Kriseninduzierte Kontinuität: Soziale Sicherung und die Re-Integration Kriegsversehrter im Habsburgerreich 1880–1918 [1 ed.] 9783666302152, 9783525302156


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German Pages [342] Year 2023

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Kriseninduzierte Kontinuität: Soziale Sicherung und die Re-Integration Kriegsversehrter im Habsburgerreich 1880–1918 [1 ed.]
 9783666302152, 9783525302156

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Thomas Süsler-Rohringer

Kriseninduzierte Kontinuität Soziale Sicherung und die Re-Integration ­Kriegsversehrter im Habsburgerreich 1880–1918

Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft

Herausgegeben von Gunilla Budde, Dieter Gosewinkel, Christina Morina, Paul Nolte, Alexander Nützenadel, Kiran Klaus Patel, Hans-Peter Ullmann

Frühere Herausgeber Helmut Berding, Hans-Ulrich Wehler (1972–2011) und Jürgen Kocka (1972–2013)

Band 248

Thomas Süsler-Rohringer

Kriseninduzierte Kontinuität Soziale Sicherung und die Re-Integration Kriegsversehrter im Habsburgerreich 1880–1918

Vandenhoeck & Ruprecht

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Historischen Seminars und des Projekthauses Europa an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. This series is peer-reviewed. © 2023 Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Hans Nachbargauer (Hersteller), 1., Dr.-Karl-Renner-Ring – Blick Richtung Universität, Ansichtskarte, um 1910. Wien Museum Inv.-Nr. 58891/333, CC0 (https://sammlung.wienmuseum.at/objekt/94698/) Umschlaggestaltung: SchwabScantechnik, Göttingen Satz: textformart, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-0130 ISBN 978-3-666-30215-2

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 A. Zwischen kriseninduzierter Kontinuität und diskreter Anpassung: Sozialpolitische Entwicklungen vor 1914 . . . . . . . . . . . . . . . . 39 1. Militärische Sozialpolitik 1868–1914 . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Die Militärversorgung 1872–1914 . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Versorgung durch Anstellung im öffentlichen Dienst und Arbeitsvermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Das Fundament: Das Militärversorgungsgesetz von 1875 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3 Neue Anspruchsberechtigte: Militärtaxfonds und Unterhaltsbeitragsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Die ausbleibende Reform des MVG 1900–1914 . . . . . . . .

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2. Das Projekt der Sozialversicherungen . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Politische Lösungsansätze für Unfälle und Krankheiten (1850–1879) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die Entstehung des sozialpolitischen Governance-Modells in den 1880er Jahren: Die Unfall- und Krankenversicherung 2.2.1 Weichenstellungen in der Ministerialbürokratie . . . . 2.2.2 Die Durchsetzung zentralstaatlicher Governance in der Unfallversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Das Krankenversicherungsgesetz 1887 . . . . . . . . . . 2.3 Die Aufrechterhaltung und diskrete Anpassung des sozialpolitischen Governance-Modells 1890–1914 . . . . 2.3.1 Die Grenzen staatlicher Sozialpolitik in der Arbeitsvermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Kontinuität und Anpassung: Die Rentenversicherung für Angestellte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Kriseninduzierte Kontinuität: Die Programme für eine Sozialversicherung 1904 bis 1914 . . . . . . . .

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65 74 76 81 85 87 95 98 105

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3. Rehabilitation in der Sozialversicherung und in der Kinderfürsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Initiativen ›von unten‹: Rehabilitation in der Unfallund Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Arbeit und Selbstvertrauen: Rehabilitation für Kinder mit körperlichen Behinderungen . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Das Vorbild: Konrad Biesalskis »Krüppelfürsorge« . . . 3.2.2 Fürsorgeinitiativen in Cisleithanien . . . . . . . . . . .

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B. Die Fürsorge für Kriegsversehrte 1914–1918 . . . . . . . . . . . . . . 139 1. Die finanzielle Versorgung Kriegsversehrter . . . . . . . . . . . . 144 1.1 Die Ausweitung finanzieller Versorgung durch diskrete Anpassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 1.2 Konflikte um die finanzielle Unterstützung von Soldaten mit psychischen Erkrankungen . . . . . . . . . 154 2. Sozialpolitische Governance in der Kriegsversehrtenfürsorge: Strukturen und Praktiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die administrative Praxis der Re-Integrationsmaßnahmen . . 2.1.1 »Epistemische Unsicherheiten«: Die Erfassung von Kriegsversehrten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Regelungsdynamiken ›von unten‹ . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Konfliktlagen und Anpassungsleistungen im weiteren Verlauf des Krieges . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Alternative Konzeptionen von Governance: Nationale Fürsorge ›vor Ort‹ und staatliche Sozialverwaltung . . . . . . 2.2.1 Soziale Nähe: Das Konzept lokaler Fürsorgestellen . . . 2.2.2 Soziale Distanz: Die Praxis lokaler Fürsorgestellen . . . 2.2.3 Das Militärkommando als Konkurrent der böhmischen Landeszentrale . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Die Rezeption Egers im Ministerium für soziale Fürsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Soziale Re-Integration durch Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Was ist angemessene Arbeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Gesuche um Anstellung im Staatsdienst . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Beruflich geeignet? Qualifikation und Überwindung der Kriegsversehrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Moralisch angemessen? Stellen für Frontsoldaten . . . 3.3 Arbeit als Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Produktives Scheitern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 »Gefühlsarbeit« – Vertrauen und Selbstvertrauen . . . 3.4 Ambivalenzen der Re-Integration . . . . . . . . . . . . . . . . 6

163 173 174 177 185 195 198 202 205 207 211 219 224 228 235 242 242 246 257

4. Die Herausbildung des Opfer-Narrativs . . . . . . . . . . . . . . . 272 4.1 Enttäuschung über die staatliche Fürsorge . . . . . . . . . . . 272 4.2 Vereinsgründungen: Entstehen einer kollektiven Identität? . . 279 Conclusio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Archivalien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Parlamentaria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 Publizierte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 Personen-, Orts- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337

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Vorwort Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im Oktober 2019 an Technischen Universität Berlin unter dem Titel »Die Transformation der Sozialpolitik in Cisleithanien und die moralische Ökonomie der Re-Integration Kriegsversehrter 1880–1918« eingereicht habe. Zuallererst möchte ich Prof. Dr. Stefanie Schüler-Springorum, Prof. Dr. Natali Stegmann, Prof. Dr. Ute Frevert sowie Prof. Dr. Kiran Klaus Patel und Prof. Dr. Hans-Peter Ullmann für ihre Geduld und ihre zahlreichen hilfreichen Kommentare und Verbesserungsvorschläge danken. Mein Dank gilt außerdem für die intellektuelle und moralische Unterstützung meinen Eltern, meiner Schwester sowie Elif Süsler-Rohringer, Ana de Almeida, Agnes Arndt, Karen Bähr, Elisabeth Berger, Björn Blass, Paul Franke, Benno Gammerl, Timon de Groot, Julia Lieth, Thomas Lindner, Melanie Sindelar, Christina Wieder, Christian Wimplinger und Markus Wurzer. Schließlich bedanke ich mich bei den Einrichtungen, die mir durch ihre großzügige finanzielle Unterstützung das Verfassen der Dissertation ermöglicht haben: der International Max Planck Research School »Moral Economies of Modern Societies« am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin, und dem Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Kunstuniversität Linz in Wien. Das Historische Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München und das Projekthaus Europa gewährten eine Druckbeihilfe, wofür ich mich herzlich bedanke.

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Einleitung »Invaliden mit Stelzbein und Leierkasten wird es nicht mehr geben […]«,1 heißt es 1919 in einem Artikel in »Der Invalide«, der Zeitschrift des »Zentralverbandes der österreichischen Kriegsopfer«, einer der führenden Kriegsopferorganisationen der Ersten Republik Österreich.2 Das Motiv des Leierkastens avancierte in mehreren Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie zum Symbol für die veraltete, unzureichende Fürsorge Österreich-Ungarns für ›seine‹ Soldaten. Der imperiale Staat wurde so zu einem Objekt doppelter Abgrenzung. ­Österreichische oder tschechoslowakische Kriegsopferorganisationen distanzierten sich von Österreich-Ungarn und bekannten sich zu den neuen Nationalstaaten.3 Zugleich unterstrichen sie mit dem Motiv des Leierkastens ihre Forderungen an die nationalen Regierungen, besser für kriegsversehrte Soldaten zu sorgen und nicht das ›alte System‹ fortzuschreiben. Den Nachfolgestaaten bot das Bild von der sozialpolitischen Rückständigkeit der Habsburgermonarchie ebenfalls Gelegenheit, sich zu legitimieren; Österreich, die Tschechoslowakei, aber auch Ungarn und Polen entwickelten eine ambitionierte sozialpolitische Gesetzgebung.4 Gerade weil das Bild von Österreich-Ungarn als sozialpolitischem Nachzügler so eng mit den Nationalstaatsbildungen nach 1918 verbunden ist, lohnt es sich, die Entwicklung der Sozialpolitik in der Habsburgermonarchie historisch kritisch zu beleuchten. Der Fokus der bisherigen Historiografie lag auf der engen Verflechtung von Sozialpolitik und Nationalstaatsbildung auf dem Gebiet Österreich-Ungarns nach 1918. Diese Perspektive dominiert auch die bisherige Forschung zum Umgang mit Kriegsversehrten. Die nationalstaatlichen sozialpolitischen Initiativen, der Umgang mit kriegsversehrten Soldaten und die politischen Aktivitäten der Organisationen von Kriegsveteranen, Kriegsversehrten und Hinterbliebenen auf nationaler und internationaler Ebene in der Zwischenkriegszeit sind bereits gut erforscht.5 Demgegenüber blieben die Verbindungslinien zwischen imperialer Sozialpolitik und der Fürsorge für Kriegsversehrte sowie die Vorstellungswelten, die beides prägten, unterbeleuchtet. Eine diachrone Untersuchung der imperialen Sozialpolitik seit dem späten 19. Jahrhundert und der Fürsorgemaßnahmen für Kriegsversehrte zwischen 1 2 3 4 5

Deutsch. Pawlowsky u. Wendelin, Die Wunden des Staates, S. 193–211, 431–451. Růžička, S. 116–117. Inglot. Pawlowsky u. Wendelin, Die Wunden des Staates; Eichenberg u. Newman, Introduction; Stegmann, Kriegsdeutungen - Staatsgründungen - Sozialpolitik.

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1914 und 1918 ist daher besonders gewinnbringend. Denn die enge Verflechtung von Sozialpolitik, Nationalisierung und Nationalstaatsbildung wird als eine Signatur der Geschichte Europas im 20. Jahrhundert markiert.6 Das Habsburgerreich mit seiner multinationalen Bevölkerung erscheint hier auf den ersten Blick als ein Sonderfall, bei dem die Entstehung des Wohlfahrtsstaats, Staatsbildung und Nationalisierung nicht nur auseinanderfielen, sondern potenziell zentrifugale Wechselwirkungen entfalteten. Schließlich ließe sich annehmen, dass nationalistische Bewegungen Sozialpolitik zur Identitätsstiftung und Bindung an die eigene Gruppe einsetzten und gleichzeitig imperiale, über die eigene ›Nation‹ hinausreichende Bezüge ablehnten. Stattdessen zeigt die vorliegende Arbeit, dass nationalistische Bewegungen imperiale Sozialpolitik in der Habsburgermonarchie nicht notwendigerweise blockierten, sondern sie sich wechselseitig dyna­ misierten. Zugleich gilt es zu beleuchten, wie längerfristige politische Problemlagen die Entwicklung staatlicher Sozialpolitik beeinflussten. Zwar hat die jüngere Forschung begonnen, die Zäsur 1918 zu hinterfragen und die Kontinuitäten zwischen der Habsburgermonarchie und den Nachfolgestaaten zu untersuchen, sie verblieb jedoch lange Zeit der nationalen Perspektive verhaftet.7 Es ist das Verdienst der Geschichtswissenschaft der letzten beiden Jahrzehnte, den national(staatlich)en Rahmen von Sozialpolitik nicht vorauszusetzen, sondern in seiner Gewordenheit aufzuzeigen.8 Die Herausbildung von Wohlfahrts- und Nationalstaaten vollzog sich dabei in dynamischen Prozessen von transnationalem Austausch und identitätsstiftender Abgrenzung.9 Dieser transnational turn wurde jüngst aufgegriffen und die Rolle Österreich-Ungarns für die internationale Ordnung nach 1918 untersucht.10 Diese Studien haben wichtige Erkenntnisse über das ›Erbe‹ der Doppelmonarchie geliefert und die Erzählung von der Rückständigkeit des imperialen Staates aufgebrochen. Allerdings spielte Sozialpolitik in den erwähnten Studien nur eine untergeordnete Rolle. Zudem konzentrierte sich die Forschung vor allem auf zwei Formen des ›Erbes‹: Entweder befasste sie sich mit den rechtlichen und institutionellen Verbindungslinien im nationalen Rahmen11 oder mit transnationalen Netzwerken von Akteuren und Akteurinnen, die in Österreich-Ungarn sozialisiert wurden.12 Daran knüpft die vorliegende Arbeit an, bietet jedoch zugleich neue Erkenntnisse und Ansatzpunkte für zukünftige Forschung, denn sie untersucht die Regelungsstrukturen staatlicher Sozialpolitik. Dazu greift die Arbeit auf das politikwissenschaftliche Konzept der »Governance« zurück. Jana Osterkamp hat es jüngst gewinnbringend für die Erforschung des Verhältnisses zwischen Österreich-Ungarn, den beiden Teilstaa6 Cornelißen, S. 24; 556–560; Conrad u. a., S. 453. 7 Clark u. Doyle; Miller u. Morelon; Judson, The Habsburg Empire, S. 442–452. 8 Herren; Fertikh u. Wieters. 9 Randeraad. 10 Becker u. Wheatley. 11 Stegmann, Die Habsburgermonarchie als Fundament; Egry. 12 Silverstein; Burri; Castryck-Naumann.

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ten und föderalen Arrangements in Cisleithanien angewendet.13 Wie in dieser Arbeit dargelegt wird, bildete sich auf dem Feld der cisleithanischen Sozialpolitik ein eigenes Governance-Modell heraus, das mit der föderalen Organisation des Verhältnisses zwischen Zentralstaat und Kronländern verbunden war, aber nicht mit ihnen zusammenfiel. Mit dem Konzept der Governance wird in den Politik-, Rechts- und Verwaltungswissenschaften operiert, um zu untersuchen, wie Beziehungen zwischen verschiedenen Ebenen staatlicher (sowie überstaatlicher) Politik und Verwaltung sowie nicht-staatlichen Akteuren und Akteurinnen hergestellt und institutionalisiert werden.14 Ein »engeres« Verständnis des Konzepts fasst darunter allein nicht hierarchisch strukturierte Beziehungen. Dahinter steht ein normatives Verständnis von Governance als eine Form des Regierens, die für zivilgesellschaftliche Partizipation offen ist. Diese Definition verstellt jedoch eher den Blick für historische Prozesse der Herausbildung von »Regelungsstrukturen«,15 weshalb der Analyse ein »weite[r] Governance-­ Begriff«16 zugrunde liegt. Dieser ermöglicht es, für die Felder Sozialversicherung und Kriegsversehrtenfürsorge zu untersuchen, für welche Dimensionen Regierung und Verwaltung auf Prozesse der hierarchischen Steuerung, der horizontalen Koordination oder auf Formen der Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Gruppen setzten. Gleichzeitigkeiten und Spannungsverhältnisse dieser unterschiedlichen Formen des Regierens können dadurch zueinander in Beziehung gesetzt und Kontinuität und Wandel genauer erfasst werden. Die Arbeit knüpft damit an größere Debatten über die Reformfähigkeit der zentral- und osteuropäischen Imperien an.17 Die gemeinsame Analyse imperialer Sozialpolitik und der Re-Integrationsmaßnahmen während des Ersten Weltkrieges eröffnet so auch eine neue Perspektive auf Österreich-Ungarn jenseits der beiden etablierten Narrative: Zum einen wird die Habsburgermonarchie als ein an der Moderne scheiterndes Reich dargestellt, wie es zuletzt etwa Steven Beller vertreten hat.18 Darin fügt sich auch die Erzählung von der »Stagnation« staatlicher Sozialpolitik nach 1890 ein. Zum anderen stellt die ›revisionistische‹ Historiografie in den Vordergrund, dass Österreich-Ungarn ein dynamischer Staat gewesen sei.19 Die dichotomen Kategorien Stagnation und Dynamik sind, so wird im Folgenden argumentiert, unzureichend, um das Zusammenspiel von Kontinuität und Anpassung angemessen zu analysieren, welches die imperiale Sozialpolitik zwischen dem späten 19. Jahrhundert und 1918 prägte. Daher geht es darum, die Wertvorstellungen, Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte zu untersuchen, die sich im Laufe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in den untersuchten Feldern der Sozialpolitik herausbildeten. Erst diese längere Pers13 Osterkamp, Vielfalt ordnen. 14 Schuppert; Collin. 15 Mayntz, S. 46. 16 Schuppert, S. 24. 17 Müller u. Torp. 18 Beller. 19 Judson, The Habsburg Empire.

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pektive und die hier verfolgte Kombination politik-, wissenschafts- und erfahrungsgeschichtlicher Perspektiven lassen die spezifischen Dynamiken der ReIntegrationsmaßnahmen während des Krieges sichtbar werden. Die vorliegende Untersuchung befasst sich daher mit zwei Formen staatlicher Sozialpolitik vor 1914 und ihren Wechselwirkungen in der Fürsorge für Kriegsversehrte während des Ersten Weltkrieges. Das ist erstens die militärische Sozialpolitik Österreich-Ungarns und zweitens das Sozialversicherungswesen im ›österreichischen‹ Teilstaat Österreich-Ungarns, der zeitgenössisch »Cisleithanien« genannt wurde. In beiden Fällen werden Entwicklungen seit der Schaffung Österreich-Ungarns 1867 beleuchtet, der Schwerpunkt der Analyse liegt jedoch auf dem Zeitraum von den 1880er Jahren bis 1918. Vier Forschungsachsen und leitende Hypothesen strukturieren dabei die Analyse: Erstens lässt sich die Entwicklung der militärischen Sozialpolitik und der Sozialversicherungen in Cisleithanien seit den späten 1880er Jahren nicht angemessen mit den dichotomen Deutungsmustern Stagnation oder Dynamik erfassen. Stattdessen argumentiert die vorliegende Studie, dass sich das Zusammenspiel zwischen Weiterentwicklung und dem Ausbleiben größerer Reformen besser mit den Begriffen »kriseninduzierte Kontinuität« und »diskrete Anpassungen« untersuchen lässt. Dabei erfasst die Studie unter dem Begriff der Krise zwei Dimensionen: Zum einen setzt sie sich mit dem Einfluss von Ereignissen auseinander, die sich außerhalb des Feldes der Sozialpolitik vollzogen, aber auf dieses zurückwirkten. Dadurch werden die Zusammenhänge der Sozialpolitik mit anderen Politikfeldern, wie der Rüstungs-, Schul- oder Außenpolitik sichtbar, die für die Akteure oft unvorhersehbare Wechselwirkungen zeigten. Zum anderen arbeitet die Studie jedoch einen bisher vernachlässigten Faktor heraus: die Verschiebung sozialpolitischer Erwartungshorizonte. Indem so die Eigendynamiken staatlicher Sozialpolitik untersucht werden, lässt sich die Dichotomie von Dynamik und Stagnation überwinden. Stattdessen wird nach dem paradoxen Zusammenspiel von Kontinuität und Wandel gefragt. Kontinuität ist zudem nicht mit Stagnation gleichzusetzen. Um diese Differenzierung analytisch zu fassen, verschiebt die vorliegende Arbeit den Blickwinkel. Die Historiografie konzentrierte sich bisher auf das Ausbleiben neuer sozialpolitischer Gesetzgebung und somit das Fehlen weiterer Zweige der Sozialversicherung. Stattdessen untersucht die vorliegende Arbeit vornehmlich, was politische Akteure als Aufgabe der staatlichen Sozialversicherung begriffen und wie sie das Feld der Sozialversicherung strukturierten, d. h. in welches Verhältnis sie sich zu den Institutionen sowie sozialen Gruppen der Sozialversicherung setzten. Dieser Zugriff ermöglicht es, Kontinuitäten und Wandel auch unterhalb der Ebene zentralstaatlicher Gesetzgebung zu identifizieren. Zweitens war die österreichisch-ungarische Armee, wie die Streitkräfte des Habsburgerreiches zeitgenössisch bezeichnet wurden, ein bedeutender sozialpolitischer Akteur. Diese Dimension wurde jedoch bisher kaum erforscht.20 20 Obinger u. Kovacevic.

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Stattdessen konzentrierte sich die jüngere Forschung vor allem darauf, wie das Militär während des Ersten Weltkrieges durch eine zunehmend entgrenzte Kriegsmobilisierung zur Destabilisierung Österreich-Ungarns beitrug.21 Die gemeinsame Untersuchung der Zeit vor und nach 1914 eröffnet hier neue Perspektiven auf die Armee als (sozial-)politischem Akteur. Die vermeintliche Rückständigkeit der Militärversorgung während des Ersten Weltkrieges wird dann als Resultat einer Entwicklung sichtbar, die mit derjenigen der cisleithanischen Sozialversicherungen vergleichbar ist.22 Kontinuitäten waren jedoch auch hier mit »diskreten Anpassungen« gepaart. Lokale Akteure der Militärverwaltung verfügten über bedeutende (sozialpolitische) Handlungsspielräume, was allerdings ebenso zu Spannungen mit dem Kriegsministerium führte. Die Rolle der gemeinsamen Armee in (sozial-)politischen Aushandlungs- und Entscheidungsprozessen zu untersuchen, ermöglicht es, den imperialen Kontext staatlicher Sozialpolitik zu beleuchten. Die Analyse der sozialpolitischen Praxis der Militärverwaltung konzentriert sich hingegen auf Cisleithanien. Drittens erlaubt es das Konzept der ›moralischen Ökonomie‹ zu fassen, wie Arbeit in den Re-Integrationsmaßnahmen mit unterschiedlichen Wertvorstellungen aufgeladen wurde. Diese speisten sich nur zum Teil aus dem Feld der Sozialversicherungen, größere Bedeutung hatte die Fürsorge für Kinder mit körperlichen Behinderungen. Dabei zeigt sich, wie Arbeit im Verlauf des Krieges weniger moralisiert und stattdessen zunehmend emotionalisiert wurde. Diese Entwicklung resultierte aus Auseinandersetzungen zwischen Experten und Kriegsversehrten. Viertens geben die Selbsterzählungen Kriegsversehrter in Bittschreiben an Behörden Einblick in die Weise, wie die Betroffenen sich die Re-Integrationsmaßnahmen aneigneten. Sie reflektieren aber auch das sich wandelnde Verhältnis zum Staat. Es ist daher in zweifacher Hinsicht bemerkenswert, dass Kriegsversehrte gegen Ende des Krieges in ihren Schreiben zunehmend das Opfermotiv verwendeten, während es davor fehlte. Diese neue Semantik der Kriegsversehrung ist zum einen indikativ dafür, dass die Betroffenen der Ansicht waren, der österreichisch-ungarische Staat habe versagt, für seine Kriegsversehrten zu sorgen. Zum anderen reflektiert es aber auch, dass sich das Selbstverständnis der Kriegsversehrten veränderte. Dazu trugen die entstehenden Kriegsversehrtenvereine bei, die bemüht waren, eine eigene kollektive Identität der Kriegsversehrten herzustellen, um Forderungen an den Staat heranzutragen. Für diese vier Forschungsachsen zieht die Arbeit auch Konzepte und Erklärungsansätze aus Nachbardisziplinen heran. Neuere politikwissenschaftliche Studien zu Formen sozialpolitischer Föderalisierung oder Dezentralisierung als politische Antworten auf substaatliche Nationalismen in Belgien, Spanien, dem Vereinigten Königreich oder Kanada lassen Sozialpolitik im multinatio-

21 Deak, The Great War and the Forgotten Realm; Deak u. Gumz. 22 Pawlowsky u. Wendelin, Die Wunden des Staates, S. 52–61.

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nalen Österreich-Ungarn weniger als Sonderfall erscheinen.23 Zugleich trägt die historische Analyse zum interdisziplinären Gespräch bei und verändert bisherige Deutungshorizonte: Während die politikwissenschaftliche Forschung vom modernen Nationalstaat ausgeht und daher nationalistische Bewegungen innerhalb nationalstaatlicher Rahmungen vor allem als Antwort auf die Effekte der Globalisierung und den Rückbau etablierter sozialstaatlicher Systeme in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts betrachtet, eröffnet die Untersuchung der Sozialpolitik in der Habsburgermonarchie Einblick in die Konstituierung sozialpolitischen Handelns unter den Bedingungen nationaler Vielfalt. So kann die vorliegende Studie zeigen, dass Multinationalität und Sozialpolitik einander nicht notwendigerweise paralysierten. Vielmehr geht es darum zu untersuchen, wie sich beide beeinflussten und sogar wechselseitig dynamisierten, ohne sich herausbildende Problemlagen zu vernachlässigen. Dadurch tritt die Beziehung zwischen Nationalitäten und Sozialpolitik vor der Herausbildung von Nationalstaaten in den Blick. Die gemeinsame Untersuchung imperialer Sozialpolitik und der Fürsorge für Kriegsversehrte zwischen den 1880er Jahren und 1918 bietet sich dafür besonders an. Die Maßnahmen, welche die cisleithanische Regierung im Winter 1914 einleitete, unterschieden sich deutlich vom Umgang mit Kriegsversehrten nach den Kriegen der 1850er und 1860er Jahre. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Kriegsversehrte, wenn sie durch Verletzungen oder Krankheiten schwer beeinträchtigt waren, in einem Invalidenhaus untergebracht oder hatten ersatzweise Anspruch auf Rente, ansonsten waren sie jedoch auf die Armenversorgung durch ihre Heimatgemeinde oder zivilgesellschaftliche Unterstützung angewiesen. Die Konflikte der 1850er und 1860er Jahre hatten ein anderes Ausmaß als der Erste Weltkrieg. So wurden etwa 1859 und 1866 zusammen weniger als 90.000 Soldaten der habsburgischen Armee getötet oder verletzt,24 während die österreichisch-ungarische Armee allein 1914 etwa 600.000 Soldaten verlor.25 Dies stellte Staat und Gesellschaft vor neue Herausforderungen. Allerdings reicht diese quantitative Dimension allein nicht aus, um die Schaffung weitreichender Fürsorgemaßnahmen für verletzte und erkrankte Soldaten während des Ersten Weltkrieges zu erklären. Das Programm aus medizinischer Behandlung, beruf­ licher Ausbildung und Arbeitsvermittlung, das kriegsversehrte Soldaten während des Ersten Weltkrieges wieder arbeitsfähig machen sollte, reflektiert, dass sich das Verhältnis zwischen dem Habsburgerreich und seiner (männ­lichen) Bevölkerung zwischen 1850 und 1914 grundlegend verändert hatte. Imperiale Sozialpolitik war ausgesprochen vielschichtig, insbesondere im dualistischen Staatsgefüge Österreich-Ungarns. Die Konflikte der 1850er und 23 Béland u. Lecours; McEwen u. Moreno. 24 Generalstabsbureau für Kriegsgeschichte, Der Krieg in Italien, 3. Bd., Beilagen, S. 63; dass., Österreichs Kämpfe im Jahre 1866, 2. Bd., Beilagen, S. 27; dass., Österreichs Kämpfe im Jahre 1866, 4. Bd., Beilagen, S. 11. 25 Herwig, S. 53.

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1860er Jahre zogen eine tiefgreifende Transformation des Habsburgerreichs nach sich. Es verlor seine Stellung im Deutschen Bund und trat Staatsgebiete an das neu gegründete Königreich Italien ab. Nach der Revolution von 1848/1849 machte Kaiser Franz Joseph I. die liberalen Zugeständnisse und Verfassungsexperimente der Revolutionszeit rückgängig und regierte erneut absolut, weshalb diese Ära als Neoabsolutismus bezeichnet wird. Das Kaisertum Österreich sollte zudem wieder zu einem zentralistischen Einheitsstaat werden.26 Doch bereits nach der Niederlage bei Solferino 1859 musste der Monarch eine (kurzlebige)  Verfassungen erlassen. Aber erst nach der Niederlage bei Königgrätz 1866 wurde das Kaisertum dauerhaft in eine konstitutionelle Monarchie umgewandelt. Darüber hinaus verfolgten Kaiser und Regierung den österreichisch-­ ungarischen Ausgleich als eine Lösung für die nationalpolitischen Konflikte des unitaris­tischen Kaisertums, das 1867 in das dualistische Österreich-Ungarn umgewandelt wurde.27 Dies bedeutete, dass das Kaisertum Österreich in zwei Teilstaaten mit jeweils eigener Verfassung, Regierung und Parlament umgewandelt wurde. Inoffiziell wurden diese beiden Staaten als Cis- und Transleithanien bezeichnet. Diese Terminologie spiegelt zwar die Perspektive von Wien aus auf das Habsburgerreich wider, aus welcher das Königreich Ungarn auf der anderen Seite des Grenzflusses Leitha lag. Trotzdem werden in weiterer Folge diese Bezeichnungen verwendet, wodurch eine nationalstaatliche Rahmung vermieden werden soll. Schließlich erstreckten sich beide Teile der Doppelmonarchie weit über die heutigen nationalstaatlichen Grenzen Österreichs bzw. Ungarns hinaus. Der Ausgleich wurde dabei nicht durch ein Gesetz auf Reichsebene festgehalten, sondern durch jeweils ein cis- und transleithanisches, die sich zudem in bedeutsamen Details unterschieden. Die Interpretation und Praxis des Ausgleichs entwickelte sich in den folgenden Jahrzehnten zu einem zentralen Konfliktpunkt. Während deutschsprachige Politiker und Staatsrechtsgelehrte vor allem den Einheitscharakter des Habsburgerreiches betonten, beharrten ihre ungarischen Gegenüber darauf, dass Österreich-Ungarn ein Verband ansonsten voneinander unabhängiger Staaten sei. Dementsprechend lehnten viele Ungarn auch die zeitgenössische deutsche Bezeichnung Transleithaniens als »ungarische Reichshälfte« ab.28 Trotzdem werden im weiteren Verlauf Cis- und Transleithanien als Reichshälften oder Teilstaaten bezeichnet, wenn es um ihre Beziehung zueinander und zum Gesamtstaat geht. Primär drei Institutionen verbanden die beiden Teilstaaten zu Österreich-Ungarn: Erstens die Person des Monarchen, der Kaiser von Österreich und König von Ungarn war, zweitens die drei gemeinsamen Ministerien Krieg (inklusive der gemeinsamen Armee), Finanzen und Äußeres sowie drittens der gemeinsame Ministerrat, an dem die gemeinsamen Minister sowie die Ministerpräsidenten beider Regierungen teil26 Brandt. 27 Sked, S. 140–202. 28 Osterkamp, Vielfalt ordnen, S. 205–214; László, S. 295–337, 504–536; Stourzh, Der Dualismus 1867 bis 1918; Trencsényi u. a., S. 291–308, 512–528.

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nahmen. Die gemeinsame Vertretung beider Parlamente auf Reichsebene wurde von magyarischen Politikern abgelehnt, sodass die sogenannten »Delegationen« als Repräsentanten des cisleithanischen Reichsrats und des transleithanischen Reichstags / Magyar Országgyűlés nur getrennt voneinander tagen konnten.29 Trotz vielfältiger Verflechtungen in wirtschaftlicher oder kultureller Hinsicht verfolgten die Regierungen beider Teilstaaten darüber hinaus sehr unterschiedliche Politiken, etwa bezüglich Demokratisierung oder des Umgangs mit Multinationalität.30 Während in Cisleithanien das Männerwahlrecht schrittweise ausgeweitet und egalisiert wurde, behielt Transleithanien ein restriktives und stratifiziertes Wahlrecht bei. Wurden im cisleithanischen Teilstaat Angehörige unterschiedlicher Sprachgruppen durch Sprachenrechte und Bildungspolitik nach und nach als (nationale) Rechtssubjekte anerkannt, hatten aufeinanderfolgende transleithanische Regierungen die Magyarisierung der nicht-ungarischen Bevölkerungsgruppen zum Ziel.31 Diese grob skizzierten Unterschiede lassen erkennen, dass sich Sozialpolitik in den Reichshälften Österreich-Ungarns unter unterschiedlichen politischen Bedingungen herausbildete.32 Die Forschungslage zu den beiden Teilstaaten ist dabei sehr ungleich gewichtet und folgte bisher der staatspolitischen Trennung zwischen Cis- und Transleithanien.33 Die vorliegende Arbeit nimmt daher zwei Schwerpunktsetzungen vor, die es erlauben, staatliche Sozialpolitik im imperialen Kontext in den Blick zu nehmen. Für Studien, welche die Sozialpolitik in beiden Teilstaaten vergleichend und in ihren Verflechtungen untersuchen, wissen wir zum Teil noch zu wenig über die Entwicklung in den einzelnen Reichshälften. Die erste Schwerpunktsetzung der vorliegenden Arbeit bezieht sich auf den Untersuchungsraum: Sie konzentriert sich auf die cisleithanische Reichshälfte. Die Fokussierung auf Cisleithanien gestattet es, eine politik- und institutionengeschichtliche Analyse mit wissenschafts- und erfahrungshistorischen Perspektiven zu verknüpfen. Die zweite Eingrenzung auf staatliche Formen der Sozialpolitik ermöglicht es jedoch trotzdem, die imperiale Ebene des dualistischen Staates miteinzubeziehen. Denn zusätzlich zur Entwicklung der Sozialversicherungen in Cisleithanien befasst sich die Studie auch mit der gesamtstaatlichen Militärversorgung vor 1914. Schließlich analysiert sie, wie diese beiden Formen staatlicher Sozialpolitik in den Re-Integrationsmaßnahmen für Kriegsversehrte von 1914 bis 1918 nach- und zusammenwirkten. Diese Zuschnitte ermöglichen es, zielgenauer zu untersuchen, welche staatspolitischen Ordnungsvorstellungen die Sozialpolitik prägten. Das Territorium Cisleithaniens etwa gliederte sich in 17 Provinzen (»Kronländer«) und reichte 29 Somogyi, Die Delegation als Verbindungsinstitution zwischen Cis- und Transleithanien. 30 Schulze u. Wolf; Rampley. 31 Gammerl, S. 47–71, 73–102; Komlosy; Judson, The Habsburg Empire, S. 316–328. 32 Stourzh, Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848–1918; Judson, L’Autriche-Hongrie était-elle un empire?; Gammerl. 33 Zu Transleithanien: Zimmermann, Divide, Provide and Rule.

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von Böhmen im Norden bis nach Dalmatien im Süden und von der Provinz Bukowina in der heutigen Ukraine bzw. Rumänien im Osten bis an den Bodensee im Westen. Zahlreiche Kronländer waren von mehr als einer Sprachgruppe bewohnt, die Aushandlungsprozesse der Kompetenzen zwischen Zentralstaat und Kronländern einerseits und nationaler Rechte andererseits sind daher nicht deckungsgleich. Die Fokussierung auf Cisleithanien ermöglicht es zu untersuchen, wie der Wandel nationalpolitischer Ordnungsvorstellungen sowie daraus resultierende nationalistische Konfliktlagen auf Sozialpolitik zurückwirkten und welche Lösungsansätze dafür entwickelt wurden. Die vorliegende Studie legt einen Schwerpunkt auf die Aushandlung, Durchsetzung und Anpassung staats- und nationalpolitischer Ordnungsvorstellungen. Zum einen wird die Frage untersucht, wie Kompetenzen zwischen Zentralstaat, Ländern und Gemeinden austariert wurden, zum anderen, wie die Bevölkerung Cisleithaniens für Zwecke der Sozialpolitik und Fürsorge kategorisiert wurde. Beide Themen waren eng miteinander verwoben, kamen jedoch in unterschiedlichen institutionellen Arrangements zum Tragen: Die (männlichen) Repräsentanten der Arbeiterklasse etwa sollten in die 1887 etablierten Unfallversicherungsanstalten eingebunden werden. Die territoriale Gliederung der Versicherung wiederum war an die Grenzen der Kronländer angelehnt und sollte zum Teil nationalpolitischen Forderungen nicht-deutscher Parlamentarier entgegenkommen. Die relative Stabilität des Institutionsgefüges der cisleithanischen Sozialversicherung verdeckt dabei, dass sich die zugrundeliegenden Ordnungsvorstellungen im Untersuchungszeitraum bedeutend wandelten. Zum einen richtete sich Sozialpolitik um die Jahrhundertwende nicht mehr allein auf die Arbeiterklasse. Zum anderen erschwerte ein zunehmend essenzialisiertes Nationsverständnis, dass nationalpolitische Forderungen allein durch föderale Arrangements zwischen Zentralstaat und Kronländern eingehegt werden konnten. Diese Veränderungen beeinflussten die Form und Organisation der Kriegsversehrtenfürsorge entscheidend. Nur die diachrone Untersuchung der Sozialpolitik kann dieses Zusammenspiel von Kontinuität und Anpassung herausarbeiten. Aufgrund der konzeptionellen Eingrenzung auf Regelungsstrukturen staatlicher Sozialpolitik werden andere Formen sozialer Sicherung, für welche die Provinzen und Gemeinden verantwortlich waren, nur selektiv in den Blick genommen. Die Armen-, Erwerbslosen- oder Kinder- und Jugendfürsorge werden untersucht, insofern sie für die Ausgestaltung staatlicher Sozialpolitik relevant wurden. Dieser Zuschnitt ermöglicht es, bisher wenig beachtete Wechselwirkungen zu untersuchen. Die staatszentrierte Forschung zur Habsburgermonarchie hat vor allem die Exklusionsmechanismen der Armenversorgung aufgearbeitet und sie wohlfahrtsstaatlichen Einrichtungen gegenübergestellt.34 Aber auch zeitgenössische Politiker nutzten die Armenfürsorge als Kontrastfolie zu den Leistungen staatlicher Sozialpolitik. Demgegenüber argumentiert die vorliegende 34 Melinz u. Zimmermann.

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Arbeit, dass das Verhältnis von Staat, Provinzen und Kommunen in der Armenfürsorge ein Vorbild für die Strukturierung der Unfall- und Krankenversicherung darstellte. Die Arbeitsvermittlung für Erwerbslose wiederum gilt in der Forschung als gescheiterte sozialpolitische Expansion.35 Die vorliegende Studie kann hingegen aufzeigen, wie der Versuch, eine staatliche Arbeitsvermittlung zu etablieren, neue Formen der Governance gegenüber zivilgesellschaft­lichen Akteuren hervorbrachte. Schließlich demonstriert die Beziehung zwischen der Fürsorge für körperbehinderte Kinder und der Kriegsversehrtenfürsorge, dass sich zivilgesellschaftliche Initiativen erfolgreich in staatliche Sozialpolitik einbringen konnten. Gleichzeitig macht die Einbeziehung der Militärversorgung die Bedeutung von Konfliktlagen der Doppelmonarchie für die Entwicklung staatlicher Sozialpolitik sichtbar. Durch die Analyse der Militärversorgung setzt die Arbeit zudem einen anderen Schwerpunkt als existierende Studien und befasst sich weniger mit dem gut erforschten Staats- und Selbstverständnis der militärischen Führungsriege.36 Stattdessen untersucht die vorliegende Arbeit das Militär als sozialpolitischen Akteur und administrative Organisation.37 Sie nimmt die Herstellung und Aufrechterhaltung von Verwaltungsroutinen in den Blick. Infolgedessen treten neue Dimensionen der Armee zutage, die bisher im Bild von der strikt hierarchisch funktionierenden Organisation unberücksichtigt blieben: An die Stelle von Top-down-Prozessen von Befehl und Ausführung treten so Dynamiken von Kooperation, Konkurrenz und Konflikt zwischen verschiedenen Ebenen der Militärverwaltung und in ihren Beziehungen zu anderen Behörden und der Zivilgesellschaft. Dem regelgeleiteten Verhalten administrativer Organisationen liegen oft stillschweigend Wertvorstellungen und Bedeutungszuweisungen zugrunde. Die Herausforderungen des Umgangs mit kriegsverletzten Soldaten setzten interne Reflexionsprozesse über diese Vorannahmen in Gang und machen sie so der historischen Analyse zugänglich.38 Die Untersuchung der Rolle der Armee ist umso relevanter, als sie die verfolgten staats- und sozialpolitischen sowie erfahrungsgeschichtlichen Forschungsachsen dieser Arbeit verbindet. Denn diese hatte eine sozialfürsorgerische Funk­tion gegenüber ehemaligen Soldaten, die im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend verrechtlicht wurde und die im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg Gegenstand intensiver Reformbemühungen war. Zudem lieferte sie kriegsversehrten Soldaten auf mehreren Ebenen potenzielle Deutungsangebote, um Forderungen an den Staat zu legitimieren. Mit Personal aus dem gesamten Staatsgebiet Österreich-Ungarns verstand sie sich, anders als andere, stärker national verfasste europäische Armeen,39 nach Einführung der allgemeinen Wehrpflicht 35 Pellar, S. 326, 341. 36 Kronenbitter; Gumz; Sondhaus. 37 Nübel. 38 Hull. 39 Frevert, Die kasernierte Nation.

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1868 als Vermittler einer supranationalen Loyalität und in diesem Sinne als »Schule des Volkes«.40 Dazu entwickelte sie eigene Strategien im Umgang mit sprachlicher (bzw. nationaler) Vielfalt.41 Damit hatten sich innerhalb der Armee eigene nationalpolitische Routinen und sozialpolitische Entscheidungsgrundlagen herausgebildet, die im Ersten Weltkrieg sowohl auf Vorgaben ›von oben‹ als auch Anforderungen ›von unten‹ angepasst werden mussten. Die konzeptionelle und räumliche Eingrenzung des Feldes der Sozialpolitik erlaubt es der Arbeit zudem, diese politikgeschichtliche Dimension mit wissenschafts- und erfahrungsgeschichtlichen Zugängen zu verbinden. Sie erschließt so einen Aspekt sozialpolitischen Handelns, der quer zur politischen Ebene institutioneller Arrangements liegt und zugleich Cisleithanien in seinen transnationalen Verflechtungen sichtbar macht. Denn die Herausbildung und Umsetzung des Konzeptes der sozialen Re-Integration vollzog sich nicht nur in der Versicherungsmedizin, sondern auch im erwähnten Feld der Fürsorge für Kinder mit körperlichen Behinderungen und inkorporierte zudem Diskurse der Erwerbslosenfürsorge. Anders als für Deutschland ist die Herausbildung von rehabilitativer Medizin und Konzepten der Re-Integration für Cisleithanien nur in Ansätzen erforscht. Bildete Deutschland dabei einen wichtigen Referenzpunkt für cisleithanische Akteure und Akteurinnen, vollzog sich die Etablierung rehabilitativer Therapien in Cisleithanien unter anderen Voraussetzungen. Zum einen existierte keine allgemeine Invaliditäts- und Altersversicherung, zum anderen war insbesondere die Kinderfürsorge Gegenstand eines Wettkampfes nationalistischer Bewegungen, um die Bevölkerung für die jeweils ›eigene‹ Nation zu mobilisieren.42 Schließlich lässt sich dadurch herausarbeiten, dass die Re-Integrationsmaßnahmen für Kriegsversehrte nicht nur ein »recycling«, ein rationalistisches Wiedereingliedern in den Produktionsprozess darstellten.43 Vielmehr ging es ebenso um unterschiedliche und zum Teil konfligierende Moralisierungen der Praxis des Arbeitens, die Politiker, Mediziner, gewerbliche Fachleute und zivilgesellschaftliche Akteure und Akteurinnen einerseits, die betroffenen Soldaten andererseits vornahmen. Wirtschaft wird also nicht als ein von anderen Gesellschaftsbereichen entkoppeltes Feld mit eigenständiger Rationalität verstanden. Stattdessen folgt die Arbeit kulturgeschichtlichen Zugriffen auf Ökonomie und Politik und fragt nach Wertvorstellungen und Zuschreibungen, mit denen Arbeit in den Re-Integrationsmaßnahmen aufgeladen wurde. Die daraus resultierenden Auseinandersetzungen zwischen den ›Experten‹ der Kriegsversehrtenfürsorge und den betroffenen Soldaten führten zudem zu einer Neukonzeptualisierung von Arbeit als emotional wirksamer Praxis, die Teil des therapeutischen Instrumentariums wurde. Die Re-Integration verletzter und 40 Hämmerle, Die k. (u.) k. Armee als ›Schule des Volkes‹?; Deák. 41 Stergar u. Scheer. 42 Zahra, Imagined Noncommunities; Haslinger, Schutzvereine in Ostmitteleuropa. 43 Perry.

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erkrankter Soldaten wird dadurch nicht nur als politisches Projekt ›von oben‹, sondern in ihrer sozialen Praxis ›von unten‹ analysierbar, in der konkurrierende Zuschreibungen und Erfahrungen von Zugehörigkeit, Arbeitsfähigkeit und ›richtiger‹ Arbeit aufeinandertrafen. Die vorliegende Arbeit kann sich auf die bestehende Forschung zu Sozialpolitik und Kriegsversehrtenfürsorge stützen, sie eröffnet jedoch durch ihren längeren Untersuchungszeitraum und die Kombination politik-, wissenschaftsund erfahrungsgeschichtlicher Ansätze neue Perspektiven. Es liegt eine Reihe kenntnisreicher Studien für die Kriegsversehrtenfürsorge auf dem Boden des ehemaligen Österreich-Ungarn vom Ersten Weltkrieg bis in die Zwischenkriegszeit vor. Dazu zählen die Studien von Verena Pawlowsky und Harald Wendelin sowie Ke-chin Hsia für Österreich und jene von Natali Stegmann und Marek Růžička für die Tschechoslowakei.44 Diese Studien ergänzen hier mit Fokus auf die Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie die bereits älteren historiographischen Auseinandersetzungen für den anglo-amerikanischen Raum, Frankreich und Deutschland.45 Aufgrund des zeitlichen Zuschnitts dieser Studien auf den Ersten Weltkrieg und die Zwischenkriegszeit nimmt die wachsende Rolle des sozialpolitischen Leistungsstaates in der Kriegsversehrtenfürsorge in diesen Werken jedoch eine zentrale Rolle ein. Vor diesem Hintergrund beurteilten sie die administrativen Strukturen der cisleithanischen Fürsorgemaßnahmen 1914/1915 kritisch als »Schwachpunkt« der Re-Integrationsmaßnahmen,46 als »improvised« und »haphazardly patched together«,47 da die cisleithanische Regierung der Zivilgesellschaft darin eine tragende Rolle zuwies. Durch die hier verfolgte Einordnung der cisleithanischen Kriegsversehrtenfürsorge in die Entwicklung der Sozialpolitik ab 1880 kann jedoch gezeigt werden, dass Entwicklungen auf den Feldern der Sozialversicherungen und der militärischen Sozialpolitik die Strukturierung der Kriegsversehrtenfürsorge präfigurierten, ohne sie zu determinieren. Diese Erweiterung des zeitlichen Horizontes erlaubt umgekehrt eine Neubewertung der Sozialpolitik vor 1914. Auch hier kann sich die vorliegende Arbeit auf existierende Studien stützen. So haben Emmerich Tálos, Herbert Hofmeister und Margarete Grandner in den 1980er und 1990er Jahren die Genese und Leistungen der cisleithanischen Arbeiterschutzgesetze und des Sozialversicherungswesens detailliert nachgezeichnet.48 Deutschland stellte für diese Arbeiten jedoch einen (impliziten) Vergleichswert sozialpolitischer Entwicklung dar, an dem man Cisleithanien sowohl als Vorreiter, etwa in der Arbeiterschutzgesetzgebung, aber auch als Nachzügler, etwa in Teilen der Sozialversicherung, 44 Pawlowsky u. Wendelin, Die Wunden des Staates; Hsia, War, Welfare and Social Citizenship; Stegmann, Kriegsdeutungen - Staatsgründungen - Sozialpolitik; Růžička. 45 Geyer; Cohen; Gerber, Disabled veterans in history. 46 Pawlowsky u. Wendelin, Die Wunden des Staates, S. 172. 47 Hsia, War, Welfare and Social Citizenship, S. 63, 72. 48 Grandner; Tálos; Hofmeister, Landesbericht Österreich.

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messen konnte. Das Ausbleiben einer Erweiterung der Sozialversicherung um eine Invaliditäts- und Altersversicherung beurteilten diese Studien daher als »Stagnation«.49 Demgegenüber interpretiert die ›revisionistische‹ Historiografie zur Habsburgermonarchie, die sich vor allem gegen deren Deutung als unreformierbares, untergangsgeweihtes Gebilde gewendet hat,50 Österreich-Ungarn als dynamischen Staat. Sozialpolitik nimmt in diesem Strang der Literatur jedoch eine erstaunlich marginale Rolle ein.51 Monika Senghaas hat zwar das Narrativ der Stagnation bereits in ihrer Studie zu Sozialpolitik und Territorialisierung kritisiert,52 sie bietet jedoch kein alternatives Erklärungsmodell zur Stagnation an. Zudem gerieten durch die Schwerpunktsetzung auf Konzepte des Raums tendenziell aus dem Blick, wie räumliche und andere Kategorien der Identitätsbildung spannungsreich zusammenwirken konnten und welche politischen Problemlagen auf dem Feld der Sozialpolitik bestanden. Das Verhältnis von Sozialpolitik zur Leitkategorie der Dynamik blieb so offen. Allerdings, so wird im Folgenden gezeigt werden, verstellen sowohl das Narrativ der Stagnation als auch die Leitkategorie der Dynamik den Blick auf zentrale Dimensionen der Entwicklung der Sozialversicherung in Cisleithanien. Zugänge aus den Nachbardisziplinen können helfen, die Dichotomie zwischen Stagnation und Dynamik zu überwinden. Zum Beispiel fasste Stephan Lessenich in seiner Studie zum deutschen Sozialstaat im späten 20. Jahrhundert das Zusammenspiel beider Dimensionen mit der Figur des »dynamischen Immobilismus«,53 womit er insbesondere Änderungen wohlfahrtsstaatlicher Arrangements im Gewand institutioneller Kontinuität beschrieb.54 Allerdings lässt sich das Verhältnis von Kontinuität und Dynamik in der cisleithanischen Sozialpolitik nicht in derselben Weise charakterisieren, stattdessen wird hier vorgeschlagen, die Entwicklung der Sozialversicherung aber auch der militä­ rischen Sozialpolitik als geprägt von »kriseninduzierter Kontinuität« zum einen und von »diskreten Anpassungen« zum anderen zu deuten. Denn auf beiden Feldern herrschte keineswegs Stillstand, wie es die Erzählung der Stagnation nahelegt. Vielmehr strebten verschiedene Akteure eine Transformation des Sozialversicherungswesens und der Militärversorgung an. Gerade deshalb gilt es, die Faktoren herauszuarbeiten, die dazu führten, dass die Formen sozialer Sicherung und ihre Governance-Strukturen bis 1914 relativ stabil blieben. Analytisch zu differenzieren ist hier zwischen Momenten, in welchen Politiker die Stabilisierung bestehender wohlfahrtsstaatlicher Institutionen gegenüber ihrem Ausbau priorisierten, und Phasen erfolgloser Reformtätigkeit. Gleichzeitig ist jedoch nach dem diachronen Zusammenspiel dieser beiden 49 Tálos; Grandner; Ebert. 50 Judson, The Habsburg Empire; Cohen, Neither Absolutism nor Anarchy; Deak, The Great War and the Forgotten Realm. 51 Judson, The Habsburg Empire, S. 336; Beller, S. 164; Sked, S. 317–318. 52 Senghaas, Die Territorialisierung sozialer Sicherung. 53 Lessenich. 54 Ebd., S. 291–310.

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unterschiedlichen Formen von Kontinuität zu fragen. Im frühen 20. Jahrhundert spielte etwa die Wahrnehmung österreichisch-ungarischer Akteure eine große Rolle, dass man gegenüber anderen Staaten sozialpolitisch ins Hintertreffen geriet. Die gezielte Konsolidierung der Sozialversicherung in den 1890er Jahren hatte so die unintendierte Folge, dass politische Akteure nach 1900 umfassende Reformprojekte mit hochgesteckten Zielen entwarfen, um sozialpolitisch aufzuholen. Zugleich demonstriert dieses Beispiel, dass sich Sozialpolitik auch kurz vor dem Ersten Weltkrieg noch dynamisch weiterentwickelte, indem sich die Ansprüche an sie wandelten. Allerdings führten gerade diese Ambitionen zu Kontinuität, denn sie erzeugten multiple Streitfragen um finanzielle Handlungsspielräume und Prioritäten des Reiches angesichts einer sich verschlechternden makroökonomischen Lage und außenpolitischer Krisen. Diese Auseinandersetzungen machten die sozialpolitischen Projekte wiederum besonders anfällig für die Konfliktlagen des Dualismus auf gesamtstaatlicher Ebene und des parlamentarischen Prozesses in Cisleithanien. Dynamik und Kontinuität waren daher in paradoxer Weise miteinander verflochten. Dynamik zeigte sich jedoch noch auf einer weiteren Ebene der Sozialpolitik. Denn in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg nahmen verschiedene Akteure Adaptionen an den bestehenden Formen von sozialer Sicherung vor. Erstens versuchten militärische Akteure, die Militärversorgung auf anderen Wegen als dem parlamentarischen Gesetzgebungsprozess umzusetzen, und erweiterten zudem die Reichweite militärischer Sozialpolitik. Zweitens nahmen Politiker, Richter und Mediziner Änderungen an den Regelungsstrukturen und Praktiken des Sozialversicherungswesens vor, ohne dass sie als Reformen des etablierten Governance-Modells diskutiert wurden. Daher wird hier »diskrete Anpassungen« als zweite Dimension der Sozialpolitik in Österreich-Ungarn herausgearbeitet werden. Wie bereits erwähnt, knüpft die Arbeit mit dem Fokus auf Governance-Strukturen in der cisleithanischen Sozialpolitik konzeptionell an Jana Osterkamps Studie zu föderalen Ordnungen in Österreich-Ungarn an.55 Allerdings wird in der vorliegenden Studie dargelegt, dass föderale Ordnungskonzepte nicht nur in Fragen der sozialpolitischen Kompetenz der zentralstaatlichen Regierung gegenüber den Kronländern oder in der territorialen Organisation der cisleithanischen Unfallversicherung zum Tragen kamen. Vielmehr lieferte die Verwaltungsautonomie der Länder und Gemeinden ein Modell, um das Verhältnis zwischen Regierung und den Institutionen der Sozialversicherung zu organisieren. Das Feld der Sozialpolitik zeigt so, dass die multinationale Zusammensetzung der Bevölkerung Österreich-Ungarns nicht zwangsläufig zu politischer Dysfunktionalität führen musste. Mit diesem Fokus auf das Zusammenspiel verschiedener politischer und administrativer Ebenen ist auch der Bogen zur sozialpolitischen Rolle des Militärs geschlagen. In den letzten beiden Jahrzehnten wurde die österreichisch55 Osterkamp, Vielfalt ordnen.

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ungarische Armee intensiv erforscht. Ein besonderer Schwerpunkt lag dabei auf dem Weltbild und Staatsverständnis der militärischen Führungsriege.56 Dank dieser Arbeiten ist die antidemokratische Haltung, die Ablehnung nationalpolitischer Kompromisse und Abmachungen sowie die Präferenz für ein zentralistisches, stärker auf den Monarchen ausgerichtetes Herrschaftsmodell in Generalstab und Armeeoberkommando gut aufgearbeitet.57 Diese Haltung habe sich, so argumentiert Jonathan Gumz, von den obersten Rängen der Militärhierarchie nach unten ausgebreitet.58 Dies habe das repressive Vorgehen der Armee und ihren Antagonismus gegenüber der Zivilstaatsverwaltung während des Ersten Weltkrieges befördert.59 Auch die bisherige Forschung zur Kriegsversehrtenfürsorge arbeitete zahlreiche Konflikte zwischen militärischer und ziviler Verwaltung heraus und sah den Grund für die fehlende Kooperation vor allem in inkompatiblen Interessen: Die Armee habe die Wiederherstellung der militärischen Tauglichkeit der betroffenen Soldaten angestrebt, die Zivilstaatsverwaltung hingegen ihre Re-Integration in die Gesellschaft.60 Eine solche auf Weltbilder und Interessen abzielende Interpretation läuft jedoch Gefahr, das zentralistische Staatsverständnis direkt auf das Funktionieren der Armee als Organisation zu übertragen. Blickt man, wie in dieser Arbeit, auf die militä­ rische Verwaltungspraxis jenseits des Generalstabs, wird jedoch deutlich, dass sich dieses Bild der Armee nicht aufrechterhalten lässt. Deshalb werden im vorliegenden Buch andere Schwerpunkte gesetzt. Erstens wird der Blick auf militärische Sozialpolitik und ihre Rolle im dualis­tischen Staatsgefüge gerichtet. Zweitens werden die bislang weniger beachteten Institutionen der Militärbürokratie und ihre administrativen Praktiken ins Zentrum der Untersuchung gerückt, und zwar das österreichisch-ungarische Kriegsministerium als Zentralstelle und die Militärkommanden als Behörden mittlerer Ebene. Es wird analysiert, wie Koordination und Kooperation aber auch Konkurrenz und Konflikt die Beziehungen zwischen Kriegsministerium und Territorialkommanden sowie zwischen Militär- und Zivilverwaltung in der Fürsorge für Kriegsversehrte prägten. Drittens wird an die neuere Militärgeschichte sowie an die geschichts- und kulturwissenschaftlich informierte Verwaltungsforschung angeknüpft,61 um administrative Routinen, Praktiken und Entscheidungsprozesse der Militärbürokratie analytisch zu fassen, womit auf Isabel Hulls Konzept der »military culture« Bezug genommen wird.62

56 Deak, Forging a Multinational State; ders., The Great War and the Forgotten Realm; Deak u. Gumz. 57 Hämmerle, Back to the Monarchy’s Glorified Past?; Gumz; Kronenbitter; Sondhaus. 58 Gumz, S. 71. 59 Deak u. Gumz. 60 Pawlowsky u. Wendelin, Die Wunden des Staates, S. 136–138; Hsia, War, Welfare and Social Citizenship, S. 63, 66–68, 72. 61 Becker, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Verwaltung. 62 Hull.

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Anders als bei Hull liegt der Fokus jedoch nicht darauf, wie militärische Gewalt ausgeübt wurde, sondern auf den sozialpolitischen Wertvorstellungen und Handlungsroutinen der Armee.63 Konzeptionell und empirisch wird die Militärverwaltung dadurch weniger als monolithisches System sichtbar, sondern als eine »aus heterogenen Teilen zusammengesetzte Gesamtheit, deren Eigenschaften aus den Interaktionen jener Teile resultieren«.64 Zudem war die Militärverwaltung nicht von der Zivilstaatsverwaltung entkoppelt. Insbesondere die Kriegsversehrtenfürsorge beförderte neue Verflechtungen. Konkurrenzverhältnisse zwischen verschiedenen Stellen führten dabei nicht zwangsläufig zu dysfunktionalem Verwaltungshandeln, sondern konnten auch mobilisierende oder stabilisierende Effekte zeitigen.65 In einem weiteren Schritt gilt es zu untersuchen, wie administrative Schriftstücke die Routinen der Militärverwaltung prägten. Diese Dimension ist umso wichtiger, als aus der Perspektive der Verwaltungsforschung nicht unterstellt werden kann, dass lokale Akteure und Akteurinnen zentral gesetzte Normen und Zielvorgaben direkt umsetzen.66 Es geht in der vorliegenden Arbeit also zunächst darum herauszuarbeiten, welche Kriterien und Kategorien für den Umgang mit verletzten und erkrankten Soldaten entwickelt wurden. In der Militärverwaltung existierten mehrere teils überlappende, teils gegenläufige Kriterien zur Erfassung von Kriegsversehrungen nebeneinander: militärische Tauglichkeit, finanzielle Versorgung und Re-Integration. Das so produzierte Verwaltungswissen musste wiederum handlungsleitend in administrative Kommunikations- und Entscheidungsprozesse übertragen werden, um wirksam zu werden.67 Praktiken und Objekten des Aufzeichnens kam dabei eine entscheidende Rolle zu. Dieses Interesse an der administrativen Konzeptualisierung und Anerkennung der Verletzungen und Erkrankungen der betroffenen Soldaten leitet über zur Untersuchung des Konzeptes sowie den Praktiken der »Re-Integration« zwischen den 1880er Jahren und 1918. Der längere Untersuchungszeitraum ermöglicht es erstens herauszuarbeiten, welche Formen des Umgangs mit Behinderungen in der Vorkriegszeit die Maßnahmen während des Krieges beeinflussten. Zweitens gelingt es dadurch, bisher übersehene Dynamiken der Kriegszeit in den Blick zu nehmen. Verglichen mit der umfangreichen Forschungsliteratur zu Deutschland68 oder dem anglo-amerikanischen Raum69 liegen für Cisleithanien, abgesehen von vereinzelten Arbeiten wie jene von Melanie Ruff zu Gesichtsver63 Mittelstadt; Orloff. 64 Nellen u. Stockinger, S. 9. 65 Reichardt u. Seibel. 66 Grundlegend: Lipsky; Maynard-Moody u. Portillo, S. 252–277. 67 Nellen. 68 Kienitz, Beschädigte Helden; Möhring; Osten; Thomann. 69 Eine nicht erschöpfende Auswahl: Ott; Bourke, The Battle of the Limbs; Guyatt; Hasegawa; Nair.

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letzten des Ersten Weltkrieges,70 nur wenige wissenschaftshistorische Studien zur Entwicklung rehabilitativer Behandlungen vor. Einige kulturgeschichtlich orientierte Arbeiten wie etwa Sabine Kienitz’ grundlegende Studie zu Kriegsversehrungen in Deutschland nach 1914 oder Karin Harrassers Monografie zur Prothetik beziehen den deutschsprachigen wissenschaftlichen Fachdiskurs Cisleithaniens in ihre Analyse mit ein.71 Dadurch treten jedoch die unterschiedlichen sozialpolitischen Arrangements in Deutschland und Cisleithanien, etwa durch das Fehlen einer cisleithanischen Alters- und Invaliditätsversicherung, ebenso in den Hintergrund wie die Multinationalität Cisleithaniens. Ein solcher längerer Untersuchungszeitraum relativiert einerseits die Bedeutung des Ersten Weltkrieges als Zäsur. Zuletzt argumentierten etwa Julie Anderson und Heather Perry, dass der Weltkrieg in Deutschland zur Verschiebung von einer renten- zu einer rehabilitationsorientierten Perspektive auf Menschen mit erworbenen Behinderungen führte.72 Andererseits ermöglicht diese längere Perspektive, das Argument von Verena Pawlowsky und Harald Wendelin zu differenzieren, dass die Sozialversicherung von zentraler Bedeutung für die cisleithanische Kriegsversehrtenfürsorge war.73 Denn das cisleithanische Unfallversicherungsgesetz deckte anders als in Deutschland das Heilverfahren nicht ab. Eine rehabilitative Behandlung Unfallverletzter entwickelte sich daher vor 1914 trotz und nicht wegen der gesetzlichen Rahmenbedingungen. Dazu trugen Initiativen von Medizinern und Schiedsgerichten entscheidend bei. Aber auch ein weiteres Feld medizinischer Behandlung war dafür von Bedeutung: die Fürsorge für Kinder mit körperlichen Behinderungen. Dort entwickelten Mediziner und Pädagogen ein Modell, das medizinische Behandlung, Erziehung und berufliche Ausbildung miteinander verband. Sie propagierten bereits vor dem Krieg, dass Rehabilitation sowohl einen moralischen als auch einen ökonomischen Wert besitze, da die Betroffenen dadurch arbeitsfähig und nicht mehr auf Armenversorgung angewiesen sein würden. Nach 1914 setzten sie dieses Konzept von Rehabilitation erfolgreich in der Kriegsversehrtenfürsorge durch. Die vorliegende Studie befasst sich zudem eingehend mit »Arbeit« als dem zentralen Konzept der Re-Integrationsmaßnahmen. Hier eröffnet der längere Untersuchungszeitraum ebenfalls neue Perspektiven. Aus medizinhistorischer Sicht trieb der Erste Weltkrieg vor allem die »Medikalisierung« von Behinderung und zugleich die »Funktionalisierung« des (männlichen) Körpers voran, also seine Vermessung im Hinblick auf militärische Tauglichkeit und volks- und betriebswirtschaftliche Leistungsfähigkeit.74 Durch die Einbeziehung der rehabilitativen Medizin und der Fürsorge für Kinder mit körperlichen Behinderungen der Vorkriegsjahrzehnte kann in der vorliegenden Studie gezeigt werden, dass 70 Ruff. 71 Kienitz, Beschädigte Helden; Harrasser. 72 Anderson u. Perry, S. 239. 73 Pawlowsky u. Wendelin, Die Wunden des Staates, S. 62–71. 74 Anderson u. Perry, S. 238.

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das Konzept von »Arbeit«, das für die Re-Integrationsmaßnahmen Bedeutung erlangte, nicht nur eine ökonomische Dimension hatte, sondern ebenso mit gesellschaftspolitischen und moralischen Bedeutungsgehalten aufgeladen wurde.75 Um die ökonomischen und moralischen Dimensionen des zeitgenössischen Arbeitsbegriffs konzeptionell in ihrer Verflechtung aufzuzeigen, wird in der vorliegenden Arbeit das von Edward P. Thompson geprägte Konzept der »moralischen Ökonomie« herangezogen. Thompson nutzte es, um das spannungsreiche Verhältnis zwischen den sozio-ökonomischen Ordnungsvorstellungen staatlicher und wissenschaftlicher Eliten einerseits und lokaler Bevölkerungsgruppen andererseits zu analysieren. Anders als in Thompsons Studie wird hier »moralische Ökonomie« jedoch nicht mit einer bestimmten sozialen Gruppe gleichgesetzt.76 Stattdessen wird das Konzept angelehnt an Didier Fassin verwendet, um das Feld sozialpolitischer Maßnahmen zu untersuchen.77 Dadurch können im Allgemeinen widersprüchliche Anforderungen an die beteiligten Akteure und Akteurinnen und im Speziellen die Konflikthaftigkeit der Re-Integrationsmaßnahmen für Kriegsversehrte auf diskursiver und praktischer Ebene herausgearbeitet werden.78 Durch diesen Zugriff kann in der Studie sichtbar gemacht werden, dass sich 1915/1916 eine bedeutsame Umdeutung auf der Ebene therapeutischer Praktiken vollzog, während sich die existierende Forschung zur cisleithanischen Kriegsversehrtenfürsorge vor allem auf ihre Eingliederung in die staatliche Verwaltung 1917/1918 als politisch-organisatorische Transformation konzentriert.79 Zur Moralisierung von Arbeit trat 1915/1916 ihre Emotionalisierung, indem Arbeit als therapeutische Praktik genutzt wurde, die Kriegsversehrte zu mehr »Selbstvertrauen« erziehen sollte. Damit wird im vorliegenden Werk an emotionshistorische Arbeiten zum Konzept der »Arbeitsfreude« in Deutschland im 20. Jahrhundert angeknüpft.80 Der Erste Weltkrieg spielte in diesen Studien jedoch nur eine untergeordnete Rolle, und der Fokus lag auf dem Umgang mit körperlich gesunden Arbeitern und Arbeiterinnen. In dieser Umdeutung von Arbeit nahmen Kriegsversehrte jedoch eine bislang übersehene Rolle ein. Erst die Konflikte zwischen medizinischen und gewerblichen Experten einerseits und Kriegsversehrten andererseits führten zur Entwicklung therapeutischer Praktiken, die sich von den rehabilitativen Methoden der Vorkriegszeit und ersten Kriegsjahre unterschieden. Die Auseinandersetzung mit Emotionen erfolgte daher nicht in einem Top-down-Prozess auf Initiative der Mediziner, sondern in Reaktion auf das Handeln der Kriegsversehrten und mit dem Ziel, 75 Siehe zur Entwicklung des Arbeitsbegriffs im 19. Jahrhundert: Conrad u. a. 76 Siehe zur zeitgenössischen Kritik an Thompson, dass er nur den unteren sozialen Schichten eine »moral economy« zugestehe: Thompson, S. 268–274. 77 Fassin, S. 362–387; Fassin u. Gomme. 78 Palomera u. Vetta, S. 413–432. 79 Hsia, War, Welfare and Social Citizenship, S. 129–257; Pawlowsky u. Wendelin, Die Wunden des Staates, S. 172, 180–192. 80 Donauer.

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ihre Emotionen für das Projekt der sozialen Re-Integration zu nutzen. Die Funktionalisierung des kriegsversehrten Körpers erfasst daher nur eine, wenn auch zentrale Dimension der Re-Integrationsmaßnahmen. Diese lassen sich, so argumentiert die Arbeit, vielmehr als eine spezifische Form der Subjektivierung begreifen.81 Kriegsversehrte Soldaten sollten nicht nur durch medizinische Behandlung und berufliche Ausbildung wieder arbeitsfähig gemacht werden, sondern ebenso wichtig war für Mediziner und gewerbliche Fachleute, dass sie sich arbeitsfähig fühlten und als arbeitende Bürger begriffen. Soziale Re-­Integration umfasste zwar Prozesse der Disziplinierung und des Zwanges, ging aber in den Formen der Therapie und Ausbildung über eine gewaltförmige Zurichtung der Betroffenen hinaus. Sie eröffnete verletzten und erkrankten Soldaten zudem neue Handlungsräume und Legitimationsstrategien, um Ansprüche an den Staat zu formulieren. Die vorliegende Arbeit weist daher den Erzählungen, Deutungen und Selbstverortungen der Kriegsversehrten einen wichtigen analytischen Wert bei. Damit wird auch der Appell der disability studies aufgegriffen, Menschen mit Behinderungen als historische Akteure und Akteurinnen ernst zu nehmen und sie nicht mehr nur als Objekte wissenschaftlicher Wissensproduktion oder Opfer staatlicher Politiken und gesellschaftlicher Ausgrenzung zu betrachten.82 Stattdessen sollen die Erfahrungen, Deutungsprozesse und Handlungsstrategien der Menschen mit Behinderungen aufgezeigt und untersucht werden.83 Aus dieser Perspektive stellt sich die Frage, welche Deutungsangebote sich kriegsversehrte Soldaten der österreichisch-ungarischen Armee für ihre körperlichen Einschränkungen aneigneten, in welche Erzählungen sie ihre Kriegserfahrungen, die Verletzungen oder Erkrankungen und die Rückkehr in eine ebenfalls auf Kriegszwecke hin ausgerichteten ›Heimatfront‹ einbetteten sowie welche Rollen sie gegenüber dem Staat einnahmen. Damit füllt die vorliegende Arbeit eine Forschungslücke für den Ersten Weltkrieg. In der existierenden Forschungsliteratur wurden die Kriegserfahrung von Offizieren84 und Soldaten85 aber auch jene von Frauen, Kindern und Arbeitern an der sogenannten ›Heimatfront‹ aufgearbeitet,86 jedoch kaum die Selbstzeugnisse verletzter und erkrankter Soldaten.87 Für die Zwischenkriegszeit sind die Narrative, Deutungsangebote und Forderungen von Kriegsveteranen im Allgemeinen und Kriegsversehrten im Besonderen deutlich besser erforscht als für die vorangehende Kriegszeit. Ein Blick auf den Forschungsstand zeigt, dass der 81 Reckwitz. 82 Hughes, S. 58–76; Davis, S. 1–14; Fuchs, S. 11. 83 Für einen Überblick über die Debatten in den disability studies siehe: Thomas, S. 38–57; siehe auch: Waldschmidt, S. 22–23. 84 Schmitz. 85 Rachamimov. 86 Healy, Vienna and the Fall of the Habsburg Empire; Hämmerle, »… wirf ihnen alles hin und schau, daß du fort kommst«; Davis. 87 Ausnahme: Ruff.

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Opferbegriff für beide Gruppen in Österreich,88 Deutschland,89 der Tschechoslowakei,90 Italien91 oder Jugoslawien92 während der Zwischenkriegszeit eine zentrale Rolle spielte, um Kriegserfahrungen, Forderungen an den Staat und ihre Stellung in der Gesellschaft narrativ miteinander zu verknüpfen. Im Zentrum der Forschung standen dabei jedoch vor allem Veteranenvereine sowie Kriegsopferorganisationen und deren Konstruktionsleistung einer gemeinsamen Kriegserinnerung.93 Das geschah auf nationalstaatlicher, aber auch auf internationaler Ebene.94 Allerdings können die Erkenntnisse zur Zwischenkriegszeit nicht einfach auf die Kriegszeit übertragen werden. Dies zeigt die vorliegende Studie auf, indem sie die Jahre in den Blick nimmt, bevor sich die ersten Organisationen von Kriegsversehrten in Österreich-Ungarn etablieren konnten. Erst gegen Ende des Untersuchungszeitraum entstanden um die Jahreswende 1917/1918 die ersten Vereine, die ›Kriegsinvalide‹ versammeln und gegenüber dem Staat vertreten wollten. Die Untersuchung geht der Frage nach, welche sozialen Wissensbestände und Deutungsmuster Kriegsversehrte heranzogen, um ihre Forderungen an den Staat zu artikulieren, bevor entsprechende Verbände in ihren Publikationsorganen kollektive Narrative anboten. Dadurch wird sichtbar, dass sich 1917/1918 veränderte, wie Kriegsversehrte sich selbst und ihr Verhältnis zum Staat erzählerisch fassten. Der Wandel von den Motiven des Bürgers und der Pflicht zu demjenigen des Opfers spiegelt, so wird argumentiert, enttäuschte Erwartungen im Rahmen von Loyalitätsverhältnissen wider.95 Die oben angeführten Überlegungen erfordern Quellen, die den multiperspektivischen Zugriff auf die politik-, wissenschafts- und erfahrungsgeschichtliche Dimensionen der Sozialpolitik zwischen den 1880er Jahren und 1918 erlauben. Der Arbeit liegen daher multiarchivalische Recherchen in Österreich und in Tschechien zugrunde, und sie bringt zudem erstmals Quellenbestände der Militär- und der Zivilstaatsverwaltung zusammen. Die Entwicklung der Governance-Strukturen in der staatlichen Sozialpolitik wird anhand dreier unterschiedlicher Bestände untersucht: Erstens sind dies die stenografischen Protokolle des Reichsrats, die Einblick in die öffentlichen Debatten, aber auch die schrittweise Entwicklung eingebrachter Gesetzesentwürfe geben. Zweitens sind es Akten des Österreichischen Parlamentsarchivs, welche die Protokolle der parlamentarischen Ausschüsse umfassen und somit 88 Edgecombe u. Healy, S. 16. 89 Eghigian, The Politics of Victimization; Cohen. 90 Stegmann, Kriegsdeutungen – Staatsgründungen – Sozialpolitik. 91 Pironti. 92 Newman. 93 Bourke, Dismembering the Male; Ziemann; Cabanes; Gerber, Disabled veterans in history; Cohen. 94 Siehe dazu auf internationaler Ebene die Beiträge in: Eichenberg u. Newman, The Great War and Veterans’ Internationalism. 95 Buschmann u. Murr; Osterkamp u. Schulze-Wessel.

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theoretisch Einblick in die nicht-öffentlichen Verhandlungen zu Gesetzesvorlagen gewähren. Diese Protokolle sind jedoch unterschiedlich verfasst und haben oft die Form eines Verlaufsprotokolls. Kontroversen sind daher nur angedeutet, der Wortlaut der Debatten ist jedoch nicht wiedergegeben. Umso wichtiger war es daher, die Aktenbestände der Ministerialbürokratie im Österreichischen Staatsarchiv miteinzubeziehen. Sie ermöglichen es, die Konflikte und Kompromisse während der Ausarbeitung der Gesetzesentwürfe zu untersuchen, bevor sie dem Parlament vorgelegt wurden. Dazu zählen zum einen die Akten der beiden militärischen Zentralstellen, des österreichisch-­ ungarischen Kriegsministeriums und des cisleithanischen Ministeriums für Landesverteidigung. Zum anderen wurden die Bestände des cisleithanischen Innen- und des Justizministeriums gesichtet. Die Akten des Kriegs- und des Innenministeriums eröffnen jedoch auch neue Perspektiven auf die Fürsorge für Kriegsversehrte. Die bisherige Forschung arbeitete ausschließlich mit den Archivbeständen des Ministeriums für soziale Fürsorge bzw. des Staatsamts und Bundesministeriums für soziale Verwaltung, wie es nach 1918 hieß. Dieser Bestand ist wertvoll, weil die Beamten des 1917 geschaffenen Ministeriums bemüht waren, sich einen Überblick über die bisherigen Fürsorgemaßnahmen zu verschaffen und daher auch einzelne Akten aus früheren Kriegsjahren darin zu finden sind. Aber bis zur Gründung des Ministeriums für soziale Fürsorge waren das Kriegs- und das Innenministerium federführend in der Fürsorge für Kriegsversehrte. Auf diese Weise kann man erstens die Planung und Entwicklung für ganz Cisleithanien in den Blick nehmen. Zweitens ist es so möglich, die Kommunikation zwischen Zentral- und Mittelbehörden der Militärverwaltung sowie ihr Kontakt mit den zentralstaatlichen Institutionen der Zivilstaatsverwaltung zu beleuchten. Darüber hinaus wurden regionale Tiefenbohrungen vorgenommen, die eine genauere Untersuchung der Praktiken der Re-Integrationsmaßnahmen erlauben. Die vorliegende Arbeit zieht daher weitere Archivbestände außerhalb Österreichs heran, die für das Thema der Kriegsbeschädigtenfürsorge bisher vollkommen unbeachtet geblieben sind. Dazu wurden die Aktenbestände des cisleithanischen Ministeriums für öffentliche Arbeiten im Národní Archiv [Nationalarchiv] in Prag / Praha untersucht, die einen sehr guten Einblick in die Umsetzung der beruflichen Ausbildung für Kriegsversehrte in Böhmen bieten. Die Vereinsakten im Archiv Hlavního Města Prahy [Archiv der Hauptstadt Prag] und in den Beständen des Zemský úřad Praha [Landesamtes Prag] im Národní Archiv erlauben es, die Gründungsphase der ersten Kriegsversehrtenvereine 1917/1918 nachzuvollziehen, da beide in Böhmen entstanden. Die Bestände des tschechoslowakischen Ministerstvo Sociální Péče [Ministerium für soziale Fürsorge] im Národní Archiv wurden ebenfalls konsultiert, diese enthalten jedoch nur wenige Akten für die Zeit vor der Gründung der Tschechoslowakischen Republik. Für die Analyse der administrativen Praxis lokaler Militärbehörden werden die für das Thema bisher unbeachtet gebliebenen umfangreichen Archivbestände des 9. Militärkommandos in Leitmeritz / Litoměřice im Vojenský Historický Archiv 31

[Militärhistorisches Archiv] des Vojenský Ústřední Archiv [Militärzentralarchiv] der Tschechischen Republik in Prag / Praha herangezogen. Die Analyse der Konzepte von Arbeit, Krankheit, Arbeitsunfähigkeit und Entschädigungswürdigkeit, die sich nach der Etablierung der Unfall- und Krankenversicherung 1887/1888 entwickelten und den Re-Integrationsmaßnahmen zugrunde lagen, stützt sich auf amtliche Publikationen zum Versicherungswesen und zu den Re-Integrationsmaßnahmen wie die »Amtlichen Nachrichten des k. k. Ministeriums des Inneren«. Hinzu kommen sozialwissenschaftliche und medizinische Veröffentlichungen in wichtigen zeitgenössischen Zeitschriften wie der »Wiener Medizinischen Wochenschrift«, der »Prager Medizinischen Wochenschrift«, der »Zeitschrift für Krüppelfürsorge«, der »Sozialen Rundschau« oder der »Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung«, aber auch führender tschechischsprachiger Zeitschriften wie der »Naše Doba« [Unsere Zeit], »Pražská lidová revue« [Prager Volksrevue] oder »Časopis lékařů českých« [Zeitschrift der böhmischen Ärzte] sowie der Publikationen des Jedlička-Instituts zur Fürsorge für Kinder mit körperlichen Behinderungen in Prag / Praha. Schließlich untersucht die vorliegende Arbeit eine bisher nicht analysierte Quellengattung: Schreiben cisleithanischer Kriegsversehrter an Angehörige der Habsburgerfamilie sowie an österreichisch-ungarische oder cisleithanische Behörden während des Ersten Weltkrieges. Diese unterscheiden sich durch ihre Adressaten von Quellen wie Tagebüchern oder privaten Korrespondenzen, auf die sich die Forschung zu Kriegserfahrungen hauptsächlich konzentriert hat. Die in den Fokus genommenen Bittschreiben stellen jedoch eine wertvolle Quellengattung dar, weil darin auch soziale Konventionen des Sagbaren und legitimer Herrschaft verhandelt werden, wie besonders Studien zur Frühen Neuzeit gezeigt haben.96 Zudem haben sich die historische Selbstzeugnisforschung, die Mikro- und Alltagsgeschichte in Rezeption Michel Foucaults seit den späten 1980er Jahren damit auseinandergesetzt, dass selbst vermeintlich private Schriftstücke wie Tagebücher oder Briefe nicht authentische Zeugnisse eines Ichs sind. Stattdessen sind auch diese Texte durch Konventionen, Normen und Terminologien in ihrer narrativen Struktur, ihrem Vokabular und darin, was gesagt und was verschwiegen wird, gesellschaftlich mitbestimmte Ausdrucksformen.97 In der vorliegenden Arbeit geht es daher ebenfalls nicht darum, einen vermeintlich unverstellten Blick auf die Vorstellungen Kriegsversehrter zu erhalten, sondern die gesellschaftlichen Vorbedingungen und sozialen Wissensbestände zu analysieren, die diese Schreiben prägten. Daher werden die Briefe nicht als ›authentischer‹ Ausdruck eines autonomen Individuums gelesen, sondern mithilfe des unter anderem von Claudia Ulbrich stark gemachten Begriffes ›Self-narrative‹ oder Selbsterzählung danach

96 Sokoll; Hämmerle, Bitten – Klagen – Fordern. 97 Greyerz, S. 275.

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befragt,98 wie Kriegsversehrte sich selbst präsentierten. Die Briefe werden also als soziale Praxis untersucht, die Einblick darin gibt, wie Kriegsversehrte ihren Ansprüchen an den Staat Legitimität verliehen, welche sozialen Beziehungen sie in ihren Briefen zeichneten und mobilisierten, ob und in welcher Form sie ihre Kriegserfahrung als Element der Erzählung nutzten und dadurch Sinn stifteten.99 Diese Selbsterzählungen liegen daher am Schnittpunkt von Diskursen und Praktiken und lassen sich als Hervorbringen und Einüben von Selbstverhältnissen deuten.100 Die Überlieferungslage bei den Selbstzeugnissen Kriegsversehrter ist schwierig. Einerseits enthalten die Bestände des Kriegsministeriums, des Ministeriums des Inneren und des Ministeriums für soziale Fürsorge zahlreiche Akten zu Briefen Kriegsversehrter an die Behörden, was deutlich macht, dass die analysierten Schreiben keine Einzelfälle darstellten. Allerdings umfassen viele dieser Akten lediglich einen Vermerk über den Inhalt der Schreiben und ihrer Erledigung, die Schreiben selbst sind nicht überliefert. Aus diesem Grund erlaubt ein bedeutender Teil der Akten keine Rückschlüsse auf die Argumentationen und narrativen Strategien der Kriegsversehrten. Dazu können zwei Faktoren beigetragen haben. Zum einen könnten die Behörden die Briefe im sogenannten »urschriftlichen Verfahren«, das heißt ohne Konzept und direkt auf dem Schreiben beantwortet haben, sodass weder Schreiben noch Antwort überliefert sind.101 Zum anderen könnte die Kassation von Schriftstücken im Prozess der Archivierung der Aktenbestände einen weiteren Grund für das Fehlen zahlreicher Schreiben darstellen. Für die archivalische Überlieferung von Schreiben scheint demgegenüber förderlich gewesen zu sein, dass sie zum Gegenstand weiterer administrativer Verfahren wurden. Auch wenn dieser Umstand nicht zwangsläufig ihre Archivierung nach sich zog. Diese Beobachtung trifft zum einen auf jene Schreiben zu, die in einer anderen Sprache als Deutsch verfasst wurden. Seit den 1880er Jahren galt in der cisleithanischen Verwaltung, dass sich Parteien auch in einer anderen Sprache als Deutsch an Behörden wenden konnten.102 Da die interne Dienstsprache jedoch weiterhin Deutsch blieb, mussten diese Schreiben amtlich übersetzt werden. Jede dieser Übersetzungen ist als solche gekennzeichnet – durch einen Vermerk am oberen Rand »Übersetzung zu« und einen weiteren unterhalb des Textes »Für die richtige Übersetzung« samt Unterschrift des verantwortlichen Beamten.103

98 Zur Debatte über die Begriffe »Ego-Dokumente« und »Selbstzeugnisse« siehe ebd.; sowie die Positionen in den unterschiedlichen Beiträgen in: Schulze; Medick u. a., S. 1–19. 99 Jancke; Fitzpatrick, S. 469–487; Fulbrook u. Rublack, S. 263–272. 100 Reckwitz. 101 Mayrhofer; Hochedlinger, S. 94–96. 102 Stourzh, Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848–1918, S. 100–140. 103 Siehe etwa: Österreichisches Staatsarchiv [ÖStA], Kriegsarchiv [KA], Kriegsministerium [KM], Abteilung [Abt.] 9/IF Kt. 1415, 21/1917.

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Anhand einzelner Gesuche, bei denen Original und Übersetzung vorliegen, kann gezeigt werden, dass dabei nicht in den Text eingegriffen wurde.104 Zum anderen sind eher solche Schreiben überliefert, die Kommunikation zwischen verschiedenen Behörden auslösten, etwa von untergeordneten Stellen mit Ministerien, zwischen Ministerien oder zwischen Abteilungen innerhalb eines Ministeriums. In derartigen Fällen wurden Abschriften der Gesuche angefertigt, die ebenfalls durch einen entsprechenden Vermerk am oberen Rand als solche gekennzeichnet sind.105 Einzelne Abschriften legen nahe, dass im Zuge der Abschrift ebenfalls keine Eingriffe in den Text vorgenommen wurden, da das Original jedoch nicht vorliegt, kann dies nicht bestätigt werden.106 Die Arbeit ist in zwei Teile gegliedert. Der erste Teil (A) befasst sich mit sozialpolitischen Entwicklungen vor 1914, der zweite (B) mit der Kriegsversehrtenfürsorge während des Ersten Weltkrieges. Das erste Kapitel von Teil A behandelt die Militärversorgung vor 1914. Zum einen demonstriert es, dass diese zusätzlich zur finanziellen Versorgung auch die Vermittlung in den Staatsdienst umfasste. Zum anderen erwies sich um 1900 die Stellenvermittlung für Soldaten als sozialpolitisches Projekt, das maßgeblich ›von unten‹ angestoßen wurde und zivile wie militärische Akteure vereinte. Die finanzielle Versorgung erfuhr mit dem Militärversorgungsgesetz von 1875 zwar eine starke Verrechtlichung, blieb Wehrpflichtigen jedoch großteils verwehrt und stattdessen ein Privileg länger dienender (Berufs-)Soldaten. Zwar existierten vor 1914 intensive Bemühungen, die Militärversorgung auszuweiten, indem man Prinzipien der Sozialversicherung in sie integrierte. Allerdings trugen multiple Faktoren des imperialen Kontextes zum Scheitern dieser Reformen bei. Schließlich zeigt das Kapitel auf, inwiefern diese Reformversuche die Form der Kriegsversehrtenfürsorge während des Ersten Weltkrieges präfigurierten. Das zweite Kapitel beleuchtet das Zusammenspiel von Kontinuität und Anpassung in der Entwicklung des cisleithanischen Sozialversicherungswesens. Es untersucht, wie die cisleithanische Regierung und Ministerialbürokratie in den 1880er Jahren ein Modell von Governance für die Unfall- und Krankenversicherung entwickelten. Zum Teil baute es auf der etablierten föderativen Aufteilung von Kompetenzen und Finanzierungsverpflichtungen der Sozialfürsorge zwischen cisleithanischer Regierung, den Provinzen und Kommunen auf, umfasste mit der Einbindung der Arbeiterschaft in die Versicherungsanstalten durch paritätische Gremien aber auch ein wichtiges neues Element. Im Anschluss daran analysiert das Kapitel, warum dieses Governance-Modell trotz Kritik und Reformversuchen bis zum Ersten Weltkrieg erhalten blieb. Gleichzeitig zeigt es auf, dass im Rahmen dieser Kontinuität verschiedene cisleithanische Regierun-

104 ÖStA, Allgemeines Verwaltungsarchiv [AVA], Ministerium des Inneren [MdI], Kaiser und König Karl-Kriegsfürsorgefonds [KFF] Kt. 2, 5743/1918; ebd., 10003/1918. 105 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1415, 209/1917. 106 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1227, 225/1916.

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gen und nachgeordnete Ministerialbeamte Anpassungen an den GovernanceStrukturen vornahmen und dem Staat schrittweise finanzielle Verpflichtungen im Bereich der Sozialversicherung übertrugen, aber auch neue nationalpolitische Ordnungskonzepte integrierten. Das dritte Kapitel widmet sich der Erfassung von Arbeits(-un-)fähigkeit und untersucht, wie sich Konzepte und Praktiken der Rehabilitation in den Jahrzehnten vor 1914 entwickelten. Dabei zeigt es zum einen auf, dass sich bereits vor dem Krieg eine Verschiebung hin zu rehabilitativen Therapien vollzog. Allerdings stellte diese Entwicklung eine »diskrete Anpassung« dar, weil (und obwohl) das Heilverfahren nicht Teil der Unfallversicherung war und eine Invaliditäts- und Altersversicherung für die Arbeiterklasse nicht bestand. Stattdessen vollzog sich diese Veränderung ›von unten‹ durch medizinische Gutachten, lokale Initiativen sowie Bescheide und Urteile im Versicherungswesen. Entscheidende Anstöße für Konzepte der Re-Integration kamen zudem nicht allein aus der Versicherungsmedizin, sondern noch wichtiger waren Fürsorgeinitiativen für Kinder mit körperlichen Behinderungen. Teil B hat die Kriegsversehrtenfürsorge zum Gegenstand. Das erste Kapitel befasst sich damit, wie militärische Akteure »diskrete Anpassungen« an der Militärversorgung vornahmen. Obwohl das Gesetz von 1875 nominell weiterhin galt, verliehen die Beamten des Kriegsministeriums seinen Kategorien auf dem Verordnungsweg neue Bedeutung, um mehr Soldaten eine Rente zusprechen zu können. Diese Anpassungen entwickelten allerdings im Verlauf des Krieges eine unvorhergesehene Dynamik, da Kriegsversehrungen nunmehr gleichzeitig anhand unterschiedlicher Kategorien und Zielvorstellungen bewertet werden mussten: militärische Tauglichkeit, finanzielle Versorgung und soziale Re-Integration. Diese konkurrierenden Maßstäbe sorgten für Konflikte der Beamten des Kriegsministeriums mit lokalen Vertretern des Militärs aber auch mit zivilen Stellen um die Auslegung und Anwendung der Normen. Die Untersuchung von Akten zu Soldaten mit psychischen Erkrankungen offenbart zudem, dass lokale Akteure über große Handlungsspielräume verfügten, um den Betroffenen den Zugang zu Renten zu erschweren oder zu verunmöglichen. Das zweite Kapitel geht auf die Schaffung der Re-Integrationsmaßnahmen ein und zeigt zunächst den Deutungswandel in Bezug auf Kriegsversehrte, der sich im Herbst und Winter 1914 vollzog. Es demonstriert, dass nicht nur Mediziner, sondern auch politische Ökonomen und Sozialwissenschaftler darauf hinarbeiteten, verletzte und erkrankte Soldaten nicht mehr als ihrem Schicksal ausgelieferte Opfer zu begreifen. Stattdessen sollten sie als ein soziales ›Problem‹ gesehen werden, das durch medizinische Behandlung, berufliche Ausbildung und Arbeitsvermittlung behoben werden könne. Darüber hinaus zeigt das Kapitel, wie etablierte föderative Ordnungsmuster und das Governance-Modell der Sozialversicherung als Vorbilder für die Organisation der Re-Integrationsmaßnahmen dienten. Außerdem wird die Rolle des österreichisch-ungarischen Militärs bei der Umsetzung der Re-Integrationsmaßnahmen beleuchtet. Konfliktlinien verliefen nicht nur zwischen Zivil- und Militärstaatsverwaltung, sondern auch 35

zwischen dem Kriegsministerium und lokalen sowie regionalen Stellen der Militärverwaltung. Letzteren Akteuren boten die Re-Integrationsmaßnahmen neue Handlungsspielräume, um eigene Wertmaßstäbe und Vorstellungen nationaler Ordnung umzusetzen. Das dritte Kapitel geht auf den Begriff der ›Arbeit‹ ein, der in den Re-Integrationsmaßnahmen von zentraler Bedeutung war. Politiker, Beamte, Mediziner, Unternehmer und Kriegsversehrte vertraten unterschiedliche Vorstellungen davon, welche Arbeit für Kriegsversehrte angemessen sei. Dazu wird näher untersucht, wie sich Kriegsversehrte das Konzept und das Vokabular der Re-Integrationsmaßnahmen aneigneten, um sich gegenüber dem Staat als pflichtbewusste Bürger zu präsentieren und ihre Forderungen nach Staatsanstellung zu legitimieren. Dazu betteten sie ihre Gesuche in ein reziprokes Loyalitätsverhältnis zum Staat ein. Die daraus resultierende Auseinandersetzung mit den Forderungen Kriegsversehrter führte zu einer Veränderung therapeutischer Praktiken, als Mediziner und Lehrer ein Interesse an den Gefühlen der Kriegsversehrten entwickelten, um Kriegsversehrte von ihrer Vorstellung ›richtiger‹ Re-Integration zu überzeugen. Gleichzeitig macht das Kapitel deutlich, dass das Versprechen der Re-Integrationsmaßnahmen, den Kriegsversehrten durch Arbeit die Rückkehr in ihre sozialen Rollen der Vorkriegszeit zu ermöglichen, äußerst brüchig war und den Anforderungen der Arbeitgeber an die Kriegsversehrten nicht ausreichend Rechnung trug. Abschließend wird im vierten Kapitel analysiert, wie Kriegsversehrte gegen Kriegsende begannen, sich zunehmend des Opfermotivs zu bedienen. Dieses neue Erzählmuster, so wird argumentiert, reflektiert zum einen, dass Kriegsversehrte die dramatische Versorgungslage als Versagen des Staates interpretierten. Zum anderen nutzten die neu entstehenden Organisationen Kriegsversehrter das Opfermotiv als identitätsstiftenden Topos, der unterschiedliche Kriegserfahrungen integrieren konnte. Die vorliegende Studie geht über die beiden etablierten Narrative zur Sozialpolitik in der Habsburgermonarchie hinaus: Die Erzählung von der sozialpolitischen Stagnation vernachlässigt die Veränderungen in Erwartungen und Zielvorstellungen wohlfahrtsstaatlicher Aktivität sowie im Regelungsverhalten gegenüber nicht-staatlichen Akteuren. Die Kategorie Dynamik greift wiederum zu kurz, da sie den Problemlagen des Dualismus und des Parlamentarismus in Cisleithanien nicht genügend Rechnung trägt. Zudem macht die vorliegende Arbeit deutlich, wie stark staatliche Sozialpolitik von Prozessen ›von unten‹ geprägt war. Das konnten zivilgesellschaftliche Initiativen sein, die staatliche Akteure in neue Tätigkeitsfelder involvierten, oder Kriegsversehrte, die durch ihre Forderungen eine Veränderung des therapeutischen Repertoires der Re-Integrationsmaßnahmen anstießen. Daraus sollte jedoch nicht abgeleitet werden, dass cisleithanische Sozialpolitik von flachen Hierarchien gekennzeichnet war. Die zentralstaatliche Verwaltung war stets bemüht, sich eine normsetzende und kontrollierende Funktion zu sichern. Aber eine zentrale Dynamik staatlicher Sozialpolitik in Österreich-Ungarn resultierte aus dem Spannungsverhältnis 36

zwischen vertikalen Regelungsstrukturen und dezentralen Entscheidungskompetenzen ohne dezidierte Berufungsinstanz, das Militärversorgung, Sozialversicherung und Kriegsversehrtenfürsorge in vergleichbarer Weise charakterisierte. So offenbart die Analyse der Governance-Strukturen, dass staatliche Sozialpolitik in Cisleithanien von einem Zusammenspiel von Kontinuität und Veränderung geprägt war.

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A. Zwischen kriseninduzierter Kontinuität und diskreter Anpassung: Sozialpolitische Entwicklungen vor 1914 1. Militärische Sozialpolitik 1868–1914 Die österreichisch-ungarische Militärversorgung war, wie die cisleithanische Sozialpolitik vom Zusammenspiel »kriseninduzierter Kontinuität« und »diskreter Anpassung« gekennzeichnet. Nach Einführung der allgemeinen Wehrpflicht 1868 gewann die Neuordnung der Versorgungsansprüche ehemaliger Soldaten an Bedeutung. Die gesetzliche Neuregelung der Militärrenten im Jahr 1875 modernisierte die Militärversorgung, erwies sich 1914 jedoch als überholt und besonders reformbedürftig. Dessen war man sich auch in der Militärverwaltung bewusst und strebte auf unterschiedliche Arten eine Neufassung des Gesetzes an. Zudem blieben andere Versorgungsformen als Renten weiterhin bestehen und entwickelten eine eigene Dynamik. Die Militärversorgung demonstriert so erneut, dass das Ausbleiben von Reformen auf gesetzlicher Ebene nicht notwendigerweise Stagnation bedeutete. Allerdings erhöhte es den sozialpolitischen Lösungsdruck zu Beginn des Ersten Weltkrieges, was dazu führte, dass die militärische Führung 1914/1915 rasch umzusetzende Maßnahmen in Form weiterer »diskreter Anpassungen« bevorzugte. Für die militärische Sozialpolitik der österreichisch-ungarischen Armee spielten ihre Stellung im Staatsgefüge sowie ihre Beziehung zu den formellen und informellen Machtzentren der Doppelmonarchie eine wichtige Rolle. Sie war eine jener wenigen Institutionen des Habsburgerreiches, die beide Teilstaaten umfassten. Zum einen unterstand sie unmittelbar dem Monarchen, der die innere Organisation sowie die Führung der Armee bestimmte. Die Militärkanzlei Franz Josephs war daher eine wichtige Schnittstelle zwischen dem Monarchen, den verantwortlichen Ministerien und den Regierungen. Allerdings bauten ab 1906 Thronfolger Franz Ferdinand und sein Flügeladjutant Alexander Brosch die eigene Militärkanzlei zu einem informellen Machtzentrum aus.1 Zum anderen spielten die Parlamente der beiden Reichshälften eine wichtige Rolle. Die Delegationen, welche die beiden Parlamente auf gesamtstaatlicher Ebene vertraten, mussten das Budget bewilligen. Das jährliche Rekrutenkontingent, die Dienstzeit, Versorgung und Einquartierung bedurften wiederum der Zustimmung der beiden Parlamente.2 Zudem war die gemeinsame Armee nicht 1 Kronenbitter, S. 63–64. 2 Allmayer-Beck, S. 90–91.

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die einzige militärische Formation Österreich-Ungarns; daneben existierten noch die Landwehren Cis- und Transleithaniens. An der Verwaltungsspitze dieser organisatorisch eigenständigen Formationen standen die Landesverteidigungsministerien der beiden Reichshälften. Dabei betrachteten insbesondere magyarische Nationalisten die Landwehr (Honvéd) als Schritt zu einer eigenen ›nationalen‹ Armee. Durch diese Konstellation multipler Entscheidungszentren und ineinandergreifender Kompetenzen wurden militärpolitische Fragen leicht zum Brennpunkt staatspolitischer Konflikte. Sie drehten sich um das Verhältnis der beiden Reichshälften zueinander und zum Gesamtstaat sowie über die Entscheidungsbefugnisse des Monarchen, der Regierungen und Parlamente. Darüber hinaus kamen jedoch auch finanzielle Erwägungen zum Tragen. Die Ausgaben für die österreichisch-ungarische Armee waren Teil der gemeinsamen Kosten der Doppelmonarchie. Zwar hatte Österreich-Ungarn aus den Zöllen auch gemeinsame Einnahmen, trotzdem bedurfte die Armee für Vorhaben, die ihr Budget vergrößerten, ebenfalls der parlamentarischen Zustimmung. Denn der gemeinsame Haushalt wurde aus Beiträgen beider Reichshälften gedeckt, die im Ausgleich von 1867 festgelegt waren und alle zehn Jahre neu beschlossen werden mussten. Dabei bestritt ursprünglich Cisleithanien 70 % und Transleithanien 30 % des Gesamtbudgets, im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert erhöhte sich der Anteil Transleithaniens sukzessive und betrug 1888 31,4 % und 1907 36,4 %.3 Die österreichisch-ungarische Armee war im Vergleich zu anderen europäischen Streitkräften über lange Zeit billig, auch aufgrund ihrer geringen Größe:4 So betrugen die Militärausgaben berechnet auf die Bevölkerung zwischen 1879 und 1889 pro Kopf und Jahr bloß 2,92 Gulden, in Russland jedoch 3,80, in Italien 3,88, in Deutschland 5,34 und in Frankreich 8,46 Gulden.5 Während führende Akteure des Militärs dies nutzten, um für eine Aufstockung der Mittel für die Streitkräfte zu plädieren, teilten Politiker diese Einschätzung nicht notwendigerweise.6 Denn mit dem starken Wachstum an Aufgaben des Staates im Verlauf des späten 19. Jahrhunderts erhöhten sich die Staatsausgaben zwischen 1880 und 1912 um nahezu 200 % und stiegen von 223,73 auf 669,61 Millionen Kronen.7 Das Ausmaß militärischer Sozialpolitik wurde daher nicht allein von der Armee bestimmt, sondern auch von den wahrgenommenen finanziellen Handlungsspielräumen Österreich-Ungarns. Die österreichisch-ungarische Armee war in drei Hierarchieebenen gegliedert. An der Spitze der Organisation stand zum einen das österreichisch-ungarische Kriegsministerium, innerhalb dessen die 9. Abteilung für die Militärversorgung zuständig war. Die Marine bildete eine eigene Sektion des Kronenbitter, S. 150. Ebd., S. 146. Wagner, S. 492. Zur unterschiedlichen Berechnung siehe: Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg, S. 1072–1073; Wagner, S. 589–591; Kronenbitter, S. 146–149. 7 Wagner, S. 589. 3 4 5 6

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Kriegs­ministeriums. Zum anderen war jedoch auch der Chef des Generalstabs ab 1874 bei allen Fragen einzubinden, welche die Schlagkraft der Armee berührten. Dabei war das Verhältnis zwischen dem Kriegsministerium und Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf, der diesen Posten von 1906–1911 und erneut von 1912–1917 innehatte, oft angespannt.8 Als Mittelbehörden fungierten die 1882/83 eingeführten 16 (ab 1909: 17) Militär- oder Korpskommanden.9 Sie konnten innerhalb ihres regionalen Einflussbereichs ebenfalls sozialpolitische Initiativen setzen, so etwa im Rahmen der Arbeitsvermittlung. Die unterste Gliederungsebene bildeten die Truppenkörper und Anstalten. 1.1 Die Militärversorgung 1872–1914 In den Jahren nach Einführung der allgemeinen Wehrpflicht erfuhren die Ansprüche von Militärpersonen auf Militärversorgung eine zunehmende Verrechtlichung. Traditionsreiche Versorgungsformen, wie die bevorzugte Anstellung ehemaliger Soldaten im Staatsdienst, wurden gesetzlich neu geregelt und in die konstitutionelle Doppelmonarchie überführt. Zudem berücksichtigte man erstmals einfache Mannschaftssoldaten und Familienangehörige und sprach ihnen finanzielle Versorgung zu. Aber das österreichisch-ungarische Militär inte­ grierte eine zentrale Veränderung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht in die Militärversorgung: die Neubestimmung des Verhältnisses von Arbeitsfähigkeit und Entschädigung in der Sozialversicherung. Zwar war in der Militärversorgung eine finanzielle Versorgung bei Erwerbsunfähigkeit vorgesehen, sie war jedoch nicht das primäre Anspruchskriterium, ganz im Gegenteil. In einer Reihe von Anspruchsdeterminanten bildete sie das letzte Glied und war darüber hinaus legislativ unterbestimmt. Diese Regelung sollte sich zu Beginn des Ersten Weltkrieges als großes Hindernis für die finanzielle Versorgung kriegsversehrter Soldaten erweisen. Diese Problemlagen waren zwar keine Besonderheit Österreich-Ungarns, auch die Militärversorgungssysteme Deutschlands, Frankreichs oder Englands waren 1914 nicht auf die Herausforderungen eines industrialisierten Massenkrieges ausgelegt.10 Das Ausbleiben einer Reform der Militärrenten, wie sie das Kriegsministerium vor 1914 anstrebte, bedeutete jedoch, dass österreichischungarische Kriegsversehrte zu Kriegsbeginn schlechter versorgt waren als Angehörige der deutschen Armee. Im deutschen Kaiserreich begründete nach dem Mannschaftsversorgungsgesetz von 1906 bereits eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 10 % einen Rentenanspruch, und die Höhe der finanziellen Entschädigung war zudem an den Grad der Erwerbsunfähigkeit gekoppelt.11 Diese 8 Sondhaus, S. 81–107, 120. 9 Melichar u. Mejstrik, S. 1269–1270. 10 Geyer, S. 234. 11 Pironti, S. 49–59, bes. S. 52.

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Bestimmungen fehlten dem österreichisch-ungarischen Gesetz, das aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts stammte. 1.1.1 Versorgung durch Anstellung im öffentlichen Dienst und Arbeitsvermittlung Die Praxis, ehemalige Militärangehörige durch Anstellung im Staatsdienst zu versorgen, reichte bis in das 18. Jahrhundert zurück.12 Bereits im Zuge der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht wurde angekündigt, diese Form der Versorgung in Österreich-Ungarn fortzuführen.13 Noch vor der gesetzlichen Neuregelung der Militärrenten mit dem Militärversorgungsgesetz wurde 1872 das sogenannte »Zertifikatistengesetz« erlassen. Allerdings war beiden Gesetzen gemeinsam, dass sie hauptsächlich auf Berufssoldaten ausgerichtet waren. So sicherte das »Zertifikatistengesetz« Militärpersonen, die mindestens zwölf Jahre und davon acht Jahre als Unteroffizier gedient hatten oder im Militärdienst verwundet worden waren, einen Anspruch auf Anstellung in der staatlichen Verwaltung oder in staatlichen Betrieben zu. Der inoffizielle Name des Gesetzes leitete sich dabei von dem Zertifikat des Kriegs- oder Landesverteidigungsministeriums ab, welches den betreffenden Personen ihre Berechtigung auf Anstellung verbriefte.14 Dieser Anspruch war allerdings auf subalterne Posten in der Dienerschaft oder dem Aufsichtspersonal beschränkt.15 Konnten Unteroffiziere entsprechende Qualifikationen vorweisen, sollten sie zudem bei der Besetzung von untergeordneten Stellen in der Verwaltung bevorzugt werden, sofern diese neu besetzt wurden.16 Führende Offiziere, aber auch Wehrpflichtige erblickten im Gesetz und der Aussicht auf eine gesicherte Anstellung Anreize für eine längere Dienstzeit und die Unteroffizierslaufbahn.17 Genau diese Attraktivität machte das Gesetz jedoch um 1900 besonders konfliktträchtig. Ein grundlegender Streitpunkt existierte bereits seit den Parlamentsdebatten über den Gesetzesentwurf in den 1870ern: Wie war das Reservieren von bestimmten Verwaltungsposten für Unteroffiziere mit den Qualifikationsanforderungen für den öffentlichen Dienst zu vereinbaren?18 Um 1900 trafen jedoch zwei Diagnosen in paradoxer 12 Cole, Military Culture and Popular Patriotism in Late Imperial Austria, S. 120–123. 13 Reichsgesetzblatt für die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder [RGBl.] 151/1868, Gesetz vom 5. Dezember 1868, womit für die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder die Art und Weise der Erfüllung der Wehrpflicht geregelt wird, § 38. 14 Pawlowsky u. Wendelin, Die Wunden des Staates, S. 408. 15 RGBl. 60/1872, Gesetz vom 19. April 1872 über die Verleihung von Anstellungen an ausgediente Unterofficiere, § 4. 16 Ebd., § 5. 17 Kronenbitter, S. 161; siehe etwa Schuster, Leo: »… Und immer wieder mußten wir einschreiten!« Ein Leben im Dienste der Ordnung, herausgegeben von P. P. Kloss, Wien 1986, S. 74, zitiert nach: Cole, Military Culture and Popular Patriotism in Late Imperial Austria, S. 121. 18 Bericht des Ausschusses über die Vorberathung der Regierungsvorlage, betreffend die Verleihung von Anstellungen an ausgediente Unteroffiziere, in: Stenografische Protokolle des

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Weise aufeinander. Zum einen beklagten die Interessensvertretungen der Unteroffiziere, dass die Zahl der anspruchsberechtigten »Zertifikatisten« und der für sie erreichbaren Posten zunehmend auseinanderklaffte. Sie sahen sich durch die engen Grenzen des Gesetzes und dessen Handhabung von der Zivilstaatsverwaltung benachteiligt.19 Zum anderen konstatierten sowohl interne Studien des Kriegsministeriums als auch die Militärpublizistik seit den 1890er Jahren einen Mangel an freiwillig länger dienenden Unteroffizieren.20 Diese Gleichzeitigkeit eines Zuviel und Zuwenig an Unteroffizieren resultierte aus mehreren Faktoren. Die österreichisch-ungarischen Streitkräfte wurden seit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht schrittweise ausgebaut. Insbesondere nach der außenpolitischen Krise, welche die Annexion Bosnien-Herzegowinas durch das Habsburgerreich 1908 auslöste,21 nahmen die Aufrüstungsvorhaben zu, worauf im nächsten Kapitel genauer eingegangen wird. Zwischen 1897 und 1912 wuchs die Personalstärke der Streitkräfte von etwa 347.500 Mann auf 391.000 Mann an.22 Damit stieg auch der Bedarf an Unteroffizieren. Dieser erhöhte sich jedoch stärker als die Armee wuchs: Denn während die Streitkräfte zwischen 1897 und 1912 um 13 % vergrößert wurden, verdoppelte sich die Anzahl der freiwillig länger dienenden Unteroffiziere, die man im Kriegsministerium für notwendig erachtete von 15.000 (1896) auf 30.000 (1911).23 Der Mangel an Unteroffizieren resultierte also aus der Aufrüstung vor dem Ersten Weltkrieg, gleichzeitig bedeutete diese Entwicklung, dass potenziell mehr Unteroffiziere mit einem Anspruchszertifikat entlassen wurden, für die nun administrative Posten gefunden werden mussten. Zwar expandierte in diesem Zeitraum auch die öffentliche Verwaltung sowohl in ihren Aufgaben als auch in ihrem Personal. Allerdings profitierten nicht zwingend Unteroffiziere von diesem Wachstum, denn gefragt waren vor allem Beamte mit juristischer Ausbildung, die Gesetze anwenden und Erlässe formulieren konnten, sowie Schreiber, um den administrativen Schriftverkehr abzuwickeln.24 Beides erforderte höhere Qualifikationen als sie Unteroffiziere notwendigerweise besaßen. Ein internes Gutachten des Kriegsministeriums formulierte das Problem 1896 folgendermaßen: Abgeordnetenhauses des Reichsrates 1861–1918 [StPAH], VII. Session, Nr. 72 der Beilagen, S. 443–452; ebd., 14. Sitzung (14.02.1872), S. 185–190; ebd., 26. Sitzung, 15.03.1872, S. 525–530. 19 Siehe u. a.: o. A., Das Zertifikat; o. A., Stellen für Militäranwärter; o. A., Die Unteroffiziersfrage. 20 ÖStA, KA, KM, Präs., Kt. 21, Referat auf Grund der infolge Erlasses des k. und k. ReichsKriegsministeriums vom 20. Juni 1895, Praes. Nr. 3103 eingelangten Gutachten zur »Studie über die Unteroffiziersfrage«. 21 Vocelka, S. 268–271. 22 H. von Löbell, S. 178; Kronenbitter, S. 147. 23 ÖStA, KA, KM, Präs., Kt. 21, Referat; o. A., Das Unteroffiziersgesetz; o. A., Zwanzig Millionen mehr für Unteroffiziere. 24 Deak, Forging a Multinational State, S. 212, 241, 252.

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[Es sind] thatsächlich viele Unterofficiere, selbst Feldwebel vorhanden und [werden] auf eine lange Zeit hin noch vorhanden sein, deren Schulbildung äußerst gering ist, welche selbst den bescheidensten Forderungen an eine niedere oder Unterbeamtenstelle nicht zu entsprechen vermögen.25

Unteroffiziere hatten so zwar einen theoretischen Anspruch auf Anstellung im Staatsdienst, in der Praxis wogen die geforderten Qualifikationen jedoch oft schwerer. Bereits Mitte der 1890er Jahre regte man daher in der Militärverwaltung an, Ausbildungskurse für Unteroffiziere zu schaffen, um sie (besser) auf den Dienst in der Verwaltung vorzubereiten.26 Obwohl das »Zertifikatistengesetz« primär als Anreizsystem verstanden wurde, führte es dazu, dass sich die Militärverwaltung damit befasste, wie sie Unteroffizieren berufliche Qualifikationen für die Zeit nach ihrer Entlassung vermitteln konnte. Ohne groß angelegte Reform veränderte sich so der Bezugsrahmen des »Zertifikatistengesetzes« und machte es anschlussfähig an die Fürsorge für Arbeitssuchende, die um 1900 aufkam, und ebenso an das Programm sozialer Re-Integration, das nach 1914 für Kriegsversehrte entwickelt wurde. Die Militärverwaltung war dabei keineswegs abgeschottet gegenüber neuen Initiativen der sozialen Fürsorge. Lokale Militärkommandos brachten sich vielmehr um die Jahrhundertwende in zivilgesellschaftliche Aktivitäten der Arbeitsvermittlung ein und gingen darin über den Kreis der Berufssoldaten hinaus. Vorbildwirkung hatte dabei die Kooperation zwischen dem »Central-Stellenvermittlungsbureau deutscher Kaufleute und Industrieller in Böhmen« und dem 8. Korpskommando in Prag / Praha. Das Kommando machte alle Wehrpflichtigen, die in die Reserve übertraten und kaufmännischen Berufen angehörten, auf die Stellenvermittlung durch den Verein aufmerksam.27 Nachdem die Zeitschrift »Soziale Rundschau«, welche das Arbeitsstatistische Amt des cisleithanischen Handelsministerium herausgab, über die Aktion und ihren Erfolg berichtet hatte,28 folgte 1902 die von Ernst Mischler geleitete Arbeitsvermittlung des Landesverbandes für Wohltätigkeit Steiermark. Sie bat das Kriegsministerium um Erlaubnis, um Stellenverzeichnisse für landwirtschaftliche Arbeiter an die Korps- und lokalen Truppenkommanden aussenden zu dürfen.29 Ein Jahr später trat die niederösterreichische Landesregierung, der Landesausschuss, an die Militärverwaltung heran, um ebenfalls eine agrarwirtschaftliche Stellenvermittlung für Reservisten zu organisieren.30 Anders als oft portraitiert,31 erwies sich die Militärverwaltung als offen gegenüber Initiativen aus der Zivilgesellschaft. Diese Ausweitung des Hand25 ÖStA, KA, KM, Präs., Kt. 21, Referat, S. 6. 26 Ebd. 27 o. A., Arbeitsvermittlung für aus der Liniendienstpflicht tretende Soldaten. 28 o. A., Arbeitsvermittlung für Militär-Urlauber und Reservisten in Österreich. 29 o. A., Arbeitsvermittlung für Reservisten in Steiermark. 30 o. A., Dienstvermittlung für Militär-Urlauber und Reservisten in Niederösterreich. 31 Deak u. Gumz.

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lungsspielraumes der Militärverwaltung in den Bereich der Fürsorge vollzog sich als »diskrete Anpassung«, ohne neuen gesetzlichen Auftrag. Zugleich sammelte die Militärverwaltung so bereits vor dem Ersten Weltkrieg Erfahrungen in einem Aufgabenbereich, der später auch in der sozialen Re-Integration für Kriegsversehrte Bedeutung erlangen sollte. 1.1.2 Das Fundament: Das Militärversorgungsgesetz von 1875 Die Grundlage für die finanzielle Versorgung österreichisch-ungarischer Soldaten bildete das Militärversorgungsgesetz (MVG) von 1875.32 Die Verabschiedung des Gesetzes spiegelte wider, wie die allgemeine Wehrpflicht das Verhältnis zwischen männlicher Bevölkerung und Staat, aber auch zwischen Militär und Gesellschaft veränderte. Wie zeitgenössisch bereits Ferdinand Schmid, Professor für Verwaltungslehre und Verwaltungsrecht an der Universität Innsbruck, betonte, stellte das MVG einen historischen Wendepunkt dar. Zwar bestanden Formen der finanziellen Versorgung für Angehörige des Militärs im Habsburgerreich zum Teil seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.33 Diese waren jedoch vor allem auf Offiziere ausgelegt und als gnadenweise gewährte Leistungen konzipiert. Das MVG verrechtlichte diese Ansprüche auf finanzielle Fürsorge und gewährte sie außerdem nicht mehr nur Offizieren, sondern auch Unteroffizieren »und selbst Mannschaftspersonen«, wie Schmid hervorhob.34 Der Staat sah sich also nicht mehr nur gegenüber der militärischen Elite in einer Fürsorgepflicht, sondern auch gegenüber einfachen Soldaten.35 Trotz dieser Neuerungen blieb die kategorische Unterscheidung zwischen Offizieren und Mannschaft zentral für die Militärversorgung. Das MVG war geprägt vom Zweck des Standeserhalts, der Vergleich zwischen den Rentenansprüchen von Offizieren und zivilen Staatsbeamten war dabei konstitutiv für die Schwerpunktsetzung der Militärversorgung.36 Der militärische Rang war für das Ausmaß der finanziellen Leistungen maßgeblich, daneben war auch die Dauer der Dienstzeit relevant. Aber der Rang bestimmte auch, auf welche Art der Versorgung ein Anspruch bestand: Offiziere konnten nach 40 Jahren Dienstzeit in den Ruhestand versetzt werden, ohne dass ihre Militärdienstuntauglichkeit festgestellt werden musste.37 Dabei existierten verschiedene Bedingungen, unter denen Kalenderjahre oder -monate für die Dienstzeit erhöht angerechnet wurden.38 Für Unteroffiziere bestand eine ähnliche Rege-

32 Für Cisleithanien erlassen mit: RGBl. 158/1875, Gesetz vom 27. Dezember 1875 betreffend die Militärversorgung der Personen des k. k. Heeres, der k. k. Kriegsmarine und der k. k. Landwehr. 33 Wunder. 34 Schmid, Das Heeresrecht der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, S. 417. 35 Pawlowsky u. Wendelin, Die Wunden des Staates, S. 53–56. 36 Wagner, S. 304. 37 RGBl. 158/1875, § 2. 38 RGBl. 158/1875, §§ 8–13.

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lung bei 18 ununterbrochen geleisteten Dienstjahren.39 Im Gegensatz dazu waren für einfache Soldaten lediglich Invalidenrenten vorgesehen. Das bedeutete, dass sie nur dann Anspruch auf finanzielle Versorgung hatten, wenn sie durch ihren Dienst in den Streitkräften militärisch dienstuntauglich (»invalid«) geworden waren. Der Invaliditätsbegriff des MVG war dabei allein auf militärische Zwecke ausgerichtet, nicht auf die bürgerliche Erwerbsunfähigkeit. Zusätzlich zu ihrer Dienstuntauglichkeit mussten Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaftssoldaten jedoch mindestens zehn Jahre gedient haben, um Anspruch auf eine Invalidenrente zu erhalten. Die Priorisierung langer Dienstzeiten als Anspruchskriterium demonstriert, dass die Gesetzgeber 1875 die Versorgung noch primär als Anreiz verstanden, um lang dienende (Berufs-)Soldaten zu rekrutieren.40 Diese Ausrichtung der Militärversorgung auf die Berufssoldaten innerhalb der Wehrpflichtigenarmee sollte bis zum Ersten Weltkrieg erhalten bleiben. Dienstgrad und -dauer führten außerdem zu drastischen Unterschieden in der Höhe der Rente: Für Offiziere betrug sie mindestens 600 Kronen jährlich und konnte je nach Dauer der Dienstzeit bis zu ihrem vollständigen früheren Offiziersgehalt aufgestockt werden. Ein Offiziersstellvertreter, der höchste Rang der Mannschaftsgrade, erhielt eine jährliche Invalidenrente von mindestens 216 und maximal 468 Kronen nach zehn bzw. 30 Dienstjahren. Für einen einfachen Soldaten belief sich die Jahresrente jedoch nur noch auf einen Betrag von mindestens 72 Kronen und auf höchstens 156 Kronen nach 30 Dienstjahren; Matrosen der untersten Ränge waren etwas bessergestellt und bezogen geringstenfalls 84 und maximal 182 Kronen.41 Gerade diese Festschreibung spezifischer Rentensätze trug dazu bei, dass die Militärversorgung rasch überholt war. Wie niedrig die Jahresrenten der Militärinvaliden bereits um die Jahrhundertwende im Vergleich zu anderen Fürsorgeleistungen ausfielen, wird deutlich, wenn man sie mit der zeitgenössischen Armenunterstützung der Stadt Wien vergleicht: Erwerbsunfähige Personen konnten dort Unterstützung im Betrag von höchstens 20 Kronen, in besonders schweren Fällen sogar 30 Kronen pro Monat erhalten.42 Für Unteroffiziere und Mannschaftssoldaten waren Renten jedoch nicht nur niedriger bemessen, sie waren auch schwerer zu erhalten. So wurde etwa von den 10.941 Mann, die im Jahr 1880 als dauerhaft ›invalid‹ aus der Armee entlassen

39 Die Rente für Unteroffiziere wurde dabei im Gesetz ebenfalls als Invalidenrente bezeichnet, war aber nicht an die militärische Dienstuntauglichkeit gekoppelt, sodass sie einer Altersrente gleichkam. RGBl. 158/1875, § 74. 40 Wagner, S. 593–594. 41 RGBl. 158/1875, § 15, Beilage I Schema über die jährliche Gebühr an Invalidenpension der invaliden Mannschaft des k. k. Heeres und Beilage IV Schema über die jährliche Gebühr an Invalidenpension der invaliden Mannschaft der k. k. Kriegsmarine. Die ursprünglichen Guldenbeträge wurden nach der Währungsreform 1892 im Verhältnis 1 Gulde = 2 Kronen in die neue Kronenwährung umgerechnet. 42 Melinz u. Zimmermann, S. 155.

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wurden,43 nur 299 Personen des Mannschaftsstandes eine Invalidenversorgung zuteil.44 Ansonsten waren ehemalige Militärangehörige auf die Armenversorgung angewiesen. Maßgeblich dafür verantwortlich war die Bedingung der zehnjährigen Dienstzeit. Zwar war ein Anspruch auch davor möglich, allerdings kam dann eine weitere Bedingung zum Tragen: Soldaten mussten militärisch ›invalid‹ und zusätzlich erwerbsunfähig sein.45 Dienstuntauglichkeit und Erwerbsunfähigkeit gingen jedoch nicht notwendigerweise Hand in Hand. In einem militärärztlichen Artikel heißt es dazu lapidar: [Eine] Verkrümmung von Zehen, die das Tragen der militärischen Fußbekleidung nicht zuläßt, macht zum Militärdienst untauglich, wird den Mann aber in seiner Arbeit kaum behindern.46

Dies wurde dadurch noch verschärft, dass weder der Begriff der Erwerbsunfähigkeit noch ihr notwendiges Ausmaß im Gesetz näher bestimmt waren. Die verantwortlichen Kommissionen bei den Kommanden, die sogenannten Superarbitrierungskommissionen, verfügten daher über breiten Interpretationsspielraum in der Bewertung von Ansprüchen. Noch am Vorabend des Ersten Weltkrieges bezeichneten Militärärzte dies als ein ungelöstes Problem.47 Wie später näher ausgeführt wird, scheiterte der Versuch, diesen Punkt des MVG vor 1914 zu reformieren. Wie in der militärischen Besoldung in der österreichisch-ungarischen Armee existierte auch in der Militärversorgung ein System von finanziellen Zuschüssen.48 Neben der Rente kannte das MVG noch zwei weitere Versorgungsleistungen: die Verwundungszulage und die Unterbringung in einem Invalidenhaus, an deren Stelle ebenfalls eine besondere Rente bezogen werden konnte. Hinzu kam die nicht gesetzlich geregelte Personalzulage. Die Verwundungszulage bildete eine finanzielle Entschädigung für körperliche Verletzungen und wurde unabhängig von den Anspruchskriterien für eine Rente verliehen. Ihre Höhe richtete sich einerseits nach dem militärischen Rang, andererseits nach der Schwere der körperlichen Beeinträchtigung. Während sich der Minimalbetrag für Offiziere auf 400 Kronen belief, betrug er bei Unteroffizieren und Mannschaftssoldaten lediglich 96 Kronen und erhöhte sich erst bei Verlust zweier Gliedmaßen oder weitgehender Erblindung auf 288 Kronen.49 Mithilfe der Verwundungszulage konnte so zumindest teilweise die Versorgungslücke geschlossen werden, die durch die enge Definition des Invalidenrentenanspruchs 43 III. Section des technischen und administrativen Militärcomité, Militärstatistisches Jahrbuch für die Jahre 1880, 1881 und 1882, S. LI. 44 Dies., Militärstatistisches Jahrbuch für die Jahre 1880, 1881 und 1882, S. 178–179. 45 RGBl. 158/1875, §§ 4, 73. 46 Schuberth, S. 87. 47 Ebd., S. 83. 48 Melichar u. Mejstrik, S. 1304. 49 RGBl. 158/1875, §§ 35–46, 90–98, bes. §§ 36–38, 91–93.

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bestand. Allerdings spiegelte sie ebenso eine Hierarchie zwischen Verletzungen und Krankheiten wider, da letztere von dieser Entschädigung ausgenommen waren. Schließlich regelte das MVG auch die Unterbringung von Militärpersonen in Invalidenhäusern. Diese Versorgungsform ging zurück auf das frühe 18. Jahrhundert, als in kurzer Folge entsprechende Institutionen in Wien, Prag / Praha und Pest eröffnet wurden.50 Nach einer Phase des Ausbaus zwischen den 1770er und 1860er Jahren durchlief das Invalidenhauswesen im späten 19. Jahrhundert eine Konsolidierung: Die Invalidenhäuser in Wien, Prag / Praha sowie Lemberg / Lwów / Lwiw in Galizien und Tyrnau / Nagyszombat / Trnava in Transleithanien erhielten jene zentrale Stellung, die sie auch im Ersten Weltkrieg einnahmen. Kleinere Häuser wurden ihnen entweder als Zweigstellen unterstellt oder geschlossen.51 Zusätzlich zu ihrer Versorgungsfunktion mussten Invalidenhäuser ab 1913 auch administrative Aufgaben in der Buchführung über Invalidenrentner übernehmen.52 Diese Konzentration auf einige wenige Invalidenhäuser bedeutete jedoch auch, dass 1914 Plätze nur in begrenztem Ausmaß zur Verfügung standen. Zur Aufnahme in ein Invalidenhaus waren nur Offiziere der unteren Dienstgrade vom Hauptmann abwärts, Unteroffiziere und einfache Soldaten berechtigt, wobei die letzteren beiden Gruppen mindestens 30 Dienstjahre vorweisen oder aufgrund ihrer (im Dienst erlittenen) Gebrechen besonders pflegebedürftig sein mussten. Da es sich bei Invalidenhäusern um militärische Einrichtungen handelte, unterlagen die dort Verpflegten weiterhin der militärischen Disziplin. Sie bezogen keine Rente, sondern ihre militärische Besoldung und darüber hinaus erhielten sie Unterkunft, Verköstigung, Bekleidung und medizinische Versorgung. Anstatt im Invalidenhaus zu leben, konnten Anspruchsberechtigte sich auch für den Erhalt eines jährlichen Pauschalbetrages, die sogenannte »Invalidenhauspension«, entscheiden und an ihrem Wohnsitz bleiben.53 Diese Vorgangsweise wurde während des Ersten Weltkrieges ausgeweitet, um die begrenzte Anzahl an Plätzen auszugleichen. Genaue Zahlen über die Kapazitäten der Invalidenhäuser liegen nicht vor. Ende 1875 waren 1.211 Personen in Invalidenhäusern untergebracht,54 in den folgenden Jahrzehnten sank die Zahl dieser Pfleglinge jedoch. Der Sanitätsbericht von 1910 vermerkt, dass in allen vier Einrichtungen zusammen durchschnittlich nur noch 281 Personen untergebracht waren.55 Zwar lässt die Abnahme der Belagszahlen keine Rückschlüsse auf die

50 Cole, Military Culture and Popular Patriotism in Late Imperial Austria, S. 122. 51 Pelzer, S. 136–138; Cole, Military Culture and Popular Patriotism in Late Imperial Austria, S. 124. 52 Zirkularverordnung vom 12. Juli 1913, Abt. 15, Nr. 571, in: Verordnungsblatt für das k. u. k. Heer 55 (1913), 1. bis 62. Stück, S. 132–134. 53 Schmid, Heerwesen, S. 782–783. 54 III. Section des technischen und administrativen Militärcomité, Militärstatistisches Jahrbuch für das Jahr 1876, S. 176. 55 K. und k. Technisches Militärkomitee, S. 106.

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tatsächlich vorhandenen Plätze zu, es zeigt jedoch, dass die Invalidenhäuser am Vorabend des Ersten Weltkrieges kaum über Erfahrungswerte in der Versorgung und Verwaltung einer großen Anzahl von Militärinvaliden verfügten. Die Invalidenhäuser waren dabei durch eine »mixed economy of welfare« gekennzeichnet, in der private und staatliche Leistungen ineinandergriffen.56 Öffentliche und private Stiftungen spielten bis ins frühe 20. Jahrhundert eine wichtige Rolle bei der Finanzierung von Versorgungsplätzen.57 Der Stifter oder die Stifterin konnte den begünstigten Personenkreis selbst definieren, wobei sie oft ältere Verknüpfungen von sozialer Zugehörigkeit und Fürsorge reproduzierten, etwa indem sie Plätze für ehemalige Soldaten bestimmter Regimenter finanzierten.58 Diese militärischen Verbände nahmen eine starke identitätsstiftende Rolle in der österreichisch-ungarischen Armee ein.59 Darüber hinaus konnten die Stiftungen aber auch Personen begünstigen, die aus einer Region oder Gemeinde stammten. Gleichzeitig wurden viele dieser privaten Stiftungen vom österreichisch-ungarischen Kriegsministerium verwaltet.60 Die staatliche Militärversorgung verdrängte lokale Philanthropie also nicht einfach, sondern griff sie produktiv auf und verband imperiale und lokale Fürsorgebeziehungen miteinander. 1.1.3 Neue Anspruchsberechtigte: Militärtaxfonds und Unterhaltsbeitragsgesetz Die Aufwertung des Wehrdienstes als Bürgerpflicht zeigt sich auch in der Festschreibung einer sogenannten Militärtaxe im Wehrgesetz von 1868.61 Sie war eine finanzielle Militärdienstersatzleistung, die von jenen zu zahlen war, die vom Militärdienst befreit bzw. dienstuntauglich waren oder emigrierten, wobei ihr Ausmaß nach Vermögen und Einkommen des Betroffenen gestaffelt war. Tatsächlich umgesetzt wurde die Militärtaxe jedoch erst 1880 mit jeweils eigenständigen Gesetzen in Cis- und Transleithanien.62 Aus den Einkünften der Taxe wurde der Militärtaxfonds gebildet, der wiederum in die Militärversorgung eingebunden war. Der Fonds sollte drei Zwecken dienen: erstens der Erhöhung der Renten für die sogenannten »Patentalinvaliden«, das waren jene Personen, die vor dem Jahr 1875 in die Militärversorgung eingetreten waren und für welche das MVG nicht galt; zweitens der Verbesserung der Lage von Rentenempfängern nach dem MVG durch sogenannte »Personalzulagen«. Das waren finan-

56 Michel; Stewart. 57 Pelzer, S. 134–136; Berger, S. 108–141. 58 Berger, S. 113–121. 59 Allmayer-Beck, S. 89; Cole, Military Culture and Popular Patriotism in Late Imperial Austria, S. 129. 60 Berger, S. 113–121. 61 Wagner, S. 490–491. 62 RGBl. 70/1880, Gesetz vom 13. Juni 1880 betreffend die Militärtaxe, den Militärtaxfond und die Unterstützung der hilfsbedürftigen Familien von Mobilisierten. Vgl. zu den beiden Gesetzen: Fersch.

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zielle Zuschüsse, die individuell vom Monarchen verliehen wurden und auf die daher kein Rechtsanspruch bestand. Außerdem sollte der Taxfonds drittens zur Versorgung der Familien mobilisierter Soldaten und der Hinterbliebenen Gefallener herangezogen werden.63 Durch diese Ausweitung der Militärversorgung auf neue soziale Gruppen war das Militärtax-Gesetz prägend für die folgenden Jahrzehnte. Einerseits bedeuteten diese Bestimmungen eine teilweise Umsetzung jahrelanger Forderungen, die Invalidenversorgung zu verbessern und die Hinterbliebenen von Militärpersonen denjenigen von Staatsbeamten gleichzustellen, für die bereits entsprechende Regelungen bestanden.64 Andererseits verweist das Militärtax-Gesetz auf Lerneffekte durch die Okkupation Bosnien-Herzegowinas 1878/79. Diese Operation erforderte die Mobilisierung von mehr als einem Viertel der Divisionen Österreich-Ungarns und fiel damit deutlich umfangreicher aus als ursprünglich vorhergesehen.65 Nachdem das Militärtax-Gesetz eine eigenständige Regelung der Witwen- und Waisenrenten nur in Aussicht gestellt hatte, wurde 1882 ein Übergangsgesetz erlassen, um spezifisch die Ansprüche jener Hinterbliebenen zu regeln, deren Ehemänner bzw. Väter während der Okkupation gefallen waren.66 Ein eigenständiges Gesetz zur Witwen- und Waisenversorgung wurde schließlich 1887 verabschiedet und 1907 reformiert.67 Von größerer Bedeutung für die Versorgung von Kriegsversehrten waren jedoch die Bestimmungen zum Unterhalt der Familien mobilisierter Reservisten. Diese griff die cisleithanische Regierung im Ersten Weltkrieg auf, um die finanzielle Unterstützung von Kriegsversehrten und ihren Familien zu verbessern.68 Laut dem Gesetz konnten »hilfsbedürftige« Familien mobilisierter Reservisten aus dem Militärtaxfonds eine Unterstützung beziehen.69 Im Jahr 1912 wurde dieser Anspruch für Cisleithanien in ein eigenständiges Gesetz überführt, das Verfahren genauer bestimmt und der Bezug der Unterstützung stärker verrechtlicht. Diese Neufassung war Teil eines umfassenderen Prozesses, um die österreichisch-ungarische Monarchie und ihre Streitkräfte auf einen Kriegsfall vorzubereiten.70 Gegenüber dem Gesetzestext von 1880 wurde nun stärker betont, dass die Unterstützung eine staatliche Gegenleistung für den Kriegsdienst der männlichen Familienangehörigen sei. Um dies deutlicher zu machen und

63 Stöger, Militärtaxe. 64 Zur Invalidenversorgung: StPAH, VIII. Session, 67. Sitzung, 27.10.1874, S. 2472. 65 Ruthner; Wagner, S. 378; Benzce; Donia; Palotas. 66 RGBl. 76/1882, Gesetz vom 10. Juni 1882 betreffend die Unterstützung von hilfsbedürftigen Witwen und Waisen der anläßlich der Unruhen in Süddalmatien und im Occupationsgebiete gefallenen oder in Folge von Verwundungen oder von Kriegsstrapazen gestorbenen Militärpersonen. 67 Berger, S. 81–90. 68 Pawlowsky u. Wendelin, Die Wunden des Staates, S. 61–67. 69 RGBl. 70/1880, § 17. 70 Hauptmann, S. 51.

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die Unterstützung von der Armenfürsorge abzugrenzen, gab man ihr nun die Bezeichnung »staatlicher Unterhaltsbeitrag«.71 Wie in anderen europäischen Staaten sahen die Regierung und das Parlament Cisleithaniens den Staat in der Pflicht, im Kriegsfall die Rolle des »Ernährers der Familie« ersatzweise zu übernehmen.72 In der Konzeption der Unterstützung im Militärtax-Gesetz vermieden das Kriegsministerium sowie die cis- und transleithanischen Regierungen das zentrale Problem der Militärinvalidenrenten nach dem MVG von 1875: Die Höhe der Renten war im Gesetz festgelegt, weshalb sie mit jedem Jahr weniger den tatsächlichen Lebenshaltungskosten entsprachen. Die Unterstützung für Familien richtete sich hingegen nach der Vergütung für die Militärdurchzugsverpflegung. Das war jene finanzielle Entschädigung, welche die Militärverwaltung bei der Einquartierung von Truppen dem Quartiergeber auszahlte. Wenn die Angehörigen mobilisierter Soldaten Wohnungsmieter waren, hatten sie außerdem Anspruch auf einen Mietzinsbeitrag in halber Höhe der Unterstützung. Die Militärverwaltung konnte die Kosten der Militärdurchzugsverpflegung jährlich neu bewerten und sie an die Inflation anpassen. Tatsächlich wurde dieser Vorgang während des Ersten Weltkrieges jedoch nicht genutzt, stattdessen musste eine Erhöhung des Unterhaltsbeitrages von der Militärverwaltung initiiert und von den Finanzministerien genehmigt werden.73 Die Entscheidung über die Zuerkennung von Unterhaltsbeiträgen oblag jedoch nicht allein der Militärverwaltung, stattdessen wurden Schnittstellen zu zivilen Behörden geschaffen. Die Unterhaltsbeiträge mussten beim Gemeindeamt des ständigen Aufenthaltsortes beantragt werden. Über die Zuerkennung entschieden wiederum Unterhaltskommissionen, die nach dem Gesetz von 1912 im Mobilisierungsfall auf Bezirks- und Landesebene einzurichten waren. Sie unterstanden zwar dem cisleithanischen Ministerium für Landesverteidigung, waren aber mit führenden Beamten der lokalen Zivilverwaltung besetzt, denn von diesen lokalen Akteuren erwartete die cisleithanische Regierung eine bessere Kenntnis der Verhältnisse der antragstellenden Familien.74 Von zentraler Bedeutung sollte dabei jene Frage werden, die auch in der Sozialversicherung regelmäßig aufgeworfen wurde: Wie bestimmte man die Abhängigkeit einer Familie vom Einkommen des mobilisierten Mannes? Die Militärverwaltung war also keineswegs eine in sich geschlossene, von der zivilen Bürokratie entkoppelte Institution.75 Vielmehr zeigt sich im Unterhaltsbeitragsgesetz, dass sich die Militärversorgung bereits vor dem Ersten Weltkrieg zumindest teilweise für neue Akteursgruppen öffnete. Gerade dort, wo es nicht mehr um rein interne Anspruchskriterien wie etwa die Tauglichkeit ging, betrachtete man die 71 Ebd., S. 52–53. 72 Grayzel, S. 9–26; Pedersen; Kundrus, S. 43–97. 73 Hauptmann, S. 57–63, 87. 74 StPAH, XXI. Session, Nr. 1729 der Beilagen, S. 8. 75 Deak u. Gumz.

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Kooperation ziviler und militärischer Stellen als sinnvoll, um zusätzliche Wissensbestände in die Entscheidungsfindung über Versorgungsleistungen einfließen zu lassen. Gerade vor dem Hintergrund dieser Weiterentwicklung der Militärversorgung durch die Ausweitung der Anspruchsberechtigten und die Einbindung zusätzlicher Akteure ist die Aufrechterhaltung des MVG von 1875 besonders erklärungsbedürftig. 1.2 Die ausbleibende Reform des MVG 1900–1914 Tatsächlich stieß das Kriegsministerium bereits 1901 und damit deutlich früher als bisher von der Forschung angenommen eine Neufassung des MVG an.76 Die Herausforderungen für das Kriegsministerium waren groß, da es formell der Zustimmung des Monarchen sowie der Regierungen und Parlamente beider Reichshälften bedurfte. Dabei trafen in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg zwei Entwicklungen aufeinander, welche die politischen Handlungsspielräume der Armee einschränkten. Zum einen verfolgte die österreichischungarische Armeeführung eine umfassende Modernisierung der Streitkräfte in Vorbereitung auf einen bevorstehenden Krieg, welchen der Generalstab für zunehmend wahrscheinlich hielt.77 Gerade diese Aufrüstungsprojekte lösten jedoch erheblichen politischen Widerstand gegen den zusätzlichen Finanz­ bedarf der Streitkräfte für sozialpolitische Maßnahmen aus. Diese Spannungen wurden dadurch verschärft, dass zum anderen militärpolitische Fragen ab der Jahrhundertwende immer wieder schwelende Konfliktlagen des Dualismus akut werden ließen. Diese Spannungen innerhalb der Reichsstruktur Österreich-Ungarns sowie die Wahrnehmung, dass der finanzielle Handlungsspielraum des Reichs enger wurde, machten militärische Sozialpolitik zwar nicht unmöglich. Aber sie erforderten eine zeitintensive Koordinierung des Kriegsministeriums mit den Regierungen beider Reichshälften und daher Prioritätensetzung bei militärpolitischen Vorhaben sowie eine diskursive Rahmung dieser Projekte, die in beiden Reichshälften Zustimmung hervorrief. Die MVG-Reform entwickelte sich jedoch – ganz ähnlich wie die ab 1901 verfolgte Reform der Sozialversicherung in Cisleithanien78  – zu einem ambitionierten Projekt, das multiple Problemfelder gleichzeitig in Angriff nehmen sollte: Der Kreis der Bezugsberechtigten sollte ausgeweitet und die Qualität der Militärversorgung verbessert werden. Schließlich sollte die Militärversorgung für Soldaten und Hinterbliebene legislativ konsolidiert werden. 76 Pawlowsky u. Wendelin, Die Wunden des Staates, S. 62–63. 77 Kronenbitter, S. 100–144, 317–428; Sondhaus, S. 85–86, 94–97, 105–107; Rauchensteiner, Zum ›Operativen Denken‹ in Österreich 1814–1914. 78 Siehe Kapitel A 2.3.3.

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Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges kam die Reform nicht über das Stadium informeller Koordinierung hinaus. Diese Langwierigkeit setzte im Kriegsministerium einen Reflexionsprozess in Gang, wie die Reform trotz anhaltender politischer Widerstände durchzusetzen sei. Die MVG-Reform liefert so auch einen Einblick in die Wahrnehmung österreichisch-ungarischer Politik im Kriegsministerium und lässt unterschiedliche Zielvorstellungen innerhalb der Militärverwaltung sichtbar werden. Obwohl die Reform militärische Sozialpolitik für die Soldaten des Mannschaftsstandes bedeutet hätte, blieben ältere Motivlagen der Militärversorgung bestimmend: Für die Führungsspitze des Kriegsministeriums bildete die Gleichstellung des Offizierskorps mit den Zivilstaatsbeamten beider Reichshälften den wichtigsten Zweck der Reform. Im Zusammenspiel mit der Konflikthaftigkeit der Militärpolitik und steigender Militärausgaben im Dualismus führte dies zum Scheitern der Reform. Die umfassende Umarbeitung des MVG war nicht von Anfang an als solche geplant, sondern entwickelte sich dynamisch aus punktuellen Änderungen. Denn nicht die Wahrnehmung prinzipieller Diskrepanzen stieß die Reform an, wie man sie etwa im Spannungsverhältnis zwischen einer primär auf Berufssoldaten ausgerichteten Militärversorgung und einer Wehrpflichtigenarmee sehen könnte. Den Anlass lieferte stattdessen eine Änderung der Versorgung für Zivilstaatsbeamte in Cisleithanien im Jahr 1896, welche die Ministerialbeamten auch für Offiziere einführen wollten.79 Der Generalstab reflektierte zwar seit 1889 über die transformative Wirkung der Wehrpflicht und neuer Waffensysteme auf zukünftige Kriege.80 Diese kriegstheoretischen Überlegungen erzeugten jedoch keinen unmittelbaren sozialpolitischen Handlungsdruck für die Versorgung der einfachen Soldaten. Trotzdem eröffnete diese punktuelle Änderung einen Kommunikationsraum über das MVG als Ganzes. Einzelne Abteilungen des Kriegsministeriums nutzten die Gelegenheit, um weitere Probleme der Militärversorgung aufzuzeigen und Lösungen vorzuschlagen. Aber erst als die Landesverteidigungsministerien beider Reichshälften dafür plädierten, anstelle partikularer Modifikationen ein neues Gesetz auszuarbeiten, wurde eine Reform zum neuen Ziel der Militärverwaltung und die 9. Abteilung des Kriegsministeriums erhielt den Auftrag eine Revision des MVG auszuarbeiten.81 Eine wichtige koordinierende Rolle kam dabei dem damaligen Sektionschef und späteren Kriegsminister Franz Schönaich zu. Im Jahr 1901 legten die Beamten einen Gesetzesentwurf vor, der weit über die Angleichung der Regularien für Offiziersrenten an diejenigen für Zivilbeamte hinausging. Er enthielt eine Erhöhung der Rentensätze für Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften, eine Verkürzung der Mindestdienstzeit für Offiziere, um eine volle Rente zu erhalten, von 40 auf 35 Jahre, eine stärkere Berücksichtigung von Krankheiten und eine teilweise Einbeziehung der Familien 79 ÖStA, KA, KM, Präs., Kt. 1124, 62-2/3. 80 Kronenbitter, S. 80–81. 81 ÖStA, KA, KM, Präs., Kt. 1124, 62-2/3.

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von Unteroffizieren in die Militärversorgung.82 Darüber hinaus war darin auch die Neuregelung der Invalidenrenten für Mannschaftssoldaten vorgesehen: Die Ministerialbeamten übernahmen dafür die Prinzipien der Unfallversicherung, dass bereits eine Verminderung der Erwerbsfähigkeit einen Versorgungsfall darstelle und ihr Ausmaß die Rentenhöhe bestimme. Bereits eine Einschränkung der Erwerbsfähigkeit um 25 % begründete im Entwurf einen Rentenanspruch, bei einer Verminderung um 50 % und bei vollständiger Erwerbsunfähigkeit wurde die Rente zudem um 25 % bzw. 50 % erhöht.83 Allerdings blieb ein weiteres Prinzip unberücksichtigt: Die Anpassung der Rente an das frühere Einkommen des Betroffenen. Rang und Dienstzeit blieben als Determinanten der Militärversorgung auch im neuen Gesetzesentwurf erhalten, trotzdem hätten diese Änderungen den Kreis der Anspruchsberechtigten entscheidend ausgeweitet. Wie das Gesetz von 1875 sollte auch das neue MVG nicht rückwirkend gelten, sondern nur für all jene, die ab 1900 die Militärversorgung in Anspruch nahmen. Gleichzeitig umfasste der Entwurf auch eine Erhöhung der Rentensätze für die anderen beiden Versorgungsgruppen: die »Patentalinvaliden« und jene, die nach dem MVG von 1875 Renten bezogen. Dieser Entwurf kam jedoch über die Phase der internen Beratung nicht hinaus, da die krisenhaften innenpolitischen Verhältnisse der folgenden Jahre eine Verhandlung mit den beiden Regierungen unmöglich machten.84 Die militärpolitischen Beziehungen zwischen den beiden Reichshälften waren seit dem Ausgleich von 1867 immer wieder konfliktgeladen gewesen. Dazu trug die Form des Parlamentarismus in Transleithanien entscheidend bei. Anders als in Cisleithanien weiteten transleithanische Regierungen das Wahlrecht bis 1918 nicht aus, sodass das dortige Parlament von einer magyarischen sozialen Elite dominiert wurde.85 Trotz wechselnder Parteienkonstellationen und Regierungsmehrheiten bestimmte eine Frage die politischen Auseinandersetzungen in Transleithanien von 1867 bis 1918: das Verhältnis zum Ausgleich. Befürworter des Dualismus und Proponenten eines ungarischen Nationalstaates, der nur durch eine Personalunion mit Cisleithanien verbunden war, standen einander gegenüber.86 Die Tatsache, dass die Armee die einzige dualistische Institution darstellte, mit welcher die männliche Bevölkerung des gesamten Habsburgerreichs in unmittelbaren Kontakt trat, machte sie zu einer besonders günstigen Projektionsfläche für nationalpolitische Forderungen im Rahmen Österreich-Ungarns.87 Ab den 1890er Jahren wurden militärpolitische Fragen zunehmend mit Bedeutungsgehalten aufgeladen, die über außenpolitische, strategische und tak82 Ebd., § 3, § 4, § 15, § 16, § 72, Schema. 83 Ebd., § 79. 84 ÖStA, KA, KM, Präs., Kt. 1313, 62-2/2. 85 Sked, S. 213–216. 86 László, S. 461–467. 87 Kronenbitter, S. 151–152; Allmayer-Beck, S. 88–99.

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tische Zielvorstellungen hinausreichten. Stattdessen waren sie dominiert von Auseinandersetzungen um innenpolitische Kräfteverhältnisse und die intraimperiale Gewaltenteilung zwischen Krone, Regierungen und Parlamenten. Bereits anlässlich der Neuverhandlung des Wehrgesetzes im Jahr 1888 kam es zu Tumulten im transleithanischen Parlament und auf den Budapester Straßen. Erst nach Zugeständnissen Franz Josephs konnte das Gesetz verabschiedet werden; eine der wichtigsten Konzessionen war eine scheinbar minimale Änderung in der Bezeichnung der Armee: Aus der kaiserlich-königlichen wurde nun die kaiserliche und königliche Armee. So trivial dieser Einschub erscheinen mag, symbolisierte er für magyarische Politiker die gleichberechtigte Stellung ›Ungarns‹ innerhalb des dualistischen Staatsgefüges und die Eigenständigkeit ›ungarischer‹ Streitkräfte unter dem Oberbefehl des Monarchen. Teile der militärischen Führung und Thronfolger Franz Ferdinand sahen darin hingegen einen Schritt zur Auflösung der Einheit von Armee und Habsburgerreich.88 Besonders Franz Ferdinand reagierte mit scharfer Ablehnung auf jeden Anschein, dass in Transleithanien eigenständige Streitkräfte zuungunsten der gemeinsamen Armee geschaffen würden. Um dies zu verhindern, hintertrieb er Zugeständnisse gegenüber magyarischen nationalpolitischen Forderungen politisch und publizistisch und untergrub die Stellung kompromissbereiter Akteure.89 So erreichte Franz Ferdinand etwa 1908 den Sturz des cisleithanischen Ministerpräsidenten Beck und 1911 des Kriegsministers Franz Schönaich, weil er sie für zu nachgiebig hielt.90 Verschiedene Faktoren trugen dazu bei, dass die militärpolitischen Konfrontationen krisenhaft wurden: Die Badenischen Sprachverordnungen von 1894 hatten nationalistische Konflikte in Cisleithanien verschärft und eine mehrjährige Regierungskrise ausgelöst. In Transleithanien trat kurz nach der Jahrhundertwende ebenfalls eine Destabilisierung der innenpolitischen Verhältnisse ein. 1903 erhoben ungarische Nationalisten die Forderung nach Einführung des Ungarischen als Kommandosprache, was eine scharfe Reaktion vonseiten des Thronfolgers auslöste. Aber auch Franz Joseph bekräftigte im Armeebefehl von Chłopy 1903, dass er an seiner Stellung als Oberbefehlshaber und der Einheit der Armee festhalte. Gleichzeitig wurde diese intensive Auseinandersetzung mit ungarischen Forderungen in der cisleithanischen Politik und Öffentlichkeit als Dominanz der ›ungarischen‹ Reichshälfte im Habsburgerreich wahrgenommen. Daher erhoben das cisleithanische Parlament und Ministerpräsident Ernest von Koerber die Forderung, die gemeinsame Militärpolitik ebenfalls mitzubestimmen. Dadurch wurde jedoch wiederum die innenpolitische Stellung der ungarischen Regierung untergraben.91

88 Rothenberg, S. 195–196. 89 Kronenbitter, S. 63. 90 Allmayer-Beck, S. 132. 91 László, S. 526–528; Rumpler, S. 868–869.

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1903 versuchten die in Transleithanien regierenden Liberalen, sich nationalistische Forderungen in der Militärpolitik anzueignen, um die eigene Position zu festigen. Das dafür verantwortliche »Neunerkomitee« erarbeitete eine Reihe von Vorschlägen, vor allem ging es um eine stärkere Rolle der ungarischen Sprache in der Ausbildung und behördlichen Korrespondenz in den Streitkräften. Die Einführung des Ungarischen als Kommandosprache wurde zwar nicht gefordert. Aber die Gruppe argumentierte, dass die Regelung dieser Sprachenfrage nicht allein in der Entscheidungsgewalt des Monarchen liege, sondern auch in den Kompetenzbereich der transleithanischen Regierung falle. Dieser Anspruch hatte weitreichende verfassungsrechtliche Implikationen und der Streit um den Passus führte zur Spaltung der liberalen Partei, die schließlich die Wahlen 1905 verlor. Danach spitzte sich die Lage weiter zu, da es nun nicht mehr möglich war, das jährliche Rekrutenkontingent aus Transleithanien parlamentarisch zu verabschieden.92 Der Generalstab arbeitete geheime Pläne für einen Militäreinsatz in Transleithanien aus, den Franz Joseph aber schließlich nie anordnete.93 Der vom Monarchen eingesetzte Ministerpräsident Géza Fejérváry ließ 1906 das transleithanische Parlament durch ein Bataillon der Honvéd auflösen. Gleichzeitig drohte Franz Joseph mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts in Transleithanien per kaiserlichem Dekret, um Zugeständnisse der oppositionellen Unabhängigkeitspartei in militär- und außenpolitischen Fragen zu erlangen. Im Gegenzug sollte sie nun die Regierung stellen. Dadurch entspannte sich die politische Lage vorläufig.94 Diese tiefgreifende intraimperiale Krise ließ das Kriegsministerium die MVG-­ Reform mehrere Jahre lang zurückbehalten. Mit der (kurzfristigen) Beilegung der militärpolitischen Auseinandersetzungen schien 1907 der Zeitpunkt gekommen, die Reformpläne wieder aufzugreifen. Zudem war Franz Schönaich 1906 selbst zum Kriegsminister ernannt worden, und er leitete einen Neubeginn der Beratungen ein. Den konkreten Anlass für den neuen Anlauf bildete jedoch wiederum eine Änderung in den Ruhestandsbestimmungen für cisleithanische Zivilstaatsbeamte: Diese konnten nun ohne Feststellung der Dienstunfähigkeit in den Ruhestand treten, wenn sie das 60. Lebensjahr erreicht hatten, unabhängig davon, wie lange sie im Staatsdienst gestanden hatten.95 Erneut stand also die Gleichstellung von Offizieren und Beamten am Beginn der Reformbemühungen. Ein Thema, das auch die Militärpublizistik immer wieder aufgriff.96 Die Konflikte um militärpolitische Fragen waren zwar nun weniger akut als in den vorangegangenen Jahren, die Lage blieb aber weiterhin angespannt. Der Entwurf für das neue MVG sollte das Stadium ministeriumsinterner Beratungen verlassen, und Schönaich war um eine enge Koordination mit den Regierungen 92 Gottas; Stone. 93 Rothenberg, S. 196. 94 Kronenbitter, S. 159. 95 ÖStA, KA, KM, Präs., Kt. 1313, 62-2/1. 96 Berger, S. 101–102; Kronenbitter, S. 201.

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beider Reichshälften bemüht. Gleichzeitig wollte er durch die MVG-Reform nicht das neue Gesetz zur Versorgung der Hinterbliebenen gefährden, das ebenfalls in Verhandlung stand. Im Kriegsministerium war man sich bewusst, dass militärpolitische Vorhaben jahrelang vorbereitet und koordiniert werden mussten, weshalb man das weiter vorangeschrittene sozialpolitische Projekt der Hinterbliebenenversorgung gegenüber der MVG-Reform priorisierte. Daher verfolgte der Kriegsminister zunächst nur das Ziel, ein Stimmungsbild der Regierungen zum neuen MVG zu erhalten.97 Von zentraler Bedeutung war die Zustimmung der beiden Finanzministerien zur Reform. In Cisleithanien zeigte man sich dem Entwurf gegenüber prinzipiell aufgeschlossen, der Finanzminister drängte vor allem auf eine Kostenreduktion durch verschiedene Maßnahmen: Die 35jährige Dienstzeit für Offiziere könne nur dann eingeführt werden, wenn sie an eine Rentenselbstversicherung der Betroffenen gekoppelt sei. Zudem sollten die Rentensätze für Offiziere und Mannschaften herabgesetzt werden.98 Die transleithanische Regierung lehnte eine Weiterverfolgung der Reform jedoch rundheraus ab. Sie stellte sich gegen eine Angleichung an cisleithanische Regularien, weil dadurch die Offiziere der gemeinsamen Armee bessergestellt wären als die transleithanischen Beamten. Angesichts der Konflikthaftigkeit militärpolitischer Fragen in der transleitha­ nischen Öffentlichkeit könne die Regierung »es nicht übernehmen«, einen solchen Gesetzesvorschlag dem Parlament vorzulegen.99 Im dualistischen Staatsgefüge erwies sich das Motiv der Gleichbehandlung aller ›Staatsdiener‹, die ministeriumsintern der primäre Begründungszusammenhang der Reform gewesen war, in den Beziehungen zu den Regierungen als hinderlich für ihre Durchsetzung. Insbesondere militärische Sozialpolitik für Offiziere hatte das Potenzial neue Spannungen zu erzeugen, wenn sich die Armee als gemeinsame Institution einseitig an den gesetzlichen Bestimmungen einer Reichshälfte orientierte. Zwar wurde das Beamtenverhältnis in Cis- und Transleithanien in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zunehmend verrechtlicht, diese Prozesse verliefen jedoch nicht synchron, und die entsprechenden Gesetze waren auch inhaltlich nicht deckungsgleich.100 Während diese Entwicklungen neue sozialpolitische Erwartungshorizonte für die Militärverwaltung eröffneten, schränkte ihre fehlende zeitliche und inhaltliche Kongruenz zugleich das politisch Erreichbare auf den kleinsten gemeinsamen Nenner ein. Auf die politischen Konflikte reagierte das Kriegsministerium flexibel und unternahm in den folgenden Jahren verschiedene Lösungsversuche, die zum Teil parallel verliefen. Sie zeigen, wie anpassungsfähig und beweglich das Kriegsministerium agieren konnte, da es mit unterschiedlichen Argumentationsstrategien und Wegen der Verabschiedung der Reform experimentierte. 97 ÖStA, KA, KM, Präs., Kt. 1313, 62-2/2 ad 2. 98 ÖStA, KA, KM, Präs., Kt. 1313, 62-2/6. 99 Ebd., 62-2/2 ad 2. 100 Heindl, Zum cisleithanischen Beamtentum, S. 1184–1195; Gábor, S. 1227–1236.

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Eine zentrale Rolle nahm dabei die Figur des Monarchen ein. Einerseits versuchte das Kriegsministerium, Franz Joseph als Fürsprecher für Vorhaben gegenüber den Regierungen zu gewinnen. Ein solches Übergehen der Regierungsspitzen unternahm Kriegsminister Schönaich 1908, als er an den Chef der Militärkanzlei Franz Josephs schrieb, um sich über die Ungleichbehandlung der Armee gegenüber der Zivilverwaltung zu beklagen. Gleichzeitig äußerte er die Hoffnung, dass sich Franz Joseph bei den Regierungen für die MVG-Reform einsetzen werde.101 Andererseits ließ sich über den Modus des kaiserlichen Erlasses dem parlamentarischen Gesetzgebungsweg ausweichen. 1909/1910 nutzte man diesen Weg erfolgreich, um eine Aufbesserung der finanziellen Versorgung der niederen Offiziersränge zu erreichen, indem Franz Joseph die Schaffung einer Rentenselbstversicherung dekretierte.102 Zuvor waren Verhandlungen mit den Regierungen beider Reichshälften gescheitert, einen entsprechenden Versicherungsfonds einzurichten. Die rasch eintretende finanzielle Schieflage des Fonds erzeugte jedoch bald unvorhergesehenen sozialpolitischen Handlungsdruck. War diese Rentenselbstversicherung noch eine partikulare Maßnahme, verfolgte das Kriegsministerium auch die Umsetzung zentraler Aspekte der MVG-Reform per kaiserlichem Dekret. Bereits 1908 versuchten die Ministerialbeamten, politisches Momentum für die Reform zurückzugewinnen, indem sie essenzielle Punkte in eine kleinere Gesetzesnovelle kondensierten. Die Kontinuität des bestehenden MVG betrachteten die Beamten dabei als Vorteil, denn kleinere Korrekturen seien politisch leichter zu erreichen, so argumentierten sie.103 Die Ministerialbeamten nutzten »diskrete Anpassungen« als bewusst gewählte politische Strategie. Erneut stand das Offizierskorps im Zentrum, allerdings rahmte man die Reform stärker als Kriegsvorbereitung: Der Kreis der Anspruchsberechtigten wurde auf jene Personen eingegrenzt, die im Truppendienst standen; für Militärbeamte und Lehrer an militärischen Bildungsanstalten galten die neuen Regeln nicht.104 Dazu nutzten die Beamten nun auch kriegstheoretische Überlegungen, um sozialpolitische Schritte gegenüber den Regierungen zu legitimieren: Die Verkürzung der Dienstzeit begründeten sie vor allem über die gestiegenen Anforderungen an die »physische und psychische Leistungsfähigkeit« der Offiziere und Unteroffiziere in ›modernen‹ Gefechten.105 Obwohl dieser Anlauf zu keinem Resultat führte, intensivierte das Kriegsministerium die Verknüpfung von Sozialpolitik und Kriegsvorbereitung. Noch im selben Jahr erarbeitete es eine Neuregelung der Versorgung spezifisch von »Kriegsinvaliden«. Wie beim angestrebten »Kriegsleistungsgesetz«, 101 ÖStA, KA, KM, Präs., Kt. 1352, 62-14/1. 102 ÖStA, KA, KM, Präs., Kt. 1391, 62-2/2; ebd., Kt. 1434, 62-2/9. 103 ÖStA, KA, KM, Präs., Kt. 1352, 62-2/1, Nr. 2852, Note von Sektionschef FML Hugo Hoffmann. 104 Ebd., Entwurf eines Gesetzesartikels, betreffend die Abänderung des Gesetzesartikels LI vom Jahre 1875; ÖStA, KA, KM, Präs., Kt. 1352, 62-2/5. 105 ÖStA, KA, KM, Präs., Kt. 1434, 62-2/8.

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mit dem kriegswichtige Produktionszweige unter militärische Kontrolle gestellt werden konnten, sollten diese Versorgungsbestimmungen im Kriegsfall von der Regierung ohne parlamentarische Zustimmung angeordnet werden können.106 Zugleich sollte die Beschränkung auf »Kriegsinvalide« der Novelle besondere Bedeutung verleihen: Da »es wohl Pflicht jedes Staatsbürgers ist, sein Leben im Interesse des Staates einzusetzen«, sei »es aber […] auch Schuldigkeit des Staates, denjenigen, der […] dann […] in Notlage gerät, zu unterstützen.«107 Aber auch dieser Anlauf einer Reform scheiterte am Widerstand der transleithanischen Regierung, die eine Weiterberatung des Entwurfs auf unbestimmte Zeit verschob.108 Die verschiedenen Versuche, größere Reformschritte zu erreichen, scheiterten auch deswegen, weil die transleithanische Regierung immer wieder keine Stellungnahme abgab oder Termine zur gemeinsamen Beratung verschob.109 Ohne sie abzulehnen und damit zum Gegenstand politischer Auseinandersetzung zu machen, beließ die transleithanische Regierung zahlreiche Vorschläge so im Entwurfsstadium. Auf den ersten Blick scheint diese Vorgehensweise das Bild der österreichischungarischen Armee als demokratiefeindliche Institution zu bestätigen.110 Das Kriegsministerium war bestrebt, seine politischen Ziele mithilfe des Monarchen zu erreichen und so demokratische Institutionen und Prozesse zu umgehen. Trotz dieser Aspekte der Reformversuche greift diese Interpretation zu kurz. Dieses Narrativ übersieht, dass Popularität und parlamentarische Politik für den Kriegsminister durchaus Ressourcen waren, die er gegen die ablehnende Haltung der Regierungen mobilisieren wollte. Bereits 1907 versuchte Kriegsminister Schönaich die Reform »vom sozialpolitischen Standpunkte aus« zu legitimieren.111 Sie käme eben nicht nur Offizieren, sondern auch den Mannschaftssoldaten und damit – so die Implikation – der breiteren Bevölkerung zugute.112 Auch der alten Begründung der Reform, dass Beamte und Offiziere ungleich behandelt würden, verlieh Schönaich so eine neue Ebene: Unter Verweis auf das cisleithanische Vorhaben einer Alters- und Invaliditätsversicherung argumentierte er, dass der Staat nicht nur Zivilbeamte gegenüber Offizieren begünstige, sondern insgesamt für Männer als Erwerbstätige inzwischen weit besser sorge als in ihrer Rolle als Soldaten.113 Der Misserfolg dieser Strategie war auch ein Effekt der unterschiedlichen Formen des Parlamentarismus in den beiden Reichshälften. Zwar betonte Schönaich in den folgenden Jahren gegenüber den beiden Regierungen immer wieder, dass eine Reform der Militärversorgung für die breitere Bevölkerung attraktiv sei und 106 ÖStA, KA, KM, Präs., Kt. 1352, 62-17/1. 107 Ebd. 108 ÖStA, KA, KM, Präs., Kt. 1352, 62-17/2. 109 Etwa ÖStA, KA, KM, Präs., Kt. 1352, 62–2/1; ebd., Kt. 1391, 62-2/4. 110 Deak u. Gumz. 111 ÖStA, KA, KM, Präs., Kt. 1313, 62-2/2. 112 Ebd. 113 Ebd.

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daher parlamentarische Mehrheiten gefunden werden könnten.114 Tatsächlich waren die beiden Parlamente jedoch von unterschiedlichen politischen Konfigurationen geprägt. Während 1907 bei den ersten allgemeinen Parlamentswahlen in Cisleithanien die Christlichsoziale und die Sozialdemokratische Partei große Erfolge feierten, blieb in Transleithanien weiterhin der Gegensatz über die Ausgleichsfrage bestimmend.115 In Cisleithanien forderten mehrere Abgeordnete von der Regierung, das MVG zu reformieren. Der Wehrausschuss des Reichsrats begann sogar 1910, einen eigenen Gesetzesentwurf zur Mannschaftsversorgung auszuarbeiten.116 Der cisleithanische Reichsrat dominierte daher in den Akten des Kriegsministeriums und prägte die Wahrnehmung der politischen Strahlkraft einer MVG-Reform.117 Damit ließ sich jedoch wenig Druck auf die transleithanische Regierung ausüben. Im Vergleich zu diesen Appellen an parlamentarische Politik erwiesen sich partikulare Maßnahmen auf dem Verwaltungsweg als erfolgreicher. Die Regierungen in Cis- und Transleithanien waren ebenfalls gewillt, für eng umrissene sozialpolitische Maßnahmen die jeweiligen Parlamente zu umgehen, um politische Konflikte zu vermeiden. So stimmten die beiden Regierungen der 35jährigen Dienstzeit für Truppenoffiziere schließlich 1910 zu, weil diese auf dem Verwaltungsweg und nicht per Gesetz eingeführt wurde.118 Diese Regelung war allerdings ein Provisorium, denn sie beließ die bestehenden Normen für den Ruhestand unverändert. Stattdessen konnten Offiziere Personalzulagen beziehen, um die nach 35 Dienstjahren gesetzmäßig zustehende Rente zu erhöhen. Dieser finanzielle Zuschuss wurde individuell verliehen und stellte daher keinen Rechtsanspruch dar.119 Der Weg, die MVG-Reform über kaiserliche Erlässe und Verordnungen zu erreichen, entwickelte sich daher nicht nur aufgrund einer antidemokratischen Haltung im Kriegsministerium. Stattdessen resultierte diese Vorgehensweise auch kontingent aus Lerneffekten des Misserfolgs parlamentarischer Politik und des Erfolgs einzelner sozialpolitischer Maßnahmen auf dem Verwaltungsweg. Gleichzeitig verschoben sich zwischen 1908 und 1914 schrittweise die militärpolitischen Prioritäten. Der in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg einsetzende Rüstungswettlauf ließ Österreich-Ungarn militärisch immer weiter hinter die anderen europäischen Großmächte zurückfallen: Kriegsministerium und Generalstab wollten das zumindest teilweise entspanntere Verhältnis mit der transleithanischen Regierung daher nutzen, um Aufrüstungsprojekte nachzuholen, welche die politische Krise in den Jahren zuvor blockiert hatte. Gleichzeitig 114 ÖStA, KA, KM, Präs., Kt. 1313, 62-2/2; ebd., Kt. 1391, 62-2/4. 115 László, S. 474; Rumpler, S. 882–885. 116 Österreichisches Parlamentsarchiv [ÖPA], 392 (34–47–4), Protokolle des Wehrausschusses, Sitzung vom 21. April 1910, Sitzung vom 22. April 1910. 117 ÖStA, KA, KM, Präs., Kt. 1391, 62-2/4. 118 Somogyi, Die Protokolle des gemeinsamen Ministerrates der Österreichisch-Ungarischen Monarchie 1867–1918, S. 313. 119 ÖStA, KA, KM, Präs., Kt. 1434, 62-2/6.

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verengten sich mit dem Ende der Hochkonjunkturphase 1908 die finanziellen Handlungsspielräume. Sozial- und Rüstungspolitik konkurrierten daher in den folgenden Jahren um finanzielle Ressourcen. Als Österreich-Ungarn 1908 Bosnien-Herzegowina annektierte, löste dies eine schwere außenpolitische Krise aus, die Generalstabschef Conrad von Hötzendorf dazu nutzte, für einen Präventivkrieg auf dem Balkan zu plädieren. Zwar konnte sich Conrad nicht durchsetzen,120 die real erscheinende Möglichkeit eines militärischen Konflikts machte Rüstungsvorhaben allerdings politisch konsensfähig. Die Balkankriege 1912/1913 verstärkten diesen Effekt. Kriegsminister Schönaich konnte einen außerordentlichen Kredit von 164 Millionen Kronen für die technische Aufrüstung der Streitkräfte erwirken.121 Parallel zur materiellen Modernisierung sollten die Streitkräfte nun aber auch wachsen. Lange Zeit war die Armee Österreich-Ungarns im Vergleich zu anderen europäischen Mächten weniger teuer gewesen, weil sie relativ klein war. Kriegsminister Schönaich leitete eine Wehrreform ein, welche den Präsenzstand der Armee erhöhen sollte, allerdings im Gegenzug auch eine Verkürzung der aktiven Dienstzeit von drei Jahren auf zwei brachte – ein Schritt, der in Generalstab und Kriegsministerium durchaus umstritten war.122 Diese technischen und personellen Aufrüstungsvorhaben ließen den Etat der Streitkräfte deutlich ansteigen. Schönaich konnte 1911 die Wehrreform durchsetzen, die Armee erhielt 200 Millionen Kronen bis 1915, die Marine außerdem einen außerordentlichen Rüstungskredit im Betrag von 312 Millionen Kronen zugesprochen. Insgesamt beliefen sich die Kosten für die Streitkräfte so 1912 auf mehr als 780 Millionen Kronen. Gegenüber 1906 war damit der Anteil der Militärausgaben am Nettosozialprodukt Österreich-Ungarns von 2,5 % auf 3,5 % gestiegen.123 Allerdings beförderte dies auch Widerstände gegen zusätzliche Erhöhungen des Militärbudgets. Bereits seit den 1890er Jahren beklagten die Finanzministerien Österreich-Ungarns, dass die Militärverwaltung regelmäßig das jährlich veranschlagte Budget überzog.124 Gleichzeitig zu den steigenden Rüstungsausgaben führte die einbrechende Konjunktur ab 1908 dazu, dass die Zolleinnahmen des Reiches stagnierten, wodurch der Anteil der Ausgaben für gemeinsame Angelegenheiten und das Militär an den Haushalten Cis- und Transleithaniens stieg.125 In den Finanzministerien des Reiches erblickte man darin eine drohende Überlastung des Staatshaushalts durch die Rüstungspolitik. Schönaich musste den Regierungen Cis- und Transleithaniens daher versprechen, bis 1915 keine weiteren finanziellen Forderungen zu stellen und den jährlich im Voraus veranschlagten Militärhaushalt nicht mehr zu überschreiten. An diesem »Schönaich-Pakt« hielten 120 Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg, S. 22; Leonhard, S. 45–46. 121 Kronenbitter, S. 171–172. 122 Ebd., S. 146, 166–175. 123 Wagner, S. 591; Kronenbitter, S. 147–148. 124 Somogyi, Die Protokolle des Gemeinsamen Ministerrates der Österreichisch-Ungarischen Monarchie 1867–1918, Bd. V, S. 8–13. 125 Kronenbitter, S. 149.

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die beiden Regierungen auch fest, nachdem der Kriegsminister 1911 zurückgetreten war.126 Paradoxerweise schränkte die sukzessive Expansion militärpolitischer Ausgaben die Möglichkeiten einer MVG-Reform deutlich ein. Innerhalb des Kriegsministeriums wurden daher Stimmen laut, neue Schwerpunkte in der Reform zu setzen. Jene kleinen Schritte der MVG-Reform, die man bisher erreicht hatte, kamen nur dem Offiziersstand zugute. Daher drang die 9. Abteilung zwischen 1910 und 1912 darauf, eine umfassende MVG-Reform zu verwerfen und stattdessen nur eine Neuregelung der Mannschaftsrenten zu verfolgen. Diese könnte »nicht länger hinausgeschoben werden« und man könne für dieses Anliegen »leicht die Zustimmung der beiden Regierungen erlangen«.127 Der cisleithanische Landesverteidigungsminister unterstützte im Jahr 1912 den Standpunkt der 9. Abteilung ebenfalls vehement. Beide verwiesen auf das Vorhaben des Wehrausschusses des cisleithanischen Parlaments, ein eigenes Mannschaftsversorgungsgesetz auszuarbeiten, um die Dringlichkeit und parteiübergreifende Zustimmung zu einem Versorgungsgesetz für die Mannschaft zu demonstrieren.128 Ein entsprechendes Schreiben an die beiden Regierungen war bereits aufgesetzt, als das Präsidialbüro des Kriegsministeriums einschritt und dies verhinderte. Es beharrte auf einer gemeinsamen Verbesserung von Offiziers- und Mannschaftsversorgung: Die Popularität der Verbesserung der Mannschaftsrenten sollte dazu genutzt werden, um Zugeständnisse bei den Offiziersrenten zu erlangen.129 Eine Einigung schien zum Greifen nahe, aber die Verhandlung des Gesetzesentwurfes verzögerte sich erneut auf 1913.130 Die Balkankriege 1912/1913 brachten eine Wende in der Finanzierung der Streitkräfte. Zwar hatte Schönaichs Nachfolger Moritz von Auffenberg rasch begonnen, den »Schönaich-Pakt« zu unterlaufen, indem er Kosten intern umschichtete sowie das geplante Budget erneut überschritt. Nun gingen die Regierungen jedoch von der Übereinkunft mit Schönaich ab und waren bereit, finanzielle Handlungsspielräume auszureizen, allerdings vor allem für die materielle Aufrüstung von Heer und Marine.131 Unter diesen Vorzeichen wurden 1913 die Verhandlungen über die umfassende MVG-Reform fortgesetzt. Nun sollten auch die bisher per kaiserlichem Erlass umgesetzten Maßnahmen legislativ geregelt werden. Allerdings verzögerten zunächst interne Auseinandersetzungen dieses Unterfangen. Denn die gesetzliche Regelung machte provisorisch bereits gelöste Schwierigkeiten wieder akut: Im Präsidialbüro erkannte man, dass eine Einführung der 35jährigen Dienstzeit per Gesetz zu einem Verlust an Handlungsspielräumen führen würde. Durch das System der Personalzulagen von 1910 war die Militärverwaltung bisher in der Lage gewesen, die Versetzung von 126 Ebd., S. 172. 127 ÖStA, KA, KM, Präs., Kt. 1434, 62-2/4. 128 ÖStA, KA, KM, Präs., Kt. 1527, 62-2/4; ebd., 62-2/2. 129 ÖStA, KA, KM, Präs., Kt. 1527, 62-2/4. 130 ÖStA, KA, KM, Präs., Kt. 1527, 62-2/3. 131 Somogyi, Die Protokolle des gemeinsamen Ministerrates der Österreichisch-Ungarischen Monarchie 1867–1918, Bd. VI, S. 63–71.

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Offizieren in den Ruhestand flexibel zu handhaben. Einheitliche gesetzliche Bestimmungen würden dies erneut unmöglich machen, argumentierten die Beamten.132 Gleichzeitig war eine umfassende gesetzliche Regelung notwendig, um den 1909 geschaffenen und in finanzielle Schieflage geratenen Rentenselbstversicherungsfonds für Offiziere unter gesamtstaatliche Verwaltung zu stellen und – so die Hoffnung im Kriegsministerium – dadurch auch zu sanieren.133 So zogen sich die internen Beratungen bis 1914 hin, erst im März 1914 legte das Kriegsministerium den Entwurf den Finanzministerien zur gemeinsamen Beratung vor. Noch nach Beginn des Ersten Weltkrieges wurde am Gesetzestext gearbeitet und der 25. Juli 1914, an dem die teilweise Mobilisierung angeordnet worden war, handschriftlich als neuer Stichtag für die Gültigkeit des Gesetzes eingetragen.134 Zu diesem Zeitpunkt war das cisleithanische Parlament jedoch bereits seit vier Monaten aufgelöst und eine parlamentarische Behandlung des Gesetzes damit unmöglich. Das endgültige Ende der Reformversuche kam jedoch erst im Dezember 1914. Zunächst forderte der cisleithanische Ministerpräsident Karl von Stürgkh in einem Schreiben an den Innenminister vom 29. Dezember 1914, dass die militärischen Versorgungsbestimmungen sich an den Prinzipien der Unfallversicherung orientieren müssten: Die Minderung der bürgerlichen Erwerbsfähigkeit sollte entschädigt werden und nicht allein der Dienstgrad die Höhe der Rente bestimmen. Als Vorbild in dieser Hinsicht nannte Stürgkh die deutsche Militärversorgung.135 Trotz seiner Kritik am MVG kam Stürgkh jedoch mit dem ungarischen Ministerpräsidenten István Tisza und dem Kriegsminister Alexander von Krobatin überein, eine gesetzliche Neuregelung der Militärversorgung erst nach dem Ende des Krieges zu verfolgen, um sie auf parlamentarischem Wege zu verabschieden.136 Somit waren die Bestimmungen des MVG von 1875 auch während des Weltkrieges de jure noch maßgebend für die Zuerkennung und Höhe der Mannschaftsrenten. Das Gesetz von 1875 blieb schließlich nicht deswegen in Kraft, weil der Führung der österreichisch-ungarischen Streitkräfte die Konsequenzen der allgemeinen Wehrpflicht erst mit Beginn des Weltkrieges bewusst wurden.137 Stattdessen handelte es sich – wie bei der Entwicklung der cisleithanischen Sozialpolitik – um eine »kriseninduzierte Kontinuität«. Ab 1901 kursierten zahlreiche Gesetzesentwürfe, welche die Entschädigung für eine Verminderung der Erwerbsfähigkeit als eine zentrale sozialpolitische Entwicklung der Sozialversicherung in die Militärversorgung integriert hätten. Mannschaftssoldaten hätten dadurch zu Beginn des Ersten Weltkrieges leichter Anspruch auf Renten gehabt 132 ÖStA, KA, KM, Präs., Kt. 1572, 62-4/1. 133 ÖStA, KA, KM, Präs., Kt. 1659, 62-4/2. 134 Ebd. 135 ÖStA, AVA, MdI, Präs., Teil 2 Kt. 1862, 19093/1914, S. 4. 136 Ebd., S. 3. 137 Pawlowsky u. Wendelin, Die Wunden des Staates, S. 61.

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und höhere Entschädigungen erhalten als dies zwischen 1914 und 1918 tatsächlich der Fall war. Die krisenhaften Spannungen zwischen magyarischem Nationalismus und den formellen wie informellen militärpolitischen Machtzentren Österreich-Ungarns verzögerten diese Reform jedoch. Wie im Fall der cisleithanischen Sozialpolitik lässt sich das Scheitern der Reform allerdings nicht auf nationalpolitische Konfliktlagen reduzieren. Allerdings führten sie dazu, dass das neue Gesetz nicht während einer Hochkonjunkturphase mit den Regierungen verhandelt werden konnte. So konkurrierten Sozialpolitik und aufholende Rüstungsvorhaben miteinander um politische Akzeptanz und die notwendigen finanziellen Mittel. Die »kriseninduzierte Kontinuität« machte also sozialpolitische Prioritätensetzungen notwendig. Der Umgang des Kriegsministeriums mit dieser »kriseninduzierten Kontinuität« demonstriert zudem, dass eine pauschale Charakterisierung der Streitkräfte als »antidemokratisch« zu kurz greift. Vielmehr erwies sich die Ministerialverwaltung als flexibler Akteur, der bemüht war, durch »diskrete Anpassungen« und Berufung auf politische Mehrheiten wichtige sozialpolitische Vorhaben umzusetzen, auch wenn die Gesetzesreform insgesamt nicht zu erreichen war. Allerdings zeigt sich gerade in der notwendigen Prioritätensetzung, dass innerhalb des Kriegsministeriums ältere Begründungszusammenhänge der MVG-Reform bis 1914 wirkmächtig blieben. Zwar setzten sich selbst unter den Bedingungen budgetärer Beschränkungen und nationalpolitischer Konflikte Ministerialbeamte und Abgeordnete des cisleithanischen Parlaments für eine Reform der Mannschaftsversorgung ein. Trotzdem beharrten führende Akteure im Kriegsministerium auf einer gleichzeitigen Erhöhung der Offiziersrenten, die finanzpolitisch nicht durchzusetzen war. Eine teilweise Behebung der Problemlagen des MVG von 1875, wie sie die Militärverwaltung für Offiziere verfolgte, wurde so bei den Mannschaftsrenten verhindert. Ganz ähnlich wie das Vorhaben einer Sozialversicherung in Cisleithanien unterband Ministerpräsident Stürgkh gemeinsam mit seinem Amtskollegen Tisza die Weiterverfolgung der MVG-Reform nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Das Scheitern der MVG-Reform bedeutete jedoch nicht, dass die erarbeiteten Vorschläge einfach beiseitegelegt und vergessen wurden. Die ab 1907 diskutierten Gesetzestexte unterschieden sich zwar in ihrer Konzeption des Anspruches auf Mannschaftsrenten vom ursprünglichen Entwurf von 1901, aber nicht mehr voneinander. Mannschaftssoldaten sollten nun ab einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 20 Prozent eine Rente erhalten, wobei für die Einschätzung der Erwerbsfähigkeit nicht eine allgemeine Arbeitsfähigkeit, sondern »der bisher bekleidete bürgerliche Beruf« zu berücksichtigen sei.138 Die Gesetzesentwürfe spiegeln in dieser Hinsicht einen internen Konsens über die Regelung der Mannschaftsversorgung wider, der sich vor dem Ersten Weltkrieg herausgebildet hatte und als Ansatzpunkt für die finanzielle Versorgung für Kriegsversehrte während des Ersten Weltkrieges dienen sollte. 138 ÖStA, KA, KM, Präs., Kt. 1313, 62-2/2; ebd., Kt. 1352, 62-2/1.

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2. Das Projekt der Sozialversicherungen Die Einführung einer Unfall- und Krankenversicherung in Cisleithanien 1887/1888 markiert eine Zäsur in der Geschichte des Wohlfahrtsstaates in Österreich-Ungarn. Sie führte in den folgenden Jahren dazu, dass sich Sozialpolitik zu einem eigenständigen politischen Feld entwickelte, das durch Institutionen, sich formierende Interessens- und Expertengruppen sowie eine spezialisierte Presselandschaft Eigendynamiken hervorbrachte und ab den 1890er Jahren auf staatliche Politik zurückwirkte. Die vorausgegangenen fast vier Jahrzehnte seit der Revolution von 1848 und der anschließenden Wiedererrichtung absolutistischer Herrschaft waren jedoch ebenfalls von Relevanz. Nicht nur vollzog sich in diesen Jahren eine beschleunigte sozio-ökonomische und politische Transformation des Habsburgerreiches, die neue gesellschaftliche Herausforderungen mit sich brachte. In diesem Zeitraum begannen cisleithanische Politiker, Beamte und Gelehrte auch, an einem intensiven internationalen Austausch über Fragen der Armut und der sozialen Fürsorge teilzunehmen. Darüber hinaus verfolgten die Regierungen vor und nach 1867 mit korporatistischen Fürsorgeeinrichtungen, gesellschaftlicher Selbsthilfe und Haftpflichtgesetzgebung für Unfälle unterschiedliche Lösungsstrategien, die einander jedoch nicht ersetzten, sondern ab den späten 1860er Jahren koexistierten. Sie lieferten in den 1880er Jahren einerseits sozialpolitische Anknüpfungspunkte und Alternativen zur Versicherung. Andererseits erzeugten sie durch finanzielle Probleme und fehlende soziale Reichweite auch politischen Handlungsdruck. 2.1 Politische Lösungsansätze für Unfälle und Krankheiten (1850–1879) In diesem Punkt sind wir uns fast einig, dass ›Wohltätigkeit‹ zumindest durch ›Voraussicht‹ unterstützt, wenn nicht ersetzt werden sollte, und dass viel zufriedenstellendere Ergebnisse erzielt werden können, wenn man versucht, im Herzen des Armen das Vertrauen in sich selbst und in die eigenen Kräfte zu erwecken und in ihm das Gefühl der Verantwortung für sein eigenes Los und das seiner Familie aufrechtzuerhalten […].1

Mit diesen Worten beschwor der Jurist und Universitätsprofessor Moritz von Stubenrauch, Gesandter der österreichischen Regierung, auf dem Internationalen Wohltätigkeitskongress in London 1862 einen internationalen Konsens im Umgang mit der »sozialen Frage«. Stubenrauch hatte bereits als offizieller Ver1 »On est presque d’accord sur ce point, que la ›bienfaisance‹ devrait être, sinon remplacée, du moins secondée par la ›prévoyance‹ et que des, résultats beaucoup plus satisfaisants peuvent être atteints, quand on tâche de réveiller dans le coeur du pauvre la confiance en soi-même et dans ses propres forces et d’entretenir chez lui le sentiment de la responsabilité de son propre sort et de celui de sa famille.« Stubenrauch, S. 86–87.

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treter des Kaisertums Österreich an den beiden vorangegangenen Kongressen in Brüssel (1856) und Frankfurt am Main (1857) teilgenommen.2 Die absolutis­ tische Herrschaft zwischen 1815 und 1848 und die neoabsolutistische Regierung des Kaisertums Österreich zwischen 1851 und 1860 ebenso wie die cisleithanischen liberalen Regierungen zwischen 1867 und 1879 waren bemüht, die Industrialisierung in der Habsburgermonarchie weiter voranzutreiben, sie förderten den Ausbau des Straßen-, Schifffahrts- und Eisenbahnnetzes und liberalisierten und intensivierten die internationalen Handelsbeziehungen.3 Aber das Kaisertum Österreich / Österreich-Ungarn partizipierte nicht nur an der Industrialisierung und einer zunehmenden innereuropäischen und globalen Vernetzung, sondern die Regierungen verorteten das Habsburgerreich auch aktiv als industrialisierenden Staat, indem sie offizielle Repräsentanten zu internationalen Kongressen zu den gesellschaftlichen Folgen der Industrialisierung entsandten. Die Industrialisierung Österreich-Ungarns galt lange Zeit als »gescheitert«.4 Neuere Forschungen haben dies jedoch relativiert und stattdessen die unterschiedlichen regionalen Entwicklungen innerhalb des Habsburgerreiches und die Wechselwirkungen zwischen den beiden Reichshälften herausgearbeitet.5 Das nördliche Böhmen, Niederösterreich, Oberösterreich, die nördliche Steiermark und Mähren stellten spätestens ab 1870 und bis zum Zerfall des Habsburgerreiches die Kerngebiete industrieller Produktion Österreich-Ungarns dar.6 Nicht nur großstädtische Räume, sondern ländliche und kleinstädtische Regionen wie das nördliche Böhmen, das südliche Niederösterreich im Gebiet um Wiener Neustadt oder die Mur-Mürz-Furche in der Steiermark entwickelten sich im 19. Jahrhundert zu wichtigen Industriestandorten der Monarchie.7 Niederösterreich und Böhmen waren auch die Zentren der österreichisch-ungarischen Maschinenbauindustrie, die 1913 im globalen Vergleich an vierter Stelle hinter den USA, Großbritannien und dem deutschen Kaiserreich lag.8 Die Integration in das internationale Handelssystem, die schrittweise Mechanisierung der Landwirtschaft sowie die Liberalisierung des Grundverkehrs lösten aber auch krisenhafte Prozesse aus. Die ländlichen Unterschichten verloren durch den Einsatz von Dresch- und Sämaschinen an Erwerbsmöglichkeiten und wanderten in die Städte und Industriestandorte ab.9 Der Import von billigem Getreide vom amerikanischen Kontinent und aus Russland traf die cisleitha2 o. A., Congrès International de Bienfaisance de Bruxelles. Session de 1856, Bd. 1, S. 43; o. A., Congrès International de Bienfaisance de Francfort sur le Mein, Session de 1857, Bd. 1. 3 Bruckmüller, S. 198–231, 282–314; Matis, S. 112–120, 218–233. 4 Gerschenkron; kritisch bereits: Good. 5 Klein u. a., S. 63–90; Schulze, Patterns of Growth and Stagnation in the Late Nineteenth Century Habsburg Economy. 6 Bruckmüller, S. 290–291; Banik-Schweitzer, S. 187–191. 7 Banik-Schweitzer, S. 198–213. 8 Schulze, The Economic Development of Austria-Hungary’s Machine-Builduing Industry, 1870–1913, S. 15. 9 Ortmayr, S. 365–367.

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nische Landwirtschaft in den 1870er Jahren ebenfalls hart.10 Auch die (saisonale) Arbeitsmigration innerhalb Österreich-Ungarns und ins Ausland sowie die Auswanderung nahmen zu.11 Gleichzeitig stiegen nicht nur in mechanisierten Industriebetrieben, sondern auch im verlegten Handwerk durch die Zerteilung des Produktionsprozesses in Arbeitsschritte die Anforderungen an die Arbeitstätigkeit und Zeitdisziplin der Arbeitenden bei geringen Löhnen.12 Allerdings lassen sich diese Transformationsprozesse nicht auf ein Wachstum der Indus­ trie und einen Rückgang der Landwirtschaft reduzieren. Fleisch- und Milchproduzenten konnten durch Eisenbahnverbindungen und neue Kühltechnologien weiter entfernte Absatzmärkte erschließen, und in Böhmen und Mähren führte der Anbau von Zuckerrüben für die industrielle Zuckerproduktion zu hohen landwirtschaftlichen Erträgen.13 Die cisleithanischen Kronländer Dalmatien, Galizien und die Bukowina blieben schließlich landwirtschaftlich geprägt, mit jeweils 86,4 Prozent, 80,9 Prozent und 79,3 Prozent der Berufstätigen im Agrarsektor im Jahr 1910.14 Cisleithanien war insgesamt ein höchst dynamischer, aber auch heterogener Wirtschaftsraum, der sowohl stark industrialisierte als auch primär agrarische Regionen aufwies. Zur Beschreibung der sozialen Probleme und Konflikte, die aus diesen sozioökonomischen Transformationsprozessen erwuchsen, bildete sich unter den teilnehmenden bürgerlichen Wissenschaftlern, Sozialreformern und Beamten der unscharfe Begriff der »sozialen Frage« heraus. Dazu trugen internationale Kongresse zur Armenfürsorge, Statistik oder auch zum öffentlichen Gesundheitswesen ebenso bei wie wissenschaftliche Zeitschriften und persönliche Kontakte.15 Mithilfe des Konzepts der »sozialen Frage« wurde eine Vielzahl unterschied­ licher sozialer Phänomene erfasst. Trotz der heterogenen Themen konstituierte sich durch diese transnationalen Austauschprozesse ein gemeinsames wissenschaftliches Instrumentarium, insbesondere die Statistik, um diese gesellschaftlichen Veränderungen zu erfassen. Außerdem boten sie die Möglichkeit, politische Lösungsansätze, die in anderen Städten, Regionen oder Staaten verfolgt wurden, zu beobachten, sich davon abzugrenzen, sie zu übernehmen oder zu modifizieren. Dieser transnationale Austausch führte nicht dazu, dass die einzelnen europäischen Staaten ähnliche Sozialpolitiken verfolgten, aber er ermöglichte doch zunehmend ein (Selbst-)Verständnis als industrialisierte Staaten, die sich mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert sahen und dadurch von anderen Staaten unterschieden.16 Die Teilnehmer dieser Kongresse propagierten dabei keineswegs von Anfang an die Einführung eines öffentlich-rechtlichen Versicherungswesens als 10 Hye, S. 27; Bruckmüller, S. 295–297. 11 Fassmann, S. 174. 12 Bruckmüller, S. 256–277, 316–322; Thompson, S. 56–97. 13 Hye, S. 26–27; Bruckmüller, S. 302. 14 Meißl, S. 349; zur demographischen Entwicklung allgemein: Fassmann, S. 159–184. 15 Leonards u. Randeraad, S. 219–222; Case, S. 72–95. 16 Leonards u. Randeraad; Saunier.

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Lösung der »sozialen Frage«. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts standen vielmehr unterschiedliche Formen gesellschaftlicher Selbsthilfe im Zentrum dieses transnationalen Wissenstransfers unter bürgerlichen Sozialreformern. Stubenrauch selbst war unter anderem als Kassenwart und Vorstandsmitglied des Allgemeinen Hilf- und Sparvereins in Wien aktiv.17 Cisleithanische Politiker und Beamte der neoabsolutistischen wie liberalen Regierungen begriffen die Absicherung im Falle von Krankheit, Unfall, Tod oder Erwerbslosigkeit ebenfalls primär als Aufgabe gesellschaftlicher Selbsthilfe, waren jedoch auch misstrauisch gegenüber dem Politisierungspotenzial von eigenständigen Vereinigungen der Arbeiterbewegung.18 Die neoabsolutistische Regierung schuf mit dem Berggesetz von 1854 und der Gewerbeordnung von 1859 die gesetzlichen Rahmenbedingungen für bestimmte Formen der Selbsthilfe im Falle von Unfall und Krankheit durch Fabriks- und Genossenschaftskrankenkassen sowie die ähnlich funktionierenden Bruderladen bei Bergwerken. Die Zahl der Genossenschaftskrankenkassen blieb allerdings gering.19 Die Gesetze ordneten zwar ein Zusammenwirken von Arbeitgebern und -nehmern an, überließen es jedoch den einzelnen Kassen, die Beiträge, Ansprüche und Höhe der Leistungen zu regeln. Die Folge dieser Bestimmungen war, dass etwa Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen bei Entlassung oder Stellenwechsel ihre Beitragsleistungen verwirkten, weil sie nicht auf eine andere Kasse übertragen wurden. Darüber hinaus beteiligten sich die Arbeitgeber nur zu einem geringen Teil an der Aufbringung der Mittel, was die Kassen in finanzielle Schieflage brachte.20 Auch die zentralstaatlichen Regelungen der Armenfürsorge durch das Reichsgemeindegesetz von 1862 und das Reichsheimatgesetz von 1863 überdauerten die Zeit des Neoabsolutismus, blieben in ihren Grundzügen bis zum Ende der Habsburgermonarchie gültig und prägten sogar die post-imperiale Staatsbürgerschaftspraxis.21 Sie erklärten die Armenfürsorge in Cisleithanien zum »natürlichen Wirkungsbereich« der Kronländer und Gemeinden im Rahmen ihrer Autonomie, ebenso wie die lokale Polizei, das öffentliche Gesundheitswesen und die primäre Schulbildung. Mit der Konstruktion eines »natürlichen« und eines »übertragenen« Wirkungsbereiches der Gemeinden schuf die Regierung 1862 eine Neuaufteilung öffentlicher Aufgaben zwischen dem Zentralstaat, den Ländern und den Körperschaften der Gemeindeselbstverwaltung. Nur in den Angelegenheiten des übertragenen Wirkungsbereiches hatte der Staat eine Aufsichtsfunktion, in den anderen die Kronländer. Die gesetzliche Ausgestaltung 17 Nachdem er Gelder des Sparvereins zur Begleichung von Schulden veruntreut hatte, nahm sich Moritz von Stubenrauch gemeinsam mit seiner Frau im Jahr 1865 das Leben. ­Olechowski, S. 437. 18 Leonards u. Randeraad, S. 112–113; Bruckmüller, S. 304–306, 309–311, 324–328. 19 Hofmeister, Landesbericht Österreich, S. 506–507. 20 Ebd., S. 500, 504–505. 21 Reill u. a.

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der Armenfürsorge oblag daher den Provinzen, ihre Durchführung den Gemeinden. Die beiden Rahmengesetze verankerten jedoch das Heimatrecht als zentrales Prinzip der Armenfürsorge. Gemeinden verliehen das Heimatrecht bei Geburt oder bei Erlangung eines öffentlichen Amtes sowie bei Frauen zusätzlich im Falle der Verehelichung. Kinder erhielten jedoch das Heimatrecht des Vaters oder der ledigen Mutter.22 Das Heimatrecht begründete den Anspruch auf Unterstützung aus der kommunalen Fürsorge. Durch die zunehmende Arbeitsmigration im Zuge der Industrialisierung entsprach diese Regelung jedoch immer weniger den Lebensrealitäten weiter Teile der Bevölkerung.23 So hielt sich laut der Volkszählung von 1890 mehr als ein Drittel der Einwohnerschaft Cisleithaniens außerhalb ihrer Geburtsgemeinde auf, d. h. sie galten an ihrem Wohnort armenrechtlich als ›Fremde‹. Daher hatten sie dort keinen Anspruch auf Unterstützung und konnten in ihre Heimatgemeinde abgeschoben werden, falls sie die Armenfürsorge in Anspruch nehmen mussten.24 Für diese Form sozialer Fürsorge blieb bis 1918 die kommunale Zugehörigkeit bestimmend und nicht etwa die Staatsbürgerschaft.25 Nach 1867 hielten liberale Politiker und Beamte die existierenden Formen sozialer Sicherung aufrecht. Sie erleichterten jedoch zugleich gesellschaftliche Selbsthilfe auf Basis des neuen Vereinsgesetzes von 1867, indem sie staatliche Regelungs- und Kontrollfunktionen in der Praxis lockerten. Eigentlich erbrachten die unterschiedlichen zivilgesellschaftlichen Unterstützungskassen versicherungsartige Leistungen und wären daher nach den Bestimmungen des kaiserlichen Patents vom 26. November 1852 einer stärkeren staatlichen Aufsicht unterlegen. Allerdings behandelten die zuständigen Behörden Unterstützungsstattdessen als Wohltätigkeitsvereine, was ihnen überhaupt erst die Konstituierung nach dem neuen Vereinsgesetz ermöglichte.26 Zahlreiche zivilgesellschaftliche Unterstützungsvereine wurden zunächst auch von Angehörigen des liberalen Bürgertums geleitet und propagierten daher ebenfalls den Gedanken der Selbsthilfe.27 So bauten die unterschiedlichen lokalen Arbeiterbildungseigene Unterstützungsvereine auf, die zum Teil auch finanzielle Hilfe im Falle von Invalidität anboten.28 Diese flexible Handhabung der Vereinsgesetzgebung änderte sich erst mit der Einrichtung eines versicherungstechnischen Bureaus im Innenministerium 1882, das in weiterer Folge die Neugründung nach dem Patent von 1852 und die Anwendung versicherungsmathematischer Grundsätze 22 Spiegel, S. 813. 23 Melinz u. Zimmermann, S. 103–105. 24 K. k. statistische Central-Commission, S. 9. 25 Hirschhausen; Wendelin. 26 Hofmeister, Landesbericht Österreich, S. 513; Wimbersky, S. 851. Zur wohlwollenden Haltung der Ministerialbürokratie gegenüber Arbeiterkrankenkassen siehe auch: Wedrac, S. 220. 27 Konrad, Die Krankenkassen als Formen der Selbsthilfe der jungen Arbeiterbewegung, S. 108–109. 28 Hofinger, S. 176–202; Konrad, Die Krankenkassen als Formen der Selbsthilfe der jungen Arbeiterbewegung, S. 110–111.

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bei den Vereinen forderte.29 Dies war von einer scharfen Repressionspolitik gegenüber der Arbeiterbewegung begleitet, die erst in den 1890er Jahren gelockert wurde.30 Die cisleithanische Arbeiterbewegung entwickelte ebenfalls in transnationalem Austausch politische Forderungen und Lösungsansätze, wie mit den gesellschaftlichen Herausforderungen der Industrialisierung umzugehen sei. Die Führungsriege der frühen cisleithanischen Arbeiterbewegung war aus Deutschland immigriert, und noch in den 1860er und 1870er begriffen sich ihre deutschsprachigen Akteure als Teil der deutschen Arbeiterbewegung.31 Sie kritisierten zum einen die gesetzlich vorgeschriebenen Genossenschaften als zwangsweisen Zusammenschluss von Arbeitgebern und -nehmern. Die Anhänger Ferdinand Lasalles lehnten zudem die bürgerlichen Selbsthilfevereine als nur kurzfristig wirkende Abhilfe ab.32 Die staatliche Repression der 1870er und 1880er Jahre beförderte die anarchistische Radikalisierung eines Teils der Arbeiterbewegung, welcher den Staat als Instrument der Herrschaft der Bourgeoisie ablehnte und auch terroristische Anschläge verübte. Dem stand eine ›gemäßigte‹ Richtung gegenüber, die einerseits mehr politischen Einfluss für die eigene Klientel im Rahmen des Staates erlangen wollte und daher das allgemeine und gleiche Wahlrecht, Koalitionsfreiheit und die Anerkennung der bürgerlichen Freiheiten auch für die Arbeiterschaft forderte. Andererseits verlangten die ›Gemäßigten‹ vor allem eine gesetzliche Regelung der Arbeitszeit, die Einschränkung der Frauenund Kinderarbeit und Maßnahmen zum Schutz der Arbeiterschaft vor Unfällen und Krankheit. Einem staatlichen Versicherungswesen standen die ›Gemäßigten‹ aber ebenfalls bis in die 1890er Jahre kritisch gegenüber.33 Selbst nachdem die Einführung einer gesetzlichen Unfall- und Krankenversicherung bereits beschlossen worden war, blieb die cisleithanische Arbeiterbewegung einer staatlichen Sozialversicherung gegenüber zunächst kritisch eingestellt. So hieß es in der Resolution des Parteitages von Hainfeld an der Jahreswende 1888/1889, auf dem die internen Konflikte der Arbeiterbewegung überwunden wurden und eine Sozialdemokratische Arbeiterpartei für ganz Cisleithanien entstand: »Die Arbeiterversicherung berührt den Kern des sozialen Problems überhaupt nicht.«34 Stattdessen erblickte man im öffentlichen Versicherungswesen ein Mittel, um die Arbeiterbewegung zu untergraben, da die Kosten für soziale Fürsorge durch die Versicherungsbeiträge von den Gemeinden auf die Arbeiterschaft abgewälzt würden. Auch die Resolutionen des Internationalen Arbeiterkongress, der vom 14. bis 21 Juli 1889 in Paris stattfand, und an dem unter anderem Victor Adler und Josef Hybeš als Vertreter der cis29 Fiereder, S. 37–38. 30 Hofmeister, Recht, Staat und soziale Frage, S. 45; Tálos, S. 41–50. 31 Konrad, Deutsch-Österreich, S. 112–113. 32 Ders., Die Krankenkassen als Formen der Selbsthilfe der jungen Arbeiterbewegung, S. 107– 108. 33 Ders., Deutsch-Österreich, S. 30–36. 34 Berchtold, S. 141.

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leithanischen Arbeiterpartei teilnahmen, rückten den Arbeitsschutz und nicht die Etablierung staatlicher Versorgungssysteme in den Vordergrund.35 Ab den 1870er Jahren brachten sich die Vertreter der katholischen Sozialreformbewegung ebenfalls verstärkt in die Debatten um die »soziale Frage« ein. Insbesondere Karl von Vogelsang, die Parlamentsabgeordneten Alfred und Aloys von und zu Liechtenstein, Gustav Blome und Egbert Belcredi traten publizistisch und politisch gegen die liberale Wirtschaftsordnung ein. Basierend auf einer katholischen Sozial- und Arbeitslehre wollten sie den Klassengegensätzen durch berufsständische Repräsentationskörperschaften entgegenwirken, die den Interessensausgleich zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen ermög­ lichen sollten, wobei dem Staat die Funktion eines Mediators zukam. 1875 griffen sie mit einem von Aloys von und zu Liechtenstein veröffentlichten Pamphlet die gescheiterten Vorschläge zur Einrichtung von Arbeiterkammern als Mittel der Repräsentation der Arbeiterschicht auf. Die Vertreter der katholischen Sozialreform forderten zudem ebenfalls einen gesetzlichen Arbeiterschutz, die Verkürzung der Arbeitszeit und die Einschränkung der Frauen- und Kinderarbeit. Eine staatliche Versicherung für die Arbeiterschicht war in den 1870er Jahren aber noch nicht Teil ihres politischen Programms.36 Die liberale Regierung förderte zwar primär gesellschaftliche Selbsthilfe, bereits im Jahre 1868 verfolgte sie jedoch eine gesetzliche Regelung für Entschädigungsfragen nach Unfällen. Am 11. November 1868 ereignete sich bei Hořovice / Horowitz in Böhmen ein schweres Zugunglück, das 38 Menschen das Leben kostete und bei dem weitere 63 Personen verletzt wurden. In Reaktion darauf forderte eine Gruppe von Mitgliedern des Herrenhauses, d. h. der zweiten Kammer des cisleithanischen Parlaments, die Regierung auf, eine bessere gesetzliche Regelung der Entschädigung für solche Fälle zu schaffen. Das entsprechende Gesetz über die Haftpflicht der Eisenbahnunternehmungen, das Justizminister Eduard Herbst am 18. Dezember 1868 dem Herrenhaus vorlegte, kehrte zum einen die Beweislast nach dem Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch (ABGB) um. Ein Eisenbahnunternehmen musste nunmehr beweisen, dass es den Unfall nicht zu verschulden hatte und daher nicht entschädigungspflichtig war. Zum anderen betonte Eduard Herbst in der Debatte im Herrenhaus, dass der Gesetzesentwurf auch in der Hinsicht über die Bestimmungen des ABGB hinausgehe, dass die Schadensersatzpflicht nicht in der Verletzung eines Beförderungsvertrages begründet liege und daher nicht nur die Passagiere, sondern alle durch Eisenbahnunfälle geschädigte Personen erfasse.37 Die Regierung weitete damit die Möglichkeiten, Entschädigungsansprüche zu stellen, zwar bedeutend aus. Gleichzeitig blieben Unfälle aber weiterhin als zivilrechtlicher Entschädigungsfall und als schuldhaftes Ereignis definiert. Zudem war die Ersatzpflicht 35 o. A., Protokoll des Internationalen Arbeiter-Congresses zu Paris, S. 118–127. 36 Grandner, S. 87–92; Drobesch, S. 1445–1456. 37 Stenografische Protokolle des Herrenhauses des Reichsrates 1861–1918 [StPHH], IV. Session, 59. Sitzung (29.1.1869), S. 1515.

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der Eisenbahnunternehmen auf Unfälle im Verkehr beschränkt, sodass diesem Gesetz also noch kein Verständnis von Unfällen als eines statistisch zu ermittelnden Risikos des Arbeitsprozesses zugrunde lag.38 Es wurden 1868 in der Debatte im Herrenhaus aber auch Forderungen laut, die Aufgaben des Staates weiter zu definieren als in der gesetzlichen Regelung privatrechtlicher Ersatzansprüche. Anton von Auersperg plädierte für »eine Art moralischer Mithaftung und Mitverantwortlichkeit und die Pflicht zur Hilfeleistung« des Staates, weil dieser den Eisenbahnausbau vorantreibe.39 Bereits im Vorfeld der Gesetzgebung zu Eisenbahnunfällen brachten andere Abgeordnete wie Moriz Roser Anträge zu einer besseren gesetzlichen Regelung der Arbeitszeit ein, die jedoch sowohl in der Presse als auch im Parlament als staatlicher Eingriff in das freie Übereinkommen des Arbeitsvertrages abgelehnt wurden.40 Das Haftpflichtgesetz für Eisenbahnunternehmen blieb bis zum Ende der liberalen Regierungen ein Sonderfall. Weder wurde es auf andere Betriebe ausgedehnt noch ein eigenes Haftpflichtgesetz erlassen, wie es im Deutschen Kaiserreich 1871 beschlossen wurde.41 Nachdem der Wiener Börsenkrach 1873 eine Wirtschaftskrise ausgelöst hatte, erhielten auch innerhalb der liberalen Partei Forderungen nach einer stärkeren gesetzlichen Regelung der Arbeitsverhältnisse und der Einrichtung von Arbeiterkammern mehr Gewicht. 1876 begann die Regierung, eine Reform der Gewerbeordnung auszuarbeiten, die eine präzisere Normierung der Beiträge und Leistungen der gewerblichen Unterstützungskassen vorsah. Allerdings kam diese Reform vor dem Zerbrechen der Regierung 1879 nicht mehr zum Abschluss.42 Von Anfang an sahen sich die liberalen Regierungen mit zahlreichen Konflikten um ihre politischen, militärischen und ökonomischen Politiken konfrontiert. So gewann die Auseinandersetzung zwischen den vornehmlich deutschsprachigen Vertretern eines zentralisierten Gesamtstaates und jenen einer stärkeren Autonomie der Länder in diesen Jahren erneut an Schärfe. Dieses Spannungsverhältnis hatte sich mit dem Aufkommen der Nationalbewegungen innerhalb des Habsburgerreiches im Verlauf des 19. Jahrhunderts herausgebildet. Dabei war das Verständnis der Länderautonomie nicht unabänderlich, sondern durchlief eine Transformation. 1848 war es noch »ständisch-feudal«43 geprägt, und man verstand darunter das Verhältnis der einzelnen Länder zum Herrscher, wie etwa in der »Böhmischen Charta«. In den frühen 1860er Jahren verschob sich dies hin zur Frage, wie die rechtliche Stellung der Länder insgesamt zum Zentralstaat austariert werden konnte.44 Unter dem Eindruck des österreichisch-unga­ 38 Siehe dazu: Moses. 39 StPHH, IV. Session, 61. Sitzung (1.2.1869), S. 1549. 40 Wadl, S. 214–218. 41 Senghaas, Die Territorialisierung sozialer Sicherung, S. 147–148. 42 Hofmeister, Landesbericht Österreich, S. 487–489. 43 Osterkamp, Geschichte als Argument, S. 15. 44 Dies., Vielfalt ordnen, S. 248–254.

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rischen Ausgleichs erhielt dieses Thema in Cisleithanien zusätzliche Brisanz. Mit polnischsprachigen Politikern wurde bereits 1867 eine Sonderstellung für Galizien ausgehandelt, die zu einer weitgehenden Autonomie 1873 führte und der polnischsprachigen Bevölkerungsgruppe eine privilegierte Stellung gewährte. Für Böhmen konnte trotz zahlreicher Verhandlungen kein vergleichbares Übereinkommen erzielt werden. Die tschechischsprachigen Abgeordneten Böhmens, die bereits 1863 aus Protest den damaligen Reichsrat verlassen hatten, boykottierten daher auch bis 1879 den neu konstituierten Reichsrat.45 Die Neuregelung der Beziehung zwischen Staat und Kirche entfaltete ebenfalls hohes Konfliktpotenzial. Mit den drei sogenannten Maigesetzen von 1868 machte die Regierung weltliche Gerichte für die Ehegerichtsbarkeit zuständig, führte eine Zivilehe für interkonfessionelle Ehen ein, schrieb die Gleichheit aller anerkannten Konfessionen fest und stellte das Unterrichts- und Erziehungswesen unter staatliche Leitung. Diese Reformen lösten vehemente lokale und überregionale katholische Protestbewegungen aus.46 Die letzte liberale Regierung scheiterte jedoch nicht an diesen Konflikten, sondern zerbrach an internen Auseinandersetzungen über die Okkupation Bosnien-Herzegowinas 1878. Diese drehten sich zum Teil um die hohen finanziellen Aufwendungen für die Okkupation, zum Teil darum, dass die slawischsprachige Bevölkerung der Monarchie durch die Okkupation anwuchs und das fragile Gleichgewicht des Dualismus dadurch ausgehebelt werden könnte. Eine zentrale Rolle spielte außerdem die Auseinandersetzung um die Mitsprache des cisleithanischen Parlaments in der Außenpolitik, die eine gesamtstaatliche Angelegenheit war und daher in die Kompetenz des österreichisch-ungarischen Außenministers fiel. Die eigenständige Außenpolitik Gyula Andrássys bei der Okkupation Bosnien-Herzegowinas wurde jedoch von manchen Abgeordneten als Ausschaltung der konstitutionellen Mitbestimmung des Parlaments betrachtet.47 Die Versorgung für durch Unfall- oder Krankheit arbeitsunfähig gewordene Arbeiterinnen und Arbeiter betrachteten cisleithanische Politiker in den 1850er bis 1870er Jahren vornehmlich als Gegenstand eines Übereinkommens von Arbeitgebern und -nehmern im Rahmen der Genossenschaften oder Bruderladen und als Aufgabe gesellschaftlicher Selbsthilfe durch Unterstützungsvereine oder kommerzielle Versicherungsgesellschaften. In den Debatten zur Einführung einer gesetzlichen Unfall- und Krankenversicherung in den 1880er Jahren bildeten diese Formen wechselseitiger Unterstützung und Vorsorge ebenso wie die gesetzlichen Regelungen zur Haftpflicht von Eisenbahnunternehmen

45 Kroatisch- und ungarischsprachige politische Repräsentanten hatten den nach dem Februarpatent von 1861 konstituierten Reichsrat von Anfang an boykottiert, tschechischsprachige Politiker taten dies ab 1863. Vgl. Judson, The Habsburg Empire, S. 269–281; Kwan, S. 122. 46 Judson, The Habsburg Empire, S. 275–288; Cole, The Counter-Reformation’s Last Stand, S. 285–292; ders., Province and Patriotism, S. 61–83. 47 Kwan, S. 85–105.

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wichtige Bezugspunkte für die Ausgestaltung des öffentlichen Versicherungswesens. So demonstrierte das Haftpflichtgesetz die Handlungsmöglichkeiten des Staates, die finanziellen Schwierigkeiten der Genossenschaftskrankenkassen zeigten jedoch auch potenzielle Problemlagen auf. Allerdings bedeutete die Einführung eines staatlichen Versicherungsprinzips mit Beitritts- und Beitragszwang ein fundamental neues Verständnis der Aufgaben des Staates und seiner Möglichkeiten, in gesellschaftliche Beziehungen einzugreifen. Unfallsrisiken sollten nicht mehr durch zivilrechtliche Entschädigungsansprüche oder private Vorsorge abgedeckt werden, sondern durch einen kollektiven und auf Dauer gestellten Risikenausgleich. Zudem sollten soziale Konflikte durch die gemeinsame Versicherung und beiderseitige Beitragsleistung in kooperative Beziehungen umgewandelt werden. 2.2 Die Entstehung des sozialpolitischen Governance-Modells in den 1880er Jahren: Die Unfall- und Krankenversicherung Zu Beginn der 1880er Jahre war die Einführung einer staatlichen Unfall- und Krankenversicherung allerdings noch keineswegs alternativlos. Nach dem Zerfall der liberalen Regierung beauftragte Franz Joseph seinen Jugendfreund ­Eduard Taaffe mit der Regierungsbildung. Es gelang dem Konservativen Taaffe, den Boykott des Reichsrats durch die tschechischsprachigen Abgeordneten Böhmens zu beenden und eine parlamentarische Mehrheit aus deutschsprachigen und nichtdeutschsprachigen klerikalen, konservativen sowie föderal orientierten Abgeordneten zu bilden.48 Der Fokus seiner Regierung lag zunächst auf Maßnahmen des Arbeiterschutzes und auf der stärkeren gesetzlichen Regulierung der verschiedenen bestehenden Unterstützungskassen.49 Zu diesem Zweck begann man, eine Reform der Gewerbeordnung auszuarbeiten; zudem war eine Ausweitung des Haftpflichtprinzips vorgesehen.50 Die Novelle der Gewerbeordnung aus dem Jahr 1883 normierte wiederum die Beitragsleistung und die Stimmenverteilung zwischen Arbeitgebern und -nehmern in den bestehenden Genossenschaftskrankenkassen, gleichzeitig wurden fabrikmäßige Betriebe vom Beitritt zu oder der Bildung von Genossenschaftskrankenkassen ausgenommen.51 Für die Durchsetzung des Projekts einer staatlichen Versicherung als wohlfahrtsstaatliche Handlungsoption waren sowohl innenpolitische Faktoren von Bedeutung als auch der Austausch mit dem benachbarten deutschen Kaiserreich. Ein innenpolitischer Faktor war, dass gewalttätige Unruhen gewerblicher und industrieller Arbeiter und anarchistische Anschläge die frühen 1880er  Jahre prägten, gerade in den Wiener Vorstädten, sodass über Wien zwischen 1884 48 Ebd., S. 111–120. 49 Hofmeister, Landesbericht Österreich, S. 508–511. 50 Ebd., S. 533–534. 51 Ebd., S. 526.

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und 1892 der Ausnahmezustand verhängt wurde.52 Diese Entwicklungen ließen die »soziale Frage« akut erscheinen. Ein weiterer Faktor war, dass erstmals poli­ tische Forderungen nach einem staatlichen Versicherungswesen laut wurden: So verlangten die Deutschnationalen im sogenannten Linzer Programm aus dem Jahr 1882 unter anderem eine Unfallversicherung, zugleich jedoch auch die Einführung einer Haftpflicht für Unternehmer.53 Auch die liberale Opposition bereitete eine sozialpolitische Resolution vor, in der sie unter anderem die Einführung einer verpflichtenden Krankenversicherung und einer Unfallversicherung beantragte.54 Um dieser Resolution zuvorzukommen, verhandelten die Regierungsmitglieder am 23. November 1882 intern über die Einführung einer gesetzlichen Unfallversicherung.55 Danach sprachen Justizminister Alois von Pražák ebenso wie später Finanzminister Julian von Dunajewski im Parlament von einer Kombination der Unfallversicherung mit einem Haftpflichtgesetz.56 Innerhalb der Regierung Taaffe standen also noch Ende 1882 unterschiedliche sozialpolitische Lösungsansätze zur Diskussion. Aber cisleithanische Politiker richteten ihren Blick nicht nur auf das Lokale. Vielmehr spielten transnationale Bezüge in zweifacher Hinsicht in den folgenden Debatten zur Einführung einer gesetzlichen Unfallversicherung eine bedeutende Rolle. Erstens beriefen sich Abgeordnete in den Parlamentsdebatten zur Unfallversicherung im Jahr 1886 auf Arbeiterproteste in Belgien und den USA.57 Das Verständnis von Arbeiterkonflikten als charakteristischem Problem industrialisierter Staaten einerseits und von anarchistischem Terrorismus als international zu bekämpfendes Phänomen andererseits58 wirkten zusammen. Sie ließen es plausibel erscheinen, dass sich Proteste und Gewaltakte in anderen Staaten als »travelling problems« auf Cisleithanien übertragen ließen.59 Zweitens rezipierten cisleithanische Politiker und Beamte die deutschen Gesetzentwürfe für eine Unfallversicherung und die entsprechenden Debatten. Sie gaben schließlich den Ausschlag für die gesetzliche Unfallversicherung. Dabei lässt sich das Verhältnis der cisleithanischen zu den deutschen Gesetzesentwürfen für eine Unfallversicherung nicht auf die Kategorien Nachahmung oder Eigenständigkeit reduzieren.60 Vielmehr nutzten cisleithanische Politiker und Beamte die deutschen Gesetzesvorlagen als Quellen für Informationen und Formulierungen, aber auch als Argumentationsgrundlage, um sowohl die Übernahme von Konzepten und Regelungen als auch Abweichungen von den deutschen Entwürfen zu begründen. Zugleich zeigen die Vorarbeiten zum Un52 John, S. 230–232. 53 Hofmeister, Landesbericht Österreich, S. 521–522. 54 Ebd., S. 78–79. 55 Ebd., S. 521–522. 56 Ebd., S. 533; StPAH, IX. Session, 243. Sitzung (5.12.1882), S. 8468. 57 StPAH, X. Session, 67. Sitzung (20.5.1886), S. 2494. 58 Haupt, S. 167–169. 59 Conrad, Social Policy History after the Transnational Turn, S. 229–230. 60 Siehe für eine solche Perspektive beispielhaft: Hofmeister, Landesbericht Österreich, S. 615.

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fallversicherungsgesetz zwischen 1882 und 1887, wie schrittweise ein Konsens über jene grundlegenden Aspekte des gesetzlichen Versicherungswesens erzielt wurde, die sich in den Jahrzehnten bis zum Ersten Weltkrieg zu einem sozialpolitischen Governance-Modell entwickelten, das auch die Re-Integrationsmaßnahmen für Kriegsversehrte prägte. 2.2.1 Weichenstellungen in der Ministerialbürokratie Den Beratungen in der Ministerialbürokratie an der Jahreswende 1882/1883 kam eine entscheidende Rolle in der weiteren Entwicklung des Gesetzes zu. Zwar dauerte das Gesetzgebungsverfahren in Cisleithanien von den ersten regierungsinternen Verhandlungen 1882 bis zur Annahme im Parlament 1887 länger als in Deutschland. Aber anders als in der deutschen Unfallversicherung wurden die zentralen Elemente der sozialpolitischen Governance bereits in den Besprechungen auf Beamtenebene festgelegt und blieben im Verlauf der Verhandlungen im Reichsrat weitgehend unverändert.61 Daher gilt es diese richtungsweisenden Entscheidungsprozesse näher in den Blick zu nehmen. Am 4. Dezember 1882 legte Emil Steinbach, Jurist und Ministerialrat im Justizministerium, dem Ministerrat einen Entwurf für ein Unfallversicherungsgesetz und ein umfangreiches Memorandum über das Verhältnis von Haftpflicht und Unfallversicherung vor. Es bildete die Grundlage für die weiteren Diskussionen um die Einführung einer gesetzlichen Unfallversicherung.62 Steinbach hatte die seit Februar und März 1881 in Deutschland stattfindenden Debatten um die Einführung einer Unfallversicherung intensiv verfolgt und stützte sich in seiner Denkschrift explizit auf die Vorbehalte gegen das Haftpflichtgesetz von 1871, die im Motivenbericht zum ersten deutschen Gesetzesentwurf für eine Unfallversicherung vorgebracht wurden. Auf dieser Grundlage sprach er sich in seiner Denkschrift gegen eine Ausdehnung des Haftpflichtprinzips aus und plädierte stattdessen für eine gesetzliche Unfallversicherung.63 Bereits Ende 1882 fiel daraufhin im Ministerrat die Entscheidung für die Einführung einer Unfallversicherung, deren konkrete Ausgestaltung jedoch in Beratungen hochrangiger Beamter aus Innen-, Finanz-, Handels- und Ackerbauministerium beschlossen werden sollte.64 Aus dem deutschen Motivenbericht zog Steinbach insbesondere zwei Punkte heran, um die Einführung einer gesetzlichen Unfallversicherung zu begründen: Erstens würden das Prinzip des Verschuldens in der Haftpflicht und die Verhandlung von Entschädigungsansprüchen vor Gericht die sozialen Gegensätze zwischen Unternehmer- und Arbeiterschaft weiter verschärfen. Zweitens untergrabe dies das Ansehen staatlicher Institutionen als Mediatoren in sozia61 Born u. a., Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik Abt. I, Bd. 2; Born u. a., Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik Abt. II, Bd. 2/1. 62 Grandner, S. 97–98. 63 ÖStA, AVA, MdI, Präs., Kt. 588, 930/1883, »Zur Haftpflichtfrage«. 64 ÖStA, AVA, Justizministerium, Kt. 1448, 1066/1883, darin: 287/1883.

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len Konflikten, da gesetzliche Bestimmungen nie alle möglichen Fälle genau erfassen könnten, weshalb Gerichtsentscheidungen mal zugunsten des Arbeitgebers, mal des Arbeitnehmers ausfallen würden. Gerichte würden dadurch als willkürlich und das Gesetz als ungenau erscheinen.65 Dieser Fokus auf die Aufgabe des Staates, in soziale Konflikte vermittelnd einzugreifen und einen Interessensausgleich zu erzielen, stimmte auch mit den Ansichten katholischer Sozialreformer überein.66 Bei den interministeriellen Besprechungen im Januar und Februar 1883 musste Steinbach jedoch die übrigen Ministerialbeamten erst von seiner Ansicht überzeugen, dass sich die Funktion der Unfallversicherung als Institution des Interessensausgleichs zwischen Unternehmern und Arbeiterschaft auch in ihrer inneren Organisation widerspiegeln müsse. So schlug etwa der Vorsitzende, Sektionschef im Innenministerium Gustav von Kubin vor, dass die Handels- und Gewerbekammern die Verwaltung der Unfallversicherungsanstalten übernehmen sollten. Steinbach und die Vertreter des Handelsministeriums verwarfen diesen Vorschlag jedoch mit dem Argument, dass die Arbeiterschaft die Versicherung akzeptieren müsse, damit diese ihre sozial stabilisierende Wirkung entfalten könne. Allein der Anschein einer Vereinnahmung der Versicherung durch die Unternehmer würde diesen erhofften Effekt der Versicherung untergraben.67 Vielmehr würde dadurch jenes »Gefühl der Zurücksetzung gestärkt […], welches jene Kreise [die Arbeiterschaft, T. S.R.] so sehr verbittert«.68 Stattdessen sollte der Vorstand zu gleichen Teilen aus Vertretern der Regierung und gewählten Repräsentanten der Unternehmer sowie der Arbeiterschaft gebildet werden. Die Teilhabe der Arbeiterschaft sollte also die soziale Akzeptanz des staatlichen Versicherungswesens fördern. Gleichzeitig debattierten die Beamten jedoch auch, wie sie die Mobilisierung, die solche Wahlen mit sich brachten, durch eine Einschränkung der Wahlberechtigten und lange Funktionsperioden einhegen könnten. Die Normen für die Wahl des Vorstandes – so beschloss man – sollten nicht gesetzlich festgeschrieben, sondern im Verordnungsweg geregelt und so der parlamentarischen Kontrolle entzogen werden.69 Zudem sei es notwendig, durch die Vertreter der Regierung ein »neutrale[s] Element« in den Vorstand einzubringen, um den Interessenausgleich überhaupt zu ermöglichen. Ansonsten stünden sich »2 entgegengesetzte Strömungen ohne Möglichkeit einer Lösung« gegenüber.70 Trotz dieser Einschränkungen erhielt mit dieser Regelung zum einen die Arbeiterschaft als soziale Schicht Mitbestimmungsrechte, die aufgrund des Kurienwahlrechts von 65 ÖStA, AVA, MdI, Präs., Kt. 588, 930/1883, »Zur Haftpflichtfrage«, 1. bis 5. Bogen. 66 Grandner, S. 97. 67 ÖStA, AVA, MdI, Präs., Kt. 588, 930/1883, Protokoll aufgenommen im k. k. Ministerium des Innern über die Berathung des Gesetzentwurfes betreffend die Unfallversicherung der Arbeiter, Sitzung vom 30.1.1883. 68 Ebd. 69 Ebd., Sitzung vom 31.1.1883. 70 Ebd., Sitzung vom 30.1.1883.

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den Parlaments- und Landtagswahlen großteils ausgeschlossen war. Zum anderen waren damit auch Arbeiterinnen wahlberechtigt. Diese Inklusion war umso wichtiger, da Frauen im Prozess der Ausdehnung des Wahlrechts zum Reichsrat in den folgenden Jahrzehnten immer weiter davon ausgeschlossen wurden. Mit Verabschiedung des allgemeinen und gleichen Männerwahlrechts 1906/1907 verloren auch diejenigen Frauen ihr Stimmrecht, die bisher im Rahmen des Kuriensystems partizipieren durften.71 Die soziale Funktion der Unfallversicherung spielte auch bei den Beratungen über ihre Finanzierung eine wichtige Rolle. In Deutschland sahen die ersten beiden Gesetzesentwürfe noch einen Staatszuschuss vor, was heftigen Widerstand im Reichstag auslöste.72 Anders in Cisleithanien; dort erwies sich die Frage, ob der Staat finanziell zur Unfallversicherung beitragen sollte, als deutlich weniger kontrovers. Dies war allerdings deswegen der Fall, weil ein Staatszuschuss bereits in der interministeriellen Beratung verworfen wurde.73 Stattdessen einigten sich die Beamten darauf, dass der Staat den Unfallversicherungsanstalten lediglich einen einmaligen und später zurückzuzahlenden Vorschuss gewähren sollte. Dieser sollte die anfänglichen Kosten der Einrichtung und der Verwaltung decken, bis die Anstalten die Versicherungsbeiträge erhielten. Auch eine Ausfallshaftung oder ein Einspringen des Staates bei negativen Bilanzen der Versicherungsanstalten lehnten die Beamten ab.74 Die Ablehnung eines Staatszuschusses zu den Versicherungsbeiträgen begründete Steinbach bereits in seiner Denkschrift zu Haftpflicht und Unfallversicherung: Zum einen erfasse die Unfallversicherung nicht die gesamte Bevölkerung, sondern sie sei ein Mittel, um den Risiken ganz bestimmter Arbeitsverhältnisse entgegenzuwirken. Die Kosten für diese Politik dürfe man daher nicht auf die Allgemeinheit überwälzen. Stattdessen sollten nur jene sozialen Gruppen für die Versicherung aufkommen, die in diese Arbeitsverhältnisse involviert waren.75 Zum anderen erschien den Ministerialbeamten ein Staatszuschuss nicht wünschenswert, weil sie in der finanziellen Beteiligung der Arbeitnehmerschaft einen notwendigen Bestandteil der sozialen Funktion der Unfallversicherung erblickten. Für Steinbach wohnte dem Beitrag der Arbeitnehmer und -nehmerinnen zur Unfallversicherung ein »große[s] moralische[s] Moment« inne.76 Nur wenn die Arbeiterschaft selbst Beiträge zahle, argumentierte Steinbach, würde sie die Versicherung nicht als reine »Wohlthätigkeitsanstalt« betrachten, an der sie sich schadlos halten könne.77 Die Beamten sahen in der Beitragsleistung der Arbeiter und Arbeiterinnen ein notwendiges Korrelat zu ihrer Teilhabe an der Verwaltung der Unfallversicherungsanstalten und ein Instru71 Malfer, S. 32; Bader-Zaar. 72 Tennstedt u. a., S. XXII. 73 Hofmeister, Landesbericht Österreich, S. 543–544. 74 ÖStA, AVA, MdI, Präs., Kt. 588, 930/1883, Protokoll, Sitzungen vom 30.1.1883, 3.2.1883. 75 ÖStA, AVA, MdI, Präs., Kt. 588, 930/1883, »Zur Haftpflichtfrage«, 9. bis 11. Bogen. 76 Ebd. 77 Ebd.

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ment der sozialen Anerkennung.78 Die Entscheidung für eine drittelparitätische Besetzung der Vorstände der Unfallversicherungsanstalten mit Vertretern des Staates, der Unternehmer- und der Arbeiterschaft war daher eng verflochten mit der Entscheidung gegen einen Staatszuschuss und für Beiträge der Arbeitgeber und -nehmerschaft. Schließlich einigten sich die Ministerialbeamten im Januar und Februar 1883 darauf, das Kapitaldeckungs- und nicht das Umlageverfahren zu nutzen. Zwar spielte auch in diesem Punkt das Wissen um den zweiten deutschen Gesetzesentwurf eine Rolle. Allerdings zeigt sich in diesem Punkt, dass nicht nur öffentlichrechtliche, sondern auch kommerzielle Versicherungen und ihre Finanzierungsmodelle als Bezugspunkte dienten. Steinbach hatte das auch in Deutschland anvisierte Umlageverfahren vorgeschlagen, in der Beratung konnte jedoch Julius Kaan, Fachmann für Versicherungswesen im Innenministerium, eine Mehrheit für das Kapitaldeckungsverfahren gewinnen. Für Kaan entstammte »das Umlageverfahren der Kindheit des Versicherungswesens«,79 weil sich die Beiträge zumindest anfangs jährlich ändern würden. Demgegenüber sei »es das Bestreben jeder gut geleiteten Versicherungs-Anstalt, die Beitragssätze […] möglichst stabil zu erhalten«,80 was sich am besten mit dem Kapitaldeckungsverfahren erreichen ließe. Als Beispiel führte er die »Leipziger gegenseitige Unfallversicherungsanstalt« an, die zu Beginn zwar mit dem Umlageverfahren gearbeitet, inzwischen jedoch auf das Kapitaldeckungsverfahren gewechselt habe.81 Die versicherungsmathematische Vorausberechnung des Finanzbedarfs und damit der Beiträge für einen mehrjährigen Zeitraum sorge für mehr Stabilität als beim Umlageverfahren, bei dem die Beiträge jährlich neu berechnet werden müssten. Damit versprach Kaan den Beamten eine bessere Planbarkeit des finanziellen Aufwands für die Unfallversicherung und lieferte ihnen zugleich Argumente, um das Versicherungswesen auch gegenüber Unternehmern zu rechtfertigen. Das war eine Hoffnung, die sich als falsch erwies, da Interessensvertretungen der Unternehmer während der parlamentarischen Behandlung auf das Umlageverfahren drangen.82 Kaan und Steinbach sahen zudem die obligatorische Gründung von Reservefonds bei jeder Versicherungsanstalt vor. Kaan empfahl darüber hinaus die Bildung eines Zentralreservefonds. Dieser sollte die bereits getroffene Entscheidung, dass es keinen Staatszuschuss geben werde, weiter abstützen: Die verschiedenen Versicherungsanstalten erhielten mit dem Zentralreservefonds eine zusätzliche Absicherung, sodass das finanzielle Einschreiten des Staates selbst bei »außerordentliche[n] Vorkommnisse[n] wie Massenverunglückungen«83 nicht 78 ÖStA, AVA, MdI, Präs., Kt. 588, 930/1883, Protokoll, Sitzung vom 30.1.1883. 79 Ebd., Sitzung vom 31.1.1883. 80 Ebd. 81 Ebd. 82 Senghaas, Die Territorialisierung sozialer Sicherung, S. 110. 83 ÖStA, AVA, MdI, Präs., Kt. 588, 930/1883, Protokoll, Sitzung vom 31.1.1883.

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notwendig werde. Die Verwaltung des Zentralreservefonds übertrug Kaan in seinem Vorschlag dem Innenministerium, sodass eine zentralstaatliche Institution über die finanzielle Entlastung von Versicherungsanstalten entscheiden konnte, ohne dass deswegen ein Zuschuss aus dem Staatshaushalt erfolgen müsste. Die Frage, welche konkreten Arbeitsverhältnisse der Unfallversicherung unterliegen sollten, war jedoch innerhalb der Regierung, der Ministerialverwaltung und im Parlament höchst umstritten. Zwar lenkten im Verlauf des 19. Jahrhunderts der internationale Austausch zwischen Statistikern verschiedener Staaten und die mediale Berichterstattung über Unfälle die Aufmerksamkeit auf bestimmte, besonders gefährliche Arbeitsabläufe. Dazu zählten der Bergbau, Eisenbahn- und Schifffahrtsverkehr sowie Betriebe, in denen Maschinen zum Einsatz kamen.84 Den cisleithanischen Ministerien lagen jedoch nur begrenzt eigene systematische Daten dazu vor, welche Betriebe besonders unfallgefährdet waren. Eine staatliche Gewerbeinspektion wurde erst im Juni 1883 geschaffen, und die Gewerbeinspektoren gestanden in ihren ersten Berichten selbst ein, dass bei den von ihnen vorgelegten Unfallzahlen von einer hohen Dunkelziffer auszugehen sei.85 Ein Unfall war für die Gewerbeinspektoren kein singuläres Ereignis, sondern Bestandteil bestimmter Arbeitsverhältnisse.86 Dennoch lässt sich festhalten: Die statistische Unfallhäufigkeit allein gab nicht den Ausschlag für die Reichweite der Unfallversicherung. Ackerbauminister Julius von Falkenhayn konnte, gegen den Gesetzesentwurf Steinbachs, im Ministerrat durchsetzen, dass Bergbaubetriebe dann nicht unter die Unfallversicherung fielen, wenn für sie bereits Bruderladen bestanden. Stattdessen sollte das Bruderladenwesen reformiert werden, das er für die angemessenere Institution der sozialen Fürsorge im Bergbau hielt.87 Auch der Eisenbahn- und Schifffahrtsverkehr wurde auf Antrag von Fachreferenten des Handelsministeriums ausgenommen. Zwar konzedierten diese Beamten, dass die Unfallgefahr hoch und die Versorgung der Arbeiterschaft ungenügend sei.88 Die hohen Kosten, die dem Staat als Inhaber oder Betreiber vieler Eisenbahnlinien durch ihre Einbeziehung erwüchsen, wögen diese Gründe jedoch auf. Zudem begriffen sie Eisenbahnen und Schifffahrt aufgrund der damit verbundenen räumlichen Mobilität des Personals als unvereinbar mit der territorialen Organisation der Unfallversicherung. Denn nicht nur bewege sich das Personal damit durch das Verwaltungsgebiet mehrerer Versicherungsanstalten, sondern verlasse auch das Staatsgebiet. Schließlich werfe die Unfallversicherung des Verkehrspersonals von Eisenbahnlinien, die der Gesamtstaat Österreich-Ungarn betrieb, schwerwiegende Fragen im Verhältnis zu Transleithanien auf,89 wo 84 Moses, S. 48. 85 Muhl; Feyerfeil. 86 Kulka, S. 50–55; Czerweny, S. 249–252; Rosthorn, S. 398–400. 87 Hofmeister, Landesbericht Österreich, S. 536–539, 541–542, 578–588. 88 ÖStA, AVA, MdI, Präs., Kt. 588, 930/1883, Protokoll, Sitzung vom 11.2.1883. 89 Ebd.; Senghaas, Die Territorialisierung sozialer Sicherung, S. 170–173.

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die Einführung einer öffentlich-rechtlichen Unfallversicherung zu diesem Zeitpunkt nicht absehbar war.90 Nicht die Unfallgefahr an sich, sondern der Betrieb von Maschinen, die durch Strom, Dampf, andere »elementare Kraft« oder Tiere angetrieben wurden, kristallisierte sich so als Kriterium für die Versicherungspflicht heraus.91 Bereits in der interministeriellen Beratung wurde beschlossen, dass die Arbeiter und Arbeiterinnen in den Werken und Reparaturbetrieben der Eisenbahnlinien versicherungspflichtig seien, nicht jedoch das mobile Personal. Während der parlamentarischen Behandlung des Gesetzesentwurfes wurden außerdem die Arbeiter und Arbeiterinnen landwirtschaftlicher Betriebe in die Unfallversicherung aufgenommen, die an Maschinen arbeiteten. Von der Versicherungspflicht ausgenommen blieben jedoch alle übrigen landwirtschaftlichen Arbeitskräfte sowie das Kleingewerbe.92 2.2.2 Die Durchsetzung zentralstaatlicher Governance in der Unfallversicherung Wie bestimmend die Entscheidungen der Ministerialbürokratie waren, zeigt sich daran, dass sie die Argumentationslinien der Regierungsmitglieder in der Gesetzesvorlage und in den Parlamentsdebatten prägten.93 Als 1886 die Opposition die Finanzierung der Versicherung kritisierte und die Einführung des Umlageverfahrens und die Befreiung der Arbeiterschaft von der Beitragsleistung forderte, betonte der Abgeordnete des Polenklubs Leon von Biliński als Generalredner für den Gesetzesentwurf die soziale Funktion der Unfallversicherung. Ein Verzicht auf eine Beitragsleistung der Arbeitnehmer würde, so Biliński, dem Standpunkt entspringen, dass »der Unfall zu den Produktionskosten gehört [und] darin [ist] die Idee enthalten, dass der Arbeiter auf gleicher Linie mit der Maschine steht«94 und daher eine Mitsprache der Arbeiterschaft nicht notwendig sei. Demgegenüber resultiere Finanzierung und drittelparitätische Besetzung der Unfallversicherungsgremien daraus, dass »der Arbeiter keine Maschine […], sondern […] daß er ein Mensch ist, welchem man weitgehende soziale Rechte, also auch Pflichten gebe muss und soll«. Daraus folge, dass Unternehmer- sowie Arbeiterschaft an der Verwaltung der Anstalten teilhaben und Versicherungsbeiträge leisten sollten.95 Trotz dieser Auseinandersetzungen um die Finanzierung der Unfallversicherung blieb das Prinzip unangefochten, dass der Staat keinen Beitrag leisten sollte.

90 Zimmermann, Divide, Provide and Rule, S. 90–115. 91 RGBl. 1/1887, § 1. 92 Senghaas, Die Territorialisierung sozialer Sicherung, S. 92, 185; Hofmeister, Landesbericht Österreich, S. 547–548. 93 Erläuternde Bemerkungen zu dem Gesetzesentwurfe, betreffend die Unfallversicherung der Arbeiter, in: StPAH, IX. Session, Nr. 783 der Beilagen, S. 23–41. 94 StPAH, X. Session, 69. Sitzung (25.5.1886), S. 2576. 95 Ebd., S. 2576–2577.

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Anders als in Deutschland bildeten in Cisleithanien administrative Territorien und nicht Berufsgenossenschaften die grundlegende Struktur der Unfallversicherungsanstalten. Diese territoriale Organisation der Unfallversicherung wurde in den Parlamentsdebatten zu einer Projektionsfläche für konfligierende macht- und nationalitätenpolitische Ordnungsvorstellungen, die stark auf einem staatsrechtlichen Nationsverständnis aufbauten. Die Konfliktlinien verliefen daher vor allem zwischen den deutschliberalen und deutschnationalen Parteien der Opposition, die für Cisleithanien als zentralisierten Staat eintraten, und den föderalistisch orientierten Abgeordneten der Regierungsmehrheit, die Cisleitha­ nien eher als Bund der Kronländer sahen.96 Deutschland diente dabei als organisatorischer, aber auch nationaler Referenzpunkt. Oppositionspolitiker wie Heinrich Prade forderten, das Umlageverfahren sowie das berufsgenossenschaftliche Organisationsprinzip ohne Beitragsleistung der Arbeitnehmer aus den deutschen Gesetzesentwürfen zu übernehmen. Gleichzeitig positionierte er sich mit Verweis auf die sozialpoli­ tische Vorreiterrolle Deutschlands als Teil des »edle[n] Zweig[es] der deutschen Nation, der da in Österreich wohnt, lebt und strebt«.97 Die territoriale Organisation kritisierte er als föderalistisches Zugeständnis an die nicht-deutschsprachigen Bevölkerungsgruppen Cisleithaniens.98 In Reaktion darauf erhob Biliński die Unterschiede zwischen der deutschen und der cisleithanischen Unfallversicherung zu »Prinzipien«: Es bestünde ein inhärenter Zusammenhang zwischen der Beitragsleistung der Arbeiter und Arbeiterinnen, ihrer Teilhabe an den Versicherungsanstalten, also der sozialen Funktion der Unfallversicherung als Institution des Interessensausgleichs, und dem Kapitaldeckungsverfahren.99 Zudem verteidigte Biliński die Kronländer als logische territoriale Grundlage der Unfallversicherung, da sie politische und wirtschaftliche Einheiten bilden würden.100 Beide Positionen hatten ihre blinden Flecken: Während Prade unterschlug, dass es auch in den deutschen Debatten föderalistische Einwände gegeben hatte,101 machte Biliński die Bedeutung der deutschen Gesetzesentwürfe für die vorgelagerten Entscheidungsprozesse unsichtbar. Transnationale Wissenstransfers waren daher nicht entkoppelt von Formen der (nationalen) Selbstverortung, und affirmative oder abgrenzende Bezüge auf andere Sozialpolitiken dienten auch der Untermauerung des jeweils eigenen Standpunktes.102 Auch in der Forschung wurde die territoriale Organisation der Unfallversicherung als Teil einer stärkeren Föderalisierung der Habsburgermonarchie unter der Regierung Taaffe interpretiert.103 Im ursprünglichen Regierungsentwurf 96 Senghaas, Föderalismus und Sozialpolitik in der Habsburgermonarchie. 97 StPAH, X. Session, 67. Sitzung (20.5.1886), S. 2495. 98 Ebd., S. 2485–2496. 99 Ebd., 69. Sitzung (25.5.1886), S. 2571–2577. 100 Ebd., S. 2574. 101 Liedloff, S. 155–218. 102 Randeraad; Goddeeris. 103 Hofmeister, Landesbericht Österreich, S. 549.

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von 1883 hatten die Kronländer jedoch keine Rolle gespielt; die Versicherungsanstalten sollten ursprünglich auf den Handels- und Gewerbekammerbezirken aufsetzen.104 Zudem verstellt die Konzentration auf die territoriale Struktur der Unfallversicherung den Blick darauf, dass die Ministerialbeamten der zentralstaatlichen Verwaltung umfassende Normierungs- und Aufsichtskompetenzen verliehen. Sie konzipierten die Versicherungsanstalten als Institutionen, die ausschließlich vom Innenministerium besetzt und kontrolliert wurden, ohne den Kronländern Mitspracherechte einzuräumen. Diese Kontrollfunktion der zentralstaatlichen Verwaltung sahen die Beamten auch als Kompensation für die Unwägbarkeiten der neuen Institution. In den interministeriellen Vorberatungen Anfang 1883 hielt Steinbach selbst fest, dass »der Erfolg der erst zu schaffenden Unfallversicherung nicht sicher«105 sei. Daher, so argumentierte er, müsse »der administrativen Gewalt […] ein weiterer Spielraum eingeräumt werden, weil es sich um eine Neuschaffung handelt.«106 Diese Kompetenz der zentralstaatlichen Verwaltung umfasste mehrere Punkte: Die territoriale Organisation der Unfallversicherung konnte in Steinbachs Gesetzesentwurf nur der Minister des Inneren allein verändern.107 Er sollte zudem das Verwaltungspersonal der Anstalten ernennen. Schließlich oblag die Einreihung der Betriebe in die unterschiedlichen Gefahrenklassen ebenfalls dem Innenministerium. Partizipative Elemente erhielt dieses Governance-Modell durch einen neu zu schaffenden Versicherungsbeirat, besetzt mit Versicherungsfachleuten und Unternehmern. Dieser war bei der Festsetzung des Tarifes, der Einreihung der Betriebe in Gefahrenklassen, der Verwendung des Reservefonds und der Konzipierung des Musterstatuts einzubeziehen. Allerdings untermauerte diese Institutionalisierung von Partizipation den zentralstaatlichen Regelungsanspruch zusätzlich. Denn der Beirat war beim Ministerium des Inneren angesiedelt, während der Reichsrat, die Landtage oder die Landesausschüsse von einer Mitbestimmung in diesen Fragen ausgeschlossen waren.108 Erst in der parlamentarischen Beratung des Gesetzes wurden die Handelskammerbezirke durch die Kronländer ersetzt, wobei in der Praxis schließlich eine Unfallversicherungsanstalt zumeist für mehrere Kronländer zuständig war. Lediglich die Unfallversicherungsanstalten in Prag / Praha und Wien waren nur für Böhmen bzw. Niederösterreich verantwortlich. Außerdem wurde den Landesausschüssen ein Mitspracherecht bei einer etwaigen Neufestlegung der territorialen Organisation der Anstalten sowie bei der Nominierung der vom Innenministerium entsandten Vorstandsmitglieder eingeräumt.109 104 ÖStA, AVA, MdI, Präs., Kt. 588, 930/1883, Protokoll. 105 ÖStA, AVA, MdI, Präs., Kt. 588, 930/1883, Protokoll, Sitzung vom 31.1.1883. 106 Ebd., Sitzung vom 27.1.1883. 107 Ebd., Sitzung vom 30.1.1883. 108 Ebd., Sitzung vom 9.2.1883. 109 RGBl. 1/1888, Gesetz vom 28. Dezember 1887, betreffend die Unfallversicherung der Arbeiter, § 49.

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Damit war zwar den Kronländern als politischen, administrativen und wirtschaftlichen Einheiten Rechnung getragen, aber die Beziehung der Unfallversicherungsanstalten zu zentralstaatlichen Institutionen blieb primär »vertikal« organisiert:110 Die Funktion der Aufsicht oblag zentralstaatlichen Behörden, nämlich den Statthaltereien und dem Innenministerium.111 Selbst über die Nutzung des gemeinsamen Reservefonds bestimmten nicht die Anstalten. Stattdessen entschied das Innenministerium gemeinsam mit dem Versicherungsbeirat darüber, wann Mittel aus dem Fonds ausgeschüttet wurden. Zudem bestanden institutionalisierte Formen der Kommunikation allein mit dem Innenministerium, nicht jedoch »horizontal« zwischen den Versicherungsanstalten.112 Darüber hinaus waren die Anstalten und ihre Schiedsgerichte bei der Zuerkennung von Leistungen und der Lösung von Konflikten um Rentenansprüche voneinander unabhängig. Es fehlte eine übergeordnete Berufungsinstanz, die eine horizontale Angleichung der Entschädigungspraktiken befördert hätte. Das Innenministerium übernahm hier lediglich eine minimale Vermittlerfunktion. Ab 1889 gab es eine eigene Zeitschrift heraus, in der unter anderem auch die Schiedsgerichtssprüche veröffentlicht wurden.113 Schließlich geriet der Verwaltungsgerichtshof in die Rolle einer Berufungsinstanz. Dieser Rechtsweg stand jedoch nur Behörden offen und nicht den Versicherten. Bereits ab den 1890er Jahren kritisierten Verwaltungs- und Rechtswissenschaftler diese Konstruktion, da sie Ungleichbehandlungen in den unterschiedlichen Regionen Vorschub leistete.114 Die Kronländer waren ein wichtiger symbolischer Bezugspunkt, um das Projekt der Unfallversicherung politisch durchsetzbar zu machen. Daraus sollte allerdings nicht vorschnell auf einen Föderalismus in der Sozialversicherung geschlossen werden. Ein Blick auf die Governance der Unfallversicherung offenbart eine nur scheinbar föderale Struktur. Denn die Kronländer erhielten nur minimale Mitspracherechte. Stattdessen ist es zutreffender von vertikalen Regelungs- und dezentralen Entscheidungsstrukturen zu sprechen. Die zentral­ staatliche Verwaltung sicherte sich eine normensetzende Funktion, überließ die Beurteilung von Ansprüchen jedoch den Versicherungsanstalten. Sie schuf allerdings keine Verfahren, welche die Gleichbehandlung von Ansprüchen gewährleisteten oder Berufung ermöglichten. Aufgrund dieser intensiven Vorberatungen zur Unfallversicherung war die öffentlich-rechtliche Krankenversicherung von deren Prinzipien geprägt.115 Die Eigenschaften der Krankenversicherung demonstrieren daher, dass die drei Dimensionen der Unfallversicherung  – sozialer Ausgleich, Ablehnung eines 110 Osterkamp, Vielfalt ordnen, S. 1–18, 289–297. 111 ÖStA, AVA, MdI, Präs., Kt. 588, 930/1883, Protokoll, Sitzung vom 9.2.1883. 112 Osterkamp, Vielfalt ordnen, S. 289–297. 113 Amtliche Nachrichten des k. k. Ministeriums des Innern, betreffend die Unfallversicherung und die Krankenversicherung der Arbeiter, Wien 1889–1918. 114 Stöger, Arbeiterunfallversicherung, S. 285. 115 ÖStA, AVA, MdI, Präs., Kt. 588, 930/1883, Protokoll, Sitzung vom 26.1.1883.

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Staatszuschusses sowie Festschreibung der normensetzenden Funktion der Staatsverwaltung – über ihren spezifischen Zweck hinausreichten und zu einem sozialpolitischen Governance-Modell avancierten. 2.2.3 Das Krankenversicherungsgesetz 1888 Die Regierung Taaffe verfolgte bei der Krankenversicherung das Ziel, bestehende Formen der Absicherung im Krankheitsfall zu erhalten und sie lediglich in einen einheitlichen gesetzlichen Rahmen zu überführen. Die Bruderladen, Betriebs-, Genossenschafts- und die auf Basis des Vereinsgesetzes von 1867 gegründeten Vereinskrankenkassen konnten weiterbestehen, mussten jedoch den Bestimmungen des Krankenversicherungsgesetzes genügen, wenn auch in unterschiedlicher Weise. Bestehende Vereinskrankenkassen mussten sich jedoch auf Basis des kaiserlichen Patents vom 26. November 1852, das Vereine zu Versicherungszwecken staatlicher Aufsicht unterstellte, neu konstituieren und um Anerkennung durch die Staatsverwaltung ersuchen, um weiterhin als Krankenkassen fungieren zu dürfen. Das Krankenversicherungsgesetz stellte aus diesem Grund nicht die einzige gesetzliche Grundlage für die Träger der Krankenversicherung dar. Vielmehr galten auch für die Genossenschaftskrankenkassen die Bestimmungen der Gewerbeordnung, für die Vereinskrankenkassen jene des kaiserlichen Patents von 1852 und für die Bruderladen das spätere Bruderladengesetz von 1889. Gleichzeitig schuf die Regierung auf dem Gebiet der Krankenversicherung neue Institutionen – zum einen Bezirkskrankenkassen für jene Versicherungspflichtigen, die keiner bestehenden Krankenkasse angehörten; zum anderen Baukrankenkassen als temporäre Einrichtungen besonders für größere Bauvorhaben. Trotz dieser komplexeren Gesetzeslage lassen sich über die Krankenkassentypen hinweg dieselben Grundlinien des sozialpolitischen Governance-Modells in unterschiedlich ausgeprägter Form identifizieren.116 Bei den neu geschaffenen Bezirkskrankenkassen konnten die Einbindung von Arbeitgebern und -nehmern, die Staatsaufsicht und die finanzielle Absicherung ohne Verpflichtung des Staates direkt im Krankenversicherungsgesetz normiert werden. Diese Dimensionen erfassten jedoch auch (fast) alle anderen Krankenkassentypen. So finanzierten Arbeitgeber und -nehmer im Verhältnis von einem Drittel zu zwei Dritteln die Bezirkskrankenkassen und entsandten dementsprechend viele Vertreter in den Vorstand. In unterschiedlichem Verhältnis der beiden Gruppen zueinander galt dies auch für alle anderen Krankenkassen. Nur bei den Vereinskassen musste die Vertretung der Arbeitgeber in den Gremien gesondert beschlossen werden. Denn bei diesen Kassen waren die Arbeitgeber nicht gesetzlich zu einer Beitragsleistung verpflichtet.117 Die Aufsichts- und Kontrollfunktion der zentralstaatlichen Verwaltung war gegenüber fast allen Typen von Krankenkassen in den Gesetzen festgeschrieben und reichte sogar weiter als gegenüber den Unfallversicherungsanstalten; weniger umfassend war 116 Tálos, S. 67–69; Hofmeister, Landesbericht Österreich, S. 562–569. 117 Stöger, Arbeiterkrankenversicherung, S. 237–248; Mataja, S. 532.

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sie nur gegenüber den Genossenschaftskrankenkassen. So konnte die Staatsverwaltung nicht nur die Buchführung der Kassen überprüfen und die Anpassung der Beiträge fordern bzw. erzwingen, sondern auch Vorstandsmitglieder bestrafen, wenn sie ihre Funktion nicht ordnungsgemäß ausübten, Beamte als Kontrollorgane zu den Gremiensitzungen entsenden, die Gremien auflösen und die interimistische Leitung der Krankenkasse durch Staatsbeamte verfügen.118 Schließlich wurde den Krankenkassen auch vorgeschrieben, wie sie sich finanziell abzusichern hatten. Die Bezirkskrankenkassen waren für Gerichtsbezirke vorgesehen.119 Sie waren jedoch gleichzeitig verpflichtet, sich zu Verbänden zusammenzuschließen, und zwar für dasselbe Gebiet, für das die jeweilige Unfallversicherungsanstalt zuständig war. Sowohl die einzelnen Bezirkskrankenkassen als auch ihre Verbände hatten Reservefonds anzulegen, ähnliche Bestimmungen galten auch für Betriebs- und Vereinskrankenkassen sowie die Bruderladen nach der Reform von 1889. Die Baukrankenkassen konnten von der Verpflichtung ausgenommen werden, einen Reservefonds zu bilden, und die Genossenschaftskrankenkassen waren nicht dazu verpflichtet, einen solchen aufzustellen. Sie konnten jedoch einem Bezirkskrankenkassenverband beitreten und dadurch Teil des Verbandsreservefonds werden.120 In der Ausarbeitung der Gesetze zur Unfall- und Krankenversicherung bildete sich so ein Zusammenhang dreier Dimensionen sozialpolitischer Governance heraus: Erstens kam der zentralstaatlichen Verwaltung eine starke normierende Funktion zu. Zwar wurde die territoriale Organisation der Unfallversicherung zu einer Projektionsfläche nationalpolitischer Ordnungsvorstellungen. Als Föderalisierung im Sinne einer Kompetenzteilung zwischen Zentralstaat und Kronländern kann dies jedoch nur sehr eingeschränkt interpretiert werden, da den Landesausschüssen der Kronländer nur relativ geringe gesetzlich festgelegte Mitspracherechte eingeräumt wurden. Außerdem waren die Unfallversicherungsanstalten und Krankenkassen keine Behörden und daher weder Teil der zentralstaatlichen noch der autonomen Landes- oder Gemeindeverwaltung, sondern Körperschaften öffentlichen Rechts. Die zweite Dimension sozialpolitischer Governance war die gezielte Vermeidung einer dauerhaften finanziellen Verpflichtung des Staates für die Versicherungsleistungen. Dieses Vorgehen lässt sich jedoch nicht allein mit einem politischen Sparkurs der Regierung Taaffe erklären, auch wenn die Okkupation Bosnien-Herzegowinas 1878 das Budget belastete und Finanzminister Julian von Dunajewski bemüht war, dieses zu konsolidieren. Denn auf anderen Politikfeldern ging die Regierung Taaffe weitgehende finanzielle Verpflichtungen ein, etwa durch die Verstaatlichung, den Ausbau und die Subventionierung von Eisenbahnlinien, die sie ab 1880 verfolgte.121 Vielmehr adaptierten die Beamten 118 Stöger, Arbeiterkrankenversicherung, S. 248–249. 119 Ebd., S. 237. 120 Ebd., S. 240–243, 245–247; ders., Bruderladen, S. 647, 649. 121 Pammer, S. 139.

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ein etabliertes Konzept staatlicher Ordnung, nämlich die Übertragung sozialer Fürsorge an die autonomen Körperschaften der Länder und Kommunen. In ähnlicher Weise sollten die Unfallversicherungsanstalten und Krankenkassen nun aus eigenen Mitteln und unter staatlicher Aufsicht die Versicherung durchführen. Gleichzeitig konnte die Regierung so ein Feld staatlich regulierter Sozialpolitik schaffen, ohne die konstitutionelle Ordnung zwischen Zentralstaat, Kronländern und Gemeinden zu verändern. Drittens begriffen die Regierung und die Ministerialbeamten die Unfallund Krankenversicherung als Institutionen des Interessensausgleichs zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern und erachteten es daher als notwendig, dass beide Gruppen zur Finanzierung beitrugen und an der Verwaltung beteiligt waren. Das sozialpolitische Governance-Modell war daher anschlussfähig an die föderale Kompetenzverteilung in Cisleithanien und offen für zivilgesellschaftliche Partizipation. Zugleich sicherte sie der Regierung weitreichende Normierungsund Kontrollfunktionen zu und minimierte die Belastung des Staatshaushalts. Diese Eigenschaften sollten es im Ersten Weltkrieg so attraktiv machen, als die cisleithanische Regierung die passende Organisationsform für eine staatliche Kriegsversehrtenfürsorge suchte. Diese Vorzüge des Governance-Modells bedeuteten jedoch nicht, dass es keine alternativen Entwürfe staatlichen sozialpolitischen Handelns gab. 2.3 Die Aufrechterhaltung und diskrete Anpassung des sozialpolitischen Governance-Modells 1890–1914 Erste Debatten zu einer Umgestaltung der Unfall- und Krankenversicherung setzten bereits in den 1890er Jahren ein und die Reformversuche intensivierten sich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Die involvierten Akteure und Ziele waren dabei vielfältig. In unterschiedlicher Weise waren jedoch zwei Themen bestimmend: Das war zum einen die Einbeziehung weiterer sozialer Risiken, wie etwa Arbeitslosigkeit, Alter oder Invalidität, und zum anderen die Vertiefung der Aufgaben des Staates durch einen staatlichen Beitrag zur Versicherung. Trotz dieser lebhaften Reformdebatten war die weitere Entwicklung der Sozialversicherung von Kontinuität geprägt. Ein neuer Versicherungszweig wurde erst 1906/1907 mit einer Rentenversicherung für Angestellte eingeführt, ein staatlicher Zuschuss zu Versicherungsleistungen erfolgte nie. Allerdings stellte diese Kontinuität nicht einfach Stagnation dar. Denn die Ansprüche an staatliche Sozialpolitik verblieben nicht auf dem Niveau der 1880er Jahre. Mehrere Ministerpräsidenten unternahmen den Versuch, das Sozialversicherungswesen auszubauen, was jedoch scheiterte. Unterhalb umfassender Reformversuche positionierten Politiker und Beamte zudem den Staat durch diskrete Anpassungen in weiteren Feldern der sozialen Fürsorge und stärkten seine Rolle im Versicherungswesen. Um dieses Spannungsverhältnis von Dynamik und Kontinuität zu 87

erklären, müssen die politischen Rahmenbedingungen und die Eigendynamiken der sozialpolitischen Vorhaben in Betracht gezogen werden. Die wachsende Inanspruchnahme der Versicherungsleistungen und die Ausdehnung auf neue Branchen ab den 1890er Jahren machen augenfällig, dass Kontinuität nicht Stagnation bedeutete. Auch wenn die tatsächliche Reichweite der Unfallversicherung zu Anfang begrenzt war und sie nur neun Prozent der Berufstätigen Cisleithaniens erfasste,122 stieg die Inanspruchnahme ihrer Leistungen in den ersten zehn Jahren rasant an. Zwischen 1890, als die erste vollständige Unfallstatistik für Cisleithanien veröffentlicht wurde, und 1897 vervierfachte sich die Zahl der gemeldeten Unfälle,123 und die geleisteten Entschädigungsbeträge stiegen von 412.000 auf 7.869.000 Kronen.124 1894 weitete die cisleithanische Regierung zudem die Unfallversicherungspflicht auf neue Branchen aus, weitere Ausdehnungen folgten in den Jahren 1908, 1912, 1913 und 1914.125 1910 waren bereits 24 Prozent der berufstätigen Bevölkerung Cisleithaniens von der Unfallversicherungspflicht erfasst, in Böhmen sowie Mähren und Schlesien sogar jeweils über 40 Prozent der berufstätigen Bevölkerung, in Galizien und der Bukowina jedoch lediglich vier Prozent.126 Dies hing auch damit zusammen, dass Beschäftigte im Kleingewerbe nur unter die Krankenversicherungspflicht und Arbeitskräfte der land- und forstwirtschaftlichen Betriebe nur dann unter die Unfallversicherungspflicht fielen, wenn sie mit Maschinen arbeiteten.127 Prinzipiell erfassten Unfall- und Krankenversicherung erwerbstätige Frauen und Männer. Die geschlechtsspezifische Verteilung von Ausbildungs- und Erwerbsmöglichkeiten hatte jedoch Auswirkungen darauf, wie stark sie jeweils von den Versicherungen profitierten. Unfall- und Krankenversicherung als »lohnarbeitszentrierte«128 Formen sozialer Sicherung stützten lohnabhängige Erwerbstätigkeit institutionell ab, auch wenn sie nicht alle Formen davon erfasste. Dadurch trugen diese Institutionen dazu bei, Lohnarbeit von anderen Tätigkeiten, wie etwa (weiblicher) Reproduktionsarbeit zuhause, abzugrenzen.129 Aber Frauen hatten zwischen 1890 und 1910 einen Anteil von etwa 40 Prozent an den Erwerbstätigen in Cisleithanien,130 viele davon waren jedoch in der Land- und 122 Senghaas, Die Territorialisierung sozialer Sicherung, S. 90. 123 Hofer, S. 233. 124 o. A., Einleitende Bemerkungen, S. 3. 125 Tálos, S. 42–48, 78–84; Hofmeister, Landesbericht Österreich, S. 51–53. 126 Senghaas, Die Territorialisierung sozialer Sicherung, S. 90–94, 208–212. 127 Zimmermann, Geschützte und ungeschützte Arbeitsverhältnisse von der Hochindustrialisierung bis zur Weltwirtschaftskrise Österreich und Ungarn im Vergleich, S. 92–96, 99–104. 128 Vobruba, S. 11–80. 129 Kocka, S. 9–59. 130 Ehmer, ›Innen macht alles die Frau, draußen die grobe Arbeit macht der Mann‹, S. 81–85; Zimmermann, Frauenarbeit, soziale Politiken und die Umgestaltung von Geschlechterverhältnissen im Wien der Habsburgermonarchie, S. 34–52; Heindl, Geschlechterbilder und Geschlechterrollen. Ideologie und Realitäten, S. 712–716.

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Forstwirtschaft beschäftigt.131 Trotz ihres hohen Anteils an den Erwerbstätigen stellten Frauen daher 1901 etwa nur ein Viertel der Krankenkassenmitglieder132 und 1899 ca. ein Fünftel der Unfallversicherten.133 Allerdings gab es auch Branchen, in denen mehr Frauen als Männer unfallversichert waren. Dazu zählten landwirtschaftliche Betriebe mit motorenbetriebenen Maschinen, die meisten stoff- und textilverarbeitenden Industriezweige, Betriebe, die Explosionsstoffe und Zündwaren herstellten, sowie die Tabak- und Reinigungsindustrie.134 Zeitgenossen sahen dies jedoch kritisch. Der Wiener Politische Ökonom Eugen Philippovich etwa urteilte, dass »sich darin [der Frauenerwerbstätigkeit; T. S.R.] […] ein niedrigerer Stand der Gesamtkultur aus[drückt].«135 In der Politischen Ökonomie galt die männliche Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter zwischen dem 15. und dem 60. Lebensjahr als der bestimmende Faktor für die »Produktionsfähigkeit eines Volkes«.136 Zeitgenössische Vorstellungen von Geschlechterrollen beeinflussten die Regelung einiger Entschädigungsansprüche. In der Unfallversicherung hatten Witwen lebenslänglich Anspruch auf eine Hinterbliebenenrente, solange sie nicht erneut heirateten, während Witwer nur dann eine Rente bezogen, wenn und solange sie erwerbsunfähig waren.137 Hier war die Rolle des Mannes als ›Familienerhalter‹ implizit festgehalten. Trotzdem fand weibliche Erwerbstätigkeit als Beitrag zum Familieneinkommen eine gewisse Anerkennung. Die spätere Rentenversicherung für Angestellte war noch stärker von bürgerlichen Vorstellungen von Familie und Erwerbstätigkeit geprägt, Witwer fanden hier keine Erwähnung mehr als Anspruchsberechtigte.138 Die 1890er Jahre standen im Zeichen der Stabilisierung, nicht des Umbaus des Versicherungswesens. Denn das Versprechen der Berechenbarkeit, das Julius Kaan mit dem Kapitaldeckungsverfahren verbunden hatte, erwies sich als fragil.

131 Heindl, Geschlechterbilder und Geschlechterrollen. Ideologie und Realitäten, S. 715; E ­ hmer, ›Innen macht alles die Frau, draußen die grobe Arbeit macht der Mann‹, S. 88–89. 132 Stöger, Arbeiterkrankenversicherung, S. 253. 133 o. A., Die Gebarung und die Ergebnisse der Unfallstatistik der im Grunde des Gesetzes vom 28. Dezember 1887 (RGBl. Nr. 1 ex 1888), betreffend die Unfallversicherung der Arbeiter errichteten Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalten im Jahre 1899, S. 16. 134 Ehmer, ›Innen macht alles die Frau, draußen die grobe Arbeit macht der Mann‹, S. 91–92; o. A., Die Gebarung und die Ergebnisse der Unfallstatistik der im Grunde des Gesetzes vom 28. Dezember 1887 (RGBl. Nr. 1 ex 1888), betreffend die Unfallversicherung der Arbeiter errichteten Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalten im Jahre 1899, S. 66–105. 135 Philippovich, Grundriß der politischen Ökonomie, Bd. 1: Allgemeine Volkswirtschaftslehre, S. 54. 136 Zitat entnommen aus: ebd., S. 53; zur weiblichen Erwerbstätigkeit: Zimmermann, Frauenarbeit, soziale Politiken und die Umgestaltung von Geschlechterverhältnissen im Wien der Habsburgermonarchie, S. 34–53. 137 Stöger, Arbeiterunfallversicherung, S. 273; Skocpol, S. 1–30. 138 RGBl. 1/1907, Gesetz vom 16. Dezember 1906 betreffend die Pensionsversicherung der in privaten Diensten und einiger in öffentlichen Diensten Angestellten, § 12.

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Die statistischen Vorannahmen des Berechnungsmodells waren unzutreffend, weil man das Unfallrisiko bei vielen Betrieben selbst in der höchsten Gefahrenklasse zu gering angesetzt hatte.139 Im Verlauf der 1890er Jahre schlitterten sämtliche Unfallversicherungsanstalten, auch aufgrund eines Kursverlustes bei den Kapitalanlagen, in ein Defizit,140 ebenso wiesen 1901 zahlreiche Krankenkassen passive Budgets auf.141 In Reaktion auf diese Schieflagen wurden die Tarife des Gefahrenklassenschemas erstmals 1894 erhöht.142 Zudem war das Innenministerium interessiert an Problemwahrnehmungen in den Versicherungsanstalten. Es bot mit zwei Enqueten, 1895 zur Reform der Unfallversicherung und 1897 zur Reform der Krankenversicherung, Foren, um mit den Beamten der Versicherungsträger, den Vertretern der Unternehmer- wie der Arbeiterschaft in Dialog zu treten. Um der Regierung ein Meinungsbild zu verschaffen, stimmten die Enqueten sogar über gemachte Vorschläge ab. Allerdings verpflichtete das Votum die Regierung nicht zur Umsetzung.143 Trotz des enormen Anstiegs der Versicherungsleistungen und der negativen Bilanzen erblickten die Teilnehmenden die bestehende Sozialversicherung nicht als gescheitert. Vielmehr richteten sich ihre Forderungen in den Enqueten vor allem auf die Stabilisierung und Vertiefung der Versicherungen. So wollten Vertreter der Krankenkassen ihre Abhängigkeit von privaten und öffentlichen Krankenanstalten verringern und schlugen vor, dass den Kassen kostenlose Behandlung in öffentlichen Krankenanstalten gewährt werde.144 Sowohl Vertreter der Versicherungsanstalten als auch der Arbeiterbewegung stellten bereits auf diesen Enqueten das sozialpolitische Governance-Modell in Frage, indem sie einen staatlichen Zuschuss zu den Versicherungen forderten.145 Diese Vorschläge zogen keine unmittelbaren Schritte der Regierung nach sich, aber nach der Jahrhundertwende verlangten auch Wissenschaftler, Beamte und Regierungsvertreter wiederholt einen Staatszuschuss auf verschiedenen Feldern der Sozialpolitik. Die Eigendynamik des Feldes der Sozialversicherung zeigt sich hier besonders deutlich. Bereits wenige Jahre nach Einführung der Versicherungen hatten sich aus ihren Institutionen neue Trägergruppen sozialpolitischer Reformvorstellungen herausgebildet. Allerdings ist die Jahrhundertwende auch charakteristisch für die Kontinuität des sozialpolitischen Governance-Modells, denn politische Krisen ließen Reformvorhaben zunächst in den Hintergrund treten. 139 Senghaas, Die Territorialisierung sozialer Sicherung, S. 185–186. 140 o. A., Die Gebarung und die Ergebnisse der Unfallstatistik der im Grunde des Gesetzes vom 28. Dezember 1887 (RGBl. Nr. 1 ex 1888), betreffend die Unfallversicherung der Arbeiter errichteten Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalten im Jahre 1899, S. 9. 141 Stöger, Arbeiterkrankenversicherung, S. 256; Tálos, S. 65. 142 Senghaas, Die Territorialisierung sozialer Sicherung, S. 186. 143 Ebd., S. 125–126. 144 Stöger, Arbeiterkrankenversicherung, S. 260. 145 o. A., Enquête über die Reform des Unfall-Versicherungs-Gesetzes, S. 7; o. A., Reform des Krankenversicherungs-Gesetzes; o. A., Die Reform des Krankenversicherungs-Gesetzes, S. 3.

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Die Jahre um 1900 standen in Cisleithanien im Zeichen einer doppelten politischen Krise. Erstens forcierten magyarische Politiker ihre Bemühungen, mehr Autonomie innerhalb Österreich-Ungarns zu erlangen.146 In Cisleithanien kam es zu einer mehrjährigen Regierungskrise nachdem Ministerpräsident Felix von Badeni 1897 in Böhmen und Mähren Tschechisch als dem Deutschen gleichgestellte Sprache in der verwaltungsinternen Kommunikation hatte einführen wollen. Sprache hatte im späten 19. Jahrhundert für nationalistische Gruppierungen als augenscheinliches Kennzeichen nationaler Zugehörigkeit und Differenz immer mehr an Bedeutung gewonnen. Zwar waren Sprachenrechte bereits äußerst vage in der Verfassung von 1867 kodifiziert worden, in der den »Volksstämme[n]« der Monarchie die »Wahrung und Pflege [ihrer] Nationalität und Sprache« zugesichert wurde.147 Dies erforderte jedoch zugleich die Identifizierung des Subjekts dieser nationalen Sprachenrechte. Ob ›Nation‹ objektiv festgestellt, individuell zugeordnet und damit statistisch erhoben werden konnte und ob Sprache ein ausreichendes Merkmal von nationaler Zugehörigkeit war, beschäftigte jedoch nicht nur cisleithanische, sondern auch internationale Administrativstatistiker. Im Jahr 1872 wurde auf dem Internationalen Statistischen Kongress in St. Petersburg beschlossen, künftig die Umgangssprache in den Volkszählungen zu erheben. Das Innenministerium ordnete die Erhebung der Umgangssprache im Zensus von 1880 an.148 Die Kategorie der Umgangssprache wurde nicht nur eine der umstrittensten der Volkszählung, sondern sie ist auch ein Indikator dafür, wie politische und administrative Eliten Cisleithaniens durch ihre Versuche, nationalpolitischen Forderungen durch Verrechtlichung zu begegnen, paradoxerweise zu einer Ethnisierung des Nationalitätenbegriffs beitrugen.149 Denn in der Kategorie »Umgangssprache« konnte nur eine Sprache eingetragen werden, wodurch der Gleichsetzung von Nationalität und Sprache Vorschub geleistet wurde. Multilingualität und die Uneindeutigkeit nationaler Zugehörigkeit in der Alltagswelt der Bevölkerung fanden so keinen Niederschlag in amtlichen Statistiken.150 Nationalistische Bewegungen machten Sprachenrechte zu einer Frage der Bildungspolitik aber auch der Kommunikation zwischen Verwaltung und Bevölkerung.151 In der Interaktion mit der Bevölkerung reagierte die Staats- und Landesverwaltung auf diese Forderungen, indem sie nach den 1880er Jahren Anfragen in jener Sprache beantwortete, in

146 Siehe dazu Kapitel A 1.2. 147 RGBl. 142/1867, Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867 über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder, Artikel 19. 148 Göderle, S. 219–226. 149 Cohen, Nationalist politics and the dynamics of state and civil society in the Habsburg Monarchy, 1867–1914, S. 243; siehe für andere Imperien die Beiträge in: Berger u. Miller; Stoler u. Cooper. 150 Brix; Göderle, S. 213–228. 151 Grundlegend: Stourzh, Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848–1918; Burger.

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der sie diese erhalten hatte.152 Die interne Verwaltungssprache war jedoch weiterhin Deutsch geblieben.153 Dies hätte die sogenannte Badeni’sche Sprachenverordnung geändert. Dagegen mobilisierten deutschnationale Vereinigungen die Bevölkerung auf den Straßen zahlreicher Städte Cisleithaniens, darunter Wien, Graz, Linz, Brünn / Brno, Pilsen / Plzeň und Prag / Praha, woraufhin die Regierung das Militär gegen die Demonstrierenden einsetzte. Deutschnationale (und schließlich auch sozialdemokratische) Abgeordnete legten das Parlament durch Obstruktionspolitik lahm, weshalb der zu diesem Zeitpunkt neu zu verhandelnde Ausgleich mit Ungarn nicht beschlossen werden konnte. Vor diesem Hintergrund verfügte der Kaiser am 28. November 1897 die Schließung des Parlaments und den Rücktritt Badenis. Daraufhin kam es wiederum zu Demonstrationen der tschechischsprachigen Bevölkerung und gewaltsamen Zusammenstößen. Die Nachfolgeregierung unter Paul Gautsch von Frankenthurn verhängte über Prag / Praha und weitere böhmische Gerichtsbezirke das Standrecht. Drei Regierungen (geleitet von Paul Gautsch von Frankenthurn, Franz von Thun und Hohenstein und Manfred von Clary-Aldringen) konnten aufgrund der Obstruktionspolitik im Parlament zum Teil nur per Notverordnungsrecht regieren. Diese Taktik verstärkte wiederum die Widerstände der Parlamentarier gegen die Regierungen, weshalb sie nach jeweils weniger als einem Jahr Tätigkeit ihren Rücktritt einreichten. Die Regierungskrise dauerte bis zur Berufung Ernest von Koerbers zum Ministerpräsidenten im Januar 1900 an.154 Die Zeit um 1900 lässt sich jedoch nicht auf diese Krisenhaftigkeit reduzieren. Vielmehr lieferten die Konflikte den Anstoß, über eine stärkere Rolle des Zentralstaats nachzudenken, und lenkten den Blick cisleithanischer Politiker auf die zentralstaatliche Verwaltung als Schnittstelle zur Bevölkerung.155 Als Ernest von Koerber 1900 zum Ministerpräsidenten ernannt wurde, entwickelte er eine Reihe von Reformvorhaben als Antwort auf die vorangegangene Phase hoher politischer Instabilität. In seinen weitreichenden Reformplänen verband Koerber eine Neuverteilung öffentlicher Aufgaben mit der Hoffnung, durch ein stärkeres Engagement der zentralstaatlichen Regierung und Verwaltung die politische Stabilität Cisleithaniens zu erhöhen. Noch im Jahr 1900 unternahm er den Versuch einer Verfassungsreform, die das existierende Parteiensystem aufbrechen, nationalistische Parteien schwächen und stattdessen die Rolle der Liberalen und Sozialdemokraten stärken sollte. Dadurch wollte Koerber die Beziehung zwischen einer weiterhin dem Monarchen und nicht dem Parlament verpflichteten Regierung und den Abgeordneten auf eine neue kooperative, an-

152 Stourzh, Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848–1918, S. 100–140. 153 Zur Badeni-Krise siehe: Mommsen, S. 111–117. 154 Hasiba, S. 97–121; Rumpler, S. 844–851. 155 Deak, Forging a Multinational State, S. 226–259.

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statt konfrontative Basis stellen.156 Allerdings verblieb dieser Plan ein internes Memorandum, da er nicht die Zustimmung Franz Josephs erhielt.157 Danach suchte Koerber nach alternativen Wegen, die Beziehung zwischen Bevölkerung und Staat zu transformieren. Dazu lancierte er zunächst ein erfolgreiches Investitionsprogramm in die Infrastruktur der cisleithanischen Reichshälfte, mit dem er die Obstruktion des Parlaments durch nationalistische Parteien beenden und den verfassungsmäßigen Gesetzgebungsprozess wiederherstellen konnte.158 In der Reform der staatlichen Verwaltung erblickte Koerber jedoch ein noch wichtigeres Instrument, um die Beziehung der Bevölkerung zum Staat auf eine neue Grundlage zu stellen. Er nutzte, wie John Deak schreibt, »administrative reform in place of constitutional or political reform«.159 Als Koerber im Jahr 1904 mit den »Studien zu einer Reform der inneren Verwaltung« die Debatte um eine umfassende Verwaltungsreform anstieß, hatte sich die Lage der Regierung allerdings bereits wieder dramatisch verschlechtert, weshalb auch diese Pläne schließlich nicht umgesetzt wurden.160 In den »Studien« stellte Koerber prinzipielle Überlegungen zur Staatlichkeit Cisleithaniens an und führte aus, warum er die Organisation von Sozialpolitik in Cisleithanien als ein Problem der Beziehung zwischen Staat und Bevölkerung betrachtete. Im selben Jahr legte er ein »Programm für die Reform und den Ausbau der Arbeiterversicherungen« vor,161 in dem er diese theoretischen Erwägungen in konkrete organisatorische und finanzielle Maßnahmen in der Sozialversicherung übersetzte. Die Prämisse Koerbers in den »Studien zu einer Reform der inneren Verwaltung« war, dass die Beziehung zwischen Staat und Bevölkerung zerrüttet sei. Zwei der wesentlichen Gründe für dieses problematische Verhältnis identifizierte er im sozialpolitischen Governance-Modell der cisleithanischen Regierungen und in der föderalen Struktur sozialer Fürsorge. Denn die »Wohlfahrtseinrichtungen, deren günstige Wirkung von der Bevölkerung unmittelbar empfunden und daher geschätzt wird«,162 seien nicht Teil der zentralstaatlichen Verwaltung. Die meisten Aufgaben der sozialen Fürsorge oblägen den Gemeinden oder Kronländern. Als Konsequenz dieser Mängel in der Verwaltungsstruktur würden »[d]ie politische [d. h. zentralstaatliche; T. S.R.] Verwaltung und die Bevölkerung sich vielfach fremd gegenüber[stehen]«.163 Die Bevölkerung würde 156 Lindström, Ernest von Koerber and the Austrian State Idea, S. 149–156. 157 Deak, Forging a Multinational State, S. 236. 158 Zum Investitionsprogramm siehe: Gerschenkron; für eine Untersuchung der Wirtschafts-, Verfassungsreform- und Verwaltungsreformprojekte Koerbers siehe: Lindström, Empire and identity, S. 42–58. 159 Deak, Forging a Multinational State, S. 235. 160 Koerber; Lindström, Ernest von Koerber and the Austrian State Idea, S. 143–184; ders., Empire and identity, S. 42–71. 161 o. A., Programm für die Reform und den Ausbau der Arbeiterversicherung. 162 Koerber, S. 8. 163 Ebd., S. 4.

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den Staat als feindselige Entität oder als »rücksichtslos auszubeutende Geldquelle« betrachten.164 Umgekehrt sei die Art und Weise, wie Beamte die Pflege öffentlicher Wohlfahrt begriffen, gleichermaßen problematisch. Anstatt von den Interessen der Individuen auszugehen, verstünden sie darunter eine Abstraktion vom Wohl des oder der Einzelnen.165 Daher, so führte Koerber weiter aus, müsse der Staat näher an die Bevölkerung herantreten, wenn er deren Ansehen und politische Legitimation zurückgewinnen wolle. Die Lösung bestand für ihn in der Schaffung neuer staatlicher Behörden auf Ebene der Gerichtsbezirke, die einen Großteil der Agenden der autonomen Verwaltungen übernehmen sollten.166 Dies hätte das Verhältnis zwischen Regierung und Kronländern weitgehend neu arrangiert. In ähnlicher Weise wollte Koerber 1904 in der Sozialversicherung eine Struktur durchsetzen, die zentralisiert war und zugleich bis hinab auf die lokale Ebene reichte. Zudem sollte der Staat die Sozialversicherungen finanziell mittragen. Koerber bezweckte mit seiner Reform eine Stärkung des Zentralstaats durch Ausdehnung seiner Aufgabengebiete und durch Erhöhung seiner sozialen Reichweite. In Zeiten erhöhter Destabilisierungserfahrungen durch die magyarischen Autonomiebestrebungen und die cisleithanische Regierungskrise nach 1897 sollte dies den staatlichen Zusammenhalt neuerlich stärken. Es zeugt von der Bedeutung, die Sozialpolitik erlangte, dass Koerber sie als eines der zentralen Instrumente dafür ansah. Koerbers Überlegungen prägten allerdings nicht nur seine eigenen sozialpolitischen Vorhaben, sondern auch diejenigen nachfolgender Regierungen. Auf die Phase der Stabilisierung in den 1890er Jahren folgte daher eine Zeit, in der Expansionsbemühungen die Debatten um die Sozialversicherungen bestimmten. Die sozialpolitischen Entwicklungen des Jahrzehnts vor dem Ersten Weltkrieg waren daher nicht von »Stagnation« gekennzeichnet.167 Allerdings ist Koerbers sozialpolitische Rolle deutlich ambivalenter als diese Plädoyers für einen Ausbau der Sozialversicherung vermuten lassen. Denn 1901 lehnte er einen Staatsbeitrag zur geplanten Rentenversicherung für Angestellte vehement ab. Diese zwei Standpunkte waren jedoch nicht das Resultat eines politischen Meinungsumschwungs. Vielmehr gibt Koerbers Rolle Einblick darin, wie Pläne zum Ausbau des Versicherungswesens in paradoxer Weise mit der Aufrechterhaltung des bestehenden Governance-Modells verschränkt waren.

164 Ebd. 165 Ebd. 166 Deak, Forging a Multinational State, S. 256. 167 Tálos, S. 94; zu diesem Schluss kommt auch: Senghaas, Die Territorialisierung sozialer Sicherung, S. 117–119.

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2.3.1 Die Grenzen staatlicher Sozialpolitik in der Arbeitsvermittlung Im Jahr 1901 legte die Regierung Koerber einen Gesetzesentwurf für eine Rentenversicherung der Angestellten vor.168 Das Gesetz umfasste eine Versicherung der Angestellten gegen Alter und Invalidität, darüber hinaus jedoch auch eine Unterstützung im Falle der Erwerbslosigkeit und eine Stellenvermittlung. Das Gesetz ist insofern eine Ausnahme, als es eine Ausweitung staatlichen sozialpolitischen Handelns in zwei Richtungen gleichzeitig versuchte. Es spiegelt damit zugleich wider, welche Themen um 1900 in den Fokus sozialpolitischer Debatten und Reformversuche rückten. Die Bemühungen, einerseits den Zentralstaat als Regelungsinstanz in der Stellenvermittlung zu etablieren und andererseits Alter und Invalidität in die Sozialversicherung zu integrieren, geben einen Einblick in Auseinandersetzungen um Reichweite und Form staatlichen sozialpolitischen Handelns in Cisleithanien um 1900.169 Wie in anderen europäischen Staaten erlangten Konzept und Phänomen der »Arbeitslosigkeit« in Cisleithanien im ausgehenden 19. Jahrhundert an Bedeutung. Ihre Definition blieb jedoch höchst ambivalent und umstritten.170 Gesetzlich war die Migration erwerbsloser Personen bis 1914 über das sogenannte »Vagabundengesetz« als verbotene Landstreicherei erfasst,171 die Fürsorge für Erwerbslose gehörte zum Kompetenzbereich der Gemeinden.172 Auf lokaler Ebene bestanden bereits unterschiedliche genossenschaftliche, kommerzielle, unternehmerische oder wohltätige Arbeitsvermittlungen. Kommunalpolitiker begannen zwischen 1890 und dem Beginn des Ersten Weltkrieges, diese durch öffentliche Arbeitsvermittlungsstellen zu ergänzen.173 Zusätzlich zu diesen kommunalen Initiativen schufen sieben Kronländer Cisleithaniens, darunter Mähren 1888, Schlesien 1892 und Böhmen 1895, sogenannte Naturalverpflegsstationen. Diese folgten Vorbildern in der Schweiz, den Niederlanden und Teilen des Deutschen Kaiserreiches und boten Verpflegung, Unterkunft und Verzeichnisse freier Stellen an, wurden von den Gemeinden geführt und unterstanden als öffentliche Einrichtungen der jeweiligen Landesregierung.174 In Böhmen beschloss der Landtag im Jahr 1903, ein zentralisiertes, öffentliches Arbeitsvermittlungssystem einzurichten. Die bestehenden Naturalverpflegsstationen wurden zu diesem Zweck zu Zweigstellen des neu geschaffenen Landeszentralarbeitsamtes / Zemský ústřední úřad práce in Prag / Praha umgewandelt.175 Auf dem Feld der Erwerbslosenfürsorge waren also um 1900 die Kronländer und Gemeinden

168 StPAH, XVII. Session, Nr. 874 der Beilagen. 169 Zur Rentenversicherung siehe Kapitel A 2.3.2. 170 Zimmermann, Arbeitslosigkeit in Deutschland; dies., Semantiken der Nicht-Arbeit an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert; Wadauer. 171 Wadauer, S. 42–43. 172 Bosse, S. 315–316. 173 Mischler, S. 205; Krempl u. Thaler, S. 27. 174 Rákosník u. a., S. 77; Wadauer, S. 43–46. 175 Mischler, S. 203; Krejčí, S. 702–707; Rákosník u. a., S. 78; Englová, S. 87–108.

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zentrale sozialpolitische Akteure. Ab 1898 versuchten jedoch die Beamten des arbeitsstatistischen Amtes des Handelsministeriums, schrittweise die zentralstaatliche Verwaltung in der Arbeitsvermittlung zu etablieren. Während die Aufsicht über die Sozialversicherungen beim Innenministerium lag, avancierte das Handelsministerium mit der Schaffung des arbeitsstatis­ tischen Amtes 1898 und einer eigenen sozialpolitischen Sektion 1908 zu einem zweiten Zentrum sozialpolitischer Aktivität in der cisleithanischen Zentralverwaltung.176 Die Beamten des Handelsministeriums arbeiteten ab 1898 darauf hin, eine regelmäßig erscheinende, einheitliche Statistik der Arbeitsvermittlung für Cisleithanien zu veröffentlichen. Dafür war es notwendig, die Erhebungs- und Aufschreibemodalitäten lokaler, öffentlicher, genossenschaftlicher und privater Arbeitsvermittlungsanstalten auf eine gemeinsame Grundlage zu stellen, um Daten zu erhalten, die miteinander kompatibel waren.177 Erst in einem zweiten Schritt wurde 1913 eine erste Statistik speziell zur Arbeitslosigkeit in Cisleithanien erstellt.178 Über die Sammlung von Daten hinausgehend erarbeiteten die Beamten ebenfalls noch 1898 einen Gesetzesentwurf für die Einrichtung öffentlicher Arbeitsvermittlungsstellen. Dieses Vorhaben zeigt nicht nur den Versuch, sozialpolitische Kompetenzen des Zentralstaats auszubauen. Es demonstriert zudem die Attraktivität des sozialpolitischen Governance-Modells des Versicherungswesens und dessen Anpassungsfähigkeit an neue Aufgabenfelder. Analog zum Innenministerium in der Sozialversicherung positionierte sich das Handelsministerium für die Arbeitsvermittlung als normsetzende und kontrollierende Instanz. Der Gesetzesentwurf verpflichtete Gemeinden mit mindestens 30.000 Einwohnern dazu, die Arbeitsvermittlungsstellen einzurichten, wodurch Kosten für das Staatsbudget vermieden wurden. Die Arbeitsvermittlung sollte ebenfalls dem Interessensausgleich zwischen Arbeiter- und Unternehmerschaft dienen, weshalb der Entwurf paritätische Leitungsgremien für die entsprechenden Vermittlungsbüros vorsah.179 Die Debatte über den Gesetzesentwurf im Arbeitsbeirat, einem Gremium externer Fachleute beim arbeitsstatistischen Amt, zeigt jedoch, dass dieses Governance-Modell um 1900 nicht nur in der Sozialversicherung in die Kritik kam. Ernst Mischler erarbeitete 1899 mit einem Ausschuss des Beirates ein alternatives Konzept öffentlicher Arbeitsvermittlung.180 Er war seit 1893 Leiter des statistischen Landesamtes der Steiermark sowie seit 1897 außerdem der Arbeitsvermittlungsstelle für Graz und Steiermark und Mitglied des Arbeitsbeirates. In seinem Konzept propagierte er eine stärkere Durchdringung des Staatsgebietes mit öffentlichen Arbeitsvermittlungsstellen als Organen der zentralstaatlichen 176 Wagner, S. 142; Senghaas, Die Territorialisierung sozialer Sicherung, S. 124. 177 Desrosières, S. 333–334. 178 Pellar, S. 322–328. 179 Ebd., S. 320–343, hier insbesondere: S. 330–333. 180 Ebd., S. 330.

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Verwaltung,181 für die der Staat die Kosten tragen sollte.182 Mischlers Gegenentwurf zog eine intensive Debatte über die Kompetenzen des Zentralstaates gegenüber den Kronländern nach sich – eine Streitfrage, die eine zentralstaat­ liche Gesetzgebung auf dem Gebiet der Arbeitsvermittlung bis zum Ersten Weltkrieg verhinderte.183 Das Scheitern der Verhandlungen bedeutete jedoch nicht das Ende staatlicher Aktivitäten auf dem Feld der Arbeitsvermittlung. Die Beamten des Handelsministeriums waren weiterhin bemüht, sich Einfluss darauf zu sichern. Sie waren sogar bereit, das von ihnen verfolgte Governance-Modell für diesen Zweck anzupassen, indem sie staatliche Unterstützungen gewährten. So verliehen sie ab 1899 all jenen Arbeitsvermittlungsstellen finanzielle Unterstützung, die sich an der staatlichen Arbeitsvermittlungsstatistik beteiligten, und stellten außerdem den Landesausschüssen aller Provinzen mit Naturalverpflegsstationen Geld zur Verfügung, um besonders erfolgreiche Einrichtungen zu fördern.184 Zwischen 1899 und 1909 stiegen diese Subventionen von 4.400 auf 27.000 Kronen, also um mehr als das Sechsfache.185 Die Beamten des Handelsministeriums reagierten flexibel auf das Scheitern eines gesetzlichen Regelungsanspruchs und setzten stattdessen auf monetäre Anreize. Förderungen sollten lokale Stellen dazu bewegen, den ministeriellen Vorgaben zu folgen und den Beamten Datenmaterial zu liefern. Dieses Vorgehen kritisierte allerdings das cisleithanische Finanzministerium und lehnte 1912 schließlich eine weitere Erhöhung des entsprechenden Etats mit der Begründung ab, »dass die Förderung der Arbeitsvermittlung in erster Linie anderen Faktoren als dem Staate obliegt«.186 In Relation zum beantragen Gesamtbudget des Handelsministeriums im Jahr 1909, das sich auf über 162 Millionen Kronen belief, stellten diese Subventionen einen verschwindend geringen Finanzposten dar.187 Nicht die Höhe der Ausgaben an sich kann daher maßgebend für die Bedenken des Finanzministeriums gewesen sein. Stattdessen wandten sie sich gegen die Verquickung eines staatlichen Regelungsanspruchs mit Fördergeldern auf einem Feld, das in die Kompetenz der Kronländer fiel. Zu diesem Zeitpunkt verengten sich zudem die finanziellen Handlungsspielräume durch die Kosten der Annexion Bosnien-Herzegowinas und steigender Militärausgaben, während gleichzeitig die Reichseinnahmen aufgrund eines Konjunkturabschwungs zurückgingen.188 Im Finanzministerium sträubte man sich 181 Ebd., S. 332–333. 182 Ebd., S. 331–332. 183 Ebd., S. 330–332; Osterkamp, Vielfalt ordnen, S. 294. 184 o. A., Bericht über die Thätigkeit des k. k. arbeitsstatistischen Amtes im Handelsministerium seit seiner Errichtung bis Ende 1900, S. 34–35. 185 Ebd.; o. A., Bericht über die Tätigkeit des k. k. arbeitsstatistischen Amtes im Handelsministerium während des Jahres 1909, S. 17. 186 Zit. nach Pellar, S. 320. 187 Entwurf des Finanzgesetzes für das Jahr 1909, StPAH, XVIII. Session, Nr. 1230 der Beilagen, S. 49. 188 Siehe dazu Kapitel A 1.2.

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daher dagegen, dem Zentralstaat finanzielle Lasten aufzuerlegen, die eigentlich den autonomen Landesverwaltungen zukamen. Dieser Widerstand des Finanzministeriums konstituierte jedoch nicht einfach ein Scheitern sozialpolitischer Initiativen. Vielmehr demonstriert das Vorgehen des Handelsministeriums, dass die Ministerialbürokratie auf dem Feld der Sozialpolitik Handlungsspielräume auslotete und mit unterschiedlichen Positionierungen des Staates experimentierte. Die Bemühungen des Handelsministeriums machen deutlich, dass sich staatliche Sozialpolitik auch dann weiterentwickelte, wenn gesetzliche Initiativen scheiterten. Anstelle der normativen Regelung der Arbeitsvermittlung setzten die Beamten nun darauf, durch finanzielle Anreize eine Selbstregulierung zivilgesellschaftlicher Initiativen zu erreichen.189 Die sozialpolitische Dynamik Cisleithaniens zeigt sich daher nicht allein in den Formen und der Reichweite der Sozialversicherung, sondern auch darin, wie sich das Verhältnis von Verwaltung und Zivilgesellschaft wandelte. Der Verordnungsweg eröffnete den Beamten dabei die Möglichkeit, diskrete Anpassungen am Governance-Modell vorzunehmen, denn sie zogen keine neuen Rechtsansprüche nach sich und konnten mutmaßlich jederzeit eingeschränkt oder zurückgenommen werden. Das Vorgehen des Finanzministeriums zeigt jedoch, dass ein stärkeres sozialpolitisches Engagement der Zentralregierung in der Ministerialverwaltung auch kritisch gesehen wurde. Stattdessen gewannen vor dem Ersten Weltkrieg finanzpolitische Bedenken und sicherheitspolitische Zielsetzungen erneut an Bedeutung. Staatliche Sozialpolitik ›stagnierte‹ also keineswegs nach Einführung der Unfall- und Krankenversicherung. Ganz im Gegenteil erprobten Politiker und Beamte durch Kontinuität und Adaption Geltungsbereiche staatlichen Handelns, wie die Entwicklung des Gesetzesentwurfs für eine Rentenversicherung der Angestellten demonstriert. 2.3.2 Kontinuität und Anpassung: Die Rentenversicherung für Angestellte Koerbers Vorhaben, die Rentenversicherung um eine Erwerbslosenunterstützung und Stellenvermittlung zu erweitern, lehnte der sozialpolitische Ausschuss des Reichsrats rasch ab.190 Zwei andere Themen erwiesen sich als deutlich kontroverser und bestimmten die Debatten um die Versicherung: die Schaffung einer zentralen Rentenversicherungsanstalt in Wien und die Beitragsleistung des Staates. In beiden Punkten hielten Koerber und sein Nachfolger als Ministerpräsident Konrad zu Hohenlohe-Schillingsfürst das etablierte Governance-Modell aufrecht: Die Regelungsstrukturen der Versicherung waren weiterhin vertikal auf die zentralstaatliche Ministerialverwaltung ausgerichtet, integrierten jedoch föderale Elemente. Einen Zuschuss zu den Versicherungsbeiträgen aus dem Staatsbudget lehnten Koerber und Hohenlohe strikt ab. Ihr Vorgehen sollte jedoch nicht den Blick dafür verstellen, dass die Regierung zugleich an beiden Punkten diskrete, aber entscheidende Anpassungen vornahm. 189 Collin u. a. 190 Hofmeister, Landesbericht Österreich, S. 618.

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Zwar machte Koerber erst 1904 seine Ansicht publik, dass der cisleithanische Staat der Bevölkerung unmittelbarer gegenübertreten müsse, allerdings spiegelte bereits die geplante Struktur der Rentenversicherung seine späteren Reformpläne wider. Das gilt in zweifacher Hinsicht, auch wenn die Versicherungsanstalten weiterhin nicht Teil der Staatsverwaltung waren: Zum einen sah der Gesetzesentwurf von 1901 eine einzige zentrale Versicherungsanstalt in Wien vor, welche das gesamte Versicherungsvolumen verwaltete. Die Rentenversicherung hätte dadurch erstmals eine »Risikengemeinschaft« ihrer Versicherten in ganz Cisleithanien etabliert.191 Zum anderen sollte sie Zweigstellen nicht auf Ebene der Provinzen, sondern der politischen Bezirke haben. Dadurch hätte die Versicherung auf der Organisationsstruktur der zentralstaatlichen Verwaltung und nicht der Kronländer aufgesetzt. Diese Verflechtungen zwischen der zentralen zur lokalen Ebene hätten sie deutlich von der Unfallversicherung unterschieden, wo die einzelnen Landesanstalten eigenständig und nur über den gemeinsamen Reservefond miteinander verbunden waren. Dieser geplante Aufbau der Rentenversicherung erwies sich als ein zentraler Konfliktpunkt in den Ausschussverhandlungen. Für zahlreiche Abgeordnete hatte die territoriale Gliederung als Projektionsfläche föderaler Ordnungsvorstellungen weiterhin große Bedeutung. Allerdings demonstriert eine diskrete Anpassung der Regierung nach Verabschiedung des Gesetzes 1906, dass das Kronland nicht mehr der alleinige nationalpolitische Bezugspunkt war.192 Stattdessen wurden unterschiedliche Formen nationalpolitischer Verortung in die Struktur der Rentenversicherung inkorporiert. Bereits im sozialpolitischen Ausschuss formierte sich der Widerstand nichtdeutschsprachiger Abgeordneter gegen diese stärker zentralisierte Struktur. Sie legten einen Gegenentwurf mit eigenständigen Landesversicherungsanstalten vor. Nach zähen Verhandlungen verabschiedete der Ausschuss eine Kompromisslösung, derzufolge die zentrale Versicherungsanstalt in Wien bestehen blieb, aber Landes- und nicht Bezirksstellen für die Kommunikation mit den Versicherten zuständig waren.193 Damit setzten die Abgeordneten einerseits durch, dass die Organisation der Rentenversicherung wiederum die föderale Architektur Cisleithaniens widerspiegelte. Zudem erhielten die Landesausschüsse ein Mitspracherecht bei der Ernennung der Obmänner der Landesstellen. Auch die Entscheidung über Rentenansprüche blieb weiterhin dezentral auf Ebene der Landesstellen verortet, inklusive territorialer Schiedsgerichte. Andererseits gelang es jedoch, eine ganz Cisleithanien umfassende »Risikengemeinschaft« zu schaffen, indem die Verwaltung des Versicherungsvermögens der zentralen Anstalt in Wien übertragen wurde.194 Das 1906 beschlossene Gesetz integrierte 191 Senghaas, Die Territorialisierung sozialer Sicherung, S. 228. 192 Ebd., S. 227–232. 193 Hofmeister, Landesbericht Österreich, S. 618–619; Senghaas, Die Territorialisierung sozialer Sicherung, S. 228–232. 194 Senghaas, Die Territorialisierung sozialer Sicherung, S. 228.

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somit gleichermaßen imperiale wie föderale Ordnungsvorstellungen und Formen der Vergemeinschaftung. Allerdings ging die Rentenversicherung über diese Verbindung von imperial und föderal hinaus, die bereits die Unfallversicherung teilweise kennzeichnete. Zwar behandelten sowohl tschechisch- als auch deutschsprachige Abgeordnete die zentralistische oder föderalistische Struktur der Versicherung erneut als Nationalitätenpolitik. Aber die Kronländer reichten ihnen als vermittelnde Instanz zwischen Reich und Nationen nicht mehr aus. Wie schon in der Unfallversicherung bedeutete eine auf den Provinzen aufbauende Versicherungsstruktur, dass die Landesstellen für mehrsprachige, multinationale Gebiete zuständig sein würden. Dadurch unterlief diese Organisationsform das Ziel nationalis­ tischer Bewegungen, die Nationalität zur primären Identität zu machen, die sich in Formen politischer Repräsentation und Partizipation widerspiegeln sollte. Bereits 1907 erhoben deutschsprachige Interessensvertretungen aus Böhmen die Forderung, die Landesstelle nach nationalen Gesichtspunkten zweizuteilen – eine für die deutsch-, die andere für die tschechischsprachige Bevölkerung Böhmens.195 Nach Verhandlungen mit den Landesausschüssen 1908 schuf die cisleithanische Regierung auf dem Verordnungsweg für Böhmen und Mähren jeweils zwei Landesstellen.196 Die Regierung inkorporierte dadurch eine Dimension in die Struktur der Versicherung, die über die etablierten imperialen und föderalen Ordnungsmuster hinausging und die Bevölkerung der Kronländer gemäß unterschiedlicher Logiken nationaler Abgrenzung erfasste. Staatliche Sozialpolitik verlief nicht entkoppelt von anderen Politikfeldern, sondern griff Entwicklungen dynamisch auf. In Mähren beruhte dieses Vorgehen auf dem 1905 im Landtag beschlossenen »mährischen Ausgleich«. Mit diesem wollten deutsch- und tschechischsprachige nationalpolitische Parteien die nationalistischen Konflikte entschärfen, indem sie nationale Wählerlisten schufen. Die Sitze im Landtag wurden daher zum einen nach »Tschechen« und »Deutschen« eingeteilt, und man konnte nur für Abgeordnete jener Sprachgruppe stimmen, zu der man sich selbst bekannte. Dieser Kompromiss kam jedoch nur zustande, weil er den deutschsprachigen Parteien zugleich erlaubte, ihre Stellung im Landtag abzusichern, indem er zum anderen das Kurienwahlrecht aufrechterhielt. Denn in den Wählerklassen der Städte und Handelskammern stellte die deutschsprachige Bevölkerung

195 StPAH, XVIII. Session, 23. Sitzung (18. September 1907), Anhang I, 938/I, Interpellation der Abgeordneten Pacher, Dr. Sommer, Wolf und Genossen, betreffend die Errichtung einer besonderen deutschen und tschechischen Landesstelle der Pensionsanstalt für Privatbeamtenversicherung in Böhmen. 196 RGBl. 227/1908 Kundmachung des Ministeriums des Innern über die territoriale Abgrenzung und die Bestimmung der Sitze der in Gemäßheit des § 53 des Gesetzes vom 16. Dezember 1906, R. G. Bl. Nr. 1 ex 1907, betreffend die Pensionsversicherung der in privaten Diensten und einiger in öffentlichen Diensten Angestellten, zu errichtenden Landesstellen der Pensionsanstalt. Siehe auch: Senghaas, Die Territorialisierung sozialer Sicherung, S. 228–230.

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(noch) überwiegend die Mehrheit. Gleichzeitig verschaffte dieses System den etablierten tschechischsprachigen Parteien einen Vorteil gegenüber konkurrierenden Massenparteien, da die neu eingeführte allgemeine Wählerklasse nur eine geringe Anzahl der Sitze wählte. Schließlich bildeten laut dem »Ausgleich« die Großgrundbesitzer die drittgrößte Gruppe im Landtag. Sie bekannten sich nicht eindeutig zu einer Nation, betonten ihre Loyalität zum Kaiser und / oder zum Kronland und hatten entscheidend dazu beigetragen, dass der Kompromiss beschlossen wurde. Zugleich brachten sie sich durch den Ausgleich in eine ausschlaggebende Stellung im Landtag, weil die nach nationalen Gesichtspunkten vergebenen Sitze allein nicht für eine Mehrheit ausreichten.197 Allerdings bedeutete dieser Ausgleich auch, dass nationale Identitäten nun politisch und administrativ festgeschrieben wurden. Andere Selbstverortungen, die sich auf den Wahlregistern fanden, wie etwa »Österreicher«, »Katholik« oder »Habsburggetreuer«, stellten keine offiziellen Kategorien dar.198 Auf diesen nationalen Wahlregistern aufbauend teilten die beiden Landesstellen der Rentenversicherung in Brünn / Brno ihre Verantwortlichkeit nach der Nationalität der Versicherten.199 In Böhmen basierte die Trennung der Zuständigkeitsbereiche der beiden Landesstellen nicht auf nationaler Selbstidentifikation, sondern auf territorialer Abgrenzung der deutschen und tschechischen Sprachgruppe im Rahmen der Reichsratswahlbezirke.200 Dies war das Modell, das tschechisch- und deutschsprachige Politiker ab den 1890er Jahren verfolgten, um einen nationalpolitischen Ausgleich in Böhmen zu erzielen. Obwohl ein solcher Ausgleich nie zustande kam, spielten diese Überlegungen bei der Festlegung der Reichsratswahlbezirke im Rahmen der Abschaffung des Kurienwahlrechts und der Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts 1907 eine große Rolle. Denn mit der Wahlrechtsreform sollten in allen Kronländern Wahlbezirke mit klaren nationalen Mehrheitsverhältnissen geschaffen werden, um nationalistische Konflikte zu entschärfen.201 In die Organisation der Rentenversicherung inkorporiert wurden diese Abgrenzungen jedoch nur in Böhmen, obwohl ähnliche nationalpolitische Ausgleichsabkommen 1909/1910 in der Bukowina und 1914 in Galizien beschlossen wurden.202 Dies zeigt, wie regionale Lösungsversuche für Nationalitätenkonflikte auf zentralstaatliche Politiken zurückwirk197 Kelly, S. 279–303. 198 Die Beispiele sind entnommen aus: Judson, The Habsburg Empire, S. 316: »›Austrian‹ or ›Catholic‹ or ›Habsburg loyalist‹«; Siehe auch: Stourzh, Ethnic Attribution in Late Imperial Austria, S. 157–176, insbes.: S. 162–163. 199 RGBl. 227, Kundmachung des Ministeriums des Innern vom 5. November 1908 über die territoriale Abgrenzung und die Bestimmung der Sitze der in Gemäßheit des § 53 des Gesetzes vom 16. Dezember 1906, RGBl. Nr. 1 ex 1907, betreffend die Pensionsversicherung der in privaten Diensten und einiger in öffentlichen Diensten Angestellten, zu errichtenden Landesstellen der Pensionsanstalt, Absatz 5. 200 Ebd., Absatz 1. 201 Luft, S. 124–125; Kann, Ideen und Pläne zur Reichsreform, S. 225–232. 202 Stourzh, The National Compromise in the Bukovina, S. 177–189; Kuzmany, S. 43–65.

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ten und dazu beitrugen, ›Nationen‹ zunehmend als exklusive Identifikationen festzuschreiben.203 Die Rentenversicherung demonstriert, dass föderalistische und nationalpolitische Ordnungsvorstellungen anders als noch bei der Unfallversicherung nur noch bedingt deckungsgleich waren. Allerdings resultierte daraus nicht notwendigerweise (politische) Dysfunktionalität. Kompromisse waren auch wenige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg noch zu erreichen, und die Rentenversicherung integrierte imperiale, föderale und nationale Ordnungsmuster. Imperiale Sozialpolitik entwickelte sich also nicht nur im Hinblick darauf weiter, welche sozialen Risiken sie erfasste. Darüberhinausgehend gelang es der cisleithanischen Regierung, nationale Forderungen in die Sozialversicherung zu inkorporieren. Die Debatten um die Finanzierung der Versicherung machen außerdem deutlich, dass imperiale Sozialpolitik daher auch für nationalistische Politiker attraktiv war. Das Governance-Modell der Sozialversicherung war der zweite zentrale Konfliktpunkt der Verhandlungen über die Rentenversicherung. Dabei war eine Dimension des Governance-Modells unbestritten: dass die Versicherung eine Institution des Ausgleichs zwischen Arbeitgebern und -nehmern darstellte. Die Konflikte drehten sich nicht mehr darum, ob die Versicherungsbeiträge auf beide Gruppen aufgeteilt werden sollten, wie es noch bei der Unfallversicherung der Fall gewesen war. Stattdessen stand ein staatlicher Beitrag zur Versicherung im Zentrum der Debatten. Die Proponenten eines Staatszuschusses argumentierten, dass mit der normsetzenden und kontrollierenden Funktion der zentral­ staatlichen Verwaltung eine Pflicht des Staates einhergehe, zur Versicherung beizutragen.204 Diese Forderung vereinte Handels- und Gewerbekammern und Sozialdemokraten, Abgeordnete der Alldeutschen Vereinigung und des Klub svobodomyslných lidových poslanců českých / K lub der freisinnigen nationalen böhmischen Abgeordneten.205 Auch hier zeigt sich erneut, dass Multinationalität staatliche Sozialpolitik nicht notwendigerweise blockierte, selbst nationalistische Politiker forderten, dass der imperiale Staat an der Finanzierung der Sozialversicherung mitwirke. In den Verhandlungen über einen Staatszuschuss spielte das Projekt einer Alters- und Invaliditätsversicherung für weitere Teile der erwerbstätigen Bevölkerung eine große Rolle. Sowohl in den Verhandlungen des Ausschusses als auch in den Parlamentsdebatten traten Vertreter der Regierung und Ministerialverwaltung für die Aufrechterhaltung des Governance-Modells ein. Josef von 203 Zahra, Kidnapped Souls, S. 32–39. 204 StPAH, XVII. Session, 371. Sitzung (31.01.1906), S. 33633; ebd., 372. Sitzung (01.02.1906), S. 33706. 205 Kim, S. 58–65; StPAH, XVII. Session, Nr. 2462 der Beilagen, Minoritätsvotum des Abgeordneten Eldersch und Genossen zu dem Berichte des sozialpolitischen Ausschusses, betreffend die Pensionsversicherung der in privaten Diensten und einiger in öffentlichen Diensten Angestellten (Nr. 874 der Beilagen), S. 1–11; StPAH, XVII. Session, 371. Sitzung (31.01.1906), S. 33634; ebd., 372. Sitzung (01.02.1906), S. 33696, 33706.

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Wolf, Sektionschef im Innenministerium, lehnte in der Sitzung vom 22. Mai 1903 einen Staatszuschuss mit dem Argument ab, dass »die Regierung für ein Spezialgesetz keine Staatsbeiträge leistet«.206 Er griff damit jene Argumentation wieder auf, die bereits 1883 gegen einen Zuschuss zur Unfallversicherung ins Feld geführt worden war. Ministerpräsident Koerber, der auf Einladung des Ausschusses an der Sitzung vom 26. Mai 1903 teilnahm, betonte ebenfalls, dass die Regierung »keine staatliche Garantie […] übernehmen [könne], solange nicht für die große Menge der manuellen Arbeiter Fürsorge getroffen ist.«207 Trotz dieser vehementen Ablehnung eines Staatszuschusses warf das Herrenhaus diese Streitfrage erneut auf, nachdem es den 1906 vom Abgeordnetenhaus beschlossenen Gesetzesentwurf erhielt. Die Spezialkommission des Herrenhauses forderte in zweifacher Hinsicht eine staatliche (Ko-)Finanzierung der Rentenversicherung: Erstens beschloss sie eine Art von Staatsgarantie für die Versicherungsanstalt, indem im Falle eines Defizits nach 20 Jahren maximal 25 Prozent davon aus dem Staatsbudget gedeckt werden sollten.208 Zweitens debattierte die Kommission über einen Staatszuschuss, um kleine Renten auf ein Minimum von 600 Kronen anzuheben. Sie wollte jedoch zunächst vom Innenministerium erfahren, welche Kosten dem Staat aus einer solchen Aktion erwachsen würden.209 Gegen beide Vorhaben intervenierte Ministerpräsident Hohenlohe, der erneut betonte, dass die Regierung diese »Spezialgesetzgebung« nur unter der Bedingung verfolge, dass »von einer Belastung des Staatsschatzes abgesehen werde,« zumindest bis auch eine entsprechende Versicherung für die unselbstständig beschäftigten Arbeiter und Arbeiterinnen bestünde.210 Hohenlohe hielt damit das sozialpolitische Governance-Modell endgültig aufrecht, die Kommission entfernte die bereits beschlossene Staatshaftung aus dem finalen Gesetzestext und verfolgte den Zuschuss zu niedrigen Renten nicht weiter.211 Allerdings darf dabei nicht übersehen werden, dass die Regierung auch Zugeständnisse machte, um das Governance-Modell zu bewahren. Anstatt eines Staatszuschusses zu den Renten beschloss die Regierung, jährlich einen mit 100.000 Kronen gedeckelten Beitrag zu den Personalkosten der Rentenversicherungsanstalt zu leisten. Diese finanzielle Leistung war jedoch eine diskrete Anpassung des Governance-Modells. Die meisten Abgeordneten taten es als marginales Zugeständnis ab. Nur Wenige wie der Abgeordnete Karl Zedtwitz

206 ÖPA, Abgeordnetenhaus, Protokolle des sozialpolitischen Ausschusses (XVII. Session), Sitzung am 22.5.1903, S. 1. 207 Ebd., Sitzung am 26.5.1903, S. 1. 208 ÖPA, Herrenhaus, H20a-1-1-9, Protokoll der Spezialkommission (XVII. Session), Sitzung am 21.3.1906, unpaginiert, Änderungen § 33. 209 Ebd., 1078, 22.5.1906, Präsidium des Herrenhauses an Ministerpräsident Prinz Hohenlohe. 210 Ebd., 1078, 29.5.1906, Ministerpräsident Prinz Hohenlohe an das Präsidium des Herrenhauses. 211 Hofmeister, Landesbericht Österreich, S. 617.

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erkannten, dass damit »zum mindesten das Prinzip zum Ausdrucke gebracht [ist], daß sich der Staat an dem Institute beteiligt«.212 Für die Regierung hatte dies den Vorteil, anstatt eines potenziell immer weiter steigenden Zuschusses zu den Versicherungsleistungen einen pauschalen Beitrag zu leisten. Obwohl die Regierung bei der Ablehnung des Staatszuschusses mit dem Schlagwort der »Spezialgesetzgebung« dasselbe Argument bediente wie bei der Unfallversicherung etwa 20 Jahre zuvor, hatten sich die politischen Parameter und die sozialpolitischen Zielvorstellungen gewandelt. Seit 1896 wurde das Parlament von einer allgemeinen Wählerklasse mitgewählt, in der alle Männer ab 24 Jahren unabhängig von ihrer Steuerleistung stimmberechtigt waren. Bei den Wahlen von 1897 erlitten die etablierten altliberalen, nationalen und konservativen parlamentarischen Klubs starke Einbußen. An ihre Stelle rückten nationalistische Parteien, die jedoch auch für eine weitere Demokratisierung des Männerwahlrechts eintraten, wie die Mladočeši / Jungtschechen, oder ein sozialpolitisches Programm vorlegten, wie die Deutsche Volkspartei.213 Mit der russischen Revolution von 1905 erhielten die Forderungen, das allgemeine und gleiche Männerwahlrecht einzuführen, neuen Auftrieb. Während die Rentenversicherung 1906 im Herrenhaus verhandelt wurde, liefen bereits die Vorbereitungen für die entsprechende Wahlrechtsreform, die schließlich 1907 in Kraft trat. Führende Politiker hofften, dass dadurch sozio-ökonomische Interessen stärker zum Tragen kommen würden und man so den Erfolg nationalistischer Parteien untergraben könne.214 Einen Staatszuschuss zuerst bei der Rentenversicherung für Angestellte einzuführen und nicht bei einer Altersversicherung für breitere Bevölkerungsschichten, erschien der Regierung daher politisch unklug. Diese Ansicht hing jedoch ebenso mit den geänderten Zielen staatlicher Sozialpolitik zusammen. Denn der Begriff »Spezialgesetzgebung« erhielt durch andere semantische Verknüpfungen ebenfalls eine neue Bedeutung. Mit der Einführung der Unfall- und Krankenversicherung hatte die Regierung Taaffe gezielt eine Spezialgesetzgebung verfolgt: Sie hatte die Versicherungen als Antwort auf die sozialen Risiken industrieller Arbeitsverhältnisse und -konflikte verstanden. Sozialpolitik war daher das staatliche Eingreifen in bestimmte gesellschaftliche Problemfelder, die sich nicht auf die Allgemeinheit umlegen ließen. Mit der ›Entdeckung‹ des Alters als sozialpolitischer Aufgabe ging jedoch eine wichtige Verschiebung einher:215 Man sah Erwerbsunfähigkeit im Alter nicht als Spezifikum der Industriearbeiterschaft an, wie das Vorhaben der Rentenversicherung für Angestellte selbst deutlich macht.216 Die Rentenversicherung war daher eine Spezialgesetzgebung unter umgekehrten Vorzeichen: Sie sollte das Problem der Altersarmut 212 StPAH, XVII. Session, 372. Sitzung (01.02.1906), S. 33692. 213 Rumpler, S. 822, 836. 214 Kann, Das Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie, S. 225–232. 215 Thane; Conrad, Vom Greis zum Rentner; Schniedewind. 216 StPAH, XVII. Session, Nr. 2462 der Beilagen, S. 2.

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nur für eine soziale Gruppe lösen, obwohl es als allgemeine gesellschaftliche Herausforderung anerkannt war. In den Jahren nach der Jahrhundertwende avancierte die Altersversicherung für die breitere Bevölkerung daher zu einem zentralen Vorhaben staatlicher Sozialpolitik in Cisleithanien.217 An der Vorgehensweise der Regierung zeigt sich zudem, dass die Dynamik der sozialpolitischen Entwicklung Cisleithaniens paradoxerweise das bestehende Governance-Modell konsolidierte. Wiederholt glaubten führende Akteure, dass die Altersversicherung für breitere Bevölkerungsschichten in Kürze beschlossen würde. Der Staatszuschuss sollte erst mit diesem Prestigeprojekt eingeführt werden, zumal man davon eine enorme finanzielle Belastung für den Staatshaushalt erwartete. Die Kontinuität des Governance-Modells 1906 erwuchs daher auch daraus, dass führende Politiker Cisleithanien als politisch dynamisch betrachteten und von der Machbarkeit ihrer Sozialpolitik überzeugt waren. Ein früheres Abweichen vom etablierten Modell schien daher vor allem mit politischen und finanziellen Nachteilen verbunden. Wie die Rentenversicherung für Angestellte umgesetzt wurde, war daher aufs engste mit dem Vorhaben einer umfassenderen Altersversicherung verknüpft. 2.3.3 Kriseninduzierte Kontinuität: Die Programme für eine Sozialversicherung 1904 bis 1914 Die Bemühungen, die bestehenden Versicherungen durch eine allgemeine Alters- und Invaliditätsversicherung auszubauen, zeigen allerdings, dass Dynamik und Kontinuität noch auf andere Weise zusammenspielten: Die Weiterentwicklung sozialpolitischer Konzepte führte dazu, dass die allgemeine Sozialversicherung mit multiplen Zielvorstellungen aufgeladen wurde, die krisenhafte Konflikte um ihre Realisierbarkeit nach sich zogen. Ironischerweise sollte so gerade die Dynamik sozialpolitischer Debatten zur Aufrechterhaltung des Governance-Modells beitragen.218 Bereits in den 1890er Jahren wurde von verschiedenen Seiten die Einführung einer staatlichen Alters- und Invaliditätsversicherung gefordert. Aber erst in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg erhielt das Projekt neuen Auftrieb. Franz Joseph I. kündigte diese selbst in seinen Thronreden zur Eröffnung der Legislaturperioden 1901, 1907 und 1911 an.219 Zwischen 1900 und 1914 gewann in Regierungskreisen jedoch nicht nur der Ausbau des Versicherungswesens an Bedeutung, sondern auch eine Reform des Governance-Modells. Es bestand nicht 217 Siehe Kapitel A 2.3.3. 218 StPAH, XVII. Session, 372. Sitzung (01.02.1906), S. 33691. 219 Thronrede seiner k. u. k. Apostolischen Majestät Kaiser Franz Joseph I. (Gehalten bei der feierlichen Eröffnung des Reichsrates am 4. Februar 1901), in: StPAH, XVII. Session, Nr. 1 der Beilagen, S. 4; Thronrede seiner k. u. k. Apostolischen Majestät Kaiser Franz Joseph I. (Gehalten bei der feierlichen Eröffnung des Reichsrates am 19. Juni 1907), in: ebd., XVIII. Session, Nr. 1 der Beilagen, S. 2; Thronrede seiner k. u. k. Apostolischen Majestät Kaiser Franz Joseph I. (Gehalten bei der feierlichen Eröffnung des Reichsrates am 18. Juli 1911), in: ebd., XXI. Session, Nr. 1 der Beilagen, S. 2.

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deswegen weiter, weil verschiedene cisleithanische Ministerpräsidenten daran festhielten. Stattdessen war diese Kontinuität die Folge der Eigendynamiken des sozialpolitischen Vorhabens gepaart mit Spannungen zwischen den beiden Reichshälften, sich verändernden außenpolitischen Konstellationen und einer fortdauernden Krise parlamentarischer Politik in Cisleithanien. Tatsächlich sah bereits Ministerpräsident Koerber in seinem »Programm für die Reform und den Ausbau der Arbeiterversicherungen« von 1904 einen Staatszuschuss vor; spätere Gesetzesentwürfe folgten ihm darin.220 Koerbers Vorschläge, die bestehende Unfall- und Krankenversicherung umzugestalten und auszubauen, waren eng verbunden mit seiner Auffassung von den Schwächen der administrativen Struktur des cisleithanischen Staates.221 Das Gefühl sozialer Zugehörigkeit zu Cisleithanien solle gestärkt werden, indem der Staat eine aktivere Rolle in der öffentlichen Wohlfahrt einnahm. Darunter verstand er auch eine direktere Involvierung des Zentralstaates auf dem Feld der Versicherung. Mit dem »Programm« legte die Regierung Koerber 1904 entsprechende konkrete Pläne vor: Unfall- und Krankenversicherung sollten neu strukturiert und durch eine Alters- und Invaliditätsversicherung erweitert werden. Um sein Ziel zu erreichen, den cisleithanischen Staat in unmittelbaren Kontakt mit der Bevölkerung zu bringen, stellte Koerber in Aussicht, das bestehende Versicherungswesen in eine »staatlicherseits bedeutend subventionierte Sozialversicherung«222 umzugestalten. Diese Transformation sollte in zweifacher Hinsicht geschehen: Zum einen war eine Reform der Organisationsstruktur vorgesehen, um das Versicherungswesen sowohl stärker zu zentralisieren als auch näher zur Bevölkerung zu bringen. Als neu geschaffene zentrale Einrichtung sollte eine »Staatliche Versicherungsanstalt«223 in Wien fungieren, welcher die zu territorialen »Versicherungsanstalten« umfunktionierten Unfallversicherungsanstalten unterstellt waren.224 Die einzelnen Krankenkassen sollten »vermöge ihrer lokalen Organisation und des hiedurch [sic] bedingten engen Kontaktes mit den Interessenten der Arbeiterversicherung«225 zu »Lokalorganen«226 umgestaltet werden. Ohne vollständig mit den bestehenden Strukturen zu brechen, hätte die Regierung Koerber dadurch auch in der Versicherung der Arbeiterschaft eine Risikengemeinschaft geschaffen.227 Zugleich sollte die Ebene der Kronländer umgangen werden, die Koerber als besonders von nationalistischen Konflikten betroffen sah. Zum anderen ergänzte der Entwurf die Unfall- und Krankenversicherung nach deutschem Vor220 o. A., Programm für die Reform und den Ausbau der Arbeiterversicherung. 221 Deak, Forging a Multinational State, S. 209–214, 217–222, 226–260. 222 o. A., Programm für die Reform und den Ausbau der Arbeiterversicherung, S. 101. 223 Ebd., §§ 114–119. 224 Ebd., §§ 144–148. 225 Ebd., S. 116. 226 Ebd., S. 103. 227 Ebd., S. 103–104.

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bild um eine Alters- und Invaliditätsversicherung, deren Rentenleistungen zum Teil aus dem Staatshaushalt gedeckt würden.228 Insgesamt sollte dem Staat so ein größeres Gewicht für die Wohlfahrt der Bevölkerung zukommen. Zwei Dimensionen des sozialpolitischen Governance-Modells, die Einbindung von Arbeitgebern und -nehmern und die normensetzende Funktion der Staatsverwaltung, wären von diesem Reformvorhaben unberührt geblieben bzw. durch die staatliche Versicherungsanstalt sogar noch verfestigt worden. Koerber hätte also nicht vollkommen mit dem sozialpolitischen Governance-Modell gebrochen, aber die selbst von politischen Eliten zunehmend problematisierte Vermeidung eines Staatszuschusses fallengelassen. Die sozialpolitischen Pläne Koerbers waren eine Reaktion auf die innenpolitischen Konflikte Cisleithaniens und fielen ihnen zugleich zum Opfer. Multiple Auseinandersetzungen verhinderten eine stabile Kooperation seiner Regierung mit den Parlamentsklubs. Anfang des Jahres 1903 scheiterte das Vorhaben, Bezirksgrenzen in Böhmen und Mähren entlang sprachlicher Mehrheiten neu zu ziehen und damit die fortgesetzten nationalistischen Konflikte zu vermeiden. Radikale nationalistische tschechische wie deutsche Parteien nutzten die Verhandlungen, um sich auf Kosten der kompromissbereiten Politiker zu profilieren und hintertrieben so eine Lösung.229 Zu den innenpolitischen Bruchlinien Cisleithanien traten 1903 zudem Konflikte, die aus dem Dualismus resultierten. Diese drehten sich um den gemeinsamen Staatshaushalt, das Handels- und Zollabkommen zwischen den beiden Reichshälften und besonders um die gemeinsame Armee.230 Die Obstruktion des parlamentarischen Gesetzgebungsprozesses durch die Opposition verschärfte sich, weshalb die Regierung Koerber stark auf das Notverordnungsrecht zurückgriff und den Reichsrat vertagte.231 Als Koerber am 17. November 1904 den Reichsrat wiedereröffnete, war das Programm zum Ausbau der Unfall- und Krankenversicherung Teil einer politischen Strategie, um nach der mehrmonatigen Vertagung des Parlaments im Frühjahr 1904 unterschiedliche Fraktionen für die Zusammenarbeit mit seiner Regierung zu gewinnen. Im November 1904 löste die Einrichtung einer italienischsprachigen rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät in Innsbruck jedoch einerseits eine deutschnationale Protestbewegung aus, die in gewaltsamen Ausschreitungen bei der Eröffnungsfeier kulminierte und über die Grenzen Tirols hinausgriff. Andererseits stellte die Fakultät italienischsprachige Politiker nicht zufrieden, da es sich nur um einen provisorischen Ersatz für eine eigene italienischsprachige Universität handelte. Gleichzeitig spitzte sich der Konflikt um die Unterrichtssprache zwischen polnisch- und ukrainischsprachigen Nationalisten und Nationalistinnen in Galizien zu, in den Koerber vermittelnd eingreifen wollte. Aus diesem Grund verlor die Regierung außerdem die Unterstüt228 Ebd., §§ 110–113, S. 144–151. 229 Höbelt, Bohemia 1913 – a consensual coup d’état?; Osterkamp, Vielfalt ordnen, S. 260–268. 230 Siehe dazu Kapitel A 1.2. 231 Rumpler, S. 867.

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zung des Polenklubs.232 In Reaktion auf die Arbeitsunfähigkeit seiner Regierung trat Koerber am 28. Dezember 1904 zurück.233 Sein sozialpolitisches Programm erfuhr eine breite publizistische Rezeption. So verhandelte etwa der Arbeitsbeirat des arbeitsstatistischen Amtes im Handelsministerium die darin präsentierten Punkte mit Vertretern zivilgesellschaftlicher Interessensvertretungen. Zudem beeinflussten Koerbers Vorschläge spätere Gesetzesentwürfe für einen Ausbau der Unfall- und Krankenversicherung zu einer »Sozialversicherung«.234 In den Jahren 1908, 1909 und 1911 brachten die Regierungen unter Max Wladimir / V ladimir von Beck, Richard von Bienerth-Schmerling und Paul Gautsch von Frankenthurn aufeinander aufbauende Gesetzesvorlagen ins Parlament ein. Sie zeigen die multiplen Zielvorstellungen, mit welchen die Schaffung einer »Sozialversicherung« aufgeladen war. Das primäre Ziel war es, eine Alters- und Invaliditätsversicherung einzuführen. Zugleich sollte jedoch die innere Struktur des Versicherungswesens verändert werden, indem neue Bezirksstellen als unterste Instanzen für alle drei Versicherungszweige geplant waren.235 Ein weiteres Ziel war es, die Rechtsprechung in der Sozialversicherung zu vereinheitlichen; eigene Versicherungsgerichte auf Ebene der Länder und ein gemeinsames Obergericht waren vorgesehen. Damit wäre auch das Spannungsverhältnis zwischen zentralstaatlicher Normensetzung und dezentralen Entscheidungsstrukturen aufgehoben worden, indem man das Feld der Sozialversicherung um Institutionen und Verfahren der Selbstregulation ergänzte.236 Schließlich präsentierten die Regierungen ihre Ausbaupläne als Schaffung einer neuen »Riskengemeinschaft [sic]« in dreifacher Hinsicht:237 Erstens war geplant, für ganz Cisleithanien eine einzige Alters- und Invaliditätsversicherungsanstalt einzurichten, wie dies bereits bei der Rentenversicherung der Angestellten 1906 geschehen war. Zweitens sollte erstmals auch der Staat einen finanziellen Beitrag zu den Renten leisten. Drittens war das Ziel, Erwerbstätige in den verschiedensten Branchen zu erfassen: Die Alters- und Invaliditätsversicherung sollte auch für die unselbstständig Erwerbstätigen der Land- und Forstwirtschaft inklusive mithelfender Familienmitglieder gelten und die Altersversicherung darüber hinaus die selbstständig Erwerbstätigen mit einem Jahreseinkommen unter 2.400 Kronen miteinbeziehen.238 Durch diese zweifache Ausdehnung hatte die geplante Versicherung das Potenzial, bestehende Ungleichheiten in der sozialen Absicherung zwischen Männern und Frauen abzuschwächen, da der Anteil erwerbstätiger Frauen vor allem in der Landwirtschaft hoch war. Führende Politiker und Beamte entwarfen diese Risikengemeinschaft jedoch vor allem ökonomisch und intergenerationell. 232 Ebd., S. 868–872. 233 Ebd., S. 870–872. 234 Arbeitsstatistisches Amt. 235 Senghaas, Die Territorialisierung sozialer Sicherung, S. 121–122. 236 Collin u. a. 237 StPAH, XVIII. Session, Nr. 1160 der Beilagen, S. 206. 238 Hofmeister, Landesbericht Österreich, S. 624.

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Mit den »mithelfenden Familienmitgliedern« waren daher vor allem Jugendliche gemeint, die ab 16 Jahren zur Versicherung beitragen können sollten.239 Die Erwerbstätigkeit von Frauen fand hingegen nicht nur wenig Beachtung, sie wurde strukturell benachteiligt. Insbesondere verheiratete Frauen waren schlechter gestellt als ihre Ehepartner. Sie galten als »mithelfende Familienmitglieder« nicht als unselbstständig Erwerbstätige, da »[z]wischen Ehegatten […] ein Arbeitsoder Dienstverhältnis […] in keinem Falle anzunehmen« sei.240 Aber auch als selbstständig Erwerbstätige konnten Ehefrauen von der Alters- und Invaliditätsversicherung »ausgenommen« werden, wenn sie gemeinsam mit ihrem Gatten ein Unternehmen führten.241 Damit war die geplante Versicherung primär auf den erwerbstätigen Mann zugeschnitten und unterstrich, dass Männlichkeit und Staatsbürgerlichkeit in Cisleithanien ab der Jahrhundertwende immer stärker miteinander verschränkt wurden. Die geplante Ausweitung der Sozialversicherung übertrug daher bürgerliche Vorstellungen von Familie und Erwerbstätigkeit auf andere soziale Schichten. Zugleich führt dies vor Augen, dass die Expansion des Sozialstaats nicht alle sozialen Gruppen in derselben Weise erfasst, sondern Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern verfestigt hätte. Wie die Regierung Beck in ihrer »Begründung« des Gesetzesentwurfes von 1908 betonte, hatten sich die Ansprüche an eine Sozialversicherung seit den 1890er Jahren geändert: [Seit] [d]ie Reform der bestehenden Arbeiterversicherung […] zum ersten Male auf den Plan trat, […] hat das Problem bedeutsame Erweiterungen und Wandlungen in einem Maße erfahren, daß die soziale Versicherungsgesetzgebung nunmehr vor Aufgaben gestellt ist, die über den Rahmen der ursprünglich […] geplanten Teilreform […] weit hinausgehen.242

Es zeugt einerseits von der Dynamik der staatlichen Sozialpolitik in Cisleithanien, dass die Regierung neue gesellschaftliche Forderungen in das Projekt der Alters- und Invaliditätsversicherung inkorporierte. Andererseits wird darin auch der politische Druck sichtbar, der aus der sich stetig weitenden Kluft zwischen dem bestehenden Sozialversicherungssystem Cisleithaniens und den sozialpolitischen Entwicklungen in anderen europäischen Staaten erwuchs. Auf 28 Seiten setzte sich die Regierung Beck in ihrem begleitenden Bericht zum Gesetzesentwurf mit bestehenden und geplanten Unterstützungsformen im Alter oder bei Invalidität in Europa auseinander. Der Blick richtete sich dabei nicht mehr nur auf die deutsche Alters- und Invaliditätsversicherung, sondern die Regierung befasste sich ebenso mit der staatlichen Alterspension im Vereinigten Königreich von 1908 sowie dem freiwilligen, aber staatlich subventionierten Altersversicherungssystem in Belgien von 1900. Schließlich bildeten die Entwürfe 239 StPAH, XXI. Session, Nr. 530 der Beilagen, S. 146. 240 Ebd., Regierungsvorlage, § 3. 241 Ebd., § 7. 242 StPAH, XVIII. Session, Nr. 1160 der Beilagen, S. 133.

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und Finanzpläne für eine obligatorische Altersversicherung in Frankreich, die sich aus Beiträgen der Arbeitgeber, -nehmer und des Staates speiste, einen wichtigen Referenzpunkt in der weiteren Debatte.243 Dieses Einbeziehen alternativer sozialpolitischer Handlungsoptionen spiegelt mehrere Veränderungen wider. Erstens zeigt es, wie sich die Vorstellungen cisleithanischer Akteure von der sozialpolitischen Ordnung Europas nach der Jahrhundertwende drastisch ändern mussten. Hatten führende cisleithanische Akteure davor eine Dichotomie zwischen »germanischer« Pflichtversicherung und »romanischer« freiwilliger Versicherung konstruiert,244 stellte die teilweise Übernahme des ›deutschen‹ Modells der Pflichtversicherung diese »mental maps« in Frage. Zweitens macht es deutlich, dass das erwerbsunfähige Alter eine andere sozialpolitische Problematisierung erfuhr als Unfälle und Krankheiten: Es war ein Verarmungsrisiko, gegen das alle (männlichen) Erwerbstätigen abgesichert werden sollten. Daraus resultierte, dass die Reformprojekte des Jahrzehnts vor dem Ersten Weltkrieg von Anfang an einen anderen Umfang hatten. Politiker konnten sich nicht mehr mit der Einführung einer Alters- und Invaliditätsversicherung für die Arbeiterschaft begnügen, wie sie in den 1890er Jahren gefordert worden war, um sie dann schrittweise auszubauen. Vielmehr sollte Cisleithanien mit einem Gesetzesentwurf sprunghaft an andere Staaten aufschließen. Dieser Aufholdruck erhöhte sich in den folgenden Jahren nur noch: Während sich die Einführung der cisleithanischen Alters- und Invaliditätsversicherung verzögerte, wurde in Frankreich 1910 mit dem »Gesetz über eine Arbeiter- und Bauernrente« (loi de retraite ouvrière et paysanne) eine obligatorische Altersversicherung mit Staatsbeitrag beschlossen und im deutschen Kaiserreich 1911 die Reichsversicherungsordnung verabschiedet, welche das bestehende Sozialversicherungssystem legistisch zusammenführte und verwaltungstechnisch konsolidierte.245 Der langwierige Gesetzgebungsprozess resultierte zum Teil gerade aus den verschiedenen Zielen der Sozialversicherungsreform. Jedes für sich barg bereits Konfliktpotenzial, ihre Zusammenführung in einem einzigen Gesetzesvorhaben verschärfte dieses jedoch zusätzlich. Konfliktpunkte ergaben sich auf der Ebene der Organisation: Die Regierungen verfolgten die Schaffung eigener Bezirksstellen für die gesamte Sozialversicherung, um sie stärker lokal zu verankern. Zum einen wurden hier ebenfalls die Fragen nach dem Umfang und den Kosten der Versicherung wirksam, wenn etwa Vertreter der Industrie forderten, Landwirtschaft und Industrie getrennt zu versichern, anstatt eine Risikengemeinschaft zu kreieren.246 Zum anderen ging es um die Effizienz der neuen Sozialversicherung. Die Bezirksstellen mussten 243 Ebd., S. 305–333. 244 Kaan, S. 438. 245 Rudloff. 246 Senghaas, Die Territorialisierung sozialer Sicherung, S. 240–241.

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etwa gegen den Einwand durchgesetzt werden, dass Koerbers Vorschlag, die Krankenkassen zu Lokalstellen der Versicherung zu machen, größere Synergieeffekte biete.247 Der schwerwiegendste Konfliktpunkt waren allerdings die Ausgaben durch die neuen Versicherungszweige. Bereits in den 1890er Jahren hatten die Gewerkschaften und Vertreter der Arbeiterbewegung die teilweise Einbeziehung der Land- und Forstwirtschaft in die Unfallversicherung kritisiert, da die Versicherungsbeiträge für sie im Vergleich zum Unfallrisiko zu gering angesetzt seien.248 In der gemeinsamen Versicherung mit selbstständig Erwerbstätigen sah die Sozialdemokratie eine ungebührliche Belastung der Arbeiterschaft. Die Interessensvertretungen der Industrie und des Gewerbes befürchteten wiederum, durch die hohen Kosten in ihrer internationalen Konkurrenzfähigkeit geschädigt zu werden.249 Dieser Streitpunkt wurde durch die sozialpolitischen Ansprüche führender Politiker jedoch zusätzlich verschärft. Prominente politische Akteure innerhalb wie außerhalb des Ausschusses forderten, auch jene Menschen in die Altersversicherung miteinzubeziehen, die innerhalb von fünf Jahren nach Einführung des Gesetzes das Rentenantrittsalter von 65 Jahren erreichen würden. Mit einer solchen Übergangsregelung wollte man über die belgische und französische Versicherung hinausgehen, denn diese hätten »gerade deshalb für die anfänglich vorhandene Generation versagt«,250 weil Personen im höheren Alter ausgeschlossen waren. Aufgrund der hohen Kosten formierte sich dagegen Widerstand aus der Zivilgesellschaft und in der Regierung. Der Industrierat, der Beirat der Handels- und Gewerbekammern beim Handelsministerium, sprach sich dafür aus, die Altersversicherung stattdessen nach dem französischen Vorbild von 1910 auszugestalten.251 Das Finanzministerium lehnte es ab, zusätzliche staatliche Mittel für eine solche Übergangsregelung freizugeben. Die Regierung baute politischen Druck auf, indem sie eine allgemeine Reduktion des Staatszuschusses in den Raum stellte, um die Kosten zu kompensieren.252 Dies hing auch damit zusammen, dass der cisleithanische Haushalt ab 1910 erneut Defizite verzeichnete, die Regierung jedoch zugleich versprochene Infrastrukturmaßnahmen umsetzen sollte, um ihre Arbeitsmehrheit im Parlament aufrechtzuerhalten, und auf gesamtstaatlicher Ebene ein Rüstungsprogramm durchgesetzt wurde.253 Aufgrund der hohen zusätzlichen Aufwendungen von über 100 Mio. Kronen musste der Ausschuss diesen Aspekt der Sozialversicherung schließlich fallenlassen, betonte jedoch zugleich in seinem Bericht, dass er aus wohlfahrtsstaatlicher Sicht trotzdem wünschenswert 247 StPAH, XXI. Session, Nr. 530 der Beilagen, S. 142–146. 248 Siehe etwa: o. A., Enquête über die Reform des Unfall-Versicherungs-Gesetzes. 249 Senghaas, Die Territorialisierung sozialer Sicherung, S. 195–197, 238–240. 250 StPAH, XXI. Session, Nr. 530 der Beilagen, S. 151. 251 o. A., Industrierat. 252 o. A., Die Beratung der Sozialversicherung, S. 10. 253 Höbelt, Parteien und Fraktionen im cisleithanischen Reichsrat, S. 984.

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gewesen wäre.254 Dies demonstriert, wie die sozialpolitischen Ansprüche einiger Politiker, mit anderen Staaten gleichzuziehen oder diese sogar zu überholen, das Vorhaben verzögerten. Denn sie brachten die Reform in Konflikt mit wahrgenommenen innen- und außenpolitischen Handlungszwängen. Die Um- und Ausgestaltung der Sozialversicherung war also von multiplen Auseinandersetzungen geprägt, die sich zum Teil gerade aus der Dynamik der sozialpolitischen Debatten speisten. Diese Streitfragen allein konnten das Vorhaben jedoch nicht zum Scheitern bringen. Denn einerseits zeugen diese Konflikte ebenso von der Strahlkraft staatlicher Sozialpolitik. Die verschiedenen Interessensvertretungen maßen ihr so große Bedeutung bei, dass sie selbst sozialpolitische Expertise aufbauten, um sich aktiv in die Gesetzgebung einzubringen.255 Andererseits drehten sich die Diskussionen – so kontrovers sie auch waren – doch vor allem um die konkrete Ausgestaltung, während die zentralen Merkmale der Reform nicht in Frage gestellt wurden. Zusätzlich zu den Eigendynamiken der Reform müssen daher noch weitere Faktoren der politischen Entwicklung Cisleithaniens miteinbezogen werden, um zu erklären, warum sie nicht zustande kam. Immer wieder unterbrachen in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg politische Krisen die Klärung der strittigen Fragen der Sozialversicherung im Parlament. Sie erwuchsen zum einen aus Konflikten um militär- und sicherheitspolitische Themen zwischen dem Monarchen, dem Thronfolger Franz Ferdinand sowie der cis- und transleithanischen Regierung.256 So betrieb Franz Ferdinand etwa den Rücktritt von Ministerpräsident Beck, weil er ihn für zu nachgiebig gegenüber der transleithansichen Regierung hielt.257 Zum anderen erschwerten die radikalisierende Rhetorik der seit den 1890er Jahren aufgestiegenen nationalistischen Parteien und die inflationäre Nutzung der Obstruktion des Parlaments, um von der Regierung partikularistische Zugeständnisse zu erlangen, den Gesetzgebungsprozess enorm.258 So unterbrachen Rücktritte der Regierungen (1908, 1909) beziehungsweise die Schließung (zwei Mal im Jahre 1909, 1911) und schließlich die Auflösung des Reichsrats (1911) in Reaktion auf die Obstruktion des Parlaments die Behandlung der Gesetzesvorlagen im sozialpolitischen Ausschuss.259 Allerdings war es auch nicht der vermeintliche Niedergang Cisleithaniens durch nationalistische Konflikte, der dazu führte, dass die Sozialversicherung nicht zustande kam. Vielmehr war es das Resultat eines situativen Zusammentreffens längerfristiger demokratie-, aber auch finanzpolitischer Entwicklungen, die schließlich 1913/1914 zur Schließung des Reichsrats und damit auch zum 254 StPAH, XXI. Session, Nr. 530 der Beilagen, S. 153–165. 255 Senghaas, Die Territorialisierung sozialer Sicherung, S. 135–143.. 256 Siehe dazu Kapitel A 1.2. 257 Allmayer-Beck, S. 132. 258 Rumpler, S. 894. 259 Senghaas, Die Territorialisierung sozialer Sicherung, S. 121–122.

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Ende der Sozialversicherungsreform führten. Zwar gab es im Parlament nach den Wahlen von 1911 keine übernationale Fraktion mehr, nachdem sich auch die Sozialdemokratie in drei nach nationalen Gesichtspunkten konstituierte Klubs geteilt hatte. Allerdings hatte sich das Spektrum der Fraktionen insbesondere seit der Einführung der allgemeinen Wählerklasse 1896 zunehmend ausdifferenziert, sodass vor Sistierung des Parlaments 1914 mit Ausnahme des Rumänenklubs / Clubul Parlamentar Român keine Sprachgruppe mehr durch allein eine Partei im Parlament vertreten war.260 Daher gelang es den verschiedenen cisleithanischen Regierungen immer wieder, Arbeitsmehrheiten für Gesetzesvorhaben zu bilden, die unterschiedliche nationale Fraktionen einbanden, etwa noch 1912 mit der Verabschiedung eines neuen Wehrgesetzes mit einer Zweidrittelmehrheit.261 Der Verlust einer solchen Arbeitsmehrheit konnte zudem aus anderen als nationalpolitischen Faktoren resultieren. So verlor etwa die Regierung Beck ihre Mehrheit im Parlament durch einen Konflikt zwischen konservativ-katholischen und liberal-freisinnigen Gruppierungen über nationale Fraktionen hinweg.262 Nationale Identifikationen waren daher selbst nach 1900, als die verschiedenen Nationalbewegungen breitere Bevölkerungsschichten politisierten und sich dazu zunehmend polarisierender Rhetoriken und Praktiken bedienten, nicht die einzige Konfliktlinie. Die wiederholte und gezielte Unterbrechung parlamentarischer Politik weckte allerdings zum einen Zweifel an parlamentarischen Prozessen unter führenden Politikern und Beamten, etwa Ernest von Koerber oder Karl von Stürgkh. Die Obstruktion des Parlaments beförderte zugleich die Verwendung autoritärer Formen des Regierens durch das Schließen des Parlaments und die Gesetzgebung per Notverordnungsrecht. Dies diente jedoch nicht nur den Regierungen, die so Handlungsspielraum gewannen, sondern es gab auch den Parteien die Möglichkeit, äußerste Konfliktbereitschaft an ihre Wählerschaft zu signalisieren.263 Schließlich nährten diese Entwicklungen Ressentiments gegenüber demokratischer Politik und Parlamentarismus insgesamt, wie sie etwa der Kreis um Thronfolger Franz Ferdinand kultivierte, dessen Berater Pläne für einen Staatsstreich und eine autokratische Restrukturierung Österreich-Ungarns durch den Monarchen ausarbeiteten.264 Die Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts für den Reichsrat 1907 fügte der cisleithanischen Politik eine zusätzliche Reibungsfläche hinzu, die sich nur teilweise mit nationalpolitischen Spannungen deckte: Auf zentralstaatlicher Ebene erlangten dadurch andere Bevölkerungsgruppen eine politische Repräsentation als in den Landtagen. Für sie galten weiterhin restriktivere

260 Adlgasser, S. LXXIX-LXXXIII; Beneš. 261 Rumpler, S. 891. 262 Ebd., S. 887. 263 Cohen, Our Laws, Our Taxes, and Our Administration, S. 107–109. 264 Boyer, The End of an Old Regime, S. 184–186.

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Wahlgesetze, sodass etwa Vertreter der Sozialdemokratie, aber auch Juristen und Ökonomen Reformprojekte mit der Forderung nach Einführung des allgemeinen Wahlrechts für die Landtage verknüpften.265 Die Finanzen der Kronländer waren im frühen 20. Jahrhundert in zum Teil kritischem Zustand. Dieser resultierte einerseits daraus, dass sie nach nicht mehr zeitgemäßen buchhalterischen Prinzipien verwaltet wurden. Andererseits erhielten die Provinzen aufgrund der Regelungen zu den Steuereinnahmen nicht genügend Einkommen, um die im Verlauf des 19. und frühen 20. Jahrhunderts stark gestiegenen öffentlichen Aufgaben zu finanzieren, die sie im Rahmen der Verfassung von 1867 versehen mussten.266 Versuche, die Haushalte der Kronländer in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zu sanieren, scheiterten unter anderem an der Forderung nach einer Wahlrechtsreform auf Länderebene.267 Trotz all dieser Konfliktlagen fand man zunächst eine Möglichkeit, das sozialpolitische Projekt weiter voranzubringen: Per Beschluss der beiden Kammern und mit Genehmigung des Kaisers wurde dem sozialpolitischen Ausschuss im Juni 1912 gestattet, auch dann weiter zu tagen, wenn das Parlament aufgelöst war. Dadurch war es dem Ausschuss möglich, die Gesetzesvorlage zu behandeln, als 1913 und 1914 innen- und außenpolitische Konfliktdynamiken aufeinandertrafen. Zunächst löste Franz Joseph I. am 26. Juli 1913 per kaiserlichem Patent den böhmischen Landtag und Landesausschuss in verfassungswidriger Weise auf und ersetzte sie durch eine Landesverwaltungskommission. Der Grund dafür lag in der kritischen Finanzlage Böhmens, dessen Landtag jedoch durch die Obstruktion der deutschsprachigen Abgeordneten handlungsunfähig war.268 Nachdem Verhandlungen zwischen Ministerpräsident Stürgkh, tschechischund deutschsprachigen Abgeordneten Böhmens keinen Kompromiss erzielten, begannen tschechischsprachige Abgeordnete in Reaktion auf den Verfassungsbruch im Januar 1914 mit der Obstruktion des Reichsrates. Daraufhin vertagte Ministerpräsident Stürgkh das Parlament am 26. März 1914 auf unbestimmte Zeit.269 Als der Ausschuss im Juli 1914 zu einem Konsens gelangte, hatten die Ermordung des Thronfolgers in Sarajevo und die darauffolgende Julikrise bereits alle Aufmerksamkeit der Regierung auf sich gezogen. Der Ausschuss konnte das Erreichte daher nicht einmal mehr in einem schriftlichen Bericht festhalten. Trotz seiner Sonderstellung erklärte Stürgkh alle weiteren Sitzungen des Ausschusses für beendet, womit das Projekt der Sozialversicherung vor seinem Abschluss eingestellt war.270 Das Governance-Modell blieb in der Praxis schließlich in Kraft, nicht weil staatliche Sozialpolitik auf dem Stand der 1880er Jahre stagnierte. Umgekehrt 265 Osterkamp, Vielfalt ordnen, S. 331–334. 266 Dies., »Kooperatives Imperium«. 267 Dies., Vielfalt ordnen, S. 312–335. 268 Rumpler, S. 891–892. 269 Höbelt, Bohemia 1913 – a consensual coup d’état?, S. 207–214. 270 o. A., Nichtamtlicher Teil, Wien, 25. Juli.

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greift aber auch die Erklärung zu kurz, dass der Ausbruch des Ersten Weltkrieges eine dynamische Entwicklung plötzlich zunichtemachte. Dazu spielten Konfliktlagen der Gesamtmonarchie und Cisleithaniens, die sich über längere Zeiträume herausgebildet hatten, eine zu große Rolle. Allerdings war paradoxerweise die Dynamik der ambitionierten staatlichen Sozialpolitik ein weiterer Faktor, der zu ihrem Scheitern beitrug. Die Ansprüche führender Politiker an das eigene sozialpolitische Vorhaben erzeugten immer wieder neue strittige Dimensionen der Sozialversicherung. Erst das situative Zusammentreffen dieser unterschiedlichen Faktoren verhinderten das Reformprojekt der Sozialversicherung und führten so zur Aufrechterhaltung des Governance-Modells. Trotz dieser Kontinuität hatte es sich auch als adaptierfähig erwiesen und war durch diskrete Anpassungen auf neue Handlungsfelder und Herausforderungen übertragen worden. Führende Politiker griffen daher erneut auf das etablierte Governance-Modell zurück, als bald nach Beginn des Ersten Weltkrieges die Frage aufkam, wie Staat und Gesellschaft Cisleithaniens mit kriegsversehrten Soldaten umgehen sollten.

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3. Rehabilitation in der Sozialversicherung und in der Kinderfürsorge Die Forschung hat bisher die Kontinuitätslinien zwischen Unfallversicherung und Kriegsversehrtenfürsorge vor allem darin verortet, wie Entschädigungsansprüche konstruiert wurden.1 Aus dem Blick geriet so, wie die Unfallver­ sicherung auch zur Herausbildung von rehabilitativen Behandlungen und einem Konzept sozialer Re-Integration beitrug. Diese Schwerpunktsetzung ist wenig überraschend, denn das cisleithanische Unfallversicherungsgesetz enthielt nur Bestimmungen zur finanziellen, aber nicht zur medizinischen Versorgung der Betroffenen. Während dies im deutschen Kaiserreich der Fall war und dort mit der Alters- und Invaliditätsversicherung zusätzliche Anreize für therapeutische Anstalten geschaffen wurden, erfolgte dies in Cisleithanien nicht in derselben Weise, da ein entsprechender Versicherungszweig fehlte. Unterhalb der Ebene legislativer Kontinuität nach Einführung der Unfallversicherung bis zum Ersten Weltkrieg zeigt sich jedoch, dass sich in der Judikatur und medizinischen Praxis trotzdem ein Konzept von Rehabilitation herausbildete. Die Regelungen zur finanziellen Entschädigung beruhten auf einer Konzeption von ›Behinderung‹, die einzelne Körperteile über ihre Funktionalität für Arbeit erfasste und in ihrer fehlenden oder eingeschränkten Verwendbarkeit die ›Behinderung‹ verortete. Mit dieser Objektivierung von Gesundheit und Krankheit durch Erwerbs(un)fähigkeit schuf das Versicherungswesen eine bis ins 20. und 21. Jahrhundert wirkmächtige Definition von ›Behinderung‹.2 In der Unfall- und Krankenversicherung wurden also nicht Verletzungen oder Krankheiten an sich mit einer Rente entschädigt, sondern die Minderung der Erwerbsfähigkeit als ihre Folge, wie bei Kriegsversehrungen nach 1914.3 Auf diesem Verständnis von Behinderungen bauten auch die Konzepte der Rehabilitation auf. Es beeinflusste nicht nur Behandlungsmethoden im Rahmen der Sozialversicherung, sondern auch die Fürsorge für Kinder mit körperlichen Behinderungen. Die Herausbildung rehabilitativer Methoden trotz des Fehlens gesetzlicher Regelungen zeigt eine weitere Dimension der sozialpolitischen Dynamik Cisleithaniens auf. Sie wird jedoch nochmals dadurch unterstrichen, dass führende Akteure der beiden Felder Unfallversicherung und Kinderfürsorge ihre rehabilitativen Methoden wiederum in die Kriegsversehrtenfürsorge einbrachten.

1 Pawlowsky u. Wendelin, Die Wunden des Staates, S. 62–71. 2 Rose, S. 120–121; Germann, S. 158–163; Abberley, S. 120–138; Baynton, S. 33–57. 3 Für das damit einhergehende neue Verständnis von Unfall als soziales Risiko siehe: Cooter u. Luckin.

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3.1 Initiativen ›von unten‹: Rehabilitation in der Unfall- und Krankenversicherung Bei der Etablierung und Durchsetzung rehabilitativer Behandlungen als notwendige Maßnahmen des Versicherungswesens kam Ärzten als Gutachter und Therapeuten sowie den Richtern der Schiedsgerichte große Bedeutung zu. Denn anders als im deutschen Unfallversicherungsgesetz4 waren die Kosten des Heilverfahrens in Cisleithanien nicht Gegenstand der Leistungen der Unfallversicherung. Es fehlte den Betroffenen daher der Anspruch auf kostenlose Behandlung und den Unfallversicherungsanstalten wiederum die gesetzliche Grundlage, um Kontrolle über Heilverfahren zu erlangen.5 Neben der medizinischen Behandlung Unfallverletzter waren daher auch andere Fürsorgefelder relevant für die Entwicklung von Konzepten sozialer Re-Integration. Das Unfallversicherungsgesetz von 1888 enthielt keine genauen Bestimmungen über den Nexus zwischen Verletzung und Erwerbsunfähigkeit oder darüber, wie eine »theilweise« Erwerbsunfähigkeit zu bemessen sei.6 Wie Otto Stöger in seinen Beiträgen zur Unfall- und Krankenversicherung im »Österreichischen Staatswörterbuch« aus dem Jahr 1905 kritisch anmerkte, waren in den entsprechenden Gesetzen auch die beiden zentralen Termini ›Betriebsunfall‹ und ›Krankheit‹ gar nicht definiert.7 Aber nicht nur juristisch, sondern auch medizinisch fehlte es an spezifischem Wissen zur Beurteilung von Unfallsfolgen oder Krankheiten im Rahmen der Sozialversicherung. So forderte die Unfallversicherungsanstalt für Niederösterreich, dass die cisleithanische Regierung Lehrstühle und Kliniken für Versicherungsmedizin einrichten sollte. Sie argumentierte, dass die Bestimmung des Verhältnisses von Anatomie und physischer Funktion »zur Leistungsfähigkeit des Einzelnen«, wie es von medizinischen Sachverständigen der Unfallversicherungsanstalten verlangt würde, »andere Kenntnisse [erfordert] als sie gemeinhin auf der Universität erworben […] werden.«8 In ähnlicher Weise mussten sich die anspruchsberechtigten Arbeiter und Arbeiterinnen in Auseinandersetzungen um ihre Ansprüche auf Entschädigungsleistungen diese spezifische Definition von ›Behinderung‹ als Verminderung der Erwerbsfähigkeit aneignen. Sie versuchten, die Legitimität ihrer Forderungen durch ihr eigenes Wissen um ihren Körper, ihre Arbeit und die Auswirkungen von Verletzungen und Krankheiten auf ihr Familienleben zu untermauern.9

4 Deutsches Reichsgesetzblatt, Band 1884, Stück Nr. 19, Gesetz Nr. 1552, Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884, § 5. 5 Eghigian, Making Security Social, S. 118. 6 RGBl. 1/1888, § 6. 7 Stöger, Arbeiterkrankenversicherung, S. 232; ders., Arbeiterunfallversicherung, S. 272. 8 ÖStA, AVA, MKU 30.782/09 (Bestand 04 Med., Soziale Medizin), Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt für Niederösterreich in Wien an k. k. Statthalterei Niederösterreich vom 11. Mai 1907, zitiert nach: Hubenstorf, S. 261. 9 Fuchs, S. 21–27; Eghigian, Making Security Social, S. 87–97.

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Der spezifische Zusammenhang zwischen Behinderungen oder Krankheiten und Erwerbsunfähigkeit für Leistungen der Unfall- und Krankenversicherung musste daher erst in der Praxis hergestellt werden. In den Auseinandersetzungen zwischen Anspruchsberechtigten und Unfallversicherungsanstalten beziehungsweise Krankenkassen, die bis vor dem Verwaltungsgerichtshof ausgefochten wurden, mussten die Begriffe ›Unfall‹ und ›Krankheit‹, aber auch die Rolle von Verletzungen und Behinderungen in ihren Beziehungen zu Rentenansprüchen erst verhandelt und festgelegt werden. Es waren insbesondere Fälle von chronischen Krankheiten, bei denen Krankenkassen um die Jahrhundertwende bestritten, für mehrmalige, oft langfristige Behandlungen finanziell aufkommen zu müssen. Stattdessen beharrten sie darauf, dass mit der einmaligen Ausschöpfung der maximal vierwöchigen Behandlung auf Kosten der Krankenkasse jeder weitere Anspruch versicherter Personen erloschen war. Die funktionalistische Definition von Behinderungen und Krankheiten über die Arbeitsfähigkeit spielte in diesen Gerichtsverhandlungen eine entscheidende Rolle. In mehreren Urteilen bestimmte der Verwaltungsgerichtshof, dass die Unterstützungspflicht der Krankenkassen erhalten blieb, sogar wenn eine Krankheit als unheilbar galt und somit aufgrund derselben pathologischen Ursache wiederholt ausbrechen konnte. Entscheidend war, so der Gerichtshof, dass zwischen den Krankheitsphasen Zeiträume der Arbeitsfähigkeit lagen, in denen ein Beschäftigungsverhältnis bestand. Der Verwaltungsgerichtshof betonte zudem eine weitere Dimension des Begriffes ›Krankheit‹ im Sinne der Krankenversicherung, nämlich die medizinisch festzustellende Behandlungsbedürftigkeit.10 Der Verwaltungsgerichtshof weitete durch seine Urteile schrittweise die Ansprüche der Versicherten gegenüber der ablehnenden Haltung der Krankenkassen aus. Diese Rechtsstreitigkeiten wurden jedoch nicht von den versicherten Personen selbst angestoßen; ihre Möglichkeiten, vor Gericht zu ziehen, waren stark eingeschränkt. Stattdessen handelte es sich um Konflikte zwischen den Versicherungsinstitutionen und Behörden. Eine Folge dieser Urteile war, dass die Krankenkassen in Cisleithanien die Funktion behielten, auch die Behandlung chronisch Kranker zu finanzieren; eine Aufgabe, die im deutschen Kaiserreich zunehmend die Landesversicherungsanstalten als Träger der Invalidenversicherung übernahmen.11 Trotz der ausbleibenden Versicherung gegen dauerhafte Arbeitsunfähigkeit im Rahmen einer Invaliditätsversicherung wurden chronisch Kranke – so legt zumindest die Rechtsprechung nahe – zumindest zum Teil nicht aus der Krankenversicherung ausgeschlossen. Darüber hinaus legitimierten diese Urteile gewisse Methoden und Argumentationsstrategien zur Unterscheidung von (Phasen der) Gesund10 o. A., 36. Erkenntnis vom 13. Juni 1902, Z. 5253, S. 198–199; o. A., 40. Erkenntnis vom 27. Juni 1902, Z. 5762, S. 210–212; o. A., 44. Erkenntnis vom 5. Juli 1902, Z. 6145, S. 222–224; o. A., 35. Erkenntnis vom 31. Mai 1912, Z. 6697, S. 273–274. 11 Condrau, S. 85–88.

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heit und Krankheit, um Unterstützungsansprüche zu untermauern. Diese Argumente sollten während des Ersten Weltkrieges und danach für Soldaten eine bedeutende Rolle spielen, die ihre Krankheiten als Folgen des Kriegseinsatzes anerkannt haben wollten. Obwohl den Unfallversicherungsanstalten dafür eine gesetzliche Grundlage fehlte, begannen einzelne Anstalten in den 1890er Jahren, das Heilverfahren zu normieren und als Ziel die möglichste Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit zu bestimmen.12 Auch medizinische Sachverständige wie Paul Dittrich betonten die Bedeutung und Notwendigkeit einer Heilbehandlung, die andauern sollte, solange das Erreichen »ein[es] bessere[n] functionelle[n] Resultat[s]«13 möglich wäre. Kranken- und Unfallversicherungsanstalten kooperierten bei der Durchführung des Heilverfahrens.14 Für die Durchführung der Heilbehandlung waren beide jedoch auf öffentliche oder private Krankenanstalten angewiesen. In den Debatten um eine Reform des Unfall- und Krankenversicherungswesens 1897 kritisierten Experten diese Abhängigkeit der Unfallversicherungsanstalten wie der Krankenkassen von öffentlichen Krankenhäusern und privaten Kliniken.15 In der cisleithanischen Reichshälfte der Habsburgermonarchie existierten in den verschiedenen Kronländern zwar zahlreiche Kurorte und Sanatorien, von den klassischen Thermalbadeorten in Böhmen wie Karlsbad / Karlovy Vary und Niederösterreich über Luftkur- und Wintersportorte in den Alpen bis hin zu Seebädern an der Adria. Diese dienten jedoch zunächst der Oberschicht als Orte der Gesundheitspflege und der Freizeitkultur, weniger der medizinischen Behandlung von erkrankten Arbeitern und Arbeiterinnen.16 Bereits in den 1890er Jahren begannen einzelne Krankenkassen oder Krankenkassenverbände damit, eigene Rekonvaleszentenheime einzurichten. Ohne die zusätzlichen finanziellen Mittel, wie sie in Deutschland die Landesversicherungsanstalten zur Verfügung stellten, konnte dies jedoch die Budgets der Kassen überlasten.17 Einer gezielten Einflussnahme der Unfallversicherungsanstalten und Krankenkassen auf die Heilbehandlung waren daher durch den Mangel an eigenen Einrichtungen Grenzen gesetzt. Die Versicherungsträger waren auf lokale Initiativen von Medizinern für ihre Therapieverfahren angewiesen. In der Steiermark initiierte Arnold Wittek gemeinsam mit der Grazer Unfallversicherungsanstalt für Steiermark und Kärnten 1902 ein rehabilitatives Programm für Unfallverletzte in seiner Privatklinik, das vom Ministerium des Inneren finanziell gefördert wurde. Das explizite Ziel war es, durch spezialisierte medizinische 12 Ebd., S. 32. 13 Dittrich, S. 40–41, 44–45. 14 Bum, Vorlesungen über ärztliche Unfallkunde, S. 32–33. 15 Stöger, Arbeiterkrankenversicherung, S. 260. 16 Coen, Climate and Circulation in Imperial Austria, S. 871–873; Frank, S. 185–207; Fuhs; Wolf. Für eine Studie der Transformation der britischen Seebäder von einem Heilbad zu einer medizinisch begründeten Freizeiteinrichtung auch für die Arbeiterschicht unter dem Eindruck des Ermüdungsdiskurses siehe Benger. 17 Fiereder, S. 51–56.

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Behandlung der Rentenbeziehenden die finanzielle Belastung der Unfallversicherungsanstalt zu senken.18 1911 wurde der Ausbau dieser Kooperation durch die Errichtung eines eigenen orthopädisch-chirurgischen Krankenhauses der Unfallversicherungsanstalt nach dem Vorbild der Unfallkrankenhäuser im Deutschen Kaiserreich geplant. Als erste derartige Einrichtung in Cisleithanien wurde die orthopädische Heilanstalt jedoch erst kurz nach Kriegsbeginn fertiggestellt.19 Die Etablierung orthopädischer Behandlungsmöglichkeiten warf zugleich die Frage auf, ob die Versicherungsanstalten die Betroffenen dazu verpflichten konnten, solche Therapien in Anspruch zu nehmen.20 Das Schiedsgericht der Grazer Unfallversicherungsanstalt entschied zumindest, dass eine Rentenminderung zulässig war, wenn Betroffene sich einer medizinischen Behandlung entzogen. Ein Arbeiter hatte gegen die Herabsetzung seiner Rente von 60 auf 30 Prozent seines letzten Verdienstes Einspruch erhoben, jedoch zuvor eine orthopädische Behandlung seines gebrochenen Arms abgelehnt. Der zugezogene medizinische Sachverständige attestierte dem Arbeiter zwar eine Einschränkung der Erwerbsfähigkeit, die eine 60prozentige Rente rechtfertige. Allerdings betonte er auch, dass der Kläger dadurch, daß er jede orthopädische Behandlung ablehnte, selbst an dem ungünstigen Heilerfolge schuldtragend ist und daß es in seiner Macht liegt, auch jetzt noch durch eine zweckmäßige Behandlung eine höhere Gebrauchsfähigkeit des Armes herbeizuführen […].21

Auf Basis dieses Gutachtens urteilte das Schiedsgericht, dass eine gestaffelte Senkung der Rente auf zunächst 40 und danach 30 Prozent gerechtfertigt sei. Das Urteil demonstriert, dass die Schiedsgerichte den Unfallversicherungsanstalten die Möglichkeit an die Hand gaben, verunfallte Arbeiter indirekt durch eine Herabsetzung der Rente dazu anzuhalten, sich einer rehabilitativen Therapie zu unterziehen. Auch Dittrich sprach sich in seinem »Handbuch für Sachverständige der Unfallversicherung« dafür aus, Unfallverletzten keine Vollrente zu gewähren, solange Aussicht auf Besserung bestand, da eine niedrigere Rente die Betroffenen zur Arbeit anspornen würde.22 Diese Initiativen ›von unten‹, rehabilitative Verfahren für Unfallverletzte in der cisleithanischen Sozialversicherung zu etablieren, stützten sich auf trans18 Zur Situation im Deutschen Kaiserreich siehe: Eghigian, Making Security Social, S. 119–126. 19 Burkard, Nachheilung Kriegsverletzter einschließlich Glied-Ersatz, S. 9; Wittek, Das orthopädische Spital in Graz, S. 129–131. 20 Eghigian, Making Security Social, S. 122–126. 21 o. A., 33. Über die Berücksichtigung des von einer vom Verunglückten bisher abgelehnten orthopädischen Behandlung eines Armbruches zu gewärtigenden Heilerfolgs bei der Rentenbemessung. 22 Dittrich, S. 44–45. Auch in der Militärversorgungsgesetzgebung war die Möglichkeit einer Verbesserung des Gesundheitszustandes bereits mitbedacht. Schmid, Das Heeresrecht der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, S. 431–433.

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nationale Kontakte. Insbesondere die Urteilssprüche des deutschen Reichsversicherungsamtes und die wissenschaftliche Fachliteratur wurden als Vorbilder herangezogen. Emblematisch dafür sind die »Vorlesungen über ärztliche Unfallkunde« des Wiener Chirurgen Anton Bum, in denen er regelmäßig die deutsche Rechtslage und Forschung nutzte, um seinen Standpunkt der Bedeutung des Heilverfahrens zu untermauern. In Deutschland wurden die gesellschaftlichen Folgen der Unfall- und Krankenversicherung kontrovers debattiert. Neben den Kosten der Versicherung richtete sich die Kritik vor allem darauf, dass Renten die Simulation von Arbeitsunfähigkeit fördern würden. Im Verlauf des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts wurde daher die medizinische Behandlung mit dem Ziel der Rehabilitation zunehmend zu einer Pflicht der Unfallopfer gemacht.23 Diese medizinische Rehabilitation sollte weniger die Erwerbsfähigkeit im bisherigen Beruf, sondern die »allgemeine Produktionskraft des einzelnen Arbeiters«24 wiederherstellen. Dazu wurden im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg geschlechtsspezifische Beschäftigungs- oder Arbeitstherapien in deutschen Anstalten entwickelt. Sie zielten entweder auf Arbeit allgemein als regelmäßige Übung der Muskulatur oder auf die Ausübung spezifischer beruflicher Tätigkeiten ab.25 Die Entwicklung rehabilitativer Praktiken in Cisleithanien war eingebunden in europäische Wissenstransfers. Einzelne Akteure der sich formierenden Versicherungsmedizin in Cisleithanien trugen entscheidend zu diesen Transfers bei. Anton Bum war ein idealer Vermittler. Zum einen war er in die Gruppe der sogenannten »Sozialmediziner« eingebunden, die sich um 1900 formierte und eng mit Sozialpolitik verflochten war. Mit Maximilian Sternberg und Ludwig Teleky waren zwei führende Sozialmediziner eng mit dem Verband der Genossenschaftskrankenkassen verbunden – Sternberg als Chef-, Teleky als Facharzt. Die Krankenkassen und Unfallversicherungsanstalten boten diesen Medizinern neue Beschäftigungsverhältnisse und Karrieremöglichkeiten, indem sie Zugriff auf Patienten und Krankheitsfälle erhielten, die sie wissenschaftlich untersuchen und publizieren konnten.26 Darüber hinaus stellten sie für die Mediziner auch eine Plattform dar, um ihre Expertise auf dem Gebiet der Sozialpolitik zu demonstrieren und Forderungen vorzubringen. Zum anderen brachte Bum selbst internationale Erfahrung mit. Bum ging nach seiner Promotion im Jahr 1879 nach Schweden, um dort Heilgymnastik bei Thure Brandt zu lernen.27 Schwedische Mediziner am 1813 gegründeten Kungliga Gymnastiska Centralinstitutet [Königliches Gymnastisches Zentralinstitut], wie Pehr Henrik Ling oder Gustaf Zander, waren im 19. und frühen 20. Jahrhundert Vorreiter auf dem Feld physikalischer Therapien und trugen zu dessen Verwissenschaftlichung und Professionalisierung bei. In der 23 Eghigian, Making Security Social, S. 117–157. 24 Ebd., S. 135: »generic productive potential of an individual worker«. 25 Ebd., S. 137–138. 26 Hubenstorf, S. 230, 248–251. 27 Kronfeld. Zu Brandt: Ottosson, The Age of Scientific Gynaecological Masseurs, S. 802–828.

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zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Heilgymnastik zu einer international anerkannten und weit verbreiteten Therapieform, insbesondere in der von Zander entwickelten Form einer an Übungsapparaten ausgeführten sogenannten mediko-mechanischen Therapie.28 Nach seiner Rückkehr nach Wien gründete Bum 1899 dort gemeinsam mit Max Herz das Institut für Heilgymnastik. Die beiden Mediziner avancierten zu führenden Vertretern für rehabilitative Behandlungen in Cisleithanien. In mehreren Lehrbüchern und Vorlesungen an der Universität Wien popularisierten und systematisierten sie die Methoden der Heilgymnastik in Cisleithanien.29 Sie erhoben den Anspruch, Heilgymnastik und mediko-mechanische Therapien auf eine wissenschaftliche Basis zu stellen, das heißt sie auf die Prämissen und Experimente physiologischer Forschung zu stützen. Herz verteidigte in einer Debatte mit Zander diese Grundsätze und einige von ihm selbst entwickelte mediko-mechanische Apparate.30 Wie Ling und Zander sahen auch Bum und Herz die Wirkung physikalischer Therapien nicht auf einzelne Muskeln oder Gelenke begrenzt. Insbesondere bei Massage und Gymnastik konnten sie sich auf die internationale physiologische Forschung beziehen, in der Muskeltätigkeit als ›Arbeit‹ definiert wurde, die Energie verbrauchte, die das Herz-Kreislauf-­System der Muskulatur lieferte.31 Durch gymnastische Übungen sollte so auf Blutgefäße, Herzrhythmus und Atmung eingewirkt werden.32 Andererseits konnten Bum und Herz an lokale Forschungen anknüpfen. Dadurch verliehen sie dem keineswegs unangefochtenen System der Heilgymnastik wissenschaft­liche Glaubwürdigkeit und banden internationales Wissen in lokale wissenschaftliche Zusammenhänge ein. Ein zentraler Anknüpfungspunkt war die physiologische und neurologische Forschung an der Universität Wien. Der Bezug auf diese stark physiologisch orientierte Forschung zu psychischen Phänomenen33 ermöglichte es Bum und Herz, die physische und psychische Dimension der Gymnastik miteinander zu verschränken. Explizit bezogen sie sich auf den einflussreichen cisleithanischen Physiologen Sigmund Exner, der in den 1880er Jahren zur Lokalisation motorischer Funktionen im Gehirn geforscht hatte. Im Jahr 1894 publizierte Exner die Schrift »Entwurf zu einer physiologischen Erklärung der psychischen Erscheinungen«, in der er die Hypothese aufstellte, dass psychische Phänomene wie Wille oder Gedächtnis durch die Interaktion

28 Siehe dazu: Ottosson, The First Historical Movements of Kinesiology, S. 1892–1919; Hansson u. Ottosson, S. 1184–1194; Schöler. 29 Bum u. Herz; Herz, Lehrbuch der Heilgymnastik; Bum, Lexikon der physikalischen Therapie, Diätetik und Krankenpflege für praktische Ärzte. 30 Herz, Neue Principien und Apparate der Widerstandstherapie; Zander; Herz, Meine neuen Principien und Apparate der Widerstandstherapie. 31 Rabinbach, S. 47–61; Kuhn, S. 66–103; Sarasin, S. 242–248. 32 Herz, Lehrbuch der Heilgymnastik, S. 60–83. 33 Hofer, S. 84–87.

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zwischen den Bestandteilen des Nervensystems zu erklären seien.34 Bum und Herz bezogen sich in ihrer Verschränkung von physischer und psychischer Wirkung der Therapie jedoch auf ein anderes von Exner geschildertes Phänomen: die sogenannte »Bahnung«.35 Exner folgte in seiner Schrift der damals noch umstrittenen Theorie von Santiago Ramón y Cajal, dass das Nervensystem kein durchgehendes Netz von Nervenfasern sei, sondern aus voneinander durch Abstände getrennten Nervenzellen (›Neuronen‹) bestünde.36 In Tierversuchen hatte Exner beobachtet, dass ein elektrischer Stimulus, der von einer Extremität zur entsprechenden Hirnregion der motorischen Funktion oder in umgekehrter Richtung verlief, die Übertragung nachfolgender Reize zwischen denselben Körperteilen positiv beeinflusste. Er erklärte dies damit, dass der erste Stimulus die Intensität verringert habe, die ein Reiz erreichen musste, um von einer Nervenzelle auf die nächste übertragen zu werden.37 Diesen Effekt bezeichnete Exner als »Bahnung«, und darauf bauten Bum und Herz ihre Erklärung der medikomechanischen Therapie auf. Herz erklärte in seinen Vorlesungen an der Universität Wien über die Wirkung der gymnastischen Therapie auf das Nervensystem, dass die zunächst passiven Bewegungsübungen der ersten Behandlungsphase motorische Reize auslösten, die von der gelähmten Gliedmaße zur entsprechenden Hirnregion verliefen. Sie schüfen dadurch ›Bahnen‹ im Nervensystem, entlang derer Stimuli effektiver übertragen würden. Diese fortgesetzten Reize würden es zudem ermöglichen, dass aufgrund der »durch die Bewegung selbst gewonnenen Wahrnehmungen« im »Bewusstsein des Kranken [die] Bewegungsvorstellung« wieder aufgebaut werde.38 Dieses geistige Bild einer Bewegung sei dafür notwendig, sie auszuführen. In der zweiten Phase, den aktiven Bewegungsübungen, musste der Patient oder die Patientin nun diese ›Bewegungsvorstellung‹ in die Tat umsetzen. Für das Ausführen der Bewegungen würden Reize entlang der zuvor geschaffenen ›Bahnen‹ von der entsprechenden Hirnregion zur Gliedmaße gesendet, wodurch der Patient oder die Patientin erlerne, die Kontrolle über die eigenen Körperbewegungen zurückzuerlangen. Die langsame Eingewöhnung einer Bewegung durch gymnastische Übungen umfasste also sowohl die Einwirkung auf das Muskel- und Nervensystem als auch die »Anregung des Willens«.39 Schließlich erzeuge man dadurch »ein Gefühl der Befriedigung und des neu auflebenden Selbstvertrauens«.40 Zurückgreifend auf die physiologische Forschung an der Universität Wien verschränkten Bum und Herz so die physische und psychische Dimension rehabilitativer Medizin. Diese Beeinflussung der Psyche durch 34 Coen, Vienna in the Age of Uncertainty, S. 102–103. 35 Exner, S. 69, 76–92. 36 Berlucchi u. Buchtel, S. 307–319; Karenberg, S. 1042–1044. 37 Vier Jahre später schuf der deutsche Physiologie Alfred Goldscheider für diese Intensitätsschwelle den Begriff »Neuronschwelle«. 38 Herz, Lehrbuch der Heilgymnastik, S. 553. 39 Ders., Nervengymnastik, S. 970. 40 Ebd., S. 978.

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die körperliche Übung der Arbeit war eine zentrale Prämisse der Re-Integration kriegsverletzter Soldaten. Bum und Herz lehnten die Nutzung von Arbeit als Therapie jedoch ab, da sie im Gegensatz zu gymnastischen Übungen nicht den körperlichen Fähigkeiten der Patienten angepasst werden könne und daher das Risiko barg, sie zu überfordern.41 Andere Sozialmediziner gingen über ein rein (versicherungs-)medizinisches Verständnis von Rehabilitation hinaus. Ludwig Teleky und Maximilian Sternberg etwa leiteten aus ihren Forschungen zum Zusammenhang zwischen potenziell krankmachenden Arbeitsbedingungen und individuellen Dispositionen den Anspruch ab, dass Mediziner auch auf dem Feld der Berufsberatung aktiv sein sollten. Berufswahl und -beratung wurden Ende des 19. Jahrhunderts in Cisleithanien zunehmend thematisiert. Zum einen war es die Frauenbewegung, die in der Berufsberatung ein Mittel sah, die Gleichberechtigung von Frauen in der Ausbildung und im Arbeitsleben zu erreichen.42 Zum anderen wurde vor allem ihre volkswirtschaftliche »Allokationsfunktion«43 hervorgehoben: eine effizientere Verteilung der Arbeitskräfte auf die verschiedenen Berufe.44 Aber auch Akteure aus der Pädagogik brachten sich in die Debatte ein und hoben bereits vor dem Ersten Weltkrieg das Thema der Arbeitsfreude hervor, »[d]enn ein Beruf, der nicht den Anlagen und Neigungen entspricht, kann eine unversiegliche Quelle der Unzufriedenheit werden.«45 Sternberg wollte Sozialmediziner als relevante Experten in diesem neuen Feld etablieren, indem er den Blick auf eine andere Dimension der Allokationsfunktion der Berufsberatung lenkte – den Zusammenhang zwischen Gesundheit und Arbeitsverhältnissen. Aus seinem Engagement in der Tuberkulosefürsorge heraus entwickelte er den Vorschlag, dass Arbeiter und Arbeiterinnen mit gesundheitlichen Einschränkungen einer ärztlichen Berufsberatung bedürften, um Berufe zu identifizieren, die ihren Zustand nicht verschlimmerten.46 Teleky warf bereits in seiner Schrift zu Berufskrankheiten die Frage auf, wie sozialpolitisch mit Personen umzugehen sei, die aufgrund einer Krankheit ihren früheren Beruf nicht mehr ausüben könnten, aber deswegen nicht vollständig erwerbsunfähig seien.47 Die Rolle des Mediziners in der Berufsberatung und das Identifizieren körperlich angemessener Berufe sollten in der Fürsorge für Kriegsversehrte während des Ersten Weltkrieges, in der sowohl Teleky als auch der Grazer Sozialmediziner Otto Burkard aktiv waren, eine große Rolle spielen.

41 Ebd., S. 971–972. 42 Gröning, S. 24–25. 43 Ebd., S. 14. 44 Hauer. 45 Presler, Otto: Berufswahl, in: Der Säemann, zit. nach: Sailmann, S. 164–165. 46 Sternberg. 47 Teleky, S. 234.

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Rehabilitative Behandlungsformen entwickelten sich in der cisleithanischen Unfall- und Krankenversicherung als Initiativen ›von unten‹. Diese resultierten aus unterschiedlichen Motivlagen: Die 1890er Jahre waren für viele Versicherungsanstalten von rasant anwachsenden Rentenansprüchen und negativen Bilanzen geprägt. Vor diesem Hintergrund wollten sie zum einen mehr Kontrolle über Dauer, Form und Kosten der Heilverfahren erlangen, zum anderen ihre Ausgaben für Entschädigungszahlungen reduzieren. Für Mediziner boten rehabilitative Verfahren die Möglichkeit, sich neue Karrierewege in dem konstituierenden Feld der Versicherungsmedizin zu erschließen. Diese Eigendynamiken der Sozialpolitik vollzogen sich unterhalb ihrer gesetzlichen Regelung. 3.2 Arbeit und Selbstvertrauen: Rehabilitation für Kinder mit körperlichen Behinderungen Während die Rehabilitationsmedizin der Unfallversicherungsanstalten zahlreiche Verfahren entwickelte, die auch in der medizinischen Behandlung von Kriegsversehrten zum Einsatz kamen, wie etwa Massage oder gymnastische Übungen an Apparaten, spielte Arbeit als physische und psychische Therapie darin noch eine untergeordnete Rolle. Die psychiatrische Anstaltsfürsorge und die Fürsorge für Kinder mit körperlichen Behinderungen waren jene Behandlungsfelder, in denen Arbeit bereits als medizinische und erzieherische Therapie betrachtet wurde, was die Entwicklung der Arbeitstherapie in der Behandlung verletzter und erkrankter Soldaten entscheidend beeinflusste. So fand Arbeit als ›Beschäftigungstherapie‹ zeitgenössisch in den psychiat­ rischen Anstalten »Am Steinhof« in Wien und Mauer-Öhling in Niederösterreich Verwendung – mit dem erwünschten Nebeneffekt, dass die Patienten und Patientinnen dadurch auch zur wirtschaftlichen Entlastung der Institutionen beitrugen.48 Ein psychologisch weiter gehendes Verständnis von ›Arbeitsbehandlung‹ propagierte der Berliner Psychiater Max Laehr auf der Versammlung des »Vereins für Psychiatrie und Neurologie« in Wien im Jahr 1906. Er unterschied streng zwischen Beschäftigungstherapie, die lediglich der Langeweile vorbeugen sollte, und der Arbeitsbehandlung, in der Arbeit zu einem »psychisch tiefer wirkenden« Therapieinstrument werde, welche[s] nicht zerstreut, sondern sammelt, welche[s] inhaltlich den ganzen Menschen packt, so dass er sich [der Arbeit] ganz hingibt und mit dem wachsenden Gefühl der eigenen Leistungsfähigkeit einen sicheren Boden unter sich und ein festes Ziel vor sich sieht.49

Diese Vorstellung von Arbeit als physisch und psychisch wirksamer Therapieform kam auch in der orthopädischen Rehabilitation für Kinder mit kör48 Ledebur, S. 109–114. 49 Laehr, S. 382.

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perlichen Behinderungen zum Tragen. Die Herausbildung einer ›Arbeitsbehandlung‹ als Therapie, welche die Patienten emotional und psychisch beeinflussen sollte, war von großer Bedeutung für die rehabilitativen Praktiken der Kriegs­versehrtenfürsorge. 3.2.1 Das Vorbild: Konrad Biesalskis »Krüppelfürsorge« Als im Dezember 1915 die erste Ausgabe des »Österreichischen Arbeitsnachweises für Kriegsinvalide« erschien, proklamierte die Überschrift auf dem Titelblatt: »An unsere verwundeten und kranken Krieger. Es gibt kein Krüppeltum, wenn der eiserne Wille vorhanden ist, es zu überwinden!«50 Dies war ein Zitat des deutschen Orthopäden Konrad Biesalski, der wahrscheinlich die prominenteste Verbindung zwischen der Fürsorge für Kinder mit körperlichen Behinderungen und der Kriegsversehrtenfürsorge im deutschen Sprachraum darstellte, nicht zuletzt aufgrund seiner gekonnten Selbstinszenierung.51 Während Menschen mit sensorischen und geistigen Behinderungen bereits im frühen 19. Jahrhundert zur Anstaltsfürsorge in spezialisierten Einrichtungen untergebracht wurden, erfolgte die Versorgung von Menschen mit körperlichen Behinderungen bis in das späte 19. Jahrhundert im Rahmen der Unterbringung und Versorgung von Armen, Alten und Kranken in privaten, konfessionellen, kommunalen oder staatlichen Hospitälern, Asylen und Anstalten.52 Eine frühe Ausnahme stellte etwa die »Technische Industrieanstalt für krüppelhafte Kinder« dar, die Nepomuk Kurz 1832 in München gründete.53 Biesalski verfolgte das Ziel, die betroffenen Kinder und Jugendlichen aus der Gruppe der Kriminellen, Armen und Hilfsbedürftigen herauszulösen und zugleich die Medizin als berufene Instanz zur Lösung dieses ›neuen‹ sozialen Problems zu etablieren. Diese Bemühungen waren Teil einerseits einer verstärkten Zuwendung zur Kinder- und Jugenderziehung in vielen Staaten Europas, andererseits einer Neuorientierung der (chirurgischen) Orthopädie. Im ausgehenden 19. Jahrhundert ›entdeckten‹ Politiker sowie sozialreformerische und philanthropische Vereinigungen Kinder als zukünftige Staatsbürger bzw. Ehefrauen und Mütter sowie als Angehörige einer Nation.54 Nationalistische Akteure und Akteurinnen machten das cisleithanische Schulwesen im ausgehenden 19. Jahrhundert zum Schauplatz von Konflikten um die nationale Zugehörigkeit von Kindern. In Böhmen waren es tschechisch- und deutschsprachige Nationalisten, die das Schulwesen reformierten und Kinderfürsorgeanstalten ausbauten, um elterlichen Praktiken der »nationalen Indifferenz« entgegenzuwirken. Darunter verstanden sie alle Handlungen, welche die Vorstellung einer eindeutigen und exklusiven nationalen Zugehörigkeit untergruben.55 50 o. A., An unsere verwundeten und kranken Krieger. 51 Osten, S. 49–69. 52 Sachsse u. Tennstedt, S. 85–131; Dreves. 53 Fuchs, S. 22. 54 Siehe für Großbritannien: Olsen; Lindenmeyer u. Sandin; Hendrick, S. 19–86. 55 Zahra, S. 1378.

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In Deutschland bemühte sich zur gleichen Zeit eine Reihe von Orthopäden wie etwa Albert Hoffa oder Leonhard Rosenfeld um einen Richtungsschwenk in der Orthopädie, die bisher im Rahmen von privaten Heilanstalten vor allem körperliche Gebrechen wohlhabender Patienten und Patientinnen behandelt hatte.56 Der Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit körperlichen Behinderungen aus ärmeren Schichten widmete sich demgegenüber in Deutschland seit dem späten 19. Jahrhundert die konfessionelle Armenfürsorge, wobei die protestantische »Innere Mission« eine vorherrschende Stellung einnahm. Deren Vertreter, wie etwa Pastor Theodor Schäfer, kombinierten bereits medizinische Behandlung mit schulischer und beruflicher Ausbildung, wobei sie Ideen und Praktiken von entsprechenden Heimen in den skandinavischen Ländern übernahmen.57 Die ›Krüppelfürsorge‹ entwickelte sich so in einem internationalen Austausch von Konzepten und Methoden. Biesalski wiederum stützte sich auf diese Formen konfessioneller Wohltätigkeit, indem er die Kombination von medizinischer Behandlung, schulischer und beruflicher Ausbildung als Bestandteile eines ›Krüppelheims‹ aufgriff. Er machte jedoch die berufliche Wiedereingliederung der Betroffenen zum Ziel der Behandlung. Das Projekt der ›Krüppelfürsorge‹ sollte zudem aus den konfessionellen Heimen herausgelöst und unter das Primat der Orthopädie gestellt werden.58 Zu diesem Zweck betrieb er neben der Einrichtung eines eigenen Heimes die statistische Erfassung von Kindern und Jugendlichen mit körperlichen Behinderungen der unteren Bevölkerungsschichten und der bestehenden Fürsorgeeinrichtungen in Deutschland. Eine solche Erhebung wurde schließlich 1906 durchgeführt, ihre Ergebnisse wurden 1909 publiziert. Biesalski kam zu einer Zahl von 75.183 Kindern unter 15 Jahren mit physischen Behinderungen59 und schätzte darauf aufbauend, dass insgesamt etwa 500.000 Menschen mit körperlichen Behinderungen in Deutschland lebten.60 Mit diesen Ergebnissen weckte Biesalski das Interesse an der neuen ›Krüppelfürsorge‹ sowohl bei den Ärzten als auch bei der öffentlichen Verwaltung. Diesen Zahlen lag eine medizinische Definition von Behinderung zugrunde, die auf Einschränkungen in der anatomischen und physiologischen Funktionalität basierte. Sie beinhaltete alle durch ein »angeborenes oder erworbenes Nerven- oder Knochen- und Gelenksleiden in dem Gebrauch [des] Rumpfes oder [der] Gliedmaßen behinderte Kranke«61 und grenzte sie zugleich von Menschen mit geistigen Behinderungen ab.62 Dadurch 56 Thomann, S. 235–236; Osten, S. 83–85. 57 Sie nahmen sich etwa ›Arbeitsschulen‹, wie sie in Dänemark errichtet worden waren, zum Vorbild: Thomann, S. 235. 58 Ebd., S. 227–237. Gleichzeitig bewegte sich Biesalski damit in einem Konkurrenzverhältnis zur Chirurgie. Osten, S. 67–68. 59 Ohne Daten aus Bayern, Hessen und Baden. Biesalski, Umfang und Art des jugendlichen Krüppeltums und der Krüppelfürsorge in Deutschland, Tabelle 182. 60 Sierck, S. 16. 61 Biesalski, Leitfaden für Krüppelfürsorge, S. 14, zitiert nach: Fuchs, S. 27. 62 Ebd., S. 27–28.

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fasste Biesalski Menschen, die an verschiedenen Krankheiten wie Tuberkulose, Skoliose, Rachitis, Kinderlähmung oder Unfallfolgen litten, unter dem Begriff ›Krüppel‹ zusammen. Mit den erhobenen Zahlen konnte Biesalski erfolgreich für die Notwendigkeit entsprechender Fürsorgeanstalten werben.63 Wenngleich die Ergebnisse seiner »Krüppelzählung« nicht unangefochten blieben,64 konnte Biesalski sie erfolgreich dazu nutzen, Menschen mit körper­ lichen Behinderungen als soziales ›Problem‹ zu definieren, für das die Orthopädie Lösungen bereithielt. Er begründete die Notwendigkeit der Rehabilitation von Kindern mit körperlichen Behinderungen von Anfang an mit volkswirtschaftlichen Argumenten und sah sie sowohl als Belastung für die Armenversorgung als auch als ungenutzte Arbeitskräfte. Diese Perspektive bestimmte das Ziel, das er mit seiner Form der »Krüppelfürsorge« verfolgte: Der Krüppel soll erwerbsfähig, kurz gesagt, aus einem Almosenempfänger ein Steuerzahler, aus einem parasitischen ein produktives, aus einem unsozialen ein soziales Mitglied der menschlichen Gesellschaft werden.65

Zu diesem Zweck sollten die Fürsorgeanstalten, wie sie Biesalski vorschwebten, orthopädische Behandlung und Bereitstellung von Prothesen mit Unterricht und handwerklicher Ausbildung unter einem Dach vereinen. Dazu wurde auf Erfahrungen aus den Anstalten für Menschen mit sensorischen Behinderungen, Nervenkliniken und Hilfsschulen zurückgegriffen, deren Vertreter auch in der »Zeitschrift für Krüppelfürsorge« publizierten.66 Die Kombination aus Therapie und (geschlechtsspezifischer) beruflicher Erziehung sollte den Kindern die spätere wirtschaftliche Selbstständigkeit garantieren, die wiederum als Voraussetzung angesehen wurde, um zum »Vollbürger« zu werden.67 Zur Umsetzung des erzieherischen Anspruches in der 1906 gegründeten »Krüppelheil- und Erziehungsanstalt« in Berlin, die schließlich im April 1914 in das neu geschaffene Oskar-Helene-Heim übersiedelte, arbeitete Biesalski zunächst mit Otto Legel zusammen. Dieser betonte bereits die Notwendigkeit der Spezialisierung in der handwerklichen Ausbildung der Kinder, damit sie später als Arbeitskräfte anerkannt würden.68 Die Zusammenarbeit mit Legel endete jedoch 1911. An seine Stelle als Leiter der pädagogischen Abteilung des Heimes trat Hans Würtz, der in der Folge unter dem Schlagwort »Krüppelpsychologie« pädagogische Theorien und Methoden für die Behandlung der betroffenen Kinder entwickelte.69 Nach Kriegsbeginn erkannten Biesalski und Würtz in der Fürsorge für Kriegs63 Osten, S. 61–69. 64 Ebd., S. 66–69. 65 Biesalski, Umfang und Art des jugendlichen Krüppeltums und der Krüppelfürsorge in Deutschland, S. 20. 66 Osten, S. 138. 67 Würtz, Das künstlerische Moment im Unterricht und in der Ausbildung der Krüppel, S. 174; siehe auch: Osten, S. 151; Thomann. 68 Osten, S. 139–140. 69 Sierck, S. 17–19.

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versehrte die Möglichkeit, ihrem Programm der ›Krüppelfürsorge‹ zusätzliche Autorität und soziales Prestige zu verleihen, und Biesalski konnte 1914 durchsetzen, dass der »Deutschen Vereinigung für Krüppelfürsorge« die führende Rolle bei der Behandlung der deutschen Kriegsverletzten zukam. Damit verschob sich jedoch der Fokus der ›Krüppelfürsorge‹ von der Behandlung von Kindern zur Versorgung Kriegsversehrter.70 3.2.2 Fürsorgeinitiativen in Cisleithanien In Cisleithanien bestanden, wie in Deutschland, Großbritannien oder Belgien, institutionelle und personelle Verbindungen zwischen Kinderorthopädie und Kriegsversehrtenfürsorge,71 was die therapeutischen Praktiken prägte. Die Ausbildung und Entwicklung der Orthopädie und des Rehabilitationsgedankens bei Kindern und Jugendlichen mit körperlichen Behinderungen in der Habsburgermonarchie ist jedoch noch kaum wissenschaftshistorisch erforscht.72 Biesalskis Fachzeitschrift »Zeitschrift für Krüppelfürsorge« war ein wichtiges Organ des Wissenstransfers zwischen deutschen und cisleithanischen Initiativen. Die Zeitschrift trug bereits vor dem Ersten Weltkrieg entscheidend zur nationalen und internationalen Vernetzung von Chirurgen, Orthopäden, Schulärzten und zivilgesellschaftlichen Akteuren und Akteurinnen bei, die sich darin über Heime, Aktivitäten und Methoden austauschten.73 Diese Vernetzungstätigkeit bestand während des Ersten Weltkrieges fort, wenn auch großteils auf den deutschen Sprachraum beschränkt. Nach 1914 verband sie Biesalski auch direkt mit führenden Akteuren der Kriegsversehrtenfürsorge in Cisleithanien. Er fungierte als Fachkonsulent für den Wiener Verein Wilhelm Exners »Die Technik für die Kriegsinvaliden«.74 Im Gegenzug wurden ab 1915 Exner und Hans Spitzy Mitglieder des Herausgeber-Gremiums der »Zeitschrift für Krüppelfürsorge«.75 Hans Spitzy war eine der zentralen Figuren, die in Cisleithanien die orthopädische Behandlung von Kindern mit der Fürsorge für Kriegsversehrte verband. Er hatte an der Universität Graz Medizin studiert, arbeitete danach als Assistent an der Grazer Universität-Kinderklinik und absolvierte Studienaufenthalte in Würzburg und Berlin bei Albert Hoffa, einem der Begründer der orthopädischen Chirurgie im Deutschen Kaiserreich. Nachdem Spitzy Hoffa 1904 auf einer dreimonatigen Reise nach Nordamerika begleitet hatte, wurde er 1905 an der Universität Graz für orthopädische Chirurgie habilitiert. Von 1906 bis 1913 leitete Spitzy die chirurgisch-orthopädische Abteilung an der Grazer Universitäts-Kinderklinik, die er mitbegründet hatte. Er übernahm dann bis 70 Würtz, Der Wille siegt; Osten, S. 78–80, 297–303. 71 Zu Großbritannien siehe: Koven, S. 1167–1202; Reznick, S. 185–228. Zu Belgien siehe das Dissertationsprojekt von Marisa de Picker an der KU Leuven. 72 Für medizinhistorische Publikationen siehe: Čech; Ullmann. 73 Zeitschrift für Krüppelfürsorge, Jg. 1, 1909. 74 Biesalski, Kriegskrüppelfürsorge, S. 5. 75 Zeitschrift für Krüppelfürsorge, Jg. 8, 1915.

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Juli 1914 die Leitung der orthopädischen Abteilung des Kaiser-Franz-JosephAmbulatoriums in Wien.76 Spitzy verband in seinen wissenschaftlichen Aktivitäten vor dem Ersten Weltkrieg medizinische und pädagogische Fragen. Er publizierte zur körperlichen Erziehung von Schulkindern,77 wurde im Rahmen der »Enquete für körperliche Erziehung im Ministerium für Kultus und Unterricht« 1910 als Experte befragt und von der cisleithanischen Regierung zu den »Internationalen Kongressen für physische Erziehung« nach Odense (1911) und Paris (1913) entsandt. An der Jahreswende 1914/1915 warb er erfolgreich für die Einrichtung einer Krankenanstalt, die auf die Behandlung und Ausbildung verletzter Soldaten spezialisiert war.78 Aber neben Spitzy bestanden auch noch weitere personelle und institutionelle Verbindungslinien zwischen Kinder- und Kriegsversehrtenfürsorge. Eine institutionalisierte rehabilitative Fürsorge für Kinder und Jugendliche mit körperlichen Behinderungen wurde in Cisleithanien vor dem Ersten Weltkrieg nur auf regionaler und lokaler Ebene realisiert. Im Jahr 1900 wurde das »Kaiserin Elisabeth-Asyl für verkrüppelte Kinder« in Oberlanzendorf bei Wien eingerichtet.79 Nach der Jahrhundertwende wurde Biesalskis statistische Erfassung aller Kinder mit physischen Behinderungen des Deutschen Kaiserreichs auch in Cisleithanien rezipiert und zur Legitimierung des Auf- und Ausbaus der ›Krüppelfürsorge‹ genutzt. In Wien schuf der Verein »Leopoldineum« ab 1909 ein durch private Mittel unterhaltenes Ambulatorium für Kinder mit physischen Behinderungen. In Graz bildete sich mit Arnold Wittek als wichtigem Akteur der Verein »Krüppelhilfe«. Dieser gewann die Gemeinde- und Bezirksvertretungen dafür, die orthopädische Fürsorge für Kinder finanziell zu unterstützen.80 Es war jedoch Böhmen, wo eine solche rehabilitative Fürsorge für Kinder vor dem Ersten Weltkrieg mit zwei Heimen am weitesten ausgebaut war. Dort war es der Konkurrenzkampf tschechisch- und deutschsprachiger Nationalisten, der Initiativen zur Rehabilitation von Kindern mit körperlichen Behinderungen beförderte. Mit dem neuen Verständnis von ›Nation‹, das sich um die Jahrhundertwende durchsetzte und potenziell alle Bevölkerungsschichten umfasste, bestimmten tschechisch- wie deutschsprachige Nationalisten in Böhmen und Mähren die Vitalität ihrer ›Nationen‹ zunehmend durch quantitative Daten. Neben den Angaben zur Umgangssprache in den Volkszählungen ab 1880 galten vor allem die Zahlen der Schuleinschreibungen in ›deutschen‹ oder ›tschechischen‹ Schulen als wichtiger Indikator für die Ausbreitung oder den Rückgang einer Nation.81 Dabei sahen sich deutsch- und tschechischsprachige Nationalisten, die Kinder (und ihre Eltern) für die jeweils eigene Nation zu 76 Skopec u. Zykan, S. 1351. 77 Spitzy, Die körperliche Erziehung des Kindes. 78 Ullmann, S. 42–44, 82–86, 96–98. 79 Trauttmansdorff u. Kinsky. 80 Wittek, Stand der Krüppelfürsorge in Steiermark; o. A., Wien. 81 Zahra, Kidnapped Souls, S. 49–60, 65–78.

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mobilisieren versuchten, mit Formen »nationaler Indifferenz« konfrontiert.82 In ihrem Alltagshandeln unterlief die Bevölkerung Böhmens oftmals die exklusive Zuschreibung zu der einen oder anderen Nation und praktizierte durch Eheschließungen und in der Kindererziehung das, was Nationalisten abschätzig als nationalen ›Hermaphrodismus‹ bezeichneten.83 Nationalisten beider Seiten waren in der Praxis darauf angewiesen, die Bevölkerung erst für die eine oder andere Nation zu gewinnen und die Nationszugehörigkeit in ihrem Selbstverständnis zu verankern.84 In zunehmender Weise waren es daher Kinder, die für eine Nation reklamiert werden sollten. So avancierte die Schule nicht nur in Böhmen, sondern in Cisleithanien insgesamt zu einem Feld der Auseinandersetzung zunächst über nationale Sprachenrechte, zunehmend jedoch über die Zuordnung von Kindern zu einer Nation.85 Tschechische Nationalisten waren in ihren Kampagnen für tschechischsprachige Schulen äußerst erfolgreich, wie Gary Cohen schreibt: The Czech educational system in the Bohemian Lands was much admired by the other Slavic groups, and nationally conscious Czech educators took pride in the fact that the other Slavic peoples sent students to Prague and Brno.86

Die deutschnationale Schulreformbewegung bezweckte gleichermaßen die Mobilisierung der Lehrerschaft zur Nationalisierung der Bevölkerung.87 Nach dem Mährischen Ausgleich von 1905, der die Unterscheidung der Bevölkerung in Deutsche und Tschechen festschrieb, wurde die Frage exklusiver Nationszugehörigkeit auch im Bereich des Schulwesens nicht nur zu einer politischen, sondern zu einer gesetzlichen und juristischen Frage. Paragraph 20 des Ausgleichs legte fest, dass Kinder »in der Regel« nur in jene Volksschulen aufgenommen werden durften, deren Unterrichtssprache sie beherrschten.88 Diese gesetzliche Bestimmung und ihr sprachlicher Ausdruck wurden mehrfach angefochten; eine Durchführungsverordnung von Gustav Marchet, die zahlreiche Ausnahmen festgeschrieben hätte, wurde vom Verwaltungsgerichtshof gekippt. Das Urteil des Verwaltungsgerichtshofes legte fest, dass die Ortsschulräte auch »Organe nationaler Lokalverbände« seien, die berufen sind, den Rechtsanspruch ihres Volksstammes in der Richtung zur Geltung zu bringen, daß die nach dem Gesetze den Schulen dieses Volksstammes angehörigen Kinder diesem nicht entzogen werden.89

82 Dies., Imagined Noncommunities. 83 Dies., Kidnapped Souls, S. 23. 84 Dies., Imagined Noncommunities. 85 Burger. 86 Cohen, Education and Middle-Class Society in Imperial Austria 1848–1918, S. 240. 87 Zahra, Kidnapped Souls, S. 51. 88 Stourzh, Ethnic Attribution in Late Imperial Austria, S. 165. 89 o. A., Nr. 7843 (A), Erkenntnis vom 11. (publiziert am 30.) Dezember 1910, Z. 6727, S. 1734.

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Mit dieser Entscheidung wurde der Grundsatz untergraben, dass Nationalität objektiv nicht festzustellen sei, wie er 1880 bei der Aufnahme der Umgangssprache in den Zensus noch festgeschrieben worden war. Darüber hinaus sprachen die Richter damit einer sozialen Gruppe kollektive Rechte zu, welche die individuellen Rechte der Eltern eng beschränkten. Kinder wurden so, in den Worten Tara Zahras, zu »national property«.90 Ein weiteres Mittel beider Nationalbewegungen, um die Bevölkerung Böhmens und Mährens zu nationalisieren, war der Ausbau von Kinderfürsorgeeinrichtungen. Mit der nationalen Aufspaltung der »Böhmischen Landeskommission für Kinderschutz und Jugendfürsorge« in eine deutsche und tschechische Kommission im Jahr 1908 begann die Einrichtung eines national segregierten Fürsorgeapparates, der Institutionen für medizinische Behandlung, Kinderbetreuung und Freizeitaktivitäten ebenso umfasste wie Waisenhäuser und Findelkinderanstalten. Durch diese Angebote sollte die Bevölkerung für die eine oder andere Nation rekrutiert und zu den ›richtigen‹ nationalen Alltagspraktiken erzogen werden. Dabei beobachteten die beiden Nationalbewegungen sehr genau die Initiativen und Angebote der jeweils anderen, um nicht hinter dieser zurückzubleiben.91 Der Leiter der böhmischen Landes-Findelanstalt, Jan Dvořák, publizierte 1907 den Aufsatz »Úprava péče o mrzáky« [Die Ausgestaltung der Krüppelfürsorge].92 Auf Basis eigener Beobachtungen in seiner Anstalt, punktueller Erhebungen schulpflichtiger Kinder in Böhmen sowie der Ergebnisse regionaler Erhebungen in Deutschland schätzte er darin die Anzahl der betroffenen Kinder in Böhmen und forderte zugleich, ihre Versorgung zu einer öffentlichen Aufgabe zu machen. Zu diesem Zweck gründete er 1908, unter anderem mit dem Prager Professor für Chirurgie Otokar Kukula, den »Spolek pro léčbu a výchovu rachitiků a mrzáků« [Verein zur Behandlung und Erziehung der Rachitiker und Krüppel] und propagierte eine »modern eingerichtete Fürsorge und Pflege der Krüppel und Rachitiker«, die orthopädische Behandlung und schulische Ausbildung vereinen sollte.93 Der Aktion zur Einrichtung einer orthopädischen und pädagogischen Anstalt für Kinder mit körperlichen Behinderungen war jedoch erst Erfolg beschieden, nachdem der Arzt Rudolf Jedlička den Vorsitz des Vereines übernommen hatte. Im Jahr 1913 wurde schließlich das »Jedličkův ústav pro zmrzačelé« [Jedlička90 Zahra, Kidnapped Souls, S. 37–38. 91 Ebd.; Siehe die Beiträge in: Haslinger, Schutzvereine in Ostmitteleuropa, insbesondere: Judson, Die Schutzvereine und das Grenzland; Dedryvère; Zettelbauer; Balcarová; Zahra, From Christmas Gifts to Orphans’ Pensions; Haslinger, Staat, Gesellschaft und tschechische Schutzvereine in den Grenzregionen der böhmischen Länder in der Zwischenkriegszeit; ­Albrecht. 92 Dvořák, Úpráva péče o mrzáky. Sociologická studie [Die Ausgestaltung der Krüppelfürsorge. Eine soziologische Studie]. 93 o. A., Spolek pro léčbu a výchovu rachitiků a mrzáků [Verein zur Behandlung und Erziehung der Rachitiker und Krüppel]: »moderní úpravě péče a léčby mrzáků a rachitiků«.

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Institut für Verkrüppelte] eröffnet, das Platz für zehn Kinder bot, jedoch bereits im ersten Jahr zwölf Pfleglinge hatte. Jedlička war zwar Vorsitzender des Vereins, der das Heim betrieb, er selbst leitete die Anstalt allerdings nur für kurze Übergangsphasen und erneut 1916. Zum ersten Direktor des Instituts ernannte er den Schullehrer František Bakule.94 Parallel dazu und in Reaktion darauf initiierte auch die »Deutsche Landeskommission für Kinderschutz und Jugendfürsorge« die Einrichtung eines solchen »Krüppelheimes«. Theodor Altschul, Vorstandsmitglied der Kommission und Experte für Schulhygiene, veranlasste bereits vor der Publikation von Biesalskis Ergebnissen 1909 eine eigene statistische Zählung deutschböhmischer Kinder mit Behinderungen im Alter zwischen sechs und vierzehn Jahren. Sie wurde jedoch von Lehrern durchgeführt und erfasste daher nur schulpflichtige Kinder. Außerdem ließ er in der Nähe von Aussig / Ústí nad Labem ein Heim für Kinder mit körperlichen Behinderungen einrichten. Im orthopädischen Fachbeirat der Anstalt saß unter anderem Josef Gottstein, der in Reichenberg / Liberec eine private orthopädische Heilanstalt leitete.95 Gottstein forderte in Reaktion auf die Pläne Dvořáks, dass ein Heim für alle deutschsprachigen Kinder mit Behinderungen Böhmens in Reichenberg / Liberec gegründet werden sollte. Als Vorbild für die Behandlung diente ihm die Biesalski’sche Rehabilitation.96 Gegen Ende des Jahres 1909 wurde in Reichenberg / Liberec, wohl auf Gottsteins Initiative, der Verein »Krüppelhilfe für Deutschböhmen« gegründet, als dessen Vorsitzender der Bürgermeister der Stadt, Franz Bayer, fungierte. Zu den Aufgaben des Vereins zählte laut Satzung die »Heilung, Erziehung, Berufsbildung und wirtschaftliche Förderung krüppelhafter und vom Krüppeltum bedrohter Kinder und Jugendlicher«.97 Der Verein kooperierte eng mit der Stadt und der deutschen Landeskommission für Kinderschutz und Jugendfürsorge, was schließlich die Eröffnung einer »orthopädische[n] Armenheilanstalt« mit 25 Betten in Reichenberg / Liberec am 16. November 1910 ermöglichte.98 Die Räumlichkeiten stellte die Stadt zur Verfügung, Gottstein die medizinischen Geräte. Er bewarb diese Einrichtung in einem Artikel in der deutschsprachigen Fachzeitschrift »Prager Medizinische Wochenschrift« aufgrund ihrer Möglichkeiten zur langfristigen und intensiven ortho94 Titzl, To byl český účitel, S. 108–110. 95 o. A., Böhmen; Altschul. 96 Gottstein publizierte zu diesem Zweck 1909 die Schrift »Fürsorge für Krüppelkinder«, siehe die Besprechung in: o. A., Dr. I. F. Gottstein, ›Fürsorge für Krüppelkinder‹. Prag 1909, Druck von A. Haase, Selbstverlag. Gottstein war, wie Spitzy, bereits 1912 Mitglied der Deutschen Vereinigung für Krüppelfürsorge, siehe die Mitgliederliste in: Zeitschrift für Krüppelfürsorge, Jg. 5, 1912. 97 Gottstein. 98 Státní okresní archiv [SOA] Liberec, NAD 800 Jedličkův ústav Liberec, 3140/1915, dort: Das Krüppelheim für Deutschböhmen in Reichenberg der »Reichenberger Zeitung«, der »Reichenberger deutschnationalen Volkszeitung« und der »Bohemia« übergeben zur Veröffentlichung am 23.5.1915, S. 2; Gottstein, S. 218.

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pädischen Nachbehandlung durch Massage, Elektrotherapie und Gymnastik. Zugleich machte er jedoch deutlich, dass sie noch kein voll ausgebautes Heim darstelle. Dazu bedürfe es der Einbindung von »Schulerziehung und Ausbildung in einem Handwerk«.99 Kommunalpolitiker der Stadt Reichenberg / Liberec, der Verein »Krüppelhilfe für Deutschböhmen«, die deutsche Landeskommission für Kinderschutz und Jugendfürsorge, der Landeswaisenfonds und private Spenden finanzierten schließlich die Errichtung eines »Krüppelheims für Deutschböhmen« in der Stadt, das am 29. August 1914 unter der Leitung Gottsteins eröffnet und noch im selben Jahr für die Kriegsversehrtenfürsorge umgewidmet wurde.100 Biesalski griff in seinen Bemühungen, politische und finanzielle Unterstützung für seine Art der Fürsorge für Kinder mit körperlichen Behinderungen zu gewinnen, auf die scheinbare objektive Beweiskraft der Statistik zurück und ordnete ihre Ergebnisse in Rückgriff auf zentrale Begriffe des politischen und gesellschaftlichen Diskurses im Kaiserreich um 1900 ein. Die ökonomische und soziale Schlagkraft von Nation und Staat sollten durch die Rehabilitation der Kinder gestärkt werden. Die Begriffspaare, die Biesalski verwandte (»parasitisch«-»produktiv«, »unsozial«-»sozial«), verwoben gleichermaßen ökono­mische wie moralische Werturteile.101 Obwohl die Bezeichnung der betroffenen Kinder als ›parasitär‹ stark abwertend war, war ein zentraler Impetus Biesalskis und seiner Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen die Transformation des »Krüppels« in einen »Vollbürger«.102 Die betroffenen Kinder sollten als Arbeitskräfte anerkannt werden, deren Potenzial von der Gesellschaft bisher vernachlässigt worden war. Aufgabe der sozialen Fürsorge war daher in Biesalskis Worten »der Dienst am Individuum, gesehen durch das Interesse der Allgemeinheit«.103 Durch die »Krüppelfürsorge« sollten die Kinder durch Erwerbsarbeit zur ›Volkswirtschaft‹ beitragen und dadurch zu anerkannten Mitgliedern der Gesellschaft werden. Gleichermaßen bedienten sich auch Jan Dvořák, Rudolf Jedlička und Josef Gottstein zum einen quantitativer Daten, um Handlungsdruck aufzubauen. Damit reflektierten sie und machten sich zugleich zunutze, dass nationalistische Diskurse bereits stark um die zahlenmäßige Repräsentation der Stärke der jeweiligen ›Nation‹ kreisten. Zum anderen fassten sie das soziale Problem der Kinder mit physischen Behinderungen ebenfalls in sozialhygienischen und volkswirtschaftlichen Begriffen. Im Wettstreit zwischen deutsch- und tschechischsprachigen Nationalisten waren die Kinder eine wertvolle ›Ressource‹, die es für die eigene Nation zu reklamieren und für ihre ökonomische und soziale Stärkung zu rehabilitieren galt. 99 Gottstein, S. 220. 100 Ringlhaan, S. 11. 101 Biesalski, Umfang und Art des jugendlichen Krüppeltums und der Krüppelfürsorge in Deutschland, S. 20. 102 Würtz, Moment, S. 174, zitiert nach: Osten, S. 151; vgl. auch: Thomann, S. 221–271. 103 Biesalski, Umfang und Art des jugendlichen Krüppeltums und der Krüppelfürsorge in Deutschland, S. 136.

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Gleichzeitig passten sie dies auch in jeweils spezifische Narrative ein. Jan Dvořák verortete die Form der Fürsorge im tschechischen Nationsverständnis des ausgehenden 19. Jahrhunderts, indem er diese in seinem Beitrag in M ­ asaryks Zeitschrift »Naše Doba« mit dem Wert der »Humanität« in Verbindung brachte.104 Dieser Begriff war zentral für Masaryks Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen tschechischen Politik, nachdem er sich 1893 (vorläufig) aus der Politik zurückgezogen hatte. Er griff dabei auf die von Herder beeinflussten Denker der České národní obrození [tschechische nationale Wiedergeburt] wie Ján / Jan Kollár, Josef Dobrovský, František Palacký und Karel Havlíček zurück.105 Masaryk erblickte im Humanitätsideal den Sinn der tschechischen Geschichte, aber auch der nationalen Bewegung. Humanität als ›tschechisches‹ Ideal war so zugleich die Grundlage der sozialen Reformen.106 Daran knüpfte Jan Dvořák explizit an, indem er die ›Krüppelfürsorge‹ zu einer Aufgabe der Humanität erklärte. Somit machten Mediziner und Pädagogen in Heimen Deutschlands und Böhmens die Fürsorge für Kinder mit körperlichen Behinderungen in ähnlicher Weise zu einer Frage der nationalen Ökonomie und Moral. Es lässt sich außerdem eine weitere Parallele zwischen den Heimen im Deutschen Kaiserreich und in Böhmen ziehen: Beide schrieben der Therapie eine emotionale Dimension zu. Handwerkliche Ausbildung galt als Erziehung von Körper und Geist. Dabei spielte die Verbindung von Orthopädie und Pädagogik in der Fürsorge für Kinder mit Behinderungen eine große Rolle. Bereits vor dem Krieg hatte Würtz den Standpunkt vertreten, dass diese Kinder an einem Gefühl der Minderwertigkeit gegenüber ihren Mitmenschen litten.107 Eine ähnliche Ansicht äußerte Dvořák in seinem mit soziologischem Anspruch versehenen Aufsatz »Die Ausgestaltung der Krüppelfürsorge. Eine soziologische Studie«: Was Wunder […], dass die Pädiater bereits in der Jugend bei den mit verschiedenen körperlichen Defekten betroffenen, den spöttischen und schadenfrohen Grimassen der ungezogenen Jugend ausgesetzten Kindern so viele der Keime der Gehässigkeit und Wut gegen ihre Kameraden bemerken!108

104 Dvořák, Úpráva péče o mrzáky. Sociologická studie [Die Ausgestaltung der Krüppelfürsorge. Eine soziologische Studie], S. 277: »časovými požadavky humanity a ethiky«. 105 Loužil, S. 645–646; Die beiden zentralen Schriften sind Masaryk, Česká otázka. Snahy a tužby národního obrození [Die tschechische Frage. Streben und Ziele der nationalen Wiedergeburt]; und ders., Naše nynější krize. Pád strany staročeské a počátkové směrů nových [Unsere gegenwärtige Krise. Der Fall der alttschechischen Partei und der Beginn neuer Richtungen]. 106 Hoffmann, S. 135–152. 107 Osten, S. 159; zu Hans Würtz: Musenberg, S. 20–39, 52–64. 108 Dvořák, Úpráva péče o mrzáky. Sociologická studie [Die Ausgestaltung der Krüppelfürsorge. Eine soziologische Studie], S. 275: »Ký div, […] že pediatrové již v mládi znamenají při dětech stižených různými tělesnými defekty, vysazených posměšným  a škodolibým úšklebkům nezvedené mládeže, tolik zárodků nevraživosti a zloby proti soudruhům!«

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Der Pädagoge František Bakule, der das Jedlička-Heim in Prag / Praha leitete, arbeitete nach ähnlichen Grundsätzen. Würtz und Bakule strichen die Rolle von (handwerklicher) Arbeit für das Selbstwertgefühl der betroffenen Kinder heraus. Das Heim sollte für Biesalski, Würtz und Bakule ein Ort sein, der gekennzeichnet war vom »Fehlen alles Bemitleidens und beabsichtigter oder ungewollter Kränkungen«.109 Bakule betonte, dass die Kinder im Heim »sich von dem bedrückenden Gefühl befreiten, eine Last für andere zu sein!«110 Beiden Heimen lag die Konzeption eines über die Arbeitsfähigkeit vermittelten Selbstwertgefühls zugrunde. Würtz und Bakule sahen sich vor die Herausforderung gestellt, die Kinder zur Arbeit zu erziehen und dieser eine positive emotionale Dimension zu verleihen. Durch spielerische Gestaltung des Werkunterrichts und eine möglichst frühe Einbindung von handwerklichen Tätigkeiten in den Heimalltag sollte die »Lebensfreude« durch Arbeitstätigkeit geweckt und schrittweise das Versprechen auf gesellschaftliche Anerkennung durch Erwerbsfähigkeit eingelöst werden.111 Das Dekorieren der Unterrichtsräume durch die Kinder selbst, ebenso wie der Verkauf der von ihnen hergestellten Gegenstände sollten sie von der Nützlichkeit ihrer Arbeit überzeugen, wie Bakule ausführte: Sie [die Kinder] sahen, wie die Objekte, die sie herstellten, in unserem Haushalt genutzt wurden, sie erkannten auch die nationalökonomische Bedeutung ihrer Arbeit, als sie zu Teilhabern an dem Einkommen aus den verkauften Produkten wurden.112

Im Berliner Oskar-Helene-Heim ging diese spielerische Erziehung zu Arbeitslust zudem mit der Ausweisung von Kindern einher, die zu wenig Fleiß zeigten.113 Komplementär zur Schilderung der Erziehung zu ›Arbeits- und Lebensfreude‹ lässt sich im Tätigkeitsbericht des Jedlička-Instituts ein visuelles Narrativ identifizieren: Mehrere Fotografien zeigen Einzelaufnahmen von Kindern mit Behinderungen und ihre Transformation durch Vorher-Nachher-Aufnahmen. Zuerst werden die Kinder auf allen Vieren oder in verkrümmter Körperhaltung dargestellt, darauf folgen Bilder, auf denen sie aufrecht stehen. Impliziert in dieser fotografisch inszenierten ›Aufrichtung‹ der Kinder ist ihre ›Menschwerdung‹ und ihre Entwicklung zu unabhängigen bürgerlichen Subjekten.114 Diesen therapeutischen Praktiken eingelagert war ein Prozess der Subjektivierung, in dessen Verlauf die Kinder erlernen sollten, ihr Selbstwertgefühl in der Arbeit und Er-

109 Biesalski, Umfang und Art des jugendlichen Krüppeltums und der Krüppelfürsorge in Deutschland, S. 169. 110 Bakule, S. 24: »zbavily se tísnivého pocitu, že jsou někomu na obtíž«. 111 Jedlička, Péče o mrzáky [Krüppelfürsorge], S. 193: »radost ze života«. 112 Bakule, S. 24: »Viděly, jak předmětů jimi vyrobených v domácnosti naší se užívá, poznaly i národohospodářský význam práce, když staly se podílníky na příjmu z odprodaných výrobků.« 113 Osten, S. 163. 114 Warneken; Christian.

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werbsfähigkeit zu suchen. Zugleich brachte dies eine Hierarchisierung mit sich: Die Kinder, die wieder zu Arbeitskräften werden konnten, erhielten potenziell einen höheren Status als Kinder mit nicht therapier- oder heilbaren Erkrankungen, die sie zugleich arbeitsunfähig machten.115 Um diese Subjektivierung zu erreichen, mussten jedoch die Arbeitstätigkeiten selbst zunächst so gestaltet werden, dass sie den Kindern Spaß machten. Diese gezielte Ausgestaltung von Arbeit als therapeutische Praktik sollte für die Re-Integration Kriegsversehrter entscheidende Bedeutung erlangen.116

115 Fuchs, S. 28–30. 116 Siehe Kapitel B 3.3.

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B. Die Fürsorge für Kriegsversehrte 1914–1918 Am 27. Juli 1914 verkündete Franz Joseph I. mit der in elf Sprachen veröffentlichten Proklamation »An meine Völker«, dass die Habsburgermonarchie Serbien den Krieg erkläre. Im Gefolge der Mobilisierung rekonfigurierten umfassende Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft. Presse und Privatkorrespondenz unterlagen in Cisleithanien bereits ab Ende Juli 1914 einer Überwachung und Zensur, die schärfer ausfiel als in Transleithanien oder im Deutschen Kaiserreich.1 Zudem suspendierte der Monarch per Entschließung am 26. Juli 1914 die staatsbürgerlichen Rechte, und weite Teile Cisleithaniens wurden zum »Kriegsgebiet« deklariert, wodurch die zivile Verwaltung dem Militär unterstellt war.2 Das cisleithanische Parlament war bereits seit März 1914 aufgehoben und blieb bis 1917 geschlossen, das gleiche galt für die Landtage. Erst als im Oktober 1916 Friedrich Adler den Ministerpräsidenten Stürgkh ermordete und im November desselben Jahres Franz Joseph verstarb, setzte der neu gekrönte Monarch Karl I. bzw. als König von Ungarn Karl IV. einen neuen innenpolitischen Kurs durch.3 Dieser Machtwechsel hatte auch weitreichende sozialpolitische Folgen. Karl ordnete die Gründung eines Ministeriums für soziale Fürsorge an, dessen führende Beamte mit der bisherigen Governance in der Kriegsversehrtenfürsorge brachen und eine staatliche Sozialverwaltung einrichten wollten. Nur wenige Monate nach der Kriegserklärung an Serbien hatten sich die Erwartungen eines kurzen, siegreichen Krieges als trügerisch erwiesen. Die ersten Offensiven der österreichisch-ungarischen Armee sowohl gegen Serbien und Montenegro als auch gegen Russland Mitte August bis Anfang September 1914 und erneut in den Karpaten im Winter 1914/1915 waren geprägt von rücksichtslosen Frontalangriffen und hohen Verlusten bei Offizieren und Mannschaften.4 Zu den Verletzungen infolge des Kampfgeschehens kamen epidemische Krankheiten, und in den Winterfeldzügen von Januar bis März 1915 wurden Erfrierungen zu einem Massenphänomen.5 Allein in den ersten beiden Wochen der Balkanoffensive verlor die Armee der Monarchie 600 Offiziere und über 22.000 Mann durch Tod, Verwundungen oder Kriegsgefangenschaft.6 Scheer; Deak u. Gumz, S. 1115–1119. Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg, S. 155; Cornwall, Disintegration and Defeat. Judson, The Habsburg Empire, S. 417–428. Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg, S. 163–225; Kuzmics u. Haring, S. 224–228; Kronenbitter, S. 81–89. 5 Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg, S. 312–313. 6 Ebd., S. 192. 1 2 3 4

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Am Ende des Jahres 1914 waren nach offiziellen Berechnungen 154.800 Mann gefallen und 347.964 gefangen oder vermisst. In den offiziellen Statistiken zu Verwundungen oder Krankheiten konnte ein und dieselbe Person mehrfach gezählt worden sein, wenn sie mehrmals betroffen war, insgesamt verzeichneten sie jedoch 765.932 solcher Fälle.7 Bereits diese ersten Monate stellten Staat und Gesellschaft Österreich-Ungarns vor eine enorme Herausforderung, um diese Kriegsfolgen zu bewältigen. In den Augen der politischen Eliten drohten diese Kriegsverluste die Akzeptanz des Krieges ebenso wie die Legitimität der Monarchie zu untergraben.8 Kontrolle und Überwachung waren eine Vorgehensweise in Österreich-Ungarn, um mit den sozialen Auswirkungen des Krieges umzugehen. Zugleich bauten Politiker und Beamte auch die sozialpolitischen Handlungsmöglichkeiten des Staates aus, und zwar sowohl auf Ebene Cisleithaniens als auch auf Reichsebene. Denn auch die österreichisch-ungarischen Streitkräfte erhielten zusätzliche sozialpolitische Kompetenzen – nicht zuletzt in der Fürsorge für Kriegsversehrte. Die Sorge für jene, die bei der Verteidigung des schwer bedrohten Vaterlandes an ihrem Körper Schaden gelitten haben und für die Familien derjenigen, die den Heldentod auf dem Schlachtfeld erlitten, ist nicht nur eine der ernstesten Pflichten der Gesellschaft überhaupt, sondern auch eine Staatsnotwendigkeit von allergrößter Bedeutung.9

Mit diesen Worten eröffnete Ministerpräsident Karl Stürgkh im Dezember 1914 seine Skizze der neuen Aufgaben der cisleithanischen Verwaltung in der Fürsorge für verletzte und erkrankte Soldaten und Hinterbliebene. Obwohl Stürgkh an eine staatliche Gemeinschaft appellierte, war die Verteilung von finanziellen und materiellen Ressourcen Österreich-Ungarns für die Kriegsversehrtenfürsorge von Anfang an ein zentrales Thema. In der Organisation, Verwaltung und Durchführung dieser Fürsorge wurden daher Geltungsanspruch staatlicher Sozialpolitik und Grenzen sozialer Zugehörigkeiten verhandelt. Die Kriegsversehrtenfürsorge, wie sie ab 1914/1915 sukzessive eingerichtet wurde, unterschied sich maßgeblich vom bisherigen Umgang mit Militärinvaliden. Denn neben der finanziellen Versorgung umfasste sie als neues Aufgabenfeld die soziale Re-Integration der Betroffenen. In unterschiedlichem Ausmaß brachten sich die österreichisch-ungarische Militärverwaltung und die zivile Verwaltung Cisleithaniens in beide Aspekte der Fürsorge ein. Diese Kompetenzverteilung bildete sich jedoch erst im Verlauf des Jahres 1915 heraus. Die finanzielle Versorgung fiel primär der Militärverwaltung zu, sie kooperierte jedoch mit der cisleithanischen Regierung, um gesetzliche Versorgungslücken zu schließen. In mehrfacher Hinsicht knüpften die Maßnahmen der

7 Rumpler u. Schmied-Kowarzik, S. 161–163. 8 Cornwall, The undermining of Austria-Hungary, S. 16–39. 9 ÖStA, AVA, MdI, Präs., Teil 2 Kt. 1862, 19093/1914, S. 1.

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Kriegsjahre daher an die militärische Sozialpolitik der Vorkriegsjahre an. Da die Regierungen beider Reichshälften umfangreiche Gesetzesreformen ablehnten, blieben erstens die bestehenden Militärversorgungsgesetze weiterhin in Kraft. Allerdings bauten die Regierung und die Beamten des Kriegsministeriums zweitens auf den Erkenntnissen der Jahrzehnte vor 1914 auf, um Problemlagen der Militärversorgung rasch zu identifizieren und Lösungsansätze zu entwickeln. Schließlich griffen sie dafür auf die bereits während der MVG-Reform genutzte Vorgehensweise der diskreten Anpassungen im Verordnungswege zurück. Auf dem zweiten Aufgabengebiet – der sozialen Re-Integration – sollten Militär- und Zivilverwaltung in Cisleithanien noch stärker miteinander kooperieren. Für Kriegsversehrte waren drei Phasen vorgesehen, um sie wieder arbeitsfähig zu machen, was als wichtigstes Kennzeichen gesellschaftlicher Wiedereingliederung betrachtet wurde: erstens medizinische Behandlung und Therapie, zweitens berufliche Ausbildung und drittens Arbeitsvermittlung. Diese drei Phasen verbanden militärische Krankenanstalten und zivile Therapiezentren sowie Schulungseinrichtungen. Sie verflochten aber auch die Militärverwaltung, die für den Unterhalt der Soldaten sorgen sollte, mit zivilen Stellen. Die cisleitha­ nische Regierung setzte jedoch nicht nur auf die Zusammenarbeit mit der Militärverwaltung, sondern ebenso auf die Mobilisierung der Landesverwaltungen, der Sozialversicherungen sowie der Zivilgesellschaft. Um die Kooperation dieser unterschiedlichen Akteursgruppen zu erreichen, bedurfte die cisleithanische Regierung einer Form der Governance. Die Governance im Sozialversicherungswesen lieferte dafür ein wichtiges Vorbild. Die Aufgaben der neu geschaffenen Einrichtungen der Kriegsversehrtenfürsorge waren andere als jene der Versicherungsanstalten. Aber die Governance im Bereich der Unfall-, Kranken- und Rentenversicherung hatte erstens gezeigt, dass sich die Regierung auf eine normensetzende und kontrollierende Rolle beschränken und die Ausführung eigenen parastaatlichen Institutionen überlassen konnte. Damit zusammenhängend hatte sie zweitens demonstriert, dass selbst für umfassende sozialpolitische Vorhaben, wie die Unfall- und Krankenversicherung, kein Beitrag des Staates notwendig war, um sie auf eine dauerhafte finanzielle Basis zu stellen. Schließlich hatte sie drittens deutlich gemacht, dass ihr institutionelles Arrangement selbst antagonistische Akteursgruppen in ein solches Verhältnis zueinander setzte, dass sie zur Stabilisierung der Sozialversicherungen und des Staates beitrugen. In ähnlicher Weise sollte nun auch die Kriegsversehrtenfürsorge strukturiert sein. Die zentralen Einrichtungen der Governance in der Kriegsversehrtenfürsorge waren die »Landeskommissionen [in Böhmen: Landeszentrale / Zemská ústředna] zur Fürsorge für heimkehrende Krieger«, die in den ersten Monaten des Jahres 1915 in den einzelnen Kronländern eingerichtet wurden. Die cisleithanische Regierung setzte damit gezielt auf föderalen Strukturen auf, um wohlfahrtsstaatliche, medizinische und gewerbliche Einrichtungen sowie zivilgesellschaftliche Fürsorgeinitiativen auf Länderebene für die Re-Integration Kriegsversehrter zu mobilisieren. Gleichzeitig sollten Landespolitiker und 141

-beamte, die Versicherungsanstalten sowie die Militärverwaltung eingebunden werden. Beide Aufgabengebiete demonstrieren, wie sozialpolitische Weichenstellungen der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg die Wahrnehmung von Handlungsoptionen in der Kriegsversehrtenfürsorge prägten. Die politischen Entscheidungen über die Ausformung der Versorgung der betroffenen Soldaten fielen an der Jahreswende 1914/1915 jedoch auch unter dem Eindruck sich verengender Zeiträume, um dringend notwendige Maßnahmen zu setzen. Schließlich entwickelten die beiden Dimensionen der Kriegsversehrtenfürsorge im Verlauf des Krieges eine von den beteiligten Akteuren nicht antizipierte Eigendynamik. Sie sollten auch zur Abkehr vom etablierten Governance-Modell beitragen, die 1917/1918 einsetzte. Erstens wurden finanzielle Versorgung und soziale Re-Integration zwar als getrennte Aufgabenfelder verstanden und institutionalisiert, die verwendeten Konzepte zur Erfassung von Kriegsversehrungen schufen jedoch Rückkoppelungseffekte zwischen beiden Formen der Fürsorge. Zweitens entwickelten sich ab 1916 die Anforderungen sowie Ziele und die Finanzierung der Re-Integrationsmaßnahmen zu Streitpunkten in der Militärverwaltung sowie zwischen ihr und der Zivilverwaltung. Schließlich eigneten sich Kriegsversehrte die Terminologie und Zielsetzungen der Militärversorgung und Re-Integrationsmaßnahmen an, um ihre Forderungen an den Staat zu artikulieren. Ihr Vorgehen sollte in den Jahren 1915 und 1916 zu einer entscheidenden Verschiebung in den therapeu­ tischen Praktiken der Re-Integrationsmaßnahmen beitragen. Diese neue sozialpolitische Perspektive auf Kriegsversehrte bedeutete auch, dass die etablierten Begriffe nicht mehr ausreichten, um das Verhältnis verletzter und erkrankter Soldaten zu Armee und Staat zu erfassen. Es erforderte beträchtliche Definitionsarbeit von zahlreichen Akteuren auf verschiedenen Ebenen der Verwaltung und nicht zuletzt von den betroffenen Soldaten selbst, um ein Verständnis davon zu etablieren, was ›Kriegsversehrte‹ ausmachte und wie mit ihnen zu verfahren sei.10 Auch hier offenbart sich ein Konnex zur Sozialpolitik der Vorkriegsjahre. Denn die soziale Re-Integration Kriegsversehrter musste erst als Ziel sozialpolitischen Handelns durchgesetzt werden. Hier zeigen sich zwei weitere Anknüpfungspunkte an die Sozialpolitik vor 1914. Erstens hatte sie Medizinern die Möglichkeit gegeben, rehabilitative Therapien zu entwickeln und anzuwenden, die sie nun in die Kriegsversehrtenfürsorge einbringen konnten. Ärzte, die zum Teil vor dem Krieg in der Rehabilitationsmedizin der Sozialversicherungen tätig waren, trugen daher zur Entwicklung des Konzepts sozialer Re-Integration entscheidend bei. Dazu desavouierten sie andere Zuschreibungen und Versorgungsformen, etwa dass Menschen mit Behinderungen generell erwerbsunfähig und Aufgabe der Armenfürsorge seien. Zweitens bildete die Sozialversicherung jedoch auch als Objekt der Abgrenzung einen wichtigen Be10 Pawlowsky u. Wendelin, Die normative Konstruktion des Opfers; Geyer.

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zugspunkt. Mehrere Wissenschaftler identifizierten 1914 Fehlentwicklungen der Sozialversicherung, die sie in der Kriegsversehrtenfürsorge vermeiden wollten. Der bestehende Begriff des Militärinvaliden reichte nicht mehr aus, um die Gruppe kriegsversehrter Soldaten zu erfassen. Denn er bezog sich nur auf jene Personen, die als zum Militärdienst untauglich (›invalid‹) aus der Armee entlassen worden waren. Eine wichtige Dimension der Re-Integrationsmaßnahmen war jedoch, dass verletzte und erkrankte Soldaten im militärischen Dienstverhältnis verblieben. Dadurch eignete sich der Terminus Militärinvalide hier nicht vollständig. Stattdessen begann sich ab 1915 der Begriff »Kriegsbeschädigte« durchzusetzen. Ein grundlegender Erlass des Kriegsministeriums definierte ihn folgendermaßen: »[alle] Personen, die durch Verwundung, Erkrankung oder auf sonstige Art im Kriege ihre Erwerbsfähigkeit ganz oder zum Teile eingebüßt haben«,11 und die nun aufgrund dieser Schädigung ihrer Erwerbsfähigkeit Anspruch auf rehabilitative medizinische Behandlung und berufliche Ausbildung hatten. Die Gruppe der ›Kriegsbeschädigten‹ war dadurch fluide, verletzte und erkrankte Soldaten konnten Therapie und Ausbildung in Anspruch nehmen und trotzdem erneut zum Militärdienst eingezogen werden. In dieser Definition zeigt sich zudem eine Verschiebung der Bestimmungsmerkmale von der militärischen Tauglichkeit hin zur Erwerbsfähigkeit. Das Verhältnis dieser beiden Maßstäbe zueinander blieb jedoch unterbestimmt. Unter der Maßgabe einer immer weiteren Mobilisierung der Gesellschaft für den Krieg veränderte die Armeeleitung die Skala der Tauglichkeit wiederholt, was die Probleme der Beurteilung nur noch verschärfte. Hinzu kam, dass die Militärverwaltung selbst eine klare begriffliche Differenzierung zwischen Kriegsinvaliden und -beschädigten unterlief. Der Titel des Erlasses, der den Begriff »Kriegsbeschädigte« definierte, lautete etwa »Grundsätze der Invalidenfürsorge«. Es handelte sich dabei jedoch nicht nur um Ungenauigkeiten. Vielmehr sollten die Re-Integrationsmaßnahmen auch jene Soldaten erfassen, die noch vor ihrem Beginn als ›Invalide‹ aus dem Militär entlassen worden waren. Diese Unschärfen sollten weitreichende Konsequenzen für die Praxis der Re-Integrationsmaßnahmen haben.

11 Grundsätze der Invalidenfürsorge und Abgrenzung der Obliegenheiten der Militär- und Zivilstaatsverwaltung, Erlaß des Kriegsministers vom 8. Juni 1915, Z. 10942, Präs. an Militärkommanden, in: Mitteilungen des k. k. Ministerium des Inneren über Fürsorge für Kriegsbeschädigte 1 (Juli 1915), S. 6; Weisungen an alle Militärkommanden betreffend die unter Mitwirkung der Zivilstaatsverwaltung, beziehungsweise der Fürsorgeaktionen, durchzuführende Nachbehandlung von Kriegsbeschädigten. Erlass des Kriegsministers vom 8. Juni 1915 an die Militärkommanden, in: ebd., S. 8–11.

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1. Die finanzielle Versorgung Kriegsversehrter Im Herbst und Winter 1914 zeigten sich die Folgen der ausgebliebenen Reform des MVG von 1875 in drastischer Weise. Zahlreiche Soldaten, die aufgrund von Verletzungen oder Erkrankungen als für den Militärdienst untauglich entlassen worden waren, erhielten keine Renten. Am 3. Oktober 1914 wandte sich die Generalstabsabteilung des Festungskommandos Komárom / Komárno in Transleithanien an das Kriegsüberwachungsamt, um ihren Vorbehalten dagegen Ausdruck zu verleihen, wie nach den gültigen Vorschriften mit Kriegsversehrten umzugehen sei: Es taucht bei der Abfertigung der […] Kriegsdienstuntauglichen die Frage der Versorgung auf, denn es geht doch nicht an, dezidiert erwerbsunfähig gewordene Leute brotlos auf die Straße zu setzen.1

Daher schlug die Generalstabsabteilung alternative Vorgehensweisen vor, damit das Militär die betroffenen Soldaten weiterhin versorge. Eigenmächtig entschieden die Offiziere, dass »diese Kriegsdienstuntauglichen beim hiesigen Ers[atz]-Ba[taill]on 12 zurückgehalten und verpflegt« werden, solange es noch keine offizielle Lösung für den Umgang mit kriegsversehrten Soldaten gab.2 Das Kriegsüberwachungsamt leitete diesen Bericht am 5. Oktober an das Ministerium des Inneren weiter, wo die Beamten lapidar vermerkten, dass »[d]ie gleiche humane Auffassung jedoch nicht durchwegs bei den übrigen militärischen Stellen durchgedrungen zu sein [scheint]«.3 In dieser Einschätzung bestärkte die Beamten ein Schreiben der Wiener »Zentralstelle für die Fürsorge für die Flüchtlinge aus Galizien und aus der Bukowina« vom 4. November 1914, das sie mit dem Bericht des Festungskommandos zu einem Akt zusammenfassten. Diese zivilgesellschaftliche Organisation war für die Fürsorge für jene hunderttausende Personen verantwortlich, die aus den beiden östlichsten Kronländern Galizien und der Bukowina zwangsevakuiert worden waren oder vor dem Vormarsch der russischen Armee flüchteten.4 Die Zentralstelle beklagte, dass »alltäglich 40 bis 60 manchmals auch noch mehr Soldaten«5 um Unterstützung vorstellig würden. Diese müsse man jedoch alle abweisen, da die Zentralstelle 1 ÖStA, AVA, MdI, Allg., Teil 2 Kt. 1921, 39652/1914. 2 Ebd. 3 Ebd. 4 Exakte Statistiken über die Zahl der Flüchtlinge fehlen, da die Behörden prinzipiell zwischen bedürftigen Personen und jene, die sich aus eigenen Mitteln erhalten konnten, unterschieden und sich Betroffene als Flüchtlinge registrieren lassen mussten, um Unterstützung zu erhalten. Ein Bericht des cisleithanischen Innenministeriums bezifferte die Höchstzahl im Jahr 1915 mit 600.000 als ›bedürftig‹ klassifizierten Flüchtlingen. Diese Zahl enthält nur jene, die sich bei cisleithanischen Behörden als Flüchtlinge registrierten ließen, die Zahlen für Transleithanien fehlen. Siehe: Rechter, S. 114, Fn. 4. 5 ÖStA, AVA, MdI, Allg., Teil 2 Kt. 1921, 39652/1914.

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keine Unterstützung an Militärpersonen ausgeben dürfe. Durch dieses Vorgehen Kriegsversehrter entwickelte sich die Militärversorgung für verletzte oder erkrankte Soldaten zu einer interministeriellen Angelegenheit. Dazu trug bei, dass sie mit der Fürsorge für die zwangsevakuierte oder geflüchtete Zivilbevölkerung aus Galizien und der Bukowina zusammentraf.6 Für die Beamten des Innenministeriums ging es dabei auch darum, »eine nachteilige Beeinflussung der Stimmung der Bevölkerung« zu vermeiden.7 Unversorgte Kriegsversehrte stellten für die Beamten ebenfalls einen Risikofaktor für die Stimmung an der ›Heimatfront‹ dar, wie ein ausführlicher, aber betont zurückhaltend formulierter Bericht vom 17. November 1914 an das Kriegsministerium zeigt. Intern vermerkten die Beamten noch, dass das massenhafte Auftreten unversorgter Soldaten »Anlaß zur Mißstimmung« in der Wiener Bevölkerung gebe. Diese Formulierung schwächten sie in der Reinschrift für das Kriegsministerium ab und ersetzten sie durch das vorsichtigere »Anlaß zu Erörterungen«.8 Zwar fehlten durch die Pressezensur und die Schließung des Parlaments Foren, um diese Problemfälle in einer breiten Öffentlichkeit zu diskutieren. Trotzdem erreichten den Ministerpräsidenten auch über Reichsratsabgeordnete Meldungen über unversorgte Kriegsversehrte.9 Denn gerade unter den Bedingungen der »reprivatized politics«10 der Kriegszeit waren die Abgeordneten bemüht, ihre Rolle als politische Repräsentanten der Bevölkerung zu behaupten, indem sie Klagen aus der Zivilgesellschaft beim Ministerpräsidenten vorbrachten.11 Am 30. November 1914 wandten sich Beamte des Innenministeriums daher erneut an das Kriegsministerium. Die verklausulierten Formulierungen können den bestimmteren Tonfall der Ministerialbeamten nicht völlig verbergen: daß die Fürsorgemaßnahmen des k. u. k. [Kriegsministeriums] zu Gunsten der […] kriegsdienstuntauglich gewordenen […] Soldaten denn doch oftmals wenigstens den von der Gesetzgebung nicht ausreichend sichergestellten Unterhalt solcher Personen nicht wirksam gewährleisten12

Im Innenministerium sah man also steigenden Handlungsdruck und versuchte, das Kriegsministerium zu raschen Schritten zu bewegen. Der Umgang mit Kriegsversehrten drohte in den Augen der Ministerialbeamten, den Eindruck zu vermitteln, dass die Monarchie nicht für ihre Bürger zu sorgen vermochte.

6 Zu den Flüchtlingen siehe Lichtblau; Rechter; Klein-Pejšová. An der Balkanfront wurden auch die Serbisch sprechende und an der späteren Italienfront die Italienisch sprechende Bevölkerung zwangsweise umgesiedelt, siehe: Thorpe, S. 102–105. 7 ÖStA, AVA, MdI, Allg., Teil 2 Kt. 1923, 45164/1914. 8 Ebd. 9 ÖStA, AVA, MdI, Präs., Teil 2 Kt. 1862, 3911/1915. 10 Boyer, Culture and political crisis in Vienna, S. 448. 11 Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg, S. 219–220. 12  ÖStA, AVA, MdI, Allg., Teil 2 Kt. 1923, 45172/1914.

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Zur Lösung dieser Herausforderung verstärkten die Ministerialbeamten zum einen die Maßnahmen zur sozialen Kontrolle der Soldaten. Zivile Fürsorgestellen sollten alle Soldaten, die um Unterstützung ansuchten, nicht nur abweisen, sondern sie dem verantwortlichen Militärkommando bekanntgeben.13 Bereits mit einem Erlass vom 11. Oktober 1914 verfügte das Kriegsministerium, dass Soldaten aus Galizien und der Bukowina nur gegen einen Nachweis ihres Lebensunterhaltes aus dem Militärdienst entlassen oder beurlaubt werden dürften.14 Dies wurde ein Jahr später auf Kriegsversehrte insgesamt ausgeweitet. Die Militärkommanden durften die betreffenden Soldaten nur dann beurlauben, wenn diese belegen konnten, dass ihr Lebensunterhalt für die Dauer des Urlaubes gesichert war. Dadurch sollte verhindert werden, dass sie »die Privatwohltätigkeit in Anspruch nehmen«.15 Das Innenministerium folgte mit einem Erlass, der Polizei und Gendarmerie anwies, beurlaubte Kriegsversehrte einer »wohlwollenden Beaufsichtigung«16 zu unterziehen, was explizit das Betteln verhindern und einen ›angemessenen‹ öffentlichen Lebenswandel der Soldaten gewährleisten sollte. Im Jahr 1916 untersagte das Kriegsministerium zudem die Heranziehung von ›Militärinvaliden‹ und Soldaten allgemein zu Sammlungszwecken wohltätiger Vereine, da »dadurch das Ansehen des Militärstandes geschädigt wird«.17 Diese Anweisungen fügten sich in eine Reihe von Maßnahmen ein, durch welche Herausforderungen und Probleme des Lebens an der ›Heimatfront‹ in der Öffentlichkeit wie im Privaten ausgeblendet werden sollten. Darunter fiel die Zensur von Feldpostbriefen ebenso wie die Belehrung von Frauen, dass sie keine sogenannten ›Jammerbriefe‹ an die Front schicken sollten.18 Darüber hinaus unternahm die Militärverwaltung jedoch auch Schritte, um die Lage der betroffenen Soldaten zu verbessern. Denn die Probleme resultierten aus den Bestimmungen des MVG. Diese seien, so betonten die Beamten des Kriegsministeriums gegenüber dem Innenministerium, den aktuellen Herausforderungen der finanziellen Versorgung kriegsversehrter Soldaten »derzeit nur in unzureichenden [sic] Maße« gewachsen.19 Nachdem die beiden Ministerpräsidenten Stürgkh und Tisza mit dem Kriegsminister im Dezember 1914 vereinbart hatten, eine Gesetzesreform erst nach dem Krieg durchzuführen,20 konnten für die Dauer des Krieges nur pro-

13 ÖStA, AVA, MdI, Allg., Teil 2 Kt. 1923, 46498/1914. 14 ÖStA, AVA, MdI, Allg., Teil 2 Kt. 1923, 45172/1914 (30.11.1914). 15 SOA Liberec, Archiv města Liberce, sociální [AML-W] Kt. 113, W33/15/42. 16 Ebd., Hervorhebung im Original. 17 Vojenský ústřední archiv [VÚA], Vojenský historický archiv [VHA], 9. Korpskommando [KK9], Praes. 8893/1916. 18 Zur Kriegspropaganda: Cornwall, The undermining of Austria-Hungary; zu den Bemühungen, die sogenannten ›Jammerbriefe‹ zu unterbinden, siehe: Hämmerle, »… wirf ihnen alles hin und schau, daß du fort kommst«, insbes. S. 435–437. 19  ÖStA, AVA, MdI, Allg., Teil 2 Kt. 1923, 46498/1914. 20 ÖStA, AVA, MdI, Präs., Teil 2 Kt. 1862, 19093/1914, S. 4.

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visorische Maßnahmen getroffen werden.21 Die Beamten knüpften dabei an die Praxis der Vorkriegsjahre an, als sie Teile des Reformvorhabens auf dem Verwaltungsweg umsetzten. In ähnlicher Weise griffen sie nun auf Verordnungen zurück, um das MVG an die aktuellen Herausforderungen anzupassen. Die Aufrechterhaltung der bestehenden Gesetzeslage sollte daher nicht den Blick für die Neuregelung der Militärversorgung während des Ersten Weltkrieges verstellen. Trotz dieser oberflächlichen Kontinuität setzten die Beamten weitgehende Umdeutungen der zentralen Kategorien des MVG durch. 1.1 Die Ausweitung finanzieller Versorgung durch diskrete Anpassungen Die Beamten der 9. Abteilung des Kriegsministeriums machten dabei von Anfang an deutlich, dass sie die Ansprüche Kriegsversehrter ausweiten wollten. Auf die Berichte des Ministeriums des Inneren reagierten das Kriegsministerium und das Ministerium für Landesverteidigung zunächst mit der Einführung einer sogenannten »Verpflegspauschale« für in häusliche Pflege entlassene Soldaten. In ihrem ersten Erlass vom Januar 1915, der sich auf die Bestimmungen des MVG bezog, hielten sie fest, dass »eine Schädigung der Mannschaft zuversichtlich vermieden werde[n]« sollte.22 Eine solche »Schädigung« erblickten die Ministerialbeamten in der Entlassung von Soldaten, die in ihrer Erwerbsfähigkeit eingeschränkt waren, ohne dass sie eine Invalidenrente zugesprochen bekamen. Aber es sollte nicht nur der Zugang zu Renten erleichtert werden, sondern die Beamten wollten auch sicherstellen, dass es keine Unterbrechungen in der finanziellen Versorgung gab. In einem folgenden Erlass vom 19. Juli 1915 legten sie daher fest, dass ein Soldat, der in den Stand eines Militärinvaliden mit Rentenanspruch versetzt wurde, solange seine Besoldung monatlich im Voraus bezog, bis er seine Rente erhielt.23 Die Form der »diskreten Anpassungen« am MVG durch Erlässe und Verordnungen entwickelte im Verlauf des Krieges eine Eigendynamik, da die Umdeutung der Kategorien der finanziellen Versorgung in Konflikt geriet mit zwei anderen Aufgaben der Militärverwaltung: einerseits der Erfassung und Wiederherstellung militärischer Tauglichkeit verletzter und erkrankter Soldaten, deren Kriterien sich im Verlauf des Krieges ebenfalls mehrmals änderten, und andererseits dem Programm sozialer Re-Integration für Kriegsversehrte. Den Ausgangspunkt bildete ein Erlass vom 22. Januar 1915, mit dem die Beamten die Anspruchsgrundlage für Renten neudefinierten. Dabei knüpften sie konzeptionell unmittelbar an die Gesetzesentwürfe der MVG-Reform vor

21 ÖStA, AVA, MdI, Präs., Teil 2 Kt. 1862, 19093/1914, S. 3. 22 Erlaß vom 22. Jänner 1915, Kriegsministerium Abt. 9, Nr. 17094, in: Beiblatt zum Verordnungsblatt für das k. u. k. Heer 22 (1915), 1. bis 67. Stück, S. 22. 23 Erlaß vom 19. Juli 1915, Kriegsministerium Abt. 9, Nr. 28291, in: ebd., S. 208.

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dem Krieg an. Zwar konnten die Beamten die Kategorien des MVG von 1875 nicht ersetzen, da es weiterhin gültig war. Aber sie modifizierten in zweifacher Hinsicht das binäre Schema des Gesetzes, das nur erwerbsfähig oder -unfähig kannte. Zum einen wies der Erlass jene militärischen Kommissionen an, welche die Diensttauglichkeit feststellen sollten (Superarbitrierungskommissionen), die Auswirkungen der Kriegsversehrungen auf die Erwerbsfähigkeit von nun an in Prozenten zu bemessen. Dadurch ermöglichten es die Beamten den Kommissionen, eine Verminderung der Erwerbsfähigkeit festzustellen. Zweitens sollten die Kommissionen Soldaten ab einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 20 Prozent als »bürgerlich erwerbsunfähig« klassifizieren, wodurch sie Anspruch auf Invalidenrente erhielten. wie dies bereits vor 1914 in den Entwürfen für ein neues MVG festgehalten worden war.24 Die Beamten des Kriegsministeriums übernahmen mit dem Konzept der Minderung der Erwerbsfähigkeit jedoch nicht einfach Regelungen aus dem Sozialversicherungswesen, sondern passten diese gezielt an, um möglichst vielen Kriegsversehrten einen Anspruch auf finanzielle Versorgung zu gewähren. Denn die Beamten definierten die Minderung der Erwerbsfähigkeit als »Verminderung der Fähigkeit [der Kriegsversehrten] zur Ausübung ihres bürgerlichen Berufes«,25 also im Sinne einer Berufsunfähigkeit. In der Unfall- und Krankenversicherung war Erwerbsfähigkeit jedoch etwas, das über die Ausübung eines spezifischen Berufes hinausging und die Befähigung zum Erwerb des Lebensunterhaltes bezeichnete. Der erlernte oder ausgeübte Beruf spielte dabei eine untergeordnete Rolle.26 Paradoxerweise weiteten die Beamten also den Anspruch auf finanzielle Versorgung aus, indem sie den Begriff der Erwerbsfähigkeit auf die Berufsfähigkeit einengten. Dadurch schufen die Ministerialbeamten eine Definition von Kriegsversehrungen, die spezifisch war für die finanzielle Versorgung der betroffenen Soldaten durch militärische Behörden. Diese unterschied sich nicht nur von der Konzeption von Kriegsversehrungen im MVG von 1875, sondern auch von derjenigen, welche den gleichzeitig entwickelten Re-Integrationsmaßnahmen zugrundelag. Dort bildete der erlernte oder ausgeübte Beruf zwar ebenfalls einen wichtigen Bezugspunkt, das Ziel war jedoch die Wiederherstellung einer allgemeineren Erwerbsfähigkeit im Sinne des Sozialversicherungswesen. In einem Erlass vom 15. Juli 1915 setzten sich die Beamten des Kriegsministeriums daher mit der Unterscheidung zwischen Berufs- und Erwerbsfähigkeit auseinander. Darin priorisierten sie die Ausweitung der finanziellen Versorgung. Daher wiesen sie der Erwerbsfähigkeit nur eine untergeordnete Rolle bei der Bestimmung des Anspruchs auf eine Militärrente zu: Wenn Soldaten durch ihre Versehrungen zu ihrem ehemaligen Beruf unfähig geworden waren, durch 24 Erlaß vom 22. Jänner 1915, Kriegsministerium Abt. 9, Nr. 17094, in: Beiblatt zum Verordnungsblatt für das k. u. k. Heer 22 (1915), 1. bis 67. Stück, S. 22. 25 Ebd. 26 Siehe etwa: Dittrich, S. 39–53.

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die Therapie- und Schulungsmaßnahmen der Re-Integrationsmaßnahmen jedoch einen neuen Beruf ergreifen konnten, sollten die militärischen Tauglichkeitskommissionen trotzdem die Berufsunfähigkeit mit 100 Prozent angeben und lediglich »arbeitsfähig« in die Klassifizierung aufnehmen.27 Dadurch blieb den Betroffenen der Anspruch auf die Invalidenrente gewahrt. Mit diesen Maßnahmen hoben die Beamten des Kriegsministeriums die enge Definition des Rentenanspruchs, welche das MVG charakterisierte, auf. Andere Dimensionen der Militärversorgung blieben jedoch erhalten: Nicht die Schwere der Verminderung der Berufsfähigkeit bestimmte das Ausmaß der Versorgung, sondern der militärische Rang. Zudem blieben die Rentensätze des MVG von 1875 unverändert, ein Mannschaftssoldat bezog daher eine Rente von 72 Kronen jährlich, die durch eine Verwundungs- oder Personalzulage von jährlich 96, 192 oder 288 Kronen ergänzt werden konnte.28 Umso wichtiger sollten daher im Verlauf des Krieges weitere Formen der finanziellen Versorgung werden. Eine weitere Maßnahme setzte bei den »staatlichen Unterhaltsbeiträgen« für Familien mobilisierter Reservisten an, um die finanzielle Versorgung Kriegsversehrter zu verbessern. Mit der kaiserlichen Verordnung vom 12. Juni 1915 und der Verordnung des Kriegsministeriums vom 28. Juni desselben Jahres adaptierten Militärverwaltung und Regierung das Unterhaltsbeitragsgesetz von 1912 und verliehen Angehörigen ›invalid‹ gewordener Soldaten einen Anspruch auf den Unterhaltsbeitrag, der auch nach der Entlassung des Betroffenen aus dem Militärdienst fortbestand.29 Der Unterhaltsbeitrag fiel im Vergleich zur Invalidenrente deutlich höher aus. In Wien mit dem höchsten Unterhaltsbeitragsniveau betrug die Maximalsumme im Jahr 1914 1,32 Kronen pro Tag, im ländlichen Galizien, wo es am niedrigsten angesetzt war, höchstens 85,5 Heller. Der Unterhaltsbeitrag stellte daher eine wichtige Einnahmequelle für Familien verletzter und erkrankter Soldaten dar.30 Allerdings brachte diese Adaptierung des Unterhaltsbeitrags den Nachteil mit sich, dass nur Angehörige mobilisierter Reservisten einen Anspruch darauf besaßen. Unverheiratete Kriegsversehrte und zu Anfang selbst Familien von Soldaten, die bei Kriegsbeginn ihren Präsenzdienst leisteten, waren hingegen davon ausgeschlossen, dasselbe galt für Hinterbliebene gefallener Soldaten. Mit derselben kaiserlichen Verordnung vom Juni 1915 erhielt die cisleithanische Regierung daher die Möglichkeit, eine staatliche Unterstützung an diese Gruppen auszubezahlen. Für Kriegsversehrte war diese wiederum anders strukturiert als die Invalidenrente oder der Unterhaltsbeitrag. Es war ein monatlicher Pauschal27 Erlaß vom 19. Juli 1915, Kriegsministerium Abt. 9, Nr. 28291, in: Beiblatt zum Verordnungsblatt für das k. u. k. Heer 22 (1915), 1. bis 67. Stück, S.  209; Pawlowsky u. Wendelin, Die Wunden des Staates, S. 68–69, 71, 252. 28 Ebd., S. 54–55. 29 RGBl. 161/1915, Kaiserliche Verordnung vom 12. Juni 1915; Erlaß vom 28. Juni 1915, Kriegsministerium Abt. 9, Nr. 25617, in: Beiblatt zum Verordnungsblatt für das k. u. k. Heer 22 (1915), 1. bis 67. Stück, S. 185; Pawlowsky u. Wendelin, Die Wunden des Staates, S. 68–69. 30 Hauptmann, S. 57–63, 69–79, 80–89.

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betrag, den Kriegsversehrte und ihre Familien gleichzeitig beziehen konnten. Allerdings griffen Regierung und Militärverwaltung das Anspruchskriterium der Verminderung der Berufsfähigkeit auf, das wenige Monate zuvor für den Rentenanspruch geschaffen worden war. Anders als bei den Invalidenrenten schufen sie hier jedoch ein dreistufiges Modell, bei welchem der Grad der Berufsunfähigkeit die Höhe der Unterstützung bestimmte, ganz ähnlich dem ersten Entwurf der MVG-Reform.31 Dies zeigt, dass die Ministerien dort, wo sie nicht auf bestehenden Gesetzen aufsetzten, weitreichendere Neugestaltungen an der Militärversorgung vornahmen. Bisher von der Forschung vor allem als unausgereiftes Bündel von Provisorien betrachtet,32 zeugen diese Maßnahmen davon, dass die cisleithanische Regierung und das Kriegsministerium flexible Akteure waren, die rasch auf soziale Problemlagen reagierten. Diese rasche Handlungsfähigkeit resultierte nicht zuletzt aus den Entwicklungen der Vorkriegsjahre auf dem Feld militärischer Sozialpolitik. Zwar war die Reform des – selbst in den Augen der Zeitgenossen – veralteten MVG von 1875 bis Kriegsbeginn nicht abgeschlossen worden. Im Verlauf der Reformversuche hatte die Militärverwaltung jedoch bereits die Schwachpunkte des Gesetzes identifiziert sowie Konzepte und Handlungsweisen erarbeitet, um diese zu beheben. Diese prägten die Form der Anpassungen während des Krieges. Militärische Sozialpolitik wies so starke Kontinuitäten zwischen der Zeit vor und nach 1914 auf, die aber keineswegs Stagnation bedeuteten. Im weiteren Verlauf des Krieges blieb die Konzeption von Kriegsversehrung, wie sie die Beamten des Kriegsministeriums für die finanzielle Versorgung festgeschrieben hatten, allerdings nicht auf diese Form der Fürsorge beschränkt. Denn die entsprechenden militärischen Dokumente waren nicht nur für die Zuerkennung der Rente bedeutsam, sondern konnten auch in anderen Kontexten über Ansprüche entscheiden. Die Motivation der Ministerialbeamten, Rentenansprüche auszuweiten, geriet so in Konflikt mit anders gelagerten Entscheidungsgrundlagen für sozialpolitisches Handeln, wie die folgenden beiden Beispiele aus dem Jahr 1917 deutlich machen. Am 10. Mai 1917 wurde der Kaiser und König Karl-Kriegsfürsorgefonds gegründet. Unter Kontrolle der Militärverwaltung stehend sollte er alle bestehenden wohltätigen Fonds der Militärverwaltung in sich vereinen.33 Durch die Übernahme der Finanzmittel des Kriegsfürsorgeamtes des Kriegsministeriums sowie weiterer Spenden und kleinerer Stiftungen belief sich das Vermögen des Fonds im Februar 1918 auf etwa 47 Millionen Kronen.34 Aus diesem bedeutenden Etat sollten Zuschüsse an 31 Pawlowsky u. Wendelin, Die Wunden des Staates, S. 66. 32 Hsia, War, Welfare and Social Citizenship, S. 45, 63, 70, 72; Pawlowsky u. Wendelin, Die Wunden des Staates, S. 63–67. 33 o. A., Kaiser und König Karl-Kriegsfürsorgefonds. 34 o. A., Konstituierung der Großen Kommission des »Kaiser und König Karl-Kriegsfürsorgefonds«.

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Kriegsversehrte und Hinterbliebene gefallener Soldaten ausbezahlt werden, um sie bei der Existenzgründung durch Anschaffung von Werkzeugen, Vieh, Geschäftslokalen oder Schuldentilgung zu unterstützen. Ein Prestigeprojekt war jedoch die Schaffung von sogenannten »Kriegerheimstätten«. Derartige Vorhaben waren spätestens seit 1916 in verschiedenen Regionen Cisleithaniens konzipiert und mit wechselndem Erfolg umgesetzt worden.35 Das Ziel war es, Kriegsversehrten und ihren Familien ein Haus mit Grundstück zur Verfügung zu stellen, damit diese sich selbst versorgen konnten. Der Fonds beschränkte sich jedoch gezielt auf »schwer kriegsbeschädigte«, verheiratete Soldaten.36 In der Praxis erwies es sich jedoch als ungeahnt schwierig festzustellen, wer anspruchsberechtigt war. Kriegsversehrte mussten sich auf eine solche ›Heimstätte‹ mit einem Fragebogen bewerben, den sie gemeinsam mit lokalen Behörden ausfüllten. Darauf war als Gradmesser der Kriegsversehrung oft die Berufsunfähigkeit verzeichnet, wie sie auf den Dokumenten der Militärverwaltung angegeben war. Die Kommission des Fonds urteilte jedoch, dass diese Definition der Kriegsversehrung unzureichend sei, um ihre Schwere einzuschätzen, stattdessen sollte die Erwerbsfähigkeit herangezogen werden.37 Erneut ging es um die Frage, ob die Berufs- oder Erwerbsfähigkeit das Ausmaß der Kriegsversehrung bestimmte. Ex negativo zeigt die Ablehnung der Berufsfähigkeit durch die Kommission des Fonds, wie erfolgreich das Kriegsministerium in seiner Ausweitung der Ansprüche auf Invalidenrente gewesen war. Aus der Sicht der Kommission waren dadurch zu viele Soldaten »schwer kriegsbeschädigt«. Kriegsministerium und Kriegsfürsorgefonds operierten also mit unterschiedlichen sozialpolitischen Zielvorstellungen: Für die Ministerialbeamten zählte vor allem die Expansion finanzieller Versorgung, demgegenüber bezweckte die Kommission des Kriegsfürsorgefonds, die soziale ›Treffsicherheit‹ ihrer Leistungen zu erhöhen. Das zweite Beispiel verdeutlicht hingegen, wie zivilgesellschaftliche Akteure erneut Konzepte der Sozialversicherung in die finanzielle Versorgung Kriegsversehrter einbrachten. Seit Kriegsbeginn stellten die staatlichen Unterhaltsbeiträge für die Familien mobilisierter Reservisten nach dem Gesetz von 1912 einen wichtigen Pfeiler österreichisch-ungarischer Sozialpolitik dar. Kurz nach seiner Wiedereröffnung im Mai 1917 nahm der Reichsrat eine gesetzliche Neuregelung der Unterhaltsbeiträge in Angriff. Während der Verhandlung rechneten die Abgeordneten mit der Sozialpolitik der vorangegangenen Jahre ab, die ohne parlamentarische Zustimmung oder Kontrolle auf dem Verordnungswege durchgeführt worden war, und bekräftigten die Rolle des Reichsrats als Volksvertretung.38

35 Hsia, War, Welfare and Social Citizenship, S. 85–99. 36 ÖStA, AVA, MdI, Kaiser und König Karl Kriegsfürsorgefonds [KFF], Kt. 1. 37 Ebd. 38 Hauptmann, S. 81.

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Vor allem jedoch kritisierten die Abgeordneten die Praxis des Gesetzes. Zahlreiche lokale Unterhaltskommissionen legten ihren Entscheidungen eigene Wertmaßstäbe zu Familie, Standeserhalt und den Grenzen staatlicher Leistungen zugrunde. Daher sprachen sie Frauen aus proletarischen Verhältnissen nur niedrigere Unterhaltsbeiträge zu oder lehnten ihre Anträge ganz ab, da die Frauen oft selbst erwerbstätig waren und der Mann somit nicht die Rolle des ›Ernährers der Familie‹ eingenommen habe. Zudem sollten Arbeiterfamilien durch den Unterhaltsbeitrag nicht bessergestellt sein als vor dem Krieg.39 Der Reichsrat verfolgte nun das Ziel, die Unschärfen des Gesetzes zu beheben, die in diesen Konflikten sichtbar wurden. Zudem sollte ein kohärentes Gesetz die Vielzahl an Verordnungen ersetzen, mit denen während des Krieges Anpassungen an den ursprünglichen Bestimmungen vorgenommen worden waren. Zwar hatte man so versucht, den Kreis der Anspruchsberechtigten zu erweitern oder die Beiträge zu erhöhen. Die Leistungen des Gesetzes waren trotzdem hinter den steigenden Lebenshaltungskosten zurückgeblieben. Daher wollte der Reichsrat auch die Unterhaltsbeitragssätze deutlich anheben, um die dramatische Teuerung auszugleichen. Innerhalb zweier Monate erarbeitete und verabschiedete der Reichsrat das neue Gesetz.40 Trotz dieser Zielsetzungen der Kohärenz und Verrechtlichung schuf der Reichsrat jedoch neue administrative Reibungspunkte, insbesondere für Kriegsversehrte. Denn die Abgeordneten übernahmen zwar die Bestimmung aus 1915, dass Familien Kriegsversehrter ebenfalls anspruchsberechtigt waren. Allerdings entkoppelten sie den Bezug des Unterhaltsbeitrags von der Militärinvalidenrente (oder einer anderen militärischen Versorgungsleistung). Stattdessen integrierten sie das zentrale Anspruchskriterium der Sozialversicherung in das neue Unterhaltsbeitragsgesetz: die Minderung der Erwerbsfähigkeit. Als Schwellenwert war im Gesetz eine Einschränkung um 20 Prozent festgelegt.41 Wie die böhmische Landeszentrale am 12. September 1918 an das Ministerium für soziale Fürsorge schrieb, hatte dies für anspruchsberechtigte Kriegsinvalide jedoch schwerwiegende Folgen. Denn auf den verschiedenen Dokumenten, die Empfänger einer Invalidenrente von den militärischen Behörden erhielten, war »immer nur die Verminderung der Erwerbsunfähigkeit [sic] als … % berufsunfähig festgestellt«.42 Manche Unterhaltsbeitragskommissionen entzogen den Familien dieser Kriegsversehrten daraufhin den Anspruch auf Unterhaltsbeiträge »mit dem Hinweis, dass die Genannten nicht mit einer Minderung der Erwerbsunfähigkeit [sic] sondern nur …. berufsunfähig klassifiziert wurden.«43 Hieran zeigt sich am deutlichsten, dass der Modus der »diskreten Anpassung« unvorhergesehene Folgen nach sich ziehen konnte. 39 Ebd., S. 149–190. 40 Ebd., S. 80–82. 41 Pawlowsky u. Wendelin, Die normative Konstruktion des Opfers, S. 366–367. 42 ÖStA, Archiv der Republik [AdR], Bundesministerium für soziale Verwaltung [BMfsV], Sektion [Sek.] 2/Kb Kt. 1363, 24442/1918. 43 Ebd.

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Die Beamten des Kriegsministeriums reagierten 1915 flexibel auf die sozialen Herausforderungen des Krieges. Sie setzten eine Reihe von Maßnahmen, um rasch mehr Soldaten einen Anspruch auf finanzielle Versorgung zu verschaffen. Dazu mussten sie auf den bestehenden Kategorien des MVG von 1875 aufsetzen, diesen jedoch auf dem Verordnungsweg neue Bedeutung verleihen. So bestand der legislative Begriff der bürgerlichen Erwerbsunfähigkeit zwar fort, sollte jedoch in der administrativen Praxis ab einer Verminderung der Berufsfähigkeit um mindestens 20 Prozent angewendet werden. Auf Ministerialebene der Militärverwaltung ging man noch 1917 davon aus, dass diese terminologische Verschiebung sich auf die Begutachtung beschränke, in der Dokumentation von Ansprüchen jedoch die Formulierungen des MVG benutzt würden. In diesem Fall hätten Militär- und Zivilverwaltung mit dem Konzept der (Verminderung der) Erwerbsfähigkeit operiert. Dieser Prämisse folgend wies das Ministerium für Landesverteidigung die verantwortlichen Behörden in den Durchführungsbestimmungen zum neuen Unterhaltsbeitragsgesetz an, »die militärischen Dokumente« des Betroffenen zur Feststellung der »20prozentige[n] Verminderung der Erwerbsfähigkeit« heranzuziehen.44 In zweifacher Hinsicht unterliefen lokale Akteure jedoch diese Erwartungen der Ministerialbeamten. Zum einen dokumentierten die militärischen Superarbitrierungskommissionen die Kategorie, nach der sie bewerteten, also die Berufsfähigkeit. Zum anderen hielten sich die zivilen Unterhaltskommissionen an den Wortlaut des Gesetzes. Hier zeigt sich erneut das Spannungsverhältnis zwischen vertikaler Normensetzung und dezentraler Entscheidungsbefugnis. Für die ablehnende Haltung auf der lokalen Ebene können verschiedene Faktoren eine Rolle gespielt haben. Während die Ministerialbeamten ihre Aufgabe darin sahen, möglichst vielen Kriegsversehrten Zugang zu staatlicher Fürsorge zu gewähren, konnten Lokalbeamte erwogen haben, dass Vorgesetzte ihnen eine zu strenge Handhabung des Gesetzes weniger zur Last legen könnten als einen zu ›verschwenderischen‹ Umgang mit öffentlichen Mitteln. Bereits wenige Jahre vor dem Krieg hatten führende Akteure der Verwaltungsreformdebatte das restriktive Handeln der Verwaltung in sozialpolitischen Angelegenheiten kritisiert. Daneben spielten jedoch auch Wertvorstellungen eine Rolle. In der Kriegsversehrtenfürsorge wird dies insbesondere im Umgang mit Soldaten deutlich, die an psychischen Erkrankungen litten.

44 RGBl. 337, Verordnung des Ministeriums für Landesverteidigung im Einvernehmen mit den beteiligten Zentralstellen vom 10. August 1917 zur Durchführung des Gesetzes vom 27. Juli 1917, RGBl. Nr. 313, betreffend die Neuregelung des Unterhaltsbeitrages für die Dauer des gegenwärtigen Krieges, zu § 4.

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1.2 Konflikte um die finanzielle Unterstützung von Soldaten mit psychischen Erkrankungen Die Praxis, Lücken in der Militärversorgung durch »diskrete Anpassungen« zu schließen, schuf für lokale Militärbeamte auch neue Handlungsräume.45 Dies zeigt sich besonders anschaulich in den Auseinandersetzungen um die Adaption der sogenannten »Personalzulage« für die Versorgung psychisch erkrankter Soldaten. Während das MVG von 1875 für Soldaten mit schweren Verletzungen mit der »Verwundungszulage« eine besondere Form der Unterstützung vorsah, wurden die gesundheitlichen Folgen von Krankheiten oder Umwelteinflüssen nicht in derselben Weise entschädigt. Bis Ende Dezember 1914 waren jedoch über 275.000 Mann erkrankt, bis Kriegsende sollte diese Zahl auf über 3 Millionen anwachsen.46 Nicht gesondert statistisch erfasst sind die Verletzungen, die etwa durch Erfrierungen entstanden, von denen jedoch allein im Karpatenfeldzug 1914/1915 Zehntausende betroffen waren.47 Die Ministerialbeamten des Kriegsministeriums verfolgten auch diesen Soldaten gegenüber die Ausweitung finanzieller Versorgungsansprüche, allerdings später als dies bei den Invalidenrenten der Fall war. Im Juni 1916 verlautbarten die Beamten der 9. Abteilung per Erlass, dass die bereits bestehende Unterstützung der »Personalzulagen« nun an Mannschaftssoldaten »an Stelle und in der Höhe der Verwundungszulagen«48 ausbezahlt werden sollte. Je nach Art der Kriegsbeschädigungen konnten Soldaten auch beide Zulagen beziehen.49 Zunächst mussten derartige Anträge auf Zuerkennung der Personalzulagen dem Kaiser vorgelegt werden, sodass dieser die »Gnadenversorgungsgenüsse« gewähren konnte.50 Mit dem kaiserlichen Erlass vom 11. Juni 1916 wurde jedoch festgelegt, dass die zuständigen Ministerien in beiden Reichshälften darüber entscheiden sollten.51 Dies sollte die kaiserliche Kanzlei entlasten und das Verfahren beschleunigen. Zwar war der Gnadenakt des Monarchen bereits davor in bürokratische Routinen eingebettet gewesen, trotzdem ist es bedeutsam, dass man bereit war, diesen gänzlich aus der kaiserlichen Kanzlei an die Ministerien auszulagern. Dieser Vorgang demonstriert erneut, dass die österreichisch-ungarische Verwaltung aus sozialpolitischen Herausforderungen lernte und ihre Routinen daran anpasste. 45 Becker, Recht, Staat und Krieg, S. 30. 46 Rumpler u. Schmied-Kowarzik, S. 161, 190. 47 Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg, S. 312, 315. 48 Erlaß vom 27. Juni 1916, Kriegsministerium Abt. 9, Nr. 51000, in: Verordnungsblatt für das k. u. k. Heer, Beiblatt zum Verordnungsblatt für das k. u. k. Heer 23 (1916), 1. bis 65. Stück, S. 273. 49 ÖStA, AdR, BMfsV, Präs. Kt. 42, 68. 50 ÖStA, KA, Ministerium für Landesverteidigung [MfLV], Hauptreihe [HR], militärischer Teil, Akten Kt. 1474, 13819, in: 17420/1916. 51 Erlaß vom 27. Juni 1916, Kriegsministerium, Abt. 9, Nr. 51000, in: Verordnungsblatt für das k. u. k. Heer, Beiblatt zum Verordnungsblatt für das k. u. k. Heer 23 (1916), 1. bis 65. Stück, S. 273.

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Die Anwendung dieser neuen Bestimmung auf Soldaten mit psychischen Erkrankungen war jedoch zwischen den Beamten des Kriegsministeriums und lokalen Akteuren der Militärverwaltung umstritten. Diese Konflikte lassen sich in den Versuchen der Beamten des Kriegsministeriums ausmachen, die finanzielle Versorgung psychisch erkrankter Soldaten zu normieren. In diesen Auseinandersetzungen trafen der militärpsychiatrische Diskurs und die Zuerkennungsroutinen der Militärverwaltung aufeinander. Beide waren jedoch nicht zwei voneinander entkoppelte Bereiche, sondern Militärpsychiater waren selbst Akteure des Militärapparates, die ihre Ansichten nicht nur in der Behandlung, sondern auch der finanziellen Versorgung der Betroffenen durchsetzen wollten. Das Phänomen der ›Kriegshysterie‹ oder ›Kriegsneurosen‹ war während des Krieges Gegenstand intensiver medizinischer Erfassungs-, Erklärungs- und Heilungsversuche, die unterschiedliche Ursachen für das Aufkommen psychischer Krankheiten verantwortlich machten. Manche, allen voran der deutsche Neurologe Hermann Oppenheim, erklärten die Kriegshysterie im Sinne einer »traumatischen Neurose«. Kennzeichnend für das Konzept der »traumatischen Neurose« war, dass sie als Verletzung des Körpers und der Psyche verstanden wurde, wobei sich die Lokalisierung im Körper während der Entwicklung der Theorie vom Rückenmark ins Gehirn verschob. Im Verlauf des Krieges setzte sich jedoch die Erklärung der Kriegsneurosen als psychogene Phänomene durch, das heißt sie wurden nicht auf organische Ursachen zurückgeführt, sondern als Erkrankung der Psyche definiert.52 Überträgt man diese Interpretation auf die möglichen Versorgungsansprüche so konnten Soldaten mit der Diagnose einer »traumatischen Neurose« zumindest theoretisch auch eine Verwundungszulage erhalten, da sie ebenfalls eine physische Verletzung umfasste. Die Theorie von der Psychogenese dieser Krankheiten schloss dies hingegen aus. Während diese Debatte im Deutschen Reich erst mit der 8. Jahrestagung deutscher Nervenärzte im September 1916 in München, der sogenannten »Kriegstagung«, endgültig zuungunsten der »traumatischen Neurose« entschieden wurde,53 hatte man in Österreich-Ungarn bereits im Juli 1916 damit begonnen, die Behandlung psychisch kranker Soldaten an diesen neuen Prinzipien auszurichten. Die Behandlung sollte zudem zentralisiert und professionalisiert werden. Richtungsweisend waren dabei die Resolution des »Vereins für Psychiatrie und Neurologie« zu Kriegsneurosen und der Maßnahmenkatalog einer entsprechenden Untersuchungskommission des Wiener Militärsanitätskomitees. Die betroffenen Soldaten wurden somit »a priori als wiedergenesungs- und einsatzfähig betrachtet.«54 Die Invalidenrente und Verwundungszulagen konnten zwar auch für eine zeitlich begrenzte Dauer verliehen werden, aber psychische Erkrankungen wurden in der Folge prinzipiell als temporäres Phänomen verstanden.

52 Köhne, S. 17–18. 53 Kaufmann, S. 133–138; Kloocke u. a., S. 50–55. 54 Hofer, S. 243–247; Zitat ebd., S. 245, Hervorhebung im Original.

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Zudem gewann im Verlauf des Krieges jene Erklärung der Kriegsneurosen zunehmend an Bedeutung, die psychische Krankheiten nicht als kausale Folge der Kriegserfahrung betrachtete und ihre Ursache stattdessen in einer bereits vor dem Krieg krankhaften Psyche des Betroffenen erkannten, der sogenannten ›psychopathischen Konstitution‹.55 Im Rahmen dieser psychogenen Theorie der Kriegsneurosen kam dem Begriff der ›Begehrungsvorstellungen‹ eine bedeutende Rolle zu.56 Die ›psychopathische‹ Konstitution und die damit einhergehende Nerven- oder Willensschwäche würden dazu führen, dass die Betroffenen ihren ›Begehrungsvorstellungen‹ unterworfen wären, die sich auf die Heimkehr und den Bezug einer Rente richten würden, so die Vorannahme. Infolgedessen würden die Soldaten psychische Krankheiten vortäuschen oder entwickeln. Wie diese Erklärungsversuche zeigen, verwischten die Militärärzte die Grenzen zwischen Simulation und Krankheit, Simulation wurde vielmehr selbst zum Bestandteil der Krankheit.57 Der kriegsministerielle Erlass vom 8. Juli 1916 zeigt, dass diese Entwicklungen in der Militärpsychiatrie mit den Normen der Militärversorgung und zum Teil der Zuerkennungspraxis in Konflikt gerieten. »Aus Anlaß verschiedener Wahrnehmungen über die unrichtige Behandlung der Versorgungsangelegenheiten geisteskranker Mannschaft«58 hielten die Ministerialbeamten darin fest, dass »[d]ie Anlage zu einer Geistesstörung […] bei Beurteilung der Versorgungsansprüche nicht ins Gewicht [fällt]«.59 Dies legt nahe, dass lokale Militärbehörden das Modell einer bereits vorhandenen ›krankhaften Veranlagung‹ zu psychischen Krankheiten dazu nutzten, betroffenen Soldaten ihre Ansprüche auf finanzielle Versorgung zu verwehren. Die Beamten stellten außerdem klar, dass »kein Nachweis eines ursächlichen Zusammenhanges des Leidens mit dem Militärdienst gefordert« werde,60 um Ansprüche zu begründen, sondern: Die Geisteskrankheiten gehören zu jenen Gesundheitsstörungen (Gebrechen), die einen absoluten Anspruch auf eine Militärversorgung begründen, wenn sie nur während der aktiven Dienstleistung eingetreten sind […].61 55 Köhne, S. 72; Hofer, S. 351–352. 56 Der Begriff der »Begehrungsvorstellungen« stammte aus der Beschäftigung mit der Frage der Simulation im Zusammenhang mit Unfallrenten und bezeichnete den unbewussten Wunsch nach Rentenzahlungen, der die Krankheitssymptome verstärken würde. Hofer, S. 245–246. 57 Kaufmann, S. 133–138; Kloocke u. a., S. 50–55; Becker u. a.; Köhne u. a.; Hofer u. a.; für den österreichischen Kontext insbesondere: Hofer, S. 231–236, 243–252; für den britischen Kontext: Bourke, Dismembering the Male, S. 107–123; dies., Effeminacy, Ethnicity and the End of Trauma, S. 57–69. 58 Erlaß vom 8. Juli 1916, Kriegsministerium, Abt. 9, Nr. 20585, zitiert nach: o. A., Superarbitrierungsvorschrift für die Personen des k. u. k. Heeres vom Jahre 1885, S. 27. 59 Ebd., S. 28. 60 Ebd. 61 Ebd.

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Selbst Soldaten, die vor ihrer Militärdienstleistung im Felde aus einer psychiatrischen Anstalt als gebessert oder geheilt entlassen worden waren, hatten Anspruch auf die Invalidenrente. Der Erlass hielt zwar an bereits existierenden Bestimmungen fest, dass geisteskranke Mannschaftssoldaten ohne kommissionelle Feststellung ihrer prozentuellen Berufsunfähigkeit zu entlassen seien. Allerdings bestimmten die Beamten auch, dass psychisch erkrankte Soldaten prinzipiell als um mindestens 20 Prozent in ihrer Berufsfähigkeit gemindert anzusehen seien. Somit hatten die Betroffenen Anspruch auf eine Invalidenrente. Zusätzlich konnten derart psychisch erkrankte Soldaten die sogenannte Personalzulage sowie bei völliger Arbeitsunfähigkeit die Invalidenhauspension erhalten.62 Dadurch bezogen die Ministerialbeamten psychisch erkrankte Soldaten ausdrücklich in jene Maßnahmen mit ein, durch die sie die Ansprüche auf finanzielle Entschädigung ausgeweitet hatten. Allerdings vermieden es die Beamten des Kriegsministeriums in der Formulierung des Erlasses insgesamt, einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Krieg und Geisteskrankheit herzustellen. Stattdessen wurde konsequent von Geisteskrankheiten, die »während der aktiven Dienstzeit« auftraten, gesprochen.63 Eine wichtige Einschränkung dieser Bestimmungen war zudem, dass sie nur für jene Soldaten gültig waren, die an der Front erkrankten, während für die im Hinterland Stationierten restriktivere Richtlinien galten. Über sie sollten weiterhin jene Informationen erhoben werden, die 1911 eingeführt worden waren, um die Berechtigung ihrer Ansprüche zu prüfen. Eine vorangegangene Erkrankung war nur dann unerheblich, wenn sie für die Dauer von mindestens zwei Monaten während der Militärdienstleistung keine Auffälligkeiten gezeigt hatten.64 Diese Unterscheidung und Hierarchisierung zwischen Front und Hinterland war spezifisch für psychische Krankheiten, da bei körperlichen Verletzungen und anderen Erkrankungen alle Militärpersonen, auch die unter der Landsturmpflicht zur Arbeitsleistung herangezogenen Männer gleichgestellt waren.65 Die Akten über die Zuerkennung von Versorgungsansprüchen zeigen zudem, dass weiterhin eine Vielzahl von Begrifflichkeiten für die Benennung geistiger Erkrankungen koexistierten.66 Darüber hinaus legen sie jedoch offen, dass in finanziellen Versorgungsfragen das psychogenetische Krankheitsverständnis der Kriegsneurosen andere Konzeptionen nicht vollständig verdrängte.67 Zwar war auch der militärpsychiatrische Diskurs geprägt von einem Mangel an »ver62 Ebd., S. 27–28. 63 Ebd.; zur Vermeidung, die pathogene Wirkung des Krieges anzuerkennen, siehe auch: Köhne, S. 72. 64 o. A., Superarbitrierungsvorschrift für die Personen des k. u. k. Heeres vom Jahre 1885, S. ­27–28. 65 Ebd. 66 Siehe etwa: ÖStA, KA, MfLV, HR, militärischer Teil, Akten Kt. 1474, 17187/1916; 17420/1916; 18928/1916. 67 Ähnlich die neuere Krankenaktenforschung: Peckl.

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bindlichen Symptom- und Diagnosebestimmungen«.68 Die Kombination von Verwundungs- und Personalzulage bei Diagnosen, die den Traumabegriff verwendeten, demonstriert jedoch, dass Militärbeamte eine physische Verletzung und eine Erkrankung als Anspruchsgrundlage anerkannten. Dieses Vorgehen legt nahe, dass zumindest in der Militärverwaltung über den Verlauf des Krieges hinweg neurologische und psychische Krankheitsmodelle nebeneinander fortbestanden.69 Demgegenüber setzte sich jedoch die militärpsychiatrische Ansicht, dass psychisch erkrankte Soldaten prinzipiell heilbar seien, auch in der Regelung der finanziellen Ansprüche durch: Diese sollten zunächst nur auf ein Jahr zuerkannt werden, wie in dem Erlass 8. Juli 1916 festgeschrieben wurde. Ein Anspruch auf fortdauernde finanzielle Versorgung hing vom Verlust der Mündigkeit beziehungsweise vom Krankheitsverlauf ab. Die Ministerialbeamten räumten zudem die Möglichkeit ein, dass eine spätere Diagnose ergeben könnte, dass die »Geistesstörung nicht während der aktiven Dienstzeit zum Ausbruch gekommen« sei. Allerdings lag dem nicht notwendigerweise eine Hierarchisierung zwischen Verletzungen und Krankheiten zugrunde, denn auch Soldaten mit dauerhaften Einschränkungen wie dem Verlust der Zehen durch Erfrierungen erhielten die Invalidenrente zunächst nur auf ein Jahr zuerkannt.70 Das mangelnde Wissen über die Heilbarkeit und Auswirkungen auf die Berufsfähigkeit verschiedener Verletzungen und Erkrankungen spielte dabei vermutlich ebenfalls eine Rolle. Lokale Behörden versuchten jedoch trotz der zentralstaatlichen Vorgaben, die Versorgungsansprüche dieser Soldaten einzuschränken. Dabei spielten die sogenannten »Heimaterhebungen« eine zentrale Rolle. Das Ministerium für Landesverteidigung hatte bereits mit dem Erlass vom 7. November 1915 verfügt, dass bei diesen Erhebungen »stets 2 vertrauenswürdige Zeugen unter Eid« zu befragen seien,71 da man sich der Möglichkeiten von Missbrauch durchaus bewusst war. Die Beamten des Kriegsministeriums schränkten die Relevanz dieser Erhebungen für Versorgungsansprüche mit dem Erlass vom 8. Juli 1916 weiter ein, indem sie nur für Soldaten durchgeführt werden sollten, die im Hinterland erkrankt waren. Lokale Akteure nutzten diese »Heimaterhebungen« jedoch, um in der bürokratischen Praxis die Konzeption psychischer Krankheiten als ›ererbt‹ fortzuschreiben. Insbesondere die Fälle von Leopold V. und Julius W. im Bereich des 9. Militärkommandos geben einen Einblick darin, wie die »Heimaterhebungen« es ermöglichten, psychische Erkrankungen bei Soldaten, die im Hinterland stationiert waren, für ›ererbt‹ zu erklären. Der 1898 geborene Schuhmacher Leo68 Köhne, S. 95. 69 Hofer, S. 236–252. 70 Siehe etwa ÖStA, KA, MfLV, HR, militärischer Teil, Akten Kt. 1474, 17675/1916. 71 VÚA, VHA, KK9, Militärabteilung [MA] Kt. 226, 1-14/106. [Aufgrund des Inhalts der Akten wurde der Name des Betroffenen anonymisiert.]

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pold V. wurde am 4. Mai 1916 zum Landsturmdienst eingezogen und erlitt am 19. September einen psychischen Anfall. Daraufhin kam er in militärärztliche Behandlung und wurde am 27. Oktober 1916 als »zu jedem Landsturmdienste ungeeignet« und mit einer 20prozentigen Berufsunfähigkeit aus dem Militärdienst entlassen und in die Pflege seiner Mutter übergeben.72 Nun begannen die Erhebungen: Zunächst klärte das Militärkommando in Prag / Praha beim zuständigen Ersatzbataillon, ob V. an der Front oder im Hinterland gedient hatte. Nachdem letzteres der Fall war, fragte man erneut beim Ersatzbataillon sowie bei der Bezirkshauptmannschaft in Pardubitz / Pardubice an. Die Zeugenaussagen, die das Ersatzbataillon vorlegte, waren widersprüchlich. Ein Infanterist, der V. bereits zuvor gekannt hatte, gab an, dass V.s Vater »im Irrenhaus gestorben«, Leopold V. selbst jedoch »zuhause stets gesund« gewesen sei.73 Der Zugsführer Eduard Klement konstatierte allerdings, dass er mehrmals die »geistige Minderwertigkeit« V.s beobachtet habe.74 Die Erhebungen der Gendarmen ergaben zwar, dass »Leopold [V.] [vor dem Militärdienst] keine Merkmale einer Geisteskrankheit« gezeigt habe, trotzdem war der gesamte Bericht darauf ausgelegt, eine ererbte psychische Erkrankung V.s zu demonstrieren. Das zentrale Argument im Bericht der Gendarmerie war der mehrjährige Aufenthalt des Vaters in einer »Irrenanstalt« bis zu seinem Tod, weshalb gleich zu Beginn des Berichts festgehalten wurde, dass »[V.] tatsächlich aus einer geistig nicht normalen Familie stammt«.75 Zwar erhielt V. aufgrund der ärztlichen Einschätzung einer 20prozentigen Berufsunfähigkeit eine Invalidenpension zugesprochen, aber keinen Anspruch auf eine Personalzulage. Ähnlich verlief der Fall des 1885 geborenen Julius W., eines Buchhalters jüdischen Glaubens. Er wurde im August 1915 zum Landsturmdienst beim Infanterieregiment Nr. 18 als »tauglich zu Bewachungsdiensten« eingezogen. Noch am 7. Februar 1916 beförderte man ihn zum Gefreiten, bevor er im März 1916 in militärärztliche Behandlung kam und wegen »konstitutioneller Neurasthenie hohen Grades mit Zwangsvorstellungen, Zwangshandlungen und Gemütsdepression« zur Heilbehandlung dem Ersatzkader übergeben wurde.76 Auch hier lieferten die Erhebungen der Bezirkshauptmannschaft zunächst die Erkenntnis, dass W. vor dem Militärdienst »keine Zeichen einer Geistesstörung« gezeigt habe, liefen jedoch wiederum darauf hinaus, dass er aus einer »erblich schwer belasteten Familie« stamme.77 Anders als bei V. beurteilte man W.s Minderung der Berufsunfähigkeit allerdings nur mit 18 Prozent – eine bemerkenswert präzise Angabe, die knapp unter dem Wert von 20 Prozent lag, ab dem er Anspruch auf eine Invalidenpension gehabt hätte.78 Auch bei einem weite72 Ebd. 73 VÚA, VHA, KK9, MA Kt. 226, 1-14/106. 74 Ebd. 75 Ebd. 76 VÚA, VHA, KK9, MA Kt. 226, 1-14/868. 77 Ebd. 78 Ebd.

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ren Soldaten desselben Infanterieregimentes wurde diese knappe Einschätzung vorgenommen, da hier jedoch die militärärztlichen Dokumente fehlen, lässt sich nicht feststellen, ob es sich dabei um eine spezifische Vorgehensweise des Ersatzbataillons handelte. Das Militärkommando erkannte die Entscheidungen jedenfalls an.79 Zwar stand den beiden Soldaten formell weiterhin Anspruch auf Invalidenpension zu, sofern sich ihr Gesundheitszustand verschlechterte. Ob sie diesen geltend hätten machen können, bleibt jedoch angesichts der restriktiven Behandlung derartiger Ansprüche in der Nachkriegszeit fraglich.80 Die zeit­liche Begrenzung der Versorgungsansprüche psychisch erkrankter Soldaten auf ein Jahr eröffnete so längerfristig die Möglichkeit ihrer langsamen Entwertung und Umdeutung zur ›Rentenpsychose‹ oder Simulation.81 Das Vorgehen gegenüber V. und W. widersprach den Richtlinien, welche die Beamten des Kriegsministeriums im Erlass vom 8. Juli 1916 festgelegt hatten. Beide Soldaten hatten weder vor ihrem Einrücken noch über die Dauer von zwei Monaten danach Anzeichen von psychischen Krankheiten gezeigt; W. war sogar befördert worden. Trotzdem stellten die überlieferten Erhebungen, die ärztlichen Gutachten und die Bemerkungen des Sanitätschefs des Militärkommandos eine angebliche Vererbung in den Vordergrund. Entgegen zentralstaatlicher Vorgaben nutzten lokale Akteure militärpsychiatrische Erklärungsmodelle und etablierte administrative Praktiken der Vorkriegszeit, die spezifisch darauf ausgelegt waren, die familiäre ›Vorbelastung‹ des Betroffenen zu bestimmen, um die Ansprüche der Betroffenen auf finanzielle Versorgung einzuschränken oder sogar abzuweisen. Militärpsychiatrische Diskurse prägten also nicht unmittelbar die Normen der Militärversorgung. Stattdessen hielten die Ministerialbeamten auch gegenüber Soldaten mit psychischen Erkrankungen daran fest, die Ansprüche auf finanzielle Versorgung auszuweiten und so die Verantwortung des österreichischungarischen Staates gegenüber den verletzten oder erkrankten Soldaten zu demonstrieren. Trotzdem war der Umgang mit psychisch erkrankten Soldaten in der Militärverwaltung von einer grundlegenden Ambivalenz gekennzeichnet. Denn zugleich schufen die Beamten eine Sonderstellung psychischer Erkrankungen, indem sie zwischen an der Front und im Hinterland erkrankten Soldaten unterschieden. Eine Distinktion, die bei keiner anderen Form der Kriegsversehrung zur Restriktion von Ansprüchen genutzt wurde. Zum einen könnte diese Hierarchisierung aus der überhöhten Stellung resultieren, welche die Figur des Frontsoldaten in der zeitgenössischen Propaganda einnahm.82 Angehörige jener Gruppe erschienen so in der Öffentlichkeit als besonders unterstützungswürdig. Zum anderen vermieden es die Beamten mit dieser Regelung, dass eine kritische Frage medizinisch oder kommissionell geklärt werden musste, 79 Ebd. 80 Hofer, S. 366–375. 81 Kienitz, Der Krieg der Invaliden, S. 391–395. 82 Szczepaniak.

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um über Versorgungsansprüche zu entscheiden: Verursachte der Fronteinsatz psychische Erkrankungen? Allerdings waren Militärärzte und -psychiater im Gegenzug bemüht, ihre Erklärungsmodelle in die Militärversorgung einzubringen. Anstelle eines Kausalzusammenhanges zwischen Kriegserfahrung und psychischer Erkrankung betonten sie die erbliche ›krankhafte Konstitution‹ der Betroffenen. Zudem betrachteten sie im Rahmen des Konzepts der ›Begehrungsvorstellungen‹ die finanzielle Unterstützung als negativen Anreiz, welcher die psychische Krankheit verschlimmern konnte. Sie arbeiteten daher daraufhin, die Versorgungsansprüche der Betroffenen zu begrenzen. Diese Delegitimierung der Ansprüche von Soldaten mit psychischen Erkrankungen hatte auch Auswirkungen darauf, wie sich Kriegsversehrte mit psychischen Erkrankungen präsentierten. Im Dezember 1916 wandte sich etwa Josef W. mit einer Beschwerde an das Kriegsministerium. Er beanstandete, dass er trotz erfolgreicher Heilbehandlung in der Wiener Nervenheilanstalt »Am Rosenhügel« aufgrund nervöser Beschwerden und einer Rippenfellentzündung wegen »Geisteskrankheit dauernd beurlaubt« worden wäre.83 Dies bedeutete für ihn, dass er weder eine Invalidenrente erhielt noch seinen militärischen Sold bezog. Zudem sah er sich durch diesen Befund in seinen Chancen, Arbeit zu finden, geschädigt, denn »[m]it so einem Zeugnisse kann ich nirgends einen Dienst finden«.84 Wie Christa Hämmerle anmerkt, war die Beurlaubung vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges eine gängige Praxis in der österreichischungarischen Armee, um »unliebsame, der Agitation verdächtigte Soldaten«85 auf möglichst unauffällige Weise aus der Armee zu entfernen. Dadurch konnten aber auch Ansprüche Kriegsversehrter auf Eis gelegt werden, wie der Brief W.s demonstriert. Erst im April 1917 verfügte das Kriegsministerium bei einer Revision der Superarbitrierungsbestimmungen, dass auch beurlaubte Soldaten, sofern sie als zumindest temporär dienstuntauglich befunden worden waren, einen Anspruch auf Militärversorgung hatten.86 W. ersuchte das Kriegsministerium um erneute militärärztliche Untersuchung. Um seine Argumentation zu untermauern, verwies er einerseits auf den Widerspruch zwischen seiner Entlassung aus der Nervenheilanstalt als »geheilt« und seiner Beurlaubung als »geisteskrank«, andererseits auf die Untersuchung durch den lokalen »k. k. Bezirksarzt«, die er selbst angestrengt hatte. Dieser attestierte ihm einen Sprach- und Hörfehler, aber keine Geisteskrankheit. Während also zahlreiche Militärpsychiater bemüht waren, die vielfältigen körperlichen Symptome genuin psychischer Krankheiten zu beschreiben, zu klassifizieren

83 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1227, 2061/1916. 84 Ebd., Hervorhebung im Original. 85 Hämmerle, Des Kaisers Knechte, S. 20. 86 Erlaß vom 24. April 1917, Kriegsministerium Abt.  9, Nr. 28000, in: Beiblatt zum Verordnungsblatt für das k. u. k. Heer 22 (30. April 1917), S. 202–207.

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und zu einem Krankheitsbild zu formen, resomatisierte W. seine Beschwerden, um sich als ›normalen‹ Kriegsversehrten darzustellen: »Dafür kann ich nichts, daß ich diese Leiden im Krieg geholt habe.«87 Ganz ähnlich war das Gesuch des tschechischsprachigen Pioniers Antonín Š. formuliert, der sich 1918 beim Kaiser und König Karl-Kriegsfürsorgefonds um ein kleines Grundstück bewarb. Auch er war bemüht, seine attestierte ›Geisteskrankheit‹ durch Einschübe in Klammern zu relativieren: »Körperlich ist mein Defekt (vielleicht) Geisteskrankheit (?)«,88 außerdem betonte er seinen Fleiß, seine Rechtschaffenheit und seine finanzielle Unabhängigkeit vor dem Krieg. Auch wenn aufgrund der Überlieferungsgeschichte keine Aussage darüber getroffen werden kann, wie viele Gesuche Kriegsversehrte an verschiedene Behörden richteten, ist unter den untersuchten Briefen das Missverhältnis zwischen überlieferten Schreiben psychisch Erkrankter einerseits und physisch Verletzter oder Erkrankter andererseits auffallend. Trotz der erwähnten prinzipiellen Entschädigungswürdigkeit waren psychische Erkrankungen für die Betroffenen weitaus problematischer als andere Kriegsbeschädigungen. Während Kriegsversehrte ihre physischen Verletzungen demonstrativ in ihren Gesuchen schildern konnten, um spezifische Ansprüche durchzusetzen, bedeutete die zeitgenössische Assoziation von psychischen Erkrankungen mit Willensschwäche, Simulation oder pathogener Disposition, dass sie nur schwer als Legitimation für Versorgungsansprüche geltend gemacht werden konnten.

87 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1227, 2061/1916. 88 ÖStA, AVA, MdI, KFF Kt. 2, 20876/1918.

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2. Sozialpolitische Governance in der Kriegsversehrtenfürsorge: Strukturen und Praktiken Als die cisleithanische Regierung im Winter 1914 auf dem Feld der Kriegsversehrtenfürsorge tätig wurde, sah sie sich unter großem Handlungsdruck. Wie die Militärverwaltung waren Ministerpräsident Stürgkh und Innenminister Karl Heinold der Ansicht, dass ein Misserfolg in der Fürsorge für Kriegsversehrte »das Ansehen unserer Staatsverwaltung der Bevölkerung […] gegenüber unwiederbringlich schädigen« müsse.1 Wie die Militärversorgung war auch die Institutionalisierung der Re-Integrationsmaßnahmen von den sozialpoli­tischen Entwicklungen der Vorkriegsjahre geprägt. Die föderale Strukturierung der Sozialversicherung und der sozialen Fürsorge bedeutete, dass Expertise und Behandlungskapazitäten sich nicht in der Verfügungsgewalt der Regierung befanden. Außerdem war die Regierung genötigt, sich auf einem Feld zu positionieren, auf dem zivilgesellschaftliche Akteure bereits aktiv geworden waren.2 Zwar konnte sie sich so das etablierte »Problemmuster« der sozialen Re-Integration Kriegsversehrter zu eigen machen, um politische Zielvorstellungen zu formulieren und entsprechende Maßnahmen zu legitimieren.3 Allerdings musste die Regierung zugleich ihren Regelungsanspruch gegenüber bestehenden Fürsorgeinitiativen durchsetzen. Darüber hinaus war die Regierung darauf angewiesen, einen Modus der Kooperation mit der Militärverwaltung zu finden. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, schuf die Regierung eine Governance-Struktur, die verschiedenen Akteursgruppen Mitsprache und Gestaltungsmöglichkeiten gewährte, und gleichzeitig ihre personellen und materiellen Ressourcen für die staatliche Sozialpolitik nutzbar machte. Damit kam diese Form der Governance auch einer Erwartung der cisleithanischen Regierung entgegen, die sich aus den Erfahrungen der Jahrzehnte vor 1914 speiste: Sozialpolitische Programme seien mit minimaler Belastung des Staatshaushalts zu realisieren. Umgekehrt trugen Proponenten einer rehabilitativen Behandlung Kriegsversehrter diese Ausdehnung der Staatstätigkeit mit. Sie hatten die Kriegsversehrtenfürsorge seit Herbst 1914 als ›im Interesse des Staates‹ propagiert und hofften dadurch, Prestige und Mittel für rehabilitative Einrichtungen zu gewinnen. Aber auch andere zivilgesellschaftliche Gruppen beteiligten sich an den Re-Integrationsmaßnahmen, um ihre Vorstellungen von Fürsorge und sozialer Zugehörigkeit durchzusetzen. So kamen unterschiedliche Muster der sozialund nationalpolitischen Ordnung des Staates aus den Jahrzehnten vor 1914 in der Kriegsversehrtenfürsorge zum Tragen und gerieten zum Teil in Konflikt miteinander.

1 ÖStA, AVA, MdI, Präs. 19 Kt. 1862, 19093/1914, 2. Bogen. 2 Hsia, Who Provided Care for Wounded and Disabled Soldiers? 3 Schetsche, S. 48–55.

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Noch bevor die staatlichen Maßnahmen zur Re-Integration eingeleitet wurden, entfaltete die private Wohltätigkeit ein breites Spektrum sozialer Bindungen, das sich nicht in der Dichotomie Imperium oder Nation erschöpfte. Militärische Regimenter sammelten für Mitglieder ›ihrer‹ Einheit und deren Angehörige.4 Vereine wie die »Invalidenfürsorge für Leitmeritz« verbanden lokale und militärische Zugehörigkeiten. Maria Zanantoni, Ehefrau des Kommandanten der 29. Infanterietruppdivision in Leitmeritz / Litoměřice, gründete den Verein im Oktober 1914, um Kriegsversehrten finanzielle Unterstützung zu gewähren und Stellen zu vermitteln. Zeitgenössisch als Ausdruck »d[e]s warme[n] Mitgefühl[s] eines Frauenherzens« interpretiert, stützte sich Maria Zanantoni nicht nur auf Vorstellungen von Weiblichkeit,5 sondern auch auf etablierte Wohltätigkeitspraktiken hochrangiger Offiziere. So konnte sie die Reichweite ihres Vereins durch Kooperation mit anderen lokalen Fürsorgeausschüssen und dem Militärkommando Leitmeritz / Litoměřice ausbauen.6 Wohltätigkeit konnte sich auch entlang beruflicher Zugehörigkeiten entfalten, etwa wenn die Eisenbahnbediensteten Geld sammelten und das Eisenbahnministerium als eine der ersten staatlichen Einrichtungen überhaupt an der Jahreswende 1914/15 Re-Integrationsmaßnahmen für kriegsversehrte Angehörige des Eisenbahnwesens startete.7 Schließlich standen imperiale und nationale Zugehörigkeiten nicht notwendigerweise in Opposition zueinander. Wie Pieter Judson dargelegt hat, begriffen cisleithanische Eliten die Habsburgermonarchie am Vorabend des Weltkrieges zunehmend als Staat, der aus mehreren Nationalitäten zusammengesetzt war.8 Am 29. Dezember 1914 begannen die Planungen für eine staatliche Kriegsversehrtenfürsorge in Cisleithanien. Ministerpräsident Stürgkh beauftragte Innenminister Heinold mit der Ausarbeitung einer Organisationsstruktur. ­Heinold stand daher vor der Herausforderung, eine Form der Governance für die Kriegsversehrtenfürsorge einzurichten, welche die verschiedenen Akteure der öffentlichen Verwaltung und der Zivilgesellschaft in die staatliche Initiative einband. Die föderale Organisation sozialer Fürsorge in Cisleithanien und der institutionelle Aufbau der Sozialversicherungen konnten hier einander wechselseitig verstärkende Vorbilder liefern. Gleichzeitig mussten sie an die Zwecke und Herausforderungen der Re-Integrationsmaßnahmen angepasst werden. In mehrfacher Hinsicht folgte Heinold der Governance im Sozialversicherungswesen. Er positionierte das Innenministerium als normsetzende und vertikal steuernde Institution, während neue Organisationen die Re-Integrations4 VÚA, VHA, KK9, Praes. 1451/1916; Cole, Military Culture and Popular Patriotism in Late Imperial Austria, S. 129. 5 o. A., Wie die ›Invalidenfürsorge Leitmeritz‹ entstand, S. 12: »›Wie die Mutter ihre armen Kinder‹, erzählte Frau Zanantoni dem Berichterstatter […]«. 6 Ebd., S. 11–14. 7 o. A., Denkschrift über die von der k. k. Regierung aus Anlass des Krieges getroffenen Maßnahmen, S. 131. 8 Judson, The Habsburg Empire, S. 316–328.

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maßnahmen durchführen sollten. Im Februar 1915 ordnete er die Bildung der »Landeskommissionen zur Fürsorge für heimkehrende Krieger« in den einzelnen Kronländern an. Die Form der Landeskommissionen baute auf der föderativen Ordnung Cisleithaniens auf. Gleichzeitig erhielten die Ministerialbeamten ihren Regelungsanspruch aufrecht, indem sie mit einer Mustergeschäftsordnung einen normativen und organisatorischen Rahmen vorgaben. Allerdings räumte man den Landeskommissionen explizit ein, diese Regeln an die »in den einzelnen Ländern bestehenden Verhältnisse« anzupassen.9 Damit schuf Heinold die Möglichkeit, nationalpolitischen Überlegungen bei der Zusammensetzung der Kommissionen Rechnung zu tragen. In Kronländern mit mehreren Sprachgruppen war zivilgesellschaftliche Fürsorge vornehmlich nationalistisch orientiert.10 Zudem waren vor dem Krieg in mehreren Kronländern nationalpolitische Übereinkommen abgeschlossen worden, die unterschiedliche nationale Proporzsysteme etablierten.11 Die Regierung setzte so primär auf die etablierte föderale Organisation des Staates, erlaubte allerdings, dass nationalpolitische Ordnungsvorstellungen ergänzend hinzutraten. Sie selbst machte jedoch keine entsprechenden Vorgaben. Auch in der medialen Inszenierung und Reproduktion des staatlichen Regelungsanspruches bediente sich das Innenministerium desselben Mittels wie in der Sozialversicherung: einer eigenen amtlichen Zeitschrift. Ab 1915 gab das Ministerium die »Mitteilungen des k. k. Ministeriums des Inneren über die Fürsorge für Kriegsbeschädigte« heraus. In den monatlichen Ausgaben versammelten die Ministerialbeamten jene zivilen und militärischen Erlasse und Verordnungen, die sie für bedeutsam hielten. Hinzu kamen programmatische Aufsätze und Erfolgsberichte.12 Mit der Konstituierung der Landeskommissionen in den einzelnen Kronländern in der ersten Hälfte des Jahres 1915 gelang es der Regierung ihren Regelungsanspruch für ganz Cisleithanien zu signalisieren.13 Als »Schnittstellen«14 zwischen verschiedenen Verwaltungszweigen und der Bevölkerung sollten die Kommissionen ihn ›in der Fläche‹ umsetzen.15 Gleichzeitig führt dieser Schritt erneut vor Augen, wie spät die Regierung tätig wurde. Das Vordringen der russischen Armee bis Przemyśl / Peremyschl verunmöglichte bereits die Gründung einer Landeskommission im östlichsten Kronland Bukowina, die stattdessen provisorisch in Prag / Praha zusammentrat, und verzögerte sie für Galizien.16 Neben der privaten Wohltätigkeit kamen zudem regionale Aktionen dem Mi9 ÖStA, AVA, MdI, Präs., Kt. 1862, 5425. 10 Zahra. 11 Osterkamp, Vielfalt ordnen, S. 248–254; Kuzmany. 12 Ministerium des Innerenka 13 ÖStA, AVA, MdI, Präs., Teil 2 Kt. 1862, 5787/1915; 5923/1915; 6241/1915; 6251/1915; 6736/ 1915; 8415/1915; 8472/1915; Pawlowsky u. Wendelin, Die Wunden des Staates, S. 102–104. 14 Becker, Stolpersteine auf dem Weg zum kooperativen Imperium. 15 Ganzenmüller u. Tönsmeyer; Nellen u. Stockinger. 16 Pawlowsky u. Wendelin, Die Wunden des Staates, S. 102–104.

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nisterium zuvor. Noch während die Beamten die Schaffung der Landeskommissionen vorbereiteten, gründeten der damalige Statthalter Böhmens, Franz von Thun und Hohenstein, der Erzbischof von Prag / Praha und die Kommandanten der beiden Militärkommanden in Böhmen (in Leitmeritz / Litoměřice und Prag / Praha)  eine Landeskommission zur Unterstützung Kriegsverletzter und ein Landeskomité zur Fürsorge für erblindete Soldaten.17 Allerdings ordnete sich der Statthalter rasch in die staatliche Kriegsversehrtenfürsorge ein. In Abgrenzung von diesen kurzzeitig parallel existierenden Organisationen trug das böhmische Äquivalent der Landeskommissionen daher den Namen Staatliche Landeszentrale für das Königreich Böhmen zur Fürsorge für heimkehrende Krieger / Státní zemská ústředna pro království České pro péči o vrátivší se vojíny.18 Neben der Verzögerung des Regierungshandelns demonstriert das böhmische Beispiel jedoch auch, wie anschlussfähig die föderale Strukturierung der zentralstaatlichen Kriegsversehrtenfürsorge an regionale politische Initiativen war, wenn es um die etablierte föderale Kompetenzverteilung zwischen Zen­ tralstaat und Kronländern ging. Allerdings spielte dabei auch die Finanzierung der Fürsorge eine Rolle. In dieser Hinsicht knüpfte Innenminister Heinold ebenfalls an das Beispiel der Sozialversicherung an: Die Regierung strebte danach, Regelungsanspruch und Reichweite in der Kriegsversehrtenfürsorge ohne Belastung des Staatshaushalts zu erreichen. Die Vertreter der Kronländer wollten dieses Abschieben der Kosten jedoch nicht einfach akzeptieren. Franz von Thun und Hohenstein regte im Frühjahr 1915 gegenüber den Beamten des Innenministeriums an, dass in den Vorschriften und der Mustergeschäftsordnung für die Landeskommissionen »ein klarer Satz über die Zuweisung staatlicher Mittel […] enthalten sein [sollte]«.19 In Wien verhinderte die Frage der Bezahlung sogar die erste Konstituierung der Landeskommission für Niederösterreich, da Politiker der Gemeinde Wien und des Landes Niederösterreich zunächst klären wollten, wie »die k. k. Regierung für die Aufbringung der hiefür [die Re-­ Integrationsmaßnahmen; T. S.R.] erforderlichen Mittel Sorge tragen wird.«20 Zu Beginn des Jahres 1915 kündigte Heinold noch staatliche Finanzmittel an,21 schließlich erhielten die Kommissionen jedoch keinen klar festgeschriebenen Betrag aus dem Staatshaushalt.22 In diesem Zusammenhang betrachtete die Regierung die Kronländer zugleich als den Rahmen mit dem höheren zivilgesellschaftlichen Mobilisierungspotenzial.23 Am deutlichsten charakterisierte Josef von Wolf, der verantwortliche 17 ÖStA, AVA, MdI, Präs. 19 Kt. 1862, 5425/1915. 18 Ebd. 19 ÖStA, AVA, MdI, Präs., Teil 2 Kt. 1862, 5425/1915. 20 ÖStA, AVA, MdI, Präs., Teil 2 Kt. 1862, 11453/1915. 21 ÖStA, AVA, MdI, Präs. 19 Kt. 1862, 3501/1915, 2. Bogen. 22 Hsia, War, Welfare and Social Citizenship, S. 60; Pawlowsky u. Wendelin, Die Wunden des Staates, S. 104–105. 23 ÖStA, AVA, MdI, Präs., Teil 2 Kt. 1863, 12545/1915.

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Sektionschef im Innenministerium, die Beziehung zwischen Innenministerium und Landeskommissionen in einer interministeriellen Besprechung mit Beamten des Ministeriums für öffentliche Arbeiten im Dezember 1916. Er betonte, dass die gesamte [Invalidenfürsorgea]ktion keine staatliche Hilfsaktion sei, sondern ihre Träger in erster Linie immer die Landeskommissionen sind und bleiben müssen. […] Auf die Millionen Sammelgelder, die sie aufbringen, könne nicht verzichtet werden […].24

Die cisleithanische Regierung vermied gezielt gesetzlich geregelte finanzielle Verpflichtungen des Staates für die Re-Integrationsmaßnahmen und strebte stattdessen die Mobilisierung der Zivilgesellschaft an. Dabei ging es allerdings nur zum Teil um Spenden. Aufgrund der föderalen Ordnung der sozialen Fürsorge bestanden in den Provinzen zahlreiche entsprechende Einrichtungen, welche die Regierung für die Kriegsversehrtenfürsorge nutzbar machen wollte. Die Landeskommissionen ebenso wie die 1916 als eigene Institution von diesen abgetrennte »Arbeitsvermittlung für Kriegsinvalide« banden daher gezielt Vertreter des Klerus, lokaler, regionaler und überregionaler Wohltätigkeitsvereine wie des Roten Kreuzes oder der Gesellschaft vom Silbernen Kreuz ein. Auf diese Weise erhielt der Staat außerdem Zugang zu Expertenwissen. Innerhalb der Landeskommissionen wurden gemäß der Mustergeschäftsordnung Spezialausschüsse für Heilbehandlung, Schulung und Arbeitsvermittlung eingerichtet. Während der Heilbehandlungsausschuss mit Chirurgen, Orthopäden, Internisten sowie Sachverständigen der Unfallversicherung besetzt war, saßen im Unterrichtsausschuss und im Arbeitsvermittlungsausschuss Mediziner, Direktoren staatlicher landwirtschaftlicher, gewerblicher und kaufmännischer Fachschulen, Vertreter der Landwirtschaft, der Handels- und Gewerbekammern sowie der Krankenkassen, die Zugang zu medizinischen und schulischen Einrichtungen bringen sollten.25 Gemeinsam mit Offizieren bildeten diese Fachleute außerdem sogenannte Berufsberatungskommissionen, die beanspruchten, die Arbeitsfähigkeit von verletzten und erkrankten Soldaten einschätzen und sie dementsprechend individuell passenden beruflichen Ausbildungskursen zuweisen zu können.26 Darüber hinaus band man Unternehmer und Großgrundbesitzer in die Kommissionen ein, von denen man sich nicht nur Geld- und Materialspenden, sondern gerade auch die Besetzung freier Stellen mit Kriegsversehrten erhoffte.27 Diese Überlegungen prägten zudem die Form der Landeskommissionen. Sie waren keine Behörden, sondern die in ihnen tätigen Beamten arbeiteten ebenso 24 ÖStA, AVA, MdI, Allgemeine Reihe [Allg.], Teil 2, Kt. 2030, 5388/1917, S. 2, 4. 25 Siehe ÖStA, AVA, MdI, Präs. 19 Kt. 1862, 5425/1915; Staatliche Landeszentrale für das Königreich Böhmen zur Fürsorge für heimkehrende Krieger, S. 4–5. 26 Siehe ebd., S. 12–13. 27 Hsia, Who Provided Care for Wounded and Disabled Soldiers?, S. 303–306.

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ehrenamtlich wie Mitglieder aus der Zivilgesellschaft.28 Um dies teilweise auszugleichen und trotzdem einen professionellen Verwaltungsapparat zur Verfügung zu haben, legte Innenminister Heinold von Anfang an Wert darauf, dass die Landeskommissionen eng mit den Unfallversicherungsanstalten und Krankenkassen zusammenarbeiteten.29 Wie er bei einer Besprechung mit den Leitern der Unfallversicherungsanstalten vereinbarte, hatten ihre Angestellten die administrativen Aufgaben der Landeskommissionen ehrenamtlich zu übernehmen.30 Allerdings war die Struktur der Unfallversicherung nicht deckungsgleich mit derjenigen der Kriegsversehrtenfürsorge. Denn die Versicherungsanstalten umfassten zumeist mehrere Kronländer in ihrem Zuständigkeitsbereich, sodass diese Kooperation nicht allen Landeskommissionen in gleichem Maße möglich war. In Salzburg, Steiermark, Böhmen und Mähren übernahmen in der Folge die Arbeiter-Unfallversicherungs-Anstalten zusätzlich zu ihren eigent­ lichen Aufgaben die administrativen Tätigkeiten für die Landeskommissionen. In Böhmen wurde der Leiter der Prager Unfallversicherungsanstalt, Robert Marschner, sogar zum Geschäftsführer der Böhmischen Landeszentrale ernannt. Die Sozialversicherung lieferte also nicht nur ein Vorbild für die Governance der Kriegsversehrtenfürsorge, sondern auch manifeste Ressourcen. Die Form der Sozialversicherung seit dem späten 19. Jahrhundert ließ der Regierung im Ersten Weltkrieg nur spezifische Handlungsoptionen, um unter dem wahrgenommenen Zeitdruck rasch rehabilitative Kapazitäten aufzubauen. So vereinbarte Heinold mit den Leitern der Unfallversicherungsanstalten, dass sie erstens den Landeskommissionen bestehende Heilanstalten zur Verfügung stellen und zweitens die Schaffung neuer therapeutischer Einrichtungen finanziell fördern würden.31 In Mähren finanzierte bereits 1915 die Mährische Unfallversicherungsanstalt in Brünn / Brno die Errichtung orthopädischer Abteilungen für mediko-mechanische und physio-therapeutische Behandlung an den Landeskrankenhäusern in Brünn / Brno und Olmütz / Olomouc sowie den städtischen Krankenhäusern Iglau / Jihlava, Kremsier / K roměříž, Mährisch Ostrau /  Moravská Ostrava, Prerau / Přerov, Trebitsch / Třebíč und Znaim / Znojmo durch eine Spende in der Höhe von 50.000 Kronen.32 Eine bedeutende Rolle bei diesem Ausbau spielte außerdem  –  wie in der medizinischen Betreuung der Soldaten an der Front  –  das Rote Kreuz.33 In Budweis / Budějovice wurde die orthopädische Abteilung des Reservespitals des Roten Kreuzes mit mediko-mechanischen Apparaten ausgestattet, und in Eger / Cheb schuf der Herrenzweigverein des Roten Kreuzes ebenfalls ein mediko-mechanisches Institut.34 In Linz 28 Pawlowsky u. Wendelin, Die Wunden des Staates, S. 105. 29 ÖStA, AVA, MdI, Präs. 19 Kt. 1862, 3501/1915. 30 ÖStA, AVA, MdI, Präs. 19 Kt. 1862, 4008/1915. 31 Ebd. 32 Mährische Landeskommission zur Fürsorge für heimkehrende Krieger, S. 4. 33 Biwald, S. 204–236. 34 Staatliche Landeszentrale für das Königreich Böhmen zur Fürsorge für heimkehrende Krieger, S. 17–18.

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richtete der Frauenhilfsverein vom Roten Kreuz 1915 ein chirurgisch-orthopä­ disches Ambulatorium ein und stellte auch die Pflegerinnen.35 Gegenüber der Behandlung verletzter, amputierter oder gelähmter Soldaten wurde die Therapierung Lungenkranker erst im Herbst 1915 vom Kriegsministerium geregelt, die Landeskommissionen planten jedoch schon davor neue Heilanstalten. Aufgrund der Kosten und Dauer von Neubauten bevorzugte das Innenministerium jedoch die Nutzung und den Ausbau bestehender Sanatorien.36 Allerdings bedeutete diese Mobilisierung der Unfallversicherung nicht, dass die Regierung einseitig ihre Ressourcen in Anspruch nahm. Umgekehrt profitierten Ärzte von dem Aufbau zusätzlicher therapeutischer Einrichtungen. Die Unfall- und Krankenversicherungsanstalten hatten ihnen bereits vor 1914 neue Karrierewege und Forschungsgelegenheiten eröffnet. Aufbauend auf ihren Erfahrungen im Umgang mit verletzten oder erkrankten Arbeitern (und Arbeiterinnen) propagierten Chirurgen, Orthopäden, Internisten und Psychiater ihre Behandlungsmethoden als entscheidend für die Re-Integration Kriegsversehrter. Darüber hinaus war die Übereinkunft mit den Unfallversicherungsanstalten an die Bedingung geknüpft, dass die Investitionen in die Kriegsversehrtenfürsorge in das Sozialversicherungswesen zurückflössen: Die neu errichteten Anstalten sollten zu einem späteren Zeitpunkt den Unfallversicherungsanstalten übergeben werden.37 Im Gegensatz zu diesen Investitionen gewährten die Ministerien nur projekt- und anlassbezogene Subventionen. So förderte das Innenministerium 1915 etwa die Gründung orthopädischer Institute für Kriegsversehrte an der deutschen und der tschechischen Universität Prag / Praha.38 Das Ministerium für öffentliche Arbeiten wiederum gewährte Stipendien für Kriegsversehrte.39 Ein anderer Weg der Regierung, die Re-Integrationsmaßnahmen mit minimalem finanziellen Aufwand zu unterstützen, war die Bereitstellung von Personal und Infrastruktur. Insbesondere die Ministerien für Kultus und Unterricht, Landwirtschaft und öffentliche Arbeiten stellten den Re-Integrationsmaßnahmen Schulräumlichkeiten und Lehrmaterialen unentgeltlich zur Verfügung. Darüber hinaus wiesen sie das Lehrpersonal des öffentlichen Bildungswesens an, ohne oder mit nur geringer zusätzlicher Bezahlung Ausbildungskurse für Kriegsversehrte abzuhalten.40 35 Landeskommission zur Fürsorge für heimkehrende Krieger bei der k. k. Statthalterei in Linz, S. 4, 6. 36 Pawlowsky u. Wendelin, Die Wunden des Staates, S. 48. 37 ÖStA, AVA, MdI, Präs. 19 Kt. 1862, 19093/1914. 38 Staatliche Landeszentrale für das Königreich Böhmen zur Fürsorge für heimkehrende Krieger, S. 17. 39 Nárdoní archiv v Praze [NAP], Ministerstvo veřejných prací-Rakousko [MVP-R], Kt. 1044, 144882/1917; o. A., Denkschrift über die von der k. k. Regierung aus Anlass des Krieges getroffenen Maßnahmen, S. 264. 40 Siehe beispielsweise die Beschwerde der Lehrerschaft in Smichow / Smíchov: NAP, MVP-R Kt. 1044, 142608/1917.

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Schließlich musste auch die Beziehung zur Militärverwaltung geklärt werden. Zum wichtigsten Gegenüber der Landeskommissionen avancierten im Verlauf des Krieges die militärischen Regionalbehörden, die Territorialkommanden. Denn auch im Kriegsministerium setzte man zunächst stark auf die regionale Ebene, um die Re-Integrationsmaßnahmen durchzuführen. Das Verhältnis zur Militärverwaltung war nicht von Anfang an von Antagonismen geprägt, sondern zivile staatliche Akteure banden die Streitkräfte gezielt ein. Im Juni 1915 regelte die cisleithanische Regierung mit dem Kriegsministerium die Kompetenz- und damit auch Kostenverteilung zwischen Militär- und Zivilstaatsverwaltung. Neben der finanziellen Versorgung der Kriegsversehrten sollten die Streitkräfte auch Aufgaben im Rahmen der Re-Integrationsmaßnahmen übernehmen. Das Kriegsministerium trug die Kosten der medizinischen Behandlung und Prothesen.41 Außerdem bestritt es den Unterhalt der Betroffenen während ihrer Therapie und beruflichen Ausbildung für die Dauer von maximal einem Jahr.42 Kriegs-, Landesverteidigungs- und Innenministerium kamen überein, dass an die zivilen Anstalten für jeden dort behandelten verletzten Soldaten ein Pauschalbetrag von drei Kronen und für erkrankte Soldaten von vier Kronen pro Tag aus dem gemeinsamen Heeresetat bezahlt werde.43 Im Gegenzug stellte die Zivilstaatsverwaltung Anstalten, Fachkräfte und Mittel für die medizinische Nachbehandlung und Ausbildung zur Verfügung und übernahm für die Arbeitsvermittlung allein die Verantwortung.44 Zwar hatte die Armeeführung auch großes Interesse daran, die Kontrolle über die potenziell wieder militärdiensttauglichen Soldaten zu behalten. Für die zivilstaatlichen Akteure der Kriegsversehrtenfürsorge bot die Kooperation mit der Militärverwaltung jedoch ebenso zwei spezifische Vorteile. Erstens befürchteten Vertreter der Landeskommissionen, dass verletzte und erkrankte Soldaten sich den Therapiemaßnahmen und Schulungskursen verweigern würden. Kriegsversehrte unter militärischer Befehlsgewalt zu belassen, sollte in dieser Hinsicht Abhilfe schaffen. So betonten die Mitglieder der Landeskommission Salzburg in ihrem Bericht über die konstituierende Sitzung an das Innenministerium, dass »die Militärbehörde in der Lage [ist], […] die […] einer solchen Behandlung bedürftigen Krieger […] zu verhalten, sich der ihnen vorgeschriebenen […] Kur zu unterziehen.«45 Militärische Disziplin sollte in der Frühphase der Re-Inte­ grationsmaßnahmen ihren Erfolg gewährleisten.46 Dieser Logik folgte auch die 41 Pawlowsky u. Wendelin, Die Wunden des Staates, S. 107–111. 42 ÖStA, AVA, MdI, Präs., Teil 2 Kt. 1862, 5787/; 6251/1915. 43 ÖStA, AdR, BMfsV, Sek. 2/Kb Kt. 1365, 1244/1918, 1. Einlagebogen. Diese Tagsätze wurden später erhöht. Pawlowsky u. Wendelin, Die Wunden des Staates, S. 106. 44 Ebd., S. 107–108 Grundsätze der Invalidenfürsorge und Abgrenzung der Obliegenheiten der Militär- und Zivilstaatsverwaltung, Erlaß des Kriegsministers vom 8. Juni 1915, Z. 10942, Präs. an Militärkommanden, in: Mitteilungen des k. k. Ministerium des Inneren über Fürsorge für Kriegsbeschädigte 1 (Juli 1915), S. 6–8. 45 ÖStA, AVA, MdI, Präs., Teil 2 Kt. 1862, 5787/1915. 46 Siehe etwa: Ebd., 6251/1915, S. 10.

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kaiserliche Verordnung vom 29. August 1915, die es ermöglichte, Soldaten den Anspruch auf eine Invalidenrente oder auf Unterbringung in einem Invalidenhaus zu entziehen, wenn sie sich der Therapie oder der beruflichen Ausbildung nicht unterziehen wollten oder diese absichtlich verzögerten.47 Dieser autoritäre Gestus geriet jedoch im Verlauf des Krieges in die Kritik und wurde zunehmend durch subtilere Erziehungsmethoden ergänzt. Zweitens entlastete dieses Übereinkommen das Budget der Landeskommissionen, was umso wichtiger war, da ihnen keine staatlichen Mittel zugesichert wurden. Aber auch für die cisleithanische Regierung war dies von Vorteil. Sie musste die Kosten für medizinische Behandlung, Prothesen und Ausbildung so zumindest teilweise nicht unmittelbar aus dem cisleithanischen Staatshaushalt bezahlen. Stattdessen wurden sie zu gemeinsamen Ausgaben Österreich-­ Ungarns, zu denen beide Reichshälften beitrugen.48 Der Großteil der Kosten der Kriegsversehrtenfürsorge wurde daher einerseits vom imperialen Staat Österreich-Ungarn und andererseits von den substaat­ lichen Einheiten der Kronländer getragen. Zudem dienten im Krieg Soldaten aus beiden Reichshälften an den unterschiedlichen Fronten. Daraus resultierte die Frage, welche Form sozialer Zugehörigkeit bei der Verteilung der finanziellen Mittel zum Tragen kommen sollte. Im April 1915 richtete der Vorsitzende der oberösterreichischen Landeskommission ein Schreiben an das Ministerium des Inneren. Eine Instruktion aus Transleithanien warf für ihn schwerwiegende Fragen auf. Darin war festgelegt, dass die dortigen Re-Integrationsmaßnahmen nur Soldaten mit transleithanischer Staatsbürgerschaft zukommen durften. Der Vorsitzende plädierte dafür, dass die Landeskommission Oberösterreich ihre Mittel ebenfalls jenen Soldaten vorbehalten sollte, die vor dem Krieg in Oberösterreich »seßhaft« gewesen waren. Schließlich sollte die Landeskommission Gelder für die Therapie und berufliche Ausbildung Kriegsversehrter durch Spendenaufrufe in ihrem Kronland sammeln.49 Und, so argumentierte der Vorsitzende, die Spendenaufrufe würden einen größeren Erfolg haben, wenn die Gelder nur für Oberösterreicher bestimmt seien.50 Die Ministerialbeamten erklärten sich mit der Zweckbestimmung für oberösterreichische Kriegsversehrte einverstanden. Schließlich hatte das Innenministerium die territoriale Organisationsform der Landeskommissionen bewusst gewählt, weil man sich davon bessere Mobilisierungsmöglichkeiten versprach. Zivilgesellschaftliche Akteure waren also bestrebt, Grenzen für gegenseitige Hilfe im Rahmen der Monarchie festzulegen und bewegten sich in einem gestaffelten »Loyalitätsgefüge«.51 Die cisleithanische Regierung brach zudem mit einer etablierten Form der administrativen Bestimmung von sozialer Zugehörigkeit: dem Heimatrecht. 47 Pawlowsky u. Wendelin, Die Wunden des Staates, S. 146–150. 48 Ebd., S. 107–111. 49 ÖStA, AVA, MdI, Präs., Teil 2 Kt. 1862, 9872/1915. 50 Ebd. 51 Osterkamp, Gefühlshaushalt in Mähren, S. 185–200.

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Anstelle der Heimatgemeinde, die im Laufe des 19. Jahrhunderts für immer weniger Menschen mit dem Wohn- und Arbeitsort zusammenfiel, bestimmte nun der »ständige Aufenthaltsort« die finanzielle Versorgung der Soldaten und wer für die Re-Integrationsmaßnahmen verantwortlich war: Jene Kriegsversehrten und Hinterbliebenen, die keinen staatlichen Unterhaltsbeitrag bezogen, konnten an dessen Stelle beim Gemeindevorstand des ständigen Aufenthaltsortes Anträge auf die staatliche Unterstützung stellen. Der letzte Aufenthaltsort bestimmte zudem, welche Landeskommission für die Therapierung und Ausbildung eines Kriegsversehrten zuständig war. Definiert war der ständige Aufenthaltsort durch den Wohnsitz der Ehefrau und Kinder und / oder Aufenthalt von mindestens sechs Monaten.52 Dadurch waren Kriegsversehrte nicht mehr durch ihre rechtliche Zugehörigkeit zu einer Gemeinde im Staat verortet, sondern durch ihre cisleithanische Staatsbürgerschaft.53 Gewann so einerseits die direkte Bindung der Soldaten zum Staat an Gewicht, zeigt das Beispiel der oberösterreichischen Landeskommission aber auch, dass damit andere soziale Zuordnungen und die Mobilisierung alternativer sozialer Bindungen einhergingen. Schließlich bedienten sich staatliche Akteure selbst nationaler Kategorien bei der Einteilung Kriegsversehrter. Dabei zeigte sich, dass Nationalität zunehmend als unveränderlich gesehen wurde. Zuerst trat dies bei der Koordination der beruflichen Ausbildung verletzter Soldaten auf, bei welcher das zuständige Ministerium für öffentliche Arbeiten bestimmte Einrichtungen provisorisch für Angehörige einer Nationalität verantwortlich machte.54 Im Juni 1915 normierte das Innenministerium in den »Leitsätzen für die staatliche Invalidenschulen-Aktion«, dass bei der Zuweisung der Soldaten zu Schulen »auf Muttersprache und Ansässigkeit«55 Rücksicht zu nehmen sei. Zwar hatte die Zuteilung von Soldaten zu Schulungskursen auf Basis ihrer Sprachkenntnisse und der Unterrichtssprache auch eine pragmatische Dimension. Allerdings sprachen die Verantwortlichen hier nicht mehr von der Umgangssprache der betroffenen Soldaten, wie es noch Ende des 19. Jahrhunderts üblich war, sondern von ihrer M ­ uttersprache. Sprache war damit keine situative soziale Praxis mehr, sondern sie wurde von den Beamten und Fachleuten als objektives Merkmal der Zugehörigkeit zu einer ›Nationalität‹ betrachtet und dazu verwendet, Kriegsversehrte dementsprechenden Kursen zuzuweisen.56 Das daraus resultierende Spannungsverhältnis zwischen der föderalen Struktur der Kriegsversehrtenfürsorge und der nationalen Kategorisierung der betroffenen Soldaten war nicht neu. Bereits in der Rentenversicherung für Angestellte waren die föderale und nationalpolitische Dimension nicht mehr deckungsgleich, aber der cisleithanischen Regierung war es 52 o. A., Weisungen an alle Militärkommanden, S. 9. 53 Pawlowsky u. Wendelin, Die Wunden des Staates, S. 66. 54 ÖStA, AVA, MdI, Präs., Teil 2 Kt. 1863, 8565/1915, in: ebd., 9872/1915. 55 Leitsätze für die staatliche Invalidenschulen-Aktion, Erlaß des Ministers des Inneren vom 15. Juni 1915, Z. 9389 M. I., in: Mitteilungen des k. k. Ministeriums des Inneren über Fürsorge für Kriegsbeschädigte 1 (1915), 1, S. 14, § 3. 56 Stergar u. Scheer.

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gelungen, eine komplementäre Beziehung zwischen beiden herzustellen. In der Kriegsversehrtenfürsorge schuf die Regierung jedoch keine klaren Regelungen zur Beziehung zwischen der föderalen Architektur der Landeskommissionen und der nationalen Zugehörigkeit der betroffenen Soldaten. Lokale Akteure erhielten dadurch Gestaltungsspielräume, was neues Konfliktpotenzial schuf. 2.1 Die administrative Praxis der Re-Integrationsmaßnahmen Die bisherige Forschung beurteilte das Funktionieren dieser Governance-Strukturen vor allem negativ. Die Verwaltung sei der »Schwachpunkt«57 der Fürsorge für Kriegsversehrte gewesen, was vor allem am Verhältnis zwischen Landeskommissionen und Militärverwaltung festgemacht wurde: Die notwendige Kooperation mit der Militärverwaltung habe es der Armee ermöglicht, militärische Interessen bei der Behandlung und Schulung verletzter und erkrankter Soldaten durchzusetzen und die Wiederherstellung der Militärdiensttauglichkeit in den Vordergrund zu stellen.58 Zum einen waren es jedoch Akteure der Zivilverwaltung, welche die Kooperation mit den Streitkräften forderten. Zum anderen übersieht diese Dichotomie, wie wenig ausdefiniert die Kategorie »Kriegsversehrung« und damit auch die Ansprüche der Betroffenen waren. Die Durchführung der Re-Integrationsmaßnahmen war zwar nicht immer von der Kooperation zwischen Zivil- und Militärverwaltung bestimmt. Im Sinne von Susan Leigh Star kann aus dem Fehlen eines Konsenses jedoch nicht unmittelbar Dysfunktionalität abgeleitet werden.59 Vielmehr konnten Problemfälle lokalen Verwaltungshandelns neue Definitions- und Normierungsversuche anstoßen. Das Verhältnis zwischen Militär- und Zivilverwaltung muss aus dieser Dynamik der administrativen Praxis bestimmt werden. Konflikte boten so auch die Gelegenheit, zu lernen und Unklarheiten zu beseitigen, indem zusätzliche Verordnungen veröffentlicht wurden. Die militärische und zivile Staatsverwaltung reagierten einerseits responsiv auf lokale Auseinandersetzungen. Andererseits erzeugte dieser Regelungsmodus auf dem Weg von Verordnungen eine neue Unübersichtlichkeit. Die Vielzahl der beteiligten Zentralstellen beförderte dies. Das Kriegs- und das Landesverteidigungsministerium, das Ministerium des Inneren oder die Ministerien für Kultus und Unterricht, für öffentliche Arbeiten, Ackerbau oder Handel  – je nach Aufgabengebiet waren eine oder mehrere dieser Instanzen zuständig.60 Daraus ging in relativer kurzer Zeit ein ständig wachsender Korpus normativer Vorgaben 57 Pawlowsky u. Wendelin, Die Wunden des Staates, S. 172. 58 Hsia, War, Welfare and Social Citizenship, S. 63, 72; Pawlowsky u. Wendelin, Die Wunden des Staates, S. 107. 59 Star u. Griesemer, S. 387–420; Star, Die Struktur schlecht strukturierter Lösungen; Gießmann, S. 207–209. 60 Pawlowsky u. Wendelin, Die Wunden des Staates, S. 62–71.

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hervor, der lokale Zivil- und Militärbeamte, Spitalskommandanten und Ärzte vor enorme Herausforderungen stellte. Gleichzeitig waren die normativen Vorgaben der Ministerialbürokratie auf ihre Auslegung und Anwendung durch die untergeordneten Behörden angewiesen, um wirksam zu werden. In mehrfacher Hinsicht waren die Jahre 1915 und 1916 daher von Versuchen gekennzeichnet, Kriegsversehrungen administrativ zu erfassen und Ansprüche zu definieren. 2.1.1 »Epistemische Unsicherheiten«: Die Erfassung von Kriegsversehrten Zur Durchführung der Re-Integrationsmaßnahmen mussten die verantwort­ lichen Institutionen die Kriegsversehrten in Dokumenten verzeichnen. Erst dies ermöglichte es, die verschiedenen Formen der Versorgung und Behandlung durchzuführen. Die Schritte des Heilungsprozesses von der Erstbehandlung bis zur rehabilitativen Therapie mussten für die zuständigen Ärzte und Anstalten dokumentiert werden. Für die berufliche Ausbildung benötigten Schulungseinrichtungen Informationen über die Qualifikationen und Kenntnisse der betroffenen Soldaten. Schließlich waren Kriegs- und Innenministerium daran interessiert, einen Überblick über Ausmaß und Formen der Kriegsversehrungen zu erhalten, um gegebenenfalls Anpassungen vorzunehmen. Formulare spielten hier eine zentrale Rolle. Leigh Star bezeichnet Formulare als »Grenzobjekte« (boundary objects), weil sie die Kommunikationsprozesse zwischen verschiedenen Akteursgruppen und Organisationen ermöglichen.61 Gleichzeitig gestalten sie diese Prozesse durch ihr Layout und ihre Struktur auch mit, da darin Anforderungen an und Regeln der Informationserhebung eingeschrieben sind.62 Der Aufbau eines Formulars ist daher nicht beliebig, sondern wurde idealerweise mit der Intention entwickelt, Informationen schnell erfassbar zu machen und dadurch administrative Abläufe zu beschleunigen.63 Das Projekt der Re-Integration verletzter und erkrankter Soldaten war begleitet von der Schaffung neuer und der Anpassung bereits existierender Dokumente. Das Ministerium des Inneren ordnete 1915 an, eine Statistik der »Kriegsbeschädigten« anzulegen. Zu diesem Zweck erstellten die Beamten eine standardisierte Druckvorlage für sogenannte »Zählkarten«.64 Zu zählen waren mithilfe der Karten alle verletzten und erkrankten Soldaten, die einer speziellen Behandlung bedurften, und bereits entlassene Militärinvalide, nicht jedoch jene Soldaten, die »voraussichtlich wieder militärdiensttauglich werden«.65 Mit diesen Bestimmungen schufen die Beamten des Innenministeriums eine begriffliche Unschärfe, indem sie »Kriegsbeschädigte« nochmals von anderen verletzten und erkrankten Soldaten zu trennen versuchten. Die Zählkarten setzten

61 Star, This is Not a Boundary Object, S. 601–617; Star u. Griesemer, S. 411. 62 Brinckmann, S. 124. 63 Becker, Formulare als ›Fließband‹ der Verwaltung?, S. 281–298. 64 o. A., Statistische Erhebungen über Kriegsbeschädigte österreichischer Staatsangehörigkeit. 65 Ebd., S. 22, Hervorhebungen im Original.

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unterschiedliche Arten von Verletzungen und Erkrankungen in Beziehung zu den entsprechenden Therapien und orthopädischen Behelfen. Im Ministerium versprachen sich die Beamten davon zunächst, einen »Überblick« über die betroffenen Soldaten, gegliedert nach Art ihrer Kriegsversehrung, zu erhalten.66 Es handelte sich also um eine quantitative Erfassung, von der man sich erhoffte, Prognosen darüber erstellen zu können, in welchen Regionen Cisleithaniens welche Arten der Versehrtheit häufig auftraten und welche Berufsgruppen davon betroffen waren, um so die Re-Integrationsmaßnahmen steuern zu können.67 Für derartige Quantifizierungen war es jedoch zunächst erforderlich, die Objekte der Zählbarkeit zu definieren. Es mussten potenziell unterschiedliche Phänomene als äquivalent konstruiert werden. Dazu waren, wie historische Untersuchungen der Statistik aufgezeigt haben, Prozesse des Vergleichens, Übersetzens und Aushandelns notwendig.68 Wie Fragen nach dem Beruf vor dem Krieg, der Art der Verletzung oder Erkrankung und die entsprechende Nachbehandlung und Schulung statistisch zu erfassen seien, war im Jahr 1915 noch nicht endgültig geklärt. Die Beamten des Innenministeriums hielten in ihrem ersten Bericht fest, der im April 1916 beim Kriegsministerium einlangte: Die Rubriken »›letzte Berufstätigkeit‹ und über die ›Art der Beschädigung‹«69 seien nicht immer in der Weise ausgefüllt, wie man es erwartet habe, aber noch auswertbar. Trotzdem vermuteten die Beamten, dass gleichzeitig auftretende Krankheiten nicht angegeben worden waren. Die Informationen, die für Anpassungen an den ReIntegrationsmaßnahmen zentral waren, stellten sich jedoch als unbrauchbar heraus: »Die Ausfüllung jener Rubriken […], die darüber Aufschlss [sic] geben sollen, welcher Behelfe die Person bedürftig, bzw. welches Heilverfahren geeignet wäre«, bereite solche Probleme in der Auswertung, »dass von einer Bearbeitung der Angaben […] abgesehen wurde.«70 Dies änderte sich auch im folgenden Jahr nicht. Im Dezember 1916 hielten die Ministerialbeamten unumwunden fest, dass »über den Begriff ›Kriegsbeschädigter‹ verschiedene Auffassungen zur Geltung kommen«.71 Die »epistemischen Unsicherheiten«,72 wie verletzte und erkrankte Soldaten, ihre medizinische Behandlung und berufliche Ausbildung zu dokumentieren seien, zeigte sich bereits in diesen Versuchen einer statis­tischen Erfassung. In der unmittelbaren Verwaltungstätigkeit in den Anstalten und Militärbehörden traten diese Unklarheiten noch deutlicher zutage. Die Herausforderungen der Re-Integrationsmaßnahmen erwuchsen nicht aus der Bürokratie an sich. Die Kriegsversehrtenfürsorge setzte vielfach auf etablierten Verwaltungsapparaten mit eingespielten Routinen auf. Stattdessen 66 Ebd. 67 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1227, 1960/1916. 68 Bhuta u. a., S. 1–29. 69 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1227, 494/1916, S. 4. 70 Ebd., S. 4–5. 71 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1227, 1960/1916. 72 Stoler, S. 14–51.

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resultierten die administrativen Probleme aus diesen »epistemischen Unsicherheiten«: Anhand welcher Informationen waren Kriegsversehrungen zu erfassen? Wer benötigte welche Daten, um über Therapie und Ausbildung zu entscheiden? Die Kriegsversehrtenfürsorge integrierte bestehende Unterlagen und schuf neue Formen der Dokumentation. Die Probleme lagen jedoch darin, dass es oft an Kommunikationsprozessen fehlte, welche die verzeichneten Informationen wieder in das Verwaltungshandeln einspeisten. Das Kriegsministerium führte mit den »Grundsätzen der Invalidenfürsorge« 1915 ein neues Schriftstück ein, die sogenannten »Ausweise«.73 Sie galten jedoch nicht für alle verletzten und erkrankten Soldaten, die eine therapeutische Behandlung oder berufliche Ausbildung erhielten, sondern nur für jene, die zu diesem Zweck an zivile Anstalten überstellt wurden. Sie dienten also dazu, den Kommunikationsprozess zwischen den maßgebenden militärischen Regionalbehörden, den Territorialkommanden, und den Landeskommissionen in kohärente Bahnen zu lenken. Diese Ausweise waren dadurch vor allem für den administrativen Austausch auf regionaler Ebene relevant. Allerdings zeigen diese »Ausweise« auch, wie unklar es zu diesem Zeitpunkt noch war, welche Informationen relevant waren. Denn die Ministerialbeamten im Kriegsministerium gaben diesen Ausweisen keine feste Form, sondern listeten im entsprechenden Erlass lediglich einige Angaben auf, die sie für essenziell erachteten. Darüber hinaus gaben sie den Militärkommanden die Möglichkeit, das Dokument an die eigenen Bedürfnisse anzupassen.74 Daran zeigt sich erneut die Bedeutung, die man im Kriegsministerium den regionalen Militärbehörden gab. Ihnen wurde die Möglichkeit gegeben, flexibel auf regionale Kontexte zu reagieren und Lerneffekte umzusetzen. Neben den Daten, die in der Militärverwaltung der Identifikation der einzelnen Soldaten dienten, wie Name, Geburtsjahr, Rang und militärische Einheit, erfassten die Ausweise auch, in welcher Einrichtung sich der Soldat derzeit befand, welche Art der Therapie und Ausbildung er erhalten bzw. wann diese beginnen sollte. Die Art des Gebrechens und der vor dem Krieg ausgeübte Beruf (sowie ein potenzieller zukünftiger Beruf) waren ebenfalls, jedoch getrennt, einzutragen.75 Dadurch fehlten allerdings die zwei zentralen Kategorien, um die Auswirkungen der Kriegsversehrung zu vermessen: Weder die Minderung der Berufs- oder Erwerbsfähigkeit noch die militärische Tauglichkeit hatten einen designierten Platz auf den Ausweisen. 73 Weisungen an alle Militärkommanden betreffend die unter Mitwirkung der Zivilstaatsverwaltung, beziehungsweise der Fürsorgeaktionen, durchzuführende Nachbehandlung von Kriegsbeschädigten. Erlass des Kriegsministers vom 8. Juni 1915 an die Militärkommanden, in: Mitteilungen des k. k. Ministerium des Inneren über Fürsorge für Kriegsbeschädigte 1 (Juli 1915), S. 8–11. 74 Grundsätze der Invalidenfürsorge und Abgrenzung der Obliegenheiten der Militär- und Zivilstaatsverwaltung, Erlaß des Kriegsministers vom 8. Juni 1915, Z. 10942, Präs. an Militärkommanden, in: Mitteilungen des k.  k. Ministerium des Inneren über Fürsorge für Kriegsbeschädigte 1 (Juli 1915), S. 7. 75 Ebd.

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Am 4. Mai 1916 führten die Beamten des Kriegsministeriums sogenannte »Invalidenpersonalblätter« ein. Dieses neue Formular demonstriert, dass man im Kriegsministerium administrative Probleme erkannte, und gegenzusteuern versuchte. Denn die Personalblätter sollten den Informationsfluss von den regionalen zu den zentralen Stellen standardisieren: Auf ihnen waren die Personalien, die kommissionelle Beurteilung der Tauglichkeit, Zuerkennung und Höhe von Rente und / oder Zulagen, Art der Kriegsversehrung sowie der frühere und angestrebte Beruf einzutragen. Sie waren regelmäßig an das Kriegsministerium und die Landeskommissionen zu schicken.76 Zudem machen die Personalblätter deutlich, dass die Ministerialbeamten dabei auf ein kooperatives Verhältnis zu den zivilen Stellen setzten. Denn sie schrieben die Landeskommissionen explizit als ihr ziviles Gegenüber fest. Schließlich deuten die Personalblätter auf Ansätze einer stärkeren Zentralisierung in der Kriegsversehrtenfürsorge hin. Die Ministerialbeamten waren bemüht, einen besseren Überblick über die Beschlüsse der Militärkommanden zu erhalten. Allerdings blieben so die administrativen Probleme auf der untersten Ebene der Militärverwaltung weiterhin unentdeckt. 2.1.2 Regelungsdynamiken ›von unten‹ Es waren jedoch nicht allein Beamte, die Regelungsprozesse anstießen. Verletzte und erkrankte Soldaten selbst sorgten durch ihre Forderungen auf Teilhabe an den Re-Integrationsmaßnahmen für Dynamiken ›von unten‹, die sukzessive dazu führten, dass Ansprüche näher bestimmt wurden. Im September 1915 wandte sich Rudolf Veron an das 9. Militärkommando in Leitmeritz / Litoměřice und brachte sein Gesuch um finanzielle Versorgung während des Besuches eines Schulungskurses vor.77 Veron war, laut eigenen Angaben, vor dem Krieg als Schuhmacher tätig gewesen, nahm während des Krieges im Landwehr-Infanterieregiment Nummer 9 an den Feldzügen gegen das Zarenreich teil und erlitt am 23. Oktober 1914 eine Verwundung. Infolge dieser Verletzung wurde er am 6. Juli 1915 als »derzeit untauglich, bürgerlich erwerbsunfähig« aus dem Militärdienst entlassen. Veron war dadurch als ›Kriegs­invalide‹ im Sinne des Militärversorgungsgesetzes von 1875 anerkannt und bezog ab 1. August 1915 eine Invalidenrente und eine Verwundungszulage.78 Damit gab sich Veron jedoch nicht zufrieden, sondern bewarb sich erfolgreich um Aufnahme in einen »kaufmännischen Kurs für Kriegsinvalide« an der öffentlichen Kommunalhandelsschule in Saaz / Žatec in Böhmen. Für die Dauer dieses Kurses ersuchte Veron nun um finanzielle Versorgung durch das Militär.79

76 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1227, 129/1916. 77 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1227, 40/1916. 78 Ebd. 79 Ebd.

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Bereits im einleitenden Absatz seines nur abschriftlich vorliegenden Briefes begründete Veron sein Ansuchen mit einem Verweis auf die kaiserliche Verordnung vom 29. August 1915: Der ergebenst Gefertigte gestattet sich himit [sic] unter Bezugnahme auf die Kaiserliche Verordnung von [sic] 29. August 1915 R. G.Bl. Nr. 260 um die im § 6 dieser Verordnung angeführte Vergütung […] [anzusuchen].80

Mit dieser Verordnung war festgelegt worden, dass verwundete Soldaten medizinische Therapie und berufliche Ausbildung zur Wiedererlangung ihrer Erwerbsfähigkeit erhalten sollten. Mit der Verordnung des Innenministers, des Landesverteidigungsministers und des Finanzministers vom 6. September 1915 wurde diese Verordnung für Cisleithanien umgesetzt. Der Paragraf, auf den sich Veron bezog, bestimmte, dass das Militär einen Pauschalbetrag in Höhe von drei Kronen pro Kopf und Tag an die Zivilverwaltung zu leisten habe, wenn die Nachbehandlung und Schulung nicht in einer Militäranstalt erfolgten, sondern in einer Anstalt der jeweiligen Landeskommission.81 Die Art, in der Veron sein Schreiben strukturierte, stellt diese Verordnung in den Mittelpunkt. Da sie nur den Anspruch »gelähmte[r] und verwundete[r] Militärpersonen« auf Vergütung normierte und für erkrankte Soldaten lediglich auf eine zukünftige Regelung verwies, betonte Veron, dass er eine Kriegsverletzung erlitten hatte. Er beließ es jedoch nicht dabei zu erwähnen, dass er als Kriegsinvalider anerkannt worden war, indem er eine Invalidenrente und Verwundungszulage bezog. Stattdessen beschrieb er zuerst die Art und Weise seiner Kriegsverletzung: »durch einen Schrapnelschnuß [sic] an der lingen [sic] Hand und am lingen Pein [sic]«.82 Dadurch betonte er, dass seine Kriegsversehrung eine ›vor dem Feinde‹ erlittene Verletzung war. Während für die Militärverwaltung die aktenmäßige Feststellung von Verons Status als ›Kriegsinvalide‹ bedeutsamer und ausreichend war, erzählte Veron die Ereignisse in chronologischer Reihenfolge. Zuerst schilderte er die Umstände der Verletzung, erst danach ging er auf ihre offizielle Anerkennung als ›Kriegsinvalidität‹ und ihre Dokumentation in den Akten ein. Dieses Vorgehen lässt sich als eine narrative Strategie interpretieren, mit der Veron sich als ›kriegsinvalider‹ Soldat darstellte. Das Ziel der Verordnung war es, die Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit der betroffenen Soldaten zu regeln, weshalb Veron die Auswirkungen seiner Verletzungen auf seine Berufsfähigkeit hervorhob: Sie würden es ihm unmöglich machen, »seinen früheren Beruf als Schuhmacher auszuüben«.83 Veron verortete seine Ansprü80 Ebd. 81 RGBl. 260/1915 Kaiserliche Verordnung vom 29. August 1915 betreffend die ärztliche Nachbehandlung und praktische Schulung der kranken oder verwundeten Militärpersonen; RGBl. 261/1915 Verordnung des Ministers des Innern im Einvernehmen mit den beteiligten Ministern vom 6. September 1915 der verwundeten oder gelähmten Militärpersonen. Verons Verweis auf § 6 bezieht sich auf letztere Verordnung. 82 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1227, 40/1916. 83 Ebd.

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che also gezielt im Rahmen der kaiserlichen Verordnung und schilderte seine Verletzungen unter Rückgriff auf ihr Vokabular. Trotzdem widersprach sein Anliegen grundlegend den Bestimmungen. Die Formulierung des Paragrafen 6 der kaiserlichen Verordnung, auf den sich Veron bezog, war durchaus offen für seine Interpretation. Dort war nicht explizit geklärt, dass die Kostenerstattung an die Zivilverwaltung beziehungsweise die Anstalt erfolgte. Allerdings hatten die Erlässe des Innenministeriums vom 15. März 1915 und vom 17. Juni 1915 sowie des Kriegsministeriums vom 8. Juni 1915 bereits zuvor diese Frage mehrfach ausdrücklich geregelt: Nicht die betroffenen Soldaten sollten direkt finanzielle Unterstützung erhalten, sondern die Kosten für ihre Versorgung waren den verantwortlichen Anstalten zu ersetzen. Wesentlich interessanter als Verons Unkenntnis der Bestimmungen ist jedoch die Reaktion der militärischen Behörden. Trotz der vorangegangenen Erlasse wandte sich das 9. Militärkommando zunächst an das Ministerium für Landesverteidigung. Denn Veron gehörte der Landwehr an, weshalb er in dessen Zuständigkeit fiel und nicht in jene des Kriegsministeriums. Der Kontrast im Schreiben des Militärkommandos zwischen der Beschreibung der administrativen Feststellung von Verons Rentenansprüchen und dem Eingehen auf sein eigentliches Anliegen könnte kaum größer sein. Die Militärbeamten schilderten über den Großteil des Schreibens hinweg, wie Veron, aufgrund bestehender Normen und eines etablierten Verwaltungsprozesses, als ›Militärinvalide‹ anerkannt worden war. Das Militärkommando demonstrierte, dass es etablierte Routinen einwandfrei ausüben konnte. Veron wurde dazu in einen ›Fall‹ transformiert, der anhand eines paper trails von Aktenzahlen auch von anderen Behörden nachvollzogen werden konnte. Verons Anspruch auf finanzielle Versorgung während der beruflichen Ausbildung war für die Beamten des Militärkommandos jedoch scheinbar vollkommen unbestimmt. Erst im abschließenden Satz kamen sie darauf zurück und baten lediglich »um weitere Weisungen«.84 Diese erhielten sie jedoch auch vom Ministerium für Landesverteidigung nicht, denn die Ministerialbeamten wandten sich wiederum mit der Bitte um Stellungnahme an das Kriegsministerium.85 Dieses Vorgehen demonstriert zum einen, dass die Ministerialbeamten in diesen frühen Monaten der Re-Integrationsmaßnahmen dem Kriegsministerium und dessen 9. Abteilung die Entscheidungsgewalt zusprachen. Aber warum war diese ausschlaggebende Rolle notwendig? Es ist eher nicht davon auszugehen, dass die Beamten des Landesverteidigungsministeriums die Rechtslage nicht kannten. Schließlich war die Verordnung vom 6. September 1915 vom Landesverteidigungs-, Innen- und Finanzministerium erlassen worden. Andere als rein juristische Erwägungen müssen dafür gesorgt haben, dass die Entscheidungsgrundlagen unklar erschienen, etwa, ob man einem Kriegsversehrten Unterstüt-

84 Ebd. 85 Ebd.

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zung prinzipiell versagen könne. Schließlich hatte das Kriegsministerium seit Monaten auf die Ausdehnung finanzieller Versorgung hingewirkt. Die Beamten des Kriegsministeriums formulierten ihre Antwort vorsichtig. Schließlich fiel der Erlass nicht in ihren Kompetenzbereich. Man sei zur »authentischen Interpretation der […] Verordnung […] nicht in erster Linie berufen«.86 Diese Zurückhaltung sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie klare Vorgaben aufstellten. Sie deuteten die Richtlinien der Verordnung vom 6. September 1915 in dem Sinne, dass die Rückerstattung der Kosten nicht einzelnen Personen, sondern Anstalten zustehe. Individuen könne kein Anspruch auf finanzielle Versorgung während der Ausbildung gewährt werden, insbesondere nicht angesichts der eigenmächtigen Entscheidung Verons, sich für einen kaufmännischen Kurs anzumelden. Denn bei der Ausarbeitung der Erlasse habe der Gesetzgeber […] nicht daran gedacht […], jedem einzelnen Kriegsbeschädigten, welcher sich nach eigenem Gutdünken, ohne die Kontrolle der Militär- oder Zivilstaatsverwaltung einer ihm genehmen Nachheilung oder Schulung unterzieht, für die Dauer derselben eine Vergütung […] zukommen zu lassen.87

Es ging den Beamten also darum, die Kontrolle über die gesetzten Re-Integrationsmaßnahmen zu wahren und die Wahl der Therapien und Ausbildungskurse beeinflussen zu können. Diesem Zweck dienten auch die erlassenen »Grundsätze der Invalidenfürsorge«, mit denen angeordnet worden war, verletzte und erkrankte Soldaten bis nach Abschluss der Heilbehandlung und Schulung im militärischen Dienstverhältnis zu behalten. Diese Vorgaben hatte das zuständige Militärkommando Leitmeritz / Litoměřice allerdings nicht befolgt und Veron entlassen, was die Ministerialbeamten jedoch mit der zeitlichen Nähe des Erlasses zu Verons Entlassung entschuldigten.88 Erneut zeigte sich in der Reaktion der Beamten des Kriegsministeriums ihre Absicht, die finanzielle Versorgung Kriegsversehrter sicherzustellen. Sie wollten vermeiden, dass betroffene Soldaten die Armenfürsorge oder private Wohltätigkeit in Anspruch nehmen mussten. Daher boten sie zugleich den Lösungsvorschlag an, dass Veron eine finanzielle Versorgung erhielt, allerdings nicht aufgrund eines rechtlichen Anspruches, sondern als »Unterstützung«.89 Dadurch ließen sie dem Kriegsversehrten eine staatliche Beihilfe zukommen, ohne seine Ansprüche anzuerkennen und so einen Präzedenzfall zu schaffen. In diesem Vorschlag zeigt sich die Abwägung verschiedener staatlicher Interessen: Einerseits erachteten es die Beamten als ihre Aufgabe sicherzustellen, dass die ›richtigen‹ Re-Integrationsmaßnahmen ergriffen wurden. Andererseits hatten sie das Ziel, die Fürsorge des Staates gegenüber verletzten und erkrankten Soldaten zu demonstrieren. Der Instanzenzug der Militärverwaltung bis ins Kriegsministe86 Ebd. 87 Ebd. 88 Ebd. 89 Ebd.

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rium ermöglichte zugleich, dass Einzelfälle ›von unten‹ über die lokale Ebene hinaus Klärungs- und Lerneffekte entfalten konnten. Der Fall von Paul Lesser macht deutlich, dass solche Regelungsdynamiken sich auch aus dem Zusammenspiel von Militär- und Zivilstaatsverwaltung entfalten konnten. Ihr Verhältnis in der Auslegung der Ansprüche Kriegsversehrter erschöpfte sich daher nicht in Konflikten. Vor Kriegsbeginn hatte Lesser als Kellner gearbeitet. Am 6. September 1914 wurde er für den Landsturm gemustert und für tauglich befunden. Infolge einer Lungenblutung nach einem Marsch wurde er jedoch bereits am 9. Oktober 1914 nach »nur 12 Tage[n] in mil[itärischer] Dienstleistung«90 wieder aus dem Militärdienst entlassen. Wie bereits bei Veron ist auch bei Lesser der Zeitpunkt der Entlassung aus dem Militärdienst von Bedeutung, da diese vor dem Beginn der Re-Integrationsmaßnahmen erfolgte. Lesser wurde daher nach den ursprünglichen Bestimmungen des Militärversorgungsgesetzes von 1875 beurteilt. Die zuständige militärärztliche Kommission klassifizierte ihn als »waffenunfähig« und hielt zugleich in ihrem medizinischen Urteil fest: »Gebrechen durch die aktive Dienstleistung nicht herbeigeführt«.91 Seine Lungenkrankheit wurde nicht als Kriegsfolge anerkannt, weswegen er keinen Anspruch auf Invalidenrente hatte. Wie Veron strebte auch Lesser danach, die gesundheitlichen und sozio-ökonomischen Folgen seines Kriegseinsatzes durch die neu geschaffenen Re-Integrationsmaßnahmen zu lindern. Anders als bei Veron, der als Militärinvalide galt, bedeutete dies für Lesser jedoch auch seinen Status als Kriegsversehrter durchzusetzen. Wie Lesser von seinen Ansprüchen auf Therapie erfuhr, geht aus den überlieferten Dokumenten nicht hervor. Im Jahr 1915 suchte Lesser erstmals bei der niederösterreichischen Landeskommission um Heilbehandlung an. Ein Grund dafür, dass zwischen Lessers Erkrankung bzw. Entlassung und seinem Ansuchen so viel Zeit verstrich, dürfte darin liegen, dass die Ansprüche erkrankter Soldaten auf Therapie und Ausbildung erst am 15. Oktober 1915 mit einem kriegsministeriellen Erlass geregelt wurden. Mit Zustimmung der Landeskommission wurde Lesser schließlich im Januar 1916 in der niederösterreichischen Lungenheilanstalt Alland aufgenommen, von wo ihn jedoch das Militärkommando Wien im April 1916 wieder abberief. Da er, laut des Bescheides der militärischen Superarbitrierungskommission, nicht als ›Kriegsinvalide‹ anerkannt war, habe er keinen Anspruch auf Heilbehandlung auf Kosten des Militäretats. Lesser sah sich durch diese Entscheidung jedoch in seinen Ansprüchen geschädigt und erhob Einspruch. Dazu wandte er sich an die »Wiener Beratungs- und Fürsorgestelle für Kriegsinvalide und ihre Angehörigen sowie für Hinterbliebene von verstorbenen Kriegern«. Diese Beratungsstelle war vom Wiener Gemeinderat eingerichtet worden und hatte am 26. Oktober 1915 ihre Tätigkeit aufgenommen. Für den christlich-

90 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1418, 206/1917. 91 Ebd.

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sozialen Wiener Bürgermeister Richard Weiskirchner bot die Beratungs- und Fürsorgestelle eine Möglichkeit, sich als omnipräsenter »Kriegsbürgermeister« zu inszenieren, der sich der Sorgen der Wiener Bevölkerung annahm.92 Die Vervielfachung der öffentlichen Aufgaben der Gemeinden während des Ersten Weltkrieges, von der Einrichtung von Suppenküchen, Maßnahmen zur Bekämpfung von Teuerung und Wohnungsnot, Errichtung von Spitälern und Barackenlagern und anderen Maßnahmen der sozialen Fürsorge, konnten nur durch die Aufnahme von (staatlichen) Krediten und Anleihen finanziert werden.93 Die Gemeinde verfolgte daher mit der Fürsorgestelle noch ein anderes Ziel: Alle diese Personen [Kriegsversehrte, die bei privaten Armeneinrichtungen oder beim Magistrat um Unterstützung ansuchten; T. S.R.] sind einer Verfügung der Magistratsabteilung XI zufolge, ehe ihnen noch eine Unterstützung gewährt wird, an die Beratungsstelle zu weisen, [um] zu untersuchen, ob nicht ein Rechtsanspruch gegen den Staat besteht, der dann sofort für die Partei geltend gemacht wird.94

Es war daher explizit das Ziel der Beratungsstelle, Kriegsversehrte und Angehörige eingerückter sowie gefallener Soldaten in ihren Ansprüchen gegenüber dem Zentralstaat zu unterstützen und dadurch zusätzliche Belastungen des kommunalen Budgets zu vermeiden.95 Nachdem Lessers Anliegen vom Militärkommando Wien am 31. Oktober 1916 neuerlich abgewiesen worden war, wandte sich die Beratungsstelle am 11. Dezember 1916 in Lessers Angelegenheit an das Kriegsministerium und legte zwei Protokolle vor, aufgenommen am 22. September und 9. Dezember 1916, in denen Lesser seine Ansprüche vor der Beratungsstelle darlegte. Die beratende Funktion der kommunalen Einrichtung scheint in den Protokollen jedoch nicht auf. Eine Interaktion zwischen dem Amtsleiter und Lesser lässt sich aus den »Aufnahmsschriften«, die von beiden handschriftlich unterzeichnet wurden, nicht nachvollziehen. Stattdessen nahm sich die Beratungsstelle nicht nur stilistisch, sondern auch inhaltlich im Protokoll zurück. Lessers Ansprüche werden darin in der ersten Person in kurzen, knappen Sätzen und einer kohärenten Erzählung wiedergegeben, ohne Unterbrechungen oder Korrekturen.96 Die Protokolle sind also nicht unkritisch als direkte Wiedergabe von Lessers Aussagen zu lesen, sondern könnten in einer Dialogsituation mit den Beamten der Beratungsstelle entwickelt worden sein. Die Argumentationsweise, die darin zum Ausdruck kommt, ist deswegen aber nicht weniger aufschlussreich. Schließlich wird gerade in diesen Aushandlungssituationen ›im Amt‹ über die 92 Boyer, Culture and political crisis in Vienna, S. 373–375; Hsia, War, Welfare and Social Citizenship, S. 47. 93 Enderle-Burcell, S. 280–281; Mertens. 94 o. A., Die städtische Kriegsinvaliden-Beratungsstelle in Wien, S. 59. 95 Hsia, War, Welfare and Social Citizenship, S. 47. 96 Niehaus u. Schmidt-Hannisa, S. 7–23; Becker, ›Recht schreiben.‹ Disziplin, Sprachbeherrschung und Vernunft, S. 52–55, 64–73; ders., ›Das größte Problem ist die Hauptwortsucht.‹.

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Durchführbarkeit politischer Vorgaben und die Rechtmäßigkeit von Ansprüchen entschieden.97 Lessers so überlieferte Argumentationsweise griff stark auf jene Definition von ›Krankheit‹ zurück, wie sie der Verwaltungsgerichtshof nach Einführung der Krankenversicherung schrittweise durchgesetzt hatte. Dieses Wissen stammte wahrscheinlich aus der Beratung vor Ort. Die Superarbitrierungskommission hatte Lessers Krankheit deshalb nicht als Kriegsfolge anerkannt, weil er selbst angegeben hatte, bereits vor dem Krieg lungenleidend gewesen zu sein.98 Während die Superarbitrierungskommission damit von einem statischen pathologischen Zustand ausging, der den positiven Befund seiner Musterung ignorierte, stellte Lesser die Auswirkungen auf seine Arbeitsfähigkeit ins Zentrum seiner Krankheitsgeschichte: Vor zk. 8 Jahren hatte ich eine Rippenfellentzündung, deretwegen ich zk. 8 Wochen im Krankenstande war. Ich arbeitete sonach wieder durch zk. 4 Jahre ohne Krankheit bis ich im Jahre 1911 oder 1912 ein Exultat unter der letzten Rippe bekam. […] Ich wurde ausgeheilt und konnte von da ab ungestört meiner Arbeit nachgehen. Ich war auch seit dieser Zeit nicht mehr auch nur einen Tag im Krankenstande bis zu meiner Superarbitrierung.99

Nicht das Vorhandensein eines pathologischen Zustandes, sondern allein dessen Auswirkungen auf seine Arbeitsfähigkeit waren für Lesser von Bedeutung. Diese Argumentation entsprach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bei chronischen Krankheiten. In mehreren Fällen hatten die Richter gegen Krankenkassen entschieden, die sich weigerten, die Kosten für Heilbehandlung zu übernehmen, wenn eine chronische Krankheit neuerlich ausbrach. Demgegenüber hielt der Verwaltungsgerichtshof fest, dass die betroffene Person als ›gesund‹ im Sinne des Krankenversicherungsgesetzes anzusehen sei, sofern eine Phase der Arbeitsfähigkeit zwischen diesen Krankheitsfällen lag. Darauf bezog sich Lesser, wenn er deutlich machen wollte, dass seine Lungenerkrankung vor dem Krieg nur temporäre Auswirkungen gehabt habe. Denn zwischen den Krankheitsperioden lagen immer wieder Zeiten, in denen er erwerbsfähig, also gesund gewesen sei. Seine temporäre Arbeitsfähigkeit nutzte er als Kontrastfolie, um die Schädigung seiner Gesundheit und Erwerbsfähigkeit durch den Militärdienst hervorzuheben: Während ich nun wie bereits erwähnt vor meinen [sic] Einrücken vollkommen in der Lage war, meinem Berufe nachzugehen, bin ich nun nach der Superarbitrierung nicht im Stande mein Brot zu verdienen.100

Gleichzeitig deckten sich der Zweck, den Lesser mit der angestrebten Therapie verfolgte, mit dem offiziellen Ziel der Re-Integrationsmaßnahmen. Denn er 97 Garot, S. 157–184; grundlegend: Lipsky. 98 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1418, 206/1917. 99 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1418, 206/1917; Hervorhebung im Original. 100 Ebd.

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wollte dadurch die »Erwerbsfähigkeit, die ich vor meinem Einrücken hatte, wieder […] gewinnen«.101 Lesser, ob mit oder ohne Unterstützung der Beratungsstelle, argumentierte mithilfe der Definition von ›Krankheit‹ des Krankenversicherungswesens dafür, dass seine Krankheit als Kriegsfolge anerkannt werde. Diese Interpretation war mit der Definition von Kriegsversehrungen über die Schädigung der Berufsfähigkeit durchaus kompatibel, wie sich in der Reaktion der Beamten des Kriegsministeriums zeigt. Die Gruppe für Invalidenfürsorge des Kriegsministeriums, welche diesen Fall schließlich entscheiden musste, hielt im März 1917 gegenüber dem Militärkommando Wien fest, dass auch verletzte und erkrankte Soldaten, deren bereits bestehendes Leiden der Kriegseinsatz verschlimmert hatte, Anspruch auf Re-Integrationsmaßnahmen hätten. Dieser dürfte ihnen nur abgesprochen werden, wenn das Fehlen eines Kausalnexus zwischen der aktiven Militärdienstleistung und der Krankheitsverschlimmerung nicht nur ›angenommen‹ werden kann, sondern feststeht.102

Bei Lesser sei ein solcher Zusammenhang nicht nur anzunehmen, sondern erwiesen, da die Lungenblutung nach einem militärischen Marsch auftrat. Er sei daher zur Therapie in der Heilanstalt einzuberufen.103 Diese Einzelentscheidung wandelte die Gruppe für Invalidenfürsorge zudem in prinzipielle Vorgaben über den Zweck der Re-Integrationsmaßnahmen um. Am 18. Juli 1917 publizierte sie diese Passagen ihrer Antwort an das Militärkommando Wien nahezu wortgleich als Erlass »Auslegung des Begriffes ›Kriegsbeschädigter‹«. Für die Beamten des Kriegsministeriums stellte das Vorgehen des Militärkommandos gegenüber Lesser keinen Einzelfall dar, sondern verwies auf allgemeinere Probleme. In diesem Erlass betonten die Ministerialbeamten, dass »bei der Beurteilung, ob eine Militärperson als Kriegsbeschädigter […] anzusehen ist, kein engherziger Massstab angelegt werden darf«.104 Der Staat habe kein Interesse an einer restriktiven Auslegung der Ansprüche auf Nachbehandlung und Schulung, so argumentierten die Beamten. Denn die finanziellen Kosten für Therapie- und Schulungsmaßnahmen, die dem Staat durch mehr Ansprüche entstünden, wögen weniger schwer als der Schaden einer restriktiven Auslegung der Bestimmungen. Denn diese hätte zur Folge, dass viele Personen mangels entsprechender Nachbehandlung bei ihrem Wiedereintritt in das Wirtschaftsleben, Schiffbruch erleiden und dann, hiedurch [sic] entmutigt, für immer aus dem Erwerbsleben ausgeschaltet werden.105 101 Ebd. 102 Ebd., Hervorhebung im Original. 103 Ebd. 104 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1418, 206/1917. 105 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1418, 206/1917; Auslegung des Begriffs »Kriegsbeschädigter«; Erläuterung zu dem Erlasse I. F. Nr. 287/15, Erlaß des k. u. k. Kriegsministeriums vom

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Die Beamten sahen sich offenbar im Jahr 1917 erneut genötigt gegenüber den untergeordneten Behörden den Zweck der Re-Integrationsmaßnahmen und ihre sozio-ökonomische Sinnhaftigkeit zu verteidigen. Sie stellten außerdem die Schädigung der Erwerbsfähigkeit als Anspruchskriterium für Therapie und berufliche Ausbildung in den Mittelpunkt. Die Interaktion zwischen zivilen und militärischen Stellen im Fall Lesser war so zwar zunächst von divergierenden Standpunkten geprägt, diese führten jedoch zu neuen Regelungsansprüchen des Kriegsministeriums. Nicht Kooperation, sondern Konflikt sorgte so für eine zumindest normative Festigung des Ziels der Re-Integration innerhalb der Militärverwaltung. Dabei war es kein Zufall, dass die Beamten des Kriegsministeriums dies 1917 tun mussten. In diesem Jahr setzte ein verstärkter Reflexionsprozess in der Militärverwaltung über Herausforderungen und Probleme im Umgang mit Kriegsversehrten auf der untersten administrativen Ebene ein. 2.1.3 Konfliktlagen und Anpassungsleistungen im weiteren Verlauf des Krieges Das Jahr 1917 war geprägt von Spannungen zwischen der Zivilstaats- und Militärverwaltung, aber auch innerhalb der Militärverwaltung. Im Zentrum dieser Auseinandersetzungen stand die Frage, wie bei der Therapie und Ausbildung von verletzten und erkrankten Soldaten angemessen zu verfahren sei. Die Konfliktlinien verliefen dabei nicht eindeutig zwischen militärischen und zivilen Akteuren entlang der Ziele Tauglichkeit oder soziale Re-Integration. Vielmehr führten diese Debatten dazu, dass gerade Beamte des Kriegsministeriums und Militärbeamte auf regionaler Ebene die Bedeutung der Re-Integrationsmaßnahmen gegenüber dem erneuten Kriegseinsatz der betroffenen Soldaten durchzusetzen versuchten. Allerdings waren auch jene Akteure, welche die militärische Tauglichkeit als primäres Beurteilungskriterium verletzter und erkrankter Soldaten propagierten, bemüht, die Probleme in der Durchführung der Re-Inte­ grationsmaßnahmen zu beheben. Sie sahen die Lösung dafür jedoch vor allem in einer strikten Trennung ziviler und militärischer Einflusssphären und somit auch Entscheidungsgrundlagen. Daher sollte sich die Militärverwaltung auf etablierte militärische Kategorien rückbesinnen. Damit soll nicht gesagt werden, dass die Implementierung der Re-Integrationsmaßnahmen vor 1917 reibungslos verlief, ganz im Gegenteil. Von Anfang an brachten sie verschiedene Akteure zusammen, die unterschiedliche Auffassungen von den Zielen und den Interessen des Staates hatten. Wie die Beispiele Rudolf Verons und Paul Lessers gezeigt haben, ging es einerseits darum, wer Zugang zu Therapie und Ausbildung auf Staatskosten erhalten sollte. Andererseits drehten sich zahlreiche Auseinandersetzungen um die multiplen Anforderungen, die mit Beginn der Re-Integrationsmaßnahmen an die Militärverwaltung, Sanitätsanstalten und zivilen therapeutischen Einrichtungen sowie

18. Juli 1917, Abt. I. F., Nr. 621, in: Mitteilungen des k. k. Ministeriums des Inneren über Fürsorge für Kriegsbeschädigte 3 (1917), 26/27, S. 308–309.

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die Fachschulen gestellt wurden: Sie sollten sowohl die militärische Diensttauglichkeit als auch die bürgerliche Erwerbsfähigkeit der betroffenen Soldaten wiederherstellen.106 Die betroffenen Soldaten im militärischen Dienstverhältnis zu behalten, was die Landeskommissionen Anfang 1915 noch befürwortet und gefordert hatten, erwies sich rasch als konfliktträchtig. Zeitgenössische Publikationen sprachen dieses Spannungsverhältnis zwischen den Zielsetzungen der Therapien und Schulungskurse, einerseits die Soldaten einer Erwerbstätigkeit zuzuführen und andererseits ihre Militärdiensttauglichkeit wiederherzustellen, kaum offen an. Sie propagierten vielmehr die erneute Militärdiensttauglichkeit als Erfolg der medizinischen Behandlung. So hieß es etwa im Rechenschaftsbericht der »Deutschböhmischen Fürsorgestelle für Kriegskrüppel«: Die solchermaßen durchgeführte Heilbeschäftigung [Arbeit in bäuerlichen Betrieben; T. S.R.], welche bis nach Beendigung der Erntearbeiten im Monat Oktober andauerte, zeitigte gute Erfolge. Mancher Kriegsbeschädigte konnte als vollkommen geheilt und gekräftigt wieder zu seiner Truppe zurückkehren, während andere als zu Hilfsdiensten geeignet gleichfalls militärische Verwendung fanden.107

In zahlreichen internen Dokumenten fielen die Reaktionen jedoch ambivalenter aus. So vermerkte Josef Svatoš, Vertrauensmann des Ministeriums für öffent­liche Arbeiten für die tschechischsprachigen Schulungskurse für Kriegsversehrte in Böhmen, in seinem Bericht an das Ministerium vom 4. Mai 1916 kritisch: In der »Invalidenschule« in Smíchov, einem Stadtteil von Prag / Praha, könne der Unterricht nur unregelmäßig durchgeführt werden, weil die »Invaliden auch noch verschiedenen militärischen Obliegenheiten nachzukommen haben […] welche von den militärischen Organen wichtiger als Schulung betrachtet werden«.108 Auch Unternehmer beschwerten sich angesichts des Arbeitskräftemangels über die erneute Abberufung zur militärischen Dienstleistung von eben erst angestellten kriegsversehrten Soldaten.109 Die Frage, wann die therapeu­ tische Behandlung und berufliche Ausbildung ihren Zweck erfüllt hatte und beendet werden konnte, war also bereits 1916 virulent. Umgekehrt sahen Angehörige des Militärs den Umstand kritisch, dass Soldaten in zivilen Einrichtungen untergebracht waren.110 Diese ambivalente Position der Kriegsversehrten zwischen arbeitenden Bürgern und Soldaten bereitete den Behörden Probleme, obwohl oder gerade weil die Armee in zivilen Anstalten gleichermaßen für die militärische Disziplin verantwortlich war. Als im Jahr 1916 an der kommunalen Handelsschule in Königinhof an der Elbe / Dvůr 106 Pawlowsky u. Wendelin, Die Wunden des Staates, S. 136–138. 107 o. A., Die Deutschböhmische Fürsorgestelle für Kriegskrüppel und Kriegsverletzte mit dem Sitze in Reichenberg, S. 66. 108 NAP, MVP-R Kt. 1043, 30978/1916. 109 NAP, MVP-R Kt. 1044, 48323/1917. 110 Siehe dazu für Deutschland: Enzensberger, S. 288–319.

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Králové nad Labem Disziplinarprobleme mit den verletzen und erkrankten Soldaten auftraten, die dort einen kaufmännischen Invalidenkurs besuchten, löste dies innerhalb des Militärkommandos eine prinzipielle Debatte über den Status verletzter und erkrankter Soldaten in den Re-Integrationsmaßnahmen aus. Die mehrheitlich tschechischsprachigen Soldaten, die den Kurs besuchten, waren in einer Turnhalle des tschechischsprachigen nationalen Turnervereines »Sokol« untergebracht. Die Turnhalle war zwar dem Militär vom Roten Kreuz als Vereinsreservespital zur Verfügung gestellt worden, wurde jedoch von einem lokalen Fabrikangestellten verwaltet. Die Aufrechterhaltung der Disziplin oblag wiederum einem Landsturm-Unteroffizier, der jedoch die tschechische Sprache nicht oder kaum beherrschte.111 Der wiederholte Besuch eines Kinos oder Gasthauses durch die Kursteilnehmer nach neun Uhr abends, Alkoholkonsum und mehrere Streitereien und Handgreiflichkeiten unter den Kriegsversehrten lieferten Anlass dafür, eine Untersuchung einzuleiten. Dabei wurde aufgedeckt, dass ein Lehrer der Handelsschule scheinbar die Soldaten auch in ihrer Freizeit besucht und ihnen eigenmächtig die Erlaubnis erteilt hatte, die Unterkunft zu verlassen. Hinzu kam, dass der Betreiber des Quartiers beschuldigt wurde, einen Teils des Pauschalbetrags für die Verpflegung der Soldaten unterschlagen zu haben.112 Schließlich beanstandete der Unteroffizier, dass die Korrespondenz des Vereinsspitals mit einem tschechisch- und nicht deutschsprachigen Briefkopf versehen war.113 Die Disziplinarprobleme in Königinhof / Dvůr Králové erwuchsen aus konfliktträchtigen lokalen Verhältnissen, die jedoch durch allgemeinere Entwicklungen in der Armee besondere Brisanz erlangten. Die Armeeführung stand nationalistischen Aktivitäten bereits vor dem Ersten Weltkrieg sehr misstrauisch gegenüber.114 Die ersten Kriegsmonate brachten jedoch so schwere Verluste an erfahrenen Berufsoffizieren mit sich, dass die Armee zunehmend auf nur kurz ausgebildete Reserveoffiziere zurückgreifen musste, die zudem meist nur eine Sprache beherrschten.115 Daraus entwickelte sich eine Dynamik in der Armee, die von Vorurteilen und Repressionen gegenüber nicht-deutschsprachigen Soldaten und in Reaktion darauf einer schrittweisen Nationalisierung geprägt war.116 Nach dem Prozess um das mehrheitlich tschechischsprachige Infanterieregiment Nr. 28, das von Franz Joseph I. am 26. April 1915 zu Unrecht wegen ›Feigheit vor dem Feind‹ aufgelöst worden war, stand spezifisch die Loyalität tschechischsprachiger Soldaten auf dem Prüfstand.117 Der Lehrer, ein Zivilist, der sich wiederholt Zutritt zum Quartier verschaffte, sich mit den Soldaten auf Tschechisch unterhielt und die Autorität des 111 VÚA, VHA, KK9, MA Kt. 221, 55-42/10-14 (31.05.1916). 112 Ebd.; ebd., 55-42/10-12 (22.05.1915). 113 Ebd., 55-42/10-11 (25.04.1916). 114 Deák, S. 134, 183; Cornwall, Morale and Patriotism in the Austro-Hungarian Army, 1914– 1918, S. 175–176; Überegger, Politik, Nation und Desertion. 115 Deák, S. 193–195; Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg, S. 288–289; 116 Überegger, Politik, Nation und Desertion, S. 117–119. 117 Lein, S. 53–201.

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Unteroffiziers untergrub, war daher höchst verdächtig. Zumal unter den Soldaten auch ein Buch kursierte, das dem Unteroffizier »sofort als vollkommen antimilitaristisch erschien«118 und das er als »ein Hetzbuch gegen das Deutschthum«119 beschrieb. Dabei konnte er sich jedoch nur auf die Bilder in dem Buch stützen, da er den Text »nicht verstand, weil ich zu wenig die böhmische Sprache beherrsche«.120 Alles das machte aus den Missständen mehr als bloße Disziplinarprobleme, vielmehr bestand die Sorge, dass der Lehrer ins Quartier kam, »um dort unter den Invaliden zu agitieren.«121 Der verantwortliche Unteroffizier gab außerdem zu Protokoll, dass einige der Kursteilnehmer, die bereits als Militärinvalide aus dem Militärdienst entlassen worden waren, seine Autorität herausforderten und ihm gegenüber behaupteten, »dass sie [als] Zivilisten […] mir nicht so wie Soldaten zu gehorchen brauchen und als Invaliden [sic] ueberhaupt ganz anders behandelt werden sollen.«122 Die erneute Unterordnung von bereits entlassenen, als Militärinvaliden anerkannten Männern unter militärische Befehlsgewalt hatte das Potenzial, militärische Hierarchien zu untergraben, was angesichts der nationalen Spannungen mit besonderem Misstrauen betrachtet wurde. Auch wenn andere Kursteilnehmer die militärische Disziplin akzeptierten, genügten einige wenige Männer, um ihre Fragilität deutlich zu machen. Dies machte die gemeinsame Unterbringung von verletzten und erkrankten Soldaten und ›Kriegsinvaliden‹ für manche Militärbeamte besonders problematisch. Der Militäranwalt des Landwehrdepartements des 9. Militärkommandos in Leitmeritz / Litoměřice erblickte in diesem unklaren Status der Militärinvaliden, in ihrer »Doppelstellung […] als Zivilisten und Militärpersonen«,123 die tieferliegende Ursache des Problems. Er regte daher an, entweder verletzte oder erkrankte Soldaten aus dem Militärdienst zu entlassen und Nachbehandlung und Schulung dadurch zu einer rein zivilen Angelegenheit zu machen oder aber alle Anstalten in militärische Einrichtungen umzuwandeln und dadurch klare Kompetenzverhältnisse zu schaffen.124 Einer solchen radikalen Umgestaltung der Struktur der Re-Integrationsmaßnahmen widersprach der Sanitätschef des Militärkommandos in dreifacher Hinsicht: Erstens laufe sie den bestehenden Vorschriften zuwider. Zweitens seien diese keineswegs unklar, sondern würden im Gegenteil bestimmen, dass militärische Autoritäten für die Aufrechterhaltung der Disziplin allein verantwortlich seien. Drittens verwies der Sanitätschef interessanterweise auf die Kooperation zwischen militärischen und zivilstaatlichen Behörden und betonte, dass Beschwerden über die Lehrer118 VÚA, VHA, KK9, MA Kt. 221, 55-42/10-11 (25.04.1916). 119 Ebd. 120 Ebd. 121 VÚA, VHA, KK9, MA Kt. 221, 25863. 122 VÚA, VHA, KK9, MA Kt. 221, 55-42/10-14 (31.05.1916). 123 Ebd., 55-42/10-11 (25.04.1916). 124 Ebd.

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schaft mithilfe der Landeszentrale zu klären seien.125 Dem Lehrer der Handelsschule wurde schließlich der Kontakt zu den Kriegsversehrten außerhalb der Kurszeiten untersagt, und das Militärkommando überantwortete die Aufsicht einem anderen Unteroffizier.126 Ein Monat später ordnete es außerdem an, dass mit dem Ende des Kurses die berufliche Ausbildung für Kriegsversehrte in Königinhof / Dvůr Králové einzustellen sei.127 Dieses weitere Vorgehen des Militärkommandos geschah allerdings entgegen der Interpretation des Militäranwalts in Zusammenarbeit mit den zivilen Stellen Statthalterei und Landesschulrat. Neben diesen Auseinandersetzungen traten darüber hinaus 1917 die Mängel im Verfahren der lokalen Militärverwaltung zutage. Zwei Entwicklungen beförderten dies: Erstens stieg der Mobilisierungsdruck Ende 1916 weiter an, um die Verluste der Armee auszugleichen. Zweitens erzeugte das Übereinkommen zwischen Zivilstaats- und Militärverwaltung aus dem Jahr 1915 über die Verteilung der Kosten Druck. Denn die Armee war nur verpflichtet, den Unterhalt Kriegsversehrter während Therapie und Ausbildung für die Dauer eines Jahres zu bestreiten. Der Militärverwaltung fehlte jedoch ein Überblick darüber, welche Kriegsversehrten diese Frist bereits erreicht hatten. Noch 1915 hatte sich die Armeeführung damit gebrüstet, innerhalb weniger Wochen die schweren Verluste der Anfangsmonate ausgleichen zu können. Im Oktober 1916 hatte sich das Blatt gewendet. Durch die Brussilow-Offensive verlor die österreichisch-ungarische Armee 475.000 Mann. In der Folge verschärften sich die Bemühungen um die Mobilisierung zusätzlicher Soldaten sowie die politischen und sozialen Konflikte um Freistellungen vom Militärdienst.128 Auf einer Armeekonferenz im Oktober 1916 mussten sich die teilnehmenden Offiziere eingestehen, dass die Habsburgermonarchie bei der »Auswertung des Menschenmaterials […] an der Spitze aller kriegführenden Staaten«129 stehe und man bei der Mobilisierung der männlichen Bevölkerung, etwa durch eine Ausdehnung der Landsturmpflicht, »kaum mehr weiter gehen« könne.130 Vonseiten der Armeeführung stieg daher der Druck, möglichst viele jener Männer, die sich bereits im Militärdienst befanden, für den Einsatz an der Front freizumachen. Als Ziel des weiteren Vorgehens vereinbarten die Konferenzteilnehmer daher, das administrative Personal zu verringern und allgemein »die verschiedenen Kategorien von Mannschaften […] immer schärfer in die Hand zu bekommen […]«.131 Dies bedeutete insbesondere, verletzte und erkrankte Soldaten möglichst rasch wieder militärdiensttauglich zu erklären.132 Allerdings war es nicht nur die Armeeführung, welche die Kontrolle der Militärdiensttauglichkeit in den Fokus 125 Ebd. 126 VÚA, VHA, KK9, MA Kt. 221, 55-42/10-14 (31.05.1916). 127 VÚA, VHA, KK9, MA Kt. 221, 55-42/10-18 (17.06.1916). 128 Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg, S. 555. 129 VÚA, VHA, KK9, Praes. 9850/1916, S. 48. 130 Ebd., S. 49. 131 Ebd., S. 2. 132 Ebd., S. 2–3.

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der Militärbehörden rückte. Auch die Bevölkerung achtete auf die körperliche Verfassung jener Männer, die aus unterschiedlichen Gründen vom Militärdienst befreit oder als untauglich klassifiziert waren. Bei den Militärbehörden gingen zahlreiche Anzeigen über unrechtmäßige Befreiungen von der militärischen Dienstleistung und vorgetäuschte Untauglichkeit bei der Musterung ein. Der Militärdienst entwickelte sich so im Verlauf des Krieges zum Prüfstein nicht nur von Männlichkeit und Patriotismus, sondern auch von sozialer Gerechtigkeit.133 Dadurch stieg das Spannungsverhältnis zwischen den Anforderungen an die Militärverwaltung, einerseits die Erwerbsfähigkeit, andererseits die Militärdiensttauglichkeit kriegsversehrter Soldaten wiederherzustellen. Im April 1917 schwächte das Kriegsministerium durch eine Revision der Tauglichkeitsklassifikationen die Auswirkungen bestimmter Gebrechen auf die Beurteilung der Diensttauglichkeit ab. Dieses Vorgehen führte dazu, wie das Kriegsministerium im Erlass selbst eingestand, dass »unter den Leuten mit B-Befund [d. h. »Tauglich zu Hilfsdiensten«; T. S.R.] sich welche befinden werden, die eine 20 prozentige Herabsetzung der Berufsfähigkeit aufweisen.«134 Der Erlass führte zwar aus, welche Auswirkungen dies auf den Anspruch der Betroffenen auf Invaliden­ renten hatte  – er wurde bis zum Ende der aktiven Militärdienstleistung ausgesetzt, blieb ihnen jedoch erhalten.135 Über das Vorgehen bei Therapie und Schulung der Betroffenen waren jedoch keine Angaben enthalten. Die untergeordneten Behörden und Sanitätsanstalten hatten daher im Umgang mit diesen Soldaten einen Ermessensspielraum. Am 13. März 1917 ordneten die Ministerialbeamten zudem per Erlass an, die Vereinbarung aus dem Jahr 1915 schärfer zu überprüfen. Sie verpflichtete die Armee dazu, die Kosten für die Verpflegung verletzter und erkrankter Soldaten während ihrer Therapie und Ausbildung für ein Jahr aus dem Militäretat zu finanzieren. Zwar erlaubte die Gruppe für Invalidenfürsorge die Fortsetzung der Nachbehandlung in militärischen Anstalten über ein Jahr hinaus, allerdings mussten die Soldaten zuerst einer militärischen Kommission vorgeführt werden, um ihre (Un-)Tauglichkeit festzustellen. Zudem sollte die Zivilstaatsverwaltung die weiteren Kosten der Nachbehandlung und Schulung tragen.136 Dies hätte für die Landeskommissionen gravierende Folgen gehabt. Die staatliche Landeszentrale in Böhmen wandte sich daraufhin mit einer Eingabe an das Kriegsministerium und hielt fest, dass »sie einfach nicht in der Lage wäre, den mit der Schulung der Kriegsbeschädigten auf ihre […] Kosten verbundenen Aufwand im Hinblicke auf die beschränkten Mittel […] zu tragen.«137 Sie rechnete allein für 133 Healy, Vienna and the Fall of the Habsburg Empire, S. 262–279; u. a.: VÚA, VHA, KK9, MA Kt. 226, 4-30/4-9, 4-30/50, 4-30/66, 4-30/93-8, 4-30/131, 4-30/151. 134 Erlaß vom 24. April 1917, Kriegsministerium Abt. 9, Nr. 28000/1917, in: Beiblatt zum Verordnungsblatt für das k. u. k. Heer Nr. 22 (30. April 1917), S. 204. 135 Ebd. 136 VÚA, VHA, KK9, MA Kt. 232, 55-6/5-92II (29.10.1917). 137 VÚA, VHA, KK9, MA Kt. 232, 55-18/14-11 (15.06.1917), S. 2.

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die Schulung eines einzelnen Kriegsversehrten mit Kosten von 500 bis 600 Kronen.138 Da dies die »Geldmittel der Staatlichen Landeszentrale vollständig erschöpfen könnte«, bat sie darum, dass der Erlass nicht rückwirkend geltend gemacht werde.139 Die Landeszentrale ging also von einer hohen Dunkelziffer an Kriegsversehrten aus, bei welchen die Frist bereits überschritten worden war. Die Landeszentrale schob die Schuld dafür jedoch den Militärbehörden zu. Die militärischen Sanitätsanstalten würden den Zeitraum der Therapie und beruflichen Ausbildung nicht ordnungsgemäß in die vom Kriegsministerium eingeführten Ausweise eintragen.140 Diese Formulare sollten eigentlich die Kommunikation zwischen Militärbehörden und Landeskommissionen lenken. Im Verhältnis zwischen dem Militärkommando Leitmeritz / Litoměřice und der Landeszentrale waren sie jedoch von Anfang an ein Stein des Anstoßes. Bereits in ihrem ersten Jahresbericht monierten die Mitglieder der Landeszentrale die mangelnde Informationsübermittlung des Militärkommandos in Leitmeritz / Litoměřice und kontrastierten sie mit der Kooperationsbereitschaft des Militärkommandos Prag / Praha.141 Trotz wiederholter Beschwerden der Landeszentrale besserte sich die Situation bis zum Ende des Krieges nicht.142 Wie im nächsten Kapitel näher ausgeführt wird, versuchten führende Personen des 9. Militärkommandos, darunter der Referent für Invalidenfürsorge Karl Eger sowie zivilgesellschaftliche Akteure und Akteurinnen in seinem Verwaltungsbereich, gezielt eine von der Landeszentrale unabhängige Fürsorge für verletzte und erkrankte Soldaten aufzubauen. Der Erlass des Kriegsministeriums, die Frist von einem Jahr durchzusetzen, hatte eine unintendierte Folge: Er legte Schwächen des administrativen Verfahrens bei den Militärbehörden offen. Gegenüber der Landeszentrale mussten die Militärbeamten noch am 28. September 1917 eingestehen, dass [n]ur durch den Umstand, dass die Durchführung der Evidenz über die mit einem Jahre befristete Nachbehandlung (Schulung) in den Grundbuchdokumenten erst nach und nach durchgeführt werden konnte, die Inanspruchnahme der Mittel der Zivilstaatsverwaltung bisher noch eine beschränkte gewesen [ist].143

Auch gegenüber dem Kriegsministerium hielten sie fest, dass sie sich bei der Umsetzung des Erlasses »derzeit [vor] fast unüberwindliche Schwierigkeiten«144 gestellt sahen und es an nahezu allen Stationen des Verwaltungsweges gebreche: Die Spitalskommandanten und Abteilungschefärzte in den Sanitätsanstalten 138 Ebd., S. 5. 139 Ebd., S. 3. 140 Ebd. 141 Staatliche Landeszentrale für das Königreich Böhmen zur Fürsorge für heimkehrende Krieger, S. 10–13. 142 Siehe: VÚA, VHA, KK9, MA Kt. 232, 55-6/5-92II. 143 VÚA, VHA, KK9, MA Kt. 232, 55-18/25-8 (28.09.1917). 144 VÚA, VHA, KK9, MA Kt. 232, 55-18/25-6 (11.04.1917).

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würden den Wechsel jedes Kriegsversehrten von der unmittelbaren medizi­ nischen Behandlung zur Therapie nicht oder nicht sofort über den Spitalskommandobefehl bekanntgeben. Auch die Weitergabe dieser Information von den Sanitätsanstalten an die Ersatzkörper erfolge nur uneinheitlich. Die Verwaltungskommissionen, welche dafür verantwortlich waren, den Beginn der Nachbehandlung in den Grundbüchern und Superarbitrierungslisten zu registrieren, kämen dieser Aufgabe nicht mit der erforderlichen Genauigkeit nach. Daher sei auch der Ablauf eines Jahres nicht exakt zu bestimmen.145 Dieses Defizit in der Informationsübermittlung wirkte jedoch auch in die andere Richtung. Wechselten verletzte und erkrankte Soldaten von einer medizinischen Einrichtung in eine andere, würden die Mediziner der Sanitätsanstalten nicht über die Grundbuchblätter verfügen. Diese lägen bei den Ersatzkörpern bzw., falls die militärische (Un-)Tauglichkeit des betreffenden Soldaten bereits kommissionell festgestellt worden war, bei unterschiedlichen militärischen Behörden. Denn je nachdem, ob es sich bei dem Kriegsversehrten um einen Angehörigen des Heeres, der Landwehr oder des Landsturms handelte, und abhängig von der militärischen Einheit fungierten als sogenannte »Invalidenevidenzstellen« das Invalidenhaus in Wien, Prag / Praha oder Tyrnau / Nagyszombat / Trnava, das entsprechende Landwehrergänzungsbezirkskommando oder Landsturmbezirkskommando. Statt diesen Grundbuchblättern würden die Soldaten den Militärsanitätsanstalten lediglich mit den sogenannten »Verpflegsdokumenten« überstellt werden, die keinen Aufschluss darüber gäben, »ob der Mann überhaupt als Kriegsbeschädigter zu betrachten ist, und ob und wie lange er schon in Nachbehandlung war«.146 Hinzu kam die Bestimmung, dass der Grad der Tauglichkeit und die prozentuelle Bemessung der Berufsfähigkeit erst mit der militärärztlichen Begutachtung durch die Tauglichkeitskommission festzustellen war. Davor bestimmten hingegen mit Offizieren und Ärzten besetzte Nachbehandlungs- und Berufsberatungskommissionen darüber, ob Soldaten eine Therapie und berufliche Ausbildung erhalten sollten. In den entsprechenden Protokollen war jedoch eine präzise Einschätzung der Tauglichkeit oder Berufsunfähigkeit nicht vorgesehen, sondern es wurde lediglich die Art der medizinischen Behandlung und / oder Schulung beschlossen.147 Die kommissionelle Bestimmung der Tauglichkeit war als Endpunkt der Therapie und Ausbildung vorgesehen. Aber – so hielten die Militärbeamten gegenüber dem Kriegsministerium fest – auch den verantwortlichen militärischen Kommissionen würden die entsprechenden Dokumente darüber fehlen, ob der jeweilige Soldat zuvor eine therapeutische Behandlung erhalten oder einen Schulungskurs besucht habe. Aus diesem Grund sei es schwierig zu bestimmen, wann diese Maßnahmen ihr Ziel erreicht hätten. Denn, so stellten die Militärbeamten in einem nur intern zirkulierenden Kon145 Ebd. 146 Ebd. 147 Ebd.

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zept fest: »[e]s fehlt die Festlegung der unteren Grenze, von welcher ab die Einbuße an Erwerbsfähigkeit als solche überhaupt in Rechnung zu ziehen ist.«148 Ebenso ermangele es an einer Bestimmung, dass die Einbuße der Erwerbsfähigkeit nur dann den Anspruch auf Nachbehandlung ergibt, wenn zur Hebung der Erwerbsfähigkeit tatsächlich irgend eine Nachbehandlung oder Schulung notwendig oder wenigstens zweckmäßig ist.149

Für die Beamten selbst lag das Problem primär in den Normen. Es ging ihnen darum, dass Vorgaben zu kompliziert seien, nicht eingehalten oder fehlen würden. Daher sahen sie die Lösung auch in zusätzlichen und klareren Richtlinien. In einer anderen Lesart der von den Beamten beschriebenen Unzulänglichkeiten wird jedoch deutlich, dass die Militärverwaltung zwar eine Vielzahl von Dokumenten darauf verwendete, um verletzte und erkrankte Soldaten zu erfassen. Diese Schriftstücke erfüllten jedoch nicht die Informations- und Arbeitsanforderungen der Behörden, denn anstatt die Kommunikationsprozesse zwischen den einzelnen Anstalten zu lenken, fragmentierten sie diese. Noch im Dezember 1917, acht Monate nach dem ursprünglichen Bericht des 9. Militärkommandos an das Kriegsministerium, meldete die Sammelstelle Kolin / Kolín dem Militärkommando: Hierorts befindet sich weder ein Konstatierungsbefund, noch ein Superarbitrierungsakt, noch ein Vormerkblatt oder abschriftliches Grundbuchblatt über diese Leute. […] Die Leute müssen hier wochenlang beschäftigungslos herumlungern bis durch weitläufige Korrespondenz alle Daten eingeholt sind.150

Die Spitalskommandanten, Chef- und Fachärzte der Sanitätsanstalten, die Offiziere, Militärärzte und Fachleute der Nachbehandlungs-, Schulungs- und Tauglichkeitskommissionen, die Militärbeamten in den Verwaltungskommissionen der militärischen Ergänzungsformationen, Kommanden und Invalidenhäuser, sie alle hatten unterschiedliche Dokumente auszufüllen, die an verschiedenen Orten aufbewahrt wurden, jedoch scheinbar nicht in der notwendigen Weise zirkulierten. Diese Probleme im Informationsfluss und die sich daraus ergebenden Unklarheiten über Ansprüche beförderten das Misstrauen der Beamten des 9. Militärkommandos gegenüber Therapie und beruflicher Ausbildung. Gleichzeitig stieg der Druck, verletzte und erkrankte Soldaten wieder militärdiensttauglich zu machen. Am 8. März 1917 verordnete das Militärkommando, jene verletzten und erkrankten Soldaten, die zu militärischen Hilfsdiensten tauglich seien, nicht weiter in therapeutischer Behandlung zu belassen, sondern zum Militärdienst heranzuziehen.151 Im September bestimmte das Militärkommando zu148 VÚA, VHA, KK9, MA Kt. 232, 55-18/25-18 (09.01.1918). 149 Ebd. 150 VÚA, VHA, KK9, MA Kt. 235, 55-28/14-93 (27.12.1917). 151 VÚA, VHA, KK9, MA Kt. 232, 55-18/25-15 (04.12.1917).

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dem, dass solche Soldaten nicht einmal mehr in der Sammelstelle Kolin / Kolín der Nachbehandlungs- und Schulungskommission vorgestellt werden sollten.152 Für diesen Schritt ernteten die Militärbeamten zunächst Kritik vom Militärkommando Innsbruck: »Nach Ansicht des Militärkommandos Innsbruck hat auf die eventuell einzuleitende Nachbehandlung eine Klassifizierung nach [den niederen Tauglichkeitsgraden; T. S.R.] ›C‹ oder ›D‹ keinen Einfluß.«153 Schließlich, so führte das Militärkommando aus, hebe die Nachbehandlung ebenso die Militärdiensttauglichkeit. Diese Argumentation unterstrich es mit dem Hinweis, dass es durch Nachbehandlung bereits elf Prozent Frontdiensttaugliche erzielt habe.154 Im Dezember 1917 intervenierte die Gruppe für Invalidenfürsorge und setzte die Verordnung des Militärkommandos per Erlass außer Kraft: »Diese Anordnung […] steht sowohl mit den Grundprinzipien der Invalidenfürsorge, als auch insbesondere mit den […] verlautbarten Verordnungen […] im Widerspruch.«155 Der Anspruch auf Nachbehandlung als Kriegsversehrter sei vom militärischen Tauglichkeitsgrad unabhängig, und daher dürfe eine bereits begonnene Nachbehandlung nicht vorzeitig abgebrochen werden.156 Damit gaben die Beamten des Kriegsministeriums der sozialen Re-Integration den Vorrang gegenüber dem Interesse der Armeeführung, Männer möglichst schnell für den Kriegseinsatz zu mobilisieren. Der Grund für die Verordnung des Militärkommandos lag darin, wie die Militärbeamten die Re-Integrationsmaßnahmen wahrnahmen. Gegenüber der böhmischen Landeszentrale hielten sie in einem Bericht vom 25. April 1917 fest, dass gewisse Personen die Aufnahme in Nachschulung nicht zum Zwecke der Wiedererlangung der Erwerbsfähigkeit, sondern vielmehr aus dem Grund anstreben, weil sie sich während derselben gegen Sichtungs- und Musterungsgefahr gesichert erachten.157

Anstatt als Mittel der sozialen Re-Integration betrachteten manche Angehörige des Militärkommandos die medizinische Therapie und berufliche Ausbildung als Gelegenheiten für Soldaten, sich dem Militärdienst zu entziehen. Diese Ansicht sollte bald kontrovers diskutiert werden. In Reaktion auf die Aufhebung der Verordnung vom 8. März verfassten die Militärbeamten eine Eingabe an das Kriegsministerium, die jedoch über die Konzeptphase nicht hinauskam. Darin schilderten sie ausführlich die Mängel des Verfahrens, betonten jedoch durchwegs, wie diese Schwächen der Administration es »unwürdigen Elementen« gestatte, den Militärdienst zu vermeiden.158 Dieser Ansicht trat Karl Eger, Referent für Invalidenfürsorge des Militärkommandos, in einer internen Stellungnahme 152 Ebd. 153 VÚA, VHA, KK9, MA Kt. 232, 55-12/166-7 (02.11.1917). 154 Ebd. 155 VÚA, VHA, KK9, MA Kt. 232, 55-18/25-15 (04.12.1917). 156 Ebd. 157 VÚA, VHA, KK9, MA Kt. 235, 55-28/14-2 (25.04.1917). 158 VÚA, VHA, KK9, MA Kt. 232, 55-18/25-15 (04.12.1917).

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entgegen: »Man kann von Kriegsbeschädigten doch nicht allgemein als von ›unwürdigen Elementen‹ sprechen« und ebensowenig sei es angebracht, dass »alle […] für die Erhaltung von Existenzen, für die Zukunft des Staates getroffenen Maßnahmen als unzweckmäßig hingestellt werden«.159 Stattdessen verwies er auf die Erlasse der Gruppe für Invalidenfürsorge und hob darin hervor, dass diese Anordnungen »niemals zu engherzig« interpretiert werden dürften.160 Auf diese Auseinandersetzungen reagierten das Militärkommando Innsbruck und das Kriegsministerium mit Regulierungsversuchen, die über die Ebene des lokalen Einzelfalls hinausreichten. Die Beamten des Militärkommandos Innsbruck erstellten 1917 ein Kompendium, mit dem sie jene Erlasse des Kriegsministeriums sammelten, thematisch ordneten und auszugsweise zitierten, die sie für grundlegend für die Nachbehandlung und Schulung Kriegsversehrter erachteten.161 Das zehnseitige Büchlein, das 21 Erlasse von fünf verschiedenen Abteilungen des Kriegsministeriums in sich vereinte, stellte zwar keinen vollständigen Überblick über alle ministeriellen Normen dar, die zwischen 1915 und 1917 für den Umgang mit verletzten und erkrankten Soldaten erlassen worden waren. Es zeigt jedoch, dass Militärbeamte auf regionaler Ebene Lösungen entwickelten, um die bestehenden Vorgaben rasch und einfach zugänglich zu machen. Konflikte und Unklarheiten führten daher nicht nur zu Dysfunktionalität, sondern lösten auch Regulierungsdynamiken auf den mittleren Verwaltungsebenen aus. Die Beamten des Kriegsministeriums wiederum waren bemüht, die Priorität der Re-Integrationsmaßnahmen auch gegenüber anderen militärischen Stellen durchzusetzen. Gleichzeitig lieferte ihr Erlass mit Handlungsanweisungen, wie derjenigen »kein[en] engherzige[n] Masstab« anzulegen,162 kaum konkrete Vorgaben, an denen sich lokale Beamte hätten orientieren können. Trotz des nominellen Vorrangs rehabilitativer Therapien und beruflicher Ausbildung verfügten militärische Kommandanten daher weiterhin über große Handlungsspielräume, um die Mobilisierung von Soldaten anzuordnen. 2.2 Alternative Konzeptionen von Governance: Nationale Fürsorge ›vor Ort‹ und staatliche Sozialverwaltung Die Kooperation mit der Zivilgesellschaft verschaffte der Regierung Zugang zu Kapazitäten, die sie allein nicht so rasch hätte aufbringen können.163 Die dafür gewählte Form der Governance bot jedoch auch Raum für neue Spannungsver159 Ebd., Bemerkungen zur Anordnung MA 127009/17. 160 Ebd., Hervorhebungen im Original. 161 VÚA, VHA, KK9, MA Kt. 232, 55-18/120. 162 Auslegung des Begriffs »Kriegsbeschädigter«; Erläuterung zu dem Erlasse I. F. Nr. 287/15, Erlaß des k. u. k. Kriegsministeriums vom 18. Juli 1917, Abt. I. F., Nr. 621, in: Mitteilungen des k. k. Ministeriums des Inneren über Fürsorge für Kriegsbeschädigte 3 (1917), 26/27, S. 308–309. 163 Siehe zu den Ausführungen in diesem Kapitel: Rohringer, Trust and National Belonging.

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hältnisse. Private Initiativen begannen, die regionale Steuerungshoheit der staatlich eingerichteten Landeskommissionen (und ab 1916 der Arbeitsvermittlung für Kriegsbeschädigte) in Frage zu stellen. In Wien war dies etwa die »Gesellschaft für Invalidenschutz«. Sie war vom Innenministerium zunächst als Partner in der Arbeitsvermittlung begrüßt worden, denn sie zählte gesellschaftlich hoch angesehene Personen zu ihren Mitgliedern. Aus dieser Zusammenarbeit wurde jedoch bald ein gespanntes Konkurrenzverhältnis.164 Die Auseinandersetzung mit der »Gesellschaft für Invalidenschutz« drehte sich primär um ihre Unabhängigkeit von der Landeskommission. Andere zivilgesellschaftliche Initiativen verfolgten allerdings die Durchsetzung nationaler Ordnungsvorstellungen gegen die föderative Organisation der Kriegsversehrtenfürsorge. In Böhmen erhielten sie darin sogar Unterstützung aus dem Militärkommando in Leitmeritz / Litoměřice. Durch diese Kooperation wollten sich sowohl die zivilgesellschaftlichen Akteure als auch die Militärbeamten Handlungsräume außerhalb des Einflussbereiches der böhmischen Landeszentrale verschaffen. Diese Zusammenarbeit demonstriert jedoch auch, wie sehr der Krieg die Selbstverortung militärischer Akteure innerhalb des Staates veränderte. Führende Offiziere hatten demokratische Politik bereits vor 1914 abgelehnt und waren insbesondere von ihren negativen Auswirkungen auf die Durchsetzung militärischer Interessen frustriert.165 Die Ausweitung militärischer Kompetenzen in Cisleithanien durch Ausrufung des Ausnahmezustands gab ihnen die Gelegenheit, ihre staatspolitischen Vorstellungen zu verfolgen. Die Repression all jener, denen man staatsfeindliche Haltungen unterstellte, war eine Folge dieses Machtgewinns der Armee. Das Vorgehen des Militärs besonders gegen nichtdeutsche Personen legte zudem die deutsch-hegemoniale Einstellung zahlreicher führender Offiziere offen. Vor dem Krieg hatte die Selbstinszenierung der Armee als anti-nationalistisch dies verschleiert.166 Das Vorgehen des Militärkommandos Leitmeritz / Litoměřice in der Kriegsversehrtenfürsorge fügt sich in vielerlei Hinsicht in dieses Bild der Armee ein. Auch in diesem Fall waren militärische Akteure bereit, selbst auf Kosten der zivilen Staatsverwaltung eigene Einflusssphären aufzubauen, um nationalpolitische Ordnungsvorstellungen durchzusetzen. Gleichzeitig weisen diese Vorkommnisse zwei bisher wenig beachtete Dimensionen auf: Erstens nutzten militärische Akteure nicht Repression, sondern Sozialpolitik, um die Gesellschaft Böhmens nach ihren Ordnungsvorstellungen einzuteilen. Hinzu kommt, dass sie dies in enger Verflechtung mit zivilgesellschaftlichen Initiativen taten. Zweitens lieferten diese militärischen Maßnahmen 1917/1918 ein Vorbild für die Umgestaltung der Sozialverwaltung kurz vor dem Ende der Monarchie. Die Handlungen des Militärkommandos lassen sich daher nicht auf eine Missachtung zentralstaat-

164 Hsia, Who Provided Care for Wounded and Disabled Soldiers?, S. 319–326. 165 Hämmerle, Back to the Monarchy’s Glorified Past? 166 Deak u. Gumz.

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licher Vorgaben und eine zentrifugale Wirkung reduzieren, sondern sie wurden produktiv in Reformen aufgegriffen, welche den imperialen Staat stärken sollten. Schon bei ihrer konstituierenden Sitzung im Mai 1915 war die böhmische Landeszentrale mit einer bereits weitgehend nach nationalen Gesichtspunkten getrennten Organisationslandschaft konfrontiert: von den beiden Prager Universitäten über zahlreiche Fürsorgevereine bis hin zu den Einrichtungen beruf­licher Ausbildung. Zwar stützte sie sich daneben auch auf Einrichtungen, die eine solche Zweiteilung nach Nationalitäten nicht vollzogen hatten, etwa die Unfallversicherungsanstalt Prag / Praha oder das Landeszentralarbeitsamt. Trotzdem stellte sie die nationale Strukturierung zivilgesellschaftlicher Einrichtungen vor große Herausforderungen. Die Beziehungen der Landeszentrale zu den deutschnationalen wohltätigen Vereinen für Kriegsversehrte in den nordböhmischen Gebieten waren von Anfang an friktionsgeladen. Die »Deutschböhmische Fürsorgestelle für Kriegskrüppel und Kriegsverletzte« zum Beispiel propagierte, dass ihre Aufgabe in der Fürsorge sich explizit auf deutschsprachige Kriegsversehrte Böhmens beschränke. Der private Fürsorgeverein »Invalidenfürsorge für Leitmeritz« wiederum arbeitete lieber mit dem dortigen Militärkommando zusammen als mit den Akteuren der Landeszentrale in Prag / Praha. Während Innenminister Heinold mit dem Statthalter Böhmens, von Thun und Hohenstein, über die Einrichtung und Besetzung der Landeszentrale verhandelte, schrieb Letzterer unverblümt an den Innenminister, dass [w]enn sich die aus nationalpolitischen Rücksichten entstandene Aktion in Deutschböhmen wirklich sachlich organisieren würde, […] beabsichtige ich in die Landesstelle auch Vertreter dieser Organisation zu ernennen, um auch da eine Verbindung und eine Mitarbeit herzustellen.167

Trotz dieser Spannungen war die Landeszentrale also auf eine Zusammenarbeit angewiesen, um ihren Geltungsanspruch für ganz Böhmen umzusetzen. Eine solche Kooperation kam schließlich zustande, sie blieb jedoch fragil.168 Dies änderte sich mit der Ernennung Karl Egers zum Referenten für Invalidenfürsorge des Militärkommandos Leitmeritz / Litoměřice Anfang des Jahres 1916. Eger engagierte sich rasch in der Kriegsversehrtenfürsorge. Noch im Jahr seiner Einsetzung publizierte er die Flugschrift »An unsere verwundeten und kranken Krieger«, die verletzte und erkrankte Soldaten über die Re-Integrationsmaßnahmen informieren sollte, sowie ein »Handbuch für Berufsberater«. Beide wurden auf Initiative der böhmischen Landeszentrale 1917 auch ins Tschechische übersetzt.169 Im »Handbuch« legte Eger bereits eine seiner zentralen Ideen dar: Die Re-Integrationsmaßnahmen seien auf ein Vertrauensverhältnis zwi167 ÖStA, AVA, MdI, Präs., Teil 2 Kt. 1862, 5425/1915. 168 o. A., Bericht über die Tätigkeit der Staatlichen Landeszentrale für das Königreich Böhmen im Jahr 1915, S. 17. 169 K. u. k. Militärkommando in Leitmeritz, in: SOA Liberec, AML-W Kt. 113, 106; VÚA, VHA, KK9, MA Kt. 221, 55-29/7 (02.09.1916); ebd., 55-29/5.

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schen den Experten und den Kriegsversehrten angewiesen. Mit dieser Vorstellung war Eger keineswegs allein, vielmehr gewann das Konzept des Vertrauens in der Kriegsversehrtenfürsorge um 1916 auch unter Medizinern an Bedeutung.170 Eger übertrug das Problematisierungsmuster, dass den Kriegsversehrten das Vertrauen in die staatliche Fürsorge fehle, auf die Verwaltungsstruktur. Sie müsste umfassend umgestaltet und lokal verankert werden. 2.2.1 Soziale Nähe: Das Konzept lokaler Fürsorgestellen Diese Idee einer lokalen Fürsorge wollte Eger im eigenen Einflussbereich des Militärkommandos umsetzen. Er schlug vor, Ortsausschüsse in den Gerichtsbezirken des Militärkommandobereiches einzurichten. Sie sollten aus einem Obmann, einem Geschäftsführer / Berufsberater und einem Kassier bestehen.171 Zudem propagierte Eger die Ernennung von »Vertrauensmännern«172 des jeweiligen Ausschusses in jeder Gemeinde des Gerichtsbezirkes. Ihre Aufgabe sei es, kleinere Gruppen Kriegsversehrter zu betreuen und auch nach erfolgter Arbeitsvermittlung im Alltagsleben zu unterstützen.173 Eger erwies sich als talentierter Organisator. In seinem Handbuch listete er bereits 117 Ortsausschüsse auf, wobei aufgrund einer Vielzahl unterschied­ licher Selbstbezeichnungen dieser lokalen Ausschüsse nicht immer klar ist, ob er dazu auch die Bezirksausschüsse des Landeszentralarbeitsamtes zählte, die seit November 1915 für die Arbeitsvermittlung für Kriegsbeschädigte zuständig waren.174 Innerhalb kurzer Zeit etablierte sich Eger als bedeutender Akteur in der böhmischen Kriegsversehrtenfürsorge: Am 18. Mai 1917 nahm er bereits gemeinsam mit dem geschäftsführenden Leiter der Landeszentrale, Robert Marschner, an der Besprechung der Vertreter aller Landeskommissionen mit Beamten des Innen-, Ackerbau-, Arbeits- und Kriegsministeriums in Wien teil.175 Diese nutzte er, um sein Projekt einer lokalen Kriegsversehrtenfürsorge zu propagieren. Zu diesem Zweck inszenierte sich Eger in Wien als Mann der Praxis, der gerade deswegen einen unvoreingenommenen Blick auf Verwaltungsstrukturen werfen könne.176 Dies lieferte zugleich das Leitmotiv seiner Einschätzung der Kriegsversehrtenfürsorge, die er für zu distanziert von der Alltagswelt der Betroffenen hielt. Einer Invalidenfürsorge »vom grünen Tisch aus« stellte er eine lokale, »vom praktischen Leben ausgehende« Fürsorgetätigkeit entgegen, deren neuralgischen Punkt die »Berufsberatung in der Heimat« bilde.177 Während die 170 Siehe die Kapitel B 3.3. 171 VÚA, VHA, KK9, Präs. 1776/1917. 172 o. A., Sitzungsbericht der Versammlung der Vertreter der Landeskommissionen zur Fürsorge für heimkehrende Krieger am 18. Mai 1917, S. 281. 173 Goltz; Rohringer, Trust and National Belonging, S. 222–224. 174 Referent für Kriegsbeschädigtenfürsorge beim Militärkommando Leitmeritz, S. 37–44. 175 o. A., Sitzungsbericht der Versammlung der Vertreter der Landeskommissionen zur Fürsorge für heimkehrende Krieger am 18. Mai 1917, S. 278–282. 176 Ebd., S. 279. 177 Ebd., S. 278.

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Struktur der Landeskommissionen vor allem in die Fläche des Staatsterritoriums griff, sollte, so Eger, soziale Fürsorge in die Tiefe reichen. Allerdings ging es Eger nicht nur um ein anderes Organisationsprinzip, sondern auch um eine andere Art des Verwaltungshandelns. Eger rekurrierte dabei immer wieder auf den Topos einer sozial distanzierten und abstrahierenden Bürokratie, um sein Konzept lokaler Ausschüsse davon abzugrenzen. Die lokalen Fürsorgeausschüsse sollten verletzte und erkrankte Soldaten proaktiv kontaktieren, noch bevor sie die Krankenhäuser verließen, um rechtzeitig die weiteren Schritte der Ausbildung und Arbeitsvermittlung einzuleiten.178 Die soziale Einbettung der Mitglieder des Ortsausschusses in lokale Verhältnisse gewährleiste eine vertrauensvolle Beziehung zu den Kriegsversehrten, denn »Vertrauen hat der Kriegsbeschädigte nur zu seinen Heimatsgenossen«.179 Zudem sei die Kommunikation mit den Mitgliedern der Ortsausschüsse niederschwellig, denn mit ihnen könnten die betroffenen Soldaten in ihrer »Mundart«, ihrer »natürlichen Weise reden«.180 Demgegenüber hätten ostentativ professionelle Einrichtungen wie Kommissionen das große Problem, dass »der Kriegsbeschädigte überhaupt gegen alles, was Kommission heißt, mißtrauisch ist.«181 Für Eger schuf nicht Expertise Vertrauen, sondern Vertrauen gewährleistete die Wirkmächtigkeit von Fachwissen. Daher sei die soziale und situative Rahmung dieser Expertise so wichtig. Diese fehle jedoch der Berufsberatung und Zuweisung zur beruflichen Ausbildung durch Kommissionen, wie sie in Böhmen und anderen Kronländern erfolgte, kritisierte Eger. Daher könnten die Kommissionen die individuellen Verhältnisse der Kriegsbeschädigten nicht erfassen und nicht kontrollieren, ob der erteilte Rat auch angenommen werde. Stattdessen sollte die lokale Bevölkerung für die Re-Integrationsmaßnahmen gewonnen werden. Denn, so argumentierte Eger, »[w]enn […] der Nachbar […] sagt: ›[…] was plagst Du Dich noch, du musst doch die Rente bekommen …‹«, dann gefährdete dies den Erfolg sozialer Re-Integration. Denn das »Wort [des Nachbarn] gilt mehr als alle Argumente gelehrter Herren!«182 Vertrauen war also ein zweischneidiges Schwert, es konnte die Re-Integrationsmaßnahmen auch untergraben. Es galt daher, die breite Bevölkerung davon zu überzeugen, dass verletzte und erkrankte Soldaten noch arbeitsfähig waren und wieder arbeiten sollten.183 Die Aufklärung der lokalen Bevölkerung über die Möglichkeiten zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit und über die Notwendigkeit der sozialen Re-Integration der betroffenen Soldaten sollte negative soziale Einflüsse auf die Kriegsversehrten verhindern, lokale Unternehmer als potenzielle Arbeitgeber gewinnen und so den Erfolg 178 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1417, 434/1917. 179 o. A., Sitzungsbericht der Versammlung der Vertreter der Landeskommissionen zur Fürsorge für heimkehrende Krieger am 18. Mai 1917, S. 279. 180 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1417, 434/1917. 181 Ebd. 182 Ebd. 183 Für die intensive Aufklärungsarbeit im Deutschen Kaiserreich: Perry, S. 118–129.

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der Re-Integrationsmaßnahmen gewährleisten. Über den Begriff des Vertrauens verknüpfte Eger so das Ziel der Re-Integration mit der Notwendigkeit einer kleinräumigen Struktur und der Teilhabe der lokalen Bevölkerung. Allerdings kamen bei der Schaffung der Ortsausschüsse auch nationale Erwägungen zur Geltung. Bereits die Wahl der grundlegenden Verwaltungseinheit macht dies deutlich. Denn Eger sprach sich für die Gerichtsbezirke aus, weil sie »in sprachlicher Hinsicht noch am einheitlichsten« wären.184 Die Gemeinschaft, die Eger als Grundlage für das personale Vertrauen der Kriegsbeschädigten beschwor, war nicht nur eine nachbarschaftliche oder dörfliche, sondern ebenso die größere nationale Gemeinschaft der Deutschen in Böhmen. Die dahinterliegende Konzeption vermeintlich national homogener Territorien war eine Entwicklung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In Böhmen erlangten kartographische Darstellungen als Mittel nationalpolitischer Agitation während der Vorarbeiten für einen deutsch-tschechischen Ausgleich in Böhmen ab den 1890er-Jahren besondere Bedeutung, als Politiker und nationalistische Vereine begannen, die Ergebnisse der offiziellen Volkszählungen und andere statistische Daten zu nutzen, um die Ausbreitung der deutschen und tschechischen ›Nation‹ in Böhmen auf Karten grafisch darzustellen.185 Grenzwerte für die Darstellung von Minderheiten führten dazu, dass gemischtsprachige Gebiete oft als sprachlich und national homogen wahrgenommen wurden.186 Inwiefern die Ortsausschüsse selbst national homogene Vereinigungen waren, lässt sich aufgrund der Quellenlage nicht feststellen. Allerdings propagierte Egers Vorgesetzter, Kommandant Eugen von Scheure, auch negative nationale Stereotype. Scheure legte etwa jenen Personen, die Kriegsversehrte dazu verleiten würden, von der Invalidenrente anstatt einer Anstellung leben zu wollen, die Worte in den Mund: »Was brauchst du [der Kriegsversehrte; T. S.R.] zu arbeiten, der Franta hat Dir das gemacht, der Franta soll für Dich sorgen!«187 Durch das Verwenden der tschechischen Kurzform für František, die, wie Scheure selbst explizit anführte, als »Bezeichnung für Franz Joseph I.«188 geläufig war, schrieb er das Beharren auf eine Rente und die damit verbundene Arbeitsunlust primär der tschechischsprachigen Bevölkerung zu. Das Ziel Egers dürfte jedoch nicht in einer Schlechterstellung der tschechischgegenüber den deutschsprachigen Kriegsversehrten bestanden haben, sondern in einer nationalen Zweiteilung der Fürsorge. Egers Prämisse, dass nationale Homogenität den personalen Vertrauens­ beziehungen notwendigerweise vorausgehen müsse, ist jedoch zu hinterfragen. 184 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1417, 434/1917, Organisation der Kriegsbeschädigtenfürsorge, unpaginiert. 185 Göderle, S. 63–73, 219–228; Judson, Marking National Space on the Habsburg Austrian Borderlands: 1880–1918, S. 122–135; Stourzh, Ethnic Attribution in Late Imperial Austria, S. 162–163. 186 Luft, S. 127. 187 VÚA, VHA, KK9, Praes. 1776/1917. 188 Ebd.

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Er setzte voraus, dass sich die Bevölkerung selbst in nationalen Kategorien verortete. Diese nutzte jedoch auch noch andere Identifikationsangebote, wie Religion, Region oder die Monarchie. Allerdings griffen nationalistische Vereinigungen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert auf soziale Fürsorge als Mittel zurück, um die Nationalisierung der Bevölkerung Böhmens voranzutreiben.189 Egers Ausrichtung der lokalen Kriegsversehrtenfürsorge auf nationale Homogenität folgte dieser Tendenz. Zudem kooperierte er eng mit den deutschnationalen Vereinen Nordböhmens. Daraus erwuchs das gespannte Verhältnis zur Landeszentrale, die übernationale Bezugspunkte sozialer Zugehörigkeit wie das Kronland oder den cisleithanischen Staat repräsentierte. Eger wollte nicht nur die Interaktion mit den Kriegsversehrten anders gestalten, sondern auch administrative Prozesse. Das Medium der Schriftlichkeit sollte zum Teil durch mündliche oder persönliche Kommunikation ersetzt, zum Teil beschleunigt werden. Eger legte viel Wert darauf, die Angelegenheiten, welche die Ortsausschüsse an ihn herantrugen, »sofort und umgehend«190 zu erledigen. Die Beschleunigung des Schriftverkehrs, besonders aber der persönliche Kontakt zwischen den Akteuren sollte die räumliche Distanz der einzelnen Ortsausschüsse zueinander und zum Militärkommando ausgleichen. Dadurch sollte einerseits die Motivation der ehrenamtlichen Mitglieder der Ortsausschüsse aufrechterhalten werden, andererseits verfolgte Eger mit Versammlungen und Zusammenkünften ausdrücklich den Zweck, ein »Bewusstsein der Zusammengehörigkeit« zu erzeugen.191 Egers bürokratiekritischer Rhetorik zum Trotz war die Verwendung administrativer Techniken des Sammelns, Verarbeitens und Speicherns von Informationen zentraler Bestandteil des Netzwerks lokaler Fürsorgeausschüsse. So betonte Eger, dass er am Militärkommando eine »Kartothek« eingerichtet habe, »die modern geschäftsmäßig geführt wird«,192 um die Akten über die Kriegsversehrten zu verwalten. Dabei transformierte Eger den individuellen Fall in eine abstrahierte Akte mit Kennzahl und der prinzipiellen Unterscheidung in »versorgte« Fälle und jene, die noch medizinischer Behandlung, Ausbildung oder Arbeitsvermittlung bedurften.193 Eger machte das Militärkommando damit zum administrativen Zentrum der Ortsausschüsse, an dem alle getätigten Schritte und Informationen zusammenliefen, und von dem umgekehrt Ratschläge und Hinweise an die Ortsausschüsse ergingen.194 Die Ortsausschüsse wiederum sahen sich mit einer ähnlichen Herausforderung konfrontiert wie die Landeskommissionen: Wie konnten sie als ehrenamtliche Einrichtungen behördliche Autorität vermitteln? 189 Zahra; Haslinger, Schutzvereine in Ostmitteleuropa. 190 ÖStA, AdR [Archiv der Republik], BMfsV [Bundesministerium für soziale Verwaltung], Sek. 2/Kb Kt. 1358, 3848/1918, S. 7. 191 Ebd., S. 8. 192 ÖStA, AdR, BMfsV, Sek. 2/Kb Kt. 1358, 3848/1918, S. 6. 193 Ebd. 194 Ebd., S. 8–9.

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2.2.2 Soziale Distanz: Die Praxis lokaler Fürsorgestellen Am 26. Juni 1916 sandte der »Ortsausschuss Haida der Staatlichen Landeszentrale für das Königreich Böhmen zur Fürsorge für heimkehrende Krieger« einen Brief an Josef Kirschner. Der 24jährige Kirschner hatte vor dem Krieg in Arnsdorf / Arnultovice bei Haida / Nový Bor gewohnt. Am 2. Juni 1916 war er als kriegsverletzter Soldat im Rahmen eines Kriegsgefangenenaustausches nach Brüx / Most gekommen und befand sich seitdem im dortigen Militärkrankenhaus, wo ihn das Schreiben des Ortsausschusses erreichte. An diesem Punkt der persönlichen Kontaktaufnahme sollte die soziale Einbettung der Mitglieder des Ortsausschusses zum Tragen kommen und eine niederschwellige Kommunikation mit dem Kriegsversehrten ermöglichen. Der direkte, persönliche Umgang zwischen Ortsausschüssen oder Vertrauensmännern und Kriegsversehrten spielte eine zentrale Rolle in Egers Konzeption der Fürsorge. Wie der Ortsausschuss Haida / Nový Bor seine Aufgabe der sozialen Re-Integration gegenüber Kirschner begriff und zu erfüllen versuchte, gibt Einblick in die Umsetzung von Egers Postulat einer lokalen Fürsorge. Daher wird zunächst untersucht, wie der Ortsausschuss das Ziel sozialer Re-Integration, nämlich die Rückkehr zum früheren Beruf, erreichen wollte, und zweitens, wie er mit Kirschner und anderen Einrichtungen kommunizierte.195 Der Ortsausschuss Haida / Nový Bor begann den Brief an Kirschner mit einer umständlichen Satzkonstruktion: Man sei vom Referenten für Invalidenfürsorge informiert worden, dass sich unter den Austauschinvaliden in Brüx / Most »Ihre Person Herr Josef Kirschner« befinde, weshalb »vom Kommando ersucht wird, sich mit demselben behufs Berufs-Beratung ins direkte Einvernehmen zu setzen.«196 Zu diesem Zweck lag dem Brief ein Fragebogen bei, auf dem J­osef Kirschner unter anderem Name, Dienstgrad, militärische Einheit und Geburtsdatum angeben musste. Die zentrale Information für die Re-Integrationsmaßnahmen war jedoch der Beruf; schließlich sollten verletzte und erkrankte Soldaten möglichst wieder zu ihrem früheren Beruf zurückkehren. Auf dem Fragebogen war daher neben dem Zivilberuf auch gefragt, ob dieser wieder ausgeübt werden könne und ob der Kriegsversehrte bereits wieder in einem Beschäftigungsverhältnis sei. Kirschners Angaben im Fragebogen ließen dem Ortsausschuss einiges an Interpretations- und Handlungsspielraum. Denn, wie Kirschner darlegte, sei er zwar gelernter Vergolder, vor dem Krieg habe er allerdings als Bauarbeiter und Wachmann bei der Bahnerhaltungs-Sektion in Böhmisch-Leipa / Česká Lípa gearbeitet. Er selbst erachtete sich im Fragebogen als zur Ausübung seines früheren Berufes nicht mehr befähigt, wobei unklar ist, ob er dies auf den Vergolder­beruf oder seine Beschäftigung bei der Bahnerhaltungs-Sektion bezog. Kirschner führte zudem an, dass er sich nicht entscheiden konnte, welchen neuen Beruf

195 Siehe auch: Rohringer, Trust and National Belonging, S. 224–225. 196 VÚA, VHA, KK9, MA Kt. 220, 55-9/18-2.

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er ergreifen solle.197 Das eingeholte ärztliche Gutachten des Distriktsarztes war in dieser Hinsicht ebenfalls unspezifisch, er bescheinigte Kirschner eine 50prozentige Erwerbsunfähigkeit, die zwar noch gebessert werden könne, seine verbliebene Erwerbsfähigkeit wäre jedoch auf sitzende Berufe beschränkt.198 Diese Ambivalenz hätte der Ausgangspunkt einer Berufsberatung sein können, die der Ortsausschuss auch als Zweck seines Schreibens angekündigt hatte. Falls eine solche stattfand, wurde sie jedoch nicht protokolliert. Sein weiteres Vorgehen legitimierte der Ortsausschuss nicht mit Bezug auf­ Kirschner, sondern er berief sich auf das Militärkommando Leitmeritz / Lito­ měřice. Aus den genannten Optionen entschied er sich dafür, das letzte Beschäftigungsverhältnis als ›früheren Beruf‹ anzusehen, und der Geschäftsführer wandte sich an den Vorstand der Bahnerhaltungssektion Böhmisch-Leipa / Česká Lípa. Das Eisenbahnministerium hatte Anfang des Jahres 1915 kriegsversehrten Bediensteten eine erneute Anstellung zugesichert.199 Der Geschäftsführer nahm darauf zwar keinen Bezug, sondern erbat lediglich eine Stellungnahme zu ­Kirschner als ehemaligem Angestellten. Der Sektionsvorstand verwies in seinem Antwortschreiben jedoch sogleich darauf, dass der Erlass in diesem Fall nicht zutreffend wäre, da Kirschner 1913 zum Wehrdienst einberufen worden und deswegen bei Kriegsausbruch nicht mehr Eisenbahnangestellter gewesen sei, und nur für solche sei der Erlass gültig.200 Daraufhin wandten sich Obmann und Geschäftsführer des Ortsausschusses an die Direktion der Böhmischen Nordbahn in Prag / Praha und erreichten, dass Kirschner in das Genesungsheim des Eisenbahnministeriums aufgenommen wurde. Die Bahndirektion kündigte zudem an, dass Kirschner nach Abschluss der medizinischen Behandlung wieder im Eisenbahndienst beschäftigt würde.201 Für den Ortsausschuss waren also weniger Kirschners vage Überlegungen über einen Berufswechsel ausschlaggebend als vielmehr die Möglichkeit, aufgrund des Erlasses des Eisenbahnministeriums Kirschner eine feste Anstellung zu verschaffen. In der schriftlichen Kommunikation des Ortsausschusses Haida / Nový Bor stand nicht die soziale Einbettung seiner Mitglieder im Vordergrund, sondern vielmehr ihre amtliche Autorität. In mehrzeiligen, verschachtelten Satzkon­ struktionen legitimierten sie gegenüber Kirschner und der Bahnerhaltungssektion ihr Vorgehen. Die schriftliche Kommunikation mit Kirschner erfolgte daher keineswegs in einer Sprache, welche der Lebenswelt des Adressaten näher lag, wie Eger dies gefordert hatte. Stattdessen informierte der Ortsausschuss Kirschner über den Fragebogen folgenderweise: »Anbei folgt ein Verzeichnis mit diversen Daten, welche Sie gefl. [gefällig; T. S.R.] umgehend […] ausgefüllt 197 Ebd. 198 Ebd. 199 o. A., Denkschrift über die von der k. k. Regierung aus Anlass des Krieges getroffenen Maßnahmen, S. 131. 200 VÚA, VHA, KK9, MA Kt. 220, 55-9/18-2. 201 Ebd.

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anhersenden wollen. […] Einer [sic] sofortigen Erledigung und Anhersendung erwartend, zeichnet […] der Geschäftsführende«.202 Der Ortsausschuss wollte, so scheint es, gezielt eine sprachliche Differenz zur Alltagssprache aufbauen, indem er geläufige, administrative Formulierungen und Phrasen verwendete.203 Schriftliche Kommunikation zwischen Behörden sowie Bürgern und Bürgerinnen war besonders formalisiert. Zahlreiche Briefratgeber richteten sich an alle Bevölkerungsschichten, aber auch von administrativer Seite war die Kommunikation mit anderen Behörden und Parteien reglementiert.204 Ein allzu jovialer Umgang mit den Adressaten wurde auch in Verwaltungshandbüchern nicht goutiert, vielmehr sollten Beamte darauf achten, dem Gegenüber »die ihnen […] gebührende Titulatur zu geben.«205 Gerade in der Konstruktion verwinkelter Sätze, wie sie die Ausschussmitglieder in der Einleitung ihres Schreibens verwendeten, wird jedoch die Emulation eines ›amtlichen Stils‹ deutlich, der verwaltungsintern immer wieder kritisiert wurde, mit welchem der Ortsausschuss aber seinen offiziellen Charakter zu unterstreichen versuchte.206 Während für Eger die soziale Einbettung der Ortsausschüsse eine entscheidende Dimension der Re-Integrationsmaßnahmen war, scheint die Ortsgruppe Haida / Nový Bor mit ihrem Kommunikationsstil ein anderes Ziel verfolgt zu haben. Als ehrenamtliche Mitglieder standen sie außerhalb etablierter Behördenstrukturen und hatten, vergleichbar mit den Landeskommissionen, keine klar definierte Autorität. Stattdessen waren sie auf die Kooperationsbereitschaft privater und staatlicher Unternehmen, der Staats-, Landes- und Militärverwaltungen angewiesen. Die Vermutung liegt nahe, dass der Geschäftsführer des Ortsausschusses einerseits durch die Gestaltung des Briefes – auf dem prominent der volle Name »Ortsausschuss Haida der Landeszentrale für das Königreich Böhmen zur Fürsorge für heimkehrende Krieger« als Briefkopf platziert war – andererseits mit dem einleitenden Verweis auf das Militärkommando den offiziellen Charakter seiner Tätigkeit betonen wollte. Liest man die Briefe unter diesem Gesichtspunkt als Performanz administrativer Autorität, erscheint die bewusst formell gehaltene Sprache ebenfalls als Teil dieser Bemühungen. So wie Eger die lokale soziale Einbettung und Zugänglichkeit der Akteure als vorteilhaft ansah, so waren umgekehrt die lokalen Akteure in Haida / Nový Bor darauf bedacht, sich nicht nur als privater Verein, sondern als Teil des Staates zu inszenieren. Der Ortsausschuss nutzte das Militärkommando und die Landeszentrale gleichermaßen, um sich amtliche Autorität zu verschaffen. Das Verhältnis dieser beiden Institutionen zueinander war jedoch gerade in der Frage der Ortsausschüsse angespannt.

202 Ebd. 203 Haas, S. 181–194; Becker, Sprachvollzug im Amt, S. 9–42. 204 Ettl, S. 159–188; Hämmerle, Bitten – Klagen – Fordern. 205 Mayrhofer, S. 736. 206 Ebd., S. 731–733; Becker, ›Das größte Problem ist die Hauptwortsucht‹.

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2.2.3 Das Militärkommando als Konkurrent der böhmischen Landeszentrale Eger etablierte sich aufgrund seiner institutionellen Position als Referent des Militärkommandos und seiner organisatorischen Fähigkeiten bei der Schaffung von Ortsausschüssen als einflussreicher Akteur. Er nutzte dies jedoch vor allem, um sich Handlungsspielräume gegenüber der Landeszentrale zu eröffnen. Besonders die Übermittlung von Informationen zu Heilbehandlung und Schulung sorgte immer wieder für Konflikte zwischen der Landeszentrale und dem Militärkommando Leitmeritz / Litoměřice.207 Die Landeszentrale betrachtete die mit ihren Mitgliedern besetzten Berufsberatungskommissionen als die qualifizierten Gremien, um Kriegsversehrte zur beruflichen Ausbildung zuzuweisen. Noch im September 1917 kritisierte der Geschäftsführer der Landeszentrale Marschner, dass das Militärkommando Leitmeritz / Litoměřice und zivilgesellschaftliche Akteure, wie etwa die Handels- und Gewerbekammer Reichenberg / Liberec, der Landeszentrale die entsprechenden Dokumente nicht oder verspätet zusandten. Er interpretierte dies als gezielten Ausschluss der Landeszentrale von der Durchführung der Re-Integrationsmaßnahmen im Bereich des Militärkommandos, was Erlassen und Verordnungen sowohl des Kriegsals auch des Innenministeriums widerspreche.208 Nach langen Verhandlungen zwischen Eugen von Scheure und Marschner konnte erreicht werden, dass die Landeszentrale die Ortsausschüsse unter der Bedingung anerkannte, dass sie sich als Ortsausschüsse der Landeszentrale deklarierten.209 Anstatt zu einer Entspannung führte dieses Übereinkommen zu einer Eskalation. Der Grund dafür lag in den Nationalisierungsbestrebungen, auf denen Egers Ortsauschüsse aufbauten. Denn ihre Bemühungen endeten nicht damit, sich auf vermeintlich national homogene Territorien zu stützen. Stattdessen nahmen sie selbst eine nationale Trennung Kriegsversehrter vor und forderten sie dort ein, wo sie bisher nicht geschah. So richtete Eger in Zusammenarbeit mit lokalen Akteuren der Ortsgruppe Königgrätz / Hradec Králové eine »Ostböh­ mische Fürsorgestelle für Kriegsbeschädigte« ein,210 die primär als Anlaufstelle für tschechischsprachige Kriegsbeschädigte gedacht zu sein schien.211 Die Versuche, eine nationale Trennung Kriegsversehrter einzuführen, setzten sich fort, als die Landeszentrale ihr Prozedere der Berufsberatung änderte. Bis zum Frühjahr 1917 hatten die Berufsberatungskommissionen der Landeszentrale die militärischen Krankenanstalten bereist, um Kriegsversehrte den entsprechenden Ausbildungskursen zuzuteilen. Mit 1. Mai 1917 kehrte die Landeszentrale ihr Vorgehen um: Sie errichtete eine Sammelstelle in Kolin / Kolín, zu der alle Kriegsversehrten aus dem Bereich des Militärkommandos Leit207 Staatliche Landeszentrale für das Königreich Böhmen zur Fürsorge für heimkehrende Krieger, S. 11. 208 VÚA, VHA, KK9, MA Kt. 232, 55-6/5-92II. 209 ÖStA, AdR, BMfsV, Sek. 2/Kb Kt. 1358, 5934/1918, 21.02.1918, S. 7–9. 210 VÚA, VHA, KK9, MA Kt. 235, 55-41/1 (11.01.1917). 211 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1417, 183/1917, S. 10–11.

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meritz / Litoměřice entsandt werden sollten. Dort wurden sie durch eine Vertrauensmännerkommission begutachtet. In Reaktion darauf beantragte die Handels- und Gewerbekammer Reichenberg / Liberec im August 1917 beim Militärkommando die Einrichtung einer weiteren Sammelstelle in Reichenberg / Liberec.212 Im Militärkommando interpretierten Eger und ein weiterer Militärbeamter diesen Antrag als Versuch, eine nationale Zweiteilung in die Kriegsversehrtenfürsorge einzuführen: tschechischsprachige Soldaten würden in Kolin / Kolín, deutschsprachige in Reichenberg / Liberec der Kommission vorgeführt werden. Sie zogen daraus jedoch entgegensetzte Schlüsse. Der Militärbeamte hielt in seinem Antwortschreiben fest, dass dies »seitens des Militärkommandos nicht gut geheissen werden kann, […], weil jede Art von Politik von der Behandlung Kriegsbeschädigter fern zu halten ist«.213 Eger gab hingegen eine konträre Stellungnahme ab: Dieser Antrag [auf Einrichtung zweier Sammelstellen; T. S.R.] wurde von dem gefertigten Referenten mit Rücksicht auf die in unserem Militärkommandobereich bestehenden nationalen Verhältnisse bereits gestellt, als die Sammelstelle in Kolin aufgestellt wurde.214

Im November 1917 stimmte die Landeszentrale dem zu. Kriegsversehrte wurden nun nach nationalen Gesichtspunkten auf Kolin / Kolín und Reichenberg / Liberec, später auch Teplitz-Schönau / Teplice-Šanov aufgeteilt.215 Dies ging den Ortsausschüssen inzwischen jedoch nicht mehr weit genug. Bereits auf der Konferenz in Wien im Mai 1917 hatte Eger gefordert, dass in Böhmen ein Invalidenamt nach Vorbild der transleithanischen Reichshälfte eingerichtet werden sollte, allerdings getrennt in eine deutsche und eine tschechische Sektion.216 Die Ortsausschüsse verfolgten nun diese Forderung der vollständigen nationalen Zweiteilung der Kriegsversehrtenfürsorge durch Schaffung nationaler Sektionen in der Landeszentrale. Im Februar 1918 wandte sich Marschner mit der Bitte um Unterstützung an das neu geschaffene Ministerium für soziale Fürsorge: Die Vertreter dieser Ortsausschüsse, die »sämtlich nur deutschen Bezirken angehörten«,217 wie Marschner vermerkte, würden der Landeszentrale ein Ultimatum stellen, um die administrative Zweiteilung zu erzwingen. Die Ortsausschüsse sahen sich offenbar durch ihre bisherigen Erfolge gegenüber der Landeszentrale in einer so starken Position, dass sie ihre Unterordnung von der Erfüllung ihrer nationalpolitischen Maximalforderung abhängig machten. Im 212 VÚA, VHA, KK9, MA Kt. 232, 55-6/5-114 (29.11.1917). 213 Ebd. 214 VÚA, VHA, KK9, MA Kt. 232, 55-18/14-21 I (19.08.1917). 215 VÚA, VHA, KK9, MA Kt. 245, 55-18/6-18 (07.09.1918). 216 o. A., Sitzungsbericht der Versammlung der Vertreter der Landeskommissionen zur Fürsorge für heimkehrende Krieger am 18. Mai 1917, S. 281; ÖStA, AdR, BMfsV, Sek. 2/Kb Kt. 1358, 3848/1918, S. 36–37; Pawlowsky u. Wendelin, Die Wunden des Staates, S. 185. 217 ÖStA, AdR, BMfsV, Sek. 2/Kb Kt. 1358, 5934/1918, 21.02.1918.

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Ministerium für soziale Fürsorge vertagte man eine Entscheidung über diese Angelegenheit jedoch bis zu einer Besprechung mit dem Statthalter Böhmens.218 Das Neuartige an Egers Initiative war nicht die Trennung Kriegsversehrter nach nationalen Kategorien. Bereits seit 1915 teilten selbst staatliche Akteure die betroffenen Soldaten nominell nach Sprachkenntnissen. Sie verwendeten Sprache allerdings schon in einer stark essenzialisierten Form als Kennzeichen nationaler Zugehörigkeit. Neu war hingegen, dass Eger als Angehöriger des Militärs die Kategorie Nation gegen übernationale staatliche Einrichtungen wie die Landeskommissionen durchsetzen wollte. Erfolgreich nutzte er dazu das Feld der Sozialpolitik und die Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Vereinen. Die enge Verflechtung des Militärkommandos mit deutschnationalen Vereinen verschaffte aber nicht nur Eger zusätzliche Handlungsspielräume, sondern diese »wechselseitige Durchdringung«219 stärkte auch die Position der nationalis­ tischen Vereine. 2.2.4 Die Rezeption Egers im Ministerium für soziale Fürsorge Trotzdem war Eger keine persona non grata, als die Beamten des neuen Ministeriums für soziale Fürsorge 1917 begannen, sozialpolitische Reformen zu erarbeiten. Sie wollten durch eine umfassendere Sozialpolitik der gesellschaftlichen Entsolidarisierung und Desintegration der Habsburgermonarchie entgegenwirken, welche zu diesem Zeitpunkt durch die Verarmung der Bevölkerung durch die mehrjährige Versorgungskrise und die Mobilisierung aller Ressourcen für den Krieg eingetreten waren.220 An der Jahreswende 1917/18 luden sie Eger ins Ministerium, damit er über seine Erfahrungen berichten und Reformvorschläge machen könne. Es stand sogar seine Anstellung im Ministerium im Raum, die aber nicht umgesetzt wurde.221 Diese positive Rezeption Egers mochte daran liegen, dass seine Überlegungen zur Organisation sozialer Fürsorge starke Parallelen zu den Reformdebatten der Jahre vor dem Krieg aufwiesen. Die Reformpläne der Ministerialbeamten wiederum bauten ebenfalls auf diesen Debatten auf. Sie brachen mit zentralen Dimensionen der bisherigen sozialpolitischen Governance der Kriegsversehrtenfürsorge. Die Rolle des Zentralstaats sollte sich nicht mehr auf die Normierung beschränken, sondern er sollte personell und finanziell die Sozialpolitik tragen. Dieser Anspruch hatte weitreichende Konsequenzen für alle weiteren Dimensionen der Kriegsversehrtenfürsorge. Ihre quasi-föderale Struktur sollte durch eine staatliche Sozialverwaltung ersetzt werden, die von der Zentrale in Wien, über Landeskommissionen, Invalidenämter bzw. Ortsstellen und schließlich »Ver-

218 Ebd. 219 Hsia, Who Provided Care for Wounded and Disabled Soldiers?, S. 327–328. 220 Healy, Vienna and the Fall of the Habsburg Empire, S. 31–86, 122–161, 258–299. 221 Hsia, War, Welfare and Social Citizenship, S. 129–193; Pawlowsky u. Wendelin, Die Wunden des Staates, S. 176–177, 185.

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trauensmänner« zu den einzelnen Kriegsversehrten reichen würde.222 Die Landeskommissionen bestünden zwar fort, hätten jedoch ihre Form und Funktion geändert. Sie wären nicht mehr ehrenamtliche Einrichtungen, die verschiedene Akteursgruppen in die Kriegsversehrtenfürsorge einbinden und Gelder akquirieren sollten. Stattdessen würden sie zu mittleren Instanzen eines dreistufigen staatlichen Verwaltungsapparates. In diesen Reformvorhaben zeigt sich zudem, wie die sozialpolitischen Debatten der Vorkriegsjahrzehnte Wissensbestände lieferten, um die Herausforderungen der Kriegszeit zu begreifen und Lösungsansätze zu entwickeln. Nach der innenpolitischen Krise der 1890er Jahre verfolgten unterschiedliche cisleithanische Politiker das Ziel, den cisleithanischen Zentralstaat stärker als sozialpolitischen Akteur zu positionieren und neue Formen sozialpolitischer Vergemeinschaftung (»Risikengemeinschaft«) zu implementieren. Sie versprachen sich davon, den staatlichen Zusammenhalt zu stärken. Daher prägte das doppelte Vorhaben von Zentralisierung und Lokalisierung staatlicher Sozialpolitik sowohl Koerbers Pläne für den Ausbau der Unfall- und Krankenversicherung als auch die nachfolgenden Projekte zur Schaffung einer Sozialversicherung. Diese Deutungsmuster waren besonders anschlussfähig an die Probleme der letzten Kriegsjahre, in denen Protestaktionen und Streiks zunahmen.223 Sozialpolitik schrieb man unter diesen Bedingungen erneut eine integrierende Funktion zu. Zugleich bot der wahrgenommene Legitimationsdruck in dieser Phase des Krieges die Chance, Reformvorhaben durchzusetzen. Das Abweichen vom bisherigen sozialpolitischen Governance-Modell spiegelt sich auch im Bedeutungsgewinn neuer Akteure im Ministerium für soziale Fürsorge wider. Dort waren nicht Beamte des Innenministeriums bestimmend, das in der bisherigen Governance die zentrale Stellung eingenommen hatte. Stattdessen waren vor allem Beamte aus dem Handelsministerium in leitenden Funktionen tätig. Dieses hatte sich ab der Jahrhundertwende als zweites sozialpolitisches Zentrum in der cisleithanischen Ministerialverwaltung etabliert. Der bisherige Leiter des arbeitsstatistischen Amtes, Viktor Mataja, wurde Sozialminister. Von den vier Sektionschefs des neuen Ministeriums kamen zwei aus dem Handels- und nur einer aus dem Innenministerium.224 Verstaatlichung und Professionalisierung kennzeichneten die Reformvorhaben des Ministeriums für soziale Fürsorge für die Re-Integrationsmaßnahmen. Gleichzeitig maßen die Beamten der sozialen Einbettung der Fürsorgeverwaltung jedoch große Bedeutung bei. Der Vertrauensbegriff spielte daher auch bei ihnen eine wichtige Rolle. Als etwa der Leiter der oberösterreichischen Arbeitsvermittlung in einer ministeriellen Besprechung den Misserfolg seiner Anstalt 222 ÖStA, AdR, BMfsV, Sek. 2/Kb Kt. 1363, 25655/1918, S. 1–3. 223 Plaschka u. a.; Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg, S. 905–910. 224 o. A., Hof- und Staatshandbuch der österreichisch-ungarischen Monarchie für das Jahr 1914, S. 410; o. A., Hof- und Staatshandbuch der österreichisch-ungarischen Monarchie für das Jahr 1918, S. 435.

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auf eine angebliche »minderwärtig[e] [sic] moralische Qualität«225 der Kriegsversehrten zurückführte, entgegnete Sektionschef Otto Gasteiger, ob dieser nicht vielmehr daraus resultiere, dass die Berufsberater »zu wenig das Vertrauen des Invaliden«226 besitzen würden. Um dies zu erreichen, verschoben die Beamten in ihren Reformplänen an der Jahreswende 1917/1918 jedoch die Koordinaten dieser sozialen Einbettung. Nicht mehr lokale oder nationale Zugehörigkeit dienten als Bedingungen eines Vertrauensverhältnisses zwischen Verwaltung und Kriegsversehrten, sondern die Mitwirkung der Betroffenen. Kriegsversehrte sollten nun selbst als Beamte in den untersten Instanzen der Fürsorgeverwaltung beschäftigt werden.227 Auch wenn diese Reformversuche den Zerfall der Habsburgermonarchie nicht verhindern konnten, knüpften die Nachfolgestaaten Österreich und die Tschechoslowakei an diese Überlegungen zur Organisationsstruktur und Partizipation der Kriegsversehrten an.228 Wie Zivil- und Militärverwaltung mit Kriegsversehrten umgingen und darüber auch ihr Verhältnis zueinander aushandelten, macht die Problemlagen aber auch Potenziale der sozialpolitischen Governance Cisleithaniens deutlich. Konflikte zwischen Zivil- und Militärverwaltung stellten ein wichtiges Moment der Re-Integrationsmaßnahmen dar, die Herausforderungen des Verwaltungshandelns darauf zu reduzieren, greift jedoch zu kurz. Denn es waren die Governancestrukturen der Re-Integrationsmaßnahmen selbst, welche diese Reibungspunkte hervorbrachten. So untergrub der Status der Landeskommissionen als ehrenamtliche Einrichtungen ihre Funktion als Koordinierungsstellen, da sie ihre Autorität zunächst eher aus ihren hochrangigen Mitgliedern schöpften und eben nicht aus einem offiziellen Amtscharakter. Zudem fehlten ihnen gesicherte personelle und finanzielle Ressourcen, um nicht nur in den Zentren, sondern auch in den sozialen Kleinräumen dauerhaft präsent zu sein. Aber die Probleme reichten noch tiefer. Wie die Sozialpolitik vor 1914 waren auch die Re-Integrationsmaßnahmen gekennzeichnet von einem Spannungsverhältnis zwischen der normensetzenden Funktion der staatlichen Verwaltung und dezentralen Entscheidungsstrukturen. Es zeigte die Grenzen zentralstaatlicher Gestaltungsmacht auf und gestattete lokalen Akteuren alternative Wertmaßstäbe genau dort durchzusetzen, wo Politiker und Ministerialbeamte den sozialpolitischen Handlungsdruck verortet hatten: bei der Versorgung und ReIntegration der betroffenen Soldaten. Die zentralstaatliche Prämisse einer Versorgungspflicht konkurrierte daher mit anderen Prinzipien, die zum Teil aus anderen Feldern der Fürsorge (Würdigkeit) oder aus etablierten militärischen Verfahren (Tauglichkeit) stammten. Diese Reibungen zogen Konflikte zwischen zentralstaatlichen und lokalen Beamten nach sich und sie führten dazu, dass

225 ÖStA, AdR, BMfsV, Sek. 2/Kb Kt. 1358, 4471/1918, S. 3. 226 Ebd., S. 4. 227 Ebd., S. 3; zu den »Vorzeigeinvaliden« siehe: Kienitz, Beschädigte Helden, S. 192–209. 228 Becker, ›Die kameradschaftlichste Unterstützung‹.

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Kriegsversehrten Versorgungsansprüche entzogen oder sie wieder zu militärischen Diensten verpflichtet wurden. Aber sie bedeuteten nicht einfach, dass die Verwaltung versagte. Denn aus diesen Herausforderungen entstanden auch Lösungspotenziale. So reagierten einige Akteure auf die Spannungen zwischen zentralstaatlichen Normen und lokalem Verwaltungshandeln mit eigenen Regelungsversuchen ›von unten‹. Manche wie Eger bauten zudem eigene Fürsorgestrukturen auf. Derartige Lerneffekte lassen sich jedoch nicht nur auf den mittleren Verwaltungsebenen feststellen. So griff das Ministerium für soziale Fürsorge Egers Pläne auf, obwohl er sich den bestehenden zivilen Strukturen entgegengestellt hatte. Dieses Vorgehen demonstriert, dass selbst in der Spätphase des Krieges die zentralstaatliche Verwaltung noch das Potenzial entfaltete, Tendenzen aufzugreifen und für sich nutzbar zu machen, welche die Autorität imperialer Sozialpolitik untergruben.

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3. Soziale Re-Integration durch Arbeit Als im Herbst 1914 die mediale Berichterstattung über Kriegsverletzungen und Amputationen einsetzte, lieferten die Artikel ein Narrativ des ›Krüppeltums‹:1 Die körperliche Behinderung sei ein unabänderliches Schicksal, das Abhängigkeit von der Familie und von privater Wohltätigkeit bedeute.2 Das Konzept sozialer Re-Integration Kriegsversehrter musste aktiv gegen diese Betrachtungsweise durchgesetzt werden. Hier spielten Akteure der Sozialversicherung und der Kinderfürsorge eine wichtige Rolle. Sie propagierten seit Herbst 1914 rehabilitative Behandlungen als die richtige Vorgehensweise gegenüber Kriegsversehrten. Aber soziale Re-Integration war kein rein medizinisches Projekt, sondern knüpfte an biopolitische, ökonomische und sozialwissenschaftliche Diskurse der Vorkriegsjahre an. Seit der Jahrhundertwende gewann Arbeit als Schnittpunkt zwischen Individuum und Umwelt an Bedeutung. Diese Debatten waren einerseits geprägt vom sozialdarwinistischen Bild des »Wettbewerb[s] der Staaten und Völker«,3 andererseits gekennzeichnet von interdisziplinären Perspektiven. So nutzten cisleithanische und deutsche Sozialreformer Methoden der zeitgenössischen Sozial- und Moralstatistik ebenso wie das physiologische Konzept des Energiehaushalts,4 um die Auswirkungen der Industriearbeit und der Lebensbedingungen der Arbeiterschaft zu erforschen.5 Ökonomen wie Heinrich Herkner verknüpften unter dem Begriff der »Arbeitsfreude« die Untersuchung des individuellen Energiehaushalts mit emotionalen Zuständen und ihren Auswirkungen auf die Produktivität.6 In Cisleithanien bildete sich eine Gruppe von Medizinern, welche den Anspruch verfolgte, sozialstatistische Daten dafür nutzbar zu machen, potenziell krankmachende Beziehungen zwischen Individuum und Umwelt zu identifizieren. Sie waren in der Krankenversicherung tätig und konzentrierten sich daher insbesondere auf den Arbeitsplatz als Krankheitsfaktor.7 Die Hinwendung zur Untersuchung der Wechselwirkungen zwischen Individuum und Umwelt beförderte eine immer detailliertere Verortung des Einzelnen in einem Netz ökonomischer, sozialer und pathologischer Faktoren. Dabei war eine der zentralen Fragen, ob sich Pathologien durch Veränderungen in den Lebensbedingungen beheben ließen oder nicht.8 So unterschiedlich diese Perspektiven zum Teil waren, sie bezogen ihre Legitimation daraus, neue 1 Kienitz, Beschädigte Helden, S. 111–117. 2 Siehe u. a.: o. A., Amputationen an Verwundeten. 3 Philippovich, Individuelle Verantwortlichkeit und gegenseitige Hilfe im Wirtschaftsleben, S. 569. 4 Rabinbach, S. 47–62; Sarasin, S. 242–248. 5 Singer; Weber. 6 Campbell; Donauer. 7 Hubenstorf. 8 Šimůnek; Roelcke; Repp; Hofer; Feichtinger.

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Einsichten in soziale Problemlagen und bevölkerungspolitische Handlungsmaximen zu liefern. Insbesondere sollten sie zur Steigerung der Leistungskraft von Bevölkerung und Staat beitragen, damit sie in einem wahrgenommenen internationalen Wettkampf konkurrenzfähig blieben. Diesen Anspruch übertrugen die verschiedenen biopolitischen Akteure nun auf die Re-Integrationsmaßnahmen für Kriegsversehrte. Am 21. Oktober 1914 berichtete die böhmische Lokalzeitung »Teplitz-Schönauer Anzeiger« von einem verletzten Soldaten aus der Region, dessen Fuß amputiert werden sollte: »[D]er Arme weinte und sagte, dann bin ich ja nachher ein Krüppel, er möchte doch lieber sterben, als ein Krüppel sein […].«9 Das Motiv, dass der Tod das ›bessere‹ Schicksal als ein Leben mit Behinderung sei, fand sich so häufig, dass bereits zeitgenössisch Kritik an diesem Erzähltopos laut wurde.10 Andere Artikel wiederum überhöhten die Kriegsverletzungen als »heilig«.11 Insgesamt zeichnete die Berichterstattung jedoch ein Bild der betroffenen Soldaten als hilflos. Sie wurden daher zunächst als Objekte der Armenfürsorge gesehen, und die ersten Fürsorgeinitiativen, die bald nach Kriegsbeginn einsetzten, waren dieser Perspektive verpflichtet. Sie bestanden in Spendensammlungen oder der Schaffung von Unterstützungskassen.12 Gegen diese Sichtweise auf Kriegsverletzungen begannen Mediziner im Herbst und Winter 1914, Stellung zu beziehen. Statt der Unabänderlichkeit des Schicksals als ›Krüppel‹ betonten sie die Therapierbarkeit der Verletzungen und beanspruchten für sich die Kompetenz, die Verletzungen heilen oder zumindest ihre Folgen minimieren zu können.13 Anton Bum hielt im Herbst 1914 und Frühjahr 1915 zahlreiche öffentlichkeitswirksame Vorträge über die Möglichkeiten und Erfolge medizinischer Therapien bei verletzten Soldaten.14 Hans Spitzy setzte sich seit November 1914 für die Gründung einer Krankenanstalt speziell für verletzte Soldaten ein. Das daraus entstehende Wiener Reservespital Nr. 11, das Spitzy über den Krieg hinaus leitete, wurde zu einer Modelleinrichtung für die Heilung, Therapierung und Schulung von Kriegsversehrten in der Habsburgermonarchie.15 Beide betonten, dass die Durchführung therapeutischer Maßnahmen im Interesse des Staates sei. Während es die Aufgabe der Medizi9 o. A., Ein Teplitzer im serbischen Spital verstorben, S. 4. 10 o. A., Die Schwere der Kriegswunden und ihre Heilung, S. 3. 11 o. A., Wunden, die heilig sind. 12 Siehe zum Beispiel: VÚA, VHA, KK9, Praes. 1451/1916 Kriegsfürsorgefond [sic] der Truppenkörper. 13 Alison Kafer betont die Bedeutung des Postulats der Therapierbarkeit und die damit einhergehende Einordnung von ›Behinderung‹ in einen neuen Zeithorizont (»curative time«): Kafer, S. 25–46; zur »Normalisierung«, der Kriegsbeschädigte als Menschen mit Behinderung unterworfen waren siehe: Gerber, Introduction, S. 8–9. 14 Zu Bums Vorträgen: o. A., Die Verhütung der Krüppelhaftigkeit bei den Kriegsinvaliden; o. A., Kriegsinvalide und die Verhütung der Krüppelhaftigkeit. 15 Spitzy, Unsere Kriegsinvaliden; zu Spitzy und dem Reservespital Pawlowsky u. Wendelin, Die Wunden des Staates, S. 117–123.

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ner sei, diese Heilmethoden anzuwenden, implizierten sie damit auch, dass der Staat die notwendigen Mittel und Einrichtungen zur Verfügung stellen sollte. Die Erfolgsaussichten therapeutischer Maßnahmen waren ein wichtiges Element des Konzepts sozialer Re-Integration, aber sie allein reichten nicht aus. Andere Wissenschaftler explizierten genauer, warum es im ›Interesse des Staates‹ sei, sich um Kriegsversehrte zu kümmern, indem sie die sozialen und ökonomischen Dimensionen des sozialen Phänomens der Kriegsversehrten in den Vordergrund rückten. Der transleithanische Sozialwissenschaftler Emerich / Imre Ferenczi setzte sich in einem Zeitungsartikel im »Pester Lloyd« vom 8. Dezember 1914 dafür ein, »[d]ie Zukunft der Kriegsverletzten als volkswirtschaftliches Problem« zu betrachten.16 Den Kriegsversehrten wieder die Möglichkeit zu geben, erwerbstätig zu sein, sei aus mehreren Gründen eine Aufgabe des Staates. Es sei seine moralische Pflicht für die Kriegsversehrten zu sorgen, weil sie »ihre Gesundheit fürs Vaterland geopfert haben«.17 Bei der Art der Versorgung seien jedoch auch die Implikationen für Wirtschaft und Gesellschaft der Habsburgermonarchie miteinzubeziehen. Es gelte, so Ferenczi, der Monarchie »die möglich größte Summe an Arbeitskraft [zu] erhalten«.18 Dies war umso wichtiger als zeitgenössische Ökonomen die männliche Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter zwischen dem 15. und dem 60. Lebensjahr als determinierenden Faktor für die »Produktionsfähigkeit eines Volkes« ansahen.19 Hier genüge medizinische Behandlung allein jedoch nicht, sondern es bedürfe einer umfassenderen Sozialpolitik für Kriegsversehrte. Diese müsse, so argumentierte Ferenczi, aus den Fehlern der bestehenden Sozialversicherungen lernen. Hier knüpfte Ferenczi an seine eigenen Arbeiten zu Arbeitslosigkeit an, stützte sich aber zusätzlich auf die Ergebnisse der Untersuchungen von Siegfried Kraus. Dieser hatte noch vor Kriegsbeginn am Frankfurter Institut für Gemeinwohl eine Studie zum »Berufsschicksal Unfallverletzter« in der Chemieindustrie und der Baubranche durchgeführt.20 Schon im Herbst 1914 wandte Kraus die Erkenntnisse seiner Studie auf verletzte und erkrankte Soldaten an, als die Frage breite Aufmerksamkeit erhielt, wie Staat und Gesellschaft mit Kriegsversehrten umgehen sollten. Durch Zeitungsartikel und Vorträge positionierte er sich als Experte in der Diskussion um die Ausgestaltung von Fürsorgemaßnahmen im Deutschen Kaiserreich.21 Ferenczi und Kraus waren in ihren Arbeiten zu Arbeitslosigkeit zu dem Ergebnis gelangt, dass Unfallverletzte mit eingeschränkter Arbeitsfähigkeit länger erwerbslos waren. 16 Ferenczi, Die Zukunft der Kriegsverletzten als volkswirtschaftliches Problem, S. 12. 17 Ebd. 18 Ebd. 19 Zitat entnommen aus: Philippovich, Grundriß der politischen Ökonomie, Bd. 1: Allgemeine Volkswirtschaftslehre, S. 53. 20 Die Studie erschien erst 1915 als Buch: Kraus, Über das Berufsschicksal Unfallverletzter. 21 o. A., Fürsorge für die Kriegsinvaliden; Kraus, Unfallverletzte und Kriegsverletzte.

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Kraus hatte zudem herausgearbeitet, dass selbst viele derjenigen, die wieder eine Anstellung fanden, unter ihrem früheren Lebensstandard verblieben, da sie nur schlechter bezahlte Posten erhielten. Kraus und Ferenczi sahen darin die Folge eines Fehlers in der Konzeption der Unfallversicherung, der in der Kriegsversehrtenfürsorge nicht wiederholt werden sollte. Die Versicherung habe zwar eine Rente und rehabilitative Behandlung umfasst, die »Verwertung des […] Restes an Erwerbsfähigkeit jedoch allein dem einzelnen Verletzten […] überlassen.«22 Noch expliziter war Ferenczi, der feststellte, dass »das Fehlen solcher Einrichtungen [Arbeitsvermittlung und Ausbildung für neue Berufe; T. S.R.] […] schon im Rahmen unserer Unfallversicherung sehr ungünstige Folgen nach sich [zog].«23 Beide plädierten daher dafür, es nicht bei der Rehabilitation Kriegsversehrter zu belassen, sondern Arbeitsvermittlung und Ausbildung in die Fürsorge zu integrieren. Für Kraus und Ferenczi war die individuelle Arbeitskraft nicht nur Kapital des Einzelnen, sondern sie stellte einen zentralen Faktor volkswirtschaftlicher Produktivität dar. Daher könne man es nicht dem Betroffenen selbst überlassen, die eigene Re-Integration zu bewerkstelligen. Gemäß der zeitgenössischen biopolitischen Diskurse sollte vielmehr sichergestellt werden, dass die individuelle Leistungsfähigkeit optimal genutzt werde. Diese Konzentration auf die erneute Erwerbstätigkeit begründeten Ferenczi und Kraus jedoch nicht allein mit ihrer makroökonomischen Bedeutung für den Staat. Erwerbstätigkeit habe einen darüberhinausgehenden Wert. Denn ohne Rückführung der Kriegsverletzten in Arbeitsverhältnisse drohten »soziale Gefahren«24 bzw. »schwere seelisch-sittliche Gefahren«.25 Der Bezug einer Rente allein könne diese nicht verhindern, so Ferenczi, und würde den Kriegsverletzten »kein Glück« bringen.26 Kraus führte erst in der Buchpublikation seiner Studie genauer aus, was er unter diesen Gefahren verstand: die Bitterkeit über die erlittene Einbuße an Kraft und Lebensfrische, über die Schwierigkeiten, die sich der Erlangung neuer Arbeit entgegenstellen, die seelische Entkräftung, die lange Arbeitslosigkeit oft bewirkt, und auf der anderen Seite die Gewöhnung an den Bezug ohne Arbeit gewonnenen Einkommens (Rente).27

Aber Ferenczi und Kraus mussten diese Gefahren in ihren Zeitungsartikeln gar nicht näher ausführen. Denn ihre Argumentation war getragen von impliziten Bezügen auf zeitgenössische gesellschaftliche Debatten sowie auf wissenschaftliche Erkenntnisse und Konzepte, die sich um die Wechselwirkungen von Arbeit, Arbeitslosigkeit und Charakter drehten. 22 Kraus, Unfallverletzte und Kriegsverletzte, S. 3. 23 Ferenczi, Die Zukunft der Kriegsverletzten als volkswirtschaftliches Problem, S. 12. 24 Ebd. 25 Kraus, Unfallverletzte und Kriegsverletzte, S. 4. 26 Ferenczi, Die Zukunft der Kriegsverletzten als volkswirtschaftliches Problem, S. 12. 27 Kraus, Über das Berufsschicksal Unfallverletzter, S. 101.

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Die korrumpierende Wirkung finanzieller Unterstützung war ein etablierter Topos der Armenfürsorge.28 In den Debatten über die sozialen Auswirkungen der Sozialversicherungen erhielt er jedoch mit dem Konzept der ›Rentenhysterie‹ eine neue Facette. Damit beschrieben Mediziner die negativen psychischen Effekte der Aussicht auf eine Rente.29 Sozialwissenschaftliche Untersuchungen des »Vereins für Socialpolitik« befassten sich damit, wie industrielle Arbeit soziale Beziehungen und die emotionale Verfasstheit der Arbeiterschaft beeinflusste.30 Rechts- und Gesellschaftswissenschaftler sowie Kriminologen debattierten gleichzeitig, ob Arbeitslosigkeit eine Folge oder eine Ursache ›schlechter‹ Charaktereigenschaften sei.31 Kraus und Ferenczi vertraten eindeutig die letztere Ansicht. Sie gingen jedoch über die Debatte zu Arbeitslosigkeit hinaus und verschränkten die unterschiedlichen Topoi zeitgenössischer Diskurse zu einem kohärenten sozialpolitischen Projekt für Kriegsversehrte. Wie die Mediziner Bum und Spitzy stellten auch Ferenczi und Kraus die Kriegsverletzungen als lösbares ›Problem‹ dar. Sie verknüpften die medizinische Rehabilitation aber darüberhinausgehend mit ökonomischen und sozialen Zielen. Dadurch waren ihre Forderungen anschlussfähig an die biopolitischen Diskurse der Vorkriegsjahre, die sich um die »Produktivität der Volkswirtschaft«, die »gesellschaftlichen Kosten« industrieller Produktionsprozesse und die Bevölkerung als »organische[s] Kapital« des Staates gedreht hatten.32 Zudem benannten sie mit Arbeitsvermittlung und beruflicher Ausbildung konkrete Maßnahmen, die gesetzt werden sollten und auf existierende Einrichtungen aufbauen konnten. Diese Perspektive auf die Kriegsversehrten erwies sich als äußerst einflussreich. Als Ministerpräsident Stürgkh im Winter 1914 die Kriegsversehrtenfürsorge in Cisleithanien einleitete, verwies er explizit auf den Artikel Ferenczis.33 Die Folgen des Krieges würden, führte Stürgkh aus, »bei der Natur des Heeres als eines Volksheeres geradezu das Volksganze« betreffen.34 Es sei daher notwendig, die Erwerbsfähigkeit verletzter und erkrankter Soldaten durch Therapien, Ausstattung mit Prothesen, berufliche Ausbildung und Arbeitsvermittlung zu erhalten oder wiederherzustellen. Den Topos der negativen Auswirkungen der Erwerbslosigkeit bediente wiederum Innenminister Heinold in einem ersten Schreiben an die Landeschefs: Das Ziel der Kriegsversehrtenfürsorge müsse sein, die Betroffenen »dem Erwerbsleben als nützliche Mitglieder der Gesellschaft wieder zuzuführen und [sie] so vor dem Schicksale mit sich und der Welt zerfallener Almosenempfänger zu bewahren.«35 Damit war die neue wissen28 Landes, S. 228–231. 29 Eghigian, The German Welfare State as a Discourse of Trauma; Hofer, S. 89–135; Schäffner. 30 Rabinbach; Donauer; Campbell. 31 Wadauer, S. 31–70. 32 Ständiger Ausschuss, S. 329, 550; Goldscheid, S. 46; Baader; Taschwer; Hofer. 33 ÖStA, AVA, MdI, Praes. 19 Kt. 1862, 19093/1914. 34 Ebd. 35 ÖStA, AVA, MdI, Praes. 19 Kt. 1862, 3501/1915.

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schaftliche Problematisierung Kriegsversehrter als ein Phänomen, mit dem »[s]chwerwiegende sozial-ethische und volkswirtschaftliche Interessen« verknüpft seien,36 auf der politischen Agenda angekommen, und es sollten Maßnahmen entwickelt werden, um die negativen ökonomischen und sozialen Folgen abzuwenden, die man bei einer unzureichenden Re-Integration der Betroffenen fürchtete. Die »Grundsätze der Invalidenfürsorge«, die Kriegsminister Alexander von Krobatin am 8. Juni 1915 per Erlass publizierte, zeigen am deutlichsten, dass sich führende zivile und militärische Stellen diese Definition kriegsversehrter Soldaten als ›Problem‹ zu eigen machten und Re-Integrationsmaßnahmen dementsprechend konzipierten: Erster und oberster Grundsatz der Invalidenfürsorge muß sein, Personen, die […] im Kriege ihre Erwerbsfähigkeit ganz oder zum Teile eingebüßt haben, im Interesse des Einzelindividuums nicht minder, wie im Interesse der Allgemeinheit wieder zu möglichst vollwertigen, aufrechten Mitgliedern der staatlichen Gemeinschaft zu machen […].37

Die Re-Integrationsmaßnahmen sollten verhindern, dass verletzte und erkrankte Soldaten die gesellschaftliche und wirtschaftliche Stellung verloren, die sie vor dem Krieg innegehabt hatten. Dazu seien medizinische Rehabilitation, berufliche Ausbildung und Arbeitsvermittlung notwendig.38 In der Aussage »vollwertige, aufrechte Mitglieder der staatlichen Gemeinschaft« stellte der Kriegsminister mit dem doppeldeutigen Wort »aufrecht« eine Analogie zwischen dem physischen und moralischen Zustand der Kriegsinvaliden her. Er setzte dies in Beziehung zu ihrer Arbeitsfähigkeit und steckte somit die Parameter des Re-Integrationsvorhabens ab: Es sollte auf medizinischer, ökonomischer und moralischer Ebene erfolgen. Diese Verknüpfung griffen in den folgenden Monaten wiederum Mediziner auf, um ihre Position als Experten in der Kriegsversehrtenfürsorge zu behaupten. Im Jahr 1915 publizierte der spätere Amtsarzt im Wiener Invalidenamt Adolf Deutsch einen Beitrag zur »Psychologie der Invalidenfürsorge«. Darin stellte er es bereits als »soziologische Tatsache« dar, »daß das ethische Niveau solcher Menschen im Laufe der Jahre unaufhaltsam sinkt, deren Existenzmöglichkeit von privaten und staatlichen Unterstützungen allein abhängt.«39 Dies erachtete er jedoch nicht nur als Problem des Einzelnen, sondern als potenzielle Gefahr für das staatliche Gemeinwesen insgesamt. Denn, so führte Deutsch weiter aus, 36 Ebd. 37 Grundsätze der Invalidenfürsorge und Abgrenzung der Obliegenheiten der Militär- und Zivilstaatsverwaltung, Erlaß des Kriegsministers vom 8. Juni 1915, Z. 10942, Präs. an Militärkommanden, in: Mitteilungen des k.  k. Ministerium des Inneren über Fürsorge für Kriegsbeschädigte 1 (Juli 1915), S. 6. 38 ÖStA, AVA, MdI, Praes. 19 Kt. 1862, 19093/1914. 39 Deutsch, Zur Psychologie der Invalidenfürsorge, S. 102–103.

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»[d]ie Kinder solcher Almosenempfänger […] wachsen dann selten zu arbeitsfähigen, arbeitswilligen und vollwertigen Menschen heran«,40 da sie den materiellen und moralischen Wert der Arbeit nicht kennenlernen würden. Nicht nur drohten aus Staatsbürgern und Soldaten so Almosenempfänger und Bettler zu werden. Dieses Problem sozialer Devianz würde sich zudem in zukünftigen Generationen fortsetzen. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Monarchie schien daher nicht nur durch die schweren Verluste der ersten Kriegsmonate, sondern potenziell auch durch die sozialen Nachwirkungen von Verletzungen und Krankheiten ernsthaft bedroht zu sein. Die Kosten einer umfassenden Kriegsversehrtenfürsorge seien demgegenüber gering. Diese Verflechtung der ökonomischen mit einer biopolitischen Dimension in der Neudefinition Kriegsversehrter als soziales Problem setzte sich rasch durch, wie die Abhandlungen weiterer Politiker und Beamter demonstrieren. Gustav Marchet, ehemaliger Unterrichtsminister und Mitglied des Herrenhauses, legte 1915 eine Abhandlung mit Reformvorschlägen für die Kriegsversehrten- und Hinterbliebenenfürsorge vor. Darin bezeichnete er die finanziellen Ausgaben für die Re-Integration der betroffenen Soldaten als »Produktionskosten im volkswirtschaftlichen Betriebe«, die »wertschaffend und werterhöhend« wirken würden.41 Rudolf Peerz, ein Kriegsberichterstatter, der 1916 im Auftrag des Innenministeriums in verschiedenen Kronländern mit Vorträgen für die Re-­Integrationsmaßnahmen warb, propagierte bereits 1915 in seiner Schrift »Unsere Sorge um die Kriegsinvaliden« die Maßnahmen zur Re-Integration Kriegsversehrter als Teil einer »Ökonomie mit dem menschlichen Staatsgut«.42 Die positive Bewertung der Re-Integrationsmaßnahmen war jedoch keineswegs einhellig. So betrachtete etwa der Mediziner Julius Tandler die Kriegsversehrtenfürsorge mit ähnlichen Konzepten, kam jedoch zu einem deutlich weniger positiven Urteil. Er behandelte dieses Thema im Rahmen seines Vortrages zu »Krieg und Bevölkerung« im Jahr 1916 als »qualitative Schadensgutmachung« der Kriegsfolgen.43 Ähnlich wie Ferenczi und Deutsch vor ihm betonte er, dass die Folgen der Invalidität zwar »direkt […] nur unsere Generation, indirekt aber auch die nächsten«44 betreffe. Schließlich bedeute das »Herabsinken der Eltern in ein tieferes Milieu […] in einem gewissen Prozentsatz […] nichts anderes, als das Hineinsetzen der Kinder in den Pauperismus«.45 Einerseits plädierte er unter diesen Gesichtspunkten für eine staatliche und gesetzlich geregelte Invalidenfürsorge, die es ermögliche, »daß man die Minderarbeitsfähigen auf jene Posten stellt, auf denen sie noch konkurrieren können«.46 Andererseits kriti40 Ebd., S. 103. 41 Marchet, S. 67. 42 Peerz, S. 9. 43 Tandler, S. 213. Zu Tandler siehe: Baader, S. 101–134. 44 Tandler, S. 213. 45 Ebd. 46 Ebd.

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sierte Tandler mit menschenverachtendem Vokabular die Aufwendungen für sozial Schwache, die er als »Minusvarianten« abqualifizierte, als »menschenökonomisch unrichtig und rassenhygienisch falsch«.47 Tandlers Vortrag demonstriert, dass eine biopolitische Problematisierung Kriegsversehrter auch darin münden konnte, den Re-Integrationsmaßnahmen und den Betroffenen selbst ihren gesellschaftlichen und individuellen Wert abzusprechen. Tandlers euge­ nische Kritik an den Re-Integrationsmaßnahmen macht allerdings auch deutlich, dass die gesellschaftliche Position der Kriegsversehrten in den Re-Integrationsmaßnahmen höchst ambivalent war. Sie galten trotz ihres Militärdienstes nicht mehr als ›vollwertige‹ männliche Staatsbürger, und das (implizite)  Versprechen, dass die Re-Integrationsmaßnahmen sie wieder dazu machen könnten, war äußerst fragil.48 Mediziner und Vertreter der Sozialwissenschaften erklärten die Kriegsversehrtenfürsorge an der Jahreswende 1914/1915 zu einem politischen Imperativ. Die Entwicklung der Sozialversicherung vor 1914 trug paradoxerweise sowohl durch ihre Erfolge als auch ihre Misserfolge zur Durchsetzung dieses Projekts der sozialen Re-Integration bei. Die Etablierung rehabilitativer Therapien, die einzelne Mediziner vorangetrieben hatten, demonstrierte, dass Behandlungen möglich waren. Die Möglichkeiten der rehabilitativen Medizin allein reichten jedoch nicht aus, um das Projekt einer sozialen Re-Integration Kriegsversehrter durchzusetzen. Denn Wissenschaftler untersuchten am Vorabend des Ersten Weltkrieges erstmals, wie sich Unfallverletzungen auf die Erwerbsbiografien der Betroffenen auswirkten. Sie konnten zeigen, dass die Sozialversicherung hier versagte, und leiteten daraus ab, was man in der Kriegsversehrtenfürsorge anders machen sollte. Sie verknüpften das Postulat der rehabilitativen Therapierbarkeit verletzter und erkrankter Soldaten mit ökonomischen und biopolitischen Diskursen. Erst dadurch entfaltete es seine politische Wirksamkeit. Im Zentrum dieser Konzeption sozialer Re-Integration kriegsversehrter Soldaten stand der Begriff der ›Arbeit‹: ›Arbeit‹ verband die Sorge um die ökonomische Produktivität der Monarchie mit den Bemühungen, einen sozialen und moralischen Abstieg kriegsversehrter Soldaten zu verhindern. Die Aufgabe der Re-Integrationsmaßnahmen erblickten zeitgenössische politische und zivilgesellschaftliche Akteure nicht nur darin, der Monarchie die männliche Bevölkerung als Produktionsfaktor zu erhalten. Mit den Begriffen ›Arbeit‹ und ›Arbeitsfähigkeit‹ stellten sie zugleich eine Verbindung zwischen individueller Erwerbsfähigkeit und ökonomischem Nutzen für den Staat, zwischen gesellschaftlicher Anerkennung und individueller Moralität her. Auf diesen Ebenen sollten die Re-Integrationsmaßnahmen wirksam werden: Es galt die körperliche Arbeitsfähigkeit der kriegsversehrten Soldaten durch therapeutische Maßnahmen wiederherzustellen, ihre Erwerbsfähigkeit durch berufliche Ausbildung zu gewährleisten und sie durch Arbeitsvermittlung in Beschäftigungsverhält47 Ebd. 48 Kienitz, Beschädigte Helden, insbes. S. 259–286.

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nissen unterzubringen, die ihrer Leistungsfähigkeit und ihren Qualifikationen entsprachen und ihren Lebensunterhalt sicherstellten. Die zentrale Frage war daher, welche Formen der Erwerbstätigkeit diesen multiplen Ansprüchen genügen konnten. 3.1 Was ist angemessene Arbeit? Die Re-Integrationsmaßnahmen sollten es Kriegsversehrten ermöglichen, einen Beruf auszuüben, der ihren Qualifikationen entsprach, ihnen soziale Anerkennung verschaffte und durch ökonomische Sicherheit auch ihre moralische Integrität gewährleistete; gleichzeitig sollte dieser Ansatz ihren Nutzen für Staat und Gesellschaft sicherstellen.49 Otto Burkard, der 1913 in Graz für Sozialmedizin habilitiert wurde, brachte diese Ziele in seinem Bericht über die berufliche Ausbildung Kriegsversehrter in den »Mitteilungen des k. k. Ministeriums für Inneres über die Fürsorge für Kriegsbeschädigte« auf den Punkt: Mag also der Verletzte ›individuell‹ zwar bereits geheilt sein, so ist er doch insolange nicht auch als ›social‹ geheilt zu betrachten, solange er nicht als arbeitsfähiges, produzierendes Glied der Gesellschaft zurückgegeben ist.50

Umfassender als in den bestehenden Formen der Arbeitsvermittlung beanspruchten Politiker, Beamte, Mediziner und Gewerbefachleute durch Berufs­ beratung, Ausbildung und Arbeitsvermittlung, die Berufswahl Kriegsversehrter lenken zu können und müssen. Die Beamten des Ministeriums für öffentliche Arbeiten betonten in einem Erlass vom 2. August 1915, der die berufliche Ausbildung verletzter und erkrankter Soldaten regelte, dass es keinesfalls darum gehe, ihnen »tunlichst rasch irgendeine Erwerbsmöglichkeit« zu verschaffen, sondern sie als »vollwertige, qualifizierte Arbeiter« ins Erwerbsleben zurückzuführen.51 Doch welche Beschäftigungsverhältnisse waren dazu geeignet? Die Beamten und Fachleute erblickten in der Rückkehr der Betroffenen zu ihren Vorkriegsberufen das am besten geeignete Mittel, die Ziele der Re-Integrationsmaßnahmen zu erfüllen.52 Eine Umschulung der Betroffenen zu neuen Berufen sollte nur dann erfolgen, wenn Verletzungen oder Erkrankungen die Ausübung des früheren Berufes unmöglich machten. Die Kriterien der Rückkehr in jenen Beruf, der vor dem Krieg ausgeübt worden war, waren allerdings nicht präzise bestimmt. Zeitgenossen erfassten darunter unterschiedliche Vorgänge, wie die Höherqualifizierung Kriegsversehrter 49 Siehe dazu auch: Rohringer, Arbeitsfreude und Selbstvertrauen, S. 172–175. 50 Burkard, Über die Schulung Kriegsinvalider, S. 99. 51 o. A., Die staatliche Invalidenschulaktion, S. 23. 52 Leitsätze für die staatliche Invalidenschulaktion, Erlaß des Ministers des Inneren vom 15. Juni 1915, Z. 9389 M. I., in: Mitteilungen des k. k. Ministeriums des Innern über Fürsorge für Kriegsbeschädigte 1 (Juli 1915), S. 13.

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zu Werkmeistern oder Angestellten in der Betriebsverwaltung ebenso wie die Spezialisierung zu Detailarbeiten, solange sie in derselben Branche erfolgten.53 Was als Rückkehr in den früheren Beruf galt bzw. was als Umschulung zu gelten habe und wann eine Ausbildung für einen neuen Beruf notwendig sei, stand daher keineswegs von Anfang an fest. Vielmehr mussten zentralstaatliche und lokale Akteure wiederholt aushandeln, was eine ›angemessene‹ Arbeit für Kriegsversehrte sei. Zudem war die Frage, wer an diesen Aushandlungen teilnehmen durfte. Zunächst oblag die Beurteilung der Minderung der Berufsfähigkeit den entsprechenden militärischen Kommissionen zur Feststellung der Tauglichkeit.54 Die Kommissionen waren jedoch nur mit Militärärzten besetzt. Sie verfügten über keine Erfahrung damit, Ansprüche auf rehabilitative Therapien oder berufliche Ausbildung zu festzulegen. Um diese Entscheidungen zu professionalisieren, ordnete der Innenminister im September 1915 die Schaffung sogenannter Nachbehandlungskommissionen für verletzte Soldaten an, und der Kriegsminister folgte im Oktober mit entsprechenden Kommissionen für erkrankte Soldaten. Diese Gremien setzten sich aus höheren Offizieren, Militärärzten und Spezialärzten sowie Fachleuten für verschiedene Berufsgruppen zusammen.55 Somit waren zum einen Orthopäden, Chirurgen und Internisten beteiligt, die für sich beanspruchten, die individuelle Arbeitsfähigkeit einschätzen zu können. Die Landeskommissionen banden jedoch darüber hinaus Unternehmer, das Lehrpersonal der staatlichen Fachschulen, die Vertreter der landwirtschaftlichen Verbände und der Handels- und Gewerbekammern ein, die ihr Wissen über lokale und regionale ökonomische Bedingungen und Erfordernisse einbringen sollten. Den Kriegsversehrten selbst gestand man allerdings zunächst eine rein passive Rolle zu: Sie waren diejenigen, die von den Experten begutachtet werden sollten, um dem ›richtigen‹ Beruf zugewiesen zu werden.56 Ihre Wünsche und Erwartungen tat man oft als irrational und unrealistisch ab.57 Die Musikinstrumentenfabrik V. F.  Červený und Söhne in Königgrätz /  Hradec Králové in Böhmen liefert ein eindrückliches Beispiel dafür, wie die Pro53 Pawlowsky u. Wendelin, Die Wunden des Staates, S. 132–136. 54 Standes- und Gebührenbehandlung der der Nachbehandlung (Nachheilung und Schulung) zuzuführenden Kriegsbeschädigten, Erlaß des Kriegsministeriums vom 18. August 1915, Abt. 11, Nr. 29600, in: Mitteilungen des k. k. Ministerium des Inneren über Fürsorge für Kriegsbeschädigte 2 (August 1915), S. 18–19. 55 RGBl. 261/1915 Verordnung des Ministers des Innern im Einvernehmen mit den beteiligten Ministern vom 6. September 1915, betreffend die ärztliche Nachbehandlung und praktische Schulung der verwundeten oder gelähmten Militärpersonen, in: Mitteilungen des k. k. Ministerium des Inneren über Fürsorge für Kriegsbeschädigte 3 (September 1915), S. 32–33; Nachbehandlung (Nachheilung und Schulung) intern erkrankter Kriegsbeschädigter, Erlaß des k. u. k. Kriegsministeriums vom 15. Oktober 1915, Präs. Nr. 22301, an die Militärkommandos, in: Mitteilungen des k. k. Ministerium des Inneren über Fürsorge für Kriegsbeschädigte 5 (November 1915), S. 53–55. 56 Hsia, War, Welfare and Social Citizenship, S. 113; etwa: NAP, MVP-R Kt. 1044, 34631/1917; ebd., 4251/1917. 57 Siehe Kapitel B 3.2.

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ponenten der Re-Integrationsmaßnahmen zunächst bestimmen mussten, was als geeignete Arbeit anzusehen wäre.58 Im April 1916 unterbreitete die Firma der böhmischen Landeszentrale das Angebot, in ihrer Produktionsstätte einen Metallpolierkurs für Kriegsversehrte abzuhalten, welche der metallverarbeitenden Branche angehört hatten, jedoch aufgrund ihrer Kriegsverletzung nicht mehr in ihrem früheren Beruf arbeiten konnten. Kriegsversehrte zu beschäftigen, konnte für private Unternehmen durchaus attraktiv sein. Die Motive dafür waren vielfältig. So finden sich in den Quellen etwa Belege dafür, dass sich Unternehmer und Unternehmerinnen für langjährige Angestellte verantwortlich fühlten.59 Daneben spielten jedoch auch betriebswirtschaftliche Überlegungen eine gewichtige Rolle. Dazu zählte einerseits der Fachkräftemangel durch die Mobilisierung, den Arbeitgeber durch qualifizierte Kriegsversehrte ausgleichen wollten. Andererseits hegten sie die Erwartung, durch die Anstellung Kriegsversehrter Staatsaufträge und eine bevorzugte Belieferung mit Rohstoffen zu erhalten.60 Lehrgänge in Privatunternehmen mussten von den Beamten des Ministeriums für öffentliche Arbeiten genehmigt werden.61 Dessen Beamte lehnten den Vorschlag der Firma Červený und Söhne jedoch ab. Sie beanstandeten, dass »die Anlernung von Invaliden zu einer ganz bestimmten mechanischen Detailarbeit für ein bestimmtes, privates Fabrikunternehmen« nicht den Zielen der Re-Integrationsmaßnahmen entspreche.62 In der ministeriellen Stellungnahme kommt die zeitgenössische Kritik an der zunehmenden Spezialisierung der Industriearbeit zum Ausdruck: Sie lasse handwerkliche Kompetenzen verloren gehen und trage daher nicht zu einer Qualifizierung der Betroffenen bei. Die Beamten hegten zudem Bedenken, dass die Firma Červený den Kurs ledig­lich nutze, um Kriegsversehrte als billige Arbeitskräfte zu gewinnen.63 Bei der Einschätzung der Zweckmäßigkeit des Kurses kamen also verschiedene Faktoren zum Tragen. Gesellschaftliche Wertvorstellungen spielten hier eine wichtige Rolle. Darüber hinaus erwogen die Beamten die zukünftigen Chancen der Kriegsversehrten auf dem Arbeitsmarkt. Dazu bewerteten sie auch den Stellenwert des Betriebes im ökonomischen Gefüge der Region. Böhmen war eine der am stärksten industrialisierten Provinzen Cisleithaniens, trotzdem machten das kleingewerbliche Handwerk und die Landwirtschaft nach 1900 58 Rohringer, Arbeitsfreude und Selbstvertrauen, S. 174–176. 59 Siehe etwa: ÖStA, KA, KM, Abt.  9/IF Kt. 1226, 86/1916, 126/1916, 1514/1916, 1930/1916, 2078/1916. 60 Siehe etwa: ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1230, 151/1916; NAP, MVP-R Kt. 1043, 30977/1916. 61 Auf Basis der kaiserlichen Verordnung vom 7. Dezember 1915: RGBl. 364/1915 Kaiserliche Verordnung vom 7. Dezember 1915 mit der aus Anlaß des gegenwärtigen Krieges Ausnahmsbestimmungen zur Erleichterung des Antritts und der Fortführung von Gewerben getroffen werden, § 2; siehe auch: o. A., Tätigkeitsberichte der Landeskommissionen zur Fürsorge für heimkehrende Krieger über das Jahr 1917, S. 130. 62 NAP, MVP-R Kt. 1043, 36446/1916. 63 Zur zeitgenössischen Problematisierung der Industriearbeit siehe: Rabinbach, S. 42–95.

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noch einen bedeutenden Teil der böhmischen Wirtschaft aus.64 Josef Pokorny, ärztlicher Berufsberater am Wiener Reservespital Nr. 11, konstatierte 1916, dass man bei der Re-Integration Kriegsversehrter »nicht den Großbetrieb, sondern das Kleingewerbe vor Augen haben« solle.65 Aus diesen Gründen kamen die Beamten zu dem Schluss, dass ein Kurs, der Kriegsversehrte in einen spezialisierten, industriellen Arbeitsprozess einordnete, die individuelle Erwerbsfähigkeit der Betroffenen nicht steigere und somit auch nicht ihrer gesellschaftlichen Re-Integration nütze. Jan Šedivy, Referent der böhmischen Landeszentrale für Invalidenschulungskurse, und Josef Svatoš, Vertrauensmann des Ministeriums für öffentliche Arbeiten für die tschechischsprachigen Invalidenschulen in Böhmen, vertraten die gegenteilige Position. Sie argumentierten auf der Basis einer tayloristischen Auffassung des Körpers für die Schulung in der Firma Červený und Söhne: Die Zerlegung des Produktionsprozesses in genau definierte Arbeitsschritte und entsprechende Körperbewegungen böte neue Möglichkeiten, um verletzte und erkrankte Soldaten in den Arbeitsprozess einzugliedern. Idealerweise ließe sich für jede Kriegsverletzung ein Arbeitsschritt identifizieren, bei dem sie keine Einschränkung darstelle. Dieses Unterfangen verfolgten zeitgenössische Publikationen, wie Felix Krais’ »Die Verwendungsmöglichkeiten der Kriegsbeschädigten in der Industrie, in Gewerbe, Handel, Handwerk, Landwirtschaft und Staatsbetrieben« oder Carl Kostkas »Erwerbsmöglichkeit in Industrie und Gewerbe für Kriegsbeschädigte«. Sie waren als Nachschlagewerke für die ärztliche und berufliche Einschätzung und Beratung Kriegsversehrter konzipiert. Die Autoren setzten darin Gewerbezweige, Arbeitsschritte und körperliche Einschränkungen zueinander in Beziehung, um für Kriegsversehrte angemessene Erwerbsmöglichkeiten festzustellen.66 Einer solchen Sichtweise auf Kriegsversehrungen lag das physiologische und ökonomische Konzept der (Arbeits-)Leistung zugrunde, die objektiv messbar und damit auch vergleichbar sei.67 Das Ziel war es, die Kriegsversehrung insofern unsichtbar zu machen, dass sie die Arbeitsleistung der Kriegsversehrten nicht mehr beeinflusste. Andere Folgeerscheinungen der Kriegsversehrungen gerieten so jedoch gar nicht erst in den Blick. Bei bestimmten Berufsgruppen legte man besonderen Wert darauf, dass verletzte und erkrankte Soldaten sie weiterhin ausübten. Bauern und andere landwirtschaftliche Arbeitskräfte etwa sollten dem agrarischen Berufsfeld unbedingt erhalten bleiben. Diese Priorisierung landwirtschaftlicher Berufe hing einerseits mit gesellschaftspolitischen Diskursen der Vorkriegsjahre zusammen, in denen die Migration der Landbevölkerung in die Städte als soziales Problem dargestellt worden war. Andererseits resultierte sie aus Entwicklungen der Kriegszeit: Die sich nach 1916 rasant verschärfende Versorgungskrise sorgte dafür, dass die 64 Kövér, S. 51–83; Meißl, S. 323–377. 65 Pokorny, S. 688. 66 Krais; Kostka. 67 Verheyen.

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Stärkung der Landwirtschaft als dringliche politische Aufgabe wahrgenommen wurde.68 Trotz des Stellenwerts, welchen die Landwirtschaft insgesamt in gesellschaftspolitischen Diskursen einnahm, war sie in der regionalen Umsetzung der Re-Integrationsmaßnahmen in unterschiedlicher Weise präsent: In Böhmen nahmen die tschechisch- und deutschsprachigen Sektionen des Landeskulturrates an der Landeszentrale teil und organisierten eigene Landwirtschaftskurse für Kriegsversehrte. In Niederösterreich spielte die Ausbildung für agrarische Berufe ebenfalls eine große Rolle, das Reservespital Nr. 11 eröffnete sogar eine Zweigstelle mit dem Schwerpunkt auf landwirtschaftliche Arbeiten. Demgegenüber beklagte die Landeskommission Salzburg noch im Jahr 1917, dass in den Berufskommissionen Vertreter agrarischer Berufe fehlten: »Solcher Art kommt es vor, dass ein gelähmter Invalider in der Rauris [einer gebirgigen Region in Salzburg; T. S.R.] zum Störschneider [d. h. einem wandernden Schneider; T. S.R.] und ein Holzknecht aus Thalgau zum Maschinensticker ausgebildet wird […]«.69 Für die Vertreter der Landeskommission hatte die Berufsberatung also Folgen, die ihren Zielen zuwider liefen: Kriegsversehrten wurde nicht nur zum Wechsel anstatt zur Rückkehr in ihre vorherigen Berufe geraten, sondern diese neuen Gewerbe entsprachen darüber hinaus weder ihren Fähigkeiten noch den lokalen wirtschaftlichen Verhältnissen und waren somit ungeeignet, ihnen eine gesicherte Existenz zu ermöglichen. Allerdings griffen auch bei landwirtschaftlichen Berufen die ökonomische und sozialpolitische Dimension und die moralische Qualität ineinander, welche die Akteure der ›Arbeit‹ an sich zusprachen. Diese Verknüpfung lag den verschiedenen Projekten zugrunde, sogenannte »Kriegerheimstätten« zu errichten, auch wenn viele dieser Unternehmungen nicht über die Planungsphase hinauskamen.70 So bewarb ein führender Beamter des Kriegsministeriums die Heimstättenaktion des Kaiser und König Karl-Kriegsfürsorgefonds mit den Worten: »Nur die Arbeit allein kann ihnen Selbstgefühl und Glück bringen. Ein arbeitsloses Leben wäre ein Fluch, eine Quelle der ewigen Unzufriedenheit«.71 Die größeren Kriegerheimstättenprojekte gingen über Fürsorge hinaus, sie waren Gesellschaftsentwürfe en miniature wie im Falle der Siedlung der Stadt Wien oder in größerem Maßstab wie bei den Plänen des Armeeoberkommandos für eine Binnenkolonisation der Monarchie mit Soldaten, die sich durch ihre Kriegsversehrungen als besonders loyal erwiesen hatten.72 Abschließend klären ließ sich die Frage nicht, was angemessene Erwerbsmöglichkeiten für Kriegsversehrte seien. Allerdings schmälerte das nicht den Anspruch der Mediziner, Gewerbefachleute und Arbeitsvermittler, dass sie die 68 Siehe zu den Bemühungen, sogenannte »Kriegerheimstätten« zu errichten: Hsia, War, Welfare and Social Citizenship, S. 74–99; Staatliche Landeszentrale für das Königreich Böhmen zur Fürsorge für heimkehrende Krieger, S. 22; Überegger, Heimatfronten, S. 409. 69 ÖStA, AdR, BMfsV, Sek. 2/Kb Kt. 1361, 13334/1918. 70 Hsia, War, Welfare and Social Citizenship, S. 85–99. 71 ÖStA, AdR, BMfsV, Sek. 2/Kb Kt. 1359, 7680/1918, Protokoll, S. 5. 72 Hsia, War, Welfare and Social Citizenship, S. 85–99.

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berufenen Experten seien, um zu beurteilen, welche Beschäftigungsverhältnisse die erwünschte Kombination aus ökonomischem Nutzen für das staatliche Gemeinwesen, individueller wirtschaftlicher Erwerbsfähigkeit und sozialer Anerkennung darstellten. 3.2 Gesuche um Anstellung im Staatsdienst Medizinische und gewerbliche Fachleute hatten großen Anteil daran, die Re-Integrationsmaßnahmen auszugestalten. Allerdings waren verletzte und erkrankte Soldaten nicht einfach passive Empfänger der Kriegsversehrtenfürsorge. Stattdessen verfolgten sie ihre eigenen Vorstellungen von staatlicher Unterstützung und sozialer Re-Integration. Die Gesuche, die Kriegsversehrte an Ministerien oder Angehörige der Habsburgerfamilie richteten, geben einen Einblick darin, wie sie die staatliche Fürsorgeaktion wahrnahmen und auf welche sozialen Wissensbestände sowie Erfahrungen sie zurückgriffen, um sich das Konzept sozialer Re-Integration anzueignen. Am 10. Januar 1917 besuchte Karl I., seit dem 21. November 1916 Kaiser von Österreich und seit 30. Dezember König von Ungarn, das Blindenerziehungsinstitut im zweiten Wiener Bezirk. Darum bemüht, die Loyalität der Bevölkerung zur Monarchie nach zweieinhalb entbehrungsreichen Kriegsjahren wiederaufzubauen, legte Karl I. demonstrativ einen anderen Herrschaftsstil an den Tag als sein verstorbener Großonkel Franz Joseph I. Er wollte die Geschicke der Monarchie nicht zurückgezogen im kaiserlichen Arbeitszimmer vom Schreibtisch aus mitbestimmen. Stattdessen saß er den Sitzungen des Gemeinsamen Ministerrates der beiden Reichshälften, der über die Außen- und Kriegspolitik entschied, regelmäßig persönlich vor und übernahm auch den Oberbefehl über die Armee. Er ordnete die Einrichtung zweier neuer Ministerien in Cisleithanien an, eines für soziale Fürsorge, eines für Volksgesundheit, und ließ 1917 das Parlament erstmals seit März 1914 wieder zusammentreten. Gleichzeitig strebte er danach, das Bild eines volksnahen Herrschers zu projizieren. Besuche von Lazaretten oder Krankenanstalten waren Teil dieser Kampagne.73 Das Entgegennehmen von Bitt- oder Gnadengesuchen war eine althergebrachte Form der Herrschaftssicherung, und auch Karl I. hörte sich bei seinem Besuch im Blindenerziehungsheim Bitten an:74 Hier [im Blindenerziehungsinstitut; T. S.R.] brachte der Kriegsblinde [sic] Korporal Karl Hess des k. k. LIR [Landwehrinfanterie-Regimentes; T. S.R.] Nr. 8 Ihrer Majestät die Bitte um Anstellung als Maschinenschreiber im k. k. Ministerium für Landesverteidigung vor.75 73 Healy, Vienna and the Fall of the Habsburg Empire, S. 289–299; Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg, S. 665–674. 74 Brakensiek, S. 149–150. 75 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1415, 54/1917.

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Die Bearbeitung solcher Bittgesuche war, dem Eindruck eines unmittelbaren Zugangs zum Machtzentrum der Monarchie zum Trotz, durch ein administratives Prozedere geregelt, seit in den späten 1870er Jahren jährlich etwa 30.000 Briefe an Franz Joseph I. adressiert worden waren. Ab dem 1. März 1880 wurde daher nur noch ein Teil der Briefe von den Beamten der Kabinettskanzlei des Kaisers selbst beantwortet – jene von unterstützungsbedürftigen aktiven oder pensionierten Staatsbediensteten, Personen des Hofstaats und von Hinterbliebenen dieser beiden Gruppen sowie von Angehörigen der »besseren Stände«.76 Die übrigen Briefe wurden der Wiener Polizeidirektion übersandt.77 So gelangte auch das Gesuch von Karl Hess zur Bearbeitung zuerst ins Kriegs- und von dort ins Landesverteidigungsministerium. Karl Hess war jedoch keineswegs ein Einzelfall, den Karls I. volksnahes Auftreten dazu verleitete, sein Gesuch um Anstellung im Staatsdienst vorzubringen. Vielmehr wandten sich seit Beginn der Re-Integrationsmaßnahmen zahlreiche Kriegsversehrte brieflich an die Ministerien oder an den Kaiser, trugen ihre Anliegen Mitgliedern der Habsburgerfamilie persönlich vor, wenn diese Lazarette besuchten, oder artikulierten sie in den Amtsräumen der neuen Institutionen der Kriegsbeschädigtenfürsorge.78 ›Arbeit‹ war ein zentrales Thema dieser Schreiben. Die Männer ersuchten jedoch nicht einfach um Arbeitsvermittlung, sondern explizit um Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst. Die kurz vor dem Ersten Weltkrieg verabschiedete »Dienstpragmatik«, die Rechte und Pflichten der Staatsbediensteten festlegte, machte Posten im öffentlichen Dienst für Kriegsversehrte besonders attraktiv. Denn sie stattete diese Stellen mit hoher sozialer Sicherheit aus. Von nun an hatten nicht nur Beamte Anspruch auf die Übernahme in ein »definitives«, das heißt unkündbares Dienstverhältnis, sondern nach einer maximal einjährigen Probezeit auch subalterne Angestellte, wie zum Beispiel Amtsdiener. Darüber hinaus rückten sie ebenfalls regelmäßig in höhere Gehaltsstufen vor, besaßen ein Recht auf acht- bis vierzehntägigen Urlaub sowie auf Alters- und Hinterbliebenenrenten.79 Die sogenannten »Briefsteller«, ein eigenes Genre der Ratgeberliteratur, versprachen ihrem Publikum Hilfestellungen für das Schreiben von Briefen »in den verschiedenen gesellschaftlichen Verhältnissen«.80 Derartige Kompendien machten »kulturelle Wissensbestände und soziale Normen explizit« und überführten sie »in alltagsorganisierende Techniken«.81 Diese Handbücher 76 Reinöhl, S. 176. 77 Healy, Vienna and the Fall of the Habsburg Empire, S. 283–284. 78 Zu Bittgesuchen während des Ersten Weltkrieges: ebd., S. 279–299; Hämmerle, Bitten – Klagen – Fordern, S. 87–110. 79 RGBl. 15/1914 Gesetz vom 25. Jänner 1914 betreffend das Dienstverhältnis der Staatsbeamten und der Staatsdienerschaft (Dienstpragmatik); siehe dort für die Rechte der Dienerschaft §§ 168–176; Heindl, Josephinische Mandarine, S. 140, 143–146. 80 Gaal. 81 Duttweiler, S. 44.

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geben daher Hinweise darauf, welche Art von sozialer Beziehung durch solche Gesuche (re-)produziert wurde. Denn Briefe im Allgemeinen, so erklärten die ­zeitgenössischen Ratgeber, seien abhängig von ihrem Zweck, ihrem Adressaten und von der gesellschaftlichen Beziehung zwischen Verfasser oder Verfasserin und Empfänger oder Empfängerin. »Wie ein Kleidungsstück dem Körper, so muß ein Brief […] der Denkweise des Empfängers angepaßt werden«,82 wie Georg / György von Gaals »Allgemeiner deutscher Musterbriefsteller« ausführte. Zunächst galt es die richtige Anrede oder Titulatur zu wählen, weshalb die Briefsteller detaillierte, hierarchisch abgestufte Listen enthielten, die vom Kaiser über weltliche und geistliche Würdenträger bis zu den Behörden reichten und hier wiederum zwischen den »Hohen« Ministerien, den »Hochlöblichen« Landesbehörden und den »Löblichen« Lokalbehörden unterschieden.83 Begrüßung (salutatio), Einleitung (captatio benevolentiae) und Schluss eines Briefes sollten entsprechende Grußformeln und Ehrerbietungen aufweisen.84 Lediglich für den internen Schriftverkehr des Militärs und damit auch für Gesuche von Soldaten an militärische Behörden galten Regeln des vereinfachten Schriftverkehrs: Die Floskeln der Reverenz in den Titulaturen und im Text hatten zu entfallen.85 Gegenüber diesen formelhaften Teilen eines Briefes stellte der Hauptteil die eigentliche Herausforderung dar. Die »Vielgestaltigkeit der Beziehungen und Gegenstände«86 erfordere, so empfahl Gaals Briefratgeber, dass Briefschreibende Stil und Inhalt sorgfältig an die jeweilige Situation anpassten. Bei aller notwendigen Beachtung der Nuancen gesellschaftlicher Rangunterschiede und entsprechender Ehrerbietung rieten die Autoren der Briefsteller zugleich dazu, jede »süßliche Schmeichelei oder ein kriecherisches Vergessen aller eigenen Würde«87 zu vermeiden. Stellenbewerbungen firmierten zeitgenössisch in der Kategorie der »Bittschreiben«.88 Das bedeutete jedoch nicht, dass sie denselben formalen, stilistischen und narrativen Vorgaben folgen mussten wie Suppliken, Majestätsgesuche oder Gnadengesuche um finanzielle Unterstützung, die ebenfalls in dieses Briefgenre fielen. Vielmehr existierte innerhalb der Bittschreiben ein breites Spektrum der Tonalität: Bittgesuche um Verleihung einer Begünstigung oder Unterstützung werden, wenn auch mit Vermeidung alles Schwulstes, doch wärmer und wortreicher zu stilisieren sein, als Eingaben an Behörden, um gesetzlich zustehende Rechte zur Geltung zu bringen.89 82 Gaal, S. 143. 83 František, S. 19–29. 84 Klinger, S. 82–85; Ettl, S. 162–163. 85 Geschäfts-Ordnung für das k. k. Heer, Wien 1877, S. 11, § 13. Ich danke Elisabeth Berger für diesen Hinweis! 86 Gaal, S. 103. 87 Ebd., S. 143; ebenso ablehnend gegenüber einer »kriecherischen Ausdrucksweise«: Klinger, S. 80. 88 Ebd., S. 79; Werner, S. 155–171. 89 Gaal, S. 594.

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Dies spiegelt sich auch in den Musterbriefen für Stellenbewerbungen wider, welche die Briefratgeber lieferten. Sie besaßen am Beginn und Ende mit Floskeln des Bittens und Dankens Elemente der Gnadengesuche, im Hauptteil waren sie jedoch nüchterner und rückten die Qualifikationen des Bewerbers in den Vordergrund.90 Die Briefsteller lieferten den Kriegsversehrten daher keine eindeutige Vorlage für ihr Verhältnis zum Staat. Vielmehr konnten sich die Betroffenen an verschiedenen Arten der Bittgesuche orientieren: Gnadengesuche, Stellenbewerbungen oder Eingaben, die ein Recht forderten. Welcher Form und welchen Stils Kriegsversehrte sich in ihrer Kommunikation mit staatlichen Behörden bedienten, liefert daher bereits wichtige Hinweise darauf, wie sie sich gegenüber dem Staat positionierten. Tatsächlich gab es Anhaltspunkte für Kriegsversehrte, um die Anstellung im Staatsdienst als ihr Anrecht zu deuten. Sie konnten sich etwa auf das Zertifikatistengesetz von 1872 als eine traditionsreiche und bekannte Form der militärischen Versorgung berufen. Ironischerweise stellte das Zertifikatistengesetz für Mannschaftssoldaten jedoch ein potenzielles Vorbild und zugleich ein reales Hindernis für ihre Ansprüche dar. Bereits 1915 schlug Emerich / Imre Ferenczi die Ausdehnung der Bestimmungen des Zertifikatistengesetzes auf alle Kriegsversehrten als eine von mehreren Maßnahmen vor, um Arbeitslosigkeit vorzubeugen.91 Als das Ministerium des Inneren im Juni 1916 eine Aktion zur Anstellung Kriegsversehrter im Staatsdienst plante und Stellungnahmen der anderen Ministerien einholte, hielt das Kriegsministerium jedoch daran fest, den Kreis der Anspruchsberechtigten nicht auszudehnen.92 Dort argumentierte man, dass es bereits vor dem Ersten Weltkrieg zu wenige Stellen für die begünstigten Unteroffiziere gegeben hatte. Die Inklusion Kriegsversehrter sei daher nur dann sinnvoll, wenn man gleichzeitig zusätzliche Stellen in das Gesetz aufnehme. Zudem müsse eine Benachteiligung jener Unteroffiziere vermieden werden, die bereits über einen Anspruch verfügten.93 Rein rechtlich gesehen hatten Kriegsversehrte, die keine Unteroffiziere waren, also keinen Anspruch auf Anstellung im Staatdienst. Trotzdem wies die Ministerialbürokratie die Beschäftigung betroffener Soldaten im öffentlichen Dienst nicht gänzlich zurück. Der Leiter der Gruppe für Invalidenfürsorge des Kriegsministeriums betonte in einem internen Kommuniqué die Pflicht der Monarchie, bei der Beschäftigung Kriegsversehrter »mit gutem Beispiel voranzugehen«.94 Zugleich teilte er jedoch die Skepsis der Beamten anderer Ministerien gegenüber der Schaffung neuer gesetzlicher Ansprüche auf Anstellung im Staatsdienst. Er griff die ablehnende Stellungnahme des Justizministeriums auf und betonte: »Es soll eben gar

90 Klinger, S. 80–84, 154–155; Werner, S. 155–159. 91 ÖStA, AVA, MdI, Präs., Teil 2 Kt. 1863, 13602/1915. 92  ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1227, 1001/1916. 93 Ebd. 94 Ebd.

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keine Festsetzung eines ›Anspruches‹ erfolgen«.95 Stattdessen sollte lediglich intern eine bevorzugte Behandlung Kriegsversehrter umgesetzt werden, die sich auf Stellen im öffentlichen Dienst bewarben.96 Das Handelsministerium startete wiederum 1916 eine eigene Initiative und übernahm im April das Protektorat über die Ausbildung von Kriegsversehrten zu Landpostdienern und Landbriefträgern am Wiener Reservespital Nr. 11. Die Ministerialbeamten sicherten zu, 80 derartige Stellen bis Juni 1916 für erfolgreiche Absolventen dieses Kurses freizuhalten.97 Der Status von Kriegsversehrten, die in der Verwaltung angestellt werden wollten, war also ambivalent. Trotz gesetzlicher Vorbilder fehlte vielen von ihnen ein Rechtsanspruch, jedoch sahen führende Beamte die Staatsverwaltung in der Pflicht, als Arbeitgeber für verletzte und erkrankte Soldaten ein gutes Beispiel für private Unternehmen zu geben. Diese Uneindeutigkeit der Stellung Kriegsversehrter macht eine Analyse ihrer Gesuche umso interessanter, denn sie eröffnete zusätzlichen Raum dafür, dass Kriegsversehrte ihre Vorstellung von sozialer Re-Integration zum Ausdruck brachten. Die entsprechenden Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte der betroffenen Soldaten zeigten sich darin, wie sie sich gegenüber staatlichen Behörden und Angehörigen der Habsburgerfamilie verorteten und wie sie ihre Anstellung im öffentlichen Dienst begründeten.98 3.2.1 Beruflich geeignet? Qualifikation und Überwindung der Kriegsversehrung Der Brief von Josef Brabec an das Kriegsministerium zeigt dies deutlich. Der 39jährige Brabec hatte vor dem Krieg in Stratov, einer kleinen Gemeinde im Zentrum Böhmens, gewohnt. Während des Krieges diente er als Sappeur und wurde 1916 wegen einer Erkrankung dauerhaft aus der Armee entlassen. In seinem Brief vom Mai 1917 bat er das Kriegsministerium, ihn als Waldheger anzustellen oder ihn an die cisleithanische staatliche Forstverwaltung zu vermitteln. Der im Original wahrscheinlich in tschechischer Sprache verfasste Brief ist nur in der deutschen, maschinenschriftlichen Übersetzung des Kriegsministeriums überliefert. Brabec nutzte in der Einleitung und am Ende seines Gesuches die zeitgenössisch üblichen Wendungen, mit denen er Ehrfurcht bekundete und Dankbarkeit für die gewährte Gnade versprach. Seinen Brief eröffnete er mit dem Satz: »In tiefster Ehrfurcht gefertigter Invalide und Absolvent des Invaliden-­Forstkurses erlaubt sich […]«.99 Er stellte sich also weder mit seinem Namen noch als Soldat vor, sondern rückte seinen Status als Invalide in den Mittelpunkt. Da er sich darüber hinaus beim Kriegsministerium bewarb, mobilisierte er die Erwartungen an eine Reziprozitätsbeziehung zwischen der Monarchie und ihren Soldaten. Abgesehen von diesem einleitenden Satz erwähnte 95 Ebd. 96 Ebd. 97 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1226, 1569/1916. 98 Koselleck, S. 349–375. 99 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1415, 837/1917.

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Brabec seinen Status als Soldat und Kriegsversehrter jedoch nur noch kurz an zwei Stellen. An der chronologisch passenden Stelle im Hauptteil fügte er eine nüchterne Zusammenfassung seines Militäreinsatzes ein: »Laut Militärzeugnis diente ich bei der Genieabteilung Nr. 3 in Brixen und wurde dauernd als Kranker am 9. Juni 1916 entlassen.«100 Danach listete Brabec im Hauptteil des Briefes in chronologischer Reihenfolge die Stationen seines Lebens- und Ausbildungsweges auf und verwies bei jedem Punkt auf die beiliegenden Dokumente. Aufbau und Inhalt des Schreibens ähneln frappant den Musterbriefen für Bewerbungen, wie sie in einem zeitgenössischen, zweisprachigen Ratgeber zum Verfassen von Bittschriften in deutscher und tschechischer Sprache vorgegeben waren.101 Wirkt das Schreiben in dieser Hinsicht besonders ›generisch‹, so ist die Wahl einer Vorlage keineswegs bedeutungslos. Brabec unterstrich dadurch, dass er die Verleihung der angestrebten Stelle als Waldheger nicht nur als Teil der Fürsorgepflicht der Monarchie gegenüber ihren Soldaten ansah, sondern sich zugleich als geeigneter und qualifizierter Bewerber für diesen Posten verstand. Bereits sein einleitender Satz macht dies deutlich; darin präsentierte er sich als »Invalide« und als »Absolvent des Invaliden-Forstkurses«. Sein Status als Kriegsversehrter und seine Ausbildung im Rahmen der Re-Integrationsmaßnahmen machten ihn in der Erzählung des Schreibens zusammen mit seiner vorangegangenen Schulbildung – er hatte laut eigenen Angaben die Volksschule in Šanov und die Handelsschule in Prag / Praha »mit lobenswertem Erfolge« absolviert  –  seiner Kenntnis der deutschen Sprache und seinem Charakter (»wohlverhalten«) zum passenden Kandidaten für die Stelle.102 Am Ende des Briefes ordnete Brabec sein Stellengesuch noch explizit in die Ziele der Re-Integrationsmaßnahmen ein, denn »nach Gutachten der Herrn Militärdienste [sic; gemeint waren wahrscheinlich Militärärzte; T. S.R.] der Forstdienst dem Gefertigten die verlorene Gesundheit wiedergeben kann«.103 Auf mehreren Ebenen legte Brabec dar, dass der Posten als Waldheger auch nach den Maßgaben der sozialen Re-Integration die geeignete Beschäftigung für ihn sei: Ökonomisch war es sinnvoll, weil er über die entsprechenden Qualifikationen verfüge, und in sozialer Hinsicht würde es ihm ermöglichen, seine Frau und Kinder zu ernähren. Schließlich hätte die Arbeit darüber hinaus eine therapeutische Wirkung. Die Stelle gewährleiste einem Kriegsversehrten also einen gesicherten Lebensunterhalt, eine stabile Familiensituation, zu deren Erhalt er weiterhin beitragen könne, und die Möglichkeit, seine Kriegserkrankung zu überwinden. Dadurch, dass sich Brabec so eng an die Vorlage aus den Briefratgebern hielt, wird besonders augenfällig, dass er sein Schreiben als Bewerbung verstanden wissen wollte. Er war jedoch keineswegs der einzige Kriegsversehrte, der sich in dieser Weise als qualifizierter Kandidat präsentierte. Zwei weitere Beispiele sol100 Ebd. 101 František, S. 45–50. 102 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1415, 837/1917. 103 Ebd.

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len verdeutlichen, wie sich verletzte oder erkrankte Soldaten in dieser Weise in die Re-Integrationsmaßnahmen einschrieben. Franz Klieber, ein Kontorist aus Fischern / Rybáře in Böhmen, heute ein Ortsteil von Karlovy Vary / Karlsbad, war im August 1915 zum Militär eingerückt, hatte zunächst an den Feldzügen gegen das Zarenreich teilgenommen, bevor er an der Italienfront eine schwere Schussverletzung erlitt. Sie hatte zur Folge, dass sein rechter Arm vollkommen gelähmt und gefühllos war. Im August 1918 wandte er sich an das Kriegsministerium und suchte um Anstellung als Kanzleikraft an, von der er sich eine bessere Bezahlung und Aufstiegschancen versprach.104 Ähnlich wie Brabec identifizierte sich auch Klieber gleich zu Anfang seines Briefes als »Invalide« und schilderte die Stationen seines Kriegseinsatzes, wobei er hervorhob, Kriegsfreiwilliger gewesen zu sein. Anders als der erkrankte Brabec schilderte Klieber seine phy­ sische Verletzung plastisch und hob sie und ihre Folgen durch Unterstreichung nochmals hervor: […] und am 25. August 1916 auf den Mte. Zebio durch einen Hals- und Rückenmarkschuss und Fraktur des ganzen rechten Oberarmes verwundet und invalid geworden bin. Die folgen [sic] dieser Verwundung waren, daß der ganze rechte Arm abgestorben ist.105

Nach diesem einleitenden Absatz, in dem Klieber eindeutig seinen Status als Frontsoldat und Kriegsversehrter betonte, setzte er jedoch einen anderen Schwerpunkt: Er schilderte seine Qualifikationen für den angestrebten Posten als Kanzlist im Kriegsministerium. Als ehemaliger Kontorist habe er bereits Erfahrung mit administrativen Aufgaben, und er habe zudem schon vor dem Krieg in Militärkanzleien gearbeitet und sei auch derzeit wieder in einer solchen beschäftigt. Obwohl er einerseits anführte, dass ihn die Superarbitrierungskommission mit einer 70prozentigen Berufsunfähigkeit beurteilt hatte, ordnete er seine Kriegsverletzung in eine Erzählung ihrer Überwindung ein. In den Schulungseinrichtungen des Reservespitals Nr. 11 [muste [sic]] ich mir das Schreiben mit der linken Hand erlernen […] und [habe] ich mir bis zum heutigen Tag eine solche geläufigkeit [sic] gehohlt [sic] […] und [bin] genau so sicher […] wie früher mit der rechten Hand.106

Um dies zu untermauern, teilte er den Ministerialbeamten in einem Postscriptum mit, dass er das Schreiben eigenhändig auf der Schreibmaschine verfasst habe, und legte außerdem zwei handschriftliche Schriftproben bei. Für Klieber war das Schreiben des Gesuches selbst ein performativer Akt, mit dem er die Überwindung der Kriegsbeschädigung demonstrieren wollte. Ein Ministerial­ beamter verkehrte Kliebers Intention jedoch in ihr Gegenteil und markierte

104 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1703, 1242/1918. 105 Ebd., Hervorhebung im Original. 106 Ebd., Hervorhebung im Original.

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jeden Rechtschreib- und Grammatikfehler Kliebers durch eine rote Unterstreichung. Aus dem Beweis dafür, dass er seine Kriegsverletzung gemeistert hätte, und für die Stelle qualifiziert wäre, wurde so ein Zeichen seiner Inkompetenz: Nach seinem Gesuche vermag er nicht vollkommen orthographisch zu schreiben, was umsomehr dann in Erscheinung treten wird, wenn ihm bei den Arbeiten nicht jene Muße zur Verfügung steht, die er für die Verfassung des Gesuches aufwenden konnte.107

Die Beamten des Kriegsministeriums erwogen zwar, Klieber trotzdem probeweise anzustellen, um ihm aber die Kosten einer Reise und eines Aufenthalts in Wien zu ersparen, der ihrer Ansicht nach wahrscheinlich mit einer Entlassung enden würde, lehnten sie sein Gesuch ab und übermittelten seinen Fall an die Arbeitsvermittlung für Kriegsinvalide.108 Abschließend lassen sich im Schreiben von Franz Wolf, einem Bauleiter aus Bilin / Bílina in Böhmen, ähnliche Argumentationsmuster für seine Anstellung im Staatsdienst identifizieren. Wie Brabec und Klieber trat auch er zunächst in seiner Rolle als Soldat auf: »Ich war ununterbrochen an der Front und habe in Erfüllung meiner Soldatenpflicht alle Feldzüge in Russland und Italien in den Jahren 1914, 1915, 1916 und 1917 mitgemacht […]«.109 Wie Klieber schilderte auch er plastisch die Art und die Folgen seiner Kriegsverletzung: »ich erhielt einen rechtseitigen Brustschuss, verlor an der linken Hand 3 Finger (Daumen, Zeige- und Mittelfinger) sowie das rechte Auge und trage derzeit ein künstliches Glasauge.«110 Sein Gesuch enthält jedoch auch neue Aspekte. Stärker als Brabec und Klieber rückte er seine Rolle als Familienerhalter in den Mittelpunkt, indem er berichtete, dass seine Frau arbeitsunfähig sei. Wolf beklagte außerdem, dass der staatliche Unterhaltsbeitrag seiner Frau unzureichend wäre, um die Familie zu versorgen.111 Dadurch implizierte Wolf, dass die Anstellung im Staatsdienst eine Kompensation für die unzureichende finanzielle Versorgung der Kriegsversehrten und ihrer Familien sei. Wie die anderen beiden Gesuchsteller legte aber auch Wolf Wert darauf, dass seine Aufnahme in den Staatsdienst nicht einfach eine Versorgungsmaßnahme sein sollte, sondern er die Qualifikationen dazu besaß: Wenn ich daher ein hohes k. u. k. Kriegsministerium ganz ergebenst bitte, mir als derzeit Invalidem eine staatliche Anstellung in dem von mir erlernten Berufe als Bauleiter oder in irgend einer anderen analogen Beschäftigung zu verleihen, ist mein ergebenes Ansuchen gewiss begründet.

107 Ebd., Anmerkung der Kanzleidirektion. 108 Ebd. 109 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1703, 751/1918. 110 Ebd. 111 Siehe das Kapitel B 4.

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Ich bin aber auch vermöge meiner Vorbildung vollkommen in der Lage, eine solche Anstellung voll und ganz auszufüllen.112

Nach einer ausführlichen Auflistung seiner beruflichen Leistungen schloss er den argumentativen Teil seines Schreibens mit der erneuten Betonung seiner fachlichen Kompetenz: All diese von mir bekleideten Stellungen habe ich zur vollsten Zufriedenheit meiner Vorgesetzten ausgefüllt und mir hiedurch jene theoretischen und insbesondere praktischen Kenntnisse erworben, welche mich befähigen, eine derartige Stellung trotz meiner Invalidität voll und ganz zu versehen.113

Mit dieser gezielt positiven Begründung seines Anspruches ordnete Wolf seine Verletzung in eine Erzählung ein, die auf die Überwindung seiner Einschränkungen durch Qualifikation und Kompetenz hinauslief, wie sie auch die Re-­ Integrationsmaßnahmen selbst propagierten.114 Franz Wolfs Gesuch lag ein Empfehlungsschreiben von Hans Hartl bei, der von 1909 bis 1913 Direktor der staatlichen Gewerbeschule in Reichenberg / Liberec gewesen war,115 die Wolf besucht hatte. Hartl legte darin die Leerstellen einer solchen Erzählung von der Überwindung der Kriegsversehrungen offen und konterkarierte dadurch auch das Bild, das Wolf von sich präsentieren wollte: Infolge seiner schweren Verwundungen und Verstümmelungen […] befürchtet der arme brave junge Mann nicht mit Unrecht, daß er in der Privatpraxis später die Konkurrenz mit gesunden Kollegen nicht aushalten können wird, und strebt daher eine seinen fachlichen Kenntnissen und Fertigkeiten entsprechende staatliche Anstellung an.116

Schmerzen, die Schwierigkeiten des Heilungsprozesses oder auch Gefühle der Angst und Unsicherheit über die weitere Zukunft, diese Dimensionen ihrer Kriegsversehrung blendeten Brabec, Klieber und Wolf in ihren Schreiben gezielt aus. Sie traten als Frontsoldaten und Kriegsversehrte auf, aber noch mehr als qualifizierte Bürger und ordneten ihre Bewerbung dadurch in die ökono­ mischen, sozialen und moralischen Zielsetzungen der Re-Integrationsmaßnahmen ein. Dadurch unterschieden sie sich vordergründig von einer anderen (und überwiegenden) Kategorie von Stellengesuchen, in denen die Verfasser die Unmöglichkeit der Rückkehr in ihren früheren Beruf in den Mittelpunkt rückten. Arbeit und Beruf spielten in den Selbsterzählungen von Männern seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert eine zentrale Rolle. Christa Hämmerle spricht 112 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1703, 751/1918. 113 Ebd. 114 Siehe dazu auch: Hofer, S. 340–343. 115 Siehe o. A., Hof- und Staatshandbuch der österreichisch-ungarischen Monarchie für das Jahr 1909, S. 746; o. A., Hof- und Staatshandbuch der österreichisch-ungarischen Monarchie für das Jahr 1913, S. 804. 116 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1703, 751/1918.

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von einer »berufsbezogene[n] männliche[n] ›Normalbiografie‹«,117 die sich um 1900 etablierte. Dazu trug auch die Unfall- und Krankenversicherung bei, die Gesundheit und Arbeitsfähigkeit eng miteinander verknüpften. Die deutschsprachige Ratgeberliteratur, die ihre Leserschaft über die Mittel und Wege zu einem ›gelungenen‹ Leben informieren wollte, begann zur selben Zeit, beruflichen Erfolg und Karriere im Sinne vertikaler sozialer Mobilität als neue Leitkategorien des Arbeitslebens zu propagieren.118 Im Re-Integrationsdiskurs galt die Ausbildung Kriegsversehrter für spezialisierte Tätigkeitsfelder ihrer ehemaligen Berufssparte sowie für Aufseher- und administrative Posten in ihrem Beruf entsprechenden Betrieben ebenfalls als Möglichkeit, ihre soziale Re-Integration zu erreichen.119 Vor diesem Hintergrund reflektierten diese Gesuche die Kriegsversehrung als Bruch in ihrer durch die Erwerbsarbeit bestimmten Biografie, wie dies der 1917 knapp 20jährige Josef Kreuzwieser aus Zoppanz / Županovice in Mähren ausdrückte: »[…] da ich für meinen früheren Beruf d[as] i[st] dem landwirtschaftlichen, den ich als Sohn eines Grundbesitzers einschlagen wollte, infolge meiner Verletzung ungeeignet bin.«120 Kreuzwiesers Gesuch demonstriert, wie »vergangene, gegenwärtige und zukunftsorientierte Diskurse in der Autobiographie aufeinandertreffen«.121 Der Verlust des linken Unterschenkels machte es ihm unmöglich, wieder in der Landwirtschaft zu arbeiten, und damit auch seine Lebensplanung zunichte. Das Alter der Betroffenen konnte so die Wahrnehmung der eigenen Verletzung oder Erkrankung und des mit ihr einhergehenden biografischen Bruches beeinflussen.122 Für junge Männer bedeutete es ein Abweichen vom geplanten, ›gelungenen‹ Leben, das heißt vom regelmäßigen Erwerb und damit der Familiengründung ausgeschlossen zu sein.123 Dies konnte weitreichende Konsequenzen haben, schließlich erreichten ungelernte Arbeiter im deutschsprachigen Raum ungefähr zwischen ihrem 20. und 40. Lebensjahr das höchste Lohnniveau.124 Die Kriegsversehrung konnte also bedeuten, länger von Eltern oder anderen Angehörigen abhängig zu sein, anstatt selbst für sie sorgen zu können, und längerfristig drohte dadurch Altersarmut. Die Kriegsversehrungen untergruben so das Deutungsmuster für den Militärdienst als Initiations­ritus zwischen Jugend und Erwachsensein, das sich langsam in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etabliert hatte.125 Stattdessen machte der Militärdienst ein ›gelungenes‹ Leben als Erwachsener unmöglich. 117 Engelhardt, S. 372–374; Hämmerle, Des Kaisers Knechte, S. 14. 118 Kleiner u. Suter, S. 18–19; Helmstetter, S. 61–92. 119 Ferenczi, Die Wiedereinstellung der Kriegsinvaliden ins Erwerbsleben in Deutschland, Österreich und Ungarn, S. 14–15. 120 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1703, 5/1918. 121 Hoffmann, S. 142. 122 Proctor, S. 115–132. 123 Zahlmann, S. 7–31. 124 Zeitlhofer, S. 49. 125 Cole, Military Culture and Popular Patriotism in Late Imperial Austria, S. 118.

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Für ältere Männer dagegen brachte die Kriegsversehrung einen Bruch in ihrer bereits vor dem Krieg gelebten Familiensituation als Väter und ›Ernährer der Familie‹ mit sich, wie das Gesuch des 43jährigen Leopold Kodat demonstriert: »Kodat, derzeit Infalide [sic] bittet inständigst um einen Stadtsdienerposten [sic] als Büro oder Postdiener oder in die Stadtsdruckerei [sic] als Arbeiter unterzukommen.«126 Er begründete dies vornehmlich mit seiner Rolle als Vater und Familienerhalter: »Er bittet nochmals gnädigst um eine geeignete Beschäftigung, wo er für seine zahlreichen Kinder den Lebens-Unterhalt wird bestreiten können.«127 Für ältere Männer bedeuteten die Re-Integrationsmaßnahmen eher die Möglichkeit, in ihre sozialen Beziehungen der Vorkriegszeit zurückzukehren und diese wiederherzustellen. Gemeinsam ist beiden Männergenerationen, dass sie diese Diskontinuitätserfahrungen primär über die Erwerbstätigkeit und daran anknüpfende soziale Beziehungen thematisierten, etwa diejenige des ›Ernährers der Familie‹. Gleichzeitig verkehrten diese Erfahrungen die glorifizierte Darstellung des Krieges als gesellschaftlich ›heilsame Kraft‹ in ihr Gegenteil.128 In dieser zweiten Kategorie von Gesuchen, in denen die Unfähigkeit zur erneuten Ausübung des früheren Berufes im Vordergrund stand, lieferten die Männer auch eine andere Antwort auf die zentrale Frage der Re-Integrationsmaßnahmen, was eine ›passende‹ Stelle für Kriegsversehrte sei. Denn es waren zunächst nicht ihre Qualifikationen, die sie zu adäquaten Kandidaten für die Position machten, sondern umgekehrt die Eigenschaften der Arbeit, die sie als geeignete Beschäftigung für verletzte und erkrankte Soldaten erscheinen ließ. Die Gesuchsteller bezeichneten die erbetenen Posten als Amtsdiener, Portier, Briefträger oder Nachtwächter oft als »passende«,129 »entsprechende«130 oder »angemessene«131 Arbeit oder implizierten, dass es ›leichte‹ Arbeit sei, die sie der ›schweren‹ Arbeit ihres früheren Berufes gegenüberstellten.132 Die Verfasser dieser Gesuche erzählten also nicht von der Überwindung der Kriegsversehrung und gaben dadurch einen Einblick darin, wie verletzte und erkrankte Soldaten ihre Kriegsversehrungen als Einschränkungen deuteten und aus welchen sozialen Praktiken dieses Körperwissen hervorging. Wenn Kriegsversehrte nicht um Anstellung als Amtsdiener oder auf anderen Posten im Staatsdienst ansuchten, erbaten sie Vermittlung auf bestimmte Arbeitsplätze. Es handelte sich in beiden Fällen um solche Beschäftigungen, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an Arbeitskräfte vergeben wurden, welche den Anforderungen der Fabrikarbeit nicht mehr entsprechen konnten. Sofern sie überhaupt weiterhin Anstellung fanden, etwa weil sie langjährige 126 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1703, Akt 1249/1918. 127 Ebd. 128 Hofer, S. 198–202. 129 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1415, 253/1917. 130 ÖStA, KA, KM, Abt.  9/IF Kt. 1227, 1941/1916; ebd., Kt. 1415, 1976/1917; ebd., Kt. 1703, 5/1918. 131 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1227, 2061/1916. 132 Siehe u. a.: ÖStA, KA, KM, Abt. 9 IF Kt. 1226, 354/1916; ebd., 1190/1916.

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gelernte Arbeiter waren, erhielten sie subalterne Posten, etwa als Aufseher oder Portier.133 Die gesetzliche Reglementierung der Arbeit in der Industrie, im Hüttenwesen und anderen Gewerben mit motorbetriebenen Maschinen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts umfasste Arbeiterschutzbestimmungen und die Sozialgesetzgebung; sie brachte aber auch eine zunehmende Normierung des erwerbsfähigen und -tätigen Körpers mit sich. Der Körper des Mannes im erwerbsfähigen Alter wurde abgegrenzt von Frauen, Kindern und Unfallverletzten.134 Dies kommt in den Dichotomien zum Ausdruck, derer sich Kriegsversehrte bedienten, um sich und die ›passende‹ Arbeit zu beschreiben: ›starke‹ und ›schwache‹ Körper und damit korrelierend ›schwere‹ und ›leichte‹ Arbeit.135 3.2.2 Moralisch angemessen? Stellen für Frontsoldaten In diesen Gesuchen und ihren Beschreibungen ›angemessener‹ Arbeit wird jedoch auch eine spezifische moralische Einbettung und Verknüpfung von Militärdienst und Erwerbsarbeit sichtbar. Das Schreiben Josef Hatwagners vom 14. April 1916 zeigt dies pointiert. Hatwagner war selbst Kriegsversehrter; er wandte sich aber nicht an das Kriegsministerium, um sich für den öffentlichen Dienst zu bewerben, sondern um sich über die Behandlung von Kriegsversehrten und über die Vetternwirtschaft in einem Kriegsleistungsbetrieb im niederösterreichischen Gumpoldskirchen zu beschweren. In seinem Schreiben verknüpfte Hatwagner Kriegsdienst, Kriegsversehrtheit und Arbeitsunfähigkeit, um bestimmte Posten als ›angemessene‹ Arbeitsplätze für verletzte Soldaten zu beschreiben: Ich bitte das hohe Kriegsministerium wenn der Herr Werkführer Beuerl ein guter Patriot sein wolte [sic], so hätte er die Portierstelle, was frei war, einen [sic] Kriegsinvaliden, nicht mir, sondern einen, der nur eine Hand hat, aber nicht einen enthobenen [einem vom Militärdienst befreiten Mann; T. S.R.], der stark ist und sonst nichts macht, als auf- und zusperrt, denn zu solchen diensten wird keiner enthoben. Sein 1 Bruder Herr Beuerl diente als Feldwebel, wurde aus dem Dienste enthoben und als Nachtmeister angestelt [sic], wo er nichts macht als die ganze Nacht 3mal aufschreiben und andere zeit schlaft [sic], diesen posten hat früher ein arbeiter versehen, jetzt hat er seinen bruder [sic] enthoben, das sich auch der den sak [sic] füllen kann. Wäre auch ein posten für einen kriegsinvaliden, wenn die Herrn in Vaterlande helfen wollten.136

Männer, die etwa als Facharbeiter oder Beamte vom Kriegsdienst befreit oder von vornherein als militärdienstuntauglich befunden worden waren, sahen sich, wie Maureen Healy zeigte, besonders dem Misstrauen der Bevölkerung 133 Siehe etwa: ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1415, 1976/1917. Zu Arbeitsposten für Arbeiter mit eingeschränkter Erwerbsfähigkeit aufgrund von Behinderungen oder Alter siehe zeitgenössisch: Kraus, Über das Berufsschicksal Unfallverletzter, S. 11–14, 32–42. Siehe außerdem: Ehmer, Sozialgeschichte des Alters, S. 67–69; Reif, S. 1–94; Zeitlhofer, S. 43–46. 134 Ehmer, Alter und Arbeit in der Geschichte, S. 23–31; Hardach, S. 77–84. 135 Kienitz, Beschädigte Helden, S. 351–353. 136 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1231, 676/1916; Hervorhebungen im Original.

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ausgesetzt. Vor 1914 konnte es noch durchaus positiv konnotiert sein, sich dem Militärdienst zu entziehen,137 mit Kriegsbeginn wurde der Druck auf Männer jedoch groß, ihre ›Pflicht‹ als Soldaten zu erfüllen. Nicht nur galt der Militärdienst als Zeichen von Patriotismus und Männlichkeit, sondern auch, wie dies im Schreiben von Josef Hatwagner zum Ausdruck kommt, als Zeichen einer gerechten Verteilung der Lasten des Krieges. Die zahlreichen Denunziationen an Militärbehörden demonstrieren dies.138 Auch wenn es in der österreichisch-ungarischen Armee zahlreiche Fälle von Desertion gab, denen vielfältige Motive zugrunde lagen,139 etablierte die Kriegspropaganda zunächst erfolgreich eine Hierarchie zwischen Front und ›Heimatfront‹, zu der auch eine moralische Überhöhung des Frontsoldaten gehörte.140 Franz Kößl aus Wallern / Volary in Böhmen mobilisierte diesen moralischen Status des Kriegsversehrten besonders stark, um seine Bitte um Anstellung als Landpostdiener zu legitimieren. Die Stelle war derzeit mit einem gleichnamigen Aushilfsbriefträger besetzt, der laut Kößl »noch nie beim Militär« gewesen und zudem vom Militärdienst befreit sei.141 Demgegenüber beschrieb Kößl davor die Auswirkungen seiner Kriegsverletzung: Die militärische Tauglichkeitskommission hatte ihn mit einer Berufsunfähigkeit von 100 Prozent beurteilt, und unmittelbar nach dem Diffamieren seines Namensvetters schilderte Kößl seinen Kriegseinsatz und seine Kriegsverletzung: Ich ging am 22. Dezember 1914 ins Feld, wurde dann am 28. August 1915 bei einem Angriff in Italien von einen Schrabnell am linken Arm verwundet, riß mir das ganze Ellbogengelenk heraus, erhilt [sic] dadurch einen steifen Arm, wo ich mit der Invalidenpension von 24 K[ronen] nicht leben kann, auch für weiterhin mein Vater nicht erhalten kann.142

Mit dieser kontrastierenden Darstellung versuchte Kößl, seinen Anspruch als kriegsversehrter Frontsoldat gegenüber einem Mann augenfällig zu machen, der nicht im Militär gedient hatte. Die plastische Beschreibung der Kriegsverletzung nutzte Kößl wie zahlreiche andere Kriegsversehrte geradezu performativ, da die körperlichen Folgen seines Militärdienstes im Briefverkehr sonst unsichtbar bleiben würden. Die scheinbare Evidenz, die körperlichen Verletzungen als Beweis des Kriegseinsatzes im persönlichen Kontakt zwischen Kriegsversehrten und Passanten oder Beamten zukam, suchten die Soldaten auch für ihre Gesuche aufzubieten.143 137 Hämmerle, Zur Relevanz des Connell’schen Konzepts hegemonialer Männlichkeit für ›Militär und Männlichkeit / en in der Habsburgermonarchie (1868–1914/18)‹, S. 117–119. 138 Healy, Vienna and the Fall of the Habsburg Empire, S. 83, 262–279; u. a.: VUA, VHA, KK9, MA Kt. 226, 4-30/4-9, 4-30/50, 4-30/66, 4-30/93-8, 4-30/131, 4-30/151. 139 Überegger, Politik, Nation und Desertion. 140 Healy, Vienna and the Fall of the Habsburg Empire, S. 34–43. 141 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1227, 1339/1916. 142 Ebd. 143 Siehe zur Bedeutung der Sichtbarkeit der Wunden: Kienitz, Beschädigte Helden, S. 66, 98–107.

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Das Gesuch Kößls zeigt, wie die in der offiziellen Propaganda immer wieder beschworene soldatische Opferbereitschaft es ermöglichte, die Männlichkeit und staatsbürgerliche Rechtschaffenheit aller nicht zum Militärdienst eingerückten Männer an der ›Heimatfront‹ jederzeit in Zweifel zu ziehen.144 Die ›Angemessenheit‹ dieser Posten für Kriegsversehrte war damit in doppelter Weise in ihrer Körperlichkeit begründet: einerseits in der Klassifizierung dieser Arbeitsstellen als ›leichte‹ Arbeit, andererseits im Vorrecht der (ehemaligen) Frontsoldaten vor den ›Drückebergern‹ auf dem Arbeitsmarkt. Die bevorzugte Vergabe solcher Posten an Kriegsversehrte wurde so als Anerkennung ihrer Pflichterfüllung und Opferbereitschaft gedeutet.145 Erst ab 1917 trat zu dieser Hierarchisierung unter Männern die Forderung nach der Entlassung von Frauen, die während des Krieges in bisher von Männern besetzten Berufsfeldern angestellt wurden, um Arbeitsplätze für Kriegsversehrte zu schaffen.146 Frauen waren jedoch nicht nur Topoi in den Schreiben der Kriegsversehrten, sondern auch Akteurinnen. Während sie einerseits gegenüber staatlichen Behörden für ihre Ansprüche auf staatlichen Unterhaltsbeitrag eintraten, setzten sie sich andererseits für ihre Ehemänner oder Söhne ein. Ein besonders interessantes Schreiben ist jenes von Rosa Mladek aus Wien. Sie wandte sich am 28. November 1917 direkt an Kaiserin Zita. Sie galt als engste Vertraute ihres Mannes, Karls I. und war stark in die Bemühungen involviert, das Vertrauen der Bevölkerung zurückzugewinnen.147 Diese Anstrengungen machte Mladek sich zunutze und klebte auf die zweite Seite ihres Gesuches einen Zeitungsausschnitt mit einer gezeichneten Illustration »Kaiserin Zita im Roten Kreuz-Spital der Barmherzigen Brüder«. Sie zeigt Zita zentral am Bette eines beinamputierten Soldaten, dem sie Geschenke überreicht.148 Bei diesem Mann handelte es sich, wie die Bildunterschrift verrät, um »Korporal Mladek«, Rosa Mladeks Ehemann. Der Zeitungsausschnitt diente zugleich als Rechtfertigung dafür, dass sich Mladek direkt an Zita wandte, und als Gedächtnisstütze für die Kaiserin. Mladek bat für ihren Mann um eine Anstellung im Staatsdienst, als Korrektor in der Staatsdruckerei. Sie bediente sich dazu, neben der Herstellung einer persönlichen Beziehung zur Kaiserin, ähnlicher Stilelemente wie männliche Gesuchsteller. Mladek beschrieb ausführlich den Kriegsdienst ihres Mannes, der nach einer Erkrankung »das zweitemal [sic] [ins Feld] hinaus[ging], wo er 10 Monate immer an der Front stand und mit der silbernen Tapferkeitsmedaille ausgezeichnet wurde.«149 Dies war umso bedeutender als ihr Mann, Julius Mladek, seine Kriegsverletzungen nicht im Kampf, sondern in russischer Kriegsgefangenschaft erlitten hatte, in der ihm beide Füße amputiert worden 144 Healy, Vienna and the Fall of the Habsburg Empire, S. 259–279. 145 Zur Genese der Parole vom »Dank des Vaterlandes« in den Napoleonischen Kriegen: ­Hagemann, S. 307–342. 146 Higonnet u. Higonnet, S. 31–50; Rouette. 147 Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg, S. 679. 148 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1703, 8/1918. 149 Ebd.

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waren. Österreichisch-ungarische Soldaten, die durch Austauschverfahren aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrten, standen bei cisleithanischen Behörden im Verdacht der Desertion,150 weshalb Mladeks Auszeichnung umso größere Bedeutung zukam. Rosa Mladek nahm in dem Schreiben jedoch auch eine eigenständige Rolle ein: »so bitte ich vom ganzen Herzen, meinen armen Mann, der in steter Sorge lebt wegen seiner Existens [sic] und ich sehen muß, wie er seelisch leidet, ihm [sic] doch glücklich zu machen.«151 Vergleichbar mit kriegsversehrten Gesuchstellern, die bemüht waren, sich als gute Staatsbürger zu präsentieren, schrieb sich Rosa Mladek dadurch affirmativ in die vorherrschenden Geschlechternormen ein.152 So wie Christa Hämmerle Feldpostbriefe als performative Akte deutet, durch die Partnerinnen und Partner ihre Beziehung (wieder-)herstellten, so reproduzierte Rosa Mladek mit ihrem Gesuch ihre Rolle als fürsorgende Ehefrau. Damit war jedoch keineswegs Passivität verbunden, sondern sie forderte aktiv, dass der Staat für ihren Mann sorgen sollte. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts strebten nationalistische Akteure und Akteurinnen danach, Sprache zu einem Merkmal exklusiver nationaler ›Identität‹ zu machen. Vor diesem Hintergrund ist es von Bedeutung, in welchen Gemeinschaften verletzte oder erkrankte Soldaten sich in ihren Gesuchen verorteten. Die Kriegsversehrten strebten danach, eine Beziehung zum Staat zu mobilisieren, die auf einer reziproken Pflicht aufbaute. Sie hatten ihre staatsbürgerliche ›Pflicht‹ als Soldaten erfüllt, im Gegenzug sollte sie der Staat nun versorgen. Sie verlangten nicht notwendigerweise finanzielle Versorgung, sondern auch eine Anstellung im öffentlichen Dienst. Die Gesuche stellten so auch eine Aushandlung staatlicher Legitimität und Loyalität dar. Von den 67 untersuchten Briefen identifizierte sich lediglich Franz Wolf explizit durch eine zeitgenössisch anerkannte nationale Kategorie, nämlich als Kriegsversehrter »deutscher Nationalität«.153 Für Wolf, der aus Böhmen stammte, wo die Nationalisierungsbestrebungen von deutsch- und tschechischsprachigen Nationalisten und Nationalistinnen besonders weit fortgeschritten waren, könnte eine solche nationale Selbstverortung im Rahmen der Monarchie bereits selbstverständlich geworden sein. Dieses Argument wird jedoch durch das Gesuch Albert Scheirichs abgeschwächt. Er bezeichnete sich als »arg verstümmelten, kaisertreuen österr[eichischen] Kriegsinvaliden«.154 Er stammte allerdings aus Mähren, wo sich die Bevölkerung seit 1905 als Teil der deutschen oder tschechischen Nation identifizieren musste. Seine Selbstidentifikation passte jedoch weder in zeitgenössische administrative Schemata zur Erfassung der Bevölkerung noch in nationalistische Kategorien. Für Scheirich, der sich im Oktober 1918 an das Ministerium wandte, um sich unter anderem darüber zu beschweren, dass er 150 VÚA, VHA, MA Kt. 232, 55-20/5-6 (11.02.1917); ebd., MA Kt. 233, 55-20/5-12 (16.03.1917). 151 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1703, 8/1918. 152 Jensen, S. 10–26. 153 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1703, 751/1918. 154 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1703, 1375.

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von einem Polizisten, »Stabsgendarmeriewachtmeister KNAPIL [sic]« geohrfeigt und geschlagen worden war, spielte die deutsche oder tschechische ›Nationalität‹ Knapils für die Erzählung des Konflikts keine Rolle. Die Schande lag darin, dass ein »österr[eichischer] Stabsgendarmeriewachtmeister« als Repräsentant des Staates einen ebenfalls »österreichischen« Kriegsversehrten misshandelte.155 Gegenüber cisleithanischen Behörden nutzten die meisten derjenigen Kriegsversehrten, deren Gesuche hier analysiert werden, also nicht ›Nationalität‹, um sich in der Monarchie zu verorten. Stattdessen rekurrierten sie primär auf adminis­ trative Mittel der Identitätsfeststellung wie die Heimatzuständigkeit. Neben der expliziten Selbstverortung kann jedoch auch die Sprache, die Kriegsversehrte in den Gesuchen verwendeten, als Positionierung gegenüber staatlichen Behörden interpretiert werden. So verfassten etwa Josef Brabec und Antonín Švábík ihre Schreiben auf Tschechisch, obwohl beide angaben, ebenso die deutsche Sprache zu beherrschen.156 Im ausgehenden 19. Jahrhundert beantworteten cisleithanische Behörden Gesuche in der Originalsprache, sofern diese »landesüblich« war. Dadurch sollten die verschiedenen Sprachgruppen mehr Gleichberechtigung erfahren. Die interne Sprache des Dienstverkehrs blieb jedoch Deutsch.157 Das Vorgehen der Kriegsversehrten kann daher nicht automatisch als Ausdruck einer nationalen Selbstidentifikation in Abgrenzung zur Monarchie interpretiert werden, sondern vielmehr als Ausübung einer sprachlichen Gleichberechtigung in der Interaktion zwischen Behörden und Bürgern. Für Viktor Pavlić, der um Anstellung im Staatsdienst ansuchte, war es wiederum von Bedeutung, dass er sein deutsches Gesuch »eigenhändig« geschrieben hatte. Pavlić bezeichnete Slowenisch als seine Muttersprache, stammte wahrscheinlich aus der Gegend um Görz / Gorizia / Gorica / Gurize, war aber in Deutschland ansässig und laut eigenen Angaben »noch deutsche und Kroatische [sic] Sprache mächtig […] – und [kann] im Polnische [sic] und Tschechischen, Italienischen zu Not aushelfen«.158 Die Erwähnung der eigenen Mehrsprachigkeit bildete für Kriegsversehrte, die eine Anstellung im Staatsdienst anstrebten, eine zusätz­liche Qualifikation.159 Sie unterliefen damit die Bemühungen zeitgenössischer Nationalisten und Nationalistinnen. Diese »nationale Indifferenz«160 wird umso deutlicher, wenn man die Schreiben der Kriegsversehrten mit jenem des tschechoslowakischen Staatsbürgers Josef Šmejkal aus dem Jahr 1920 vergleicht.161 Šmejkal, ein nach eigenen Angaben bei den Kämpfen in der Slowakei zum ›Kriegsinvaliden‹ gewordener Soldat, wandte sich in seinem tschechischsprachigen Brief an die Nationalversammlung 155 Ebd. 156 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1415, 837/1917; ÖStA, AVA, MdI, KFF Kt. 2, 20876/1918. 157 Stourzh, Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848–1918, S. 98–140, besonders: S. 110–114. 158 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1703, 121/1918. 159 Siehe auch: ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1226, 354/1916; ebd., Kt. 1227, 1941/1916. 160 Zahra, Imagined Noncommunities. 161 NAP, Ministerstvo sociální péče [MSP] Kt. 485, 13085/1920.

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der Ersten Tschechoslowakischen Republik mit der Bitte um Verleihung einer Stelle im öffentlichen Dienst: Infolgedessen, dass ich über 2 ½ Jahre als Kanzleikraft beschäftigt war, habe mich unter anderem beim ehemaligen Kriegsministerium in Wien um Anstellung beworben, als Kanzleikraft in deutschen Amtsgeschäften, aufgrund meiner schlechten tschechischen Rechtschreibung, denn ich habe keine tschechischen Schulen [sic], wofür ich nichts kann, immerhin nehmen sie Deutsche und Ungarn, welche überhaupt kein Tschechisch können, freilich für einen Invaliden Tschechiens, welcher die letzten seiner Kräfte freiwillig dem Vaterland geopfert hat im Dienste der nationalen Verteidigung […] gibt es keine Stelle in den Kanzleien […]162

Trotz seiner mangelhaften Tschechisch- und vermutlich guten Deutschkenntnisse – dies legt zumindest seine Bewerbung für deutsche Amtsgeschäfte im ehemaligen Kriegsministerium nahe – verfasste Šmejkal sein Gesuch in tschechischer Sprache und erwähnte seine Deutschkenntnisse nicht. Sie wurden für ihn in seiner Selbst-Identifikation als Tscheche im tschechoslowa­k ischen Staat (»für einen Invaliden Tschechiens«) sogar zu einem Problem, das er zweifach thematisierte: Erstens indem er die Schuld dafür, nicht ordentlich Tschechisch gelernt zu haben, im Narrativ der Unterdrückung der tschechischsprachigen Bevölkerung in der Habsburgermonarchie verortete, das ein zentrales Gründungsmotiv der Ersten Tschechoslowakischen Republik darstellte.163 Zweitens beschwerte er sich, dass in der tschechoslowakischen Republik Deutsche und Ungarn im öffentlichen Dienst beschäftigt würden, die der tschechischen Sprache überhaupt nicht mächtig wären. Anders als Brabec oder Pavlić bemühte sich Šmejkal aktiv darum, seinen Sprachgebrauch und seine Sprachkenntnisse mit seiner nationalen Selbstverortung in Übereinstimmung zu bringen, um als ›Tscheche‹ wahrgenommen zu werden. Damit soll jedoch nicht der Idee einer statischen nationalen Identität eine ebenso fixierte national indifferente cisleithanische Staatsbürgeridentität gegenübergestellt werden. Vielmehr muss hervorgehoben werden, dass die Kriegsversehrten sich situativ und pragmatisch sozial verorteten und sich dadurch einer einfachen nationalistischen Festschreibung entzogen.164 Die Selbstinszenierung der Kriegsversehrten kann so als Versuch gedeutet werden, ein staatsbürgerliches Verhältnis gegenüber den zentralstaatlichen Behörden zu etablieren, in dem der Staat die Interessen seiner Staatsbürger zu vertreten hatte. Von diesem Standpunkt ausgehend lassen sich einige gemeinsame 162 NAP, MSP Kt. 485, 13085/1920, S. 3: »Vásledkem toho, že jsem byl zaměstnán přes ½ 2 roku co kancel[ářská] sila [sic] a pod tíž [sic] u byv. ministerstva války ve Vidní ucházel jsem se o zaměstnáni co kancel[ářská] sila [sic] v německé agendě sdůvodu [sic] mého špatného českého pravopisu neb nemám žádnych českych škol za čéž ja nemohu, vždyl jse přijimaji němci a madaři [sic] které vubec [sic] neuměji český ovšem pro invalidu Čecha který posledny svoje sily obětoval dobrovolně vlastí ve službách národní obrany […] neni [sic] místa žádného v kancelářích«. 163 Stegmann, Kriegsdeutungen - Staatsgründungen - Sozialpolitik, S. 45–50. 164 van Rahden; Brubaker u. Cooper.

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Merkmale der Schreiben hervorheben. Auf den ersten Blick hatten die Schreiben, deren Verfasser die Überwindung ihrer Kriegsverletzung demonstrierten und ihre Qualifikation hervorhoben, wenig gemeinsam mit den Gesuchen um Verleihung eines ›leichten‹ Arbeitspostens. Trotzdem lassen sich zwei Gemeinsamkeiten identifizieren: Erstens waren die Verfasser darum bemüht, ihren Status als ›Kriegsinvalide‹ zu unterstreichen, indem sie ihre Verletzung schilderten. Eine performative Praxis, die erkrankten Soldaten nicht offenstand. Zweitens muss auch im Hinblick auf den offensichtlichsten Unterschied zwischen diesen beiden Kategorien von Gesuchen differenziert werden: der Arbeitsfähigkeit. Selbst jene Kriegsversehrten, welche die Unfähigkeit für ihren früheren Beruf in den Vordergrund rückten, waren gleichzeitig sehr wohl bemüht, ihre Kompetenz für den angestrebten Posten darzulegen.165 Für Kriegsversehrte war es also von großer Bedeutung, nicht nur als Gesuchsteller um eine rein gnadenweise Verleihung eines Arbeitsplatzes vorstellig zu werden, sondern sich als moralisch berechtigte und zugleich qualifizierte Staatsbürger darzustellen. Zeitgenössische Mediziner und Gewerbefachleute sahen dies anders. Sie beurteilten die Anstellung auf subalternen Kanzlei- und Behördenposten nicht als valide Form sozialer Re-Integration, sondern als »Verlegenheitsposten«.166 Konrad zu Hohenlohe, Nachfolger von Heinold als Innenminister, sah eine der Aufgaben der Arbeitsvermittlung für Kriegsinvalide genau darin zu verhindern, dass Kriegsversehrte derartige Posten anstrebten: Es wurde hiebei besonderer Wert darauf gelegt, daß die Kriegsinvaliden ihren Erwerb nicht nur auf Vertrauensposten und bei leichteren Arbeiten (als Portier, Hausbesorger, Aufseher) finden, sondern daß die vollständige oder teilweise Arbeitsfähigkeit […] im Interesse der Invaliden und der Volkswirtschaft voll ausgenützt wird […].167

Kriegsversehrte sollten also auf Arbeitsposten platziert werden, für die sie qualifiziert waren und die ihren körperlichen Fähigkeiten entsprachen, um durch ihre verbliebene Arbeitskraft dem Staat und der Gesellschaft weiterhin nützlich zu sein. Gleichzeitig sollte jeder Kriegsversehrte »sein altes Lebensniveau«168 erhalten. Die angestrebten Stellen im subalternen oder niederen Verwaltungsdienst könnten diese Kriterien bestenfalls in Einzelfällen erfüllen. Ferenczi berichtete in einem Vortrag aus dem Jahr 1916, dass die »sog[enannten] Schreibberufe« bereits großteils überfüllt seien, und sah in der zunehmenden Beschäftigung von Frauen auf diesen Posten eine negative Entwicklung, welche »das Lohnniveau dieses Standes tief unter das der gelernten Arbeiter gedrückt« habe.169 165 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1703, 37/1918. 166 Deutsch, Ärztliche Berufsberatung Kriegsbeschädigter, S. 18. 167 ÖStA, AdR, BMfsV, Sek. 2/Kb Kt. 1227, 1001/1916; siehe auch: Ferenczi, Die Wiedereinstellung der Kriegsinvaliden ins Erwerbsleben in Deutschland, Österreich und Ungarn, S. 19: »den Invaliden möglichst auf eine Stelle zu setzen, bei der er Vollwertiges leisten kann, bei der er wirtschaftlich aufgehört hat, Invalide zu sein.« 168 Ebd., S. 8. 169 Ebd., S. 15–16.

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Gleichermaßen betonte Deutsch, dass für qualifizierte Arbeiter der Umstieg in den subalternen Verwaltungsdienst ein »soziales Herabsinken bedeutet«.170 Das Streben der Kriegsversehrten nach Anstellung im Staatsdienst stellte daher für Mediziner und Gewerbefachleute ein Problem dar, das gelöst werden musste. 3.3 Arbeit als Therapie Kriegsversehrte artikulierten in ihren Gesuchen um Anstellung im Staatsdienst alternative Vorstellungen von ihrer Arbeitsfähigkeit und dem Sinn der sozialen Re-Integrationsmaßnahmen. Sie taten dies jedoch nicht nur in Schreiben als Medien »schriftlicher Distanzkommunikation«,171 sondern auch an den Orten der Re-Integration: den Krankenanstalten, den Berufsberatungskommissionen oder den Arbeitsvermittlungsstellen. Die dort tätigen Mediziner und Gewerbefachleute sahen ihre Funktion als ›Experten‹ vor allem darin begründet, dass sie für die betroffenen Soldaten die ›richtige‹ Berufswahl treffen konnten. Zunächst waren sie scheinbar davon ausgegangen, dass die Kriegsversehrten ihre fach­ lichen Urteile und Empfehlungen bereitwillig oder zumindest passiv annehmen würden. Die Auseinandersetzungen mit Kriegsversehrten interpretierten sie als ein ›Scheitern‹, das ihre Expertenrolle in Frage stellte. In Reaktion darauf richteten sie das therapeutische Instrumentarium der Re-Integrationsmaßnahmen neu aus, eine diskrete Anpassung, die sich unterhalb der rechtlichen und organisatorischen Struktur der Re-Integrationsmaßnahmen vollzog. 3.3.1 Produktives Scheitern Im Januar 1918 hielt Rudolf Bernhart, Vertrauensmann des Ministeriums für öffentliche Arbeiten für die berufliche Ausbildung Kriegsversehrter in Niederösterreich, vor den Teilnehmern eines Ausbildungskurses für »soziale Berater« einen Vortrag über »Gewerbliche Berufsberatung und Invaliden-Schulung«. Darin betonte Bernhart noch einmal die Intention der Re-Integrationsmaßnahmen: Berufsberater, Lehrkräfte und Arbeitsvermittler müssten »immer das eine Ziel im Auge haben, denn [sic] Mann womöglich seinem Berufe zu erhalten.«172 Das Vorhaben des Militärkommandos Wien, »soziale Berater« in allen militärischen Krankenanstalten seines Einflussbereiches einzusetzen, stieß bei den Beamten des zu diesem Zeitpunkt neu errichteten Ministeriums für soziale Fürsorge allerdings auf wenig Gegenliebe. Sie beäugten die Eigenmächtigkeit militärischer Stellen in dem ihnen übertragenen Aufgabenfeld der sozialen ReIntegration Kriegsversehrter mit Misstrauen.173 Der Versuch, das neue Aufgabengebiet der »sozialen Berater« zu etablieren, demonstriert jedoch, dass die Ak170 Deutsch, Ärztliche Berufsberatung Kriegsbeschädigter, S. 18. 171 Kasper u. a., S. 9. 172 ÖStA, AdR, BMfsV, Sek. 2/Kb, Kt. 1357, 2780/1918. 173 Ebd.

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teure der Re-Integrationsmaßnahmen noch 1918 mit einem zentralen Problem konfrontiert waren: Kriegsversehrte teilten die Vision sozialer Re-Integration, wie sie Bernhart beschrieb, nicht notwendigerweise. Dieser Konflikt begleitete die Re-Integrationsmaßnahmen von Beginn an. Bereits 1915, kurz nach Einrichtung der Wiener Amtsstelle für Arbeitsvermittlung an Kriegsinvalide, berichtete der stellvertretende Leiter Richard Sudek, dass Kriegsversehrte sich gegen die Rückkehr in ihren früheren Beruf »sehr energisch« wehren würden.174 Im selben Jahr beurteilte Alois Kastner, stellvertretender Obmann des Ausschusses für Invalidenbeschäftigung und Unterricht der niederösterreichischen Landeskommission, die Einstellung verletzter und erkrankter Soldaten ebenfalls negativ: [W]er da glaubt, daß [der] Invalide […] sich mit dem größten Eifer daran machen wird, die eine verbliebene Hand, den einen Arm oder Fuß so gebrauchen zu lernen, daß er den anderen Teil möglichst wenig vermißt, um allerehestens zu seinem früheren Berufe zurückzukommen, wer das glaubt, der ist in einem großen Irrtum befangen und hat sich praktisch mit den Invaliden nicht befaßt.175

Gerade die Berufsberatung und Arbeitsvermittlungsstellen erwiesen sich rasch als zentrale Austragungsorte dieser Konflikte. Die Berufsberatung war die Schnittstelle zwischen Therapie und beruflicher Ausbildung. Sie kam vor allem dann zum Einsatz, wenn Kriegsversehrte überzeugt waren, ihren früheren Beruf nicht mehr ausüben zu können. Genaue Zahlen stehen, wie für die Re-Integrationsmaßnahmen in Cisleithanien insgesamt, auch für diesen Bereich nicht zur Verfügung, aber laut einer statistischen Erhebung der Wiener Arbeitsvermittlungsstelle betraf dies in ihrem Wirkungsbereich im Jahr 1916 etwa 17 Prozent der stellensuchenden Kriegsversehrten.176 Die Berufsberatung sollte also die Rückführung Kriegsversehrter in ihren früheren oder einen verwandten Beruf sicherstellen, durchgeführt wurde sie von Kommissionen, die aus Offizieren, Militärärzten, Zivilärzten und Gewerbefachleuten zusammengesetzt waren.177 Daneben existierten jedoch noch andere Räume der Berufsberatung. So führte etwa der Mediziner Deutsch in der Arbeitsvermittlungsstelle in Wien ebenso Berufsberatung durch, und Eger beanspruchte für die von ihm propagierten Ortsgruppen im Bereich des Militärkommandos Leitmeritz / Litoměřice, dass sie eine den Kommissionen überlegene Form der Berufsberatung bieten könnten. Im Zentrum der Auseinandersetzungen zwischen Experten und Kriegsversehrten stand die Selbsteinschätzung zahlreicher verletzter und erkrankter Soldaten als unfähig, ihren früheren Beruf weiter auszuüben. Das war ein wichtiges Argument in den Gesuchen Kriegsversehrter um Anstellung im Staatsdienst. Zu174 Sudek, S. 52. 175 Kastner, S. 168. 176 Deutsch, Ärztliche Berufsberatung Kriegsbeschädigter, S. 21. 177 Siehe: Pawlowsky u. Wendelin, Die Wunden des Staates, S. 117–123; Spitzy, Geleitwort.

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nächst nutzten die Fachmänner moralische Zuschreibungen wie »Arbeitsunlust« und »Rentenneurose«, um diese Konflikte zu erklären. So führte die böhmische Landeszentrale in ihrem ersten Jahresbericht derartige Auseinandersetzungen im Zuge der Arbeitsvermittlung auf »persönliche Eigenschaften der Kriegsinvaliden, [die] in die sogenannte Rentenpsychose ausarten«,178 zurück. Durch derartige moralische Zuschreibungen sprachen Mediziner und Gewerbefachleute den Ansprüchen verletzter und erkrankter Soldaten die Legitimation ab. Sie sicherten dadurch zugleich ihren Status als Experten ab, indem sie die Aussagen der Kriegsversehrten über ihre Arbeitsfähigkeit generell in Zweifel zogen.179 Medizinern und Gewerbefachleuten lieferten diese Kategorien außerdem etablierte Deutungsschemata für Situationen »epistemischer Unsicherheit«,180 wie sie die Konfrontationen mit Kriegsversehrten darstellten. Denn für Mediziner und Gewerbefachleute war die Einschätzung der Auswirkungen der Verletzungen oder Krankheiten auf die Arbeitsfähigkeit keineswegs eindeutig. Es existierten während des Krieges zwei unterschiedliche Konzepte der Beurteilung der Kriegsversehrung: entweder als Minderung der Fähigkeit, in einem spezifischen Beruf zu arbeiten (Berufsunfähigkeit), oder als Minderung der Fähigkeit, einem Gewerbe im Allgemeinen nachzugehen (Erwerbsunfähigkeit). Aber selbst dann, wenn der Bezugspunkt dieser Einschätzung klar war, mussten sich medizinische und gewerbliche Experten die Auswirkungen der körperlichen Einschränkungen selbst erst in einem Lernprozess erarbeiten. Publikationen, wie Kostkas »Erwerbsmöglichkeiten in Industrie und Gewerbe für Kriegsbeschädigte« versuchten hier ein allgemein zugängliches, gesichertes Wissen zu etablieren.181 Trotz dieses Anspruchs verdeutlichten Anmerkungen wie »Die Beschäftigungsmöglichkeit richtet sich nach dem Grade der Beschädigung«182 die Schwierigkeit, allgemein gültige Aussagen zu treffen. Darüber hinaus offenbarten Hinweise wie »Erfahrungen fehlen«183 Wissenslücken über die Auswirkungen bestimmter Kriegsversehrungen in spezifischen Gewerben. Sie boten Kriegsversehrten die Gelegenheit, ihr ›Körperwissen‹ einzubringen. Gleichzeitig stellten sie Mediziner und gewerbliche Fachleute vor die Herausforderung, ihre Rolle als objektive Experten zu behaupten, ohne notwendigerweise im konkreten Fall über gesichertes Wissen zu verfügen. Die Auseinandersetzungen zwischen Soldaten und medizinischen und gewerblichen Fachleuten drehten sich also zentral um die Frage, wem die Deutungshoheit über die ›Kriegsbeschädigungen‹ zukam. Moralische Bewertungen und der Anspruch, die Auswirkungen von Kriegsversehrungen objektiv 178 Staatliche Landeszentrale für das Königreich Böhmen zur Fürsorge für heimkehrende Krieger, S. 29. 179 Pawlowsky u. Wendelin, Die Wunden des Staates, S. 139–146. 180 Stoler, S. 14–51. 181 Kostka; Krais. 182 Krais, S. 31. 183 Ebd., S. 14, 30.

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einschätzen zu können, waren darin eng miteinander verflochten, wie ein Bericht der Lehranstalt für Textilindustrie in Asch / Aš in Böhmen veranschaulicht. Die Direktion der Schule ließ einen Ausbildungskurs für Kriegsversehrte aus textilverarbeitenden Branchen veranstalten. Dort konfrontierten die verletzten Soldaten das Lehrpersonal mit ihrer Selbsteinschätzung als berufsunfähig. Der Bericht der Direktion demonstriert, wie sich die Wahrnehmung dieser Selbsteinschätzung verändern und zu einer moralischen Zuschreibung werden konnte: Die meisten der kriegsbeschädigten Weber und Wirker zeigen wenig Lust, zu ihrem Beruf zurückzukehren; […] sie erklären durch die Beschädigung einer Hand oder eines Armes, […], die Fähigkeit zur Wiederausübung desselben verloren zu haben. Diesen Erklärungen mußte Glauben geschenkt werden, da das Gegenteil nicht bewiesen werden konnte. Nun hat aber die gefertigte Direktion in Erfahrung gebracht, daß bei einer hiesigen Firma ein 35-jähriger mechanischer Weber namens Ulrich Drosta in Diensten steht, der in seinem 16. Lebensjahr […] die rechte Hand samt Unterarm verloren hat, und der trotzdem nicht nur als Weber Tüchtiges leistet, sondern auch alle in seine kleine Ökonomie einschlagenden Arbeiten selbst verrichtet.184

Zunächst akzeptierten die Lehrer der Gewerbeschule die Selbsteinschätzung der Kriegsversehrten. Erst durch die ›Entdeckung‹ des einarmigen Webers Drosta änderte sich dies. Das Lehrpersonal konnte nun die Auswirkungen von Einschränkungen der oberen Extremitäten auf das Gewerbe ›objektiv‹ beurteilen. Die Selbstbeurteilung der Kriegsversehrten deutete die Schulleitung daher um. Sie wurde als Ausdruck subjektiver Gefühlslagen delegitimiert: Sie »zeigen wenig Lust, zu ihrem früheren Berufe zurückzukehren«. Aus der Selbsteinschätzung als physisch arbeitsunfähig, machte die Direktion so eine psychische Arbeitsunwilligkeit. Dieser Prozess der Umdeutung umfasste zwei eng miteinander verflochtene Verschiebungen in der Wahrnehmung der Aussagen Kriegsversehrter.185 Erstens interpretierte die Direktion die Selbsteinschätzung der verletzten Soldaten als arbeitsunfähig nicht mehr als objektive Tatsache, sondern als Ausdruck individueller Emotionen. Zweitens wertete sie die Wünsche der Kriegsversehrten als Arbeitsunlust moralisch ab. Auf diese Weise stützte die Schuldirektion den Expertenstatus von Medizinern und Gewerbefachleuten erneut ab, die als einzige die Arbeitsfähigkeit und -unfähigkeit objektiv beurteilen könnten.186 Darüber hinaus war diese negative Moralisierung des Verhaltens Kriegsversehrter eng mit einer Überhöhung von Arbeit verbunden. Allerdings ging es der Direktion eben nicht um Arbeit im Allgemeinen, anders als etwa in der Arbeitslosen- und Armenfürsorge. Dort mussten Männer und Frauen einfache Arbeiten erledigen, 184 NAP, MVP-R Kt. 1043, 27059/1916. 185 Ruppert, S. 10–11. 186 Siehe dazu in der deutschen Unfall- und Krankenversicherung: Eghigian, Making Security Social, S. 83–86.

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um ihre Arbeitswilligkeit zu beweisen. Stattdessen legte sie besonderen Wert darauf, dass Kriegsversehrte ihren früheren Beruf erneut ausübten.187 Zunächst erblickten die Vertreter der Landeskommissionen die Lösung für die Konflikte mit Kriegsversehrten in der Durchsetzung militärischer Disziplin. Ihr Scheitern führte den medizinischen und beruflichen Fachleuten jedoch vor Augen, dass militärische Kontrolle allein nicht ausreichte, damit sie von verletzten und erkrankten Soldaten als Experten anerkannt würden. Das Scheitern erwies sich dabei als produktiv. Denn es löste einen Wandel in der Deutung dieser Konflikte zwischen Kriegsversehrten und Experten aus.188 Konzepte wie ›Arbeitsunlust‹ oder ›Rentenneurose‹ verschwanden dadurch zwar nicht aus den Berichten zur Re-Integration Kriegsversehrter, aber Mediziner und Gewerbefachleute begannen, sich mit den Emotionen und der Psyche der Kriegsversehrten zu befassen, um ihrer vermeintlichen ›Arbeitsunlust‹ entgegenwirken zu können. 3.3.2 »Gefühlsarbeit« – Vertrauen und Selbstvertrauen Dieses neue Erklärungsmodell, das insbesondere die psychologische und emotionale Dimension der Re-Integration in den Blick nahm, lässt sich anhand mehrerer Publikationen aus dem Jahr 1916 veranschaulichen. Die Autoren rückten einerseits das Vertrauensverhältnis zwischen Experten und Kriegsversehrten und andererseits das Selbstvertrauen der verletzten und erkrankten Soldaten ins Zentrum. So betonte Ferenczi in einem Vortrag, dass die größte Herausforderung der Re-Integrationsmaßnahmen darin liege, dass »[d]en Invaliden ein Mißtrauen nach zwei Richtungen [erfüllt]. Bekanntlich ist er mißtrauisch gegenüber dem Staat; er ist aber auch mißtrauisch seinen eigenen Kräften gegenüber.«189 Mediziner, wie Deutsch oder Jiří V. Klíma, wandten sich ebenfalls der Bedeutung der »seelischen Einstellung«190 und des mangelnden »Selbstvertrauens« der Kriegsversehrten zu.191 Zwar bedienten sich etwa einige Mitglieder der steiermärkischen Landeskommission auch nationalistisch-rassistischer Interpretationen, wenn sie slowenischsprachigen Kriegsversehrten pauschal attestierten, »eine Neigung« zu besitzen, »von der Landwirtschaft mit Hilfe der Invalidität in Kanzlei-, Staats- und andere öffentliche Dienste zu treten«.192 Die meisten Experten erblickten darin jedoch keinen Ausdruck vermeintlich nationaler Eigenschaften, sondern begannen, sich mit den Gefühlen der Kriegsver-

187 Wadauer, S. 44; Hitzer. 188 Pawlowsky u. Wendelin, Die Wunden des Staates, S. 139–142. 189 Ferenczi, Die Wiedereinstellung der Kriegsinvaliden ins Erwerbsleben in Deutschland, Österreich und Ungarn, S. 7. 190 Deutsch, Ärztliche Berufsberatung Kriegsbeschädigter, S. 31; Adolf Deutsch schreibt Emotionen eine entscheidende Rolle in der Berufsberatung Kriegsbeschädigter zu, siehe: ders., Ärztliche Berufsberatung Kriegsbeschädigter, S. 13–21. 191 Klíma, S. 525. 192 Polheim, S. 95.

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sehrten zu befassen.193 Mediziner, Lehrer, Berufsberater und Arbeitsvermittler schrieben der Re-Integration Kriegsversehrter eine eminent psychologische Dimension zu. Nicht allein in den körperlichen Einschränkungen der Kriegsversehrten, sondern ebenso in ihrer Überzeugung, nicht mehr arbeiten zu können, sahen Mediziner und berufliche Fachleute also das Hindernis für eine erfolgreiche Rückkehr zur Erwerbstätigkeit.194 Unter diesem Gesichtspunkt seien die Berufsberatungskommissionen eine denkbar ungeeignete Einrichtung, um ihrer Aufgabe nachzukommen, urteilte Ferenczi. Denn sie würden »psychologisch in dem Invaliden nicht das Vertrauen erwecken«,195 das notwendig wäre, damit die Kommissionsmitglieder ihn von der Rückkehr in seinen früheren Beruf überzeugen könnten. Er vertrat damit einen ähnlichen Standpunkt wie Eger.196 Für Anthony Giddens können persönliche Interaktionen (»facework«) zwischen ›Laien‹ und Fachleuten ein »Vertrauen zweiter Ordnung«, ein Vertrauen in Expertenwissen,197 stärken oder aber untergraben.198 Um es aufrechtzuerhalten, müssten Experten ihre Verlässlichkeit besonders gewissenhaft inszenieren, indem sie ein »business-as-usual«-Verhalten zur Schau stellten.199 Zeitgenössische Experten setzten sich ebenfalls damit auseinander, wie sie das Vertrauen der Kriegsversehrten gewinnen konnten. Sie sahen die Lösung des Vertrauensproblems jedoch weniger in kühlem Professionalismus als vielmehr in der gezielten Mobilisierung von Emotionen in der Interaktion zwischen Kriegsversehrten und Medizinern. Josef Pokorny, der die ärztliche Berufsberatung im Wiener Reservespital Nr. 11 durchführte, reflektierte im Jahr 1916 in der »Wiener Medizinischen Wochenschrift« darüber, wie Mediziner in der Berufsberatung das Vertrauen der Soldaten gewinnen konnten. Er beschrieb darin die verschiedenen Dimensionen des Vertrauens, welche der ärztliche Berufsberater ansprechen können musste. Pokorny führte aus, dass es einerseits darum ging, Expertise im je spezifischen Gewerbe des einzelnen Kriegsversehrten zu demonstrieren. Professionalität alleine reichte jedoch nicht aus. Die Soldaten müssten andererseits, so Pokorny, »das Gefühl haben, daß man es mit [ihnen] gut meint, [ihnen] ein wohlwollender Berater ist«.200 Ähnlich argumentierte Deutsch, der sich gegen eine Berufsberatung »mit kategorischem Akzent«201 aussprach. Statt im Befehlston zu agieren, sollte man den verletzten und erkrankten Soldaten Zeit geben, sich mit Familienmitgliedern, Freunden oder Kollegen zu beraten, denn »[d]as erweckt das 193 Burkard, Über die Schulung Kriegsinvalider. 194 Perry, S. 118–157; Pawlowsky u. Wendelin, Die Wunden des Staates, S. 139–146. 195 Ferenczi, Die Wiedereinstellung der Kriegsinvaliden ins Erwerbsleben in Deutschland, Österreich und Ungarn, S. 8. 196 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1417, 434/1917. 197 Böhme, zitiert nach: Frevert, Über Vertrauen reden, S. 38. 198 Giddens, S. 83–92. 199 Ebd., S. 85–86. 200 Pokorny, S. 688. 201 Deutsch, Ärztliche Berufsberatung Kriegsbeschädigter, S. 32.

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Vertrauen selbst der Mißtrauischesten [sic] und macht sie dann den gegebenen Winken gefügiger.«202 Es ging Medizinern in ihrem Werben um das Vertrauen der Kriegsversehrten nicht darum, ihnen in der Berufsberatung ein größeres Mitspracherecht einzuräumen. Sie hatten lediglich erkannt, dass ihre Ratschläge nicht durch militärische Befehlsgewalt aufrechterhalten werden konnten und sie sich subtilerer Methoden der Überzeugung bedienen mussten. Das Ziel war, wie es Eger in einem Artikel ausdrückte, »[den Kriegsversehrten] weiterzuführen, ohne daß er die Bevormundung merkt.«203 Zu diesem Zweck riet Adolf Deutsch in seinem Handbuch für ärztliche Berufsberater zu Taktiken einer geschickten Gesprächsführung. Sie bauten darauf auf, dass der Mediziner seine eigenen Gefühle unter Kontrolle hatte und gezielt darauf hinarbeitete, Emotionen bei den Kriegsversehrten zu wecken. Als wichtigen Fortschritt bei der Berufsberatung sah es Deutsch daher an, wenn »das erste Lächeln über die vergrämten Gesichtszüge [eines Kriegsversehrten; T. S.R.] [huscht]«.204 Zuhören, Geduld und Anteilnahme sollte der Arzt praktizieren. Diese verstand Deutsch aber keineswegs als passive Eigenschaften, sondern als aktive Tätigkeiten, welche der »Übung« und der »Geistesgegenwart des Arztes«205 bedurften. Diese Techniken der Gesprächsführung bauten auf gezielten Praktiken des »Mobilisierens«, »Kontrollierens« und »Kommunizierens« von Gefühlen,206 einer »Gefühlsarbeit«207 des Arztes auf, um das Vertrauen der verletzten oder erkrankten Soldaten zu gewinnen. Das Ziel war es, das Gespräch so zu lenken, dass sie den Arzt als Experten anerkannten, und dieser dadurch zugleich ihren »gesunkenen Lebens- und Arbeitswillen [hebt]«.208 Die negativen Auswirkungen der Verletzung oder Erkrankung sollten nicht mehr das Selbstbild der Betroffenen bestimmen. Vertrauensbildung war daher eng damit verbunden, das Selbstvertrauen der Kriegsversehrten zu erhöhen. In einem Artikel über die berufliche Ausbildung Kriegsversehrter in der »Wiener Klinischen Wochenschrift« postulierte der Grazer Sozialmediziner Burkard, [die Erfahrung], dass es bei der Frage der Wiederverwendbarkeit Verstümmelter zu beruflicher Tätigkeit vor allem auf die Person des Verstümmelten ankommt, muß Basis jeglicher Berufsberatung sein. […] Nicht der somatische Befund ist es, der allein den Ausschlag gibt, was einer werden kann und werden soll, sondern weit mehr die Psyche des Verwundeten, sein Wille, Intellekt und seine Tatkraft.209

202 Ebd. 203 Eger, S. 57. 204 Deutsch, Ärztliche Berufsberatung Kriegsbeschädigter, S. 29. 205 Ebd., S. 27–28. 206 Scheer, S. 209–217. 207 Hochschild, S. 7. 208 Deutsch, Ärztliche Berufsberatung Kriegsbeschädigter, S. 27. 209 Burkard, Über die Schulung Kriegsinvalider, S. 102.

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Der Auffassung vieler Kriegsversehrter, dass sie körperlich nicht mehr fähig seien, ihren früheren Beruf auszuüben, sollte durch verschiedene Maßnahmen entgegengewirkt werden. Artikel, Flugschriften und Vorträge appellierten an die Kriegsversehrten, selbst an ihrer Re-Integration mitzuwirken. Die Veröffentlichungen verbanden die Bekanntmachung der Re-Integrationsmaßnahmen mit rhetorischen Mustern der Ratgeberliteratur zur richtigen Lebensführung, die seit der Jahrhundertwende eine erste Hochkonjunktur erlebte.210 Die Ratgeberliteratur setzt dabei, wie Stefanie Duttweiler betont, bereits »ein vernunftbegabtes, wollendes, zur Selbstmodifikation fähiges Individuum« voraus und soll ihre Leserschaft gleichzeitig dazu animieren, sich selbst so zu begreifen und danach zu handeln.211 Ganz ähnlich sprachen die Schriften für Kriegsversehrte die betroffenen Soldaten an. Die Autoren verfolgten mit diesen Publikationen das Ziel, den verletzten und erkrankten Soldaten »Möglichkeitshorizonte« zu eröffnen.212 Sie wollten die Kriegsversehrten davon überzeugen, dass sie durch eigenes Zutun ihre als krisenhaft empfundene Situation verändern konnten. Die Arbeitsvermittlung an Kriegsinvalide in Wien gab ab 1915 eine eigene Zeitschrift heraus. Der Leitartikel der ersten Ausgabe »An unsere verwundeten und kranken Krieger« begann mit den Worten des deutschen Orthopäden Konrad Biesalski: »Es gibt kein Krüppeltum, wenn der eiserne Wille vorhanden ist, es zu überwinden«.213 Die Autoren bedienten sich der »inszenierten Mündlichkeit«,214 wie sie für Ratgeberliteratur typisch war, sprachen verletzte und erkrankte Soldaten direkt an und appellierten an den Einzelnen: »Verzage nicht! Fasse Vertrauen zu Dir selbst!«, »Du stehst nicht allein!« und »Was sollst Du also tun?«215 Auch Jan Dvořák appellierte in seiner deutsch- und tschechischsprachigen Broschüre »Einige Winke für schwerverwundete Soldaten / Několik pokynů těžce raněným vojínům«216 an verletzte und erkrankte Soldaten, auf den Staat zu vertrauen: »Vertraue fest darauf, daß […] Hilfe von Seiten der Heeresverwaltung und des Staates [und] der zuständigen politischen und autonomen Behörden gewährt wird«.217 Gleichzeitig sollten sie an die Verbesserung ihrer Lage glauben und selbst dazu beitragen: »Verzage nicht« und »Damit Du der großen Vorteile [der Re-Integrationsmaßnahmen; T. S.R.] […] teilhaftig werden kannst, ist fester Wille, männliche Entschlossenheit, Zähigkeit und Energie

210 Kleiner u. Suter, S. 9–40. 211 Duttweiler, S. 44–50, Zitat: S. 46. 212 Ebd., S. 50. 213 o. A.: Österreichischer Arbeitsnachweis 1915, S. 1. 214 Messerli, S. 32. 215 Duttweiler, S. 50. 216 Dvořák, Einige Winke für schwerverwundete Soldaten / Několik pokynů těžce raněným vojínům. 217 Ebd., unpaginiert, Nr. 6, »Důvěřuj pevně, že […] kyne […] pomoc nejen se strany vojenské správy a státu [a] přislušných úřadů politických a samosprávných«.

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eine unerläßliche Vorbedingung«.218 Expliziter als andere Autoren verknüpfte Dvořák diese Aufrufe mit der Männlichkeit Kriegsversehrter, die sie aufrechterhalten sollten, indem sie aktiv an ihrer eigenen Re-Integration mitwirkten, anstatt um Almosen zu bitten. Das sei mit ihrer »Manneswürde« / »mužné dustojnosti« unvereinbar.219 Eger erklärte verletzten und erkrankten Soldaten in seiner (auch ins Tschechische übersetzten) Broschüre »An unsere verwundeten und kranken Krieger« aus dem Jahr 1916, dass sie ihre derzeitige Lage aus eigener Kraft verändern könnten und müssten: Nur muss der einzelne Kriegsbeschädigte mit gutem Willen an die Sache herantreten. Er soll nicht mit seinem Schicksal hadern, er soll handeln! Vor allem muss der einzelne Kriegsbeschädigte davon durchdrungen sein, dass er selbst das Beste dazu tun muss, dass er selbst den festen Willen zur Gesundung und zur Erwerbstätigkeit haben muss.220

Der Zweck dieser Appelle war es, wie in der Gesprächssituation der Berufsberatung, die Emotionen der verletzten und erkrankten Soldaten und ihre Selbstwahrnehmung zu beeinflussen: Sie sollten nicht »verzagen« und nicht mit ihrem Schicksal »hadern«. Ihnen sollte Zuversicht gegeben werden, indem ihnen aufgezeigt wurde, dass ihre Kriegsverletzung kein unabänderliches Schicksal sei.221 Um dies zu erreichen, bedienten sich Eger ebenso wie Biesalski und Würtz in Deutschland eines weiteren Mittels der Ratgeberliteratur des frühen 20. Jahrhunderts: der Schilderung von Vorbildern.222 Dazu präsentierte Eger223 – genauso wie Würtz224  –  Zeitgenossen, wie den ungarischsprachigen Pianisten Géza Zichy, der in seiner Jugend den rechten Arm verloren hatte, oder den Violinisten Carl Hermann Unthan, der armlos geboren worden war. Sie ebenso wie der tschechischsprachige František Filip, zeitgenössisch besser bekannt als Bezruký Frantík / armloser Franzl, erlangten im Ostmitteleuropa des frühen 20. Jahrhunderts große Bekanntheit als »armlose Wunder«.225 Denn sie verbanden ihre körperlichen Behinderungen mit künstlerischer Virtuosität und Erwerbsfähigkeit. Filip wurde zunächst als Vorzeigeschüler des Jedlička-Heimes in Prag / Praha der Öffentlichkeit präsentiert, bevor er sich in der Zwischenkriegszeit erfolgreich als Vorbild für die Bevölkerung der tschechoslowakischen Repu218 Ebd., unpaginiert, Nr. 2 (»Neklesej na mysli«) und Nr. 3 (»Nevyhutnelnou podmínkou a nutným předpokladem […] jest však především pevná vůle, mužná odhodlanost a nezlomná duševní vzpruha a energie«). 219 Ebd., unpaginiert, Nr. 7. 220 K. u. k. Militärkommando in Leitmeritz, in: SOA Liberec, AML-W Kt. 113, 106, 2; zur Übersetzung siehe: VÚA, VHA, KK9, MA Kt. 221, 55-29/5. 221 Perry, S. 120–133; Ruff, S. 148–154. 222 Kleiner u. Suter, S. 17; Peeters, S. 93–113 223 K. u. k. Militärkommando in Leitmeritz, S. 4. 224 Würtz, Der Wille siegt, S. 22–62. 225 Storchová, S. 157–181.

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blik inszenierte.226 Bereits während des Krieges trat auch Zichy als Ratgeber und Lehrmeister der Kriegsversehrten auf und veröffentlichte einen offenen Brief an alle verletzten Soldaten.227 Egers Flugschrift beschränkte sich jedoch nicht nur darauf, derartige Exempel aufzuzählen, sondern rief die Leser dazu auf, sich selbst an Beispiele aus ihrer Vergangenheit und Lebenswelt zu erinnern und so selbst daran mitzuwirken, sich von ihrer Arbeitsfähigkeit zu überzeugen.228 Als wichtigstes therapeutisches Mittel, um auf die Selbstwahrnehmung der Kriegsversehrten einzuwirken, erkannten Beamte, Ärzte und Gewerbefachleute jedoch rasch die Ausgestaltung des Alltags in den Krankenanstalten: [Es] erscheint aber als grundlegende Voraussetzung, daß bei jeder Gelegenheit auf die Gemütsbildung günstig eingewirkt werde. Nur dadurch werden die Invaliden von dem drückenden Gefühl der Hilflosigkeit befreit und verfallen nicht in Mutlosigkeit und Verbitterung wegen der Einbusse an Kraft und Lebensfreude. […] In diesem Zusammenhange muß mit entsprechendem Nachdruck auf die großen sittlichen Gefahren Bedacht genommen werden, die ihre Ursachen meist in der Beschäftigungslosigkeit haben.229

Diese Ausgestaltung der Behandlungszeit hatte ebenfalls die emotionale Erziehung der Kriegsversehrten zum Ziel. Sie sollten ihr Selbstbild über ihre Arbeitsfähigkeit (im früheren Beruf) definieren und nicht über ihre Einschränkungen infolge der Kriegsversehrung. Hier spielten Vorbilder ebenfalls eine zentrale Rolle. Menschen mit Behinderung oder Kriegsversehrte, die besonders geschickt mit Prothesen umgehen konnten, wurden verletzten Soldaten etwa durch Vorträge und Vorführungen in den Schulen nähergebracht.230 Sie sollten den Soldaten jedoch nicht nur sporadisch, sondern dauerhaft ein Vorbild sein. Deshalb wurden Menschen mit körperlichen Behinderungen bevorzugt als (Hilfs-)Lehrer in den beruflichen Ausbildungskursen der Re-Integrationsmaßnahmen angestellt. Burkard lobte die »lebensspendende Kraft des Vorbildes« besonders und sah den Vorteil von »Lehrkräften, die selbst eine Verstümmelung tragen« darin, dass »Mutlosigkeit und Widerwille bei anfänglichem Mißlingen des Arbeitsversuches – sonst kaum ganz vermeidlich – angesichts des immer gegenwärtigen lebendigen Gegenbeispiels [nicht zum Worte kommen].«231 So übernahm etwa die Direktion der Gewerbeschule in Asch / Aš jenen einarmigen Weber, dessen ›Entdeckung‹ zur Neubewertung der Aussagen der kriegsverletzten Soldaten geführt hatte, als Lehrkraft für die Ausbildungskurse für Kriegsversehrte.232 226 Ebd., S. 162–167; Titzl, František Filip alias Bezruký Frantík (1904–1957), S. 50–64. 227 Zichy; siehe zu Zichy auch: Kienitz, Beschädigte Helden, S. 197–198, 259–261. 228 K. u. k. Militärkommando in Leitmeritz, S. 4–5. 229 KM Erlass Abt. 10, 152.810/1917, in: VÚA, VHA, KK9, Praes. 8248/1917. 230 Kienitz, Beschädigte Helden, S. 197–205; ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1231, 356/1916; ebd., Kt. 1420, 1850/1917. 231 Burkard, Über die Schulung Kriegsinvalider, S. 100; zur Rolle der »Vorzeigeinvaliden« siehe: Kienitz, Beschädigte Helden, S. 192–205. 232 NAP, MVP-R Kt. 1043, 27059/1916.

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Auch die Fachschule für Textilindustrie in Reichenberg / Liberec beschäftigte als unterstützendes Lehrpersonal einen einarmigen »Hilfslehrer« und einen Kriegsversehrten.233 Ebenso stellte die Direktion der Fachschule für Tischlerei in Königsberg an der Eger / Kynšperk nad Ohří den »sehr tüchtigen Invalidenschüler Jakob Markl«234 als Aufsichtsorgan ein. Die Beschäftigung von Menschen mit körperlichen Behinderungen und Kriegsversehrten als Lehrkräfte war jedoch keine Einzelmaßnahme, sondern Teil der Erarbeitung eines therapeutischen Instrumentariums, das neben dem Körper auch auf die Psyche der Kriegsversehrten einwirken sollte. Dabei konnten sich Ärzte auf Theoriebildung aus verschiedenen Betätigungsfeldern der Medizin stützen. Aber auch praktische Erfahrungen aus der reha­ bilitativen Medizin im Versicherungswesen spielten eine wichtige Rolle. Bum und Herz hatten bereits vor dem Krieg rehabilitative Gymnastikübungen als physiologisch, neurologisch und psychologisch wirkende Tätigkeiten begriffen, indem sie »die Anregung des Willens« mit der »Schulung der Innervation« vereinten.235 Ihr Vokabular findet sich auch in Spitzys Ausführungen zur Arbeitstherapie: Das Ziel sei dem kriegsversehrten Patienten »neue Bewegungsmöglichkeiten dadurch [zu] eröffnen, daß ich die Willensreize gewissermaßen auf neuen, bisher weniger begangenen Pfaden den Muskeln zuführe (Einschleifen neuer Bahnen)«.236 Diese Überlegungen griffen zudem einzelne Mediziner und Ingenieure auf, um die Konstruktion von Prothesen zu überdenken. Sie propagierten zunächst mechanisch möglichst einfache Prothesen, die nur die Funktion der verlorenen Gliedmaße ersetzen sollten, insbesondere für Kriegsversehrte der Landwirtschaft.237 Sie mussten jedoch feststellen, dass Kriegsversehrte ihre Armprothesen nicht oder nur selten verwendeten und es stattdessen bevorzugten, ohne die Ersatzarme zu arbeiten.238 Ferdinand Sauerbruch vertrat gegenüber der funktionalistischen Auffassung der Prothese die Ansicht, dass eine Armprothese nicht nur die Funktion einer Gliedmaße im Arbeitsprozess ersetzen sollte. Er entwickelte 1916 eine Armprothese, bei der die Muskulatur im Armstumpf als Kraftquelle und zugleich für eine Art Tastsinn genutzt werden konnte. Dafür musste jedoch der Armstumpf speziell präpariert werden. Die dortige Muskulatur musste so vernäht werden, dass ein Elfenbeinstift hindurchgeführt werden konnte, der über einen Zugmechanismus mit den Fingern der Handprothese verbunden war. Während so das Anspannen und Lösen der Muskulatur diese Finger bewegte, übermittelte der Zugmechanismus gleichzeitig taktile Informationen an die Muskulatur über Lage und Zustand der künstlichen Hand. Sauerbruchs Ziel war es, eine sensorische Verbindung zwischen 233 NAP, MVP-R Kt. 1043, 22017/1916. 234 NAP, MVP-R Kt. 1043, 55118/1916. 235 Herz, Nervengymnastik, S. 971. 236 Spitzy, Arbeitstherapie und Invalidenschulen, S. 4. 237 Pawlowsky u. Wendelin, Die Wunden des Staates, S. 99–100, 109, 154–159. 238 Siehe dazu: Kienitz, Beschädigte Helden, S. 190.

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Körper und künstlicher Gliedmaße herzustellen und dadurch aus den an den Körper angesetzten, mechanischen Fremdkörpern Körperteile zu machen.239 Der Physiologe Albrecht Bethe hatte bereits vor dem Krieg intensiv zum Nervensystem geforscht. Er befürwortete Sauerbruchs Bemühungen, brachte sie jedoch zusätzlich mit der Frage der Durchdringung der Muskulatur mit Nervenfasern in Verbindung. Wie bei der Heilgymnastik erfordere auch der Umgang mit der Prothese von Kriegsversehrten, dass sie neue Bewegungsmuster erlernten, argumentierte Bethe.240 Darüber hinaus begannen Mediziner auf dem Gebiet der Prothetik, sich mit dem Selbstbild der verletzten Soldaten zu befassen. Wilhelm Neutra, Chefarzt der Nervenabteilung des Garnisonsspitals in Baden, Niederösterreich, stellte etwa in einem Artikel in der »Medizinischen Klinik« im Jahr 1917 folgende Hypothese auf: Besonders möchte ich also betonen, daß die selbstverständliche Depression aus der Nicht-mehr-Existenz des Gliedes und der gedanklichen Reflexion über die Folgen in kosmetischer, beruflicher, sozialer Hinsicht hervorgeht. Außerdem aber entsteht, wie ich glaube, in einem anderen, tieferen Gebiete des Seelenlebens durch das Ausfallen der Funktion des Glieds eine Änderung.241

Dabei berief er sich unter anderem auf die Arbeiten des Wiener Neurologen Lothar Frankl-Hochwart. Sie legten für ihn nahe, nicht nur »die Wirkung des Seelischen auf das Körperliche« zu beachten, sondern ebenso »die Wirkung der Körperlichkeit auf die Seele« miteinzubeziehen.242 Er sprach sich deshalb dafür aus, bei der Entwicklung der Prothesen viel stärker die Gewohnheiten und habitualisierten Bewegungsmuster der betroffenen Soldaten zu berücksichtigen, anstatt die Prothesen nur auf ihre Funktionalität im Arbeitskontext zu beschränken. Er plädierte dafür, jedem Betroffenen eine »seiner individuellen seelischen Konstitution entsprechende Prothese« zu verschaffen.243 Gleichermaßen beschäftigte sich der deutsche Pädagoge David Katz mit dem Körperbild der Kriegsversehrten. Wie Neutra betonte er, dass für viele die Prothese ein Fremdkörper blieb, und propagierte daher ebenfalls, das Selbstbild der Betroffenen stärker zu berücksichtigen.244 Dieses Interesse an der Selbstwahrnehmung der Soldaten beförderte auch die Durchsetzung der Arbeitstherapie. Zwar nutzten Mediziner für die Behandlung Kriegsversehrter gymnastische Übungen, Massage und andere rehabilitative Therapien der Vorkriegsjahre. In Ergänzung dazu propagierten sie jedoch den 239 Ebd., S. 174–176; Harrasser, S. 126–129. 240 Siehe dazu: Bethe; siehe zu Sauerbruch, Bethe und ihren Körperbildern: Harrasser, S. 126– 129. 241 Neutra, S. 1240, Hervorhebung im Original. 242 Ebd., S. 1239. 243 Ebd., S. 1240. 244 Siehe dazu: Kienitz, Beschädigte Helden, S. 189–192; Harrasser, S. 130–142; Rieger, S. 163– 183.

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therapeutischen Nutzen der Arbeitstätigkeit. Sie beschränkten sich dabei nicht auf die Gruppe der Kriegsverletzten, sondern bezogen ebenso Soldaten mit psychischen Erkrankungen oder schweren Gesichtsverletzungen ein.245 In mehrfacher Hinsicht konnten Mediziner hier auf Erfahrungen aus der Zeit vor 1914 aufbauen. Schließlich waren zentrale Akteure der Re-Integrationsmaßnahmen bereits vor dem Ersten Weltkrieg in der Fürsorge für Kinder mit körperlichen Behinderungen aktiv gewesen.246 Ein weiterer Anknüpfungspunkt war die Beschäftigungs- oder Arbeitstherapie, wie sie bereits vor dem Ersten Weltkrieg in psychiatrischen Anstalten praktiziert worden war. Schon dort hatte man in der Arbeit eine Tätigkeit erblickt, welche die Patienten und Patientinnen beruhigte.247 Dieser Konnex zwischen körperlichen Handlungen und geistig-emotionaler Verfasstheit war auch für die Kriegsversehrtenfürsorge zentral. Allerdings ging es dort nicht darum, Patienten ›ruhigzustellen‹, sondern sie von der Möglichkeit ihrer sozialen Re-Integration zu überzeugen und sie zur aktiven Teilnahme zu motivieren. Spitzy sah den Vorzug der Arbeitstherapie gegenüber älteren Behandlungsmethoden darin, dass sie ihren medizinischen Zweck verschleiere. Während bei den gymnastischen Übungen »[d]er Patient fühlt, daß er behandelt wird«, habe die Arbeitstherapie zur Folge, dass »er gar nicht merkt, daß er schließlich doch selbst der Gegenstand der Behandlung ist«.248 Dadurch steige die Motivation der Patienten. Es sei insgesamt der größte Vorteil der Arbeitstherapie, dass sie eine intrinsische Motivation besitze und zwar, »daß der Behandelte etwas schafft«.249 Bereits 1915 führte er im Wiener Reservespital Nr. 11 die Arbeitstherapie ein, und bald folgten, oft in enger Kooperation mit den gewerblichen Fachschulen, weitere Krankenanstalten.250 Wie die Flugschriften und die Lehrkräfte mit körperlichen Behinderungen so sollte auch die Arbeitstherapie zudem einer negativen Selbsteinschätzung der Kriegsverletzten vorbeugen. Auf medizinischer und ethischer Ebene sollte sie das ›Nichtstun‹ verhindern und den Zeitraum der Genesung mit der ›richtigen‹ Aktivität füllen.251 Insbesondere bei Lähmungen oder Versteifungen sahen Ärzte in der möglichst raschen erneuten »Mobilisation« der Gliedmaße die wichtigste Maßnahme zur Rehabilitation.252 Der Untätigkeit der Kriegsversehrten wurden jedoch auch ethische und psychische Risiken zugeschrieben: »Der ständige Feierabend im Rekonvaleszentenheim sitzt [den Kriegsversehrten] in

245 Ruff, S. 48–165; Lerner, S. 124–155. 246 Siehe Kapitel A 3.2. 247 Laehr. 248 Spitzy, Arbeitstherapie und Invalidenschulen, S. 4. 249 Ebd., Hervorhebung im Original. 250 NAP, MVP-R Kt. 1043, 17089/1916. 251 Ruff, S. 148–154; Kienitz, Beschädigte Helden, S. 227–230, 253–259, 264–270; Pawlowsky u. Wendelin, Die Wunden des Staates, S. 114–117, 139–146. 252 Fischer.

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den Gliedern«, wie Alois Kastner beklagte.253 Die Untätigkeit verleite Kriegsversehrte dazu, Freizeitbeschäftigungen nachzugehen, die nach bürgerlichen Maßstäben ›sinnlos‹ waren und entwöhne sie einem geregelten Tagesablauf mit regelmäßiger Arbeit. Arbeitstherapie sollte Kriegsversehrte herausholen aus einem »verweichlichenden Spitalsleben«, wie es Spitzy nannte.254 Hieraus wird ersichtlich, dass die Erziehung zur Arbeit auch auf die Wiederherstellung der Männlichkeit der verletzten und erkrankten Soldaten abzielte, die – in den Augen der Zeitgenossen  –  durch Untätigkeit, Arbeitslosigkeit und Abhängigkeit von Fürsorge bedroht war.255 Auf psychischer Ebene böte die Untätigkeit den Kriegsversehrten die Gelegenheit, sich mit den Folgen ihrer Behinderung zu befassen, sich um ihre berufliche Zukunft und den Lebensunterhalt ihrer Familie zu sorgen und so langsam zur Überzeugung zu gelangen, dass sie arbeitsunfähig seien: Noch zittern in seinem Innern all die furchtbaren Eindrücke der schweren Kämpfe nach, noch stehen alle die traurigen Bilder auf der oft langen Wanderung durch die Spitäler vor seinen Augen … Und neue tauchen auf: Seinen Beruf kann er nicht mehr ausüben. Wovon wird er leben mit der Familie? […] ›Man muß für mich und die Meinen sorgen!‹ An diesen Gedanken klammert er sich und damit wächst sein Gefühl des Unvermögens zu neuer schaffender Friedensarbeit!256

Ganz ähnlich sah es Robert Marschner, Geschäftsführer der böhmischen Landeszentrale und Direktor der Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt in Prag / Praha. Er erteilte in seinem »Merkbüchlein für Pflegerinnen und Ärzte« Ratschläge, wie »[d]iesen Sorgen […], welche oft so drückend sein können, daß sie den Heilungsprozess verhindern oder wenigstens erschweren«,257 entgegengewirkt werden könnte. Mit Zuspruch allein sei es dabei nicht getan, sondern es müsste, »dem Verständnis des einzelnen besonders angepaßt nachgewiesen werden, daß diese Sorgen unbegründet sind«.258 Dazu war die Arbeitstherapie in den Augen zeitgenössischer Mediziner besonders geeignet.259 Denn die Arbeitstätigkeit hätte den spezifischen Vorteil, dem einzelnen Kriegsversehrten seinen sukzessiven Heilungserfolg vor Augen zu führen – »er sieht den Fortschritt seiner Arbeit an dem bearbeiteten Gegenstand, er sieht, wie es weiterschreitet«.260 Dazu gehörte eine weitere Maßnahme, auf die Spitzy großen Wert legte: Die Werkzeuge sollten individuell für die verletzten Soldaten angepasst werden, damit ihnen die Arbeit »Freude mache«.261 Arbeitstherapie war für Spitzy eine Möglichkeit, 253 Kastner, S. 168. 254 Spitzy, Arbeitstherapie und Invalidenschulen, S. 16. 255 Kienitz, Beschädigte Helden, S. 253–259, 264–270. 256 Eger, S. 56; siehe auch: Deutsch, Ärztliche Berufsberatung Kriegsbeschädigter, S. 14–15. 257 Marschner, S. 7. 258 Ebd. 259 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1229, 705/1916. 260 Spitzy, Arbeitstherapie und Invalidenschulen, S. 4, Hervorhebung im Original. 261 Ders., Invalidenfürsorge und Invalidenschulen.

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Kriegsversehrten bereits während der Behandlung ihre eigene Arbeitsfähigkeit deutlich zu machen und dadurch der Selbsteinschätzung als »berufsunfähig« entgegenzuwirken. Medizinische und gewerbliche Fachleute konnten zudem während der Arbeitstherapie verletzte und erkrankte Soldaten bei der Arbeit beobachten und so Erfahrungen über die Auswirkungen der Kriegsversehrungen auf die Arbeitsfähigkeit sammeln, die sie wiederum für Entscheidungen über Therapie und Ausbildung nutzten.262 Der Übergang von medizinischer Behandlung zu beruflicher Ausbildung war dabei oft fließend. Die Beschäftigung in den Werkstätten wurde als »Vorschulung«263 betrachtet, die parallel zur orthopädischen Therapie schon eine fachliche Ausbildung vorbereiten sollte. Nicht nur Werkzeuge wurden an die körperlichen Einschränkungen der Kriegsversehrten angepasst. Invalidenschulen gestalteten die Arbeitstätigkeiten auch selbst in einer Weise, durch welche die Arbeit emotional positiv besetzt werden sollte. Ferdinand Breinl, der als Vertrauensmann des Ministeriums für öffentliche Arbeiten für die deutschsprachigen Invalidenschulen in Böhmen fungierte, führte in einem Bericht über die Arbeitstherapie in Reichenberg / Liberec aus, dass für Soldaten mit Arm- und Handverletzungen die Bearbeitung von Holz besonders geeignet sei. Das Material lasse die Kriegsbeschädigten »das Fortschreiten ihrer einfachen Arbeiten und damit auch ihre wachsende Leistungsfähigkeit leichter erkennen«, was eine »günstige psychische Wirkung auf die Invaliden« ausübe.264 Bereits vor dem Krieg hatten sich Wissenschaftler mit der Psychologie der Arbeit befasst und gute Arbeitsbedingungen darüber definiert, dass negative Emotionen fehlten.265 Im Unterschied dazu bezweckten Mediziner und Pädagogen in den Re-Integrationsmaßnahmen mit der Arbeitstherapie, dass Kriegsversehrte die Arbeit selbst mit positiven Emotionen verbanden. Zeitgenössisch fasste Burkard den Zweck der Arbeitstherapie pointiert in den Satz: »In der eigentlich orthopädischen Behandlung Objekt, wird der Patient in der Arbeitstherapie selbst Subjekt der Behandlung«.266 Burkard verstand dies als Lob der Arbeitstherapie, welche der Passivität der Patienten und Patientinnen in der rehabilitativen Medizin ein Ende bereite und ihnen eine aktive Rolle zuweise. Zu in solcher Art handelnden, ›selbstbestimmten‹ Subjekten und somit zu gesellschaftlich anerkannten Staatsbürgern konnten Kriegsversehrte jedoch nur werden, indem sie die gesellschaftlichen Wertmaßstäbe verinnerlichten und zur Grundlage ihres Selbstverständnisses machten. Diese Erziehung fand »auch über und mit dem Körper statt«,267 indem Mediziner die Arbeitstätigkeiten so einrichteten, dass sie den betroffenen Soldaten Erfolgserlebnisse und Selbst262 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1226, 192/1916. 263 NAP, MVP-R Kt. 1043, 3665/1916. 264 Ebd. 265 Donauer, S. 26. 266 Burkard, Über die Schulung Kriegsinvalider, S. 99. 267 Rohringer, Arbeitsfreude und Selbstvertrauen, S. 182.

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wertgefühl vermittelten, wodurch Arbeit ihnen wieder zur Gewohnheit werden sollte. Erst indem sie sich nicht nur als arbeitsfähige Männer begriffen, sondern in der Arbeit die Quelle ihrer »Lebensfreude«,268 von »Glück und Zufriedenheit«269 und des »stolze[n] Bewusstsein[s] eigenen wirtschaftlichen Wertes«270 erkannten, wurden Kriegsversehrte wieder zu »aufrechten Mitgliedern unserer Gemeinschaft«.271 Die Arbeitstherapie demonstriert daher am deutlichsten, wie in der sozialen Re-Integration die ökonomische Beurteilung der Arbeitsfähigkeit Kriegsversehrter mit ihrer moralischen Erziehung verflochten war. Das Ziel dieser Therapien war nicht nur die körperliche Heilung der Soldaten, sondern die Einübung spezifischer Selbstverhältnisse. Die Re-Integrationsmaßnahmen stellten somit im Kern Prozesse der Subjektivierung dar, Prozesse, durch die bei den Kriegsversehrten ein bestimmtes Selbstverständnis als Staatsbürger und arbeitende Männer (wieder-)hergestellt, eingeübt und verfestigt werden sollte. Diese Verflechtung bildete den zentralen Punkt der moralischen Ökonomie der Re-Integration Kriegsversehrter: Das Ziel, dass sie »›sozial‹ geheilt«272 werden sollten, war ein medizinisches, aber auch ökonomisches, moralisches und schließlich politisches Unterfangen.273 3.4 Ambivalenzen der Re-Integration Im Juni 1917 eröffnete im Museum für Kunst und Industrie an der Wiener Ringstraße, nicht weit entfernt vom Gebäude des Kriegsministeriums, die »Ausstellung der gewerblichen Kriegsinvalidenschulen«. Organisiert vom Ministerium für öffentliche Arbeiten waren dort zwei Monate lang Werkstücke zu sehen, die Kriegsversehrte in beruflichen Ausbildungskursen in ganz Cisleithanien hergestellt hatten. Die Exponate reichten von »Schreibübungen Einarmiger« über »kunstgewerbliche Entwürfe« bis hin zu Erzeugnissen verschiedenster kunstgewerblicher Sparten.274 Gegliedert waren die Ausstellungsstücke nach Schulen und Kronländern, wobei sich regionale industrielle Schwerpunkte mit kunstgewerblicher Traditionsbildung verbanden: 268 Jedlička, Péče o mrzáky [Krüppelfürsorge], S. 193: »radost ze života«, dies betont er auch während des Krieges, siehe etwa ders., Invalidita a léčení chirurgické [Invalidität und chirurgische Behandlung], S. 1073. 269 K. u. k. Militärkommando in Leitmeritz, S. 2. 270 Ebd. 271 Grundsätze der Invalidenfürsorge und Abgrenzung der Obliegenheiten der Militär- und Zivilstaatsverwaltung, Erlaß des Kriegsministers vom 8. Juni 1915, Z. 10942, Präs. an Militärkommanden, in: Mitteilungen des k. k. Ministerium des Inneren über Fürsorge für Kriegsbeschädigte 1 (Juli 1915), S. 6. 272 Burkard, Über die Schulung Kriegsinvalider, S. 99; fast wortgleich: Jedlička, Invalidita a léčení chirurgické [Invalidität und chirurgische Behandlung], S. 1073. 273 Siehe dazu auch: Pawlowsky u. Wendelin, Die Wunden des Staates, S. 139–146. 274 Fischel, S. 224.

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In Hallein ist die Holz- und Steinbearbeitung zu Hause; die Tonindustrie in Bechyn [Bechyně]; die Korbflechterei in Melnik [Mělník]. Schulen für Weberei und Wirkerei sind besonders im Kronlande Böhmen häufig, […] Andere Kronländer haben ihre alten Arbeitsgebiete, wie Mähren und Schlesien die Textilindustrie, Kärnten Handfeuerwaffen, neben den allgemeinen an Staatsgewerbeschulen gelehrten Gebieten gepflegt; und Galizien bietet eine große Übersicht auf dem Gebiete der Teppichweberei, Metalltreiberei und Kerbschnitzerei, die eine stark betonte volkstümliche Note trägt.275

Die Ausstellung sollte der Bevölkerung beweisen, dass der Staat die phy­sischen und sozialen Folgen des Krieges bewältigen konnte.276 Die Erzeugnisse waren gezielt nach Kronländern gegliedert, um die kunstgewerbliche Vielfalt der Monarchie zu unterstreichen. Der Wahlspruch Franz Josephs I., viribus unitis (mit vereinten Kräften), war im Lauf seiner 68jährigen Regierungszeit zunehmend Ausdruck dessen geworden, wie cisleithanische politische Eliten die Habsburgermonarchie verstanden: als harmonische Vereinigung verschiedener Völker. Dieses Bild der Monarchie bedurfte nach der Wiedereröffnung des Parlaments am 30. Mai 1917 mehr denn je der erneuten Bestätigung, als tschechisch-, ›südslawische‹ (slowenisch-, kroatisch- und serbischsprachige), ›ruthenische‹ (ukrainischsprachige) und polnischsprachige Abgeordnete die Neuordnung Österreich-Ungarns auf der Basis nationaler Autonomie forderten.277 Die Produkte der Kriegsversehrten sollten den Besuchern und Besucherinnen nicht nur den Erfolg der Re-Integrationsmaßnahmen demonstrieren, sondern auch die Einheit der Monarchie über den Tod Franz Josephs I. im November 1916 hinaus. Beworben wurde die Ausstellung allerdings mit einem Plakat, das die Ambivalenz der Re-Integrationsmaßnahmen deutlich macht.278 Die Bildmitte nehmen zwei Figuren ein: Im Vordergrund steht ein bärtiger, muskulöser Mann mit Arbeitsschürze, der die zweite Figur an der Schulter leicht überdeckt. Mit dem ausgestreckten linken Arm hält er einen fast mannsgroßen Hammer, der senkrecht mit dem Hammerkopf auf dem Boden aufliegt und den linken Bildrand markiert. Direkt dahinter steht eine Ritterfigur in voller Rüstung, das Visier des Helms aufgeklappt, und umfasst mit der rechten Hand ein Schwert, das den rechten Bildrand anzeigt. Beide Figuren sind mit Muskeln, Bart, übergroßem Werkzeug beziehungsweise Bewaffnung nicht nur hypermaskulin dargestellt, sondern auch vollkommen unversehrt. Im Motiv des Plakats werden Krieg, Arbeit und Männlichkeit in einer Weise miteinander in Einklang gebracht, die für Kriegsversehrte selbst nicht möglich war. Denn die Darstellung blendete jedwede Art von Behinderung aus. Dabei erwies es sich als Krux der Re-Integrationsmaßnahmen, dass die Kriegsversehrungen eben nicht so einfach ver275 Ebd. 276 Siehe auch: Rohringer, Arbeitsfreude und Selbstvertrauen, S. 184–186. 277 Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg, S. 736–737. 278 Wodnansky; siehe zum Plakat auch: Rohringer, ›So wie ihr euch draußen im Felde hervorgetan, so sollt ihr auch jetzt eueren Mann stellen‹.

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schwanden, dass verletzte und erkrankte Soldaten nicht so rasch »wirtschaftlich [aufhörten], Invalide zu sein«.279 Im Sommer 1917 bildete die Frage der Leistungsfähigkeit Kriegsversehrter den Gegenstand einer interministeriellen Debatte zwischen Beamten des Handels- und des Kriegsministeriums, die sich bis Januar 1918 hinzog. Im Jahr 1916 hatten die Beamten des Handelsministeriums den Versuch gestartet, Kriegsversehrte, die den Telegraphenkurs des Wiener Reservespitals Nr. 11 absolvierten, in den Post- und Telegraphendienst aufzunehmen. Seither waren 56 Kriegsversehrte in Böhmen, Mähren, Galizien, Oberösterreich, Niederösterreich, Tirol und Triest probeweise angestellt und zwölf von ihnen in den Postdienst übernommen worden. Die Urteile der Post- und Telegraphenamtsdirektionen über die Arbeitsleistung der Kriegsversehrten fiel jedoch, berichtete das Handelsministerium, überwiegend negativ aus: Laut der Direktionsberichte entsprechen die Invaliden zum grössten Teile den an sie gestellten Anforderungen bisher entweder überhaupt nicht oder nur in unzureichendem Maße. Als volle Arbeitskräfte kommen sie vorläufig überhaupt nicht in Betracht.280

Die Wiener Direktion ersuchte sogar darum, von der Zuteilung weiterer verletzter oder erkrankter Soldaten ausgenommen zu werden. Diese Resultate waren bereits problematisch genug. Aber die Gründe, welche die Direktionen für ihre schlechte Bewertung der Kriegsversehrten anführten, stellten die eigentliche Herausforderung für die Re-Integrationsmaßnahmen dar. Es liege nämlich nicht ein »Mangel an Fleiss oder Diensteifer« vor, »diesfalls kann den Kriegsbeschädigten nichts Nachteiliges vorgeworfen werden«. Die Ursachen seien vielmehr »in erster Linie in der mangelnden Vorbildung und der geringen Intelligenz [zu suchen]. Weiters bildet auch der physische Zustand der Invaliden ein Hindernis […]«.281 Die mangelhafte Leistung der Kriegsversehrten konnte also nicht durch ›Arbeitsunlust‹ oder ähnliche Verfehlungen erklärt werden. Vielmehr reichten die medizinische Therapie, Prothesen und berufliche Ausbildung der Kriegsversehrten nicht aus, um den Anforderungen der Post- und Telegraphenämter zu genügen. Die schlechten Erfahrungen mit den ersten Kursabsolventen interpretierten die Beamten des Handelsministeriums in der Weise, dass sie der Rückkehr in den früheren Beruf größeren Wert beimaßen. Es sollten nur noch jene Kriegsversehrten in den Postdienst aufgenommen werden, die bereits vor dem Krieg »eine entsprechende soziale Stellung inne hatten«.282 Sie ersuchten daher das Kriegsministerium, den Zugang zum Kurs zu beschränken. Einerseits schlugen 279 Ferenczi, Die Wiedereinstellung der Kriegsinvaliden ins Erwerbsleben in Deutschland, Österreich und Ungarn, S. 19. 280 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1419, 1151/1917. 281 Ebd. 282 Ebd.

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sie vor, die Zahl der Kursteilnehmer auf 20 zu limitieren und zudem für jede Post- und Telegraphenamtsdirektion der Kronländer eine bestimmte Anzahl an Kriegsversehrten festzulegen. Andererseits sei von den Kandidaten zu verlangen, dass sie bereits vor dem Antritt des Kriegsdienstes die erforderliche Schulbildung abgeschlossen hatten. Die Beamten des Handelsministeriums waren also darum besorgt, das Ansehen der Postbeamten als Repräsentanten des Staates zu wahren. Zudem sollte der Berufsstand, der auf einer entsprechenden Ausbildung aufbaute, nicht dadurch ›abgewertet‹ werden, dass Personen aus ärmeren Verhältnissen nun Zugang dazu erhielten. Die Beamten des Kriegsministeriums sahen sich ebenfalls in ihrer Ansicht bestärkt, dass die Rückkehr in den früheren Beruf der richtige Weg der sozialen Re-Integration sei. Gleichzeitig distanzierten sie sich deutlich von jeder Implikation, dass [n]icht ausreichende Vorbildung und geringere Intelligenz […] als spezifisch typische Merkmale der Kriegsbeschädigte eines Volksheeres gelten, das sich aus Personen aller Bevölkerungs- und Berufsklassen zusammensetzt.283

Kriegsversehrte im Allgemeinen als geringer qualifiziert zu betrachten, barg für die Ministerialbeamten die Gefahr, ihre gesellschaftliche Anerkennung als potenzielle Arbeitskräfte zu untergraben. Es stelle eine »ausserordentliche soziale Gefahr« dar, wenn ganz allgemein die Behauptung von der geringeren Verwendungsmöglichkeit der Invaliden als indiskutable These aufgestellt werden sollte und sich hiezu […] sämtliche Berufszweige bekennen würden.284

Wie die Beamten der Gruppe für Invalidenfürsorge des Kriegsministeriums bereits 1916 dargelegt hatten, sahen sie den Staat in der Pflicht als Vorbild bei der Beschäftigung Kriegsversehrter für die Privatwirtschaft zu wirken.285 Eine generelle Abqualifizierung Kriegsversehrter als ›minderwertige‹ Arbeitskräfte durch Ministerien hätte den gegenteiligen Effekt und berge das Risiko, dass Unternehmer und Unternehmerinnen Kriegsversehrte als Belastung anstatt als wertvolle Arbeitskräfte sehen würden. Sollten sich die Kriegsversehrten als arbeitstätige Bürger begreifen, musste ihre Arbeitsfähigkeit auch von ihren Mitbürgern und -bürgerinnen anerkannt werden. Das soziale Umfeld der Kriegsversehrten hatte Eger bereits 1916 als essenziell für den Erfolg der Re-Integrationsmaßnahmen erkannt, weswegen die Bevölkerung über ihre Ziele und Zwecke aufgeklärt werden sollte. Die Bürger und Bürgerinnen der Habsburgermonarchie sollten Kriegsversehrten nicht mit »übel angebrachte[r] Herzensgüte«286 begegnen und die Soldaten auch nicht 283 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1419, 1151/1917. 284 ÖStA, AdR, BMfsV, Sek. 2/Kb. Kt. 1356, 385/1918, 1. Einlagebogen. 285 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1227, 1001/1916. 286 Deutsch, Ärztliche Berufsberatung Kriegsbeschädigter, S. 17.

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durch Almosen »zum Betteln erzogen werden«.287 Wenn die Kriegsversehrten von ihren sozialen Bezugspersonen als arbeitsunfähig behandelt würden, wären alle Bemühungen der Therapie und Ausstattung mit Prothesen vergebens: Wenn nun aber der Nachbar […] kommt und ihm sagt: ›Du dummer Mensch, was plagst Du Dich noch, Du mußt doch die Rente bekommen --‹ Dann ist es aus mit aller Lust zu aller Arbeit […].288

Die moralische Erziehung Kriegsversehrter, die ihre Therapie und Ausbildung auch leisten sollten, hatte zudem den Zweck, Konflikte über die Höhe der Renten zu vermeiden. Die Sorge vor einer ›Rentenhysterie‹ war nie ganz aus den Debatten zur sozialen Re-Integration verschwunden. Die verletzten und erkrankten Soldaten sollten davon überzeugt werden, dass Renten »in keinem Fall für das Auskommen des Invaliden und seiner Familie allein ausreichen«289 könnten. Umgekehrt galt es zu verhindern, dass Kriegsversehrte eine Anstellung deswegen ablehnten, weil sie befürchteten, dass ihnen dann die Rente gekürzt würde. So erblickte die Arbeitsvermittlungsstelle Troppau / Opava einen der Gründe für die »Arbeitsscheu« Kriegsversehrter darin, dass sie »glauben nicht mehr arbeiten zu müssen, um einer Verminderung der Rente vorzubeugen«.290 Kriegsversehrte sollten zu Staatsbürgern erzogen werden, die weder den Staat mit Forderungen nach höheren Renten finanziell belasteten noch eine Versorgung aus öffentlichen Mitteln einem erarbeiteten Einkommen vorzogen. Das konnte jedoch nur Erfolg haben, wenn Arbeitgeber Kriegsversehrte ebenfalls als wertvolle Arbeitskräfte akzeptierten und einstellten. Ausstellungen, wie jene im Wiener Museum für Kunst und Industrie, aber auch auf lokaler Ebene291 waren eine Möglichkeit, potenzielle Arbeitgeber von der ›Leistungsfähigkeit‹ Kriegsversehrter zu überzeugen. Eine andere Option war die Zusammenarbeit zwischen staatlichen Schulen und Betrieben auf lokaler Ebene, um Kriegsversehrte in den Produktionsstätten der Firmen zu beschäftigen und sie so zugleich für einen Beruf auszubilden. Die Invalidenschulen erhielten dadurch nicht nur unentgeltlichen Zugang zu Räumlichkeiten, Werkzeugen und Maschinen, sondern der Verkauf von Produkten bot ihnen auch die Möglichkeit, den Soldaten Löhne auszuzahlen. Gemeinsam mit der Arbeitstherapie propagierten Mediziner und Gewerbefachleute daher die Auszahlung von sogenannten »Arbeitsprämien«, um das Vertrauen Kriegsversehrter in ihre Arbeitsfähigkeit zu fördern.292 Dies zog allerdings die Frage 287 Referent für Kriegsbeschädigtenfürsorge beim k. u. k. Militärkommando Leitmeritz, S. 8. 288 Eger, S. 56. 289 Marschner, S. 6. 290 ÖStA, AdR, BMfsV, Sek. 2/Kb Kt. 1357, 2748/1918. 291 Verhandlungsschrift über die am 1. März 1917 unter dem Vorsitze Seiner Exzellenz des Herrn k. k. Landespräsidenten von Schlesien Adalbert von Widmann abgehaltene dritte Vollversammlung der schles. Landeskommission zur Fürsorge für heimkehrende Krieger, S. 6, in: NAP, MVP-R Kt. 1044, 41477/1917; VÚA, VHA, KK9, MA Kt. 221, 55-42/48-3 (38921). 292 Spitzy, Arbeitstherapie und Invalidenschulen, S. 16.

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nach sich: Wie viel sollten verletzte und erkrankte Soldaten, die offiziell über die Verminderung ihrer Berufs- oder Erwerbsfähigkeit definiert waren, als Arbeitskräfte verdienen? Für den Sozialwissenschaftler Ferenczi war es unabdingbar, »daß der Invalide nach seiner Leistung entlohnt wird.«293 Trotzdem erkannte er das Konfliktpotenzial, das die Bezahlung nach Leistung barg: Waren kriegsversehrte Arbeiter nicht voll ›leistungsfähig‹, würden Lohnformen wie der Gruppenakkord die Zusammenarbeit mit Arbeitern ohne Behinderungen unmöglich machen, da letztere dadurch Lohneinbußen hinnehmen müssten.294 Das Kriegsministerium normierte schließlich am 27. März 1918 die Arbeitsprämien, die an Kriegsversehrte in militärischen Krankenanstalten ausbezahlt werden durften, und legte einen Maximalbetrag von einer Krone pro Person und Tag fest. Zudem durften Prämien nur aus dem Reinertrag der Werkstätten ausgeschüttet werden.295 Damit bestimmten die Beamten jedoch nur, was einzelne Schulleitungen bereits seit 1916 versuchten: mit den Erzeugnissen der Schulungswerkstätten für Kriegsversehrte Einnahmen zu generieren, um Kosten zu decken und wenn möglich Prämien an die Soldaten auszuzahlen.296 Die Bemühungen, die Schulen des Wiener Reservespitals Nr. 11 so zu führen, dass sie Einnahmen schufen, sorgte im Juni 1918 für einen Eklat zwischen Richard Treffer, ihrem technisch-didaktischen Leiter, und Spitzy, ihrem Leiter. Treffer beschwerte sich beim Ministerium für öffentliche Arbeiten darüber, dass seiner Ansicht nach das Reservespital »weniger den Namen einer ›Schule‹ als den eines gewerblichen Großbetriebes mit Invaliden als Arbeiter«297 verdiene. Die Ursache dafür erblickte er in der Zielsetzung, dass die Schulen kostendeckend arbeiten und daher durch die Annahme von Bestellungen einen Ertrag erwirtschaften müssten. »Unproduktive Auslagen«, wie das Herstellen von Produkten als Übung, seien möglichst zu reduzieren und die Kriegsversehrten vom Unterricht zu befreien, um in den Werkstätten die Auftragsarbeiten durchzuführen.298 Daher diene die Vorgabe, selbsterhaltend zu sein, lediglich den »ökonomischen Interessen der Militärverwaltung«, widerspreche jedoch den pädagogischen Zielen der beruflichen Ausbildung Kriegsversehrter.299 In seiner Gegenäußerung rechtfertigte Spitzy seine Maßnahme mit ihrem pädagogischen Wert. Sie böte die Möglichkeit, die berufliche Ausbildung der Kriegsversehrten »möglichst ähnlich der wirklichen Arbeit«300 zu gestalten. Die Schüler sollten von »schädlichem Müßiggang« abgehalten und nach ihrer »Leistungsfähigkeit« bezahlt werden. Es sei wünschenswert, dass sie mehr ver293 Ferenczi, Die Wiedereinstellung der Kriegsinvaliden ins Erwerbsleben in Deutschland, Österreich und Ungarn, S. 19. 294 Ebd., S. 20. 295 ÖStA, AdR, BMfsV, Sek. 2/Kb Kt. 1359, 9094/1918. 296 MVP-R Kt. 1043, 3665/1916; ebd., 59469/1916; ebd., 40757/1916. 297 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1705, 905/1918. 298 Ebd. 299 Ebd. 300 Ebd.

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dienen könnten als die normierte eine Krone pro Tag. Um »ortsübliche Löhne« zahlen zu können, sei jedoch eine »unabhängige Arbeitsmöglichkeit« notwendig, die Erträge erwirtschafte.301 Treffer verstand die berufliche Ausbildung Kriegsversehrter als geschützten Raum, in welchem die Tätigkeit der verletzten und erkrankten Soldaten nicht (nur) nach Kosten-Nutzen-Erwägungen und Produktivität beurteilt wurde. Schließlich bezweckte sie nicht Gewinn, sondern den Erwerb von Wissen und Fähigkeiten. Spitzy hingegen erblickte in der Beurteilung der Leistungsfähigkeit Kriegsversehrter einen inhärenten Bestandteil ihrer sozialen Re-Integration. Die Debatte verlief insofern für Spitzy und Treffer erfolgreich, als sowohl das Kriegsministerium als auch das Ministerium für öffentliche Arbeiten zusätzliche finanzielle Mittel versprachen, damit die Schulen ihren pädagogischen Auftrag erfüllen konnten.302 Sie führte allerdings nicht dazu, dass die Ministerialbeamten über die Problematik reflektierten, welche die Auseinandersetzung offengelegt hatte: Was sollte geschehen, wenn Kriegsversehrte den Anforderungen gewinnorientierter Betriebe nicht entsprachen? Anfang des Jahres 1918 waren die Beamten, die in der Sektion für »Kriegsbeschädigtenfürsorge« des neu errichteten Ministeriums für soziale Fürsorge tätig waren, damit beschäftigt, sich einen Überblick über die bisherigen ReIntegrationsmaßnahmen für Kriegsversehrte zu verschaffen. Dazu erbaten sie von den Landeskommissionen auch Erfahrungsberichte zu Arbeitsprämien in zivilen Einrichtungen. Diese zeigten, dass diese Methode alles andere als unumstritten war.303 Ihre Umsetzung brachte für manche Mitglieder der Landeskommissionen so gravierende Probleme mit sich, dass sie Arbeitsprämien gänzlich ablehnten. Die Vertreter der Landeskommission Kärnten hinterfragten grundlegend, ob Prämien tatsächlich dazu führten, dass Kriegsversehrte Arbeitstätigkeiten mit positiven Gefühlen verbanden. Gegenüber den Ministerialbeamten legten die Kommissionsmitglieder dar, dass die Arbeitsprämien sie vor ein Dilemma stellten: Einen Pauschalbetrag hielten sie für »ungerecht«, da so den Unterschieden zwischen den Soldaten in »Fleiss, der Geschicklichkeit, der Pünktlichkeit und der Art der Arbeit« nicht Rechnung getragen werden könne, was den Arbeitsverhältnissen in Industrie und Gewerbe nicht entspreche.304 Ein abgestuftes Prämiensystem wiederum steigere nicht die Arbeitsfreude der Invalidenschüler, sondern würde nur »Unzufriedenheit« hervorrufen, weil niedrige Prämien den Kriegsversehrten ihre geringere Arbeitsfähigkeit vor Augen führen würden.305 Die Frage der Entlohnung Kriegsversehrter machte ein inhärentes Spannungsverhältnis der Re-Integrationsmaßnahmen deutlich. Auf der Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik in Wien 1909 hatte Eugen Philippovich 301 Ebd. 302 Ebd. 303 Siehe hierzu auch: Rohringer, Arbeitsfreude und Selbstvertrauen, S. 183. 304 ÖStA, AdR, BMfsV, Sek. 2/Kb Kt. 1362, 20713/1918. 305 Ebd.

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in seinem Referat über die »Produktivität der Volkswirtschaft« verschiedene Maßstäbe aufgezeigt, anhand derer sich ›Produktivität‹ bestimmen ließe – von der betriebswirtschaftlichen über eine volkswirtschaftliche bis hin zur weltwirtschaftlichen Ebene.306 An der Jahreswende 1914/1915 hatten Politiker und Wissenschaftler die Zwecke der Re-Integrationsmaßnahmen primär auf der volkswirtschaftlichen Ebene verortet: Bevölkerungspolitisch sollten sie einem sozio-ökonomischen Abstieg und einer damit in Verbindung gebrachten moralischen ›Degeneration‹ der Kriegsversehrten und ihrer Familien vorbeugen; makro-ökonomisch die Konkurrenzfähigkeit des Staates auf dem Weltmarkt sicherstellen, unter der Prämisse, dass nach dem Krieg jeder männliche Staatsbürger als Arbeitskraft benötigt würde. Die Einschätzung der Vertreter der Landeskommission Kärnten, dass gleiche Bezahlung bei ungleicher Arbeitsleistung »ungerecht« sei, demonstriert eine anders gelagerte Perspektivierung von Arbeit. Sie rückten mit dem Konzept objektiver Leistung den betriebswirtschaftlichen Nutzen individueller Arbeit in den Mittelpunkt. Diese Moralisierung der betriebswirtschaftlichen Leistungsfähigkeit sollte in der Nachkriegszeit in den Debatten um das sogenannte österreichische »Invalidenbeschäftigungsgesetz« große Bedeutung erlangen. Unternehmer und Unternehmerinnen protestierten dagegen, Kriegsversehrte wie Arbeitskräfte ohne Behinderungen zu bezahlen, und diffamierten die vermeintliche Differenz zwischen Lohn und Leistung als »Faulheitsprämie«.307 Zwar hatten manche Autoren wie Marchet bereits 1915 auf die Herausforderungen hingewiesen, denen die Rückführung Kriegsversehrter auf den Arbeitsmarkt begegnen würde, und dafür vor allem den »Zwang der Konkurrenz« und die damit zusammenhängende »äußerst energische Ausnützung vollwertiger Arbeitskräfte« verantwortlich gemacht.308 Auch Ferenczi prognostizierte 1916, dass bald nach dem Krieg »die immanenten Gesetze der Kapitalswirtschaft wieder ihre Herrschaft antreten« und Unternehmer nur noch Arbeitskräfte ohne körperliche Einschränkungen beschäftigen würden.309 1916 begannen Akteure der Re-Integrationsmaßnahmen sich intensiver mit der Frage zu befassen, wie die soziale Re-Integration Kriegsversehrter mit den betriebswirtschaftlichen Anforderungen privater Unternehmen in Einklang zu bringen sei. Auf dieses Spannungsverhältnis zwischen betriebs- und volkswirtschaft­ licher Leistungsfähigkeit versuchten Zeitgenossen, mit dem Modell eines genossenschaftlichen Zusammenschlusses Kriegsversehrter zu reagieren. Der Architekt Hans Payer veröffentlichte 1916 unter dem Titel »Invalidenelend, Staat und Gesellschaft« einen programmatischen Aufruf zur Gründung von »Kriegsinva306 Ständiger Ausschuss, S. 329–358. 307 ÖStA, AdR, BMfsV, Sammelakten [SA] 1918–1922, Kt. 1572, Sa 146, 13994/1920, zitiert nach: Pawlowsky u. Wendelin, Die Wunden des Staates, S. 421; siehe zum sogenannten Invalidenbeschäftigungsgesetz: dies., Die Wunden des Staates, S. 414–430 308 Marchet, S. 35. 309 Ferenczi, Die Wiedereinstellung der Kriegsinvaliden ins Erwerbsleben in Deutschland, Österreich und Ungarn, S. 19–20, Zitat: S. 20.

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liden-Erwerbs-Genossenschaften« im sozialdemokratischen und monis­tischen Verlag der Brüder Suschitzky.310 Eine solche Genossenschaft würde die Lösung für mehrere Schwierigkeiten der sozialen Re-Integration verletzter und erkrankter Soldaten bieten. Payer prognostizierte, dass sich nach dem Krieg durch die Rückkehr gesunder Soldaten die Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt zuungunsten Kriegsversehrter entwickeln würden. Eine »Ausbeutung des Invalidenarbeiters«311 durch Unternehmer und Unternehmerinnen finde bereits statt, da sie Kriegsversehrte nicht als vollwertige Arbeitskräfte anerkennen würden. Sie würden die Anstellung der Kriegsversehrten als einen Akt der »Barmherzigkeit« betrachten und ihnen geringere Löhne zahlen.312 Eine staatliche Versorgung der betroffenen Soldaten durch Renten allein übersteige die finanziellen Mittel des Staates, könne daher nicht jene Höhe erreichen, die es ihnen gestatte, ihrem »früheren bürgerlichen Einkommen entsprechend zu leben«.313 Es drohe daher nicht nur der sozio-ökonomische Abstieg breiter Bevölkerungsschichten, sondern diese »große Masse Unzufriedener« berge auch das Risiko politischer Destabilisierung.314 Eine »Kriegsinvaliden-Erwerbsgenossenschaft« als Zusammenschluss von »Invaliden, [die] einzeln zu schwach [sind]«, habe den Vorteil, dass sie Kriegsversehrte mit unterschiedlichen Formen der Behinderung vereine. Dadurch könnten sie ihre Einschränkungen wechselseitig kompensieren; so werde aus jedem Kriegsversehrten im Kollektiv ein »Vollarbeiter«.315 Gegenüber anderen privatwirtschaftlichen Unternehmen habe die Genossenschaft darüber hinaus den Vorteil, dass »der gesamte Gewinn den Invaliden allein zufällt«.316 Das sei essenziell für die gesellschaftliche Stellung und den Charakter der Kriegsversehrten: Die Invaliden haben als die eigentlichen Träger des Geschäftes Gelegenheit, sich zu betätigen zum eigenen Fortkommen und in weiterer Folge zur Förderung der Volkswirtschaft. Sie werden aus Unterstützten Förderer und erhalten dadurch im Staate eine ›Aktivstellung‹.317

Damit folgte Payer dem Credo der ›Krüppelfürsorge‹, wie sie Biesalski, Würtz, Spitzy oder Jedlička und Bakule propagierten. Sie hatte ebenfalls die Transformation von Menschen mit Behinderungen in arbeitstätige, steuerzahlende Bürger zum Ziel. Diese würde dem Staat schließlich die Möglichkeit bieten, seiner Versorgungspflicht gegenüber den Kriegsversehrten in neuer Weise nachzukommen. Anstatt sie »direkt« durch Rentenzahlungen zu versorgen, sollte der 310 Payer; zum Verlag siehe: Belke, S. 53–56. 311 Payer, S. 16. 312 Ebd. 313 Ebd., S. 8. 314 Ebd., S. 9. 315 Ebd., S. 16. 316 Ebd., S. 17. 317 Ebd., S. 20.

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Staat sie nun »indirekt […] durch Übertragung von Lieferungen und Arbeiten an die Kriegsinvaliden-Erwerbs-Genossenschaften« unterstützen.318 Die bevorzugte Vergabe von Staatsaufträgen an die Genossenschaft war für Payer zugleich die Grundlage für ihr Funktionieren.319 Payer versuchte in seinem Projekt einer Produktionsgenossenschaft für Kriegsversehrte, die volkswirtschaftlichen, staats- wie biopolitischen und moralischen Erwägungen der Re-Integrationsmaßnahmen mit betriebswirtschaftlichen Zielsetzungen zu vereinen und zugleich den Konkurrenz- und Leistungsdruck privatwirtschaftlicher Unternehmungen zu entschärfen. Payer selbst gründete in Wien die »Zentralstelle der Invaliden-Erwerbsgenossenschaften«, um die Entstehung weiterer Genossenschaften für Kriegsversehrte zu fördern. In Salzburg rief der Architekt Georg Schmidhammer 1916 eine »Kriegsinvaliden-Erwerbs-Genossenschaft« ins Leben. Sie nutzte Werkstätten zur Holzbearbeitung und kooperierte eng mit der Salzburger Landeskommission, welche der Genossenschaft verletzte und erkrankte Soldaten aus militärischen Krankenanstalten zur Arbeitstherapie zuwies.320 Schmidhammer verfolgte mit der Genossenschaft jedoch nicht nur sozialpolitische, sondern auch künstlerische und ökonomische Ziele.321 Für die Broschüre, mit der sich die Genossenschaft der Öffentlichkeit präsentierte, verfasste der seit 1912 in Salzburg lebende Schriftsteller Hermann Bahr einen Bericht über seine Eindrücke aus der Werkstatt. Unter dem vielsagenden Titel »Idyll« pries Bahr die Verdienste der Genossenschaft: Solches Behagen, so viel versonnene beherzte Freudigkeit, ein solches Wohlgefühl an Sicherheit, Geborgenheit, ja fast Wunschlosigkeit atmet hier. Gelassen steht jeder hier an seinem Werk […].322

Dies führte Bahr einerseits auf die therapeutische Wirkung der Arbeitstätigkeit zurück, die er ganz im Sinne von Spitzy, Eger oder auch Jedlička sowohl auf den Körper als auch auf die Emotionen und das Selbstbild der Kriegsversehrten bezog: »Die Vorstellung, krank zu sein, hält die Krankheit fest. Arbeit, indem sie diese Vorstellung, krank zu sein, verscheucht, hilft damit gelinde die Krankheit selbst zu verscheuchen.«323 Andererseits würden Kriegsversehrte als Genossenschafter von den Löhnen unmittelbar profitieren. Nach dem Vorbild der Salzburger Genossenschaft gründete der Verein »Gesellschaft für Invalidenfürsorge«, der sich die Arbeitsvermittlung für Kriegsversehrte zum Ziel gesetzt hatte,324 eine eigene Genossenschaft.325 Beide Genossenschaften konnten 318 Ebd., S. 24. 319 Ebd., S. 23. 320 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1703, 1161/1918; ebd., 695/1918. 321 ÖStA, AdR, BMfsV, Sek. 2/Kb Kt. 1358, 5015/1918, 3. Einlagebogen. 322 Bahr, S. 19, in: ÖStA, AdR, BMfsV, Sek. 2/Kb Kt. 1358, 4941/1918. 323 Ebd. 324 Hsia, Who Provided Care for Wounded and Disabled Soldiers?, S. 319–326. 325 ÖStA, AdR, BMfsV, Sek. 2/Kb Kt. 1358, 5015/1918, 2. Einlagebogen.

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staatliche Aufträge für sich gewinnen. Wie die Ministerialbeamten ihre Leistungen beurteilten, demonstriert jedoch erneut die inhärenten Spannungen der Re-Integrationsmaßnahmen. Wie im Falle der Arbeitsprämien ersuchten die Beamten des Ministeriums für soziale Fürsorge auch bei den Genossenschaften um Einschätzungen aus den verschiedenen Ministerien und Landeskommissionen. Das Salzburger Gewerbeförderungsamt stand der dortigen Kriegsversehrtengenossenschaft skeptisch gegenüber und erblickte darin eine potenzielle Schädigung des Gewerbestandes; eine Einschätzung, der sich auch die Beamten des Ministeriums für öffentliche Arbeiten anschlossen. Das Kriegsministerium hatte die Salzburger und Wiener Genossenschaften hingegen rasch in die Kriegswirtschaft eingebunden.326 Die Kriegsversehrten in den Salzburger Werkstätten produzierten »Artillerie- und besondere Kampfmittel-Verschläge, landwirtschaftliche Geräte, […], Hausgeräte, Holzsohlen, Feldpostkisteln [sic] u[nd] Möbel«,327 in den Werkstätten der Wiener Genossenschaft wurden ausschließlich Verschläge hergestellt. Die Beamten der Sektion 18 des Kriegsministeriums, welche die beiden Genossenschaften inspizierten, lobten, wie »rationell eingerichtet«328 die Salzburger Werkstätten seien. Demgegenüber kritisierten sie die Wiener Genossenschaft für ihre »unrationell[e] und kostspielig[e]« Produktion,329 die dazu führte, dass Verschläge in Salzburg um »zirka 80 % billiger« hergestellt wurden.330 Die Beamten waren aber auch ganz offen, was einen weiteren Vorzug der Genossenschaft in Salzburg betraf: »Durch die Heranziehung der noch in Spitalsbehandlung stehenden Invaliden verfügt die Genossenschaft über verhältnismäßig billige Arbeitskräfte«,331 da die Männer noch im militärischen Dienstverhältnis standen und keine privatwirtschaftlichen Löhne bezahlt erhielten. Die Beamten sprachen sich für die Einrichtung weiterer Genossenschaften bei militärischen Krankenanstalten aus. Im Kriegsministerium sah man die Einrichtung von Werkstätten und Betrieben, die nur mit Kriegsversehrten besetzt waren, als dauerhaftes wirtschafts- und sozialpolitisches Unterfangen jedoch kritisch. Denn, so führten die Beamten in einem Bericht an das Ministerium für soziale Fürsorge vom 15. März 1918 aus: Es ist zwar gelungen die Selbsterhaltungsfähigkeit von Werkstätten, welche in Invalidenschulen bestehen, zu erreichen, dies aber nur dadurch, dass die Arbeiter lediglich militärische Löhnung und Arbeitszulagen erhalten und in militärischer Verpflegung stehen. Bei voller Entlohnung der Arbeitskräfte würden alle diese Betriebe hoch passiv […].332 326 ÖStA, AdR, BMfsV, Sek. 2/Kb Kt. 1361, 12960/1918. 327 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1703, 695/1918. 328 Ebd. 329 Ebd. 330 Ebd. 331 Ebd. 332 ÖStA, AdR, BMfsV, Sek. 2/Kb Kt. 1361, 12960/1918; 8085/1918.

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Der Erfolg der Genossenschaften beruhte für die Beamten also gerade darauf, dass sie die Kriegsversehrten nicht voll entlohnten. Eines der zentralen Anliegen Payers bei der Gründung von »Kriegsinvaliden-Erwerbs-Genossenschaften« war es jedoch gewesen, den betroffenen Soldaten einen Lebensunterhalt zu sichern. Statt einer dauerhaften gesellschaftspolitischen Lösung erblickten die Ministerialbeamten in Genossenschaften lediglich eine temporäre Maßnahme, um verletzte und erkrankte Soldaten während ihrer Genesung zu beschäftigen und sie zugleich für die Kriegswirtschaft nutzbar zu machen. Politiker und Beamte sahen sich damit konfrontiert, dass die Konsequenzen von Kriegsversehrungen nicht einfach durch Anstellungsverhältnisse verschwanden. Fragen der Entlohnung machten ein Spannungsverhältnis sichtbar: Der soziale und makroökonomische Wert, den man der erneuten Erwerbstätigkeit Kriegsversehrter beimaß, ließ sich nicht einfach mit betriebswirtschaft­ lichen Kriterien vereinbaren. Die Schwierigkeiten resultierten jedoch nicht allein aus vermeintlich unüberwindbaren physischen Gegebenheiten, sondern ebenso aus den gesellschaftlichen Erwartungen, die Unternehmer und Unternehmerinnen an Arbeitskräfte stellten. Die Rolle des Staates erhielt dadurch zusätzliche Bedeutung. Im Mai 1918 übermittelten Beamte des Kriegsministeriums eine Beschwerde an das Ministerium für soziale Fürsorge, dass staatliche Behörden Kriegsversehrte bei der Einstellung neuer Arbeitskräfte benachteiligen würden. Die Ministerialbeamten betonten neuerlich die Verantwortung des Staates gegenüber den verletzten und erkrankten Soldaten.333 Bereits zuvor, im Lauf des Jahres 1917, hatten verschiedene Ministerien zudem eine neue Art von Forderungen erreicht, um Arbeitsplätze für Kriegsversehrte zu schaffen erreicht. Sie richteten sich gegen Frauen, die während des Krieges auf Arbeitsplätzen eingestellt worden waren, um zum Kriegsdienst einberufene Männer zu ersetzen. Die Gewerbekammer in Reichenberg / Liberec wandte sich im Juni 1917 an das Kriegsministerium, nachdem Mitglieder der Kammer »in der Reichenberger Zeitung die Ausschreibung des k. u. k. Militärkommandos bezüglich der Anstellung weiblicher Kanzleihilfskräfte« gesehen hatten.334 Statt Frauen sollte das Kriegsministerium die Absolventen der lokalen Ausbildungskurse für Kriegsversehrte anstellen. Eine ähnliche Forderung erhob der Leiter der Kanzleidienstkurse für Kriegsversehrte in Wien, der vorschlug, in den neuen Ministerien für soziale Fürsorge und Volksgesundheit Stellen für Absolventen seiner Kurse zu reservieren.335 Im Rahmen der Re-Integrationsmaßnahmen wurde es zwar durchaus als sinnvoll erachtet, Ehefrauen und anderen Angehörigen Kriegsversehrter Arbeit zu verschaffen, sodass sie dadurch zum Familieneinkommen beitragen konnten. Über diesen engeren Kreis der Familie hinaus maßen Akteure der Zivilgesellschaft

333 ÖStA, AdR, BMfsV, Sek. 2/Kb Kt. 1356, 385/1918. 334  ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1415, 1435/1917. 335 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1415, 1949/1917.

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der Arbeitsbeschaffung für Kriegsversehrte größere Priorität bei. Ihnen erneut dauerhaften Erwerb zu ermöglichen, sollte sie wieder zu Staatsbürgern machen; Frauen galten demgegenüber nur als Hilfskräfte, die in der Ausnahmesituation des Krieges eingestellt worden waren.336 Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen begannen die Beamten des Ministeriums für soziale Fürsorge die Rolle des Staates zu überdenken. Sie erarbeiteten eine umfassende Reform der Re-Integrationsmaßnahmen, die vom bisherigen sozialpolitischen Modell Cisleithaniens Abschied nahm. Bisher hatte der Staat Normen und Ziele vorgegeben, die Ausführung jedoch nicht-staatlichen Körperschaften überlassen, um die Belastung des Staatshaushaltes möglichst gering zu halten. Nun allerdings sollte die Fürsorge für Kriegsversehrte von der zentralstaatlichen bis zur lokalen Ebene von staatlichen Behörden versehen werden. Staatliche Organe sollten jedoch nicht nur die Fürsorge verwalten oder als potenzielle Arbeitgeber für Kriegsversehrte dienen, sondern auch den Arbeitsmarkt aktiv zu deren Gunsten regulieren.337 Bereits Payer hatte in seinem Aufruf zur Gründung von »Kriegsinvaliden-Erwerbs-Genossenschaften« auf Initiativen im Deutschen Kaiserreich verwiesen, mit denen eine gesetzlich normierte Anstellungsquote für Kriegsversehrte eingeführt wurde.338 Im Februar 1918 überreichte der christlich-sozial dominierte Wiener Gemeinderat der Regierung eine Resolution mit Reformvorschlägen für die Kriegsversehrtenfürsorge. Darin forderten sie eine gesetzliche Bestimmung, »mit der es privaten Unternehmungen zur Pflicht gemacht wird, […] nach einem bestimmten perzentuellen [sic] Verhältnisse Kriegsinvalide zu verwenden.«339 Auch die Beamten des Kriegsministeriums sprachen sich gegenüber dem Ministerium für soziale Fürsorge für eine solche Maßnahme aus. Diese sei der Förderung von Kriegsversehrtengenossenschaften vorzuziehen.340 In einem Artikel im »Pester Lloyd« vom 7. Juli 1918 lehnte Ferenczi die Einrichtung von speziellen, nur von Kriegsversehrten besetzten Wirtschaftsunternehmen ab. Er plädierte stattdessen für die Einrichtung von »Invalidenposten« in Industrie und Landwirtschaft für Kriegsversehrte mit einer hohen Einschränkung ihrer Erwerbsfähigkeit.341 Am 17. September 1918 luden Beamte des Ministeriums für soziale Fürsorge Johannes Horion, einen der führenden Vertreter der Kriegsversehrtenfürsorge im deutschen Kaiserreich, zu einer informellen Besprechung ins Ministerium ein, welche der Vorbereitung eines Gesetzesentwurfes zu einer Anstellungsquote für Kriegsversehrte diente.342 336 Thom, S. 54–61. 337 Zum Reformvorhaben der Ministerialbeamten siehe: Hsia, War, Welfare and Social Citizenship, S. 129–193. 338 Payer, S. 17–18. 339 ÖStA, AdR, BMfsV, Sek. 2/Kb Kt. 1359, 7701/1918, S. 3. 340 ÖStA, AdR, BMfsV, Sek. 2/Kb Kt. 1361, 12960/1918, darin: 8085/1918. 341 Ferenczi, Invalidenkolonien und Anstellungszwang für Schwerkriegsbeschädigte. 342 Hansen u. Tennstedt, S. 85.

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Der Bericht über das Treffen war sowohl von Sektionschef Gasteiger als auch von Leo Wittmayer, Ministerialsekretär im selben Ressort, unterzeichnet. Da etwas später folgende Ausführungen nur von Wittmayer unterschrieben waren, liegt es nahe, dass er als Jurist, außerordentlicher Universitätsprofessor und Mitglied der rechts- und staatswissenschaftlichen Prüfungskommission den Gesetzesentwurf erarbeitete.343 1918 publizierte Wittmayer, bereits als Ministerialsekretär im Ministerium tätig, die Schrift »Die Kriegsbeschädigtenfürsorge«. Darin versuchte er die Kriegsversehrten prinzipiell davon zu überzeugen, dass der Staat alles Mögliche unternahm, um für sie zu sorgen. Er kündigte außerdem an, dass, falls Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht genügend Arbeitsplätze für Kriegsversehrte durch freiwillige Übereinkommen sicherten, der Staat dieses Ziel »mit anderen weiter gehenden Mitteln […] verfolgen« werde.344 Der Bericht über das Treffen mit Horion zeugt von großer Zurückhaltung gegenüber der aktenmäßigen Aufzeichnung des Gesprächs. Wittmayer war bemüht, den explorativen und inoffiziellen Charakter des Besprochenen zu unterstreichen; man habe »selbstverständlich in ganz unverbindlicher Weise, an der Hand von vorläufig ganz privaten eigenen Bestrebungen, einige prinzipielle Fragen« diskutiert.345 Trotzdem verraten Wittmayers Überlegungen zur Unterhaltung mit Horion, dass er einen Ausbau der sozialpolitischen Aufgaben des Staates als notwendig erachtete. Die Ansichten von Horion und Wittmayer über die Reichweite dieses Unterfangens waren jedoch sehr unterschiedlich. Horion trat für ein sehr eng umgrenztes gesetzliches Vorhaben ein: Nur Kriegsversehrte mit einer Einschränkung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50 Prozent sollten davon profitieren. Zudem sollte das Gesetz nur Industriebetriebe erfassen. Demgegenüber sprach sich Wittmayer für extensive gesetzliche Bestimmungen aus. Das Gesetz sollte Kriegsversehrten ab einer Minderung ihrer Erwerbsfähigkeit um 20 oder 30 Prozent zugutekommen. Er sah allerdings das gesamte Vorhaben kritisch, schon jetzt einen definitiven mathematischen Schlüssel für die Korrelation zwischen der Minderung der Erwerbsfähigkeit und der Höhe der Quote festzulegen. Seiner Meinung nach führte dies dazu, dass prinzipielle Fragen die Formulierung eines Gesetzesentwurfes behinderten. Stattdessen sollte in Cisleithanien »ein System elastischer Ermächtigungsbestimmungen auf sozusagen experimenteller Grundlage«346 eine rasche, aber vorläufige Lösung ermöglichen. Sie könnten an Erfahrungen und Anforderungen angepasst werden. Wittmayer sprach sich 343 ÖStA, AdR, BMfsV, Sek. 2/Kb Kt. 1363, 24255/1918. 344 Wittmayer, Die Kriegsbeschädigtenfürsorge, S. 19. 1920 verglich Wittmayer in einem Artikel die Gesetze der Weimarer Republik und der Republik Österreich: ders., Das deutschösterreichische Invalidenbeschäftigungsgesetz vom 1. Oktober 1920; zur Genese und Praxis des sogenannten »Invalidenbeschäftigungsgesetzes« siehe: Pawlowsky u. Wendelin, Die Wunden des Staates, S. 414–430. 345 ÖStA, AdR, BmfsV, Sek. 2/Kb Kt. 1363, 24255/1918. 346 ÖStA, AdR, BmfsV, Sek. 2/Kb Kt. 1363, 25316/1918.

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also für die Strategie diskreter Anpassungen aus, um rasch die sozialpolitischen Aufgaben des Staates auszubauen.347 Wittmayer trat auch dafür ein, Kriegsversehrte mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 oder 30 Prozent »in terminologisch etwas gewagter Weise – als Schwerbeschädigte« zu behandeln.348 Dafür führte er unterschiedliche Gründe an. Einerseits bedürften bereits Personen mit einer solchen Einschränkung der Erwerbsfähigkeit »des Schutzes gegen gesunde Konkurrenten«. Andererseits jedoch gelte es, den Gesetzesentwurf »widerstrebenden Interessentenkreisen mundgerechter« zu machen. Es sei daher notwendig, »nicht von vornherein ein[en] Grad der Erwerbsunfähigkeit [einzusetzen], der die Arbeitgeber von allem Anfange an abschrecken muss«.349 Wittmayer brach zwar mit der Ansicht, dass Kriegsversehrte, die zu einem geringeren Grad in ihrer Erwerbsfähigkeit geschädigt waren, es auf dem Arbeitsmarkt leichter hätten. Zugleich war er sich allerdings bewusst, dass ein solcher Gesetzesentwurf auch die Unternehmerkreise miteinbeziehen musste, um politisch Erfolg zu haben. Ein entsprechendes Gesetz wurde jedoch nicht mehr vor dem Ende des Krieges und dem Zerfall der Monarchie erlassen. Nicht alle Nachfolgestaaten griffen dieses Gesetzesvorhaben auf. Die Regierung der Republik Österreich folgte dem Beispiel der Weimarer Republik, wo ein solches Gesetz 1919 verabschiedet wurde, und erließ 1920 das sogenannte »Invalidenbeschäftigungsgesetz«. In der Tschechoslowakischen Republik wurde ein solches Gesetz jedoch nicht umgesetzt. Weder in der Tschechoslowakei noch im Österreich der Zwischenkriegszeit erlangte die Frage der Anstellung Kriegsversehrter jedoch dieselbe Brisanz und Mobilisierungskraft wie die Frage der Renten.350

347 Siehe zu den Intentionen der Beamten des Ministeriums für soziale Fürsorge: Hsia, War, Welfare and Social Citizenship, S. 129–193. 348 ÖStA, AdR, BmfsV, Sek. 2/Kb Kt. 1363, 25316/1918. 349 ÖStA, AdR, BmfsV, Sek. 2/Kb Kt. 1363, 25316/1918. 350 Siehe Pawlowsky u. Wendelin, Die Wunden des Staates, S. 414.

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4. Die Herausbildung des Opfer-Narrativs Die Beamten des Kriegsministeriums hatten 1915 gehofft, mit einer Ausweitung der Ansprüche auf Invalidenrenten zu demonstrieren, dass die Monarchie gewillt war, für ›ihre‹ verletzten und erkrankten Soldaten zu sorgen. Bereits ab 1916 machten die Inflation der Kriegsjahre und der zunehmende Mangel an Gütern des täglichen Bedarfs diese staatliche finanzielle Versorgung der Kriegsversehrten jedoch vollkommen unzureichend. In ihren Stellengesuchen versuchten verletzte und erkrankte Soldaten, sich in die Re-Integrationsmaßnahmen einzuschreiben. Sie wollten daran teilhaben, auch wenn sich ihre Vorstellungen von Re-Integration nicht immer mit denjenigen der Experten deckten. Die Schreiben Kriegsversehrter geben jedoch ebenso Einblick darin, wie die sich verschlechternde Versorgungslage die sozialpolitischen Anstrengungen in Cisleithanien untergrub. Die prekären Lebensverhältnisse veränderten zudem das Verhältnis der Kriegsversehrten zum Staat, was sich auch an neuen Formen der Selbstbeschreibung festmachen lässt. Zudem begannen sie, sich als eigenständige Gruppe mit sozialpolitischen Interessen gegenüber dem imperialen Staat zu begreifen und zu formieren. 4.1 Enttäuschung über die staatliche Fürsorge Am 23. Februar 1917 wandte sich der 22jährige Jaroslav Kundýsek aus Před­ klášteří / Vorkloster in Mähren an das Kriegsministerium. Kundýsek war im Jahre 1915 zum Militärdienst eingezogen worden, erlitt nach eigenen Angaben noch im selben Jahr eine Verletzung an der linken Hand und wurde am 10. Januar 1916 als militärdienstuntauglich aus der Armee entlassen. Seit der Zeit meiner Entlassung habe ich einigemale [sic] um Dienste, welche ich leisten könnte, angesucht. Aber meine Bitten waren umsonst, vergebens, ich habe keine Stelle erhalten. Warum? Habe ich denn, als Invalide, kein Recht auf einen ähnlichen Posten? Soll ich jetzt dafür, daß ich gekämpft habe, vor Hunger sterben, soll ich leiden? Warum werden auf leichte Posten weibliche Kräfte eingesetzt, warum bekommt ein Invalide diesen Dienst nicht? Soll denn jeder so verkrüppelte junge Mensch vom Hause zum Hause [sic] um’s Brot betteln gehen? Daß [sic] sicher nicht -- Von der Unterstützung, welche ich bekomme, kann ich heute nicht leben, was soll so ein junger Mensch anfangen? Ich frage jetzt das k. u. k. Kriegsministerium was ich tun soll!1

Wie zahlreiche andere Kriegsversehrte erhob Kundýsek Anspruch auf eine Anstellung im Staatsdienst und begründete dies mit seinem Militärdienst und der Unmöglichkeit, erneut seinem früheren Beruf nachzugehen. Kundýseks Schreiben ist jedoch aus mehreren Gründen bemerkenswert. Im Unterschied zu ande1 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1415, 341/1917.

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ren hier untersuchten Briefen kleidete Kundýsek seine Forderung nach einer Anstellung explizit in das Vokabular eines Rechts, während andere Kriegsversehrte ihre Bitten als Gnadengesuche rahmten. Ebenso bedeutsam ist, dass Kundýsek das Recht auf Staatsanstellung als Fürsorgepflicht des Staates explizit mit seinem Militärdienst verknüpfte (»Soll ich jetzt dafür, daß ich gekämpft habe, vor Hunger sterben, soll ich leiden?«). Bisher hatten Kriegsversehrte ihre Verletzungen in ihren Gesuchen zwar durch Beschreibungen ›sichtbar‹ gemacht, die dadurch evozierte Versorgungspflicht des Staates war jedoch implizit geblieben. Kundýsek hingegen machte deutlich, dass er seinen Kriegseinsatz für vergeblich erachtete, falls er vom Staat keine ausreichende Unterstützung als Gegenleistung erhielt. Die Beziehung zwischen der Habsburgermonarchie und den Kriegsversehrten durchlief eine Veränderung, die mit einem neuen Selbstverständnis der Kriegsversehrten einherging. Kundýseks Brief demonstriert, wie die sich drastisch verschlechternden Lebensbedingungen die sozialen Beziehungen an der sogenannten ›Heimatfront‹ belasteten und das Ansehen des Staates untergruben. Er führte den Beamten in seinem Schreiben vor Augen, dass er sich in mehrfacher Hinsicht vom Staat im Stich gelassen fühlte. Trotz des Versprechens der Re-Integrationsmaßnahmen, Kriegsversehrte durch Therapie und Ausbildung wieder berufsfähig zu machen, konnte Kundýsek keine Arbeit finden. Die finanzielle Versorgung in Form der Invalidenrente sei außerdem zu gering, um damit die Kosten des täglichen Bedarfs zu decken. Vor diesem Hintergrund erlangten Hierarchien zwischen den Geschlechtern wieder verstärkt Bedeutung. Hatten sich Kriegsversehrte in früheren Gesuchen innerhalb der Gruppe der Männer gegenüber jenen im Vorrecht gesehen, die an der ›Heimatfront‹ verblieben waren, erblickte Kundýsek in Frauen eine ungebührliche Konkurrenz. Die Beschäftigung von Frauen auf bislang ›männlichen‹ Arbeitsplätzen – von Anfang an als temporäre Maßnahme konzipiert2 – solle zugunsten Kriegsversehrter beendet werden. Kundýsek stellte sein Leiden ins Zentrum seines Gesuches. Es war jedoch nicht seine Kriegsverletzung, die dieses Leiden verursachte. Stattdessen war es die mangelnde Unterstützung durch den Staat, die ihn hungern ließ und dadurch zum Betteln zwang, was für ihn ein Scheitern in seiner Biografie darstellte. In dieser Erzählung spiegelte Kundýseks Leid das Versagen des Staates wider, für kriegsversehrte Soldaten zu sorgen. Indem Kundýsek von einer solchen Existenz als Bettler Abstand nahm (»Soll denn jeder so verkrüppelte junge Mensch vom Hause zum Hause [sic] um’s Brot betteln gehen? Daß [sic] sicher nicht«), machte er sich die Ziele der Re-Integrationsmaßnahmen zu eigen, um seine Kritik am Versagen des Staates zu formulieren. Denn von Anfang an hatten führende Politiker postuliert, dass die soziale Re-Integration Kriegsversehrter ihrer Abhängigkeit von staatlicher oder privater Armenfürsorge vorbeugen sollte. Dass Kundýsek sich nun zum Betteln genötigt sah, machte das Versagen der staatlichen Fürsorge offensichtlich. Gleichzei2 Thom, S. 58–64.

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tig bekannte sich Kundýsek so zur Maxime, dass soziale Re-Integration durch Arbeit erfolge und er staatlicher Unterstützung würdig sei. Die finanzielle Versorgung der Kriegsversehrten entwickelte sich aufgrund der sich drastisch verschlechternden Situation in der Habsburgermonarchie ab 1916 zu einer brisanten Frage. Die Nahrungsmittelversorgung ÖsterreichUngarns hatte bereits mit Kriegsbeginn einen herben Rückschlag erlitten, als Galizien zum Kriegsschauplatz wurde. Galizien verfügte über ein Drittel des cisleithanischen Ackerlandes und hatte vor dem Krieg ein Viertel des cisleithanischen Getreides produziert. In der Folge stiegen die Lebensmittelpreise in den ersten anderthalb Kriegsjahren. Ab Frühjahr 1915 setzte die Rationierung von Grundnahrungsmitteln ein, zunächst von Mehl und Brot, ab 1916 außerdem von Zucker, Milch, Kaffee und Fett.3 Ab 1916 wurde der Mangel an Nahrungsmitteln jedoch zu einer hochpolitischen Angelegenheit. Mehrere Faktoren trugen dazu bei. Der Ertrag an Getreide sank 1916 im Vergleich zu 1913 auf weniger als die Hälfte, und die Nahrungsmittelimporte gingen drastisch zurück, nachdem Rumänien im August 1916 Österreich-Ungarn den Krieg erklärte. Die aufeinanderfolgenden Missernten der Jahre 1916 und 1917 verschärften die Situation zusätzlich, und das Bild von Österreich-Ungarn als agrarisch autarkem Staat ließ sich nicht mehr aufrechterhalten.4 Die Requirierung von Transportmitteln für militärische Zwecke verstärkte diese Problematik zusätzlich, da sie es erschwerte, die knappen Lebensmittel innerhalb der Monarchie zu verteilen. Alle diese Faktoren führten nicht nur zu einer noch stärkeren Rationierung von Lebensmitteln, sondern auch zu ihrer Streckung mit sogenannten »Ersatzstoffen«. Besonders davon betroffen war Mehl. Brot wurde mit Gersten-, Mais-, Kastanien- und Kartoffelmehl zubereitet, Ersatzkaffee aus Zichorien oder Eicheln hergestellt.5 In Cisleithanien durfte Fleisch nur noch an drei Tagen der Woche verkauft werden, in Transleithanien waren ebenfalls zwei fleischlose Tage und ein fettloser Tag pro Woche vorgeschrieben.6 Das eingeführte System von Höchstpreisen schuf keine Abhilfe, sondern beförderte den Schwarzhandel und die Spekulation mit Lebensmitteln.7 Allein in Wien mit einer Bevölkerung von über zwei Millionen mussten 1916 bereits 54.000 Menschen täglich durch öffentliche Speisungen versorgt werden – eine Zahl, die bis zum Herbst 1918 auf 134.000 Personen anwuchs.8 Die Frage der Nahrungsversorgung sorgte für Konflikte auf höchster politischer Ebene. Der Großteil der Nahrungsmittelimporte Cisleithaniens vor dem Krieg stammte aus Transleithanien, das jedoch laut der Konditionen des alle zehn Jahre erneuerten Ausgleichs von 1867 keineswegs verpflichtet war, land3 Healy, Vienna and the Fall of the Habsburg Empire, S. 40, 43. 4 Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg, S. 687; zur Darstellung Österreich-Ungarns als autarkem Staat siehe: Healy, Vienna and the Fall of the Habsburg Empire, S. 37. 5 Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg, S. 685–686; Brenner, S. 140–149. 6 Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg, S. 686. 7 Ebd., S. 210–214, 683–689. 8 Ebd., S. 689.

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wirtschaftliche Güter an Cisleithanien abzugeben. Mehrere Anläufe für eine beide Reichshälften umfassende Verwaltung von Nahrungsmitteln scheiterten. Auch der schließlich 1917 eingesetzte gemeinsame Ernährungsausschuss aus Vertretern des cis- und des transleithanischen Ernährungsamtes, des Armeeoberkommandos und des Kriegsministeriums konnte die anhaltende Krise in der Nahrungsmittelversorgung nicht entschärfen.9 Die finanzielle Versorgung, die Kriegsversehrte des Mannschaftsgrades und ihre Familien vom Staat erhielten, reichte kaum aus, um unter diesen Bedingungen den täglichen Lebensunterhalt zu bestreiten. Für einfache Soldaten betrug die Invalidenpension 72 Kronen pro Jahr, also 6 Kronen monatlich; hinzukommen konnte eine Verwundungs-/Personalzulage von 8, 16 oder 24 Kronen und eine staatliche Unterstützung von 5, 10 oder 15 Kronen pro Monat. Zusammen belief sich dies auf ein monatliches Einkommen von maximal 45 Kronen.10 In Wien betrug der durchschnittliche Marktpreis für ein Kilogramm Mehl im Januar 1916 eine Krone 20 Heller, für ein Kilogramm Butter sechs Kronen 80 Heller, für ein Kilogramm Brot 56 Heller. Im Januar 1918 kostete durch die offizielle Preisregulierung für rationierte Lebensmittelmengen ein Kilogramm Mehl weiterhin eine Krone 20 Heller, ein Kilogramm Butter 16 Kronen und 33 Heller und ein Kilogramm Brot 55 Heller.11 Allein für die rationierten Mengen an Lebensmitteln gab eine fünfköpfige Wiener Arbeiterfamilie im Januar 1918 61 Kronen und 62 Heller aus.12 Wollte man mehr als die rationierten Mengen kaufen, musste man ein Vielfaches der festgesetzten Preise auf dem Schwarzmarkt bezahlen.13 Diese Nahrungsmittelkrise veränderte, wie Kriegsversehrte ihre Anstellung im Staatsdienst begründeten. Mehrere Kriegsversehrte legitimierten ihr Anstellungsgesuch nun zusätzlich mit der Unzulänglichkeit der finanziellen Versorgung. Oder sie stellten den Staat, wie Kundýsek, explizit vor die Alternative, ihnen entweder eine Anstellung im öffentlichen Dienst zu vermitteln oder die Renten zu erhöhen, sodass damit der Lebensunterhalt gedeckt werden könne.14 Die staatlichen Behörden ob ihres Versagens anzuklagen, bot Kriegsversehrten zugleich die Grundlage dafür, umfangreichere staatliche Fürsorgemaßnahmen zu fordern. Unter den Bedingungen steigender Kosten für den täglichen Lebensunterhalt war das vollständige Ausbleiben der finanziellen Versorgung ein noch deutlicheres Zeichen für das Versagen des Staates als die Unzulänglichkeit der Rente. Anders als bei der Anstellung im Staatsdienst handelte es sich bei der Militärversorgung um gesetzlich festgeschriebene Ansprüche, welche den Kriegsver9 Healy, Vienna and the Fall of the Habsburg Empire, S. 49–50. 10 Pawlowsky u. Wendelin, Die Wunden des Staates, S. 80. 11 Rumpler u. Schmied-Kowarzik, S. 254. 12 Ebd., S. 257. 13 Ebd., S. 254. 14 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1415, 341/1917; ebd., 1976/1917; ebd., 2074/1917; ebd., Kt. 1227, 1339/1916; ebd., Kt. 1703, 1233/1918; ebd., 724/1918.

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sehrten mit ihren militärischen Dokumenten verbrieft wurden. Die Beamten des Kriegsministeriums weiteten 1915 zwar den Anspruch auf Renten gezielt auf alle verletzten oder erkrankten Soldaten mit einer mindestens 20prozentigen Minderung ihrer Berufsfähigkeit aus, ließen jedoch die Verwaltungsstruktur unverändert. Wie 1913 in einer Zirkularverordnung festgelegt, waren drei Institutionen für die Auszahlung der Renten verantwortlich: die Pensionsliquidatur in Wien für Soldaten, die in Cisleithanien heimatzuständig waren, jene in Budapest für Soldaten aus Transleithanien und jene in Sarajevo für Soldaten aus Bosnien und Herzegowina. Als Schnittstelle zwischen diesen zentralen Einrichtungen und den 16 Militärkommanden fungierten die Militärinvalidenhäuser. Sie hatten den Pensionsliquidaturen die Dokumente zu übersenden, welche die Militärkommanden ausstellten, und die Anspruchsberechtigten in Evidenz zu führen.15 In ganz Österreich-Ungarn bestanden jedoch nur die vier Invalidenhäuser in Wien, in Prag / Praha, in Lemberg / Lwów / Lwiw und in Tyrnau / Nagyszombat / Trnava in Transleithanien. Letzteres musste ab Februar 1915 außerdem die Aufgaben des Invalidenhauses in Lemberg / Lwów / Lwiw übernehmen, da die Stadt im August 1914 von der russischen Armee erobert worden und Galizien Kriegsschauplatz war.16 Mag diese Struktur vor dem Krieg ausgereicht haben, als die Zahl der anspruchsberechtigten ›Kriegsinvaliden‹ gering war, konnte sie während des Krieges den wachsenden Anforderungen nicht genügen. Die Ausweitung des Anspruches auf Invalidenrente führte zu einem rapiden Ansteigen der Rentenbezieher; hinzukam, dass Soldaten nicht immer im Verwaltungsgebiet des Militärinvalidenhauses aus dem Militärverband entlassen wurden, das gemäß ihrer Heimatzuständigkeit ihren Rentenanspruch zu verwalten hatte. Die administrativen Kapazitäten der Invalidenhäuser gerieten an ihre Grenzen, als 1917 und 1918 zahlreiche Kriegsversehrte, die bisher in therapeutischer Behandlung oder beruflicher Ausbildung gestanden hatten, mit Rentenanspruch entlassen wurden. Als sich die Fälle verspätet ausgezahlter Gebühren 1917 und 1918 häuften und zahlreiche Zuschriften die Ministerien erreichten,17 rechtfertigten sich die Beamten des Kriegsministeriums gegenüber dem Ministerium für soziale Fürsorge jedoch damit, dass »die Bezugsberechtigten meist selbst schuld« seien.18 Das administrative Prozedere sah nämlich vor, 15 Zirkularverordnung vom 12. Juli 1913, Abt. 15, Nr. 571, in: Verordnungsblatt für das k. u. k. Heer 55 (1913), 1. bis 62. Stück, S. 132–134. 16 Diese Regelung galt zumindest für die Aufnahme in den Versorgungsstand des Invalidenhauses. Aufgrund der Übertragung der Aufgaben des Invalidenhauses in Lemberg / Lwów / Lwiw in der finanziellen Versorgung an jenes in Tyrnau / Nagyszombat / Trnava liegt es nahe, dass diese territoriale Aufteilung ebenso für die Rentenansprüche galt. Schmid, Das Heeresrecht der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, S. 438; 78. Erlaß vom 16. Februar 1915, Abteilung 9, Nr. 3578, in: Beiblatt zum Verordnungsblatt für das k. u. k. Heer 22 (1915), 1 bis 67, S. 48–49. 17 Siehe etwa: ÖStA, KA, KM, Abt.  9/IF Kt. 1703, 832/1918, 787/1918, 780/1918, 784/1918, 758/1918, 775/1918, 491/1918, 144/1918, 477/1918, 480/1918, 440/1918. 18 ÖStA, AdR, BMfsV, Sek. 2/Kb Kt. 1362, 18956/1918.

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dass die Kriegsversehrten der jeweiligen Tauglichkeitskommission ihre genaue Adresse nannten. Die Kommission sollte die Adresse dem Militärinvalidenhaus mitteilen, das sie wiederum der Pensionsliquidatur übermittelte.19 Genau darin versagten jedoch zahlreiche Kriegsversehrte, so die Ministerialbeamten, und mangels einer exakt zuordenbaren Adresse würde die Auszahlung der Versorgungsbezüge dann ausgesetzt.20 Die Kriegsversehrten erblickten die Ursache für die verzögerte Auszahlung ihrer Renten jedoch nicht in einem Selbstverschulden, sondern in einem Versagen der Behörden, das ihre bisherige Beziehung zum Staat grundlegend in Frage stellte. Am 12. Januar 1916 wandte sich Alois Peterlick aus Amstetten in Niederösterreich an Franz Salvator aus der Linie Habsburg-Toskana, Ehemann von Marie Valerie, einer Tochter von Franz Joseph I. Wie andere Mitglieder der Habsburgerfamilie hatte er nach Kriegsbeginn öffentlichkeitswirksame philanthropische Aufgaben übernommen und fungierte als General-Inspektor der freiwilligen Sanitätspflege und Protektor-Stellvertreter des Roten Kreuzes in Cis- und Transleithanien. Der Vorstand des Generalinspektorats leitete die Beschwerde Peterlicks an das Kriegsministerium weiter, wo sie beinahe ein strafrechtliches Verfahren gegen Peterlick auslöste. Der Anlass für Peterlicks Schreiben war, dass seine Beinprothese zu Bruch gegangen war und er sie auf eigene Kosten reparieren lassen musste. Das zentrale Thema, auf das er in seinem Gesuch immer wieder zu sprechen kam, war jedoch seine Rente. Obwohl er im Oktober 1915 aus dem Heer als ›Kriegsinvalide‹ mit Anspruch auf eine Rente entlassen und sein militärischer Sold mit November 1915 eingestellt worden war, hatte er seine Rente bis zum Zeitpunkt des Gesuches nicht bekommen. Peterlicks gesamtes Schreiben kreist um seine Pflichterfüllung durch den Kriegseinsatz, den er am Beginn jedes neuen Absatzes wieder erwähnte, und die Vernachlässigung der Fürsorgepflicht des Staates: Es ist nemlich [sic] für einen jeden Mann ser [sic] schön für Kaiser und Vaterland kämpfen zu türfen [sic], aber es ist so traurig, wenn einer als Krüppel zurückkehrt. In dem das, das Ara [sic; Ärar] nicht bemächtigt ist ihre Krüppel mit diese bar, Schuftigen [sic] Heller Monatlich [sic] zu beteiligen.21

Peterlick rang sichtlich mit der Deutung des eigenen Kriegseinsatzes. Sollte er, als er im Juli 1914 einrückte, Patriotismus und Kriegsbegeisterung empfunden haben, waren diese nach Kriegsverletzung, Amputation und mangelnder Versorgung geschwunden. Der Patriotismus, den Peterlick beschwor, wurde durch den Wechsel auf eine unpersönliche kollektive Ebene (»für einen jeden Mann«) zu einem Allgemeinplatz. Die geringe Höhe der Rente und die Tatsache, dass er sie nicht erhielt, stellten für Peterlick den Sinn seines Kriegseinsatzes und das 19 Zirkularverordnung vom 12. Juli 1913, Abt. 15, Nr. 571, in: Verordnungsblatt für das k. u. k. Heer 55 (1913), 1. bis 62. Stück, S. 133. 20 ÖStA, AdR, BMfsV, Sek. 2/Kb Kt. 1362, 18956/1918. 21 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1227, 225/1916.

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Loyalitätsverhältnis zum Staat in Frage: »Ich weiß überhaupt nicht für was ich im Felde treu und tapfer gekämpft habe in dem [sic] ich heute meine gebührten [sic] nicht bekomme.«22 Durch das Fehlen der finanziellen Versorgung wird deutlich, dass die Loyalitätsbeziehung zwischen Staat und Staatsbürgern auf impliziten Reziprozitätserwartungen beruhte,23 die Peterlick nun, da sie enttäuscht wurden, als Forderungen explizierte. Peterlick war offenbar kein geübter Schreiber, Orthographie und Grammatik seines Briefes waren stark der Mündlichkeit entlehnt, und auch die Feinheiten des Gesuchschreibens waren ihm nicht geläufig: er adressierte den Erzherzog mit »Euer Hochgeboren Herrn«.24 Aber dies war nicht der Grund dafür, dass die Ministerialbeamten strafrechtliche Schritte gegen ihn erwogen, auch nicht sein Vorschlag, dass der Staat »einfach das Kriegführen einstellen« solle, wenn er nicht mehr über ausreichend Geld verfüge, um Kriegsversehrtenrenten auszuzahlen.25 Der Grund war vielmehr Peterlicks Drohung, dass, wenn man ihm nicht seine Rente zukommen lasse, er einfach nach Wien ans [sic] Kriegsministerium [muss] und muss dort ein bar [sic] Bomben hinein schleudern damit diese Herrn auch wach werden. Den [sic] Kriegs führen [sic] ist ja sehr leicht aber nur diese müssten auch dabei sein, welche den Krieg führen. Aber diese dun [sic] nur Kriegführen [sic] auf der Landkarte.26

So ambivalent Peterlick seinen Kriegseinsatz auch betrachten mochte, dieser war die moralische Grundlage seiner Forderungen, und durch ihn konnte er sich von allen jenen abgrenzen, die nicht als Frontsoldaten gedient hatten, selbst von den Beamten des Kriegsministeriums. Dort erwogen die Beamten, Peterlick aufgrund des Paragraphen 76 des Strafgesetzes, der unter anderem den Versuch unter Strafe stellte, auf »Beschlüsse [von Behörden] durch gefährliche Bedrohung einzuwirken«,27 sowie aufgrund des Artikels fünf des Militärstrafgesetzes zu belangen, der Verletzungen der Ehre öffentlicher Ämter betraf.28 Die Beamten der Gruppe für Invalidenfürsorge des 22 Ebd. 23 Buschmann u. Murr, S. 20–22. 24 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1227, 225/1916. 25 Ebd. 26 Ebd. 27 Strafgesetz über Verbrechen, Vergehen und Uebertretungen, in: Allgemeines Reichs-Gesetzund Regierungsblatt 117/1852 Kaiserliches Patent vom 27. Mai 1852, wodurch eine neue, durch die späteren Gesetze ergänzte, Ausgabe des Strafgesetzbuches über Verbrechen und schwere Polizeiübertretungen vom 3. September 1803, mit Aufnahme mehrerer neuer Bestimmungen, als alleiniges Strafgesetz über Verbrechen, Vergehen und Uebertretungen für den ganzen Umfang des Reiches, mit Ausnahme der Militärgränze, kundgemacht und vom 1. September 1852 an in Wirksamkeit gesetzt wird, § 76. 28 RGBl. 8/1863 Gesetz vom 17. Dezember 1862, wirksam für die Königreiche Böhmen, Galizien und Lodomerien mit dem Herzogthume Auschwitz und Zator und dem Großherzogthume Krakau, das lombardisch-venetianische Königreich und das Königreich Dalmatien, das Erzherzogthum Oesterreich unter und ob der Enns, die Herzogthümer Schlesien, Steier-

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Kriegsministeriums nahmen jedoch von diesen Maßnahmen Abstand, nachdem sie mehr über Peterlicks Lebenssituation und den Grund für die verspätete Auszahlung der Invalidenrente erfahren hatten. Stattdessen sollte ihn die Bezirkshauptmannschaft Amstetten lediglich verwarnen. Peterlick verdiene einen Tageslohn von 3 Kronen und 20 Hellern, womit er, so die Beamten, »bei den heutigen wirtschaftlichen Verhältnissen kaum das Auslangen finden kann«29 und daher auf seine Rente angewiesen sei. Die Ursache für die Verzögerung bei der Auszahlung der Rente lag im Verwaltungsverfahren. Während die Einstellung seines Soldes problemlos erfolgte, schickte das Militärkommando Wien den Zahlungsauftrag für Peterlicks Rente an das Militärinvalidenhaus Prag / Praha, das ihn wiederum dem Invalidenhaus in Wien weiterleitete, da Peterlick in Niederösterreich seinen ständigen Wohnsitz hatte. Die Beamten erblickten in Peterlicks Äußerungen keine staatsfeindliche Haltung, sondern lediglich Ausdruck seiner »psychischen Verfassung« angesichts einer ökonomischen Lage, die sich aufgrund seines »ersichtlichen geringeren Bildungsgrades« unmittelbar im Gesuch niedergeschlagen habe.30 Die Ursache für Peterlicks kritische Haltung dem Krieg und dem Staat gegenüber schrieben die Beamten also individuellen Umständen zu. Die finanzielle Notlage vieler Kriegsversehrter barg jedoch die Grundlage für ein neues kollektives Selbstverständnis. 4.2 Vereinsgründungen: Entstehen einer kollektiven Identität? Ab 1917 begannen sich in Cisleithanien Vereine speziell für Kriegsversehrte zu bilden, um kollektive Forderungen an den Staat zu stellen. Diese Politisierung Kriegsversehrter ist beachtenswert. Denn die Position der etablierten Veteranenvereine in Cisleithanien war eine andere als im Deutschen Kaiserreich. Dort hatte sich in den 1890er-Jahren eine neue Veteranenbewegung herausgebildet, die mithilfe des Motives der Opfergabe sozialpolitische Maßnahmen für die Soldaten der Kriege der 1860er Jahre und von 1870/71 forderten, womit sie in Konflikt mit den etablierten ›Kriegervereinen‹ gerieten.31 In Cisleithanien gewannen Veteranenvereine in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwar ebenfalls stark an Popularität, sie entwickelten sich allerdings nicht zu Organisationen, die für eine Sozialpolitik für Veteranen eintraten. Stattdessen konzentrierten sie sich auf Maßnahmen der Selbsthilfe im Krankheits- und Todesfall sowie auf Kameradschafts- und Traditionspflege.32 mark, Kärnthen, Krain, Salzburg und Bukowina, die Markgrafschaft Mähren, die gefürstete Grafschaft Tirol, das Land Vorarlberg, die gefürstete Grafschaft Görz und Gradiska, die Markgrafschaft Istrien und die Stadt Triest mit ihrem Gebiete, betreffend einige Ergänzungen des allgemeinen und des Militär-Strafgesetzes, Artikel V. 29 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1227, 349/1916. 30 Ebd. 31 Vogel. 32 Cole, Military Veterans and Popular Patriotism in Imperial Austria, 1870–1914, S. 40.

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Die cisleithanischen Veteranenvereine stellten damit eine spezifische Form der Institutionalisierung und Reproduktion einer staatsbürgerlichen soldatischen Männlichkeit dar. Sie rückte Pflichtbewusstsein, Opferbereitschaft, moralisch-sittliches Verhalten und nicht zuletzt Loyalität gegenüber dem Kaiserhaus in den Mittelpunkt. Um die Jahrhundertwende wollten das Innen- und das Landesverteidigungsministerium die Vereine politisch instrumentalisieren, um durch sie die symbolische Präsenz der Monarchie in lokalen Kontexten zu stärken. Dazu sollte eine Dachorganisation geschaffen werden, welche den Ministerialbeamten zugleich erlaubt hätte, politische Kontrolle über die zahlreichen lokalen Vereinigungen zu erhalten.33 Eine solche, tief in lokale Kontexte und Traditionen hineinreichende, institutionalisierte soldatische Männlichkeit könnte die Formierung von Interessensvertretungen für Kriegsversehrte zusätzlich erschwert haben. Vor 1917 war die Bildung solcher Vereine durch die Einschränkung bürgerlicher Rechte im Ausnahmezustand aber auch gar nicht möglich. Gleichzeitig waren Kriegsversehrte nicht die Vorreiter dieser Politisierung. Vielmehr griffen sie Motive und Begriffe auf, die Frauen bereits nutzten, um die schlechte Versorgungslage zu kritisieren und politische Forderungen zu stellen. Die Nahrungsmittelkrise ab 1916/1917 löste so zwei gegenläufige Entwicklungen in der Gesellschaft aus. Einerseits führte sie zur Aushöhlung des sozialen Zusammenhalts in Österreich-Ungarn. Zu Beginn des Krieges war die aktive Unterstützung der Kriegsanstrengungen ein Zeichen von Patriotismus, von staatsbürgerlicher Männlichkeit und ›richtiger‹ Weiblichkeit.34 Als unter den sich verschlechternden Lebensbedingungen die Anforderungen an Opferwilligkeit und Durchhaltevermögen der Bevölkerung immer größer wurden, erlangte jedoch zunehmend eine ›gerechte‹ Verteilung der Lasten des Krieges Bedeutung.35 Verdächtigungen und Denunziationen richteten sich weniger gegen eine klar umrissene soziale Gruppe, sondern vielmehr gegen eine Vielzahl unterschiedlicher Feindbilder: Dazu zählten die (vermeintlichen oder tatsächlichen) ›Wucherer‹ und Kriegsprofiteure und die Bankiers, die (wenn auch nur scheinbar) bessergestellt waren. Ebenso wurden die Politiker Transleithaniens oder auch die Bauernfamilien des Umlandes zu Sündenböcken gemacht, weil sie Nahrungsmittel zurückbehielten. Bürgerliche Familien wiederum sahen sich sowohl gegenüber der reichen Oberschicht als auch gegenüber den Armen benachteiligt, für welche der Großteil staatlicher Fürsorgeaktionen intendiert war. Das Misstrauen gegenüber den ›Reichen‹ verband sich zudem oft mit Antisemitismus und nationalen Stereotypen, die sich in der deutschsprachigen Bevölkerung gegen alle nicht-deutschen Nationalitäten richteten und vice versa.36 33 Ders., Military Culture and Popular Patriotism in Late Imperial Austria, S. 126–163. 34 Jensen, S. 10–26. 35 Healy, Vienna and the Fall of the Habsburg Empire, S. 300–313; dies., Vom Ende des Durchhaltens, S. 132–139. 36 Healy, Vienna and the Fall of the Habsburg Empire, S. 45, 61–72.

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Andererseits führte die Verschlechterung der Lebensbedingungen zu einer verstärkten Politisierung der Bevölkerung und zur Herausbildung von Protestbewegungen. Das Warten in der Schlange vor Läden bot Gelegenheiten zu neuen (wenn auch fragilen) Gruppenbildungen.37 Dessen waren sich auch die cisleithanischen Behörden bewusst, und die polizeilichen »Stimmungsberichte« befassten sich eingehend mit den Aussagen aus den Warteschlangen vor den Nahrungsmittelgeschäften. In der zweiten Kriegshälfte häuften sich Demons­ trationen und sogenannte ›Hungerkrawalle‹.38 Eine weitere Kürzung der Mehlrationen durch die Regierung am 15. Januar 1918 löste in den Daimler-Werken in Wiener Neustadt einen Streik aus, der sich zu einer massiven Streikwelle in den Industriegebieten Niederösterreichs und der Steiermark auswuchs und schließlich auch andere Städte wie Wien, Budapest, Triest / Trieste / Trst oder Krakau / K raków erfasste. Am 19. Januar 1918 überreichte eine sozialdemokratische Delegation der cisleithanischen Regierung vier Forderungen: Bei den Friedensverhandlungen mit Russland in Brest sollte Österreich-Ungarn auf territoriale Ansprüche verzichten, die Ernährungssituation verbessern, die Wahl von Gemeindevertretungen zugestehen und die Vollmachten des Militärs an der ›Heimatfront‹, etwa in der Rüstungsindustrie, einschränken. Im Gegenzug für Zugeständnisse des cisleithanischen Ministerpräsidenten Ernst Seidler rief die sozialdemokratische Partei am 21. Januar 1918 zur Wiederaufnahme der Arbeit auf.39 Aber nicht nur in der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien, sondern auch auf lokaler Ebene formierten sich Gruppen, um sich kollektiv an die staatlichen Behörden zu wenden. Im Mai und Juni 1917 überreichten etwa Delegationen von Frauen dem Statthalter Tirols in Innsbruck und dem Bezirkshauptmann in Meran ihre Forderungen, die Versorgungskrise an der ›Heimatfront‹ zu beenden.40 Während das Vertrauen der Bevölkerung in die cisleithanischen Behörden zurückging, stellten sie noch nicht die österreichisch-ungarische Monarchie insgesamt in Frage. Die Desillusionierung über die staatliche Fürsorge ging zunächst mit der Erwartung einher, dass die Regierung diese Mängel beheben würde. In diesen »Politiken des Alltags«41 entwickelten cisleithanische Frauen und Männer des Hinterlandes ein neues politisches Selbstverständnis als ›Opfer‹. Kriegsversehrte waren jedoch nicht Vorreiter dieser neuen kollektiven Positionierung gegenüber dem Staat, sondern zunächst waren es Frauen, die sich dieses Motiv aneigneten. Die zeitgenössische staatliche Kriegspropaganda schuf eine geschlechtlich markierte Hierarchie zwischen ›männlicher‹ Front und ›weiblicher‹ ›Heimatfront‹, indem sie die Opferbereitschaft der Frontsoldaten überhöhte. Das Glorifizieren der Frontsoldaten diente unter anderem dem Zweck, 37 Ebd., S. 73–75. 38 Ebd., S. 73–86. 39 Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg, S. 905–910; Plaschka u. a., S. 53–76. 40 Überegger, Heimatfronten, S. 298 und S. 400–401. 41 Healy, Vienna and the Fall of the Habsburg Empire, S. 25, siehe dazu, anhand Berlins im Ersten Weltkrieg: Davis.

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etwaige Klagen über die Bedingungen im Hinterland als unmoralisch delegitimieren zu können und die Bevölkerung zum Durchhalten zu animieren. Dadurch, dass sich Frauen individuell in Briefen und Gesuchen sowie kollektiv in Demonstrationen und Petitionen als ›Opfer‹ der Behörden, der transleithanischen Politiker, der ›Wucherer‹ und des Krieges insgesamt begriffen, eigneten sie sich diese Propaganda an und konnten sie wiederum gegen Vertreter des Staates wenden. Sie rechtfertigten ihre Forderungen mit den Opfern, die sie bereits für den Krieg gebracht hätten.42 So wie Frauen der ›Heimatfront‹ sich diese doppelte Bedeutung des Opferbegriffes – Opfersein (victima) und Opfergabe (sacrificium)43  –  ab 1917 zu eigen machten, begannen auch Kriegsversehrte das Motiv des Opfers zu nutzen. Gleichzeitig zeigt sich in den Schreiben Kriegsversehrter noch ein weiterer Wandel: Vereinzelt artikulierten die Gesuchsteller, dass sie sich zur distinkten sozialen Gruppe der Kriegsversehrten zugehörig fühlten. Dieses Verständnis von Kriegsbeschädigten war den Re-Integrationsmaßnahmen zwar eingeschrieben. Zuvor hatten sich Kriegsversehrte in ihren Briefen jedoch als Soldaten oder über ihren Beruf identifiziert, vor allem aber waren sie als Einzelpersonen aufgetreten. Nun begannen manche, sich als Teil eines Personenkreises zu betrachten, der sich durch Erfahrungen und Probleme von anderen Kriegsteilnehmern unterschied. Das Opfermotiv spielte in der narrativen Konstruktion dieser Gemeinsamkeiten eine wichtige Rolle. Im September 1918 wandte sich Jordan Pangerl aus Krumau / Český Krumlov in Böhmen an den militärischen Beirat der dortigen Arbeitsvermittlungsstelle für Kriegsinvalide um Auskunft wegen seiner seit 7. Juni 1918 ausständigen Rente. Anders als andere Kriegsversehrte verwandte Pangerl keinen Platz darauf, seinen Militärdienst zu beschreiben, sondern er präsentierte sich nur in seiner Rolle als Familienerhalter. Er listete detailliert die Anschaffungen auf, die er in nächster Zeit machen müsse, um seine Ehefrau und zwei Kinder durch den bevorstehenden Winter zu bringen. Er schilderte sein Scheitern an dieser Aufgabe als Familienerhalter angesichts der hohen Kosten für Lebensmittel, Kleidung und Brennmaterial, obwohl er eine Anstellung bei der Post gefunden hatte. Pangerl betonte seine Hilflosigkeit und beschrieb, dass er bereits andere Maßnahmen zur Geldbeschaffung ausgeschöpft hatte: Verkauf oder Verpfändung von Gegenständen und eine erfolglose Bitte um Unterstützung durch die Familie. Pangerls Brief weist Motive auf, wie sie für Gesuche um Armenunterstützung typisch waren, in denen die Unterstützungswerber und -werberinnen ihre Bedürftigkeit demonstrieren mussten.44 Seine Erzählung mündete jedoch in einer eindeutigen Beschwerde über das Versagen des Staates, denn ihm fehle nicht nur seine Kriegsversehrtenrente, auch sein Antrag auf den Unterhaltsbeitrag für seine Frau und die zwei Kinder sei unerledigt geblieben: 42 Healy, Vienna and the Fall of the Habsburg Empire, S. 36–43. 43 Kienitz, Beschädigte Helden, S. 79–90; Amato. 44 Sokoll, S. 91–111.

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So wird für die Invaliden gesorgt, wenn er nur einmal vom Militär weg ist, dann kann er schauen, wie er durchkommt, hätte ich meine Invalidengebühren monatlich erhalten, so wäre ich nicht soweit gekommen, daß ich so verschuldet wäre, wie ich es jetzt bin.45

Die zu späte oder unregelmäßige Auszahlung der finanziellen Versorgung war nicht nur die Verletzung eines gesetzlichen Anspruches, unter den Bedingungen des Weltkrieges bedeutete sie den Entzug dringend benötigten Einkommens. Noch deutlicher als Kundýsek betrachtete Pangerl sich als Opfer des Staates. Wäre der Staat seiner Verpflichtung nachgekommen, Kriegsversehrte finanziell zu versorgen, würde er als Familienerhalter auftreten können. Pangerl implizierte zudem, dass er sich, wenn auch nur andeutungsweise, als Teil einer größeren Gruppe, der »Invaliden«, begriff, denen dasselbe widerfuhr. Dies machte Albert Scheirich, der sich im Oktober 1918 an das Kriegsministerium mit der Bitte um einen Posten im Staatsdienst wandte, wesentlich expliziter. Sein Schreiben erweist sich als ebenso vielstimmig wie andere Gesuche. Einerseits schilderte Scheirich sich als kompetenten Kandidaten, der seine Kriegsverletzung aus eigener Kraft überwunden hatte: »Links schreiben habe ich selbst gelernt nach eigener Methode.«46 Er schrieb jedoch auch von den Schwierigkeiten, eine dauerhafte Stelle mit einem Lohn zu finden, der angesichts von Inflation und Lebensmittelknappheit zum Lebensunterhalt reichte. In dieser Hinsicht verdeutlicht sein Brief, wie fragil das Versprechen der Re-Integrationsmaßnahmen auf erfolgreiche Rückkehr in die Arbeitstätigkeit war. Sein Schreiben war jedoch nicht nur ein Stellengesuch, sondern zugleich eine Beschwerde über einen Gendarmeriewachtmeister, der ihn geschlagen habe. Hier veränderte sich der Tonfall des Briefs drastisch und wurde zu einer Anklage: »Mein Gott, nimmt sich den [sic] kein Mensch uns armen Kriegsinvaliden an? Müssen wir unserem Schicksal preisgegeben werden?«47 Scheirich begriff sich explizit als Teil der distinkten sozialen Gruppe der Kriegsversehrten, die durch ihre gesellschaftliche Benachteiligung gekennzeichnet war (»uns armen Kriegsinvaliden«). In diesen Opferstatus der Kriegsversehrten schrieb sich Scheirich mithilfe seiner Misshandlung durch den Gendarmen ein und überhöhte diesen Opferstatus zugleich moralisch, indem er beide Bedeutungen des Opferbegriffs mobilisierte: »[D]as [die Schläge des Gendarmen; T. S.R.] ist der Dank für den Opfermut, den ich für das teure und liebe Vaterland gezeigt habe.«48 Sein individueller Opferstatus, aber auch jener der Kriegsversehrten als Gruppe erwuchs für Scheirich nicht nur aus ihrer sozialen Schlechterstellung, sondern auch daraus, dass die Opfergabe, die sie mit ihrer Kriegsverletzung gebracht hätten, vergeblich gewe45 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1703, 1302/1918 KI Pangerl, Jordan rückständige Versorgungsgebühren. 46 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1703, 1375/1918. 47 Ebd. 48 Ebd.

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sen sei. Damit bediente sich Scheirich rhetorischer Mittel, die für die Kriegsopferbewegungen der Nachkriegszeit typisch werden sollten.49 In den untersuchten Schreiben der Kriegszeit war diese Rhetorik jedoch keineswegs häufig vorzufinden. Der Wechsel zu dieser neuen Selbstpositionierung als Opfer gegenüber dem Staat vollzog sich nicht abrupt, er scheint erst ab 1917 in den untersuchten Schreiben auf und blieb bis zum Ende des Krieges relativ selten. Maureen Healy hat für den Kriegsalltag in Wien eine ähnliche Chronologie des Stimmungsumschwungs herausgearbeitet.50 Kriegsversehrte bedienten sich in Anstellungsgesuchen auch 1917 und 1918 noch der Kriegsversehrung, um die Rolle des Frontsoldaten einzunehmen. Sie schrieben sich dadurch affirmativ in die Werte ein, welche die Kriegspropaganda hochhielt: Pflichtbewusstsein und Opferwilligkeit. Die Kriegsversehrung war ihr Beweis dafür, ihre staatsbürgerliche ›Pflicht‹ erfüllt zu haben, sie war jedoch noch keine vergebliche Opfergabe. Diese Aneignung des Opferbegriffs und die damit einhergehende Veränderung in der Selbstpositionierung gegenüber dem Staat geschah in engem Zusammenhang mit dem Aufkommen von Vertretungsorganisationen für Kriegsversehrte. Am 6. Januar 1918 fanden zwei Versammlungen im Prager Obecní dům statt. Eine davon war insofern geschichtsträchtig, als dort tschechischsprachige Reichsratsabgeordnete mit slowakischsprachigen Politikern aus Transleithanien zusammentrafen und die sogenannte Tříkrálová deklarace (Dreikönigsdeklaration) erließen. Darin forderten sie einen autonomen tschecho-slowakischen Staat im Rahmen der Habsburgermonarchie und die eigenständige Teilnahme an den Friedenskonferenzen.51 Für denselben Tag hatte jedoch auch Ondřej Kypr eine Versammlung tschechischsprachiger Kriegsversehrter ins Obecní dům einberufen, um die Gründung einer Organisation voranzutreiben, die ihre Interessen vertreten sollte. Das zufällige Zusammentreffen beider Veranstaltungen symbolisiert, wie die Bevölkerung ihre Beziehung zum Staat gegen Ende des Krieges neu konfigurierte. Diese Veränderung erschöpfte sich nicht darin, dass die bisherige politische Struktur des österreichisch-ungarischen Staates zur Debatte stand. Die Gründung eines eigenen Vereins für Kriegsversehrte demonstriert, dass der Staat an Glaubwürdigkeit eingebüßt hatte. Verletzte und erkrankte Soldaten vertrauten nicht mehr darauf, dass die cisleithanische Regierung und Behörden ihre Interessen wahrnehmen würden. Stattdessen mussten, so der Tenor der Veranstaltung, Kriegsversehrte ihre Ansprüche und Bedürfnisse kollektiv vertreten und durchsetzen. 49 Pawlowsky u. Wendelin, Die Wunden des Staates, S. 37–46; sowie zur kontroversen Rahmung Kriegsversehrter als ›Helden‹ oder ›Märtyrer‹ in den Parlamentsdebatten anlässlich des österreichischen Rentengesetzes: Ebd., S. 217–221; Stegmann, Kriegsdeutungen - Staatsgründungen - Sozialpolitik, S. 117–133. 50 Healy, Vienna and the fall of the Habsburg Empire, S. 1–27. 51 Křen, S. 358; am 28. Oktober 1918 sollte der Národní výbor (Nationalausschuss) im Obecní dům die Tschechoslowakische Republik ausrufen, siehe: Plaschka u. a., S. 165.

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Die staatlichen Behörden in Böhmen sahen jedoch einen Zusammenhang zwischen den Bestrebungen nach nationaler Autonomie und der Kriegsversehrtenvereinigung. Sie begegneten dem Verein von Anfang an mit Misstrauen. Die Beamten der Statthalterei in Prag / Praha lehnten den ersten Antrag um offizielle Anerkennung und Zulassung des Vereins im Dezember 1917 ab, da sie vom »staatspolizeilichen Standpunkte« einer Mitgliedschaft von militärischem Personal in einem Verein »auf nationaler Grundlage« nicht zustimmen konnten.52 Bereits der Veranstaltungsort verlieh Kyprs Initiative einen nationalistischen Anschein. Mit dem 1912 fertiggestellten Gebäude setzten tschechischsprachige nationalpolitische Parteien dem politischen Machtwechsel in der Prager Stadtpolitik in den 1880er Jahre ein eindrucksvolles Denkmal. Damals hatten sie die Deutschliberalen vollständig abgelöst.53 Das Obecní dům sollte symbolisieren, dass Prag / Praha eine tschechische (und keine deutsche) Stadt sei. Das spiegelt sich im Bildprogramm des Jugendstilbaus wider – von Ladislav Šalouns Skulpturengruppe an der Fassade, die Unterwerfung und Auferstehung des ›tschechischen Volkes‹ darstellt, bis zu Alfons Muchas Bilderreigen historischer Figuren Böhmens im Inneren, die nun für eine tschechische Nationalgeschichte reklamiert wurden.54 Die Beamten stießen sich jedoch auch am Namen »Družina českých invalidů ze zemí koruny svatováclavské« (Vereinigung tschechischer Invalide aus den Ländern der Heiligen Wenzelskrone). Gegen den Zusatz »ze zemí koruny svatováclavské« (aus den Ländern der Heiligen Wenzelskrone) sei »[i]m Besonderen […] Einspruch zu erheben«.55 Auch wenn die Beamten dies nicht explizit darlegten, evozierte der besondere Zusammenhang zwischen den Kronländern Böhmen, Mähren und Schlesien, der dadurch hergestellt wurde, für sie wohl einen eigenen tschechischen Staat. Die Prager Polizeidirektion untersagte am 29. Dezember 1917 die Versammlung, die für den 6. Januar 1918 angesetzt war. Kypr gelang es allerdings, sie doch noch abzuhalten, indem er sie auf geladene Gäste beschränkte.56 Bei einer späteren Versammlung im April 1918 mussten die Kriegsversehrten nicht nur eine Einladung vorweisen, sondern auch durch Militärdokumente belegen, dass sie bereits aus der Armee entlassen waren, um Zugang zur Versammlung zu erhalten.57 Da man die Veranstaltung am 6. Januar nicht verhindern konnte, versuchte die böhmische Landeszentrale, sie möglichst in die Zielsetzungen der Re-Inte­ grationsmaßnahmen einzuordnen. Vertreter der Statthalterei und der Landeszentrale nahmen daran teil, und das Publikationsorgan der Landeszentrale widmete ihr einen halbseitigen Artikel. Darin wurde besonders herausgestri52 Archiv hlavního města Prahy [AHMP], Magistrát hlavního města Prahy [MHMP] II, Národní výbor hlavního města Prahy [NVP], odbor vnitřních věcí [OVV], spolkový katastr, II/399 Kt. 53, 449/SII; Zitat: ebd., 9619/SII. 53 Cohen, The Politics of Ethnic Survival, S. 105–112. 54 Počva, S. 24–41; Kreuzzieger, S. 68–83. 55 AHMP, MHMP II, NVP, OVV, spolkový katastr, II/399 Kt. 53, 449/SII; Zitat: ebd., 9619/SII. 56 Ebd.; ebd., 9727/SII. 57 Ebd., 3738/1918.

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chen, dass Kypr in seiner Rede die Kriegsversehrten zur Selbsthilfe aufgerufen habe, die staatliche und private Fürsorge ergänzen sollte. Zu diesem Zweck sollten Kriegsversehrten-Produktionsgenossenschaften gegründet werden.58 Durch diese Erzählung sollte die politische Sprengkraft der Versammlung eingehegt werden. Der Bericht über die Versammlung in der tschechischsprachigen sozialdemokratischen Zeitung »Právo lidu« (Recht des Volkes) legte den Schwerpunkt dagegen auf andere Aspekte der Rede Kyprs:59 Unter den Kriegsversehrten herrsche große Unzufriedenheit, der Staat gewähre ihnen bloß »Almosen« in der Höhe von 14 oder 32 Kronen monatlich, und manche hätten nicht einmal Anspruch auf diese »Groschen«.60 Folgt man der Berichterstattung im »Právo lidu«, zeichnete Kypr ein Bild der Kriegsversehrten als kollektive Opfer des Staates. Er sah sie jedoch nicht in einer passiven Rolle, sondern forderte zur Selbsthilfe auf. Aufgrund ihrer Kriegserfahrungen seien die Kriegsversehrten in der Lage, die »glänzenden Phrasen, die billigen Versprechen zur Irreführung der Bürgerschaft von wirklicher Arbeit, von ehrlichen Bestrebungen und wirkungsvoller Unterstützung«61 zu unterscheiden. Für die Kriegsversehrten gebe es »keinen anderen Weg als den Sozialismus«.62 Kriegsversehrte sollten ihre Forderungen nach finanzieller Versorgung durch den Staat weiterverfolgen, jedoch zugleich mithilfe öffentlich unterstützter Produktionsgenossenschaften die Mittel ihrer eigenen Existenz selbst in die Hand nehmen und so ihre Zukunft sichern. Diese Punkte betonte die Zeitung auch in einem weiteren Artikel zu Kyprs nächster Versammlung im Sophienpalais / Palác Žofín in Prag / Praha am 7. April 1918. Laut dem Bericht verflocht Kypr die Kriegsversehrtenvereinigung explizit mit Forderungen nach nationaler Autonomie. Die Kriegsversehrten verabschiedeten eine Resolution, in der sie die Forderungen der Tříkrálová deklarace (Dreikönigsdeklaration) unterstützten und deren Ablehnung durch Außenminister Ottokar Czernin / Otakar Černín zurückwiesen.63 Dem Artikel im »Právo lidu« zufolge waren 1.000 Kriegsversehrte anwesend, der interne Bericht der Polizeidirektion an die Statthalterei beziffert die Teilnehmer allerdings deutlich niedriger mit 350.64

58 o. A., Družina českých invalidů ve zemích koruny Svatováclavské [Die Assoziation der tschechischen Invaliden in den Ländern der heiligen Wenzelskrone]. 59 o. A., Invalidé [Invalide] 60 Ebd.: »almužna«, »groš«. 61 Ebd.: »blýskavé fráse, laciné sliby na klamání občanstva od práce skutečné, snah poctivých a účinné podpory«. 62 Ebd.: »šiřiteli socialismu« und »pro jejich existenci není jiných cest mimo socialism.« 63 Ebd. 64 o. A., Veliký projev invalidů pražských [Eine große Kundgebung der Prager Invaliden]; Bericht über die Versammlung in: AHMP, MHMP II, NVP, OVV, spolkový katastr, II/399 Kt. 53, 3738/1918, unpaginiert.

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Kypr propagierte somit zwei Ideologien, die cisleithanischen Behörden als Bedrohung für den Zusammenhalt der Monarchie auffassten: nationale Autonomie und (einen nicht näher ausgeführten) Sozialismus. Insbesondere nach der Oktoberrevolution im Zarenreich fürchteten politische und militärische Eliten der Habsburgermonarchie die Verbreitung sozialistischen Gedankenguts.65 Kyprs Engagement lässt sich jedoch nicht dadurch erklären, dass er bereits vor dem Krieg der politischen und gesellschaftlichen Ordnung der Habsburgermonarchie kritisch gegenübergestanden hatte. Er rückte am 13. Februar 1915 zum Militärdienst ein, diente an der russischen Front und wurde nach einer Verletzung am 21. Februar 1916 als ›Kriegsinvalide‹ aus dem Militärdienst entlassen. In seinem Kriegstagebuch, das er 1916 selbst publizierte, kommt vielmehr staatsbürgerliche Loyalität zum Ausdruck. So notierte Kypr etwa anlässlich der Kriegserklärung Italiens an Österreich-Ungarn: Gott hilft uns sicherlich den neuen Feind zu überwältigen. Soldaten! Die Italiener sind treulos, sie erklärten uns den Krieg. Wir werden gemeinsam mit der deutschen Armee auch gegen diese Feinde marschieren und wir siegen.66

Die Erklärung muss vielmehr in einem Prozess der Enttäuschung über das Versagen des Staates gesucht werden, wie dieser in den untersuchten Briefen von Kundýsek, Pangerl und Scheirich zum Ausdruck kam.67 Zu diesem Zeitpunkt ist die Verknüpfung der Kriegsversehrtenorganisation mit Ideen des Sozialismus und nationaler Autonomie allerdings noch nicht als Ablehnung Österreich-­ Ungarns zu sehen, sondern gehört zu einer Reihe von Vorstellungen, wie die Habsburgermonarchie politisch umgestaltet werden müsste.68 Die Gründung von Kriegsversehrtenorganisationen brachte eine Veränderung im Verhältnis zwischen Staat und verletzten und erkrankten Soldaten zum Ausdruck, die nicht auf Böhmen beschränkt war. Die tschechischsprachige »Družina« war nicht die erste Organisation für Kriegsversehrte in Cisleithanien; ihr waren lokale Zusammenschlüsse verletzter und erkrankter Soldaten in Böhmen und Mähren vorausgegangen.69 Unabhängig von den Initiativen tschechischsprachiger Kriegsversehrter beantragte bereits im Juli 1917 ein Komitee die Genehmigung eines »Bundes der Kriegsverletzten« mit Sitz in Reichenberg / Liberec in Böhmen.70 Führend daran beteiligt war der spätere Obmann 65 Rachamimov, S. 191–213. 66 Kypr, Ondřej: Na vojně v Karpatech a Haliči – Dojmy českého vojáka [Beim Heer in den Karpaten und in Galizien – Eindrücke eines tschechischen Soldaten], Pardubice 1916, 110, zitiert nach: Růžička, S. 119: »Bůh jistě pomůže nám zdolati nového nepřítele. Vojáci! Italové jsou věrolomní, vypověděli nám válku. Půjdeme společně s německou armádou i proti tomuto nepříteli a zvítězíme.« 67 Siehe: Healy, Vienna and the fall of the Habsburg Empire; Rachamimov; Überegger, Politik, Nation und Desertion. 68 Křen, S. 358; Plaschka u. a., S. 165. 69 Růžička, S. 116–117. 70 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1420, 1820/1917.

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der Vereinigung deutschsprachiger Kriegsversehrter in der Tschechoslowakei, Bernhard Leppin.71 Der »Bund« beanspruchte für sich, in Zukunft deutschsprachige Kriegsversehrte in ganz Cisleithanien zu repräsentieren. So wie Kypr im Januar 1918 Kriegsversehrte kollektiv als Opfer des Staates zeichnete, bediente sich das Komitee des »Bundes« der Opfergabe, um die Kriegsversehrten als Gruppe zu kennzeichnen: Es seien »all jene, die für Kaiser und Reich ihr Bestes gaben«.72 Die Beamten des Innenministeriums holten daraufhin die Stellungnahmen der Statthalterei Böhmens, des Militärkommandos Leitmeritz / Litoměřice und der böhmischen Landeszentrale ein. Ihr Geschäftsführer Marschner benannte in seiner abwägenden Stellungnahme die Vorbehalte, die Beamte gegenüber einer neuen Interessensvertretung hegen mochten, wenn er dazu riet: Unter allen Umständen müßte jedoch vermieden werden, daß diese Organisation der Kriegsverletzten parteipolitische oder einseitig soziale Tendenzen vertritt und die Kriegsbeschädigten in ihren Aspirationen gegenüber der Staatsverwaltung oder anderen öffentlichen Institutionen über das Maß des Zuläßigen und Erreichbaren bestärkt.73

Ob Marschner mit der Warnung vor »parteipolitische[n] oder einseitig soziale[n] Tendenzen«, welche die »bereits bestehenden Aktionen stör[en]« könnten, die deutlich nationale Stoßrichtung des »Bundes« ansprach, der explizit nur »deutschösterreichische Kriegsverletzte«74 als Mitglieder anvisierte, bleibt unklar; für die höheren Instanzen spielte dieser Aspekt des Vereins keine Rolle. Marschner erkannte jedoch deutlich das Potenzial des »Bundes«, die Beziehung der Kriegsversehrten zum Staat zu transformieren, indem eine kollektive Interessensvertretung zwischen Behörden und individuelle Kriegsversehrte trete. Dieser Entwicklung stand Marschner nicht unbedingt ablehnend gegenüber. Ob der »Bund« den Re-Integrationsmaßnahmen eher nutze oder schade, sei nicht prinzipiell zu beantworten, sondern vom »Geiste […], in welchem der Bund geleitet wird«, und vom Einfluss der staatlichen Behörden auf diese Gesinnung abhängig.75 Eine Interessensvertretung berge das Risiko, Forderungen an den Staat zu bestärken, welche die Möglichkeiten der Regierung übersteigen oder ihrem politischen Willen nicht entsprechen würden. Falls der »Bund« Kriegsversehrte jedoch davon überzeuge, dass »sie sich selbst um die Sicherstellung ihrer Existenz bemühen müssen«, könnte der Verein auch ein wertvoller Verbündeter der Landeszentrale werden und »die Fürsorgebestrebungen der Landeskommissionen nur wesentlich fördern.«76 Unter dieser Voraussetzung war Marschner sogar 71 Stegmann, Kriegsdeutungen - Staatsgründungen - Sozialpolitik, S. 104–109. 72 NAP, ZÚP, spólkové záležitosti Kt. 273, 8A/575. 73 NAP, Zemský úrad Praha [ZÚP], spólkové záležitosti Kt. 273, 8A 575/3 1917. 74 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1420, 1820/1917; Statuten in: NAP, ZÚP, spólkové záležitosti Kt. 273, 8A 575/8 1917, § 5, 1. 75 NAP, ZÚP, spólkové záležitosti Kt. 273, 8A 575/3 1917. 76 Ebd.

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bereit, Kriegsversehrtenorganisationen auf lokaler Ebene in die Ortsausschüsse zu integrieren und sie so zu »ein[em] Bindeglied zwischen den Institutionen dieser Fürsorgetätigkeit und den Kriegsverletzten« zu machen.77 Die Beamten der Statthalterei schlossen sich dieser Ansicht nicht an. Sie stützten sich in ihrer Einschätzung auf ihre Eindrücke aus dem Deutschen Kaiserreich, wo bereits seit 1916 lokale Zusammenschlüsse Kriegsversehrter existierten,78 und prognostizierten, dass eine solche Vereinsbildung nur zur Zersplitterung der Fürsorgemaßnahmen beitrage. Denn sie würde zur Gründung weiterer Kriegsversehrtenorganisationen »zum Teil durch persönlichen Ehrgeiz, zum Teil durch nationale und Parteibestrebungen« führen. Anstatt dieser Entwicklung kleinteiliger, miteinander konkurrierender Vereine Vorschub zu leisten, sollte man auf die »alten Kriegervereine« setzen, deren Bedeutung nach dem Krieg wieder wachsen werde und die für ihre Mitglieder Maßnahmen der Selbsthilfe, wie Sterbekassen oder Krankenkassen, schaffen könnten. Für Fragen der finanziellen Versorgung und der Re-Integrationsmaßnahmen müssten sich Kriegsversehrtenorganisationen ohnehin an »die betreffenden Stellen der Militär- oder Zivilbehörden bezw. [sic] an die amtlichen oder halbamtlichen Fürsorgestellen« wenden.79 Daher hielten die Beamten gegenüber dem Innenministerium fest, dass »die Bildung des Bundes der Kriegsverletzten nicht erwünscht« sei.80 Trotz dieser prinzipiellen Bedenken der Statthalterei genehmigten die Beamten des Innenministeriums schließlich die Gründung des »Bundes«, da die Einwände keine gesetzliche Grundlage boten, um die Vereinsbildung zu verhindern.81 Die Hoffnung der Beamten, dass die aufkommenden Kriegsversehrtenorganisationen bald in den etablierten Veteranenvereinen aufgehen würden, erfüllte sich nicht. Dafür unterschieden sich die beiden Vereinsformen in Cisleithanien zu stark voneinander. Aus der Kriegserfahrung sollte man keineswegs ableiten, dass Kriegsversehrte einen privilegierten Zugang zur Opferrhetorik hatten. Denn die etablierten Veteranenvereine rahmten ihr Verhältnis zum Staat nicht über das Motiv des Opfers. Auch Kriegsversehrte präsentierten sich in ihren Gesuchen lange Zeit vor allem als pflichtbewusste Bürger. Die Teuerung und Versorgungskrise der letzten beiden Kriegsjahre sorgten dafür, dass die Renten vollkommen unzureichend wurden. Zudem war die Verwaltung durch die gezielte Ausdehnung der Ansprüche auf finanzielle Versorgung überlastet. Die Bevölkerung sah dies zunehmend als ein Versagen des Staates in seiner Fürsorgepflicht. Die Umdeutung des Opferbegriffs an der ›Heimatfront‹ eröffnete die Möglichkeit, diese Enttäuschung und daran anknüpfende Forderungen zu artikulieren. Diese neue Semantik griffen 77 Ebd. 78 NAP, ZÚP, spólkové záležitosti Kt. 273, 8A 575/2 1917. Zu den Organisationen im Deutschen Kaiserreich während des Ersten Weltkrieges siehe: Whalen, S. 191–240. 79 NAP, ZÚP, spólkové záležitosti Kt. 273, 8A 575/1 1917, unpaginiert. 80 NAP, ZÚP, spólkové záležitosti Kt. 273, 8A 575/1 1917, unpaginiert. 81 ÖStA, KA, KM, Abt. 9/IF Kt. 1705, 856/1918 Bund der Kriegsverletzten in Reichenberg Bildung.

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die entstehenden Kriegsversehrtenvereine auf und beförderten eine Gruppenbildung anhand des doppeldeutigen Motivs des Opfers: Die Kriegsversehrung als (vergebliche) Opfergabe und die Kriegsversehrten als Opfer des Krieges, des Staates und der Gesellschaft bot diesen Vereinigungen die Möglichkeit, aus den mannigfaltigen Erfahrungen des Kriegs und der Heimkehr eine kollektive Identität zu formen. Wie verschiedene Studien herausgearbeitet haben, konnte dieses Motiv in der Zwischenkriegszeit sogar die Grundlage für transnationale Kooperationen zwischen Veteranen- und Kriegsopfervereinen bilden.82

82 Eichenberg u. Newman, Introduction, S. 1–15; Horne, S. 207–222; Ziemann.

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Conclusio Der Umgang mit kriegsversehrten Soldaten in Cisleithanien während des Ersten Weltkrieges unterschied sich dramatisch von der Fürsorge der 1850er und 1860er Jahre. Dieser Wandel hing nicht nur zusammen mit der veränderten sozialen Stellung der Soldaten nach Einführung der allgemeinen Wehrpflicht 1868 und der schrittweisen Ausweitung des Wahlrechts zwischen 1882 und 1907. Die Verrechtlichung der Militärversorgung 1875 und die weitere Herausbildung staatlicher Sozialpolitik seit den 1880er Jahren spielte dabei ebenfalls eine entscheidende Rolle. Den Ersten Weltkrieg in diese längere Geschichte von Sozialpolitik einzuordnen, legt gegenüber der existierenden Forschung offen, dass imperiale Sozialpolitik nicht nur die Diskurse und Konzepte prägte, die Kriegsversehrungen als sozialpolitische Aufgabe erfassbar machten. Sie beeinflusste darüber hinaus auch die konkrete politische Ausgestaltung der Fürsorgemaßnahmen. Entgegen der bisherigen Deutung der Re-Integrationsmaßnahmen für Kriegsversehrte als »improvisiert« wird ihre organisatorische Struktur als Fortsetzung sozialpolitischer Handlungsmuster des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts erkennbar. Gerade die Untersuchung der Sozialpolitik in der Habsburgermonarchie seit dem späten 19. Jahrhundert wirft ein neues Licht auf die Reformfähigkeit Österreich-Ungarns. Die Narrative der älteren Forschung von der Stagnation der Sozialpolitik in Cisleithanien haben diese vor allem daran festgemacht, dass auf die Unfall- und Krankenversicherung keine allgemeine Alters- und Invaliditätsversicherung folgte. Diese Konzentration auf Gesetzesvorhaben übersieht jedoch, dass sich die Vorstellungen von den Aufgaben staatlicher Sozialpolitik sowohl in der Militärversorgung als auch in der Sozialversicherung seit dem späten 19. Jahrhundert bedeutend wandelten. Zudem avancierte Sozialpolitik ab den 1890er Jahren zum Bezugspunkt zahlreicher zivilgesellschaftlicher Forderungen und Erwartungen. Trotzdem ist dies keineswegs eine teleologische Erzählung von der beständigen Ausweitung des sozialen Leistungsstaates. Denn das alternative Narrativ der Dynamik Österreich-Ungarns beschreibt die Entwicklung der Sozialpolitik ebenfalls nur unzureichend. Dafür waren Militärversorgung und Sozialversicherung im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zu sehr von unvollendeten Reformvorhaben geprägt. Stattdessen erweist sich Kontinuität als geeignetere analytische Kategorie, denn sie legt das Zusammenspiel von Veränderung und Anpassung offen, welches die staatliche Sozialpolitik charakterisierte. Dynamik und Persistenz traten dabei nicht nur gleichzeitig auf, sondern waren miteinander verflochten, wie die gescheiterten Reformversuche in der Militärversorgung und der Sozialversicherung kurz vor dem Ersten Weltkrieg demonstrieren. 291

Die Selbstwahrnehmung politischer Akteure vis-a-vis der Sozialpolitik anderer europäischer Staaten spielte dabei eine wichtige Rolle. Nach Einführung der Unfall- und Krankenversicherung in Cisleithanien sahen sich Politiker und Beamte als sozialpolitische Pioniere gegenüber anderen europäischen Staaten, die nicht den Weg einer verpflichtenden öffentlichen Versicherung eingeschlagen hatten. Diese Selbstwahrnehmung konnte ab der Jahrhundertwende immer weniger aufrechterhalten werden. Zum einen reformierte das deutsche Kaiserreich seine Militärversorgung und weitete den Anspruch auf Invalidenrenten aus. Zudem konsolidierte es mit der Reichsversicherungsordnung die recht­lichen Grundlagen und die administrative Organisation der Sozialversicherungszweige. Zum anderen führte Frankreich eine staatlich kofinanzierte verpflichtende Altersversicherung ein, und das Vereinigte Königreich verabschiedete eine rein staatlich finanzierte Altersversorgung. Dadurch veränderten sich die »mental maps« cisleithanischer Politiker von der sozialpolitischen Ordnung Europas, die von der Unterscheidung zwischen freiwilliger und verpflichtender Sozialversicherung geprägt waren. Vor allem aber führte es dazu, dass österreichisch-ungarische Politiker und Beamte sowohl die eigene Militärversorgung als auch die bestehende Sozialversicherung in Cisleithanien als rückständig empfanden. In Reaktion darauf entwickelten sie ambitionierte Gesetzesprojekte, um sozialpolitisch aufzuholen. Diese Ansprüche an die Reformen der Militärversorgung und der Sozialversicherung erzeugten jedoch schwerwiegende Auseinandersetzungen über Umfang, Ziele und Finanzierung der Vorhaben. Sie trugen schließlich zur Aufrechterhaltung der bestehenden Formen staatlicher Sozialpolitik bei. Die Gemeinsamkeit in der Entwicklung staatlicher Sozialpolitik muss jedoch dahingehend differenziert werden, welche Faktoren bei diesen Reformvorhaben jeweils zum Tragen kamen. Die Unterschiede lagen vor allem in der Konfiguration des jeweiligen politischen Feldes begründet. Die Militärversorgung war als gemeinsame Angelegenheit beider Reichshälften von anderen Akteursgruppen geprägt. Ihre Reform wurde primär vom Kriegsministerium vorangetrieben und bedurfte der Zustimmung beider Regierungen. Die Bedeutung, die politische Akteure der Militärversorgung als Sozialpolitik beimaßen, war wiederum abhängig von der Ausprägung parlamentarischer Demokratie in den beiden Reichshälften. In Cisleithanien wurde, während die Reformvorhaben liefen, das allgemeine und gleiche Männerwahlrecht eingeführt, und das Parlament versuchte aus eigener Initiative, die Militärversorgung zu reformieren. Bei den transleithanischen politischen Eliten fand die Militärversorgung hingegen wenig Beachtung. Das dortige Parlament mit seinem stark eingeschränkten Wahlrecht war vor allem vom Gegensatz zwischen Befürwortern und Gegnern des Ausgleichs geprägt. Streitfragen des Dualismus kam in der Militärversorgung daher besonderes Gewicht zu, denn sie entzündeten sich vor allem an der Institution der gemeinsamen Armee. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg konkurrierte die militärische Sozialpolitik schließlich mit einer umfangreichen Rüstungspolitik, mit der ÖsterreichUngarn zu anderen europäischen Großmächten aufschließen wollte. Führende 292

Akteure verorteten Handlungszwänge primär in den außenpolitischen Spannungen, weshalb die Reform der Militärversorgung ins Hintertreffen geriet. Die Reform der Sozialversicherung in Cisleithanien war hingegen von anderen Faktoren beeinflusst. Ihr Umfang war eine unintendierte Folge der sozialpolitischen Prioritätensetzung der 1890er Jahre, als man die finanzielle Stabilisierung der Unfall- und Krankenversicherung ihrem Ausbau durch neue Versicherungszweige vorgezogen hatte. Die schrittweise Ausweitung des Wahlrechts verhalf neuen Massenparteien zum Aufstieg und verunmöglichte jene Regierungskoalition aus konservativ-katholischen und föderalistisch orientierten Abgeordneten, welche die Unfall- und Krankenversicherung verabschiedet hatte. Politische Mehrheiten im Reichsrat zu schmieden, wurde zunehmend herausfordernder, auch weil nationalistische Parteien Obstruktion als Druckmittel nutzten und umgekehrt zahlreiche Ministerpräsidenten bereit waren, ohne Parlament weiter zu regieren. Diese Unterbrechungen des parlamentarischen Prozesses erschwerten es, die strittigen Fragen der ambitionierten Reform zu klären, die im Jahrzehnt vor Kriegsausbruch verfolgt wurde. In Militärversorgung und Sozialversicherung gab es daher eine kriseninduzierte Kontinuität. Diese Krisen auf die Multinationalität Cisleithaniens zurückzuführen, greift jedoch zu kurz. Zwar spielten nationalistische Konflikte immer wieder eine Rolle in den Unterbrechungen des parlamentarischen Prozesses. Sie waren jedoch weder der einzige Faktor, noch verlief die Entwicklung einseitig in Richtung Nationalisierung. Nicht nur konnte das cisleithanische Sozialversicherungswesen unterschiedliche nationalpolitische Ordnungsmuster integrieren – vom Kronlandföderalismus der 1880er Jahre bis zu Nationalität als individueller, exklusiver Identität im frühen 20. Jahrhundert. Mit der Etablierung einer ganz Cisleithanien umfassenden »Risikengemeinschaft« in der Angestelltenversicherung 1906 und der Forderung nach einer stärkeren Rolle des Staates in der Finanzierung des Versicherungswesens erlangten imperiale Bezüge zudem gerade in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg größere Bedeutung. Die Geschichte cisleithanischer Sozialpolitik demonstriert so, dass Multinationalität und Sozialpolitik keineswegs geradlinig auf eine national(-staatlich) verfasste Solidargemeinschaft hinausliefen, sondern imperiale Bezüge bis zuletzt immer wieder Bedeutungsgewinne erfuhren. Zudem konstituiert diese kriseninduzierte Kontinuität keinen linearen sozialpolitischen Niedergang. Eine solche Interpretation würde einerseits unterschlagen, dass gerade die Dynamiken der sozialpolitischen Reformvorhaben selbst dazu beitrugen, dass sie nicht zustandekamen. Dynamik und Kontinuität waren daher eng miteinander verwoben. Andererseits verstellt sie den Blick dafür, dass Kontinuität nicht Unveränderlichkeit bedeutete. Die Militärversorgung erfasste ab den 1880er Jahren neue soziale Gruppen und band teilweise zivile Akteure in ihre Entscheidungsprozesse ein. Selbst im Verlauf des unvollendeten Reformprozesses wurden neue sozialpolitische Instrumente wie eine Rentenselbstversicherung eingeführt. In ähnlicher Weise blieb zwar das Governance-Modell im cisleithanischen Versicherungswesen aufrecht, das eine Antwort auf spezifische 293

Herausforderungen der 1880er Jahre dargestellt hatte. Mit einem Staatszuschuss zu den Verwaltungskosten für die Angestelltenversicherung nahm die cisleithanische Regierung jedoch eine diskrete Anpassung im Gewand von Kontinuität vor. Zudem entwickelten Beamte das Governance-Modell weiter, selbst wenn sie dadurch ihre höhergesteckten Ziele nicht erreichten. So schufen etwa die Beamten des Handelsministeriums finanzielle Anreize für zivilgesellschaftliche Initiativen der Arbeitsvermittlung, um sie zur Kooperation zu bewegen und so den zentralstaatlichen Regelungsanspruch auf das Feld der Arbeitsvermittlung zu übertragen. Diskrete Anpassungen vollzogen sich daher parallel zu kriseninduzierten Kontinuitäten. Zum Teil waren sie eine Reaktion auf ausbleibende Reformprozesse, zum Teil resultierten sie aus der spezifischen Verknüpfung zentralstaatlichen Regelungsanspruchs und dezentraler Entscheidungsprozesse, welche insbesondere die Governance in der Sozialversicherung charakterisierte. Die Entwicklung staatlicher Sozialpolitik vor 1914 präfigurierte in zweifacher Hinsicht die Herausbildung der Re-Integrationsmaßnahmen für Kriegsversehrte während des Ersten Weltkrieges. Erstens schufen die ausgebliebenen Reformen sozialpolitischen Handlungsdruck in der Versorgung und Behandlung verletzter und erkrankter Soldaten. Zweitens lieferten die bestehenden Formen sozialer Versorgung und die Reformversuche Wissensbestände und Vorbilder für die Ausgestaltung der Fürsorge für Kriegsversehrte. Neben diesen Verbindungslinien prägten jedoch auch die Eigendynamiken des Krieges die Entwicklung der Re-Integrationsmaßnahmen. Diese lassen sich auf drei Ebenen festmachen: den Herausforderungen der administrativen Praxis, den Konflikten zwischen Kriegsversehrten und Experten, und dem Wandel in den Selbsterzählungen der Kriegsversehrten. Die Herausforderungen der Verwaltung in der Kriegsversehrtenfürsorge betrafen die Militärversorgung und die Organisation der Re-Integrationsmaßnahmen. Die Armee übernahm die Verantwortung für die finanzielle Versorgung, medizinische Behandlung und disziplinarische Kontrolle der Kriegsversehrten in militärischen und zivilen Einrichtungen. Die zeitliche Abfolge und unterschiedliche Dringlichkeit dieser Aufgaben ebenso wie der gewählte Weg, bestehende Vorschriften nur im Verordnungswege anzupassen und nicht umfassend neu zu regeln, führten zur Herausbildung unterschiedlicher Beurteilungskriterien. Das bereits im Herbst und Winter 1914 auftretende und als besonders dringlich empfundene ›Problem‹, dass Kriegsversehrte ohne finanzielle Versorgung aus der Armee entlassen wurden, versuchte das Kriegsministerium, mithilfe einer expansiven Definition von Kriegsinvalidität und damit einer Ausweitung des Anspruches auf Militärrenten zu lösen. Dieses Verständnis von Kriegsversehrung konfligierte jedoch mit dem Konzept von Arbeitsfähigkeit, das der medizinischen Behandlung im Rahmen der Re-Integrationsmaßnahmen zugrunde lag. Hinzu kamen die Bestimmungen zur militärischen Tauglichkeit, die zum Zwecke der Mobilisierung im Verlauf des Krieges wiederholt verändert wurden. Die daraus resultierenden Friktionen administrativer Praxis eröffneten einerseits Handlungsspielräume für lokale Militärbeamte, ihre eigenen Wertvor294

stellungen durchzusetzen und / oder zu versuchen, durch Priorisierung einzelner Kriterien diese Spannungsverhältnisse aufzulösen. Andererseits trugen sie dazu bei, dass militärische Akteure die Re-Integrationsmaßnahmen als Möglichkeit für Soldaten problematisierten, sich der Militärdienstleistung zu entziehen. Entgegen bisheriger Darstellungen der österreichisch-ungarischen Armee als Akteurin, welche die Kriegsmobilisierung zunehmend über andere Gesichtspunkte stellte, erwies diese sich als Organisation, die von konkurrierenden Zentren (Generalstab und Kriegsministerium) sowie gegenläufigen Tendenzen der Regulierung ›von oben‹, lokalen Ermessensspielräumen und Anpassungsleistungen ›von unten‹ geprägt war. Auch das Bild der Armee als Organisation, die sich während des Krieges von der Zivilgesellschaft abschottete und weiterhin eine stark anti-nationalistische Haltung vertrat, lässt sich zumindest auf lokaler Ebene relativieren. In Böhmen baute das 9. Militärkommando gezielt ein Netzwerk lokaler Fürsorgestellen für Kriegsversehrte auf, um seine Einflusssphäre gegenüber der Zivilverwaltung auszuweiten. Hier zeigt sich eher eine »wechselseitige Durchdringung«1 von Zivilgesellschaft und Militär, denn das Militärkommando stützte sich dabei stark auf deutschnationalistische Vereine und übernahm auch deren Nationsverständnis, indem es versuchte, deutsch- und tschechischsprachige Kriegsversehrte in getrennten Fürsorgestellen zu behandeln. Ob diese Handlungsspielräume lokaler militärischer Akteure erst aus der Situation des Krieges erwuchsen oder auf dezentrale Strukturen und Entscheidungsprozesse der österreichisch-ungarischen Armee in den Vorkriegsjahren aufbauten, bedarf weiterer Forschungen. Die cisleithanische Regierung wiederum sah sich unter Druck gesetzt, Einrichtungen für die medizinische Behandlung, berufliche Ausbildung und Arbeitsvermittlung kriegsversehrter Soldaten bereitzustellen. Für die Mobilisierung dieser Ressourcen für die Kriegsversehrtenfürsorge zog die cisleithanische Regierung das Governance-Modell der Sozialversicherung heran. Die Herausforderungen waren andere als in den 1880er Jahren. Trotzdem konstituierten erneut die Sicherung einer normierenden und kontrollierenden Rolle des Zentralstaates, die Minimierung von Kosten für den Staat und die Einrichtung von Formen der Repräsentation und Partizipation die zentralen Elemente staatlicher Governance in der Kriegsversehrtenfürsorge. Die Zivilgesellschaft sollte so weit wie möglich die Kosten für die Re-Integration der betroffenen Soldaten tragen. Im Gegenzug ermöglichte man ihr in Form der Landeskommissionen auch Teilhabe. Die Landeskommissionen entsprachen zugleich föderalen Ordnungsvorstellungen und boten die Möglichkeit, die verschiedenen partizipierenden Behörden zu koordinieren. Dieses Vorgehen erwies sich anfangs als erfolgreich. Im weiteren Verlauf stellten sich die unklare rechtliche Stellung der Landeskommissionen gegenüber der Militärverwaltung und ihre unsichere finanzielle Ausstattung als hinderlich für die Koordination der Re-Integrationsmaßnah1 Hsia, Who Provided Care for Wounded and Disabled Soldiers?, S. 327–328.

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men heraus. In den letzten beiden Kriegsjahren geriet die rein normensetzende Rolle des Staates daher in die Kritik sowohl der Landeskommissionen als auch der Regierung. Die Beamten des Ministeriums für soziale Fürsorge planten eine staatliche Sozialverwaltung für Kriegsversehrte, und so gewann der imperiale Staat gegen Ende des Krieges erneut an Bedeutung. Mit ihrem Ziel, den Zentralstaat auch in kleinräumige soziale Verhältnisse hineinzutragen, knüpften die Beamten an die Reformdebatten der Jahrhundertwende an. Dieses Unterfangen konnte durch den Zerfall der Monarchie nicht mehr vollständig umgesetzt werden, die Nachfolgestaaten griffen es jedoch auf. Die zweite Eigendynamik des Krieges betraf den Stellenwert der Arbeit in den Re-Integrationsmaßnahmen, der zu Konflikten zwischen Experten und Kriegsversehrten führte. Zu Anfang des Krieges standen drei miteinander verschränkte Dimensionen im Vordergrund: erstens die makroökonomische Überlegung, dass Kriegsversehrte für die Volkswirtschaft in der imaginierten Zukunft nach dem Krieg als Arbeitskräfte dringend benötigt würden, zweitens die geschlechtlich verfasste Rolle des Mannes als Familienernährer, um seine Familie vor der Armut oder dem sozialen Abstieg zu bewahren, und drittens Arbeit als den Charakter der Betroffenen erhaltende Tätigkeit gegenüber der moralischen ›Gefahr‹ der Armenfürsorge. Im Verlauf der Durchführung der Re-Integrationsmaßnahmen gewann hingegen die betriebswirtschaftliche Ebene zunehmend an Bedeutung. Als Bindeglied zwischen individueller Arbeitstätigkeit und makroökonomischer Entwicklung mussten sich die Re-Integrationsmaßnahmen gerade auf der Ebene des einzelnen Unternehmens als wirksam beweisen. Die hochgesteckten Ansprüche, die ›Leistungsfähigkeit‹ der Kriegsversehrten durch medizinische Behandlung, berufliche Ausbildung und gezielte Arbeitsvermittlung wiederherstellen zu können, erwiesen sich jedoch als überzogen. Während Unternehmer und Unternehmerinnen sich über die fehlende ›Leistungsfähigkeit‹ der Kriegsversehrten beklagten, standen Kriegsversehrte vor dem Problem vergeblicher Arbeitssuche, was die den Re-Integrationsmaßnahmen zugrundeliegende Verflechtung ihres moralischen und ökonomischen Wertes und damit ihre Legitimität untergrub. Es war daher die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit, die im Zentrum der Konflikte zwischen verletzten sowie erkrankten Soldaten und Experten stand. Die bisherige Forschung hat die Bedeutung der Unfall- und Krankenversicherung für die Herausbildung eines medikalisierten und arbeitszentrierten Verständnisses von Behinderung betont. Allerdings muss dies zum einen für das Konzept der Re-Integration, welches der Fürsorge für Kriegsversehrte zugrunde lag, differenziert werden. Da die cisleithanische Unfallversicherung die Heilbehandlung nicht umfasste, setzten sich rehabilitative Verfahren nur auf Initiativen ›von unten‹ durch, dazu zählten private Kliniken, ärztliche Gutachten und Schiedsgerichtsurteile. Die Einbindung cisleithanischer Mediziner in transnationale Prozesse des Austauschs, insbesondere mit der deutschen Versicherungsmedizin, beförderte diese Initiativen. Das Modell für den Umgang mit Kriegsversehrten lieferte jedoch nicht allein die Versicherungsmedizin, sondern die Verknüpfung 296

orthopädischer Behandlung mit Erziehung und beruflicher Ausbildung in der Fürsorge für Kinder mit körperlichen Behinderungen. Hier spielten transnational zirkulierende Modelle der Kinderfürsorge ebenso eine Rolle wie die Konkurrenzsituation zwischen deutschen und tschechischen nationalistischen Bewegungen in Böhmen, welche die Etablierung von Fürsorgeeinrichtungen für körperbehinderte Kinder dort im Vergleich zum übrigen Cisleithanien besonders vorantrieb. Die Akteure dieser Fürsorge legitimierten sie, indem sie ihre nationale, ökonomische und moralische Bedeutung eng miteinander verknüpften. Die Verflechtung prägte auch die Re-Integrationsmaßnahmen für Kriegsversehrte. Durch die Auseinandersetzungen zwischen kriegsversehrten Soldaten und Experten erhielt die Verbindung moralischer und ökonomischer Werte während des Krieges jedoch eine neue Dynamik. Sie fand bisher allerdings kaum Beachtung, da sich die Forschung auf die politisch-organisatorische Transformation der Re-Integrationsmaßnahmen durch ihre Eingliederung in die staatliche Verwaltung 1917/1918 konzentrierte. Moralisierung erhielt eine andere Funktion: Zunächst diente Moralisierung der Diskreditierung der Forderungen von Kriegsversehrten, welche den Zielvorstellungen der Re-Integrationsmaßnahmen zuwiderliefen, indem Experten die Betroffenen als ›arbeitsscheu‹ bezeichneten. Die Moralisierung dieser Konflikte wandelte sich jedoch 1915/1916 hin zu einer Emotionalisierung, da Mediziner und Fachleute sie als Ausdruck eines mangelnden Selbstvertrauens der Kriegsversehrten interpretierten, das aus ihrem Selbstverständnis als ›arbeitsunfähig‹ resultiere. Mediziner und gewerbliche Fachleute setzten daraufhin einen Wandel im therapeutischen Instrumentarium durch. Arbeit als Therapie sollte etablierte rehabilitative Praktiken wie Gymnastik ergänzen oder sogar ersetzen, da man der Arbeit als körperlicher Tätigkeit zuschrieb, Prozesse der Selbsterkenntnis und Selbstüberzeugung auszulösen, indem sie es den Kriegsversehrten ermögliche, sich als arbeitsfähig zu erfahren. Die Auseinandersetzungen mit den Betroffenen führten so zu einer Verschiebung sowohl im Problemverständnis von Kriegsversehrung als auch in therapeutischen Praktiken, die stärker auf das Regulierungspotenzial von Emotionen ausgerichtet waren.2 Schließlich betraf die dritte Eigendynamik des Krieges den Wandel in Selbsterzählungen Kriegsversehrter in Bittschriften an Behörden. Auch in diesen verbanden sich moralische und ökonomische Dimensionen im Begriff der Arbeit. Trotz einer stark auf Opferbereitschaft ausgerichteten Kriegspropaganda geschah dies zunächst jedoch nicht durch das Motiv des Opfers, sondern in der Art der Anstellung, die sie anstrebten: Positionen im öffentlichen Dienst. Kriegsversehrte präsentierten sich vor allem als Bürger, nicht allein als Soldaten oder ›Invalide‹. Der Kriegsdienst als Pflichterfüllung stellte demzufolge nur eine Dimension männlichen bürgerlichen Lebens dar, eine ebenso große Rolle spielten jedoch Arbeitstätigkeit und Familie. Mit dieser Verknüpfung militärischer und ziviler Rollen griffen die Schreiber das Vokabular und die Zielsetzungen der 2 Collin u. a., S. 7.

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Re-Integrationsmaßnahmen auf. Sie deuteten diese jedoch um und ergänzten sie zudem durch Alltagswissen über den Umgang mit Menschen mit Behinderungen vor dem Krieg und / oder ihrer Arbeitssuche als Kriegsversehrte. In der Forderung nach Anstellung im öffentlichen Dienst verbanden sich so soziale Absicherung, Vorstellungen von ›Leistungsfähigkeit‹ und Erwartungen an den Staat. Der Wandel in den Selbsterzählungen in den letzten beiden Kriegsjahren signalisierte daher auch ein sich veränderndes Verhältnis zum Staat. Das Auftauchen des Opfermotivs kann jedoch nicht auf eine Abkehr vom imperialen Staat reduziert werden, wie sie in der Zwischenkriegszeit propagiert wurde. Zwar spielten die Enttäuschung über die unzureichende staatliche Hilfe angesichts der schlechten Versorgungslage und der Fragilität des Versprechens der Re-Integrationsmaßnahmen, wieder Arbeit zu bekommen, eine Rolle. Daneben war jedoch das Aufkommen der ersten, oft national verfassten Interessensvertretungen der Kriegsversehrten ebenso von Bedeutung. Sie bedienten sich der Doppeldeutigkeit des Opfermotivs als Opfergabe und Opfersein, um die vielfältigen individuellen Erfahrungen der Kriegsversehrten während des Kriegsdienstes und danach in eine kollektive Identität zu übersetzen. Eine solche Mobilisierung von Kriegsversehrten war jedoch wiederum darauf ausgerichtet, die Bedeutung dieser Organisationen gegenüber dem imperialen Staat hervorzukehren. Imperiale und nationale Bezugspunkte blieben damit bis zum Ende des Krieges von Bedeutung. Das zentripedale Potenzial von Sozialpolitik konnte jedoch andere Problemlagen nicht mehr einhegen. Die kontrafaktische Frage, ob ein früherer Ausbau der Sozialversicherung entscheidend zur Stabilität Cisleithaniens beigetragen hätte, muss offen bleiben. Das Fehlen einer solchen sozialpolitischen Expansion kann jedoch nicht auf Stagnation oder imperiale Rückständigkeit zurückgeführt werden.

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RGBl. 142/1867, Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867 über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder. RGBl. 60/1872, Gesetz vom 19. April 1872 über die Verleihung von Anstellungen an ausgediente Unterofficiere. RGBl. 158/1875, Gesetz vom 27. Dezember 1875 betreffend die Militärversorgung der Personen des k. k. Heeres, der k. k. Kriegsmarine und der k. k. Landwehr. RGBl. 151/1868, Gesetz vom 5. Dezember 1868, womit für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder die Art und Weise der Erfüllung der Wehrpflicht geregelt wird. RGBl. 70/1880, Gesetz vom 13. Juni 1880 betreffend die Militärtaxe, den Militärtaxfond und die Unterstützung der hilfsbedürftigen Familien von Mobilisierten. RGBl. 76/1882, Gesetz vom 10. Juni 1882 betreffend die Unterstützung von hilfsbedürftigen Witwen und Waisen der anläßlich der Unruhen in Süddalmatien und im Occupationsgebiete gefallenen oder in Folge von Verwundungen oder von Kriegsstrapazen gestorbenen Militärpersonen. RGBl. 1/1888, Gesetz vom 28. Dezember 1887, betreffend die Unfallversicherung der Arbeiter. RGBl. 33/1888, Gesetz vom 30. März 1888, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter. RGBl. 227/1908 Kundmachung des Ministeriums des Innern über die territoriale Abgrenzung und die Bestimmung der Sitze der in Gemäßheit des § 53 des Gesetzes vom 16. Dezember 1906, R. G. Bl. Nr. 1 ex 1907, betreffend die Pensionsversicherung der in privaten Diensten und einiger in öffentlichen Diensten Angestellten, zu errichtenden Landesstellen der Pensionsanstalt. RGBl. 15/1914 Gesetz vom 25. Januar 1914 betreffend das Dienstverhältnis der Staatsbeamten und der Staatsdienerschaft (Dienstpragmatik). RGBl. 260/1915 Kaiserliche Verordnung vom 29. August 1915 betreffend die ärztliche Nachbehandlung und praktische Schulung der kranken oder verwundeten Militärpersonen. RGBl. 261/1915 Verordnung des Ministers des Innern im Einvernehmen mit den beteiligten Ministern vom 6. September 1915, betreffend die ärztliche Nachbehandlung und praktische Schulung der verwundeten oder gelähmten Militärpersonen, in: Mitteilungen des k. k. Ministerium des Inneren über Fürsorge für Kriegsbeschädigte 3 (September 1915), 32–33. RGBl. 364/1915 Kaiserliche Verordnung vom 7. Dezember 1915 mit der aus Anlaß des gegenwärtigen Krieges Ausnahmsbestimmungen zur Erleichterung des Antritts und der Fortführung von Gewerben getroffen werden. RGBl. 337/1917, Verordnung des Ministeriums für Landesverteidigung im Einvernehmen mit den beteiligten Zentralstellen vom 10. August 1917 zur Durchführung des Gesetzes vom 27. Juli 1917, RGBl. Nr. 313, betreffend die Neuregelung des Unterhaltsbeitrages für die Dauer des gegenwärtigen Krieges. Standes- und Gebührenbehandlung der der Nachbehandlung (Nachheilung und Schulung) zuzuführenden Kriegsbeschädigten, Erlaß des Kriegsministeriums vom 18. August 1915, Abt. 11, Nr. 29600, in: Mitteilungen des k. k. Ministerium des Inneren über Fürsorge für Kriegsbeschädigte 2 (1915), S. 15–19. Strafgesetz über Verbrechen, Vergehen und Uebertretungen, in: Allgemeines ReichsGesetz- und Regierungsblatt 117/1852 Kaiserliches Patent vom 27. Mai 1852, wo-

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durch eine neue, durch die späteren Gesetze ergänzte, Ausgabe des Strafgesetzbuches über Verbrechen und schwere Polizeiübertretungen vom 3. September 1803, mit Aufnahme mehrerer neuer Bestimmungen, als alleiniges Strafgesetz über Verbrechen, Vergehen und Uebertretungen für den ganzen Umfang des Reiches, mit Ausnahme der Militärgränze, kundgemacht und vom 1. September 1852 an in Wirksamkeit gesetzt wird. Superarbitrierungsvorschrift für die Personen des k. u. k. Heeres vom Jahre 1885. Neu durchgesehen bis Ende Januar 1917, Wien 1917. Weisungen an alle Militärkommanden betreffend die unter Mitwirkung der Zivilstaatsverwaltung, beziehungsweise der Fürsorgeaktionen, durchzuführende Nachbehandlung von Kriegsbeschädigten. Erlaß des Kriegsministers vom 8. Juni 1915 an die Militärkommanden, in: Mitteilungen des k.  k. Ministerium des Inneren über Fürsorge für Kriegsbeschädigte 1 (1915), S. 8–11. Zirkularverordnung vom 12. Juli 1913, Abt. 15, Nr. 571, in: Verordnungsblatt für das k. u. k. Heer 55 (1913), 1. bis 62. Stück, S. 131–134.

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Personen-, Orts- und Sachregister

Alter – Kriegsversehrte  233–235 – sozialpolitisches Problem  104, 109–111 Alters- und Invaliditätsversicherung  23, 27, 59, 102, 116, 118, 291 – Staatszuschuss  102–105, 110 f. Anstalten – Heilanstalten der Sozialversicherungs­träger  119 f. – Invalidenhaus  16, 48 f., 171, 192, 276 f., 279 – Invalidenschulen 169, 172, 244 f., 251 f., 256, 261–264 – Kinderheime  125–130, 132–137, 250 – Reservespital Nr. 11  212, 222 f., 228, 230, 254, 259, 262 f. Arbeit 27–29, 211, 213–215, 217 f., 245, 254 f., 258 f., 296–298 – angemessene  36, 219–242 – Arbeitsfreude  28 f., 124, 136 f., 211, 244 f., 256 f., 262–264 – Arbeitstherapie  121–125, 252–257, 261, 266 – Arbeitsunfähigkeit  32, 118–121, 148–153, 244 f. – Arbeitsvermittlung  19 f., 41–45, 95–98, 141, 167, 170, 196, 198 f., 202 f., 208 f., 214–219, 225, 241–244, 249, 261, 294–296 – Berufsunfähigkeit  148–153, 157, 159 f., 244 f. – Leistung  27 f., 117, 211–214, 219, 222, 256, 259–264, 296–298 Ausgleich – Böhmen  101, 107, 114, 200 – Mähren  100 f., 107, 131 – Österreich-Ungarn  17 f., 39 f., 54–56, 60, 72 f., 80, 92, 274 f., 292

Ausstellung der gewerblichen Kriegs­ invalidenschulen  257 f. Badeni, Kasimir Felix v.  91 f. – Badenische Sprachenverordnung  55, 91 f. Bakule, František  133, 136, 265 Beck, Max Wladimir v.  55, 108 f., 112 f. Behandlung  16, 27–29, 116–137, 141–143, 155 f., 163, 167–171, 180 f., 183 f., 186, 189–195, 211–220, 246–257, 267, 294–297 Belgien  15 f., 75, 109 Berlin  128 f., 136 Biesalski, Konrad  126–130, 133 f., 136, 249 f., 265 Böhmen  19, 31, 66 f., 71–73, 83, 88, 91 f., 95, 100 f., 107, 119, 126, 130–137, 141, 166, 168, 186–210, 220–223, ­228–231, 238–240, 245, 256, 258 f., 282, ­284–290, 295, 297 Briefratgeber (s. a. Selbstzeugnisse) ​ 204, 225–229 Bruderladen  68, 73–85 – Reform  80, 85 f. Bukowina  19, 67, 88, 101, 144–146, 165 Bum, Anton  121–124, 212, 215, 252 Burkard, Otto  124, 219, 256 Conrad v. Hötzendorf, Franz  41, 61 Deutschland  21–23, 27, 40 f., 63, 66, 70, 72, 75 f., 78 f., 82, 95, 106 f., 109 f., ­116–121, 126–130, 132, 139, 155, 213, 269–271, 289, 292 Diskrete Anpassung  14, 24, 35, 39, 45, 58, 64, 87, 98 f., 103, 115, 141, 147, 152, 154, 242, 271, 294

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Dynamik  13 f., 20, 23 f., 26, 35 f., 39, 87 f., 90, 98, 105 f., 109, 112, 115 f., 125, 142, 147, 173, 177, 181, 187, 195, 291, 293, 297 Eger, Karl  191, 194, 197–210, 243, 247 f., 250 f., 260, 266 Erwerbsunfähigkeit  117–123, 148–153 Exner, Sigmund  122 f. Ferenczi, Emerich (Imre)  213–215, 217, 227, 241, 246 f., 262, 264, 269 Föderalismus  12 f., 15, 19, 24, 82, 84, 86 f., 93, 99–102, 141 f., 163–172, 207 f., 293–295 Frankreich  22, 40 f., 110, 292 Franz Ferdinand  39, 55, 112 f. Franz Joseph I.  17, 39, 55 f., 58, 74, 93, 105, 114, 139, 187, 200, 224 f., 258, 277 Frauen  50 f., 69–71, 78, 89, 108 f., 124, 146, 152, 164, 235, 237 f., 241, 268 f., 273, 280–282 Galizien  48, 67, 73, 88, 101, 107, ­144–146, 149, 165, 258 f., 274, 276 Gewerbeinspektion  80 Gewerbeordnung 68, 74, 85 Goldscheider, Alfred  123 Gottstein, Josef  133 f. Governance – Konzept  12 f., 20, 23 f. – Sozialpolitisches Governance-Modell  76, 83–87, 90, 93 f., ­96–98, 102 f., 105, 107, 114 f., 141 f., 163–165, 168, 173, 195 f., 207–210, 293–295 Graz  92, 96, 119 f., 129 f., 219 Großbritannien 15, 66, 109, 129, 292 Haftpflicht 65, 74–76 – Eisenbahnen  71–73 Handelsministerium 44, 77, 80, 96–98, 108, 111, 208, 228, 259 f., 294 – Arbeitsstatistisches Amt  44, 96, 108, 208 Heilverfahren  27, 35, 117–125 – Gymnastik  121 f., 134, 252–254, 297

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– mediko-mechanische Therapie ​ 122 f., 168 Heinold v. Udyński, Karl  163–166, 168, 197, 215, 241 Herkner, Heinrich  211 Herz, Max  122–124, 252 Hohenlohe-Schillingsfürst, Konrad zu ​ 98, 103, 241 Industrialisierung 65–67 Innenministerium  31, 69, 77, 79 f., 83 f., 90 f., 96, 103, 119, 144–146, 1­ 63–172, 174 f., 179, 196–198, 205, 208, ­215–220, 227, 241, 280, 288 f. – Versicherungsbeirat  83 f. – Versicherungstechnisches Bureau  69 Innsbruck  45, 107, 194 f., 281 Internationale Kongresse  65–67, 70, 91, 130 Jedlička, Rudolf  132–134, 265 f. Kaan, Julius  79 f., 89 Kaiser und König Karl-Kriegsfürsorgefonds  150–151, 162, 223 Karl I.  139, 224 f., 237 Kärnten  119, 258, 263 f. Kinder mit körperlichen Behinde­ rungen  15, 20 f., 27, 32, 35, 116, ­125–137, 250, 254, 297 Koerber, Ernest v.  55, 92–95, 98 f., 103, 106–108, 111, 113, 208 Königinhof an der Elbe/Dvůr Králové ​ 186–189 Konkurrenz  20, 25 f., 111, 130, 196, 212, 264, 266, 273, 297 Kontinuität  12–15, 19, 23 f., 39, 58, 63 f., 87 f., 90, 98, 105 f., 114–116, 147, 150, 291, 293 f. Krankenkassen  85–87, 89, 106, 111, 118 f., 121, 167 f., 183, 289 – Genossenschaftskrankenkassen  68, 74, 85 f., 121 Krankenversicherung  20, 32, 34, 65, 70, 73–75, 84–88, 98, 104, 106 f., 116–119, 121, 125, 141, 148, 169, 183 f., 208, 211, 233, 291–293, 296

– Enquete zur Reform  90 – finanzielle Schwierigkeiten  90 – Gesetzgebung 84–88 Krankheit  16, 32, 48, 53, 68, 70, 73, 85, 116–119, 124, 128, 139 f., 154–161, 175, 181–184, 211, 217, 244 Kraus, Siegfried  213–215 Kriegsversehrtenvereine  15, 31, ­284–290 Kypr, Ondřej  284–288 Laehr, Max  125 Landeskommissionen zur Fürsorge für heimkehrende Krieger  141, 164–173, 176–178, 181, 190 f., 196, 198 f., 201, 204, 207–209, 220, 223, 243, 246, 263 f., 266 f., 288, 295 f. – Gründung  141, 164–166 – Landeszentrale zur Fürsorge für heimkehrende Krieger (Böhmen) ​ 152, 166, 190 f., 194–198, 201 f., ­204–206, 221–223, 244, 255, 285, 288 – Verhältnis zur Militärverwaltung (s.a. Militärverwaltung)  141, 166, 170–173, 177, 181, 186, 189–191, 196 f., 201–206, 209, 295 Leitmeritz / Litoměřice (s. Militär­ kommando Leitmeritz/Litoměřice) Leppin, Bernhard  288 Linz  75, 92, 168 Mähren  66 f., 88, 91, 95, 100, 107, 130, 132, 168, 233, 238, 258 f., 272, 285, 287 Männlichkeit  109, 152, 190, 234, 236 f., 250, 255, 258, 280, 296 Marchet, Gustav  131, 217, 264 Masaryk, Tomáš Garrigue  135 Militärinvalide  46–51, 58 f., 140, ­143–147, 152, 174, 179, 181, 188 – Definition  45–47, 142 f. – Kriegsbeschädigte  143, 174 f. Militärkommando (Territorial­ kommando) 25, 44, 146, 159 f., 166, 170, 176, 181 f., 184, 187, 191, 242, 268, 279 – Innsbruck  194 f.

– Leitmeritz / Litoměřice  31, 158, 160, 164, 177, 179 f., 188, 191, 193 f., ­196–198, 201, 203–207, 243, 288, 295 Militärversorgung (-sgesetz)  15, 18, 20, 23 f., 34 f., 37, 39–42, 45–54, 63, 141 f., 145–150, 153 f., 156, 160 f., 163, 177, 181, 275–283, 291–294 – Personalzulage  47, 49 f., 60, 62, 149, 154–159, 275 – Reform  34, 39, 41, 44, 47, 50, 52–54, 56–60, 62–64, 141, 144, 146 f., 150, 291–293 – Unterhaltsbeitrag  50 f., 149, 151–153, 172, 231, 237, 282 – Unterhaltsbeitragskommissionen ​ 51 f., 153 – Verwundungszulage  47 f., 154 f., 177 f. – Witwen- und Waisen  50 – Zertifikatisten (-gesetz)  42–44, 227 f. Militärverwaltung  15, 20, 24–26, 31, 39–41, 44 f., 51, 53, 57, 61 f., 64, 140–143, 146 f., 149–151, 153, 155, 158, 160, 163, 170–185, 189–197, 209, 276, 295 Ministerium für soziale Fürsorge  31, 33, 139, 152, 206–210, 263, 267–269, 276, 295 f. Mischler, Ernst  44, 96 f. Moralische Ökonomie  15, 21, 27 f., 134 f., 216–223, 232, 241, 244 f., 257, 261, 264, 266, 296 f. Nation – Nationalbewegungen  40, 55 f., 72 f., 104, 106, 112 f., 135, 197, 200, 258, 284–289 – Nationale Indifferenz  126, 130 f., 239 f. – Nationalisierung  11 f., 15–21, 91 f., 100 f., 107 f., 113, 126, ­130–132, ­134–136, 1­ 87–189, 197, 200 f., ­205–207, 238–240, 246, 295 – Zugehörigkeit  22, 82, 91, 99–102, 126, 131, 164, 172 f., 201, 207, 209, ­238–240, 280 f., 293, 297

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Nerven  123, 127, 155 f., 161, 252 f. Neurose  155–157, 244, 246 – Traumatische Neurose  155 Niederösterreich 44, 66, 83, 117, 119, 125, 166, 181, 223, 235, 242 f., 253, 259, 277, 279, 281 Obecní dům  284 f. Oberösterreich  66, 171 f., 208, 259 Opfer  15, 29 f., 35 f., 213, 237, ­279–284, 286, 288–290, 297 f. Orthopädie  120, 125–135, 167–169, 220, 296 f. Peerz, Rudolf  217 Prag / Praha  31 f., 44, 48, 83, 92, 95, 136, 159, 165, 169, 186, 191 f., 197, 203, 229, 250, 255, 276, 279, 285 f. Programm für die Reform und den Ausbau der Arbeiterversicherung ​ 93 f., 106–108, 208 Psychopathische Konstitution  156–160 Rehabilitation 21, 27 f., 35, 116 f., ­119–130, 133 f., 136 f., 142 f., 163, 168, 195, 211–218, 252–257, 296 f. Reichenberg / Liberec  133 f., 205 f., 232, 252, 256, 268, 287 Reichsrat  18, 30, 60, 73 f., 76–78, 83, 98, 107, 112–114, 151 f., 293 Re-Integration  13–15, 18, 21 f., ­25–29, 31 f., 44 f., 76, 116 f., 124, 137, ­140–143, 147–149, 151, 163 f., 166 f., 169 f., ­172–185, 187 f., 190, 194 f., 197–204, 207–219, 222–225, 228–235, 241–246, 249–260, 263–269, 272 f., 291, 294–298 Rentenversicherung für Angestellte  87, 89, 94 f., 98–105, 108, 172 – Staatszuschuss  94, 98, 102–105 Schönaich, Franz Xaver v.  53, 55 f., 58 f., 61 f. Selbstvertrauen  28, 123, 125, 135 f., 246, 248, 297 Selbstzeugnisse  29 f., 32–34 – Rhetorik  142, 181–184, 225–229, ­235–237, 241, 277 f., 282, 284

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– Schreiben Kriegsversehrter  15, 161 f., 177–183, 224–242, 272 f., 277 f., 282–284 Smíchov  186 Soziale Frage  67 f. Spitzy, Hans  129 f., 212, 215, 252, 254 f., 262, 265 f. Staatliche Unterstützung  149 f., 172, 275 Steiermark  44, 66, 96, 119, 168, 246, 281 Steinbach, Emil  76–80, 83 Sternberg, Maximilian  121, 124 Stubenrauch, Moritz v.  65, 68 Stürgkh, Karl v.  63 f., 113 f., 139 f., 146, 163 f., 215 Tauglichkeit  25–27, 35, 45–47, 51, 143, 147–149, 161, 173, 176 f., 181, 185 f., 189–195, 209, 220, 236 f., 277, 294 Teleky, Ludwig  121, 124 Tirol  107, 259, 279, 281 Tisza, István  63 f., 146 Unfall  68, 70–74, 80 f., 88, 90, 111, 117 f., 128 Unfallversicherung  19 f., 24, 27, 32, 54, 63, 65, 70–88, 9­ 8–100, 102–108, 111, 116–121, 125, 148, 167–169, 208, 213 f., 232 f., 291–296 – Ausdehnung  88 – Enquete zur Reform  90 – finanzielle Schwierigkeiten  89 f., 125, 293 – Frauen  88 f. – Staatszuschuss  78 f., 81, 86 f., 90, 94, 141 – Unfallversicherungsanstalten 76–79, 81–87, 99, 117, 168 f. Unterstützungsvereine, -kassen  69, 72–74 Verflechtung  11 f., 18, 21, 26, 65, 67, 70, 74 f., 80, 99, 127, 196, 207, 296 f. Verletzung  16, 26, 29, 47 f., 116–118, 139, 154 f., 157 f., 162, 175, 211–213, 215–217, 222, 230–233, 236 f., 241, 244, 273, 283

Versorgungskrise  207, 222, 274–276, 280–283, 289 Vertrauen 197–204, 207–209, 237, ­246–249, 281 Verwaltungsreform  93 f., 153, 208 Wehrpflicht  20 f., 39–46, 53, 63, 291 Weiblichkeit  89, 108 f., 152, 164, 237 f., 268 f., 280

Wien  17, 46, 48, 68, 74, 83, 92, 98 f., 106, 122 f., 125, 130, 144, 149, 164, 166, 181 f., 184, 192, 196, 198, 206 f., 223, 231, 242 f., 249, 257, 259, 263, 266, 268 f., 2­ 74–276, 278 f., 281, 284 Wille  122 f., 126, 156, 162, 248 f., 252 Wolf, Josef v.  102 f., 166 Würtz, Hans  128, 135 f., 250, 265 Zander, Jonas Gustaf Vilhelm  121 f.

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