 1957 die gesetzliche Vorschrift, daß der Beitragssatz nach
240
Kapitel 6: Finanzierung
dem Anwartschaftsdeckungsverfahren zu berechnen sei. Die Erfahrung, daß der Staat die von Trägern der sozialen Sicherung angesammelten Kapitalbeträge konfisziert, sind weltweit immer wieder gemacht worden. "Zu oft sind diese großen Kapitalansammlungen mißbraucht und vergeudet worden, denn sie bilden außerordentliche Versuchungen."26 627.
Erst
anläßlich
der
Rentenreform von
Abschnittsdeckungsverfahren
Uber.
Es
1957
ging
handelte
sich
man
zum
um
eine
Zwischenlösung zwischen den beiden grundsätzlichen Alternativen: Zwar wurde auf die volle Kapitaldeckung aller künftigen Ansprüche verzichtet, doch wurde nicht die reine Umlage durchgeführt. Der Beitrag war so festzusetzen, daß er während einer bestimmten Periode konstant gehalten werden konnte. Es wurde bestimmt, daß der Beitrag für einen zehnjährigen Deckungsabschnitt so festzusetzen sei, daß nach Deckung aller Ausgaben am Ende des Abschnitts eine Rücklage in Höhe der Ausgaben des letzten Jahres
zu Lasten
des
Versicherungsträgers verbleibt. Die Anforderungen an die Kapitalbildung waren zwar reduziert, doch blieb unbeantwortet - und unbeantwortbar -, wozu die EinJahresrücklage dienlich sei: Sie konnte allenfalls als Stabilisator kurzfristiger konjunktureller Kapitalverzehr
Schwankungen im
(Kapitalsammlung
Abschwung)
sowie
als
im
Aufschwung,
Finanzierungsquelle
für
Sozialinvestitionen (insbesondere Wohnungsbau) gerechtfertigt werden. Hier lag jedoch ein Zielkonflikt vor Die konjunkturelle Stabilisierungsfunktion erforderte hohe Liquidität der Rücklage, die soziale Investitionsfunktion erforderte langfristige Anlage. 628.
Wegen des Fehlens einer Primärfunktion der Rücklage und der
Konflikte hinsichtlich der Sekundärfunktionen fiel es nicht schwer, in einer Phase
steigenden
Umlageverfahren
Finanzierungsbedarfs überzugehen.
27
1969
endgültig
zum
Einzige Bedingung für die ad-hoc
vorzunehmende Festlegung des Beitragssatzes nach Maßgabe der 15-jährigen Vorausrechnung (TZ 555) ist seither, daß eine
"Schwankungsreserve"
vorhanden ist, deren Höhe damals auf 3 Monatsausgaben, später (1977) auf eine
Monatsausgabe
Schwankungsreserve
festgelegt ist
die
wurde.
Vermeidung
Einzige
Funktion
kurzfristiger,
dieser
antizyklischer
Kapitel 6: Finanzierung
241
Schwankungen des Beitragssatzes in Abhängigkeit von der Konjukturlage. Sie muß deshalb leicht liquidisierbar sein. Dem dienen Vorschriften über die Mindestliquidität und einen Liquiditätsausgleich unter den Trägern der Rentenversicherung (TZ 614). 629.
Die für Deutschland geschilderte Entwicklung erweist
sich im
internationalen Vergleich als typisch. Die Entwicklung hat bei allen gesetzlichen Rentenversicherungen, die die gesamte oder große Teile der Bevölkerung umfassen, zur Anwendung des Umlageverfahrens geführt. Kapitalbildung wird begrenztem
nur noch vereinzelt für Sonder-Institutionen
Mitgliederkreis angestrebt,
so
z.B.
in
einigen
mit
deutschen
berufsständischen Versorgungswerken. Der Übergang zur Umlagefinanzierung wurde durch die Macht der Verhältnisse bewirkt. Ein bewußter Verzicht auf Kapitalansammlung wurde erstmals 1943 vorgeschlagen. "Ein Staat mit der Macht, aufeinanderfolgende Generationen zu verpflichten, sich zu versichern und Steuern zu erheben, ist von der Verpflichtung befreit, Reserven für statistische
anzusammeln".28
Zwecke
weitestgehend geteilt
29
630.
Plädoyers
Vereinzelte
für
Inzwischen
eine
wird
diese
Wiedereinführung
verstärkter
Kapitalbildung argumentieren, daß dieses Kapital investiert und wirtschaftliches
Wachstum
Investitionsargument
gefördert
werden
könne.
steht entgegen, daß Investitionen
Ansicht
damit Dem
nicht durch
verfügbares Kapital, sondern durch gewinnversprechende Investitionsgelegenheiten begrenzt werden. Das Argument geht von der Annahme aus, daß Umlagefinanzierung die volkswirtschaftliche Sparquote reduziere. Dem ist entgegenzuhalten, daß die volkswirtschaftliche Sparquote
in den
letzten
Jahrzehnten nicht gefallen ist, und daß rentable Investitionen nicht wegen Kapitalmangels unterbleiben. Es ist nicht erwiesen, daß die Ersparnis einer Volkswirtschaft durch Umlagefinanzierung der sozialen Sicherung reduziert wird.30 631.
Verstärkte Kapitalbildung wird auch mit dem Entlastungsargument
befürwortet, weil die zu erwartenden Zinseinnahmen aus dem angesammelten
242
Kapitel 6:
Finanzierung
Kapital die spätere Beitragsbelastung vermindern könne. Doch bei umfassender Versicherungspflicht sind es die Beitragspflichtigen, die auch die Kosten der Zinseinnahmen in Form erhöhter Steuern oder Preise aufzubringen hätten. "Es gelingt nicht, den Vermögensaufbau für zusätzliche Investitionen zu verwenden und damit die Rentenfinanzierung aus zukünftigen Vermögenserträgen, d.h. ohne Belastung der künftigen Einkommen, zu finanzieren".31 Dem liegt die Tatsache zugrunde, daß bei Versicherungspflicht für alle Erwerbstätigen und voller Kapitaldeckung eine Kapitalsumme in Höhe des Doppelten bis Dreifachen des Sozialprodukts erforderlich wäre. Solche Summen könnten nicht rentierlich angelegt werden. Im übrigen käme es in diesem Falle wie auch im Falle eines konsequent durchgeführten Systems der Eigenvorsorge in Form privaten (Zwangs-)Sparens letztlich zu einer Umlagefinanzierung. Während also die künftige Generation durch Kapitalbildung nicht entlastet werden kann, so ist es unvertretbar, die gegenwärtige Generation durch Kapitalbildung zusätzlich zu belasten.
V. Umverteilungswirkungen a) Definitionen und Abgrenzungen 632.
Soziale
Sicherung
steht
unter
den
Zielsetzungen
des
Einkommensersatzes, der Entschädigung oder der Bedarfsdeckung (TZ 19). Die Erreichung aller drei Ziele erfordert Einkommen.
Das
primäre
leistungsauslösenden
Ziel
Tatbestände,
notwendig
Umverteilung
von
Entscheidungen
Uber
die
Leistungsberechtigung,
von die die
Leistungsbemessung sowie über die Finanzierung der Leistungen ist die Herbeiführung sozialer Sicherung. Die Umverteilung ist Instrument zur Erreichung dieses Zieles. Deshalb finden sich - im Gegensatz zu vielen nachträglichen Analysen - in den Materialien zur Begründung gesetzgeberischer Entscheidungen
kaum
Ausführungen
zur
Umverteilung.
Eigenständige
Umverteilungsziele werden oft erst in Befunde hineininterpretiert oder durch Werturteil des Autors gesetzt. Die wissenschaftliche Diskussion Uber die
Kapitel 6: Finanzierung
243
Finanzierung der sozialen Sicherung und ihre Umverteilungswirkungen im makroökonomischen Zusammenhang begann erst in den 50er Jahren. Sie bezieht sich auf das Ausmaß, die Kriterien und die Rechtfertigung der Umverteilung. 633.
Befunde
über
Umverteilungswirkungen
müssen
mit
einem
grundsätzlichen Vorbehalt interpretiert werden: Aussagen über die Wirkungen der durch ein System der sozialen Sicherung bewirkten Umverteilung müßten letztlich von der Frage ausgehen, welche Situation ohne die Existenz dieses Systems gegeben wäre. Diese Frage läßt sich nicht beantworten. Man müßte von der Annahme ausgehen, daß ein Wegfall öffentlicher Sozialleistungen sämtliche durch sie bewirkten Umverteilungsvorgänge zum Erliegen bringt. Diese Annahme ist unrealistisch. Die Gesellschaft würde andere Formen und Institutionen der Umverteilung entwickeln, so wie es Umverteilungsvorgänge gab, ehe öffentliche Sozialleistungen eingeführt wurden. Die Frage kann sich daher nur darauf richten, ob die zur Erreichung des Zieles sozialer Sicherung instrumental unerläßliche Umverteilung zweckmäßig gestaltet ist. 634.
Das in der Finanzwissenschaft behandelte Problem der formalen und
effektiven Belastung durch Steuern und Beiträge (Inzidenz) wird hier nicht erörtert. Maßgebend dafür ist vor allem, daß diese Diskussion nicht zu verwertbaren Einsichten geführt hat. "Eine Analyse der effektiven Inzidenz stößt auf enge Grenzen, da meist mit schwer nachweisbaren Annahmen gearbeitet werden muß und nur unzulängliches empirisches Material zur Verfügung steht. Infolgedessen gibt es kaum gesicherte Vorstellungen über die effektiven Verteilungswirkungen der negativen Transfers. Aus sachlichen Gründen können auch nur in beschränktem Maße bessere Einsichten werden. 635.
gewonnen
1,32
Hinsichtlich der Umverteilungsarten unterscheidet man zweckmäßig
zwischen einer Umverteilung nach Maßgabe der Einkommenshöhe (vertikale Umverteilung) und einer Umverteilung nach anderen Kriterien (horizontale Umverteilung). Unter diesen anderen Kriterien sind solche individueller Natur, wie z.B. die Krankheitshäufigkeit oder die Lebensdauer. Eine durch solche
244
Kapitel 6:
Finanzierung
Kriterien bewirkte Umverteilung wird als Risikoausgleich bezeichnet. Dieser Risikoausgleich ist zentrales Instrumentarium eines durch Beitragszahlung finanzierten Systems der sozialen Sicherung; das Problem Definition dessen,
was als Risiko angesehen
werden
besteht in der soll
und
was
demgegenüber als "echte" horizontale Umverteilung anzusehen ist. Die vielfältigen Umverteilungsvorgänge im System der sozialen Sicherung bedürfen differenzierter Betrachtung nach den verschiedenen Sicherungsinstitutionen. Für die Rentenversicherung wird von manchen Autoren zwischen interpersonaler und intertemporaler Umverteilung unterschieden. Hierauf ist näher einzugehen, weil aus dieser Unterscheidung normative Vorstellungen abgeleitet werden.
b) Intertemporale Umverteilung als Modellvorstellung 636.
Zu dem Begriffspaar interpersonale und intertemporale Umverteilung ist
festzustellen, daß jede Art der Umverteilung notwendig interpersonal ist. Die Vorstellung der intertemporalen Umverteilung bezieht sich auf einen Zeitraum, sie kann jedoch nur mittels einer interpersonalen Umverteilung in zwei Zeitpunkten verwirklicht werden. Die intertemporale Umverteilung ist eine Modellvorstellung
zur
Veranschaulichung
und
Rechtfertigung
der
Beitragsfinanzierung und der Einkommensbezogenheit der Leistungen der Rentenversicherung.
Sie
liegt
auch
dem
populären
Begriff
33
"Generationenvertrag" zugrunde. Die Vorstellung geht vom Sparvorgang aus, bei dem auf eine Phase des Ansparens und der Verzinsung des Kapitals während des Erwerbslebens eine Phase des Entsparens im Alter folgt. Nach dem individuellen Äquivalenzprinzip entsprechen sich Leistung und Vorleistung im Einzelfall. Zusätzlich zum Sparvorgang erfolgt bei der Versicherung ein Risikoausgleich insbesondere im Hinblick auf die Lebenserwartung. Es wird zusätzlich das allgemeine Äquivalenzprinzip angewandt, nach dem sich die Summe der Vorleistungen und die Summe der Leistungen im Durchschnitt entsprechen. 637.
Nach dieser Vorstellung kann man ermitteln, wie hoch bei gegebenem
Verhältnis zwischen Beitragszahlern und Leistungsberechtigten und
bei
Kapitel 6: Finanzierung
Zugrundelegung
bestimmter
Annahmen
(insbesondere:
245
Stabile
Einkommensersatzrate, Zinssatz gleich Lohnsteigerungssatz) der Beitragssatz sein würde, wenn allein intertemporale Umverteilung und Risikoausgleich bewirkt werden sollte. Die Vorstellung dient also der Erkenntnis der zusätzlich stattfindenden Umverteilung. Sie vermittelt außerdem die Einsicht, daß die Umlagefinanzierung aus der Sicht des Versicherten im Lebenslauf zum gleichen Ergebnis führt wie die Finanzierung durch Kapitaldeckung. Unter der Annahme, daß Zinssatz und jährliche Lohnsteigerung langfristig gleich sind, und
der weiteren Annahme
eines
kompensiert die Dynamisierung der Verzinsung der Beiträge. 638.
lebenslang
gleichen
Leistungen
Beitragssatzes
die nicht
vorhandene
34
Aus der Modellvorstellung der intertemporalen Umverteilung wird die
Forderung abgeleitet, allein diesen intertemporalen Ausgleich und den Risikoausgleich durch Beiträge zu finanzieren. Eine daneben angestrebte Umverteilung nach anderen Kriterien solle hinsichtlich der Mittelaufbringung und auch institutionell vom Risikoausgleich getrennt werden. Dies diene einer verbesserten Transparenz, einer Förderung zusätzlicher freiwilliger Sicherung und größerer Gerechtigkeit "denn die unbedingt erforderliche Umverteilung kann besser im Rahmen eines alle Mitglieder der Gesellschaft umfassenden progressiven Steuersystems als durch die Erhebung einkommensproportionaler Beiträge
von
einem
mehr
oder
weniger
willkürlich
abgegrenzten
Versichertenkreis herbeigeführt werden".35 639.
Dies gilt sicher in besonderem Maße für die gelegentlich erhobene
Forderung, in die Alterssicherung auch eine Umverteilung
nach
der
Einkommenshöhe einzubauen. Diese Forderung knüpfte sich an die sogenannte "Rentenschere" an, die sich daraus ergibt, daß bei prozentual gleicher Erhöhung der absolute Abstand zwischen niedrigen und hohen Renten größer wird. Die Kritik an diesem Sachverhalt ist unverständlich. Während des Versichertenlebens nimmt man 40 oder 45 Jahre lang eine Differenzierung der Einkommenshöhe nach wie immer gearteten marktwirtschaftlichen Kriterien nicht nur hin, sondern fordert in dieser Beziehung auch staatliche Abstinenz, indem man die Tarifvertrags-Autonomie betont. Schwer nachvollziehbar ist
246
Kapitel 6: Finanzierung
deshalb der Vorschlag, daß der Staat für die letzten Lebensjahre nicht nur legitimiert, sondern gefordert sein soll, diese Einkommensdifferenzierung zu korrigieren. 640.
Die
der
Modellvorstellung
der
intertemporalen
zugrundeliegenden Annahmen entsprechen nicht
der
Umverteilung
Realität.
In
der
Vergangenheit hat es weder ein konstantes Verhältnis zwischen Beitragszahlern und Leistungsberechtigten, noch eine stabile Einkommensersatzrate gegeben. Das seit der Rentenreform von 1957 deutlich erhöhte Rentenniveau erforderte einen Beitragssatz von zunächst 14, später Uber 19 v.H. Die Empfänger dieser Renten hatten jedoch während ihres Erwerbslebens weit geringere Beitragssätze zu entrichten. Die Erhöhung der Einkommensersatzrate und das enger gewordene Verhältnis zwischen Beitragszahlern und Leistungsberechtigten waren die entscheidenden Ursachen für den erheblichen Anstieg des Beitragssatzes während der letzten Jahrzehnte. Die Leistungen an die heutigen Rentner könnten mit dem Beitragssatz, den diese seinerzeit als Erwerbstätige gezahlt haben, nicht finanziert werden. Die steigende Altersquote wird auch in Zukunft einen
steigenden
Belastungsverschiebung
Beitragssatz
bewirken.
Insofern
liegt
eine
zwischen Generationen vor, die durch die
Vorstellung einer auf das Individuum bezogenen intertemporalen Umverteilung nicht gedeckt ist. 641.
Die Belastungsänderungen
zwischen
Altersgruppen
sowie
ihre
Abhängigkeit von demographischen Daten verdeutlichen den Modellcharakter der intertemporalen Umverteilung; ferner wird erneut der instrumentale Charakter
dieser
Art
Umverteilung
deutlich.
Denn
die
notwendigen
Entscheidungen Uber die Höhe der Einkommensersatzrate und die Art der Finanzierung wurden in der Vergangenheit und werden sicherlich auch in Zukunft unter vielerlei Gesichtspunkten, aber jedenfalls nicht unter demjenigen einer intergenerativen Gerechtigkeit gefällt. Es wäre nicht zutreffend, die demographisch bedingten langfristigen Belastungsänderungen als Umverteilung zu bezeichnen; da sie extern bedingt sind, sollte man sie als Datum ansehen und könnte sie allenfalls als intergenerationalen Risikoausgleich bezeichnen.
Kapitel 6: Finanzierung
642.
247
Die Belastungsänderungen im Zeitablauf sind auch der Grund dafür, daß
der Äquivalenzbegriff in Form der Beitragsäquivalenz (TZ 44) in
der
gesetzlichen Rentenversicherung in der zeitlichen Dimension nicht anwendbar ist. Sie kann nur definiert werden als Teilhabeäquivalenz (TZ 364) innerhalb eines Jahrgangs. Die Leistungen stehen zueinander im gleichen Verhältnis wie die früher gezahlten Beiträge.
c) Vertikale Umverteilung 643.
Eine spezielle Auffassung der sozialen Sicherung meint, daß es zu deren
Aufgaben gehöre,
insgesamt eine Verminderung
der
Ungleichheit
der
personalen Einkommensverteilung, d.h. eine vertikale Umverteilung zu bewirken.
Hiervon
Umschichtung
der
Erwerbstätigen
ausgehend
wird
Einkommen
zu den
kritisierend
findet im
Nichterwerbstätigen
festgestellt:
wesentlichen statt.
nur
Hingegen
"Eine
von
den
wird
der
sozialpolitische Ausgleich zwischen wirtschaftlich starken und sozial schwachen Gruppen, ... durch die hohe Belastung der Arbeitnehmereinkommen mit Sozialabgaben beeinträchtigt. Die ... Aufbringungspolitik wirkt insoweit nicht redistributiv".36 In der tagespolitischen Diskussion wird gegen die soziale Sicherung eingewandt, daß sie lediglich eine Umverteilung "von der linken in die rechte Tasche" bewirke, oder daß die Gesicherten sich selbst sichern. Solche Auffassungen verabsolutieren das Ziel der vertikalen Umverteilung, das in dieser Form nicht dokumentiert ist, sie übersehen die Zielsetzungen des Einkommensersatzes, des Risikoausgleichs und der Entschädigung; sie sind auch nur bedingt zutreffend. 644.
Empirische B e f u n d e zeigen in der Tat, daß das System der sozialen
Sicherung
nur
in
geringem
Umfang
eine
Verminderung
der
Einkommensungleichheit bewirkt. Doch solche Ergebnisse besagen wenig. Einerseits wäre ein System der sozialen Sicherung auch dann notwendig und funktionsfähig, wenn
es
die
personale
Einkommensverteilung
weniger
verändern würde. Andererseits ist nicht vorstellbar, daß ein System keine Verminderung der Einkommensungleichheit zur Folge hat. Erstens dient ein Teil
248
Kapitel 6: Finanzierung
seiner Leistungen ausdrücklich der Bedarfsdeckung. Zweitens wird auch durch Leistungen,
die
nach
dem
Einkommen
bemessen
einkommensproportionaler Beiträge finanziert werden, Umverteilung
zwischen
Erwerbstätigen
und
und
mittels
allein durch
Nichterwerbstätigen
die die
Ungleichheit vermindert. 645.
Dies gilt um so mehr, je höher der Steueranteil an der Finanzierung
des Systems ist, und je höher der Anteil der direkten, progressiv bemessenen Steuern am gesamten Steueraufkommen ist. Die in dieser Hinsicht erreichbaren Wirkungen werden jedoch häufig überschätzt. Es ist errechnet worden, welche Wirkungen eintreten würden, wenn die deutsche Rentenversicherung statt zu etwa 20 v.H. ganz aus Steuermitteln finanziert würde.37 Im ganzen erwiesen sich die Effekte einer solchen Umstellung als nicht sehr stark. Immerhin würde, wenn die Beiträge ganz durch direkte Steuern ersetzt würden, die Belastung bei Arbeitern, Nichterwerbstätigen und dem letzten Einkommensquintil gemindert. 646.
Würden die Beiträge durch indirekte Steuern ersetzt, so würde sich
die Belastung der Nichterwerbstätigen (zumeist Sozialleistungsempfänger) sowie des letzten Einkommensquintiis erhöhen und nur diejenigen der Arbeiter etwas vermindern. Würden die Beiträge je zur Hälfte durch direkte und indirekte Steuern ersetzt, so würde sich gleichfalls die Belastung der Arbeiter etwas vermindern,
diejenige
der
Nichterwerbstätigen
und
des
letzten
Einkommensquintiis unverändert bleiben. Dieses Ergebnis dürfte darin begründet sein, daß die indirekten Steuern nicht in dem Maße regressiv wirken, wie in der sozialpolitischen Literatur lange unterstellt wurde; ursächlich dafür ist die
geringe
Steuerbelastung
von
Grundbedürfnissen
und
die
überdurchschnittlich hohe Belastung einkommenselastischer Güter. Nach Erörterung verschiedener zu dieser Frage vorliegenden Untersuchungen wurde gefolgert, es müsse "die traditionelle Annahme einer durchgängigen, stark ausgeprägten Wirkung der indirekten Steuern modifiziert werden".38 647.
Eine vertikale Umverteilung vollzieht sich im Rahmen der gesetzlichen
Krankenversicherung. Deren Dienst- und Sachleistungen - d.h. etwa 90 v.H. ihrer Ausgaben - werden nach Maßgabe des Leistungsbedarfs erbracht.
Kapitel 6: Finanzierung
249
Würde in der Krankenversicherung allein ein Risikoausgleich angestrebt, so müßten einheitliche Beiträge erhoben werden. Demgegenüber erfolgt die Finanzierung der Leistungen durch einkommensproportionale Beiträge. Die Spanne zwischen Mindest- und Höchstbeitrag beträgt etwa 1:7. Dieser Einkommensausgleich hat sich im Laufe der Entwicklung dadurch ergeben, daß die ursprünglich überwiegenden, einkommensbezogenen Geldleistungen an Bedeutung verloren haben und der Beitragssatz erheblich angestiegen ist. Die vertikale
Umverteilung
vollzieht
sich
jedoch
nur
innerhalb
der
Einkommensbezieher unterhalb der Versicherungspflichtgrenze (TZ 257).
d) Risikoausgleich 648.
Der Risikoausgleich ist zentrales Instrument eines beitragsfinanzierten
Systems der sozialen Sicherung. Die durch ihn bewirkte Umverteilung ist daher kein Problem der Politik der sozialen Sicherung; problematisch ist allein die Definition des Risikos. Als Risiko anzusehen ist zweifelsfrei die beim Leistungsberechtigten auftretende Häufigkeit und Dauer leistungsauslösender Tatbestände. In anderen Fällen, wie z.B. der Leistungsberechtigung von Familienangehörigen (TZ 266) oder bedarfsbedingten Modifikationen der Leistungshöhe (TZ 380), kann man, wenn es sich um beitragsfinanzierte Leistungen handelt, der Meinung sein, daß sie nicht mehr zum Risikoausgleich gehören, sondern zur Umverteilung. Hinsichtlich der Frage, ob ein bestimmter Vorgang noch als Risikoausgleich oder schon als horizontale Umverteilung angesehen werden kann oder soll, gibt es keine allgemeine Übereinstimmung. Viele Untersuchungen
zu Umverteilungsfragen neigen
zu
einer
engen
Begrenzung des Risikobegriffes. Nachstehend wird für einige solcher Vorgänge begründet, warum sie hier als Risikoausgleich angesehen werden. 649.
Frauen (im Alter 60) haben eine um 4 Jahre längere Lebenserwartung
als gleichaltrige Männer. Man kann fragen, ob die entsprechend längere Rentenbezugsdauer
als begünstigende Umverteilung oder
als
Teil
des
Risikostrukturausgleichs anzusehen ist. Unterschiede in der Lebenserwartung sollten generell als Teil des Risikoausgleichs angesehen werden. Es ist reiner
250
Kapitel 6: Finanzierung
(statistischer)
Zufall, daß
die Lebenserwartung
nach
dem
Geschlecht
differenziert ermittelt werden kann; zweifellos gibt es daneben
weitere
gruppenspezifische Differenzierungen der Lebenserwartung. Es gibt jedoch keine konsensfähigen Kriterien, um solchen Differenzierungen Rechnung zu tragen. Partielle Entscheidungen würden als willkürlich empfunden werden und neue Diskussionen auslösen. 650.
Gemessen
am
Äquivalenzprinzip
kann
die
abgeleitete
Hinterbliebenenrente als Begünstigung des verheirateten zu Lasten des unverheirateten Versicherten angesehen werden; letzterer zahlt aus dieser Sicht einen zu hohen Beitragssatz. Dem kann jedoch schon deshalb nicht Rechnung getragen werden, weil man im Zeitpunkt der Beitragszahlung nicht weiß, wer unverheiratet bleiben oder demnächst sein wird. Sowohl der geringe Anteil lebenslang Unverheirateter als auch die historische Enstehungsgeschichte der Hinterbliebenensicherung
(TZ 266)
legen es
nahe,
vom
verheirateten
Versicherten als Normalfall auszugehen und die Hinterbliebenensicherung als Teil des versicherten Risikos anzusehen. Die Alternative wäre die Ersetzung des abgeleiteten Hinterbliebenenanspruchs durch eine eigenständige Sicherung aller Personen mittels umfassender Beitragspflicht (TZ 277). 651.
Die Begründungen für die Existenz besonderer Altersgrenzen z.B. für
Frauen, Behinderte und Arbeitslose (TZ 178 0 sollte Anlaß zu der Folgerung sein, die durch die längere Rentenlaufzeit bewirkten erhöhten Ausgaben nicht als Umverteilung, sondern als Risikoausgleich anzusehen. Hierfür spricht die Erwägung, daß bei Fehlen dieser besonderen Altersgrenzen alternativ in vielen Fällen Leistungen wegen Invalidität oder Arbeitslosigkeit erbracht werden müßten. Begrenzungen des Risikos sollten durch die Formulierung von Zusatzbedingungen,
wie
z.B.
ausreichende
Versicherungsdauer,
Behinderungsgrad oder Dauer der Arbeitslosigkeit vorgenommen werden. 652.
Da die Krankheitshäufigkeit mit dem Alter steigt, (TZ 97) die Beiträge
zur Krankenversicherung jedoch nicht nach dem Alter differenziert sind, findet eine Umverteilung zugunsten älterer und zulasten jüngerer Versicherter statt. Es dürfte umso weniger fraglich sein, daß diese Umverteilung als Risikoausgleich
Kapitel 6: Finanzierung
251
anzusehen ist, als sich die altersspezifische Belastung und Begünstigung normalerweise im Laufe des Lebens eines Versicherten ausgleichen. Nur im Falle späten Eintritts in die Versicherung kommt es auch per Saldo zu einer Begünstigung. e) Horizontale Umverteilung 653.
Horizontale Umverteilung liegt nur für einen begrenzten Bereich
aller öffentlichen Sozialleistungen vor. Sie liegt nicht vor bei allen Leistungen, die
nach
dem
Bedarf
bemessen
werden
(Sozialhilfe,
Wohngeld,
Pflegeleistungen, Kindergeld, Ausbildungsförderung). Sie liegtauch nicht vor bei Leistungen, die der Entschädigung dienen und nach dem Grad der Behinderung bemessen werden, (soziale Entschädigung,
Leistungen
der
Unfallversicherung an Erwerbstätige) sowie für Einkommensersatzleistungen, die direkt und proportional auf das vorherige Einkommen bezogen sind, wie die Leistungen
der
Rentenversicherungen
und
die
Leistungen
Unfallversicherung an Nicht-Erwerbstätige. Die Frage nach
der
horizontaler
Umverteilung grenzt sich somit ein auf die Bereiche der Renten- und Krankenversicherung. Hier erfolgt horizontale Umverteilung, soweit Beiträge und Leistungen (einer Person oder Personengruppe) einander nicht äquivalent sind und soweit die Abweichung von der Äquivalenz nicht vertikale Umverteilung
oder
Risikoausgleich
ist.
Dabei
ist
nicht
eine
versicherungstechnische Äquivalenz im Sinne numerischer Entsprechung von Leistung und vorherigem Beitrag (wie in der Privatversicherung üblich) angesprochen, sondern die Tatsache, daß sich die Höhe der Leistungen zueinander im jetzigen Zeitpunkt zueinander verhält, wie sich Anzahl und Höhe der
Beiträge
früher
zueinander
verhalten
haben
(Teilhabeäquivalenz).
Horizontale Umverteilung findet statt in Bezug auf das frühere Einkommen, die Versicherungsdauer, den Familienstand; weiter gibt es regionale und sektorale Umverteilungsvorgänge. 654.
Bei der Bemessung der Altersrente werden
auch
Zeiten
ohne
Beitragsleistung berücksichtigt (TZ 352 f)i ferner gibt es die partiellen Begünstigungen hinsichtlich der Altersgrenze und schließlich kann man geltend
252
Kapitel 6: Finanzierung
machen, daß die Ursachen bestimmter Leistungen kriegsbedingt sind. Solche Regelungen werden in der Tagesdiskussion auch als versicherungsfremde Leistungen bezeichnet. Damit soll ausgedrückt werden, daß sie nicht zum genuinen Risiko der Versicherung gehören und deshalb von anderen Leistungsträgern oder aus Steuermitteln zu erstatten seien. Diese Diskussion hat jedoch nie zu konkreten
Ergebnissen
geführt, weil der Begriff der
versicherungsfremden Leistung gesetzlich nicht definiert ist und auch in der Literatur kein Konsens Uber ihn besteht (TZ 585). Wichtiger als die Frage nach der Versicherungsfremdheit horizontaler Umverteilungsvorgänge ist die Frage nach deren Zweckmäßigkeit und Auswirkung. 655.
In der Rentenversicherung
findet Umverteilung
in Form
einer
Einkommenskorrektur statt durch die Rente nach Mindesteinkommen und die Mindestbewertung der ersten 5 Versicherungsjahre (TZ 348). 656.
Zur Sicherstellung einer angemessenen Einkommensersatzrate werden in
der Rentenversicherung beitragslose Zeiten angerechnet (TZ 352 f)- Die Berücksichtigung von Anrechnungszeiten, also Zeiten einer Krankheit, Arbeitslosigkeit
oder
einer
Ausbildung,
sowie
die
Anrechnung
der
Zurechnungszeit stellt eine horizontale Umverteilung zugunsten der betroffenen Personengruppen dar. Das gleiche gilt für die Kindererziehungszeit, für die eine Finanzierung aus Steuermitteln besonders nahe liegt. 657.
Hingegen sind die Fremdzeiten, also die Anrechnung von Beitrags-
und Beschäftigungszeiten für Zuwanderer nicht als Umverteilung anzusehen. Im Rahmen des Umlageverfahrens finanzieren junge Zuwanderer mit ihren Beiträgen die Leistungen an ältere Zuwanderer. Hätte man für die nach dem Kriege
nach
Deutschland
zugewanderten
Personen
eine
besondere
Rentenversicherungs-Institution geschaffen, so hätte diese aus Beiträgen der erwerbstätigen Zuwanderer finanziert werden können, weil die Relation zwischen Beitragszahlern und Rentnern unter den Zuwanderern derjenigen der übrigen Bevölkerung entsprach.
Kapitel 6: Finanzierung
658.
253
Die Anrechnung von Ausbildungszeiten bewirkt insbesondere für
Hochschulabsolventen eine Rentenerhöhung.
Hier treten in
erheblichem
Umfange Ausbildungskosten als Kosten der Alterssicherung in Erscheinung. Hinzu kommt, daß eine inverse Umverteilung nach der Einkommenshöhe stattfindet. Renten für Personen mit langer Ausbildungszeit und daher höherem Einkommen werden mitfinanziert von Personen mit kurzer Ausbildungszeit und daher geringerem Einkommen. 39 659.
Das oben referierte Ergebnis, wonach alternative Finanzierung der
Rentenversicherung
durch
Steuern
oder
Umverteilungswirkungen hat, (TZ 645)
Beiträge
keine
wesentlichen
beruht vor allem darauf,
daß
Beitragszahler und Steuerzahler weitgehend identisch sind. Ist dies bei kleineren Versichertengemeinschaften nicht der Fall, so bewirkt Steuerfinanzierung Umverteilung insbesondere, wenn der Steueranteil an der Gesamtfinanzierung höher ist als bei der allgemeinen Rentenversicherung. Dies trifft für die knappschaftliche Rentenversicherung und die Alterssicherung der Landwirte zu. In diesen Fällen liegt eine intersektorale Umverteilung vor. Diese ist allein mit Argumenten der sozialen Sicherung nicht zu begründen; sie ist Instrument der Einkommenspolitik und wird auch als solches gerechtfertigt. 660.
Eine
gewichtige
horizontale
Umverteilung
liegt
in
der
Krankenversicherung in Form eines Familienlastenausgleichs vor. Auch die nicht erwerbstätigen Angehörigen des Versicherten erhalten Leistungen zur Gesundheitssicherung.
Dadurch bewirkt
die
Krankenversicherung
einen
Bedarfsausgleich nach dem Familienstand, der (gemessen an einem je Person zu entrichtenden Beitrag) bei mehreren Familienmitgliedern größer ist als der durch das Kindergeld bewirkte Ausgleich. Entlastet sind insbesondere Erwerbstätige, die mehrere Kinder haben, und deren Ehepartner nicht erwerbstätig ist. Belastet sind kinderlose Erwerbstätige, insbesondere wenn deren Ehepartner ebenfalls erwerbstätig und damit beitragspflichtig ist. 661.
Es ist bezweifelt worden, "ob es notwendig ist, daß die gesetzliche
Krankenversicherung auch Funktionen des Familienlastenausgleichs erfüllt... Aus grundsätzlicher, auch aus manchen praktischen Erwägungen wäre eine
254
Kapitel 6: Finanzierung
saubere
Funktionsteilung
vorteilhaft".40
Eine
zwischen
solche
den
verschiedenen
Funktionsteilung
würde
Einrichtungen erfordern,
daß
Versicherte für jeden mitversicherten Familienangehörigen einen gesonderten Beitrag entrichten. Der für Kinder erforderliche Beitrag wäre durch Erhöhung des Kindergeldes zu kompensieren. Zu entscheiden wäre, ob die Sonderbeiträge ebenfalls proportional
zum
Einkommen
oder
einheitlich
nach
einem
standardisierten Bedarf bemessen werden sollen. 662.
Zusammenfassend
ist
festzustellen,
daß
sich
in
der
Krankenversicherung folgende Umverteilungsvorgänge vollziehen: Begünstigung niedriger zu Lasten höherer Einkommen, Begünstigung älterer zu Lasten jüngerer Versicherter, Begünstigung von Versicherten mit Kindern zu Lasten solcher ohne Kinder, Begünstigung von Versicherten, deren Ehepartner nicht erwerbstätig ist, zu Lasten solcher, deren Ehepartner erwerbstätig ist. Die drei erstgenannten Begünstigungen sind nicht strittig, weil sie sich aus dem allgemein anerkannten Solidarprinzip der Krankenversicherung ergeben. Die Umverteilung zugunsten nicht erwerbstätiger Ehepartner wird neuerdings unter dem Gesichtspunkt der Belastungsgerechtigkeit in Frage gestellt.41 663.
Ein Teil der Krankenkassen (Ersatzkassen) sind bundesweit tätig und
beschließen einen bundesweiten Beitragssatz. Dadurch kommt es zu einer interregionalen Umverteilung. Durch die Mischkalkulation der bundesweit arbeitenden
Kassen
ist
der
Beitragssatz
in
Ballungszentren
mit
überdurchschnittlicher Angebotsstruktur zu niedrig und wird von dünn besiedelten subventioniert.
Gebieten Aus
mit
diesem
unterdurchschnittlicher Grunde
wird
eine
Beitragskalkulation auch dieser Kassen vorgeschlagen.
Angebotsstruktur
Regionalisierung 42
der
Hierfür spricht auch,
daß sich der Wettbewerb zwischen den Krankenkassen um Versicherte sowie die Einwirkung der Kassen auf Angebotskapazitäten und deren Vergütung auf regionaler Ebene vollziehen.
Kapitel 6: Finanzierung
255
651. Eine regionale Umverteilung wird auch durch die Bundesanstalt für Arbeit bewirkt. Die Arbeitslosenquote differiert zwischen den Regionen (Arbeitsamtsbezirken) erheblich. Der bundesweit einheitliche Beitragssatz zur Bundesanstalt für Arbeit bewirkt, daß Regionen mit hoher Arbeitslosenquote zu Lasten anderer Regionen mit unterdurchschnittlicher Arbeitslosigkeit begünstigt werden. Dies ist jedoch - weil echter Risikoausgleich - nicht problematisch. 665.
Ein Sonderfall mit erheblicher quantitativer Bedeutung ist der seit der
deutschen
Vereinigung sich vollziehende West-Ost-Transfer
in
der
Arbeitslosenversicherung und der Rentenversicherung insbesondere der in Folge
der
in
den
neuen
Bundesländern
vergleichsweise
höheren
Arbeitslosigkeit. Dieser Transfer zu Lasten der Beitragszahler in den alten Bundesländern entsprach im Jahr 1993 rd. Zwei Beitragsprozentpunkten.
256
1 2
3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15
16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33
34 35
Kapitel 6: Finanzierung
§ 154 SGB VI Begründung des Ges. Entw. betr. die Alters- und Invalidenversicherung, Dt. Reichstag, 7. Leg. Per., 4. Session 1888/89, Bd. 108, Drs. Nr. 10, 58 § 172 SGB VI Neben vielen anderen Transfer-Enquete 1979,48 Sozialenqu&te 1966,157 § 24 Künstersozialversicherungsgesetz, 1981 § 213 SGB VI IAA 1984,88 Wissenschaftlergruppe des Sozialbeirats, Zusammenfassung TZ 21 Sachverständigenkommission Alterssicherung 1983, Bd. 1, 144 § 10 SGB V §§61, 62 SGB V IAA 1984, 87 Bericht der Bundesregierung zur Frage der lohnbezogenen Abgaben, BT-Drs. IV/3230, 1965, 23, 24 Bericht des interministeriellen Arbeitskreises "Lohnbezogene Abgaben", BAB1 1961,373; so im Ergebnis auch Wissenschaftlergruppe des Sozialbeirats 1981, Zusammenfassung TZ 22, Transferenqu6teKommission 1981, TZ 419, IAA 1984,88 § 32 ALG §§ 158, 160 SGB VI § 186aAFG §218 SGB VI § 266 SGB V § 66 SGB XI § 260 f SGB V Vogel 1951,98 f §§ 174, 187, 220 AFG § 20 Invaliditatsgesetz 1889 IAA: Introduction to social security, 3. Ausgabe 1984,113 (Ubers. D.Z.) Drittes Rentenversicherungs-Änderungsgesetz v. 28.07.1969 Beveridge 1943, Absatz 24 IAA 1984, 85 IAA 1984, 85 Meinhold 1976,73; gleichsinnig Wissenschaftlergruppe des Sozialbeirats 1981, Zsf. TZ 23 Transferenqu€te-Kommission 1981, 206 Dieser von W. Schreiber 1955 geprägte Begriff hat seinerzeit bedeutende explikative Dienste geleistet und löst nach wie vor normative Assoziationen aus. Das IAA hatte 1942 weniger weitgehend davon gesprochen, daß die privatrechtliche familiäre Unterhaltspflicht in der Sozialversicherung "in Gestalt der Solidarität der Generationen" wiederkehre. IAA (Hrsg.): Approaches to Social Security, 1942, 1 Näher Meinhold 1976,77 ff Sozialenqudte 1966, 156
Kapitel 6: Finanzierung
257
Soziale Umverteilung. Mitteilung der Kommission für dringliche Sozialpolitische Fragen, Hrsg. Deutsche Forschungsgemeinschaft, Wiesbaden 1964,9 Krupp 1973; Diskussion dieser Ergebnisse bei Schmähl 1977, 216 ff Transferenquötekommission 1981,92 Sozialenqu&e 1966,194; Sachverständigenkommission Alterssicherung 1984, 151 Sozialenqu&e 1966,208 SV-Rat, JG 95, TZ 575 SV-Rat, JG 90, TZ 591
Kapitel 7: Sozialleistungsträger I. Überblick 666.
Soziale Sicherung ist dadurch gekennzeichnet, daß beim Vorliegen eines
leistungsauslösenden Tatbestandes gegenüber einem Leistungsberechtigten eine Leistungsverpflichtung
besteht
(TZ
20).
Leistungspflichtig
sind
Sozialleistungsträger. Hinsichtlich der Art, der Anzahl und der Struktur der Sozialleistungsträger gibt es national zwischen den Sicherungsinstitutionen (TZ 22) sowie auch international große Unterschiede. Die Morphologie von Systemen und Institutionen der sozialen Sicherung unterscheidet sich weit stärker als deren Physiologie, d.h. ihre Regelungen über leistungsauslösende Tatbestände, Leistungsberechtigung und Leistungsbemessung. Hinsichtlich der Morphologie sind Sachzwänge offenbar weniger wirksam oder umgekehrt historische Vorgegebenheiten, Traditionen und Wertungen stärker wirksam. 667.
Die Leistungsverpflichtung kann staatlichen Behörden (Ämtern) oder
autonomen
Körperschalten
mit
Selbstverwaltung
(Versicherungsträger)1
übertragen sein. Entsprechend unterscheidet man zwischen unmittelbarer und mittelbarer Staatsverwaltung.
In einigen Ländern
sind
ausschließlich
staatliche Behörden Sozialleistungsträger. So ist z.B. in Großbritannien sowohl die Sicherstellung der Gesundheitsleistungen als auch die Zahlung aller Geldleistungen
staatlichen
Dienststellen
(regionale
und
lokale
Ämter)
übertragen. 668.
In
Deutschland
sind
für etwa ein
Drittel
aller
öffentlichen
Sozialleistungen staatliche Behörden Sozialleistungsträger. Es sind dies: Gebietskörperschaften für die Beamtenversorgung; Versorgungsdienststellen (Landesversorgungsämter, (Versorgungsämter) für die soziale Entschädigung; Kreisfreie Städte und Landkreise für die Sozialhilfe; daneben gibt es Uberörtliche Träger der Sozialhilfe, die teils Behörden, teils kommunale Selbstverwaltungskörperschaften sind;
Kapitel 7: Sozialleistungsträger
259
Kreisfreie Städte und Landkreise für das Wohngeld, die Ausbildungsförderung und die Unterhaltssicherung. 669.
Fragt man nach den Kriterien, nach denen die Leistungsverpflichtung
Behörden übertragen ist, so sind dies der Grund der Leistungsberechtigung und die Art der Ldstungsbemessung. Behörden sind Sozialleistungsträger bei dienstbedingter
(Beamtenversorgung)
und
bei
Leistungsberechtigung (soziale Entschädigung); bei
schadensbedingter versicherungsbedingter
Leistungsberechtigung sind Körperschaften zuständig. Ferner sind Behörden zuständig für Leistungen, die nach Bedarf (Mindest- oder Standardbedarf) bemessen
sind,
wie
die
Sozialhilfe,
das
Wohngeld
und
die
Ausbildungsförderung. Eine Ausnahme hiervon ist das Kindergeld, weil hier eine Körperschaft (Bundesanstalt für Arbeit) unter dem Namen "Familienkasse" Sozialleistungsträger ist. 670.
In anderen Ländern ist die Leistungsverpflichtung überwiegend oder
ausschließlich autonomen Körperschaften ubertragen. Dies gilt z.B. für Frankreich, Israel, Schweden, Griechenland. Im einfachsten Falle gibt es nur einen Sozialleistungsträger, der für alle leistungsberechtigten Personen und leistungsauslösenden Tatbestände zuständig ist. Dies gilt z.B. für Israel, aber auch für eine Reihe von Ländern mit geringem Industrialisierungsgrad und jungem System der sozialen Sicherung. In vielen anderen Ländern entstand wie in Deutschland eine Mehrzahl von Sozialleistungsträgern. Ursächlich dafür waren historische Vorgegebenheiten sowie die Tatsache, daß die Systeme in Bezug auf leistungsauslösende Tatbestände und leistungsberechtigte Personen schrittweise ohne vorherige Gesamtplanung entstanden. 671.
In Deutschland sind für fast drei Viertel aller Sozialleistungen die
Leistungsträger öffentlich-rechtliche Körperschaften. Dies erklärt sich aus der Entstehungsgeschichte der Sozialversicherung. Vor deren Einführung gab es
bereits
mehrere
tausend
Hilfskassen,
die
zwar
privatrechtliche
Körperschaften waren, durch Gesetz (von 1876) jedoch die Rechte einer "eingeschriebenen" Hilfskasse, d.h. den Status einer juristischen Person mit Haftungsbeschränkung auf das Kassenvermögen erworben hatten. Ferner waren im Bereich des Bergbaues Knappschaftskassen entstanden, die ebenfalls
260
Kapitel 7:
Sozialleistungsträger
(durch Gesetz von
1854) körperschaftlichen Charakter hatten.
Beide
Einrichtungen hatten sich aus den Prinzipien der Solidarität und der genossenschaftlichen
Selbsthilfe
heraus
entwickelt
und
beruhten
in
Teilbereichen auf obligatorischer Mitgliedschaft. Für die Krankenversicherung waren die Vorgegebenheiten in Gestalt der Hilfskassen so prägend, daß in organisatorischer
Hinsicht
lediglich
eine
gesetzliche
Ordnung,
keine
Neugestaltung nötig und möglich erschien. 672.
Die
Entstehung
der
übrigen
Körperschaften
hängt
mit
der
Durchsetzbarkeit bestimmter Lösungen zusammen. Für die legislatorisch zunächst in Angriff genommene Unfallversicherung hatte sich Bismarck zunächst eine Reichsversicherungsanstalt als Leistungsträger gewünscht. Als diese wegen des Widerstandes der Länder nicht durchsetzbar war, griff er auf den
Gedanken
korporativer Genossenschaften
zurück.
Es
entstanden
Berufsgenossenschaften für Unternehmen bestimmter Wirtschaftszweige. Für die
Rentenversicherung
war
zunächst
eine
Angliederung
an
die
Berufsgenossenschaften vorgesehen; sie scheiterte am Widerspruch der Arbeitgeber, die eine Übermacht dieser Körperschaften fürchteten. Die dann angestrebte Reichsversicherungsanstalt scheiterte am Einspruch der Länder; so kam es zur Errichtung von Landesversicherungsanstalten. Später entstanden die Reichsversicherungsanstalt
für
Angestellte,
die
Reichsanstalt
für
Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung und die Bundesknappschaft ebenfalls als Körperschaften des öffentlichen Rechts. 673.
Vielzahl und Vielfalt der Sozialleistungsträger in Deutschland lassen
erkennen, daß es kein grundlegendes und durchgehendes Gliederungsprinzip gibt. Geht man von den leistungsauslösenden Tatbeständen aus, so ist die Trägerschaft teils Behörden und teils Körperschaften Ubertragen. Auch dort, wo die Leistungsträger im Prinzip Körperschaften sind - wie in der Unfallversicherung - bestehen daneben Behörden (Ausfuhrungsbehörden). Für die meisten Tatbestände existiert eine Vielzahl von Leistungsträgern, andererseits sind viele Leistungsträger für mehrere Tatbestände zuständig. Nur im Falle der Arbeitslosigkeit gibt es für einen Tatbestand einen Träger.
Kapitel 7: Sozialleistungsträger
674.
261
Vielzahl und Vielfalt der Sozialleistungsträger geben immer wieder
Anlaß
zu
Diskussionen
und
Reformüberlegungen.
Die
Frage,
ob
Sozialleistungsträger mehr oder weniger stark und nach welchen Kriterien sie gegliedert sein sollten, wird in Deutschland oft emotional Uberhöht und sachlich verkürzt erörtert Man diskutiert in erster Linie über die Organisation der Krankenversicherung, weniger Uber diejenige der Rentenversicherung und kaum diejenige der anderen Sicherungsinstitutionen. Mit Schwerpunkt auf der Krankenversicherung
stellt
man
dem
Leitbild
der
gegliederten
Sozialversicherung das Schlagwort der Einheitsversicherung gegenüber. Es wurde erwähnt, in welch starkem Maße die tatsächliche Gliederung durch historische Vorgegebenheiten und damalige tagespolitische Konstellationen determiniert war. Die daraus herv orgegangene Organisationsstruktur wurde erst nachträglich mit Argumenten gerechtfertigt. Doch unabhängig davon hat jeder Sozialleistungsträger bestimmte Funktionen zu erfüllen.
II. Verwaltungsaufgaben 675. der
Sozialleistungsträger wenden Rechtsnormen an und sind daher Einheiten Verwaltung.
spezifischer
Den
Sozialleistungsträgern
Verwaltungsaufgaben,
stellen die
sich einen
eine
Reihe
besonderen
Ausbildungsgang ihrer Bediensteten rechtfertigen und erfordern. Spezifische Verwaltungsaufgaben der Sozialleistungsträger sind z.B.: Die Registrierung der Versicherten und ihrer Arbeitgeber; der Beitragseinzug; die Speicherung von Versicherungsverläufen; die Feststellung der leistungsauslösenden Tatbestände; die Zahlung von Geldleistungen; die Sicherstellung %on Sach- und Dienstleistungen. Diese
Aufgaben
erfordern
verwaltungsmäßigen Abwicklung.
umfangreiche 2
Rechtsnormen
zu
ihrer
Die Zahl dieser Rechtsnormen ist um so
höher, je größer die Zahl der Sozialleistungsträger ist, weil deren Tätigkeit in
262
Kapitel 7: Sozialleistungsträger
verschiedener Hinsicht koordiniert werden muß. Nachfolgend werden einige Verwaltungsaufgaben angesprochen, die für die gesicherten Personen von besonderer Bedeutung sind. 676.
Die Beiträge für Versicherungspflichtige - d.h. neben seinem eigenen
auch den Beitragsanteil des Versicherten - hat der Arbeitgeber an den zuständigen
Leistungsträger
Beitragsanteil vom
abzuführen.
Lohn abgezogen.
Dem
Versicherten
wird
sein
Diese aus der Anknüpfung
des
Versicherungsverhältnisses an das Beschäftigungsverhältnis abgeleitete Pflicht des Arbeitgebers zur Berechnung und Abführung der Beiträge ist eine erhebliche
verwaltungstechnische
Erleichterung
für die
Leistungsträger.
Während die Beitragspflicht gegenüber dem einzelnen Leistungsträger besteht, ist der B e i t r a g s e i n z u g im Laufe der Zeit vereinheitlicht worden.
Mit
Errichtung
den
der
Arbeitslosenversicherung
im
Jahre
1927
wurde
Krankenkassen der Einzug des dafür erforderlichen Beitrags übertragen. Dies geschah 1942 auch hinsichtlich der Beiträge zur Rentenversicherung. Seither findet
durch
die
Krankenkasse
als
Einzugsstelle
ein
gemeinsamer
Beitragseinzug statt. Fehlt ein Arbeitgeber, wie bei freiwillig Versicherten und selbstständig Erwerbstätigen, so hat der Versicherteden Beitrag abzuführen. 677.
Die Verwirklichung
von
sozialer
Sicherung
setzt
ausreichende
Informationen der Betroffenen voraus. Den Sozialleistungsträgern sind deshalb Informationspflichten auferlegt. Sie sind verpflichtet, im Rahmen ihrer Zuständigkeit die Bevölkerung über die Rechte und Pflichten aufzuklären und zu beraten. 3 678.
Die Verwirklichung von sozialer Sicherung setzt die Zugänglichkeit
der Sozialleistungen voraus. Die allgemeine Zielsetzung wird Stichworten „Bürgernähe" oder „Versichertennähe"
mit den
gekennzeichnet.
Die
Sozialleistungsträger sind verpflichtet, den Zugang zu den Sozialleistungen möglichst
einfach
zu
gestalten.4
Dies
bezieht
sich
auf
formale
Voraussetzungen, wie z.B. verständliche Antragsvordrucke, vor allem aber auf räumliche Zugänglichkeit. Um die erforderliche Ortsnähe zu gewährleisten, unterhalten
größere
Sozialleistungsträger
örtliche
Zweigstellen.
Der
Zugänglichkeit der Sozialleistungen dienen auch die bei den Kreisen und
Kapitel 7: Sozialleistungsträger
kreisfreien Städten
bestehenden
Versicherungsämter.
Diese
haben
263
in
Angelegenheiten der Sozialversicherung Auskunft zu erteilen und Anträge auf Leistungen ent-gegen-zu-nehmen. Sie haben
weiter auf Verlangen von
Versicherungsträgern bei der Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken.5 679.
Zur
wirksamen
Erfüllung
ihrer
Sozialleistungsträgern Aktivitätspflichten
Aufgaben
sind
den
auferlegt. Zwar ist die Zahlung
von Sozialleistungen grundsätzlich an die formale Voraussetzung einer Antragstellung gebunden. Unabhängig davon ist den Leistungsträgern vielfach aufgegeben, auch ohne Vorliegen eines Antrages tätig zu werden. Besonders deutlich ist dies für die Sozialhilfe normiert, die einzusetzen hat, sobald dem Träger bekannt wird, daß die Voraussetzungen für die Gewährung der Hilfe vorliegen.6 Um den Leistungsberechtigten vor Schaden durch verzögerte Bearbeitung eines Antrages zu schützen, sind Ansprüche auf Geldleistungen zwischen Fälligkeit und Zahlungsbeginn zu verzinsen. 7 680.
Aufgaben
Sicherstellung
von
von
Sozialleistungsträgern, Sach-
und
insbesondere
Dienstleistungen,
werden
solche
der
auch
von
gemeinnützigen und freien Einrichtungen und Organisationen erbracht. Den Sozialleisungsträgern ist aufgegeben, diese Einrichtungen und ihre Tätigkeit zu respektieren; sie sollen darauf hinwirken, daß sich ihre und die Tätigkeit der freien Organisationen ergänzen.8 Solche Auflagen sind motiviert durch Werthaltungen (Subsidiantätsprinzip) und durch das Bestreben, die in der freien Wohlfahrtspflege vorhandenen institutionellen und personellen Ressourcen zu nutzen.
Damit
kann
auch
eine
Verminderung
der
Kosten
der
Sozialleistungsträger verbunden sein. Besondere Bedeutung und Normierung hat die Frage der Zusammenarbeit in Bezug auf das Verhältnis zwischen den Trägem der Sozialhilfe und der freien Wohlfahrtspflege erhalten. 681. darauf
Die äußere und innere Organisation von Sozialleistungsträger sollte ausgerichtet
sein,
bestmögliche
geringstmöglichen Verwaltungskosten
Aufgabenerfüllung
mit
zu erreichen. Beide Ziele stehen
nebeneinander und im Konflikt zueinander. Denn eine bessere Erfüllung der Aufgaben insbesondere im Hinblick auf Tempo des Verwaltungsablaufs, Eigeninitiative des Leistungstragers, Information und Zugänglichkeit erfordert
264
Kapitel 7:
Sozialleistungsträger
zusätzliche Kosten. Zur Lösung dieses Konflikts bedarf es Entscheidungen im Einzelfall. Entscheidungshilfen können Erfahrungs- und Vergleichswerte sein. So
hat
z.B.
die
gesetzliche
Rentenversicherung
seit
längerem
Verwaltungskosten in Höhe von etwa 2 v.H. ihrer Ausgaben, bei der Krankenversicherung liegt dieser Anteil bei 5 v.H.. Allerdings gibt es zwischen den Trägem Abweichungen. Die weit verbreitete Meinung, daß größere Verwaltungseinheiten geringere Verwaltungskosten verursachen als kleinere, entspricht nicht der Erfahrung. Einsparungen durch besseren Einsatz von Personal sowie sachlicher und technischer Hilfsmittel werden in der Regel kompensiert durch Erfüllung zusätzlicher Funktionen, zusätzliche Kosten für Information, Koordination und Kontrolle.
III. Gliederungskriterien 682.
Die Sozialleistungsträger sind in Deutschland nach mehreren Kriterien
gegliedert Regional (z.B. Ortskrankenkassen), nachdem leistungsauslösendem Tatbestand
(z.B.
Rentenversicherung/Krankenversicherung),
nach
dem
Wirtschaftszweig (z.B. Berufsgenossenschaften) sowie nach dem Ort oder der Art
der
Tätigkeit
des
Versicherten
(z.B.
Arbeiter-
und
Angestelltenversicherung). Ist das System mehrschichtig (TZ 54), hat der Versicherte wegen des gleichen Tatbestandes Ansprüche gegen mehrere Leistungsträger.
In Deutschland ist dies im engeren System der sozialen
Sicherung nur in wenigen Fällen gegeben: Beamte, die auch Ansprüche aus der gesetzlichen
Rentenversicherung
hüttenknappschaftlichen
haben,
Leistungsberechtigte
Zusatzversorgung
des
Saarlandes
aus
der
oder
der
Zusatzversorgungskasse für Arbeitnehmer der Land- und Forstwirtschaft Betrachtet
man
das
weitere System,
Altersversorgung zu erwähnen.
a) Leistungsauslösender Tatbestand
so
ist
auch
die
betriebliche
Kapitel 7:
683.
Sozialleistungsträger
Für die Gliederung der Leistungsträger nach
265
leistungsauslösenden
Tatbestanden ist ein Wunschbild entwickelt worden: "Leitziel... sollte sein, daß die ... Aufgabenbereiche der Träger sozialer Hilfe so abgegrenzt werden, daß wegen eines und desselben Tatbestandes nicht verschiedene Träger ... nebeneinander tätig werden müssen. Hilfe sollte also nicht von zwei Stellen in dem gleichen Notfall gewährt werden (ne bis in idem). Dieses Prinzip wäre möglichst auch auf Familien als Haushaltseinheit anzuwenden."' Diesem Leitziel entspricht die Gliederung der Sozialleistungsträger nicht. Bei fast allen Tatbeständen
sind
Kontakte
des
Leistungsberechtigten
mit
mehreren
Leistungsträgem möglich oder sogar nötig. Hierin liegt der wesentliche Grund für die immer wieder beklagten Leistungskumulationen. Man könnte dem Leitbild zwar durch Realisierung
würde
Vereinfachung näher kommen; die
Aufhebung
jedweder
seine
vollständige
Gliederung
der
Sozialleistungsträger voraussetzen. Im gegebenen System gilt die garantiert einheitliche
Zuständigkeit
nur
für
die
Tatbestände
Krankheit
und
Arbeitslosigkeit. 684.
Für den Fall des unzureichenden Einkommens waren seit jeher die
Städte und Kreise als Träger der Sozialhilfe zuständig. Als später das Wohngeld eingeführt wurde, übertrug man dessen Verwaltung zwar den gleichen Trägern (Städten und Kreisen) schrieb aber die Errichtung besonderer Behörden vor. 685.
Für
den
Tatbestand
Erziehung
und
Ausbildung
wurden
als
Sozialleistungsträger die Kreise und Städte (Ausbildungsförderung) sowie die Bundesanstalt für Arbeit (Kindergeld) bestimmt. Hierfür gibt es weder systematische noch zwingende Gründe; ausschlaggebend waren Erwägungen der Zweckmäßigkeit. 686.
Neben
den
bereits
bestehenden
Krankenkassen
wurden
Rentenversicherungsträger errichtet, weil die Krankenkassen zu klein waren, um den erforderlichen Risikoausgleich sicherzustellen. Den Trägern der Rentenversicherung wurde die Zuständigkeit für die Tatbestände Alter (später auch Tod eines Angehörigen) und Invalidität übertragen. Dies lag darin begründet, daß hohes Alter ursprünglich als Spezialfall der
Invalidität
angesehen wurde; mit Erreichung des 70. Lebensjahres wurde das Vorliegen
266
Kapitel 7:
Sozialleistungsträger
von Invalidität unterstellt. Diese Sicht hat sich seither gewandelt; man sieht heute umgekehrt die Invalidität als vorzeitiges Altem an und erkennt die grundsätzlichen Unterschiede in der Aufgabenstellung bei beiden Tatbeständen. Diese Unterschiede in Bezug auf die Möglichkeiten der Vermeidung des Tatbestandes, der Bemessung und Finanzierung der Leistungen haben zu dem Vorschlag geführt, die Altersvorsorge und Invaliditätsvorsorge institutionell zu trennen.10 687.
Für den Tatbestand der Invalidität, soweit er auf Arbeitsunfall beruht,
wurden besondere Sozialleistungsträger, - die Berufsgenossenschaften errichtet. Dies hatte den zeitlichen Grund, daß die Rentenversicherung erst nach der Unfallversicherung eingeführt wurde. Es hatte den sachlichen Grund, daß die Unfallversicherung die Haftpflicht des Unternehmers ablöste. Dieser zweite Grund wird aus der Sicht der Unfallversicherungsträger wie folgt dargestellt "Die Sonderstellung der Unfallversicherung besonderen
....
sozialethischen und sozialpolitischen
beruht somit auf einer Bewertung
der
durch
betriebliche Einwirkungen hervorgerufenen Körperschädigungen sow ie auf der besonderen sozialpolitischen Zielsetzung, im Interesse der Wahrung des Arbeitsfriedens etwaige hieraus resultierende Haftpflichtansprüche gegen die Unternehmer durch einen besonderen Versicherungsträger ... abzulösen." ... „Die gesetzliche Unfallversicherung hat als besonderer Versicherungszweig ... nur
solange
eine
Existenzberechtigung,
sozialethisch zu rechtfertigen vermag...." 688.
als
sie
diese
Sonderstellung
11
Unbeschadet solcher sozialethischen Rechtfertigung ist vorgeschlagen
worden, eine spezielle Unfallversicherung im seitherigen Sinne abzuschaffen, und
aus
den
bestehenden
Berufsgenossenschaften
„Betriebsgenossenschaften" zu entwickeln, die für Geldleistungen im Falle der Krankheit und der Invalidität ohne Rücksicht auf die Ursache zuständig sind. 12 689.
Für den Tatbestand der Invalidität sowie Tod eines Angehörigen
bestehen
neben
den
Rentenversicherungsträgem
und
den
Unfallversicherungsträgem noch die Versorgungsämter mit der Zuständigkeit für Fälle der s o z i a l e n Entschädigung. Die Existenz dieser besonderen
Kapitel 7: Sozialleistungsträger
267
Träger wird bisher nicht in Frage gestellt. Eine solche Frage könnte sich künftig erheben, wenn die Zahl der zu bearbeitenden Fälle weiterhin rückläufig ist. 690.
Mit Einführung der Pflegeversicherung wurde
Krankenkasse
eine Pflegekasse
errichtet.
Sie
1994
ist eine
bei jeder rechtsfähige
Körperschaft des öffentlichen Rechts mit finanzieller Selbständigkeit.
b) Region 691.
Sind Behörden
Sozialleistungsträger, ergibt sich die regionale
Zuständigkeitsabgrenzung
aus
der
regionalen
Struktur
der
staatlichen
Verwaltung. Dies gilt für die Träger der Sozialhilfe, des Wohngeldes, der Ausbildungsförderung,
der
Beamtenversorgung
und
der
sozialen
Entschädigung. Darüber hinaus sind auch die Unfallversicherungsträger teilweise
regional
gegliedert,
nämlich
die
Gemeinde-
Unfallversicherungsverbände und die Ausführungsbehörden der Länder und Gemeinden; auch einige Träger der gewerblichen Unfallversicherung sowie die Träger der landwirtschaftlichen Unfallversicherung sind regional untergliedert. 692.
Da die ursprünglich vorgesehene Reichsversicherungsanstalt für die
Rentenversicherung der Arbeiter am Einspruch der Länder scheiterte (TZ 672), kam
es
auch
hier
zu
regionaler
Untergliederung.
Die
ungleiche
Finanzentwicklung zwischen den Landesversicherungsanstalten erforderte einen Finanzausgleich (TZ 615). Dieser blieb jedoch lange Zeit unvollkommen, so daß im Zusammenhang mit Änderungen des Finanzierungsverfahrens der Rentenversicherung in den Jahren 1966/67 der Gedanke entstand "die organisatorische Vielfalt der 20 Träger der Arbeiterrentenversicherung durch eine
Bundesversicherungsanstalt
für
Arbeiter
zu
ersetzen,
die
Bundesarbeitsminister Katzer seit langem als eine dauerhafte und die der Sache entsprechend klarste Lösung für richtig hält".13 Schließlich wurde ein weitgehender Finanz-Verbund zwischen den Landesversicherungsanstalten hergestellt, so daß organisatorische Änderungen aus diesem Grunde nicht mehr erforderlich waren.
268
693.
Kapitel 7:
Bei
Sozialleistungsträger
Einführung
der
gesetzlichen
Krankenversicherung
mußte
unbeschadet der bereits zahlreich bestehenden, meist durch Gemeindesatzung entstandenen
Krankenkassen
ein
flächendeckendes
Netz
von
Versicherungsträgern geschaffen werden. Dies war zunächst die GemeindeKrankenversicherung; die Gemeinden konnten daneben Ortskrankenkassen errichten. Mit der Reichsversicherungsordnung wurde ab 1914 die GemeindeKrankenversicherung beseitigt; die Versicherten wurden (mit Ausnahmen) Mitglied der Ortskrankenkassen. Diese sind seither das flächendeckende Grundgerüst der Krankenversicherung. Dieses Grundgerüst war von Beginn an und
ist
noch
jetzt
Ortskrankenkassen
die
noch
Voraussetzung weitere,
nach
dafür, anderen
daß
es
Kriterien
neben
den
abgegrenzte
Krankenversicherungsträger geben kann.
c) W i r t s c h a f t s z w e i g 694.
Die Träger
der
Wirtschaftszweigen
gewerblichen
gegliedert.
Unfallversicherung
Nachdem
die
zunächst
sind
nach
vorgesehene
Reichsversicherungsanstalt sich nicht verwirklichen ließ, (TZ 672) griff man auf den Gedanken der genossenschaftichen Selbsthilfe zurück. Ausgehend von der Vorstellung gleichartiger Unfallrisiken wurden die versicherten Betriebe nach Wirtschaftszweigen untergliedert und je einer Berufsgenossenschaft zugeordnet. Diese Gliederung erleichterte auch ein spezialisiertes Vorgehen in der Unfallverhütung. 695.
Für
einzelne
Wirtschaftszweige
sind
auch
Träger
der
Rentenversicherung ausgegliedert. Dies ergab sich für den Bergbau, weil die knappschaftliche Rentenversicherung bei Einführung der allgemeinen Rentenversicherung bereits bestand, und für sie ein Leistungsrecht galt, das allgemein nicht verwirklicht werden konnte. Heute führt die Bundesknappschaft die knappschaftliche Rentenversicherung durch. Auch die Seekasse und die Bundesbahnversicherungsanstalt sind Ausgliederungen aus der sonst regionalen Gliederung
der
Arbeiterrentenversicherung
Wirtschaftszweiges.
unter
dem
Kriterium
des
Kapitel 7: Sozialleistungsträger
696.
269
Als 1957 die Altershilfe für Landwirte - jetzt Alterssicherung der
Landwirte - eingeführt wurde, wich deren Beitrags- und Leistungsrecht stark von der allgemeinen Rentenversicherung ab. Aus diesem Grunde und wegen der
dort
vorhandenen
Unterlagen
zur
Erfassung
des
betroffenen
Personenkreises wurden landwirtschaftliche Alterskassen bei den bereits bestehenden landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften errichtet. Folglich sind die primär nach dem Wirtschaftszweig ausgegliederten Alterskassen sekundär regional untergliedert. Dies gilt zum guten Teil auch für die Versorgungswerke für freie Berufe, die im Prinzip nach Wirtschaftszweig bzw. Berufsgruppe (vor allem Ärzte, Rechtsanwälte), daneben aber auch - weil auf Landesrecht beruhend - regional gegliedert sind. Im übrigen sind einige Gruppen
selbständig
Erwerbstätiger
Rentenversicherung versichert. Deren
in
größte
der
allgemeinen
Gruppe, die
selbständigen
Handwerker, wurden ursprünglich (1938) der Angestelltenversicherung, später (1960) der Arbeiterrentcnversicherung zugeordnet. 697.
Auch
Träger
Wirtschaftszweigen
der Krankenversicherung gegliedert
bzw.
aus
dem
sind
teilweise
regionalen
Netz
nach der
Ortskrankenkassen ausgegliedert. Dies gilt für die Innungskrankenkassen, die für Innungen des Handwerks errichtet werden können. Ihr Ursprung geht auf bereits vor Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung
bestehende
handwerkliche Einrichtungen zurück. Femer sind die Bundesknappschaft und die Seekasse auch Träger der Krankenversicherung für die in diesen Zw eigen Beschäftigten; schließlich bestehen besondere Krankenversicherungsträger für den Bereich der Landwirtschaft. Die seit 1914 bestehenden Landkrankenkassen für landwirtschaftlichen Arbeitnehmer wurden
aufgelöst, als
1972 die
Versicherungspflicht für selbständige Landwirte eingeführt wurde.
Deren
Trägerschaft wurde landwirtschaftlichen Krankenkassen Ubertragen, die bei den bereits
bestehenden
landwirtschaftlichen
Berufsgenossenschaften
landwirtschaftlichen Alterskassen) errichtet wurden.
d) Art und Ort der Tätigkeit
(und
270
698.
Kapitel 7: Sozialleistungsträger
Unabhängig von Region und Wirtschaftszweig besteht für alle
Angestellten
ein
besonderer
Träger
der
Rentenversicherung,
die
Bundesversicherungsanstalt für Angestellte. Auch dieser Umstand ist historisch bedingt. Nachdem für Arbeiter und Angestellte unterhalb eines bestimmten Jahreseinkommens die Rentenversicherung eingeführt
WEIT
(1891), entstand
auch bei den oberhalb der Versicherungspflichtgrenze liegenden Angestellten Interesse an Einbeziehung in die Versicherung. An Stelle einer möglichen und auch
ernsthaft
diskutierten
Erweiterung
der
bereits
bestehenden
Rentenversicherungsträger favorisierte ein Teil der Angestelltenschaft, vor allem aber Regierung und Parlament einen besonderen Träger. Ursächlich dafür waren finanzielle und politische Gründe. Finanziell hätte eine Einbeziehung in die Arbeiterversicherung eine Erhöhung des Reichszuschusses zur Folge gehabt. Der politische Grund wurde so geschildert: "Man wollte die Front des Mittelstandes der selbständigen Kaufleute, Handwerksmeister, Beamten und Angehörigen der freien Berufe dadurch erweitern, daß man die Angestellten aus der breiten Front der Arbeitnehmer herauslöste.14 So wurde 1913 die Reichs(jetzt: Bundes)versicherungsanstalt für Angestellte errichtet. 699.
Die "Front" der versicherungspflichtigen Angestellten betrug damals 1,4
Mio. Personen oder 7 v.H. aller Arbeitnehmer. Durch deren Zunahme hat sich das Verhältnis zwischen Arbeitern und Angestellten ständig verengt. Demnächst wird die Bundesversicherungsanstalt ebenso viele Versicherte betreuen wie alle Träger der Arbeiterrentenversicherung zusammen. 700.
Für die Rentenversicherung gibt es Regelungen, die man als
Anerkennung eigener Trägerschaft bezeichnen kann. So können Angestellte von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung befreit werden, wenn sie in Einrichtungen der berufsständischen Versorgung für Selbständige versichert sind. Das gleiche gilt für Beschäftigte von Trägern der Sozialversicherung und der als öffentlich-rechtliche Körperschaften anerkannten Religionsgesellschaften. Diese Regelungen betreffen jedoch nur
einen
vergleichsweise kleinen Personenkreis. Die Methode der Anerkennung eigener Trägerschaft hat demgegenüber in Großbritannien erhebliche Bedeutung. Von der Versicherung im dortigen staatlichen Zusatzrentensystem (state graduated pension scheme) kann befreit werden, wer in einer betrieblichen Einrichtung
Kapitel 7: Sozialleistungsträger
(occupational
pension
scheme) entsprechend
gesichert ist.
271
Von
dieser
Möglichkeit (contracting out) hat fast die HäJfte der Erwerbsbevölkerung Gebrauch gemacht 701.
Arbeitgeber mit mindestens 450 versicherungspflichtig Beschäftigten
können mit deren Zustimmung eine Betriebskrankenkasse errichten, was in zahlreichen Fällen geschehen ist. Auch diese Regelung geht auf den Umstand zurück, daß es Betriebskrankenkassen bei Einführung der Versicherungspflicht bereits zahlreich gab. 1885 waren zwei Drittel aller Versicherten Mitglieder von Betriebskrankenkassen. Dieser Anteil ist auf etwa 12 v.H. zurückgegangen. Unbeschadet dessen sind fast zwei Drittel aller Krankenversicherungsträger Betriebskrankenkassen. 702.
Eine Sonderstellung unter den Trägern der
Krankenversicherung
nahmen lange Zeit die Ersatzkassen ein, die wiederum auf historische Gegebenheiten zurück gingen. Bei Einführung der Sozialversicherung gab es bereits „eingeschriebene Hilfskassen". Diese Kassen konnten, wenn ihre Leistungen
denjenigen
entsprachen,
durch
der
örtliche
behördliche
Gemeinde-Krankenversicherung
Bescheinigung
als
Träger
der
Krankenversicherung anerkannt werden, mit der Folge, daß die Mitgliedschaft bei ihnen von der Mitgliedschaft bei gesetzlichen Kassen befreite. Die Kassen blieben privatrechtliche Institutionen. Die Mitgliedschaft bei ihnen blieb freiwillig
und
beruhte
auf
einem
Versicherungsvertrag.
Mit
der
Reichsversicherungsordnung (1912) wurden die Hilfskassen für den in ihrer Satzung bestimmten Bezirk und den Kreis ihrer der Versicherungspflicht unterliegenden Mitglieder als "Ersatzkassen" anerkannt. Diese wurden als Versicherungsvereine Versicherungsaufsichtsrecht
auf
Gegenseitigkeit
unterstellt.
1934
wurden
dem
privaten
die
Ersatzkassen
gesetzlich als "Träger der Krankenversicherung" bezeichnet, hinsichtlich Aufsicht und Rechtsprechung den Sozialversicherungsbehörden unterstellt und schließlich 1937 zu Körperschaften des öffentlichen Rechts erklärt.
e) Zur Bewertung
272
703.
Kapitel 7: Sozialleistungsträger
Die Grundsatzdiskussion über die organisatorische Gliederung des
Systems der sozialen Sicherung (TZ 683) bezieht sich auf eine Reihe von Argumenten, die für oder gegen möglichst weitgehende Gliederung sprechen. G e g e n eine weitgehende Gliederung wird angeführt, daß diese die Transparenz des Systems erschwere, zusätzliche Rechtsnormen erfordere, Mehrarbeit zur Koordinierung verursache, die Gefahr ungleicher Leistungserbringung erzeuge, ungleiche Beitragsbelastung bewirke. 704.
Für eine weitergehende Gliederung wird angeführt, daß diese Übermacht und Schwerfälligkeit der Bürokratie verhindere, größeres Vertrauen der Leistungsberechtigten zum Sozialleistungsträger bewirke, der Solidarität der Gesicherten entspreche und diese fördere, sektorspezifische Sonderregelungen erlaube, den Wettbewerb unter den Trägem fördere.
Es ist eine Frage der Wertung, welches Gewicht man diesen Gesichtspunkten beimißt. Solche Wertungen stehen allerdings in sachlichen Zusammenhängen und bedürfen der Differenzierung. Dies gilt insbesondere für traditionsreiche und emotionsgeladene Werte wie Vertrauen, Gruppensolidarität, Wettbewerb. 705.
Mangelnde
Transparenz
und
Vielzahl
der
erforderlichen
Rechtsnormen sind erschwerend bei der Beschreibung des Systems der sozialen Sicherung. Sie werden daher insbesondere von Lehrern und Publizisten als störend empfunden. Für Leistungspflichtige und Leistungsberechtigte haben sie weniger Gewicht, da sie unbeschadet der Vielzahl bestehender Träger stets nur mit wenigen in Kontakt sind, weil sie nur in einer Region leben, nur einem Wirtschaftszweig angehören oder nur eine Tätigkeit ausüben. Die bei vielen Trägern erforderliche Mehr(verwaltungs)arbeit zur Koordination hat von der Größenordnung her kaum eigenständiges Gewicht, wenn die Gliederung im übrigen sinnvoll ist.
Kapitel 7: Sozialleistungsträger
706.
273
Der Gefahr ungleicher Leistungserbringung bei verschiedenen Trägern
für die gleiche Leistungsart kann entgegengewirkt werden durch Übertragung von
Koordinierungskompetenzen
Sozialleistungsträger,
an
Koordinierung
durch
Verbände die
gleichartiger
Selbstverwaltungsorgane,
Rechtsprechung und staatliche Aufsicht. All dies geschieht in der Praxis, so daß Mißstände in dieser Hinsicht nicht behauptet werden. Das gleiche gilt für den Hinweis
auf
Wirksames
die Übermacht und Gegenmittel
ist
Schwerfälligkeit großer
eine
funktionsfähige
Bürokratien.
Selbstverwaltung,
insbesondere, wenn sie auch auf regionale Dienststellen erstreckt ist, wie im Falle der Verwaltungsausschüsse der Arbeitsämter. Sowohl Eigenmächtigkeiten kleiner Bürokratien als Übermächtigkeit großer Bürokratien kann also durch Kontrolle entgegengewirkt werden. Beiden Gesichtspunkten kommt folglich für Organisationsentscheidungen kein großes Gewicht zu. 707.
Eine Gliederung der Sozialleistungsträger ist zwar nicht zwingend, aber
sinnvoll,
wenn
sektorspezifische
Sonderregelungen
und
intersektorale
Umverteilung für bestimmte Personenkreise vorgesehen sind, wie z.B. für die knappschaftliche Rentenversicherung und die Alterssicherung der Landwirte. Die sich
daraus
notwendige
ergebenden
Folge
des
Unterschiede
Gewollten.
der
Dies
Beitragsbelastung gilt
auch
für
sind die
Belastungsdifferenzen zwischen Berufsgenossenschaften, die gerade das Motiv für deren Gliederung bilden. Im Rahmen der Rentenversicherung werden Belastungsdifferenzen durch einen Finanzausgleich vermieden (TZ 615). In der Krankenversicherung geschieht dies weitgehend durch den 1994 eingeführten Risikostrukturausgleich (TZ 618). Dennoch wird gerade mit Blick auf die Krankenversicherung ein „gegliedertes System" im Gegensatz
zu einer
„Einheitsversicherung" von starken Kräften befürwortet. Im Vordergrund stehen dabei
die Argumente des
Vertrauens, der Solidarität und des
Wettbewerbs. 708.
Unter dem Gesichtspunkt des Vertrauens, daß sie in höherem Maße
genössen, w ird oft Körperschaften gegenüber Behörden der Vorzug gegeben. Empirische Untersuchungen haben einen Unterschied des Vertrauens nicht erkennen
lassen.
"Von
einer
spezifischen
Erwartung
gegenüber
den
274
Kapitel 7: Sozialleistungsträger
Sozialversicherungsträgem als unmittelbaren Garanten der Sozialleistungen kann nicht die Rede sein. Die Erwartungen ihnen gegenüber sind von den Erwartungen abhängig, die man gegenüber dem Staat und seiner Politik hegt." is Dieses Ergebnis entspricht der allgemeinen Lebenserfahrung. Beamte oder Entschädigungsberechtigte
haben
gegenüber
ihren
behördlichen
Leistungsträgern sicher ebensoviel Vertrauen wie Arbeitnehmer gegenüber ihren körperschaftlichen Versicherungsträgern. Das gleiche gilt im Hinblick auf große und kleine Versicherungsträger. Das Vertrauen der Versicherten in die große Bundesversicherungsanstalt für Angestellte ist nicht geringer als dasjenige in eine kleine Landesversicherungsanstalt. 709.
Verschiedene Sozialleistungsträger für den gleichen Tatbestand werden
mit G r u p p e n s o l i d a r i t ä t begründet. Dies gilt wiederum in besonderem Maße für die Krankenversicherung. Es wurde erwähnt, daß die Gruppenbildung (Vielzahl von Trägem) vom Gesetzgeber im Hinblick auf historische Vorgegebenheiten zugelassen wurde (TZ 671). Es mag offen bleiben, inwieweit sich diese Vorgegebenheiten auf Gefühle der Gruppensolidarität gründeten; sie waren sicher auch durch praktische Notwendigkeiten und Möglichkeiten bedingt Seit langem werden Zweifel geäußert, "ob in unserer heutigen Gesellschaft noch solche hinreichend gefestigten sozialen Gruppen bestehen". 16 Aus ökonomischer Sicht wird bemerkt, 'daß ein... Prinzip der SozialleistungsGruppensolidarität (aus einem vergangenen Gesellschaftssystem übernommen) mit der gegenwärtigen Gesellschaftsstruktur jedenfalls in hochindustriellen Volkswirtschaften einkommenspolitisch nicht mehr kompatibel ist." ... Mehrere nebeneinander stehende und voneinander ..
unabhängig zu verändernde
Abgabesysteme, die das Prinzip der Belastbarkeit berücksichtigen, ... sind zu vermeiden, jedenfalls wenn es sich um erheblich zu Buch schlagende Belastungen der Abgabepflichtigen handelt."17
Im übrigen kann nicht verall-
gemeinert werden. Es gibt keine empirischen Untersuchungen darüber, wie weit das Gefühl der Gruppensolidarität in den verschiedenen in Betracht kommenden Fällen (Wirtschaftszweig, Region, Art und Ort der Tätigkeit) vorhanden ist. Mit Sicherheit würden große Unterschiede zu Tage treten.
710.
Das Wettbewerbsargument geht von der Vorstellung aus, daß viele
Leistungsträger in der Erfüllung ihrer Aufgaben wetteifern, während ein großer
Kapitel 7: Sozialleistungsträger
Träger keinem Anreiz zur Leistungssteigerung unterliege. Doch bedenken, daß die Pflichten der
275
ist zu
Leistungsträger und die Rechte der
Leistungsberechtigten sehr ins einzelne gehend gesetzlich normiert sind, so daß der Spielraum für konkurrierende Aufgabenerfüllung genng ist. Femer scheidet ein Wettbewerb überall dort aus, wo die Zuständigkeit der Träger regional, nach dem
leistungsauslösenden
Tatbestand
und
dem
Wirtschaftszweig
abgegrenzt ist. Er kommt nur dort in Betracht, wo die Abgrenzung an Art oder Ort der Tätigkeit anknüpft oder die Errichtung von Leistungsträgem freigestellt ist oder die Mitgliedschaft beim Träger freiwillig ist. Dies trifft allein für die Krankenversicherung zu. 711.
Zusammenfassend
Sozialleistungsträger
kann
nach
man
dem
sagen,
daß
Kriterium
des
die
Gliederung
der
leistungsauslösenden
Tatbestandes nicht als problematisch angesehen wird. Auch die regionale Gliederung
wird
nicht
als
Problem
empfunden,
seit
in
der
Arbeiterrentenversicherung ein Finanzausgleich existiert. Das gleiche gilt für die Gliederung nach Wirtschaftszweigen. 712.
Die Aufteilung in der Rentenversicherung zwischen Arbeiter- und
Angestelltenversicherung wird seit 1992 von den Ländern in Frage gestellt. Sie streben an, den Landesversicherungsanstalten
die Zuständigkeit für alle
Arbeitnehmer zu übertragen. Der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte sollen spezielle Aufgaben zugewiesen werden. Dieses Bestreben ist ein Reflex auf die Zunahme der Versichertender Bundesanstalt absolut und in Relation zu den versicherten Arbeitern. Es führt zu einem schwindenden Einfluß der Länder in Bezug auf den Betneb von Einrichtungen (Gesundheitsförderung) die Aufsicht
und
die
Geldanlage.
Die
vorgebrachten
Argumente
der
Versichertennähe, der Gleichbehandlung und der Selbstverwaltung überzeugen nicht, weil sie bei der Bundesanstalt nicht gefährdet sind.
276
Kapitel 7:
Sozialleistungsträger
IV.Gliederung der Krankenversicherungsträger a) A u s g a n g s l a g e 713.
In der Diskussion bleibt die Gliederung der Krankenversicherung
und zwar auch deshalb, weil ihre Träger und deren Zuständigkeiten nicht so weitgehend durch Gesetz festgelegt sind wie andere Sozialleistungsträger. Ortskrankenkassen bestehen für bestimmte Regionen, deren Abgrenzung die Landesregierung durch Rechtsverordnung regeln kann. Sie können sich auf Beschluß ihrer Verwaltungsräte vereinigen. Eine Ortskrankenkasse ist von der Aufsichtsbehörde zu schließen, wenn ihre Leistungsfähigkeit nicht mehr auf Dauer
gesichert
ist.
Betriebskrankenkassen
können
unter
bestimmten
Bedingungen vom Arbeitgeber eingerichtet, vereinigt und aufgelöst werden. Die gleiche Befugnis haben Handwerksinnungen für die Innungskrankenkassen. Die bestehenden Ersatzkassen können ihre örtliche Zuständigkeit verändern, sich
vereinigen
oder auflösen.
Lediglich die
Bundesknappschaft,
die
Seekrankenkasse und die landwirtschaftlichen Krankenkassen sind durch Gesetz errichtet 714.
Mit der Möglichkeit, Krankenkassen zu errichten und aufzulösen, hängt
die starke Veränderung zusammen, die der Organisationsstruktur
der
Krankenversicherung unterworfen war. Allerdings hat auch der Gesetzgeber wiederholt in die Struktur eingegriffen. So Einrichtungen der
wurden
Gemeindekrankenversicherung
1912 rd.
beseitigt
und
8.000 zugleich
Landkrankenkassen errichtet. 1972 wurden rd. 100 Landkrankenkassen (für Arbeitnehmer) beseitigt und
19 landwirtschaftliche Krankenkassen
(für
Unternehmer) errichtet 715.
Seit Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung vermindert sich
die Zahl der Krankenkassen. Im Jahre 1908 gab es im Gebiet des Deutschen Reiches rd. 23.000 Krankenkassen. 1950 im Gebiet der (alten) Bundesrepublik waren
es
rd.
2000,
gegenwärtig
rd.
1000,
davon
die
Mehrzahl
Betriebskrankenkassen. Durch diesen Konzentrationsprozeß sowie durch
Kapitel 7:
Sozialleistungsträger
277
Erweiterung der Versicherungspflicht ist die durchschnittliche Zahl der Versicherten je Krankenkasse enorm angestiegen. 716.
Die große Mehrzahl der Versicherten ist bei den Ortskrankenkassen und
den Ersatzkassen für Angestellte versichert. Die Zahl der Versicherten verschieben sich jedoch im Zeitablauf zu Lasten der Ortskrankenkassen und zugunsten der Ersatzkassen. Letztere hatten bei Gründung der Bundesrepublik einen Anteil an der Gesamtzahl der Versicherten von 13 v.H.,
der seither
kontinuierlich auf fast 40 v.H. angestiegen ist. Dieser Verschiebung liegt der allgemeine Trend der Zunahme der Angestellten im Verhältnis zu den Arbeitern zugrunde. 717.
Die Mitgliedschaft zu Krankenkassen war in vielen Fällen gesetzlich
festgelegt. Dies
galt für die
Mitglieder
der
Seekrankenkasse,
der
landwirtschaftlichen Krankenkasse, der Bundesknappschaft, der Innungs- und Betriebskrankenkassen. Gehörten Versicherte nicht einer dieser Kassen an, so waren
sie
kraft
Gesetzes
Mitglieder
der
Ortskrankenkasse
ihres
Beschäftigungsortes. Die Ortskrankenkassen waren also für alle Versicherten zuständig, die nicht durch Gesetz oder durch Beschluß einer Innung oder eines Betriebes einer anderen Kasse angehörten. Allein die Mitgliedschaft einer Ersatzkasse beruhte auf dem Entschluß des Versicherten selbst. Für Angestellte - aber nur für diese - bestand Wahlfreiheit zwischen einer Primärkasse - dies ist in den meisten Fällen die Ortskrankenkasse - und einer Ersatzkasse. Dieses zwischen Arbeitern und Angestellten ungleiche Kassenwahlrecht unterlag zunehmender Kritik. 718.
Deshalb
wurde
mit
Wirkung
von
1996
ein
allgemeines
Kassen wahlrecht für alle Versicherten eingeführt. Diese können wählen die Ortskrankenkasse des Beschäftigungs- oder Wohnorts, jede Ersatzkasse, die für den Beschäftigungs- oder Wohnort zuständig ist, die Krankenkasse, bei der der Ehegatte versichert ist sowie unter bestimmten Bedingungen eine Betriebs— oder Innungskrankenkasse; wenn diese sich durch Satzungsbeschluß dafür geöffnet hat. Die gewählte Krankenkasse darf die Mitgliedschaft nicht ablehnen (Kontrahierungszwang). Der Versicherte kann von einer zur anderen Kasse wechseln.
278
Kapitel 7:
Sozialleistungsträger
b) Wettbewerb zwischen Krankenkassen 719.
Ein
weiteres
Motiv
für
die
Einführung
des
allgemeinen
Kassenwahlrechts war die Stimulierung des Wettbewerbs unter den Krankenkassen. Solchen Wettbewerb gab es auch schon vor Einführung allgemeinen Wahlrechts um die wahlberechtigten Angestellten. Die Ersatzkassen konkurrierten untereinander sowie mit den übrigen Kassenarten um Mitglieder. Dieser Wettbewerb ist dadurch motiviert, daß mit steigender Versichertenzahl der Risikoausgleich erleichtert wird und dies um so mehr, je mehr junge Mitglieder die Kasse hat. Ferner erhöht sich mit steigender Versichertenzahl die Besoldung der Verwaltungsangehörigen sowie das Prestige der Kasse und der Mitglieder der Selbstverwaltung. Dieser Wettbewerb um Versicherte, - vor allem um günstige Risikogruppen -, wird sich nach Einführung des allgemeinen Kassenwahlrechts verstärkt fortsetzen. 720.
Neben
dem
Wettbewerb
um
Versicherte
gibt
es
weitere
Wettbewerbsfelder. Dazu gehört vor allem der Beitragsatzwettbewerb, weil jede Kasse ihren Beitragssatz autonom festsetzt (TZ 608). Daneben gibt es einen Servicewettbewerb sowie einen Qualitätswettbewerb vor allem in Hinblick auf Gesundheitsförderung und Krankheitsverhütung. Für weitere Reformschritte werden erweiterte Möglichkeiten eines Vertragswettbewerbs gefordert. 721.
Eine Erweiterung der Wettbewerbsparameter wird vor allem von
marktwirtschaftlich orientierten Akademikern propagiert. Man wünscht sich eine Deregulierung des Leistungs- und Vertragsrechts mit dem Ziel, der einzelnen Krankenkasse vermehrte Gestaltungsmöglichkeiten einzuräumen. Zu Grunde liegen allgemeine Sympathien für den Wettbewerb schlechthin, weil dieser
gesellschaftlich
wirtschaftlicher
(Herstellung
Übermacht)
und
von
Wahlfreiheit,
wirtschaftlich
Vermeidung
(Produktionssteuerung,
Effizienz, Preisminderung, Anpassungsfähigkeit) vorteilhaft sei. Man erhofft sich von einer Deregulierung eine erhöhte Effizienz des Gesundheitswesens.
Kapitel 7: Sozialleistungsträger
722.
279
Zweifel an dieser Hoffnung liegen darin begründet, daß in den USA,
dem Land mit dem geringsten Regulierungsgrad im Gesundheitswesen, die Gesundheitsausgaben relativ höher als in allen anderen Ländern sind, während gleichzeitig die Versorgung
weiter
Bevölkerungskreise
schlechter
ist.
Insbesondere der Wettbewerb um Mitglieder bewirkt Gefahren. Er bietet unerwünschte
Anreize,
z.B.
das
Serviceangebot
auf
Versicherte
zu
konzentrieren, die zum Wechsel der Kasse angeregt oder von einem Wechsel abgehalten werden sollen. Umgekehrt besteht ein ökonomischer Anreiz, gesundheitspolitische Aktivitäten nicht dort zu entwickeln, wo ein finanzieller Ertrag nicht sofort in Erscheinung tritt. Die wettbewerbliche Orientierung der Krankenkassen steht im Konflikt mit gesundheitspolitischen Zielen, d.h. der bedarfsgerechten Leistungserbringung. Man spricht in der Verwaltung der Krankenkassen zunehmend häufig nicht mehr von Versicherten und Patienten, sondern von Kunden und „Marktanteil". 723.
Eine Gefahr eines erweiterten Vertragswettbewerbs liegt in Erfahrungen
der Vergangenheit begründet. Die Gefahr liegt in einer Schwächung der Verhandlungsposition der Kassen. Einzelne Kassen oder Kassenarten unterliegen der Versuchung, im Interesse ihres „Image" Konflikte mit den Vertragspartnern zu vermeiden mit der Folge, daß Zugeständnisse den anderen Kassen niedrigere Abschlüsse erschwert werden. Diese möchten verhindern, als "Arme-Leute-Kasse" angesehen zu werden und sind daher bestrebt, öffentliche Konflikte zu meiden und den Unterschied in Art und Höhe der Vergütung gering zu halten. Aus diesen Gründen kam es lange Zeit nicht zu gemeinsamen Verhandlungen zwischen Kassen und Ärzten. Einem AngebotsMonopol stand ein Nachfrage-Oligopol gegenüber. Erst seit 1989 sind wichtige Verhandlungen "gemeinsam und einheitlich" zu führen. Erst künftige Erfahrung wir zeigen müssen, ob die Aufgabe dieses Grundsatzes die erhofften positiven Wirkungen hat. 724.
Den Krankenkassen obliegt der Einzug der Beiträge auch zur Renten-,
Pflege- und Arbeitslosenversicherung (TZ 676). Zur Überwachung der korrekten Beitragsabführung gehört das Instrument der Betriebsprüfung, 18 die den Krankenkassen als Einzugsstelle oblag. Mit Einführung des allgemeinen
280
Kapitel 7: Sozialleistungsträger
allgemeinen Kassen-Wahlrechts der Versicherten und dem dadurch erheblich verstärkten Mitglieder-Wettbewerb entstand eine Konfliktsituation für die Kassen.
Wettbewerb
um
Mitglieder und
deren
mittelbar betroffenen
Arbeitgebern und Betriebsprüfung stehen im Widerspruch zueinander. Es wurden Rückzugstendenzen der Krankenkassen aus der Betriebsprüfung erkennbar. Deshalb wurde 1995 geregelt, daß die Rentenversicherungsträger die Betriebsprüfung durchführen.
V. Koordinationsaufgaben 725.
Sind Sozialleistungsträger - nach gleich welchen Kriterien - gegliedert,
so sind eine Reihe von Problemen gesetzlich zu regeln, die bei einem einzigen Träger verwaltungsintem regelbar sind. Hierzu gehört die Abgrenzung der Zuständigkeit einzelner Träger sowie die Regelung der Übertragbarkeit von Ansprüchen (Wanderversicherung) beim Übertritt von einem zum anderen Träger.
Weiter
Regelungen.
19
bedarf Unter
die
Zusammenarbeit
der Träger
Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten
können
besonderer Aufgaben
delegiert werden. So wird z.B. die Heilbehandlung der Kriegsopferversorgung von der Krankenversicherung durchgeführt. Die Krankenversicherung zieht die Beiträge für andere Sozialversicherungsträger mit ein. 726.
Um den Nachteilen gegliederter Trägerschaft entgegenzuwirken, ist
deren Zusammenarbeit in Arbeitsgemeinschaften vorgeschlagen worden. Ein früherer Vorschlag ging dahin, daß die Selbstverwaltungsorgane aller Sozialleistungszweige Vertreter in „Sozialgemeinden" entsenden, in denen zusammen mit Vertretern der Kommunalausschüsse für Sozialangelegenheiten und der freien Wohlfahrtspflege laufend gemeinsame Fragen beraten werden. Damit sollte örtlich und bezirklich das Bewußtsein einer gemeinsamen Gesamtverantwortung gefördert werden. 20
Das Gesetz ist in dieser Hinsicht
sehr zurückhaltend. Nur für die Aufgaben zur Eingliederung Behinderter läßt es die Bildung von Arbeitsgemeinschaften zwischen den Leistungsträgem zu. Eine weitere Ausnahme besteht für die Träger der Sozialhilfe, die für bestimmte Aufgaben Arbeitsgemeinschaftenbilden sollen.11
Kapitel 7: Sozialleistungsträger
727.
Die für die Feststellung des
leistungsauslösenden
281
Tatbestandes
erforderlichen ärztlichen Untersuchungen werden von Ärzten der verschiedenen Leistungsträger
durchgeführt.
Es
wird
kritisiert,
daß
dies
Mehrfachuntersuchung, unrationelle Nutzung technischer Kapazitäten und divergierende Befunde zur Folge habe sowie die Unabhängigkeit des begutachtenden Arztes beeinträchtige. Deshalb wird seit langem vorgeschlagen, einen sozialärztlichen Dienst als gemeinsame Einrichtung der beteiligten Sozialleistungsträger zu errichten.22 Auch in dieser Hinsicht ist das Gesetz zurückhaltend;
es
lediglich
sieht
Vereinbarungen
der
Träger
über
Untersuchungsverfahren und eine tunliche Verwertung bereits vorliegender Untersuchungsergebnisse vor.23 728.
Bei einer Mehrzahl von Sozialleistungsträgern gleicher Aufgabenstellung
erwies es sich als zweckmäßig, zur Erledigung gemeinsamer Aufgaben Verbände zu bilden. Diese entstanden zunächst als privatrechtliche Vereine; teilweise wurden später öffentlich-rechtliche Körperschaften errichtet, denen bestimmte Aufgaben gesetzlich zugewiesen wurden. Der Verband deutscher Rentenversicherungsträger,
der
Bundesverband
Berufsgenossenschaften
und
eingetragene
Öffentlich-rechtliche
Vereine.
Bundesverband Bundesverbände
der der
Bundesverbände
landwirtschaftlichen Krankenkassen
der
der
gewerblichen
Ersatzkassen
Körperschaften Alterskassen
(Ortskrankenkassen,
sind
sind
der
sowie
die
Betriebs-
krankenkassen, Innungskrankenkassen, landwirtschaftliche Krankenkassen). Die Bundesverbände wirken nach innen koordinierend und vertreten nach außen die Interessen ihrer Mitglieder gegenüber Öffentlichkeit und Gesetzgeber. Für die Orts-,
Betriebs-
und Innungskrankenkassen
sind
gesetzlich
auch
Landesverbände errichtet, die ihrerseits den Bundesverband bilden. Die Landesverbände erfüllen neben einer Vermittlungsfunktion zwischen der örtlichen und der Bundesebene Hilfsfunktionen für die einzelnen Kassen, wie z.B. Information, Schulung von Personal, Prüfung der Geschäftsführung.
282
Kapitel 7: Sozialleistungsträger
VI. Selbstverwaltung 729.
Bei den Sozialleistungsträgern, die öffentlich-rechtliche Körperschaften
sind, besteht eine Mitwirkung der Betroffenen an der Verwaltung, die als Selbstverwaltung
bezeichnet
wird."
Entscheidendes
Merkmal
Selbstverwaltung ist, daß die Körperschaft durch einen
der
ehrenamtlichen
Vorstand verwaltet wird. Die Selbstverwaltung hat ihren Ursprung in den Hilfs-
und
Knappschaftskassen,
die bereits
vor
Verabschiedung
der
Sozialversicherungsgesetze bestanden. Den Gedanken genossenschaftlicher Selbsthilfe aufnehmend sprach die kaiserliche Botschaft von 1881 als Motiv für die Selbstverwaltung an: "Der engere Anschluß an die realen Kräfte des Volkslebens und das Zusammenfassen der letzteren in der Form kooperativer Genossenschaften ... werden ... die Lösung auch von Aufgaben möglich machen, denen die Staatsgewalt allein in gleichem Umfange nicht gewachsen sein würde." Man beließ den Krankenkassen ihre Selbstverwaltung, ergänzte allerdings deren Organe durch Vertreter der Arbeitgeber. Dies geschah nach Maßgabe des Beitragsanteils, nämlich zu einem Drittel. Entsprechend diesem Grundsatz waren die Organe der Landesversicherungsanstalten paritätisch, diejenigen der Berufsgenossenschaften allein mit Vertretern der Arbeitgeber besetzt. 730.
Die Selbstverwaltung hat unvermeidlich politische Implikationen,
weil mit der Besetzung der Organe auch über Machtpositionen entschieden wird.
Um die Jahrhundertwende
wurde darüber
geklagt, daß in der
Selbstverwaltung und Verwaltung der Krankenversicherung Zweidrittel-Mehrheit der Versicherten der Einfluß der
infolge der
Sozialdemokraten
dominiere. Dem entgegenzuwirken wurde mit der Reichsversicherungsordnung (1912) vorgeschrieben, daß der Vorsitzende und die leitenden Angestellten der Kasse von der Mehrheit sowohl der Versicherten als auch der Arbeitgeber gewählt werden müssen; das gleiche galt für Satzungsänderungen. Im Falle der Nicht-Einigung hatte die Aufsichtsbehörde zu entscheiden. Diese Regelungen wurden bei veränderten parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen 1919 wieder beseitigt.
Während
der
nationalsozialistischen
Selbstverwaltung aufgehoben.
Herrschaft
wurde
die
Kapitel 7: Sozialleistungsträger
731.
283
Ihr Wiedereinführung durch das Selbstverwaltungsgesetz von 1951 war
von einer politischen Auseinandersetzung um die Vertretung in den Organen begleitet. Die Gewerkschaften verlangten alleinige Vertretung der Versicherten; sie
schlössen
sich
später
der
Position
der
sozialdemokratischen
Bundestagsfraktion an, die eine Zweidrittel-Mehrheitder Versicherten forderte. Die Mehrheitsfraktionen - unterstützt von den Arbeitgebern - traten für das „Sozialpartner-Modell", d.h. für paritätische Vertretung ein, die bis heute Grundlage des Selbstverwaltungsrechts ist. Dementsprechend wurden die Organe der Krankenkassen und der Berufsgenossenschaften je zur Hälfte mit Vertretern der Versicherten besetzt; diese hatten vorher in der Krankenkasse zwei Drittel der Vertreter, in der Berufsgenossenschaft keine Vertreter gestellt. 732.
Von der paritätischen Vertretung der Versicherten und der Arbeitgeber
bestehen folgende Ausnahmen: Bei den Ersatzkassen gibt es nur Versicherten-Vertreter; bei der Bundesknappschaft stellen die Versicherten zwei Drittel der Vertreter; Bei den landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften stellen die Versicherten Arbeitnehmer ein Drittel der Vertreter; bei der Bundesanstalt für Arbeit stellen die Versicherten ein Drittel der Vertreter Diese Ausnahmen schwächen die Stringenz der üblichen Legitimation der paritätischen Arbeitgebervertretung; nämlich ökonomisch (Beitragszahlung) und funktional (administrative Kontakte). 733.
Bei den Sozialleistungsträgern mit Behörden-Eigenschaft besteht keine
Selbstverwaltung im genannten Sinne. Allerdings führen auch die Träger der Sozialhilfe ihre Aufgäben als (kommunale) Selbstverwaltungsangelegenheit durch. Von den gesamten öffentlichen Sozialleistungen werden etwa zwei Drittel durch Sozialleistungsträger mit Selbstverwaltung verwaltet, ein Drittel durch Träger ohne Selbstverwaltung.
284
734.
Kapitel 7:
Sozialleistungsträger
Organe der Selbstverwaltung sind die Vertreterversammlung und der
Vorstand. Die Vertreterversammlung beschließt die Satzung, wählt den Vorstand und
den Geschäftsführer, beschließt den Haushalt und
den
Beitragssatz, soweit dies nicht durch Gesetz geschieht. Der Vorstand hat die Stellung eines gesetzlichen Vertreters; er bestimmt die Richtlinien für die Arbeit des Trägers. Die laufenden Verwaltungsgeschäfte führt der hauptamtliche Geschäftsführer
(oder
die
Geschäftsführung); dieser
ist
Organ
des
Versicherungsträgers, nicht Organ der Selbstverwaltung. 735.
Abweichend von diesem Schema wurde den Krankenkassen ab 1996
eine neue Organisation vorgeschrieben. Ziel war eine stärkere Ausrichtung der Organe auf
die Bedingungen des Wettbewerbs.
Die früheren Organe
Vertreterversammlung und Vorstand wurden zu einem neuen Organ, dem ehrenamtlichen Verwaltungsrat zusammengefaßt Dieser entscheidet über Haushalt und Beitragssatz und hat Anfechts- und Kontrollfunktionen. Die laufende Geschäftsführung obliegt einem hauptamtlichen Vorstand, der für die Dauer von 6 Jahren gewählt wird (Wiederwahl möglich). 25 736.
Die Mitglieder der Organe der Selbstverwaltung werden alle 6 Jahre in
sogenannten Sozial wählen gewählt. Wahlberechtigt sind die Versicherten und die Arbeitgeber eines Leistungsträgers. Wenn sich die Gruppen, die zur Einreichung
von
Vorschlaglisten
berechtigt
sind
(insbesondere
Gewerkschaften), auf einen Vorschlag einigen, so gelten die Vorgeschlagenen als gewählt; eine Wahlhandlung ist in diesem Falle nicht erforderlich. Hiervon wird in vielen Fällen Gebrauch gemacht. Man hat deshalb von einer „verbandlichen Selbstverwaltung" gesprochen. 26 737.
Die Wahlbeteiligung ist im Vergleich zu politischen Wahlen gering.
Sie war 1968 auf 20 v.H. abgesunken. Nach einer Verbesserung des Wahlverfahrens insbesondere bei der Briefwahl stieg die Beteiligung später auf Uber 40 v.H. Die geringe Beteiligung an den Sozialwahlen wird gelegentlich zum Anlaß genommen, die Selbstverwaltung in Frage zu stellen. Dies erscheint nicht berechtigt angesichts der vollen Funktionsfähigkeit vieler Gremien, die durch Listenwahl oder durch Berufung zustand gekommen sind. Die Kritik beruht auf
„basisdemokratischen"
Vorstellungen,
die fragwürdig
sind;
Kapitel 7: Sozialleistungsträger
Legitimation kann auch durch
Verbände vermittelt werden.
285
Bei
der
Bundesanstalt für Arbeit werden die Mitglieder des Verwaltungsrats aufgrund von Vorschlägen der Verbände berufen. Es ist also durchaus vorstellbar, die Sozialwahlen durch ein System der Berufung auf Vorschlag der Sozialpartner zu ersetzen. 738.
Aus Kreisen der Selbstverwaltung wird deren Funktionseinbuße
beklagt, weil im Zeitablauf immer mehr Regelungen durch Gesetz oder Verordnung vorgenommen werden. Hinzu kommt, daß Steuerungs- und Planungsaufgaben von der einzelnen Krankenkasse auf die Landes- oder Bundesverbände Ubergegangen sind. Diese Tendenz zur Zentralisation von Aufgaben ist jedoch unvermeidlich, soweit die Aufgaben überregional sind. Auch kann der für diese Aufgaben erforderliche spezialisierte Sachverstand nur in größeren Organisationen abrufbar gehalten werden. Aus diesem Grunde dürfen in den Organen von Verbänden - die im übrigen von den Vorständen der Verbandsmitglieder aus deren Reihen gewählt werden - sogenannte Beauftragte der Sozialpartner-Organisationen, d.h. Nicht-Mitglieder des Trägers, vertreten sein.27
Ein
dritter
Krankenversicherung
Grund die
liegt
in
der
Notwendigkeit,
Gegenmachtpositionen
in
gegenüber
der den
Vertragspartnern zu stärken. 739.
Wenig diskutiert wird die Erfahrung, daß Selbstverwaltungsorgane
einen Institutions-Egoismus entwickeln, der dem Betriebs-, Branchen- oder Regionalegoismus ähnelt. Sie widersetzen sich institutionellen Änderungen ebenso wie dies bei kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften der Fall ist. Einer allein negativen Bewertung dieser Erscheinung steht entgegen, daß sie auch eine (tatsächliche oder potentielle) Schutzfunktion vor modisch oder finanzierungstechnisch
bedingten
Einflußnahmen
bewirkt.
Die
Selbstverwaltungskörperschaften dienen also auch dem Schutz vor nicht ausreichend begründeten oder legitimierten Eingriffen von staatlicher Seite. 740.
Gewichtiger Grund für die Bejahung von Selbstverwaltungsorganen
auch auf örtlicher Ebene ist deren Transmissions-Funktion. Mitglieder von Selbstverwaltungsorganen vermitteln Anliegen einerseits der sie entsendenden Gruppe gegenüber der Verwaltung, andererseits in die sie entsendende Gruppe.
286
Kapitel 7: Sozialleistungsträger
Sie erfüllen eine Funktion ähnlich derjenigen von Mitgliedern parlamentarischer Gremien, die gleichfalls Anliegen an die Verwaltung heranbringen, zugleich der Wählerschaft die Grenzen und Bedingungen der Erfüllung von Wünschen verdeutlichen. In beiden Fällen wird bürgernahe Verwaltung bewirkt. Die Selbstverwaltung ist ein Instrument, um die Wirksamkeit der Verwaltung zu kontrollieren und etwaige Vertrauenslücken zwischen Verwaltung und Bürger zu schließen oder zu verringern.
VII. Aufsicht und Rechtsschutz 741.
Bei der Übertragung von Aufgaben der sozialen Sicherung auf
Selbstverwaltungskörperschaften hat sich der Staat ein Aufsichtsrecht vorbehalten. Dieses erstreckt sich auf die Beachtung von Gesetz und Satzung der Versicherungsträger. Die Aufsichtsbehörden haben ein Informations- und Prüfungsrecht. Bei Beanstandungen sollen sie zunächst beratend einwirken, bei andauernder
Meinungsverschiedenheit
kann
die
Aufsichtsbehörde
den
Versicherungsträger zur Behebung der Rechtsverletzung verpflichten und die Verpflichtung nötigenfalls mit verwaltungsvollstreckungsrechtlichen Mitteln durchsetzen.
Neben
der
Aufsicht
haben
die
Versicherungsbehörden
Mitwirkungsrechte, wie insbesondere die Genehmigung von Haushaltsplan und Satzung des Leistungsträgers. 742.
Die Aufsicht wird grundsätzlich von den Ländern oder den nach
Landesrecht
bestimmten
Behörden
ausgeübt.
Erstreckt
sich
der
Zuständigkeitsbereich eines Trägers über das Gebiet eines Landes hinaus, so führt der Bund die Aufsicht; er hat zur Durchführung dieser Aufgabe das Bundesversicherungsamt als selbständige Bundesoberbehörde errichtet. Lediglich die Aufsicht über die Bundesverbände der Krankenkassen und die kassenärztliche sowie
kassenzahnärztliche Bundesvereinigung
führt der
Bundesminister für Gesundheit. Dies hat im Ergebnis zu einer Politisierung, d.h. einer Abschwächung der Aufsicht geführt - was wohl dem Motiv dieser Regelung entsprach.
Kapitel 7: Sozialleistungsträger
287
743.
Das Verwaltungshandeln der Sozialleistungsträger ist Rechtsanwendung
und
das
heißt
Rechtsauslegung.
Dabei
entstehen
zwischen
dem
Leistungsberechtigten oder dem Leistungspflichtigen und der Verwaltung Meinungsverschiedenheiten. Zur sozialen Sicherung gehört die Möglichkeit, gegen Verwaltungsentscheidungen Klage bei einer unabhängigen Institution zu erheben. In Deutschland sind dies die Sozialgerichte. Sie sind grundsätzlich für alle Streitigkeiten Uber Sozialleistungen zuständig. Abweichend hiervon sind die Verwaltungsgerichte zuständig für Rechtsstreitigkeiten in Angelegenheiten der Sozialhilfe, des Wohngeldes und der Kriegsopferfürsorge (nicht aber der Kriegsopferversorgung). Gegen Entscheidungen des Sozialgerichts kann Berufung
beim
Entscheidung
Landessozialgericht
ist
Bundessozialgericht
unter
bestimmten
zulässig.
eingelegt
werden;
Bedingungen
Die Verfahren vor
gegen
Revision den
dessen an
das
Gerichten
der
Sozialgerichtsbarkeit sind kostenfrei. Neben Berufsrichtern wirken in allen Instanzen ehrenamtliche Richter mit, die auf Vorschlag dazu berechtigter Verbände (im wesentlichen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen) auf Zeit berufen werden. 744.
Der Klage vor einem Sozialgericht muß im Regelfall ein Vorverfahren
vorausgehen; es beginnt mit der Erhebung des Widerspruchs, Uber den ein Widerspruchsausschuß des Leistungsträgers befindet. Da dieser mit Mitgliedern der Selbstverwaltung besetzt ist, besteht hier ein RUckkopplungs-Mechanismus, er auch zur Entlastung der Sozialgerichte beiträgt.
288
1
2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27
Kapitel 7: Sozialleistungsträger
§ 29 SGB IV, diese Körperschaften sind in Deutschland unterschiedlich bezeichnet als Anstalt, Kasse oder Berufsgenossenschaft. Zum Verwaltungsverfahren der Sozialleistungsträger s. SGB X §§ 13 - 15 SGB I § 17 SGB I § 93 SGB IV § 5 BSHG § 44 SGB I § 17 Abs. 3 SGB I Achinger 1954,30 Rothenfelser Denkschrift 1955, 117 F. Watermann: Die Ordnungsfunktionen von Kausalität und Finalität im Recht, unter besonderer Berücksichtigung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung, Berlin 1968, 51 u. 157 Rothenfelser Denkschrift 1955,116 D. Schewe, BAB1. 1969, 465 Syrup/Neuloh 100 Jahre staatlicher Sozialpolitik 1839-1939, Stuttgart 1957, 134 Kaufmann 1970, 323 W. Bogs 1955, 111 Meinhold, 1976, 37, 91 § 28 p SGB IV § § 3 - 7 , 86-119 SGB X Sozialplan für Deutschland 1957, 146 § 94 SGB X, § 95 BSHG W. Bogs 1955,94; Rothenfelser Denkschrift 1955,80; Sozialplan für Deutschland 1957; 71 § 96 SGB X Erstmali ger Gebrauch des Begriffs im Gesetz Uber die Selbstverwaltung v. 22.02.1951; jetzt grundlegend § 29 SGB IV § 35 a SGB IV Sozialenqu&te 1966, 105 § 51 Abs. 4 SGB IV
Kapitel 8: Soziale Sicherung in Wirtschaft und Gesellschaft
745.
In den Kapiteln 2 - 7 sind jeweils Teilaspekte des Gesamtsystems der
sozialen Sicherung dargestellt. Im Folgenden werden Aspekte behandelt, die das Gesamtsystem betreffen. Damit sollen die Beschreibung des Systems vervollständigt,
seine Entwicklung
verdeutlicht
und
seine
Wirkungen
geschildert werden. Die Selektion solcher Aspekte erfolgt unter dem Kriterium, welches Gewicht ihnen für die Erklärung und Beurteilung des Systems zukommt. Dabei wird insbesondere auf das Gewicht abgehoben, das diesen Aspekten
in
der
öffentlichen Diskussion
über
die
Angemessenheit,
Finanzierbarkeit oder Reformbedürftigkeit des Systems der sozialen Sicherung beigemessen wird. Seit der Veröffentlichung von Sozialbudgets durch die Bundesregierung (erstmals 1968) ist die Höhe der Sozialleistungsquote ein zentraler Diskussionsgegenstand.
I. Die Sozialleistungsquote 746.
Die
öffentlichen
Sozialleistungen
sind
seit
Einführung
der
Sozialversicherung (mit Ausnahme weniger Jahre) kontinuierlich angestiegen. Dieser Anstieg gibt immer wieder Anlaß zu Besorgnissen, Warnungen und Tendenzmeldungen die oft mit absoluten Zahlenangaben belegt werden. Eine Argumentation an Hand absoluter Zahlen ist irreführend, weil sich im Zeitablauf auch alle anderen in Geldeinheiten ausgedrückten wirtschaftlichen Größen ändern, wie insbesondere Preise und Einkommen. 747.
Sozialleistungen verursachen einerseits Kosten, die aus Einkommen
finanziert werden, sind andererseits Einkommen, von denen Waren und Dienste gekauft werden; ihre Höhe und zeitliche Entwicklung muß daher im Zusammenhang mit diesen Größen gesehen werden. Für Vergleichszwecke müssen
Sozialleistungen
relativiert
werden.
Sie
müssen
auf
eine
volkswirtschaftliche Größe bezogen werden, in der sich Unterschiede des Einkommens, des Geldwertes und der Bevölkerungszahl niederschlagen.
290
748.
Kapitel 8: Soziale
Sicherung
Das Sozialbudget der Bundesregierung
nimmt Bezug
auf
das
Bruttosozialprodukt zu Marktpreisen. Die so ermittelte Sozialleistungsquote gibt an, welchen Anteil an allen Gütern und Leistungen, die hergestellt und nicht wieder im Produktionsprozeß verbraucht werden (vermindert um den Verbrauch an
Vorleistungen aus dem Ausland), die
Sozialleistungen
ausmachen; sie zeigt das Gewicht an, das die Sozialleistungen für die Volkswirtschaft haben. Andererseits sind Sozialleitungen im wesentlichen verfügbares Einkommen, so daß eine Bezugnahme auf das Volkseinkommen (Nettosozialprodukt zu Faktorkosten) ebenfalls instruktiv ist, weil dadurch das Verhältnis der Sozialleistungen zu den Primäreinkommen verdeutlicht wird. Das Volkseinkommen muß zugrunde gelegt werden, wenn man mit länger zurückliegenden Perioden vergleichen will, da es für die Zeit vor 1950 keine Angaben über das Bruttosozialprodukt gibt. a) Entwicklung 749.
Die statistische Erfassung der Sozialleistungen im Sozialbudget ist
ständig verbessert worden. Dies bedeutet umgekehrt, daß für frühere Jahre keine oder unvollständige Angaben vorliegen, obwohl es entsprechende Ausgaben gegeben hat. So sind z.B. Ausgaben für Arbeitsförderung erst ab 1927 nachgewiesen, obwohl Leistungen an Arbeitslose auch schon davor erbracht wurden. Die Sozialleistungsquote früherer Jahre ist also im Vergleich zu denen späterer Jahre zum Teil allein deshalb niedriger, weil die statistische Quellenlage sich verbessert hat. Eine Zeitreihe des Sozialbudgets oder der Sozialleistungsquote enthält einen statistischen Expansionseffekt. 750.
Die Sozialleistungsquote ist im Zeitraum 1885-1975 von 1,9 auf 33,9
angestiegen. Der Anstieg endete 1975 und ging ab 1982 in einen Rückgang Uber. Die Sozialleistungsquote sank von 1982 - 1990 um rund 3 Prozentpunkte. Wegen
der
vereinigungsbedingten
Mehraufwendungen
in
den
neuen
Bundesländern lag die Sozialleistungsquote im Jahre 1992 wieder auf dem Niveau für die alten Bundesländer im Jahre 1982. 751.
Diese
Angaben
lassen
erkennen,
daß
die
Entwicklung
der
Sozialleistungsquote Diskontinuitäten aufweist. Dies war auch in der
Kapitel 8: Soziale Sicherung
291
Vergangenheit der Fall. Zwar verdoppelte sich die Sozialleistungsquote in dem 30-jährigen Zeitraum 1885 - 1915 mehr oder weniger kontinuierlich. Nach dem ersten Weltkrieg verdoppelte sich die Sozialleistungsquote innerhalb weniger Jahre. Die Weltwirtschaftskrise führte erneut zu einer Verdoppelung, der jedoch ein drastischer Rückgang während der Naziherrschaft folgte. Nach dem zweiten Weltkrieg war die Sozialleistungsquote 1950 wieder auf das Niveau von 1930/31 angestiegen. Sie entwickelte sich dann bis 1966 bis auf 26 v.H. Ein erheblicher Anstieg bis auf 34 v.H. folgte in der Periode 1971 - 1975. 752.
Die
Diskontinuitäten
der
Entwicklung
der
Sozialleistungsquote
erscheinen allerdings überdimensioniert, weil sie nicht nur durch Änderungen der
Ausgaben
für
Sozialleistungen,
sondern
auch
durch
Einkommensänderungen bedingt sind. Dies gilt insbesondere für Perioden eines stagnierenden oder rückläufigen Sozialprodukts. So war der starke Anstieg der Sozialleistungsquote in den Jahren 1929 - 1932 nicht durch vermehrte Sozialausgaben, sondern durch ein vermindertes Sozialprodukt bedingt. Ebenso beruhte der sprunghafte Anstieg der Sozialleistungsquote in 1967 auf dem stagnierenden Sozialprodukt. Umgekehrt sind Perioden einer sinkenden Sozialleistungsquote (1933-39 und 1968-70) durch ein stark steigendes Sozialprodukt gekennzeichnet. 753.
Die Diskontinuitäten der Entwicklung der Sozialleistungsquote werden
überlagert von der langfristigen Expansion. Unter den Ursachen dafür sind zunächst systemimmanente Determinanten von Bedeutung. Die Ausgaben der Sozialversicherung Uberproportional
mußten zum
nach
Sozialprodukt
deren
Einführung
ansteigen,
weil
allein die
deshalb Zahl
der
versicherungspflichtigen Arbeitnehmer zu Lasten der Zahl der selbständig Erwerbstätigen und der mithelfenden Familienangehörigen zunahm. Dieser Anstieg der Arbeitnehmerquote hätte selbst unter sonst gleichen Bedingungen einen überproportionalen Anstieg der Ausgaben der Renten-, Kranken- und Unfallversicherung sowie für Beamtenpensionen zur Folge gehabt. 754.
Die langfristige Expansion der Sozialleistungsquote ist allerdings
überwiegend durch Leistungsausweitungen verursacht. Hierunter fällt die gesetzliche Erweiterung des leistungsberechtigten Personenkreises insbesondere
292
auf
Kapitel 8: Soziale Sicherung
Familienangehörige
und
Selbständige,
die
Erleichterung
der
Leistungsvoraussetzungen, die Erhöhung der Einkommensersatzrate und die Einführung neuer Leistungsarten. Einige Sprünge der Sozialleistungsquote lassen sich solchen gesetzlichen Leistungsausweitungen zuordnen. Dies gilt z.B. für die Perioden: 1890/93:
Einführung der gesetzlichen Rentenversicherung 1891;
1927:
Einführung der Arbeitslosenversicherung;
1957/58:
Rentenreform 1957;
1972/74:
Rentenreform 1972;
1975:
Ersatz steuerlicher Freibeträge durch Kindergeld;
1990:
Übertragung der Sicherungssysteme in die neuen Bundesländer;
1995:
Einführung der Pflegeversicherung.
755.
In der Entwicklung hat es zwei Phasen gegeben, in denen die
Sozialleistungsquote durch drastische gesetzgeberische Eingriffe absolut oder im Verhältnis zur sonst zu erwartenden Entwicklung reduziert wurde. Es sind dies
die Perioden
1930 -
1932 sowie
1977
-
1984.
In
beiden
Reduktionsphasen wurden als Reaktion auf wirtschaftliche Rezession (und dadurch verminderte öffentliche Einnahmen) sowie Ausgabeerhöhungen vor allem
in
Folge
zunehmender
Arbeitslosigkeit
die
Leistungen
der
Arbeitslosenversicherungen erschwert und eingeschränkt, die Selbstbeteiligung in der Krankenversicherung erhöht, deren Leistungskatalog begrenzt und die Einkommensersatzrate der Rentenversicherung gesenkt. Allerdings waren die reduzierenden Eingriffe in der ersten Phase ungleich starker als in der jüngeren Vergangenheit. 1 Ab 1930 gingen die Sozialleistungen absolut zurück mit der Folge, daß auch die Sozialleistungsquote ab 1933 drastisch zurückging. Ab 1977 stiegen die Sozialleistungen zwar absolut weiter an, doch wurde deren Zuwachs so verlangsamt, daß die Sozialleistungsquote bis 1982 etwa konstant blieb und erst dann bis 1989 absank. 756.
Im Laufe der Entwicklung hat sich die Zusammensetzung der
Sozialleistungen
verschoben.
Betrachtet
man
den
Anteil
einzelner
Ausgabepositionen an den gesamten öffentlichen Sozialleistungen, so zeigt sich, daß einige Positionen wirtschaftliche und politische Wechsellagen
Kapitel 8: Soziale Sicherung
293
reflektieren. Zu diesen reflexiven Ausgaben gehören diejenigen für die Arbeitsförderung, die naturgemäß mit der Beschäftigungslage schwanken. In den Ausgaben der Sozialhilfe spiegeln sich die wirtschaftliche Situation sowie die reduzierten Leistungen der übrigen Leistungszweige. Ihr Anteil an den Gesamtausgaben betrug 1885 24 v.H.; er sank bis 1910 auf 8 v.H. ab. Im Krisen- und Reduktionsjahr 1932 betrug er 29 v.H. In der Nachkriegszeit sank der Anteil der Sozialhilfeausgaben von 7 auf 3 v.H. (1970), stieg aber nach 1980 wieder auf 6 v.H. Die Ausgaben für soziale Entschädigung sind im wesentlichen Reflex der Kriegsfolgen. Ihr Anteil betrug 1914 2 v.H., nach dem Kriege (1921) 22 v.H. Er halbierte sich bis vor dem zweiten Weltkrieg. Von dem Ausgangswert 14 v.H. in 1950 sank er auf 2 v.H. in 1995. 757.
Demgegenüber weisen andere Positionen durchgängig einen (relativen)
Anstieg auf. Dies gilt insbesondere für die durch die Altersstruktur beeinflußten Ausgaben der Renten- und Krankenversicherung. Der Anteil der Rentenversicherung stieg von 4 v.H. im Gründungsjahr 1891 kontinuierlich Uber 15 v.H. im Jahr 1910 auf 24 v.H. in 1939 und 26 v.H. in 1950. Seit der Rentenreform von
1957 liegt er bei etwa 38 v.H.
Der Anteil der
Krankenversicherung stieg von 16 v.H. im Jahr 1885 auf 29 v.H. in 1920. Während der ersten Reduktionsphase ging er zurück und lag noch 1950 bei 17 v.H. Seither ist er auf 24 v.H. angestiegen. 758.
Die für Deutschland aufgezeigte Entwicklung der Sozialleistungsquote
ist keine Besonderheit, sondern gilt auch für viele andere Länder. In den West- und nordeuropäischen Ländern liegt die Sozialleitungsquote in ähnlicher Größenordnung. Vergleichbare Angaben über die Sozialleitungsquote legt das Internationale Arbeitsamt periodisch vor.2 Ein zeitlicher Vergleich zeigt, daß die Sozialleistungsquote in den meisten Ländern ansteigt. Dies gilt jedenfalls für Länder, mit einer relativ hohen Sozialleitungsquote. Stagnierende oder zeitweilig rückläufige Quoten haben Länder, deren Sozialleitungsquote unter dem Durchschnitt liegt, die wenig industrialisiert sind und kein Öl exportieren. Im
internationalen
Vergleich
zeigen
sich
enorme
Unterschiede
der
Sozialleitungsquote. Das wirft die Frage nach deren Bestimmungsgründen auf.
294
Kapitel 8: Soziale
Sicherung
b) Bestimmungsgründe 759.
Die Höhe der Sozialleitungsquote ist offensichtlich mit dem Stand der
wirtschaftlichen Entwicklung verbunden. Der Versuch, diesen Zusammenhang näher zu erklären, knüpfte an die Tatsache an, daß die Entstehung der sozialen Sicherung in Westeuropa historisch eng mit der Entstehung der industriellen Produktion verbunden war. Die rasch steigende Anzahl der in der Industrie beschäftigten Arbeitnehmer empfanden verstärkt das Bedürfnis nach sozialer Sicherung, sie artikulierten dieses Bedürfnis und gewannen mit zunehmender Zahl an politischem Einfluß, um die Forderung nach sozialer Sicherung durchzusetzen. Weltweit besteht eine positive Korrelation zwischen nichtlandwirtschaftlicher Arbeitnehmerquote und Sozialleistungsquote. 3 760.
Außer der systemimmanenten Expansion in personaler Hinsicht (TZ
753) wirkt als weitere Determinante die Altersquote der Bevölkerung. Eine steigende
Arbeitnehmerquote
(als
Indiz
eines
steigenden
Industrialisierungsgrades) hat - vor allem in Folge verbesserter Ernährung und medizinischer Versorgung - eine steigende Altersquote zur Folge. Diese wirkt erhöhend auf die Sozialleitungsquote ein, weil die Zahl der Leistungen wegen Alter sowie Tod eines Angehörigen, ferner die Invaliditätshäufigkeit und die Krankheitshäufigkeit
ansteigt
(TZ
97,162).
Einige
hochindustrialisierte
Einwanderungsländer haben eine vergleichsweise niedrige Altersquote. Dies erklärt zum Teil, warum die USA, Kanada und Australien eine im Vergleich zu Westeuropa niedrige Sozialleitungsquote haben. 761.
Die
Sozialleitungsquote
steigt
stärker
als
proportional
zur
Arbeitnehmerquote. Von einer Zunahme der Arbeitnehmerquote gehen nicht nur Wirkungen auf die Zahl der Leistungsfälle, sondern auch auf die Höhe der Einzelleistung
(Einkommensersatzrate)
und
die
Art
und
Anzahl
der
Leistungsarten aus. Eine Zunahme der Arbeitnehmerquote wirkt sich auf die Sozialleistungen aus in einem Leistungsfall-Effekt, einem Leistungshöhe-Effekt und
einem Leistungsarten-Effekt. Während der Leistungsfall-Effekt bei
gleichbleibender
Abgrenzung
des
berechtigten
Personenkreises
systemimmanent ist, sind (neben einer Ausweitung der Leistungsberechtigung) der
Leistungshöhe-Effekt und der Leistungsarten-Effekt an
induktive
Kapitel 8: Soziale Sicherung
Gesetzgebungsakte
gebunden.
Leistungsberechtigung, Erleichterung der
der
Die
Stationen
Erhöhung
der
Leistungsvoraussetzungen
der
295
Erweiterung
der
Einkommensersatzrate,
die
und der
Vermehrung
der
Leistungsarten sind oben im jeweiligen Sachzusammenhang erwähnt worden. Im vorliegenden Zusammenhang ist festzustellen, daß die quantitativen Auswirkungen
der
induktiven
Gesetzgebungsakte
der
Tendenz
nach
offensichtlich in Abhängigkeit von der Arbeitnehmerquote stehen. 762.
Dies gibt Anlaß zu der Frage, ob und wieweit die Sozialleitungsquote
durch unterschiedliche politische Systeme beeinflußt wird. Hinsichtlich der demokratisch verfaßten Länder ist gefolgert worden, daß der Zwang zur Stimmenmaximierung expandierende Wirkung auf die Sozialleitungsquote habe. Abwertend wurde die Meinung vertreten, daß steigende Sozialausgaben eine Folge sinkender Regierungsautorität seien, die auf
zunehmenden
Hedonismus, Demokratisierung von Gleichheitsanspriichen und Schwächung politischer Regime wegen knapper Mehrheiten beruhe.4 Diese DemokratieHypothese findet immer wieder Anhänger. 763.
Doch mit dieser Hypothese kann nicht erklärt werden, warum die
Sozialleitungsquote in den USA und der früheren UdSSR gleich hoch war, und warum sie auch in vielen nicht demokratisch verfaßten Ländern steigende Tendenz hat. Um die Hypothese zu halten, müßte man annehmen, daß in diesen Ländern an die Stelle des Zwanges zur Stimmenmaximierung ein Zwang zur Akklamationsmaximierung
wirksam
wird.
Dann
geht
jedoch
jeder
Erklärungswert verloren. Die Sozialleitungsquote ist weitgehend unabhängig vom politischen System und der herrschenden Ideologie.5 Eine Untersuchung über die Determinanten der öffentlichen Wohlfahrtsausgaben in 60 Ländern nennt als Hauptfaktoren die wirtschaftliche Entwicklung (Sozialprodukt pro Kopf), die Altersquote und das Alter des Systems der sozialen Sicherung. Der Einfluß von politischem System, Ideologie und wirtschaftlichem System erwies sich als unbedeutend. 6 764.
Offensichtlich hat der Gesetzgeber, wenn die Industrialisierung einen
gewissen Grad erreicht hat, der durch ein Arbeitnehmerquote von etwa 10 gekennzeichnet ist, nicht die Freiheit, öffentliche Sozialleistungen prinzipiell
296
Kapitel 8: Soziale Sicherung
und auf Dauer zu bejahen oder abzulehnen. Ein zeitlicher Freiheitsgrad besteht allerdings hinsichtlich der Frage, ob bestimmte Einzelmaßnahmen früher oder später eingeführt werden sollen. Ein Beispiel hierfür ist die frühe Einführung der Sozialversicherung in Deutschland. Diese ist vom damaligen Stand der Industrialisierung in Deutschland her allein nicht zu erklären. Die Ursachen
des
frühen
Beginns
lagen
in
speziellen
innenpolitischen
Konstellationen des jungen Deutschen Reiches begründet.7 Gegenwärtig werden Maßnahmen der sozialen Sicherung in wenig
industrialisierten
Ländern früher, d.h. bei geringerer Arbeitnehmerquote als seinerseits in Europa eingeführt. Ursächlich dafür ist, daß die Institutionen und Methoden der sozialen Sicherung jetzt „abrufbereit" vorliegen und zur Nachahmung reizen, während sie seinerzeit in Europa erst langsam entwickelt werden und um Anerkennung ringen mußten. 765.
Arbeitnehmerquote
und
Altersquote
erklären
hinreichend
die
Unterschiede der Sozialleitungsquote in einem gegebenen Zeitpunkt. Über den Wirkungszusammenhang beider Größen sind Theorien aufgestellt worden, die sich zwei weitgehend unvereinbaren, weil wertbedingten Grundkategorien zuordnen lassen: Marxistische (konflikttheoretische) Erklärungen sehen soziale Sicherung als Produkt der kapitalistischen Entwicklung; sie werde zur Sicherung der Kapitalverwertung und Pazifizierung der Klassenkonflikte erforderlich. Hier bleibt die Existenz von Maßnahmen der sozialen Sicherung in kommunistisch regierten Ländern zu erklären. Funktionalistische Theorien sehen
in
sozialer
Sicherung
ein
Produkt
von
Wachstums-
und
Differenzierungsprozessen im Rahmen der Modernisierung. Die Valenz solcher Theorien ist in einer Studie Uber die Einführung und Entwicklung von Sozialversicherungssystemen in west- und nordeuropäischen Ländern - also im Entstehungsgebiet der sozialen Sicherung - näher untersucht worden. 766.
Die Daten der Einführung von Sozialversicherungsgesetzen wurden zu
anderen
Daten
(Erwerbsbevölkerung
in
Beziehung im
sekundären
gesetzt: Sektor),
Industrialisierungsgrad Urbanisierungsgrad
(Bevölkerungsanteil in Städten Uber 20.000 Einwohner) und
politische
Determinanten (Einführung des Koalitionsrechts, Gründung gewerkschaftlicher Dachverbände, Gründung von Arbeitnehmerparteien). „Die westeuropäischen
Kapitel 8: Soziale Sicherung
297
Länder führten ihre ersten Sozialversicherungen auf sehr unterschiedlichen Niveaus der Industrialisierung und Urbanisierung ein". Hinsichtlich der politischen Determinanten ergab sich, das der Schlüssel zum Verständnis der frühen sozialpolitischen Entwicklungen in Westeuropa nicht in den Reformansprüchen
der
Arbeiterbewegung,
sondern
in
den
Legitimierungsstrategien der nationalen Eliten liegt. Die frühe Sozialpolitik war eine Sozialpolitik „von oben", nicht durch die Arbeiterbewegung, sondern gegen sie realisiert, einigen ihrer sozialen Ansprüche entgegenkommend, um ihren weitergehenden politischen Forderung zu begegnen. 8 Diese Feststellung gilt für die Einführungsphase; die späteren Ausbauphasen sowie Widerstände gegen Reduktionsphasen wurden sehr von Kräften getragen, die in der Tradition der Arbeiterbewegung standen. 767.
In west- und nordeuropäischen Ländern gab es eine typische zeitliche
S e q u e n z der Einführung von Sicherungsinstitutionen: Unfallversicherung Krankenversicherung - Rentenversicherung - Arbeitslosenversicherung. Diese „typische
Sequenz
der
Einführung
läßt
sich
vielleicht
durch
den
unterschiedlichen Grad administrativer Steuerungsprobleme der Einzelsysteme sowie durch das Ausmaß erklären, in dem sie einen Bruch mit den die Wirtschaftsordnung beherrschenden liberalen Prinzipien ... darstellten. Der Bruch mit dem Liberalismus lag vor allem in ... der Versicherungspflicht, aber auch in der Übernahme staatlicher Verantwortung für die Administration und Finanzierung bisher von Staatsintervention freier Programme". 9 Diese plausible Erklärung legt eine vom üblichen abweichende Fragestellung nahe: Hat man bisher ausgehend vom Zustand (noch) nicht vorhandener sozialer Sicherung die Ursachen und Faktoren ihrer Entstehung und Ausdehnung untersucht, so könnte man umgekehrt ausgehend vom (jetzt) gegebenen Zustand nach den Ursachen und Faktoren fragen, die den Abbau des Defizits an sozialer Sicherung gehemmt haben. c) Zur künftigen Entwicklung 768.
In der Endphase der Niederschrift dieses Buches wurden - wieder
einmal - in der veröffentlichten Meinung verstärkt Sorgen um die Zukunft des Systems der sozialen Sicherung geäußert. Man prophezeit, daß dieses System
298
Kapitel 8: Soziale Sicherung
in Zukunft unfinanzierbar werde. Man spricht von „gebeuteltem" Sozialstaat, von „sozialer Hypertrophie" und ängstigt sich vor einem kommenden Generationenkonflikt, weil die jungen Erwerbstätigen nicht mehr bereit sein würden, die aus dem Sozialbudget erwachsenden Belastungen zu tragen. Solche Sorgen leiten sich aus der absehbaren Veränderung der Altersstruktur ab, werden aber auch mit politischer Intention übertrieben und popularisiert. 769.
Die
vorliegenden
Prognosen
über
die
künftige
Bevölkerungsentwicklung zeigen in der Tendenz übereinstimmend einen Anstieg der Altersqoute auf. Dies hat insbesondere Bedeutung für die Ausgaben und damit den Beitragssatz der gesetzlichen Rentenversicherung. Unter bestimmten alternativen Annahmen über gesamtwirtschaftlichen Faktoren wie Außenhandel, Produktivität, Investitionen, Einkommen, Erwerbstätigkeit u.a. prognostiziert ein allseits anerkanntes Gutachten
10
für das Jahr 2040 einen
Anstieg des Beitragssatzes zur Rentenversicherung von 19 v.H. im Jahr 1995 auf 26 v.H. unter günstigen Annahmen (oberes Szenario) und auf 29 v.H. unter ungünstigen Annahmen (unteres Szenario). Dies ist deutlich weniger dramatisch als eine Prognose, die sich allein auf die demographische Entwicklung, also auf
das Verhältnis zwischen
Beitragsszahlem
und
Rentenempfängern bezieht. 770.
Auch für die Krankenversicherung wird ein Anstieg des Beitragssatzes
bis 2.040 um 1 v.H. (obere Variante) bzw. 2 v.H.
(untere Variante)
angenommen. Der geringe Anstieg beruht vor allem darauf, daß Versicherte beim Übergang von Erwerbstätigkeit in Rente der Krankenversicherung als Beitragszahler erhalten bleiben. Für
die Pflegeversicherung wird
ein
demographisch bedingter Anstieg des Beitragssatzes um 0,4 v.H. bzw. 0,6 v.H. prognostiziert. Für den Beitragssatz der Arbeitslosenversicherung wird mit
einem
Rückgang
um
3
bzw.
4
v.H.
gerechnet.
Für
den
Gesamtbeitragssatz zur Sozialversicherung ergibt sich somit bis 2040 ein Anstieg von 40 v.H. (1995) auf 45 v.H. (oberes Szenario) bzw. 48 v.H. (unteres Szenario). Für Schlußfolgerungen ist zu berücksichtigen, daß die durchschnittlichen Nettoentgelte der Arbeitnehmer bis 2040 auf etwa das Doppelte ansteigen werden. Für Rückschlüsse auf die Sozialleistungsquote ist ferner zu bedenken, daß die Ausgaben für soziale Entschädigung mit
Kapitel 8: Soziale Sicherung
299
Sicherheit, für Sozialhilfe und Kindergeld (wegen abnehmender Kinderzahl) höchst wahrscheinlich relativ sinken werden. 771.
Von daher erscheinen die aus den genannten Sorgen abgeleiteten
grundsätzlichen bestehenden
Änderungsvorschläge
System
keine
nicht
Alternative.
begründet. Ein
Es
Übergang
gibt zu
zum einem
Kapitaldeckungsverfahren ist aus oben (TZ 625) genannten Gründen weder ratsam noch möglich. Ein Ersatz der beitragsbezogenen Rente durch eine einheitliche Mindestrente ist verfassungsrechtlich problematisch, ungerecht und unrealistisch. Nicht Systemänderungen sind hilfreich, sondern eine evolutionäre Weiterentwicklung, Steuerung und gegebenenfalls Korrektur des bestehenden Systems, wie es in der Vergangenheit wiederholt geschehen ist. 772.
Für Einwirkungen in Richtung auf eine Verminderung des künftig zu
erwartenden Anstiegs der Sozialleistungsquote gibt es mehrere Ansatzpunkte: Entscheidend ist eine niedrige Arbeitslosenquote. Das wirtschaftspolitische Ziel der Vollbeschäftigung ist seit langem verletzt; Seine Erreichung würde den Anstieg der Sozialleistungsquote entscheidend mildern. Wenn dieses Ziel erreicht ist, kann mit einem Anstieg der Erwerbsquote von Frauen, d.h. mit einer erhöhten Zahl von Beitragszahlern gerechnet werden. Ebenso würde eine Zuwanderung die Anzahl der Beitragszahler erhöhen, sofern für diese Arbeitsplätze vorhanden sind. Schließlich kann an eine Erhöhung der Altersgrenzen gedacht werden, wenn dadurch nicht jungen Menschen der Zugang zu Arbeitsplätzen erschwert wird.
300
Kapitel 8: Soziale Sicherung
II. Ergänzende Sicherungsmaßnahmen 773.
Neben den Maßnahmen zur sozialen Sicherung in der hier gewählten
Abgrenzung gibt es weitere Maßnahmen mit gleicher Zielsetzung auf drei verschiedenen Handlungsebenen: Individuelle Maßnahmen, insbesondere der Einzelvertrag mit privaten Versicherungsunternehmen; betriebliche Maßnahmen in Form von Einzel (arbeits-)-vertrag, Zusage oder Betriebsvereinbarung; kollektivvertragliche Maßnahmen durch Tarifvertrag. 774.
Individuelle und betriebliche Maßnahmen
bestanden bereits vor
Einführung gesetzlicher Maßnahmen und waren zum Teil deren Vorläufer.11 Für kollektivvertragliche Regelungen gilt dies für die Entstehungsphase der sozialen Sicherung nicht, weil es damals Tarifverträge noch nicht gab. Später kam auch ihnen vielfach eine Vorläuferfunktion zu. Die Vorläuferfunktion individueller, betrieblicher und kollektivvertraglicher Maßnahmen besagt nicht, daß diese nach Einführung öffentlicher Maßnahmen verdrängt wurden. Sie haben sich erhalten und erfüllen entweder eine Ersatzfunktion (z.B. bei fehlender Versicherungspflicht) oder eine Ergänzungsfunktion, wenn staatliche Maßnahmen aus der Sicht der Betroffenen als unzureichend angesehen werden. 775.
Hinsichtlich
der
Rahmenvorschriften,
ergänzenden die
Maßnahmen
gibt
Mindestanforderungen
es
gesetzliche
stellen
oder
Mißbrauchsmöglichkeiten begrenzen. So gibt es eine staatliche Aufsicht Uber das private Versicherungswesen, ein Gesetz zur Regelung von Übertragbarkeit, Insolvenzsicherung und Anpassung betrieblicher Sozialleistungen,12 sowie das Tarifvertragsgesetz. Konstitutiv ist jedoch, daß für das Eingehen von Verpflichtungen auf individueller, betrieblicher oder tarifvertraglicher Ebene Abschlußfreiheit besteht. Von dieser Abschlußfreiheit wird ungeachtet des Ausbaus der öffentlichen Maßnahmen nach wie vor Gebrauch gemacht.
301
Kapitel 8: Soziale Sicherung
a) Privatversicherung 776.
Die Ausgaben für private Versicherungen steigen im langfristigen Trend
ungeachtet des Ausbaus der öffentlichen sozialen Sicherung stärker als das Volkseinkommen.
Die
Prämieneinnahmen
der
Individualversicherung
entsprachen zur Zeit der Einführung der Sozialversicherung (1890) 2 v.H. des Volkseinkommens; seither ist dieser Anteil auf 8 v.H. gestiegen. Die Ausgaben für private Versicherung sind einkommenselastisch. „ daraus erklärt sich die erstaunliche Beobachtung, daß die Entwicklung der Sozialversicherung ... das Wachstum des.. Versicherungswesens., nicht gehemmt, sondern im Gegenteil nachdrücklich gefördert hat. Die Lebensversicherung hat durch die Einführung und Ausweitung der gesetzlichen Rentenversicherung immer wieder starke Impulse erfahren, und die ungewöhnliche
Entwicklung
der
privaten
Krankenversicherung wäre undenkbar ohne die vorhergehende allgemeine Verbreitung der gesetzlichen Krankenversicherung.13 777.
Die
Einkommenselastizität
der
Nachfrage
nach
privater
Lebensversicherung ist auch für die jüngere Vergangenheit, d.h. für die Zeit nach den Rentenreformen von 1957 und 1972 belegt. In der Zeit von 1960 (=100) bis 1979 stieg:14 die Bruttolohn- und Gehaltssumme auf 502 = jährlich um 8,9 v. H. die Einnahme an Lebensversicherungsprämien auf 864 = jährlich um 12,0 v. H. das Lebenversicherungs-Neugeschäft auf 1074 = jährlich um 13,3 v.H. die Vermögensanlage der Lebensversicherung auf 1076 = jährlich um 13.3 v.H. 1988 waren die Beitragseinnahmen der privaten Lebensversicherung fast doppelt so hoch wie die Auszahlungen für Renten und Kapitalbeträge; dies ist ein Indiz für das weitere Wachsen der Branche.
302
778.
Kapitel 8: Soziale Sicherung
Auch die Nachfrage nach privater Krankenversicherung steigt
stärker als das Volkseinkommen, Dies wurde für die Periode 1927 - 1956 nachgewiesen.15 Für die Zeit von 1955 bis 1966 wurde ein Elastizitätsquotient für die Nachfrage nach privatem Krankenversicherungsschutz (im Verhältnis zum Volkseinkommen) von durchschnittlich 1,5 errechnet. 16
b) Betriebliche Altersversorgung 779.
Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung bestanden bereits vor
Einführung der
Sozialversicherung.
Sie
sind
nach
Einführung
und
mehrmaligem Ausbau der gesetzlichen Rentenversicherung nicht nur erhalten geblieben, sondern erheblich ausgebaut worden. Dies zeigt, daß die durch die gesetzliche Rentenversicherung erreichte Einkommensersatzrate von
den
Betroffenen und ihren Arbeitgebern als nicht ausreichend angesehen wird. Die betriebliche Altersversorgung füllt eine „Versorgungslücke", die um so größer wird, je mehr das Einkommen die Beitragsbemessungsgrenze (TZ 349) übersteigt. 780.
Die von den Betrieben (Arbeitgebern) neben der Entgeltfortzahlung
aufgebrachten, nicht auf Gesetz beruhende Sozialleistungen entsprechen etwa 5 v.H. aller öffentlichen Sozialleistungen. Fast drei Viertel der betrieblichen Sozialleistungen entfallen auf die betriebliche Altersversorgung. Ausgaben
entsprechen
etwa 8 v.H.
der Ausgaben
der
Deren
gesetzlichen
Rentenversicherung. Von den Beziehern einer Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung bezieht etwa die Hälfte zusätzlich eine Betriebsrente. 781.
Der Anteil der Arbeitnehmer mit Anwartschaft auf
betriebliche
Altersversorgung und der Anteil der Betriebe mit einer Versorgungszusage steigt mit zunehmender Betriebsgröße. Während in Betrieben mit mehr als 1000 Beschäftigten fast alle eine Anwartschaft erwerben, sind es in Betrieben mit weniger als 50 Beschäftigten weniger als ein Fünftel. 782.
Die Erfahrung zeigt, daß Einrichtung und Ausbau betrieblicher
Leistungen deutlich von der Konjunktur- und Arbeitsmarktlage abhängt. Bei
Kapitel 8: Soziale Sicherung
303
gutem Wirtschaftsverlauf und Arbeitskräftemangel sind die Betriebe sowohl in der Lage als auch motiviert, Arbeitskräfte anzulocken oder an den Betrieb zu binden.
Die betriebliche Altersversorgung
erfüllt die
Funktion
eines
übertariflichen Lohnes; sie stagniert oder ist sogar rückläufig in Zeiten größerer und andauernder Arbeitslosigkeit. So ging der Anteil der Arbeitnehmer mit Betriebsrentenansprüchen von zwei Drittel Mitte der 70er Jahre auf die Hälfte Mitte der 90er Jahre zurück. 783.
Die Frage, ob und wie auch die andere Hälfte der Arbeitnehmer in die
betriebliche Altersversorgung einbezogen werden kann, gewinnt dadurch an Gewicht, daß die jetzt Begünstigten nicht nur in größeren Betrieben beschäftigt sind, sondern der Tendenz nach auch ein geringeres Beschäftigungsrisiko und ein höheres Einkommen haben. Eine mögliche Lösung bestände in der Schaffung überbetrieblicher Einrichtungen,
die es
kleineren
Betrieben
erleichtern, Versorgungszusagen zu machen. Die Lösung würde erleichtert, wenn die Arbeitnehmer bereit wären, Teile ihres Lohnes (ihrer Lohnerhöhung) in solche Einrichtungen einfließen zu lassen. 784.
Die betriebliche Altersversorgung wird in verschiedenen Formen
durchgeführt: Vorherrschend Uber eine Direktzusage des Arbeitgebers; häufig auch über eine Unterstützungskasse, d.h. eine rechtlich selbständige Einrichtung, die durch den Arbeitgeber finanziert wird, nicht der Versicherungsaufsicht unterliegt und in der Anlage ihres Vermögens frei ist; weniger häufig Uber eine Direktversicherung (bei einer privaten Lebensversicherung) oder eine Pensionskasse, die der Versicherungsaufsicht unterliegt. 785.
Die Leistungsbemessung in der betrieblichen Altersversorgung
erfolgt nach drei unterschiedlichen Methoden: Festgeldzusage, häufig nach Dienstzeit (und Einkommenshöhe) gestaffelt;
304
Kapitel 8: Soziale Sicherung
gehaltsabhängige Zusage (in v.H. des letzten Gehalts), oft mit Höchstbegrenzung; Gesamtversorgungszusage (z.B. zusammen mit gesetzlicher Rente 75 v.H. des letzten Gehalts). 786.
Das Betriebsrentengesetz von 1974 enthält Schutzbestimmungen für
zugesagte Leistungen und Anwartschaften der betrieblichen Altersversorgung. Deren wichtigste sind: a)
Die Versorgungsanwartschaft wird (auch bei Ausscheiden aus dem Betrieb) unverfallbar, wenn das 35. Lebensjahr vollendet ist und entweder die Versorgungszusage 10 Jahre oder bei 12-jähriger Betriebszugehörigkeit mindestens 3 Jahre bestanden hat.
b)
Leistungen der Eigenvorsorge dürfen auf Betriebsrenten nicht angerechnet werden.
c)
Die Höhe der zugesagten Betriebsrente darf durch Anrechnung anderer Versorgungsbezüge nicht unterschritten werden.
d)
Leistungen der betrieblichen Altersversorgung sind alle drei Jahre an den Preisindex anzupassen, wenn die wirtschaftliche Lage des Arbeitgebers dies zuläßt.
e)
Leistungen und Anwartschaften werden gegen Insolvenz des Arbeitgebers bei einem Pensions-Sicherungs-Verein abgesichert.
787.
Die Leistungen der betrieblichen Altersversorgung werden im Prinzip
durch Kapitaldeckung finanziert. Im Falle der Direktversicherung und der Pensionskassen geschieht dies durch Beitragszahlung des Arbeitgebers (z.T. auch des Versicherten). Im Falle der Direktzusagen und Unterstützungskassen werden zur Deckung der künftigen Verpflichtungen Rückstellungen gebildet. Diese im Betrieb verbleibenden Rückstellungen sind eine wesentliche Quelle der Eigenfinanzierung der Betriebe. Diesen steht - auch weil die Rückstellungen als betrieblicher Aufwand steuerlich absetzbar sind - eine im Vergleich zu Fremdkapital billigere Finanzierungsquelle zur Verfügung.
Kapitel 8: Soziale Sicherung
305
c) Tarifvertragliche Regelungen 788.
Ergänzende
Maßnahmen
der
sozialen
Sicherung
sind
auch
Tarifverträgen vereinbart. Solche Vereinbarungen haben zum Ziel,
in
fehlende
gesetzliche Regelungen zu ersetzen oder bestehende Regelungen zu ergänzen. Die Art der Maßnahmen hat sich dementsprechend mit dem Fortgang der Gesetzgebung über soziale Sicherung quantitativ
im
Vordergrund
gewandelt.
Vereinbarungen
Gegenwärtig
über
eine
stehen
zusätzliche
Altersversorgung. Ein gewichtiges Beispiel hierfür ist die für nicht-beamtete Beschäftigte im öffentlichen Dienst bestehende Zusatzversorgung im Falle des Alters, der Invalidität und für Hinterbliebene. Ein solcher Tarifvertrag wurde erstmals 1928 für die Beschäftigten des Reiches und des Landes Preußen geschlossen. Es wurde eine Zusatzversorgungsanstalt zusätzlichen
Versorgung
gegründet,
deren
zur Durchführung der
heutiger
Nachfolger
die
Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder ist. Bei dieser Anstalt versichert auch ein Teil der Gemeinden ihre Beschäftigten; für die übrigen Gemeinden bestehen mehrere kommunale Zusatzversorgungskassen. 789.
Das Ziel der Zusatzversorgung besteht darin, für die Arbeitnehmer im
öffentlichen Dienst die Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung so aufzustocken, daß sich eine an der Versorgung der Beamten orientierte Gesamtversorgung ergibt. Die Vereinbarungen waren zunächst darauf gerichtet, stufenweise eine Gesamtversorgung von etwa 90 v.H. der letzten Nettobezüge
sicherzustellen.
Wegen
der
gestiegenen
Abzüge
vom
Bruttoeinkommen durch Beiträge und Steuern entstand in den 70er Jahren das Problem der „Überversorgung": Es ergaben sich vielfach Altersbezüge, die das letzte Nettoeinkommen überstiegen. Die darüber geführten Verhandlungen führten
1983 zu einer Einigung
der Tarifvertragsparteien über
einen
stufenweisen Abbau dieses Zustandes.
III. Leistungskumulation 790.
Der Umstand, daß eine Person Anspruch auf mehrere Sozialleistungen
hat, wird als Leistungskumulation bezeichnet und diskutiert. 17 Im Jahre
306
Kapitel 8: Soziale Sicherung
1977 bezogen von allen Empfängern einer Rente 78 v.H. nur eine Leistung, 22 v.H. zwei oder mehr Leistungen. Die häufigsten Kumulationsfälle waren das Zusammentreffen
von
Versichertenrente
und
Hinterbliebenenrente.18
Ungeachtet des weiteren Rückgangs kriegsbedingter Entschädigungsleistungen ist nicht mit einem Rückgang der Kumulationsfälle zu rechnen, weil zunehmend mehr Empfänger von Hinterbliebenenrenten auch Ansprüche aus eigener Versicherung haben. Dies gilt insbesondere für Frauen. Von den weiblichen Rentenbeziehem des Jahres 1994 bezogen 51 v.H. nur eine Versichertenrente, 23 v.H.
nur eine Witwenrente und 26 v.H.
eine Versicherten- und
Witwenrente. Bei den männlichen Rentenbeziehern bezogen nur 2 v.H. eine Versicherten- und eine Witwerrente.19 791.
Das Sozialrecht enthält Nonnen,
die einer als ungerechtfertigt
angesehenen Gesamtleistungshöhe im Falle der Kumulation entgegen wirken sollen.
Diese
Normen
werden
als
Kürzungs-,
Ruhens-
oder
Anrechungsvorschriften bezeichnet. Ihre Anzahl, ihr Berechnungsmodus sowie die geltenden Ausnahmen und Variationen sind verwirrend vielfältig und unterliegen
häufig Änderungen.
Die
Normen
lassen
sich
auf
drei
Grundmethoden zurückführen: Anrechnung von Einkommen oder anderer Sozialleistungen. Dies erfolgt insbesondere bei Leistungen, die nach dem Bedarf bemessen sind (z.B. Sozialhilfe, Wohngeld, Ausgleichsrente). Normierung einer Höchstgrenze. Dies erfolgt insbesondere bei Einkommensersatzleistungen, wenn diese mit anderen Leistungen kumulieren. So wird z.B. die Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung begrenzt, wenn sie mit einer Unfallrente zusammentrifft. Ausschluß einer Leistung. Dies geschieht entweder durch Ausschluß der Leistungsberechtigung gegenüber einem Leistungsträger, wenn ein anderer Träger eine funktionsgleiche Leistung gewährt. (z.B. Kindergeld verdrängt Anspruch auf Kinderzuschlag nach dem sozialen Entschädigungsrecht) oder durch Ausschluß der Leistungsberechtigung
Kapitel 8: Soziale Sicherung
307
wegen eines Tatbestandes, wenn ein anderer Tatbestand vorliegt (z.B. Krankengeld verdrängt Arbeitslosengeld). Die kumulationsbegrenzenden Vorschriften folgen nicht allgemeinen Kriterien. Über sie wird im Einzelfall unter Berücksichtigung des leistungsauslösenden Tatbestandes, des Leistungszwecks sowie der Finanzierungsquelle entschieden. 792.
Die Leistungskumulation und die ihrer Begrenzung dienenden Normen
haben seit jeher Anlaß zu Kritik gegeben. Die betroffenen Personen fühlen sich
unangenehm
oder
Finanzierungsverantwortung
ungerecht wird
betroffen. geltend
Von
Personen
gemacht,
daß
mit die
Kürzungsbestimmungen nicht weit genug greifen und die Kumulation in vielen Fällen zu einer Übersicherung führe. Schließlich wird dargetan, daß der Tatbestand der Kumulation und die Notwendigkeit von Kürzungsnormen die Transparenz des Sicherungssystems beeinträchtige sowie die
mangelnde
Harmonisierung zwischen Leistungsarten und Leistungszweigen beweise. Will man dieser Kritik Rechnung tragen, d.h. die Kumulation beseitigen oder wenigstens zahlenmäßig verringern, so ist dies nur möglich, wenn man ihre Ursachen beseitigt. 793.
Die wichtigsten Ursachen der Leistungskumulation sind: Das Vorliegen mehrerer leistungsauslösender Tatbestände in einer Person. Beispiel: Rente wegen Invalidität und Wohngeld wegen unzumutbarer Mietbelastung. Die nach Ursachen differenzierte Normierung eines leistungsauslösenden Tatbestandes oder der Leistungshöhe. Beispiel: Eine durch Arbeitsunfall verursachte Invalidität bewirkt Verletztenrente aus der Unfallversicherung und Erwerbsunfähigkeitsrente aus der Rentenversicherung. Die organisatorische Gliederung des Sicherungssystems. Beispiel: Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung und Beamtenpension.
308
Kapitel 8: Soziale
Sicherung
Die Grundentscheidung für die Methode der Ableitung von Hinterbliebenenrenten (TZ 266). Beispiel: Rente aus eigener Versicherung und Hinterbliebenenrente. Unzureichende Leistungshöhe bei Einkommenersatzleistungen insbesondere wegen kurzer Versicherungsdauer. Beispiel: Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung und laufender Lebensunterhalt aus der Sozialhilfe. 794.
Aus diesen Ursachen für die Leistungskumulation ergeben sich die
Möglichkeiten für deren Beseitigung oder Verringerung. Beim Vorliegen mehrerer leistungsauslösender Tatbestände müßte jeweils einer als dominant normiert werden (Mit Rückwirkungen auf die Leistungsbemessung). Die nach Ursachen differenzierte Normierung der leistungsauslösenden Tatbestände müßte aufgegeben oder allein bei der Leistungsbemessung berücksichtigt werden. Die organisatorische Gliederung des Systems außer derjenigen nach leistungsauslösenden Tatbeständen müßt beseitigt werden. Die Ableitung der Hinterbliebenenleistungen müßte ersetzt werden durch eine andere Methode. Und schließlich müßte zur Sicherstellung einer ausreichenden Leistungshöhe jede Begrenzung der Versicherungspflicht aufgegeben werden. Die Beseitigung von Kumulationen würde also mehrere jeweils tiefgreifende Änderungen des bestehenden
Systems
erfordern.
Es
ist
unwahrscheinlich,
daß
solche
Änderungen wegen der Leistungskumulation vorgenommen werden. Nur wenn und soweit solche Änderungen aus anderen Gründen erfolgen, wird sich als Folge die Leistungskumulation quantitativ reduzieren. 795.
Zur Leistungskumulation gehört in einem weiteren Sinne auch das
Zusammentreffen von Sozialleistungen mit Erwerbseinkommen. In einigen Fällen ist die Leistungsberechtigung davon abhängig, daß kein oder nur eine begrenztes
Erwerbseinkommen
besondere . Altersgrenzen). Erwerbseinkommen
auf
bezogen
In die
anderen
wird
(z.B.
Fällen
Sozialhilfe
Arbeitslosengeld,
wird
vorhandenes
angerechnet,
(z.B.
Hinterbliebenenrente) oder eine solche Anrechnung diskutiert, wie z.B. bei Invaliditätsleistungen (TZ 145). Hiergegen werden grundsätzliche Einwände geltend gemacht: Anrechnungsbestimmungen bringen wenig ein, weil die
Kapitel 8: Soziale Sicherung
309
Erfassung der Einkommen schwierig ist und mit Anpassungsverhalten der Betroffenen
zu
rechnen
Sicherheitsempfinden.
ist.
Andererseits
Weiter
beeinträchtigen
wird
angesichts
sie
das
zunehmender
Teilzeitbeschäftigung auf die Berücksichtigung von Erwerbseinkommen nicht in allen Fällen verzichtet werden können.
IV. Der Substitutionseffekt öffentlicher Sozialleistungen 796.
Der Finanzaufwand für ergänzende Sicherungsmaßnahmen durch
Privatversicherung, betriebliche und tarifliche Sozialleistungen entspricht einer Größenordnung von etwa 15 v.H. der im Sozialbudget ausgewiesenen öffentlichen Sozialleistungen. Für eine vollständige Bilanzierung wäre noch zu bedenken, daß Sicherungsmaßnahmen, die sich innerhalb von Haushalten vollziehen
-
insbesondere
Aufwendungen
für
Gesundheitspflege,
Kindererziehung und Pflegeleistungen - nicht erfaßt (und nur schwer erfaßbar) sind. 797.
Dieser Hinweis verdeutlicht, daß die privaten und
betrieblichen
Aufwendungen in Abhängigkeit von den öffentlichen Sozialleistungen stehen. Öffentliche Sozial leistungen
substituieren
alternative
oder
ergänzende
Finanzaufwendungen. Dieser Substitutionseffekt ist für die Beurteilung der Sozialleistungsquote von Bedeutung. 798.
Leistungen der betrieblichen Altersversorgung ergänzen die Leistungen
der gesetzlichen Rentenversicherung; umgekehrt substituieren gesetzliche die betrieblichen Leistungen.
Die Erhöhung der Renten
der
gesetzlichen
Rentenversicherungen durch die Rentenreform 1957 führte wegen deren Anrechnung auf betriebliche Leistungen zu einem Rückgang des betrieblichen Pensionsaufwands um ein Drittel. Ein ähnlicher Effekt hat sich bei der Rentenreform 1972 nicht ergeben, weil die Begünstigten der Rente nach Mindesteinkommen - vor allem Frauen - in der Mehrzahl keine Ansprüche auf betriebliche Altersversorgung hatten.
310
799.
Kapitel 8: Soziale Sicherung
Der Substitutionseffekt läßt sich auch im internationalen Vergleich
zeigen. Länder mit relativ niedrigem Aufwand des öffentlichen Systems für die Alterssicherung (z.B. USA, Frankreich, Schweiz) haben einen hohen Aufwand der Zusatzsysteme und umgekehrt. Die Substitution privater durch öffentliche Aufgaben gilt auch für die Ausgaben für die Gesundheitssicherung. Der Gesamtaufwand für die Gesundheitssicherung schwankt im internationalen Vergleich
in
relativ
engen
Grenzen,
obwohl
die
Organisation
des
Gesundheitswesens sehr unterschiedlich ist. In einigen Ländern besteht ein öffentlicher Gesundheitsdienst (Großbritannien, Italien), in anderen ein Versicherungssystem (Deutschland, Frankreich), in wieder anderen weder das eine noch das andere, sondern fast nur die private Versicherung (USA, Neuseeland). 800.
Öffentliche Sozialleistungen substituieren alternative Belastungen
privater Haushalte. Gäbe es die öffentlichen Sozialleistungen nicht, so würden für den Unterhalt der jetzigen Sozialleistungsempfänger alternative Belastungen entstehen. Auf welchem technischen Wege auch immer dies geschähe, im Ergebnis müßten die Erwerbstätigen Belastungen ihres Einkommen hinnehmen. Angesichts der herrschenden Wertvorstellungen und der historischen Erfahrung ist sicher, daß es unter allen Umständen eine zweite Einkommensverteilung gäbe. Die Diskussion
Uber die Belastbarkeit „der Wirtschaft" oder der
Arbeitseinkommen geht (oft unausgesprochen) von der Vorstellung aus, daß die Alternative zu öffentlichen Sozialleistungen ein Vakuum, d.h. die Abwesenheit von Umverteilungsvorgängen sei oder sein könne. Diese Vorstellung ist unzulässig, weil ein solches Vakuum nie vorhanden war und nirgends vorhanden ist; es gilt der physikalische Begriff des „horror vacui". Immer und überall werden die kranken, invaliden, beschäftigungslosen, elternlosen Mitglieder einer Gesellschaft erhalten und dadurch das Einkommen der Erwerbstätigen belastet. 801.
Die modernen Systeme der sozialen Sicherung sind eine Methode zur
Verwirklichung der für erforderlich gehaltenen Umverteilung. Sie substituieren andere Methoden, die sich als unzulänglich oder unzweckmäßig erwiesen haben. Es ist eine offene Frage, ob die neuen Methoden im Ergebnis das Ausmaß der Umverteilung im Durchschnitt der Haushalte und im Lebenszyklus
Kapitel 8: Soziale
Sicherung
311
einzelner Personen vergrößert haben. Zwar hat die Umverteilung insbesondere wegen
zunehmender
Altersquote
und
verlängerter
Ausbildungsdauer
zugenommen, doch bleibt fraglich, ob dies durch die neuen Methoden bewirkt worden ist. Diese haben in erster Linie bewirkt, daß die Umverteilung nach Zeit und Sachverhalt ausgeglichen wird. Diese Ausgleichsfunktion verhindert, daß in einem gegebenen Zeitpunkt wenige Haushalte (nur diejenigen mit Sozialleistungsberechtigten) höhere Belastungen zu tragen haben und sie bewirkt, daß die Einkommensverwendung des einzelnen Haushalts zeitlich ausgeglichen ist. 802.
Die steigende Belastung der Haushalte durch Beiträge zur sozialen
Sicherung
hat
nicht
zu
einer
Verringerung
des
frei
verfügbaren
Einkommensanteils geführt. Der Anteil der Haushaltsausgaben
(mittlere
Verbrauchergruppe) für Grundbedürfnisse (Nahrungsmittel, Miete, Heizung, Beleuchtung) ist von 65 v.H. im Jahr 1950 auf 45 v.H. im Jahr 1993 zurückgegangen.
Dieser
vergrößerte
Spielraum
der
Einkommensverwendung ist durch den in der gleichen Periode gestiegenen Beitragssatz (der Versicherten) (von 10 auf 20 v. H.) nur zur Hälfte beansprucht worden. Der gewonnene Spielraum für die Verwendung des Einkommens schlug sich - unbeschadet steigender Belastung durch direkte Steuern - nieder in einer Erhöhung des Ausgabenanteils für Bildung und Unterhaltung, für Verkehr und in einer Erhöhung der Sparquote. Dem möglichen Einwand, daß dieser freie Einkommensanteil ohne den Anstieg der Sozialleistungsquote
entsprechend
größer
gewesen
wäre,
steht
der
Substitutionseffekt entgegen: Weniger öffentliche Sozialleistungen hätten mehr Ausgaben der Haushalte für Grundbedürfnisse (durch vermehrte intraoikonale Umverteilung) und für alternative Sicherungsmaßnahmen erzwungen. Soweit die Alternative in vermehrten betrieblichen oder tarifvertraglichen Maßnahmen bestanden hätte,
wäre wegen erhöhter
Einkommen der Haushalte gemindert worden.
Arbeitskosten
das
verfügbare
312
Kapitel 8: Soziale Sicherung
V. Makroökonomische Wirkungen der Sozialleistungen 803.
Die
Diskussion
Sozialleistungen
befaßt
makroökonomischer sich
oft
mit
Wirkungen Zielkonflikten
öffentlicher zwischen
Wirtschaftspolitik und Politik der sozialen Sicherung. Von den möglichen Zielkonflikten seien beispielhaft zwei angedeutet: Die Politik der sozialen Sicherung zielt auf höchstmögliche Sicherheit des Einkommensbezuges oder der Bedarfsdeckung für Individuen in der Zeit. Die Wirtschaftspolitik, insbesondere die Wachstums- und Konjunkturpolitik, zielt auf höchstmögliche Elastizität wirtschaftlicher Größen und Mobilität der Produktionsfaktoren, d.h. gerade nicht auf Sicherheit in der Zeit für Individuen. Ein anderes Beispiel: Zur optimalen Kombination der Produktionsfaktoren ist die Wirtschaftspolitik daran interessiert, daß diese Faktoren nach Leistung (gemessen am erzielbaren Markteinkommen) in der gleichen Periode entlohnt werden. Die Politik der sozialen Sicherung verteilt Anteile des Sozialprodukts um nach Kriterien, die nicht Entlohnung wirtschaftlicher Leistung in der gleichen Periode sind. Solche Konflikte müssen politisch, d.h. durch werturteilsbedingte Entscheidungen gelöst werden. Lösungskonzepte werden als verallgemeinerte Zielvorstellung plakativ dargestellt, z.B. in Formeln wie: „hohes und gerecht verteiltes Sozialprodukt" oder „soziale Marktwirtschaft". Lösungen im Einzelfall erfolgen durch Kompromißfindungen in politischen Entscheidungsgremien. 804.
Bei Diskussionen der makroökonomischen Wirkungen öffentlicher
Sozialleistungen wird oft mit generalisierenden Deduktionen gearbeitet, die oft genug auf Begriffe wie „Überlastung", „Krise" o.ä. hinauslaufen. Gegen solche
Deduktionen
besteht der
grundsätzliche
Vorbehalt
des
oben
beschriebenen Substitutionseffektes. Jede makroökonomische Argumentation Uber öffentliche Sozialleistungen ist unzulässig verkürzt, wenn sie nicht auch berücksichtigt, daß bei Abwesenheit dieser Leistungen
andere,
bisher
substituierte Leistungen erbracht würden. Vor diesem Hintergrund sind alle makroökonomischen Argumente und Effekte zu bewerten. Immer wieder neu werden die Umverteilungsziele der sozialen Sicherung diskutiert.
Kapitel 8: Soziale Sicherung
313
a) Umverteilungsziele 805.
Im
Zusammenhang
mit
Finanzierungsproblemen
wurden
die
Umverteilungswirkungen von Maßnahmen der sozialen Sicherung dargestellt (TZ 632f.). Wesentliches Ergebnis war, daß Umverteilung im Rahmen der sozialen Sicherung Mittel zum Zweck, nicht S e l b s t z w e c k ist. Deshalb ist das Argument, daß die makroökonomischen Redistributionswirkungen des Systems der sozialen Sicherung gering seien, nicht relevant. Das Argument gerinnt zu dem politischen Schlagwort: „Die Gesicherten sichern sich selbst", mit dem die Frage begründet oder suggeriert wird, ob soziale Sicherung ihren Sinn erfülle. Dem Argument liegt der Befund zugrunde, daß die Arbeitnehmer ihre soziale Sicherung ganz überwiegend selbst finanzieren, nämlich durch eigene Beiträge, durch Arbeitgeberbeiträge zu Lasten ihres Lohnes und durch Steuern. Dieser Befund kann nur dann Anlaß zu kritischer Argumentation sein, wenn man unterstellt, daß eine Umverteilung zwischen Arbeitnehmern und
Nicht-
Arbeitnehmernein Ziel der sozialen Sicherung sei. Dies kann der Fall sein, ist es aber in der Praxis nicht oder allenfalls partiell und sekundär. Primäres Ziel der sozialen Sicherung ist die Umverteilung zwischen jungen und alten Menschen, zwischen Gesunden und Kranken, kinderreichen und kinderarmen Familien u.s.w. Diese Umverteilung nach Maßgabe individueller sozialer Tatbestande behält ihren Sinn auch dann, wenn eine Bevölkerungsgruppe - die Junge und Alte, Gesunde und Kranke, Kinderreiche und Kinderlose umfaßt insgesamt keinen positiven Umverteilungssaldo erzielt. 806.
Umverteilung
im
Rahmen
der
sozialen
Sicherung
steht
im
Zusammenhang mit und ist Ausschnitt aus einem weiteren Spektrum von Umverteilungsmaßnahmen; solche vollziehen sich z.B. durch die Art der Besteuerung einschließlich Steuerermäßigungen, durch die Gestaltung des Erziehungs- und Ausbildungssystems, durch Subventionen und durch die Bereitstellung von Dienst- und Sachleistungen durch die Gebietskörperschaften. Alle diese Maßnahmen berühren die „Lebenslage" eines Menschen, die definiert worden ist als „der Spielraum, den einem Menschen (einer Gruppe von Menschen) die äußeren Umstände nachhaltig für die Befriedigung der Interessen bieten, die den Sinn seines Lebens bestimmen". 20 Damit ist eine weitere Zielsetzung beschrieben, die hier nicht weiter erörtert wird.
316
Kapitel 8: Soziale Sicherung
erhalten, ist jedoch nicht mehr beherrschendes Gestaltungsprinzip der sozialen Sicherung. 812.
Auch Sozialleistungen, die dem Einkommensersatz dienen, sind
bedarfsmotiviert;
sie
sind
Leistungsgerechtigkeit
jedoch
gestaltet.
Der
nach hohe
dem
Prinzip
Abstraktionsgrad
der der
Bedarfsermittlung läßt für die Gestaltung und Bemessung der Leistungen im Einzelfall einen Unbestimmtheitsbereich offen, dessen Ausfüllung unter Zugrundelegung der Leistungsgerechtigkeit erfolgt. Dies gilt vor allem im Falle der
versicherungsbedingten
Leistungsberechtigung.
Leistungsgerechtigkeit
knüpft an die Bedingungen der primären Einkommensverteilung an. Das Leistungseinkommen kann für den einzelnen Einkommensbezieher nur im Modell des vollständigen Wettbewerbs exakt definiert werden.
Da die
Wirklichkeit diesem Modell nicht entspricht, ist das Leistungseinkommen quantitativ nicht determiniert. Es ist nicht anders definierbar als das „am Markt erzielbare Einkommen" und letztlich auf die Funktionsbedingungen einer gegebenen Wirtschaftsordnung bezogen. 813.
Ob dieses so definierte Leistungseinkommen als „gerecht" bezeichnet
wird, ist eine Frage der Übereinkunft. Weil Leistungsdifferenzierungen auf Unterschieden natürlicher Eigenschaften (Kraft, Begabung, Heiß, Geschick) beruhen, werden daraus resultierende Einkommensdifferenzierungen vielfach als natürlich und gerecht angesehen. Es kommt hinzu, daß leistungsstarke Individuen einen prägenden Einfluß auf die öffentliche Meinung haben. Deshalb erfreut sich die leistungsgemäße Verteilung oft des Attributes „gerecht". 814.
Auch der Rückgriff auf klassische Gerechtigkeitsbegriffe (z.B. des
Aristoteles und Thomas von Aquin) führt in dieser Hinsicht nicht weiter. Denn die Verpflichtung des Gesetzgebers, die zur Begründung des Gemeinwohls notwendigen Gesetze zu schaffen und die Verpflichtung der Bürger, dieses Gesetz zu befolgen (iustitia legalis) ist ebensowenig mit konkretem Inhalt erfüllt wie die Forderung, den Einzelnen das ihnen jeweils Zukommende zu geben sowie Lasten und Begünstigungen zwecks Einhaltung einer verhältnismäßigen Gleichheit auszuteilen (iustitia
distributiva) oder die Tauschgerechtigkeit
(iustitia commutativa). Die Bezugspunkte „Gemeinwohl", „Zukommendes",
Kapitel 8: Soziale Sicherung
„verhältnismäßige Gleichheit" und
317
„Tauschgerechtigkeit" lassen für
die
Konkretisierung im Einzelfall Variationen innerhalb weiter Grenzen zu. 815.
Dies gilt auch für die soziale
Gerechtigkeit, die neuerdings als
eigenständiger Begriff verwendet wird. Auch deren Ziel ist nicht determiniert, weil es nicht allein aus sittlichen Normen deduziert wird, sondern die jeweilige gesellschaftliche Situation
sowie
die
Verhaltensweisen
der
Menschen
berücksichtigt. 22 816. des
Die unbeschadet seiner häufigen Benutzung bestehende Unbestimmtheit Gerechtigkeitsbegriffs
erklärt
die
große
Spannweite
konkreter
Entscheidungen Uber die Gestaltung und Bemessung von Sozialleistungen. Die Wahl des Maßstabes der Gerechtigkeit und ebenso die Auslegung dessen, was nach der Wahl des Maßstabes unter Gerechtigkeit verstanden werden soll, beruhen auf politischen Entscheidungen. Anwendung
auf
soziale
Gerechtigkeitsbegriffs
Sicherung
nur
Leistungsgerechtigkeit kann
wegen
heißen:
der
Unbestimmtheit
Vorleistungsgerechtigkeit,
in des
oder
Teilhabeäquivaienz (TZ 642).
b) Effekte und Argumente 817.
Entwicklung
und
Sozialleistungsträger
Problematik
haben
Finanzierungsverfahren
(TZ
der
Bedeutung 620).
Kapitalbildung
im
Soziale
durch
Zusammenhang
Sicherung
hat
mit
daneben
Auswirkungen auf die volkswirtschaftliche Kapitalbildung, die man als Sparquoten-Effekt bezeichnen kann. Die durch soziale Sicherung bewirkte Umverteilung
hat
zur
Folge,
daß
das
verfügbare
Einkommen
der
Leistungsberechtigten erhöht und dasjenige der Abgabenpflichtigen verringert wird. Das Einkommensniveau beider Gruppen wird einander angenähert. Da die Einkommensersatzrate (von kurzfristigen Ausnahmen abgesehen) kleiner als 100 ist, bleibt ein Einkommensabstand bestehen. Im Durchschnitt wird umverteilt von Haushalten mit höherem Einkommen auf Haushalte mit geringerem Einkommen. Wegen der Abhängigkeit der Sparquote von der absoluten Einkommenshöhe ergibt sich: Die durch soziale Sicherung bewirkte
318
Kapitel 8: Soziale Sicherung
Umverteilung mindert das Einkommen von Haushalten mit höherer Sparquote (geringerer Konsumquote) und mehrt das Einkommen von Haushalten mit geringer Sparquote (höherer Konsumquote). 818.
Für die Bewertung dieses Effektes ist entscheidend, für wie dringlich
man eine Steigerung der Sparquote hält. Ungeachtet des Ausbaues der sozialen Sicherung ist in industrialisierten Ländern die Sparquote tendenziell gestiegen. „Die für Deutschland vorliegenden Untersuchungen haben bislang keine Anzeichen
dafür
erbracht,
daß
die
Ausweitung
des
Sicherungssystems negativ auf die Ersparnisbildung gewirkt hat."
sozialen
23
Wer eine
höhere Sparquote und damit vermehrte Kapitalbildung für dringlich hält, müßte davon
überzeugen,
daß
rentable
Investitionen
wegen
Kapitalmangels
unterbleiben. Dies dürfte schwierig sein angesichts der Erfahrung, daß rentable Investitionen stets ihre Finanzierung finden, und daß große Kapitalmengen (Petro-Dollar) ihre Anlage suchen. 819.
Eine
oft
Sozialleistungen
wiederholte die
Meinung
geht
dahin,
Leistungsbereitschaft
der
daß
öffentliche
Erwerbsfähigen
beeinträchtige. Dies mag in konkreten Einzelfällen nachweisbar sein und sollte dort abgestellt werden. Eine Verallgemeinerung dieser Fälle ist jedoch nicht zulässig. „Die Ergebnisse der zahlreichen empirischen Untersuchungen Uber den Zusammenhang zwischen Transfers und Leistungsbereitschaft erlauben nach Ansicht der Kommission kein eindeutiges Urteil. 2 4 820.
Das System
der
sozialen
Sicherung
hat
einen
konjunkturellen
Stabilisierungseffekt. Dieser ergibt sich daraus, daß im konjunkturellen Abschwung die Sozialleistungen nicht nur in gleicher Höhe weiter fließen - und damit nachfragewirksam bleiben - sondern in Teilbereichen ansteigen. Bei Abschwung und Beschäftigungsrückgang steigen die Arbeitslosenquote, die Sozialhilfehäufigkeit und die Invaliditätshäufigkeit (TZ 76, 164, 212). Es erfolgt also ein antizyklischer Ausgabenanstieg, der stabilisierend auf die Nachfrage wirkt.
Im konjunkturellen Aufschwung trifft die umgekehrte
Wirkung ein: Die Ausgaben in den genannten Bereichen sind rückläufig; die Anpassung der Sozialleistungen ist im Vergleich zur Entwicklung
der
Kapitel 8: Soziale Sicherung
Erwerbseinkommen zeitlich verzögert. Beides wirkt dämpfend auf
319
die
Nachfrage. 821.
Der
Stabilisierungseffekt
ist
jedoch
zeitlich
begrenzt.
Der
antizyklische Ausgabenanstieg hat erhöhten Finanzierungsbedarf zur Folge. Dies führt zur
Auflösung
von
Rücklagen,
zur
Notwendigkeit
von
Beitragserhöhungen - die jedoch in der Abschwungphase unerwünscht und schwer durchsetzbar sind - und zu erhöhten Ausgaben der öffentlichen Haushalte vor allem zur Finanzierung der Leistungen wegen Arbeitslosigkeit. Die dadurch ausgelöste Tendenz zu vermehrter Defizitfinanzierung ist unter der Bedingung unausgenützter Kapazitäten zwar hilfreich, um das wirtschaftliche Gleichgewicht herzustellen. Dauert die Defizitfinanzierung jedoch länger an, und steigt die öffentliche Verschuldung nach Mehrheitsmeinung unvertretbar an, so werden Anpassungsmaßnahmen getroffen; es setzt eine Reduktionsphase der
Sozialpolitik
ein
(TZ
755);
der
Stabilisierungseffekt öffentlicher
Sozialleistungen wird damit gemindert oder beseitigt. Die Erfahrungen der Jahre nach 1974 und nach 1982 zeigen, daß mit einer uneingeschränkten Wirkung des Stabilisierungseffekts nur für etwa drei Jahre gerechnet werden kann. 822.
Das System der sozialen Sicherung stellt in erheblichem Umfange
Dienst- und Sachleistungen insbesondere zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit sicher. Dies geschieht in der Annahme, daß ohne eine solche Sicherstellung die Haushalte bei nach Menge und Preis gegebenem Angebot nicht genügend Leistungen zur Gesundheitssicherung nachfragen würden bzw. umgekehrt, daß bei gegebener und begrenzter Nachfrage nicht genügend solcher Leistungen angeboten würden. Das System der sozialen Sicherung greift korrigierend ein, indem es die Bedarfsstruktur der Haushalte durch obligatorische Zweckbestimmung von Einkommensteilen ändert und den Preis der Leistungen beeinflußt. Das System induziert eine zusätzliche Nachfrage nach und ein zusätzliches Angebot an solchen Leistungen. Der Verbrauch an Heil- und Hilfsmitteln, die Arztdichte und die Krankenhausdichte sind zum Teil auf diesen Induktionseffekt der Sozialleistungen zurückzuführen. Allerdings gilt auch dieser Induktionseffekt unter dem Vorbehalt des Substitutionseffekts (TZ 796) und ist deshalb kaum zu quantifizieren.
320
Kapitel 8: Soziale Sicherung
c) Insbesondere Belastungsargument 823.
Die sozialpolitische Diskussion ist seit jeher von dem Argument
begleitet, daß die Belastbarkeit der Wirtschaft mit Sozialabgaben begrenzt sei. Deduktionen zu diesem Thema müssen die Tatsache des wirtschaftlichen Kreislaufs zwischen Unternehmungen und Haushalten in Rechnung stellen. Ausgaben der Unternehmungen für Produktionsfaktoren, insbesondere für Löhne und Lohnnebenkosten sind Einnahmen der Haushalte, wie umgekehrt Ausgaben der Haushalte Einnahmen der Unternehmungen sind. Dies gilt nicht nur auch, sondern in höherem Maße für die Ausgaben der Haushalte von Sozialleistungsempfängern, weil diese eine geringere Sparquote (höhere Konsumquote) haben als der Durchschnitt der Haushalte. Im Lichte dieses Kreislaufzusammenhangs ist das alte und vielfach wiederholte Argument zu beurteilen, daß die Belastbarkeit der Unternehmungen mit Sozialabgaben begrenzt sei. 824.
Die Unternehmung ist gezwungen, auf
höhere Sozialabgaben zu
reagieren wie auf jede andere Kostenerhöhung; sie kann dies in mehrfacher Weise tun: Preiserhöhung, wenn die Marktlage dies zuläßt; Senkung von Kosten, wo dies möglich ist; Senkung der Arbeitskosten durch (relative) Senkung des Lohnsatzes in der nächsten Tarifvereinbarung; Senkung der Arbeitskosten durch Substitution von Arbeit durch Kapital; Im Falle des Grenzproduzenten zeitweilige Hinnahme von Vermögensverlust oder Ausscheiden aus der Produktion. Angesichts dieser Reaktionsweisen
sind die Unternehmen prinzipiell
unbegrenzt belastbar, weil der Belastung ausgewichen werden kann - letztlich durch Aufgabe des Unternehmens. Gesamtwirtschaftlich haben zusätzliche Belastungen entweder erhöhte Preise oder eine relative Lohnsenkung, also in jedem Falle einen Verzicht auf sonst mögliche reale Lohnsteigerung zur Folge. Die Frage, ob dieser Verzicht in Kauf genommen werden soll, richtet sich allein an die Arbeitnehmer und deren Vertretung in Tarifverhandlungen.
Kapitel 8: Soziale Sicherung
825.
321
Hinsichtlich der Belastbarkeit der Beitrags- oder Steuerzahler gelten
die allgemeinen Einsichten der Finanzwissenschaft, die bereits vor längerem so zusammengefaßt wurden: .... im 19. Jahrhundert hielt man die Grenze, bis zu der die Besteuerung das Einkommen des Staatsbürgers in Anspruch nehmen könne, bei 10 v.H. entsprechend dem alten „Zehnten" für erreicht, J. Popitz glaubte an eine „psychologische Höchstgrenze" der Besteuerung bei einem Drittel des Einkommens, und die heutige amerikanische Finanzwissenschaft spricht von 50 v.H. als dem „physiological breaking point", ... Inzwischen haben wir in England und den Vereinigten Staaten Spitzensteuersätze von 95 v.H.
und
mehr allein bei der Einkommensteuer erlebt; auch in der
Bundesrepublik Deutschland ging die Einkommenssteuerprogression zeitweise, ohne dramatische Folgeerscheinungen auszulösen, bis zu 90 v.H. Von einer einfachen numerischen Relation zwischen Steuertarif und Steuermoral kann nach diesen Erfahrungen wohl keine Rede sein." 826.
Da
es
eine
rational
Einkommensbelastung Wertentscheidungen werden.
Es
handelt
begründbare
offensichtlich im sich
politischen um
25
eine
Höchstbegrenzung
nicht
gibt,
müssen
Willensbildungsprozeß Entscheidung
über
der
die
getroffen Art
der
Einkommensverwendung. Zu entscheiden ist Uber die Höhe der Sozialausgaben im Verhältnis zu anderen Ausgaben sowie, bei gegebenen Gesamtausgaben, über die Ausgaberelationen zwischen sozialen Tatbeständen, Personengruppen, Institutionen. In der Regel fallen die Entscheidungen partiell sowie unter Bezugnahme auf unterschiedliche Wertmaßstäbe. Sie sind beeinflußt durch Machtkonstellationen,
die
hinter
den
verschiedenen
Werturteilen
und
Interessenlagen stehen. 827.
Diese Überlegungen gelten auch für einen Ausblick auf die künftige
Entwicklung. Wie oben (TZ 768) dargelegt, wird vielfach befürchtet, daß soziale Sicherung angesichts der künftigen Bevölkerungsentwicklung nicht mehr finanzierbar sei. Bevölkerungsvorausberechnungen zeigen, daß die Zahl der Uber 60-jährigen im Verhältnis zu den 20-60-jährigen insbesondere im Zeitraum 2015 - 2030 stark ansteigen wird. Diese Tatsache ist Ausgangspunkt für düstere Prophezeiungen und weitreichende Reformvorschläge, die auf eine
322
Kapitel 8: Soziale Sicherung
Reduktion
öffentlicher
Vorausberechnungen
des
Sozialleistungen
zielen.
Sozialbudgets unter
Demgegenüber bestimmten
zeigen
modellhaften
Annahmen, daß die Sozialleistungsquote von gegenwärtig rd. 30 v.H. bis 2015 leicht absinkt, sodann bis 2030 allerdings auf rd. 32 v.H. ansteigen wird. Der im Vergleich zum Altersquotienten geringere Anstieg der finanziellen Belastung durch Sozialleistungen ergibt sich durch einen Rückgang der Arbeitslosen, durch eine Erhöhung der Erwerbsquote vor allem der Frauen sowie durch einen (relativen) Rückgang der Ausgaben für die Bereiche Ehe und Familie, Beschäftigung, soziale Entschädigung. Für den Bereich Gesundheit ergibt sich ein mäßiger Anstieg unter der Annahme, daß die Ausgabenentwicklung im wesentlichen (nur) durch die Nachfrageseite bestimmt wird. Die Steigerung der Sozialleistungsquote ist hauptsächlich durch die erhöhten Ausgaben für die Alters- und Hinterbliebenensicherung bedingt.26
d) Vermögensbildung und soziale Sicherung 828.
In
periodischen
Zeitabständen
erfreut
sich
eine
Politik
der
Vermögensbildung wachsender Popularität und wird immer wieder als geeignetes Instrument zur sozialen Sicherung angesehen, deren Ausbau andere Maßnahmen entbehrlich machen könne. Die Vermögenspolitik versucht, der Tendenz zur Vermögenskonzentration entgegenzuwirken. Diese Tendenz ergibt sich daraus, daß Vermögen aus gespartem Einkommen gebildet wird und die Sparquote des Haushalts eine Funktion der Einkommenshöhe ist. Unter sonst gleichen Verhältnissen kann unter mehreren Haushalten derjenige am meisten Vermögen bilden, der das höchste Einkommen bezieht. Bleiben die Bedingungen weiterhin gleich, so wird in der nächsten Periode das Einkommen dieses Haushalts wegen des größeren Vermögens dasjenige anderer Haushalte Ubersteigen mit der Folge, daß ihm im Maß dieser Einkommensdifferenz wiederum mehr Vermögen zuwächst. Dieser Prozeß ist Grundlage für die Tendenz zur Konzentration des Vermögens. 829.
Dieser Konzentrationstendenz wirken dezentrierende
Faktoren
entgegen. Ein solcher Faktor ist der Erbgang. Dadurch, daß Eigentümer sterben und ihr Vermögen in vielen Fällen mehr als einem Erben hinterlassen, wird der
Kapitel 8: Soziale Sicherung
323
Konzentrationsprozeß immer wieder unterbrochen; es finden Zerteilungen statt, die den Konzentrationsgrad des Vermögens herabsetzen. Diesem Effekt entgegenzuwirken dienten manche aus dem feudalen und agrarischen Bereich bekannten Institutionen, wie das Fideikommiß und das Anerbenrecht. Ein weiterer dezentrierender Faktor ist der technische Fortschritt in Verbindung mit dem wirtschaftlichen Wettbewerb. Er bewirkt, daß bestimmte Arten des Realvermögens (relativ) an Wert verlieren, und daß der Produktionsvorgang mit Risiko und folglich in manchen Fällen auch mit Vermögensverlusten verbunden ist. Solche Wertminderungen und Verluste wirken dezentrierend, weil und soweit das gleichzeitig neu geschaffene Vermögen anderen Eigentümern zuwächst. 830.
Das Ergebnis der Tendenz zur Vermögenskonzentration und der
dezentrierenden Faktoren war bisher langfristig eine zeitliche Konstanz der Vermögensverteilung. Einerseits hat gegenüber der Mitte des vorherigen Jahrhunderts nicht die Konzentration des Produktivvermögens in wenige Hände stattgefunden, die von Marx vorausgesagt worden war; andererseits hat die Mehrheit der Bevölkerung heute wie damals kein Vermögen. Die Tendenz zur Vermögenskonzentration hat sich mit den dezentrierenden Faktoren im Ergebnis ungefähr die Waage gehalten. Nach wie vor steht einer Minderheit von Produktionsmitteleigentümem
eine
Mehrheit
vermögensloser
Haushalte
gegenüber. 831.
Da die Tendenz
unterschiedlichen
zur
Sparquote
Konzentration der Haushalte
des in
Vermögens
auf
der
Abhängigkeit
von
der
Einkommenshöhe beruht, muß eine Politik der Vermögensdezentration darauf zielen, die Sparquote der Bezieher niedriger Einkommen so zu erhöhen, daß diese absolut mehr sparen als die Bezieher höherer Einkommen. Zu diesem Zwecke wird versucht, die Sparquote von
Haushalten
mit niedrigen
Einkommen durch das Angebot einer besseren Verzinsung durch verschiedene Formen
der
Sparförderung
zu
erhöhen.
Der
Erfolg
von
Sparförderungsmaßnahmen setzt voraus, daß die Sparquote von der Zinshöhe abhängig
ist.
Zu
dieser
für die
Politik
der
Vermögensdezentration
entscheidenden Frage fehlt jede gesicherte Einsicht. Die Wirtschaftstheorie nimmt an, daß die marginale Sparquote allein von der Einkommenshöhe, nicht
324
Kapitel 8: Soziale
Sicherung
dagegen vom Zinssatz abhängt.
27
Exakte Aussagen über die Wirkung
staatlicher Sparförderungsmaßnahmen auf Sparneigung und Sparvolumen sind nicht möglich. 28 832.
Um dennoch Wirkungen zu erzielen, wird teilweise eine Änderung der
Sparquote obligatorisch vorgenommen. Der gemeinsame Grundgedanke aller Investivlohn-Pläne besteht darin, neben dem Barlohn einen weiteren Lohnanteil zu vereinbaren, der nicht ausgezahlt, sondern für eine bestimmte Zeit festgelegt wird. Soweit auch Miteigentums- oder Gewinnbeteiligungspläne das Element des Sparzwanges enthalten, können diese ebenfalls als Investivlohnregelungen angesehen werden; im übrigen sind sie Spezialformen der Lohnbemessung. Eine Investivlohnregelung geht in jedem Falle zu Lasten sonst möglicher Barlohnerhöhungen. Damit wird die freie Verfügung Uber das Einkommen beschränkt.
Die Frage ist,
ob
ein
Sparzwang
zum
Zwecke
der
Vermögensbildung nicht ein Widerspruch in sich ist. Da Eigentum definiert wird als das Recht, mit Sachen nach Belieben verfahren zu können, ist ein Einkommensteil, über den nicht verfügt werden kann, kein Eigentum in diesem Sinne. 833.
Entscheidend im vorliegenden Zusammenhang sind jedoch die durch
eine Politik
der
Vermögensdezentration
zu
erreichenden
quantitativen
Wirkungen. Sie zeigen, daß eine Politik der Vermögensbildung keine Alternative zur Politik der sozialen Sicherung ist. Selbst wenn das gesamte in der gewerblichen Wirtschaft investierte Nettoanlagevermögen
in einem
einmaligen Akt auf alle Arbeitnehmer aufgeteilt würde, ergäbe dies je Kopf ein Vermögen, das - wenn sein Entsparen verhindert wird - einen Zinsertrag hätte, der etwa 10 v.H. des Durchschnittsverdienstes betragen würde. Diese Größenordnung zeigt, daß die Vermögensbildungspolitik Maßnahmen der sozialen Sicherung prinzipiell nicht ersetzen kann. 29 834.
Dem Wunschbild einer durch Vermögen gesicherten Gesellschaft kann
ein anderes Bild gegenüber gestellt werden: Man hat den Vermögenswert der bestehenden Ansprüche aus den Institutionen der Alterssicherung, der sozialen Entschädigung
und
Versorgungsvermögen
der
Unfallversicherung
berechnet.
Das
entsprach fast genau dem Wert des Haus- und
Kapitel 8: Soziale Sicherung
325
Grundvermögens und betrug zwei Drittel des gesamten Nettovermögens der Bundesrepublik
Deutschland;
30
es
ist
doppelt
so
hoch
wie
das
Nettoanlagevermögen der gewerblichen Wirtschaft. Diese Größenordnungen legen es nahe, im Zusammenhang mit sozialer Sicherung nicht über die Möglichkeiten realer Vermögensbildung, sondern über die Entwicklung und die Qualität vermögenswerter
Ansprüche zu diskutieren. Sie machen auch
bewußt, wie einseitig der juristische Normen- und Argumentationsvorrat auf den
aus
römischem
Recht
übernommenen
bürgerlich-rechtlichen
Vermögensbegriff ausgerichtet ist.
VI. Leitbilder 835.
Die vorstehende Darstellung ist vorrangig auf die Entscheidungsebene
abgestellt. Entscheidungen über Sicherungsnormen werden beeinflußt durch Vorgänge auf der Erkenntnisebene und auf der Ebene der politischen Wahrnehmung. Auf der letzteren Ebene werden Leitbilder benutzt, die zwar oft ungenau formuliert, unzulässig verallgemeinert und nur partiell relevant sind, aber gleichwohl meinungsbildend wirken. Einige dieser Leitbilder werden nachfolgend angesprochen. Es handelt sich um Topoi und Begriffe, die insbesondere in der deutschen sozialpolitischen Diskussion häufig verwandt werden. 836.
Eine häufig anzutreffende Vorstellung besagt, daß soziale Sicherung ein
mit der Industrialisierung auftretendes Phänomen ist. Dies trifft zwar für die jetzigen Methoden der Sicherung zu, nicht jedoch für das Phänomen selbst. Es gab
in
der
vorindustriellen
Zeit
Regelungen
hinsichtlich
der
leistungsauslösenden Tatbestände: Behinderung, Arbeitsunfähigkeit, Alter, Ausfall
des
Ernährers,
unzureichendes
Einkommen;
es
gab
Leistungsverpflichtete, Geld- und Naturalleistungen sowie Sicherungsnormen. 31
Das
Instrumentarium war
gewiß
unvollkommen
und
bedurfte der
Entwicklung, die mit der Industrialisierung einher ging und durch sie gefördert wurde. Unzutreffend wäre jedoch die Vorstellung, daß es sich um einen prinzipiellen Neubeginn gehandelt habe.
326
837.
Kapitel 8: Soziale
Sicherung
Aus diesem Grunde haben auch Erklärungstheorien und Diskussionen
zur Sozialpolitik, die sich auf den Begriff des Kapitalismus beziehen, jedenfalls für den Bereich der sozialen Sicherung nicht zu verwertbaren Ergebnissen geführt. Da soziale Sicherung sich in einem Kräftefeld vollzieht, sind Theorien, die sich auf nur einen Begriff beziehen, nicht erkenntnisträchtig. Kapitalismus-bezogene Theorien vermögen die weitgehende Gleichartigkeit der Sicherungsbedürfnisse, der Sicherungsmethoden und des Sicherungsumfanges zwischen kapitalistischen und (früher) kommunistischen Ländern nicht zu erklären. 838.
Manche Vorstellungen zur Politik der sozialen Sicherung sind eingeengt
auf den Typus des Arbeitnehmers. Sie übersehen, daß andere Gruppen der Bevölkerung, die oft privilegierte Positionen einnehmen, ebenfalls nach sozialer Sicherung streben und diese für sich durchsetzen. Privilegien und rechtliche Sicherungen der Grundherren im Feudalsystem, Gerechtsame der Zünfte und Gilden, standische Einrichtungen der verschiedensten Art sind Beispiele aus der Vergangenheit. In der Gegenwart legen
Beamte, Handwerker, Landwirte,
Ärzte und andere Gruppen Wert auf soziale Sicherung. Leitende Angestellte sichern sich vertraglich für den Fall des Ausscheidens aus dem Arbeitsleben. Die soziale Sicherung der politischen Mandatsträger ist besser ausgebaut als diejenige der Mehrheit. 839.
Ungeachtet
dessen
gedeiht
in
der
deutschen
Literatur
der
Freiheitstopos. Immer wieder wird behauptet, daß soziale Sicherung die Freiheit und Selbstverantwortung des Menschen einenge. „Diese Abnahme von Verantwortung, die die Einbeziehung des Einzelnen in immer größere Haftungsverbände im Rahmen des sozialen Sicherungssystems mit sich bringt, fordert... gleichzeitig als Preis eine Abnahme der Gestaltungsmöglichkeiten des Lebens und damitder Freiheit... Es zeigt sich hier, daß es bei der aufgezeigten Entwicklung fragwürdig wird, von der Bewältigung des Lebens durch den einzelne Menschen zu sprechen; ja daß es immer schwieriger wird, überhaupt noch die Individualität des Menschen zu erkennen".
32
Wenn dies so wäre,
müßte die Individualität politischer Mandatsträger, insbesondere der Minister, und der Beamten, insbesondere der Hochschullehrer, am schwersten zu erkennen sein.
Kapitel 8: Soziale Sicherung
840.
327
Solche Verallgemeinerungen setzen voraus, daß man die Begriffe
Freiheit und Sicherheit für klar definiert hält, was nicht der Fall ist, und sie absolut versteht, was nicht zulässig ist. Nur die absolut verstandenen und nicht näher definierten Spannungsverhältnis
Begriffe Sicherheit zueinander.
und
Absolute
Freiheit Freiheit
stehen ist
in
einem
notwendig
mit
weitgehender Unsicherheit verbunden. Strebt ein absolut frei lebender Mensch ein Mindestmaß von Sicherheit an, so erfordert dies die Übernahme von Pflichten, insbesondere das Zusammenleben mit anderen Menschen, das sich nach gewissen Regeln vollzieht. In jedem Falle ist zunehmende Sicherheit mit abnehmender Freiheit verbunden, wie umgekehrt zunehmende Freiheit - wie etwa beim heranwachsenden Kinde - mit geringer werdender Sicherheit verbunden ist. Das wechselseitige Verhältnis zwischen Sicherheit und Freiheit ist also ein permanentes und stets in neuer Form sich stellendes Problem. Es löst sich nicht durch Rekurs auf vorindustrielle Zustände, denn unter denen war außer der Sicherheit auch die Freiheit begrenzt. Wenn dargelegt wird, daß der leibeigene Bauer zwar juristisch unfrei, soziologisch aber frei gewesen sei, wogegen der Industriearbeiter in einem Großbetrieb juristisch zwar frei aber soziologisch unfrei sei, so deckt sich dies nicht mit den Befunden der Agrargeschichte. Die soziologische Freiheit der ruralen Welt ist eine Erfindung der Urbanität. 841.
Für die Urteilsbildung ist eine differenzierte Betrachtung notwendig.
Zunächst ist festzustellen, daß der Begriff Sicherheit nicht absolut verstanden werden
darf.
Absolute Sicherheit ist
Entscheidung kann
nicht
nur getroffen werden
erreichbar,
denn
im Hinblick auf
jedwede potentielle
Möglichkeiten, die sich nur als Wahrscheinlichkeiten vorwegnehmen lassen. Absolute Sicherheit kann nicht Ziel der Politik der soziale Sicherung sein. Es kann
nur
etwas
(z.B.
Einkommen)
oder
gegen
etwas
(z.B.
Einkommensausfall) gesichert werden. Sicherheit ist auf Objekte bezogen; sie ist deshalb Maßstab und nicht Ziel. Soziale Sicherung kann sich nur auf einen pragmatischen Aspekt der Sicherheit beziehen, den man als Systemsicherheit bezeichnet hat, nämlich als herstellbare, berechenbare Verfügbarkeit von Mitteln zu beliebigen Zwecken. „ Sicherheit ist das Leitbild eines herstellbaren Zustandes". 33
328
842.
Kapitel 8: Soziale Sicherung
Der Mensch möchte nicht um die tägliche Existenz besorgt sein; er hegt
längerfristige Hoffnungen und möchte im Hinblick auf diese disponieren können. Er wird daher Beschränkungen auf sich nehmen, damit die Sorge um gesichertes Einkommen in einem möglichen Wechselfall des Lebens ihn nicht hindere, seine Wünsche und Ziele zur Verwirklichung eines freien Lebens zu erfüllen.
Zur
Vergrößerung
künftiger
Handlungsfreiheit
werden
Konsumeinschränkungen in der Gegenwart in Kauf genommen. Die Freiheit, in einem
Eigenheim
zu
wohnen,
ist
verbunden
mit
dem
Zwang
zu
Konsumeinschränkungen auf anderem Gebiete; die Befreiung von einer Bedürftigkeitsprüfung im Alter durch Einräumung eines Rechtsanspruchs in der Sozialversicherung ist verbunden mit dem Zwang zur Beitragsentrichtung. Indem soziale Sicherung Freiheit von Not und Existenzbedrohung herbeiführt, schafft sie Handlungsfreiheit für langfristiges Planen, für schöpferische und kulturelle Aktivität. 843.
Erörterungen über das Verhältnis zwischen Sicherheit und Freiheit
leiden oft unter ihrem hohen Abstraktionsgrad. Die im System der sozialen Sicherung enthaltenen Chancen haben vielfach nur potentiellen Charakter und werden meist erst dann
vorstellungs- und handlungsrelevant, wenn der
leistungsauslösende Tatbestand eingetreten ist. Zusammenfassend ist aus empirischen
Untersuchungen
sozialpsychologischer sozialpolitischen
hinsichtlich
Argumente
Postúlate,
die
eine
der
Relevanz
gefolgert
worden:
bestimmte
Gestaltung
„Alle des
Sozialversicherungsschutzes mit sozialpsychologischen Argumenten stützen, müssen a priori als unglaubwürdig angesehen werden. Weder die Erhöhung eines 'Sicherheitsgefühls' noch die Erhöhung oder Beeinträchtigung von 'Eigenverantwortung' lassen sich mit Mitteln der Sozialversicherung und ihrer Ausgestaltung erreichen." 844.
34
Im Interesse der Freiheit des Menschen wird in der Diskussion über
Maßnahmen der sozialen Sicherung auf das Subsidaritätsprinzip verwiesen. Dieses Prinzip entstammt der Soziallehre der katholischen Kirche und besagt, daß „dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit
Kapitel 8: Soziale Sicherung
329
zugewiesen werden darf", und ferner, daß es gegen die Gerechtigkeit verstoße, wenn „das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können,
für die weitere und
Gemeinschaft in Anspruch" genommen wird. 845.
übergeordnete
3S
Das Subsidaritätsprinzip ist gegen einen Absolutheitsanspruch geschützt
durch den an gleicher Stelle (der päpstlichen Enzyklika) gegebenen Hinweis, daß die Geschichte bestätige, „ daß unter den veränderten Verhältnissen manche Aufgaben, die früher leicht von kleineren Gemeinwesen geleistet wurden, nur mehr von größeren bewältigt werden können".
Dies ist eine deutliche
Relativierung. Die Interpretation geht dahin, daß die Lösung jeder Aufgabe „nur aus dem Sachverhalt und den Erfordernissen" abzuleiten, und daß eine jeweilige Prüfung erforderlich sei, „ob ein kleines Gebilde imstande ist oder in den Stand gesetzt werden kann, eine Aufgabe ausreichend und zufriedenstellend zu erfüllen oder ob es notwendig ist, auf ein größeres und umfassenderes Gebilde zurückzugreifen".36 Diese Prüfung aus Sachverhalt und Erfordernissen unter veränderten Verhältnissen ist permanente Aufgabe der Politik der sozialen Sicherung. Entscheidungen fallen durch mehrheitliche Wertungen, allerdings nicht Uber das Prinzip der Subsidarität, sondern sachlich und zeitlich differenziert vor allem Uber die Leistungsberechtigung, die Leistungshöhe und die Organisation der Sozialleistungsträger. 846.
Entscheidungen zu diesen Bereichen werden andererseits gerechtfertigt
und gefordert unter Berufung auf das Solidaritätsprinzip. Dieses Prinzip verlangt gegenseitige Hilfe zwischen vom gleichen Schicksal betroffenen Menschen. Die stets diskutierten und bleibenden Fragen sind: Wie weit hat die gegenseitige Hilfe zu gehen? Wie ist eine Gruppe vom gleichen Schicksal betroffener Menschen abzugrenzen? Auch hier sind Entscheidungen nur durch Wertungen
möglich,
die
das
solidarische
Gefühl
der
Betroffenen
berücksichtigen oder unterstellen. 847.
Über Art und Intensität des Solidaritätsgefühls ist wenig bekannt.
Jedenfalls kann Solidarität für vielfältiges Entscheidungsverhalten - je nach politisch-wertendem Vorverständnis - gebraucht oder mißbraucht werden. Überblickt man die Entwicklung der sozialen Sicherung, so wird deutlich, daß
330
Kapitel 8: Soziale Sicherung
das Gefühl und die Entscheidungen zugunsten von Gruppensolidarität tendentiell zurücktreten, dagegen treten Entscheidungen zugunsten nationaler Solidarität stärker hervor. Dies gilt z. B. für das Vordringen des Wohnsitzprinzips
bei
der
Abgrenzung
des
leistungsberechtigten
Personenkreises, für die Erweiterung bundesgesetzlicher Regelungen bezüglich der Sicherstellung von Gesundheitsleistungen und für die Erweiterung des Finanzausgleichs
zwischen
Sozialleistungsträgern.
Praktische
Bedeutung
kommt der Gruppensolidarität nur noch im Bereich der Krankenversicherung zu, genauen In der Diskussion über die Organisation und Finanzierung der Krankenversicherungsträger.
VII. Zur Rechtsetzung 848.
Der
Anspruch
auf
Sozialleistungen
soll
den
Menschen
von
Zukunftssorgen entlasten. Dies setzt voraus, daß der Anspruch als sicher empfunden wird. Zur Systemsicherheit (TZ 841) von Maßnahmen der sozialen Sicherung gehört demnach die Herstellung verläßlicher Erwartungen oder möglichst große Umverteilungsgewissheit. Als Bedingungen hierfür sind anzusehen, daß Sozialleistungen vor definierten Tatbeständen zuverlässig schützen, und daß die Anspruchsberechtigten dieses zuverlässigen Schutzes gewiß sind. Dies wird in der Politik der sozialen Sicherung bewirkt durch Rechtssicherheit. Aus der Sicht des Anspruchsberechtigten dient der Rechtssicherheit: Übersichtlichkeit und Vollständigkeit der Gesetzgebung, Übersichtlichkeit und Zugänglichkeit der Verwaltung, Beständigkeit der Verwaltungsakte, Kontrollmöglichkeit der Verwaltungsakte durch Gerichtsbarkeit. 849.
Aus soziologischer Sicht wird die „Verrechtlichung" der sozialen
Sicherung kritisiert, u.a. weil sie Starrheit und Unflexibilität zur Folge habe.
37
Diese Kritik ist zumindest in ihrer Verallgemeinerung nicht einsichtig, weil nicht erkennbar ist, wem oder was geholfen wäre, wenn ein Prozeß der Entrechtlichung eingeleitet würde. Der genannten Position steht denn auch -
Kapitel 8: Soziale Sicherung
331
ebenfalls aus soziologischer Sicht - diese andere gegenüber: „ In einer Gesellschaft, in der rechtliche Beziehungen ... keine Stabilität besitzen und nicht durch besondere Institutionen garantiert werden, ist es daher kaum möglich, ein wirksames System der sozialen Sicherung aufzubauen. Grundlage eines solchen Systems ist ein gewisses Maß an Vertrauen des zu schützenden Personenkreises in die Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft der Sicherungsinstitutionen. Solches Vertrauen wird ... Uberwiegend durch das Medium des Rechts stabilisiert."38 850.
Angesichts
der
wachsenden
Größenordnung
vermögenswerter
Ansprüche (TZ 834) wird diskutiert, ob und unter welchen Bedingungen solche Ansprüche den verfassungsrechtlichen Eigentumsschutz genießen. Es geht darum, ob und in welchem Maße die Eigentumsgarantie des Grundgesetzes (Art. 14) auch für Vermögenswerte Rechtspositionen des öffentlichen Rechts gilt. Das Bundesverfassungsgericht hat den Grundsatz aufgestellt, daß Versichertenrenten
aus
der
gesetzlichen
Rentenversicherung
und
Anwartschaften auf solche Renten den Eigentumsschutz genießen. Inhalt und Schranken eines solchen Schutzes habe der Gesetzgeber festzulegen und dabei zu berücksichtigen, inwieweit der Inhaber einer Rechtsposition diese durch eigene Leitung erworben
habe.
Dieser
Grundsatz
ist
bei
künftigen
Gesetzgebungsakten zu beachten. Weiterer Diskussion und Entscheidung bedürfen die Konkretisierung seiner Voraussetzung (durch eigenen Leistung erworben),
seines
Inhalts
und
seine
Anwendbarkeit
auf
andere
Sicherungsinstitutionen. 851.
Der Ausbau, die Änderung, periodisch auch die Reduktion des Systems
der sozialen Sicherung hat einen ständigen Fluß von Rechtsetzungsakten zur Folge. Die Rechtsetzungsfrequenz
ist im Bereich des Sozialrechts
vergleichsweise hoch. In dem Jahrhundert 1883 - 1982 ergingen allein zum Bereich Sozialversicherung 363 Reichs- oder Bundesgesetze und rd. 1.200 Verordnungen. Das sind im rechnerischen Durchschnitt 3,6 Gesetze jährlich. Allerdings verdeckt dieser Durchschnitt erhebliche zeitliche Unterschiede. Die Rechtsetzungsfrequenz hat sich nach dem ersten Weltkrieg deutlich erhöht; läßt man die Jahre 1918 und die bis dahin ergangenen 29 Gesetze außer Betracht, so errechnet sich ein Durchschnitt von 5,2 Gesetzen pro Jahr. Deutlich über dem
332
Kapitel 8: Soziale Sicherung
Durchschnitt lagen die „Ausbauperioden" 1920-1927(9,6), 1950-1957 (11,3) und 1970-1976 (9,0). 852.
39
Die Rechtsänderungen beeinträchtigen die Systemsicherheit allein
dadurch, daß sie die Transparenz des Systems erschweren. Der Herbeiführung besserer
Transparenz
diente
die
Verabschiedung
der
Reichsversicherungsordnung im Jahre 1911. Sie ging auf eine ReichstagsEntschließung im Jahre 1903 zurück, mit der die Reichsregierung ersucht wurde, „in Erwägung darüber einzutreten, ob nicht die drei Versicherungsarten ... zum Zwecke der Vereinfachung und Verbilligung in eine organische Verbindung zu bringen und die bisherigen Arbeiterversicherungsgesetze in einem einzigen Gesetz zu vereinigen seien."
40
Das Letztere geschah mit der
Reichsversicherungsordnung, doch gaben die zahlreich folgenden Änderungen bereits 1924 Anlaß zu einer Neubekanntmachung dieses Gesetzeswerkes. Zu einem erneuten Anlauf zu Herstellung besserer Transparenz kam es seit 1970 in erweitertem Rahmen mit der Inangriffnahme der Schaffung eines Sozialgesetzbuches; dieser Vorgang ist noch im Gange. Die im übrigen anhaltende
Gesetzgebungsfrequenz
hatte
zur
Folge,
daß
der
1975
verabschiedete Allgemeine Teil des Sozialgesetzbuches in den ersten zwanzig Jahren seiner Gültigkeit bis 1995 schon dreißig Änderungen erfahren hat. 853.
Die genannten Zahlen zur Rechtsetzungsfrequenz bedürfen allerdings
der Relati vierung. Viele Rechtsakte betreffen Verfahrens-, Abgrenzungs- und Zuständigkeitsfragen; sie richten sich vornehmlich an die Leistungsträger und regeln deren Rechtsbeziehungen untereinander oder zu Dritten. Andere Rechtsakte betreffen nur einen kleinen Personenkreis; sie werden von der Mehrzahl der Versicherten oder Gesicherten nicht wahrgenommen. Dies gilt z.B.
für
die
nicht
Vertragsvereinbarungen
geringe mit
Anzahl
fremden
von
Gesetzen,
Staaten
oder
mit
denen
internationalen
Organisationen ratifiziert werden. 854.
Schließlich gibt es eine große Zahl adaptiver Rechtssetzungsakte.
Diese werden erforderlich, weil nominale Bezugsgrößen wie insbesondere Löhne und Preise sich verändern. Beispiele hierfür sind die früher periodisch erfolgten
Anpassungen
von
Versicherungspflicht-
und
Kapitel 8: Soziale Sicherung
333
Beitragsbemesssungsgrenzen an veränderte Einkommensverhältnisse sowie die Anpassung von Sozialleistungen. Letztere erfordert Rechtsetzungsakte, die insofern
technischen
Charakter
haben,
Sachentscheidungen auf die gegenwärtigen
als
sie
lediglich
Umstände hin
frühere
aktualisieren.
Würden die Akte unterbleiben, so würde dies der Aufhebung einer früheren Grundentscheidung - z.B. über die Höhe der Einkommensersatzrate gleichkommen. Da die wirtschaftlichen Gegebenheiten ständig im Fluß sind, muß die Rechtsetzung, soweit sie auf nominale Größen Bezug nimmt, sich ständig adaptieren. Dies belastet die Gesetzgebungsorgane und beeinträchtigt die Systemsicherheit. Deshalb sollte jede Möglichkeit genutzt werden, adaptive Rechtsetzungsakte in den Bereich der Verwaltung zu verlagern, wie dies seit 1992 für die Rentenanpassung der Fall ist. Der Gesetzgeber sollte sich auf Entscheidungen konzentrieren, die über politische Alternativen und
mit
längerfristiger Wirkung zu fällen sind. Die Konzentration auf solche induktiven (auch reduktiven) Rechtsetzungsakte würde deren Gewicht erhöhen, die Transparenz verbessern, Propagandamöglichkeiten verringern und den Einfluß von Ideologien zurückdrängen.
VIII. Planungsprobleme in wenig industrialisierten Ländern 855.
Soziale Sicherung ist ein weltweites Phänomen und expandiert ständig
(TZ 59). Sie wird auch in wenig industrialisierten Ländern eingeführt und ausgebaut. Charakteristisch ist ein vergleichsweise früher Beginn eines Ausbaues der sozialen Sicherung insofern als viele Länder Maßnahmen der sozialen Sicherung auf einem früheren Entwicklungsstand einführen, als dies in Europa der Fall war. Dies gilt jedenfalls für die Kriterien Produktion im verarbeitenden Gewerbe und Anteil der nicht-landwirtschaftlichen Arbeitnehmer an den Erwerbstätigen; es gilt allerdings nicht für den Indikator pro-KopfEinkommen, denn hier hat der enorme Anstieg der Einkommen in den ölexportierenden Ländern seit Anfang der 70er Jahre die Korrelation mit dem Industrialisierungsgrad
aufgehoben.
Zur
Zeit
der
Einführung
der
Sozialversicherung in Deutschland (1882) betrug der Anteil der in der Industrie Beschäftigten an der Bevölkerung 13. v.H.; als in Burma eine Kranken- und
334
Kapitel 8: Soziale Sicherung
Unfallversicherung eingeführt wurde (1954), betrug dieser Anteil 2 v.H. ebenso wie bei Einführung einer Krankenversicherung in Indien (1948). 856.
Die - gemessen am Industrialisierungsgrad - frühe Einführung der
sozialen Sicherung hat mehrere Ursachen. Allgemein wirken die Faktoren, die auch in Europa für die Entstehung von sozialer Sicherung maßgebend waren: Urbanisierung,
Industrialisierung,
Herauslösung
der
industriellen
Arbeitnehmerschaft aus traditionellen Sicherungsverbänden. Im Vergleich zur Situation in Europa vor einem Jahrhundert unterscheidet sich die gegenwärtige Situation in vielen wenig industrialisierten Ländern durch folgende Tatsachen: Die stärkere Konzentration der industriellen Arbeitnehmer in städtischen Zentren und großen Betrieben. Fortschritt und Entwicklung sind gewollte Ziele der politischen Führungsgruppen. Das Fehlen eines Systems der öffenüichen Fürsorge, wie es vor Einführung der Sozialversicherung in Europa bestand. Ursächlich ist der hohe Zentralisierungsgrad staatlicher Verwaltung und spiegelbildlich die weniger entwickelte kommunale Selbstverwaltung. Das größere Legitimationsbedürfnis (oft: Akklamationsbedürfnis) der politischen Führungsgruppen (oft: cliquen oder -personen). Die Demonstrationswirkung der in industrialisierten oder benachbarten Ländern arbeitenden Sicherungssysteme. 857.
Ungeachtet der vergleichsweise frühen Einführung von Maßnahmen der
sozialen Sicherung in wenig industrialisierten Ländern bleibt deren personale Reichweite oft begrenzt. Dies liegt an Hemmnissen,
denen sich die
Gründungsväter der Sozialversicherung in Europa nicht gegenübersahen: Unzureichende Verkehrs- und Kommunikationsmittel; fehlendes Familienstandsregister; Lese- und Schreibunkundigkeit (in fast der Hälfte aller Länder über 50% der Bevölkerung); das Vorhandensein mehrerer lebender Sprachen (z.B. Äthiopien 22);
Kapitel 8: Soziale Sicherung
335
geringe Arztdichte (z.B. Ghana je 100.000 Einwohner 0,1 Ärzte; dagegen Deutsches Reich 1886: 30 Ärzte); extrem geringer Reallohn (Haushaltsausgaben für Nahrungsmittel in vielen Ländern 70-80 v.H. der Gesamtausgaben (dagegen in deutschen Arbeiterhaushalten 1907: 52 v.H.). Die Begrenzung des personalen Geltungsbereichs von sozialer Sicherung in wenig industrialisierten Ländern ist also nicht gewolltes Ziel, sondern erzwungene Notwendigkeit. 858.
Die begrenzenden Faktoren treffen in besonderem Maße für die in der
Landwirtschaft Erwerbstätigen zu, die weltweit die große Mehrheit der Erwerbstätigen bilden. Die dort vorhandenen vielen Kleinbetriebe, die oft wenig formellen Arbeitsverhältnisse, die Naturalentlohnung sowie die Schwierigkeiten einer ärztlichen Versorgung in ländlichen Gebieten bedingen häufig unbeschadet der
Sicherungsbedürftigkeit
eine
Verzögerung
der
Einführung
von
Sicherungsmaßnahmen in diesem Bereich. 859.
Hinzu kommt, daß die Wirtschaftsbereiche, in denen die begrenzenden
Faktoren stark wirken, zugleich auch wirtschaftlich schwach und wenig organisiert sind mit der Folge, daß ihr politisches Gewicht gering ist. Das Zusammenwirken dieser Faktoren bewirkt einen Zeitablauf der Einbeziehung in das Sicherungssystem, der invers zur Dringlichkeit des Sicherungsbedürfnisses verläuft. Für diese inverse Einbeziehung von Wirtschaftszweigen oder Personengruppen in die soziale Sicherung kann man folgende typische Reihenfolge feststellen:41 1.
Öffentlicher Dienst, Transport- und Energiewesen, Banken und
2.
Selbständige und freie Berufe;
3.
Industriearbeiter;
4.
Landwirtschaftliche Arbeiter;
5.
Hausangestellte.
Versicherung;
336
Kapitel 8: Soziale Sicherung
Der Bedarf an sozialer Sicherung wird in vielen Fällen nicht dort zuerst gedeckt, wo er objektiv am größten ist, sondern dort, wo er wirksam artikuliert wird und leicht durchsetzbar ist. 860.
Wegen
der
begrenzten
Sicherungsmöglichkeit
wird
die
Versicherungspflicht in vielen wenig industrialisierten Ländern nach der - unter entscheidender Mitwirkung des Internationalen Arbeitsamts entwickelten Methode der schrittweisen Ausdehnung (gradual extension) erweitert. Sie besteht darin, daß ein als umfassend konzipiertes Gesetz zunächst nur begrenzt in Kraft tritt und später nach Maßgabe des Möglichen auf weitere Regionen, Wirtschaftszweige, Personengruppen oder Betriebsgrößen ausgedehnt wird. Die weitere Ausdehnung erfordert nicht neue Gesetzgebungsakte, sondern ist der Verwaltung - oft allein der Sicherungsinstitution - Uberlassen. 861.
Auch bei der schrittweisen Ausdehnung ist die Entwicklung abweichend
vom Prinzip der Schutzbedürftigkeit. Denn oft werden zunächst nur Betriebe in städtischen Regionen mit einer Mindestzahl von Beschäftigten - dazu noch unter Ausschluß der Saison- und Gelegenheitsarbeiter - erfaßt. Diese Mindestzahl liegt oft bei 50 Beschäftigten oder höher; sie betrug z.B. in den Philippinen zunächst 200, später 50 und schließlich 6 Beschäftigte. Obwohl die Methode der
schrittweisen
Ausdehnung
Personen
mit
vergleichsweise
hohem
Schutzbedürfnis nicht oder nur mit erheblicher zeitlicher Verzögerung in die Versicherungspflicht einbezieht, muß sie gleichwohl
als
gerechtfertigt
angesehen werden, weil sie alternativlos ist. Die Alternative könnte nur darin bestehen, lange Zeit nichts zu unternehmen. Wenn einige Bevölkerungsgruppen gesichert werden können, so sollte gehandelt werden, auch weil dadurch die Erfahrung und Kapazität der Verwaltung und damit die Aussicht auf Einbeziehung weiterer Bevölkerungsgruppen verbessert wird. 862.
In wenig industrialisierten Ländern hat die Frage Bedeutung, ob es
zweckmäßig oder wünschenswert ist, daß die Träger der sozialen Sicherung zu Kapitalbildung und damit zur Investitionsfinanzierung der Volkswirtschaft beitragen sollten oder nicht. Bei der chronischen Kapitalknappheit in diesen Ländern (mit Ausnahme der ölfördernden Länder) spielt diese Frage insbesondere bei der Entscheidung Uber das Finanzierungsverfahren von
Kapitel 8: Soziale Sicherung
337
Alterssicherungssystemen eine wichtige Rolle. Für Wirtschaftsplaner liegt ein reizvoller Gedanke nahe: Wählt man zur Finanzierung der Sozialleistungen nicht das Umlageverfahren, sondern ein Verfahren, das die Bildung einer finanziellen Reserve vorsieht - im Extremfall das Kapitaldeckungsverfahren -, so sammeln sich finanzielle Mittel an, die für die Finanzierung von Investitionen zur Verfügung stehen. Man kann Fälle anführen, in denen dieses Argument entscheidend zu einer positiven Willensbildung Uber die Einführung eines beitragsfinanzierten Sicherungssystems beigetragen hat. Die Aussicht auf einen sich rasch und geräuschlos bildenden Kapitalfonds, der noch dazu sozial motiviert werden kann, ist sehr verlockend. 863.
Dem Argument des Kapitalbildungseffekts steht folgende Erfahrung
entgegen: Es gibt kein Beispiel dafür, daß Finanzierungsverfahren, die eine nennenswerte (Uber den Umfang einer Schwankungsreserve hinausgehende) Kapitalbildung vorsahen, Uber längere Zeit durchgehalten werden konnten, ohne daß das Verfahren geändert oder die angesammelten Kapitalien sachfremd verwendet
worden
wären.
Das
Schicksal
der
Rücklagen
der
Rentenversicherung in Deutschland während der vergangenen 100 Jahre ist hierfür ein schlagendes, keinesfalls aber ein singuläres Beispiel (TZ 625). Angesichts dieser Erfahrungen ist nicht vertretbar, gering verdienenden Arbeitern (typischerweise ein Zehntel und weniger des in Europa üblichen Reallohnes) zu erklären, daß sie mit ihren Beiträgen zur Kapitalbildung beitragen müssen. Im übrigen ist das Investitionsargument fragwürdig (TZ 818).
864.
Bei der Einführung von sozialer Sicherung in wenig industrialisierten
Ländern müssen Wirkungen in Kauf genommen werden, die im Gegensatz zu üblichen
Umverteilungszielen
stehen.
Dazu
gehört
eine
inverse
Umverteilung die man als eine Umverteilung von den Ärmsten zu den Armen bezeichnet hat. Damit ist gemeint, daß die Sozialversicherung zunächst nur Arbeitnehmer erfaßt, die insofern relativ privilegiert sind, als sie einen Arbeitsplatz in verwaltungsmäßig erfaßbaren Betrieben und ein regelmäßiges Geldeinkommen
haben.
Die
für
ihre
Sicherung
aufzubringenden
Arbeitgeberbeiträge gehen als Kostenbestandteil in die Preise ein; die daneben oft gewährten StaatszuschUsse werden überwiegend durch Konsumsteuern
338
Kapitel 8: Soziale Sicherung
finanziert. Diese Finanzierungsquellen belasten also die Ärmsten (alle Verbraucher) und kommen den Armen (Sozialversicherte) zugute. 865.
Der Kritik eines solchen Zustandes kann man wiederum nur antworten,
daß die Alternative darin bestünde, auf lange Sicht Uberhaupt keine Maßnahmen der sozialen Sicherung zu ergreifen. Demgegenüber ist es vorzuziehen, alsbald die realisierbaren Schritte zu tun und durch spätere Ausdehnung des Systems auf weitere Bevölkerungsgruppen der Kritik ihr Gewicht zu nehmen. Auch ist daran zu erinnern, daß allen Maßnahmen der wirtschaftlichen Entwicklung,
besonders
solchen
der
Industrialisierung,
die
Tendenz
innewohnt, zunächst die bestehenden Ungleichheiten zu vergrößern; immer bleiben eine große Zahl der Menschen im traditionellen ländlichen sowie im informalen städtischen Bereich zunächst von den Fortschritten ausgeschlossen. 866.
In wenig industrialisierten Ländern werden oft vor anderen Leistungen
solche zur Gesundheitssicherung eingeführt. Dies sind nicht notwendig solche einer Krankenversicherung, sondern öffentliche Maßnahmen der Krankheitsoder Seuchenbekämpfung und der Gesundheitspflege. Wichtige Maßnahmen sind z.B. Impfkampagnen gegen Pocken und Tetanus, Malariabekämpfung durch Insektizide, Rückgang von Cholera und Typhus durch Verbesserung der Trinkwasserversorgung, Einsatz von Antibiotika. Solche Maßnahmen erfordern vergleichsweise geringen finanziellen Aufwand. Sie führen andererseits zu einem rapiden Rückgang der Mortalität. Da dieser Mortalitätsrückgang im Vergleich zu den alten Industrieländern früh, d.h. auf einer Stufe geringer wirtschaftlicher Entwicklung einsetzt, und nicht von einem gleichzeitigen Rückgang der Geburten begleitet wird, hat er eine sprunghafte Zunahme der Bevölkerung zur Folge. 867. Die durch den Rückgang der Mortalität bewirkte Zunahme der Bevölkerung vollzieht sich oft schneller als die wirtschaftliche Entwicklung. In vielen Fällen hält der Produktionszuwachs mit dieser Bevölkerungszunahme nicht Schritt. Unter solchen Bedingungen, afrikanischen und lateinamerikanischen
die in vielen asiatischen,
Ländern akute Bedeutung haben,
entsteht ein Nahrungsdilemma, indem sich die Frage stellt: Ist es sinnvoll,
Kapitel 8: Soziale Sicherung
339
mit Hilfe von Gesundheitsmaßnahmen die Chancen im Kampf gegen den Hunger zu verschlechtern? 868.
In internationalen Gremien und Organisationen, wie insbesondere der
Internationalen Arbeitsorganisation
und
der
Weltgesundheitsorganisation,
besteht Übereinstimmung darin, daß Einrichtungen der Gesundheitspflege und -Sicherung unabhängig von ihrer organisatorischen Struktur in den Dienst der Familienplanung gestellt werden sollten, wenn und soweit das jeweilige Land das Ziel der Familienplanung anstrebt. In vielen Fällen sind Institutionen der Gesundheitssicherung die wichtigsten oder gar einzigen Exekutoren von Maßnahmen der Familienplanung. Unter diesen Bedingungen wird
das
Spannungsverhältnis
und
Bevölkerungswachstum
zwischen einerseits
verbesserter und
Gesundheitssicherung
Nahrungsproduktion
andererseits
mindestens nicht zusätzlich belastet, im günstigen Falle sogar entlastet. Wenn jedoch eine Politik zur Verminderung des Bevölkerungszuwachses nicht als Ziel anerkannt wird - und dies ist in vielen Ländern der Fall - so muß sich das Nahrungsdilemma verschärfen. 869.
In einer Reihe wenig industrialisierter Länder sind die Ausgaben für
betriebliche Sozialleistungen im Verhältnis zum Sozialprodukt ebenso hoch wie in industrialisierten Ländern. Dies hängt damit zusammen, daß Industriebetriebe in jenen Ländern sich weniger häufig als in Europa aus Familienbetrieben entwickelten; häufig handelt es sich
um Zweigniederlassungen
bereits
bestehender (großer) Unternehmen oder um Neugründungen mit erheblichem (oft staatlichem) Kapitaleinsatz. Unter solchen Umständen liegt es nahe, die Methode der Arbeitgeber-Verpflichtung (TZ 38) anzuwenden, wie es in vielen
Fällen
insbesondere
hinsichtlich
der
Bereitstellung
Gesundheitsleistungen im Falle der Krankheit oder des
von
Arbeitsunfalles
geschehen ist. Ausgehend von dem Eigeninteresse der Betriebe an der Gesundheit der Arbeitskräfte werden in diesen Fällen bestimmte gesetzliche Verpflichtungen zur Bereitstellung medizinischer Dienstleistungen auferlegt. Die Betriebe können diesen Verpflichtungen nachkommen, indem sie entweder eigene Gesundheitseinrichtungen mit angestelltem medizinischem Fachpersonal unterhalten, oder sich die entsprechenden Dienste durch Vertragsabschluß von dritten Personen oder Institutionen sichern.
340
870.
Kapitel 8: Soziale Sicherung
Eine Schwäche dieser Methode ist, daß man aus finanziellen und
administrativen Gründen solche Verpflichtungen nur größeren
Betrieben
auferlegen kann. Da die Kosten der gesundheitlichen Betreuung ausschließlich von den Betrieben aufzubringen sind, besteht wegen der regelmäßig hohen Arbeitslosigkeit die besondere Gefahr, daß Arbeitnehmer entlassen werden, sobald sie zu einem „Gesundheitsrisiko" zu werden drohen. Deshalb kann die Arbeitgeber-Verpflichtung nur als Vorläufer eines Systems der sozialen Sicherung im engeren Sinne angesehen werden. Dem steht nicht entgegen, daß sie in vielen Landern hinsichtlich der faktischen Wirksamkeit gegenwärtig noch im Vordergrund des Gesamtsystems steht.
IX. Zur Angemessenheit von Gesundheitsausgaben 871.
In Kapitel 5 sind Möglichkeiten der Ausgabensteuerung in den
verschiedenen
Funktionsbereichen
der
gesetzlichen
Krankenversicherung
dargestellt. Es sind dies für die ambulante ärztliche Behandlung eine Begrenzung der Leistungsausweitung oder der Vergütung von Leistungen. Bei den Sachleistungen kommt eine Beeinflussung der Mengen oder der Preise in Betracht. Die Kosten der Krankenhausbehandlung können durch Budgetierung oder Herstellung der Vertragsfreiheit gesteuert werden, diejenigen für ergänzende Dienstleistungen durch nur teilweise Erstattung der Kosten. Es stellt sich die Frage, ob, in welchem Ausmaß und in welcher Gewichtung von diesen potentiellen Steuerungsmöglichkeiten Gebrauch gemacht werden kann oder soll. Dahintersteht die Frage, welcher Anteil der Ausgaben der privaten oder öffentlichen Haushalte für Gesundheitsausgaben als angemessen betrachtet werden kann oder soll. Diese Frage ist letztlich nur durch Wertung zu entscheiden, doch sollte solche Wertung in Ansehung gegebener Tatsachen und realer Alternativen erfolgen.
Kapitel 8: Soziale Sicherung
341
a) Anstieg der Gesundheitsausgaben 872.
Die Ausgaben für Leistungen zur Erhaltung und Wiederherstellung der
Gesundheit sind permanent angestiegen. Dieser Ausgabenansteig spiegelt sich in der Entwicklung des durchschnittlichen Beitragssatzes der gesetzliche Krankenversicherung wieder. Der Beitragssatz stieg im Zeitraum seit 1900 von 2 auf 14 v.H.
Der Anstieg verlief weitgehend kontinuierlich, jedoch
unterbrochen durch einen Rückgang als Folge reduzierender Eingriffe in das Krankenversicherungsrecht 1930 (Rückgang von 6,4 auf 5,2 v.H.) sowie der Einführung der Entgeltfortzahlung für Arbeiter 1970 (Rückgang von 10,6 auf 8,2 v.H.). Über das Jahrhundert ist der Beitragssatz auf das siebenfache angestiegen.
Dabei war der Anstieg der Ausgaben
für Sach-
und
Dienstleitungen noch stärker, denn von den Ausgaben der Krankenversicherung waren 1891 45 v.H. Geldleistungen, während es gegenwärtig weniger als 10 v.H.
sind.
Ein vollständiger Vergleich müßte die Ausgaben für die
Entgeltfortzahlung einbeziehen, die damals nur 0,4 Beitragsprozent (der Krankenversicherung) entsprachen, gegenwärtig etwa 3 Prozent. 873.
Der Gesetzgeber hat die Gefahr übermäßiger Beitragssatzsteigerungen
frühzeitig gesehen. Da den Krankenkassen das Recht eingeräumt war, ihre Leistungen durch Satzungsbeschluß zu erhöhen oder zu erweitern, bestimmte er als Höchstgrenze des Beitragssatzes einer einzelnen Kasse 6 v.H. Unter dem Zwang der Verhältnisse wurde diese Höchstgrenze später auf 9 und schließlich (1961) auf 11 v.H. erhöht. Mit Einführung der Lohnfortzahlung für Arbeiter wurde 1970 die Grenze wegen der dadurch bewirkten Entlastung der Kassen auf 8 v.H. herabgesetzt. Die früher vorgesehenen Konsequenzen einer Überschreitung des Beitragshöchstsatzes (Zusammenlegung von Kassen, Garantieträgerschaft) sind im Laufe der Zeit beseitigt worden. Als Relikt der ursprünglich erhofften Bremsfunktion der Höchstgrenze ist die Vorschrift anzusehen, daß Beitragserhöhungen jenseits 12 v.H. bei Ortskrankenkassen nur auf übereinstimmenden Beschluß der Arbeitgeber und Versicherten im Selbstverwaltungsorgan zustand kommen. 42 Diese Vorschrift ist in der Praxis bedeutungslos.
342
Kapitel 8: Soziale
Sicherung
874. Neben den Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung dienen weitere Ausgaben der Gesundheitssicherung; dies sind die Ausgaben der öffentlichen
Haushalte
für
Krankenhäuser,
für
den
öffentlichen
Gesundheitsdienst sowie Ausgaben der privaten Krankenversicherung und der privaten Haushalte. Die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung betragen nur zwei Drittel der Gesamtausgaben
in der Volkswirtschaft. Doch
wie diese steigen auch die Ausgaben im Bereich des letzten Drittels. Die gesamten öffentlichen und privaten Ausgaben für das Gesundheitswesen (Gesundheitsquote) betrugen im Jahr 1913 2 v.H. des Bruttosozialprodukts, gegenwärtig sind es rd. 8 v.H. 875.
Der Uberproportionale Anstieg der Gesundheitsausgaben
internationale Erscheinung. Er gilt auch für die USA,
ist eine
in denen
die
Gesundheitsquote deutlich höher liegt als in Deutschland und allen anderen industrialisierten Ländern. Die von der Regierung Clinton 1993 in Angriff genommene Gesundheitsreform hatte deshalb nicht nur zum Ziel, die großen personellen Lücken im Versicherungsschutz zu schließen, sondern auch, den permanenten Kostenanstieg zu bremsen. 876. Unabhängig vom Ausgabenanstieg gibt es im internationalen Vergleich beträchtliche Niveauunterschiede.
Gemessen an der Gesundheitsquote
Deutschlands ist diejenige der USA deutlich höher; dies ist bemerkenswert angesichts
der
geringeren
Durchschnittsalters
gesundheitlichen
dort
fehlenden
gesetzlichen der
Krankenversicherung,
Bevölkerung
Kriegsfolgewirkungen.
und
Die
der
des
geringeren
Gesundheitsquote
Großbritanniens ist deutlich niedriger als diejenige Deutschlands ungeachtet des dortigen umfassenden öffentliche Gesundheitsdienstes. 877.
Die Erklärung dürfte in der in Großbritannien angewandten Methode der
direkten
Leistungserbringung
(TZ
409)
und
der
damit
möglichen
Budgetierung der Ausgaben liegen. Eine Expertengruppe des Internationalen Arbeitsamtes stellt fest, daß es den Ländern, in denen eine zentrale Kontrolle der Ausgaben durch Budgetierung besteht, gelungen sei, „ein sehr viel moderateres Wachstum der Gesundheitsausgaben im Verhältnis zu den nationalen Ressourcen sicherzustellen. 43 Aber abgesehen davon stellt sich auch
Kapitel 8: Soziale Sicherung
343
im Falle der Budgetierung das grundsätzliche Problem der Angemessenheit von Gesundheitsausgaben; denn auch in diesem
Falle bleiben die für die
Ausgabenexpansion maßgebenden Faktoren wirksam. 878.
Expandierende
Faktoren,
die
auf
die
Gesundheitsausgaben
einwirken, sind: Der medizinisch-technische Fortschritt hat zur Folge, daß pro Zeiteinheit und pro Krankheitsfall höhere Ausgaben entstehen als früher. Zunehmender Bedarf wegen der Altersabhängigkeit der Morbidität (TZ 97) bei steigendem Durchschnittsalter der Bevölkerung. Zunehmende Nachfrage durch verbessertes Gesundheitsbewusstsein. Mengenausweitung durch steigende Arztdichte (TZ 432) Wegen verkürzter Arbeitszeit vermehrtes und relativ besser entlohntes ärztliches und pflegerisches Personal. 879.
Keiner dieser Faktoren ist überraschend aufgetreten. Bereits 1958 bei
einem Beitragssatz der gesetzlichen Krankenversicherung von 8 v.H. wurde aus der Entwicklung deduziert: „Unter gleichbleibenden Verhältnissen ist zu erwarten, daß die normale Entwicklung den Beitragssatz der gesetzlichen Krankenversicherung im Laufe etwa der nächsten 15 Jahre auf 12 v.H. ansteigen läßt.
44
Zwar betrug der Beitragssatz 15 Jahre später nur 10 v.H.,
doch hätte er ohne die Einführung der Entgeltfortzahlung für Arbeiter (1970) 12 v.H.
betragen.
Nach einem spürbaren
Anstieg
des
durchschnittlichen
Beitragssatzes Mitte der 70er Jahre werden der Ausgabenanstieg und die Möglichkeiten seiner Steuerung thematisiert. Dies ist weiterhin nötig, weil alle auf die Ausgaben expansiv wirkenden Faktoren ihre Wirksamkeit auch in Zukunft behalten. Deshalb bleibt die Frage aktuell, ob es eine Leitlinie für die Steuerung des künftigen Ausgabenzuwachses gibt. b) Suche nach Steuerungszielen 880.
Seit Mitte der 70er Jahre ist
Widerstand
gegen
eine
weitere
Inanspruchnahme des Einkommens durch Gesundheitsausgaben entstanden. Es wird allseitig eine Politik der Kostendämpfung unterstützt.
Die dafür
344
Kapitel 8: Soziale Sicherung
einsetzbaren Steuerungsinstrumente sind in Kapitel 5 diskutiert worden. Ständig
neu
diskutiert
wird
die
Frage,
auf
welches
Ziel
hin
Steuerungsinstrumente eingesetzt werden sollen. Welche Ausgabenhöhe ist angemessen? Welches ist die richtige „Gesundheitsquote". Eine nahe liegende Antwort auf diese Fragen wäre, daß der Bedarf an Gesundheitsleistungen gedeckt werden soll. Doch wie oben erwähnt (TZ 87,431), ist es nicht möglich, diesen Bedarf
mit hinreichender
Genauigkeit
zu
definieren
und
zu
quantifizieren. 881.
Angesichts dieser Situation und steigender Beitragssätze wurde für die
gesetzliche Krankenversicherung der Gedanke der „einnahme-orientierten" Ausgabepolitik entwickelt, der schließlich seinen Niederschlag im gesetzlich festgelegten Grundsatz der Beitragssatzstabilität gefunden hat (TZ 452). Dies bedeutete die Artikulation gesellschaftlichen Wollens und den Appell an die Verantwortung der Leistungserbringer gegenüber der Gesellschaft. Auch auf anderen Gebieten kann und will die Gesellschaft nicht alles finanzieren, was die Leistungserbringer
erbringen
möchten,
z.B.
Theaterleute,
Architekten,
Bundeswehrkommandeure. Dabei ist bereits eine positive Entscheidung zugunsten der Ärzte gefallen. Beitragsstabilität bedeutet Garantie der Teilhabe am Lohnzuwachs der Arbeitnehmer. Diese Garantie hat kein anderer freier Beruf. 882.
Der Grundsatz
der
Beitragssatzstabilität
fördert die
rationale
Durchdringung des Geschehens im Gesundheitswesen. Die Sonderstellung der Ärzte beruht auf emotionalen Reaktionen der Menschen gegenüber Krankheit und Tod. Es sind Regungen wie Furcht, Ehrfurcht, Gläubigkeit, Hoffnung. Ihre Ursprünge stammen aus archaischen Erfahrungen, Ängsten, Hoffnungen und daraus erwachsenden Verhaltensweisen. In vielen Kulturen und Uber lange Zeiträume hinweg waren Arzt und Priester identisch. Vordringlich sollten einige Schlagworte entmythologisiert werden, mit deren Hilfe versucht wird, rationale Diskussionen zu ersticken. Dazu gehören z.B. die uneingeschränkte freie Arztwahl, die es für die Hälfte aller Ärzte und die schwereren Zustände im Krankenhaus nicht gibt. Mit der Forderung nach unbeschränkter Therapiefreiheit wird jede Standardisierung und Überwachung medizinischer Leistungen zu verhindern versucht. Die Entmythologisierung
Kapitel 8: Soziale Sicherung
345
sollte dahin führen, daß insbesondere angehenden Ärzten ihre auch ökonomische Verantwortung gegenüber der Gesellschaft bewußt wird. 883.
Mit
dem
Grundsatz
der
Beitragssatzstabilität
wird
Uber
die
Einkommensverwendung entschieden: Es sollen auch in Zukunft 13 v.H. des (beitragspflichtigen) Einkommens für Gesundheitsleistungen ausgegeben werden. Dabei wird unterstellt, daß diese 13 v.H. zur Befriedigung des gegenwärtigen Bedarfs notwendig und zur Befriedigung des künftigen Bedarfs ausreichend sind. Beide Annahmen sind allein deshalb unwahrscheinlich, weil ein Zeitpunkt in einer 100-jährigen Entwicklung (zufällig) herausgegriffen und als Norm für die Zukunft angesehen wird. Die Festschreibung Ausgabenquote trägt nicht Rechnung:
der Malleabilität des
einer
Zustandes
Krankheit, den Besonderheiten des Marktes für Gesundheitsleistungen und der Variabilitätder Einkommensverwendung. 884.
Der Zustand Krankheit ist malleabel: bei gegebenem medizinischen
Befund entscheiden innerhalb gewisser Grenzen auch subjektive Faktoren wie Befindlichkeit, Verhaltensweise und Willensimpuls des Patienten darüber, ob, wie sehr und wie lange er sich krank fühlt. Ebenso ist die Entscheidung des Arztes über die Notwendigkeit, Zweckmäßigkeit und Erfolgsaussicht einer Dienst- und Sachleistung malleabel (TZ 84). 885.
Die Malleabilität der Verhaltensweisen, die Besonderheiten des Marktes
für Gesundheitsleistungen und die expandierenden Faktoren (TZ 878) haben einen Anstieg der Ausgaben für Gesundheitsleistungen zur Folge, der notwendigerweise zu Lasten anderer Ausgaben gehen mußte. Die Ausgaben für Gesundheitsleistungen bilden einen Teil der gesamten Verbrauchsausgaben eines Haushaltes; neben den Ausgabenposten für Nahrung,
Wohnung,
Bekleidung u.a. (Ausgabenquoten). Ein bekanntes Charakteristikum der Ausgabenquoten ist, daß sie zwar innerhalb der gleichen Einkommensgruppe weitgehend
konstant sind,
mit wechselnder
Einkommenshöhe
jedoch
Veränderungen unterliegen. Mit wachsendem Einkommen sinkt der prozentuale Anteil der Gesamtausgaben, der für Nahrungsmittel
ausgegeben
wird
(„Engel'sches Gesetz"). Dies gilt nicht nur für den einzelnen Haushalt, sondern ebenso für ganze Volkswirtschaften. So beträgt z.B. die Nahrungsmittelquote
346
Kapitel 8: Soziale Sicherung
(Anteil der Ausgaben für Nahrungsmittel an den gesamten Ausgaben für den privaten Verbrauch) in vielen nicht industrialisierten Ländern 7 0 - 8 0 v.H., in Deutschland gegenwärtig 18 v.H. (mittlere Verbrauchergruppe). 886.
In zeitlichem Ablauf sank in Deutschland die Nahrungsmittelquote
von 52 v.H. im Jahre 1907 auf den gegenwärtigen Wert von 18 v.H. Während die Nahrungsmittelquote ständig absank, stieg der Beitragssatz zur gesetzlichen Krankenversicherung
an.
Allerdings
Nahrungsmittelquote
nicht
wurde
das
Sinken
der
durch
den
Anstieg
des
vollständig
Krankenversicherungsbeitrags kompensiert. Über den gesamten Zeitraum ist etwa ein Drittel der Abnahme der Nahrungsmittelquote durch den steigenden KV-Beitragssatz kompensiert worden. 887.
Das wirft die Frage auf, ob aus diesem empirischen Befund eine
Leitlinie für die künftige Entwicklung abgeleitet werden könnte oder sollte. Man kann der Meinung sein, daß es nicht unvernünftig ist, durch Absinken der Nahrungsmittelquote frei werdende Einkommensteile für Gesundheitsleistungen auszugeben. Dies kann allerdings nur teilweise der Fall sein, weil steigende Gesundheitsausgaben
konkurrieren
mit
Ausgaben
zur Befriedigung
anderer Bedürfnisse, die gleichfalls elastischer Nachfrage unterliegen, wie Wohnkomfort,
Verkehr
und
Nachrichtenübermittlung,
Bildung
und
Unterhaltung, Reisen. Auf jeden Fall wird die Nahrungsmittelquote in Zukunft deutlich langsamer sinken als in der Vergangenheit, so daß sich die Spielräume für andere Ausgaben langsamer erweitern. 888.
Die Frage nach dem angemessenen Niveau der Gesundheitsquote läßt
sich nicht abstrakt und allgemein beantworten. Es sind konkrete Teilantworten erforderlich auf öffentlicher
Fragen
Ausgaben,
Leistungsstruktur.
Das
Prioritätenproblem.
nach
den
nach
der
Substitutionswirkungen Kostenstruktur
Niveauproblem
Setzung
von
Prioritäten
ist ist
und
veränderter nach
wesentlich Entscheidung
der ein Uber
Alternativen, wie die folgenden Beispiele zeigen. 889.
Öffentliche
versus
private
Ausgaben.
Immer
wieder
wird
vorgeschlagen, den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung zu
Kapitel 8: Soziale Sicherung
reduzieren.
Solche
Leistungsausgrenzungen
wirken
347
unmittelbar
ausgabesenkend. Positionen, deren völlige oder teilweise Herausnahme aus der Leistungspflicht der Krankenversicherung vorgeschlagen worden ist, sind Hotelkosten
bei
Krankenhausbehandlung,
Kosten
des
Schwangerschaftsabbruchs, Reisekosten, unwirksame Arzneimittel, Brillen u.a. Die Alternative besteht darin, ob diese Leistungen öffentlich oder privat finanziert werden sollen; denn es ist nicht damit zu rechnen, daß die Ausgaben bei Leistungsausgrenzung entfallen. 890.
Todesjahre versus Todesfälle. Im Rahmen der gesundheitspolitischen
Diskussion
spielen
Krankheitsarten
und
die
durch
sie
bedingten
Sterbefälle eine Rolle. Die Todesursachenstatistik zeigt zum Beispiel, daß fast die Hälfte aller Sterbefälle auf Krankheiten des Kreislaufsystems und ein Fünftel
auf
Neubildungen
zurückgehen.
Diese
Daten
verleiten
zu
Schlußfolgerungen Uber Prioritäten der Gesundheitspolitik, die hinterfragt werden können. Wenn man fragt, wieviel Lebensjahre durch den Tod wegen bestimmter Krankheitsarten verloren gehen, so ergeben signifikante
Unterschiede.
So
verursachen
z.B.
sich
teilweise
Krankheiten
des
Kreislaufsystems, die vor allem ältere Menschen betreffen, fast die Hälfte aller Todesfälle eines Jahres, aber nur knapp ein Drittel der verlorenen Lebensjahre. Die Todesursache: Unfälle, Vergiftungen, Gewalteinwirkungen, von der mehr jüngere Menschen betroffen sind, verursacht wenig Todesfälle, aber eine viel größere
Anzahl
verlorener
Lebensjahre.
Die Frage
nach
verlorenen
Lebensjahren ist für Entscheidungen über Prioritäten von Forschungsmitteln und Präventionsmaßnahmen wichtiger als der Hinweis auf Todesfälle. 891.
Gesunderhaltung versus Lebenserhaltung. Ein Prioritätenproblem stellt
sich in verschärfter Form und mit größeren finanziellen Folgen für die Fälle, in denen medizinische Maßnahmen nicht der Wiederherstellung oder Erhaltung der Gesundheit, sondern nur noch der Lebenserhaltung dienen. Die Fragen, ob und unter welchen Bedingungen in diesen Fällen weiterer Aufwand notwendig oder gerechtfertigt ist, ob passive oder gar aktive Sterbehilfe zulässig ist, werden sich angesichts der steigenden Altersquote zunehmend dringlich stellen.
348
Kapitel 8: Soziale
Sicherung
892. Einkommensniveau versus Berufsfreiheit Die zunehmende Zahl der Ärzte zwingt zu einer Entscheidung darüber, ob man deren Einkommensniveau oder deren Berufsfreiheit Priorität einräumen will. Bei Aufrechterhaltung der Berufsfreiheit ist wachsender Widerstand gegen die jetzige Art und Höhe der Leistungsvergütung und folglich ein Sinken des Einkommensniveaus zu erwarten. Wer dem entgegenwirken will, muß eine Reduzierung der Ausbildungskapazitäten und/oder begrenzte Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung (TZ 420) und damit Einschränkungen der Berufsfreiheit in Kauf nehmen. c) Das magische Dreieck 893. Jenseits eines mittelfristigen Zeitraums läßt sich die Frage nach der Erreichbarkeit der Beitragssatzstabilität nicht mehr einfach mit ,ja" oder „nein" beantworten.
Die
Antwort
wird
immer
erneut
im
Rahmen
eines
Spannungsfeldes gesucht werden müssen. Dieses Spannungsfeld ist im Gesetz selbst angelegt. § 71 SGB V verpflichtet die Krankenkassen und die Leistungserbringer, „ den Grundsatz der Beitragssatzstabilität zu beachten". § 141 Abs. 2 präzisiert, daß Beitragssatzerhöhungen vermieden werden sollen, es sei denn,
die
notwendige
medizinische
Versorgung
ist
auch
unter
Ausschöpfung von Wirtschaftlichkeitsreserven ohne Beitragssatzerhöhungen nicht zu gewährleisten. Es besteht also ein Spannungsverhältnis zwischen Beitragssatzstabilität und notwendiger medizinischer Versorgung. Ein drittes Gebot des Gesetzes besagt, daß Vertragsabschlüsse zwischen Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen so zu regeln sind, daß „ die ärztlichen Leistungen angemessen vergütet werden" (§ 72 Abs. 2 SGB V). Es besteht also ein Dreiecksverhältnis, das man in Anlehnung an den Sprachgebrauch bezüglich des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft von 1967 als magisches Dreieck bezeichnen kann. 894. 1.
Jenes Gesetz gibt 4 Zielgrößen vor, nämlich: Vollbeschäftigung,
2.
Wachstum,
3.
Preisstabilität
und
4.
außenwirtschaftliches Gleichgewicht. Man spricht hier von einem magischen Viereck und will damit sagen, daß die 4 Zielgrößen niemals gleichzeitig optimal erfüllt und auch nicht erfüllbar sind, weil es sich um konfligierende Ziele
Kapitel 8: Soziale Sicherung
349
handelt. Zu einem gegebenen Zeitpunkt spricht man von einer Gefährdung eines oder mehrerer dieser Ziele, oder von Zielverletzungen. Die Wirtschaftspolitik versucht dann, mit Mitteln der Globalsteuerung diese Zielverletzungen zu minimieren. Wichtig ist die Feststellung, daß es eine Frage des politischen Wollens ist, ob, wann und wie stark man Zielverletzungen entgegenwirkt, und dabei die Gefährdung anderer Ziele in Kauf nimmt. Analog kann man im Gesundheitswesen von einem magischen Dreieck sprechen: Beitragssatzstabilität - notwendige medizinische Versorgung - angemessene Vergütung. Beitragssatzstabilität ist aus dieser Sicht ein Ziel wie etwa die Geldwertstabilität. Es kann mit den anderen beiden Zielen konfligieren. 895.
Betrachtet
Entwicklung,
man so
unter läßt
diesem
sich
Gesichtspunkt
feststellen,
daß
die
von
historische Beginn
der
Krankenversicherung bis 1930 nur die Beitragssatzstabilität gefährdet war. Der Beitragssatz stieg von 1,3 auf 6 v.H. Die medizinische Versorgung war ebensowenig gefährdet, wie die angemessene Vergütung. Während der Weltwirtschaftskrise wurde durch
rigorose
Ausgrenzungen,
Verletzung des Ziels der notwendigen medizinischen
also
unter
Versorgung,
der
Beitragssatz von 6 auf 5 % gesenkt. Die angemessene Vergütung war nur insofern verletzt, als man die Gesamtvergütung einführte und diese als Anteil an den Gesamtausgaben festschrieb. Dies wurde jedoch von den Ärzten begrüßt, weil es ihnen für die Zukunft automatische Einkommensverbesserungen versprach. Die weitere Entwicklung verlief dann wieder unter alleiniger Verletzung der Beitragssatzstabilität. Der Beitragssatz stieg von 5 % in 1931 auf 10 % in 1969. Als Folge der Lohnfortzahlung für Arbeiter durch den Arbeitgeber sank der Beitragssatz auf 8 %, stieg aber in den folgenden Jahren auf 10,4 % in 1975. Zu dieser Zeit entstand in der Selbstverwaltung das Konzept der einnahmen-orientierten Ausgabenpolitik, die schließlich ihren Niederschlag im Grundsatz der Beitragssatzstabilität fand. 896.
Das aus dem magischen Dreieck sich ergebende Spannungsverhältnis
zwischen den drei konfligierenden Zielen bleibt bestehen. Es ist prinzipiell unauflösbar.
Es bleibt eine permanente
Aufgabe,
Zielverletzungen
zu
minimieren. Politisch ist zu entscheiden, ob und inwieweit die Gefährdung
350
Kapitel 8: Soziale Sicherung
eines oder mehrerer Ziele in Kauf genommen werden soll. Insbesondere ist zu entscheiden, wer über die Notwendigkeit medizinischer Leistungen befindet. Denn dieses Ziel ist nicht dadurch gefährdet, daß notwendig Leistungen nicht erbracht werden. Die Gefährdung besteht darin, daß Leistungen erbracht werden, die nicht notwendig sind. Konkret stellt sich die Frage, ob die Leistungserbringer Uber die Notwendigkeit von Leistungen entscheiden, individuell und einkommenswirksam - (wie jetzt) oder anhand von wissenschaftlichen Vorgaben und ohne Einkommensinteresse. Politische Entscheidung heißt Setzung von Werturteilen. Werturteilen unterliegt insbesondere die nähere Definition der Zielgrößen, notwendige medizinische Versorgung und angemessene Vergütung der Leistungen. An dem Ziel der Beitragssatzstabilität sollte bis auf weiteres festgehalten werden, weil dies die einzige Möglichkeit ist, den gesellschaftlichen Dialog über die Definition der anderen beiden Ziele in Gang zu setzen und damit zu einem rational wenn nicht begründbaren, so doch
wenigstens nachvollziehbaren
Konsens
zu
gelangen. d) Budgetierung 897.
Die Maßnahmen zur globalen Ausgabensteuerung, wie Begrenzung der
Arztdichte, Kostenbeteiligung und die Einführung von Marktelementen (TZ 528)
sind in ihren Wirkungen
begrenzt und/oder mit
unerwünschten
Nebenwirkungen verbunden. Eine wirksame Methode zur Begrenzung des Ausgabenzuwachses ist die Budgetierung der Gcsundheitsausgaben. Dabei werden die verfügbaren Mittel im voraus durch politische Entscheidung festgelegt, wie dies im öffentlichen Gesundheitsdienst in Großbritannien, Italien und den meisten GUS-Staaten der Fall ist. Wenngleich in diesen Ländern die Kontrolle des Ausgabenzuwachses recht gut gelingt und die Gesundheitsquote unterdurchschnittlich
hoch
ist,
wird
doch
immer
wieder
auf
Versorgungsengpässe hingewiesen, so daß die Budgetierung in Ländern mit einem Versicherungssystem nicht sehr populär ist. 898.
Betrachtet man
das
Gesundheitswesen
als
eine
Institution
zur
Produktion des Gutes Gesundheit, so liegt ein Vergleich mit anderen
Kapitel 8: Soziale
Sicherung
351
Institutionen nahe, die ebenfalls Güter in Form von Dienstleistungen erbringen. Beispiele dafür sind die Parlamente mit der Funktion Willensbildung, die Polizei mit der Funktion
demokratischer
innerer Sicherheit,
die
Bundeswehr mit der Funktion äußerer Sicherheit, die Justiz mit der Funktion Rechtsfrieden, die Kommunen mit der Funktion Lebensqualität. Alle diese Institutionen erbringen Dienstleistungen und arbeiten auf der Grundlage von Budgets. Angehörige dieser Institutionen wünschen sich regelmäßig höhere Budgets zur Vervollkommnung ihrer Leistungen. Es wird politisch darüber entschieden, ob und in welchem Maße diesen Wünschen Rechnung getragen wird. 899.
Die Zurückhaltung gegenüber einer Budgetierung im Gesundheitswesen
liegt in der Befürchtung begründet, daß eine unterbliebene Leistung eine bestimmte, in der Regel kranke Person
treffen würde,
während eine
unterlassene Straßenbaumaßnahme oder ein zu schwach besetzter Polizeiposten den Bürger nicht als Individuum, sondern nur potentiell in Form einer höheren Schadenswahrscheinlichkeit
betrifft. Allerdings ist
die
Annahme,
daß
Budgetierung im Gesundheitswesen notwendig Rationierung zur Folge habe, nicht zwingend. 900.
Dies zeigen die Erfahrungen mit der
1993 zeitlich befristet
eingeführten Budgetierung (TZ 457, 484). Die Festschreibung der Ausgaben für ambulante ärztliche Behandlung hat nicht weniger Leistungen zur Folge gehabt, sondern zusammen mit der gestiegenen Ärztezahl zu einem Absinken der Vergütung für die einzelne ärztliche Leistung (Punktwert TZ 445). Die Budgetierung der Arzneimittelausgaben hat zwar zu einem Rückgang der Zahl der Verordnungen geführt, doch ist nicht behauptet oder gar bewiesen worden, daß eine notwendige Verordnung nicht erfolgt ist. Es kommt also sehr darauf an, auf welchem Niveau und nach welcher Methode budgetiert wird. 901.
Die 93 er Budgetierung war spartenbezogen, indem für Krankenhäuser,
Ärzte und Arzneimittel je für sich ein Budget festgelegt wurde. Daran wurde u.a. kritisiert, daß auf diese Weise die Strukturen festgeschrieben und ein kostensenkender Strukturwandel behindert werde. Deshalb wird von den
352
Kapitel 8: Soziale Sicherung
Befürwortern
einer
Budgetierung
ein
Gesamtbudget
für
die
Krankenversicherung vorgeschlagen. 902.
Für die Realisierung eines Gesamtbudgets sind grundlegende Fragen
zu klären. Wer setzt das Budget fest? Alternativen sind der Gesetzgeber oder ein Selbstverwaltungsorgan. Nach welchen Kriterien wird das Budget festgelegt und verändert? Alternativen sind die Kasseneinnahmen oder ein bestimmter Anteil am Bruttosozialprodukt. Wie wird ein Globalbudget in Geldgrößen auf Leistungsbereiche,
Regionen
„heruntergerechnet"? Was
und
einzelne
geschieht, wenn
Leistungserbringer
im Einzelfall das
Budget
überschritten wird? 903.
Die Ziele einer Budgetierung können auch erreicht werden, wenn das
Budget nicht in monetären Einheiten festgelegt wird - was für alle beteiligten sehr unanschaulich ist - sondern wenn die Beitragssatzstabilität nicht nur als Grundsatz, sondern als konkrete Zahl (Beitragssatz) gesetzlich festgelegt wird.
Es
läge
dann
die
Verantwortung
für
die
Einhaltung
der
Beitragssatzstabilität bei der einzelnen Krankenkasse. Für die jetzt bestehenden Beitragssatzunterschiede
wären
Ausgleichs-Mechanismen
und
Übergangsregelungen nötig. Neben der besseren Anschaulichkeit - Beitragssatz versus Geldbetrag - hätte eine solche Regelung auch den Vorteil, daß es gegenüber Schwankungen der Lohnquote unabhängig wäre. Ein Nachteil ist, daß der Beitragssatz als Wettbewerbsparameter der Krankenkassen ausfiele.
X. Zum Transparenz-Ziel 904.
Man kommt auf Uber 40 verschiedene Geldleistungen, wenn man die im
Allgemeinen Teil des Sozialgesetzbuches (§§ 18 ff) enumerierten Leistungen durchgeht. Dabei gibt es Sozialleistungen, die entweder bei
gleicher
Voraussetzung und Bemessung anders bezeichnet sind, oder bei gleicher Bezeichnung anderen Voraussetzungen oder Bemessungskriterien unterliegen. Wie schon die Vielzahl der Sozialleistungsträger ist auch die Vielzahl der unterschiedlich bezeichneten Sozialleistungen Hinweis auf die Intransparenz des Systems der sozialen Sicherung.
Kapitel 8: Soziale Sicherung
905.
353
Das deutsche System der sozialen Sicherung hat sich über mehr als ein
Jahrhundert hin stoß- und stückweise entwickelt. Es wird kritisiert einerseits wegen noch bestehender Lücken und Unvollkommenheiten, andererseits wegen Hypertrophierung.
Einigkeit
besteht
in
der
Kritik
seiner
teilweisen
Widersprüchlichkeit und seiner Unübersichtlichkeit. Immer wieder wird die Forderung nach verbesserter Transparenz und vermehrter innerer Konsistenz erhoben. In jüngerer Vergangenheit hat sich das Transparenzbedürfnis in der Einsetzung
verschiedener
Sachverständigenkommissionen
sowie
im
Bemühen um die Schaffung eines einheitlichen Sozialgesetzbuches geäußert. Ungeachtet dessen sind die Fortschritte in Bezug auf Übersichtlichkeit und Rationalität bescheiden geblieben. 906.
Transparenz des Systems der sozialen Sicherung ist aus mehreren
Gründen erwünscht, wie z.B. Zielgerechtigkeit, richtige Prioritätensetzung und Versachlichung der Diskussion. Zu diesen Gründen gehört auch
die
Sicherungsfunktion von Transparenz: Es gibt Hinweise darauf, daß für das Empfinden, sozial gesichert zu sein, die Transparenz und die Verläßlichkeit der Leistungserbringung wichtiger sind als die Leistungshöhe. 907.
In den letzten Jahren haben sich die Chancen für die Herbeiführung
von mehr Transparenz der sozialen Sicherung verbessert: Die historische Dimension der sozialen Sicherung, d.h. die Entwicklungslinien von Sachfragen und gesetzgeberischen Antworten sind deutlicher herausgearbeitet worden. Weiter ist die universale Dimension des Problems durch vergleichende Untersuchungen
deutlicher
geworden.
Und
schließlich
haben
die
Finanzierungsprobleme seit Mitte der 70er Jahre das Bewußtsein für Optionen und Prioritäten geschärft. 908.
Die verbesserten Voraussetzungen und die verstärkte Notwendigkeit
ganzheitlicher Betrachtung haben Anlaß zu gewichtigen Arbeiten gegeben: Das Gutachten eines Arbeitskreises der Gesellschaft für sozialen Fortschritt „Sozialbudget-Sozialplanung" (1971) stand unter der Fragestellung der Finanzierbarkeit eines rationalen Gesamtkonzepts der sozialen Sicherung. Der Entwurf eines Sozialgesetzbuches des Instituts für soziales Sicherheitsrecht der
354
Kapitel 8: Soziale
Sicherung
Universität Löwen (1978) stand unter der Fragestellung eines transparenten Sozialrechts. Die Arbeit „Into the twenty-first Century: The development of social security" einer Expertengruppe des Internationalen Arbeitsamts (1984) fragte nach der wahrscheinlichen und wünschenswerten weiteren Entwicklung der sozialen Sicherung. Trotz unterschiedlicher Ausgangspunkte lag diesen Arbeiten doch eine gemeinsame Fragestellung zugrunde: Wie würde man heute ein System der sozialen Sicherung konzipieren, wenn von allen historischen Vorgegebenheiten abgesehen wird? 909.
Die historischen Vorgegebenheiten haben von Beginn an starken
Einfluß auf die Gestaltung der sozialen Sicherung gehabt. Insbesondere die institutionale Gliederung des Systems
ist in starkem Maße historisch
determiniert. Die Vorgegebenheiten wirken einerseits hemmend; sie verhindern manches, was man heute anders entscheiden würde oder könnte. Andererseits wirken Vorgegebenheiten wegen der Uber sie bestehenden Vorstellungen und der durch sie vermittelten Besitzstände bewahrend; sie schützen vor ideologisch motivierten oder durch Interesse bedingten abrupten Änderungen, und haben insofern auch bei im ganzen gegebener Intransparenz partiell durchaus Stabilisierungsfunktion. Die Wirkung der Vorgegebenheiten ist ambivalent. Sie haben in Deutschland einerseits das Entstehen eines transparenten Systems verhindert, aber andererseits über katastrophale geschichtliche Einbrüche hinweg dem System Stabilität verliehen. 910.
Deshalb ist unwahrscheinlich, daß ein transparentes System der sozialen
Sicherung aufgrund einer Theorie verwirklicht werden wird. Die Ziele eines solchen Systems werden gewünscht von interessierten Gruppen und sind daher divers;
sie
werden
gesetzt
vom
Gesetzgeber
und
haben
daher
Kompromißcharakter. Auch muß beachtet werden, daß eine Verabsolutierung des Transparenz-Zieles die Gefahr in sich birgt, zu undifferenzierter Grobheit und einem Verlust an Detailgerechtigkeit zu führen. Das Transparenzziel muß mit anderen Zielen kompatibel sein. 911.
Aus dem bestehenden System der sozialen Sicherung läßt sich folgende
allgemeine Zielbeschreibung ableiten: Soziale Sicherung soll bei Vorliegen bestimmter Tatbestände die Deckung eines Bedarfs sichern oder erleichtern, bei
Kapitel 8: Soziale Sicherung
355
Vorliegen bestimmter Schadensursachen Entschädigung gewährleisten und ausgefallenes Erwerbseinkommen ersetzen.
Die
Sozialleistungen
sollen
angemessen, verläßlich und gerecht sein. Ihre Finanzierung soll gesichert, für Beitrags- und Steuerzahler zumutbar, gerecht verteilt und Uberschaubar sein. Die Leistungserbringung soll zweckmäßig und in Selbstverwaltung erfolgen. Die Allgemeinheit dieser Zielbeschreibung schützt sie vor Widerspruch; andererseits läßt sie viele Fragen offen, die durch Wertsetzung beantwortet werden müssen. 912.
Aus dem bestehenden System der sozialen Sicherung lassen sich
folgende allgemeine Wertsetzungen ableiten: 1.
Arbeitsprimat: Der Bedarf einer Person soll vorrangig durch Erwerbstätigkeit gedeckt werden.
2.
Unterhaltsprimat: Ist Erwerbstätigkeit nicht möglich, so soll die Bedarfsdeckung zunächst unterhaltspflichtigen Angehörigen obliegen.
3.
Existenzsicherungsgebot: Unter Beachtung des Arbeits- und des Unterhaltsprimats wird ein angemessener Mindestbedarf gedeckt.
4.
Lebensstandardgrundsatz: Bei Ausfall von Erwerbseinkommen wird der individuelle Lebensstandard gesichert.
5.
Entschädigungsgrundsatz: Durch Arbeitsunfall oder Aufopferungstatbestände bedingte Behinderung wird entschädigt.
6.
Gesundheitssicherungsgrundsatz: Die Deckung des Bedarfs an Gesundheitsleistungen soll unabhängig vom individuellen Einkommen sein.
7.
Belastungsausgleichsgrundsatz: Die durch Kindererziehung bedingte zusätzliche Belastung soll ausgeglichen werden.
913.
Die Verwirklichung dieser Wertsetzungen erfordert nicht die jetzt
vorhandene große Anzahl verschiedener und
verschieden
bezeichneter
356
Kapitel 8: Soziale Sicherung
Sozialleistungen. Aus dem geltenden Recht läßt sich ein transparentes Modell eines Sozialleistungssystems ableiten, das ohne Eliminierung von Leistungen mit 10 leistungsauslösenden Tatbeständen und 12 Leistungsarten auskommen könnte.
Kapitel 8: Soziale Sicherung
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