Soziale Schäden, soziale Kosten und soziale Sicherung: Argumente für ein Modell zur Integration aller Ausgleichsleistungen für Personenschäden in das soziale Sicherungssystem 3428027353, 9783428027354


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German Pages 282 [283] Year 1972

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Soziale Schäden, soziale Kosten und soziale Sicherung: Argumente für ein Modell zur Integration aller Ausgleichsleistungen für Personenschäden in das soziale Sicherungssystem
 3428027353, 9783428027354

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DIETER SCHiUER

Soziale Schäden, soziale Kosten und soziale Sicherung

Sozialpolitische Schriften Heft 29

Soziale Schäden soziale Kosten und soziale Sicherung Argumente für ein Modell zur Integration aller Ausgleichsleistungen für Personenschäden in das soziale Sicherungssystem

Von

Dr. Dieter Schäfer

DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Frankfurt am Main gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Alle Rechte vorbehalten & Humblot, Berlln 41 Gedruckt 1972 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany

© 1972 Duncker

ISBN 3 428 02735 3

Inhaltsverzeichnis Erstes Kapitel

Der Zusammenhang des Schadensausgleichs mit der sozialen Sicherung (Einleitung)

13

1.1. Die mangelhafte Koordination sozialer Sicherungsleistungen mit Restitutionsleistungen ............................................. 13 1.1.1. Entschädigungsleistungen als Bestandteil des S'ozialleistungs.systems..................................................... 13 1.1.2. Die Notwendigkeit einer umfassenden Problemdefinition ..... 15 1.2. Das Arbeitsprogramm ............................................ 18 Zweites Kapitel

Die Restitutionsleistungen in der sozialpolitischen Diskussion (Literatur) 2.1. Von der Arbeiterfrage ausgehende Sozialpolitiker ................. 2.1.1. Heyde und Preller S.21 - 2.1.2. Albrecht S.22 - 2.1.3. Weddigen S.23 2.2. Von der Einkommensverteilung ausgehende Sozialpolitiker ......... 2.2.1. v. Bethusy-Huc S. 24 - 2.2.2. Rothenfelser Denkschrift S. 24 2.2.3. Achinger S. 26 - 2.2.4. Schreiber S. 27 - 2.2.5. Burghardt S. 28 - 2.2.6. Liefmann-Keil S. 29 2.3. Vom Rechtsgrund ausgehende Sozialpoutiker ......... . . . . . . . . . . . . .. 2.3.1. Bogs und Rohwer-Kahlmann S. 30 - 2.3.2. Auerbach und Hoernigk S. 31 - 2.3.3. Gitter S. 32 - 2.3.4. Verstärkung des Schadensersatzprinzips im Sozialrecht S. 33 2.4. Ansätze zu umfassenden und integrativen Lösungen ................ 2.4.1. Öffentliche und private Restitution S. 34 - 2.4.2. Sozialenquete S. 35 - 2.4.3. TItmuss S. 36 - 2.4.4. Esser S. 37 - 2.4.5. v. Hippei S. 38

21 21 24

30

34

Drittes Kapitel

Die expansive Entwicklung der Restitutionsleistungen (Rechtslage und Problematik)

39

3.1. Kriegsfolgeleistungen ............................................. 39 3.1.1. Der q.1:1anti~tive u~d sachliche Umfang der Restitutionsleistungen für Knegsschaden ...................................... 39 3.1.1.1. Die Entwicklung der Ausgaben S. 39 - 3.1.1.2. Die Entwicklung der Gesetzgebung S.40

6

Inhaltsverzeichnis 3.1.2. Das Restitutionsdenken im Kriegsschädenrecht ............... 44 3.1.2.1. Phasen des Wachstums der Entschädigungsanspriiche S. 44 - 3.1.2.2. Der Kompromißcharakter der Kriegsfolgenentschädigung S. 47 - 3.1.2.3. Der restaurative Charakter der Entschädigungsideologien S. 48

3.2. Restitutionsleistungen in der Sozialversicherung .................... 52 3.2.1. Die Rezeption des Restitutionsprinzips durch die Rentenversicherung ................................................... 52 3.2.1.1. Zwei Techniken S. 52 - 3.2.1.2. Fremdrentenrecht S. 52 - 3.2.1.3. Die Kombination von subsidiären Restitutionsleistungen mit restituierten Sicherungsleistungen S. 54 3.2.2. Schadensausgleich für Arbeitsunfälle ........................ 56 3.2.2.1. Doppelleistungen bei Arbeitsunfällen S. 56 - 3.2.2.2. Verallgemeinerungen der Unfallversiche.rung und Erweiterung des Unfallbegriffs S. 58 - 3.2.2.3. Kasuistische und legislatorische Weiterentwicklung S.62 3.3. Restitutionsleistungen von Unternehmen und Privatpersonen ...... 3.3.1. Gefährdungshaftung ........................................ 3.3.1.1. Der Ausnahmecharakter der Gefährdungshaftung S. 65 - 3.3.1.2. Die Entwicklung der Gefährdungshaftung nach dem Enumerationsprinzip S. 66 3.3.2. Verschuldenshaftung ........................................ 3.3.2.1. Dominanz des Deliktsgrundsatzes S. 69 - 3.3.2.2. Zunahme der Fallzahlen S. 70 - 3.3.2.3. Höhere Leistungen S. 71 3.3.2.4. Vermehrung der Haftungstatbestände S. 74 - 3.3.2.5. Erweite.rungen des Schuldvorwurfs S. 76 3.3.3. Verkehrssicherungspflichten ................................. 3.3.3.1. Verschärfung der Sorgfaltspflichten S.79 - 3.3.3.2. Ungenaue Maßstäbe S. 82 - 3.3.3.3. Offener Übergang zur Haftung ohne Verschulden S. 83 3.3.4. Haftung für erlaubte Schädi'gungen ..........................

65 65

69

79

84

3.4. Öffentliche Restitutionsleistungen .................................. 87 3.4.1. Zur Geschichte des Systems öffentlich-rechtlicher Ersatzleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 3.4.1.1. Klassifizierung öffentlicher Eingriffe und Fehlgriffe S. 87 - 3.4.1.2. Entschädigung bei Enteignung und enteignungsgleiehern Eingriff S.89 - 3.4.1.3. Aufopferungs-Entschädigung S. 91 - 3.4.1.4. Amtshaftung S.92 - 3.4.1.5. Zusammenfassung S. 93 3.4.2. Forderungen und Argumente zur Ausdehnung der öffentlichen Haftung .................................................... 94 3.4.2.1. Unb€S'chränkte Haftung für Schädigungen durch den Staat S. 94 - 3.4.2.2. Garantiehaftung für die erfolgreiche Erfüllung der öffentlichen Funktionen S. 96 3.5. Nachholbedarf bei Personenschäden ..................... ;......... 98 3.5.1. Überholte Maßstäbe für die Berechnung von Einkommensverlusten ...................................................... 99 3.5.1.1. Der Zukunftswert der Arbeitskraft S. 99 - 3.5.1.2. Höchstbeträge bei Gefährdungshaftung S. 101

Inhaltsverzeichnis

7

3.5.2. Personenschäden als Vermögensschäden ...................... 103 3.5.2.1. Der merkantile Schadensbegriff S. 103 - 3.5.2.2. Neuere Wertmaßstäbe S. 106 3.6. Schadensverteilung und Deckungsverfahren ........................ 107 3.6.1. casum sentit dominus S. lOB - 3.6.2. Die einzelnen Stadien der Entwicklung S.108 - 3.6.3. Staatliche Subventionierung S.113 - 3.6.4. Systematische Klassifikation S.114

Viertes Kapitel

Wirtschaftliche, technische und geistige Bedingungen der expansiven Tendenzen des Restitutionsprinzips (Hintergründe)

116

4.1. Wohlstandswachstum und Ersatzanspruche ........................ 4.1.1. Vermögensverluste .......................................... 4.1.2. Einkommensverluste ........................................ 4.1.2.1. Die Entwicklung der Löhne S. 120 - 4.1.2.2. Die Entwicklung der Sozialleistungen S. 123 - 4.1.2.3. Zusammenfas.sung S.124 4.2. Wissenschaftlicher Fortschritt und Kausalitätsnamweis ............. 4.2.1. Multikausalität ............................................. 4.2.2. Ökologische Gefahren ....................................... 4.2.2.1. Die kollektiven Folgen kollektiven Handeins S. 129 4.2.2.2. Die begrenzten Chancen der Prävention S. 131

117 117 120

4.3. Soziale Philosophie und öffentliche Verantwortung ................. 4.3.1. Rationalismus .............................................. 4.3.1.1. Wissenschaftsgläubigkeit S. 132 - 4.3.1.2. Die Wendung gegen. den Staat S. 135 4.3.2. Daseinsvorsorge ............................................. 4.3.2.1. Die Abhängigkeit von öffentlichen Vorkehrungen S.136 - 4.3.2.2. Der wachsende Schuldanteil des Staates S. 138 4.3.3. Schicksalsgleichheit ......................................... 4.3.3.1. Beispiele S. 139 - 4.3.3.2. Die Opfer des Fortschritts S. 141 - 4.3.3.3. Falsche Politik als Restitutionsgrund S. 144

132 132

125 126 129

136 139

Fünftes Kapitel

Die Integration aller Restitutionsleistungen für Personenschäden zu einem neuen Zweig des sozialen Sicherungssystems ~eformvorsCblag)

147

5.1. Die soziale Ignoranz des Schadensrechts ............................ 147 5.1.1. Die isolierte Parallelentwicklung von Schadensrecht und Sicherungsrecht .................................................. 148 5.1.1.1. Kumulationen S. 148 - 5.1.1.2. Fehlende Koordinierung S. 150 - 5.1.1.3. Differenzierungen und Lücken S. 152

8

Inhaltsverzeichnis

5.1.2. Die Einseitigkeit der Ableitung von Ausgleichsansprüchen aus personalen Zurechnungskriterien ............................ 5.1.2.1. Der eindimensionale Denkansatz S.152 - 5.1.2.2. Beweiserfordernisse S. 156 5.2. Prinzipien für die Konzeption einer sozialen Schadenverteilungsordnung .......................................................... 5.2.1. Repartition der gesamten gesellschaftlichen Schadenssumme .. 5.2.2. GleichbehandlWlg aller Geschädigten .................... , ... 5.2.2.1. Fehlende Begründung der Gegenposition S. 162 - 5.2.2.2. Der Schaden als LeistWlgsgrund S.166 5.2.3. Einstandspflicht für alle Risiken ............................ 5.2.4. Solidarität und individuelle Verantwortung .................. 5.2.4.1. Die Gefährdeten S. 170 - 5.2.4.2. Die Gefahrenstifter S.173 5.3. Grundkonzeption einer allgemeinen Volksversicherung gegen Personenschäden ....................................................... 5.3.1. Die konstitutiven Elemente .................................. 5.3.1.1. Analogie zur Unfallversicherung S. 175 - 5.3.1.2. Ausgleich durch Deckungsfonds S. 175 - 5.3.1.3. Ablösung aller kausal begründeten Leistungen 8.176 - 5.3.1.4. Neue Bundesanstalt S. 177 - 5.3.1.5. Kausale und akausale Finanzierung S. 178 - 5.3.1.6. Das LeistWlgsspektrurn S. 179 5.3.2. Koordinierungsalternativen .................................. 5.3.2.1. Ausschluß der Sicherungsleistungen durch Entschädigungsansprüche S. 179 - 5.3.2.2. Ergänzung der Sicherungsleistungen durch Entschädigungsansprüche S. 182 5.3.3. Die Aussonderung von Sach- und Vermögensschäden ........ 5.3.3.1. Keine Interferenzen mit der sozialen Sicherung S. 183 5.3.3.2. Besonderheiten der Sach- und Vermögensschäden S. 184

152

160 160 162 167 170

175 175

179

183

Sechstes Kapitel

Maßnahmen und Maßstäbe für die Behebung und Minderung von Personenscltäden (Leistungen) 6.1. Der Ausgleich von Integritätsverlusten ............................ 6.1.1. restitutio ad integrurn S. 186 - 6.1.2. Optimale Rehabilitation für alle S. 188 - 6.1.3. Htlfen bei Dauerschäden S. 190 6.2. Der Ausgleich von Verlusten der Leistungsfähigkeit ................ 6.2.1. Ersatz des Verdienstausfalls .................................. 6.2.1.1. Einkommensproportionalität S. 192 - 6.2.1.2. Beme&sungsgrenzen S.193 - 6.2.1.3. Verlorene Berufschancen S.194 - 6.2.1.4. Privater und sozialer Schadensersatz S. 196 6.2.2. Ersatz des Ausfalls naturaler Arbeitserträge ........... . . . . . ..

186 186 192 192

196

6.3. Der Ausgleich immaterieller Verluste .............................. 199 6.3.1. Begründung und Höhe von Schmerzensgeldern S. 199 - 6.3.2. Integritätsrenten für Kriegsopfer und Unfallverletzte S. 201

Inhaltsverzeichnis

9

Siebentes KapiteZ Die Zurechnung von Schadensfolgen (Finanzierung)

205

7.1. Beiträge der Versicherten ......................................... 7.1.1. Begründungen und Maßstäbe S. 205 - 7.1.2. Unsicherheiten der Aufwandsschätzung S. 206 7.2. Beiträge der potentiellen Schädiger ................................ 7.2.1. Die Deckungsfonds und ihre Gliederung nach homogenen Schädigungsursachen ........................................ 7.2.2. Die prophylaktische Funktion der Schadenszurechnung . . . . . . .. 7.2.2.1. Möglichkeit und Zumutbarkeit der Gefahrenabwehr S.211 - 7.2.2.2. Anreize und Anordnungen zur Schadensverhütung S. 213 7.2.3. Die Lenkungsfunktion der Schadenszurechnung .............. 7.2.3.1. Schadensdeckung als Kostenbestandteil S.215 - 7.2.3.2. Wirtschaftliche Grenzen der Belastbarkeit S. 21g

205

7.3. Der Anteil des Staates ............................................ 7.3.1. Subventionen S.222 - 7.3.2. Nicht spezifizierter Zuschuß S.223 - 7.3.3. Öffentliche Mitverantwortung S.224 - 7.3.4. Schädigungen durch öffentliche Tätigkeit S. 225 - 7.3.5. Fehlerhafte Erfüllung der Staatszwecke S. 226 7.4. Individuelle Haftung .............................................. 7.4.1. Haftpflicht als Bedürftigkeitsgrund .......................... 7.4.2. Verschulden, Sanktion und Prävention ...................... 7.4.2.1. bis in idem S. 230 - 7.4.2.2. Das pönale Monopol des Strafrechts S. 231 - 7.4.2.3. Strafen und Bußen als Finanzierungsbeitrag S. 233

222

207 207 211

215

227 227 230

Achtes KapiteZ Die Abstimmung des Reformmodells mit den anderen Zweigen des Sicherungssystems (Organisation) 8.1. Das Verhältnis zur Krankenversicherung .......................... 8.1.1. Volle Integration der Krankenversicherung .................. 8.1.2. Trennung von Einkommenssicherung und Behandlung ........ 8.1.3. Verlust des Arbeitsplatzes als Abgrenzungskriterium ......... 8.1.4. Dauer der Lohnfortzahlung als Abgrenzungskriterium ........ 8.1.4.1. Einkommenssicherung S. 241 - 8.1.4.2. Medizinische und rehabilitative Behandlung S. 242 - 8.1.4.3. Zusammenfassung S.244 8.1.5. Ausgleich der Belastungen ..................................

235 235 235 236 238 241

245

8.2. Die Überleitung bestehender Restitutions-Institute in Deckungsfonds der neuen Versicherung ........................................... 249 8.2.1. Heteronome BeitragsabteHungen S. 249 - 8.2.2. Halbautonome Sektionen S. 250 - 8.2.3. Selbständige Körperschaften S. 251 - 8.2.4. Deckungsfonds als Leistungsträger S. 252 8.3. Das Verhältnis zur Rentenversicherung ............................ 253

10

Inhaltsverzeichnis Neuntes Kapitel

Prämissen, Programme und Projekte (Leitsätze) 9.1. Zusanuneniassende Thesen ........................................ 9.2. Die Grundstruktur des Reformvorschlages ........................ 9.2.1. Leistungen .......................................... . . . . . .. 9.2.1.1. Bundesanstalt für Rehabilitation S.259 - 9.2.1.2. Das neue Leistungssystem S. 259 - 9.2.1.3. Aufhebung aller konkurrierenden Ansprüche S. 261 9.2.2. Finanzierung ............................................... 9.2.2.1. Beiträge der Versicherten S. 261 - 9.2.2.2. Beiträge der potentiellen Schädiger S. 262 - 9.2.2.3. Geldstrafen und Geldbußen S. 263 - 9.2.2.4. ÖffentlIche Mittel S. 263 9.3. Forschungsauigaben .............................................. 9.3.1. Der juristische Problemkreis S. 264 - 9.3.2. Aufgaben der Ursacheniorschung S. 266 - 9.3.3. Der finanzielle Problemkreis S. 268 9.3.4. Zur Rea1isierbarkeit des Modells S. 270

Literaturverzeichnls

255 255 259 259

261

264

271

Abkürzungsverzeichnis AMG AVG M. BAA BGB BGBl. BGH BSHG BVG FAZ HdStW HdSW i. d. F. LA LAG MdE RGBL RKG RVO StGB Tz. WiGBl.

WiSta

Arzneimittelgesetz Angestelltenversicherungsgesetz Aktenzeichen Bundesausgleichsamt Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Bundessozialhilfegesetz Bundesversorgungsgesetz Frankfurter Allgemeine Zeitung Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 4. Aufl., 9 Bde., Jena 1923-1929 Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, 12 Bde., Stuttgart, Tübingen, Göttingen 1956-1965 in der Fassung Lastenausgleich Lastenausgleichsgesetz Minderung der Erwerbsfähigkeit Reichsgesetzblatt Reichsknappschaftsgesetz Reichsversicherungsordnung Strafgesetzbuch Textziffer (Randnummer) Gesetzblatt der Verwaltung des Vereinigten Wirtschaftsgebietes Wirtschaft und Statistik

Zitierweise Wenn aus Literatur zitiert wird, die in das Verzeichnis am Schluß der Arbeit aufgenommen worden ist, sind in den fußnoten alle bibliographischen Angaben weggelassen und jeweils nur der Autorenname, der Titel des Buches oder Artikels und die Seitenzahl vermerkt worden. Für häufig zitierte Werke wird dabei ein Kurztitel verwendet, der im Literaturverzeichnis besonders angegeben ist. Gesetze sind, soweit nicht etwas anderes vermerkt ist, in der Fassung zitiert, die bei Abschluß des Manuskripts galt, das heißt Ende Januar 1971.

Erstes Kapitel

Der Zusammenhang des Schadensausgleichs mit der sozialen Sicherung (Einleitung) 1.1. Die mangelhafte Koordination sozialer Sicherungsleistungen mit Restitutionsleistungen 1.1.1. Entscbädigungsleistungen als Bestandteil des Sozialleistungssystems

Die theoretischen Begründungen für Leistungen der sozialen Sicherung lassen sich - zwar formelhaft, aber ohne sie durch Vereinfachung zu verfälschen - dahin zusammenfassen, daß es stets um die Deckung 1. des normalen laufenden Lebensunterhaltes und/oder

2. eines außerordentlichen, aber unabweisbaren oder erwünschten und darum förderungswürdigen Aufwandes, vorwiegend zur Sicherung oder Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit, gehe, die nicht beziehungsweise nicht mehr durch Beteiligung am Produktionsprozeß, das heißt durch ein marktmäßig verdientes Einkommen, in angemessener Weise sichergestellt sei. Wer solcher Sicherung bedarf, wie sie finanziert werden soll, durch welche Leistungshöhe sie zu erreichen ist und ähnliche Fragen werden dabei im einzelnen höchst unterschiedlich beantwortet. Nahezu einheitlich ist jedoch, daß von einem - zumindest residual immanenten - versicherungsähnlichen Äquivalenzprinzip her gedacht, das heißt die Leistungsberechtigung in der Regel von einer Mindestdauer der Beteiligung an der Finanzierung des Systems abhängig gemacht wird. Das setzt voraus, daß normale Lebensabläufe im Rahmen normaler Wirtschaftsabläufe vorgestellt werden, so daß auch eine in sich geschlossene, systematische Konzeption für die Unterhalts- und Aufwands-Sicherung in den "normalen Wechselfällen" entwickelt werden kann. "Normal" heißt dabei - wiederum formelhaft ausgedrückt - daß Katastrophen Einzelfälle, individuelle Schicksalsschläge bleiben. In den praktisch realisierten sozialen Sicherungssystemen - und insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland - gibt es jedoch dane-

14

1. Kap.:

Einleitung

ben eine Reihe von Leistungen, die anders konstruiert und motiviert sind: Als "Ausgleich für Schäden, die eine begrenzte Gruppe von Individuen aufgrund eines von der Allgemeinheit zu verantwortenden Sachverhalts getroffen hat"l. Solche Leistungen zum Ausgleich von Schäden haben daher einen völlig anderen Ausgangspunkt und - insbesondere rechtlichen - Rechtfertigungsgrund als "normale" Sozialleistungen: Sie sind nicht, wie die letzteren, grundsätzlich auf die - wenn auch nur durchschnittliche und aufgrund bestimmter einfacher Indizien vermutete - Situation des Leistungsempfängers bezogen, sondern auf die Ursache seiner Situation. Sie sind nicht vom Schaden des Ausgleichsberechtigten, sondern vom Schuldanteil und von der Belastbarkeit des als ausgleichspflichtig Deklarierten her konzipiert, selbst wenn dabei im Einzelfall die Leistung nach dem Schaden bemessen wird. Ihr Rechtsgrund ist ein "ungleich belastendes und daher ausgleichspflichtiges Sonderopf.er", das die Geschädigten "für die Gemeinschaft erbracht haben bzw. haben hinnehmen müssen, ... und zwar i. S. eines Integritätsverlustes mit materiellen und immateriellen Komponenten"2, so daß als Rechtsfolge grundsätzlich eine restitutio ad integrum zu erwarten und anzustreben ist. Werden solche Restitutionsleistungen als "Sonderversorgungen"3 oder andere Sondersysteme, die auf die Causa einer Schädigung abgestellt sind, neben einem allgemeinen sozialen Sicherungssystem etabliert, das kausal unspezifisch, ohne Bezug auf die Ursachen bestimmter, Sozialleistungen auslösender Zustände und Lebenssituationen konstruiert ist, so werden mehrere Ansprüche aus den verschiedenen Leistungssystemen immer gleichzeitig bei einer geschädigten Person zusammentreffen, wenn nicht die Grundprinzipien zumindest eines dieser Systeme durch Ausschlußvorschriften durchbrochen werden. Denkt man nur vom Rechtsgrund her, der bei den allgemeinen Systemen in der Regel in irgendeiner Form von (solidarischer) Selbstvorsorge durch Beteiligung an ihrer Finanzierung, bei den Sondersystemen dagegen im Verschulden des Schädigers besteht, so muß man folgern, daß solche "Kumulationen von Sozialleistungen durchaus sachgerecht sind"', weil ja "die Entschädigungsleistung ... ihrer Zielsetzung nach ausgleichend zum normalen Einkommen hinzutreten" sollG, auch 1 2

S

Sozialenquete, Tz. 306. Rohwer-Kahlmann und Frentzel, Soziale Sicherheit, S. 33. So nennt Bogs im Gegensatz zur Staatsbürgerversorgung diejenigen Ver-

sorgungseinrichtungen, die "Leistungen zum Ausgleich bestimmter Schäden, die wiederum aus einer ganz bestimmten Ursache erwachsen sind", gewähren (Grundfragen, S. 20 f.). Die gleichen Begriffe benutzt Wolff (vgl. Verwaltungsrecht III, S. 148-150 und 172-185). 4 Rohwer-Kahlmann und Frentzel, Soziale Sicherheit, S. 35. 5 Auerbach, Zusammenhänge, S. 52.

1.1. Soziale Sicherungsleistungen und Restitutionsleistungen

15

zum normalen Renteneinkommen. Geht man dagegen von den Lebensverhältnissen des geschädigten Individuums aus, von der Hilfe, derer es bedarf, um den Schaden zu überwinden oder trotz des Schadens befriedigend oder wenigstens erträglich existieren zu können, so wird man zumindest die Vorfrage stellen, ob unterschiedliche Ursachen sonst gleichartiger Schäden wirklich eine angemessene Begründung für Leistungsdifferenzierungen sind. Dieser Gegensatz zwischen dem Denken von juristischen Kausalitätskonstruktionen und von personalen Existenzbedingungen her, zwischen einem von Schadensverursachungen her argumentierenden "Restitutionsprinzip" und dem von der - wenn auch typisierten und standardisierten - sozialen Situation einzelner ausgehenden normalen Sicherungsprinzip ist der grundlegende Aspekt, von dem die hier vorgelegte Studie ausgeht. Ein solcher Ansatz erscheint 1. im Hinblick auf den Stand der sozialpolitischen Diskussion insofern

aktuell und neuer Überlegungen dringend bedürftig, als das Interesse an einer Koordination oder vielleicht sogar Integration der verschiedenen Sozialleistungen merklich abgeflaut ist, jedoch wieder belebt zu werden verdient, wenn man sich mit der Selbstbeschränkung der Sozialpolitiker, die sich weitgehend auf die partikulare Konservierung oder Renovierung bestehender Institutionen zurückgezogen haben, nicht zufrieden geben will, 2. wissenschaftlich begründet und gerechtfertigt, weil das in den fünfziger Jahren mit Leidenschaft diskutierte Phänomen der "Verflechtung der Sozialleistungen"6 keineswegs verschwunden, für rationale Gestaltungen des Sozialleistungssystems aber nach wie vor von besonderer Relevanz ist, 3. ein besonderes, seine Wahl letztlich begründendes Gewicht durch die Beobachtung zu erlangen, daß das Restitutionsprinzip eine expansive Tendenz hat und eine umso allgemeinere Gültigkeit beansprucht, je mehr Schädigungen und Verluste einzelner als Folge gesellschaftlicher Entwicklungen, Aktionen und Unterlassungen begriffen werden. 1.1.2. Die Notwendigkeit einer umfassenden Problemdetinition

Diese Gesichtspunkte werden im folgenden näher zu erläutern und zu begründen sein. Es wäre jedoch eine unzulässige oder zumindest ungerechtfertigte und unmotivierte Verengung der Gesamtproblematik, wenn sie nur in dem - teilweise historisch zufälligen - institutionellen • Vgl. dazu insbesondere Mackenroths unter diesem Titel veröffentlichte Untersuchung.

16

1. Kap.: Einleitung

Rahmen des gegebenen sozialen Sicherungssystems diskutiert würde. Vielmehr wird der soziale Status geschädigter Personen nur dann erkennbar, wenn in seine Beschreibung alle Leistungen, die durch die Schädigung ausgelöst werden, einbezogen werden. Das heißt nichts anderes, als daß der soeben beschriebene Ansatz dieser Arbeit eine umfassende Analyse des Verhältnisses zwischen Ausgleichsleistungen für geschädigte Personen und allgemeinen Sozialleistungen zur Sicherung des laufenden Lebensunterhalts und eines außerordentlichen Aufwandes erfordert. Die Typologie der Schädigungen und ihrer Genese wird dabei wesentlich vielfältiger und differenzierter sein müssen, als wenn die Betrachtung auf die großen Blöcke der "Sonderversorgungen" und eventuell noch der Unfallversicherung7 beschränkt würde. Eine erste Systematisierung nach Schädigungsursachen und nach den jeweils Haftpflichtigen, durch die hier vorab und vorläufig der Umfang der in die Untersuchung einzubeziehenden - insbesondere rechtlichen - Materie bezeichnet sei, könnte durch die folgende Gliederung der Ansprüche vorgenommen werden: 1. Staatshaftung 1.1. Kriegsfolgeschäden 1.2. Öffentlich-rechtliche Schadensersatzverpflichtungen (ziviler Art) 1.2.1. aus öffentlichem Verschulden und Delikt 1.2.2. wegen Gefährdungen durch öffentliche Handlungen oder Unterlassungen (z. B. Aufopferungsansprüche) 1.2.3. aus gesamtgesellschaftlicher Solidarität (z. B. bei Naturkatastrophen) 1.2.4. ersatzweise für nicht haftbar zu machende private Schädiger (z. B. bei sogenannten Umweltgefahren) 1.3. Privatrechtliche Schadensersatzverpflichtungen (bei fiskalischem Handeln des Staates) 2. Unternehmerhaftung 2.1. Arbeitgeberhaftung 2.1.1. Unfallversicherung 2.1.2. für bisher nicht gedeckte Schäden durch Arbeitstätigkeit (z. B. Hörschäden durch Lärm am Arbeitsplatz) 2.2. Produzentenhaftung 2.2.1. Schäden durch die Produktion selbst (z. B. Lärm, Luftverunreinigung) 2.2.2. durch fehlerhafte Produkte verursachte Schäden 7 Das Arbeitsministerium rechnet die Unfallversicherung schon nicht mehr zu den "Entschädigungsleistungen". Vgl. - als neueste Äußerung - den "neuen institutionellen Rahmen des Sozialbudgets" im Sozialbericht 1970, Teil B, Tz. 18. Anderer Ansicht ist Auerbach, der "auch die rentenähnUchen

1.1. Soziale Sicherungslei:stungen und Restitutionsleistungen

17

3. Haftung von Privatpersonen 3.1. als Verkehrsteilnehmer 3.2. als Hausbesitzer 3.3. als Aufsichtspflichtiger über Minderjährige 3.4. als Tierhalter 3.5. usw. Diese Gliederung operiert mit logisch nicht ganz einheitlichen Kategorien und mit sich überschneidenden Einteilungen. Sie dürfte aber den heuristischen Vorzug haben, die wesentlichsten Bereiche zu bezeichnen, in denen die Vorstellungen darüber, wer für was verantwortlich zu machen ist, erheblich ins Wanken geraten sind, und zwar insbesondere auch über die bisher gegebenen rechtlichen Zugriffsmöglichkeiten hinaus. Für diese gesamte, sehr umfangreiche und vielfältige Skala möglicher Schädigungen stellt sich dem Sozialpolitiker die Frage, ob es sinnvoll ist, Sicherungsleistungen und Restitutionsleistungen völlig unabhängig voneinander zu konstruieren und folglich nebeneinander zuzubilligen, so daß Leistungskumulationen und Leistungsdifferenzierungen nach Ursachen bei gleichem Tatbestand entstehen, ohne einer Prüfung auf systematische Kompatibilität und Legitimität unterzogen zu werden. Wenn diese Frage verneint wird, das heißt wenn man eine Abstimmung für notwendig hält, die im Prinzip wohl nur darin bestehen könnte, Sicherung- und Restitutionsansprüche zu konkurrierenden anstatt kumulativen Ansprüchen zu machen, so wäre zu diskutieren, ob man unter Ausschluß eines der beiden Ansprüche 1. nur von Art und Ausmaß der Schädigung ausgehen soll, ohne die Schadensursache in Betracht zu ziehen, oder 2. nach Schadensursachen differenzierte Leistungen vorsehen, diese aber als öffentliche Sozialleistungen unabhängig vom Verschulden eines Schädigers gewähren soll, oder 3. auf Ansprüche gegen den jeweiligen einzelnen Schädiger verweisen soll, seien diese aus Amts-, Gefährdungs-, Delikts- oder Vertragshaftung herzuleiten. Dabei kann nicht von tradierten Klassifikationen ausgegangen werden, wie sie sich insbesondere durch Subsumtion unter die Begriffspaare Versicherung und Versorgung und öffentliches und privates Recht Entschädigungsleistungen" der Unfallversicherung "nicht als soziale Leistungen verrechnet" sehen möchte (Zusammenhänge, S. 51). 2 Schlifer

18

1. Kap.: Einleitung

anbieten. Ein solches Verfahren würde nicht viel mehr als eine historische Beschreibung erbringen. Wie sehr derartige institutionelle Zuordnungen zufallsbedingt sind, sei hier nur durch den Hinweis belegt, daß einerseits "die Kriegsopferversorgung ... nach dem Beispiel der USA auch als Individualversicherung jedes zum Militärdienst Eingezogenen (hätte) konstruiert werden können"8, während andererseits bei der Kraftfahrzeugversicherung, im Gegensatz zur deutschen Lösung, "sich der Gesetzgeber in Saskatchewan und in Polen für die öffentlichrechtliche Lösung entschieden hat und in einer wachsenden Zahl von Ländern die Sozialisierung der Kraftverkehrsversicherung empfohlen oder doch erwogen wird"o. 1.2 Das Arbeitsprogramm Diese Vorbemerkungen mögen genügen, um Zielsetzung und Aufbau der vorliegenden Untersuchung verständlich zu machen. Im folgenden Kapitel 2 wird zunächst die Literatur - und zwar sowohl sozialpolitische als auch juristische Veröffentlichungen - daraufhin zu sichten sein, ob und inwieweit sie Lösungen für die aufgeworfenen Fragen anbietet. Dabei soll insbesondere geprüft werden, ob es Vorschläge oder wenigstens überlegungen gibt, die sich auf die Gesamtproblematik der Ausgleichsleistungen für Personenschäden beziehen, oder ob - wenn das nicht der Fall ist - partikulare Modelle oder Anregungen zu finden sind, die verallgemeinert werden könnten.

Im Kapitel 3 wird die Entwicklung der Restitutionsleistungen darzustellen sein. Es dient insbesondere dazu, die für alle weiteren überlegungen zentrale These zu belegen, daß das Entschädigungsrecht sich seit langem in einer sehr expansiven Phase befindet, ohne daß dabei ein Trend auf ein umfassendes und geschlossenes Gesamtsystem hin erkennbar wäre. Die einzelnen Sparten entwickeln vielmehr ihre eigenen Spezial-Doktrinen und -Prinzipien getrennt weiter, so daß eine Abstimmung der verschiedenen Entschädigungsleistungen aufeinander und auf andere Leistungen noch nicht in Aussicht zu stehen scheint, geschweige denn schon geleistet wäre. Diese unkoordinierte Ausweitung des Restitutionsrechts wird in den ersten vier Abschnitten des dritten Kapitels für die Kriegsfolgeleistungen, für bestimmte Leistungen des Sozialversicherungssystems, für den privatrechtlichen Schadensersatz und für die öffentlich-rechtlichen Ersatzleistungen beschrieben. In den beiden letzten Abschnitten wird dann versucht, einige der - natürlich dennoch vorhandenen - gemeinsamen Entwicklungslinien zu bezeichnen, aus BAueTbach, Zusammenhänge, S. 52.

• v. Hippel, Schadensausgleich, S. 98 f.

1.2. Das Arbeitsprogramm

19

denen sich Ansatzpunkte sowohl für eine Kritik, die sich nicht auf immanente und spezialistisch verengte Einwände beschränkt, als auch für die Entwicklung einer Reform-Konzeption ergeben. Die reine Deskription eines historischen Prozesses besagt jedoch zunächst noch gar nichts über den weiteren Verlauf. Um die Vermutung zu begründen, daß sich die expansi~n Tendenzen der Restitutionsansprüche fortsetzen werden, sollen deshalb im vierten Kapitel einige der technischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und geistigen Hintergründe aufgezeigt werden, von denen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit angenommen werden muß, daß sie' weiterhin wirksam bleiben werden. Damit gewinnt die Prognose durch Extrapolation bisheriger Entwicklungsreihen wesentlich an Zuverlässigkeit. Dieser erste Teil der vorliegenden Untersuchung soll also die Befunde liefern und das Material ausbreiten. Er beschreibt die Entwicklung des Gesamtgefüges - oder vielleicht zutreffender: des Konglomerats - der Restitutionsleistungen unter drei Aspekten: Dem ihrer wissenschaftlichen Behandlung im zweiten, dem der Rechtspraxis und des Rechtsdenkens im dritten und dem der Entschädigungsideologie und ihrer realen Basis im vierten Kapitel. Im zweiten Teil, der die Kapitel 6 bis 8 umfaßt, wird dann ein Alternativmodell zu dem bestehenden Zustand entwickelt und begründet, wobei zunächst die Grundzüge eines einheitlichen Leistungssystems (Kapitel 6) und eines differenzierten Finanzierungssystems (Kapitel 7) ausgearbeitet werden, um sodann (Kapitel 8) zu prüfen, wie dieses vorgeschlagene System und die bestehenden Einrichtungen der sozialen Sicherung funktionell und organisatorisch aufeinander abgestimmt werden können. Durch das fünfte Kapitel sind diese beiden Teile der Untersuchung miteinander verbunden. In ihm wird zunächst das Resümee aus dem ersten Teil gezogen, indem in einer zusammenfassenden Kritik die Mängel und Lücken, die inneren Widersprüche und sozialen Ungerechtigkeiten aufgewiesen werden, die das bestehende System des Schadensausgleichs bei einer sozialpolitischen Wertung als unzulänglich erscheinen lassen. Von solchen sozialen Vorstellungen her wird dann eine Gegenkonzeption entwickelt, deren Grundprinzipien durch den im zweiten Teil unterbreiteten Reformvorschlag konkretisiert werden1 • Spätestens im fünften Kapitel müßte auch deutlich werden, daß die vorliegende Arbeit eine sozialpolitische ist, auch wenn sie bis dahin 1 Da es sich um eine sozialpolitisch motivierte Konzeption handelt, bezieht sie sich nur auf Personenschäden; Sach- und Vennögensschäden werden im Gegensatz zur Rechtswissenschaft, die beide Schadenstypen nach den gleichen Prinzipien behandelt - aus den Modellüberlegungen ausgeschieden. Zur näheren Begründung vgI. Abschnitt 5.3.3.



20

1. Kap.: Einleitung

manchmal den Eindruck erwecken mag, sie sei eine juristische. Sie geht von einer sozialpolitischen Fragestellung aus, argumentiert - oft gegen das herrschende Gesetz - sozialpolitisch, entwickelt einen sozialpolitischen Zielkatalog und endet mit einem sozialpolitischen Reformprogramm. Dazwischen, insbesondere im dritten Kapitel und im ersten Abschnitt des fünften Kapitels, sind allerdings ausgedehnte Exkursionen in juristische Gefilde erforderlich. Da der Nicht jurist sich hier nicht auf fachliche Kompetenz und übersicht berufen kann, die ihm in der eigenen Disziplin vielleicht zugebilligt würden, mußten diese Abschnitte besonders genau dokumentiert und ausführlich belegt werden2 • Im Schlußkapitel werden die Ergebnisse der Untersuchung in Thesenform zusammengefaßt und die abgeleiteten Reformvorschläge zu Leitsätzen verdichtet, die bereits legislatorisch vorstrukturiert, das heißt so formuliert sind, daß sie unmittelbar oder jedenfalls mit geringfügigen Formulierungshilfen als zentrale Klauseln eines Gesetzentwurfs verwendet werden könnten. Der letzte Abschnitt des neunten Kapitels greift schließlich mehr oder weniger verstreute Hinweise auf offene wissenschaftliche Probleme auf, systematisiert sie und ergänzt sie zu einem Forschungsprogramm.

! Daß die Begriffe "Schadensersatz" und "Entschädigung", "Restitution" und "Kompensation" bei den Juristen oft sehr genau unterschieden werden (vgl. dazu z. B. Esser, Schuldrecht I, S. 274 und 281, sowie Wolff, Verwaltungsrecht I, S. 417), weiß der nicht juristische Autor dieser Arbeit. Er weiß aber auch, daß diese strenge Terminologie weder in der Sprache der Gesetze noch in der juristischen Literatur konsequent durchgehalten wird (Vgl. dazu Gitter, Arbeitsunfallrecht, S. 143 ff.). Er benutzt daher alle diese Vokabeln, die mit Wiederherstellung, Ersatz, Ausgleich, Entschädigung zusammenhängen, weitgehend als Synonyma. Wo es auf einen exakten Begriffsinhalt ankommt, hat er sich bemüht, die korrekte Bezeichnung zu verwenden. Im übrigen hat er als terminus technicus für alle Leistungen, die aus einem Schaden begründet werden, das Wort "Restitution" gewählt, weil es am wenigsten gebräuchlich und daher am wenigsten inhaltlich fixiert ist.

Zweites Kapitel

Die Restitutionsleistungen in der sozialpolitischen Diskussion (Literatur) 2.1. Von der Arbeiterfrage ausgehende Sozialpolitiker 2.1.1. In den systematischen Bestandsaufnahmen, kritischen Analysen und Reformplänen der sozialen Sicherung erscheinen die "Sonderleistungen" zum Ausgleich von Schäden fast immer als systemwidrige Ausnahmen. Bei den traditionellen Sozialpolitikern werden sie als nicht zur Sozialpolitik gehörig ausgeklammert, weil sie nicht an das Arbeitsverhältnis anknüpfen - wobei allerdings regelmäßig übersehen wird, daß schon die Unfallversicherung als "klassische" Sozialversicherung vom Denkansatz der Schadensersatzleistung her begründet war und die gleichen Probleme der Leistungskumulation und der Leistungsdifferenzierung nach Ursachen bei gleichem Tatbestand aufwirft wie andere Entschädigungsleistungen. Ludwig Heyde, der ausdrücklich bemerkt, er halte lImit bestem Gewissen daran fest, daß es in dem entscheidenden Teil der Sozialpolitik um den Arbeitnehmer geht, genauer gesagt: um den nach freiem Arbeitsvertrag in einem freien Arbeitsverhältnis auf Anordnung des Vertragskontrahenten (Arbeitgeber) arbeitenden Menschen"!, hat schon durch solche ungebrochene Fortsetzung der tradierten "Sozialpolitik als Klassenpolitik"2 jeden Zusammenhang der sozialen Bemühungen mit Problemen der Schadensregulierung wegdefiniert, soweit es sich nicht um Schädigungen durch das Arbeitsverhältnis handelt. Für Preller gilt Ähnliches. Er räumt zwar ein, daß die anfängliche Beschränkung der Sozialpolitik auf "eine bestimmte Gesellschaftsklasse ... , nämlich auf die Klasse der Arbeiter", historisch bedingt ist3 und "daß die Stellung als abhängig oder selbständig Tätiger im Wirtschaftsleben kein Personenmerkmal für die Erfassung durch Sozialpolitik sein kann"4. Aber er beharrt doch darauf, daß es eines der "essentiellen Merkmale der Sozialpolitik" sei, mit lIder Arbeit als einem

Heyde, Sozialpolitik, S. 14. Preller, Sozialpolitik, S. 257 3 Preller, Sozialpolitik, S. 257. , Preller, Sozialpolitik, S. 260. 1

!

22

2. Kap.: Literatur

Wesensteil des menschlichen Lebens, mit dem Arbeitsleben" befaßt zu seins, so daß "ihr Gewicht und damit ihr Anspruch an Bedeutung" verlören, wenn sie "über den engeren ökonomischen Bereich der Arbeit immer weiter hinaus(-greift)"6. 2.1.2. Zu welchen Einseitigkeiten bei der Erkenntnis sozialer Verhältnisse und der Beurteilung sozialer Aufgaben ein derartiger Dogmatismus zu führen vermag, kommt besonders bei Gerhard Albrecht zum Ausdruck. Er konzediert zwar, daß Leistungen, "für deren Empfang ... die Herkunft des Anspruchs ... von primärer Bedeutung ist" unter Umständen "unerläßliche Sozialleistungen" sein können, die sogar "zeitweise die Kräfte und die Initiative des Staates stärker beanspruchen als die Sozialpolitik"; sie seien jedoch "anderen Ursprungs" und erfüllten "andere Aufgaben, als es diejenigen der Sozialpolitik sind". Und da "der nachhaltige Erfolg der Sozialpolitik ... in Frage gestellt werden (würde), wenn ... der besondere Anlaß und die besondere Aufgabe der Sozialpolitik aus den Augen verloren würden", sei es bedenklich, "von der Problematik der Sozialleistungen schlechthin zu sprechen, wie es ... zum Beispiel bei der Erörterung der ohne Zweüel bestehenden und in vieler Hinsicht bedenklichen ,Verflechtung der Sozialleistungen' geschieht, und dabei gar auf die Tatsache hinzuweisen, daß die wirtschaftliche Lage der wirtschaftlich Abhängigen (der Arbeiter) so unvergleichlich viel besser sei als die der Fürsorge und Versorgung unterliegenden Millionen". Das sei "nicht entscheidend für die Aufgaben, die der Sozialpolitik gestellt sind"7. Entscheidend sei vielmehr, was "zum Schutz derjenigen Gruppen der Wirtschaftsgesellschaft, die infolge ihrer wirtschaftlich abhängigen Stellung besonderen Schäden, Benachteiligungen, Gefahren und Nöten ausgesetzt sind"8, veranstaltet wird. Was bei dieser Argumentation übersehen wird, ist vor allem, daß diese Gruppen der wirtschaftlich Abhängigen seit langem zur dominierenden Mehrheit der Bevölkerung geworden sind und daß das, wovon sie abhängig sind, in erster Linie ihre Arbeitsfähigkeit ist. Das aber bedeutet nichts anderes, als daß Ausgleichsleistungen für Schädigungen nicht eine spezifische Gruppe betreffen, die mit den Unselbständigen nichts zu tun hätte und von ihnen klar geschieden werden könnte, sondern überwiegend gerade für die Wiederherstellung der Arbeitskraft oder als Kompensation für die Minderung oder den Verlust der Arbeitskraft derjenigen, die wegen ihrer wirtschaftlich abhängigen Stellung in besonderem Maße auf ihre Arbeitskraft angewiesen sind, gezahlt werden. 6 Preller, Sozialpolitik, S. 287. e Preller, Sozialpolitik, S. 249. 7 Albrecht, Sozialpolitik, S. 38 f. 8 Albrecht, Sozialpolitik, S. 33.

2.1. Von der Arbeiterfrage ausgehende Sozialpolitiker

23

2.1.3. Bei Weddigt!n ist noch am ehesten ein Versuch zu finden, Entschädigungsleistungen systematisch in die Gesamtheit der sozialen Bemühungen einzuordnen, und zwar von der Dreiteilung in Sozialversicherung, Versorgung und Fürsorge her. Er sieht in der klassischen Sozialversicherung "den Gedanken der individuellen Selbstverantwortung des Einzelnen" besonders betont, wogegen die "Soziale Fürsorge ... als Extrem kollektiver Ausrichtung sozialer Hilfeleistung am Gemeinschaftsgedanken" erscheine'. Die Versorgung sei als ein spezüisches Muster zwischen diesen beiden Prinzipien angesiedelt. Gegenüber der Sozialversicherung bedeute sie "vor allem mit ihrem Verzicht auf jede Gegenleistung des Einzelnen eine deutliche kollektivistische Verstärkung"10, verletze jedoch andererseits die "extrem kollektivistische Forderung" der Fürsorge insofern, als sie "ihre Mittel ohne Rücksicht auf Bedürftigkeit auch dem wohlhabenden Mitbürger gewährt"U, und entspreche auch durch die "Anerkennung eines Schadensersatz- oder Ausgleichsanspruches ... deutlich dem Äquivalenzprinzip einer Gleichheit von Leistung und Gegenleistung im Sinne der Individualgerechtigkeit"12. Wenngleich Weddigen in seine Definition der Versorgung neben solchen als Entschädigung geleisteten Zahlungen auch "aus sonstigen Beweggründen ausgleichender Gerechtigkeit unter Einräumung eines Rechtsanspruches erfolgende Zuwendungen von Unterhaltsmitteln seitens einer Gemeinschaft an einen Teil ihrer Mitglieder"18 einbezieht, stellt er in seiner Darstellung doch darauf ab, daß ihr "meist deutlich der Gedanke einer Entschädigung für Opfer zugrunde" liegt14 und daß sie daher eine besondere Bedeutung "in solchen Zeiten" erlange, in denen "unglückliche Ereignisse wie Krieg, Naturkatastrophen oder inflationistischer Währungsverfall die ganze Volksgemeinschaft treffen"15. Von daher konstatiert er zwar, daß "dieses Nebeneinander dreier Arten der Sozialen Hilfe, die sich oft ähnlicher Formen der Hilfeleistung ... bedienen, ... mitunter zu überschneidungen und Kumulierungen der sozialen Leistungen geführt" hatte. Aber weil er sich im wesentlichen auf die katastrophenartigen Ausnahmesituationen beschränkt, erkennt er das Problem, daß "gleichartigt! und vom gleichen Notstand erforderte Hilfen" stets dann nebeneinander "entweder von einer Person oder doch von mehreren Mitgliedern ein und desselben Haushalts bezogen" werden17, wenn nach Ursachen differenziert entschädigende und ohne 9 10 11

12 13 14

16

11 17

Weddigen, Sozialpolitik, S.219. Weddigen, Sozialpolitik, S. 219. Weddigen, Sozialpolitik, S. 219 f. Weddigen, Sozialpolitik, S. 220. Weddigen, Sozialpolitik, S. 219. Weddigen, Sozialpolitik, S. 220. Weddigen, Sozialpolitik, S. 199. Weddigen, Sozialpolitik, S. 225. Weddigen, Sozialpolitik, S. 225.

2. Kap.: Literatur

24

Rücksicht auf Ursachen sichernde Leistungssysteme zusammentreffen, nicht als dauerhaft gestellte soziale Aufgabe; zumindest wird es nicht als solche bezeichnet und zum Gegenstand weiterer Analysen gemacht. 2.2. Von der Einkommensverteilung ausgehende Sozialpolitiker 2.2.1. Damit steht Weddigen bereits denjenigen Sozialpolitikern sehr nahe, die nicht mehr von der Arbeiterfrage, sondern von der Einkommensverteilung her argumentieren. Bei dieser Gruppe werden die Entschädigungsleistungen in der Regel als temporäre Ausnahmeerscheinung bei öffentlich zu verantwortenden Katastrophenfällen behandelt. Sie erscheinen dann als "nur historisch bedingte gesetzliche Regelungen"1, die ad hoc für größere Sondergruppen plötzlich auftauchender, relativ einheitlich definierter Bedürftigkeit geschaffen worden sind und denen - "weil entweder die Schädigungen mit der Zeit entfallen oder die Gruppen verschwinden"2 - eine quasi-automatische Tendenz, relativ schnell zu schrumpfen und asymptotisch auszulaufen, zugeschrieben wird. Da es sich nur um die Regelung und überwindung einmaliger historischer Unglücksfälle handele, lägen sie "außerhalb der für die soziale Sicherheit typischen Aufgabenstellung" und könnten daher - obwohl sie "weder politisch noch wirtschaftlich geringfügig sind"3 - bei systematischen Erörterungen vernachlässigt werden.

Bei Bethusy-Huc, die solche Aussonderung der Entschädigungsleistungen mit entschiedener, nicht mehr interpretationsbedürftiger Eindeutigkeit vertritt, ist das Ergebnis vom Untersuchungsgegenstand ihrer Studie mehr oder weniger vorgegeben. Denn die Reformpläne, die sie behandelt hat, zeigen ihrerseits eine bemerkenswerte Abstinenz gegenüber allen Versuchen, die Restitutionszahlungen systematisch in das Sozialleistungssystem einzuordnen (oder wenigstens systemgerecht aus dem Sozialleistungssystem zu eliminieren). 2.2.2. Die Rothenfelser Denkschrift - um einen der großen Programmentwürfe als Beleg dafür heranzuziehen - ist in ihren Aussagen zu diesem Problemkomplex recht ambivalent. Einerseits ist die Kritik an den bestehenden Regelungen unüberhörbar, wenn es heißt, "daß das Gesamt der deutschen sozialen Sicherungen, wie es heute vor uns steht, kein geordnetes Gebilde darstellt, das mit dem gegenwärtigen Status der Lebensverhältnisse übereinstimmt ... (Denn) innerhalb unserer sozialen Sicherung stehen Leistungen, die ihre entscheidende Prägung aus Gedankengängen der 80er Jahre des vergangenen J ahr1 2

3

Sozialenquete, S. 10.

Bethusy-Huc, Sozialleistungssystem, S. 2. Bethusy-Huc, Sozialleistungssystem, S. 2.

2.2. Von der Einkommensverteilung ausgehende Sozialpolitiker

25

hunderts erfahren haben, bei denen unter anderem die Befreiung und die Fernhaltung von der staatlichen Armenpflege eine wesentliche Motivierung abgab. Daneben stehen unverbunden Leistungen, die unter der Auffassung geformt sind, daß ein moderner Sozialstaat verpflichtet sei, seinen Bürgern gewisse Schäden zu ersetzen. Gleiche soziale Tatbestände führen zu Leistungen, die nach Voraussetzung und Höhe vollständig verschiedenen Motivierungen unterliegen, je nachdem, in welchem Jahrzehnt sie beschlossen, in welchen sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhängen sie seinerzeit bei ihrer Schaffung gesehen worden sind"'. "So konnte es dem Gesetzgeber nicht gelingen, die allen diesen Fällen gemeinsame Aufgabe zu erkennen", "weil man einen jeweils neu erkannten Schaden nach seinem Grunde klassifizierte und durch eine gesonderte Institution heilen wollte"5. Trotz dieser präzisen Formulierung des Problems wird jedoch andererseits die Klassifizierung eines Schadens nach seinem Grunde entschieden hervorgehoben: "Von den Normalrisiken der industriellen Gesellschaft sind die politischen Katastrophenfolgen strengstens zu unterscheiden. Breite Bevölkerungsschichten ... sind weder durch eigene Schuld noch durch die Auswirkungen der industriellen Entwicklung, sondern infolge staatlicher, vor allem kriegerischer Unternehmen schwer geschädigt und der Möglichkeit eigenverantwortlicher Vorsorge beraubt worden. Das Prinzip der Solidarität verlangt, daß die Kriegsfolgelasten nicht einseitig diesen Schichten auferlegt, sondern nach den Grundsätzen der distributiven Gerechtigkeit ausgeglichen werden ... Es ist irreführend, diese Beträge, die nicht durch die sozialen Verhältnisse der industriellen Gesellschaft, sondern durch politische Katastrophen bedingt sind, mit den staatlichen Zuschüssen zur Sozialversicherung und zur Arbeitslosenfürsorge zusammenzuwerfen. Es handelt sich, was die Veranlassung der Notsituationen betrifft, um durchaus verschiedene Bereiche6 ." Von daher werden zunächst "alle Sicherungsaufgaben, die aus Kriegsfolgen entstanden sind", "in der seitherigen Form und Größenordnung" weiterhin besonderen Institutionen mit einem besonderen Leistungsrecht überlassen7 • Inwieweit alle sonstigen sozialen Leistungen, "die auf einem Entschädigungsanspruch beruhen oder neben dem sozialen Zweck den Charakter der Schadensrente wenigstens zum Teil behalten haben", in eine einheitliche Zuständigkeitsregelung und Leistungsbemessung einbezogen werden sollen oder können, bleibt offen; es wird lediglich erklärt, es sei unmöglich, "hier die Fülle aller dieser reinen und Mischfälle von Schadensrenten zu behanRothenfelser Denkschrift, Rothenfelser Denkschrift, e Rothenfelser Denkschrift, 7 Rothenfelser Denkschrift, 4

6

S. 19. S. 20. S. 27 f. S. 119.

2. Kap.: Literatur

26

deln"8, und es seien für den "übergang vom alten zum neuen Recht"l1 außerordentliche Schwierigkeiten zu erwarten. 2.2.3. Bei Achinger werden Restitutionsleistungen zunächst - wie es bei systematischen Darstellungen, die sie nicht überhaupt ignorieren, zum Regelfall geworden ist - als Teil der Leistungen diskutiert, die auf das Versorgungsprinzip gegründet sind. In Deutschland sei "der Begriff der Versorgung bisher auf die Leistungsgebiete beschränkt geblieben, die sich aus Kriegsfolgen entwickelt haben und die Entschädigung anstrebten ... Abweichend vom Ausland ... handelt es sich nach gängiger Auffassung nicht um unvergoltene Leistungen ..., sondern um Entschädigung an solche Personengruppen, die durch übergroße Opfer vorgeleistet, gleichsam vorausbezahlt haben, was ihnen nun, immer noch unvollständig genug, erstattet wird ... Die darin liegende Besonderheit der deutschen Verhältnisse wird noch dadurch verstärkt, daß solche Versorgungsleistungen als vorübergehende Liquidationsverpflichtungen nach Kriegszeiten betrachtet werden. Es ist vieles darauf abgestellt, sie als vorübergehende, außerordentliche Leistungen von dem Sicherungsapparat für ,gängige' Risiken des Lebens getrennt zu halten, obgleich natürlich Überschneidungen unvermeidlich sind"lo. Das ist für Achinger jedoch nur der logisch-systematische Aspekt, der mit den offiziell deklarierten Motiven korrespondiert. Bei einer historisch-soziologischen Betrachtung wird solche Einschätzung relativiert werden müssen. Wiederholt hat Achinger auf die "perpetuierende Wirkung aller Institute" hingewiesen, die "ihrer Natur nach darauf aus (sind), dem Verlauf den Charakter ewiger Wiederkehr zu geben". Eine solche Neigung, "den Dauercharakter sozialer Erscheinungen und Bedürfnisse anzunehmen", sei "besonders in Nachkriegszeiten häufig anzutreffen, wenn es sich um Einrichtungen handelt, die offensichtlich für eine übergangsperiode geschaffen sind, inzwischen aber die Tendenz zum Weiterleben entwickelt haben"l1. Dazu trugen, im Falle der Kriegsfolgenhilfe, die Geschädigtenverbände12 noch besonders bei, die versuchten, "bestimmte Positionen der Schädigung oder des sonstigen Ausgleichsbedarfs als dauerhaft zu präsentieren"ls und die "Haltung des Fordernden, des Anklagenden beizubehalten, solange es geht, ja, unter Umständen unter Berufung auf eine nächste Generation"14. über solche Verfestigungstendenzen hinaus, die bis zur Wahrung eines so8

Rothenfelser Denkschrift, S. 130.

e Rothenfelser Denkschrift, S. 128.

Achinger, Sozialpolitik, S. Achinger, Sozialpolitik, S. 1t über die Achinger eine S. 128 f.). 11 Achinger, Sozialpolitik, S. a Achinger, Sozialpolitik, S. 10 11

119. 103. graphische übersicht gibt (vgl. Sozialpolitik,

131. 130.

2.2. Von der Einkommensverteilung ausgehende Sozialpolitiker

27

zialen Besitzstandes als Geschädigter reichen, konstatiert Achinger aber auch andere dauerhafte Wirkungen, die zu innovatorischen Bestrebungen in der Sozialpolitik beitragen könnten. Die Kriegsfolgeleistungen hätten nämlich insofern auch "entscheidend Neues gebracht", als "hier der Begriff der Hilfe weit umfassender als früher verstanden wird, nämlich als ein Versuch der Placierung", so daß vielleicht "aus solchen Sonderleistungen ... eine dauernde Lehre gezogen werden kann"15. Schließlich hat Achinger, wiederum an den verschiedensten Stellen, darauf aufmerksam gemacht, daß die Sozialpolitik auch auf "die Vorstellungen von Eigenverantwortung und Fremdverantwortung" und auf "die Wandlungen der Staatsauffassung" Rückwirkungen haben dürfte t6 • Bei seiner immer mehr gewachsenen Vorsicht, Prognosen zu stellen und programmatische Forderungen zu erheben, hat er solche Hinweise jedoch nicht selbst weiter verfolgt und auch in dem sein Buch abschließenden Abschnitt "Fragen an die Zukunft" nicht wieder aufgegriffen. Es wird im Folgenden zu zeigen sein, daß sie nicht nur die Kriegsfolgenhllfen betreffen, sondern ebenso die Vorstellungen über Schadensausgleichsleistungen in einem sehr viel weiteren Sinne. 2.2.4. Wilfrid Schreiber, der ja zunächst vor allem als systematischer Reformer Reputation erlangt hat, konzentriert sich in seinen programmatischen Schriften ganz auf "das Problem der Verteilung des Lebenseinkommens auf die drei Lebensphasen: Kindheit und Jugend, Arbeitsalter und Lebensabend"17 und - über die Einkommenssicherung hinaus auf einen weiteren Begriff der Sozialpolitik rekurrierend - auf "die Vollendung der gesellschaftlichen Integration des Arbeitnehmers"18, die nach wie vor "Kernstück (wenn auch nicht mehr alleiniges Anliegen) der Sozialpolitik ist"1'. Folgerichtig kommen in diesem Konzept Entschädigungsleistungen nicht vor; sie werden allenfalls in Parenthese als zu eliminierende Störungsfaktoren und Schönheitsfehler einer übergangsphase erwähnt. In seinen "Betrachtungen nach Abschluß der Sozialenquete" hat Schreiber jedoch in eine Liste der "Institutionen der Einkommens-Sicherung" neben den "im ,normalen' Lebensablauf" erforderlichen (Altersrente, Kindergeld, Lohnfortzahlung bei Krankheit oder Krankengeld, Arbeitslosen-Versicherung) auch die "in der Form des Schadensersatzes" leistenden (Unfallversicherung, Kriegsopferversorgung, Lastenausgleich) aufgenommen2o • Wenn er auch einschränkend hinzufügt, das sei nur eine rein enumerative Darstellung, "ein ganz grober Aufriß, der nur bescheidene Ansätze zu einer Systematik ent15

11 17

18

te !a

Achinger, Sozialpolitik, S. 94. Achinger, Sozialpolitik, S. 8. Schreiber, Existenzsicherheit, S. 7. Schreiber, Sozialpolitik, S. 90. Schreiber, Sozialpolitik, S. 12. Schreiber, Ordnungspolitik, S. 10.

28

2. Kap.: Literatur

hält"21, so rechnet er doch die Empfänger solcher Schadensersatzleistungen - im Gegensatz zu den auf Sozialhilfe Angewiesenen - zu den "durch solide Ansprüche Gesicherten", deren Zahl in Zukunft zweifellos zunehmen werde22 . Trotzdem, und obwohl das Buch "an bestehende Institutionen und ihre heutige Problematik an(-knüpft)"23, werden die Ausgleichsleistungen nicht behandelt. Die vordergründige Legitimation für diese Auslassung ist wohl darin zu suchen, daß die Kriegsschäden um so eher vernachlässigt werden könnten, "je weiter der Zeitabstand 'Von den Katastrophen der letzten 50 Jahre wird, je mehr sich also die Lebensläufe normalisieren"24, während die Unfallversicherung "im Ganzen kaum reformbedürftig" sei25 . Dahinter steht jedoch offensichtlich wieder die bei einem Autor, der auf logische Präzision und legislatorisch verwertbare Prägnanz stets Wert gelegt hat, erstaunliche Vorstellung, die "durch Vorleistung erdienten Ansprüche" an die Institutionen der "normalen" Einkommenssicherung und die "hinreichenden Schadensersatzansprüche" an Institutionen des Verlustausgleichs seien einander ausschließende Möglichkeiten26 . 2.2.5. In Anton Burghardts umfangreichem Lehrbuch wird mit dem Rückgriff auf die Unterscheidung zwischen Kausalsystem und Finalsystem27, mit der Abgrenzung der Schadensabgeltungen von "Versorgungsleistungen im Sinne des Alimentationsprinzips"28 und mit einem eigenen Abschnitt über "Die Kumulierung von Sozialleistungen"29 ein Gerüst an Formulierungen und ein begrifflicher Apparat präsentiert, die an sich vorzüglich geeignet wären, zu weitergehenden Aussagen über das Entschädigungsprinzip und seine Interferenz mit den normalen sozialpolitischen Konstruktionen zu kommen. Burghardt greift jedoch seine allgemeine Definition, daß für Leistungen nach dem Kausalprinzip "das Merkmal eines evidenten Schadens, also ein historisches Ereignis, bestimmend" sei, ebenso wenig auf wie seine Feststellung, daß "es als Folge der Anwendung des Kausalsystems bei Leistungshergabe auch zu differenten (schadensadäquaten) Leistungen" komme 30 . Diese Abstinenz dürfte sich wohl daraus erklären, daß er weitgehend überkommene Darstellungsformen beibehält, die an die Phänomenologie Schreiber, Ordnungspolitik, S. 11. Schreiber, Ordnungspolitik, S. 27. !3 Schreiber, Ordnungspolitik, S. 11. u Schreiber, Ordnungspolitik, S. 27. !5 Schreiber, Ordnungspolitik, S. 25. %8 Schreiber, Ordnungspolitik, S. 27. 27 Burghardt, Sozialpolitik, S. 135. 28 Burghardt, Sozialpolitik, S. 382. Vgl. dazu auch den Abschnitt "Das Versorgungs- oder Alimentationsprinzip" (S. 130). 29 Burghardt, Sozialpolitik, S. 383 f. 30 Burghardt, Sozialpolitik, S. 135. 21

22

2.2. Von der Einkommensverteihmg ausgehende Sozialpolitiker

29

des Lohnarbeitsverhältnisses anknüpfen, obwohl er sich andererseits gegen das Verständnis von Sozialpolitik als Politik für die Arbeiterklasse deutlich absetzt31 • 2.2.6. Liefmann-Keils begrifflich-systematische Ordnungsversuche führen wenigstens in der Fragestellung weiter. Sie geht von der Feststellung aus, daß "in Deutschland ... mit dem Ausdruck Versorgungsprinzip vor allem ein Entschädigungsprinzip gemeint (ist), die Pflicht des Staates, ... unverschuldete Verluste und Schäden, welche durch die staatliche Politik bedingt sind, mehr oder weniger auszugleichen"32. Daraus wird jedoch keine Beschränkung der Versorgungs- oder auch nur der Entschädigungsleistungen auf exzeptionelle Katastrophenfälle gefolgert. Vielmehr wird ganz allgemein konstatiert, daß "ein gewisses Interesse, das Versorgungsprinzip anzuwenden, ... immer bestehen (wird), soweit ... das Entschädigungsprinzip beibehalten oder ausgebaut wird", und es wird darüber hinaus sogar anerkannt, daß "für die Haftpflicht des Unternehmens in der Unfallversicherung" eine ganz ähnliche rechtliche Argumentation gilt wie für einen Anspruch auf Versorgung, der "zufolge eines Schadens, für den ... eine allgemeine, sozusagen eine soziale Haftpflicht angenommen werden kann", entsteht33 .

Dem entspricht, daß bei der Aufzählung der für den Aufbau von Systemen sozialer Sicherheit anerkannten "Ursachen" für den Verlust oder die Minderung der Erwerbsfähigkeit die effektiven Ursachen Unfall, politische Ereignisse, Krieg und politische Verfolgung ohne qualitative Differenzierung neben unfreiwilliger Arbeitslosigkeit, Alter, Invalidität und Krankheit stehen34, womit ja keine Ursachen, sondern nur Zustände und Befindlichkeiten beschrieben sind. Damit rücken die Entschädigungsleistungen auch theoretisch in die Nähe von normalen Dauereinrichtungen, so daß die kumulierenden Wirkungen, die durch die Kombination des Entschädigungsprinzips mit dem normalen Sicherungsprinzip in der Regel entstehen - und auf die Liefmann-Keil wiederholt aufmerksam macht - ihrerseits zu einem Dauerproblem der Sozialpolitik werden. Von daher ergibt sich unter dem Gesichtspunkt einer Koordination der verschiedenen sozialpolitischen Instrumente, "besonders unter Berücksichtigung des Maßstabes der Gerechtigkeit"36, die Frage, "ob jede Ursache unabhängig behandelt werden soll, wenn verschiedene Ursachen zusammenkommen und die81

Vgl. den Exkurs "Sozialpolitik und gesellschaftliche Schichtung" (Burg-

hardt, Sozialpolitik, S. 20 ff.). 3! Liefmann-Keil, Sozialpolitik, S. n Liefmann-Keil, Sozialpolitik, S. st Liefmann-Keil, Sozialpolitik, S. 15 Liefmann-Keil, Sozialpolitik, S.

137 f. 138. 142.

98.

30

2. Kap.: Literatur

selbe Folge haben", oder "ob bei unterschiedlichen Ursachen ein- und dieselben Instrumente in gleicher Weise benutzt werden sollen"as. Die Fragestellungen, die im Zentrum der hier vorgelegten Untersuchung stehen, sind in diesen Bemerkungen zwar kurz registriert und auch ansatzweise systematisiert, doch werden sie nicht näher diskutiert und nicht beantwortet. Das Problem, wie - und ob überhaupt - für ein Leistungssystem, das bestimmte Ursachen eines Schädigungszustandes leistungserhöhend gegenüber anderen Ursachen des gleichen Zustandes aussondert, ein rationaler oder wenigstens plausibler Abstimmungsmodus gefunden werden kann, bleibt daher auch im Anschluß an Liefmann-Keils Überlegungen weiterführend zu erörtern. 2.3. Vom Rechtsgrund ausgehende Sozialpolitiker 2.3.1. Für solche Theoretiker, die nicht von der Schädigung her, die eine Person erlitten hat, denken, sondern von der Causa dieser Schädigung, sind Leistungsdifferenzierungen nach der Schadensverursachung zumindest insoweit apriori legitimiert, als sie auf dem Zusammentreffen mehrerer Leistungen beruhen. Denn wenn die Schadensursache zugleich als Rechtsgrund der Leistung gewertet wird, ist es durchaus folgerichtig, aus unterschiedlicher Herkunft der Schäden unterschiedliche Ansprüche abzuleiten. Es liegt nahe, daß diese Argumentation vor allem von Juristen vorgetragen wird. In seinem 1954 für das Bundesarbeitsministerium erstatteten Gutachten hat Bogs sie sehr klar formuliert: "Kumulierungen stellen an sich keineswegs einen Verstoß gegen einen sinnvollen Aufbau der sozialen Leistungen dar, sondern ergeben sich zwangsläufig aus der kausalen Betrachtung ... ; denn nach dieser Betrachtung stellt die Leistung einen Ausgleich für einen speziellen Schaden dar, der wegen der Ursache dieses Schadens und mit Rücksicht darauf ausgeglichen wird ... Erleidet eine Person mehrere solcher einen Anspruch begründenden Schäden, so ist es nach dieser kausalen Betrachtung an sich nur gerechtfertigt, daß jeder dieser Schäden gesondert beurteilt und gesondert ausgegliechen wird!." Diese Position wird von Bogs aber nicht mit allen Konsequenzen durchgehalten und verteidigt, sondern in einem Kompromiß zwischen juristischen und sozialen Vorstellungen relativiert: "Wenn solche Kumulierungen ... infolge der Zunahme der Leistungsarten sich häufen und auch infolge der tatsächlichen Zunahme von Schadensfällen die Zahl der Empfänger mehrfacher Leistungen ansteigt, stellt sich die Frage, ob das System der sozialen Leistungen insgesamt nicht einer Korrektur bedarf - obwohl " Liefmann-Keil, Sozialpolitik, S. 99. 1 Bogs, Grundfragen, S. 76.

2.3. Vom Rechtsgrund ausgehende Sozialpolitiker

31

jede einzelne Leistung für sich betrachtet nach wie vor gerechtfertigt erscheinen mag2 ." Wird von daher eine Reform für erforderlich gehalten, so habe sie sich insbesondere daran zu orientieren, daß "Überschneidungen von Leistungen und damit die Unübersichtlichkeit der rechtlichen Ordnung weitgehend vermieden werden"3, "selbst wenn dadurch feinere Abstufungen der rechtlichen Gestaltung ausgeschlossen werden"'. Solche pragmatischen Maximen haben in der neueren Diskussion jedoch nicht nur an Beliebtheit, sondern auch an Überzeugungskraft verloren. Denn wenn man, wie Bogs sein Urteil nur "von dem Umfang ... , in dem Kumulierungen von Leistungen auftreten", abhängig macht5, bleibt nicht nur die Frage offen, ob die einzelnen, nicht kumulierenden Leistungen für verschiedene Schädigungsfälle (bis hin zu denen, die gleich Null sind) in sinnvoller Relation einerseits zueinander und andererseits zum erlittenen Schaden stehen; vielmehr würde auch die rechtliche Gestaltung des Sozialleistungssystems jeweils geändert werden müssen, wenn die statistischen Daten variieren. Das aber würde nicht nur die Hauptforderung von Bogs, "eine einfache, den Beteiligten erkennbare Rechtsordnung zu schaffen"', zumindest auf längere Frist in gewissem Maße konterkarieren, sondern ist vor allem für ein rechtssystematisches Denken wenig überzeugend. Von daher ist verständlich, daß zum Beispiel Rohwer-Kahlmann konsequenter als Bogs daran festhält, daß auf die Causa der Ausgleichsleistungen abzustellen sei. Dann aber ist die Folgerung zwingend, daß einerseits die Leistungen verschiedener Institute bei gleichen Schädigungen differieren müssen, weil sie "mehr als ihrem Rechtsgrund entspricht, ... nicht gewähren" können7 , während andererseits "auch eine materielle Gleichheit der beiden Leistungen ihren unterschiedlichen Rechtsgrund nicht auf(-hebt}"8. 2.3.2. Ganz im Sinne dieser Thesen haben sich neuerdings einige Sozialpolitiker zu Wort gemeldet, die den aus ihrem Rechtsgrund folgenden Sondercharakter der Entschädigungsleistungen als unvereinbar mit den bisher praktizierten Anrechnungsbestimmungen oder gar Integrationsbestrebungen ansehen. So verweist z. B. Auerbach darauf, daß Restitutionsleistungen zwar "in der Form einer Sozialleistung gewährt" würdenlI, im übrigen aber "mit den sozialen Leistungen, durch die Arbeitseinkommen von Zeiten der Erwerbstätigkeit auf Zeiten der nicht I Bogs, Grundfragen, S. 76. • Bogs, Grundfragen, S. 90. 4 Bogs, Grundfragen, S. 144. 5 Bogs, Grundfragen, S. 76. • Bogs, Grundfragen, S. 144.

Rohwer-Kahlmann und Frentzel, Soziale Sicherheit, S. 35. Rohwer-Kahlmann und Frentzel, Soziale Sicherheit, S. 34. • Auerbach, Zusammenhänge, S. 51.

7 8

2. Kap.: Literatur

32

möglichen Erwerbstätigkeit umgeschichtet werden oder die zur Festigung oder Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit dienen", nicht vergleichbar seienlo . Die Kritik an Leistungskumulierungen müßte sich von daher als Mißverständnis der Begründungen und Absichten erweisen, die Anlaß zu Ausgleichsleistungen für bestimmte Schäden gegeben haben: "Wäre rechtzeitig allgemein anerkannt worden, daß Entschädigungsleistungen Leistungen besonderer Art sind, dann wäre uns die jahrelange Entrüstung über das Kumulieren von Leistungen, über das Zusammentreffen von Entschädigungsleistungen mit ,normalen' Sozialleistungen erspart geblieben. Die Entschädigungsleistung soll ihrer Zielsetzung nach ausgleichend zum ,normalen' Einkommen hinzutretenl l ." Das bedeutet, daß die Ersatzleistungen für Schäden zu völliger Unabhängigkeit von den normalen Sicherungsleistungen verstärkt und ausgebaut werden sollten. Einerseits müßten sowohl alle in den Sonderversorgungen üblichen Bedürftigkeitskriterien als auch alle für die normalen Sicherungsleistungen geltenden Kürzungs- oder Ruhensvorschriften aufgehoben werden, andererseits müßten die Entschädigungsleistungen am vollen zivilrechtlichen Schaden - wenn auch vielleicht unter Anwendung bestimmter standardisierter Berechnungsverfahren - bemessen werden. Die Anregungen, die Hoernigk vor kurzem zur Gestaltung der Kriegsopferversorgung gegeben hat, laufen auf eine solche Regelung hinaus. Für sie habe "als grundsätzliches Leistungsprinzip ... der Ersatz des durch Kriegseinwirkungen effuktiv erlittenen Schadens zu gelten, d. h. die Gewährung von Leistungen, die sowohl Einkommenseinbußen im Vergleich zu dem sonst vermutlich erzielten Arbeitsverdienst ausgleichen, wie auch zusätzliche kriegsbedingte Aufwendungen sowie Zahlungen an die Träger der gesetzlichen Altersversorgung in Höhe der vermuteten Eigenleistung einschließlich Arbeitgeberanteil decken"l!. 2.3.3. Etwas Ähnliches hat Wolfgang Gitter in seiner umfangreichen Untersuchung zum "Schadensausgleich im Arbeitsunfallrecht" für die Unfallversicherung vorgeschlagen. Seine grundlegende Ausgangsthese ist, daß "die Versicherungsleistungen der sozialen Unfallversicherung ... nur der Rechtsform nach eine öffentlich-rechtliche Entschädigung (sind), der Leistungsinhalt ... dagegen an zivilrechtlichen Schadensersatzprinzipien gemessen werden (muß)"l3. Folglich sei "vom Grundsatz des vollen Schadenersatzes auszugehen"l4, weil nur dann, 10 11

12

13 14

Auerbach, Zusammenhänge, S. 51 f. Auerbach, Zusammenhänge, S. 52. Hoernigk, Konzeptionen, S. 118 f. Gitter, Arbeitsunfallrecht, S. 146. Gitter, Arbeitsunfallrecht, S. 150.

2.3. Vom Rechtsgrund ausgehende Sozialpolitiker

33

"wenn die vom Kollektiv erbrachte Leistung dem sonst bestehenden Individualanspruch entspricht, ... der Haftungsausschluß vertretbar" sei15 • Er räumt zwar ein, daß "das Bedürfnis nach Begrenzungen, Generalisierungen und Pauschalisierungen anzuerkennen" sei, doch dürften solche "im Massenentschädigungssystem unvermeidlichen generalisierenden Regelungen ... nicht so angesetzt sein, daß sie typischerweise den vollen Schadensausgleich verhindern"18. Deshalb plädiert er für eine Reihe von Leistungsverbesserungen, insbesondere auch für "die Einbeziehung des immateriellen Schadensausgleichs in das Unfallversicherungsrecht"17, der "keinen Fremdkörper, sondern eine sachgerechte Ergänzung des Leistungssystems darstellen würde"18. Das alles läßt er aber nur für Schäden gelten, die durch Arbeitsunfälle hervorgerufen sind. Bei anderen Schadensursachen müßten wohl andere Maßstäbe ge'funden werden. Denn es erscheint ihm nicht nur rechtlich problematisch, sondern sogar "ein Verstoß gegen den rechtsstaatlichen Grundsatz, Ungleiches einander nicht gleichzusetzen", "wenn allein die Tatsache einer Schädigung die gleichen Rechtsfolgen auslösen soll, unabhängig davon, ob sie schicksalsbedingt ist, im Dienste der Allgemeinheit entstanden, von einem anderen zu vertreten oder durch eigenes Verhalten verursacht wurde"ll1. 2.3.4. Beide Vorschläge, der von Hoernigk zur Kriegsopferversorgung und der von Gitter zur Unfallversicherung, stimmen darin überein, daß "eine Leistungsbemessung nach dem Schadensersatzprinzip ... eine Wertung des beruflichen und gesellschaftlichen Abstieges des Beschädigten erfordern (würde), der nur in der echten, an die jeweilige Lohnhöhe der entsprechenden Berufsgruppe gekoppelten Berufsschadensausgleichsrente seine angemessene Abgeltung erfahren könnte"2o. In beiden Fällen ist aber nicht etwa die erlittene Schädigung dafür maßgebend, inwieweit dieser Grundsatz des vollen Schadensausgleichs angewendet werden soll, sondern die Causa, wobei in diesem Begriff Schadensursache und Rechtsgrund in eins gedacht sind. Das bedeutet, daß "jeder Schaden mit Rücksicht auf seine Ursache gesondert ausgeglichen", jedoch nicht länger "beim Zusammentreffen von Leistungen diese Prinzipien verlassen und auch der Bedarf des Leistungsempfängers als Maßstab für den Umfang der Leistungen genommen" werden so1l21.

1S 1&

17 18

1. 20 21

Gitter, Arbeitsunfallrecht, S. 201. Gitter, Arbeitsunfallrecht, S. 150. Gitter, Arbeitsunfallrecht, S. 191. Gitter, Arbeitsunfallrecht, S. 196. Gitter, Arbeitsunfallrecht, S. 200. Hoernigk, Konzeptionen, S. 119. Bogs, Grundfragen, S. 87.

3 Schäfer

34

2. Kap.: Literatur

2.4. Ansätze zu umfassenden und integrativen Lösungen

2.4.1. Alle diese Darstellungen und Vorschläge bleiben auf den Bereich beschränkt, den man als System öffentlicher Sozialleistungen zu bezeichnen pflegt. Zivilrechtliche Ausgleichsansprüche oder öffentlichrechtliche Ersatzleistungen, die nicht die Form von Sozialleistungen erhalten haben, werden nirgends einbezogen. Man findet nicht einmal einen Hinweis, daß hier Zusammenhänge und Abhängigkeiten bestehen. So werden z. B. bei Forsthoff in dem gesamten Abschnitt über das System staatlicher Ersatzleistungen weder die Kriegsopferversorgung noch der Lastenausgleich erwähnt1 , und auch bei Wolff sind die öffentlich-rechtlichen Ersatzleistungen streng getrennt von der "Ausgleichsversorgung" in verschiedenen Bänden behandelt!. Eine Beziehung zwischen den verschiedensten Arten von Ausgleichsleistungen für Schäden wird in der Regel nur insoweit hergestellt, als es um die Frage der Rückgriffsrechte geht. Gelegentlich wird auf den privatrechtlichen Schadensersatz zurückgegriffen, um an seinen Regeln Umfang und Höhe anderer Ausgleichsleistungen zu messen. Ein solcher Vergleich ist vor allem bei Diskussionen über die Unfallversicherung beliebt, und er dient dann regelmäßig dazu, die These zu stützen, daß "die Unfallversicherung nicht nur in ihrem gegenwärtigen Stand voll erhalten, sondern vielleicht auch in dieser oder jener Hinsicht noch weiter ausgebaut" werden müsse, weil "jede auch nur teilweise Eliminierung der Unfallversicherung ... aus zwingenden rechtlichen und rechtsstaatlichen Erwägungen heraus" zu "unvermeidlichen Rückwirkungen auf dem Gebiet des zivilen Schadensersatzrechts" führen müsse 9 • Die Unfallversicherung wird also nicht zuletzt deshalb als unantastbar deklariert, weil man das bürgerliche Recht des Schadensersatzes für sakrosankt hält. Nun ist sicher richtig, daß die Unfallversicherung die "volle Ablösung der Unternehmerhaftung bewirken" sollte4 und daher ein Vergleich mit der zivilrechtlichen Schadensberechnung eine gewisse Berechtigung hat. Andererseits ist jedoch daran zu erinnern, daß die Unfallversicherung die Haftungsverpflichtungen der Unternehmer nicht einfach absichern sollteG, sondern ersetzen, und daß diese Herauslösung aus dem allgemeinen Schadensrecht nicht zuletzt dazu dienen sollte, andersartige Grundsätze des Schadensausgleichs zur Geltung bringen zu können. Daß damit zugleich auch "das fragwürdige Problem einer Vgl. Forsthoff, Verwaltungsrecht, S. 290-339. Vgl. WoZff, Verwaltungsrecht I, S. 410-454, und Verwaltungsrecht S. 144-150 und S.172-181. aSenatspräsident Brackmann (Bundessozialgericht) auf einer Tagung Gesellschaft für Sozialen Fortschritt 1966 in Bad Godesberg. Zitiert aus zialer Fortschritt, Jg. 16 Nr. 1 (Januar 1967), S. 11 f. - Vgl. dazu auch Zitat von Gitter in Abschnitt 2.3.3., Anm. 15. , Hoemigk, Konzeptionen, S. 116. I wie es die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung tut. 1

!

III, der Sodas

2.4. Ansätze zu umfassenden und integrativen Lösungen

35

schuldlosen Haftung ... endgültig aus dem ,eigentlichen 'Privatrecht verschwunden und in Spezialgesetze verbannt war, die nicht mit ,juristischen' Maßstäben zu messen seien"8, mag freilich dazu beigetragen haben, die Prinzipien des bürgerlichen Schadensersatzrechts in den 70 Jahren, die es in Kraft ist, in einer Weise dogmatisch zu verfestigen, die die überlegung kaum noch zuzulassen scheint, daß auch diese Rechtsmaterie zur Disposition des Gesetzgebers steht. 2.4.2. Solchem Respekt hat sich auch die Sozialenquete-Kommission offensichtlich nicht ganz entziehen können, während sie es sonst ausdrücklich ablehnt, "an die zur Zeit geltenden, vielfach nur historisch bedingten gesetzlichen Regelungen allzu eng anzuknüpfen. So wird etwa die Kriegsopferversorgung nicht als besondere Institution, sondern je nach ihren Aufgaben an verschiedenen Stellen des Berichts behandelt; die gesetzlichen Tatbestände der Unfallversicherung werden je nach der Art des Leidens entweder bei der Sicherung im Krankheitsfalle oder in dem Abschnitt über langfristige Leiden und Gebrechen mit erörtert"7. Soweit es um öffentliche Sozialleistungen geht, "löst sich der Bericht von der herkömmlichen Gliederung nach einzelnen Gesetzen und gesetzlich begründeten Institutionen"8 und knüpft statt dessen "an die wichtigsten Lebenstatbestände an, die für Maßnahmen sozialer Sicherung von Bedeutung sind"9. Wo jedoch privatrechtliche oder öffentlich-rechtliche Ansprüche, die nicht in Form von Sozialleistungen erfüllt werden, in Frage stehen, werden sie als vorgegeben hingenommen und - zumindest für die Zwecke des Berichts - als unveränderliche Größe akzeptiert, auch wenn sie durch die gleichen Lebenstatbestände ausgelöst sind wie die Sozialleistungen. Immerhin - und das ist die Besonderheit, durch die sich die Sozialenquete von allen anderen Analysen und Reformvorschlägen abhebt hat sie erstmals deutlich darauf hingewiesen, daß die Haftpflicht in die Gesamtrechnung der sozialen Sicherung mit einbezogen werden muß. Daß zunächst die Verpflichtung, Schadensersatz leisten zu müssen, zu den sozialen Risiken gerechnet wird, gegen die das Individuum eine Sicherung benötigt, ist in anderem Zusammenhang von größerer Bedeutung1o• Mit den Überlegungen, die "für den Fall der Haftpflicht im Hinblick auf die soziale Sicherung der Geschädigten" angestellt werdenl l, wird jedoch eindeutig belegt, daß bei der Prüfung der Frage, "ob es berechtigt ist, gewisse Leidenszustände wegen der Art ihrer Verur8 Esser, Gefährdungshaftung, S. 50. 7 Sozialenquete, S. 10. 8 Sozialenquete, S. 9 f. 9 Sozialenquete, S. 9. 10 Vgl. dazu Abschnitt 7.4.1. 11 Sozialenquete, Tz. 369. Vgl. auch die beiden folgenden Textziffern.

36

2. Kap.: Literatur

sachung zu begünstigen"12, Ausgleichsleistungen, die nach dem geltenden Rechtssystem außerhalb der sozialen Sicherung abgewickelt werden, nicht ausgeklammert werden dürfen. Denn wenn auch in der Sozialenquete-Kommission die Meinungen zu dieser Frage geteilt waren13 und sie geglaubt hat, "sie in dem diesem Bericht vorgegebenen, nur auf die Sozialpolitik gerichteten Rahmen" nicht definitiv lösen zu können14 , so hat sie doch mit ihren wenigen Bemerkungen dazu eindeutig nachgewiesen, daß für die Entwicklung "einer inneren geschlossenen Konzeption" der sozialen Sicherung, die "mit den Prinzipien anderer Teilbereiche der Gesellschafts-, speziell der Rechts- und Wirtschaftsordnung kompatibel" sein soll16, die Koordinierung aller Ausgleichsleistungen für Schädigungen von Personen unentbehrlich ist. 2.4.3. Titmuss scheint weniger von Rücksichten gegenüber den tradierten Grundsätzen und Systemen des allgemeinen Schadensrechts gehemmt zu sein als die Sozialenquete-Kommission. Ob das mit seiner Herkunft aus dem andersartigen Rechtskreis des Common Law zusammenhängen könnte, ist in dem hier dargestellten Zusammenhang relativ unerheblich. Bemerkenswert ist vor allem die Unbefangenheit, mit der er die verschiedensten, ja nach dem herrschenden Rechtsverständnis sogar ausgesprochen gegensätzlichen Fälle ohne qualitative Differenzierung in einer einheitlichen Verlustliste zusammenfaßt: "Unfreiwillige Arbeitslosigkeit und das Schwinden früher erworbener Fertigkeiten; Arbeitsunfälle, Berufskrankheiten, Verkehrsunfälle; Luftverpestung und andere durch die Industrie verursachte Gefahren; Fehlurteile in Erziehungsanstalten durch irrtümliche Ausmerzung von ,Versagern' USW. 16." Gewisse Reste eines Verschuldens- oder zumindest Kausalitätsdenkens schlagen zwar noch durch, wenn Titmuss meint, daß "hier zunächst grundsätzlich zu fragen ist, welche ursächlichen Kräfte in der Gesellschaft für einen Verlust von Dienstleistungen oder sozialem Wohlergehen des Einzelnen oder der Familie verantwortlich sind, für die, wie immer mehr anerkannt wird, die Opfer selbst kein Verschulden trifft"17, doch leiten sich daraus für ihn keine ernsthaften Einwendungen ab. Zumindest genügt ihm die Unschuld der Oprer, um zu dekretieren, daß es "zu den Hauptfunktionen der Sozialen Sicherheit und der Sozialdienste (gehört), für solche Opfer eines Verlustes an sozialem Wohlergehen Vorsorge zu treffen und ihnen einen Teilausgleich für den Verlust an Einkommen und für andere Schädigungen ihrer Lebenschancen zu bieten", und daß deshalb "bei einer humanen

12 Sozialenquete, Tz. 210. 13 Vgl. Sozialenquete, Tz. 211. 14 Sozialenquete, Tz. 394. 15 Sozialenquete, Tz. 305. 18 Titmuss, Beziehungen, S. 64. 17 Titmuss, Beziehungen, S. 64.

2.4. Ansätze zu umfassenden und integrativen Lösungen

37

Einstellung, die diesen sozialen Verlust in unseren Gesellschaftsgruppen anerkennt, ... die Funktionen der Sozialen Sicherheit und der Sozialdienste zu erweitern und ihre Tätigkeit auszubauen" sind18. 2.4.4. Von der Rechtswissenschaft sind solche umfassenden integrativen Ansätze an sich weniger zu erwarten, weil das juristische Denken - trotz seiner ausgeprägten Neigung zu Systembildungen und Normierungen - intensiv darauf geschult ist, den Fortschritt der Gerechtigkeit wissenschaftlich an der begrifflichen Verfeinerung und den daraus folgenden differenzierteren Subsumtionsmöglichkeiten, praktisch an der möglichst detaillierten Untersuchung und Wertung aller Besonderheiten eines Einzelfalles zu messen. Um so aufschlußreicher ist die Feststellung, daß auch von juristischer Seite die Forderungen und Vorschläge, das Haftungsrecht auszuweiten und zu vereinheitlichen, häufiger werden. Darauf wird im einzelnen vor allem im nächsten Kapitel zurückzukommen sein. Hier sei zunächst nur auf die 1941 erschienene, bisher jedoch wohl unübertroffene Studie Essers zur Gefährdungshaftung verwiesen, in der er beharrlich und mit immer wieder neuen Argumenten die These vertritt, daß die Regelung der Schadensverteilung eine einheitliche Ordnungsaufgabe seP9, bei der es sich "überall um das Grundproblem handelt, diejenigen Personen, welche einen Schaden definitiv tragen sollen, rechtlich überhaupt erst zu fixieren, ... um die rechtliche Zuteilung an einen Träger, um die freie rechtliche Wahl unter mehreren Leidenskandidaten"20; daher werde "durch die voreilige Teilung des Gesamtproblems der Schadentragung in ein privatrechtliches Problem des Schadenersatzes und ein vermeintlich nur öffentlich- und versicherungsrechtlich zu erfassendes nationalökonomisches Problem der SchadenverteiZung die gesamte Breite der durchgehenden Ordnungsfrage mit ihren Lösungsmöglichkeiten verdeckt"21. Esser wendet sich jedoch gegen "jede Tendenz zu schematisierender Einheitslösung" und spricht sich für "eine Beibehaltung gesonderter Tatbestände", ja sogar für "eine bessere Differenzierung von gewissen Haftungen" aus22 . Die Aufgabe seines Buches hat er in der "Begründung einer allgemeinen Haftpflichtidee aus der Einsicht in die besondere soziale Ordnungsaufgabe der Gefährdungshaftung" gesehen23 , um "die Rückkehr unseres ,zivilistischen Denkens' zu den sozialen Grundlagen des Privatrechts auch im Gebiet des Schadenrechts" zu sichern24. Von daher erscheint ihm "die günstigste Lösung ... die Vereinigung der Haftpflichtmethode mit ihrer wenigstens teilweise noch 18 Titmuss, Beziehungen, S. 65. 1. Esser, Gefährdungshaftung, S. 53, 65, 69, 75 und an anderen Stellen. 20 Esser, Gefährdungshafiung, S. 70. U Esser, Gefährdungshaftung, S. 67 f. 22 Esser, Gefährdungshaftung, S. 118. U Esser, Gefährdungshaftung, S. 69 (Überschrift des 3. Kapitels). U Esser, Gefährdungshaftung, S. 131.

38

2. Kap.: Literatur

erzieherischen Wirkung auf den Urheber oder Beherrscher des Wagnisses mit der Versicherungsmethode" zu seinu, wobei auffällt, daß er "die Vorteile der Haftpflichtinstitute ... namentlich in der Auffüllung der Lücken, welche der Versicherungsgedanke seiner Natur entsprechend offen läßt", sieht28. Entscheidend für die weiteren überlegungen bleibt jedoch "die Einsicht in die Zugehörigkeit dieser genossenschaftlichen Schadenverteilungs- und Verantwortungsformen zum allgemeinen Schadenrecht"27, unabhängig davon, welche Möglichkeiten der Koordination im einzelnen bevorzugt werden mögen. 2.4.5. Eike von Hippel teilt in seinem Vorschlag zum Verkehrsunfallrecht, der gegenüber Essers Studie ausgesprochen partikular und auf konkrete legislatorische Verwertbarkeit beschränkt ist, dessen Bedenken gegen "ein volles Abgehen vom Haftpflichtgedanken ... zu einer allgemeinen Unfallversicherung"28 nicht. Er fordert vielmehr eine allgemeine Verkehrsunfallversicherung, die "jedermann ... gegen Schäden, die durch einen Verkehrsunfall verursacht werden, ... versichert"29 und die entweder einer "Bundesanstalt für Kraftverkehrsversicherung" oder einem monopolistischen Zusammenschluß aller privaten Kraftverkehrsversicherer übertragen werden so1l30. Die sehr detailliert ausgearbeiteten Einzelregelungen, die in einem Gesetzentwurf zusammengefaßt sind, brauchen an dieser Stelle nicht näher erörtert zu werden; sie werden später teils aufzugreifen, teils zu kritisieren sein. Zunächst kommt es nur darauf an, daß von Hippels System auch "als Modell für die Reform weiterer Zweige des Schadensrechts dienen" S01l31, als Modell für eine allgemeine Volksunfallversicherung, die "gegen sämtliche Unfallrisiken unserer Zeit" schützt und "alle die Abgrenzungsschwierigkeiten und Diskriminierungen beseitigen (würde), die jede Sonderregelung bestimmter Fälle mit sich bringt"32.

Es wird im folgenden zu prüfen sein, inwieweit solche Erwartungen sich rechtfertigen lassen, und inwieweit für die Konzeption eines nach rationalen Maximen koordinierten Systems von Restitutionsleistungen auch andere Darstellungen und Anregungen ausgewertet und miteinander verbunden, ergänzt und erweitert, korrigiert und variiert werden können. !5 !8

Esser, Gefährdungshaftung, S. 127 f. Esser, Gefährdungshaftung, S. 127. Esser nimmt hier also sozusagen eine

umgekehrte Subsidarität an. VgI. dazu z. B. Sozialenquete, Tz. 306 C, wo die Anspruche gegen Dritte primär sind. 27 Esser, Gefährdungshaftung, S. 131. 18 Esser, Gefährdungshaftung, S. IX. !8 Vgl. v. Hippel, Schadensausgleich, S. 44 ff. und S. 117 (§ 1 des Gesetzentwurfs). 30 Vgl. v. Hippel, Schadensausgleich, S. 118 (§ 2 des Gesetzentwurfs). 31 v. Hippel, Schadensausgleich, S. 2. az v. Hippel, Schadensausgleich, S. 115.

Drittes Kapitel

Die expansive Entwicklung der Restitutionsleistungen (Rechtslage und Problematik) 3.1. Kriegsfolgeleistungen 3.1.1. Der quantitative und sadlliche Umfang der Restitutionsleistungen für Kriegsschäden 3.1.1.1. Wenn im Zusammenhang mit dem Sozialleistungssystem von Entschädigung gesprochen wird, so wird - wie auch die kurze übersicht über die sozialpolitische Literatur im vorstehenden Kapitel gezeigt hat - dieser Begrüf in der Regel als Synonym für Kriegsfolgeleistungen gesetzt. Das heißt jedoch nicht, daß auch umgekehrt alle Kriegsfolgeleistungen als Sozialleistungen deklariert und interpretiert würden. Die Klassüizierung ist zwar durchaus schwankend, oft davon bestimmt, was jeweils gefordert wird oder nachgewiesen werden soll, doch hat sich die Übung weitgehend durchgesetzt, laufende Leistungen in die Bilanzen der sozialen Sicherung einzustellen, einmalige Leistungen dagegen als das Sozialleistungssystem nicht tangierend auszusondern1 • Unabhängig davon, wie die Rechnungen im einzelnen aufgebaut werden, bleiben aber für die finanziellen Dimensionen der Kriegsfolgeleistungen die beiden großen Blöcke der Kriegsopferversorgung und des Lastenausgleichs entscheidend. Beide werden in Zukunft zumindest relativ - im Verhältnis sowohl zum Volkseinkommen als auch zum gesamten Sozialaufwand - weniger Mittel beanspruchen. "Die gesamten sozialen Kriegsfolgelasten betrugen in den Jahren 1949-1956 zwischen 7 % und 8 % des Volkseinkommens; auf sie entfielen im Durchschnitt zwischen einem Drittel und der Hälfte der Gesamtaus1 Das Bundesarbeitsministerium hat unter den "Kosten der sozialen Sicherung" die Leistungen an Kriegsopfer, die Kriegsschadenrente und die Ausbildungshilfe aus dem Lastenausgleich sowie Erstattungen des Bundes nach dem Heimkehrergesetz und dem Häftlingshilfegesetz nachgewiesen (vgl. Arbeits- und sozialstatistische Mitteilungen, Jg. 21 Nr. 7, Juli 1970, S. 224 f.). In das Sozialbudget 1969170 hat es einen erweiterten Katalog von Entschädigungsleistungen aufgenommen (vgI. Sozialbericht 1970, Teil B, Tz. 18, 202,

217,221-223).

40

3. Kap.: Rechtslage und Problematik

gaben des Bundes2 ." In den nächsten Jahren wird dagegen der Satz von 7 % bis 8 Ofo für den Anteil an den öffentlichen Sozialleistungen gelten3 • Die Zahl der Berechtigten geht in allen Sparten der Restitutionsleistungen zurück. Trotzdem nimmt in der Kriegsopferversorgung der absolute Aufwand ständig zu, und diese durch Leistungsverbesserungen bedingte Entwicklung wird sich auch weiter fortsetzen, da die Renten an Kriegsopfer von 1971 an in die Dynamisierung der gesetzlichen Rentenversicherung einbezogen worden sind. Bei den anderen Entschädigungsregelungen haben auch die absoluten Ausgaben eine leicht sinkende Tendenz. Der Lastenausgleich wird insbesondere von den achtziger Jahren an ein erheblich geringeres Volumen haben, da sowohl die Erfüllung der Hauptentschädigung als auch die Entrichtung der Ausgleichsabgaben auf den 31. März 1979 terminiert sind. Trotzdem dürfte es nicht gerechtfertigt sein, die Kriegsfolgehilfen nur als quantite negligeable zu werten. Denn die Verkürzung ihres Gesamtbudgets wird in erster Linie durch die Abwicklung der einmaligen Kapitalentschädigungen für Vermögensverluste bewirkt, während bei den laufenden Einkommenstransfers eine quasi automatische Tendenz, schon in absehbarer Zeit asymptotisch auszulaufen, nicht unterstellt werden kann, sondern noch für Jahrzehnte mit Milliardenumsätzen zu rechnen ist4 • Es kommt hinzu, daß die Gesetzgebung immer noch weitere Restitutionsansprüche anerkennt, vorwiegend solche, die mehr nach dem Muster des Lastenausgleichs als nach dem der Kriegsopferversorgung konstruiert sind. Vor allem aber sind für eine systematische Fragestellung der sachliche Umfang der gestellten Ausgleichsforderungen und der Modus ihrer Erfüllung viel aufschlußreicher als rein quantitativ-ökonomische Werte. 3.1.1.2. An dieser Stelle kann allerdings keine Ideen- und Wirkungsgeschichte, nicht einmal eine Beschreibung der sozialen Hilfspolitik der Nachkriegszeit gegeben werden. Das Spektrum der gesamten Bemühungen, die Folgen des Krieges und des nationalsozialistischen Regimes zu überwinden und die entstandenen Schäden und Verluste zwischen den betroffenen und den verschont gebliebenen Bevölkerungsteilen in einer sozial erträglichen Weise auszugleichen, sei deshalb nur durch AZbers, Kriegsfolgelasten, S. 370. Vgl. Sozialbericht 1970, Teil B, S. 55, übersicht 5. 4 "Nach versicherungsmathematischen Berechnungen wird es noch ein Jahrzehnt über das Jahr 2000 hinaus Empfänger der Kriegsschadenrente geben, und zwar auch dann, wenn keinen neuen Jahrgängen Zugang zu dieser Versorgung geöffnet wird." (Nahm, Lastenausgleich, S. 34) - "Im Frühjahr 1966 erhielten noch rund 200000 Kriegsopfer des ersten Weltkriegs Leistungen." (Schewe und Nordhom, übersicht, S. 134). Z

3

3.1. Kriegsfolgele1stungen

41

eine Liste der Titel der wichtigsten Gesetze angedeutet5. Es wurden nach 1945 - in der Zeitfolge ihres Erlasses geordnet - Regelungen getroffen -

zur Milderung dringender sozialer Notstände (Soforthilfe)' zur Förderung der Eingliederung von Heimatvertriebenen in die Landwirtschaft7 über die Unterhaltsbeihilfe für Angehörige von Kriegsgefangenen8 über Hilfsmaßnahmen für Heimkehrerll über die Versorgung der Opfer des Krieges 10 zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts für Angehörige des öffentlichen Dienstes l l zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Artikel 131 des Grundgesetzes fallenden Personen12 über einen Währungsausgleich für Sparguthaben Vertriebener13 über den Lastenausgleich14 über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge15 zur Milderung von Härten der Währungsreform16 für Evakuierte17 zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Kriegsopferversorgung für Berechtigte im Ausland18 zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung19 über die Entschädigung ehemaliger deutscher Kriegsgefangener20 über Hilfsmaßnahmen für Personen, die aus politischen Gründen außerhalb der Bundesrepublik Deutschland in Gewahrsam genommen wurden (Häftlingshilfe)21

a Eine systematische Zusammenstellung sämtlicher Verlust- und Schadensgruppen, die bei einer Liquidation aller - wenigstens aller materiellen Kriegsfolgen zu berücksichtigen wären, gibt Bernhard Wolff in der Einleitung zu der Dokumentation "Die Lastenausgleichsgesetze" , hrsg. vom Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, Bd. 1, erster Halbband, Bann 1962, S. 6. I Gesetz vom 8.8. 1949, WiGBI. S. 205. 7 Gesetz vom 10. 8. 1949, WiGBl. S. 231. 8 Gesetz vom 13.6. 1950, BGBl. S. 204. • Gesetz vom 19.6. 1950, BGBI. S. 221. 10 Gesetz vom 20. 12. 1950, BGBl. S. 791. 11 Gesetz vom 11.5. 1951, BGBl. I S. 291. 11 Gesetz vom 11.5.1951, BGBl. I S. 307. 13 Gesetz vom 27.3. 1952, BGBl. I S. 213. U Gesetz vom 14.8.1952, BGBl. I S. 446. 15 Gesetz vom 19. 5. 1953, BGBl. I S. 201. 18 Gesetz vom 14. 7. 1953, BGBl. I S. 495. 17 Gesetz vom 14. 7. 1953, BGBl. I S. 586. 18 Gesetz vom 3. 8. 1953, BGBl. I S. 843. Gesetz vom 18. 9. 1953, BGBl. I S. 1387. 20 Gesetz vom 30. 1. 1954, BGBl. I S. 5. 21 Gesetz vom 6. 8. 1955, BGBl. I S. 498.

l'

42

3. Kap.: Rechtslage und Problematik

über die Abgeltung von Besatzungsschäden2! über die Versorgung für die ehemaligen Soldaten der Bundeswehr und ihre HinterbHebenen!3 zur allgemeinen Regelung durch den Krieg und den Zusammenbruch des Deutschen Reiches entstandener Schädenu zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Kriegsopferversorgung26 über die Beweissicherung und Feststellung von Vermögensschäden in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands und im Sowjetsektor von Berlin26 über Hilfsmaßnahmen für Deutsche aus der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands und dem sowjetisch besetzten Sektor von Berlin (Flüchtlingshilfe)21 zur Abgeltung von Reparations-, Restitutions-, Zerstörungs-, und Rückerstattungsschäden28.

-

Bei dieser Gesetzgebung lassen sich deutlich drei Phasen unterscheiden. In der ersten, die etwa bis 1950 reicht und in die auch die Jahre vor der Währungsreform, in denen es noch keine deutsche Gesetzgebung gab, einzubeziehen wären, ging es zunächst um das nackte überleben, um die Milderung der elementaren, existentiellen Not und sodann um die Bedingungen eines neuen Anfangs, um die Begründung von Startchancen für einen Wiederaufbau und eine zukünftige Entwicklung. In der zweiten Phase, die ungefähr die erste Hälfte der fünfziger Jahre umfaßt, setzt sich gegenüber dieser sozial motivierten Eingliederungshilfe immer mehr die Entschädigung für erlittene Verluste durch. Der Einschnitt zwischen diesen beiden Phasen ließe sich durch das Ende 1950 erlassene Bundesversorgungsgesetz bezeichnen, das in seiner wesentlichsten Neuerung - nämlich der Auf teilung der Versorgungsleistungen in Grundrente und Ausgleichsrente - den Gedanken der Unterhaltssicherung mit dem der Schadensabgeltung kombiniert. Die dritte Phase schließlich, die Mitte der fünfziger Jahre einsetzt, bringt eine analoge Gesetzgebung für Nachkriegsschäden, d. h. für Schäden, die nicht mehr unmittelbar Kriegsfolge sind, sondern erst später, wenn auch infolge der durch den Krieg bedingten Verhältnisse, entstehen. Hierzu gehören zunächst die Häftlingshilfe und die Flüchtlingshilfe sowie der Ersatz für Besatzungsschäden. Aber auch in den letzten JahU

IS U

!5 28 17

18

Gesetz vom 1. 12. 1955, BGBI. I S. 734. Gesetz vom 26. 7.1957, BGBI. I S. 785. Gesetz vom 5.11.1957, BGBI. I S. 1747. Gesetz vom 25. 6. 1958, BGBl. I S. 412. Gesetz vom 22. 5. 1965, BGBI. I S. 425. Gesetz vom 15.7.1965, BGBl. I S. 612. Gesetz vom 12.2. 1969, BGBI. I S. 105.

3.1. Kriegsfolgeleistungen

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ren sind neue Restitutionsansprüche zuerkannt worden, und weitere werden erhoben. Anfang 1969 ist das sogenannte Reparationsschädengesetz verabschiedet worden, das - nach den Bemessungsgrundsätzen des Lastenausgleich, d. h. nach der Größe des Vermögens degressiv gestaffelt - Entschädigungen für Verluste vorsieht, die durch Demontagen, durch Rückerstattung von gutgläubig erworbenem jüdischen Vermögen, durch Zerstörung bei der Entmilitarisierung, durch die Rückführung solcher Güter, die im Krieg aus den besetzten Gebieten nach Deutschland gebracht worden waren, und durch Enteignung deutschen Vermögens im Ausland entstanden sind. Die amtliche Begründung dieses Gesetzes, daß es "die letzten Vorbehalte ..., die das Allgemeine Kriegsfolgengesetz ... getroffen hatte" ausfülle und "daher zugleich den Schlußstein der Gesetzgebung über die Liquidation des Zweiten Weltkriegs und seiner Folgen" bilde!9, hatte damals sofort den Protest des Heimkehrerverbandes provoziert, der ein Schlußgesetz zur Kriegsgefangenenentschädigung forderte 80 • Bei dem Regierungswechsel im Herbst 1969 hat die CDU/CSU über die jeweils den einzelnen Ministerien zugeordneten Bundestagsausschüsse hinaus ausdrücklich einen speziellen Ausschuß für Kriegsfolgen gefordert, um das besondere Interesse des Parlaments für diese Fragen zu dokumentieren; die Landsmannschaft Schlesien hat - wie eine ganze Reihe anderer Verbände - entschieden gegen die Auflösung des Bundesvertriebenenministeriums Stellung genommen, das unentbehrlich sei, "solange die Eingliederungsmaßnahmen nicht abgeschlossen sind, die Lastenausgleichsgesetzgebung nicht durch eine Abschlußnovelle beendet ist, die gesetzliche Gleichstellung der Flüchtlinge gerade begonnen hat, ... "31. Die am 30. September 1969 in Kraft getretene 21. Novelle zum Lastenausgleichsgesetz hatte erstmals auch für sogenannte Zonenschäden Ausgleichsleistungen vorgesehen; sie sind inzwischen durch die Ende 1970 verabschiedete 23. Novelle erheblich ausgedehnt worden. Damit wurde "ein systematischer Abschluß der Lastenausgleichsgesetzgebung erreicht in dem Sinne, daß nunmehr für alle in Betracht kommenden Schadensarten eine gesetzliche Regelung getroffen ist, ohne daß damit selbstverständlich eine weitere Verbesserung im einzelnen ausgeschlossen wäre"·!. Das bedeutet jedoch nicht, daß auch ein Abschluß des Bundestags-Drucksache V/2432, Tz. 10. Ein solches Gesetz ist am 22.7.1969 erlassen worden (BGBl. I, S. 931). Es sieht die Errichtung einer "Heimkehrer-Stiftung für ehemalige Kriegsgefangene" vor, die vom Bund mit 60 Millionen DM ausgestattet werden und ohne Rechtsanspruch - Darlehen und einmalige Unterstützungen gewähren soll, entspricht damit jedoch keineswegs den Vorstellungen, die der Heimkehrerverband hatte. 81 Resolution der Bundesdelegiertenversammlung der Landsmannschaft Schlesien vom 12. Oktober 1969, zitiert nach FAZ Nr. 237 vom 13.10.1969, S.l. 82 BAA, 20 Jahre LA, S. 81. H

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3. Kap.: Rechtslage und Problematik

Lastenausgleichs erreicht wäre oder kurz bevorstünde. "Von den ungefähr 110 Milliarden DM, welche die Auszahlungen aus dem Ausgleichsfonds nach den langfristigen Finanzplanungen des Bundesausgleichsamtes - auf der Grundlage der heutigen Gesetzesfassung geschätzt ausmachen werden, sind bisher 73 Milliarden DM geleistet worden, etwa ein Drittel bleibt also noch zu leisten ... Der überwiegende Teil der künftigen Summen wird im übrigen auf lebenslänglich zu leistende Kriegsschadenrenten und laufenden Beihilfen ... entfallen." Außerdem ist gerade erst durch die Einbeziehung der "Zonenschäden" und der "Reparationsschäden", bei denen sogar die Schadensermittlung noch in den ersten Anfängen steht, "der Zeitpunkt, an dem von einem Abschluß des Lastenausgleichs wird gesprochen werden können, erneut weiter in die Zukunft geschoben" worden33 • Vor allem aber haben bisher alle Hoffnungen, wenigstens die Gesetzgebung über Kriegsfolgen endgültig abgeschlossen zu haben und sich auf die administrative und finanzielle Abwicklung beschränken zu können, getrogen. Immer wieder sind Leistungsverbesserungen und neue Leistungen gefordert und durchgesetzt worden. So ist auch von den "Reparationsgeschädigten" schon erwogen worden, das Bundesverfassungsgericht anzurufen, weil sie eine öffentliche Verbindlichkeit erfüllt hätten und deshalb voll oder zumindest großzügiger als nach Lastenausgleichsgrundsätzen entschädigt werden müßten. Schließlich haben die Wandlungen in der deutschen Ostpolitik Ansprüche der Vertriebenen auf eine ebenfalls volle Entschädigung laut werden lassen. Denn das Lastenausgleichsgesetz sei "unter dem ausdrücklichen Vorbehalt, daß die Gewährung und Annahme von Leistungen keinen Verzicht auf die Geltendmachung von Ansprüchen auf Rückgabe des von den Vertriebenen zurückgelassenen Vermögens bedeutet"34, beschlossen worden, sei also von der Voraussetzung ausgegangen, daß das Eigentum an Grund und Boden, industriellen Anlagen und Gebäuden erhalten bleibt. Werde die OderNeiße-Grenze anerkannt, so bedeute das folglich eine Enteignung, die dann auch nach den Grundsätzen des Enteignungsrechts entschädigt werden müsse. 3.1.2. Das Restitutionsdenken im Kriegsschädenrecht

3.1.2.1. Es kann hier nicht geprüft werden, ob und inwieweit derartige Forderungen eine Chance haben, sich durchzusetzen; darauf kommt es bei den hier angestellten überlegungen auch gar nicht an. Vielmehr geht es darum, welche Vorstellungswelt sich in ihnen manifestiert. Dabei ist die Perpetuierung der Ansprüche, die durch die gesetzlich as BAA, 20 Jahre LA, S. 105. U

Aus der Präambel des Lastenausgleichsgesetzes.

3.1. Kriegsfolgeleistungen

45

fixierte Vererblichkeit des Vertriebenenstatus35 legitimiert erscheint, nur ein Aspekt und keineswegs der wichtigste. Aber er ist doch auch Indiz und gleichzeitig Resultat eines Denkansatzes, der schon aus naturrechtlichen Ideen der Aufklärungszeit stammt und sich seitdem zunehmend verfestigt hat. Während "in früheren Jahrhunderten ... Kriegsschäden den unberechenbaren Ereignissen wie Brand, überschwemmung oder Diebstahl gleichgestellt" wurden und "Krieg zu führen ... ein Hoheitsrecht des Landesfürsten" war, so daß "kein Untertan ... Ansprüche gegen den Souverän stellen" konnte3G, glaubte man, "es im 19. Jahrhundert so weit gebracht zu haben, daß zwischen dem Krieg und der Zivilbevölkerung eine Schutzwand errichtet und gehalten werden könne. Und wenn je das Militär über einen Kleeacker führe oder gar ein Haus umgeschossen würde, so wäre eben der Staat zur Ersatzleistung verpflichtet"37. Der Umbruch zu der neuzeitlichen Attitüde wird durch die Kodifizierung des Aufopferungsanspruchs in § 75 der Einleitung des preußischen Allgemeinen Landrechts schon 1794 positivrechtlich manifest. In dieser "für die Entschädigungslehre grundlegend gebliebenen Vorschrift"38 ist festgelegt, daß "der Staat denjenigen, welcher seine besonderen Rechte und Vorteile dem Wohle des gemeinen Wesens aufzuopfern genötigt wird, zu entschädigen gehalten" ist. Kurz vorher, am 11.8. 1792, war von der französischen Nationalversammlung eine Entschädigungspflicht des Staates für Kriegschäden seiner Bürger statuiert worden39 • Das Prinzip einer absoluten und vollen Entschädigung für alle Einbußen an Vermögen und Gesundheit ist zwar selten durchgehalten, aber nie aufgegeben worden. Es wurde allenfalls von den siegreichen Staaten praktiziert, die - wie Deutschland nach dem Krieg von 1870/71 - einen hundertprozentigen Schadensersatz aus den Tributen ihrer unterlegenen Gegner finanzieren konnten. Wo das nicht der Fall ist, schieben sich zunächst soziale und wirtschaftliche Notwendigkeiten in den Vordergrund, um so mehr, je größer die Verluste sind, die auszugleichen wären, je dringlicher die Notstände sind, die schnelle Hilfe erfordern, und je stärker die Wirtschaftskraft im Ganzen geschädigt ist, je begrenzter also die finanziellen Möglichkeiten und je notwendiger alle verfügbaren Mittel für einen wirtschaftlichen Wiederaufbau sind. Aber das gilt in der Regel nur für einen übergangszustand, in dem 35 § 7 des Bundesvertriebenengesetzes: "Kinder, die nach der Vertreibung geboren sind, erwerben die Eigenschaft als Vertriebener oder Sowjetzonenflüchtling des Elternteils, dem im Zeitpunkt der Geburt oder der Legitimation das Recht der Personensorge zustand oder zusteht." 38 Neuhoff, Entschädigungsrecht, S. 509. 37 Wirtschafts-Zeitung, Jg. 3 Nr. 34 vom 20.8. 1948, zitiert nach BTaun, Motive, S. 87. 38 FOTsthoff, Verwaltungsrecht, S. 303. 3D Vgl. Neuhoff, Entschädigungsregelungen, S. 401.

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3. Kap.: Rechtslage und Problematik

Bilanz gezogen und ein neuer Anfang gesucht wird. Davor und danach erscheint das Entschädigungsdenken um so fester etabliert, je größer der zeitliche Abstand von dieser Phase wird. Solange der Kampf noch nicht entschieden ist, gehören großzügige Entschädigungsversprechen zu den Durchhalteparolen, die die Bereitschaft zu weiterer Aufopferung erhalten sollen. So war in Deutschland noch während des zweiten Weltkriegs verordnet worden, daß für alle Schäden an beweglichen und unbeweglichen Sachen Ersatz zu leisten sei, wobei "für die Höhe der Entschädigung ... diejenigen Kosten, die bei einer Wiederbeschaffung oder Wiederherstellung aufgewendet sind oder im Zeitpunkt der Entschädigung aufzuwenden wären", maßgebend sein sollten40 • Diese Zusage erwies sich allerdings nach dem totalen Zusammenbruch des Deutschen Reiches und nach der ebenso totalen sozialen Deprivation von Millionen seiner Bürger als "eine nur durch ein historisches Mißverständnis zu erklärende Renaissance" des traditionellen Kriegsschädenrechts41 • Doch sie war nicht vergessen. Sobald, privat und beruflich, das überleben gesichert war, der wirtschaftliche Aufstieg einsetzte und der Staat sich wieder etabliert hatte, erinnerte man sich ihrer, erlebte sie eine - wenn auch etwas bescheidenere - neue Renaissance. "Ein Restitutionsdenken griff um sich, das sich trotz der ungeheuerlich gewachsenen Schadenslast viel weitere Ziele setzte als nach dem ersten Weltkrieg. Es gab fast nichts, wofür man die neue westdeutsche Bundesrepublik nicht hätte in Anspruch nehmen mögen42 ." Die Phasen der Restitutionsgesetzgebung, wie sie im vorangehenden Abschnitt kurz bezeichnet worden sind, folgen also den - sich sozusagen normalisierenden - sozialen Anschauungen und Gefühlen. Das in den fünfziger Jahren gegenüber den Eingliederungs- und Aufbauhilfen dominierend werdende Entschädigungsdenken korrespondiert ziemlich genau mit "jenen zwei Phasen der Flüchtlingspsychologie"43, die Achinger im Anschluß an eine Bemerkung von Nahm folgendermaßen beschrieben hat: "Die erste Phase sei erfüllt von Dankbarkeit, Ruhebedürfnis, ja von einem bescheidenen Gefühl des Gerettetseins und des Glücks ... Die zweite Phase, die durch Unzufriedenheit und Aufbegehren gekennzeichnet ist, schließt sich ebenso natürlich an, wenn nämlich der Neuling beginnt, sich in der neuen Heimat umzusehen, nach Chancen trachtet, sich mit seinen Kräften vorzuarbeiten, und wenn er anfängt, sein Los mit dem seiner Nachbarn, der Eingesessenen, zu vergleichen44 ." 40 § 4 Abs. 1 der Kriegssachschädenverordnung vom 30.11.1940, RGBl. I, S.1547. 41 BTaun, Motive, S. 87. n AchingeT, Die soziale Odyssee, S. 38. 43 AchingeT, Die soziale Odyssee, S. 36. 44 AchingeT, Die soziale Odyssee, S. 33 f.

3.1. Krie~olgeleistungen

47

3.1.2.2. So hat sich die Maxime, daß möglichst alle Kriegsschäden möglichst vollständig abzugelten seien, "in den meisten Staaten nach dem zweiten Weltkrieg als Grundsatzstandpunkt ... durchgesetzt. Einschränkungen in Anbetracht der mangelnden Leistungsfähigkeit sind jedoch häufig ... Nach diesem Aspekt werden degressive Entschädigungsstaffeln, Höchstbeträge der Entschädigung und Mindestentschädigungsquoten eingeführt, bestimmte Vermögensarten oder bestimmte Personen von der Entschädigung ausgeschlossen sowie unterwertige Werte bei der Bemessung der Entschädigung zugrundegelegt"45. Dieser Kompromißcharakter ist kennzeichnend für die gesamte Regelung der Kriegsfolgen. Auf der einen Seite steht die Überzeugung, daß die durch den Krieg und seine Folgen Geschädigten ein unbedingtes und unbegrenztes Recht auf Entschädigung hätten. Für die Kriegsopferversorgung ist anerkannt, daß sie an sich "einen Ersatz wirtschaftlichen Schadens bieten" müßte", nachdem schon "das nach dem ersten Weltkrieg ergan~ne Reichsversorgungsgesetz ... deutlich den Gedanken der Schadenvergütung nach Haftpflichtgrundsätzen erkennen" ließ47. Den Heimkehrern wird bestätigt, daß ihnen "ein rechtlicher Anspruch auf Entschädigung zuzuerkennen" sei, und dieser Rechtsanspruch sei "eine Art Wiedergutmachung"48. Bei den Opfern nationalsozialistischer Verfolgung müsse "das ganze Entschädigungsrecht auf dem allgemeinen Rechtsprinzip des Schadensersatzes für schuldhafte Verletzung von Rechtsgütern" beruhen49 , so daß also auch "für das Maß der Entschädigung berücksichtigt werden müsse, daß es sich um die Wiedergutmachung eines Unrechts handele"50. Mit dem Begriff des Lastenausgleichs verband man ursprünglich die Vorstellung "einer durch einen einmaligen Akt zu vollziehenden Umschichtung der an einem bestimmten Stichtage vorhandenen Vermögen. Die radikalste der aus der Entschädigungsideologie abgeleiteten Forderungen ging dahin, den Durchschnittssatz der Vermögensminderung ... zu ermitteln und alle Vermögenswerte, die den einzelnen über diesen Satz hinaus verblieben waren, einer Ausgleichsmasse zuzuführen und aus dieser alle überdurchschnittlich geschädigten Vermögen bis zum Durchschnittsatz aufzufüllen"51. Auf der anderen Seite mußten solche großzügigen Pläne und Vorstellungen wegen der begrenzten Leistungsfähigkeit der öffentlichen Neuhoff, Entschädigungsregelungen, S. 401 f. Bundestags-Drucksache 1/1333, zitiert nach Braun, Motive, S. 84. 47 Schieckel, Kriegsopferversorgung, S. 377. 48 Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 1. Wahlperiode, S. 11079, zitiert nach Braun, Motive, S. 104. 40 Bundesanzeiger, Jg. 1953 Nr. 103, S. 5, zitiert nach Braun, Motive, S. 109. &0 BTaun, Motive, S. 106. 61 BTaun, Motive, S. 91 f. 46

41

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3. Kap.: Rechtslage und Problematik

Haushalte erheblich beschränkt werden. Das Bundesversorgungsgesetz billigte nur die Grundrente allen Verletzten als eine Art Ehrensold zu, ging jedoch bei der Zuerkennung von Ausgleichsrente davon aus, "die für die Versorgung der Kriegsopfer zur Verfügung stehenden beschränkten finanziellen Mittel in erster Linie denjenigen zukommen zu lassen, die auf die Hilfe des Staates besonders angewiesen sind"5l!. Indem es mit dieser Begründung "wieder weitgehend die Bedürftigkeit als Voraussetzung für die Gewährung von Leistungen einführt, kehrt es zu den bereits überwundenen Gedanken des alten Versorgungsrechtes zurück"53. Den zurückgekehrten Kriegsgefangenen sollte eine "die Grundsätze der sozialen Gerechtigkeit und die volkswirtschaftlichen Möglichkeiten berücksichtigende Entschädigung" gewährt werdenfi4 • Diese Klausel taucht im gleichen Wortlaut in der Präambel zum Lastenausgleichsgesetz auf. In Bezug auf die Entschädigung für Verfolgte des nationalsozialistischen Regimes wird zwar ausdrücklich erklärt, daß sie "nicht auf die beschränkten Möglichkeiten des Lastenausgleichs verwiesen werden können"55; aber dennoch setze auch hier "der Konkurs des Reiches und die dadurch hervorgerufene beschränkte Zahlungsfähigkeit der Bundesrepublik dieser Schadenersatzpflicht gewisse Grenzen"56. 3.1.2.3. Dieses Dilemma und dieser Zwiespalt zwischen den intendierten Grundsätzen, die darauf zielten, "den Zustand herzustellen der bestehen würde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand nicht eingetreten wäre"57, und realisierbaren Konzepten, die nur begrenzte Finanzmittel in Rechnung stellen konnten und deshalb Prioritäten setzen mußten, hat insbesondere in der sehr gründlichen und eingehenden Diskussion Ausdruck gefunden, die unter dem Stichwort ,quotale oder soziale Entschädigung' zur Lastenausgleichsgesetzgebung geführt worden ist. Dabei schien es bei der "sozialen" Lösung, die "sich im Soforthilfe-Gesetz auch noch nahezu vollständig durchgesetzt" hat58, zunächst nur darum zu gehen, der "Gewährung von sozialer Hilfe, die sich nach dem gegenwärtigen Bedürfnis des Betroffenen richtet", die also eine "gegenwartsorientierte Lösung ohne Berücksichtigung der vor dem Schaden innegehabten sozialen Position" wäre, den Vorrang zu geben vor einer durch "totale oder quotale Wiederherstellung des ... verloBundestags-Drucksache 1/1333, zitiert nach Braun, Motive, S. 84. Schieckel, Kriegsopferversorgung, S. 377. fit Beschluß des Deutschen Bundestages vom 28.11.1952, zitiert nach Braun, Motive, S. 104. 55 Bundestags-Drucksache I/1800, Anlage 1 b, zitiert nach Braun, Motive, 62

61

S.106. 68 57 58

Bundesanzeiger, Jg. 1953, Nr. 103, S. 5, zitiert nach Braun, Motive, S. 109.

§ 249 BGB.

Weisser, Lastenausgleich, S. 67.

3.1. Kriegsfolgeleistungen

49

renen Besitzes auf Restitution der früheren sozialen Position ausgehenden Lösung"59. Die weitere Debatte führte jedoch über diese Alternative zwischen Existenzsicherung und Eingliederung, also der Hilfe zu einer umfassenden sozialen Integration einerseits und einer mehr oder weniger vollständigen Vermögenserstattung andererseits, hinaus und knüpfte - insbesondere in den Plänen, die den Lastenausgleich direkt mit der Währungsreform verbinden wollten - an die Vermögensumschichtung sehr viel weiterreichende Hoffnungen auf eine grundlegende Umstrukturierung der Besitzverhältnisse und der sozialen Schichtung. Es gab also nicht nur die vergangenheitsorientierten Forderungen der "Quotalisten" und eine gegenwartsorientierte "soziale" Gegenposition, sondern auch zukunftsorientierte Ambitionen, die die völlige Deroutierung aller Besitz-, Wirtschafts-, Geld- und Rechtsverhältnisse als einmalige Chance begrüfen, auch in den sozialen Beziehungen einen Neuanfang zu setzen. Diese Gruppe der Utopisten, die sozusagen im überschwang der Stunde Null glaubten, die Gleichheit der Hungernden, Frierenden und Obdachlosen in eine sich konsolidierende und wieder hocharbeitende Gesellschaft hinüberretten zu können, schied jedoch sehr schnell aus der Konkurrenz um die soziale Gestaltung aus. Die faktischen Vollzüge konzentrierten sich zunächst auf die dringendsten Aufgaben der sozialen Replazierung, d. h. insbesondere auf die Vermittlung von Wohnungen, Verdienstmöglichkeiten, Ausbildungshilfen und direkter finanzieller Unterstützung für Arbeitsunfähige. Dabei ist ein recht vielfältiges Instrumentarium eingesetzt worden, das zumindest teilweise auch von der Arbeitsverwaltung übernommen werden konnte, da der Typus der sozialen Desintegration in ähnlicher Form und mit ähnlichen Folgen wie bei den kriegsbedingten Entwurzelungen bei allen strukturellen Wandlungen auftritt, die Abwanderungen in andere Gegenden und andere Berufe erzwingen. Selbst bei derartigen Maßnahmen einer fördernden Assistenz haben sich jedoch schon bald restaurative Tendenzen bemerkbar gemacht. Nach "der damaligen ersten Auffangleistung"60 gelang es nicht, sich prospektiv an den Chancen einer neuen Ordnung zu orientieren, die dem Aufstieg - dessen Ausmaß und Dynamik allerdings zunächst niemand voraussah - hätte gegeben werden können, sondern man nahm rein retrospektiv den verlorenen Status zur Richtschnur und bemühte sich, die alten und erprobten Modelle des Lebens zu rekonstruieren. Das zeigt sich besonders deutlich an den Versuchen, vertriebene Bauern wieder mit landwirtschaftlich nutzbarem Boden auszustatten, aber auch an den analogen Bestrebungen, einer "sozialen Deklassierung entgegenzuwirken", die man darin sah, daß ehemals 58

80

Nahm, Lastenausgleich, S. 4. Achinger, Die soziale Odyssee,

4 Schäfer

S. 36.

50

3. Kap.: Rechtslage und Problematik

Selbständige "zunächst fast durch~g nur als Arbeitnehmer wieder Fuß fassen" konnten81 , und an der Hauptleistung nach dem Bundesevakuiertengesetz, die in einer Rückführung an den "Ausgangsort" bestand. Obwohl sehr bald klar wurde, "daß trotz intensivster Bemühungen aller beteiligten Stellen die Wiedereingliederung der Geschädigten und unter ihnen vorwiegend der Vertriebenen in der Landwirtschaft nur beschränkte Erfolge" haben konnte8!, "weil Grund und Boden in der Bundesrepublik nur in unzureichendem Maße verfügbar ist und obendrein ... auch die altansässige Landwirtschaft der Bundesrepublik seit Kriegsende einen tiefgreifenden und teilweise schmerzhaften Umstellungsprozeß durchmacht"83 und weil sich insgesamt "in der deutschen Wirtschaft ... seit Kriegsende eine Umschichtung (vollzog), durch die die Zahl der selbständig Tätigen verringert ... wurde"84, hielt man an den durch die wirtschaftlichen Verhältnisse überholten Restitutionsprogrammen fest. Das führte dann dazu, "daß im Rahmen der landwirtschaftlichen Eingliederung nicht die Förderung von Vollbauernstellen die praktisch größte Bedeutung bekam, sondern die Förderung von Nebenerwerbsstellen ... Die Tendenz ging in den letzten 20 Jahren dahin, daß immer kleinere Nebenerwerbsstellen gefördert wurden. Praktisch umfassen die bisher geförderten Nebenerwerbsstellen höchstens etwa 3000 qm, mindestens etwa 700 bis 800 qm"66. Durch die 22. Novelle zum Lastenausgleichsgesetz ist sogar für die Jahre 1970 und 1971 die Bereitstellung weiterer Mittel für diesen Zweck zugelassen worden, während auf der anderen Seite seit Jahren Milliardenbeträge eingesetzt werden, um Landwirte zur Aufgabe ihrer Betriebe zu veranlassen und ihre Umsetzung in andere Wirtschaftsbereiche zu fördern. Diese Praxis ist durch eine Mentalität ausgelöst und befördert worden, in der Regierende und Regierte völlig übereinstimmten. Achinger hat sie schon acht Jahre nach dem Zusammenbruch mit folgenden Worten glossiert: "Die Bevölkerung des westdeutschen Bundesgebiets, ob sie nun aus solchen besteht, die, zu Hause geblieben, ihre Sicherheit neu begründen wollten, oder aus solchen, die, von draußen hereinkommend, entwurzelt waren und völlig neu beginnen mußten, diese Bevölkerung hat sich, was den Alltag und seine Existenzformen angeht, überaus konservativ gezeigt. Die ältesten Lebensmodelle schienen die sichersten und besten. Man will nicht einmal die Möbel mehr, die in der Bauhauszeit ein etwas moderneres Gesicht bekommen hatten. Man will die alte, kleinbürgerliche Existenz zurückgewinnen. Wer zusieht, wie 81

8!

13 14 16

BAA, 20 Jahre LA, S. 28. BAA, 20 Jahre LA, S. 38. BAA, 20 Jahre LA, S. 36. BAA, 20 Jahre LA, S. 28. BAA, 20 Jahre LA, S. 37.

3.1. Kriegsfolgeleistungen

51

sich Ortsfremde in neuen Siedlungen einrichten, wie sie ihr Hausgärtchen von vorn anfangen, der sieht, daß den Menschen nichts N eues eingefallen ist, wie man leben könnte, und daß sie mit dieser Restaurationsarbeit ganz und gar befriedigt und glücklich sind. Der soziale Staat hat nicht mehr neue Ideen aufgebracht als der Einzelne. Auch hier sind es die ... alten Denkschemata, die Modelle und Institutionen von gestern, die man schleunigst wieder herstellt und mit alten und neuen Aufgaben belädt88 ." An alle dem erweist sich schließlich auch, daß der Gegensatz zwischen den eine quotale Entschädigung und den eine soziale Eingliederung Befürwortenden keineswegs so grundsätzlicher Art war, wie die zum Teil heftigen Kontroversen hatten scheinen lassen. Den "Quotalisten", die forderten, "den Lastenausgleich so zu gestalten, daß er nicht nivellierend die soziale und kulturelle Differenzierung der Menschen beseitige, sondern den einzelnen nach Möglichkeit wieder in eine ähnliche Position innerhalb der Gesellschaft versetze, wie er sie früher innegehabt habe"67, begegneten die Vertreter der "sozialen" Gegenposition nicht etwa mit dem Einwand, daß man damit Reminiszenzen nachjage, die nicht reaktiviert werden könnten oder sollten, sondern vielmehr mit dem Argument, daß die überkommene soziale Schichtung, obwohl sie auf den Besitzverhältnissen beruhte, durch einen nur auf die Vermögensverluste beschränkten Ausgleich nicht wiederherzustellen sei. "Die Bedeutung wirtschaftlicher Selbständigkeit und Mitverantwortung für die menschliche Persönlichkeit schätzen die Vertreter der Gegenposition nicht niedriger, sondern höher als die ,Quotalisten' ein. Ihnen kommt es darauf an, daß schlechthin die ganze Lebenslage soweit als möglich restituiert wird ... Die den ,Quotalisten' entgegengesetzte Position ist dadurch gekennzeichnet, daß ohne starre Bindung an den Teil seines Schadens, der in Vermögensverlust besteht, möglichst viel unternommen wird, um den Geschädigten seinem Beruf und seiner bisherigen Stellung im Beruf zu erhalten oder ihn einigermaßen gleichartig einzugliedern ... Ökonomisch läßt sich dies auch so ausdrücken: bei der Ermittlung des Schadens wird nicht der in dem hier in Betracht kommenden Sinne zufällige Marktwert, sondern der Gebrauchswert seiner Existenzgrundlagen als Kriterium des Maßes an Hilfe zugrunde gelegt8s." Beide Gruppen sind sich also im Prinzip darin einig, daß verlorene soziale Positionen wiederhergestellt sollten, beide wollen nicht soziale Strukturveränderungen auslösen und fördern, sondern verhindern, möglichst wieder rückgängig machen und einen überholten so Achinger, Die soziale Odyssee, S. 39 f. Der endgültige Lastenausgleich. Ein Bericht des Bundesministeriums der Finanzen, 1949, Tz. 182. IS Weisser, Lastenausgleich, S. 68 f. - Hervorhebung vom Verfasser. 17

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3. Kap.: Rechtslage und Problematik

Zustand rekonstruieren. Wenn es hier auch weiterführende Vorschläge gibt69 , so geht es doch vor allem um Meinungsverschiedenheiten über die Mittel, nicht über die Ziele. Die Position der Gegenspieler der "Quotalisten" ist eben nur insofern die modernere, als sie die Überschätzung des Vermögens als alleinigen Bestimmungsfaktors für die Lebenslage des einzelnen überwunden und begriffen hat, daß eine soziale Politik in einer dynamischen Wirtschaft auch andere Parameter benutzen muß. Dennoch bleibt auch für sie gültig, daß jedes Streben nach Restitution seinen Maßstab ex definitione in der Vergangenheit suchen muß und damit einen Restaurationseffekt hat. Das bleibt unbemerkt und auch unbedeutend, solange es um die Restitution von Einzelschäden geht, gewinnt jedoch eine eminente gesellschaftspolitische Relevanz, wenn nach politischen Katastrophenfällen über die Restitution der gesamten Sozialverfassung zu entscheiden ist.

3.2. Restitutionsleistungen in der Sozialversicherung 3.2.1. Die Rezeption des Restitutionsprinzips durclJ. die RentenversiclJ.erung

3.2.1.1. Die Restitutionsleistungen, die zum System sozialer Sicherung zu rechnen sind, beschränken sich keineswegs - wie die übliche Gleichsetzung von Entschädigungsprinzip und Versorgungsprinzip vermuten ließe - auf die Sondersysteme, von denen im vorangehenden Abschnitt die Rede war. Vielmehr sind Elemente der Restitution zusätzlich auch in die Konstruktion der Sozialversicherung eingearbeitet worden, und zwar in erheblichem Umfang gerade für den durch Kriegsfolgen betroffenen Personenkreis. Dabei sind für verschiedene Gruppen verschiedene Techniken benutzt worden, die sich als Erweiterung der Anspruchsberechtigung und der Bemessungskriterien gegenüber dem ursprünglichen Versicherungskonzept beschreiben lassen. Das erste Verfahren betrifft die Vertriebenen und Flüchtlinge, das zweite in erster Linie einheimische Kriegsversehrte. 3.2.1.2. Die Vertriebenen und Flüchtlinge hatten vor und während des Krieges Rentenanwartschaften in der Regel nur gegenüber solchen Institutionen der sozialen Sicherung erworben, die außerhalb der jetzigen Bundesrepublik lagen. Nun berücksichtigen aber "die meisten nationalen Systeme ... bei Personen, die nacheinander im Inland und im Ausland versichert oder beschäftigt oder wohnhaft gewesen sind, nur die im Inland zurückgelegten Versicherungs-, Beschäftigungs- oder ev Vgl. Weisser, Lastenausgleich, S. 78 ff., sowie Produktivere Eingliederung, insbesondere Kapitel 5, S. 87-148.

3.2. Restitutionsleistungen in der Sozialversicherung

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Aufenthaltszeiten bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen für einen Leistungsanspruch erfüllt sind, und bei der Berechnung der Geldleistungen"l. Wäre bei den Vertriebenen und Flüchtlingen nach diesem Grundsatz verfahren worden, so wären ihre früher erworbenen Ansprüche zum größten Teil verloren gewesen, denn sie hätten nur dann realisiert werden können, wenn entweder die Bundesrepublik mit den Herkunftsländern Sozialversicherungsabkommen geschlossen hätte oder wenn die Träger der sozialen Sicherung in den Heimatgebieten Rentenzahlungen auch in die Bundesrepublik geleistet hätten. Diese Lösung hielt man für ungenügend und betrachtete es als eine "Aufgabe der Bundesrepublik ... , diese Menschen nicht nur in den Wirtschaftsprozeß ihrer neuen Heimat einzugliedern, sondern sie auch hinsichtlich ihrer sozialen Sicherheit den Landsleuten in der Bundesrepublik gleichzustellen"2. Dabei begnügte man sich nicht damit, die außerhalb der Bundesrepublik entstandenen Ansprüche und Anwartschaften zu restituieren, d. h. als Verbindlichkeiten der Bundesrepublik oder ihrer Sozialleistungsträger zu übernehmen; denn man hielt es für ungerecht, "die wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten in dem jeweiligen Herkunftsland zur Grundlage der Rentenberechnung in der neuen Heimat zu machen"3, weil "die Systeme der sozialen Sicherheit der infrage kommenden Länder ... sowohl hinsichtlich der Dauer ihres Bestehens als auch hinsichtlich der Art und des Umfangs der Leistungen erhebliche Unterschiede" aufweisen·, so daß nicht nur zwischen Einheimischen und Vertriebenen, sondern auch zwischen den verschiedenen Vertriebenengruppen erhebliche Differenzierungen der Leistungen entstanden wären. Im sogenannten Fremdrentenrecht wurde daher festgelegt, daß Vertriebene, Flüchtlinge und Zuwanderer aus der DDR, heimatlose Ausländer und Deutsche, "die nach dem 8. Mai 1945 in ein ausländisches Staatsgebiet zur Arbeitsleistung verbracht wurden" oder die "infolge der Kriegsauswirkungen den früher für sie zuständigen Versicherungsträger eines auswärtigen Staates nicht mehr in Anspruch nehmen können"6, bei der Rentenberechnung so behandelt werden, a~s ob sie ihr gesamtes Arbeitsleben im Bundesgebiet verbracht hätten. Das bedeutet insbesondere, daß alle Versicherungs- und Beschäftigungszeiten nach dem geltenden Recht der Bundesrepublik angerechnet werden6 und daß diese Zeiten bei der Ermittlung der individuellen Bemessungsgrundlage so bewertet werden, als ob der jeweilige Verdienst dem eines vergleichbaren Arbeitnehmers im Bundesgebiet entSchewe und NordhoTn, übersicht, S. 181. Eicher, Sozialversicherungsrecht, S. 3. a Eicher, Sozialversicherungsrecht, S. 4. , Eicher, Sozialversicherungsrecht, S. 5. 5 § 1 und § 17 Fremdrentengesetz i. d. F. vom 25. 2. 1960. , §§ 15-17 Fremdrentengesetz i. d. F. vom 25.2. 1960. 1

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3. Kap.: Rechtslage und Problematik

sprochen hätte7 • Hinsichtlich der sozialen Sicherungsansprüche sind die Vertriebenen und Flüchtlinge damit nicht nur voll entschädigt, sondern durch die Eingliederung in das Leistungsrecht des Bundes aufgrund der Fiktion, daß sie ihm schon immer unterlägen hätten, sogar auf ein höheres Niveau gehoben worden, es sei denn, das ausländische Sozialrecht hätte ausnahmsweise weitergehende Leistungen vorgesehen, die nun entfallen. 3.2.1.3. Neben den Ansprüchen, die sonst gänzlich verloren gewesen wären, sind durch die Berechnungsverfahren der Rentenversicherungen auch solche restituiert worden, die durch die Kriegsereignisse gemindert worden wären. Das rechtstechnische Instrument, mit dem das bewirkt wird, ist die Anrechnung von sogenannten Ersatzzeiten. Wie schon der Terminus anzeigt, wird dabei - ebenso wie im Fremdrentenrecht - mit einer Fiktion gearbeitet: Zeiten, in denen wegen kriegerischer oder kriegsbedingter Vorgänge eine versicherungspflichtige Tätigkeit nicht ausgeübt und Beiträge nicht gezahlt werden konnten, werden so behandelt, als ob sie normale Versicherungszeiten gewesen wären. Sie werden sowohl auf die Wartezeiten angerechnet als auch bei der Berechnung der Rentenhöhe berücksichtigt. Das gilt im einzelnen8 für Zeiten, in denen der Versicherte -

aufgrund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht oder während eines Krieges militärischen oder militär-ähnlichen Dienst geleistet hat, interniert oder verschleppt war, wenn er nach der gesetzlichen Definition Heimkehrer ist, während oder nach der Beendigung eines Krieges, ohne Kriegsteilnehmer zu sein, an der Rückkehr aus dem Ausland oder aus den unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebieten gehindert worden ist, als politisch Verfolgter im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes inhaftiert, emigriert oder arbeitslos war, als politisch Verfolgter im Sinne des Häftlingshilfegesetzes in Gewahrsam genommen war, sich auf der Flucht befand oder umgesiedelt wurde, wenn er nach der gesetzlichen Definition Vertriebener oder Flüchtling ist.

-

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Wenn der Versicherte durch das, was ihm in diesen Zeiten widerfahren ist, berufsunfähig geworden oder gestorben ist, gilt darüber hinaus auf jeden Fall die Wartezeit als erfüllt und werden mindestens fünf Versicherungsjahre angerechnete. § 22 Fremdrentengesetz i. d. F. vom 25. 2. 1960. Vgl. § 1251 RVO, § 28 AVG, § 51 RKG. I Vgl. § 1252 und § 1258 Abs. 5 RVO, § 29 und § 35 Abs. 5 AVG, § 52 und § 62RKG. 7

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3.2. Restitutionsleistungen in der Sozialversicherung

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Durch diese Verfahren ist gewissermaßen eine Restitution zerstörter oder beeinträchtigter Sicherungsansprüche in die Rentenversicherung selbst eingebaut worden. Dem entspricht auf der Finanzierungsseite eine Umdeutung des Staatszuschusses. Obwohl es ihn in der Rentenversicherung seit ihrem Bestehen gegeben hat, wird heute "zu seiner Rechtfertigung ... darauf hingewiesen, ... daß die Rentenversicherungen vor allem in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg weitgehend Lasten haben übernehmen müssen, die als Folge des Krieges und politischer Maßnahmen entstanden sind"lO. Dabei wird nicht nur mit den eben dargestellten Klauseln argumentiert, die für die Rentenversicherungen nicht durch Beiträge der Berechtigten gedeckte Aufwendungen bedeuteten, sondern man bezieht sich auch auf die Vermögensverluste durch Inflation und Währungsreform und insbesondere auf die durch die Nachwirkungen zweier Weltkriege grundlegend verschlechterte Relation zwischen Einnahmen und Ausgabenl l • Von daher erscheint es in der Tat nicht ganz unberechtigt, die Bewältigung des "Rentenberges" in toto als eine gesamtgesellschaftliche Restitutionsverpflichtung zu interpretieren, die sich aus vorzeitigen Rentenzahlungen für Kriegsinvalide und Kriegswitwen einerseits, verminderten Beitragseinnahmen durch den Ausfall der Kriegstoten und die kriegsbedingten Geburtenausfälle andererseits addiert. Eine solche Interpretation zeigt allerdings auch hier wieder, daß ein völliger Ausgleich für die "Schädigung der Rentenansprüche" nicht möglich ist, weil die Kriegsverluste - hier im Wesentlichen die Bevölkerungsverluste der beiden Weltkriege - nicht rückgängig gemacht werden können, sondern entweder von den Erwerbstätigen in Form höherer Beiträge oder von den Rentnern in Form einer geringeren Rentendynamik, also relativ sinkender Renten, oder von allen Gruppen gemeinsam getragen werden müssen. Daß alle, die hier für eine Beteiligung in Frage kommen, zu denen gehören, die "noch einmal davongekommen" sind, würde es allerdings nahelegen, die Belastung annähernd gleichmäßig zu verteilen. Solche Verteilungsrechnungen sind im Grunde leicht anzustellen und leicht einzusehen, solange man sie auf eine Sparte der sozialen Leistungen beschränkt. Unübersichtlich und auffällig wird das Problem erst, wenn man die verschiedenen sozialen Bemühungen um die Geschädigten des Krieges zusammensieht. Dann offenbart sich, daß eine Doppelgleisigkeit, auch in den Begründungen, herrscht, die nur aus isolierten, partikularen Konstruktionen der einzelnen Ressorts des sozialen Leistungssystems erklärlich ist. Hoernigk hat kürzlich auf die "InkonseSozialenquete, Tz. 245. Vgl. z. B. F. Varelmann: Millionen vertrauen ihr. Rentenversicherung entlastet öffentliche Hand. In: Welt der Arbeit, Nr. 2 vom 10.1.1969, S. 6. . 10

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3. Kap.: Rechtslage und Problematik

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quenz in der Gewährung sozialer Leistungen an die Kriegsopfer" aufmerksam gemacht, die er darin sieht, "daß dem Schadensersatzgedanken in der Kriegsopferversorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz nur unzureichend, nach der Reichsversicherungsordnung jedoch sehr weitgehend Rechnung getragen wird", indem "der infolge von Kriegseinwirkungen entstandene Schaden durch verhinderte Abführung von einkommensgerechten Beitragsleistungen an die gesetzliche Rentenversicherung ... durch die Anrechnung von Ersatzzeiten auf den Rentenanspruch voll ersetzt (wird), während dieser Maßstab für sonstige, aus der Kriegsopferversorgung zu deckende Schäden seine volle Gültigkeit verliert"12. Statt dessen hätte seiner Ansicht nach "als grundsätzliches Leistungsprinzip der Versorgung der Kriegsopfer ... der Ersatz des durch Kriegseinwirkungen effektiv erlittenen Schadens zu gelten"13 und die Rentenversicherung insoweit aus dem Spiel zu bleiben. Man könnte sich auch umgekehrt vorstellen - was allerdings im Prinzip nur eine technische Verfahrensalternative wäre -, daß ein Kriegsversehrter mit der bestmöglichen Rente, die er bei normalen, friedlichen Zeiten hätte erreichen können, versehen und die Aufwendungen dafür aus dem Kriegsopferetat erstattet worden wären. Beides wären in gleichem Maße übersichtliche und einheitliche Lösungen gewesen. Man hat sich aber nicht damit begnügt, geschädigte Personen entweder in den volkswirtschaftlichen Leistungsprozeß wieder angemessen einzugliedern oder, wo das nicht mehr gelingen konnte, ihnen eine ausreichende, angemessene, möglichst großzügige Versorgung zu gewähren. Vielmehr sind, für die Kriegsopfer ebenso wie für die Vertriebenen und die sonstigen Kriegsgeschädigten, parallel und unabhängig voneinander agierende Systeme der Existenzsicherung entworfen worden, deren eines für Friedenszeiten konzipiert, aber mit weitgehenden Restitutionselementen durchsetzt worden ist, während das andere vom Restitutionsgedanken ausging, ihn aber durch Bedürftigkeitsklauseln verwässerte und sich durch ein relativ niedriges Leistungsniveau einigermaßen in das Gesamtsystem einpaßte. Ob dabei im Einzelfall ein befriedigendes Ergebnis erzielt wird, hängt vor allem an Zufälligkeiten des persönlichen Lebenslaufs und der individuellen Schicksalslage; aus der Konstruktion des Systems läßt es sich nicht entnehmen. 3.2.2. Schadensausgleich für Arbeitsunfälle

3.2.2.1. Das Gesamtbild der Leistungen für durch den Krieg Geschädigte wäre noch vielfältiger und damit auch noch undurchsichtiger und uneinheitlicher, wenn die Unfallversicherung mit eingezeichnet würde. Es sei nur ergänzend zum vorigen Abschnitt am Rande erwähnt, daß 12

13

Hoernigk, Hoernigk,

Konzeptionen, S. 119 f. Konzeptionen, S. 118.

3.2. Restitutionsleistungen in der Sozialversicherung

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sie ebenfalls in das Fremdrentenrecht einbezogen ist. Im übrigen mag es hier jedoch genügen, die Unfallversicherung isoliert zu untersuchen und zu zeigen, daß das Entschädigungsrecht für Arbeitsunfälle in sich selbst, ohne Einbeziehung anderer Restitutionen, ganz ähnliche Kombinationen und Differenzierungen, die immer zugleich Privilegien und Diskriminierungen für gleichartige Fälle zur Folge haben, hervorbringt wie das Kriegsfolgenrecht. Dabei ist zunächst daran zu erinnern, daß die Unfallversicherung von Anfang an als Schadensersatzleistung innerhalb des Sozialversicherungssystems konstruiert worden ist und daß sie "in ihrem Kern noch heute (als) eine Ablösung der Haftpflicht der Unt-ernehmen für die den Arbeitnehmer schädigenden Folgen des Arbeitsverhältnisses" interpretiert wird14 • Es hat also seit jeher sogar innerhalb der Sozialversicherung eine Gliederung der Leistungszweige nach unterschiedlichen Anspruchsgrundlagen gegeben, und zwar in einer Form, die nahezu zwangsläufig zu Leistungskumulationen führen mußte. Denn einerseits war der von den verschiedenen Versicherungsinstituten erfaßte Personenkreis weitgehend identisch, da sie ja alle als Arbeiterversicherung konzipiert waren, andererseits unterscheiden Krank-en- und Invalidenversicherung nicht nach der Ursache des ihre Leistungen auslösenden Versicherungsfalls und decken daher auch durch Betriebsunfälle bedingte Krankheit und Invalidität ihrerseits nochmals ab. Nun ist es natürlich sinnlos, Naturalleistungsansprüche zweimal zuzubilligen. Da die Krankenbehandlung sowohl in der Krankenversicherung als auch in der Unfallversicherung als sogenannte Sachleistung konstruiert ist, der Verletzte sich aber nicht doppelt behandeln lassen kann, konkurrieren insoweit die beiden - an sich aus demselben Tatbestand gegebenen - Ansprüche. Dabei entfällt grundsätzlich der Anspruch gegen die Unfallversicherung15 , und die Aufwendungen der Krankenversicherung werden ihr auch im Innenverhältnis nicht von der Unfallversicherung erstattet 16 • And-ers ist es jedoch bei Geldleistungen, die Lohnersatzfunktion haben. Treten infolge eines Arbeitsunfalles dauerhafte Schädigungen auf, die Rentenzahlungen auslösen, sind die Ansprüche, die aus demselben Tatbestand an die Unfallversicherung und an die Rentenversicherung gestellt werden können, grundsätzlich nicht mehr alternativ, sondern kumulativ17 • Allerdings gilt dabei eine Art Bereicherungsverbot; die 14 15

18

Auerbach, Zusammenhänge, S. 52. § 565 Abs. 1 RVO. § 1504 Abs. 1 RVO.

Krankengeld aus der Krankenversicherung und Verletztengeld aus der Unfallversicherung werden dagegen nicht nebeneinander gewährt, aber im Unterschied zu den Kosten der Krankenbehandlung im Innenverhältnis teilweise erstattet. Vgl. dazu § 565 und § 1504 Abs. 1 RVO. 17

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3. Kap.: Rechtslage und Problematik

Doppelliquidation des sich in einem bestimmten Einkommensverlust konkretisierenden Schadens wird durch eine individuelle Auffanggrenze auf 85 Ufo des Erwerbseinkommens limitiert18, um das "sozialpolitisch unerwünschte Ergebnis"lu zu verhindern, daß die Summe der Rentenleistungen höher ist als der Nettolohn. Das Prinzip, daß bei Arbeitsunfällen zwei Renten gezahlt werden, wird dadurch jedoch nicht suspendiert, sondern nur etwas moderiert, obwohl die Unfallrente eines Erwerbsunfähigen ohnehin höher ist als die Erwerbsunfähigkeitsrente aus der Rentenversicherung2o• Es ist sogar durch Ausnahmeregelungen für den Arbeitsunfall dafür Sorge getragen, daß das Prinzip der Doppelleistung auch dann nicht durchbrochen wird, wenn die Anspruchsvoraussetzungen der Rentenversicherung an sich nicht erfüllt sind. Die Wartezeit gilt nämlich immer als erfüllt, wenn ein Arbeitsunfall vorliegt, und sie ist in diesem Fall auch als Mindestversicherungszeit bei der Rentenberechnung zugrunde zu legen21 • Dadurch ist ebenso wie durch die Anrechnung von unfallbedingter Arbeitsunfähigkeit als Ausfallzeit22 in die Rentenversicherung ein Element des Schadensersatzes für Arbeitsunfälle eingebaut worden. Wer bei der Arbeit verunglückt, ist also gegenüber einem Schicksalsgenossen, dem das Gleiche bei einer anderen Gelegenheit widerfährt, in dreifacher Weise begünstigt: Er erhält zunächst eine höhere Rente, er erhält außerdem eine zweite Rente, und er erhält schließlich die normale Rente, die für ihn Zweitrente ist, unter erleichterten Bedingungen. 3.2.2.2. Das Sonderrecht für bestimmte Unfalltypen hat sich seit der Einführung der Unfallversicherung ständig ausgeweitet. Der entscheidende Umbruch, der notwendige Bedingung für diesen anhaltenden Expansionsprozeß ist, war eigentlich schon im Reichshaftpflichtgesetz von 1871 erfolgt, in dem für den Betrieb der Eisenbahnen das Prinzip der Gefährdungshaftung durchgesetzt wurde23 • Erst durch die Verbindung mit der zwangsgenossenschaftlichen Schadensrepartierung, wie sie durch das erste Unfallversicherungsgesetz von 1884 statuiert wurde, war jedoch die Basis geschaffen worden, dieses Prinzip einer Haftung Vgl. §§ 1278, 1279 RVO und §§ 55, 56 AVG. Schewe und Nordhom, übersicht, S. 46. 20 Die Vollrente bei Erwerbsunfähigkeit aus der Unfallversicherung beträgt zwei Drittel des Arbeitseinkommens, das vor dem Unfall erzielt wurde (§ 581 Abs. 1 Nr. 1 RVO). Da der Steigerungssatz für die Erwerbsunfähigkeitsrente aus der Rentenversicherung 1,5 % beträgt (§ 1253 Abs. 2 RVO, § 30 Abs. 2 AVG), könnte sie frühestens nach rund 441/2 Versicherungsjahren die gleiche Höhe erreichen, wenn der Versicherte während dieser ganzen Zeit die gleiche persönliche Bemessungsgrundlage wie unmittelbar vor dem Unfall gehabt hätte. 21 § 1252 Nr. 1 und § 1258 Abs. 5 RVO, § 29 Nr. 1 und § 35 Abs. 5 AVG. 22 § 1~59 Abs. 1 Nr. 1 RVO, § 36 Abs. 1 Nr. 1 AVG. !3 Diese Regelung war allerdings durch das preußische Eisenbahngesetz von 1838 schon vorbereitet. Vgl. Gitter, Arbeitsunfallrecht, S. 15. 18

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3.2. Restitutionsleistungen in der Sozialversicherung

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ohne Verschulden zu generalisieren und zu extendieren und es damit zur Grundlage einer sozialen betrieblichen Schadensordnung überhaupt werden zu lassen. Diese Ausdehnung und Verallgemeinerung vollzieht sich in drei Richtungen: Sie betrifft die einbezogenen Wirtschaftszweige, die versicherten Personen und die schädigenden Ereignisse24 • 1884 bezog die Unfallversicherung zunächst nur einen begrenzten Kreis von als besonders gefährlich erachteten Betrieben ein. Das waren neben den Bergwerken, Steinbrüchen, Gruben und Fabriken, deren Schadensersatzpflicht bis dahin im Reichshaftpflichtgesetz geregelt war, nur mit Motoren arbeitende Handwerksbetriebe und gewerbliche Hochbaubetriebe. In rascher Folge wurden jedoch, teils durch Novellen zum gewerblichen Unfallversicherungsgesetz, teils durch Sondergesetze, weitere Betriebstypen in das Unfallversicherungssystem eingegliedert: 1885 alle Transport- und Verladungsbetriebe einschließlich Post-, Eisenbahn-, Marine- und Heeresverwaltungen, 1886 die Land- und Forstwirtschaft, 1887 die bis dahin noch nicht versicherten Baubetriebe, insbesondere der Tiefbau, und ebenfalls 1887 die Seeschiffahrt einschließlich der Lotsen-, Rettungs-, Bergungs-, Hafen- und Dockbetriebe. 1911 wurden die verschiedenen selbständigen Unfallversicherungsgesetze in der Reichsversicherungsordnung - mit der bis heute erhaltenen Unterteilung in gewerbliche (jetzt allgemeine), landwirtschaftliche und See-Unfallversicherung - zusammengefaßt. Eine wesentliche Erweiterung der Versicherungspflicht hat die Reichsversicherungsordnung nicht gebracht. Sie blieb insbesondere beim Enumerationsprinzip, so daß auch in den folgenden Jahrzehnten die Ausdehnung der Unfallversicherung durch wiederholte Verlängerungen der Liste der in sie einbezogenen Betriebe bewirkt wurde. Erst 1942 wurde auf die Voraussetzung verzichtet, daß der Arbeitsunfall sich in einem der ausdrücklich im Gesetz bezeichneten Betriebe ereignet haben muß. Seitdem sind bestimmte Tätigkeiten als solche, nicht mehr nur die Tätigkeit in bestimmten Betrieben, versichert, insbesondere alle, die aufgrund eines Arbeits-, Dienst- oder Lehrverhältnisses ausgeübt werden25 • Damit sind auch die älteren personellen Einschränkungen entfallen, durch die insbesondere die "Betriebsbeamten" über einer bestimmten - mehrfach erhöhten - Einkommensgrenze ausgeschlossen waren. Heute sind alle Beschäftigten, einschließlich der mithelfenden Familienangehörigen und der Arbeitslosen sowie einer Reihe anderer Gruppen!6, gegen Unfälle versichert, unabhängig von Einkommenshöhe, Alter oder Staatsangehörigkeit, unabhängig auch davon, ob U Für die frühe Entwicklung vgl. Schmoller, Die soziale Frage, S. 400-408; Paul, Unfallversicherung, S. 410-436; Gitter, Arbeitsunfallrecht, S. 5-38. %5 § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO. 28 Vgl. § 539 Abs. 1 Nr. 2-6 und Nr. 13-16 sowie Abs. 2 RVO.

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3. Kap.: Rechtslage und Problematik

sie in privaten oder öffentlichen Betrieben, vorübergehend oder dauernd, aufgrund eines Arbeitsvertrages oder ohne einen solchen tätig sind. Zwei entscheidende sachliche Erweiterungen, die die Definition des Versicherungsfalls vom ursprünglichen Begriff des Arbeitsunfalls lösten, wurden 1925 vorgenommen. Die eine ist die Einbeziehung der Berufskrankheiten in die von der Unfallversicherung zu entschädigenden Unglücksfälle. Hier ist der Gesetzgeber bis heute bei einem Enumerationsverfahren geblieben: Berufskrankheiten sind Krankheiten, welche in einer Rechtsverordnung als solche bezeichnet sind27 • Dabei wurde zunächst gemäß dem Prinzip der Betriebsversicherung eine Krankheit nur dann als Berufskrankheit anerkannt, wenn sie in ganz bestimmten Betrieben entstanden war28 • Reste dieses Verfahrens finden sich auch noch in dem heute gültigen Verzeichnis der entschädigungspflichtigen Berufskrankheiten; die Beschreibung der Berufskrankheit durch die sie verursachenden Substanzen oder Vorgänge hat es jedoch weitgehend überflüssig gemacht. Das Festhalten am Enumerationsprinzip hat nicht nur eine Limitierungsfunktion für die Leistungspflicht der Unfallversicherung, sondern erleichtert dem betroffenen Versicherten auch, den Kausalzusammenhang zwischen seiner Krankheit und seiner Erwerbstätigkeit darzulegen, da es fast so etwas wie eine Umkehrung der Beweislast bewirkt. Außerdem ist es durch das Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz von 1963 etwas aufgelockert worden. Seitdem können Berufskrankheiten in Einzelfällen auch dann entschädigt werden, wenn sie (noch) nicht in die Liste aufgenommen worden sind, nach neueren Erkenntnissen der Medizin aber durch schädigende Einflüsse am Arbeitsplatz bedingt sind29 • Mit der zweiten 1925 eingeführten Erweiterung des Versicherungsschutzes, der Einbeziehung der Unfälle auf dem Weg "nach und von dem Ort der Tätigkeit"30, wurde - zusammen mit einer vorangegangenen entsprechenden Regelung in Österreich31 - die inzwischen auch international zu konstatierende Tendenz erkennbar, die Unfallversicherung über den betrieblichen Risikobereich hinaus auszudehnen. Damit gewinnt die Unfallversicherung einen völlig neuen Aspekt, weil bei den Wegeunfällen von der Ablösung einer zivilrechtlichen Haftung der Unternehmen - und zwar unabhängig davon, ob sie aus Verschulden, 27 § 551 Abs. 1 Satz 2 RVO. Die Ermächtigung zum Erlaß einer solchen Rechtsverordnung war schon 1911 in der RVO erteilt worden, doch ist erstmalig 1925 von ihr Gebrauch gemacht worden. Vgl. Gitter, Arbeitsunfallrecht, S. 80. 28 Vgl. Paul, Unfallversicherung, S. 424. 29 § 551 Abs. 2 RVO. 30 § 550 RVO. 31 Vgl. Gitter, Arbeitsunfallrecht, S. 81.

3.2. Restitutionsleistungen in der Sozialversicherung

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einer besonderen Betriebsgefahr oder reiner Kausalität hergeleitet wird - schlechterdings nicht mehr gesprochen werden kann, sondern nur noch von einer Fürsorgepflicht der Arbeitgeber. Denn die Ereignisse auf dem Arbeitsweg entziehen sich jeglichem Einfluß und jeglicher Kontrolle durch die Unternehmen, insbesondere auch im Hinblick auf unfallverhütende Vorkehrungen. Auch "die Merkmale, die den Zusammenhang zwischen Schaden und Arbeit sicherstellen sollen, Ort, Zeitpunkt und innerer (ursächlicher) Zusammenhang"32, sind auf Wegeunfälle nicht anwendbar. Wegeunfälle ereignen sich ex definitione nicht am Arbeitsplatz und nicht während der Arbeitszeit. Sie sind auch durch alle sonst angewendeten Kausalitätstheorien nicht auf die Arbeitstätigkeit zurückzuführen, weder durch die zivilrechtliche Adäquanztheorie noch durch die eigens für die Unfallversicherung entwickelte Theorie der wesentlichen Bedingung33, die verlangt, daß "eine Verbindung bestand zwischen den durch den Betrieb geschaffenen oder beeinflußten Bedingungen und dem den Abschluß der Ursachenreihe bildenden Ereignis derart, daß letzteres nach vernünftigem Ermessen als Folge jener Umstände anzusprechen ist"34, daß "nur solche Ursachen als ... rechtserheblich anzusehen (sind), die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben"35 und daß "nicht schon die generelle Begünstigung der Schadensentstehung durch die betriebliche Tätigkeit ausreicht, sondern eine wesentliche Einwirkung erforderlich ist"36. Unter alle derartigen Definitionen lassen sich Wegeunfälle nicht ohne Gewalt subsumieren. Es gibt einfach keinen direkten Verursachungszusammenhang zwischen Arbeitstätigkeit und Unfall auf dem Arbeitsweg, sondern nur einen Veranlassungszusammenhang: Man macht den Weg zur Arbeit, weil man irgendwo seiner Erwerbstätigkeit nachgehen muß, und man würde andernfalls wahrscheinlich diesen Weg zu dieser Zeit nicht gemacht haben. Es gibt jedoch keine allgemeine Veranlassungstheorie für die Unfallversicherung, die besagen würde, daß für alle Unfälle Ersatz zu leisten ist, die nicht entstanden wären, wenn der Verletzte nicht durch seine Arbeit veranlaßt gewesen wäre, sich gerade zur Unfallzeit am Unfallort aufzuhalten. Schädigungen, "die nur zufällig am Arbeitsort und zur Arbeitszeit eingetreten sind, für die aber die Arbeit nicht der eigentliche Entstehungsgrund war"37, werden vielmehr in der Regel38 von allen Leistungen ausgeschlossen. Gitter, Arbeitsunfallrecht, S. 85. Zur "Kausalitätstheorie der sozialen Unfallversicherung" vgl. Gitter, Arbeitsunfallrecht, S. 105-129. 34 Amtliche Nachrichten des Reichsversicherungsamts 1914, S. 411, zitiert nach Gitter, Arbeitsunfallrecht, S. 109. 35 Bundessozialgericht 1/156 f., zitiert nach Gitter, Arbeitsunfallrecht, S. 109. 38 Gitter, Arbeitsunfallrecht, S. 120. 37 Gitter, Arbeitsunfallrecht, S. 85. 32

33

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3. Kap.: Rechtslage und Problematik

3.2.2.3. Da es keine allgemeinen, sicheren und eindeutigen Kriterien dafür gibt, wem die Begünstigungen der Unfallversicherung zustehen sollen, hat die Rechtsprechung eine "Kasuistik zur Kausalitätsfrage"S8 entwickelt, die im Einzelfall zu entscheiden versucht, ob eine Schädigung eher dem berufsbedingten Risiko oder eher der privaten Sphäre zuzurechnen ist. Die Sozialgerichte sind zunehmend mit solchen diffizilen und ausgeklügelten Abgrenzungen, insbesondere bei Wegeunfällen, beschäftigt, bei denen sozusagen jeder Schritt vom Wege (oder sogar auf dem Wege) dafür maßgebend sein kann, ob man den privilegierten Status des Unfallversicherten einbüßt40. Aber auch für Vorfälle, die sich innerhalb des Betriebes und während der Arbeitszeit ereignen, müssen immer wieder die penibelsten Differenzierungen getroffen werden, solange man auf die Unterscheidung von betrieblichen und privat bedingten Unfällen nicht verzichten zu können glaubt41 • Wer auch nur die fast jede Woche erscheinenden Zeitungsberichte über diese Urteile verfolgt, dem müssen sie selbst dann wie eine Sammlung sophistischer Kuriositäten erscheinen, wenn er dem in sie investierten Höchstmaß an juristischem Scharfsinn und sozial ambitioniertem Gerechtigkeitsstreben seine Hochachtung nicht versagen kann. 38 Ausnahmen von dieser Regel bestehen in Frankreich und in Luxemburg. Vgl. Gitter, Arbeitsunfallrecht, S. 85 und S. 125. 39 Gitter, Arbeitsunfallrecht, S. 124. 40 "Ob der Versicherte den Weg zu Fuß, auf dem Motorrad, im Auto, mit dem Fahrrad oder der Straßenbahn zurücklegt, ist unerheblich. Der Weg muß nur stets in einem inneren Zusammenhang mit der Tätigkeit im Unternehmen stehen. Damit wird eine große Anzahl der Verkehrsunfälle als Arbeitsunfälle behandelt, wiewohl der Versicherte auf dem Wege von und zu der Arbeitsstätte sehr häufig nur betriebsfremden Gefahren erliegt. Das Hinfallen auf der Straße infolge einer Unebenheit fällt demnach ebenso unter den Unfallversicherungsschutz wie eine Verletzung aus einem Zusammenstoß zweier Fahrzeuge. Wann der Weg zu der Arbeit beginnt und wann der Weg von der Arbeit endet, ist nicht immer leicht zu entscheiden. Eine umfangreiche Rechtsprechung hat insoweit zu dem Ergebnis geführt, daß an der äußeren Haustür des vom Verletzten bewohnten Gebäudes der versicherte Weg beginnt oder endet. Fällt der Versicherte auf der Treppe seines Hauses, bevor er die äußere Haustür passiert hat, ist er den Gefahren seines häuslichen Wirkungskreises erlegen und nicht versichert." "Kurze Unterbrechungen auf dem Wege von oder nach der Arbeitsstätte heben den Zusammenhang nicht auf. Verläßt der Versicherte dagegen die Straße, so besteht für die Dauer der Unterbrechung kein Unfallversicherungsschutz. Auch bei längeren Unterbrechungen braucht der Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit im Unternehmen noch nicht endgültig verlorengegangen zu sein. Er kann vielmehr während dieser Zeit nur aufgehoben sein (z. B. beim Einkauf von Lebensmitteln, beim Aufsuchen des Arztes aus rein persönlichen Gründen). Art und Dauer der Unterbrechung können indes den Zusammenhang mit der Betriebstätigkeit endgültig lösen. Das geschieht durch einen ausgedehnten Wirtshausbesuch oder auch einen Privatbesuch von mehr als einer Stunde. In diesem Falle befindet sich der Versicherte nicht mehr auf dem Wege von seiner Arbeitsstätte, sondern auf dem Wege vom Wirtshaus nach Hause." (Linthe, Unfallversicherung, S. 12 f. und S. 14). 41 "Die Grenzziehung zwischen eigenwirtschaftlicher und betrieblicher Tätigkeit gehört zu den schwierigsten Fragen der Unfallversicherung. Ist so-

3.2. Restitutionsleistungen in der Sozialversicherung

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Diese Unsicherheiten in der Bewertung kausaler Zusammenhänge haben allerdings auf der anderen Seite immer wieder Anpassungen an gewandelte soziale Auffassungen ermöglicht, die "in ihrer Gesamtheit ... zu einer stetigen Ausdehnung des Schutz- und damit des Risikobereichs führten. Darin liegt nichts anderes als der Nachvollzug der sozialen Auffassung, die in zunehmendem Maße auf die Zurückdrängung persönlicher Risiken ausgerichtet ist und damit dem Schutz- und wohl das eigenwirtschaftliche als auch das Betriebsinteresse im Spiel, so kann nur unter dem Gesichtspunkt der wesentlich mitwirkenden Ursache im Einzelfalle entschieden werden, ob Unfallversicherungsschutz in Frage kommt oder nicht. Schlafen und andere zur Befriedigung persönlicher Bedürfnisse dienende Tätigkeiten sind im allgemeinen unversichert. Gleichwohl kann aber ein Arbeitsunfall vorliegen, wenn der Schlaf auf der Betriebsstätte während der Mittagspause Erholung und Stärkung für die Arbeit am Nachmittag mit sich bringen soll. Hier kommt der Mittagsschlaf der Betriebstätigkeit zugute. Würde es so sein, daß sich der Versicherte der Arbeit entzieht, um zu schlafen, hätte er sich von seiner Betriebstätigkeit gelöst und wäre nicht versichert, wenn ihm etwas beim Schlafen zustieße. Essen und Trinken stellen ebenfalls grundsätzlich eine eigenwirtschaftliche Tätigkeit dar. Nach ständiger Rechtsprechung des ehemaligen Reichsversicherungsamts besteht aber der Schutz der Unfallversicherung auch während des Essens und Trinkens zur Betriebszeit und auf der Arbeitsstätte. Die Einnahme des Mittagessens in der Werkskantine ist demnach versicherte Tätigkeit. Ein Arbeitsunfall wäre auch dann zu bejahen, wenn ein Versicherter während der Frühstückspause durch das Platzen einer Bierflasche verletzt worden ist. An- und Ausziehen von Kleidern und Schuhen ist im allgemeinen unversicherte eigenwirtschaftliche Tätigkeit, sofern nicht die Eigenart des Betriebes gerade diese Kleidung, die der Versicherte an- oder auszieht, erforderlich macht. Allgemeine Arbeitskleidung dient der Schonung der Alltagskleidung des Versicherten und ist deshalb nicht schon den Besonderheiten einer bestimmten Betriebsarbeit angepaßt. Waschen und Baden zur körperlichen Reinigung dient der Befriedigung eines persönlichen Bedürfnisses, bringt aber dann eine unmittelbare Verbindung mit der versicherten Tätigkeit zuwege, wenn auf der Betriebsstätte die körperliche Reinigung unmittelbar an die Betriebstätigkeit in Einrichtungen anschließt, die der Unternehmer für Wasch- oder Badezwecke bestimmt hat. In öffentlichen Gewässern dürften Unfälle beim Waschen und Baden nur in Ausnahmefällen versichert sein. Spielerei und Neckerei auf der Betriebsstätte hat mit der versicherten Tätigkeit nichts zu tun. Wer spielt und neckt, löst sich von der versicherten Tätigkeit und genießt deshalb keinen Unfallversicherungsschutz. Aber auch dann ist kein Unfallversicherungsschutz gegeben, wenn auf der Betriebsstätte Streit aus persönlichen Gründen entsteht, zu dem der Verletzte durch sein Verhalten Anlaß gegeben hat. Für unverschuldet an dem Streit Beteiligte löst der Streit die versicherte Tätigkeit nicht. Ursache und Veranlassung des Streitens müssen in jedem Einzelfall gut gegeneinander abgewogen werden. übermäßiger Alkoholgenuß mit einem Alkoholgehalt von über 1,5 pro Mille im Blut hebt regelmäßig den Versicherungsschutz auf, da die Erfahrung lehrt, daß die Trunkenheit alleinige Ursache des Unfalls ist. Der Alkoholgenuß mit einem Alkoholgehalt von über 1,5 pro Mille im Blut führt zu einer Lösung von der versicherten Tätigkeit. Betriebsveranstaltungen, die dazu dienen sollen, die Verbundenheit und das Vertrauensverhältnis zwischen Betriebsleitung und Belegschaft zu fördern, haben Versicherungsschutz, solange sie von der Autorität des Unternehmers oder eines von ihm Beauftragten getragen werden (z. B. Betriebsausflüge, Jubiläumsfeiern usw.). Auch für den Betriebssport besteht Versicherungsschutz, wenn der Betriebs-

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3. Kap.: Rechtslage und Problematik

Sicherheitsbedürfnis des Menschen in der technisierten Welt Rechnung trägt. Es scheint, daß diese Entwicklung noch nicht zum Abschluß gekommen ist"42. Die bisher letzte Bestätigung dieser Prognose hat die 1970 vorgelegte Novelle zur RVO geliefert, durch die Schüler und Studenten in die gesetzliche Unfallversicherung einbezogen und Umwege, die Eltern auf dem Arbeitsweg machen müssen, um ihre Kinder während der Arbeitszeit unterzubringen, ebenfalls dem Versicherungsschutz unterstellt werden. Schließlich ist in diesem Zusammenhang vor allem auch auf die Bestrebungen hinzuweisen, Hausfrauen einen gleichwertigen Unfallschutz zu gewähren. Damit würde an einer wesentlichen Stelle die Forderung des Bundesverfassungsgerichts erfüllt, "der rechtlichen Unterbewertung der Arbeit der Frau im Haushalt und in der Familie ein Ende zu setzen" und sie "einer selbständigen Erwerbstätigkeit gleichzustellen"43. Die Schwierigkeiten, an denen solche Versuche bisher gescheitert sind, liegen einmal in der Finanzierung, die bei der augenblicklichen Konstruktion der Unfallversicherung vom privaten Haushalt übernommen werden müßte, zum anderen in der Abgrenzung zwischen "beruflichen" und "privaten" Risiken, auf die eine kausal differenzierende Spezialversicherung nicht verzichten kann, die aber bei Hausfrauen kaum möglich ist. Gitter hat jedoch zu Recht darauf aufmerksam gemacht, daß "vergleichbare Probleme bereits nach der gegenwärtigen Rechtslage bei der Versicherung des landwirtschaftlichen Haushalts (§ 777 RVO) zu lösen (sind), so daß zumindest aus diesem Grunde nicht davon Abstand genommen werden müßte, die noch bestehende Lücke des Versicherungsschutz genießenden Personenkreises zu schließen "44.

sport unter der Leitung des Unternehmers oder eines von ihm Beauftragten erfolgt und der Betriebssport nur von Betriebsangehörigen im wesentlichen durchgeführt wird und schließlich die körperliche Betätigung ein Ausgleich für die den Körper meist einseitig beanspruchende Betriebsarbeit sein soll. Das wird sofort anders, wenn der Gedanke des Wettkampfes in den Vordergrund tritt, wie das bei Betriebssportgemeinschaften, die das Fußballspiel betreiben, vielfach der Fall ist. Hier kann ein Zusammenhang mit der Betriebstätigkeit nicht mehr anerkannt werden. Ist bei einem überfall auf der Betriebsstätte ein Versicherter zu Schaden gekommen, kann ein solcher überfall als Arbeitsunfall anerkannt werden, wenn eine innere Verbindung mit der versicherten Tätigkeit besteht. Der überfall muß also im allgemeinen in betrieblichen Gründen seine Erklärung finden und nicht aus rein persönlichen Gründen gegenüber dem, der überfallen worden ist, vorgenommen worden sein." (Linthe, Unfallversicherung, S. 10 ff.) 42 Gitter, Arbeitsunfallrecht, S. 124. 43 Sozialenquete, Tz. 118. U Gitter, Arbeitsunfallrecht, S. 79.

3.3. Restitutionsleistungen von Unternehmen und Privatpersonen

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3.3. Restitutionsleistungen von Unternehmen und Privatpersonen 3.3.1. Gefährdungshaftung

3.3.1.1. Die Unfallversicherung hat aus der Reihe der sogenannten Gefährdungshaftungen einen speziellen Fall ausgesondert und in einer Weise weiterentwickelt, durch die sie sich immer weiter von dem Typus Gefährdungshaftung entfernt hat: Sie hat nicht nur, dem Typus gemäß, auf Verschulden als Leistungsvoraussetzung verzichtet, sondern sie hat darüber hinaus die Gefährdung als Leistungsmotiv und die Haftung als Leistungsform aufgegeben. Die Haftung ist durch die Versicherungskonstruktion ersetzt worden, und die Beschränkung auf als besonders gefährlich erachtete Betriebe und Tätigkeiten wurde Schritt für Schritt fallen gelassen. Die wichtigsten Stationen dieses Generalisierungsprozesses sind im vorigen Abschnitt beschrieben worden. In beiden Richtungen sind die anderen Gefährdungshaftungen der Unfallversicherung bisher nicht gefolgt. Zwar greift man auch bei ihnen für die Deckung des Schadens auf Versicherungen zurück und hat, soweit Haftpflichtversicherungen obligatorisch gemacht worden sind, gewisse Annäherungen an das Modell der Unfallversicherung vollzogen; dadurch ist jedoch die individuelle Haftung des Schädigers nicht aufgehoben. Bei der Motivierung hat man vollends an der technischen Argumentation festgehalten. Eine Haftung ohne Verschulden glaubt man nach wie vor nur als Ausnahme und nur unter der Bedingung, daß durch technische Apparaturen außergewöhnliche Gefahren heraufbeschworen werden, rechtfertigen zu können. Die Verfasser des 1967 veröffentlichten Entwurfs zur Reform des Schadensersatzrechts haben es für völlig selbstverständlich gehalten, daß "allein nach diesem Gesichtspunkt ... die Berechtigung einer Gefährdungshaftung beurteilt werden" könne, während "aus ethischen und sozialen Gründen die Verschuldenshaftung die Grundlage des Haftpflichtrechts" bleiben müsse!. Dabei wird die abnorme Gefährlichkeit keineswegs durch die statistische Häufigkeit der Schadensfälle gemessen, sondern viel eher durch das technologisch determinierte Ausmaß, das Schäden möglicherweise erreichen könnten, selbst wenn die Unfallwahrscheinlichkeit sehr klein ist2 • In den Begründungen für neue Gefährdungstatbestände klingen immer wieder etwas irrationale Schreckvorstellungen an, die insbesondere mit dem Versagen technischer Großapparaturen assoziiert werden, im Verlauf eines Gewöhnungsprozesses jedoch oft zu belächelten Reminiszenzen an eine altmodische Ängstlichkeit werden, wie sie Simi1

t

Referentenentwurf H, S. 3. Vgl. dazu Referentenentwurf H, S. 3.

5 Schäfer

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3. Kap.: Rechtslage und Problematik

tis mit seiner Bemerkung ironisiert hat, daß "funkensprühende Eisenbahnen, abstürzende Flugkörper, nervenerschütternde Geräusche und infernalischer Benzin- und Petroleumgeruch der Automobile ... das idyllische Bild einer Gesetzgebung zu zerstören (drohten), die es sich bislang ohne weiteres leisten konnte, sich liebevoll um Grenzbäume und überhängende Sträucher zu kümmern"3. Dieses an einzelnen Phänomenen der industriellen Entwicklung ansetzende Denken hat dazu geführt, daß die Gefährdungstatbestände enumerativ in Spezialgesetzen geregelt sind. "Neue Tatbestände der Gefährdungshaftung können nicht von der Rechtsprechung im Wege der Analogie, sondern nur durch den Gesetzgeber geschaffen werden4 ." Obwohl die Rechtswissenschaft schon seit Jahrzehnten darauf hingewiesen hat, "daß nicht die besondere Gefährlichkeit, nicht die Außergewöhnlichkeit oder Intensität des Risikos den Haftungsgrund abgibt, sondern die Betriebseigentümlichkeit der jeweiligen Gefahr"', ist es bei der genau abgegrenzten Regelung bestimmter Einzelerscheinungen geblieben. Es gibt keinen "allgemeinen Gefährdungstatbestand"8, "keine Generalklausei etwa des Inhalts, daß jeder Inhaber eines gefährlichen Betriebs oder einer gefährlichen Anlage für den dadurch verursachten Schaden einzustehen habe"7, und schon gar nicht einen "allgemeinen Tatbestand, nach welchem etwa der verursachte Schaden zu ersetzen, die herbeigeführte Beeinträchtigung zu beseitigen sei"8. Nicht einmal die einheitliche zusammenfassende Regelung der bisher kodifizierten Gefährdungshaftungen, mit der sich der Juristentag schon 1928 beschäftigte', ist gelungen; auch der Reformvorschlag des Bundesjustizministeriums behält die einzelgesetzliche Aufteilung bepo. 3.3.1.2. Die Entwicklung der Gefährdungshaftung ist aufgrund dieser Konstellation durch die legislatorischen Eingriffe bestimmt, die sich durch "die besonders prononcierte Gefährlichkeit bestimmter Betriebe" rechtfertigenl l . Da jedoch einerseits die Haftung für Vorgänge oder Einrichtungen, die ursprünglich als besonders bedrohlich und daher vordringlich einer Regelung bedürftig empfunden wurden, auch dann nicht aufgehoben wird, wenn sie inzwischen als völlig harmlos er-

3 4 6

Simitis, Haftung des Produzenten, S. 7 f. Larenz, Schuldrecht H, S. 486. Esser, Schuldrecht H, S. 477. Vgl. auch Simitis, Haftung des Produzenten,

S.65.

• Esser, Schuldrecht H, S. 477. 7 Larenz, Schuldrecht H, S. 486. 8 Esser, Schuldrechtl, S. 51. g Vgl. Simitis, Haftung des Produzenten, S. 7.

10 U

Vgl. Referentenentwurf I. Simitis, Haftung des Produzenten, S. 65.

3.3. Restitutionsleistungen von Unternehmen und Privatpersonen

67

scheinen12 , andererseits "die fortschreitende technische Entwicklung immer neue Gefahrenpunkte schafft, ist die Gefährdungshaftung ständig im Vordringen begriffen"13. Sie hat sich im Laufe der letzten hundert Jahre, und zwar zunächst vor allem für Schäden, die durch die neuen Verkehrsmittel verursacht werden, entwickelt. Eine vorindustrielle Gefährdungshaftung gab es nur für Tiere14, einerseits bei Schäden, die durch Haustiere herbeigeführt werden16 (so daß man insofern von einem Vorläufer der modernen Verkehrshaftpflicht sprechen kann, als Tiere die stärkste Naturkraft waren, über die der Mensch vor Erfindung der Kraftmaschinen für den Landverkehr verfügte), andererseits bei WildschädenlG (bei denen "das Interesse des ursprünglich meist feudalen Jagdherrn mit dem des den Boden bebauenden Grundeigentümers, Pächters oder sonst Nutzungsberechtigten zusammenstößt"17 .) Die Regelungen für Unfälle im modernen Massenverkehr fangen 1871 mit dem Reichshaftpflichtgesetz an, das noch heute gilt. Es führte eine nur durch höhere Gewalt oder eigenes Verschulden des Verletzten begrenzte Haftung der Eisenbahnen ein, die für alle Personenschäden galt und unabdingbar war. Für die Ersatzpflicht bei Sachschäden wurden erst 1940 reichseinheitliche Bestimmungen erlassen18. In beiden Gesetzen heißt es, daß der Schaden "bei dem Betrieb einer Eisenbahn"19 entstanden sein muß. Diese Klausel hat die Rechtsprechung schon bald so ausgelegt, daß die Haftung über die eigentlichen Betriebsgefahren der Eisenbahn hinaus ausgedehnt wurde20 und einen großen Teil der Unfälle, die sich auf Bahnhöfen ereignen, mit umfaßt. So gelten "als Gefahren, die dem Bahnbetrieb eigentümlich sind, ... z. B. die Höhe der Trittbretter, der Andrang und die Hast der Reisenden beim Ein12 "Wenn wir z. B. überlegen, daß man in die Eisenbahn einsteigt und dort den Schutz einer sog. Gefährdungshaftung genießt, dann ist das fast ein Witz, denn in der Eisenbahn ist man heute sicherer als in seinem eigenen Haushalt", der sich "zu einem wahren Zentrum von Gefahren zu entwickeln" scheint (Helm in Verhandlungen des 47. DJT, Teil M, S. 75, und Simitis, Haftung des Produzenten, S. 8). 13 Creifelds, Rechtswörterbuch, S.405. 14 Vgl. Larenz, Schuldrecht II, S. 484 und S. 508. 15 Heute nach § 833 f. BGB. 18 Heute nach § 29 Bundesjagdgesetz. 17 LaTenz, Schuldrecht II, S. 509. 18 Landesgesetze über die Sachschädenhaftung der Eisenbahnen hatte es auch vorher gegeben, in Preußen schon seit 1838 (vgl. Esser, Gefährdungshaftung, S. 49, und Larenz, Schuldrecht II, S. 492), also ehe es dort überhaupt Eisenbahnen gab, die mit jenen unheimlichen und schreckenerregenden, rasenden, Feuer und Dampf spuckenden eisernen Kolossen betrieben wurden, von denen in den Berichten über die Eröffnung der ersten Dampfeisenbahn immer wieder die Rede ist. 18 § 1 Reichshaftpflichtgesetz und § 1 Sachschaden-Haftpflichtgesetz. 20 Vgl. insbesondere Esser, Gefährdungshaftung, S. 18-23.

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3. Kap.: Rechtslage und Problematik

und Aussteigen, das Gedränge vor der Sperre und auf den Bahnsteigen"21 oder auch mangelhafte Beleuchtung der Bahnsteige und Unterführungen2!. - Für später aufkommende Verkehrsmittel wurden vom Gesetzgeber umgehend ähnliche Verpflichtungen zum Schadensersatz angeordnet: 1909 für den Straßenverkehr, 1922 für den Luftverkehr. Neben die Gesetzgebung über den Schadensausgleich bei Verkehrsunfällen ist in den letzten Jahrzehnten eine zweite Entwicklungsreihe getreten, bei der es um die Gefahren geht, die mit bestimmten Substanzen oder Anlagen infolge der chemischen oder physikalischen Prozesse, die sie auszulösen vermögen, verbunden sind. Diese neue Reihe von Gefährdungstatbeständen wird 1943 durch die - in das Reichshaftpflichtgesetz eingefügte - Haftung für Schäden, "die von einer Anlage zur Fortleitung oder Abgabe von Elektrizität oder Gas ausgehen", eingeleitet. Esser sieht in dieser Regelung "ein Beispiel für die wachsende Erfassung auch konventioneller Risiken durch die Haftpflichtgesetze"!3. Eine der weitgehendsten Haftungen überhaupt, sowohl was ihre Voraussetzungen als auch was ihren Umfang anbetrifft, ist 1957 durch das Wasserhaushaltsgesetz (§ 22) festgelegt worden. Danach ist jeder, der dafür verantwortlich ist, "daß die physikalische, chemische oder biologische Beschaffenheit des Wassers verändert wird"24, für jeden einem Dritten dadurch entstehenden Schaden in voller Höhe ersatzpflichtig. Das gilt sowohl für stehende und fließende Gewässer als auch für das Grundwasser. Wenn die Verunreinigung allerdings in einem förmlichen Verfahren genehmigt ist, beschränkt sich die Entschädigungspflicht auf einen von der Behörde festzusetzenden Ausgleich. Die vorläufig letzten Spezialvorschriften zur Gefährdungshaftung hat das Atomgesetz von 1959 gebracht, das eine "nicht einmal durch das Eingreifen höherer Gewalt beschränkte Wirkungshaftung"25 für Atomreaktoren und eine etwas weniger strenge Haftung für radioaktive Substanzen vorsieht. Da das nukleare Risiko noch nicht genau genug kalkulierbar erschien, ein Katastrophenfall jedoch kaum übersehbare Schäden zur Folge haben könnte, sind für die Deckungsvorsorge besondere Bestimmungen getroffen worden, die weiter unten noch kurz darzustellen sein werden26 . 21 22 23

Larenz, Schuldrecht II, S. 489. Esser, Schuldrecht 11, S. 490. Esser, Schuldrecht II, S. 480.

Entweder indem er Stoffe mit dieser Wirkung in ein Gewässer "einbringt oder einleitet oder in sonstiger Weise auf ein Gewässer derart einwirkt", oder indem er solche Stoffe aus einer Anlage, die dazu dient, "Stoffe herzustellen, zu verarbeiten, zu lagern, abzulagern, zu befördern oder wegzuleiten", in ein Gewässer gelangen läßt. 25 Esser, Schuldrecht 11, S. 481. 2G Vgl. dazu Abschnitt 3.6.3. 24

3.3. Restitutionsleistungen von Unternehmen und Privatpersonen

69

Die verschiedenen spezieHen Haftpflichtgesetze weisen "eine verwirrende Mannigfaltigkeit in den Einzelheiten auf; das gilt z. B. von der Begrenzung durch höhere Gewalt (oder ähnlichen Einschränkungen), von der Haftung für fremdes Verschulden und von der Begrenzung auf Höchstsummen"27. Darauf ist hier jedoch nicht näher einzugehen. Für die weiteren überlegungen kam es nur darauf an, zu zeigen, wie "die Gesetzgebung ... die Tatbestände einer Gefährdungshaftung langsam vermehrt" hat und daß zu erwarten ist, sie werde "auf diesem Wege fortfahren"28. Für diese Prognose seien noch zwei Beispiele angeführt. Der Entwurf des Bundesjustizministeriums zur Reform des Schadensersatzrechts sieht vor, daß Behälter und Leitungen für Gase, Dämpfe und Flüssigkeiten, die unter Druck stehen, feuerund explosionsgefährliche Stoffe, hochgiftige und starkätzende Substanzen sowie Infektionserreger bezüglich der Haftung den Gas- und Stromleitungen gleichgestellt werden20 . Der Rechtsunterausschuß des Ausschusses für die friedliche Nutzung des Weltraums der Vereinten Nationen berät seit Jahren über ein internationales Abkommen, in dem Vereinbarungen über eine Haftpflicht bei Schäden durch Weltraumflüge getroffen werden sollen. 3.3.2. Verschuldenshaftung

3.3.2.1. Trotz der erheblichen Vermehrung der Gefährdungstatbestände ist der Verschuldensgrundsatz "das Rückgrat unserer Schadensordnung" geblieben30 . Das gilt zunächst, wie schon erwähnt, für die rechts dogmatischen und rechtsphilosophischen Ableitungen: "Wer die Gesetze der Moral und der Rechtsordnung schuldhaft verletzt und dadurch einen anderen schädigt, ist ihm - im ersten Fall moralisch und im zweiten Fall auch rechtlich - zur Wiedergutmachung des Schadens verpflichtet31 ." Diese These fordert an sich eine "Generalklausei, daß jedermann verpflichtet ist, den widerrechtlich und schuldhaft einem anderen zugefügten Schaden zu ersetzen"32; sie wäre dann jedenfalls glaubwürdiger. Im Gegensatz zu Frankreich, Italien, der Schweiz und Österreich33 und zu auch für Deutschland erhobenen Forderungen34 hat eine solche allgemeine Formel jedoch keinen Eingang in unser Recht gefunden. Im Ergebnis ist allerdings der Unterschied

Larenz, Schuldrecht II, S. 484. Larenz, Schuldrecht II, S. 486. 29 Vgl. Referentenentwurf I, S. 11-15 und 24-34. 30 Esser, Schuldrecht II, S. 394. 31 Larenz, Schuldrecht I, S. 150. 32 Esser, Schuldrecht II, S. 392. 33 Vgl. Esser, Schuldrecht II, S. 392. 34 So 1940 durch einen Arbeitsausschuß der Akademie für Deutsches Recht. Vgl. Esser, Grundfragen der Reform des Schadenersatzrechts, S. 133, und Larenz, Schuldrecht II, S. 402. 27 28

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3. Kap.: Rechtslage und Problematik

zwischen diesen Kodifikationen keineswegs so erheblich, "wie es nach der dogmatischen Konzeption zu erwarten wäre". Denn die Rechtsprechung hat "in den von deliktischen Einzeltatbeständen ausgehenden Rechtsordnungen zu einer .Haftungsausdehnung durch Anerkennung generalklauselartiger ,Rechte' sowie durch Aufstellung sog. Verkehrssicherungspflichten und endlich durch eine großzügige Anwendung des Gedankens der Drittschadensliquidation" geführt35 • Nimmt man noch hinzu, daß der Verschuldensbegriff in ähnlicher Weise -erweitert worden ist, daß die Maßstäbe für die Leistungsbemessung großzügiger geworden sind und daß die Häufigkeit der nicht als unabwendbares Schicksal gewerteten Unfälle zugenommen hat, so wird verständlich, daß das Verschuldensprinzip auch faktisch die zentrale Denkfigur für die Regulierung des Schadensausgleichs geblieben ist: Die Mehrzahl der Schädigungsfälle wird nach wie vor nach Deliktsrecht abgewickelt. 3.3.2.2. Die Verschuldenshaftung hat sich so wohl noch stärker expansiv entwickelt als die Gefährdungshaftung, und zwar - im Gegensatz zu dieser - ohne jede legislatorische Änderung. Die in Betracht kommenden Normen des Rechts der "unerlaubten Handlungen" haben heute noch den gleichen Wortlaut wie bei Erlaß des Bürgerlichen Gesetzbuches. Aber ihr Anwendungsbereich ist außerordentlich gewachsen. Dafür ist zunächst die Zunahme der Fallzahlen verantwortlich. Sie ist in erster Linie den Unfällen im Straßenverkehr zuzuschreiben36 • Zwar gibt es für diese eine Gefährdungshaftung, doch sind - wie in der Regel bei Gefährdungshaftungen - weitergehende Ansprüche gegen einen Unfallschuldigen nicht ausgeschlossen. Da nun an die Sorgfalt eines Autofahrers sehr hohe Anforderungen gestellt werden37 und die Beweislast bezüglich des Verschuldens bei Straßenverkehrsunfällen umgekehrt istS8 , gelingt es in der Regel, einen Schuldigen zu finden. Die Haftpflichtversicherungen leisten daher in der Mehrzahl der Fälle nach den Deliktsregeln, auch wenn das Verschulden nicht in einem gerichtlichen Verfahren festgestellt worden ist. Zu dieser Vergrößerung der Unfallzahlen addiert sich eine vermehrte Ausnutzung der zur Verfügung gestellten Rechtsinstitute: Schadensfälle, in denen früher überhaupt nicht daran gedacht wurde, daß möglicherweise Ausgleichsleistungen zu erlangen seien, werden heute notfalls eingeklagt. Zwei Beispiele dafür sind die Haftung für diagnostische und therapeutische Fehler in der Medizin und für Verletzungen bei Skiunfällen. Insbe35

Esser, Schuldrecht H, S. 393.

1969 ereigneten sich über 1,2 Millionen Unfälle im Straßenverkehr. Dabei wurden 16623 Menschen getötet und 472 181 verletzt. Bei 874000 Unfällen entstand nur Sachschaden (Statistisches Jahrbuch 1970, S. 324). 37 Vgl. dazu auch den folgenden Abschnitt 3.3.3. über Verkehrssicherungspflichten. 88 § 18 Straßenverkehrsgesetz. 38

3.3. Restitutionsleistungen von Unternehmen und Pdvatpersonen

71

sondere aus den USA wird berichtet, daß die Klagen wegen angeblicher oder wirklicher Kunstfehler von Ärzten und in Krankenhäusern einen solchen Umfang angenommen hätten, daß die Ärzte sich zum Teil gezwungen sähen, eine "defensive Medizin" auszuüben, die jeden Patienten grundsätzlich als potentiellen Kläger betrachtet und deshalb zum Beispiel entweder zu einer Überzahl von die Diagnose absichernden Untersuchungen oder umgekehrt zur Vermeidung notwendiger, aber mit einem gewissen Risiko verbundener Untersuchungen führt39• Auch in Deutschland ist aber inzwischen ein beachtliches Repertoire an Urteilen in Kunstfehler-Prozessen entstanden. Das hängt natürlich auch mit der ständig zunehmenden Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen zusammen. Bei den Verletzungen durch Skiunfälle ist dieser Zusammenhang zwischen wachsenden Fallzahlen und einer größeren Neigung zu Schadensersatzklagen noch deutlicher. "Bei Skiunfällen werden heute in Österreich schon mehr Menschen verletzt als im Straßenverkehr. In den vier bis fünf Wintermonaten verunglücken in den österreichischen Bergen jährlich fast neunzigtausend Skiläufer, während die Zahl der Verkehrsopfer im ganzen Jahr zwischen 65000 und 70000 liegt40 ." Der Massenverkehr auf den Skipisten hat aber nicht nur die Unfallzahlen progressiv wachsen lassen und nicht nur zu Überlegungen geführt, nach dem Muster der Straßenverkehrsordnung Regeln für den Skilauf aufzustellen, vom Überholen über die Unfallflucht bis zum Bußgeldkatalog41, sondern er hat auch den Wintersportlern bewußt werden lassen, daß Verletzungen nicht einfach privates Pech, sondern außerdem auch rechtliche Anspruchsgrundlagen sind. 3.3.2.3. Neben die Erhöhung der Fallzahlen tritt als zweite Entwicklungstendenz die Ausdehnung der Leistungen im einzelnen Schadensfall. Sie wird zunächst beim Schmerzensgeld in zwei Richtungen deutlich. Einmal ist auffällig, daß die Rechtsprechung in letzter Zeit bei der Bemessung von Schmerzensgeldern erheblich großzügiger geworden ist. Während noch vor kurzem "die Richtersprüche eine Ansammlung kümmerlicher Geldbeträge für schwere und schwerste Gesundheitsschäden" waren4!, sind neuerdings Beträge bis zu 100000 Mark, vereinzelt sogar darüber, zugebilligt worden, und mehrere Zehntausend sind 38 Vgl. "Defensive Medizin". In: FAZ Nr. 93 vom 22.4.1970, Sonderseite "Natur und Wissenschaft". Aus Großbritannien ist kürzlich mitgeteilt worden, daß jährlich über 20 zu operierende Patienten oder Körperteile verwechselt werden und daß derartige Fälle zunehmen (British Medical Journal vom 22.8.1970, hier zitiert nach "Operationen am falschen Patienten", FAZ Nr.202 vom 2. 9. 1970, Sonderseite "Natur und Wissenschaft"). 40 Auch beim Skilauf die Vorfahrt beachten. In: FAZ Nr. 25 vom 30.1.1970, S.7. 41 Skifahren nach Paragraphen. In FAZ Nr. 20 vom 24.1.1970, S. 10. "Ski-Unfallflucht" soll strafbar werden. In FAZ Nr. 24 vom 29.1.1970, S. 7. 4! Schmerzensgeld. In FAZ Nr. 197 vom 27.8.1969, S. 2.

72

3. Kap.: Rechtslage und Problematik

bei schweren Dauerschäden keine Ausnahme mehr. Zum anderen hat die Rechtsprechung sich über die gesetzliche Bestimmung, daß Schmerzensgeld nur in einzelnen ausdrücklich genannten Fällen gefordert werden könne, hinweggesetzt43 und bei Verletzungen des "allgemeinen Persönlichkeitsrechts" , insbesondere bei Beleidigungen Prominenter, ähnliche Summen zuerkannt. Diese Judikatur will der Entwurf zur Reform des Schadensersatzrechts von 1967 legalisieren44 , der darüber hinaus auch bei Gefährdungshaftungen Schmerzensgeldansprüche einräumen will45 . Gitter hat mit der gleichen Argumentation, auf die sich der Referentenentwurf stützt, gefordert, auch in die Unfallversicherung einen Ausgleich für immaterielle Schäden einzubeziehen46 . Die Haftung ist weiterhin dadurch verschärft worden, daß Schäden, die vorher ausgeschlossen waren, bei der Berechnung der Schadenshöhe nun mit berücksichtigt werden. Beispiele dafür sind etwa die sogenannte Drittschadensliquidation, d. h. die Ersatzleistung an Dritte, "die, ohne daß sie unmittelbar verletzt worden wären, mittelbar durch die Verletzung eines anderen Schaden erlitten haben"47, sowie der Ersatz "neu für alt", d. h. die Restitution gebrauchter Sachen, bei der "wir längst davon abgekommen (sind), daß man auf den Flohmarkt gehen muß, um sich für seinen beschädigten getragenen Mantel nun einen entsprechend getragenen Mantel zu kaufen", und insofern "bereits das Prinzip des streng ökonomischen Ersatzes verlassen" worden ist48 . Besonders augenfällig ist dieser Vorgang bei den in erster Linie für die Regelung von Verkehrsunfällen entwickelten und angewendeten Begriffen des "merkantilen Minderwerts" und der "entgangenen Gebrauchsvorteile" . Der erstere, der den geringeren Verkehrswert eines "Unfallwagens" gegenüber einem "unfallfreien" bezeichnet, entspricht der Ermittlung der Vermögensdifferenz durch kaufmännische Bilanzierung, die auch die juristischen Überlegungen zur Schadenshöhe bestimmt"; er ist daher von Rechtswissenschaft und Rechtsprechung unter ausdrücklicher Aufgabe früherer Standpunkte50 - ohne nennenswerten Widerstand akzeptiert worden. Der zweite jedoch hat zu heftigen Kontroversen, wechselnden Stellungnahmen51 und großen begriffliVgl. Larenz, Schuldrecht 11, S. 419 f., und Esser, Schuldrecht 11, S. 463. Vgl. Referentenentwurf 11, S. 155 f. 46 Vgl. Referentenentwurf 11, S. 157 f. 48 Gitter, Arbeitsunfallrecht, S. 191 ff. 47 Larenz, Schuldrecht I, S. 174; vgl. auch S. 176, sowie Esser, Schuldrecht I, S. 294 f. 48 Wieacker in Karlsruher Forum 1964, S. 43. Vgl. auch Esser, Schuldrecht I, S. 289 und 340 f. 49 Vgl. Esser, Schuldrecht I, S. 279 ff. 60 Vgl. Esser, Schuldrecht I, S. 286. 61 Esser (Schuldrecht I, S. 276) verneint z. B. die "noch in der Vorauflage bejahte Frage ... , ob die Entziehung der Gebrauchsvorteile einer Sache einen Vermögensschaden darstellt, der (auch) dann ... auszugleichen ist, wenn sich 43

44

3.3. Restitutionsleistungen von Unternehmen und Privatpersonen

73

chen Schwierigkeiten und wissenschaftlichen Skrupeln geführt52• Nipperdey hat in ihm ein Instrument für "die vernünftige und angemessene Schätzung eines doch vorhandenen Schadens ohne komplizierte Berechnung" gesehen53 , Pagendarm hat sich auf Präzedenzfälle berufen, in denen ebenfalls "ein Schadensersatz für eine Nutzungsbeeinträchtigung gewährt wird, obwohl der Geschädigte keine realen Aufwendungen gemacht hat"5', nämlich für die Minderung des Wohnwertes durch Lärm und üble Gerüche, Troller hat den "Entzug der Lebensfreude" dem "Entzug von Einkommen" gleichgesetzt55 , und Wieacker hat sogar von einer "Sicherstellung der Ausstattung einer Sozialsphäre" und von "der Einbeziehung des Sozialprestiges in die Ersatzansprüche" gesprochen56 • Diesen durchweg zustimmenden Urteilen stehen die zumindest zweifelnden, wenn nicht Ablehnung begründenden Fragen gegenüber, ob man entgegen dem klaren Willen des Gesetzgebers über den "Ersatzwert" einer beschädigten Sache und den entgangenen Gewinn hinaus "einen ganz neuen ersatzfähigen Schaden" konstruieren dürfe57 , ob dadurch nicht die Nutzungsmöglichkeit einer Sache zu einem eigenständigen Recht gemacht werde 58 , ob etwa neben dem Anschaffungspreis einer Sache noch ein zusätzlicher Gebrauchswert bilanziert werden solle, was "doch zweifellos nicht zu dem ökonomischen Vermögensbegriff" passe, und ob man jeden "kleinen, vorübergehenden Verzicht auf Annehmlichkeit" so weit kommerzialisieren dürfe, daß praktisch jede Schadenminderungspflicht des Geschädigten entfalle59 • Alle diese zum Teil sehr scharfsinnigen und auch für soziale Zusammenhänge aufschlußreichen Argumente können an dieser Stelle nicht im einzelnen gewürdigt werden. Worauf es hier ankommt, ist zunächst nur, die Tendenz zu belegen, einen allzu engen marktökonomisch-monetären Schadensbegriff zu überwinden und zu "einem Begriff des wirtschaftlichen Nachteiles in einem viel weiteren Sinne" zu kommen6o • Einem solchen Ergebnis - dem man dann auch "eine gute und unanfechtbare begrifflich logische Begründung zu geben" vermag 61 - ist man mit der Vorstellung von den entgangenen Gebrauchsvorteilen einen entscheidenden Schritt näher gekommen, nicht nur beim Ausfall des Autos, der Betroffene ohne die zerstörte bzw. entzogene Sache behilft oder wenn er mit der beschädigten Sache vorlieb nimmt". 52 Vgl. dazu Klingmüller, Schadensberechnung, S. 25 f., und die sich an sein Referat anschließende Diskussion (Karlsruher Forum 1964, S. 39-44). 53 Karlsruher Forum 1964, S. 41. 54 Karlsruher Forum 1964, S. 41. 55 Karlsruher Forum 1964, S. 42. 58 Karlsruher Forum 1964, S. 43. 57 Prölss in Karlsruher Forum 1964, S. 41. 58 Klingmüller, Schadensberechnung, S. 25 f. 58 Larenz in Karlsruher Forum 1964, S. 40. 80 Larenz in Karlsruher Forum 1964, S. 40. 81 Dölle in Karlsruher Forum 1964, S. 39.

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3. Kap.: Rechtslage und Problematik

sondern - wie die Beispiele der Beeinträchtigungen durch Lärm und Luftverunreinigung zeigen - auch in anderen, wahrscheinlich wesentlicheren Lebensbereichen. 3.3.2.4. Eine dritte Entwicklungstendenz, die zur Ausdehnung des Anwendungsbereiches deliktsrechtlicher Normen geführt hat, ist durch die Vermehrung der haftbar machenden Tatbestände bezeichnet. Die Konzeption des BGB war davon ausgegangen, daß "nicht jede Rechtsposition ... gegenüber jedwedem Eingriff geschützt"62, sondern "die allgemeine Rechtspflicht des ,neminem leadere' (nur) auf bestimmte Rechte und Rechtsgüter bezogen" werden sollte63 • Daher waren "klar abgegrenzte, übersehbare ,Unrechtstatbestände'" festgelegt worden, "denen gegenüber eine sonstige, nicht darunter fallende Schädigung nur unter den besonderen Voraussetzungen des § 826 (Vorsatz und Sittenwidrigkeit) zum Ersatz verpflichten sollte. Dieses wohl erwogene System des Gesetzes"64 ist jedoch inzwischen durch die Entwicklung der Rechtsprechung, die "zur Ausbildung neuer Verletzungstatbestände von generalklauselartiger Weite im Rahmen des § 823 (,allgemeines Persönlichkeitsrecht' und ,Recht am Gewerbebetrieb') geführt hat, ... weitgehend gesprengt" worden65 • Die begriffliche Konstruktion des "Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb" dient dazu, den Vermögensschutz über die aus dem Eigentum und aus dem Wettbewerbsrecht gegebenen Abwehr- und Entschädigungsansprüche hinaus zu erweitern66 , indem "für den Bereich gewerblicher Betätigung bestimmte als unzulässig empfundene Verhaltensweisen mit deliktsrechtlichen Sanktionen belegt werden"67. Die Rechtsprechung hat ein solches besonderes Schutzrecht für den Gewerbebetrieb seit langem anerkannt, es jedoch im Laufe der Zeit seinerseits ausgeweitet. Während sie zunächst nur solche Störungen, "durch die unmittelbar in den Bestand eines Unternehmens eingegriffen wurde", als rechtswidrig erklärte, ist der Bundesgerichtshof "hiervon abgegangen und läßt nunmehr auch Eingriffe in den ,gewerblichen Tätigkeitskreis' genügen, die lediglich geeignet sind, den Ertrag, nicht den Bestand des Unternehmens zu bedrohen"68. Wie derartige rechtliche Garantien mit einer Wettbewerbswirtschaft zu vereinbaren sind, ist weitgehend ungeklärt. Das ist jedoch nicht das einzige Bedenken, das in der juristischen Literatur geäußert wird. Es wird nicht nur darauf hingewiesen, daß "dem Erfordernis hinreichender Bestimmtheit ... nicht genügt und eine befriedigende 62 Esser, Schuldrecht I, S. 55. 83 Esser, Schuldrecht I, S. 56. 14 LaTenz, Schuldrecht H, S. 415. 85 Larenz, Schuldrecht H, S. 402 fi. 88 Vgl. EsseT, Schuldrecht H, S. 405 und 407, und LaTenz, Schuldrecht H, S.424. 87

88

EsseT, Schuldrecht H, S. 405. Larenz, Schuldrecht H, S. 422.

3.3. Restitutionsleistungen von Unternehmen und Privatpersonen

75

dogmatische Erfassung dieses vermeintlichen Rechts ... bisher nicht gelungen" ist6', sondern es wird zugleich darauf aufmerksam gemacht, daß der deliktische Schutz nicht auf den gewerblichen Unternehmer beschränkt werden dürfe70, und zwar unabhängig davon, ob das Schutzbedürfnis vermögensrechtlich, aus dem Interesse, "das in dem Unternehmen investierte Kapital arbeiten zu lassen und vor Entwertung geschützt zu sehen", oder aus dem "ideellen Wert der freien Entfaltung der Persönlichkeit, gerade in ihrer Erwerbstätigkeit" , abgeleitet wird71 . Die Formel vom eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb muß daher aus der inneren Logik ihrer Begründung heraus sich selbst transzendieren und analoge Abwehr- und Ersatzansprüche für andere berufliche Tätigkeiten provozieren. Die zweite der "partiellen Generalklauseln"72, das "allgemeine Persönlichkeitsrecht", das Esser ein juristisches Monstrum nennt73 , ist erst viel später erfunden worden. Der Bundesgerichtshof hat sie, in Abkehr von der ständigen Rechtsprechung des Reichsgerichts, erstmals 1954 benutzt74 und damit "im Wege richterlicher Rechtsschöpfung die als unerträglich empfundene Lücke der bisherigen gesetzlichen Regelung" ausgefüllt75 . Larenz ist wohl zuzustimmen, wenn er das Gefühl, daß die vom BGB gebotenen Möglichkeiten unzureichend geworden waren, vor allem auf "die starke Betonung der menschlichen Würde und der Freiheit der Persönlichkeit ..., die Erweiterung der technischen Mittel, die ein Eindringen in die fremde Individualsphäre möglich machen, sowie die gesteigerten Möglichkeiten massenweiser Verbreitung des Bildnisses sowie ehrenrühriger Behauptungen durch Presse, Film und Funk" zurückführt76 . Der Entwurf zur Reform des Schadensersatzrechts von 1967 will den Wortlaut des BGB der bisherigen Rechtsprechung anpassen, indem er "unter den absolut geschützten Lebensgütern neben den bereits bisher erwähnten - Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit - nunmehr entsprechend dem ersten Entwurf des BGB auch die Ehre nennt und hieran eine Generalklausei anschließt, die den umfassenden Schutz der Persönlichkeit gegen Verletzungen jeder Art zum Gegenstand hat"77, wobei allerdings weiterhin der Rechtsprechung die Inter89

70 71

72 73 74

57.

Larenz, Schuldrecht 11, S. 421. Esser, Schuldrecht 11, S. 407. Larenz, Schuldrecht 11, S. 423 f. Esser, Schuldrecht I, S. 57. Esser, Schuldrecht 11, S. 401. Vgl. Esser, Schuldrecht 11, S. 400 f., sowie Referentenentwurf 11, S. 54-

Larenz, Schuldrecht 11, S. 414. Larenz, Schuldrecht 11, S. 413. Vgl. auch die Beschlüsse des 42. und des 45. Deutschen Juristentages, abgedruckt im Referentenentwurf 11, S. 9 f. und S. 151 ff. 77 Referentenentwurf 11, S. 57. 75

78

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3. Kap.: Rechtslage und Problematik

pretation überlassen bliebe, wann ein anderer in seiner Persönlichkeit widerrechtlich verletzt ist78 . 3.3.2.5. Der letzte hier noch zu erwähnende expansive Trend läßt sich durch die Feststellung charakterisieren, daß es nicht nur, wie bisher beschrieben, immer mehr Schadensfälle, mehr Leistungen und mehr Tatbestände, sondern auch mehr Schuldige gibt. Fälle unter das Deliktsrecht zu subsumieren, in denen früher ein schuldhaftes Verhalten als nicht ausreichend begründet angesehen wurde, gelingt durch zwei Verfahren, die sich in ihrer praktischen Wirkung gegenseitig fördern, ergänzen oder sogar bedingen: Einerseits werden die Anforderungen, die an den Nachweis eines Verschuldens gestellt werden, herabgesetzt, andererseits werden die Anforderungen, die ein schädigendes Verhalten noch als schuldlos erscheinen lassen, verschärft. Das erste Verfahren heißt entweder "Anscheinsbeweis" oder "Umkehr der Beweislast", das zweite "erhöhte Sorgfaltspflichten". Bei der Verschiebung der Beweislast auf den Schädiger wird aus der Art der Schadensentstehung zunächst sein Verschulden gefolgert, so daß nicht mehr der Geschädigte das Verschulden nachweisen, sondern der Schädiger die gegen ihn sprechende Vermutung widerlegen muß, indem er entweder - beim prima-facie-Beweis - den ihn belastenden ersten Anschein entkräftet oder - bei der Beweislastumkehr - einen positiven Exkulpationsbeweis führt. "Eine solche Regelung ist keineswegs ungewöhnlich. Beispiele dafür enthält schon das Gesetz ...79. Doch auch die Rechtsprechung hat in einer ganzen Reihe von Fällen die Beweislast nach Gefahrenbereichen verteilt80 ." Das wird damit begründet, daß "der Geschädigte in der Regel keinen Zugang zu der Sphäre des Verantwortlichen hat und darum nur selten in der Lage wäre, diesem ein sorgfaltswidriges Verhalten nachzuweisen"81. Von daher wird diese Methode häufig bei Verkehrsunfällen angewendet, bei denen es sogar eine gesetzliche Vermutung für das Verschulden des Fahrers gibt82 , aber auch bei ärztlichen und anderen Kunstfehlern und überhaupt bei Tätigkeiten, bei denen man wegen besonderer Gefährlichkeit, Unübersichtlichkeit zumindest für Außenstehende oder erforderlicher Fachkenntnisse eine gesteigerte Sorgfalt und bestimmte Vorkehrungen zur Vermeidung von Gefahren erwartet83 . Da diese Charakterisierung für fast alle modernen Produktionsbetriebe zutrifft, hat der 47. Deutsche

78 Vgl. Referentenentwurf II, S. 58 f. 78 Haftung des Geschäftsherrn (§ 831 BGB), des Aufsichtspflichtigen (§ 832 BGB), des Nutztierhalters bzw. -aufsehers (§§ 833, 834 BGB) und des Gebäudeunterhaltungspflichtigen (§§ 836 bis 838 BGB). 80 Simitis, Haftung des Produzenten, S. 94. 81 Esser, Schuldrecht II, S. 426. 82 § 18 Straßenverkehrsgesetz. 83 Vgl. Esser, Schuldrecht II, S. 418.

3.3. Restitutionsleistungen von Unternehmen und Privatpersonen

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Juristentag es für möglich gehalten und gefordert, durch "eine sachgerechte Anwendung der Grundsätze des Anscheinsbeweises" auch eine weitgehende deliktische Haftung der Produzenten für durch fehlerhafte Erzeugnisse verursachte Schäden durchzusetzen84, wenn nur die Rechtsprechung bereit ist, "den Weg konsequent weiterzugehen, den sie selbst gewiesen hat"8s. Daß im Ausland zum großen Teil so verfahren wird, hat Simitis in seinem den Beratungen zugrunde liegenden Gutachten belegt86. Diese Verlagerung der Beweislast auf den Schädiger ist oft - wie schon die genannten Beispiele zeigen - mit steigenden Anforderungen an die Bemühungen, Schäden zu verhüten, unmittelbar verknüpft. Für den hier zugrunde liegenden Denkprozeß ist besonders aufschlußreich, wie die Vorstellung vom sogenannten Organisationsverschulden entwickelt worden ist. Die Haftung des Auftraggebers für den sogenannten Verrichtungsgehilfen entfällt, wenn er nachweisen kann, daß ihn keine culpa in eligendo, instruendo vel custodiendo trifft. Dieser Exkulpationsbeweis paßt im Grunde nur für Wirtschaftsverhältnisse, bei denen im Stil des Familienbetriebs gearbeitet wird. Deshalb hat die Rechtsprechung zunächst die These entwickelt, "daß bei Großbetrieben ... die Auswahl, Leitung und überwachung des Gehilfen einem Angestellten übertragen werden kann. Grundsätzlich hat dann der Geschäftsherr das ... Erforderliche getan, wenn er bei der Auswahl und überwachung dieses Angestellten die erforderliche Sorgfalt angewendet hat. Die hierdurch eröffnete Möglichkeit des sogenannen ,dezentralisierten Entlastungsbeweises' ist dann allerdings in der Rechtsprechung insoweit wieder eingeschränkt worden, als eine ausreichende Organisation nachgewiesen werden muß, die eine ordnungsmäßige Geschäftsführung und Beaufsichtigung gewährleistet und den Aufsichtsorganen eine laufende Kontrolle der Bediensteten ermöglicht" 87. Der Ausweg, sich auf diese Weise zu entlasten, ist "durch immer schärfer werdende Anforderungen an die anzuwendende Sorgfalt zunehmend erschwert worden"88. Ein Organisationsverschulden wird schon dann unterstellt, wenn der Betrieb nicht so organisiert ist, "daß bei pflichtgemäßem Verhalten aller in die Aufgabenbewältigung eingeschalteten Personen Schädigungen nicht denkbar sind. Diese Organisation wiederum muß so ausgestattet sein, daß eine umfassende Kontrollierung ... gewährleistet ist, damit pflichtwidrige Verhaltensformen alsbald aufgedeckt werden können"89. Auf diese und mancherlei andere Weise ist - "oft unter Zuhilfenahme 84 85

88 87 88 89

Verhandlungen des 47. DJT, Teil M, S. 136. Simitis, Haftung des Produzenten, S. 96. Vgl. Simitis, Haftung des Produzenten, S. 93, Anm. 378. Referentenentwurf II, S. 79. Vgl. auch Esser, Schuldrecht II, S. 429 f. Referentenentwurf II, S. 98. Esser, Schuldrecht II, S. 422.

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3. Kap.: Rechtslage und Problematik

bedenklicher Konstruktionen"9o - "seit dem Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs viel Scharfsinn darauf verwendet worden, den rechtlichen Folgerungen zu entgehen, die aus § 831 BGB gezogen werden müssen"91. Der Entwurf zur Reform des Schadensersatzrechts von 1967 hat aus diesen Tendenzen der Rechtspraxis und aus der Beobachtung, "daß die meisten Rechte der Welt ... dem Geschäftsherrn die unbedingte Haftung für Verschulden seines Verrichtungsgehilfen auferlegen"92, die Konsequenz gezogen, keine Exkulpation mehr zuzulassen. Die Autoren des Entwurfs waren der Meinung, daß dadurch auch eine "sachgerechtere Lösung eines neuerdings in fremden Rechten wie im deutschen Recht immer stärker in den Vordergrund tretenden besonderen Haftungsproblems, nämlich ... der Haftung des Herstellers für die ordnungsmäßige Beschaffenheit der von ihm in den Verkehr gebrachten Erzeugnisse" möglich werde93 . Demgegenüber hat Simitis mit Entschiedenheit darauf insistiert, daß die "products liability" sich "jenseits der Kategorie des Verrichtungsgehilfen" bewege. Denn bei der industriellen Produktion lasse sich "keiner der Arbeitnehmer ... isoliert betrachten, jeder von ihnen ist vielmehr ebenso wie die Produktionsanlagen ein organisatorischer Bestandteil des Produktionsprozesses ... Erst die Koordination menschlicher und maschineller Determinanten garantiert deshalb eine einwandfreie Produktion. Fällt eine dieser Determinanten aus, einerlei welche, das Ergebnis ist in beiden Fällen das gleiche: die Produkte weisen vereinzelt oder serienmäßig Defekte auf ... Das Produkt kann in beiden Fällen nur deshalb auf den Markt gelangen, weil die Mängel den Kontrollinstanzen entgehen. J eder Produktionsschaden ist daher eine Frage der Unternehmensorganisation und nicht der Tätigkeit eines wie auch immer verstandenen Verrichtungs gehilfen"94. Hier ist offensichtlich die Organisationspflicht über ihre Funktion als Hilfsbegriff zur Erschwerung des Entlastungsbeweises hinausgewachsen und zu einer selbständigen Sorgfaltspflicht geworden, deren Verletzung also eigenes Verschulden begründet. Wird diese Denkfigur mit den Regeln des prima-facie-Beweises oder mit einer Umkehr der Beweislast derart kombiniert, daß "ein unentdeckter Gefahrenzustand ... nachgerade als Beweis für organisatorische Mängel angesehen" wird, die den Produzenten aus eigenem deliktischem Verhalten haftbar machen96 , so gerät auch die Produzentenhaftung in den übergangs90 91 U2

93

94 95

Referentenentwurf II, S. 98. Referentenentwurf II, S. 11. Referentenentwurf II, S. 87. Referentenentwurf H, S. 101. Simitis, Haftung des Produzenten, S. 50 und 51. Esser, Schuldrecht I, S. 377.

3.3. Restitutionsleistungen von Unternehmen und Privatpersonen

79

bereich zwischen den "nur scheinbar durch die Sondergesetze abgegrenzten, in Wahrheit in einer unkontrollierten Praxis allgemeiner ,Verkehrssicherungspflichten' amalgamierten Gebieten" der Verschuldenshaftung und der Gefährdungshaftung86 • 3.3.3. Verkehrssicberungspflicbten

3.3.3.1. Die Verkehrssicherungspflichten sind als Verhaltensgebote von der Rechtsprechung zunächst vor allem für solche Fälle entwickelt worden, in denen ein Schaden gerade durch eine Unterlassung entstanden ist, in denen er hätte vermieden werden können, wenn entsprechende Vorkehrungen getroffen worden wären97 • Zwar gibt es keine generelle Rechtspflicht, andere vor möglichem Schaden zu bewahren. Die Rechtsprechung hat jedoch im Laufe der Zeit den allgemeinen Grundsatz entwickelt, "daß derjenige, der im Verkehr eine Gefahrenquelle schafft oder unterhält, insbesondere auf seinem Grundstück oder in seinen Räumen einen öffentlichen Verkehr duldet oder herbeiführt, oder Sachen dem allgemeinen Verkehr aussetzt oder in den Verkehr bringt, verpflichtet ist, die Vorkehrungen zu treffen, die erforderlich und zumutbar sind, um Gefahren für die Verkehrsteilnehmer abzuwenden"98. Sie hat mit der allmählichen Konkretisierung und Verschärfung dieser Regel eine "Haftung für Verkehrssicherheit"99 eingeführt, um den Risikobereich des Alltags für die sonst nicht hinreichend geschützten Verkehrsteilnehmer und Verbraucher zu begrenzen. Von daher "nimmt die Verkehrssicherungspflicht heute in der Praxis zu § 823 BGB den breitesten Raum ein". Es hat sich eine "Gefahrenabwendungsdoktrin"lOo herausgebildet, die auf die Streupflicht der Grundstückseigentümer bei winterlicher Glätte101 und die Absicherung von Baustellen ebenso angewendet wird wie auf die beruflichen Sorgfaltspflichten der Ärzte, Bademeister oder Feuerwerker, auf Wasserrohrbrüche102 und fehlerhaft konstruierte Geräte ebenso wie auf zu glatt gebohnerte Treppen und mangelhaft beleuchtete Hauseingänge103 •

Esser, Zweispurigkeit, S. 129. Vgl. Esser, Schuldrecht H, S. 413, und Larenz, Schuldrecht 11, S. 433. 98 Larenz, Schuldrecht H, S. 432. 99 Esser, Schuldrecht 11, S. 413. 100 Esser, Zweispurigkeit, S. 132. Vgl. auch "Die Pflicht zur Gefahrabwendung" bei Larenz, Schuldrecht H, S. 431. 101 Die viel strenger ist als die der öffentlichen Hand. 102 Vgl. die Beispiele bei Esser, Zweispurigkeit, S. 131 f. lOB "Im wesentlichen lassen sich drei Grundgedanken festhalten: (a) Wer einen Verkehr tatsächlich eröffnet oder andauern läßt oder am öffentlichen Verkehr teilnimmt und den daraus erwachsenden Gefahren begegnen kann, trägt für deren Verhinderung bzw. Beseitigung die Verantwortung ... (b) Wer eine Sache beherrscht, hat für Schäden, die durch diese oder durch Arbeiten an ihr entstehen, insoweit aufzukommen, als er sie bei zumutbarer Rücksichtnahme auf die Interessen anderer hätte verhüten können ... 96

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3. Kap.: Rechtslage und Problematik

In die Reihe derer, die Dritten gegenüber zur Gefahrenabwehr verpflichtet sind, ist schließlich auch der Warenproduzent eingeordnet worden104. Er müsse "dafür Sorge tragen, daß nur verkehrssichere Produkte seinen Bereich verlassen und für den Vertrieb freigegeben werden"lo5. Von diesem Postulat aus lassen sich dann, jedenfalls wenn das System der Verkehrssicherungspflichten weiter verschärft wird106 , die Produktschäden durch das Instrumentarium des geltenden Deliktsrechts "bis auf wenige Ausnahmen erfassen"107. Die Begründung solcher Vorsorgepflichten bewirkt nicht nur eine einfache Haftungserweiterung108, sondern sie hat "das Deliktsrecht ... zugleich um eine neue GeneralklauseI ... bereichert"109, ja geradezu einen neuen Haftungstatbestand geschaffen llO • Eine solche Haftung für Verkehrssicherheit dürfte an sich nach den geltenden juristischen Doktrinen nur so lange für legitim erachtet werden, als "sie nicht mißbraucht wird, um jenseits der vertretbaren Sorgfaltsanforderungen stehende Betriebs-, Anstalts-, Berufs- oder Verkehrsrisiken auf dem Weg einer fingierten Unrechts- und Schuldfeststellung dem Urheber und Nutznießer der Gefahrenquelle zuzurechnen. Wo die Handlungspflichten derart übersteigert werden, daß sie praktisch absoluten Einstandspflichten gleichkommen, verläßt man den Boden des Deliktsrechts und schafft in seinem Gewande gesetzesfremde neue Gefährdungstatbestände" . Genau das ist jedoch "weitgehend in offener oder versteckter Form durch die Rechtsprechung geschehen"111, wie vor allem (c) Wer in der öffentlichkeit eine Tätigkeit ausübt, die eine besondere Sachkunde oder Vorsorge erfordert, haftet für Schäden aus dem Fehlen der Sachkunde oder dem Unterlassen der Vorsorge." (Esser, Schuldrecht 11, S.414). 104 "Unbeleuchtete Treppen und defekte Bremsen, aber auch explodierende Mineralwasserflaschen und nicht abgesicherte Baustellen erweisen sich dann als Erscheinungen, die nach einem gemeinsamen Maßstab beurteilt werden ... Wer verseuchte Milch verkauft, wird nicht anders als der Gastwirt behandelt, der seiner Streupflicht nicht nachkommt .,. Daher ist es auch gleichgültig, was im einzelnen hergestellt wird, ob es sich um Arzneimittel, Automobile, Polstermöbel oder Marzipanwürfel handelt. Der spätere Benutzer ist durch feuergefährliche Schuhputzmittel und durch vergiftete Butter nicht minder gefährdet als durch Automobile ... Die schnellsten Motorräder sind harmlos verglichen mit vergiftetem Speiseöl." (Simitis, Haftung des Produzenten, S. 35 f.). 105 Simitis, Haftung des Produzenten, S. 37. 108 Vgl. Esser, Schuldrecht 11, S. 420. 107 Simitis, Haftung des Produzenten, S. 56. Vgl. auch S. 49-53. 108 Esser, Schuldrecht 11, S. 413. 100 Simitis, Haftung des Produzenten, S. 17. 110 Vgl. die Systematik der Darstellung bei Esser, Schuldrecht 11, der nacheinander "Die deliktischen Grundtatbestände" (S. 395 ff.), "Die allgemeine Verkehrssicherungspflicht" (S. 412 ff.) und "Die Sondertatbestände" (S. 422 ff.) behandelt. 111 Esser, Schuldrecht 11, S. 413.

3.3. Restitutionsleistungen von Unternehmen und Privatpersonen

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Esser schon vor dreißig Jahren dargestellt hat112 . Wenn die Liste der Verhütungs-, Abwendungs-, Kontroll- und Organisationspflichten ständig kasuistisch erweitert113 und der Sorgfaltsmaßstab verschärft wird, gelingt es schließlich, alle Gefahren "noch in das Deliktsrecht hineinzuschmuggeln"114. Dabei werden die Verkehrssicherungspflichten nicht nur oft im Einzelfall nach freiem Ermessen aufgestellt116, sondern "auch ohne gesetzlichen Anhalt und Rahmen von der Rechtsprechung auf Grund der nachträglichen Beurteilung der Unglückssituation angenommen und zugleich als verletzt festgestellt"lH'. Wenn eine Rekonstruktion des Unfallgeschehens ergibt, daß Maßnahmen möglich gewesen wären, die das schädigende Ereignis hätten abwenden können, wird retrospektiv eine Fehlleistung konstatiert, die prospektiv als Verhaltensnorm überhaupt nicht zu definieren gewesen wäre117 • Auf diese Weise wird nicht nur die Verschuldenshaftung bis an die Grenze des "unabwendbaren Ereignisses" ausgedehnt118, sondern es werden auch unsinnige und ungerechte Schuldvorwürfe in das Verfahren der Schadensabwicklung eingebracht, die verständliche, aber unnötige Widerstände provozierent18 . Damit ist die Grenze der deliktischen Verantwortlichkeit jedoch immer noch nicht erreicht. Einmal exkulpiert selbst höhere Gewalt dann nicht, wenn mit "Elementareinwirkungen ihrer örtlichen Häufigkeit oder Typizität wegen" gerechnet werden mußt20 und deshalb besonders intensive Vorsichtsmaßnahmen gefordert werden. Zum anderen wird auch bei unvermeidlichen Unglücksfällen, die aber nicht gänzlich außerhalb des Bereiches des Vorhersehbaren liegen, gelegentlich verlangt, daß Vorkehrungen getroffen werden, um die Folgen eines möglichen Unfalls mit allen verfügbaren Mitteln zu verringern. Der Endpunkt dieser Entwicklung, bei der die Verantwortlichkeit nicht mehr aus der Verletzung einer Pflicht zur Schadensverhütung, sondern zur Vgl. Esser, Gefährdungshaftung, insbes. S. 23--44. Vgl. Esser, Zweispurigkeit,S. 129. m Simitis, Haftung des Produzenten, S. 55. 116 Esser, Gefährdungshaftung, S. 43. 118 Esser, Gefährdungshaftung, S. 32. 117 Die "logische Struktur" dieser Argumentation hat Esser (Gefährdungshaftung, S. 37 f.) durch folgendes Beispiel beschrieben: ,,1. Bei ordnungsmäßiger Beschaffenheit ist die Straße verkehrssicher, d. h. gefahrlos zu benutzen. 2. Mit der ordnungsmäßigen Beschaffenheit der Straße darf der Fußgänger grundsätzlich rechnen. 3. Durch seinen Unfall tritt zutage, daß die Straße nicht verkehrssicher war, also von der ordnungsmäßigen Beschaffenheit abweicht. 4. Dieser Mangel der Straße ist nur unter ganz besonderen Umständen entschuldbar. Regelmäßig gibt es keine Entlastung, denn bei ordnungsmäßiger Überwachung hätte der Mangel entdeckt werden müssen." 118 Vgl. Esser, Zweispurigkeit, S. 129. 118 Vgl. Esser, Gefährdungshaftung, S. 44. 120 z. B. Lawinen und Steinschlag im Hochgebirge (Esser, Zweispurigkeit, 112 113

S.131).

6 Sch1Ifer

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3. Kap.: Rechtslage und Problematik

Schadensminderung abgeleitet wird, ist erreicht, wenn der Schädiger verpflichtet wird, einen Fonds zu bilden, aus dem völlig unvorhersehbare Risiken gedeckt werden können, oder wenn er gerade deshalb individuell haftbar gemacht wird, weil er es unterlassen hat, einen solchen Fonds zu bilden121 . 3.3.3.2. So ist mit Hilfe der Verkehrssicherungspflichten allmählich eine "Technik der Verschleifung von Deliktsrecht und Gefährdungshaftung ... entwickelt und perfektioniert worden"122, durch die hinter der Fassade der unveränderten Normen des Bürgerlichen Rechts eine neue Schadensordnung mit eigenen Haftungsvoraussetzungen aufgebaut worden ist123. Ihr Anwendungsbereich ist schwankend, allerdings mit einer langsamen, aber stetigen Tendenz zur Erweiterung. Er hängt einzig und allein davon ab, wie streng die Maßstäbe sind, die an die Sorgfaltspflichten angelegt werden. Dafür aber gibt es keine eindeutigen, klar umschriebenen Kriterien, sondern nur die heiden allgemeinen Formeln, daß die Größe und die Eindeutigkeit der Gefahr124 sowie der neueste Stand von Wissenschaft und Technik125 die erforderlichen und zumutbaren Vorkehrungen bestimmen. Diese Richtsätze belegen jedoch nur, daß sich "ein durchlaufender Annäherungsprozeß zwischen den dogmatischen Antipoden des Verschuldens- und des Gefährdungsgrundsatzes" vollzieht126 . Einen verläßlichen, feststehenden Anhaltspunkt für die Urteilsfindung bieten sie dagegen nicht. Denn der jeweilige Sicherheitsstandard ist keine fixe, nicht einmal eine nur technische Größe. Selbst wo es technische Normen oder auch polizeiliche Genehmigungsverfahren, Auflagen und überwachungsvorschriften gibt, schließt ihre Beachtung ein Verschulden keineswegs unbedingt aus 127 , weil die Sorgfaltsanforderungen sich mehr oder weniger beliebig in die Höhe schrauben lassen und oft nach jedem neuen Schaden, durch den man wieder ein bißchen klüger geworden ist, rückwirkend verschärft werden. Dadurch gelingt es in der Regel, ein entscheidendes Versäumnis und folgVgl. dazu v. Hippel in Verhandlungen des 47. DJT, Teil M, S. 106. Simitis, Haftung des Produzenten, S. 55 (Anm. 222). Esser spricht von der Praxis, "alle möglichen sozialen Risiken als illegale Gefährdungstatbestände in die Begriffe unseres Deliktsrechts zu pressen" und von einer "mit solchen ,Verkehrssicherungspflichten' erschlichenen allgemeinen Verschuldenshaftung". (Zweispurigkeit, S. 129 und 131). 123 Vgl. Simitis, Haftung des Produzenten, S. 17. 124 Vgl. Esser, Schuldrecht 11, S. 421, und Simitis, Haftung des Produzenten, S.48. 125 Vgl. Simitis, Haftung des Produzenten, S. 46 ff. und S. 55, und Esser, Schuldrecht 11, S. 421. 128 Esser, Gefährdungshaftung, S. 9. 127 Vgl. Esser, Schuldrecht 11, S. 421, sowie Simitis in Verhandlungen des 47. DJT, Teil M, S. 128: "Aus der staatlichen Intervention könnte man ... höchstens folgern, daß bei einer mangelhaften Prüfung auch der Staat Ersatz leisten müßte." 121

122

3.3. Restitutionsleistungen von Unternehmen und Privatpersonen

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lich auch ein Verschulden immer dann zu konstruieren, wenn man es braucht, um einen Anspruch rechtfertigen zu können, den man gerne rechtfertigen möchte128. "Die Bemühungen, die Verantwortung amerikanischer Unternehmen mit dem Hinweis zu begründen, sie hätten etwa die in einer abgelegenen finnischen Zeitschrift veröffentlichten Erfahrungen übersehen, sind bezeichnend genug129." Die formale Klassifikation als Unrechtstatbestand vermag kaum zu verschleiern, daß es hier in Wirklichkeit nicht mehr um ein sittliches Versagen, sondern um die soziale "Einstandspflicht" für bestimmte Betriebsrisiken geht, die Esser als strukturell mit dem Gefährdungsprinzip identisch nachgewiesen hat130 • 3.3.3.3. Von daher ist es verständlich, daß der offene übergang zur Haftung ohne Verschulden befürwortet wird. Er würde die Winkelzüge der bisherigen Rechtspraxis, die unredlichen Taktiken und artifiziellen Fiktionen entbehrlich machen, durch die letztlich willkürlich und ungerecht erscheinende Privilegierungen und Diskriminierungen doch nicht zu vermeiden sind, weil man auch bei solchem Finassieren immer wieder an Grenzen stößt, solange man sich nicht entschließt, vom Schaden und der Situation des Geschädigten her zu denken, anstatt nur die Limitierungen der Ausgleichspflicht in möglichst unauffälligen Schrittchen zu verschieben. Auch die Rechtsprechung empfindet es durchaus als "eine kummervolle Sache, wenn man Fälle unverschuldeter Schäden entscheiden soll, in denen alles danach schreit, eine Haftung anzuerkennen", diesem Schrei jedoch nicht nachgegeben werden darf, weil "wir das guten Gewissens nicht im Wege der Rechtsprechung machen können"131. So haben auf dem Juristentag 1968 sowohl der Gutachter als auch der Referent die gesetzliche Einführung einer Gefährdungshaftung für Produktschäden gefordert182 , und die Zivilrechtliche AbteiVgl. Helm in Verhandlungen des 47. DJT, Teil M. S. 76. Simitis, Haftung des Produzenten, S. 55. 130 Vgl. Esser, Gefährdungshaftung, insbes. S. 32 ff. und S. 97 ff. Andererseits zeigt gerade die Geschichte der Ausdehnung, ja der überdehnung der Verkehrssicherungspflichten, daß die durch entsprechende fachtechnische Sicherungs- und Sorgfaltsmaßnahmen beherrschbaren und die auch bei pflichtgemäßer Kontrolle nicht in jeder Beziehung beherrschbaren Gefahren keineswegs - wie Esser glaubt (vgl. Gefährdungshaftung, S. VI f.) - klar zu definieren und eindeutig voneinander zu unterscheiden sind, sondern daß vielmehr der (auch moralische und strafrechtliche) Schuldvorwurf einerseits, die auf einen reinen Kausalzusammenhang begründete Risikozurechnung andererseits nur die beiden Endpunkte einer Reihe sind, die an keiner Stelle irgendeine Diskontinuität aufweist. Deshalb erscheint es durchaus angebracht, die "tabuisierte Unterscheidung zwischen Verschuldenshaftung und Gefährdungshaftung" etwas herunterzuspielen. (Helm in Verhandlungen des 47. DJT, Teil M, S. 76). 131 Simon in Verhandlungen des 47. DJT, Teil M, S. 119. 132 Vgl. Simitis, Haftung des Produzenten, S. 97 (These IV) und Simon in Verhandlungen des 47. DJT, Teil M, S. 31 f. (These 7). 128 129

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3. Kap.: Rechtalage und Problematik

lung hat sich ihnen insoweit angeschlossen, als sie eine eingehende Prüfung dieser Frage empfohlen hat183 • Damit würde eine Entwicklung nachgeholt, die in anderen Ländern schon weiter fortgeschritten ist. Insbesondere in den USA hat sich in den letzten zehn Jahren134 die "striet liability", die Kausalhaftung der Hersteller auf breiter Front durchgesetzt136. Aber auch sonst mehren sich die Vorschläge für eine eindeutige Abkehr vom Verschuldensprinzip138. Daher braucht man keine Prophetengabe zu besitzen, um vorherzusagen, daß eine Haftung für unverschuldete Produktschäden in Deutschland ebenso kommen wird, wie sie im Ausland gekommen ist137. In der Debatte des Juristentags 1968 ist zu diesen Anregungen der Einwand erhoben worden, man könne das Verschuldensprinzip nicht allein bei der Produzentenhaftung verlassen188 • Wenn schon eine Gefährdungshaftung kodifiziert werde, dürfe sie sich nicht auf diejenigen beschränken, die fehlerhafte Waren verkaufen, sondern man müsse dann "das Leasing, die Miete, die Reparaturen hineinnehmen und andere Dienstleistungen, vielleicht auch die Beförderungsleistungen"138, weil jeder Mangel und jedes Versagen in diesen Bereichen den Verbraucher in gleicher Weise gefährden könne 140. Dieser Hinweis belegt jedoch nur von neuem, daß alle Parzellierungen der Schadensordnung die expansiven Tendenzen immer nur vorläufig einzudämmen, die immanenten Sachzusammenhänge jedoch nicht aufzuheben vermögen und daher Grenzüberschreitungen durch Analogieschlüsse geradezu provozieren. Die Prognose, daß die Kausalhaftung des Warenherstellers keineswegs der letzte Schritt sein wird, hat deshalb einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit. 3.3.4. Haftung für erlaubte Schädigungen

Alle diese überlegungen gehen von der Vorstellung aus, Schäden entstünden nur durch Unfälle, wären stets durch Sachen, Zustände, Vorgänge oder Verhaltensweisen verursacht, die zwar nicht vorwerfbar und nicht einmal vermeidbar zu sein brauchen, die aber doch in irgend133 Vgl. Verhandlungen des 47. DJT, Teil M, S. 136 (These 6). Dagegen wendet sich Esser, Schuldrecht II, S. 420. 134 Vgl. Fleming in Verhandlungen des 47. DJT, Teil M, S. 35. 186 Vgl. Simitis, Haftung des Produzenten, S. 63. 188 Vgl. z. B. den Entwurf für ein neues niederländisches Zivilgesetzbuch und den Vorschlag von Gilliard auf der Tagung des Schweizerischen Juristenvereins 1967, abgedruckt bei Simon in Verhandlungen des 47. DJT, Teil M, S. 32 ff. (These 9). 187 Simon in Verhandlungen des 47. DJT, Teil M, S. 120. 138 v. Hahn in Verhandlungen des 47. DJT, Teil M, S. 53. m Rittner in Verhandlungen des 47. DJT, Teil M, S. 91. 140 Vgl. dazu statt vieler anderer Beispiele den Werkstatt-Test in ADACMotorwelt, Nr. 5, Mai 1970, S. 38-48.

3.3. Restitutionsleistungen von Unternehmen und Privatpersanen

85

einer Weise fehlerhaft, plan- und ordnungswidrig sein müßten. Nach dieser Hypothese wären schadenstiftende Ursachen stets Ausnahmen von Regeln, deren Einhaltung Schadlosigkeit garantieren würde. Im Gegensatz zu einer solchen These - die zwar nirgends explizit formuliert, aber doch weitgehend unterstellt wird - ist inzwischen unübersehbar geworden, daß eine Fülle von Schäden auch ohne jede geringste Abweichung von irgendwelchen Verhaltens- oder Zustandsnormen verursacht werden. Es braucht nur an das Schlagwort Umweltverseuchung erinnert zu werden, um deutlich zu machen, daß wir alle täglich daran mitwirken, Leben, Gesundheit und Eigentwn zu gefährden, ohne daß dafür irgendein regelwidriges Versagen verantwortlich zu machen wäre. Aber auch wo es nicht um die Vergiftung der Biosphäre oder andere ökologische Beeinträchtigungen geht, nicht um die Produktion von Abgasen durch Industrie, Wohnungsheizung und Straßenverkehr, von Schmutz- und Kühlwasser, von Müll und von Lärm, bringt der Prozeß des wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts Gefahren mit sich, und zwar selbst dann, wenn er voll funktioniert, wenn er gänzlich fehler- und störungsfrei abläuft: Wir benutzen Biozide, Pharmazeutika und Vakzine, von denen wir genau wissen, daß durch sie ausgelöste Schädigungen auch bei völlig einwandfreier Herstellung und Anwendung nie auszuschließen sind. Solche Bemerkungen dürfen nicht als antimodernistische Philippika mißverstanden werden. Es geht nur darum, die Kehrseite der Wohltaten des Industriezeitalters nicht zu verdrängen und die Sicherung des einzelnen gegen jenes Lebensrisiko, das gerade aus der Partizipation am technischen und wissenschaftlichen Fortschritt erwächst, neu zu bedenken und neu zu ordnen. Das Problem ist von der Rechtswissenschaft zwar nicht völlig übersehen worden. Esser weist zwn Beispiel darauf hin, daß "nicht nur die eigentlichen Betriebsunfälle, sondern auch die gewöhnlichen Betriebsschäden aus zugelassenen gefahrbringenden Anlagen (Funkenflug, Abgase, Motorenlärm etc.)" ausgleichsbedürftige Risiken sind. Wenn er jedoch meint, daß derjenige, der "diese Einwirkungen hinnehmen" muß, weil ihm "angesichts der Legalisierung der Schadensursache die sonst gegebenen Abwehransprüche entzogen sind, ... hinsichtlich der ihm aufgenötigten Schadensfolgen schadlos gehalten werden" müsse141 , so kann das nur als Wunschvorstellung oder Forderung, nicht aber als Darstellung eines bestehenden Rechtszustandes gewertet werden142 • Eine solche Haftung ohne Vorsatz Esser, Schuldrecht I, S. 74. Die Darstellung dessen, was Esser "Eingriffshaftung" (Schuldrecht I, S. 74) und Larenz "Ausgleichshaftung" (Schuldrecht 11, S. 510) nennt, beschränkt sich denn auch auf die Fälle, in denen bestimmte Privilegien aus141

142

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3. Kap.: Rechtslage und Problematik

und ohne Fahrlässigkeit, ohne Unfall und ohne technisches Versagen hat sich bisher nur insoweit herausbilden können, als sich die Schadensursachen genau lokalisieren und einem Urheber zuordnen oder sich wenigstens auf einen Repräsentanten mehrerer Urheber hin "kanalisieren" lassen143 • Auch in diesen Fällen ist sie jedoch meistens rudimentär geblieben. So erscheinen zunächst die Vorschriften des § 906 BGB, § 26 Gewerbeordnung und § 22 Wasserhaushaltsgesetz 144 völlig ausreichend, um einen Ausgleich für solche Schäden bewirken zu können, die durch Immissionen verursacht werden 145 • Aber wer die Donquichotterie des Kampfes gegen Fluglärm, Industrieabgase und Wasserverschmutzung kennt, weiß, daß diese so vielversprechend formulierten Ansätze sich als wenig durchgreifend, als außerordentlich begrenzt erwiesen haben146, daß wir mit der Vergiftung und Zerstörung der Biosphäre bis jetzt ungehemmt und ungestraft fortfahren. Einen angemessenen Ausgleich für ökologisch bedingte Schäden zu gewähren, ist bisher nur einem Institut gelungen, das oft als etwas obsolet angesehen wird, obwohl es schon mehrfach avantgardistische Potenzen entwickelt hat: Der Unfallversicherung für die Berufskrankheiten. Viel schwieriger ist eine Lösung des Haftungsproblems, wo erst die Addition vieler Schadensquellen und ihre Dauereinwirkungen zu manifesten Verletzungen und Zerstörungen führen, wie es bei den meisten Umweltgefahren, besonders deutlich bei den Autoabgasen, der Fall ist. Hier ist das Problem aber auch besonders dringlich. Wenn auch die Programme zum Umweltschutz, also zur Verminderung der ökologischen Bedrohungen, mit Recht eindeutig im Vordergrund der Diskussion stehen, so sind doch Bemühungen, die Schädiger zu belasten und die Opfer zu entschädigen, unverkennbar. Ebenso unverkennbar ist jedoch, daß alle tradierten juristischen Konstruktionen, die immer auf den Beziehungen zwischen einzelnen Rechtssubjekten basieren, bei derartigen diffusen Kausalzusammenhängen völlig unbrauchbar sind. Die bisherigen, noch zögernden Versuche und Vorschläge greifen daher meistens auf den Staat als Mittler, d. h. konkret auf öffentliche Abgaben und Steuern zurück. So hat die Bundesvereinigung gegen Fluglärm drücklich durch Gesetz oder Verwaltungsakt zuerkannt werden. Vgl. zu dieser einengenden Fassung der "Eingriffshaftung" auch Esser, Schuldrecht II, S. 488. 143 z. B. auf einen Flughafen an Stelle der einzelnen Fluggesellschaften. Zum Begriff der rechtlichen und wirtschaftlichen "Kanalisierung" vgl. Esser, Schuldrecht II, S. 482. 144 Vgl. zu letzterem Abschnitt 3.3.1.2. (Anm. 24). 145 § 906 BGB definiert Immissionen als Gase, Dämpfe, Gerüche, Rauch, Ruß, Wärme, Geräusch, Erschütterungen und ähnliche von einem anderen Grundstück ausgehende Einwirkungen. 146 Zum Teil beruht diese Begrenzung schon auf dem Gesetz, so wenn nur Einwirkungen auf ein benachbartes Grundstück erfaßt werden (§ 907 BGB, § 26 Gewerbeordnung).

3.4. öffentliche Restitutionsleistungen

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angeregt, Lärmschutzmaßnahmen und Entschädigungen durch Abgaben der Luftverkehrsgesellschaften zu finanzieren, die nach den Lärmwerten der einzelnen Flugzeugtypen gestaffelt werden sollenl47 ; Präsident Nixon hat dem Kongreß die Besteuerung der Bleizustäze im Benzin und der Produktion von Abwässern vorgeschlagenl48 ; der Staat Michigan hat allen Privatpersonen das Recht zugesprochen, Klage gegen Unternehmen oder Kommunalverwaltungen wegen Luft- oder Wasserverunreinigung zu erheben, wobei die Beweislast beim Beklagten liegt, und in anderen Staaten der USA wird die Schaffung ähnlicher Gesetze erwogenl49 ; auch in den Niederlanden ist gefordert worden, "to taxe those who cause the pollution"150. Das zeigt, wie sehr neben dem Schutz gegen Umweltgefahren auch ein finanzieller Ausgleich für ihre Folgen weltweit als akute, kurzfristig zu lösende Frage empfunden wird, wobei man allerdings über partielle, spezialgesetzlich-e Vorlagen nirgends hinausgekommen ist. Insgesamt ist die tastende Unsicherheit und Verlegenheit ebenso offensichtlich wie das stürmische Verlangen nach neuen, angemessenen Lösungen, so daß die stärkste Expansion der Restitutionsleistungen in Zukunft bei den Entschädigungen für Umweltgefahren zu erwarten, die Art ihrer rechtstechnischen Abwicklung jedoch noch nicht zu prognostizieren ist. 3.4. OffentliclJ.e Restitutionsleistungen 3.4.1. Zur Geschichte des Systems öffentlichrechtlicher Ersatzleistungen

3.4.1.1. Wenn der Staat als seinen Bürgern rechtlich gleichgeordneter Partner auftritt, "handelt er als Fiskus und untersteht den Regeln des bürgerlichen Rechts wie jede Privatperson"l. Das gilt auch für seine Haftung. Insoweit ist alles, was im vorigen Abschnitt gesagt worden ist, auch auf den Staat anzuwenden, und insoweit ist er von der dort geschilderten Entwicklung ebenso betroffen wie alle Privatpersonen. Für den Kernbereich öffentlicher Tätigkeit, die sogenannte hoheitlich-e Verwaltung, hat sich jedoch ein besonderes System öffentlichrechtlicher Ersatzleistungen ausgebildet. Da die Unterscheidung zwiBei Fluglärm: Aussiedeln. In: FAZ Nr. 110 vom 14.5.1970, S. 26. Nixon kündigt neue Steuer an. In: FAZ Nr. 115 vom 21. 5. 1970, S. 13. - Nixon fordert im Kongreß Gesetze für Umweltschutz. In: FAZ Nr. 183 vom 11. 8. 1970, S. 1. 149 Gesetzeshilfe gegen Umweltvergiftung. In FAZ Nr. 196 vom 26.8.1970, S.21. 150 National Council on Social Welfare in the Netherlands (Hrsg.): New Strategies for Social Development. Report for the XVth International Conference on Social Welfare, Manila, September 1970, Chapter II page 3. 1 FOTsthoff, Verwaltungsrecht, S. 292. 147 148

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3. Kap.: Recht&lage und Problematik

schen fiskalischer und hoheitlicher Tätigkeit der öffentlichen Hand nicht immer eindeutig ist und auch nicht uneingeschränkt nach dem Kriterium getroffen werden kann, ob privatrechtliche Formen benutzt werden oder nicht2 , haben die im Verwaltungsrecht entwickelten Haftungsregeln unter Umständen Rückwirkungen auch auf solche staatlichen Handlungen, die sich zivilrechtlicher Gestaltungen bedienen. Denn die Verwaltung, die "über die herkömmlichen Formen hoheitlichen HandeIns hinausgreift und sich der Rechtsformen des Privatrechts bedient, hört ... nicht auf, öffentliche Verwaltung zu sein", und es kann ihr deshalb "nicht gestattet werden, durch eine bloße Auswechslung der Rechtsformen ihrer spezifischen Verantwortung auszuweichen"3. Von daher sind der öffentlichen Hand gewisse Bindungen und Verpflichtungen auferlegt - aber auch Privilegien zuerkannt -, die über die Rechtsposition von Privatpersonen hinausgehen4 • Die Darstellungen des dem öffentlichen Recht eigenen Systems von Ausgleichsansprüchen und -leistungen gehen üblicherweise von einer Gliederung aus, die sich von den Begriffspaaren rechtmäßig - rechtswidrig und schuldlos - schuldhaft herleitet. Öffentliche Verpflichtungen können nach dieser Systematik - wenn man von der nach dem Privatrecht zu regulierenden fiskalischen Betätigung absieht - entstehen durch5 1. rechtswidrige und schuldhafte (sogenannte deliktische) Handlungen,

für die Schadensersatz aufgrund der sogenannten Amtshaftung zu leisten ist, 2. rechtswidrige und schuldlose Eingriffe, die Entschädigungen nach den Regeln des sogenannten enteignungsgleichen Eingriffs oder der Aufopferung auslösen, 3. rechtmäßige (und schuldlose) Eingriffe, die entweder ebenfalls als Aufopferung oder als Enteignung zu entschädigen sind. Die Entstehung dieses klassischen Systems der staatlichen Ersatzleistungen6 wird in der Literatur mit großer Einmütigkeit als die Geschichte einer ständigen Vervollkommnung des Schutzes der Bürger gegen die Folgen öffentlicher Eingriffe und Fehlgriffe beschrieben. Darüber ist zunächst kurz zu referieren7 , um anschließend die ebenfalls !

102.

Vgl. dazu WebeT, Fiskus, S. 744, sowie Wolff, Verwaltungsrecht I, S. 91-

FOTsthoff, Verwaltungsrecht, S. 70. Vgl. auch S. 475 ff. Vgl. dazu Wolff, Verwaltungsrecht I, S. 99 f. Vgl. die übersicht nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bei Wolff, Verwaltungsrecht I, S. 418. e Vgl. FOTsthoff. Verwaltungsrecht, S. 293. 7 Dabei werden im Wesentlichen die Darstellungen von FOTsthoff. Verwaltungsrecht, S. 290-339 ("System staatlicher Ersatzleistungen") und Wolff, 3

4 6

3.4. öffentliche Restitutionsleistungen

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mit weitgehender übereinstimmung geäußerte Ansicht zu skizzieren, daß auch der gegenwärtige Status noch nicht voll zu befriedigen vermöge und trotz aller bisherigen Erweiterungen noch Lücken auszufüllen blieben, so daß eine Tendenz zu weiterer Expansion anzunehmen ist. 3.4.1.2. Das Instrument der Entziehung von Rechten gegen Entschädigung war schon vom 17. Jahrhundert an ausgebildet worden, als der absolute, monokratische Staat sich unter Aufhebung patrimonialer und ständischer Privilegien durchzusetzen begann8 • Obwohl der absolute Monarch die höchste und souveräne Macht im Staate (suprema potestas) in Anspruch nahm und sich insofern als freien Rechtsschöpfer betrachtete, wurden doch die Grundsätze des Naturrechts als auch für ihn bindend angesehen und daraus ein Anspruch auf Entschädigung für die Aberkennung wohlerworbener Rechte abgeleitet. § 70 der Einleitung des preußischen Allgemeinen Landrechts legte dann fest, daß Privilegien nur "gegen hinlängliche Entschädigung des Privilegierten" entzogen werden dürften. Der bürgerliche Rechtsstaat des 19. Jahrhunderts griff auf diese Regeln zurück und entwickelte, entsprechend seiner auf dem Eigentum aufgebauten Rechtsordnung, die Enteignung als Sonderfall der ebenfalls im preußischen Allgemeinen Landrecht kodifizierten Aufopferung. Obwohl der Aufopferungsanspruch an sich viel umfassender formuliert war, hatte man ihn lange nur auf Vermögensschäden angewendet. Da aber der bürgerliche Rechtsstaat als für die Ordnung der Güterverteilung nicht verantwortlich angesehen und er für die Deckung seines eigenen Bedarfs auf den rechtsgeschäftlichen Erwerb verwiesen wurde, wurde die Notwendigkeit für hoheitliche Eingriffe in die Eigentumsordnung allenfalls dort anerkannt, wo er durch Kauf nicht zum Zuge kommen konnte. Das war grundsätzlich nur bei Grundstücken in ganz bestimmter Lage der Fall, an denen nun aber gerade im 19. Jahrhundert durch den Eisenbahnbau ein sehr erheblicher Bedarf entstand. "So gewann die Enteignung die festen Konturen eines Rechtsinstituts, das ganz auf die Entziehung von Grundeigentum zugeschnitten war ... Der allgemeine Rechtszustand, wie er bis zum ersten Weltkrieg bestand, läßt sich allgemein dahin charakterisieren, daß der Schutz vermögenswerter Rechte gegenüber dem Staat grundsätzlich ein absoluter war. Eine Sonderstellung nahm das Grundeigentum ein, das im Enteignungsverfahren entzogen werden konnte und somit einen geringeren Schutz genoß'." Da jedoch die Enteignungsgesetze des 19. Jahrhunderts eine volle Entschädigung vorsahen - und Verwaltungsrecht I, S. 410-454 ("Die öffentlich-rechtlichen Ersatzleistungen") zugrunde gelegt. 8 Vgl. dazu auch Wolff, Verwaltungsrecht I, S. 37. 8 FOTsthoff, Verwaltungsrecht, S. 304.

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3. Kap.: Rechitslage und Problematik

auch für die heute gewährleistete "angemessene" Entschädigung "der Verkehrswert, der auch bei freihändiger Beschaffung hätte beglichen werden müssen"10, als Maßstab gilt - erweist sich die Enteignung ökonomisch gesehen gar nicht als eine Schädigung, sondern als unter Kontrahierungszwang zustandegekommener Verkaufl l • Nach dem 1. Weltkrieg begann jedoch eine "fast uferlose Ausdehnung"12 des Enteignungsbegriffs. Artikel 153 der Weimarer Verfassung wurde dahin ausgelegt, daß die Eigentumsgarantie nicht auf dingliche Rechte (und schon gar nicht auf Grundeigentum) beschränkt sei, sondern auch Forderungsrechte mit umfasse. Diese Interpretation hängt offensichtlich aufs Engste zusammen mit Veränderungen in den Vermögensstrukturen, die im Verlauf der industriellen Entwicklung immer weniger von dinglichen Rechten dominiert und immer mehr von obligatorischen Rechten durchsetzt wurden, sowie mit gesellschaftlichen und rechtlichen Wandlungen, die aus dem wachsenden Einfluß- und Verantwortungsbereich des nunmehr wirtschaftslenkend intervenierenden Staates resultieren. Darauf wird im nächsten Kapitel noch näher einzugehen sein. Hier ist zunächt noch kurz die "Auflösung des Enteignungsbegriffs"13 weiter zu verfolgen. Neben der Entziehung obligatorischer Ansprüche wurden auch bestimmte Eigentumsbeschränkungen der Enteignung gleichgestellt, wobei es im Einzelfall manchmal außerordentlich schwierig ist, Kriterien für die Abgrenzung zwischen "Teilenteignungen" und "Sozialgebundenheit" des Eigentums zu finden14. Durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sind schließlich auch die vermögenswerten Rechte, die dem öffentlichen Recht angehören, in den Eigentumsschutz einbezogen worden, jedenfalls - nach den vom Bundesverfassungsgericht ausgesprochenen Beschränkungen soweit sie durch eigene Leistung, Arbeit oder Kapitalaufwand, erworben sind15. So sind im Laufe der Zeit neben die Enteignung im eigentlichen Wortsinn, also die Wegnahme von Sachen, eine ganze Reihe von Tatbeständen unter den Enteignungsbegriff subsumiert worden, bei denen er "nur noch die Funktion hat, alle Merkmale in sich aufzuneh10

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Weber, Enteignung, S. 230. Weber spricht von einem "durch Verwaltungsakt bewirkten Zwangskauf"

(Enteignung, S. 228) und einem "hoheitlichen Akt, der als Ersatzgeschäft an die Stelle freihändiger Güter- und Leistungsbeschaffung ... tritt" (Enteignung, S. 227). Die Merkmale, durch die Wolff den "Ablieferungszwang" von der Enteignung unterscheidet, sind nicht materieller, sondern rein formaler Art (Vgl. Verwaltungsrecht I, S.436). 12 Wolff, Verwaltungsrecht I, S. 426. 13 Weber, Enteignung, S. 228 f. Ebenso Forsthoff, Verwaltungsrecht, S. 306 f. 14 Vgl. dazu die Beispiele bei Wolff, Verwaltungsrecht I, S. 429 f. 16 Danach fallen auch Ansprüche an die Sozialversicherungen, die auf Beitragsleistung beruhen, und die Versorgungsansprüche der Beamten unter die Eigentumsgarantie des Grundgesetzes.

3.4. Öffentliche Restitutionsleistungen

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men, nach denen die entschädigungsfreien und die entschädigungspflichtigen Eingriffe in die individuelle Vermögenssphäre voneinander zu scheiden sind"16. All das bezieht sich zunächst nur auf rechtlich zulässige Eingriffe des Staates. Schon das Reichsgericht hatte aber auch bei Rechtswidrigkeit einen Entschädigungsanspruch zuerkannt, wenn eine der Enteignung gleiche Wirkung eintritt. "Die Wissenschaft hat dies nach anfangs vielstimmigem Widerspruch hingenommen"17, weil sie anerkennen mußte, daß die Entschädigung für rechtswidrige enteignungsgleiche Eingriffe nach Enteignungsregeln "ein weiterer wesentlicher Schritt auf dem Wege zur Perfektion des Vermögensschutzes" ist18. Diese Extension des Enteignungsrechts ist noch im gleichen Jahr fortgesetzt worden, indem der Begriff des enteignungsgleichen Eingriffs auch auf schuldhaftes öffentliches Handeln angewendet worden ist. So sehr die Begründung einleuchtet, der Grundsatz, daß auch rechtswidrige Eingriffe zu entschädigen seien, müsse "auch dann, und sogar erst recht dann zur Anwendung gelangen, wenn ein solcher Eingriff schuldhaft vorgenommen worden ist"19, so ist doch dagegen eingewendet worden, daß für schuldhafte Schädigungen längst das Rechtsinstitut der Amtshaftung zur Verfügung stand, so daß hier nur eine vermeidbare und verwirrende Anspruchskonkurrenz geschaffen worden sei. 3.4.1.3. Mit all diesen Aussonderungen aus dem allgemeinen Rechtsgrundsatz der Aufopferung waren jedoch ausschließlich vermögenswerte Rechte erfaßt. Mit dem Enteignungsbegriff operierende Vorstellungen können, bei noch so extensiver Interpretation, an Leben, Gesundheit und Freiheit Geschädigten nicht zu einer Entschädigung verhelfen. Der Aufopferungsanspruch selbst war vom Reichsgericht in ständiger Rechtsprechung auf Vermögensbeeinträchtigungen beschränkt worden. "Mit dieser Judikatur hat der Bundesgerichtshof gebrochen ... Damit ist eine wesentliche Lücke im System des individuellen Rechtsschutzes geschlossen worden20 ." Heute wird das Institut der Aufopferung gerade und ausschließlich dazu benutzt, einen Ausgleich für körperliche Schädigungen zu begründen. Im übrigen ist die Entwicklung ähnlich verlaufen wie bei den Vermögensschäden. Auch der - auf Körperschäden beschränkte - Aufopferungsanspruch ist auf rechtswidrige Schädigungen ausgedehnt worden. In den sonstigen Voraussetzungen ist die Rechtsprechung ebenfalls großzügiger geworden, indem sie auf die Bedingung verzichtet hat, daß ein direkter hoheitlicher 18

FOTsthoff, Verwaltungsrecht, S. 313.

18

FOTsthoff, Verwaltungsrecht, S. 326.

20

FOTsthoff, Verwaltungsrecht, S. 328.

17 Wolff, Verwaltungsrecht I, S. 413.

19 Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen, Bd. 7, S. 296.

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3. Kap.: Rechtslage und Problematik

Eingriff vorliegen muß. So sind Schäden, die durch eine lediglich öffentlich empfohlene und nahegelegte Impfung entstanden sind, als ein ausgleichspflichtiges Sonderopfer anerkannt worden. Ob die Kriegsopferversorgung rechtlich aus der Aufopferung herzuleiten ist, mag hier offen bleiben, zumal die Frage ohnehin mehr eine formal-begriffliche ist21 • Es ist jedoch im Anschluß an den letzten Abschnitt nachzutragen, daß der Gesetzgeber im Laufe der Zeit verschiedentlich die Unfallversicherung benutzt hat, um eine Reihe von öffentlich-rechtlichen Aufopferungsansprüchen spezialgesetzlich zu normieren22 : Verschiedene Tätigkeiten, die im Interesse der Allgemeinheit oder zugunsten in Not Geratener ausgeübt werden, sind wie eine berufliche Tätigkeit versichert. Das Gesetz nennt insbesondere die im Gesundheits- oder Veterinärwesen, in der Wohlfahrtspflege, in einem Unternehmen zur Hilfe bei Unglücksfällen und im Luftschutzdienst Tätigen, ferner Lebensretter, Zeugen, Blutspender und Spender körpereigener Gewebe sowie Personen, die einem öffentlichen Bediensteten oder einem widerrechtlich Angegriffenen Hilfe leisten oder die einen einer strafbaren Handlung Verdächtigen verfolgen oder festnehmen23 • 3.4.1.4. Ebenso wie bei der "Opferentschädigung"24 besteht bei einem zu vollem Schadensersatz im eigentlichen Rechtssinne verpflichtenden deliktischen Verhalten der Verwaltung "die Tendenz zu einer möglichst weitgehenden Erstreckung" der Leistungspflicht25 • Zunächst hatte das BGB nur die persönliche Haftung des Beamten reichs einheitlich geregelt. 1910 wurde sie gegenüber dem betroffenen Bürger durch eine direkte primäre Haftung des Staates abgelöst26, wobei die "ursprüngliche Funktion" dieses Instituts der Amtshaftung darin bestand, "dem Verletzten durch Einsetzung eines zahlungsfähigen Schuldners das Risiko der Erlangung des Ersatzes abzunehmen"27. Im Laufe der Zeit fielen dann eine ganze Reihe einschränkender Bedingungen für die staatliche 21 Wolff lehnt das ab, weil ein "Sonderopfer ... wegen ihrer Dienstverpflichtetheit von diesen Soldaten ... nicht erbracht worden" sei, obwohl er selbst darauf hinweist, daß die Soldatenversorgung sich aus dem "Opfergedanken" entwickelt habe (Verwaltungsrecht III, S. 149 und 146). Anderer Meinung sind, neben vielen anderen, Fichtner (Forderungen an Staat und Gesellschaft zur Erfüllung der sozialen Aufgaben, S. 71), Rohwer-Kahlmann (Soziale Sicherheit, S. 33) und Bogs (Grundfragen, S. 29 f.). 22 Vgl. Linthe, Unfallversicherung, S. 4. 23 § 539 Abs. 1 Nr. 7, 9, 10, 12, 13 RVO. 24 Unter diesem Terminus faßt Wolff die Ersatzleistungen bei Enteignung, enteignungsgleichem Eingriff und Aufopferung zusammen (vgl. Verwaltungsrecht I, S. 416 und 419 ff.). 25 Forsthoff, Verwaltungsrecht, S. 300. 28 Entsprechende Regelungen wurden später durch die Weimarer Verfassung (Art. 131) und durch das Grundgesetz (Art. 34) getroffen. 27 Forsthoff, Verwaltungsrecht, S. 300.

3.4. öffentliche Restitutionsleistungen

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Schadensersatzleistung. Der Beamtenbegriff im formalen staatsrechtlichen Sinne wurde sehr bald fallen gelassen und die Haftung auf alle mit der Ausübung öffentlicher Gewalt betrauten Personen erstreckt28 • Die Grenze der Amtshaftung, die dadurch bezeichnet ist, daß der Amtswalter "die ihm einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht" verletzt haben muß29, ist auch immer mehr aufgeweicht worden. So sind an sich rein behördeninterne Verpflichtungen, wie die zur Einhaltung von Kompetenzregelungen oder zur sachgemäßen Ermessensausübung, zu Amtspflichten gegenüber Dritten deklariert worden. Was überhaupt eine Amtspflicht ist, wurde ebenfalls immer extensiver ausgelegt30. Die Wegeinstandhaltung und die Verkehrssicherungspflicht wurden grundsätzlich als eine Amtspflicht Dritten gegenüber angesehen, ebenso die Verpflichtung, nur zutreffende Auskünfte zu erteilen, Antragsteller auf für sie günstige Rechtsänderungen hinzuweisen und dafür zu sorgen, daß im Gesetz vorgesehene Rechte und Vorteile den Begünstigten auch zukommen. Damit ist schon ein weiterer Schritt vollzogen: Die Erstreckung der Amtshaftung über die Akte der obrigkeitlichen oder Eingriffsverwaltung hinaus31 auf die der leistenden Verwaltung. Es blieb also nur noch die rein fiskalische Verwaltung von der Amtshaftung ausgeschlossen. "Das Ziel der Rechtsprechung geht dahin, dem Staat das Risiko für die korrekte Handhabung seiner Funktionen aufzubürden" und insbesondere "eine lückenlose Bestandssicherung der vermögenswerten Individualrechte" zu erreichen32 . Von daher wurde schließlich auch die Voraussetzung des Deliktscharakters nicht unangetastet gelassen. "Die Rechtsprechung neigt dazu, dann ein Verschulden anzunehmen, wenn es unbillig wäre, Schadensersatz zu versagen. Damit wird immer deutlicher, daß ein subjektiv vorwerfbares Verhalten des einzelnen Amtswalters als Anknüpfungspunkt einer Haftung für hoheitliche Schädigungen nicht geeignet ist33 ." 3.4.1.5. Dieser kursorische überblick über die Entwicklungsgeschichte der öffentlichen Leistungen für private Schäden mag gezeigt haben, daß hier ein sich perpetuierender Expansionsprozeß abläuft, der inzwischen zu Lösungen geführt hat, "die weithin keinen Anhalt im positiven Recht finden, ihm zum Teil sogar widersprechen dürften und jedenfalls von dem ursprünglichen Sinn der Rechtsinstitute wenig übrig gelassen, 28 Das Grundgesetz hat deshalb auch das Wort "Beamter" durdl. "jemand" ersetzt. 28 Art. 34 Grundgesetz. 30 Vgl. dazu EsseT, Gefährdungshaftung, S. 34-39. 31 Art. 131 der Weimarer Verfassung, der von der Ausübung öffentlicher Gewalt sprach, schien auf eine solche Beschränkung hinzudeuten. 32 FOTsthoff, Verwaltungsrecht, S. 300. 33 Wolff. Verwaltungsrecht I, S. 443. Vgl. auch Verhandlungen des 47. DJT, Teil L, S. 18 f.

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3. Kap.: Rechitslage und Problematik

jedenfalls aber ihre Systematik umgestoßen haben"34. Daher finden sich immer wieder Versuche, entweder Teilgebiete oder den Gesamtbereich der Einstandspflichten des Staates neu zu ordnen, wobei über die Systematik hinaus regelmäßig auch die Einbeziehung weiterer Tatbestände erstrebt wird. Diese Tendenzen sind im folgenden kurz zu bezeichnen, wobei jedoch auf die Darstellung von Kritik und Verbesserungsvorschlägen, die nur Details des vorhandenen Instrumentariums betreffen, verzichtet werden soll. 3.4.2. Forderungen und Argumente zur Ausdehnung der öffentlichen Haftung

3.4.2.1. Geht man von dem vorhandenen System der staatlichen Ersatzleistungen aus, so scheint eine - bisher trotz der extensiven Rechtsprechung zumindest nicht systematisch befriedigend geschlossene Lücke vor allem zwischen den rechtmäßigen (Aufopferung und Enteignung) und den schuldhaft-rechtswidrigen (Amtshaftung) Beeinträchtigungen zu bestehen35 • Die Aufforderung zu einer judikativen oder legislatorischen Rechtsfortbildung ergeht daher in erster Linie für den Bereich der schuldlos-rechtswidrig herbeigeführten Schädigungen. Wie das in den einzelnen Vorschlägen rechtstechnisch bewältigt und rechtsdogmatisch abgeleitet wird, kann der juristischen Spezialdiskussion überlassen bleiben. überwiegend werden spezialgesetzliche Einzelregelungen, wie es sie z. B. für zu Unrecht erlittene Haft gibt, als dem zu lösenden Problem nicht angemessen angesehen. So hat auch der Deutsche Juristentag 1968 die gesonderte Regelung eines "Folgenbeseitigungsanspruchs" nicht befürwortet36 . Forsthoff hat vorgeschlagen, über die Analogie zur Enteignung und Aufopferung hinaus, die "Gefährdungshaftung als ein selbständiges Rechtsinstitut des öffentlichen Rechts" anzuerkennen37 , wobei er sich ausdrücklich auf Essers Untersuchung beruft38 . Er begründet das damit, daß die Fälle ständig zunehmen, in denen Menschen "nicht Opfer eines hoheitlichen Eingriffs, sondern einer durch hoheitliches Handeln entstandenen besonderen Gefahrenlage" werden39 , daß die "Notwendigkeit der Abgeltung solcher Schäden" unbestritten sei 4o , daß sie jedoch nach den zur Verfügung stehenFOTsthoff, Verwaltungsrecht, S. 293. Vgl. Wolff, Verwaltungsrecht I, S. 452 f. 36 Vgl. These 11 in den Verhandlungen des 47. DJT (Teil L, S. 145) sowie die der Abstimmung vorausgegangene Diskussion. 37 FOTsthoff, Verwaltungsrecht, S. 336. 38 Wolff hält eine allgemeine öffentliche Gefährdungshaftung ebenfalls für rechtspolitisch wünschenswert, jedoch ohne Änderung des positiven Rechts für nicht anwendbar (Verwaltungsrecht I, S. 452 f.). 39 FOTsthoff, Verwaltungsrecht, S. 332. 40 FOTsthoff, Verwaltungsrecht, S. 335. 34

35

3.4. Öffentliche RestLtutionsleistungen

95

den Regeln der Aufopferung und Enteignung nicht zu erreichen sei, weil "mit dem Wegfall des Eingriffs ... die Rechtsähnlichkeit und damit die Voraussetzung der Analogie verloren" gehe41 . über den Vorschlag, das System staatlicher Ersatzleistungen durch ein weiteres Rechtsinstitut zu ergänzen, gehen die Forderungen hinaus, "die verschiedenen Bereiche der Staatshaftung untereinander und mit dem Rechtsschutz zu harmonisieren und umfassend gesetzlich zu regeln"42. Auf dem Juristentag 1968 ist sehr lebhaft Klage geführt worden über "die Unordnung, die wir nun seit Jahren auf dem Gebiet des Staatshaftungsrechts haben ... Wir sehen uns gegenwärtig gewissermaßen einem Mosaik - aber einem schlecht gefügten und sehr lückenhaften Mosaik - gegenüber. Hier sind Steinchen, dort sind Steinchen; es werden neue hinzugetragen, alte abgetragen; es sind Löcher im Bild, die Steinchen passen nicht mehr recht zueinander"43. Der "gegenwärtige Zustand unserer Rechtsordnung, soweit sie sich mit rechtswidrigem hoheitlichen Handeln auseinandersetzt" , sei "beklagenswert, ... ein scheußlicher, eines Rechtsstaates unwürdiger Zustand", weil diese Rechtsordnung ,,1. ungerechte Ergebnisse erbringt, die teilweise sogar gegen das Gleichheitsgrundrecht verstoßen, 2. durch ihre Unübersichtlichkeit und Unvorhersehbarkeit dem Prinzip der Rechtssicherheit grob zuwiderläuft, 3. daher die Hoheitsträger in einem Ausmaß gegen Ansprüche des Bürgers abschirmt, welches den Sinn einer solchen Ordnung - nämlich Ventil für soziale Konflikte zu sein - in sein Gegenteil verkehrt"44. Deshalb sei "mit partiellen gesetzgeberischen Entscheidungen ... wenig gewonnen. Indiziert ist vielmehr ... eine an übergreifenden Ordnungsvorstellungen orientierte, in sich systemgerechte reformierende Gesamtregelung des Staatshaftungsrechts" , die Begründung einer generellen, originären und primären öffentlichrechtlichen Haftung des Staates für hoheitliches Staatsunrecht. "Sie sollte für die Fälle vorgesehen werden, in denen jemand ... durch das - wenn auch unverschuldete - rechtswidrige Unterlassen der vollziehenden Gewalt oder schließlich durch das Versagen einer im hoheitlichen Bereich eingesetzten technischen Verwaltungseinrichtung in seinen Rechten verletzt worden ist45 ." Die hier geforderte, vom Verschuldensprinzip gelöste Haftung für alle durch staatliche Betätigung rechtswidrig verursachten Schädigungen geht nicht nur in ihrem sachlichen Umfang, sondern auch in der Forsthoff, Verwaltungsrecht, S. 336. Verhandlungen des 47. DJT, Teil L, S. 145 (These III). 43 Bachof in Verhandlungen des 47. DJT, Teil L, S. 81. 44 Haas in Verhandlungen des 47. DJT, Teil L, S. 32 und 45. Im Original steht: Rechts"ordnung". 45 Bender in Verhandlungen des 47. DJT, Teil L, S. 18, 19 und 21 f. 41

42

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3. Kap.: Rechtslage und Problematik

Bemessung sehr weit. Denn einerseits "ist im Gutachten und in den Referaten ziemlich eindeutig gesagt: Voller Schadensersatz, Prinzip des § 249 BGB"48, andererseits sollen auch Schäden einbezogen werden, die dadurch entstehen, daß jemand "etwas zu Unrecht vorenthalten wird, was er beanspruchen darf", die also durch "das Unterlassen gebotenen hoheitlichen HandeIns" oder durch "die ausdrückliche rechtswidrige Ablehnung einer von dem Berechtigten zu beanspruchenden begünstigenden Amtshandlung" entstehen47 . Beides bedeutet, daß die öffentlichen Ersatzleistungen nicht mehr wie "nach herkömmlicher Auslegung nur einen Bestands-, nicht aber Erwerbsschutz"48 bieten sollen, sondern auch entgangene Chancen mit abzudecken hätten. Das korrespondiert mit einer im Privatrecht zu beobachtenden Tendenz, "den Schutz des Gewerbebetriebes auf einen Erwerbsschutz auszudehnen"4'. 3.4.2.2. Die Haftung bleibt jedoch auch bei all diesen Erweiterungen auf solche Fälle begrenzt, in denen der Staat selbst seinen Bürgern einen Schaden zugefügt hat. Selbst bei Einbeziehung von Gefährdungstatbeständen und von Unterlassungen ist immer noch der Staat der direkte Urheber des Schadens. Dennoch ist hier ein erster Schritt getan, der - wenn ihm weitere in der gleichen Richtung folgen - zu einer Annäherung des juristischen Denkens an die sozialen Vorstellungen über die Verantwortlichkeit des Staates für das Einzelschicksal führen könnte. Denn wenn erst einmal der Staat nicht nur für das haftbar gemacht wird, was er getan hat, sondern auch für das, was er nicht getan hat, so liegt die Frage nahe, warum das nur dann gelten soll, wenn er eine Verpflichtung gegenüber einem einzelnen nicht oder nicht richtig erfüllt hat, und nicht auch für solche Fälle, in denen er nur der Allgemeinheit gegenüber verpflichtet ist. Die Folgerungen, die sich aus einer derartigen Argumentation ergeben, haben ein Vorbild in dem sogenannten Tumultschädengesetz von 1920 und dem es ergänzenden Personenschädengesetz von 1922, die unter bestimmten Voraussetzungen öffentliche Ersatzleistungen für solche Schäden vorsehen, die durch "innere Unruhen" entstanden sind. Der Täter ist also eindeutig nicht der Staat. Es wird ihm auch nicht zum Vorwurf gemacht, daß er pflichtwidrig nichts unternommen habe, um seine friedlichen Bürger zu schützen. Er soll vielmehr auch dann eintreten müssen, wenn er die Unruhen zu verhindern versucht oder bekämpft hat, weil "der Schaden daher rührt, daß die öffentliche Ruhe und Sicherheit vom Staat eben gerade nicht aufrechterhalten werden konnte"5o. 40 47 48 41

60

Verhandlungen des 47. DJT, Teil L, S. 59. Verhandlungen des 47. DJT, Teil L, S. 20. Wolff, Verwaltungsrecht I, S. 454. Wolff, Verwaltungsrecht I, S. 454. Geigel, Haftpflichtprozeß, S. 524.

3.4. öffentliche ResUtutionsletstungen

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Hier wird also der Staat dafür verantwortlich gemacht, daß ihm die Erfüllung seiner Zwecke nicht hinreichend gelungen ist. Er wird für den Ersatz eines Schadens herangezogen, obwohl er ihn gar nicht auch nicht indirekt durch eine von ihm geschaffene Gefahr - verursacht hat, weil der Schaden nicht entstanden wäre, wenn er seine funktionen mit (mehr) Erfolg ausgeübt hätte. überträgt man das auf die gesamte Ordnungsverwaltung, so wird der Staat- zumindest subsidiär - für eine Fülle von Schäden ersatzpflichtig, die unmittelbar durch Private verursacht werden, etwa wenn mangelhafte Arzneimittelgesetzgebung und -kontrolle für Medikamentenschäden, mangelhafte Verkehrs- und StraBenpolitik für Verkehrsunfälle, mangelhafte Raumordnungs- und Baupolitik für die erst durch die Ballung zur Gefahr werdende Umweltverschmutzung oder mangelnde Sorgfalt bei der Genehmigung von Produktionsanlagen für Schädigung durch Lärm und Immissionen51 als notwendige und daher zumindest ein Mitverschulden des Staates begründende Ursachen gedeutet werden. Dieser Typus sozialphilosophischer Deduktion läßt sich durch eine Fülle von Beispielen, insbesondere aus dem Bereich der sogenannten Umweltverseuchung, belegen, von denen die Entschädigung für die contergangeschädigten Kinder nur das aktuellste und spektakulärste ist. Geht man noch einen Schritt weiter und macht den Staat auch verantwortlich, wenn seine Daseinsvorsorge versagt, so wird der Unterschied zwischen einer Haftung des Staates für Fehlhandlungen und Versäumnisse einerseits und seiner normalen sozialstaatlichen Aufgabe der Unterstützung und Förderung sozial Benachteiligter andererseits fast völlig verwischt. Dann wird z. B. jede Benachteiligung und jedes Fehlurteil im Bildungswesen und bei sonstigen sich auf die Zuteilung beruflicher und sozialer Chancen auswirkenden öffentlichen Betätigungen, etwa bei Schulreifoetests oder bei der Berufsberatung, zu einem staatliche Ersatzleistungen auslösenden Schädigungstatbestand, wobei allerdings die Beweisschwierigkeiten solchen Ansprüchen sehr enge Grenzen setzen würden. Das ändert jedoch nichts daran, daß. Forderungen dieser Art erhoben werden. Die von Titmuss angeführte irrtümliche Ausmerzung von Versagern in Erziehungseinrichtungen5! ist nur ein Beispiel dafür. Die Vorstellung, daß der Staat den einzelnen schadlos zu halten habe, wenn die ihm obliegenden Vorkehrungen nicht ausgereicht haben, um Schädigungen zu verhindern, ist inzwischen - zumindest in Andeutungen - auch in die Begründung für eine der ältesten Arten öffentlicher 11

Vgl. dazu auch § 26 Gewerbeordnung, der bei genehmigten Anlagen

61

Vgl. Anm. 16 in Abschnitt 2.4.3.

einen Beseitlgungsanspruch ausschließt. 7 ScbAfer

3. Kap. : Rechtslage und Problematik

98

Hilfe eingegangen: Die Unterstützung und Entschädigung der Opfer von Naturkatastrophen. Obwohl hier prima facie jeder, auch indirekte, Kausalzusammenhang mit öffentlicher Tätigkeit oder Untätigkeit zu fehlen und es lediglich um eine solidarische Aktion für von harten Schicksalsschlägen betroffene Mitbürger zu gehen scheint, ist den öffentlichen Instanzen - wenigstens bei Überschwemmungen, dagegen bisher kaum bei Erdbeben - doch ein Schuldanteil zugeschrieben worden; denn sie hätten entweder für einen besseren Deichschutz sorgen müssen oder die Bebauung überflutungsgefährdeter Gebiete nicht zulassen dürfen. Schließlich sind die Katastrophenhilfen auch formal Schadensersatzleistungen angenähert worden. In einem Bericht an das Europäische Parlament ist vor kurzem mitgeteilt worden, "daß erst jetzt, im Jahre 1969, mit der Vergütung der Schäden des Erdbebens von Irpinia im Jahre 1915 begonnen worden ist"63. Solche Leistungen haben offensichtlich mit der ursprünglichen Hilfevorstellung, daß es um möglichst schnellen Wiederaufbau und um die Wiederherstellung der Wirtschaftskraft der betroffenen Regionen und Populationen gehe, nichts mehr zu tun. Wenn sie in derart langfristige Zahlungsvorgänge transformiert· werden - wie es ähnlich bei der Abwicklung des deutschen Lastenausgleichs geschehen ist - werden sie vielmehr zu abstrakten Ansprüchen, die jeden Zusammenhang sowohl mit den Schadensfolgen als auch mit der ursprünglichen sozialen Intention verloren haben. 3.5. Nachholbedarf bei Personenschäden 3.5.0. In den vorstehenden Abschnitten dieses Kapitels ist der Versuch gemacht worden, ein ganzes Kaleidoskop von haftungserweiternden Entwicklungen, die an den verschiedensten Stellen zu beobachten und in den verschiedensten Zusammenhängen erwähnt sind, in einer an juristischen Einteilungskriterien orientierten Darstellung zusammenzufassen und zu systematisieren, um den deutlich ausgeprägten, ja auffälligen Trend zu einer permanenten Expansion des Schadensersatzes auch für. den Nichtjuristen evident werden zu lassen. Den Fachleuten des Haftpflichtrechts ist er offensichtlich so geläufig, daß sie dauernd auf ihn hinweisen, ohne ihn im einzelnen zu beschreiben. Er hätte daher auch durch eine seitenlange Sammlung von Zitaten belegt werden können, in denen die Vokabeln Erweiterung, Ausweitung, Ausdehnung, Expansion, Verschärfung, Erhöhung, Einbeziehung, Weiterentwicklung, Verttlehrung ständig wiederkehren, und zwar in öffentlichrechtlichen Abhandlungen und Debatten ebenso wie in zivilrechtlichen 53

Josef Schmitz van Vorst: Italien leidet an der Lentokratie. In FAZ Nr.14

vom 17. 1. 1969, S. 2.

3.5. Nachholbedarf bei Personenschäden

99

und insbesondere in versicherungsrechtlichen. Andererseits hätte unter Verzicht auf systematische Ambitionen eine zufällige oder doch zumindest eklektizistische Kollektion von Beispielen präsentiert werden können. Während der Vorstudien zu dieser Arbeit ist allein durch normale tägliche Zeitungslektüre ein Archiv von Meldungen über Schadensersatzleistungen entstanden, das einen ganzen Aktenordner füllt; es enthält Urteile, Gesetzentwürfe, Programme, Resolutionen, Memoranden und Vorschläge, die von der Anerkennung einer Vergiftung durch Auspuffgase in der Garage als Arbeitsunfall über die Anregung zu einer Aufwertungsentschädigung für deutsche Grenzgänger, einen Plan für den Ersatz von Verlusten durch Insolvenzen von Brokerfirmen, die Forderung nach besserer Sicherung gegen Verdienstausfall bei PockenQuarantäne und nach einer angemessenen Entschädigung bei J ustizirrtümern bis zur Zubilligung eines Ersatzanspruchs wegen Ausfalls der Erwerbseinkünfte einer Prostituiertenl und zur Klage wegen Schwangerschaft trotz Einnahme eines Ovulationshemmers reichen. Gegenüber solchen nur illustrativen Ansätzen schien der gewählte Versuch einer Systematisierung deshalb angemessener, weil er die Tragweite der beschriebenen Entwick:lungstendenzen deutlicher hervortreten läßt und weil er mit den notwendig generalisierenden Reformvorstellungen, die in den folgenden Kapiteln zu entwickeln sind, besser kompatibel ist. Zunächst sind jedoch noch einige andere Perspektiven dieser expansiven Tendenzen nachzuzeichnen, die bisher nur beiläufig oder nur implizit genannt worden sind, und zwar - in diesem Abschnitt - die Berechnungsverfahren, das heißt die Frage, nach welchen Kriterien Inhalt und Umfang der Ausgleichsansprüche bemessen werden, wobei die Personenschäden den Sach- und Vermögensschäden gegenüberzustellen sind, sowie - im nächsten Abschnitt - die Aufbringungsverfahren, das heißt die Frage, wer mittels welcher Deckungstechniken zur Finanzierung von Ausgleichsleistungen herangezogen wird. 3.5.1. Vberholte Maßstäbe

für die Beredmung von Einkommensverlusten

3.5.1.1. Was zunächst die Vorfrage angeht, ob für die verschiedenen Arten von Schädigungen überhaupt eine Kompensation bewilligt wird, läßt sich eine eindeutige Präferenz, entweder für Personenschäden oder für Sach- und Vermögensschäden, nicht feststellen. Zwar wurden öffentlich-rechtliche Ersatzleistungen, insbesondere aus Aufopferung, bei Personenschäden lange Zeit nicht zugebilligt, doch gab es andererseits 1 Anders noch Geigel, Haftpflichtprozeß, S. 103, und Wussow, Ersatzansprüche bei Personenschaden, S. 13.

100

s. Kap.: Redltslage Und. Problematik

.

auch Gesetze, die gerade umgekehrt bei Sach- und Vermögensschäden keinen Ausgleichsanspruch einräumten, wie zum Beispiel das Reichshaftpflichtgesetz und die Unfallversicherungsgesetze. Das Deliktsrecht des BGß hatte grundsätzlich keinerlei Düferenzierungen vorgesehen. Bei der Aufzählung der möglichen Verletzungen - nämlich des Lebens, des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit, des Eigentums oder eines sonstigen Rechts! - hatte es jedoch eine Reihenfolge gewählt, die sicher nicht zufällig ist. Wenn man unterstellt, daß sie so sorgfältig durchdacht war, wie sie erscheint, so weist sie die Autoren des BGB als wesentlich fortschrittlicher und sozialer aus als seine späteren Exegeten. Denn in der Theorie und in der Praxis des Schadensersatzrechtes ist offensichtlich, daß "das Gewicht bislang allzu einseitig auf Objektgüter und ,reines Haben' gelegt wurde"', daß· ein an der bürgerlichen Eigentumsideologie des wilhelminischen Zeitalters orientiertes, teilweise auch noch paternalistisch geprägtes, jedenfalls von rein geld- und marktökonomischen Vorstellungen beherrschtes Denken noch nicht überwunden, vielmehr gegenüber einer die Leistungsfähigkeit und die Lebenschancen der Person angemessen bewertenden Konzeption prävalent geblieben ist. Wo es um Eigentum und Vermögen geht, sind die subtilsten Rechts- und Rechenregeln entwickelt worden, die den Ergebnissen jahrzehntelangen betriebswirtschaftlichen Nachdenkens - von denen sie natürlich entscheidend profitiert haben - kaum nachstehen. Jeder Blick in die Literatur zeigt, mit welcher Ausführlichkeit, welcher Akribie und welchem Genuß am Detail dort verfahren wird, wo man nach kaufmännischen Gesichtspunkten bilanzieren kann. Bei Personenschäden gilt das Gleiche nur, solange es um Behandlungskosten geht, über die sich auf Heller und Pfennig Rechnung legen läßt. Dagegen finden sich in den langen Abhandlungen über Art, Inhalt und Umfang der Ersatzleistungen nur relativ kurze und vage Bemerkungen darüber, wie ein Schaden zu berechnen ist, der in einer Beeinträchtigung von Gesundheit und Arbeitsfähigkeit besteht. Die Hinweise, die die Lehrbücher und Kommentare zu diesem Problem enthalten, sind kaum konkreter als die schon vom Gesetz gebotene Formel, daß "die Nachteile, welche die (schädigende) Handlung für den Erwerb oder das Fortkommen des Verletzten herbeüührt", zu berücksichtigen sind'. Diese gesetzliche Anweisung muß aber für die praktische Rechtsfindung eine Leerformel· bleiben, wenn sie nicht durch operationale Schätzverfahren substantiertwird. Der Richter ist hier viel stärker überfordert als bei dem formal gleichen Problem der Ermittlung eines entgangenen Gewinns, weil der Prognosezeitraum in der Regel wesentlich länger § 823BGB. • Essef', Schuldrecht 11, S. 396. , § 842BGB. I

3.5. Nadlholbedarf bei Personensdläden

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ist, sich oft auf Jahrzehnte erstreckt. Geht man von den Einkommensverhältnissen aus, wie sie im Zeitpunkt der Schädigung bestanden haben, und bürdet dem Verletzten die Beweislast dafür auf, "daß sich sein Einkommen ohne den Unfall in der Zeit der Arbeitsunfähigkeit erhöht haben würde"5, verlangt von ihm, daß er "genügende Unterlagen für die Schadensschätzung ... unterbreitet", um "mit hinreichender Sicherheit die Entwicklung in der Zukunft beurteilen (zu) können"', oder erwartet gar von ihm den Nachweis, daß "die künftige Beförderung oder Gehaltsaufbesserung zur Zeit des Urteils schon in sicherer Aussicht gestanden" hat7, so wird man den "Grundsatz der Totalreparation"8 beim Personenschaden nahezu ausnahmslos derogieren. Denn er wäre nur dann erfüllt, wenn über die mutmaßliche berufliche Karriere des Beschädigten hinaus auch jener gesellschaftliche Zukunftswert seiner verlorenen Erwerbskraft in die Berechnung der Rente einginge, der infolge der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung auch bei völlig gleichbleibender individueller Arbeitsleistung und Berufsposition steigt. Das aber würde voraussetzen, daß Wachstumsraten, Inflationsraten, Berufs- und Einkommensstrukturen auf Jahrzehnte hinaus, auch in ihrer zeitlichen Entwicklung, mit einer Genauigkeit und Zuverlässigkeit vorausgesagt werden könnten, die nur derjenige erwarten kann, der einer deterministischen Geschichtsauffassung huldigt. Daher werden, bei allen möglichen Verbesserungen des prognostischen Kalküls, solche Konstruktionen, die eine der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung folgende, automatische Rentenerhöhung ermöglichen, ihre überlegenheit gegenüber allen Formen behalten, bei denen die einmal fixierte Rentenhöhe allenfalls durch wiederholte Abänderungsklagen an veränderte sozioökonomische Verhältnisseangepaßt werden kann'. 3.5.1.2. Bei der spezialgesetzlichen Haftpflicht und bei Aufopferungsansprüchen werden die Renten, die Erwerbseinkünfte ersetzen sollen, nicht erst im Zeitablauf, infolge des ökonomischen Wachstums und der Erhöhungen des Preisniveaus, unzulänglich, sondern der volle Ausgleich von Personenschäden wird, infolge der festgesetzten oder praktizierten Höchstgrenzen, teilweise von Anfang an verhindert. Die geläufigste Begrenzung, nämlich auf 15000 DM Jahresrente10, liegt schon 6 Wussow, Ersatzanspruche bei Personenschaden, S. 12. • Wussow, Ersatzanspruche bei Personenschaden, S. 22.

Geigel, Haftpfllchtprozeß, S. 95. EsseT, Schuldrecht I, S. 273. , So (nach Geigel, Haftpflichtprozeß, S. 117) die derzeitige Rechtslage. 10 Sie gilt bei der Haftung für Eisenbahnen, Kraftfahrzeuge, Elektrizitätsund Gasanlagen, Kemenergieanlagen und radioaktive Substanzen (Vgl. Geigel, Haftpflichtprozeß, S. 121-127, und LaTenz, Schuldrecht H, S. 491 f., 497 und 502 f.). Bei Straßenverkehrsunfällen, die sich vor 1957 ereigriet haben, war die Jahresrente auf 1500 DM, von 1957'bis 1965 auf 3000 DM begrenzt. (Vgl. Geigel, Haftpflichtprozeß, S. 122) 'Bei Flugzeugunfällen darf der Kapi7

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3. Kap.: Rechtslage; und Problematik

seit 1966 unter der Beitragsbemessungsgrenze der REmtenversicherungenl l ; gilt sie, wie bei Straßenverkehrsunfällen, nicht einmal für jede verletzte Person, sondern für alle Unfallbeteiligten zusammen!!, so wird das Mißverhältnis zwischen Einkommensminderung und Ersatzleistung noch krasser. Bei Sachschäden ist dagegen die Haftung für radioaktive Stoffe völlig unbegrenzt, für Kernenergieanlagen und Flugzeuge dem einzelnen Geschädigten gegenüber nur durch Höchstsummen der Gesamthaftung begrenzV3 , für Eisenbahnen, Elektrizitätsund Gasanlagen unbegrenzt, soweit es sich um Schäden an Grundstücken handelt14, und lediglich für Kraftfahrzeuge grundsätzlich auf 50000 DM pro Unfall begrenzt15 • Eine Regelung wie in der finnischen Verkehrsversicherung, die Personenschäden ohne jede Limitierung, Sachschäden jedoch nur bis zu bestimmten Höchstsummen ersetzt!8, ist in Deutschland gänzlich unbekannt. - Fast noch augenfälliger ist die Diskriminierung der Personenschäden bei öffentlichen Ausgleichsleistungen. Während insbesondere das Enteignungsrecht einen außerordentlichen Grad der Verfeinerung erreicht hat, wird die Maxime, daß bei Personenschäden nur ein "angemessener Ausgleich" zu gewähren isV7, in recht drastischer Weise zur Beschränkung vor allem von Rentenleistungen benutzt. So wird zum Beispiel der durch Quarantäne oder Berufsausübungsverbote nach dem Bundesseuchengesetz entstehende Verdienstausfall nur bis höchstens 660 DM im Monat berücksichtigt, und selbst dieser wird nicht voll ersetzt!8. Die bei Impfschäden zu zahlende "Geldrente in angemessener Höhe"!' wird keineswegs nach der effektiven Einkommensminderung bemessen, sondern nach ganz anderen Standards, die man etwa dem Bundesversorgungsgesetz entnimmtllO • Der von Forsthoff aufgestellte Maßstab, daß im Falle der Aufopferung "der entstandene Schaden in voller Höhe zu ersetzen ist, und zwar in Geld"!!, wird also nicht nur von der Praxis nicht befolgt, sondern zum Teil sogar durch gesetzliche Vorschriften ausgeschlossen. Es talwert der Rente 135000 DM nicht übersteigen (Vgl. Geigel, Haftpflichtprozeß, S. 127). 11 Die Beitragsbemessungsgrenze betrug 1965 14400 DM, 1966 15600 DM, 1970 21 600 DM. 12 § 12 Abs. 2 Satz 1 Straßenverkehrsgesetz. 13 Bei Atomenergieanlagen auf 500 MUl. DM (vgl. Larenz, Schuldrecht 11, S. 503), bei Flugzeugen auf bis zu mehrere Millionen Mark je nach Gewicht (vgl. Geigel, Haftpflichtprozeß, S. 126 f.). 14 § 4 Abs. 3 Sachschaden-Haftpflichtgesetz und § 7 b Abs. 3 Reichshaftpflichtgesetz. 15 § 12 Abs. 1 Nr. 2 Straßenverkehrsgesetz. 18 Vgl. v. Hippel, Schadensausgleich, S. 59. 17 Vgl. Wolff, Verwaltungsrecht I, S. 417. 18 § 49 Bundesseuchengesetz. 10 § 53 Abs. 2 Bundesseuchengesetz. 20 Vgl. Geigel, Haftpflichtprozeß,.S. 516. !1 Forsthoff, Verwaltungsrecht, S. 331. .

3.5. Nachholbedarf bei Personenschäden

103

kommt hinzu, daß von verletzten Personen ~ ehe überhaupt ihr Schaden anerkannt und beziffert wird - erhebliche Anstrengungen verlangt werden, um mit ihrem Schicksal selbst. fertig zu werden und dadurch den Schaden zu vermindern, was man von denjenigen, die lediglich einen Vermögensverlust erlitten haben, nichtbder jedenfalls in wesentlich geringerem Maße erwartet. In besonders extremer Weise ist das in einem Urteil des Bundesgerichtshofs zum Ausdruck gekommen, durch das einer Frau, die als Folge der Poclrenschutzimpfung an epileptischen Anfällen und neurotisch bedingten Verhaltensstörungen leidet und die ihre Schulausbildung ebenso abbrechen mußte wie den Versuch, als Büglerin ihren Unterhalt zu verdienen, eine Lebensrente wegen Arbeitsunfähigkeit mit der Begründung verweigert worden ist, sie müsse mit "äußerster Willensanspannung und Bekämpfung ihrer Hemmungsvorstelhmgen" zu ihrer Rehabilitation beitragen2!. Die teilweise sehr heftige Kritik hat zu Recht darauf hingewiesen, daß damit von der Patientin gerade die Leistung gefordert werde, die sie aufgrund ihrer Krankheit nicht mehr erbringen könne. Selbst wenn es sich bei diesem Urteil nur um einen einmaligen Mißgriff gehandelt hat, bleibt es doch für das Prinzip kennzeichnend, daß von erwerbsgeminderten Personen unter dem Gesichtspunkt der Schadensminderungspflicht gefordert wird, sich unter zum Teil großen finanziellen und familiären Schwierigkeiten und psychischen Belastungen für jeden gerade noch zumutbaren Beruf umschulen zu lassen und dabei auch einen sozialen Abstieg in Kauf zu nehmen, während etwa einem Autobesitzer nicht zugemutet wird, einige Tage ein öffentliches Verkehrsmittel zu benutzen, selbst wenn das ohne wesentlichen Zeitverlust möglich ist28 • Das mag man für richtig oder für falsch, für sachlich angemessen, einseitig interessenbedingt oder willkürlich halten, jedenfalls ist es paradigmatisch für die faktisch herrschende Ungleichheit bei der Behandlung von Personenschäden einerseits, Objektschäden andererseits. 3.5.2. Personensebäden als Vermögenssebäden 3.5.2.1. Diese Attitude ist schon dadurch hinreichend charakterisiert, daß Personenschäden nach wie vor als Vermögensschäden apostrophiert werden. Es dürfte kaum eine Überinterpretation sein, wenn man solchen Sprachgebrauch als zusammenfassenden Indikator für die penkmodelle und für die Vorstellungswelt wertet, die unserer Schadensordnung zugrunde liegen. Er weicht so auffällig von dem sonst üblichen, der Einkommen und Vermögen gegenüberstellt, ab, daß er durch den H M. III ZR/138/67. Vgl.: Gericht verlangt äußersteWUlensanspannung. In: FAZ Nr. 46 vom 24. 2.1970, S. 8. Vgl. die Ausführungen von LaTenz über die "entgangenen Gebrauchsvor~ teile" in Karlsruher Forum 1964, S. 40.

t.

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. 3.. Kap. : Rechtalage und ProblemaUk

Hinweis, das Gesetz benutze die· Vokabel "Vermögensschaden" . eben in einem umfassenden Sinne, noch nicht befriedigend erklärt ist. Den Ausdrudc ."Vermögensscbaden" nur als juristischen Terminus technicus zu deuten, wäre zu formal und vordergründig. Er hat vielmehr ~ wie sich schon an der soeben beschriebenen Bewertung zukünftiger Einkommensverluste erweist ..,- durchaus inhaltliche Dimensionen. Sie· haben sich in der sogenannten Differenzmethode konkretisiert, nach der die Höhe des Schadens als "Differenz zwischen der gegenwärtigen Güterlage nach dem Schadenseintritt und der, welche im gleichen Berechnungszeitpunkt bestehen würde, wenn das schädigende Ereignis nicht eingetreten wäre", zu berechnen ist!4. Diese Fixierung auf einen bestimmten Zeitpunkt, zu dem der Schadensersatz zwar nicht unbedingt geleistet, aber doch - auch bei wiederkehrenden Leistungen - für die Zukunft festgesetzt werden muß, folgt logisch zwingend aus dem statistischen Charakter des Vermögens als Bestandsgröße. Die Umrechnung zukünftiger Einkommensminderungen in Vermögenswerte an einem bestimmten Stichtag führt zu einer statischen Denkweise, die·-wenn sie schon vergangene Zustände nicht zu rekonstruieren vermag den gegebenen Zustand zu konservierentendiert25 , während der Ausgleich von Personenschäden - auch und gerade insoweit, als sie in Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit bestehen - die Anpassungsfähigkeit an sich permanent verändernde Zustände, an Prozeßvorgänge und darum eine dynamische Leistungsstruktur erfordern würde. Daß auch Personenschäden als Vermögensschäden rubriziert werden, wirkt sich aber nicht nur darauf aus, wie hoch der Schaden beziffert wird, sondern auch darauf, welche Schädigungen überhaupt als ausgleichsfähig gewertet werden. Denn mit dem Begriff des Vermögensschadens war nicht nur gemeint, daß wirtschaftliche Verläufe - speziell zukünftige Einkommensströme - auf einen Bilanzstichtag zu diskontieren sind, sondern er sollte vor allem auch dazu dienen, die nur privaten Werte auszusondern und in die Schadensberechnung nur die kommerzialisierten einzubeziehen - wobei diese beiden Funktionen allerdings ziemlich eng miteinander zusammenhängen. Das Gesetz war "der Auffassung .. '.' der Verletzte solle aus !jeiner rein persönlichen Betroffenheit keine wirtschaftlichen Vorteile ziehEm"26. Daher stellt nicht etwa "die eintretende Verletzung als solche, der Körperschaden pzw. die Minderung der Arbeitsfähigkeit, ... einen. erstattungsfähigen Schaden dar, wie dies etwa im englischen und französischen Rechtskreis Esser, Schuldrecht I, S.279. "Der Verletzte kann nicht ,Wiederherstellung' des alten Zustandes fordern, der unwiederbringlich :dahin Ist, sondern ,Herstellung' des Zustandes, der ohne das Schadensereignis jetzt bestehen würde."(Esse1, Schuldrecht I, U

U

S~ t8

Esser, Schuldrecht I, S. 271.

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3.5. Nachholbedarf bei Personenschäden

105

üblich ist"l7, weil "diese Arbeitskraft nicht wie eine Sache schon ein Vermögensobjekt" ist, sondern nur insoweit, als sie "durchkonkrete Beziehungen ... kommerzialisiert ist"28. Das bedeutet, daß der juristische Schadensbegrüf weitgehend den ökonomischen Modellen entspricht, wie sie sich in den volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen niedergeschlagen haben, die ja auch nur die monetär-merkantilen Tauschvorgänge erfassen und alle eigenwirtschaftlichen Tätigkeiten vernachlässigen", und daß er ebenso mit den sozialpolitischen Konzeptionen übereinstimmt, bei denen ja auch nur die marktmäßig verdienten Einkommen als Gegenstand eines Sicherungsbedarfs gelten. Damit gehen natürlich die Maßstäbe für alles Wohlbefinden und alle Schädigungen, die nicht mit einer Erwerbsarbeit zusammenhängen, verloren. Infolgedessen fallen aus dem Schadensbegrüf eine ganze Reihe von Schäden heraus, insbesondere der Aufwand oder Verlust an Zeit und der Verlust der nicht kommerzialisierten Arbeitsleistung oder sonstigen Betätigungsmöglichkeit, also der von Müttern, Hausfrauen, Kindern, Alten und allen nicht erwerbstätigen Personen: Die Mutter, die ihren Haushalt nicht mehr führen kann, hat keinen Schaden1o, und auch das Kind, das etwa wegen eines langen Krankenhausaufenthaltes ein Schuljahr verliert, hat keinen, denn beiden wird ja nichts von ihrem Vermögen genommen! Das alles sind keineswegs rein immaterielle Schäden, bei denen "der allgemeine Wertmesser ,Geld' seine gewohnte Rolle nicht spielen kann"ll und die deshalb vom Schadensersatz ausgenommen wären. Der Marktwert einer Arbeitsstunde bestimmter Qualifikation läßt sich oft viel genauerermitteln als der einer Sache. Der Begrüf"Vermögensschaden" grenzt also nicht die materiellen von den immateriellen, die in Geld zu bewertenden von den nicht in Geld zu bewertenden Schäden ab; vielmehr eliminiert er alle solchen Werte und Leistungen, die nicht in einen markt- und geldwirtschaftlichen Verwertungsprozeß eingebracht oder dafür vorgesehen sind. Darin liegt der prinzipiell· diskriminierende Effekt, den die Anwendung des Vermögensbegrüfs auf Personenschäden hat. Wussow, ]i;rsatzanspruche bei Personenschaden, S. 1. Karlsruher Forum ~964, S. 42. 11 Schon deshalb geben - wie Gunnar Myrdalin seiner Rede bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen BuChhandels am 27. September 1970 gesagt hat - "die einfachen Zuwachsquoten des Nationaleinkommens" der unterentwickelten Länder "ein stark verschönertes Bild dessen, was heute in diesen Ländern vor sich geht", weil sie nämlich den reinen Obergang von eigenwirtschaftlicher Betätigung bei gleichbleibender Produktion als Vermehrung des Volkswohlstandes ausweisen. ao Nach § 845 BGB hat allerdings der FamUienvater einen ausgleichspfliehtJgen Schaden, wenn die Frau "zur Leistung von Diensten in· dessen Haus... wesen oder Gewerbe verpflichtet war" - als ob die Frau ein Vermögensobjekt des Mannes wäre. VgI. jedoch zur neueren Rechtsentwicklung Abschnitt ~7

18

Retnhardt in

3.5.2.2.. 11

Esser, Schuldrecht I, S. 271.

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3. Kap.: Rechtslage und Problematik.

3.5.2.2. Natürlich ließ sich nicht völlig übersehen, daß der Schaden, den ein Mensch erlitten hat, nach solchen Maßstäben nie völlig auszugleichen ist, und daß andererseits das ",was einem Menschen an körperlichem Schmerz, Kummer, Ärger oder Demütigung zugefügt wird, ... ihn vielleicht noch empfindlicher als ein Vermögensverlust" trifft32 • Daher hat das Gesetz bei Personenschäden '- allerdings "auch dort nur in eng begrenztem Rahmen" - das sogenannte Schmerzensgeld eingeführt, das "vor allem für die irreparablen Schäden, vornehmlich den sog. Nichtvermögensschaden an immateriellen Werten, die Kränkung, den Verlust an Lebensfreude und Ansehen, die seelische und körperliche Beeinträchtigung jenseits der erfaßbaren Schadensfolgen" eine Genugtuung gewähren soll33. Diese Konstruktion bietet einen Ansatzpunkt, um bei Personenschäden zu großzügigeren Lösungen zu kommen. Daß neuerdings wesentlich höhere Schmerzensgelder zuerkannt werden, daß die Rechtsprechung auch in Fällen, in denen es vom Gesetz nicht gedeckt ist, Schmerzensgeld bewilligt hat, und daß von verschiedenen Seiten eine Erweiterung der Tatbestände, bei denen Schmerzensgeld verlangt werden kann, vorgeschlagen wird, ist bereits erwähnt worden34 • Aber auch sonst macht sich gegenüber der ökonomischen Rechenhaftigkeit ein größeres soziales und menschliches Verständnis bemerkbar, etwa wenn Eltern, die ihr verletztes Kind im Krankenhaus besuchen, die Erstattung der dafür gemachten Aufwendungen zugebilligt wird35 • Selbst dort, wo zunächst nur merkantile Interessen sich durchzusetzen scheinen, wie bei den "entgangenen Gebrauchsvorteilen" des Autofahrers, können sich grundlegende Änderungen der Mentalität abzeichnen, aus denen allmählich die Bereitschaft entstehen mag, "eine negative Bilanz im Leben des Betroffenen" als ausgleichspflichtigen Verlust zu werten und immer mehr "von der rein ökonomischen Ersatzleistung zur Wiederherstellung der beeinträchtigten sozialen Ausstattung" zu kommen38 • Vor allem aber ist - nach der Neufassung des Familienrechts durch das Gleichberechtigungsgesetz - vom Bundesgerichtshof endlich anerkannt worden, daß die den Haushalt führende Ehefrau einen eigenen Ersatzanspruch wegen Verminderung ihrer Arbeitskraft hat87 • Damit ist zum ersten Mal die rein marktökonomische Schadenskonzeption an einer entscheidenden Stelle durchbrochen worden. Die Praxis der Gerichte geht jedoch immer noch von einer fla31 83

Larenz, Schuldrecht I, S. 190. Esser, Schuldrecht I, S. 267.

S4 Vgl. Abschnitt 3.3.2.3. n Larenz nennt das allerdings "eine Rechtsfortblldung contra legern die allein durch Billigkeitserwägungen gerechtfertigt· werden kann" (Schuldrecht II, S. 463, Anm. 1). ae Troller und Wieacker in Karlsruher Forum 1964, S. 42 undS. 43. S7 Vgl. Esser, Schuldrecht 11, S. 452, Anm. 28, Geigel, Haftpflichtprozeß, S. 174, und Larenz, Schuldrecht 11, S. 467, Anm. 3.

3.6. Schadensverteilung und Deckungsverfahren

107

granten Unterbewertung der hauswirtschaftlichen und erzieherischen Tätigkeit ausS8• Ob sich durch solche Entwicklungen die Diskriminierungen der Personenschäden gegenüber den Sach- und Vermögensschäden verringern oder ob die Personenschäden nur dem allgemeinen Trend zur Leistungserhöhung folgen, ist kaum definitiv zu beurteilen. Immerhin ist es auch heute noch wesentlich einfacher, für den durch Lärm geminderten Wohnwert eines Hauses eine Entschädigung zu erhalten als für einen durch Lärm verursachten Gehörschaden, wobei allerdings zu berücksichtigen ist, daß die Beweisführung im zweiten Fall viel schwieriger ist. Die Interessenlage der Betroffenen, die den Ausgleich von Personenschäden als viel dringlicher einschätzen8', spräche an sich für das umgekehrte Bewertungsverhältnis, als es in der bisherigen Entwicklung zu beobachten war. Die skizzierten neueren Tendenzen lassen jedoch zumindest erwarten, daß die Personenschäden gegenüber den Sach- und Vermögensschäden eher aufholen als wieder zurückfallen werden, zumal die These, daß dem großen Risiko der einzelnen Personen eindeutige Priorität gebührt40 , zunehmend Akklamation findet.

3.6. Schadensverteilung und Deckungsverfahren 3.6.0. Eindeutiger als bei der relativen Privilegierung der Vermögensinteressen gegenüber den personalen Werten ist die Entwicklung in Bezug auf die Frage verlaufen, wer mittels welcher Aufbringungsverfahren zur Deckung welcher Schäden beizutragen hat. Die Geschichte des Haftpflichtrechts zeigt deutlich verschiedene Stadien bei der Lösung dieser Frage, die auf den einzelnen Teilgebieten, wenn auch mit erheblicher Phasenverschiebung und manchmal unter Auslassung einer oder mehrerer Entwicklungsstufen, wiederkehren und die logisch-systematisch geordnet sich als hierarchische Abfolge erweisen. Dieser evolutorische Prozeß ist besonders klar und vollständig an den Konzeptionen und Konstruktionen zu verfolgen, die für das Recht der Arbeitsunfälle entwickelt worden sind; darüber hinaus werden gerade hier - wie Gitter im historischen Teil seiner Habilitationsschrift eingehend und eindrücklich beschrieben hat1 - "die Schwierigkeiten einer einseitig an Tradition und Begrifflichkeit ausgerichteten rechtsdogmatischen Be88 Vgl. dazu Geigel, Haftpflichtprozeß, S. 174, und Wussow, Ersatzansprüche bei Personenschaden, S. 32 und 34. . S8 Wie aus der Erfahrung der Gerichte bestätigt wird (vgl. Nüßgens in Verhandlungen des 47. DJT, Teil M, S. 83 f.). 40 Vgl. Helm in Verhandlungen des 47. DJT, Teil M, S. 92. 1 Vgl. Gitter, Arbeitsunfallrecht, S. 5 - 50.

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3. Kap.: Rechtslage und Problematik

trachtungsweise bei der Bewältigung neuartiger sozialer Erscheinungen sichtbar"l. 3.6.1. Unser Recht geht zunächst von dem Grundsatz aus, daß ein Unglück Privatangelegenheit ist und deshalb seine Folgen von dem Betroffenen selbst zu tragen sind; in der juristischen Fachsprache heißt dieses Prinzip "casum sentit dominus". "Die Nachteile, die eine Person dadurch erleidet, daß sie ... in ihren Rechten oder Rechtsgütern beeinträchtigt bzw. verletzt wird, muß sie so lange selbst tragen, als sie nicht jemand anderen für ihre Einbußen und Verluste verantwortlich machen kann ... Es bedarf jeweils besonderer Zurechnungskriterien, um den eigenen Schaden auf einen anderen abwälzen zu können. Diesen trifft die Verantwortung für das Schadensereignis nur dann, wenn gewisse gesetzlich umschriebene Umstände ... vorliegen, die es gerecht erscheinen lassen, ihm und nicht dem zunächst Betroffenen endgültig die Nachteile der Schädigung ... aufzuerlegen3 ." Welche Umstände es gerecht erscheinen lassen könnten, dem Verletzten jeglichen Ausgleich für die Folgen seiner Schädigung zu versagen, wird dabei nicht erörtert. 3.6.2. Bei den Zurechnungsprinzipien steht rechtsdogmatisch und in der neueren Rechtsentwicklung - d. h. in diesem Fall etwa der des letzten Jahrhunderts - auch zeitlich das Verschulden allen anderen voran. Danach kann für die Beseitigung oder den Ausgleich eines Schadens, den ein anderer erlitten hat, nur derjenige herangezogen werden, der diesen Schaden entweder vorsätzlich herbeigeführt hat oder ihn zwar nicht gewollt, aber doch vorausgesehen hat (sogenannte bewußte Fahrlässigkeit) oder hätte voraussehen können und müssen (sogenannte unbewußte Fahrlässigkeit)'. Das galt zunächst, bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein, auch für Arbeitsunfälle5 • Der Unternehmer war also nur dann für Unfälle in seinem Betrieb schadensersatzpflichtig, wenn ihn höchstpersönlich ein Verschulden traf. Das war jedoch regelmäßig nicht der Fall - und selbst wenn es der Fall war, ließ sieh kaum der Verschuldensbeweis führen und der Ersatzanspruch im Prozeß durchsetzen'. Wenn der Arbeitsunfall nicht ohnehin, wie häufig in Bergwerken, auf höhere Gewalt oder,. wie in Fabriken, auf Maschinendefekte oder auf ein "Eigenverschulden" des .Arbeiters zurückzuführen war7 , lag ein Verschulden allenfalls bei seinen Arbeitskollegen oder bei den zur Anleitung und Überwachung eingesetzten "Betriebsbeamten" vor. Bei diesen aber war, ihrer finan:" ziellen Verhältnisse wegen, ein eventuell bestehender Anspruch nicht Gitter, Arbeitsunfallrecht, S. 5. Esser, Schuldrecht X, S. 50. 4 Vgl.CrtifeZdS, Rechtswörterbuch, S. 114l. I Vgl. Gitter, Arbeitsunfallrecht, S. 12. • vgl. dazu Gitter, Arbeitsunfallrecht':S. 12 f .. 7 Vgl. Gitter, Arbeitsunfallrecht, S. 6. I I

3.6. Scbadensverteilung und Deckungsverfahren

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zu realisieren, während der Unternehmer, der zahlungsfähig gewesen wäre, fürUnachtsamkeiten und Fehler seiner Arbeitnehmer nicht haftbar zu machen war. Die arbeitsteilige Betriebsorganisation war denn auch der Ansatzpunkt für die erste Korrektur der allzu radikal individualistischen Doktrinen des Deliktrechts, die - wie Esser ausführlich beschrieben hat - mit der Wirtschaftsweise und der Gesellschaftstheorie des Liberalismus in enger Interdependenz standen und einseitig auf die Förderung der wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit, der Risikobereitschaft und der Mobilisierung aller Vermögenswerte zugeschnitten warens. Das Reichshaftpflichtgesetz .von 1871 dekretierte eine Ersatzpflicht des Unternehmers bei Verschulden von Bevollmächtigten, Repräsentanten und "zur Leitung oder Beaufsichtigung des Betriebes oder der Arbeiter" angenommener Personen', allerdings zunächst nur in einer begrenzten Gruppe von Betrieben, die als besonders gefährlich angesehen wurden10 • Damit wurde erstm8l$ jemand für einen nicht von ihm persönlich verschuldeten Schaden verantwortlich gemacht. In den linksrheinischen Gebieten, in denen französisches Recht galt, und in dem von diesem beeinflußten badischen Recht ging die Haftung noch weiter; hier hatte der Unternehmer nach Art. 1384 des code civil für das Verschulden aller seiner Arbeitnehmer, nicht nur derer, die unternehmerische Funktionen ausübten, einzustehenll . Eine ähnliche Konstruktion wählte das BGB bei der Haftung für den sogenannten Verrichtungsgehilfen, wobei einerseits nicht einmal mehr ein Verschulden der Hilfspersonen erforderlich war, andererseits jedoch der "Geschäftsherr" sich durch den Nachweis entlasten konnte, daß ihn keine culpa in eligendo, instruendo et inspiciendo traf1!. Diese von Anfang an rechtspolitisch umstrittene Exkulpationsmöglichkeit13 soll nach dem Entwurf zur Reform des Schadensersatzrechts entfallen14, wodurch eine Angleichung an die Rechtsordnungen der meisten anderen Länder vollzogen würdelI. - Einen ganz anderen Typ der Einstandspflicht für fremdes Verschulden hat das Atomgesetz eingeführt, das die Inhaber von Kernenergieanlagen verpflichtet, "in die von ihnen abzuschließende Haftpflichtversicherung oder ihre sonstige Deckungsvorsorge .die gesetzlichen Schadensersatzverpflichtungen mit aufzunehmen, die nicht ihnen selbst, sondern bestimmten anderen Personen ... entstehen können" 18, 8

Vgl. Esser, Gefährdung.9haftung, S. 50 ff., insbes. S. 54-56.

, § 2 Rekllshaftpflichtgesetz.

Vgl. dazu Abschnitt 3.2.2.2. Vgl. Gitter, Arbeitsunfallrecht, S. 11. Vgl. dazu Abschnitt 3.3.2.5. Vgl.Esser, Schuldrecht II, S. 430, und Referentenentwurf II, S. 83. U Vgl. Referentenentwurf I, S.4. 16 Vgl. Referentenentwurf II, S. 87. 1. Larenz, Schuldrecht II, S. 504. . 10

11 11 13

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3. Kap.: Rechtslage und Problematik

während die ausländischen Rechtsordnungen überwiegend eine solche Haftung Dritter, etwa von Bau- und Planungsfirmen, Lieferanten oder Benutzern eines Reaktors, von vornherein ausschließen17. Eine ähnliche Lösung scheint sich vor allem für die Produzentenhaftung anzubieten; wird sie, wie von Simitis, abgelehnt und statt dessen gefordert, daß für einen Produktschaden sowohl jeder Zulieferer als auch der Hersteller des Endprodukts aufzukommen haben18, so entsteht über die bisher bekannten Konstruktionen hinaus eine Art zwischenbetrieblicher Haftung für fremdes Verschulden. Die in § 831 DGB dem "Geschäftsherrn" eingeräumte Chance, sich zu entlasten und dadurch der Haftung zu entgehen, ist ein erstes Beispiel für die Umkehr der Beweislast. Für die Unfälle im Betrieb war schon vorher empfohlen worden, auf die Vorschriften der Gewerbeordnung zurückzugreifen, die den Unternehmer verpflichten, die Arbeiter gegen Gefahren für Leben und Gesundheit so weit zu schützen, wie es die Natur des Betriebes gestattet11 , und dem Unternehmer den Exkulpationsbeweis aufzuerlegen, daß er diese gesetzlichen Bestimmungen erfüllt habe20 . Wie dieses Instrument einer Verlagerung der Beweislast auf den Verursacher eines Schadens extensiv weiterentwickelt worden ist, ist bereits beschrieben worden. Es genügt daher für den jetzigen Zusammenhang, daran zu erinnern, daß es auf diese Weise gelingt, den Kreis der zur Deckung von Schadensfolgen Verpflichteten über diejenigen, denen ein - eigenes oder fremdes - Verschulden nachgewiesen werden kann, hinaus auf jene auszudehnen, die den Beweis ihrer Unschuld nicht zu führen vermögen.

Im gleichen Kontext ist auch schon darauf hingewiesen worden, wie "durch eine überspannung der an den Entlastungsbeweis zu stellenden Anforderungen eine in das Gewand des Deliktsrechts gekleidete Zustands- bzw. Gefährdungshaftung statuiert wird"21. Wo eine Unfallversicherung noch fehlte, versuchte man, auf ähnlichem Wege auch im Arbeitsunfallrecht eine umfassendere, der späteren Lehre von den Verkehrssicherungspflichten entsprechende Haftung zu begründen. In Deutschland kam man dabei über rechtstheoretische Studien und gescheiterte Anregungen zur Novellierung des Reichshaftpflichtgesetzes nicht hinaus 2!. In Frankreich hat dagegen die Rechtsprechung die Entwicklung vorangetrieben, etwa mit den bemerkenswerten, schon 1883 17 Vgl. Esser, Schuldrecht II, S. 482, und Simitis, Haftung des Produzenten, S.43. 18 Vgl. Simitis, Haftung des Produzenten, S. 41-45 und S. 98 (These VI). 18 Vgl. § 120 a Gewerbeordnung. !O SO Julius Baron in einem 1880 dem Verein für Socialpolitik erstatteten Gutachten. Vgl. Gitter, Arbeitsunfallrecht, S. 24. 11 Esser, Schuldrecht II, S. 426. !! Vgl. Gitter, Arbeitsunfallrecht, S. 21 ff.

3.6. Schadensverteilung und Deckungsverfahren

111

und 1877 formulierten Argumenten, der Unternehmer müsse die Arbeiter auch vor ihrer eigenen Unvorsichtigkeit schützen, und es sei ihm als Verschulden anzurechnen, wenn er ein bisher unbekanntes Mittel zum Schutz gegen besondere Arbeitsgefahren noch nicht erfunden habe. Die Rechtstheorie sah sich daher gezwungen, "zunächst die objektive Verletzung von Schutzvorschriften und die Feststellung auch unverschuldeter Material- und Organisationsfehler als ausreichende Haftungsgrundlage hinzunehmen ... und von jeder Untersuchung der Vorwerfbarkeit, ja selbst des konkreten Kausalzusammenhangs abzusehen. Schließlich bildete sich die grundlegende, neuartige Theorie des Unternehmerrisikos ..., welche die Überhand behielt"23. Mit dieser Lehre vom "risque professionei", die eine "responsabilite sans faute" begründete, war explizit das Prinzip der Gefährdungshaftung formuliert, das nicht mehr nur für - wenn auch oft nur präsumiertes - Verschulden, sondern für Risiken verantwortlich machte. Welche Anwendungsbereiche sich dieses Prinzip erschlossen hat und in welche weiteren es sich auszubreiten tendiert, ist bereits dargestellt worden, so daß auch hier wieder auf frühere Ausführungen verwiesen werden kann. Der Begriff des Betriebsrisikos, mit dem die Gefährdungshaftung legitimiert wird, belegt bereits die enge Affinität zum Versicherungswesen. Eine gesetzliche Verbindung von Haftpflicht und Versicherung war erstmalig bereits im Reichshaftpflichtgesetz vorgesehen worden, allerdings noch kein Versicherungszwang: Leistungen, die ein Verletzter aus einer Unfallversicherung erhielt, mußte er sich auf den Ersatzanspruch gegen den Unternehmer anrechnen lassen, wenn dieser mindestens ein Drittel der Versicherungsprämien aufgebracht hatte24 • Während der Beratungen zur Einführung der Unfallversicherung wurde dann im Reichstag von der Fortschrittspartei eine privatrechtliche Alternative zu den Entwürfen der Regierung vorgeschlagen. Nach dieser Vorlage sollte der Unternehmer für alle Arbeitsunfälle mit der einzigen Ausnahme absichtlich herbeigeführter haften, und er sollte gesetzlich verpflichtet werden, "Sicherheit für seine eventuellen Haftpflichtverbindlichkeiten zu leisten, wobei als deren Nachweis der Abschluß einer Kollektivversicherung der Arbeiter vorgesehen war"26. In verschiedenen Staaten der USA hat man bei der "workmen's compensation" eine solche rechtstechnische Gestaltung gewählt, während man sich in Deutschland - um in der damaligen Terminologie zu reden - für die Zwangskassen und gegen einen bloßen Kassenzwang entschied. Daher fand bei uns die Konstruktion einer gesetzlichen Verpflichtung zum Abschluß eines privatrechtlichen Versicherungsvertrages bei einem beEsser, Gefährdungshaftung, S. 50 Arun. 2. u § 4 Reichshaftpflichtgesetz. Die Vorschrift gilt auch heute noch. I1 Gitter, Arbeitsunfallrecht, S. 30. 23

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3. Kap.: Rechtslage und Problematik

liebigen Versicherungsunternehmen erst durch die speziellen Haftpflichtgesetze weitere Verbreitung. Bekannt ist vor allem die 1939 eingeführte Versicherungspflicht des Kraftfahrzeughalters. Entsprechende Vorschriften gibt es aber auch für Fluggesellschaften, die die Haft~ pflichtversicherung jedoch durch anderweitige Sicherheitsleistung ersetzen können!8, sowie für den Betrieb von Atomenergieanlagen, bei denen Art, Umfang und Höhe der Deckungsvorsorge jeweils im Genehmigungsverfahren festgesetzt werden27 • Damit ist, wie schon vorher bei der Unfallversicherung, der entscheidende Schritt zur Verbreiterung der finanziellen Basis der Schadensordnung, zur Streuung der Belastungen getan: Der Kreis der zur Deckung von Schadensfolgen Verpflichteten wird wesentlich erweitert, indem neben den effektiven Schädigern auch diejenigen herangezogen werden, bei denen sich ein durch ihr - schuldhaftes oder schuldlos gefährdendes - Verhalten gesetztes Risiko zufällig nicht realisiert. Der Zweck der Versicherungspflicht ist jedoch nicht, die wirtschaftlichen Lasten der potentiellen Schädiger zu egalisieren, sondern die Ersatzansprüche der Geschädigten zu garantieren. Infolgedessen liegt es nahe, auf den Umweg über den Schädiger gänzlich zu verzichten und dem Geschädigten einen direkten Anspruch gegen die Versicherung einzuräumen. Dieses Verfahren ist vor allem in der Kraftfahrzeugversicherung gewählt worden. Nachdem in zahlreichen Ländern den Verkehrsunfallopfern ein solcher unmittelbarer Anspruch gegen den Haftpflichtversicherer (action directe) unter Ausschluß von Einwendungen aus dem Versicherungsvertrag gegeben worden war, hat sich die Bundesrepublik gemäß dem "Europäischen übereinkommen über die obligatorische Haftpflichtversicherung für Kraftfahrzeuge" 1965 dieser Regelung angeschlossen28• Damit ist die Kraftfahrzeugversicherung funktionell gesehen endgültig zu einer Unfallversicherung der Verkehrsopfer auf Rechnung der Kraftfahrer geworden1o• Die Haftung des Halters und Fahrers ist nur noch ein "Deckmantel ..., unter dem über die Leistungspflicht des Versicherers -'- und damit indirekt des Kollektivs der prämienzahlenden Autofahrer - entschieden wird". Es spricht also eigentlich alles dafür, "den Weg zum kollektiven Schadensrecht '" konsequent zu Ende" zu gehen30 und die Kraftfahrzeugversicherung offiziell mit dem Etikett und den rechtlichen Formen einer Unfallversicherung zu versehen. In Finnland, Polen und in der kanadischen Provinz Saskatche;. .. Vgl. Geigel, Haftpflichtprozeß, S. 904, und LaTenz, Schuldrecht II, S. 498. 11 Vgl. LaTenz, Schuldrecht 11, S. 503. 18 Vgl. v. Hippel, Schadensausgleich, S. 22. H Vgl. v. Hippel, Schadensausgleich, S. 46. 10 v. Hippel, Reform.

3.6. Schadensverteilung und Deckungsverfahren

113

wan hat sie diesen Status bereits erreicht, in anderen Ländern, so seit langem in den USA und in Skandinavien, neuerdings auch in England, Kanada, Australien, Südafrika, Israel, Frankreich und Belgien, wird er zunehmend befürwortet31 . Aber auch in Deutschland gibt es dafür Vorbilder. So sind die Fluggesellschaften verpflichtet, die von ihnen beförderten Passagiere gegen Unfälle zu versichern; sie haften selbst nur noch insoweit, als der Schaden dadurch nicht gedeckt ist32 • Und, nicht zu vergessen: Es gibt das Modell der die Unternehmerhaftung ablösenden Versicherung gegen Arbeitsunfälle, das nun schon bald hundert Jahre besteht und seitdem in aller Welt zahlreiche Anhänger gefunden hat. In Israel haben die gerade durch dieses Modell inspirierten Pläne zur Reform der Regulierung von Unfallschäden im Straßenverkehr "ihrerseits auf das System der Workmen's Compensation zurückgewirkt: Eine ... vom Justiz- und Arbeitsminister ernannte Kommission hat 1966 einen Bericht vorgelegt, in dem eine einheitliche Regelung des Schadensausgleichs für Arbeits- und Verkehrsunfälle durch eine gemeinsame Unfallversicherung befürwortet wird"83. Dieser Anregung liegt, wie ähnlichen Vorschlägen in anderen Ländern, die Erkenntnis zugrunde, daß einerseits die Koppelung von Haftpflichtrecht, Versicherungspflicht und Direktanspruch des Geschädigten gegen den Versicherer praktisch zu den gleichen Resultaten zu führen vermag wie eine von den potentiellen Schädigern finanzierte Unfallversicherung, und daß andererseits keinerlei Argumente dafür ersichtlich sind, die Opfer von Arbeitsunfällen schlechter zu entschädigen als die Opfer von Verkehrsunfällen. 3.6.3. Ein Sonderphänomen, das sich nur scheinbar folgerichtig als letzte Stufe in den Prozeß der Schadensüberwälzung auf größere Kollektive einordnet, ist die Finanzierung von Restitutionsleistungen durch den Staat. Soweit sie innerhalb eines Systems der Schadensregulierung vorgenommen wird und nicht im Grunde bereits den übergang von Restitutionsleistungen zu kausal unspezifischen Versorgungsleistungen markiert, handelt es sich dabei nämlich um eine spezielle Form der Subventionierung bestimmter Gruppen von Schadensverursachern, denen man eine risikogerechte Belastung nicht auferlegen zu können glaubt oder nicht auferlegen will. Dieses Argument der mangelnden Leistungsfähigkeit ist immer wieder zur Begründung staatlicher Zuschüsse zu den Sozialversicherungen herangezogen worden, wie sie schon der erste Entwurf für eine Arbeitsunfallversicherung von 1881 31 Vgl. v. Hippel, Schadensausgleich, S. 44, und Gitter, Arbeitsunfallrecht, S.45. sz Vgl. Geigel, Haftpflichtprozeß, S. 904, und Larenz, Schuldrecht Ir, S. 499. 33 v. Hippel, Schadensausgleich, S. 60.

8 Scbll.fer

3. Kap.: Rechtslage. und Problematik

114

vorsah, der die Unternehmer nur für ihr Verschulden und das ihres Aufsichtspersonals sowie für mangelhafte Betriebseinrichtungen verantwortlich machen, für die Deckung der auf Zufall und eigenes Verschulden der Arbeiter zurückzuführenden Schäden dagegen einen Staatsbeitrag zum Prämienaufkommen leisten wollte, weil die geschützten Arbeiter, deren Sache das an sich sei, den damit auf sie entfallenden Beitragsanteil nicht aufbringen könnten34 • Durchgesetzt hat sich der Staatszuschuß jedoch zunächst nur bei der Invalidenversicherung. Bei der Unfallversicherung ist er erst in den letzten Jahren eingeführt worden, und zwar bei den landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften und bei der Bergbau-Berufsgenossenschaft, das heißt für Wirtschaftszweige, welche infolge von Strukturveränderungen nicht mehr imstande waren, ihre Schadenslast voll selbst zu tragen. Sozusagen umgekehrt liegen die Verhältnisse bei der subsidiären Deckungspflicht des Bundes für Schäden, die durch Atomenergieanlagen entstehen35 ; hier geht es gerade nicht um einen schrumpfenden Wirtschaftszweig, dem insbesondere die aus früheren Blütezeiten überkommenen Lasten abgenommen werden müßten, sondern um einen sich neu entwickelnden, dem die übernahme eines zunächst noch kaum zu kalkulierenden Risikos erleichtert werden sollte. Die subsidiäre Staatshaftung ist also eine Starthilfe, um auf die Entwicklung der Atomwirtschaft prohibitiv wirkende Versicherungsprämien zu vermeiden, und deshalb ist diese Form der Wirtschaftsförderung auch zeitlich begrenztS6 • 3.6.4. Alle diese - hier durch historische Beispiele kurz gekennzeichneten - Verfahren, die für die Verteilung der Schadenslasten entwikkelt worden sind, lassen sich, wenn man sie nach der zunehmenden Generalisierung der Aufbringung und auch der Zuteilung von Ansprüchen ordnet, durch die folgende Reihe rechtlicher Konstruktionen systematisch klassifizieren: 1. Haftung nur für eigenes Verschulden 2. Hafung auch für fremdes Verschulden (der "Verrichtungs gehilfen") 3. Haftung für präsumiertes - eigenes und fremdes - Verschulden (Umkehr der Beweislast) 4. Haftung auch ohne Verschulden (Gefährdungshaftung) 34

Vgl. Gitter, Arbeitsunfallrecht, S. 33, und Paul, Unfallversicherung,

S.411.

35 "Der Bund haftet bis zur Gesamthöhe von 500 Millionen DM für ein Schadensereignis, wobei von dieser Summe jedoch derjenige Betrag abgezogen wird, in dessen Höhe die entstandenen Ersatzverbindlichkeiten von der Deckungsvorsorge gedeckt sind und auch aus ihr erfüllt werden können." (Larenz, Schuldrecht 11, S. 505). 36 Vgl. Larenz, Schuldrecht 11, S. 505.

3.6. Schadensverteilung und Deckungsverfahren

115

5. Mithaftung für fremde Betriebsgefahren (Haftpflichtversicherungszwang) 6. Ersatzansprüche des Geschädigten auch gegen die Haftpflichtversicherung des Schädigers (action directe) 7. Ersetzung der Haftung für gleichartige Betriebsgefahren durch Versicherungen (spezielle Unfallversicherung) 8. Ersetzung der Haftung für alle Gefahren durch Versicherung (allgemeine Unfallversicherung) Ob alle Sparten des Schadensausgleichs auf den Endzustand dieser Entwicklungsreihe zustreben, läßt sich natürlich nicht mit Sicherheit voraussagen. Zwar ist eindeutig, daß es sich nicht um eine für alle Zweige des Haftungsrechts synchron verlaufende Entwicklung handelt. Auch ist kein übereinstimmendes Schema abzuleiten, das eine zwangsläufige und kontinuierliche Höherentwicklung von Stufe zu Stufe beschreiben würde; Sprünge über mehrere Stufen hinweg sind vielmehr keineswegs selten, am deutlichsten ausgeprägt bei den Ausgleichsleistungen für Arbeitsunfälle, bei denen auf die Haftung für fremdes Verschulden unmittelbar die Unfallversicherung folgt. Das besagt jedoch nicht, daß keine Gesetzmäßigkeit erkennbar wäre. Die empirischen Befunde deuten vielmehr alle darauf hin, daß die Entwicklung sich stets nur in einer Richtung, nur in der aufsteigenden Reihe vollzieht, so daß tendenziell die einzelnen Teilgebiete der Schadensordnung konvergieren. Zumindest kann als gesichert angesehen werden, daß sie zwar auf einer einmal erreichten Stufe, auch für längere Zeit, stehen bleiben können, jedoch keinesfalls regredieren. Ein Zurückfallen auf ein einmal überwundenes Stadium dieses evolutionären Prozesses ist jedenfalls nirgends zu beobachten, und es gibt auch keinerlei Anhaltspunkte, welche die Hypothese, er könne sich doch einmal als reversibel erweisen, gerechtfertigt erscheinen ließen.

Viertes Kapitel

Wirtschaftliche, technische und geistige Bedingungen der expansiven Tendenzen des Restitutionsprinzips (Hintergründe) 4.0. Der allgemeine Consensus darüber, daß sich "die Zahl der Haftungsgründe in fortwährendem Zunehmen", "die Methoden der Anspruchsverfolgung im Zustand dauernder Verfeinerung" und "der Zug zur Versicherung und Versorgung weiter im Vordringen" befinden!, belegt als solcher noch keine Gesetzlichkeit, die sich in die Zukunft extrapolieren ließe. Die beschriebenen Entwicklungstendenzen lassen sich zwar sicher nicht als eine bloße Sammlung, Registrierung und Aufaddierung von Einzelbeobachtungen interpretieren, aus denen je nach ihrer Gruppierung und Gewichtung beliebige Reihen extrahiert werden könnten. Vielmehr handelt es sich, wie im vorigen Kapitel dargestellt worden ist, durchaus um strukturelle Veränderungen in der rechtlichen Bewältigung der wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen, die sich aus Schadensereignissen ergeben. Das besagt jedoch zunächst noch nicht, daß ein prinzipiell irreversibler, und schon gar nicht, daß ein sich zwangsläufig perpetuierender Prozeß vorliegt. Anstatt weiterhin einem ansteigenden Trend zu folgen, könnte er auch auf dem erreichten Niveau zum Stillstand kommen, sich umkehren oder wellenförmig verlaufen. Da oft von einer übersteigerung sowohl der Schuld begründenden Sorgfaltsanforderungen als auch der Schuld tilgenden Ausgleichsansprüche die Rede ist, wäre nach dem Prinzip, daß Druck Gegendruck erzeugt, auch die Entwicklung von Bremsmechanismen denkbar, "die zur Schonung des Schädigers und in Richtung einer angemessenen Einschränkung der Rechte des Geschädigten wirken"2. Nun ist zwar in der Versicherung ein Instrument gegeben, das es ermöglicht, die Belastung des einzelnen Schädigers angemessen zu reduzieren, ohne dem Geschädigten einen angemessenen Ausgleichsanspruch zu entziehen. Aber das Argument der technischen Möglichkeit besagt noch nichts über die zukünftige Wirklichkeit. Voraussagen las1

J

RotheT, Haftungsbeschränkung im Schadensrecht, S. 2 und S. 290. RotheT, Haftungsbeschränkung im Schadensrecht, S. 3.

4.1. Wohlstandswachstum und Ersatzansprüche

117

sen sich aus ihm jedenfalls nicht ohne weiteres ableiten. Sozialgeschichtliche Verläufe lassen sich ja überhaupt nur in Form von begründbaren Vermutungen prognostizieren. Solche Prognosen gewinnen allerdings eine um so größere Wahrscheinlichkeit, je besser sich belegen oder einsichtig machen läßt, daß gesellschaftliche und politische Veränderungen mit technisch-wissenschaftlichen und auch ökonomischen Entwicklungen - deren langfristige Fortschrittstendenz als bewiesen gelten kann - eindeutig, positiv oder negativ, korreliert sind. Derartige Zusammenhänge scheint es nun in der Tat für die Schadensordnung zu geben. Freilich ist ihre Entwicklungsgeschichte mit dem Gesamtgefüge der gesellschaftlichen Vorgänge vielfältig verflochten, mit den sozialen Ideen und mit den individuellen Lebensformen, mit dem politischen Schicksal des Volkes und seinen Folgen für die Einzelexistenz, mit der strukturellen Differenzierung sozialer Gruppen und regionaler Wirtschaftsräume und mit vielem anderen mehr. Allen diesen Beziehungen nachzuspüren, ist nicht nur in einer monographischen Arbeit nicht zu leisten, sondern wäre auch für das Ziel der Untersuchung unergiebig, weil sie zum Teil in keiner Weise kausal strukturiert sind und daher auch keinen prognostischen Wert haben. Aber es scheint doch einige sozialgeschichtliche Phänomene zu geben, die sich zumindest als notwendige - wenn vielleicht auch nicht hinreichende - Bedingungen für die Wandlungen der Schadensordnung erweisen lassen. Das soll in diesem Kapitel versucht werden. Soweit es sich dabei um Einflüsse handelt, bei denen alle bisherige Erfahrung die Annahme verbietet, daß sich ihre Entwicklungsrichtung einmal umkehren könnte, wäre damit zugleich die These gestützt, daß sich die bisherigen Entwicklungstendenzen der Schadensordnung ebenfalls fortsetzen werden. Insofern könnte dieses Kapitel auch "Die Zukunft des Restitutionsprinzips" überschrieben werden.

4.1. Wohlstandswachstum und Ersatzansprüche 4.1.1. Vermögensverluste

Der erste Grund für die expansive Entwicklung der Restitutionsleistungen dürfte wohl darin zu suchen sein, daß Schadensersatzforderungen erst von einer bestimmten - wenn am Anfang auch sehr niedrig liegenden - Wohlstandsschwelle an sinnvoll erhoben werden können. Diese Feststellung ist trotz ihrer Banalität keineswegs tautologisch. Sie wäre es allenfalls in der Form, daß selbstverständlich nur derjenige einen Schaden erleiden kann, der etwas hat und der folglich auch etwas zu verlieren hat. Einen absoluten Nullpunkt gibt es jedoch auf der Skala der Verlustmöglichkeiten nicht; jeder Mensch, und sei er noch so

4. Kap.: Hintergründe

118

krank, kann in seiner körperlichen Integrität weiter geschädigt werden; solange er noch sein Leben hat, hat er etwas zu verlieren. Es stellt sich also nicht die Frage, ob überhaupt etwas vorhanden ist, was geschädigt werden kann, sondern nur die, ob Wohlstand und Ersatzansprüche positiv oder negativ korreliert sind. Von der Grenznutzenlehre her wäre an sich zu erwarten, daß ein Schadensausgleich um so dringlicher begehrt wird, je dürftiger die wirtschaftlichen Verhältnisse des Geschädigten sind, und daß umgekehrt ein Verlust um so leichter zu verschmerzen ist und demgemäß auf Ersatzansprüche um so bereitwilliger verzichtet würde, je größer der Reichtum ist. Solche Vorstellungen sind zwar zuweilen praktiziert worden, insbesondere bei der Hauptentschädigung aus dem LastenausgleichS, aber im geschichtlichen Verlauf scheinen sie keineswegs den Attituden der Betroffenen zu entsprechen. Vielmehr ist eindeutig festzustellen, daß die Zunahme des Wohlstandes eine immer größere Empfindlichkeit gegen Einbußen erzeugt, die in zunehmender Perfektionierung der Ersatzforderungen zum Ausdruck kommt. Zunächst wachsen jedoch auch einfach die Schäden als solche; die Schadenssummen erhöhen sich quasi automatisch mit dem wirtschaftlichen Wachstum, ohne daß es dazu einer Verfeinerung des Schadensrechts bedürfte. Der Proletarier, der - um mit dem kommunistischen Manifest zu sprechen - nichts zu verlieren hat als seine Ketten, ist für jegliche Vorstellung von Schadensersatz kaum anfällig und zugänglich. Das frühe Industriezeitalter operiert daher mit Schadensbegriffen, die weitgehend noch aus der agrarischen Wirtschaftsverfassung stammen und von dort in die bürgerliche Ideologie, die die Wertschätzung des Grundeigentums so sorgfältig kultivierte, übergehen. So entsteht im BGB jene liebevolle Idylle, deren Szenerie von Bienenschwärmen4, jagdbarem Wild5 und Haustieren6 , von Grenzbäumen, überhängenden Sträuchern und in Nachbars Garten fallenden Früchten7 beherrscht wird und aus der die Erscheinungen des technisch-industriellen Zeitalters zum größten Teil ausgesperrt bleiben. Besonders kennzeichnend für diese romantisierende Restriktion ist wohl, daß öffentlich-rechtliche Entschädigungen während langer historischer Zeiträume ausschließlich für die Enteignung von Grundbesitz gewährt wurden8 und daß das Grundgesetz des Zivil3

Vgl. die degressive Staffelung der Entschädigungs-Grundbeträge nach

§ 246 LAG.

über die es allein vier Paragraphen (961-964) im BGB gibt. Vgl. die früher in § 835 BGB, jetzt in den §§ 29 ff. des Bundesjagdgesetzes geregelte Haftung für Wildschäden. 8 Vgl. die Haftung des Tierhalters und des Tieraufsehers nach § 833 f. BGB. 7 Vgl. dazu das Zitat von Simitis in Abschnitt 3.3.1.1. (Anm. 3). 8 Vgl. dazu Abschnitt 3.4.1.2. 4

5

4.1. Wohlstandswacl1stum und Ersatzansprüche

119

rechts unter dem Titel "Inhalt des Eigentums" 20 von 22 Paragraphen nur dem Grundeigentum widmet9 • So konnte auch das Schadensrecht zunächst nur als bürgerliches Recht im Sinne eines Klassenrechts, nicht eines allgemeinen Rechts, wirksam werden. Für breitere Volksschichten gewann es erst wieder Relevanz, als sich allmählich die ersten Ansätze einer gewissen Entproletarisierung bemerkbar machten, einer ganz langsamen, zögernden Verbürgerlichung in dem Sinne, daß ein kleiner, bescheidener, aber doch erhaltenswerter Besitz erworben werden konnte. Der Mindest-. standard des einfachsten Wohlstandes, von dem an Verluste und Zerstörungen den Lebenszuschnitt des einzelnen tangieren und daher Schadensersatzleistungen erstrebenswert werden lassen, ist wohl dort erreicht, wo die persönliche Haushalts- und Wohnungsausstattung über das physiologisch Unentbehrliche hinauszuwachsen beginnt und nicht mehr durch Exmissionen oder die Notwendigkeit, sie bei jeder Einkommensminderung sofort verkaufen oder verpfänden zu müssen, dauernd bedroht istl°. Die mit wachsender Kultivierung des "Zuhause" ebenfalls wachsende Anhänglichkeit an die persönliche Habe findet ihren wirtschaftlichen Ausdruck dann immer mehr in den Zuwachsraten der Hausratsversicherung, die sich zu einem der bedeutendsten Geschäftszweige der Schaden- und Unfallversicherungen entwickelt hat. Im Lastenausgleich ist dieses Schutz- und Restaurationsbedürfnis durch die Einführung der Hausratsschädigung als besondere Leistungsart sozusagen öffentlich anerkannt worden. Ähnliches gilt für die Altsparerentschädigung und den Währungsausgleich für die Sparguthaben Vertriebener, durch die der zweite für breitere Schichten ins Gewicht fallende Vermögenstypus, die Spargelder, erfaßt wurden. Neben Hausrat und Ersparnissen hat das Häuschen und das dazugehörige, selbst genutzte Land für die Vermögenssituation auch vieler kleiner Leute und ihr Streben nach Sicherung und Entschädigung stets eine Rolle gespielt, die zwar mit dem übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft zunächst kleiner wurde, aber mit wachsendem Wohlstand auch in der Arbeiterschaft wieder sehr an Bedeutung gewonnen hat. Eine der entscheidendsten Etappen für die Entwicklung der Schadensordnung dürfte jedoch die Massenmotorisierung sein. Das Auto ist für die meisten Menschen die kompakteste Vermögensmasse, das wertvollste Einzelobjekt, das sie besitzen, und zugleich das am meisten gefährdete und schadensanfällige. Für viele ist es noch mehr wert als es kostet; es ist das Statussymbol par exellence, der Prototyp demonstraVgl. die §§ 903-924 BGB. Vgl. dazu Dieter Schäfer, Die Rolle der Fürsorge im System sozialer Sicherung, Frankfurt am Main 1966, S. 71 f. und S. 166. 9

10

120

4.~p.:

FIUltergriUlde

tiven Konsums und Stimulans des Selbstwertgefühls und des Prestiges. Aber es ist nicht nur Objekt starker affektiver Bindungen, sondern hat zugleich einen hohen Gebrauchswert. Sein Ausfall beeinflußt einschneidend die tägliche Lebensführung, insbesondere seit der Einzugsbereich der Städte sich immer mehr in vormals ländliche, abgelegene Landstriche ausdehnt, die keine oder zumindest für die heutigen Ansprüche unzureichende Verkehrsverbindungen und Einkaufsmöglichkeiten haben, so daß der Familienvater für den Weg zur Arbeit und die Hausfrau für größere Besorgungen auf den Wagen angewiesen sind. Daher ist es sicher nicht zufällig, daß gerade in der Kraftfahrzeughaftung versucht wird, immer umfangreichere Ansprüche mit großer Hartnäckigkeit durchzusetzen, und daß manche Begriffe des Schadensersatzrechts wie der merkantile Minderwert und die entgangenen Gebrauchsvorteile, aber auch die Verkehrssicherungspflichten und die Gefährdungshaftung - von hier aus sehr stark geprägt worden sind. Nimmt man noch hinzu, daß das Auto bedroht und bedrohend ist wie kaum etwas anderes in der alltäglichen Umwelt des modernen Menschen, daß große Teile der Bevölkerung in erster Linie als Autofahrer sowohl unter der permanenten Drohung stehen, haftpflichtig zu werden, als auch an einem für sie konkreten Erfahrungsbereich lernen können, was sich alles aus einem Haftpflichtanspruch herausholen läßt, daß sie daher leidenschaftlich an der Kraftfahrzeughaftpflicht interessiert sind und die Rechtsprechung aufmerksam verfolgen und eingehend diskutieren, so wird deutlich, welcher intensive Erziehungseffekt von ihr ausgeht, in welchem kaum zu überschätzenden Maße das Kraftfahrzeughaftpflichtrecht breite Kreise der Bevölkerung schadensersatzbewußt gemacht hat. 4.1.2. Einkommensverluste

4.1.2.1. Läßt man sich von dem Begriff des Vermögensschadens nicht irreführen, sondern erinnert sich daran, daß er nicht nur Verluste von Vermögen, sondern auch bestimmte materielle Folgen von Personenschäden umfaßtl1, so bleibt trotzdem erstaunlich, daß sich derartige An~ spruchshaltungen nicht schon viel früher durchgesetzt haben. Denn die physische Leistungsfähigkeit, die Arbeitskraft ist für die überwiegende Mehrheit aller Menschen seit jeher die entscheidende Existenzgrundlage gewesen, der gegenüber alle Ausstattung mit Vermögen nur Akzidens war und - trotz aller Wohlstandsmehrung - geblieben ist. Nun sind zwar gerade durch den Straßenverkehr nicht nur Vermögenswerte, sondern auch Leib und Leben aller an ihm Beteiligten aufs stärkste gefährdet. Die Unfallfolgen sind hier sogar oft besonders schwerwiegend; 11

Vgl. dazu Abschnitt 3.5.2.1.

4.1. Wohlstandswachstum und Ersatzansprüche

121

die Zahl der tödlichen Unfälle ist unverhältnismäßig hoch!2. Auch ist nicht zu verkennen, daß das Anspruchsniveau bei Personenschäden sich unter dem Einfluß des Kraftfahrzeughaftpflichtrechts allgemein erhöht hat, insbesondere was Schmerzensgelder und die Erstattung von Einkommensausfällen betrifft. Während jedoch die Bedrohung des Besitzes durch die Massenmotorisierung in ganz neue Dimensionen hineingewachsen ist, hat sich die der persönlichen Integrität qualitativ nicht einmal vergrößert, sondern nur auf einen anderen Verursachungsbereich verlagert. So wäre an sich zu erwarten gewesen, daß sich alle Bemühungen um einen Schadens ausgleich von Anfang an darauf konzentriert hätten, Ersatz für die Schädigung der Arbeitskraft zu erlangen. Gerade aus der Situation des ursprünglichen Proletariers heraus, dessen einziges "Vermögen" er selbst, die handelbare Arbeitsleistung war, wäre zu vermuten gewesen, daß jede Verletzung seiner Arbeitsfähigkeit die entschlossensten und hartnäckigsten Versuche provoziert hätte, dafür eine Kompensation zu erstreiten. Aber ganz im Gegensatz zu solchen spekulativen Ableitungen zeigt die faktische Entwicklung, daß auch bei Personenschäden die Verbesserung der wirtschaftlichen Situation und die Durchsetzung von Ausgleichsansprüchen parallel verlaufen wird. Das lag zunächst einmal daran, daß der Arbeiter des frühen Industriezeitalters es sich nicht leisten konnte, eine Forderung gegen seinen Arbeitgeber - der in erster Linie als Anspruchsgegner in Frage gekommen wäre - einzuklagen, weil er einerseits gar nicht die Mittel hatte, einen langen Prozeß durchzustehen, und andererseits bei einem Überangebot an billigen Arbeitskräften mit Repressalien einer wenigsten insoweit solidarischen Arbeitgeberschaft rechnen mußte. Da das gleiche Risiko des Arbeitsplatzverlustes auch seine Arbeitskollegen traf, die gegen den Unternehmer ausgesagt hätten, die damals geltende formale Beweistheorie jedoch die übereinstimmende Aussage zweier unverdächtiger Zeugen forderte 13 , war ohnehin die Chance, einen Anspruch vor Gericht zu belegen, äußerst gering. Schließlich hätte sich ein solches Wagnis auch gar nicht gelohnt, weil die Rechtsprechung dem Geschädigten in der Regel nur den Lohn für die sehr kurze Kündigungsfrist und bei Todesfällen den Hinterbliebenen lediglich die Behandlungs- und Begräbniskosten zubilligte!4, nicht aber Ersatz für entgangenes zukünftiges Einkommen. 12 Bei den durch Unfälle verletzten Personen entfielen 1966 auf den Straßenverkehr nur 14,6 % (WiSta Nr. 5, Mai 1968, S. 253, Tab. 1), bei den durch Unfälle getöteten dagegen 46,1 Ofo (Statistisches Jahrbuch 1968, S. 68). 13 Vgl. dazu Gitter, Arbeitsunfallrecht, S. 13. 14 Vgl. dazu Gitter, Arbeitsunfallrecht, S. 13.

122

4. Kap.: Hintergrunde

Doch selbst als die freie Beweiswürdigung eingeführt wurde, die die prozessuale Position des Geschädigten wesentlich verbesserte, und als die geminderten oder zerstörten zukünftigen Erwerbschancen zum Bemessungskriterium für die Höhe des Ausgleichsanspruchs wurden, wodurch das Ergebnis eines erfolgreich geführten Prozesses wesentlich verbessert wurde, bestand noch kein Anlaß, um einen Schadensersatz zu streiten. Denn höher als der Lohn gewesen war, konnte die zuerkannte Ersatzleistung ja auch dann auf keinen Fall werden. Solange der Lohn aber in der Regel nur um das Existenzminimum pendelte, solange der Normalfall also ohnehin nur die Fristung einer notdürftigen Existenz am Rande des Hungers war, bot sich als nahezu gleichwertige Alternative zum Schadensersatz die Armenpflege an. Eine Existenzgarantie auf niedrigstem Niveau gewährte auch sie, und wesentlich mehr war weder durch Lohnarbeit noch durch einen Lohnersatz zu erreichen. Allerdings blieb die Armenpflege durch alle jene Diskriminierungen und Diffamierungen belastet, die ihre Empfänger der gesellschaftlichen Verachtung aussetzten und zu Bürgern minderen Rechts machten15 und die zumindest in manchem Vorurteil gegen die Fürsorge bis in die Gegenwart nachwirken. Nur von daher hätte ein Motiv gegeben sein können, den Schadensersatz der Armenpflege vorzuziehen. Materiell ergab sich zwischen den beiden Leistungen jedoch erst ein Unterschied, als der Lohn allmählich über die physischen Reproduktionskosten der Arbeitskraft hinauszuwachsen begann. Erst von dieser untersten Wohlstandsschwelle an lohnte es sich überhaupt, die Mühen, Aufregungen, Risiken und Kosten aufzuwenden, die notwendig waren, um einen Schadensersatzanspruch als Alternative zur Armenpflege durchzusetzen. Daß dieser Status auch in der Arbeiterschaft schon relativ früh erreicht ist, wird durch die Errichtung der Sozialversicherungen indiziert. Denn ihre Konstruktion setzt voraus, daß das Lohnniveau über dem Existenzminimum liegt und daß die Lohnstruktur Differenzierungen aufweist18 ; sonst wären Lohnabzüge zum Zwecke der solidarischen Unterhaltssicherung nicht durchzusetzen gewesen, hätten Höchstleistungen, die erheblich unter dem vollen Lohn fixiert waren17 , die Armenpflege nicht entlasten können und wären Tarifierungen nach 15 Vgl. dazu Dieter Schäfer, Die Rolle der Fürsorge im System sozialer Sicherung, Frankfurt am Main 1966, S. 63-69. 18 Vgl. dazu die Angaben, die Schmoller über "Die tatsächliche Lohnhöhe" macht (Die soziale Frage, S. 260 bis 270). 17 Die Vollrente eines völlig Erwerbsunfähigen aus der Unfallversicherung belief sich von Anfang an auf zwei Drittel seines Jahresarbeitsverdienstes. Als Krankengeld wurde regelmäßig der halbe Grundlohn gezahlt; nach Maßgabe der Satzungen der einzelnen Kassen konnte es durch Familienzuschläge bis auf maximal 75 % steigen. Die höchstmögliche Invalidenrente wurde 1889 zwischen 52 Ofo in der niedrigsten und 43 Ofo in der höchsten Lohnklasse festgesetzt. (Vgl. Braun, Motive, S. 21, 14 f. u. 28).

4.1.

Wohlstandswacl1stum und Ersatzanspruche

123

Prozentsätzen sinnlos gewesen. Seitdem hat das wirtschaftliche Wachstum des industriellen Systems trotz aller sozialen Probleme und Krisen zu einer progressiven allgemeinen Erhöhung des Wohlstandes geführt. Dieser anhaltende Einkommensanstieg bewirkt zugleich auch eine zunehmende Sensibilisierung gegen jegliche Art von Einbußen und Minderungen des sozialen Status. Denn je höher das Einkommen und mit ihm der Lebensstandard, die soziale Position und das erreichte Wohlstandsniveau, desto krasser ist der Abstieg, wenn es ausfällt, desto schmerzhafter wird er empfunden. Daher wird gerade bei Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit ein voller Schadensausgleich immer dringlicher begehrt. 4.1.2.2. Diese Bestrebungen vermochte auch das soziale Sicherungssystem nicht wesentlich einzudämmen. Die Leistungen der Arbeiterversicherungen waren zwar frei von den negativen Affekten und Aversionen, die die Armenpflege ausgelöst hatte, und sie ließen andere Ersatzansprüche ihre existenznotwendige Funktion verlieren. Insofern hätten sie von der objektiven Bedarfslage her gesehen Schadensersatzleistungen mehr oder weniger überflüssig machen können. Aber sie konnten eben keinen vollwertigen Ersatz bieten. Denn sie waren von Anfang an auf bestimmte Bruchteile des Einkommensverlustes limitiert, so daß die Differenz zwischen dem vollen Lohn oder dem vollen Lohnersatz und der Sozialleistung sich zunächst nur vergrößerte. In der subjektiven Wertschätzung behielt daher der Schadensersatz stets einen Vorsprung, ja er wurde sogar im Laufe der Zeit eher mehr als weniger präferiert. Neuere Entwicklungen der Sozialleistungssysteme haben allerdings bewirkt, daß sich diese Divergenzen tendenziell verringern. Eine gewisse Parallelität der Restitutionsleistungen und der Sicherungsleistungen ist heute schon zu beobachten. Während nämlich die sozialen Leistungen anfänglich alle entweder nur eine einheitliche Grundsicherung boten oder durch bestimmte Berechnungsverfahren18 und Bemessungsgrenzen in der Gesamtwirkung degressiv ausgestaltet waren, hat sich in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren die Konzeption einer einkommensproportionalen Sicherung stärker durchgesetzt. Dabei handelt es sich um eine international einheitliche Tendenz, wenn auch das deutsche Sicherungssystem auf diesem Wege relativ weit voraus ist. Insbesondere "in der Rentenversicherung wird überall in der Welt der Kerngedanke des Beveridge-Plans, nämlich eine Grundleistung zur Existenzsicherung zu bieten, immer mehr aufgegeben. Selbst das Heimatland dieses Plans 18 z. B. die Zusammensetzung der Invalidenrente aus einem einheitlichen Grundbetrag und einem beitragsabhängigen Steigerungsbetrag, die bis zur Rentenreform von 1957 praktiziert wurde.

124

4.lCap.: IiUltergriUlde

hat schon vor mehreren Jahren19 den Gedanken eines einheitlichen Grundsystems mit festem Leistungssatz verlassen, und auch sonst besteht in allen Teilen der Welt eine kontinuierliche Tendenz zu einkommensbezogenen Rentenleistungen"2o. Das zweite Musterbeispiel eines auf die Durchsetzung von mehr Gleichheit ausgerichteten W ohlfahrtsstaates, Schweden, hat 1960 ein System von Zusatzrenten eingeführt, die nach - aufgrund der Einkünfte in den 15 besten Beschäftigungsjahren gutgeschriebenen - "Rentenpunkten" berechnet werden!1. Die Motivation für solche Umstrukturierungen der Sicherungssysteme ist die gleiche wie die für die Präferenzen, die der Schadensersatz gegenüber der Sozialleitung genießt: Der zunehmende Wohlstand macht immer empfindlicher gegen Beeinträchtigungen des erreichten Konsumniveaus und langjähriger Lebensgewohnheiten. Daher bemüht man sich, den sozialen Abstieg wenigstens zu mildern, wenn er schon nicht ganz zu vermeiden ist. Je mehr aber die Sicherungsleistungen sich an früher verdienten Einkommen ausrichten, je mehr die Erhaltung des sozialen Status und der Wohlstandslage ihr Ziel wird, desto mehr nähern sie sich der Bemessung einer echten Entschädigungsleistung an, die den Einkommensausfall durch Schädigung der Erwerbskraft prinzipiell in voller Höhe ausgleichen soll. Theoretisch wäre es durchaus denkbar, daß auch Sozialleistungen das verlorene Einkommen zu 100 Prozent ersetzen. Beim Krankengeld ist dieser Zustand fast erreicht. Aber auch für langfristige Rentenleistungen ist er mit durchaus beachtlichen Argumenten gefordert worden!2. Eine völlige Konvergenz von Restitutions- und Sicherungsleistungen kann jedoch schon aus Kostengründen allenfalls im Laufe einer jahrzehntelangen Entwicklung erwartet werden. Der Schadensersatz wird daher gegenüber der Sozialleistung (oder ergänzend zu ihr) noch lange attraktiv und erstrebenswert bleiben. 4.1.2.3. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Sensitivität gegenüber Minderungen sowohl des Besitzes als auch des Einkommens und daher gleichzeitig auch die Intensität der Bemühungen um einen Schadensersatz mit wachsendem Wohlstand zunehmen. Das wird durch die Entwicklungsgeschichte des Versicherungswesens - bis hin zu den neu10 Durch Gesetz vom Juli 1959 mit Wirkung vom April 1961 an (Vgl. "Entwicklung und Tendenzen der Sozialen Sicherheit 1958-1960", Ul: Bulletin der Internationalen Vereinigung für Soziale Sicherheit, Jg. 15 Nr. 6-10, JuniOktober 1962, S. 65). 20 Rys, Aktuelle Probleme der Sozialen Sicherheit in der Welt, S. 463. 11 Vgl. "Entwicklung und Tendenzen der Sozialen Sicherheit 1958-1960", a.a.O., S. 56 f. 22 z. B. auf der lConferenz über Forschung in der Sozialen Sicherheit, die die Internationale Vereinigung für Soziale Sicherheit im Iierbst 1969 Ul Wien veranstaltet hat. Vgl. Zöllner, Relating Social Insurance Benefits to Earnings, S. 228-230.

4.2. Wissenschaftlicher Fortschritt und Kausalitätsnachweis

125

erdings von mehreren Gewerkschaften, offensichtlich zur Steigerung ihrer Attraktivität, angebotenen Freizeit-Unfall-Versicherungen - bestätigt. Da der wissenschaftliche und technologische Fortschritt einen weiter anhaltenden Wohlstandszuwachs verspricht, ist infolgedessen damit zu rechnen, daß das Restitutionsdenken auch in Zukunft sich weiter ausbreiten und weitere Anwendungsbereiche erschließen wird. Daran ändert die sowohl in bezug auf die Leistungen als auch auf die Berechtigten ebenfalls expansive Entwicklung des sozialen Sicherungssysterns zunächst nur wenig. Solange die Sozialleistungen Einkommensausfälle nicht vollständig ersetzen, werden sie Ansprüche auf einen Schadensausgleich für Personenschäden nicht verdrängen können. 4.2. Wissenschaftlicher Fortschritt und Kausalitätsnachweis 4.2.0. Die Forderung, einen Schaden zu beseitigen oder seine Folgen auszugleichen, kann nur gegen denjenigen erhoben werden, der den Schaden verursacht hat. Bei allen Erweiterungen der Haftung ist diese Begrenzung stets bestehen geblieben. Auch bei der Gefährdungshaftung oder der reinen Erfolgshaftung muß der Kausalzusammenhang zwischen dem Verhalten des Schädigers und dem - wie die Gesetze formulieren - "daraus entstehenden Schaden" nachgewiesen werden; nur der Verschuldensbeweis entfällt. Die Kausalität kann allerdings vermutet werden. So wird etwa bei bestimmten typischen Unfallverläufen ein bestimmter ursächlicher Zusammenhang unterstellt, falls nicht ein anderer nachgewiesen wird. Derartige Präsumtionen nach den Regeln des prima-facie-Beweises erleichtern aber nur die Beweislast oder kehren sie um, heben jedoch die Voraussetzung eines kausalen Zusammenhangs nicht auf. Insofern ist die Ausbreitung des Entschädigungsdenkens abhängig von den Fortschritten der wissenschaftlichen Erkenntnis. Der herrschende positivistische Wissenschaftsbegriff weist der Forschung ja gerade die Aufgabe zu, die kausal strukturierten Gesetzmäßigkeiten, die alles reale Geschehen beherrschen und bestimmen, aufzudecken. Zufall und Schicksal sind nach diesem Wissenschaftsverständnis nur Synonyme für Unwissenheit, für ungelöste wissenschaftliche Probleme, für Vorgänge, die voraussehbar zu machen noch nicht gelungen ist. Der bisher noch indeterminiert erscheinende Realitätsbereich müßte sich also durch den wissenschaftlichen Fortschritt stetig verkleinern lassen. Das bedeutet zugleich, daß die Vermehrung unserer wissenschaftlichen Kenntnisse es erlauben würde, immer mehr der bisher als schicksalhaft angesehenen Schädigungen kausalanalytisch aufzuklären, d. h. nicht nur auf bestimmte Ursachen, sondern in der Regel auch auf bestimmte Verursacher zurückzuführen. Der Herrschaftsbereich des Zufalls, dessen

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4. Kap.: Hintergründe

Folgen der Geschädigte selbst zu tragen hat, würde damit immer mehr eingeengt. Mit der Aufklärung der Ursachen von Unfällen, Krankheiten und Behinderungen liefert die moderne Wissenschaft immer zahlreichere Adressaten für Schadensersatzansprüche und legitimiert zugleich den Zugriff auf sie, da ja die Kausalgesetze in der Regel bereits die Verhaltensmaßregeln zur Verhütung von Schädigungen enthalten. Von daher sind die Restitutionsvorstellungen allerdings nur ein Zwischenstadium, nämlich Vorläufer einer umfassenden Prävention. Denn wenn die Ursachen von Schädigungen erkannt sind, lassen sie sich direkt bekämpfen und mehr oder weniger beseitigen, es sei denn, man nähme eventuelle Schäden bewußt in Kauf, weil ihren Ursachen ein höherer Wert beigemessen wird als ihrer Vermeidung. Darauf wird am Schluß dieses Abschnitts noch einzugehen sein. Daß die progressive Akkumulation wissenschaftlicher Erkenntnisse sich in absehbarer Zeit verlangsamen oder gar zum Stillstand kommen könnte, läßt sich bis jetzt aus keinerlei Anzeichen herleiten. VielmehI besteht nahezu uneingeschränkte Einigkeit darüber, "daß der gesamte Wissenschaftsbetrieb sich ... in einer exponentiellen Wachstumsphase befindet"l und daß wir bisher wahrscheinlich nur die Oberfläche des Wissens, das die wissenschaftliche Methode hervorbringen kann, angekratzt haben2 • Wenn also mit weiterem Zuwachs, wenn nicht sogar mit einer Akzeleration der wissenschaftlichen Erkenntnisse gerechnet werden muß, so werden sich auch die Möglichkeiten vermehren, die Folgen von Schädigungen einem Verursacher anzulasten anstatt sie ohne Ausgleich dem Opfer aufzubürden. 4.2.1. Multikausalität

Nun ist es freilich nicht so, daß einfach nur immer weitere Ursachen bisher nicht erklärbarer Schäden entdeckt würden. Die fortschreitende Aufklärung von Schädigungsvorgängen läßt vielmehr immer deutlicher werden, daß monokausale Erklärungen fast ausnahmslos unzureichend sind, sondern kompliziertere Verursachungszusammenhänge zugrunde liegen. Selbst die einfachste Unfallkonstellation, die scheinbar eindeutig auf das Verhalten eines einzelnen zurückzuführen ist, enthüllt bei näherer Analyse ihre Vorgeschichte und ihre notwendigen Bedingungen. So können etwa Arbeitsunfälle mit Ermüdungskurven zusammenhängen, die ihrerseits von der Arbeitsorganisation, Lärmeinwirkungen 1 Max Delbriick: über Vererbungschemie. Köln und Opladen 1963, S. 24. z " ••• it is hardly likely that we have done much more than scratch the

surface of the knowledge which the scientific method can achieve". (The Right Honourable Viscount Hailsham: Science and Politics. London 1963, S.38).

4.2. Wissenschaftlicher Fortschritt und Kausalitätsnachweis

127

am Arbeitsplatz und einer ganzen Reihe ähnlicher betrieblicher Umweltfaktoren beeinflußt werden. Jeder Autofahrer kennt unfallträchtige Situationen, die nicht ein einzelner herbeigeführt hat, und Arten des Fahrbahnausbaus, der Streckenführung und der Beschilderung, die an bestimmten Stellen des Straßennetzes zu einer Häufung von Unfällen führen. Noch viel komplizierter wird die kausale Deutung, wenn der Schaden nicht durch einen relativ einfach zu rekonstruierenden Unfall, sondern durch Dauereinwirkungen entsteht. Als einfachstes Demonstrationsbeispiel dafür mag hier zunächst der Unterschied zwischen Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten genügen. Natürlich ist auch der Rechtswissenschaft nicht entgangen, daß bei fast allen Schadensereignissen mehrere Kausalfaktoren zusammenwirken. Das hat für sie seit jeher sehr schwierige Abgrenzungsfragen aufgeworfen. Denn "im Haftpflichtrecht kann man nicht alle Ereignisse als Ursache des schädigenden Erfolgs gelten lassen, die nach den Denkgesetzen als Ursache zu betrachten wären"3. Zwar kann es "wissenschaftlich ... nur einen Ursachenbegriff geben, nämlich den der Logik und der Naturwissenschaften: Ursache ist danach jede Bedingung, die zu dem Erfolg beigetragen hat ..., und zwar so, daß dieser Erfolg ohne die betreffende Bedingung nicht eingetreten wäre (condicio sine qua non)"4. Nach dieser sogenannten Bedingungs- oder Äquivalenztheorie wäre z. B. ausnahmslos jeder Autounfall unter anderem auch durch überhöhte Geschwindigkeit verursacht, da es immer eine noch niedrigere gibt, bei der der Unfall nicht eingetreten wäre; wenn alle Autos stehen, kann es eben ex definitione keinen Autounfall geben. Mit einer solchen These, die in fast allen Schadensfällen zu einer fast unbegrenzten Vermehrung der Ersatzpflichtigen führen würde, ist aber eine sinnvolle Rechtsprechung nicht möglich. Denn bei der juristischen Frage nach der Kausalität geht es ja nicht um die Erforschung eines Verursachungskomplexes, sondern allein darum, "wann mit Rücksicht auf die Art der Verantwortung am schadenstiftenden Ereignis dessen Ursächlichkeit rechtserheblich sein soll und wann nicht"5. Es steht also eigentlich, wie Larenz richtig bemerkt hat6 , gar nicht die Kausalität in Frage, sondern die Zurechnung der Folgen eines bestimmten Verhaltens aufgrund einer Bewertung. Die sogenannte Adäquanztheorie, die zur Lösung dieses eigentümlichen Problems der rechtserheblichen Kausalität entwickelt und durch "eine jahrzehntelange, unangefochtene Rechtsprechung"7 sanktioniert worden ist, hat daher eher einen finalen als einen kausalen Denkansatz und basiert mehr auf dem Rechtsempfinden als 3

4 6 8 7

Geigel, Haftpflichtprozeß, S. 2. Esser, Schuldrecht I, S. 299. Esser, Schuldrecht I, S. 301. Vgl. Larenz, Schuldrecht I, S. 156 f. Larenz, Schuldrecht I, S. 157.

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4. Kap.: Hintergründe

auf objektiv-empirischen Kriterien. Als "adäquat verursacht" gelten nach ihr "nur solche Folgen ..., die nicht ganz außerhalb dessen liegen, womit nach der Lebenserfahrung als möglicher Folge eines derartigen Ereignisses gerechnet werden kann"8. Die Ähnlichkeit solcher Formulierungen' mit der Definition der Fahrlässigkeit10 und damit auch die über den Maßstab der Voraussehbarkeit der Folgen bestehende Verwandtschaft der Adäquanztheorie mit dem Schuldbegriff sind unverkennbar. Wird der Zweck dieses Adäquanz-Kriteriums an einfachen oder sogar etwas abseitigen Fällen exemplifiziert, so ist er leicht einzusehen. Wenn jemand wegen eines Unfalls eine Reise verschieben muß und ausgerechnet das spätere Flugzeug, das er deshalb benutzen muß, abstürzt, oder wenn jemand nur dadurch stirbt, daß er während einer unfallbedingten Operation auch gleich noch wegen eines bis dahin unerkannten Leidens operiert wirdl l , so würde sich in der Tat das Gerechtigkeitsgefühl dagegen sträuben, den Verursacher des Unfalls für den Tod des Verletzten verantwortlich zu machen. Wenn sich dagegen "die Folgen eines Unfalls auf die Gesundheit eines Menschen nur deshalb so schwer auszuwirken (vermögen), weil er bereits vorher geschwächt oder kränklich oder in bestimmter Weise veranlagt war"12, wenn etwa die Erwerbsunfähigkeit durch eine sogenannte Rentenneurose bedingt ist13 , so werden die Zweifel, "ob hier die Zubilligung von Ersatzansprüchen noch mit Sinn und Zweck der Schadensersatzpflicht vereinbar ist"14, letztlich nur diskretionär zu lösen sein15. Wo es schließlich um die immer mehr zum modernen Schadenstypus werdenden Fälle geht, bei denen mehrere Kausalfaktoren unentbehrlich sind, wird das Denkschema der Adäquanz den faktischen Verhältnissen immer weniger gerecht. Denn es erlaubt, weil es an das eindimensional individualisierte Dualverhältnis zwischen Schädiger und Geschädigtem gebunden ist18 , keine abgestufte Larenz, Schuldrecht I, S. 156. Vgl. insbesondere auch die bei Creifelds, Rechtswörterbuch, S.891, und bei Geigel, Haftpflichtprozeß, S. 2 f. (Tz. 4 und 5) und S. 4 (Tz. 10). 10 Vgl. dazu Abschnitt 3.6.2. (Anm. 4). 11 Vgl. Larenz, Schuldrecht I, S. 155 und 159. 12 Larenz, Schuldrecht I, S. 158. 13 Vgl. Esser, Schuldrecht I, S. 290 f. 1( Esser, Schuldrecht I, S. 305. 15 Bei anlagebedingten Verschlimmerungen gesundheitlicher Schädigungen wird die Adäquanz im allgemeinen anerkannt. (Vgl. Geigel, Haftpflichtprozeß, S. 7, Esser, Schuldrecht I, S. 305, und Larenz, Schuldrecht I, S. 158). Dagegen ist kürzlich die Veranlagung zu einer chronischen Bronchitis in einem Sozialgerichtsurteil als Ausschlußgrund für eine Rente wegen Berufskrankheit gewertet worden, obwohl die Krankheit ohne die über 20 Jahre lange Berufstätigkeit mit Bitumen wahrscheinlich entweder viel später oder gar nicht aufgetreten wäre. (Vgl. "Nicht amtlich: chronische Bronchitis" in: FAZ Nr. 182 vom 10. 8. 1970, S. 20). 18 Vgl. dazu Abschnitt 5.1.2.1. 8 9

4.2. Wissenschaftlicher Fortschritt und Kausalitätsnachweis

129

Aussage über Verursachungszusammenhänge, sondern nur ein eindeutiges Entweder-Oder, nur die volle Haftung oder gar keine. "Für jeden haftungsbegründenden Tatbestand gilt ... der Grundsatz: Volle Folgenzurechnung bei einmal gesetzter adäquater Verursachung"17; "eine Beschränkung der Haftung auf den ,tatadäquaten' Schaden ist mit dem geltenden Recht nicht vereinbart"18. Wenn aber ein Auffahrunfall sowohl bei intakter Bremsanlage als auch bei ausreichendem Sicherheitsabstand vermieden worden wäre, so sind die fehlerhafte Konstruktion, die unzureichende Wartung und Inspektion und das zu dichte Auffahren genau gleich adäquat; wenn eine Arzneimittelbehörde zur Prüfung neuer Medikamente verpflichtet ist, so sind deren unzulängliche Tests ebenso adäquat wie die des pharmazeutischen Werkes. Trotzdem wird eine einzige Ursache isoliert und der gesamte Schaden allein ihr zugerechnet. Da jedoch infolge der modernen Technologie und Wirtschaftsweise immer häufiger mehrere, völlig gleichwertige condiciones sine quibus non auftreten, wird die These, daß "eine pro-rata-Haftung der Mitverursacher nicht denkbar" sei19, zunehmend fragwürdiger. 4.2.2. ökologische Gefahren

4.2.2.1. Immerhin läßt sich in solchen Fällen, in denen es sich um eine einfache konsekutive Kausalkette handelt, in der Regel ein eindeutig "adäquat" Verantwortlicher ermitteln. Als Muster für diese erste, im Prinzip leicht aufzuklärende Form der Multikausalität kann die Produzentenhaftung gelten, bei der ein Fehler sozusagen von Produktionsstufe zu Produktionsstufe weitergegeben, aber nicht entdeckt und nicht behoben wird, und bei der deshalb sowohl der Hersteller des Endprodukts als auch alle Zulieferer schadensersatzpflichtig gemacht werden sollen20 • Die Frage bei diesem Typus ist nur, wie weit man den Regreß der Ursachenaufklärung treibt und welchen der Verursacher man als Schuldigen zufällig herausgreift. Das Problem liegt hier also nur in der Beliebigkeit der Schadenszurechnung, nicht in der Schwierigkeit des Kausalnachweises. Ganz anders ist die Sachlage bei Schäden, die nicht durch Unfälle, sondern durch Dauereinwirkungen entstehen, wie sie insbesondere von dem Typus der sogenannten Umweltgefahren repräsentiert werden. Auch dabei gibt es allerdings eine Untergruppe, bei der ein "adäquater" Verursacher relativ leicht zu überführen ist, nämlich wenn die Schadensquelle bei einer Person oder Stelle lokalisiert werden kann. So lassen sich etwa Berufskrankheiten oft einem bestimmten Betrieb anlasten oder Immissionsschäden einer bestimmten 17 18 18

20

Esser, Schuldrecht I, S. 315. Geiget, Haftpflichtprozeß, S. 5. Esser, Schuldrecht I, S. 316. Vgl. Simitis, Haftung des Produzenten, S. 41--45 und S. 98 (These VI).

9 Schäfer

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4. Kap.:

Hintergründe

Fabrikationsanlage. Aber das sind Sonderfälle unter den modernen Schadensformen. Charakteristisch für die Umweltgefahren ist vielmehr, daß das Verhalten jedes einzelnen, der zu ihrer Entstehung beiträgt, oft völlig irrelevant ist, daß der individuelle Beitrag zu den Schadensursachen gegen Null geht. Die Gefahr entsteht erst durch die Massierung gleichartigen Verhaltens, durch die Zusammenballung und Addition hunderter oder tausender infinitesimaler Schädigungspotentiale. Gegenüber diesem Prototyp der Gefährdung im technischen Zeitalter erweist sich jedoch die Adäquanztheorie vollends als Artefakt. Denn "wenn keine der Mitursachoen adäquat war, weil jede für sich harmlos blieb"!1, wenn also eben jene Verursachungsstruktur einer massenhaften, schleichenden Bedrohung der Gesundheit vorliegt, die für die Produktions- und Lebensweise aller technologisch geprägten Gesellschaften zwangsläufig ist, muß sie sich als unanwendbar doeklarieren und damit als obsolet dekuvrieren. Nicht etwa, weil der Kausalnexus dieser neuzeitlichen Gefahren völlig im dunkeln läge, sondern weil Gefahren, die erst durch das konzentrierte, massenhafte und gleichartige Verhalten von Personenkollektiven - die überdies immer wieder ihre Zusammensetzung ändern - geschaffen werden, nicht mittels einer individualistischen Adäquanzlehre Einzelpersonen angelastet werden können. Wir wissen durchaus, daß die Autoabgase bei städtischen Müllfahrern, Straßenwärtern und Verkehrspolizisten zu Bleivergiftungoen führen, daß bestimmte toxische Abwässer und Abfälle die Trinkwassergewinnung besonders gefährden und daß durch Lärm Herzkrankheiten und Gehörverluste, vegetative übererregung und motorische Störungen ausgelöst werden können. Freilich sind noch längst nicht alle Folgen geklärt oder auch nur bekannt, die durch die naiv-unbefangene Nutzung wissenschaftlicher Entdeckungen und technischer Erfindungen angerichtet werden. Weitere ätiologische Forschungen werden sicher noch manche Gefahren aufdecken, denoen wir uns unbesorgt und unbedacht aussetzen. Aber sie werden bei aller Präzision und Perfektion ihrer Untersuchungsmethoden keine Kriterien zutage fördern können, die eine naturwissenschaftlich exakte Berechnung individuoeller Schuldanteile ermöglichen würden. Die rechtlichen Kategorien zur Regulierung der kollektiven Folgen kollektiven Handeins, die bis jetzt noch fast alle fehlen, werden auch in Zukunft nicht von den Naturwissenschaften zu bezioehen sein. Von ihnen wird allenfalls eine Art statistischer Wahrscheinlichkeitsverteilung der kausalen Anteile an verschiedenen Gefahrenquellen angeboten werden können, die sozusagen durch partielle Differentiationen eines vieldimensionalen Systems sich kumulierendoer kausaler Verknüpfungen abgeleitet wird. Nur wenn Z1

Esser, Schuldrecht I, S. 315.

4.2. Wissenschaftlicher Fortschritt und Kausalitätsnachweis

131

solche relativ vagen Schätzregeln als Grundlage für eine Art gesamtgesellschaftlichen Schadenteilungsabkommens akzeptiert werden, wird die juristische Bewältigung der Massenrisiken des technischen Zeitalters, die bis jetzt noch aussteht, zu leisten sein. Die in langer Rechtstradition ausgeformten und in der Adäquanztheorie sedimentierten und systematisierten Denkstrukturen lassen sich auch nur sehr bedingt auf abgegrenzte schadenstiftende Kollektive übertragen. Denn die verschiedenen kollektiv erzeugten Risiken und Zivilisationsgifte wirken zusammen, und zwar unter Umständen nicht nur additiv, sondern exponentiell. Infolgedessen kann man zum Beispiel nicht sagen, ob die Anreicherung der Luft mit Autoabgasen noch keinen gefährlichen Grenzwert erreicht hat, wenn man bei der Berechnung nicht von dem Verschmutzungspegel ausgeht, der durch den Ausstoß aus Heizungs- und Fabrikationsanlagen vorgegeben ist. Das bedeutet, daß Unschädlichkeitsgrenzen für die Erzeugung und Verbreitung schädlicher Dauereinflüsse, unterhalb derer ein Kollektiv nicht "adäquat" zur Verursachung von Schäden beigetragen haben könnte, ebensowenig supponiert und fixiert werden können, wie es sinnvoll ist, Toleranzgrenzen für die Belastung durch einzelne, chemisch definierte Substanzen festzulegen, ohne dabei die toxische Gesamtsituation, d. h. die Vorbelastung durch andere, ebenfalls giftige Stoffe, zu berücksichtigen. 4.2.2.2. Sowohl bei der schleichenden Vergiftung der Biosphäre des Menschen als auch bei den Unfallrisiken, die durch technische Geräte, Apparaturen und Prozesse heraufbeschworen werden, sollten natürlich alle Möglichkeiten der Prävention Vorrang vor der Reparation und erst recht vor der bloßen Kompensation von Schäden haben. Die Einsicht, daß "ein zunehmender Teil der verfügbaren technischen Intelligenz dazu benötigt wird, um die Nebenerfolge, Mißstände und Großprobleme abzufangen, die absichtslos aus dieser nicht mehr gesteuerten Jagd in die Zukunft entstehen"!!, nimmt zweifellos zu. Aber diese Prioritätenskala hebt die Notwendigkeit, eine den Massenrisiken des technischen Zeitalters angemessene Schadensordnung zu finden, nicht auf. Einerseits ist es durchaus denkbar, daß die Schadensverhütung gerade durch die Verpflichtung zur Schadensbehebung und zum Schadensausgleich gefördert würde. Das Beispiel der Unfallversicherung und ihrer Koppelung mit der Unfallverhütung könnte jedenfalls als Argument dafür gewertet werden, daß sich die Chancen prophylaktischer und auch rehabilitativer Bemühungen verbessern ließen, wenn ihr Fehlschlag nicht folgenlos bliebe, sondern erst recht hohe finanzielle Belastungen für Kompensationszahlungen nach sich zöge. Andererseits wäre es eine ro22

Gehlen, Anthropologische Ansicht der Technik, S. 104.

132

4.lCap.:liUltergriblde

mantisierende und das Problem verharmlosende lllusion, wollte man annehmen, daß sich die technologisch bedingten Gefährdungen auch nur zum größeren Teil beseitigen ließen. Bisher sind jedenfalls neue Gefahren stets schneller nachgewachsen, als man lernte, alte zu beherrschen. Darüber hinaus sprechen manche Erfahrungen dafür, daß die gezielte Eliminierung einer Gefahr zuweilen durch Verfahren bewirkt wird oder überhaupt nur durch Verfahren gelingt, die sich ihrerseits über kurz oder lang als nicht ungefährlich herausstellen. So kann die Müllverbrennung zwar die Gefährdung des Trinkwassers durch große Deponien beseitigen, erzeugt jedoch - insbesondere infolge des zunehmenden Anteils von Kunststoffen im Müll - selbst gesundheitsschädliche Gase; die Verwendung von Emulgatoren kann zwar - etwa bei Tankerhavarien - die Ölpest an den Küsten verhindern, doch sind Meeresbiologen der Meinung, daß die Meere als Reservoir für die Versorgung der Menschen viel zu wichtig sind, als daß man sie durch solche Chemikalien vergiften dürfe; das Blei im Benzin ließe sich durch andere Komponenten substituieren, doch ist noch nicht geklärt, ob nicht zum Beispiel durch Aromaten die Abgase mit cancerogenen Substanzen angereichert würden. Auch eine vorsichtig formulierte Schlußfolgerung aus solchen Erfahrungen kann nur lauten, daß Zweifel, ob sich die Gesamtbilanz der Gefahren in absehbarer Zeit wesentlich verkürzen läßt, durchaus berechtigt sind. Eine Stabilisierung auf dem erreichten Niveau wäre bereits ein großer Erfolg. Das alles heißt nun aber keineswegs, daß Leben und Gesundheit heute viel stärker bedroht seien als in vorindustriellen Zeiten. Schon die - auch ohne Berücksichtigung der Säuglingssterblichkeit - erheblich gestiegene Lebenserwartung läßt im Gegenteil darauf schließen, daß die Gesamtentwicklung per Saldo günstigere Lebensbedingungen geschaffen hat. Aber die vortechnischen Gefahren, etwa die großen Seuchen und Hungersnöte, waren Emanationen eines blinden Fatums oder göttliche Fügung. Die der technischen Umwelt sind dagegen Menschenwerk. Der wissenschaftliche und technische Fortschritt, der sie produziert, identifiziert zugleich auch ihre Urheber. Daher ist es möglich, diese zur Rechenschaft zu ziehen und ihnen die Rechnung zu präsentieren für das, was sie anrichten. Auch aus diesem Grunde wird das Denken in Entschädigungsansprüchen in Zukunft eher noch virulenter werden.

4.3. Soziale Philosophie und öffentliche Verantwortung 4.3.1. Rationalismus

4.3.1.1. Die rationalistische Idee, daß alles irdische Geschehen kausal

erklärbar sein müsse, ist über die moderne Wissenschaft hinaus, die sich

4.3. Soziale Philosophie und Öffentliche Verantwortung

133

ihr am entschiedensten verschrieben hat, zum Apriori des Zeitgeistes geworden. Sie hat daher die Ausbreitung der Entschädigungsphilosophie auch dort vorangetrieben, wo es der Ursachenforschung noch nicht gelungen ist, dem Geschädigten einen Anspruchsgegner zu nominieren. Schicksalsglaube und Schicksalsergebenheit sind dem Lebensgefühl und den Grundanschauungen der Gegenwart so fremd geworden, daß jeder Verweis auf den Zufall, auf eine Verkettung unglücklicher Umstände, die jede Verantwortlichkeit aufhebe, nur als das verlegene Eingeständnis der Rückständigkeit gewertet wird, die das Comtesche Wissenschaftsprogramm des "savoir pour prevoir, prevoir pour prevenir" noch nicht hinreichend zu erfüllen vermochte. "Wo der Verstand nur blinde Kräfte sieht, das Gemüt das Walten des Schicksals fühlt, da tröstet sich der einzelne wie die Gesamtheit damit, daß es nicht Menschensache sei, sie zu bewältigen, da wird er Gerechtigkeit nicht mehr vom zuckenden Blitz und der feindlichen Kugel fordern 1 ." Wo aber die Aufklärung ihre antireligiösen und antimetaphysischen Affekte durchsetzt und ihren Optimismus, daß die unbegrenzte menschliche Erkenntniskraft die Welt beherrschbar zu machen vermag, verbreitet, da werden auch Schädigungen nicht mehr als unabwendbarer Schicksalsschlag hingenommen und ihre Folgen nicht mehr demütig ertragen, da setzt sich die überzeugung fest, daß immer jemand aufzutreiben sein muß, der für den Schaden verantwortlich ist, weil er ihn verursacht oder weil er ihn, obwohl dazu imstande, nicht verhindert hat. Dieses rationale und doch zugleich auch naive Zutrauen, daß persönliches Unglück prinzipiell vermeidbar, zumindest aber aufklärbar sei, ist freilich erst allmählich in das allgemeine Bewußtsein durchgesickert. Noch vor dreißig Jahren konnte Esser die alte und die neue Attitüde als gleichzeitig wirksam, ja geradezu als charakteristisch dafür, welche sozialen Gruppen progressiv dachten und welche noch nicht entmythologisiert waren, beschreiben: "Das gleiche Ereignis wird auf dem Lande als Schicksalsschlag, in der Großstadt als Folge schlechter Organisation empfunden. Bei einem Wolkenbruch etwa, der unter überflutung der Gräben und Kanäle die Keller- und stellenweise auch die Wohnräume unter Wasser setzt, wird das Unglück auf dem Dorfe durchweg als Schicksal und vielleicht als Strafe oder Warnung Gottes für die zunehmende Sündhaftigkeit empfunden, während der Großstädter als erstes die schlechte Organisation der städtischen Kanalverwaltung rügt, die einen zu geringen Durchmesser der Hauptsammler oder der Einlaufschächte berechnet habe. Ja selbst bei ganz ungewöhnlichen Wasserfluten ist er immer noch versucht festzustellen, ob nicht durch Verstopfung und mangelhafte Reinigung der Kanalroste eine Verantwortlichkeit irgendeiner Behörde festzustellen ist. So muß es heute jeder Behördenvertreter im 1

Esser, Gefährdungshaftung, S. 81 (im Anschluß an Schmoller).

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4. Kap.: Hintergründe

Großstadtleben ständig erfahren, daß ihm der empörte Volksgenosse mit immer neuen Anforderungen an die Organisationspflicht entgegentritt und schließlich auf den Nachweis, daß keine Instanz ihre Pflichten versäumt habe, in die hilflosen aber überzeugten Worte ausbricht: ,Aber einer muß es ja schließlich doch bezahlen'2." Inzwischen dürfte sich jedoch die Mentalität von Stadt und Land weitgehend angeglichen haben. Auch der Landbewohner ist heute so aufgeklärt, daß er sich bei jedem Schaden auf die Suche nach einem Verantwortlichen begibt. Die Schicksalsgläubigkeit ist überall von einer Wissenschaftsgläubigkeit abgelöst worden, die dem rationalistischen Positivismus der exakten Wissenschaften die Entdeckung und überführung aller Schadensverursacher zutraut. Allerdings sind gewisse Relikte irrationaler Emotionen und eines vorwissenschaftlichen Moralismus als Unterströmung erhalten geblieben, zumal sie durch Rechtsvorstellungen - nämlich die Adäquanztheorie - gestützt werden. Esser weist, sicher zu Recht, darauf hin, daß "gerade im Bereich der technischen Risiken und ihrer Kontrolle die Schuldidee eine zeitlose Beharrungskraft" zeigt, so daß man "noch im Rahmen der massierten technischen Risiken und ihrer Interessenten voll Empörung nach dem ,Täter'" suchtI. Das ist zwar für jeden Geschädigten notwendig, weil er anders eines Ersatzpflichtigen nicht habhaft werden kann. Aber es scheint, über dieses prozessuale Erfordernis hinaus, doch auch ein elementares Bedürfnis zu sein, Kausalitäten in dieser Weise zu personalisieren und dadurch in persönliche Schuld zu transformieren. Gerade das gelingt jedoch bei den Risiken des industriellen Zeitalters immer weniger oder nur im Widerspruch zu den Resultaten der Ursachenforschung. Denn wo es um komplizierte Verursachungszusammenhänge, um die kombinierte Wirkung mehrerer schadenskausaler Faktoren geht4, degeneriert der Schuldvorwurf gegen einen einzelnen, der in die Position des Sündenbocks versetzt wird, zum Alibi für die anderen Schadenstifter. Wo es sich um kollektiv produzierte Gefahren handelt, die erst durch die kumulative Wirkung vieler, für sich allein völlig harmloser Komponenten entstehen5 , wird es erst recht unsinnig, die alleinige Schuld eines einzelnen herauspräparieren zu wollen. Dann bleibt bei einem einigermaßen sachadäquaten Verfahren nur der Rückgriff auf das Kollektiv, den unser gegenwärtiges Rechtssystem jedoch nicht vorsieht und der nur durch Versicherungskonstruktionen zu praktizieren ist. t

3 4

5

Esser, Gefährdungshaftung, S. 81 f. Esser, Gefährdungshaftung, S. IX.

Vgl. dazu Abschnitt 4.2.1. Vgl. dazu die Abschnitte 3.3.4. und 4.2.2.1.

4.3. Soziale Philosophie und Öffentliche Verantwortung

135

4.3.1.2. Nun fühlt sich heute der einzelne aber gerade durch die aus einer unbewältigten Technologie resultierenden Gefahren besonders bedroht. Technische Entwicklungen, ökonomische Abläufe und gesellschaftliche Prozesse haben einen als immer übermächtiger und unentrinnbarer empfundenen Einfluß auf seinen Lebensverlauf und seine Lebenskurve, auf seine Gesundheit, sein Wohlbefinden, seine Selbstzufriedenheit, seine wirtschaftliche Lage und seine soziale Position. Er sieht sich von sozialen Bedingungen und Verflechtungen umstellt und eingefangen, von denen er bis in seine privaten Empfindungen hinein abhängig und denen er machtlos ausgeliefert ist. Es scheint zuweilen, als ob das Bewußtsein und das Lebensgefühl des modernen Menschen in eine magische Vorstellungswelt regrediert, in einen soziologischen Animismus verfallen seien. Der Mensch der technisch-industriellen Neuzeit begreift sich zwar nicht mehr als die von übernatürlichen, dämonischen Kräften beherrschte Kreatur, die sich, wie in mythischen Vorzeiten, die Geister und Götter nur durch Opfer und Beschwörungen geneigt machen könnte; auch nicht mehr als das demütig in sein Schicksal ergebene, sich selbst bescheidende Geschöpf Göttes, das eine geordnete Welt vorfindet, in der ihm eine klar und dauerhaft definierte Position zugewiesen wäre; ebensowenig aber als die selbstverantwortliche, sich selbst verwirklichende, autonome Persönlichkeit, die die Welt mit der Kraft ihres Verstandes neu zu gestalten vermöchte, wie die Aufklärung sie sich vorgestellt hatte; vielmehr als ein zwar emanzipiertes und individuelles, aber doch ganz und gar sozial definiertes und determiniertes, von seiner Umwelt geformtes und gefordertes Wesen, das darauf angewiesen ist, sich erfolgreich an eine dynamische Welt anzupassen, weil die Gesellschaft das Gelingen oder Mißlingen seiner Adaptation mit der Zuteilung von Lebenschancen oder Lebensrisiken honoriert. So beherrschend dieses Gefühl der Abhängigkeit und Machtlosigkeit gegenüber gesellschaftlichen - politischen, ökonomischen und sozialen - Vorgängen auch sein mag, so entsteht daraus doch keineswegs ein neuer Fatalismus, sondern vielmehr eine öffentliche Verantwortung fordernde Wendung gegen den Staat. Denn so ohnmächtig sich der Mensch selbst vorkommt, so omnipotent erscheint ihm der Staat. Dieser Staat aber ist kein Leviathan, sondern Agent der Gesellschaft, der auf die Wohlfahrt seiner Bürger verpflichtet ist und der auch über die Mittel verfügt, sie zu garantieren. Was der einzelne nur als undurchsichtige, bedrohliche und unbeeinflußbare Tendenzen registrieren kann, scheint ihm durch den Staat beliebig manipulierbar zu sein. Insofern ist sein Glaube an die Allmacht angewandter Wissenschaft ungebrochen, ja sogar noch gewachsen, nämlich von den Naturwissenschaften auf die ebenfalls positivistischen und kausal denkenden Gesellschaftswissen-

136

4. Kap.: Hintergründe

schaften ausgedehnt worden. So wie die Wissenschaft zunächst die Natur beherrschbar und technologisch verwertbar gemacht hat, so scheint sie nun auch die Gesellschaft technokratischen Eingriffen verfügbar zu machen. Erst wo dieserart die wissenschaftlichen Techniken auf die Gesellschaft übertragen und die bewußte, rationale Planung, Veränderung und Gestaltung der sozialen Beziehungen und Prozesse eingeleitet werden, könnte - um es mit einer Formel von Francis Bacon zu sagen das regnum hominis quod fundatur in scientiis wirklich anbrechen, auf das schon die Aufklärung gehofft hatte'. Derjenige, der dieses Instrumentarium zur Bändigung, Verwaltung und Regulierung der Gesellschaft vor allen anderen zu handhaben vermag, ist aber der Staat. Gegen ihn richten sich daher immer mehr die Erwartungen und Forderungen insbesondere der Benachteiligten, der Gefährdeten und der Geschädigten. 4.3.2. Daseinsvorsorge

4.3.2.1. Daß der Staat immer mehr Funktionen übernommen hat, die für den einzelnen lebensnotwendig sind, ist zugleich Ursache und Folge dieser Haltung seiner Bürger. Jene Verwaltungsformen, die seit Forsthoffs berühmter Schrift über "Die Verwaltung als Leistungsträger" aus dem Jahre 1938 unter dem Begriff der Daseinsvorsorge zusammengefaßt zu werden pflegen, sind offensichtlich für industriell verfaßte Gesellschaften so unentbehrlich geworden, daß sie selbst unter der Ägide liberalistischer Maximen nicht mehr beliebig zu regulieren oder gar zu redressieren sind, sondern sich immer weiter vermehren. Das liegt einfach dar an, daß die arbeitsteilig spezialisierte Organisation der Versorgung mit Gütern und Leistungen auch die Deckung der vitalen Grundbedürfnisse der individuellen Daseinssicherung und Verantwortung entzieht. "Der moderne Mensch ist nicht mehr im Besitze der elementarsten Lebensgüter, ohne die sein physisches Dasein auch nicht einen Tag denkbar ist: er verfügt nicht über das Wasser, um nur ein Beispiel zu nennen, wie der Landbewohner, der es aus seinem Brunnen schöpft, sondern ist auf eine öffentliche Wasserversorgung angewiesen, eine öffentliche Verwaltungseinrichtung, auf deren Funktionieren er sich verlassen muß". Daher ist dem Staat "die Verfügung über die wesentlichen Voraussetzungen des Einzellebens in einem Umfang zugefallen, der dem absoluten Polizeistaat durchaus fremd sein mußte. Dieser absolute Polizeistaat konnte zwar das berufliche Leben reglementieren, er konnte Kant tadeln, Schiller zensurieren und die Verbreitung deterministischer Lehren verbieten, er konnte gewiß bis in die Einzelheiten hinein bestimmen, wie gelebt werden sollte. Aber die Vorsorge dafür, e Vgl. dazu

Freyer, Schwelle der Zeiten, S. 160 ff.

4.3. Soziale Philosophie und Öffentliche Verantwortung

137

daß überhaupt gelebt werden kann, lag nicht annähernd in gleichem Umfang bei ihm, wie heute. Insofern ist die Abhängigkeit des Menschen vom Staate ... viel intensiver geworden, als sie es je in den ver gangenen Jahrhunderten gewesen ist"7. Es kommt noch hinzu, "daß das Einzeldasein in unvergleichlich viel höherem Maße in allgemeine Abläufe, in Krieg und Frieden ... , Konjunktur und Krise verstrickt ist, daß die moderne arbeitsteilige, technische Welt ganze Personenkategorien sozusagen ausstößt und sich selbst überläßt, daß das massentümliche Einzeldasein spezifische Lagen der Bedürftigkeit zwangsläufig mit sich bringt, daß schließlich der Drang nach Aufstieg, nach Teilhabe des einzelnen an den technisch ermöglichten Erleichterungen der Produktion und der Vermehrung ihres Volumens unabweislich ist"8. Daher würde es "allen Anforderungen, die an den modernen Sozial- und Verteilungsstaat ... gestellt werden, widersprechen, wollte man die Funktion ... der Daseinsvorsorge ... auf den der Vitalsphäre entnommenen Mindeststandard individueller Daseinsbehauptung beschränken "9. über solche bescheidenen Konzessionen eines gegenüber aller staatlichen Aktivität mißtrauischen Liberalismus ist sie längst hinausgewachsen, und Zwangsläufigkeiten, die in dem sozio-ökonomischen Wachstums- und Umstrukturierungsprozeß des Industriezeitalters angelegt sind, lassen sie immer weiter wachsen. Was an öffentlichen Vorkehrungen erwartet und gefordert wird, ist keineswegs konstant, sondern nimmt zu mit dem allgemeinen Lebensstandard10 , mit dem Fortschritt von Wissenschaft und Technik11 , mit dem Grad der räumlichen Konzentration und sozialen Integration und mit fast allen anderen Entwicklungsreihen, die einen steigenden Trend aufweisen. So mußte schließlich auch die von manchen ängstlich besorgten konservativen Beobachtern gehegte Hoffnung enttäuscht werden, daß es sich nur um eine durch die Kriege und Krisen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bedingte Hypertrophie des Staatsapparates handele, die in ruhigen und friedlichen Zeiten wieder abgebaut werden könne. Auch wer die Gefahren dieser Entwicklung nicht leugnet und deshalb mit den Versuchen, sie wenigstens zu retardieren, sympathisiert, vermag sich der Einsicht nicht zu verschließen, "daß eine stark verstädterte Industriekultur auch in ihrem Normalablauf und auch in Zeiten der prosperity auf den Staat angewiesen ist, auf den Staat als Ordner, als Schiedsrichter, als Träger von Dienstleistungen, als Quelle von Zuschüssen und Darlehen und als Garanten für Mindestanforderungen an ein menschenwürdiges Dasein"1!. 7 FOTsthoff, Rechtsfragen der leistenden Verwaltung, S. 27 f. 8 FOTsthoff, Rechtsfragen der leistenden Verwaltung, S. 52 f. 9 FOTsthoff, Rechtsfragen der leistenden Verwaltung, S.12. 10 Vgl. FOTsthoff. Rechtsfragen der leistenden Verwaltung, S. 12. 11 Vgl. Weichmann, Wandel der Staatsaufgaben, S. 43. 12 FTeyeT, Schwelle der Zeiten, S. 220.

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4. Kap.: Hintergrunde

4.3.2.2. Je umfangreicher der Aufgabenkatalog eines derartigen "service public"13 wird, je stärker die sozialgestaltende Wirksamkeit des Staates zunimmt, desto größer wird nun aber auch seine Anfälligkeit für Fehlhandlungen, die Quote der Versager unter seinen Maßnahmen, die Wahrscheinlichkeit für Mißgriffe. Der liberale Rechtsstaat war dadurch charakterisiert, daß er Zonen der Nichteinmischung in die privaten, individuellen Verhältnisse ausgrenzte. "Sein Hauptproblem bestand darin, die Eingriffe der Verwaltung in Freiheit und Eigentum der Bürger begrenzend zu regeln. Dem entsprechen die Begriffe, Prinzipien und Institutionen des überkommenen Verwaltungssystems14 ." Ein solcher Staat, der konstitutionell darauf verpflichtet war, die individuelle Freiheitssphäre und die Besitzverhältnisse zu achten und zu wahren, dessen Qualität daran gemessen wurde, in welchem Maße es ihm gelang, untätig zu bleiben, konnte nur sehr wenige Fehler machen, die rechtserheblich waren. Solange er sich passiv verhielt, konnte er keine Schäden anrichten, die ihn ersatzpflichtig gemacht hätten. Gerade diese Voraussetzung hat sich jedoch inzwischen umgekehrt: Der soziale Wohlfahrtsstaat wird gerade dafür verantwortlich gemacht, daß er nichts getan hat, wo es notwendig oder auch nur nützlich gewesen wäre, oder daß seine Vorkehrungen versagt haben15 • Es wird immer häufiger darauf hingewiesen, daß "die Angewiesenheit der Zivilpersonen auf Leistungen der öffentlichen Hand im modernen Staat ein Ausmaß erreicht habe, in dem die Ablehnung einer Leistung einem Eingriff in Freiheit und Eigentum materiell gleichkomme. Das Zentralproblem des Verwaltungsrechts sei nicht mehr nur die Abwehr willkürlicher staatlicher Eingriffe, sondern ebenso oder mehr noch die Sicherung gerechter Teilhabe an staatlichen Wohltaten"16. Der Staat ist aus dem Stande der Unschuld, der schon dadurch gewahrt blieb, daß er in ausreichender Zahl Patrouillengänge zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung absolvierte, längst hinausgewachsen. Er wird vielmehr angeschuldigt, seine Bürger geschädigt zu haben, wenn er ihnen etwas schuldig bleibt. Er wird also nicht nur für fehlerhafte, sondern auch für fehlende Leistungen verantwortlich gemacht. Die existentielle Abhängigkeit von der leistenden Verwaltung wird so stark empfunden, daß der Staat für jedes Versagen der Daseinsvorsorge, für Unterlassungen nicht weniger als für mangelnde Erfolge, ersatzpflichtig gemacht wird.

Das gilt nun aber in ähnlicher Weise auch für die ordnende Verwaltung. Wo der Staat regelnd einzugreifen vermag, da wird von ihm er13

Zum Begriff und der rechtlichen Problematik der "services publies" vgl.

Forsthoff, Verwaltungsrecht, S. 341, sowie die dort angegebene Literatur. 14 WoLff, Verwaltungsrecht IH, S. 123. 15 Vgl. dazu auch Abschnitt 3.4.2.2. 16 Woljf. Verwaltungsrecht IH, S. 138.

4.3. Soziale Philosophie und Öffentliche Verantwortung

139

wartet, daß er Bedingungen und Anweisungen für das Handeln seiner Bürger setzt, die die Entstehung von Schäden verhindern oder zumindest ihren Ausgleich sicherstellen. Wenn jedoch der Staat Produktionsanlagen konzessioniert oder den Vertrieb von Erzeugnissen nicht unterbindet, die Schäden anrichten können, wenn er die Beseitigung von giftigen Abfällen und Abgasen nicht anordnet und durchsetzt, wenn er keine Raumordnungspolitik betreibt, die die Zusammenballung zu schadenstiftenden Kollektiven verhindert, wenn er versäumt, wenigstens die Haftung für solche Schäden und die Sicherstellung von Ausgleichsansprüchen in für die Geschädigten hinreichender Weise zu regeln, kurz: wenn er die Gesellschaft nicht so organisiert, daß seine Bürger sich nicht gegenseitig zu schädigen oder wenigstens einander schadlos zu halten vermögen, dann ist er selbst mitschuldig und daher subsidiär haftpflichtig. Wenn der Staat das ganze Arsenal der gesetzgeberischen und administrativen Mittel einsetzt, mit denen er in die sozialen Verhältnisse, Beziehungen und Prozesse einzugreifen vermag, müßte ihm die Schadenverhütung und die Schadendeclrung weit besser gelingen als seither. Insofern ist es letztlich der Staat, der erst durch seine Unzulänglichkeit den Schädiger schuldig werden läßt und dem Geschädigten einen gerechten Ausgleich vorenthält. Weil diese Deutung der öffentlichen Verantwortung, diese Hypothese über einen stets mitwirkenden öffentlichen Schuldanteil, immer mehr Anhänger findet, nehmen die Bemühungen zu, für jede Schädigung eine ersatzpflichtige Beschwerdeinstanz ausfindig zu machen. Erst diese Haltung macht die vielzitierte Formel von Fritz Werner verständlich, daß der moderne Mensch Schicksalsschläge als einklagbaren Rechtsverlust betrachte17 • Noch plastischer hat Herbert Weichmann die Gefühle der vom Schicksal Benachteiligten und Geschlagenen, ihre Hoffnungen und Befürchtungen, ihre Bitten und Klagen, ihre Unterwerfung und ihr Aufbegehren mit dem Satz beschrieben: "Hiob hadert nicht mehr mit seinem Gott, sondern mit seiner Regierung18." 4.3.3. Schicksalsgleichheit

4.3.3.1.Wenn so der Staat immer mehr für die Lebensbedingungen und die Lebensgestaltung aller seiner Bürger verantwortlich gemacht wird, für Erziehung19, Gesundheit, Kultur, Wohnung, Arbeitsmarkt, Ausbildung, Konjunktur, Stadtplanung, Verkehr, Wirtschaftsstruktur, 17 Vgl. Esser, Gefährdungshaftung, S. IX; Strohm, Der soziale Rechtsstaat - eine ethische Aufgabe, S. 26; Weichmann, Wandel der Staatsaufgaben, S.42. 18 Weichmann, Wandel der Staatsaufgaben, S. 42. 19 Für die Erziehung ist im § 1 des Jugendwohlfahrtsgesetzes der Anspruch gegen den Staat am totalsten formuliert: "Jedes deutsche Kind hat

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4. Kap.: Hintergründe

Raumordnung und vieles andere, so wird er allmählich an allen denkbaren Minderungen und Beeinträchtigungen individueller Lebensmöglichkeiten mitschuldig. Ihren umfassendsten und in den Konsequenzen am weitesten reichenden Ausdruck hat diese Vorstellung einer ubiquitären öffentlichen Mitverantwortung für alle Schäden vielleicht in der Bemerkung von Bundesinnenminister Genscher auf der Europäischen Raumordnungsministerkonferenz im September 1970 gefunden, daß Raumordnung der beste Umweltschutz sei 20 • Welche Versäumnisse und welche Verpflichtungen in dieser Formel enthalten sind, ist kaum abzusehen, auch wenn die praktischen Folgerungen zunächst bescheiden bleiben. Die Anerkennung einer öffentlichen Mithaftung konkretisiert sich eher in Hilfsprogrammen für begrenzte Sondergruppen, die jedoch nach allen bisherigen Erfahrungen mit derartigen Spezialeinrichtungen die Forderungen analoger Gruppen nur intensivieren und daher dazu tendieren, weitere, ähnliche Tatbestände einzubeziehen, um das Gleichheitspostulat nicht zu verletzen. Im Oktober 1970 hat sich zum Beispiel die Konferenz der Justizminister für den Vorschlag des hessischen Justizministers Hemfler - dem sich auch der 48. Deutsche Juristentag angeschlossen hat - ausgesprochen, den Opfern von Straftaten eine Entschädigung aus öffentlichen Mitteln zu gewähren. Hemfler hatte diesen Plan, der einen zum großen Teil aus Geldstrafen gespeisten Fonds vorsieht, unter anderem damit begründet, daß die Opfer von Verbrechen einen Anspruch auf eine solche Entschädigung hätten, weil sich der Staat für ihre Sicherheit mitverantwortlich fühlen müsse, und er hatte es für vertretbar gehalten, für einen derartigen Fonds auch Steuergelder zu verwenden, weil der Bürger sich mit den unschuldigen Opfern solidarisieren solle. Der nach über zweieinhalb Jahren Verhandlungsdauer im Dezember 1970 eingestellte Contergan-Prozeß hatte viele Kommentatoren zu der Folgerung veranlaßt, daß die auf die Wirkung des Thalidomid zurückgeführten Dysmelieschäden nur als eine schicksalhafte Katastrophe gewertet werden könnten, die über die zivilrechtliche und strafrechtliche Haftung der Verursacher hinausreiche und die deshalb einen Hilfsanspruch an die Allgemeinheit begründe 21 • Die Contergan-Kinder müßten, so hieß es während des Verfahrens, unabhängig vom Verlauf oder Ausgang des Prozesses den Kriegsopfern ein Recht auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit. " 20 Vgl. auch den Raumordnungsbericht 1970 der Bundesregierung, Bundestags-Drucksache VI!1340, S. 39 f., sowie die dort im Anhang wiedergegebene Entschließung der Europäischen Raumordnungsminister-Konferenz vom 11. September 1970, S. 141. !1 Vgl. dazu statt vieler anderer: Friedrich Kassebeer: Die Contergan-Ankläger dürfen keine Verlierer sein. In: Süddeutsche Zeitung vom 29.1.1970; Thea Winandy: Ein Contergan-Kompromiß? In: Publik Nr. 6 vom 6. 2. 1970, S. 14; Dietrich Zwätz: Den Contergan-Kindern helfen, bevor es zu spät ist. In: Handelsblatt Nr. 216 vom 10.11. 1970, S. 3.

4.3. Soziale Philosophie und Öffentliche Verantwortung

141

gleichgestellt werden, sie hätten besondere Ansprüche auch gegen Behörden auf Grund eines zur Wiedergutmachung verpflichtenden Tatbestandes, und ihr Schicksal müsse vom ganzen Volk mitgetragen werden22 . Solche Thesen und Meinungen über die Mitverantwortung des Staates sind inzwischen durch die Verabschiedung des Gesetzes zur Errichtung einer nationalen Stiftung "Hilfswerk für das behinderte Kind", in die der Bund 50 Millionen DM für die etwa 2000 ConterganKinder und noch einmal die gleiche Summe für die auf 200 000 geschätzten anderen behinderten Kinder einbringen will, im Grundsatz anerkannt worden. Dabei dürfte neben vielen anderen auch das Motiv eine Rolle gespielt haben, daß "der Fortschritt in der medizinisch-pharmakologischen Wissenschaft zu keiner Zeit ohne Fehlschläge und Opfer erzielt worden" ist, weil es kein Arzneimittel gibt, "das nicht im Regelfall oder beim Zusammentreffen besonderer Faktoren - irgendwelche Nebenwirkungen hätte und bei dem nicht auch schädliche Folgen, zum Teil sogar gravierender Art, bereits aufgetreten wären oder vorkommen könnten"23. Medikamentenschäden stellen daher ein Opfer dar, das der Geschädigte "im Interesse der Allgemeinheit vollbringt"24, denn sie ließen sich nur um den Preis vermeiden, daß "Mittel, die zur Heilung sonst zum Siechtum bestimmter Menschen dienen könnten, zurückgehalten" würden25 . So verwundert der Appell an den Staat nicht. 4.3.3.2. Das Argument, daß die konsequente Vermeidung von Schäden den Fortschritt behindern würde, kehrt auch in vielen andern Zusammenhängen immer wieder. Wenn nicht einzelne "ein Sonderopfer als Preis für den Fortschritt" erbrächten28, müßten alle auf viele Vorteile verzichten, die ihnen in einer technisierten, ihren persönlichen Lebensspielraum beträchtlich erweiternden Welt geboten werden können27 . Das gilt nicht nur für die Risiken, die mit neuen Produkten, neuen Technologien und der Anwendung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse verbunden sind; auch diejenigen, die mit den raschen wirtschaftlichen und sozialen Strukturveränderungen nicht mithalten können, denen der Absprung von stagnierenden und überlebten Wirtschaftsund Lebensformen nicht rechtzeitig gelingt, "sind gewissermaßen dazu verurteilt, durch einen Verlust an Wohlergehen einen Teil der Kosten zu tragen, die der Fortschritt anderer Mitglieder in einer dynamischen 22 Vgl. Peter Brosius in FAZ Nr. 130 vom 9.6.1969, S. 12, und Horst Pelckmann in F AZ Nr. 4 vom 6. 1. 1970, S. 6.

23 Erklärung der Gesamtverteidigung im Alsdorfer Prozeß vom 11. 3.1970, über "Die strafrechtliche Bedeutung des ,sozialadäquaten Risikos' der pharmazeutischen Industrie für das Verhältnis der Tatbestände des AMG (§§ 6, 44) zum StGB (§§ 223 ff.)", vorgetragen von Professor Bruns, Erlangen. 24 Simitis, Haftung des Produzenten, S. 81. 26 BaHerstedt in Verhandlungen des 47. DJT, Teil M, S. 86. 26 Simon in Verhandlungen des 47. DJT, Teil M, S. 28. 27 BaHerstedt in Verhandlungen des 47. DJT, Teil M, S. 86.

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4. Kap.: Hintergründe

und sich wandelnden Gesellschaft erfordert"28. Die Fürsorge hat immer wieder mit der Vorstellung operiert, daß mangelnde Anpassungsfähigkeit zur Verarmung führe, daß es also in Wirklichkeit die nach Vermehrung ihres Reichtums trachtende Gesellschaft sei, die die weniger Agilen, die Beharrlichen und Konservativen, zu Außenseitern mache und in die Armut ausstoße29 . Mit ganz ähnlichen Begründungen fordern absteigende Klassen und aussterbende Branchen von der Allgemeinheit, sie für die Verluste schadlos zu halten, die sie um der ungehinderten wirtschaftlichen Expansion willen zu erleiden gezwungen sind. So werden Schutz- und Stützungs ansprüche gegen den Staat erhoben, "die auf eine Angleichung von Branchenerfolgen ... oder auf die ausgleichende Eliminierung von wirtschaftlichen Handicaps abzielen, die entweder durch eine Änderung der Marktstruktur, durch neue Produktionsmethoden, durch Kapitalknappheit, durch Konzentration oder internationale Konkurrenz ausgelöst sind ... Dabei stützen sich die Branchenansprüche wie bei den sonstigen Schicksalsbetroffenen gegenseitig. Was für die Landwirtschaft recht ist, erscheint dem Bergbau, den Werften und dem Schiffbau, dem mittelständischen Gewerbe oder sonstigen Wirtschaftsbranchen billig"30. Nimmt man die These, daß immer einzelne oder ganze Gruppen für den Gesamtfortschritt der Gesellschaft bezahlen müssen, in ihrer vor allem bei Titmuss deutlichen Generalisierung ernst3!, so zeigt sich, daß eine solche "Entschädigungsphilosophie" schon in den Motiven der ersten Arbeiterversicherungs-Gesetzgebung mit enthalten war. Das Prinzip der Einkommenssicherheit, der Ersatzleistung für ausfallendes Markteinkommen, ist erst eine nachträgliche, moderne Deutung der sozialen Sicherung. Am Anfang stand viel eher die Vorstellung, daß das Industriezeitalter alte Lebensformen und Lebenssicherheiten zerstört und daß es eine besondere Klasse erzeugt, die infolge von Entwicklungen, die der technisch-kapitalistischen Wirtschaftsweise immanent sind, dauerhaft in Armut und Bedürftigkeit absinkt und verharren muß32. 28 29

Titmuss, Beziehungen, S. 64 f. Hans Scherpner hat diese Theorie schon bei den humanistischen Schrift-

stellern nachgewiesen; vgl. den Abschnitt "Die Armenfrage im Humanismus" in seiner "Theorie der Fürsorge", Göttingen 1962, S. 70-78. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat sie Christian Jasper Klumker neu ausgearbeitet und begründet; vgl. den Abschnitt "Wirtschaftlichkeit und Unwirtschaftlichkeit" in seinem "Fürsorgewesen", Leipzig 1918, S. 13 ff., und den Abschnitt "Verarmung und Unwirtschaftlichkeit" in seinem Artikel "Armenwesen r", HdStW, 4. Aufl., Bd. I, Jena 1923, S. 926 ff. ao Weichmann, Wandel der Staatsaufgaben, S. 41. 31 Vgl. dazu das vorstehende Zitat (Anm. 28) sowie die Zitate in Abschnitt 2.4.3. 32 Vgl. dazu den Abschnitt "Merkmale der proletarischen Existenz" bei Dieter Schäfer, Die Rolle der Fürsorge im System sozialer Sicherung, Frankfurt am Main 1966, S. 56-61.

4.3.

Soziale Philosophie und öffentliche Verantwortung

143

Die Arbeiterklasse war hier die soziale Gruppe, die für den Fortschritt der Produktivität bezahlen mußte, und nur von daher läßt sich erklären, daß die Sozialversicherungen als Arbeiterversicherungen konzipiert waren. Schelsky hat die Schäden, die der Arbeiterschaft durch das sich entfaltende Industriesystem zugefügt wurden, vollends in Parallele zu den aktuellen Schadensformen gesetzt: "Die soziale Frage des vorigen Jahrhunderts ... war die Erschütterung der gewohnten Arbeitsund Gesellschaftsformen des Menschen durch die neuen technischen Erfindungen und die auf ihr aufbauende industrielle Arbeitswelt. Marx, aber auch andere, haben die darin liegende Gefährdung des Menschen gesehen, sie als Entfremdung, Verelendung oder Ausbeutung beschrie· ben. Man hat fast vergessen, daß jener Zustand des verelendetert Proletariats genauso seine unnötigen Todesopfer und Kranke und Krüppel gefordert hat wie heute der Verkehr ... Wir stehen heute in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor einer neuen Entfremdung, Verelendung oder Ausbeutung des Menschen, nämlich vor der Gefährdung seiner lebensnotwendigen Umwelt durch seine eigene Technik, ein Tatbestand, der noch vor 50 Jahren unbekannt, ja kaum zu ahnen war. Umweltschutz, Landschaftspflege, Schutz vor Zivilisationskrankheiten, vor Bewußtseinsmanipulation, vor Nahrungsvergiftung, und nicht zuletzt Verkehrssicherheit sind gleichartige Forderungen, die alle auf die Aufrechterhaltung einer lebensnotwendigen Umwelt des Menschen gegenüber den Folgen seines technischen Fortschrittes hinauslaufen. Es gehört wenig Prophetengabe dazu, vorauszusagen, daß diese Umweltfrage in den kommenden Jahrzehnten, wahrscheinlich in kommenden Jahrhunderten, eben den Rang und die Stelle lebensnotwendiger Strukturveränderungen einnehmen wird, den im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts die soziale Frage in ihren verschiedenen Facetten behauptet hat33 ." Die Analogie zwischen dem Proletarier der Frühphase der europäischen Industrialisierung und den als neues Proletariat der Gegenwart apostrophierten farbigen Völkern und Minderheiten ist noch offensichtlicher; die Forderungen auf Hilfsgelder, die vom Staat oder gesellschaftlichen Gruppen aufzubringen wären, sind jedoch seitdem wesentlich direkter, drängender und entschiedener geworden. So hat zum Beispiel eine im April 1969 in Detroit veranstaltete "National Black Economic Development Conference" (NBEDC) ein vielbeachtetes "Schwarzes Manifest" verabschiedet, in dem von den in das kapitalistische System verstrickten weißen Kirchen und Synagogen Amerikas 500 000 000 Dollar als Reparationszahlung für die Ausbeutung, Unter33

205

Helmut Schelsky: Protest gegen den Tod auf den Straßen. In: FAZ Nr. vom 5. 9. 1970, Beilage "Bilder und Zeiten".

144

4. Kap.: Hintergründe

drückung und Verfolgung des schwarzen Volkes verlangt werden34 • Im Mai 1969 hat eine vom Ökumenischen Rat der Kirchen in London durchgeführte Rassen-Konsultation empfohlen, solche Wiedergutmachungen zu leisten, weil die Kirchen ihre Mitschuld an der Ausbeutung schwarzer Menschen und Völker anerkennen müßten85 • Im Juli 1969 hat eine New Yorker Methodistengemeinde in einem feierlichen Gottesdienst einen Scheck über 15000 Dollar als erste Rate derartiger Reparationsleistungen überreicht, eine andere hat 30000 Dollar zur Verfügung gestellt; die Presbyterianer, die Vereinigte Kirche Christi und der Nationalrat der Kirchen Amerikas haben sich bereit erklärt, beträchtliche Summen zur Förderung der Rassengleichheit und kirchlicher Negerorganisationen aufzubringen; die anglikanische Episkopalkirche hat beschlossen, 200000 Dollar für den Entwicklungsfonds der NBEDC beizusteuern36 • Von solchen Vorstellungen aus auch die Entwicklungshilfe als moralisch und rechtlich verbindliche Entschädigung für Ausbeutung, Unterdrückung und Vernachlässigung durch die früheren Kolonialmächte zu interpretieren, ist keineswegs Ausdruck phantasievoller übertreibung oder eine feuilletonistische Floskel, sondern entspricht durchaus dem Selbstverständnis und Selbstbewußtsein, das Regierungen und Repräsentanten vieler Entwicklungsländer in ihrem Umgang mit den avancierten Völkern dieser Welt zeigen87 • 4.3.3.3. Wenn so, wie in diesem Abschnitt an einigen exemplarischen Beispielen dargestellt, für alle Unglücksfälle und Behinderungen, alle Rückständigkeiten und Statusminderungen, alle sozialen Diskriminierungen und Benachteiligungen die Gesellschaft schuldig gesprochen 34 "We the black people assembled in Detroit, Michigan, for the National Black Development Conferenee are fully aware that we have been foreed to eome together beeause racist Ameriea has exploitet our resourees, our minds, our bodies, our labor. For eenturies we have been foreed to live as eolonized people inside the United States, vietimized by the most vicious, racist system in the world. We have helped to build the most industrial eountry in the world. We are therefore demanding of the white Christian churches and Jewish synagogues, which are part and pareel of the system of eapitalism, that they begin to pay reparations to black people in this eountry. We are demanding $ 500.000.000 from the Christian white churches and the Jewish synagogues ... This demand for $ 500.000.000 ... is only a beginning of the reparations due us as a people who have been exploited and degraded, brutalized, killed and perseeuted" (The Black Manifesto. In: Risk, volume 5, number 2,1969, page 47). 35 Vgl. "Rassen-Konsultation des Weltkirchenrates", in Herder Korrespondenz, Jg. 23 Nr. 7 (Juli 1969), S. 316. 3' Vgl. "Die Kirchen und die Rassenfrage in den USA" in Herder Korrespondenz, Jg. 24 Nr. 2 (Februar 1970), S. 74 f. 37 Vgl. dazu z. B. die Rede, die Dom Helder Camara, Erzbischof von Olinda und Reelle, am 23. Oktober 1970 in Bonn beim Deutschen Forum für Entwicklungspolitik zum Beginn des zweiten Entwicklungsjahrzehnts gehalten hat (Abgedruckt in FAZ Nr. 247 vom 24.10.1970, Sonderseite "Die Gegenwart").

4.3.

Soziale Philosophie und öffentliche Verantwortung

145

wird und deshalb von ihr Entschädigungsprogramme verlangt werden, treffen letztlich alle Motivationen für soziale Bemühungen zusammen und gehen ineinander über. Ob es sich um die Hilfe für Arme und Gebrechliche, um die Förderung von Behinderten und Zurückgebliebenen, um die wirtschaftliche Sicherung der Abhängigen und nicht mehr Leistungsfähigen oder um die Wiedergutmachung an Geschädigten und Verletzten handelt, ob zivile oder Kriegsschäden, berufliche oder private Verletzungen, individuelle oder Gruppenschicksale ausgeglichen werden sollen, ist unerheblich, wenn alle Beeinträchtigungen und Verluste einzelner als Folge gesellschaftlicher Entwicklungen, Aktionen und Unterlassungen begriffen werden. Soziale Politik ist dann immer und ausschließlich durch falsche Politik auf anderen Gebieten bedingt, und jede falsche Politik wird zum Rechtsgrund für öffentliche Restitutionsverpflichtungen. Darin drückt sich, positiv gewendet, ein neues Gefühl der Solidarität aller mit allen aus, das aus dem Bewußtsein erwächst, daß individuelle Lebensgestaltung nicht mehr in die Macht des einzelnen gegeben ist, sondern von öffentlicher Tätigkeit oder Untätigkeit abhängt. "Das Gleichheitspostulat hat sich von der Forderung des Individuums auf Rechtsgleichheit gegenüber dem Staat zu einer Forderung auf Schicksalsgleichheit im Staat entwickelt38 ." Insofern steht diese soziale Philosophie in geradliniger Nachfolge der Theorien zur sozialen Sicherheit, die ja auch die dem einzelnen nicht mehr zumutbare Lebensvorsorge öffentlichen Instituten zuweisen und die dabei "alle Lebenschancen in eins" rechnen, nur "die ungeschiedene Allgemeinheit, deren Solidarität durch zwingende Gesetze betätigt wird", kennen und sich eine neue Gesellschaft vorstellen, in der zumindest "die ganz Armen und die ganz Reichen verschwunden sein werden"39. Daß auf diese Weise die Begründungen für alle unentgeltlichen öffentlichen und privaten Leistungen einander immer ähnlicher werden und schließlich, wenn sie auf das letzte Glied der Verursachungskette zurückgeführt werden, in einem Vorwurf gegen den Staat oder die Gesellschaft konvergieren, besagt jedoch nicht, daß auch die Rechts-, Verwaltungs- und Leistungsinstitute identisch würden. Vielmehr wird eifersüchtig darauf geachtet, sie nach Herkunft und Anlaß sorgfältig zu sondern. Die Schädigungsthese schrumpft dabei zwar zu einem bloßen Argument oder auch nur Vorwand zur Durchsetzung von Ansprüchen. Zu diesem Zweck erweist sie sich jedoch weiterhin als außerordentlich nützlich. Denn mit der Begründung, daß ein Bedarf vorliegt, können nur unbedingt erforderliche Hilfen legitimiert werden. Leistungen, die über das dringend Notwendige oder sogar über den Normalzustand der 38 39

Weichmann, Wandel der Staatsaufgaben, S. 40. Achinger, Soziale Sicherheit, S. 57 ff.

10 Schäfer

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4. Kap.:

Hintergründe

weniger Wohlhabenden hinausgehen, lassen sich dagegen nur entweder aus Vorleistungen der Empfänger oder eben aus Wiederherstellungsund Ersatzansprüchen herleiten. Das gilt jedenfalls so lange, wie nicht alle Wünsche befriedigt werden können. Daher werden die Versuche, trotz, ja gerade mit Hilfe der gesellschaftskritischen Schadenstheorie den privilegierten Status eines Restitutionsberechtigten zu erringen, nur immer weiter zunehmen.

Fünftes Kapitel

Die Integration aller Restitutionsleistungen für Personenschäden zu einem neuen Zweig des sozialen Sicherungssystems (Reformvorschlag) 5.1. Die soziale Ignoranz des Schadensrechts 5.1.0. Die Bemühungen um eine Erweiterung der Entschädigungsregelungen werden immer wieder damit motiviert, daß die Vorkehrungen zum Schutz und zur Sicherung der Geschädigten Lücken aufwiesen. So hat Simitis in seinem Gutachten zum 47. Deutschen Juristentag wiederholt darauf aufmerksam gemacht, daß "soziale Härten" entstünden, wenn den Produzenten bei sogenannten Entwicklun~sgefahren keine Haftung auferlegt würdet, und an der gleichen Stelle hat er ausdrücklich von der sozialpolitischen Funktion und Zielsetzung des Haftpflichtrechts gesprochen, die sich freilich in einer Gesellschaft, für die Versicherungen längst zur Routine geworden sind, verflüchtigten2 • Esser hatte schon vor dreißig Jahren dazu aufgerufen, die Aufgabe, "Verkehrsschäden und -wagnisse gerecht zu verteilen, ganz ähnlich der Verteilung der Arbeitsschäden als soziale Frage zu begreifen"3. Auf den Vergleich mit der sozialen Unfallversicherung wird immer wieder zurückgegriffen; v. Hippel hat ihn bei der Begründung seines Reformvorschlags zur Deckung der Verkehrsunfallschäden mit der Bemerkung gezogen, daß heute der Schadensausgleich bei Verkehrsunfällen ein ebensolches "Sozialproblem ersten Ranges" geworden sei, wie es seinerzeit bei Einführung der Unfallversicherung der Schadensausgleich bei Arbeitsunfällen gewesen war'. Helm hat bei den Debatten des Nürnberger Juristentages über die Produzentenhaftung sogar ausdrücklich formuliert, daß "eine Gefährdungshaftung eingeführt werden soll ..., um eine soziale Sicherung zu erreichen"5. Die weite Verbreitung solcher 1 Vgl. dazu Simitis, Haftung des Produzenten, S. 81 f.; zum Begrüf der Entwicklungsgefahren vgl. S. 14 f. ! Vgl. Simitis, Haftung des Produzenten, S. 73 f. a Esser, Gefährdungshaftung, S. 89. , v. Hippel, Schadensausgleich, S. 111. G Helm in Verhandlungen des 47. DJT, Teil M, S. 77.

10·

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5. Kap.: Reformvorschlag

sozialen Argumentation wird bestätigt, wenn man die Gegenprobe macht. Diejenigen, die eine weitere Expansion der Schadensersatzansprüche abwehren wollen, pflegen sich darauf zu berufen, daß kein soziales Bedürfnis dafür bestehe; zumindest müsse man vor der Planung neuer Ausgleichssysteme und vor der Änderung von Gesetzen untersuchen, inwieweit und auf welchen Gebieten es denn überhaupt "schwere Fälle gibt, für die aufgrund der gegenwärtigen Gesetze keine sozialpolitisch befriedigende Lösung gefunden werden kann"6. Wenn eine solche Prüfung ergäbe, daß "schon das geltende Recht in der Lage ist, der Gesamtinteressenlage Rechnung zu tragen"7, könne von einer sozialen Notwendigkeit für die Ausdehnung der Haftung nicht die Rede sein. Eine solche Beweisführung mit sozialen Motivationen ist an sich sehr naheliegend und einleuchtend. Umso mehr muß es verwundern, daß bei den weiteren überlegungen, bei den konkreten Folgerungen für die rechtlichen Gestaltungen soziale Gesichtspunkte und Sachverhalte kaum beachtet und erwogen werden. Weder die soziale Gesetzgebung noch die sozialen Verhältnisse der Geschädigten spielen eine nennenswerte Rolle, wenn die Systematik des Schadensrechts diskutiert wird und Vorschläge zu seiner Reform entworfen werden. 5.1.1. Die isolierte Parallelentwicklung von Schadensrecht und Sicherungsrecht

5.1.1.1. Die permanenten Expansionsbestrebungen im Schadensrecht übersehen oder vernachlässigen weitgehend, daß das System der sozialen Sicherungsleistungen in gleicher Weise, vielleicht sogar noch stärker expandiert hat und weiter expandiert. Das Restitutionssystem wird, zumindest soweit es nicht selbst Teil des Sozialleistungssystems ist, in der Regel unabhängig vom Sicherungssystem gedacht, das doch seinerseits als personell und sachlich umfassende Lebensgarantie konzipiert oder wenigstens intendiert ist, das auf jeden Fall eine - zuweilen erstrebte, zuweilen beklagte - Tendenz zu fortschreitender Lückenlosigkeit hat. Diese Entwicklung, auf die früher schon einmal hingewiesen worden ist8 , kann hier im Wesentlichen als bekannt unterstellt werden. Sie verläuft - um nur die Stichworte kurz in Erinnerung zu rufen - von der Sicherung bedürftiger Minderheiten zur generellen, tendenziell die Gesamtbevölkerung einbeziehenden Daseinsvorsorge und -sicherung und von der reinen Existenzgarantie zur proportionalen Einkommens- und damit Statussicherung. Die personelle Ausweitung e Meyer, Die Gefahr der Manipulierbarkeit von Tatbeständen, S. 170. Möhring in Verhandlungen des 47. DJT, Teil M, S. 69. 8 Vgl. Abschnitt 4.1.2.2.

1

5.1. Die soziale Ignoranz des Schadensrechts

149

geht dabei vor allem auf vier Vorgänge zurück: Der Anteil der Arbeitnehmer, für die die Sozialversicherungen eingerichtet worden waren, nimmt zu, die Einkommensgrenzen werden, über die durchschnittlichen Lohnsteigerungen hinaus, erhöht, nicht als Arbeitnehmer beschäftigte Personen werden einbezogen', und Familienangehörigen werden die gleichen Ansprüche eingeräumt wie den Versicherten selbst10 • Die Verbesserung der Leistungen beruht zunächst auf der immer stärkeren Abwendung vom Prinzip einer minimalen Grundsicherung und dem Übergang zu einer weitgehend beitragsgerechten Leistungsbemessung, sodann auf der - von Zeit zu Zeit durch Gesetz vorgenommenen - Anpassung an das steigende Preis- und Einkommensniveau und schließlich auf der Dynamisierung fast aller relevanten Rechengrößen. Die Parallelität bei der Vermehrung und der Vergrößerung von Restitutionsansprüchen und von Sicherungsansprüchen führt dazu, daß die Fälle, in denen mehrere Leistungen wegen desselben Sachverhalts bei einer Person zusammentreffen, immer zahlreicher werden. Wenn einerseits - wie bei den Sicherungsleistungen - ein bestimmter Zustand, z. B. eine Verletzung oder Invalidität, als Leistungsgrund gilt, andererseits - wie bei den Restitutionsleistungen - verschiedene Ursachen dieses Zustandes, z. B. ein Arbeitsunfall, ein Verkehrsunfall oder eine Kriegsverletzung, jeweils zu einem besonderen Leistungsgrund gemacht werden, müssen im Regelfall die Schadensersatzleistungen für Personenschäden zu einer kausal unspezifischen Sicherungsleistung hinzutreten. Umgekehrt kann jedoch keineswegs damit gerechnet werden, daß Sicherungsleistungen nur für solche Schäden beansprucht würden, die bereits durch irgendeine Haftung gedeckt wären, weil viele Schadensursachen eben nicht als Schadensersatzansprüche begründende Ursachen katalogisiert sind. Die soziale Sicherungspolitik steht daher vor dem Problem, daß der Bedarf an sozialen Zuwendungen nicht etwa vom Sachverhalt abhängt, sondern bei gleichem Sachverhalt völlig unterschiedlich ist, je nachdem ob die von ihr als Folge einer Schädigung vermutete Einkommenslosigkeit oder -minderung eintritt oder ob ein Schädiger in Anspruch genommen werden kann. Wenn der Schadensausgleich in das Sozialleistungssystem einbezogen ist, wenn also wie bei der Unfallversicherung, bei der Kriegsopferversorgung und beim Lastenausgleich - bestimmte Schadensursachen zum Rechtsgrund besonderer Sozialleistungen gemacht worden sind, wäre die Abstimmung an sich von der Sozialpolitik selbst zu leisten. Das ist insofern auch geschehen, als die von der Sozialleistungsapparatur erbrachten Restitutionsleistungen in der Regel relativ niedrig und außerdem mit Bedürftigkeitsklauseln versehen sind oder die verschiedenen LeistunB. Handwerker, Landwirte, Rentner, Arbeitslose. z. B. auf ambulante ärztliche Behandlung und Krankenhauspflege.

9 Z. 10

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5. Kap.: Reformvorschlag

gen bestimmten Anrechnungsvorschrifetn unterliegen. Der Unterschied zwischen mehreren, nach der Herkunft ihres Schadens errichteten Klassen von Geschädigten ist damit jedoch nicht beseitigt; er ist vielleicht sogar eher noch weniger einsichtig geworden, als er bei völliger Trennung von Restitutions- und Sicherungsleistungen wäre, weil die Regeln für die Differenzierungen der Leistungen bei gleichem Sachverhalt so vielfältig sind, daß irgendwelche Maximen, nach denen sie aufgestellt werden, kaum erkennbar sind. Schließlich kommt noch hinzu, daß nicht nur eine Sicherungsleistung und eine Restitutionsleistung bei einer Person zusammentreffen können, sondern multiple Kombinationen durchaus möglich und keineswegs selten sind. Denn die Leistungsspezifikationen nach der Herkunft eines Schadens beschränken sich nicht auf die Ursachen im eigentlichen Sinne, sondern beziehen sich z. B. auch auf die Person des Schädigers, auf den Ort, an dem sich die Schädigung ereignet, auf die Tätigkeit, die der Geschädigte gerade ausgeübt hat, oder auch auf ihren Anlaß. Der geläufigste und verbreitetste Typus solcher Anspruchskumulationen ist der Wegeunfall, bei dem regelmäßig zumindest Kranken- oder Rentenversicherung, Unfallversicherung und Kraftfahrzeugversicherung, manchmal aber auch noch weitere Instanzen, in Aktion treten. 5.1.1.2. Dieser Zustand ist jedoch keineswegs zum Anlaß genommen worden, eine gewisse Integration oder wenigstens Koordination des Schadensausgleichs mit der sozialen Sicherung zu versuchen. Es wäre an sich zu erwarten gewesen, daß die soziale Motivierung, die ja beide Seiten für die Forderung nach Ausweitung ihrer Systeme für sich in Anspruch nehmen, die Anstrengungen gerade auf jene Stellen gerichtet hätte, an denen sich die bisher sowohl von der sozialen Sicherung Ausgeschlossenen als auch vom Schadensersatzrecht Vergessenen befinden. Um solche Lücken zu schließen, hätte man neue Ansprüche jedoch als alternative zu den bestehenden konstruieren müssen. Darauf ist jedoch bei allen Expansionsbestrebungen kaum geachtet worden, so daß eher immer weitere sich kumulierende anstatt konkurrierende Rechtspositionen entstanden sind. Die Vorteile der Haftpflichtinstitute, die Esser "namentlich in der Ausfüllung der Lücken" sieht, "welche der Versicherungsgedanke seiner Natur entsprechend offen läßt - sowohl hinsichtlich des erfaßbaren Personenkreises, als auch hinsichtlich der Schadensträger"l1, sind also nicht wahrgenommen worden. Selbstverständlich konnten die überschneidungen von Restitutionsund Sicherungsleistungen nicht übersehen und auch nicht völlig ignoriert werden. Immer wieder wird auf das Problem hingewiesen, daß im Schadensersatzrecht jene Fälle "heute fast die Regel bilden", in denen 11

Esser, Gefährdungshaftung, S. 127.

5.1. Die soziale Ignoranz des Schadensrechts

151

"der Schaden des unmittelbar Verletzten durch einen Dritten, sei es durch die Sozialversicherung, den Arbeitgeber oder sonst eine andere Institution - mindestens bis zu einem gewissen Grade - aufgefangen wird"12, und daß daher "jede Gesellschaftsform, die den Ausgleich des Schadens zur Angelegenheit eben dieser Gesellschaft macht, ... vor der Aushöhlung des Ausgleichsprinzips im Schadensersatzrecht" steht19 . Aus dieser Erkenntnis wird aber nicht die Folgerung gezogen, daß eine neue Konzeption für die Zuordnung der verschiedenen, zum Ausgleich eines Schadens gedachten Leistungen entworfen werden müsse, sondern man versucht, "eine im Wandel der Gesamtrechtsordnung gestörte Grundstruktur und Harmonie des Schadensersatzrechts auf dem ursprünglichen Stand interpretativ zu erhalten"14. Ganz selten taucht einmal ein Vorschlag auf, wie das Problem grundsätzlich gelöst werden könne, etwa in v. Hippels Modell für eine allgemeine Verkehrsunfallversicherung, durch die alle Sozialleistungen ausgeschlossen werden sollen15. Bei weitem überwiegend bleibt eine Betrachtungsweise, bei der das Sicherungsrecht lediglich als Störfaktor des Schadensersatzrechts gewertet wird - und umgekehrt -, nicht aber beide als Komponenten einer möglichst widerspruchsfreien Gesamtordnung. Das bedeutet konkret, daß fast alle Erörterungen, auch wenn sie so umfassend und grundsätzlich angelegt sind wie Selbs Untersuchung über "Individualschaden und soziale Sicherung", sich letzten Endes immer wieder auf die Regreßfragen zurückziehen. Auch wo Versicherungslösungen diskutiert werden, schlägt die Fixierung auf rein individualistische Schadenszurechnungen so stark durch, daß die Argumentation schließlich doch wieder am Regreß hängenbleibt. So hat Esser im Vorwort zur Neuauflage seiner "Gefährdungshaftung" die umfassende Versicherungslösung mit dem Argument verworfen, daß "bei einem Kollektivdeckungssystem die Justizkontrolle der zivilrechtlichen Verantwortung nur verschoben wird: nämlich auf die Regreßfragen, die ein solches System aufwirft"18. Auf diese Weise wird aber letztlich nur bewirkt, "daß man an einer ersichtlich nicht auf die Idee des Sozialstaats zugeschnittenen alten Schadenstheorie festhält"17, anstatt den Gedanken weiter zu verfolgen, daß "die ursprünglich rein persönlich aufgefaßte Haftpflichtidee die ihr heute zugemutete Aufgabe des Massenschutzes für sich allein nicht erfüllen kann und daß ... der kollektive Schutz der 12

13 14

15

LaTenz in Karlsruher Forum 1964, S. 35. Selb, Individualschaden, S. 3. SeZb, Individualschaden, S. 5. Vgl. dazu 'V. HippeZ, Schadensausgleich, S. 91. Auf diesen Vorschlag wird

noch kritisch einzugehen sein; vgl. Abschnitt 5.3.2.1. 10 EsseT, Gefährdungshaftung, S. X. Zu einem ähnlichen Resultat führen die Überlegungen von Simitis zur Haftung für Entwicklungsgefahren (vgl. Haftung des Produzenten, S. 72). 17 SeZb, Individualschaden, S. 19.

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5. Kap.: Reformvorschlag

Gleichgefährdeten, die Versicherung, vielfach der Haftpflichtidee überlegen ist"18. Daher ist bisher die Frage, ob nicht jeder Regreß oder zumindest eine Häufung von Regressen19 im Grunde bereits eine Dysfunktionalität der Gesamtordnung des Schadensausgleichs belegt, überhaupt noch nicht gestellt, geschweige denn geprüft und beantwortet worden. 5.1.1.3. Bei diesem Status der Rechtsordnung und des Rechtsdenkens bleibt für die Sozialpolitik unter dem Postulat eines - sowohl für den einzelnen Betroffenen als auch im Vergleich der Fälle - angemessenen Ausgleichs für Personenschäden des Problem der Koordinierung von Sicherungs- und Restitutionsansprüchen zunächst ungelöst. Dabei geht es keineswegs nur um die Differenzierungen, die das gegenwärtige Rechtssystem durch die Kumulierung zweier oder mehrerer, durch den gleichen Schaden ausgelöster Ansprüche produziert, wenn auch gerade dieses Problem durch die Häufung derartiger Fälle eine besondere Aktualität und Dringlichkeit erlangt. Darüber hinaus wären auch die Abstufungen der verschiedenen Einzelleistungen - die als Schadensersatz im strengen Rechtssinne in der Regel höher, als bloße Entschädigung dagegen oft niedriger sind als die bei gleichem Sachverhalt gewährten Sicherungsleistungen - von der Lage der Betroffenen her grundsätzlich in Frage zu stellen. Vor allem aber wäre zu prüfen, wie man unter dem sozialen Aspekt der Gleichbehandlung gleicher Schicksalslagen jenen gerecht werden kann, die bisher von allen Ansprüchen ausgeschlossen sind, insbesondere also den Hausfrauen und Kindern, die - weil nicht erwerbstätig - weder vom Sicherungssystem erfaßt sind noch einen juristisch anerkannten, d. h. einen monetär-merkantilen Schaden nachweisen können und deshalb selbst dann mehr oder weniger leer ausgehen, wenn es ihnen gelingt, einen haftpflichtigen Schädiger zu finden und zu überführen20 • 5.1.2. Die Einseitigkeit der Ableitung von Ausgleichsansprüchen aus personalen Zurechnungskriterien

5.1.2.1. Das Restitutionssystem entbehrt bis heute nicht nur eines funktional und inhaltlich komplementären Verhältnisses zum Sicherungssystem, sondern es hat auch in sich keine sozialen Vorstellungen und Maßstäbe entwickelt oder aufkommen lassen. Je mehr es einerseits seine permanente Expansion sozial motiviert, andererseits sich als ein vom Sicherungssystem abgesondertes, als ein zwar nicht isoliertes, aber

Esser, Gefährdungshaftung, S. 125. die zur Zeit durch die Schadenteilungsabkommen weitgehend verdeckt wird. 20 Vgl. dazu Abschnitt 3.5.2.1. 18

10

5.1. Die soziale Ignoranz des Schadensrechts

153

doch unabhängiges, zwar nicht allein mit der Aufgabe des Schadensausgleichs betrautes, aber doch die Voraussetzungen und das Niveau der Ausgleichsleistungen autonom normierendes Institut versteht, desto mehr wäre zu erwarten gewesen, daß es von der Situation der Geschädigten her gedacht und argumentiert und die sich daraus ergebenden sozialen Desiderata gegebenenfalls von der Situation der Ersatzpflichtigen her modifiziert hätte. Gerade einem solchen als unjuristisch empfundenen Ansinnen nach sozialer Ausrichtung hat es sich jedoch bis heute verschlossen, obwohl - oder vielleicht gerade weil - ihm ein moralistischer Denkstil nicht unbedingt fremd ist. Die Schadenstheorie hat vielmehr beharrlich an der dogmatischen Grundposition festgehalten, daß es "jeweils besonderer Zurechnungskriterien bedarf, um den eigenen Schaden auf einen anderen abwälzen zu können"21, und daß stets "irgendein die Verantwortung begründendes Merkmal die Schadenszurechnung tragen" muß22. Verantwortlich für die "nachteiligen Folgen einer Einwirkung" kann aber nur derjenige gemacht werden, "der auf ihre Entstehungsbedingungen Einfluß hatte"2s. Daher muß jede Haftung "an der Voraussehbarkeit des Schadens ihre Grenze finden", denn "wo es an der Voraussehbarkeit fehlt, ist auch die Schadenszurechnung nicht mehr gerechtfertigt"24. Während sonst in unserem Rechtssystem "die berechtigende Seite, nicht - was gleichfalls denkbar wäre - die verpflichtende, im Vordergrund" steht25, ist hier die Betrachtungsweise umgekehrt. Es wird nicht gefragt, ob sich ein Ausgleichsanspruch des Geschädigten rechtfertigen läßt, sondern nur, ob ein Schädiger zu finden ist, dem nach den jeweils gerade geltenden Rechtsanschauungen eine Zahlungsverpflichtung auferlegt werden kann. Entscheidend dafür, ob der Geschädigte etwas erhält oder nicht, sind also "Zuordnungsgesichtspunkte, die sorgsam nach dem Schadenshergang differenzieren und damit zu erkennen geben, daß die Schadensersatzpflicht stets einer besonderen Rechtfertigung bedarf"26. Wessen Schaden eine falsche, d. h. eine rechtlich noch nicht als Zurechnungskriterium anerkannte Ursache hat, der muß mit seinem Unglück allein fertig werden, ohne Rücksicht darauf, was er verloren hat und was ihm geblieben ist. Bei einer solchen Beweisführung werden also die Rechtsfolgen eines schadenstiftenden Vorganges einseitig nur aus der Schädigerposition abgeleitet; der Position der Geschädigten werden keinerlei Argumente 21 22 23

24

25

2'

Esser, Schuldrecht I, S. 50. Esser, Schuldrecht I, S. 71. Esser, Schuldrecht I, S. 266. Simitis, Haftung des Produzenten, S. 70. Esser, Rechtswissenschaft, S. 747. Simitis, Haftung des Produzenten, S. 73.

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5. Kap.: Reformvorschlag

entnommen, die das Resultat beeinflussen. Das wird in typischer Weise an den Deduktionen evident, die Simitis dem Nürnberger Juristentag zum Problem der Haftung bei Entwicklungsgefahren vorgelegt hat. Schäden, die durch neu entwickelte Produkte hervorgerufen werden, seien zwar "nicht gerade häufig"27, wenn auch "zumindest im Bereich der pharmazeutischen Industrie nicht ungewöhnlich"28; aber sie seien "nahezu immer besonders schwer"!9. Deshalb "scheint eine Gefährdungshaftung in keinem anderen Fall so gerechtfertigt zu sein wie bei den Entwicklungsgefahren. Gerade hier kann es, wie vor allem die Beispiele aus der pharmazeutischen Industrie zeigen, zu den spektakulärsten und nachhaltigsten Schäden kommen"3o. Aber vom Produzenten her sehe sich die Sache ganz anders an. Für ihn unterscheiden sich die Entwicklungsgefahren - da sie, ex definitione, "im Zeitpunkt der Produktion nach dem Stand von Wissenschaft und Technik nicht erkennbar waren"81 - von allen anderen "durch die Unmöglichkeit, die Gefahr zu erkennen"82; er müsse "allenfalls deshalb mit ihnen rechnen, weil die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung ... durch spätere Untersuchungen, wenn nicht widerlegt, so doch korrigiert zu werden" pflegten38 , Für unverschuldete Fabrikationsfehler lasse sich eine Gefährdungshaftung rechtfertigen: "Sie trägt nicht nur der Situation des Geschädigten Rechnung, sondern berücksichtigt ebensosehr die Interessen des Produzenten, weil es um voraussehbare und damit kalkulierbare Schäden geht34 ." Dagegen sei "die Situation des Produzenten bei den Entwicklungsgefahren weitaus komplizierter"35. Denn hier handele es sich nicht mehr "um ein begrenztes und überschaubares Risiko"36, das kalkuliert und daher als Verlustgefahr eliminiert werden kann. "Der Produzent hat infolgedessen Entwicklungsgefahren nicht zu verantworten. Solange er den jeweiligen Stand von Wissenschaft und Technik strikt beachtet, kommt eine Gefährdungs- ebensowenig wie eine Verschuldenshaftung in Frage37 ," Daß es für den Geschädigten keinen Unterschied macht, ob er durch eine bis dahin noch unbekannte Gefahr eines neu entwickelten oder durch einen bereits mehrfach aufgetretenen Fehler eines schon länger hergestellten Produkts zu Schaden kommt, daß er im einen wie im anderen Fall dem gefahrbringenden Simitis, Haftung des Produzenten, S. 69. Simitis, Haftung des Produzenten, S. 15. t9 Simitis, Haftung des Produzenten, S. 81. 30 Simitis, Haftung des Produzenten, S. 69. 31 Simitis, Haftung des Produzenten, S. 14. 3Z Simitis, Haftung des Produzenten, S. 15. 33 Simitis, Haftung des Produzenten, S. 66. Insofern sind sie auch voraussehbar; darauf wird später (Abschnitt 7.2.3.1.) noch zurückzukommen sein. 34 Simitis, Haftung des Produzenten, S. 67. 85 Simitis, Haftung des Produzenten, S. 69. 38 Simitis, Haftung des Produzenten, S. 67. 17 Simitis, Haftung des Produzenten, S. 70. !7

t8

5.1. Die soziale Ignoranz de5 Schadensrechts

155

Produkt wehrlos gegenübersteht38, spielt dabei keine Rolle. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als seinen Schaden selbst zu tragen. Das sei, auch wenn es soziale Härten mit sich bringt, das "mit den Grundsätzen des Schadensersatzrechts allein vereinbare Ergebnis"39. Iherings viel zitiertes Wort: "Nicht der Schaden verpflichtet zum Schadensersatz, sondern die Schuld"40, ist also durch die expansive Entwicklung des Schadensrechts keineswegs außer Kraft gesetzt worden. Rechtsordnung und Rechtsdenken sind auch heute noch weit davon entfernt, den Schaden selbst als Anlaß eines Schadensausgleichs zu akzeptieren. Der Hauptsatz von Iherings Formel gilt also in vollem Umfang weiter; nur der Nachsatz ist relativiert, ist länger geworden. Es ist nicht mehr einzig und allein die Schuld, die zum Schadensersatz verpflichtet, sondern jede Schadensverursachung, die durch Gesetz oder Rechtsprechung als Zurechnungskriterium kategorisiert und katalogisiert worden ist. Das Verschuldensprinzip ist durch ein Verursachungsprinzip ergänzt worden, das allerdings nur enumerativ einzelne Ursachen herausgreift, weil sie besonders gefährlich, d. h. besonders zahlreich oder besonders auffällig, oder weil sie leicht zu greifen, zu beschreiben und zu typisieren sind. Unter der Alleinherrschaft des Deliktsdogmas galt für die Schadensverteilung die Regel: "Schaden, der durch Unrecht entstand, fällt auf den Schädiger zurück, Schaden, der durch Unglück oder Unheil entstand, bleibt Sache und Schicksal des Betroffenen"'1; der Unglücksschaden war in dieser Konzeption "gleichsam etwas Außerjuristisches"42. Heute gibt es keinen so einfachen Merksatz mehr; aber die Auf teilung der Schäden in solche, die juristisch relevant, und andere, die juristisch ein nihil sind, ist erhalten geblieben, und es wird auch weiterhin ausschließlich von dem Verhalten des Schädigers her entschieden, in welche dieser beiden Kategorien ein konkreter Schadensfall einzuordnen ist. Der Schaden bleibt dagegen nach wie vor bloßes Objekt des Verfahrens. Einen rechtserheblichen Leistungsgrund stellt er nicht dar. Ob er ausgeglichen wird oder dem Geschädigten aufgebürdet bleibt, hängt einzig und allein von seiner Entstehungsgeschichte ab. Es ist völlig eindeutig und unzweifelhaft, daß andere Lösungen so lange überhaupt nicht in Erwägung gezogen werden können, wie das Schadensrecht den rein individualistischen Formen der Schadensüberwälzung verhaftet bleibt. Solange man sich einen Schadensausgleich Vgl. Simitis, Haftung des Produzenten, S. 66 f. Simitis, Haftung des Produzenten, S. 81. 40 Rudol! v. Jhering: Das Schuldrnoment im römischen Privatrecht. Gießen 1867, S. 40. 41 ESSeT, Gefährdungshaftung, S. 2. 42 Esser, Gefährdungshaftung, S. 51. 38 3D

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5. Kap.: Reformvorschlag

nur in eindimensionalen Rechtsbeziehungen zwischen je zwei Rechtssubjekten vorzustellen vermag, muß man auf die eine Seite dieses Verhältnisses, die des Zahlers, fixiert bleiben und die andere, die des Empfängers, ignorieren. Denn man kann selbstverständlich nicht irgendeiner beliebigen Einzelperson, die an einem fremden Unglück völlig unbeteiligt ist, die es weder verschuldet noch ohne Schuld verursacht noch irgendwelche Vorteile aus den schädigenden Umständen oder dem Schaden des Verletzten gezogen hat, nur deshalb die Verpflichtung auferlegen, für den Schaden eines anderen aufzukommen, weil man es als notwendig, angemessen oder gerecht ansieht, das Opfer wenigstens materiell zu entschädigen. Daher kann der Schaden als solcher niemals durch eine auch noch so perpetuelle Vermehrung der Entschädigungsversprechungen, die das Recht macht, zu einem leistungsbegrundenden Tatbestand werden, wenn nicht irgendwann das Axiom aufgegeben wird, daß mit dem Urteil über die Zahlungspflicht eines bestimmten Schädigers bereits darüber entschieden sei, ob der Geschädigte etwas bekommen kann oder nicht. Erst wenn wir eingesehen haben werden, "daß wir das lineare zugunsten des sozialen Denkens im Schadensersatzrecht aufgeben müssen"43, wenn wir die Schadensverteilung nicht mehr in die isolierten Dualverhältnisse zwischen Schädigern und Geschädigten verbannen, sondern einem Solidarverhältnis anvertrauen, das sowohl die potentiellen Schadenstifter als auch die von Gefahren Bedrohten vereinigt, wird das Postulat, daß eine soziale Schadensordnung von der Entlastung der Geschädigten und nicht von der Belastung der Schädiger her zu rechtfertigen sei, den Charakter einer Aporie verlieren können. 5.1.2.2. Solange jedoch, wie bisher, nur die Alternative zugelassen wird, daß entweder einer alles oder keiner irgendetwas bezahlt, bleibt der Geschädigte darauf angewiesen, daß er seinen höchstpersönlichen Schädiger identifizieren und überführen kann. Das schließt Beweiserfordernisse ein, denen der Geschädigte in der Regel um so weniger genügen kann, je schwerer sein Schaden ist. Ein leicht Verletzter kann vielleicht den Aufwand an Zeit und Laufereien, Ärger und Aufregung, ohne den Ersatzanspruche vielfach nicht durchzusetzen sind, noch auf sich nehmen, ein schwer Verletzter wird dagegen oft durch seine Beschädigung physisch daran gehindert sein oder nicht die Energie aufzubringen vermögen, seine Interessen mit der nötigen Intensität, Beharrlichkeit und Raffinesse zu verfolgen. Die Realisierungschancen von Ausgleichsanspruchen sind daher tendenziell umgekehrt proportional zu ihrer Dringlichkeit, eine Tendenz, die von der Gegenseite offensichtlich stark gefördert wird, da jeder Haftpflichtige und jede Versicherung 43

Selb, Individualschaden, S. 8.

5.1. Die soziale Ignoranz des Schadensrechts

157

kleine Schäden relativ großzügig zu regulieren bereit ist, sich bei großen Schäden jedoch um so hartnäckiger zur Wehr setzt. So wird es bei der heutigen Theorie des Schadensrechts immer Geschädigte geben, die ihrem Schicksal entschädigungslos überlassen bleiben. Sichtet man kurz die Reihe der Nachweise, die erbracht sein müssen, ehe man einen Schadensersatz in Empfang nehmen kann, so scheidet zunächst die - wahrscheinlich größte - Gruppe derjenigen Geschädigten aus, die keinen Schädiger namhaft machen können. Das kann drei Gründe haben: 1. Es gibt keinen Schädiger, wie bei den schicksalhaften Leiden und Unfällen. 2. Der Schädiger ist nicht aufzufinden; er wäre an sich haftbar zu machen, aber er ist unbekannt - wie bei Fahrerflucht - oder untergetaucht. 3. Es gibt zu viele Schädiger, so daß keiner haftbar gemacht werden kann, wie bei den ökologischen Gefahren und bei allen Formen kollektiver Schadenstiftung44. Hat man einen rechtlich akzeptablen Schädiger gefunden, so beginnt erst die Beweiskette. In der Regel muß ihm ein Verschulden nachgewiesen werden. Wie schwierig, ja nicht selten geradezu aussichtslos das sein kann, vor allem in Anbetracht komplizierter wissenschaftlicher und technischer Zusammenhänge und der Organisationsstrukturen industrieller Gesellschaften, ist - in letzter Zeit insbesondere auf dem Juristentag 1968 in Zusammenhang mit der Produzentenhaftung46 - so eingehend diskutiert worden und auch so leicht zu imaginieren, daß es hier genügen mag, an die zunehmende Bedeutung von Sachverständigen, die in prozessualen Auseinandersetzungen ja vorwiegend zur Klärung von Kausalitäts- und Verschuldens-Zusammenhängen bemüht werden, sowie an das Beispiel des Contergan-Prozesses zu erinnern, der rund zehn Jahre nach Entstehung der Schäden eingestellt werden mußte, ohne daß ein Urteil über die Kausalität, geschweige denn über ein Verschulden für die Mißbildungen gesprochen werden konnte. Handelt es sich um einen Gefährdungstatbestand oder werden in Bezug auf das Verschulden Beweiserleichterungen zugelassen46, so "kann der Verletzte sich jeden Verschuldens-, nicht dagegen den Kausal-Beweis ersparen"47. Welche Barriere auch dadurch vor dem Schadensersatz aufgebaut wird, läßt sich ohne große Phantasie ausmalen, wenn man zum Beispiel über die Produzentenhaftung hört, daß der Geschädigte auch dann immer noch zu beweisen hat, "daß 1. die Ware fehlerhaft war, 2. zu einer Zeit, als sie die Hand des Herstellers verließ, Vgl. dazu insbesondere Abschnitt 4.2.2.1. Vgl. dazu Simitis, Haftung des Produzenten, S. 92 ff., und Simon in Verhandlungen des 47. DJT, Teil M, S. 27. 48 Vgl. dazu für die Produzentenhaftung Simon in Verhandlungen des 47. DJT, Teil M, S. 118. 47 Esser, Schuldrecht I, S. 72. 44

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5. Kap.: Refonnvorschlag

3. daß der Fehler die Verletzung verursachte, und zwar 4. im Laufe einer in Betracht gezogenen Art von Gebrauch, nicht z. B. Mißbrauch, und 5. ohne vorhergegangene Entdeckung des Fehlers durch den Benutzer"48. Wenn das alles wirklich gelingen sollte, so gelingt es doch häufig nicht schnell genug. Wenn der Geschädigte erst nach vielen Monaten oder vielen Jahren einen Entschädigungsanspruch zu erstreiten vermag, so bedeutet das, daß ihm lange Zeit - und zwar meistens gerade dann, wenn es am dringlichsten wäre - jede Hilfe verweigert worden ist. Es sind leider nicht nur einige ganz gelegentliche Sonderfälle, in denen "die übersteigerten Beweislastpflichten der Geschädigten in letzter Konsequenz auf eine Rechtsversagung hinauslaufen"". Wieder ist zunächst auf das Schicksal der Contergan-Kinder aufmerksam zu machen, von dem mit Recht gesagt worden ist, daß der Zeitpunkt immer näher rückt, ja zu verstreichen droht, "an dem diesen Kindern letztmalig wirksam in materieller Form geholfen werden könnte"5o. Auch über die Lage der Hinterbliebenen, deren Unterhaltsansprüche über fünf Jahre nach dem Explosionsunglück, bei dem ihre Männer und Väter ums Leben kamen, noch nicht geklärt sind51, ist allein durch den Zeitablauf zumindest teilweise bereits negativ entschieden worden, selbst wenn ihnen irgendwann in den nächsten Jahren ein voller Schadensersatz zugebilligt werden sollteS2 • Ist das ganze Verfahren erfolgreich durchgefochten, so bleibt immer noch offen, was man bekommt. Einerseits braucht der Haftpflichtige bei Gefährdungstatbeständen nicht unbedingt für den vollen Schaden aufzukommen; bei ihnen weicht "der Grundsatz der Totalreparation ... 48 48

Fleming in Verhandlungen des 47. DJT, Teil M, S. 41. Neumann in Verhandlungen des 47. DJT, Teil M, S. 54.

60 Dietrich Zwätz: Den Contergan-Kindern helfen, bevor es zu spät ist. In: Handelsblatt Nr. 216 vom 10. 11. 1970, S. 3. 61 Vgl. dazu "Notfalls zum Bundesgerichtshof" in FAZ Nr. 135 vom 15.6. 1970, S. 21 und "Berufsrisiko" in FAZ Nr. 136 vom 16. 6.1970, S. 37. 62 An einem leichteren Personenschaden Gehirnerschütterung, Schnittwunden an beiden Händen, sechs Tage Krankenhausaufenthalt und vier Wochen Arbeitsunfähigkeit - hat Luc Jochimsen sehr anschaulich beschrieben, wie dem Verletzten nach einem Jahr und sechs Gerichtsverhandlungen zumute ist: "Immer wieder diese Geschichte, die sich wie eine Schraube durch meine Tage und Nächte drehte? Wer hält das eigentlich aus? Und mehr noch, wer kann sich das überhaupt leisten? Die Zeit, die das kostet, die Nerven? Nein. Ich kam augenblicklich zur Räson, als das Stichwort von der nächsten Instanz fiel. Am 29. November 1966 wurde der Zweidrittelvergleich gerichtlich protokolliert." Und ihre Bilanz lautet: "Bei mir zog es sich 14 Monate hin, beschäftigte Privatpersonen, Polizei, Staatsanwaltschaft, Richter, Rechtsanwälte, kostete einige 1000 Mark und wuchs sich zu einer Geschichte aus, die ich mein Leben lang nicht vergessen werde" (Schadensersatz. Niederschrift eines strafrechtlichen, privaten und zivilrechtlichen Geduldsspiels. In: ADACMotorwelt, Nr. 4/1969, S. 48 und 41).

5.1. Die soziale Ignoranz des Schadensredlts

159

einem abgestuften Ersatzsystem mit kalkulierbaren Einsatzbeträgen"53. Die Haftungshöchstsummen54, die das Prinzip der Gefährdungshaftung, daß ein nicht beherrschbares Betriebsrisiko abzudecken sei, im IntereSse der Kalkulierbarkeit durchbrechen, sind ein besonders eklatantes Beispiel dafür, daß ausschließlich von der Schädigerposition her gedacht wird, die allerdings rein abstrakt, nicht etwa im Sinne der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit verstanden wird. Von der Situation des Verletzten her gesehen ist schon die Begrenzung der Entschädigung pro Verletzten, erst recht die Repartition einer Gesamtsumme auf mehrere Verletzte nicht zu verstehen und nicht zu rechtfertigen; denn seine Lage verbessert sich ja keineswegs dadurch, daß andere das gleiche Schicksal mit ihm teilen. - Andererseits bleibt der Ersatz auch dann aus, wenn der Schädiger ihn nicht aufzubringen vermag, sei es, daß er selbst mittellos ist, wie es häufig bei Strafgefangenen der Fall ist55 , sei es, daß der Schaden so hoch ist, daß selbst ein potentes Unternehmen ihn nicht mehr auszugleichen vermag, wie zum Beispiel die Chemie Grünenthai im Contergan-Fall. Aus alledem ergibt sich, daß im System der Verweisung Geschädigter an jeweils einzelne adäquate Verursacher die Entschädigungschancen einerseits von dem - historisch zufälligen - Katalog rechtlich anerkannter Zurechnungskriterien, andererseits in vielleicht noch entscheidenderem Maße von der Beweislast abhängen. Wer was von wem bekommt, ist von vielerlei Zufälligkeiten abhängig und stellt sich oft erst nach langen Verhandlungen heraus, in denen etwa darüber zu befinden ist, ob der Unfallverletzte nicht vielleicht doch noch etwas besser hätte aufpassen können, ob ein nach dem Gefährdungsprinzip Haftender vielleicht außerdem auch noch schuldig ist, ob ein Unfall noch als Wegeunfall gilt oder schon dem privaten Bereich zuzuordnen ist. Da alle derartigen, Entscheidungsgründe liefernden Fragen Wertungen erfordern, die nur diskretionär vorgenommen werden können, ist die derzeitige Schadens ordnung schon unter dem Aspekt der Rechtssicherheit unbefriedigend. Erwartet man von ihr außerdem einen Beitrag zur sozialen Sicherheit, so muß sie sich erst recht als unzulänglich erweisen. Denn die höchst unterschiedliche Behandlung, die sie gleichartig Geschädigten zuteil werden läßt, ist so wenig sozial motiviert und erscheint so willkürlich, daß das Ergebnis der Rechtsanwendung auch von demjenigen als unbillig gewertet werden muß, dem die moralischen und Gerechtigkeitsmaximen des geltenden Rechts bei isolierter Betrachtung einzelner Rechtsverhältnisse noch einzuleuchten vermögen. Esser, Schuldrecht 11, S. 497. Vgl. dazu Abschnitt 3.5.1.2. 65 Vgl. dazu den in Abschnitt 4.3.3.1. erwähnten Plan, einen Fonds zur Entschädigung der Opfer von Verbrechen zu schaffen. 63

64

160

5. Kap.: Reformvorschlag

5.2. Prinzipien für die Konzeption einer sozialen Scbadenverteilungsordnung 5.2.1. Repartition der gesamten gesellschaftlichen Scbadenssumme

Die zahlreichen und schwerwiegenden Mängel unseres heutigen Schadensrechts legen die Frage nahe, ob es nicht an der Zeit sei, eine grundsätzlich neue Konzeption für eine Gesamtordnung der Schadensverteilung zu erarbeiten und durchzusetzen. Eine grundsätzlich neue Konzeption scheint deshalb erforderlich, weil die Mängel systembedingt sind. Sie lassen sich durch eine noch so weit getriebene Ausdehnung und Verfeinerung der geltenden Regeln nicht beseitigen, sondern nur durch neue Regeln. Solange man ausschließlich in den Kategorien der persönlichen Haftung denkt, solange die dogmatische Grundposition nicht aufgegeben wird, daß ein Entschädigungsanspruch grundsätzlich nur aus dem Zweiparteienverhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner abgeleitet werden dürfe, kann die Schadensregulierung prinzipiell nicht unter einem sozialen Aspekt vorgenommen werden. Daran ändern auch Versicherungen nichts, seien es freiwillige oder Zwangsversicherungen, private oder Sozialversicherungen, solange auch deren Einstandspflicht daran gebunden bleibt, daß ein Schaden sich einem bestimmten Schädiger rechtlich zurechnen läßt; denn diese Voraussetzung bedeutet ja nichts anderes, als daß jeder keinem bestimmten Schädiger rechtlich zurechenbare Schaden von unserer Rechtsordnung automatisch in vollem Umfang dem Geschädigten zugerechnet wird. Eine Neuordnung der Schadensverteilung müßte demgegenüber davon ausgehen, daß es in jeder Gesellschaft ein bestimmtes Schadenspotential gibt, das teils naturgegeben ist, teils von der Gesellschaft produziert wird. Selbstverständlich sollte zunächst alles versucht werden, wn dieses Potential zu verringern. Aber selbst wenn man alle präventiven Vorkehrungen in Rechnung stellt, auf die man realistischerweise hoffen kann, muß man mit einem bestimmten Gesamtvolumen von Schäden rechnen, die mehr oder weniger unvermeidlich anfallen. Schäden, die nicht vermieden werden konnten, lassen sich aber nicht mehr beseitigen. Ein Schaden, der einmal eingetreten ist, mag sich gering halten lassen - aus der Welt schaffen läßt er sich nicht mehr. Er muß unweigerlich von irgendjemandem getragen werden. Die Frage ist nur, von wem. Das und nichts anderes ist die Grundfrage, die eine gesellschaftliche Schadenverteilungsordnung zu lösen hat. Diese Frage ist bisher nie grundsätzlich, d. h. in allgemeiner und umfassender Form, gestellt worden. Man hat vielmehr bis heute an dem Axiom festgehalten, daß "in dem bereits eingetretenen natürlichen Schaden" ein "Anfang rechtlicher Ordnung" gegeben sei und daß "diese

5.2. Prinzipien einer sozialen Schadenverteilungsordnung

161

Vor-Ordnung nur noch der rechtlichen Korrektur bedürfe", falls diese vorgegebene, natürliche Zuteilung des Schadens an den Geschädigten "etwa aus ,besonderen' Gründen wieder rückgängig gemacht werden müsse"!. Dabei hat man sich nie Rechenschaft darüber gegeben, daß diese Doktrin keineswegs aus einem Naturgesetz oder einem Denkgesetz resultiert, sondern allein aus der individualistischen Gesellschaftstheorie des Liberalismus. Diesen weltanschaulichen und politischökonomischen Hintergrund hat Esser schon vor dreißig Jahren sehr präzise dargestellt. Seine überlegungen bezogen sich damals zwar auf den Gegensatz von Delikts- und Gefährdungshaftung. Seine Bemerkungen, daß "zugunsten der Bewegungsfreiheit und Unternehmungsfreudigkeit" auf jedes soziale Gerechtigkeitsideal verzichtet und daß die "andauernde Störung der rechtlichen Güterordnung durch nicht zurechenbare Handlungen ... aus dem Herrschaftsbereich des Rechts ... ausgeschieden" worden sei2 , zeigen jedoch, daß liberalistische Vorstellungen die Lösung der "Gesamtfrage, ob und wie ein ... im Gemeinschaftsleben entstandener Schaden von Rechts wegen verteilt werden solle"3, auch weiterhin blockieren, solange die Kalkulierbarkeit eines eventuellen Ersatzaufwandes für den Schädiger und die personale Zurechenbarkeit eines Schadens die entscheidenden Kriterien für die Zuerkennung von Ausgleichsansprüchen bleiben. Daher ist bis heute noch nicht die Konsequenz aus der Erkenntnis gezogen worden, daß das axiomatische Grundprinzip, das Opfer seinen Schaden selbst tragen zu lassen, "keine Ordnung des Zufallsschadens, sondern den Verzicht auf eine solche" bedeutet, daß es "nur den Ausdruck der Ohnmacht enthält, nach der Gerechtigkeit zwischen zwei gleich Unschuldigen als Schadensträgern zu wählen"'. Diese Konsequenz kann nur darin bestehen, daß grundsätzlich bei allen Schäden gefragt wird, wer ihre ökonomischen Folgen definitiv tragen soll. Die Schadensbilanz einer Gesellschaft steht in ihrer Gesamtheit zur rechtlichen Disposition. "Jede Ordnung muß die Lebensrisiken und die besonderen Daseinsrisiken, soweit sie überhaupt dem Rechte faßbar sind, verteilen. Der Möglichkeiten der Verteilung sind freilich unendlich vieles." Sie von vornherein zu begrenzen, wäre ein Verzicht auf mögliche Gerechtigkeit. Die Schadensverteilung unterliegt keinerlei Prädestination; die Gesellschaft hat prinzipiell "die freie rechtliche Wahl unter mehreren Leidensgenossen"6. Die Zuteilung der wirtschaftlichen Schadensfolgen an den Verletzten selbst als vorgege1 2

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Esser, Gefährdungshaftung, S. 69; vgl. auch Anm. 1, S. 52. Esser, Gefährdungshaftung, S. 55 und S. 52. Esser, Gefährdungshaftung, S. 53. Esser, Gefährdungshaftung, S. 73. Forsthoff, Rechtsfragen der leistenden Verwaltung, S. 36. Esser, Gefährdungshaftung, S. 70.

11 Schäfer

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5. Kap.: Reformvorschlag

bene Ordnung zu deklarieren, ist daher entweder ein Denkfehler oder ein Vorwand, um die damit de facto getroffene Entscheidung zuungunsten der Geschädigten zu verschleiern. Soll die Schadensverteilung in ihrer Gesamtheit, d. h. einschließlich der bisher nicht explizit bekannten Werturteile, durch irgendein distributives Ideal legitimiert werden, ist also auch - wenn nicht sogar in erster Linie - nach der beabsichtigten Entlastung der Geschädigten zu fragen. Das Grundproblem ist so simpel, wie es Titmuss einmal formuliert hat: "Wer erhält was und warum, und wer zahlt dafür7 ?" Der Anspruchsgrund und der Zahlungsgrund, d. h. die Berechtigung, eine Leistung zu empfangen, und die Verpflichtung, eine Leistung zu erbringen, sind also zunächst getrennt voneinander zu beurteilen und zu entscheiden. Erst wenn beides gesondert geprüft worden ist, wäre gegebenenfalls zu fragen, wie die Bilanz ausgeglichen werden kann. 5.2.2. Gleichbehandlung aller Geschädigten

5.2.2.1. Geht man von der Position des Geschädigten aus, so ergibt sich zunächst die scheinbar tautologische Feststellung, daß ein Ausgleichsanspruch nur vom eingetretenen Verlust und vom durch die Verletzung entstandenen Bedarf her gerechtfertigt und folglich auch bemessen werden kann. Diese Feststellung muß dennoch getroffen werden, weil sie in diametralem Widerspruch zur geltenden Rechtspraxis steht, die den Leistungsgrund nicht aus dem Schaden, sondern aus seiner Entstehung ableitet. Die Frage, welcher Ausgleich aus der Situation des Geschädigten heraus als notwendig, angemessen oder gerecht gelten kann, läßt jedoch die Kausalität völlig aus dem Argumentationszusammenhang verschwinden. Unterschiedliche Ursachen des gleichen Schadens führen nicht zu einem differenzierten Ausgleichsbedarf. Die Lebenslage und die Lebenschancen eines Verletzten hängen vielmehr ebenso wie die zur Behebung oder zur Milderung der Schädigungsfolgen erforderlichen Aufwendungen ausschließlich von Art und Ausmaß des entstandenen Schadens, nicht dagegen von dem Hergang oder dem Ort des schädigenden Ereignisses ab. Die Beschwerden und die Schmerzen, die Minderung der Betätigungsmöglichkeiten und der Aufwand für fremde Hilfe, die Behandlungskosten und der Verdienstausfall unterscheiden sich in keiner Weise danach, ob man sich durch ein technisches Gerät infolge eigener Unachtsamkeit verletzt oder weil es eine Fehlkonstruktion ist, die die Sicherheitsstandards vernachlässigt, ob man beim Fensterputzen, beim Sport, bei einer Einkaufsfahrt oder im Betrieb den Arm bricht, ob man durch eine Kriegsverletzung, einen Unfall oder eine Krankheit verkrüppelt ist, ob eine Dysmelie durch ein 7

Titmu88, Beziehungen, S. 64.

5.2. Prinzipien einer sozialen Schadenverteilungsordnung

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bestimmtes Pharmazeutikum, eine Infektion oder erbliche Veranlagung bedingt ist8 • Beispiele dieser Art lassen sich genügend finden. Hier sei nur nochmals auf das der Contergan-Kinder hingewiesen, bei denen ganz deutlich wird, wie zweifelhaft es einerseits ist, einen Entschädigungsanspruch vom Kausalitäts- und Verschuldensnachweis abhängig zu machen, wie ungerechtfertigt es andererseits der Gesamtheit ganz ähnlich geschädigter Kinder gegenüber erscheinen muß, einer kleinen Gruppe einen bevorrechtigten Status einzuräumen. Jedenfalls ist nirgends ein plausibler, geschweige denn ein zwingender Grund dafür zu finden, gleiche Schäden bei unterschiedlicher Verursachung völlig unterschiedlich auszugleichen. Die Anregung zu einer Reform des Schadensausgleichs für Personenschäden, die in dieser Arbeit unterbreitet wird, geht daher von dem Leitsatz aus, daß gleichartige Schäden stets nach gleichen Kriterien auszugleichen sind, wie unterschiedlich die Ursachen auch sein mögen, die sie hervorgerufen haben. Selbstverständlich haben Gesetzgebung und Rechtsprechung, Sozialpolitik und Jurisprudenz die Frage, warum dieser Leitsatz heute nicht gilt, nicht umgehen können. Das Problem, "ob es berechtigt ist, gewisse Leidenszustände wegen der Art ihrer Verursachung zu begünstigen"', wird immer wieder aufgeworfen. Zuweilen wird auch dafür plädiert, das Kausalprinzip aufzugeben und "gleiche Sachverhalte einheitlich - und nicht nach Verursachung unterschiedlich - zu behandeln" 10, wobei sich die Vorschläge dann allerdings in der Regel auf eine Koordinierung der Sozialleistungen beschränkenl l . Es überwiegen jedoch nach wie vor die Stellungnahmen, die sich für eine Beibehaltung der kausalen Leistungsunterschiede aussprechen. Die Argumente, die für diesen Standpunkt vorgebracht werden, sind jedoch zum größten Teil sehr unbefriedigend, da sie sich, wenn man sie etwas genauer auf ihre Stichhaltigkeit befragt, fast durchweg als Zirkelschluß erweisen. In der Regel versucht man nämlich, die Leistungsdifferenzierungen bei 8 Dagegen hat Kurt Brackmann, Senatspräsident beim Bundessozialgericht, bei einer Diskussion der Gesellschaft für Sozialen Fortschritt über "Aspekte der Sozialenquete" recht apodiktisch geäußert, es sei "einleuchtend, daß derjenige, der zum Beispiel einen Arm verloren hat, weil er eine betriebliche Tätigkeit verrichtet oder sich auf dem Weg zum Betrieb befunden hat, besser behandelt wird als derjenige, der zum Beispiel einen Arm auf dem Weg ins Kino verloren hat" (Finale oder kausale Betrachtungsweise bei der Leistungsgewährung?, S. 37. Vgl. auch Sozialer Fortschritt, Nr. 111967, S. 12). Irgendwelche Gründe, die das auch anderen einsichtig machen könnten, hat er jedoch nicht genannt. , Sozialenquete, Tz. 210. 10 Sozialenquete, Tz. 394. 11 Vgl. z. B. Sozialenquete, Tz. 526-529, die in dieser Beziehung sehr weitgehend ist.

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5. Kap.: Reformvorschlag

gleichen Sachverhalten damit zu legitimieren, daß das geltende Recht im einen Fall einen Zahlungspflichtigen liefert und im anderen nicht - eine Beobachtung, die mit der Bemerkung der Sozialenquete korrespondiert, daß in der "heterogenen Begriffssammlung" zur Klassifizierung der Behinderungen "zwei Drittel aller ,Ursachen' durch den Hinweis auf Leistungsquellen deklariert" werden12 . Das aber bedeutet nichts anderes, als daß das - historisch zufällige - juristische Ergebnis zum begründenden Argument gemacht wird. Ein Anspruch kann jedoch nicht damit gerechtfertigt werden, daß er sich aus dem Gesetz ableiten läßt. Der rechtlich zuerkannte Anspruch müßte vielmehr umgekehrt aus der Situation des Berechtigten zu begründen sein, unterschiedliche Ansprüche demgemäß aus unterschiedlichen Lebenssituationen. Dieser circulus vitiosus taucht vor allem immer wieder auf, wenn die Sonderstellung der Unfallversicherung gegen Vorschläge zur Koordinierung der verschiedenen Sozialleistungen verteidigt werden SOll13. "Gleiche Leistungen an alle Beschädigten ohne Rücksicht auf die Ursache des Schadens" seien, so heißt es dann regelmäßig, deshalb weder wünschenswert noch durchführbar, weil eine Angleichung der Unfallrenten an "ein Sozialleistungsniveau ohne Schadensersatzcharakter notwendigerweise den Ausschluß der zivilrechtlichen Haftung in Frage gestellt" hätte14. Das ist offensichtlich eine rein rechtspositivistische Deduktion, die eine Rechtsnorm schon und allein deshalb für sinnvoll erklärt, weil sie besteht. Daraus, daß es einen zivilrechtlichen Schadensersatzanspruch gibt und vor hundert Jahren auch gegen den Arbeitgeber gegeben hat, wird gefolgert, er könne allenfalls durch eine Leistung, die "dem sonst bestehenden Individualanspruch entspricht"15, substituiert, nie aber selbst in Frage gestellt werden. Gerade das Beispiel der Unfallversicherung legt jedoch eine umgekehrte Argumentation nahe. Es belegt nämlich völlig unzweifelhaft, daß der Schadensersatz keineswegs ein sakrosanktes Institut ist, daß vielmehr ganz andere Systeme des Schadensausgleichs möglich sind, die sowohl den Kreis der Berechtigten und der Verpflichteten grundsätzlich anders definieren als auch auf der Leistungs- und auf der Finanzierungsseite mit völlig anderen Bemessungskriterien operieren. Sozialenquete, Tz. 736. Vgl. dazu auch Abschnitt 2.3. 14 Gitter, Arbeitsunfallrecht, S. 201. Im gleichen Sinne, zum Teil sogar mit übereinstimmenden Formulierungen, argumentieren u. a. Auerbach (vgl. Zusammenhänge, S. 52), Bogs (vgl. Sozialenquete, Tz. 210), Brackmann (vgl. Finale oder kausale Betrachtungsweise bei der Leistungsgewährung?, S. 35 f.) und Hoernigk (vgl. Konzeptionen, S. 116). 15 Gitter, Arbeitsunfallrecht, S. 210. 12 13

5.2. Prinzipien einer sozialen Schadenverteilungsordnung

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Gegenüber solchen unzulänglichen Legitimierungsversuchen ist vom Standpunkt des Sozialpolitikers aus darauf zu insistieren, daß die Ungleichbehandlung gleicher Sachverhalte sich zu rechtfertigen hat, nicht die Gleichbehandlung; gesellschaftspolitisch und rechtspolitisch ist die Beweislast umzukehren. Ein Beweis, daß Privilegierungen und Diskriminierungen zulässig, wünschenswert oder gar unerläßlich seien, ist aber noch nicht dadurch erbracht, daß unterschiedliche kausale Momente gleicher Sachverhalte als ungleiche Sachverhalte ausgegeben werden; daher ist auch nicht einzusehen, daß es - wie Gitter meint "ein Verstoß gegen den rechtsstaatIichen Grundsatz, Ungleiches einander nicht gleichzusetzen, wäre"16, wenn man bei gleichen Schädigungen gleiche Rechtsfolgen eintreten ließe, "unabhängig davon, ob sie schicksalsbedingt sind, im Dienste der Allgemeinheit entstanden, von einem anderen zu vertreten oder durch eigenes Verschulden verursacht"17. Eike v. Hippel ist einer der wenigen Autoren, die von der sozialen Situation her argumentieren. Er räumt zwar ein, daß die von ihm vorgeschlagene allgemeine Verkehrsversicherung18 "ein Sonderrecht zugunsten der Opfer des Straßenverkehrs" schaffen würde, mißt diesem Einwand jedoch "kein entscheidendes Gewicht" zu. Die Bevorzugung der Verkehrsopfer sei durchaus gerechtfertigt, weil 1. die Risiken des Straßenverkehrs alle anderen Unfallrisiken überrundet hätten, 2. zahlreiche Verkehrsopfer ohne oder doch ohne ausreichenden Schutz blieben und 3. der Schadensausgleich bei Verkehrsunfällen zu einem Sozialproblem ersten Ranges geworden sept. Auch diese Beweisführung erscheint aber nicht stichhaltig genug, um das Gleichbehandlungsprinzip aufheben zu können. Wenn die erste Behauptung richtig ist, fragt sich erst recht, warum die Minderheiten der Verletzten mit minderen Rechten abgefunden werden sollen; denn dann können nicht einmal schwerwiegende finanzielle Bedenken gegen eine Gleichstellung erhoben werden. Stimmt die Behauptung aber nicht, so gilt das Argument der großen Zahl in gleicher Weise für andere Unfallverletzte. Das Argument der Schutzlücken ist sachlich überhaupt nicht auf die Verkehrsopfer beschränkt, sondern hat für alle, die nicht ausreichend entschädigt werden, die gleiche Berechtigung. Der dritte Grund schließlich kann, wenn er nicht erneut das Massenphänomen meint und dann mit dem ersten identisch ist, sich nur auf die soziale Situation der Geschädigten beziehen. Dann aber spricht er gerade dafür, diese Situation zum 18 Zur Fragwürdigkeit der These, daß der Gleichheitssatz auch ein generelles Verbot enthalte, Ungleiches gleich zu behandeln, vgl. Karlheinz Rode, Gesetzliche Pflichtversicherung und persönliche Freiheit, Sonderbeilage der "Versicherungswirtschaft" Nr. 18/1970, S. 8 f. 17 Gitter, Arbeitsunfallrecht, S. 200. 18 Vgl. dazu Abschnitt 2.4.5. IV v. Hippel, Schadensausgleich, S. 111.

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5. Kap.: Reformvorschlag

Maßstab des Schadensausgleichs zu machen, anstatt durch das Verkehrsrecht eine Gruppe bevorrechtigter Schadensersatzgläubiger zu schaffen20 • 5.2.2.2. Wirklich überzeugende, zwingende oder auch nur schwerwiegende Argumente dafür, daß von mehreren gleich Geschädigten der eine viel, der andere weniger und der dritte gar nichts bekommen soll, sind also nicht ausfindig zu machen. Bei dem hohen Rang, den Gesellschafts- und Rechtsphilosophie dem Postulat der Gleichbehandlung beimessen, bleibt daher daran festzuhalten, daß bei gleicher Schädigung prinzipiell die gleiche Entschädigung zuzuerkennen ist. Das bedeutet nichts anderes, als daß der Schaden selbst zum alleinigen Rechtsgrund und zum alleinigen Bemessungskriterium für alle Restitutionsleistungen bei Personenschäden zu machen ist. Die Frage "Wer erhält was und warum" wäre dann dahingehend zu beantworten, daß jeder Geschädigte das erhält, was seinem Schaden entspricht, und zwar allein deshalb, weil ein Schaden entstanden ist, während die bisherige Antwort heißt, daß bestimmte Gruppen von Geschädigten auch bei gleichem Schaden völlig unterschiedliche Leistungen erhalten, je nachdem, wie der Schaden entstanden ist. Dieses Resultat ist nur dadurch zu erzielen, daß ein einheitliches, umfassendes, kausal unspezifisches System von Restitutionsleistungen etabliert wird, in dem alle kausal differenzierenden Leistungen aufgehoben werden. Die Anregung zur Einführung eines solchen Systems entspringt keineswegs einer egalistischen Intransigenz, sondern leitet sich aus Vorstellungen über Verteilungsgerechtigkeit, soziale Hilfeverpflichtungen und Ansprüche auf Lebenssicherung her, die in unserer Gesellschaft als Communis opinio gelten. Allein durch Verwirklichung des Prinzips "Gleiche Leistungen bei gleichen Schäden" lassen sich nämlich die gravierendsten Unzulänglichkeiten, die dem bestehenden System der Schadensregulierung vorzuwerfen sind, beheben. Zunächst ist unmittelbar evident, daß nur bei Gleichbehandlung aller Geschädigten vermieden werden kann, bestimmte Schäden mehrfach und andere überhaupt nicht auszugleichen. Denn alle kausalen Kautelen definieren zwangsläufig bestimmte Schadenszustände aus dem Katalog der ersatzberechtigenden Sachverhalte hinaus, so daß Restgruppen entstehen, die nichts bekommen. Auf der anderen Seite lassen sich bei kausalen Ableitungen überschneidungen - sei es mehrerer Causae, sei es auch nur einzelner Causae mit Sicherungstatbeständen - schlechterdings nicht vermeiden, so daß unausweichlich Kumulationen mehrerer, durch 20 Das erkennt v. Hippet im Grunde auch an, wenn er seinem Reformplan einen Modellwert für eine allgemeine Volksunfallversicherung zuschreibt (Vgl. dazu Abschnitt 2.4.5.).

5.2. Prinzipien einer sozialen Schadenverteilungsordnung

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den gleichen Sachverhalt ausgelöster Leistungen erzeugt werden. Wird dagegen auf jede differentielle rechtliche Behandlung Geschädigter verzichtet, so ist eo ipso sowohl die Lückenlosigkeit des Ausgleichssystems garantiert als auch die Mehrfachliquidation des gleichen Schadens ausgeschlossen. Die Vereinfachung würde - und das wäre die zweite entscheidende Verbesserung - zugleich auch die Schadensabwicklung betreffen. Denn die Gleichbehandlungsmaxime würde ja "alle die Abgrenzungsschwierigkeiten und Diskriminierungen beseitigen, die jede Sonderregelung bestimmter Fälle mit sich bringt"2!, und damit alle jene Beweiserfordernisse hinfällig werden lassen, die das V erfahren bisher oft so zermürbend und viel zu langwierig gemacht haben. Wenn Art und Ausmaß des Schadens geklärt sind, könnten sofort die Leistungen einsetzen, die dem Geschädigten - und zwar endgültig - zustehen. Die Ersatzansprüche würden übersichtlich, voraussehbar und in angemessenen Fristen durchsetzbar, die Schadensordnung gewönne erstmals ein Element der Berechenbarkeit und Verläßlichkeit für alle von Schädigungen Bedrohten. Erst dadurch wäre dann auch ein Stück soziale Sicherheit hergestellt und die Rechtssicherheit wiederhergestellt. 5.2.3. Einstandspflicht für alle Risiken

Der Verzicht auf jede Art von kausal differenzierenden Leistungen ist keineswegs gleichbedeutend mit dem Verzicht auf eine kausal differenzierende Aufbringung der Mittel. Wenn die Berechtigung, eine Leistung zu empfangen, und die Verpflichtung, eine Leistung zu erbringen, getrennt abgeleitet und auf ihre Legitimität geprüft werden, ergibt sich eher das Gegenteil: So wenig die Causa einer Schädigung irgendeinen plausiblen Grund für Leistungsdifferenzierungen bei gleichen Schäden liefert, so entschieden stellt sie auf der andern Seite einen sehr gewichtigen Grund für Belastungsdifferenzierungen dar. Insoweit ist die bisherige Maxime, der Schädiger solle die Lasten, die er verursacht hat, nicht auf andere, auch nicht auf die Allgemeinheit, abwälzen dürfen22 , vollauf berechtigt, und es besteht daher auch kein Anlaß, sie fallen zu lassen. Es fragt sich vielmehr, ob man diesen Grundsatz nicht wesentlich konsequenter anwenden und damit die Schadensordnung auch für die Schädiger gerechter ausgestalten sollte. Dazu müßte genauer als bisher analysiert und darauf abgestellt werden, wer für welche Lasten ver21 22

v. Hippel, Schadensausgleich, S. 115. Vgl. dazu etwa Selb, Individualschaden, S. 7, und Wieacker in Karls-

ruher Forum 1964, S. 37.

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5. Kap.: Reformvorschlag

antwortlich zu machen ist. Zur Zeit hängt nicht nur das, was ein Verletzter bekommt, vom Zufall ab, sondern ebenso auch das, was ein anderer als Verursacher aufbringen muß. Für beide Seiten des Ausgleichsverhältnisses, die ja direkt und isoliert miteinander verknüpft sind, gilt immer noch die Formel, mit der Esser die Auswirkungen der Verschuldensdoktrin des Vernunftrechts und des Liberalismus gekennzeichnet hat: "Wen es trifft, den trifft es 23 ." Solches Walten des Zufalls hat für diejenigen, die die Integrität anderer Personen gefährden, einen doppelten Aspekt. Einmal müssen sie nur dann für Gefahren, die sie verursacht haben, einstehen, wenn die jeweilige Gefahr oder der Modus ihrer Entstehung unter eine der - historisch zufälligen Haftungskategorien des geltenden Rechts fällt. Bestimmte Gefahren nämlich die als sogenannte Gefährdungstatbestände enumerierten gelten stets als Haftungsgrund, andere nur dann, wenn sie vorsätzlich oder fahrlässig herbeigeführt worden sind, und eine dritte Gruppe von der in den Abschnitten "Haftung für erlaubte Schädigungen" und "Ökologische Gefahren" schon die Rede war24 - scheidet in jedem Falle als Grundlage eines Entschädigungsanspruchs aus, auch wenn es sich um besonders gravierende, sehr weit verbreitete oder schuldhaft geschaffene Gefährdungen handelt. Zum anderen brauchen die Gefahrenstifter auch dann, wenn ihr Verhalten einen Haftungsgrund liefert, nur für den jeweils im Einzelfall entstandenen Schaden aufzukommen. Mag die Gefahr oder das Verschulden auch noch so groß sein - dafür haften sie nicht, wenn sie das Glück hatten, zufällig keinen Schaden anzurichten. Umgekehrt hilft es ihnen gar nichts, wenn ihr Verhalten an sich völlig ungefährlich oder schuldlos war; entsteht trotzdem durch irgendwelche unglücklichen Zufälle ein Schaden, so müssen sie dafür einstehen, mag er auch noch so exorbitante Höhen erreichen25 • Es ist also zumindest eine ungenaue Ausdrucksweise, wenn überall davon die Rede ist, es müsse für Verschulden und für Gefährdung gehaftet werden. Beide lösen keineswegs immer, nicht einmal in der Regel eine Haftung aus. Man kommt der Sache vielmehr erheblich näher, wenn man von einer Haftung für Zufälle spricht. Doch ist auch dieser Terminus nicht präzise genug, zumal er gelegentlich als Synonym für Gefährdungshaftung benutzt wird. Will man exakt beschreiben, was sich wirklich vollzieht, so muß man umständlicher formulieren: Eine Haftung wird grundsätzlich nur ausgelöst durch die zufällige Realisierung solcher Gefahren, die entweder von unserer Rechtsordnung zur Zeit als "besondere Gefahren" registriert oder durch ein VerEsser, Gefährdungshaftung, S. 51. Vgl. die Abschnitte 3.3.4. und 4.2.2.1. 25 Vgl. dazu das in Abschnitt 4.2.1. kurz dargestellte "Alles-oder-NichtsPrinzip". 23

U

5.2. Prinzipien einer sozialen Schadenverteilungsordnung

169

halten heraufbeschworen sind, das von unserer Rechtsordnung zur Zeit als schuldhaft gewertet wird. Dagegen braucht für alle Gefahren, die sich zufällig nicht realisieren, ebensowenig gehaftet zu werden wie für solche realisierten Gefahren, die keines der als Zurechnungskriterien anerkannten Qualifikationsmerkmale aufweisen. Gegenüber einem solchen Verfahren, das die eff·ektiven Belastungen durch Schädigungen nach einer Reihe von Zufälligkeiten verteilt, muß der kritische Einwand erlaubt sein, daß jemand nur für das verantwortlich gemacht werden kann, was er tut oder was er zu tun unterläßt. Daher ist es sinnvoll, jemanden dafür verantwortlich zu machen, daß er eine Gefahr geschaffen hat; aber es ist absurd, ihn für das Glück zu belohnen, dadurch keinen Schaden angerichtet zu haben, oder ihn für das Pech zu bestrafen, durch ein an sich harmloses Verhalten die schwersten Folgen ausgelöst zu haben. Eine rationale Antwort auf die Frage, wer zur Deckung von Schäden herangezogen werden soll, muß deshalb von der Einsicht ausgehen, "daß man bei der Verteilung des Zufallschadens mit der Fragestellung nicht erst nach eingetretenem Schaden beginnen, sondern von vornherein fragen soll, wer das Risiko für den etwaigen Zufall trägt. Von hier aus sieht man dann, daß die gesetzgeberische Aufgabe in der sachgerechten Zuteilung der Wagnisse liegt"26. Das heißt nichts anderes, als daß für die Gefahr als solche, nicht erst für ihre zufällige Realisierung gehaftet werden müßte. Ob dem einzelnen ein Vorwurf gemacht wird, eine bestimmte Gefahr vorsätzlich oder fahrlässig herbeigeführt zu haben, oder ob ihm ausdrücklich oder stillschweigend gestattet wird, eine mehr oder weniger gefahrenträchtige Betätigung mit einer Art dolus eventualis auszuüben 27, wäre dabei erst in zweiter Linie von Belang. Denn er würde stets dafür und nur dafür verantwortlich gemacht, daß er eine Gefahr geschaffen hat, weil nur das seinem Willen und seinem Einfluß unterliegt. Die Gefährdung anderer Menschen würde damit zum gemeinsamen und im Prinzip einzigen Zurechnungskriterium. Die bisherigen, kategorial streng geschiedenen, ja antinomischen Zurechnungskriterien des Verschuldens und der erlaubten Gefährdung28 müßten allerdings als Bemessungskriterien wiederkehren. Soweit sich für bestimmte Tätigkeitsbereiche Schadenswahrscheinlichkeiten statistisch ermitteln lassen, wären alle potentiellen Schädiger nach Maßgabe des ihnen zuzurechnenden Risikoanteils zu belasten. Wo dagegen durch eine einzelne Tat eine nicht zu typisierende und nicht auf statistische Mittelwerte zu reduzierende Gefahr gesetzt wird, müßte der Täter nach Maßgabe seines Verschuldens belangt werden. 28 27

28

Esser, Gefährdungshaftung, S. 72. Vgl. dazu Esser, Gefährdungshaftung, S. 94-96. Vgl. dazu insbesondere Esser, Zweispurigkeit.

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5. Kap.: Refonnvorschlag

Nur wenn solche Grundsätze in die Rechtskonstruktionen Eingang finden, könnte jene Verteilung der Deckungspflichten und damit der Schadenslasten realisiert werden, die in fast allen Darstellungen der Gefährdungshaftung als bereits bestehend ausgegeben wird. Bisher wird ja nicht, wie es in den Definitionen der Gefährdungshaftung heißt, für ein legalisiertes Betriebsrisiko29 , für "die von der bloßen Inbetriebnahme einer Einrichtung ausgehende Gefährdung"30 gehaftet, sondern für die zufälligen Folgen der zufälligen Verwirklichung bestimmter Gefahren. Erst wenn jeder potentielle Schädiger seinem Anteil am gesamtgesellschaftlichen Schadenspotential entsprechend zur Finanzierung eines sozialen Schadenverteilungssystems beitragen muß, wäre eine "objektive Verantwortung für bestimmte Gefahrenbereiche"31 konstituiert und eine "wirtschaftlich und sozial gerechte Risikoverteilung"32 gewährleistet. 5.2.4. Solidarität und individuelle Verantwortung

5.2.4.1. Diesen Prinzipien, die sich in der Kurzformel "Gleichbehandlung aller Gefährder und aller Gefährdeten" zusammenfassen lassen, vermag nur ein umfassendes System solidarischer Haftung und Hilfe gerecht zu werden, das als soziale Versicherung oder zumindest versicherungsähnlich konstruiert ist. Beide Seiten dieses Ausgleichssystems, d. h. diejenigen, die Gefahren stiften, und diejenigen, die ihnen ausgesetzt sind, müßten untereinander Solidarität üben. Für den Part der Gefährdeten bedeutet das, daß sie sozusagen 1. alle bisher bestehenden Ersatzansprüche, 2. alle Ansprüche, die für bisher ungedeckte Gefahren einzuräumen wären, und 3. Prämienzahlungen zur Deckung der schicksalhaften (d. h. in diesem Fall der schlechterdings nicht aus menschlichem Verhalten erklärbaren) und der selbstverursachten Schäden als Ausgleichsrnasse einbringen. Die bisher durch Ersatzansprüche Begünstigten müßten dabei insbesondere auf ihnen zur Zeit zustehende Mehrfachleistungen, eventuell auch auf den vollen zivilrechtlichen Schadensersatz, etwa auf Schmerzensgelder, zugunsten ihrer bisher nicht bedachten Leidensgenossen verzichten. Statt dessen würden allen von Unfällen, Behinderungen oder sonstigen Schädigungen Bedrohten die gleichen rechtlichen Restitutionsversprechen gegeben. Es ist offensichtlich, daß eine solche Zusage an jedermann, eventuelle Verluste und Einbußen nach einheitlichen Kriterien zu kompensieren, nur eine Institution machen kann, die grundsätzlich die gesamte Bevölkerung einbezieht. 28

so SI 3!

Vgl. Esser, Gefährdungshaftung, S. VI. Creifelds, Rechtswörterbuch, S. 404. Larenz, Schuldrecht 11, S. 400. Esser, Gefährdungshaftung, S. VI.

5.2. Prinzipien einer sozialen Schadenverteilungsordnung

171

Derartige Vorschläge zu umfassenderen Lösungen der Schadensausgleichsproblematik werden oft mit dem Einwand bekämpft, daß so der Gedanke, der einzelne müsse für sein Verhalten verantwortlich sein, ausgehöhlt, wenn nicht ganz aufgegeben werde. "Wir können heute", ist auf dem Juristentag 1968 gesagt worden, "auf vielen Gebieten einen Trend zur zwangsweisen Vergemeinschaftung von Lebensrisiken beobachten, die in zunehmendem Maße dem Einzelnen nicht nur Risiken, sondern auch Verantwortung abnimmt. Es ist m. E. ein sehr ernstes gesellschafts- und rechtspolitisches Anliegen, diese Entwicklung nicht ohne zwingenden sozialen Anlaß zu fördern. Auf dem Gebiet der Produzentenhaftung vermag ich nicht nur keinen solchen Anlaß zu erkennen, sondern scheinen mir die Gefahren einer solchen Entwicklung besonders gravierend zu sein"33. Was an der gleichen Behandlung aller Geschädigten als so gefährlich angesehen wird, dürfte meistens dem entsprechen, was in Essers folgendem Verdikt zum Ausdruck kommt: "Eine solche summarische Liquidierung von Einzelanspruch und -risiko bedeutet nur einen weiteren Schritt von der Verantwortung zur Versorgung, vom Gewissen zur Kollektivordnung, vom Rechtsstandpunkt zur demütigen Sekurität im weiter bürokratisierten Sozialverband34 ." Solcher wortgewaltigen Philippika, die den unterschiedlichen emotionalen Gehalt verschiedener Vokabeln als sachlichen Gegensatz ausgibt und ihren Reizwert zum Argument stilisiert, wäre zunächst entgegenzuhalten, was dazu im Hinblick auf die Produktschäden auf dem Nürnberger Juristentag gesagt worden ist: "Was soll die Klage darüber, daß dem Einzelnen die Verantwortung abgenommen werde und die Risiken zwangsweise vergemeinschaftet werden, was soll diese Klage in einer hochindustrialisierten, hochtechnisierten, hocharbeitsteiligen und äußerst komplexen Welt, in der wir Maschinen, Produktionsweisen, Verfahrensweisen usw. gebrauchen und gebrauchen müssen, die bei geringstem menschlichem Versagen und sogar ohne schuldhaftes Versagen bei bloßem Fehlen menschlicher Antizipationsmöglichkeit, bei bloßem Fehlen von Phantasie über mögliche Kontroll- und Prüfungsmöglichkeiten, Millionenschäden verursachen? Wie soll da der einzelne in individueller Verantwortung Vorsorge treffen? Wie soll ich mich beispielsweise in eigener Verantwortung vor Medikamenten wie Contergan schützen? Soll ich nach jeder Zeugung vorsorglich eine Versicherung abschließen? Wie soll ich mich in eigener Verantwortung davor sichern, daß das Auto, das ich von einer alten und renommierten Firma erwerbe, einen gefährlichen Fehler an der Lenkung aufweist? Wie soll ich mich in eigener Verantwortung davor schützen, daß das neue Farbfernseh33 'V.

Hahn in Verhandlungen des 47. DJT, Teil M, S. 51.

Esser, Zweispurigkeit, S. 130. Vgl. dazu auch Esser, Gefährdungshaftung, S. IX. 34

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5. Kap.: Reformvorschlag

gerät, das ich erwerbe, radioaktive Strahlen von bedrohlicher Intensität aussendet? Ist hier eigenverantwortliche Vorsorge tatsächlich möglich? ... Mir scheint, die vielgepriesene eigene Verantwortung ist hier wie auf manchen anderen Gebieten ... nichts weiter als eine Illusion, eine Verschleierung, um nicht stärkere Worte zu gebrauchen ... Bei der Gefährdungshaftung für Produktschäden handelt es sich im Grundsatz auch um ein Problem der mitmenschlichen Solidarität. Ich plädiere sehr nachdrücklich dafür, daß wir den Armen, den ein Produktschaden in blindem Zufall trifft, nicht seiner Pein, sprich seinem Nutzungswagnis, überlassen35 ." Diese Argumentation und insbesondere die Thesen der drei letzten Sätze lassen sich ohne weiteres so verallgemeinern, daß sie für alle Personenschäden gelten. Nur einige ergänzende und bekräftigende Aspekte seien noch hinzugefügt. Zunächst könnte man - wenn es auch recht weltfremd wäre - bei Produktschäden noch geltend machen, daß sie sich immerhin durch Konsumverzicht vermeiden ließen. Bei den Umweltgefahren ist dagegen nicht einmal eine solche theoretische Ausweichmöglichkeit gegeben; ihnen sind wir unentrinnbar ausgeliefert. Zum zweiten ist sehr nachdrücklich und entschieden an v. Hippels Einwand zu erinnern, daß "der Abschreckungseffekt einer drohenden Anspruchskürzung regelmäßig geringer als der einer drohenden Gefahr für Leib und Leben" ist36 • Dieser Hinweis entkräftet auch bereits weitgehend die Einschränkung, die v. HippeI für sein Prinzip, auch bei Eigenverschulden des Verletzten eine Entschädigung zu gewähren, postuliert: "Daß ein Unfallopfer bei vorsätzlicher Selbstschädigung keinen Schutz verdient, versteht sich von selbst37 ." Wenn man bedenkt, welche verzweüelte Situation oder welche krankhafte Beeinträchtigung der Selbstbestimmung gegeben sein muß, um einen Menschen zu einer Selbstverstümmelung zu treiben, versteht sich auch in diesem Fall eher die Gewährung als der Ausschluß der Hilfe von selbst. Schließlich ist offensichtlich, daß überhaupt nur insoweit eine selbstverantwortliche Vorsorge für Schadensfolgen betrieben werden kann, als diese kalkulierbar sind. Das aber ist nur der Fall, wenn es für alle Schädigungen ein einheitliches und eindeutiges Restitutionsversprechen gibt; nur dann kann der Gefährdete, der potentielle Geschädigte ausrechnen und entscheiden, ob ihm dieser allgemeine Ausgleichsanspruch genügt oder ob er sich darüber hinaus sichern will. Stellt sich jedoch, wie beim gegenwärtigen Rechtszustand, immer erst nach Eintritt eines Schadens heraus, ob und inwieweit ein Entschädigungsanspruch besteht, so ist es ganz und gar widersinnig, eine Verantwortung des einzelnen Ge35 38 37

Glückert in Verhandlungen des 47. DJT, Teil M, S. 112 f. v. Hippel, Schadensausgleich, S. 70. v. Hippel, Schadensausgleich, S. 65.

5.2. Prinzipien einer sozialen Schadenverteilun.gsordnung

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schädigten zu supponieren. Denn das würde ja nichts anderes bedeuten, als daß man den als verantwortungslos denunziert, der sich auf eine niemanden haftpflichtig machende Weise hat schädigen lassen, während man dem ein hohes Verantwortungsbewußtsein attestiert, der sich einen haftpflichtig zu machenden Schädiger ausgesucht hat. 5.2.4.2. Solidarität der Gefahrenstifter untereinander würde bedeuten, daß auf alle Privilegien, andere ohne irgendeinen kompensierenden Aufwand gefährden zu dürfen38 , verzichtet werden müßte. Es müßten sich also alle potentiellen Schädiger zu Haftungsgemeinschaften zusammenschließen, in denen jeder dem von ihm geschaffenen Risiko für die physische Integrität Dritter entsprechend beitragspflichtig wäre. Solche Haftungsgemeinschaften müßten als Deckungsfonds innerhalb des einheitlichen, umfassenden Leistungssystems jeweils für definierbare Gefahrenbereiche geschaffen werden, deren Beitrag zum gesamtgesellschaftlichen Schädigungspotential kalkuliert und auf alle Beteiligten umgelegt werden müßte.

Einem solchen System, das ja auf einer Art Haftpflichtversicherungspflicht basieren müßte, wird erst recht entgegengehalten, daß es Verantwortlichkeit und Gewissen durch eine Kollektivordnung ersetzen würde. Die These erscheint hier, bei den Schädigern, zunächst einleuchtender als bei den Geschädigten, ist jedoch letzten Endes ebensowenig stichhaltig. Selbst wenn man zuzugestehen bereit ist, daß "das Rechtsbewußtsein durch Verfeinerung der Verantwortlichkeitsgesichtspunkte gestärkt werden muß, auch wo der Sozialpolitiker nur eine ökonomische Aufgabe sieht"39, und nicht der Meinung ist, daß die Verantwortlichkeit der Schädiger sich gerade an einer sozialen Lösung der ökonomischen Ausgleichsaufgabe zu bewähren habe, so ist doch zunächst die Tatsache zu konstatieren, daß "der Verantwortlichkeitsgedanke durch das Bestehen der Haftpflichtversicherung schlechtweg in seiner Bedeutung stark gemindert ist"4o. Wo überhaupt Haftpflichtversicherungen zugelassen werden, wird der Abschreckungseffekt, den man einer drohenden Schadensersatzzahlung zuschreiben mag41 , sehr stark ausgehöhlt, auch wenn keine Versicherungspflicht besteht. Leistet die Haftpflichtversicherung direkt an den Geschädigten, wie z. B. bei Verkehrsunfällen, so reduziert sich "die Haftung des Halters und Fahrers zu einem Deckmantel, unter dem über die Leistungspflicht des Versicherers - und damit indirekt des Kollektivs der prämienzahlenden Autofahrer - entschieden wird"42. Versucht man, den Schädiger Vgl. dazu Abschnitt 5.2.3. Esser, Gefährdungshaftung, S. IX. 40 Frey in Karlsruher Forum 1964, S. 34. 41 Dieser Effekt wird jedoch vielfach stark bezweifelt. Vgl. dazu Abschnitt 38 39

6.4.2. 42

v. Hippel, Reform, S. 323.

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5.

Kap.: Reformvorschlag

auf dem Regreßwege persönlich haftbar zu machen, trifft man häufig wieder nur auf eine andere Haftpflichtversicherung, und "es stehen sich letztlich nur noch zwei Gemeinschaften gegenüber, die diese Regresse nicht mehr abrechnen, sondern durch Schadenteilungsabkommen das ganze Problem pauschal im Wege der großen Zahl erledigen"43. Will man die finanzielle Verantwortung des -einzelnen für die - wenngleich in der Regel zufälligen - Folgen seines gefährdenden Verhaltens wiederherstellen, etwa weil man sich eine präventive Wirkung davon verspricht, so müßte man zu den "sozialpolitischen Vorurteilen" des Liberalismus zurückkehren, der "jede genossenschaftliche Schadenteilung und alle gemeinschaftliche Schadentragung abgelehnt und als ,beschränkten Kommunismus' verworfen" hatte44, oder doch zumindest auf jenen Antrag zurückgreifen, der "bei der Beratung des Versicherungsvertragsgesetzes im Jahre 1908 ... gestellt wurde, in der Haftpflichtversicherung einen sehr hohen Selbstbehalt beim Schädiger zu lassen, der nicht versicherbar, sondern dessen Versicherung verboten war, um die Verantwortlichkeit zu erhalten"45. Differenzierte Versicherungsprämien dürften den einzelnen jedoch viel eher nach dem Maß seiner Verantwortung belasten als eine individuelle Haftung. Denn Versicherungsbeiträge werden nach dem jeweiligen Risiko berechnet, und verantworten kann der einzelne nur die Gefahr, die er geschaffen hat, während die daraus erwachsenden Folgen nicht mehr seiner Einwirkungsmöglichkeit unterliegen. Das ist schon im vorigen Abschnitt (5.2.3.) behandelt worden. Hier bleibt nur festzuhalten, daß der Forderung, der einzelne müsse sich für sein Verhalten verantworten und für das einstehen, was er getan hat, durch das hier vorgeschlagene Verfahren viel besser genügt wird als durch die individualistische Haftung nach dem geltenden Recht46 . Soweit mit Verantwortung nicht ein Maßstab für eine gerechte Lastenverteilung, sondern ein Antrieb für prophylaktische Maßnahmen gemeint ist, dürfte sie erst recht kollektiv erfolgreicher zu fördern sein. Die Entlassung der Unternehmer aus der persönlichen Haftpflicht für Arbeitsunfälle und die überantwortung der Unfallverhütung an die Versicherungsgemeinschaften bietet jedenfalls keinen Beleg dafür, daß ein solches System - das bisher nur von den Berufsgenossenschaften Weitnauer in Karlsruher Forum 1964, S. 37. Esser, Gefährdungshaftung, S. 55. 45 Frey in Karlsruher Forum 1964, S. 34. Vgl. dazu auch den v. HippeZs, bei seiner allgemeinen Verkehrsunfallversicherung 43

44

Vorschlag in Fällen "unverzeihlichen Verschuldens" Regreß beim Schädiger zu nehmen und die Versicherung gegen solche Rückgriffsansprüche auszuschließen oder nur für Beträge über 5000 DM zuzulassen (Schadensausgleich, S. 88 und S. 123). 41 Auf das Wagnis und das Verschulden als Zurechnungs- und Bemessungskriterien wird im Finanzierungskapitel noch einmal einzugehen sein. Vgl. dazu die Abschnitte 7.2. und 7.4.2.

5.3. Grundkonzeption einer Volksversicherung gegen Personenschäden 175

praktiziert wird - schadensfördernd wäre. Der Zusammenschluß homogener Gruppen potentieller Schädiger in Haftungskollektiven kann Schadensursachen viel besser erforschen und präventive Verfahren viel besser erarbeiten, als es dem einzelnen möglich ist. Es dürfte daher für die Schadensprophylaxe nur förderlich sein, wenn den neuen Deckungsfonds des hier angeregten Schadensausgleichssystems nach dem Vorbild der Unfallversicherung die Kompetenz übertragen würde, Richtlinien zur Schadensverhütung zu erlassen und ihre Befolgung zu überwachen. Persönliche Verantwortung würde dann danach bemessen, inwieweit diese kollektiven Präventions-Regeln eingehalten worden sind, und nicht mehr nach der zufällig individuell verursachten Schadenshöhe. 5.3. Grundkonzeption einer allgemeinen Volksversicherung gegen Personenschäden 5.3.1. Die konstitutiven Elemente

5.3.1.1. Aus den im vorstehenden Abschnitt dargestellten, erläuterten und begründeten Prinzipien resultiert ein Modell für eine soziale Schadenverteilungsordnung, das weitgehend einer generalisierten sozialen Unfallversicherung entspricht. Abweichungen von diesem Muster ergeben sich daraus, daß eine Reihe von Konstruktionselementen aufgegeben oder modifiziert werden müssen, wenn die Arbeitsunfallversicherung auf alle Personenschäden ausgedehnt werden soll. 5.3.1.2. Die zentrale Stellung auf der Aufbringungsseite des Reformmodells nehmen die Deckungsfonds ein. Sie werden nach Gefahrenbereichen gebildet, das heißt nach mit bestimmten Tätigkeiten erfahrungsgemäß verbundenen Schädigungsursachen, die ausreichend homogen sind, um Schadenswahrscheinlichkeiten ermitteln und Versicherungsprämien berechnen zu könnenl • Jeder Fonds hat sämtliche Aufwendungen zu decken, die aus Kompensationsleistungen für die Folgen von Schädigungen, die seinem Gefahrenbereich zuzurechnen sind, erwachsen. In diese Deckungspflicht sind nicht nur Unfallrisiken einzubeziehen, sondern alle Schädigungsrisiken, also insbesondere auch Krankheiten und Behinderungen, die durch als schädigend bekannte Dauereinwirkungen hervorgerufen werden. Die Bilanz zwischen den Zahlungsverpflichtungen und den unabhängig von ihnen ermittelten und festgesetzten Ausgleichsansprüchen2 wird also zunächst von den Deckungsfonds ausgeglichen. Die Entschädigungsproblematik ist damit aus dem individuellen Grundverhältnis 1 Zur Gliederung der Deckungsfonds vgl. Abschnitt 7.2.1. • VgI. dazu Abschnitt 5.2.1.

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5. Kap.: Reformvorschlag

Schuldner Gläubiger herausgelöst8 • Die Zahlungen des einzelnen Schädigers und die Ausgleichsleistungen an den einzelnen Geschädigten brauchen nicht mehr identisch zu sein; es muß lediglich die Beitragssumme, die von einem Deckungsfonds aufgebracht wird, mit der Schadenssumme, die durch Realisierungen der diesem Fonds zuzurechnenden Gefahren entsteht, übereinstimmen. 5.3.1.3. Damit wird die Folgerung aus dem Tatbestand gezogen, daß einerseits "jedes Zusammenleben Opfer und Schadensrisiken bedingt, die ... gerecht verteilt werden müssen (iustitia distributiva)", andererseits aber lIder Ausgleich solchen allgemeinen Unglücksschadens grundsätzlich nicht Aufgabe des Schuldrechts, sondern des Sozialrechts und des Versicherungsrechts" ist4 • Der hier unterbreitete Vorschlag entzieht daher diese Aufgabe, soweit es sich um den Ausgleich für Personenschäden handelt, dem Schuldrecht und den anderen Rechtsgebieten, in denen sie bisher gelöst oder nicht gelöst worden ist, und weist sie dem Sozialrecht zu. Die Ausgleichsleistungen für Personenschäden werden auf diese Weise zu einem neuen Zweig des sozialen Sicherungssystems. Wenn das Prinzip, alle Geschädigten unabhängig von der Ursache ihrer Schädigung nach den gleichen Kriterien zu behandeln, konsequent verwirklicht werden soll, müssen auch alle derzeitigen Sozialleistungen, die Restitutionscharakter haben und nach der Schadensentstehung differenziert sind, in dieses neue Sicherungsinstitut integriert werden. Das bedeutet zugleich, daß alle bisherigen Restitutionsformen und -rechte wegen Personenschäden entfallen würden, seien sie privatrechtlicher oder öffentlich-rechtlicher Natur. Die übertragung der Aufbringungsverpflichtung an den Deckungsfonds entbindet den individuellen Schädiger von jeder Ausgleichsleistung im linearen Zweiparteienverhältnis. "Da jeder potentielle Schädiger Beiträge für den Fonds geleistet hat, ist es in diesem Falle auch nicht billig, einen Regreß im Einzelfalle gegen ihn zu gewähren. Jeder hat sich mit seinen Beiträgen gleichsam insoweit von seiner Schadensersatzpflicht freigezeichnet s." Durch das neue allgemeine soziale Restitutionsrecht würden insbesondere abgelöst und insoweit - das heißt soweit sie Personenschäden und deren Folgen betreffen - aufgehoben: 1. 2. 3. 4.

Ansprüche aus Vertragsverletzung Ansprüche aus unerlaubter Handlung Anspruche aus Amtshaftung Öffentlich-rechtliche Aufopferungsansprüche Vgl. dazu Esser, Gefährdungshaftung, S. 3 f. , Esser, Schuldrecht I, S. 265. Hervorhebung vom Verfasser. S Weitnauer in Karlsruher Forum 1964, S. 37. 3

5.3. Grundkonzeption einer Volksversicherung gegen Personenschäden 177 5. Ansprüche aus besonderen Gefährdungstatbeständen, insbesondere

aus der Haftung für den Kraftfahrzeugverkehr 6. Ansprüche aus der Unfallversicherung 7. Ansprüche aus der Rentenversicherung auf Rehabilitation und we~ gen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit 8. Ansprüche auf Kriegsfolgeleistungen, insbesondere aus der Kriegsopferversorgung und aus dem Lastenausgleich.

5.3.1.4. Bis zu diesem Punkt entspricht das Modell völlig dem Vorbild der Unfallversicherung. Die Deckungsfonds sind als Haftungsgemeinschaften, in denen in bestimmten Gefahrenbereichen Tätige zusammengeschlossen sind, eine den Berufsgenossenschaften der Unternehmer analoge Konstruktion, und die Haftungsersetzung durch Versicherungsschutz6 ist ein für den Reformvorschlag in gleicher Weise wie für die Unfallversicherung konstitutives Merkmal. Auch die sich sozusagen als Nebenfolgen dieser beiden Grundelemente ergebenden Gestaltungen stimmen überein, insbesondere die Sicherung des Entschädigungsanspruchs unabhängig von der Zahlungsbereitschaft des individuellen Schädigers und die Erweiterung des Entschädigungsanspruchs auf nicht individuell nach Verschulden oder Gefährdung zurechenbare Fälle7 •

Bei der Kompetenzregelung auf der Leistungsseite muß das Muster der Unfallversicherung jedoch aufgegeben werden. Bei Arbeitsunfällen kann es über die Zuständigkeit kaum Zweifel geben. Jeder Arbeitnehmer gehört einem bestimmten Betrieb an und jeder Betrieb einer bestimmten Berufsgenossenschaft. Der Arbeitsvertrag definiert also eindeutig den zuständigen Unfallversicherungsträger. Streitigkeiten können höchstens darüber entstehen, ob ein Arbeitsunfall vorliegt, ob also überhaupt ein Unfallversicherungsträger leistungspflichtig ist. In dem Reformmodell würden solche Auseinandersetzungen jedoch zu Kompetenzstreitigkeiten werden. Die Deckungsfonds sind ja nach homogenen Gruppen von Schadensursachen gegliedert. Würden sie zu Partnern der Geschädigten gemacht, würde ihnen die Aufgabe übertragen, Leistungen an die Geschädigten zu erbringen, so müßten alle jene Querelen wieder aufleben, die durch die Einheitlichkeit des Restitutionsrechts gerade vermieden werden sollen, müßten wieder alle die schwierigen, langwierigen und zermürbenden Beweiserhebungen über den Hergang des schädigenden Ereignisses, über die Ursache und die • Diese Formel von Sieg hat v. Hippel als Untertitel seiner Schrift "Schadensausgleich bei Verkehrsunfällen" benutzt. 7 Der Katalog der Ziele und der Mittel der Unfallversicherung, den Krohn aufgestellt hat, ließe sich Wort für Wort auf den hier gemachten Reformvorschlag anwenden, wenn man nur jeweils statt "Arbeitgeber" ,,schädiger" und statt "Arbeitnehmer" "Geschädigter" schreiben würde (Vgl. Die soziale Unfallversicherung im System des Rechts, S. 28 f.). 12 Schäfer

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5. Kap.: Reformvorschl:ag

Entstehung des Schadens vorausgehen, ehe der Geschädigte eine Leistung erhalten könnte. Das Gleichbehandlungspostulat wäre damit völlig desavouiert. Es ist nur dann zu verwirklichen, wenn für die Behebung und Regulierung aller Schäden grundsätzlich nur eine einzige Instanz zuständig ist. Würde nämlich der Leistungsträger erst durch die Schadensentstehung definiert, so wäre diese doch wieder, wenn auch quasi illegal, zur Leistungsvoraussetzung erhoben. Die allgemeine Volksversicherung gegen Personenschäden müßte daher einer neuen Bundesanstalt übertragen werden. Bei ihr wären alle von Schädigungen ihrer physischen Integrität Bedrohten, das heißt die gesamte Bevölkerung, versichert. Von ihr wären die einheitlichen Leistungen bei allen Unfällen, Behinderungen und Gebrechen zu erbringen, da deren Einheitlichkeit anders nicht zu erreichen wäre. Allerdings müßte die Anstalt mit einem breiten Fächer lokaler Untergliederungen arbeiten oder sich örtlicher Instanzen bedienen, die in ihrem Auftrag handeln. Denn der Schadensausgleich bei körperlichen Beeinträchtigungen müßte ja stets mit dem Versuch der Heilung, der Wiederherstellung und der Wiedereingliederung beginnen, wozu ein enger Kontakt und also auch räumliche Nähe zu dem Beschädigten unerläßlich sind. 5.3.1.5. Obwohl auf diese Weise die Schadensentstehung für die Leistungsgewährung völlig belanglos wird, müßte sie dennoch untersucht werden. Eine systematische Erforschung der Ursachen bestimmter Schadensformen ist schon deshalb zu fordern, weil nur sie die Grundlage für eine planmäßige Schadensprophylaxe zu liefern vermag. Darüber hinaus aber ist eine ätiologische überprüfung aller Schadensfälle unerläßlich, wenn die entstehenden Kosten richtig, das heißt denjenigen, die die jeweiligen Schadensursachen produziert haben, angelastet werden sollen. Die neue Bundesanstalt kann ja nur nach hinreichenden Kausalitätskriterien festsetzen, welche Deckungsfonds jeweils bestimmte Ausgleichsleistungen zu finanzieren haben. So wenig also die Schadensentstehung die Rechtsposition des Geschädigten tangiert, so maßgeblich ist sie für den internen Verrechnungsverkehr. Es kann jedoch nicht damit gerechnet werden, daß alle Schädigungen von Personen irgendeinem Deckungsfonds zugerechnet werden können. Verletzungen und Krankheiten entstehen ja auch aus Ursachen, die entweder nicht zu typisieren und daher auch nicht durch Deckungsfonds zu erfassen oder menschlicher Beeinflussung, vielleicht sogar menschlicher Erkenntnis bis jetzt unzugänglich sind. Der Restitutionsaufwand für solche Fälle, mit dem kein Deckungsfonds belastet werden kann, müßte also kausal unspezifisch, das heißt durch die Allgemeinheit finanziert werden. Das ließe sich entweder durch die Bereitstellung

5.3. Grundkonzeption einer Volksversicherung gegen Personenschäden 179

entsprechender Mittel aus dem Steueraufkommen oder durch Beitragsleistungen aller Geschützten bewerkstelligen8 • Verschiedene Gründe sprechen dafür, beide Verfahren nebeneinander zu praktizieren. 5.3.1.6. Die vier verfügbaren Finanzierungsquellen - nämlich Beiträge der Versicherten, Beiträge der potentiellen Schädiger zu den Deckungsfonds, Geldstrafen und Geldbußen, die wegen Personen gefährdender Handlungen verhängt werden, und Zuschüsse aus öffentlichen Mitteln - müßten in ihrer Gesamtheit den Aufwand des neuen Leistungssystems für alle Personenschäden decken. Wie hoch er sein wird, hängt natürlich davon ab, nach welchen Maßstäben die Schäden abgegolten werden. Auf diese Bemessungskriterien wird im nächsten Kapitel noch einzugehen sein, um dann anschließend die Aufbringung der Mittel näher zu begründen. Zur Charakterisierung der Grundkonzeption des Systems genügt es, die Leistungsarten kurz zu bezeichnen, die es zu erbringen hätte. Sieht man einmal von der Schadensverhütung ab, die ja im Grunde keine Ausgleichsleistung, sondern eine aufwandsmindernde Maßnahme ist, steht an erster Stelle die Deckung aller Behandlungs- und Rehabilitationskosten. Die zweite große Position wäre die Deckung des durch die Schädigung bedingten Einkommensverlustes, wobei zunächst zu fragen wäre, ob nur monetäre Einkünfte oder auch naturale Erträge der Arbeitskraft in Ansatz gebracht werden sollen, und sodann bestimmt werden müßte, bis zu welcher Höhe der Verdienstausfall zu ersetzen ist. Zwischen den Behandlungskosten und der Einkommenshilfe liegen Ausgleichsleistungen für besondere Belastungen, die sich aus einem Dauerbedarf an Pflege und Hilfsmittel ergeben. Schließlich kämen, jedenfalls bei anhaltenden und schwerwiegenden Leidenszuständen, schmerzensgeldähnliche Leistungen in Betracht. Die Anregung im Rahmen des hier vorgeschlagenen einheitlichen Restitutionssystems geht dahin, die Leistungen insgesamt zwischen dem vollen zivilrechtlichen Schadensersatz und dem aus Sozialleistungssystemen gewohnten Niveau zu plazieren. Das würde bedeuten, daß keine der erwähnten Leistungsarten grundsätzlich ausgeschlossen werden dürfte, ihre Höhe jedoch nach einfachen, standardisierten Regeln zu bemessen wäre. 5.3.2. Koordinierungsalternativen

5.3.2.1. Um zufällige und unmotivierte Überschneidungen und Kumulationen der verschiedenen kausal differenzierenden Restitutionslei8 Für die Sicherung bei langfristigen Leiden und Gebrechen sind von der Sozialenquete-Kommission auch beide Verfahren erwogen worden. Vgl. dazu insbes. Tz. 834.

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5. Kap.: Refonnvorschlag

stungen und der verschiedenen unabhängig von der Schadensursache konzipierten Sicherungsleistungen zu vermeiden, wären zwei Alternativen zu dem hier vorgeschlagenen System denkbar. Anstatt alle aus der Schadensentstehung abgeleiteten Ansprüche durch ein einheitliches, auf kausale Begründungen verzichtendes Ausgleichssystem auszuschließen, könnte man auch den umgekehrten Weg gehen und jeden Anspruch auf eine Schadensersatzleistung zum Ausschlußgrund für jeden Sicherungsanspruch, aber auch für jeden anderen Schadensersatzanspruch machen. Einen solchen Vorschlag macht v. Hippel für den Schadensausgleich bei Verkehrsunfällen. Er meint, die Ersetzung des Kraftfahrhaftpflichtrechts durch eine allgemeine Verkehrsunfallversicherung ermögliche "eine glatte Lösung des leidigen Koordinationsproblems: Bei Leistungspflicht der zu schaffenden Unfallversicherung ist die Leistungspflicht der Sozialversicherer auszuschließen"9. Diese Lösung erscheint jedoch schon deshalb nicht glatt, weil für private Versicherungen mit der gleichen Selbstverständlichkeit das Umgekehrte postuliert wird. Man sei "international zu Recht darüber einig", daß der Verletzte sich Leistungen für Personenschäden aus einer Privatversicherung nicht auf einen Schadensersatzanspruch anrechnen lassen müsse, weil er sie ja "durch eigene Leistung erkauft hat"10. Das Argument mag gegenüber der Unfallversicherung tragfähig sein; die Leistungen der Rentenversicherung und der Krankenversicherung sind jedoch ebenso durch eigene Leistung des Versicherten erkauft wie die einer Privatversicherung. Wie willkürlich die unterschiedliche Bewertung der sozialen und der privaten Versicherung ist, wird durch ein einfaches Beispiel deutlich: Nach v. Hippels Regeln würde der auf Grund einer Befreiungsversicherung aus der Versicherungspflicht Entlassene Rente und Schadensersatz nebeneinander kassieren, während dem freiwillig Weiterversicherten die Rente vorenthalten würde, er seine Beiträge also insofern umsonst gezahlt hätte. Der Vorschlag v. Hippels hat jedoch noch eine viel prinzipiellere Schwäche, wenn er "als Modell für die Reform weiterer Zweige des Schadensrechts dienen" soll, wofür er ausdrücklich empfohlen wirdl l • Er führt nämlich nur dann zu vertretbaren Ergebnissen, ja ist sogar wahrscheinlich überhaupt nur dann praktikabel, wenn von Anfang an keinerlei Zweifel über die Leistungspflicht eines Schadensersatzschuld9 10

v. Hippel, Schadens ausgleich, S. 91. v. Hippel, Schadensausgleich, S. 33. Im gleichen Sinne sagt Selb, daß der

Verletzte "bei der erkauften Leistung ... die Schadensersatzleistung liquidiert und z. B. die Versicherungssumme behalten darf", fügt allerdings hinzu, daß die Frage, wo die Sozialleistung beginnt "sehr davon abhängig ist, wieweit die Prämien von der einen oder anderen Partei geleistet werden". (in Karlsruher Forum 1964, S. 38). 11 v. Hippel, Schadensausgleich, S. 2.

5.3. Grundkonzeption einer Volksversicherung gegen Personenschäden 181

ners bestehen. Bei der Kraftverkehrsversicherung mag diese Voraussetzung in der Regel erfüllt sein. Ob an einem Unfall ein Fahrzeug beteiligt war und es sich folglich um einen Verkehrsunfall handelt, dürfte in den meisten Fällen relativ leicht zu klären sein. Aber selbst das gilt nicht ohne Ausnahme. Wenn etwa der Fahrer unbekannt ist oder bestreitet, jemanden angefahren zu haben, ergeben sich bereits Beweisschwierigkeiten; lassen sich keine Zeugen auftreiben, die den Vorfall beobachtet haben, so läßt sich in einem solchen Fall nicht feststellen, ob der Verletzte nicht vielleicht, entgegen seiner Behauptung, bei anderer Gelegenheit gestürzt ist. Erst recht ist bei sogenannten Spätschäden mit der einfachen Regel, die v. Hippel vorschlägt, nicht auszukommen. Treten etwa bei jemandem, der zunächst nur leicht verletzt schien, nach Jahren Lähmungserscheinungen auf, die auf den Unfall zurückgeführt werden, so wird die Verkehrsversicherung kaum ohne weiteres ihre Leistungspflicht anerkennen; da sie auch die Interessen der Beitragszahler zu vertreten hat, dürfte sie es nicht einmal. Den Nachweis zu führen, daß die Behinderung Folge des schon lange zurückliegenden Unfalls ist, kann jedoch Jahre in Anspruch nehmen, falls es überhaupt gelingt. Derartige Konstellationen, in denen der Verursachungszusammenhang nur in diffizilen und langwierigen Prozeduren aufzuklären ist, sind nun aber in anderen Gefahrenbereichen, etwa bei Produkt- oder Umweltschäden, viel häufiger und viel typischer als bei den in ihrer Kausalstruktur vergleichsweise sehr einfachen Schädigungen durch den Straßenverkehr12 • Die Leistungspflicht der Sozialversicherungen generell auszuschließen, wenn ein anderer ersatzpflichtig ist, würde daher in vielen Fällen bedeuten, daß dem Verletzten auf Jahre hinaus jegliche Leistung verweigert wird. Soll er nicht bis zur rechtsverbindlichen Aufklärung der Schadensentstehung ohne jede Hilfe gelassen werden, müßte die Sozialversicherung also zumindest vorleistungspflichtig gemacht werden. Dann aber ist nicht einzusehen, warum sie den Geschädigten nicht gleich endgültig abfinden und ihm die oft außerordentlich belastenden und demoralisierenden Versuche, Entschädigungsansprüche durchzusetzen, ersparen soll. Daß ein solches Verfahren keineswegs gleichbedeutend damit ist, "daß die höhere Gemeinschaft zugunsten des Verantwortlichen endgültig eintritt, daß sie die Last des verursachten Bedarfs zugunsten des Verantwortlichen übernimmt" 13, zeigt der in dieser Arbeit unterbreitete Vorschlag. 12 v. Rippet scheint bei der Produzentenhaftung an ähnliche Lösungen zu denken, wie er sie für die Verkehrsunfälle vorgeschlagen hat. Vgl. dazu seinen Beitrag in Verhandlungen des 47. DJT, Teil M, S. 104 ff. 13 Setb, Individualschaden, S. 5.

182

5. Kap.: Refonnvorschlag

5.3.2.2. Die zweite Koordinationsalternative bestünde darin, kausale Restitutionsansprüche nur komplementär zu akausalen Sicherungsansprüchen einzuräumen. Bei dieser Lösung würde die Sicherungsleistung im Schadensfall stets erbracht. Dadurch würden zunächst "alle Unfallbeteiligten ohne lange Verzögerung eine mäßige Versorgung erhalten. Dabei kommt es auf unabwendbare Ereignisse und Mitverschulden und Mitgefährdung nicht an. Es wird zwar nicht umfassender Ersatz geleistet, jedoch werden die Einschränkungen dadurch ausgeglichen, daß ... m.it Sicherheit eine Versorgung gewährt wird. Insoweit ist das Versicherungssystem dem Haftungssystem überlegen"14. Wenn das für alle Personenschäden gilt, so würden die soeben beschriebenen Komplikationen vermieden, die entstehen, wenn alle Sicherungs ansprüche von konkurrierenden Restitutionsansprüchen stets vollständig verdrängt werden.

Bei dem komplementären System würde diese Basisleistung aus der Sicherungsapparatur gegebenenfalls durch eine Haftpflichtleistung aufgestockt. Die Haftung nach den bisherigen Rechtsregeln bliebe prinzipiell erhalten. Die Versicherungsleistungen an den Geschädigten würde aber "auf die Schuldhaftung angerechnet werden"15, so daß der Schädiger nur noch für die Differenz zwischen Schadensersatz und Sozialleistung aufzukommen hätte. Auf diese Weise würden die kumulativen Wirkungen des bisher praktizierten Verfahrens ausgeschlossen. Die Leistungen, die ein Geschädigter erhält, wären stets durch den vollen zivilrechtlichen Schadensersatz nach oben begrenzt, es sei denn, mehrere Haftpflichtige hätten Zuzahlungen zu der Grundversorgung zu leisten. Die Schwächen auch dieser Lösung liegen auf der Hand. Zunächst müßte das Sicherungssystem versuchen, seine Aufwendungen irgendwie "von der Gemeinschaft der Wagnisträger, den lizenzierten Gefahrenbringern"18 wieder einzutreiben, da sonst die Schadenstifter von ihnen verursachte Kosten auf die Beitrags- oder Steuerzahler abwälzen würden. Etwas Ähnliches wie die hier vorgeschlagenen Deckungsfonds müßte also auch in dem komplementären System eingeführt werden, wenn die Schädiger nicht ungerechtfertigt begünstigt werden sollen. Der Haupteinwand ist jedoch, daß durch die additive Schadensersatzleistung die Diskriminierung verschiedener Geschädigtengruppen nicht nur unvermindert fortgesetzt, sondern unverhüllt zum Prinzip erhoben würde, wofür wiederum keine andere Begründung zu finden wäre als 14 Deutsch, Generelle Gefährdungshaftung und Ablösung der Haftung durch Versicherung, S. 146 f. 15 Deutsch, Generelle Gefährdungshaftung und Ablösung der Haftung durch Versicherung, S. 147 und 148. 18 Esser, Gefährdungshaftung, S. 127.

5.3. Grundkoru;eption einer Volksversicherung gegen Personenschäden 183 die, daß eben nur volle Verantwortung des Schädigers zu voller Versorgung des Geschädigten führen könne17 • Die Einwendungen gegen solche einseitigen Legitimierungsversuche sind schon an anderer Stelle formuliert worden, so daß hier darauf verwiesen werden kann18 • Der Widerspruch zwischen der Differenzierung von Restitutionsleistungen nach der Schadensentstehung und dem Leitsatz, "bei der sozialen Hilfe einschließlich der Einkommenshilfe und der Arbeitstherapie alle Hilfsbedürfnisse mit dem gleichen Maß zu messen"l', ist eben nicht aufzuheben. 5.3.3. nie Aussonderung 'von Sach- und Vermögensschäden

5.3.3.1. Die Prinzipien, aus denen sich der hier unterbreitete Reformvorschlag herleitet, insbesondere das der Gleichbehandlung aller Geschädigten und aller potentiellen Schädiger, wären weitgehend auf das gesamte System der Schadensregulierung sinnvoll anwendbar. Trotzdem wird das Modell hier nur für Personenschäden entwickelt. Verschiedene Gründe sprechen dafür, die Sachschäden und die Vermögensschäden zu eliminieren. Der wichtigste und letztlich auch entscheidende Grund ist ein rein pragmatischer, aber dennoch sachlich bedeutsamer. Die Frage, die im Zentrum dieser Untersuchung steht, ist ja die nach der Abstimmung zwischen Entschädigungsleistungen und Sozialleistungen. Dieses Koordinationsproblem existiert jedoch nur bei Personenschäden, nicht dagegen bei Sach- und Vermögensschäden. Auch bei diesen mag es eine "Pluralität von Entschädigungsquellen"20, etwa eine Sachversicherung und einen Schadensersatzanspruch, geben; aber es gibt keine kausal unspezifischen öffentlichen Sozialleistungen für Sach- und Vermögensschäden. Wo überhaupt soziale Entschädigungen für Vermögensverluste auftauchen, sind sie auf ganz bestimmte Ausnahmesituationen der Schadensentstehung begrenzt, in denen wegen der Art des schädigenden Ereignisses privatrechtliche Schadensersatzansprüche stets ausscheiden, wie insbesondere bei Kriegsschäden. Wenn also auch bei Sach- und Vermögensschäden Überschneidungen und Kumulationen mehrerer Ersatzleistungen möglich sind, so stellen sie jedoch kein Problem dar, das die Sozialpolitik tangieren würde. Die Schadenverteilungsordnung interessiert den Sozialpolitiker daher nur insoweit, als sie Personenschäden betrifft. Sach- und Vermögensschäden müssen dagegen bei sozialpolitischen überlegungen, wie sie in dieser Arbeit an17 Vgl. Deutsch, Generelle Gefährdungshaftung und Ablösung der Haftung durch Versicherung, S. 147 und 148. 18 Vgl. insbesondere die Abschnitte 5.1.2.1. und 5.2.2. 18 Sozialenquete, Tz. 858. 20 v. Hippel, Schadensausgleich, S. 33.

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5. Kap.: Reformvorsch1ag

gestellt werden, ausscheiden, weil sie nicht mit dem Sozialleistungssystem interferieren. Als wesentliche sozialpolitische Motivation für die Spezialisierung des Modells auf Personenschäden kommt hinzu, daß Sachschäden ein weit weniger gravierendes soziales Problem darstellen als Personenschäden21 • Was auf dem Nürnberger Juristentag zu den Produktschäden gesagt worden ist, gilt insoweit für alle Arten der Schadensentstehung: "Es muß der normale Bürger gesichert werden gegen Störungen in seinem Lebenslauf, die schwerwiegend sind. Infolgedessen müssen wir größere Risiken absichern, Risiken des einzelnen. Nicht dagegen brauchen wir abzusichern: Kleine Risiken des einzelnen, Schäden im Haushalt usw., weil der einzelne sie ohne weiteres selber tragen kann; nicht brauchen wir Großrisiken abzusichern, die sich nur auf Produktionsabläufe beziehen, also Schädigungen des industriellen Abnehmers oder Handels, der Großrisiken, die sich nur deshalb so groß ausnehmen, weil der Geschädigte in einer vermögenden Lage ist und deshalb Vermögensschäden großen Umfangs hat22 ." Sachschäden werfen von daher allenfalls dann ein ähnliches Problem für die soziale Sicherung auf wie Personenschäden, wenn - wie etwa bei dem Mietshaus einer alten Witwe - die verlorene Sache einzige oder zumindest überwiegende Einkommensquelle war. Aber auch in diesem Fall ist die soziale Aufgabe ja wiederum deshalb dringlich, weil ein Einkommensersatz, nicht weil ein Vermögensersatz geboten werden muß. Nur am Rande sei erwähnt, daß auch hier das gilt, was alle Sachrisiken gegenüber Personenrisiken auszeichnet: Da der Wert einer Sache bekannt oder zumindest berechenbar ist, läßt sich der mögliche Verlust genau beziffern und daher auch ohne weiteres versichern. Der Wert einer Arbeitskraft und der gegebenenfalls zu ihrer Wiederherstellung erforderliche Aufwand ist demgegenüber nur mit einem außerordentlich hohen Unsicherheitsgrad zu kalkulieren. 5.3.3.2. Auch wenn man nicht auf den Zusammenhang mit der Sozialpolitik abstellt, gibt es einige Gründe, die dagegen sprechen, Sachschäden ausnahmslos nach dem gleichen Modus zu behandeln, der hier für Personenschäden vorgeschlagen wird. Bei Personenschäden ist es von der sozialen Situation her gerechtfertigt, sie ausnahmslos und unterschiedslos auszugleichen, wie auch immer sie entstanden sein mögen. Verschleißkrankheiten oder sonstige Minderungen der Leistungsfähigkeit stehen insoweit Beschädigungen, die durch Unfälle oder andere äußere Einwirkungen verursacht sind, völlig gleich. Eine Sache ist dagegen sozusagen ihrer Natur nach dazu bestimmt, verbraucht zu wer21 22

Vgl. dazu jedoch v. Hippel, Schadensausgleich, S. 75 f. Helm in Verhandlungen des 47. DJT, Teil M, S. 77 f.

5.3. Grundkonzeption einer Volksversicherung gegen Personenschäden 185

den. Ist sie durch Abnutzung unbrauchbar geworden, kann man das nicht - wie beim Menschen - als entschädigungspflichtigen Verlust deklarieren. Aber nicht nur der nutzungs- oder alterungsbedingte Verschleiß einer Sache müßte den Entschädigungsanspruch ausschließen, sondern auch ihre mutwillige Beschädigung oder Vernichtung. Der eine Entschädigung auslösende Tatbestand wäre sonst allzuleicht manipulierbar, so daß die nahezu unbegrenzte Möglichkeit eröffnet würde, sich durch absichtliche Herbeiführung von "Versicherungsfällen" Vermögensvorteile zu verschaffen. Dagegen werden zu Recht "in der Personenversicherung diese Gefahren als geringfügig angesehen, da die natürliche Hemmung vor einer Selbstverletzung ein ausreichendes Gegengewicht bilde"23. Darüber hinaus wird man argumentieren müssen, daß diese Hemmung nur in extremen Ausnahmesituationen versagen kann, so daß bei Selbstbeschädigungen gerade besonders intensive, zusätzliche Hilfen angemessen wären. Im Gegensatz zu Personenschäden wären bei Sachschäden Bagatellgrenzen unerläßlich. Jeden verlorenen oder beschädigten Gegenstand bis hin zu Pfennigartikeln zu ersetzen würde zu ausgesprochenen Absurditäten führen. Beweisschwierigkeiten kämen hinzu. Eine beschädigte Sache ließe sich immerhin vorzeigen; bei einer verlorenen müßte dagegen zunächst erst nachgewiesen werden, daß man sie überhaupt besessen hat. Der reine Vermögensschaden, der nicht als Folge einer Körperverletzung oder einer Sachbeschädigung eintritt, hat eine noch geringere Evidenz. Bei Personenschäden ist die Beweislage demgegenüber einfach, weil die Person ihre Identität nicht verlieren kann und daher sozusagen ihren Schaden jederzeit kontrollierbar mit sich führt. Schließlich wäre noch daran zu erinnern, daß Schädigungen von Personen nach unserem Rechtsdenken grundsätzlich nicht erlaubt, Schädigungen des Vermögens dagegen zuweilen legitimiert, ja sogar intendiert sind. Die Institution der Wettbewerbswirtschaft beruht ja gerade darauf, durch Gewinne und Verluste von Vermögen die Produktion zu lenken. Die Schädigung von Konkurrenten durch nicht unlauteren Wettbewerb ist nicht rechtswidrig24 ; sie ist sogar als Marktregulativ bewußt gewollt. Ein auf freien Preisen und freien Märkten basierendes ökonomisches Lenkungssystem müßte seine Funktionsfähigkeit einbüßen, wenn es den Verlust von Sach- und sonstigen Vermögenswerten - und zwar auch den durch keine Versicherung zu kompensierenden totalen Verlust durch Konkurs - nicht mehr zuließe. 23

24

Schadensausgleich, S. 34. Vgl. dazu auch Abschnitt 5.2.4.1. Vgl. dazu Larenz, Schuldrecht II, S. 403 und 421.

v. Hippel,

Sechstes Kapitel

Maßnahmen und Maßstäbe für die Behebung und Minderung von Personenschäden (Leistungen) 6.1. Der Ausgleich von Integritätsverlusten 6.1.1. Das Prinzip der Gleichbehandlung aller Geschädigten gewinnt besondere Relevanz für die Rehabilitierung und Replacierung, die sowohl sachlich als auch zeitlich bei allen Restitutionsbemühungen im Vordergrund zu stehen hätten. Solche Priorität wird vom Gesetz an sich auch für den privaten Schadensausgleich gefordert. Als Grundregel, der gegenüber alle anderen Leistungsformen Ausnahmen sind, hat es die Verpflichtung des Schädigers zur Naturalherstellung formuliert: Er hat "den Zustand herzustellen, der bestehen würde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand nicht eingetreten wäre"1. Das besagt eindeutig, daß es dem Schädiger obliegt, die restitutio ad integrum, soweit sie möglich ist, vorzunehmen. Nur auf Wunsch des Geschädigten hätte er bei Verletzung einer Person oder Beschädigung einer Sache "statt der Herstellung den dazu erforderlichen Geldbetrag" zu leisten2 • Das Gesetz geht also offensichtlich davon aus, "dem Geschädigten eine gewisse Dispositionsfreiheit zu lassen"; er soll "die Herstellung, statt sie dem Ersatzpflichtigen zu überlassen, selbst in die Hand nehmen und von ihm die dafür erforderlichen Geldmittel verlangen können"3. Faktisch wird jedoch so gut wie ausnahmslos so verfahren, als gäbe es den Anspruch auf Naturalrestitution gar nicht. Während nach dem Gesetzeswortlaut "sich der Ersatzanspruch auf Vornahme einer Handlung richten" würde, nämlich auf Reparatur durch den Schädiger4, und diese Verpflichtung nur dann durch eine Geldzahlung abgelöst werden könnte, wenn der Geschädigte das ausdrücklich verlangt, wird ihm von der Praxis dieses Wahlrecht vorenthalten. Die Bemühungen um Wiederherstellung werden von vornherein auf den Geschädigten über1

!

3 4

§ 249 Satz 1 BGB. § 249 Satz 2 BGB.

Larenz, Schuldrecht I, S. 186. Esser, Schuldrecht I, S. 273.

6.1. Der Ausgleich von Integritätsverlusten

187

wälzt, dem lediglich der Anspruch auf Aufwendungsersatz eingeräumt wird. Jeder Autofahrer weiß, daß es hoffnungslos weltfremd wäre, sich im konkreten Schadensfalle darauf berufen zu wollen, daß es die Rechtsnorm des § 249 Satz 1 BGB gibt, die dem Schadensersatzschuldner die Verpflichtung auferlegt, zur Beseitigung des Schadens selbst tätig zu werden, es sei denn, der Geschädigte entbinde ihn von dieser Verpflichtung. Er weiß, daß der gesamte Aufwand an Zeit und Ärger, an Wegen und Aufregungen entschädigungslos ihm aufgebürdet wird 5 , daß sich um die Minderung oder Behebung des Schadens und seiner Folgen weder der Schuldige noch seine Versicherung auch nur einen Deut kümmern, ja daß es ihm als Verletzung seiner Schadenminderungspflicht angelastet würde, wenn er sich darauf - also auf die Gültigkeit des Gesetzes - verließe 6 • So zweifelhaft und anfechtbar diese Praxis - die nur so lange nicht direkt contra legern ist, wie sie ohne wesentliche Einsprüche hingenommen wird - schon bei Sachbeschädigungen ist, so unzureichend, ja unvertretbar ist sie bei Personenschäden. Es geht auf die Dauer nicht an, den Verletzten völlig sich selbst zu überlassen und die Inaktivität und Indolenz damit zu rechtfertigen, daß er ja die entstehenden Kosten ersetzt bekomme, wenn er sich selbst bemüht. Denn oft kann der Verletzte gar nicht selbst beurteilen, welche Rehabilitationsmaßnahmen zweckmäßig sind, um welche Behandlung er sich also bemühen soll. Seine eigene Initiative wäre oft ziellos, wenn sie nicht sogar aus Mangel 5

Vgl. dazu auch die Abschnitte 3.5.2.1. und 5.1.2.2.

• Götz Weihmann hat vor kurzem unter dem Titel "Der bestrafte Unschul-

dige" über dieses Gebaren lebhaft Klage geführt (ADAC-Motorwelt Nr. 10/1969, S. 34 f.): "Der Schuldlose rennt herum, sucht eine Werkstatt und bittet dort und bettelt, daß man ihn gleich drannehme; er opfert seine Zeit Stunden, Tage; ... er muß seinen Arbeitgeber um ein paar freie Stunden oder gar Tage bitten und saust dann auf Ämter, Behörden, Versicherungsbüros; er telefoniert, er schreibt Briefe, rennt wieder, bittet, drängt, jammert ... Und nun gar, wenn der Schuldlose noch verletzt ist! Er liegt im Krankenhaus. Er hat Sorgen, Schmerzen. Wochenlang. In diesen Wochen gerät alles aus den Fugen: Die Familie, der Arbeitsplatz, das ganze so diffizil eingespielte Dasein. Inzwischen rennt die Frau: Zur Krankenkasse, zum Arbeitgeber, zur Versicherung des Schuldigen, zum Rechtsanwalt, zur Autowerkstatt und natürlich ins Krankenhaus. Dutzende und Aberdutzende von Gängen, Terminen, Laufereien. Der Haushalt? Ein Tohuwabohu. Die Kinder? Müssen sich nun selbst versorgen, so gut es geht: Mutter muß mal wieder weg. Anträge stellen, Formulare ausfüllen, Verpflichtungen unterschreiben." "Und wo blieb während der ganzen langen lästigen und mühevollen Geschichte eigentlich der Schuldige? Was hat er getan in dieser Sache, inwieweit war er aktiv gewesen? Hatte er geholfen, Anteil genommen, sich um irgendetwas bemüht? Nichts dergleichen. Großes Schweigen. Der Schuldige hatte seine Visitenkarte abgegeben und dann auf seine Versicherungsgesellschaft verwiesen: ,Die regelt alles'." Aber die Versicherung regelt natürlich ebensowenig etwas wie der Schädiger. Regeln muß der Geschädigte alles selbst. Die Versicherung ersetzt ihm höchstens seine baren Auslagen - wenn er Glück hat.

6. Kap.: Leistungen

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an Information ganz unterbliebe. Um ihr eine Richtung zu geben, um sie vielfach überhaupt erst anzuregen, bedarf er daher der Orientierung, der Beratung und Anleitung, einschließlich des Nachweises und der Vermittlung geeigneter Dienste und Einrichtungen. 6.1.2. Es ist offensichtlich, daß - entgegen der Vorschrift des § 249 Satz 1 BGB - diese Aufgabe nicht dem Schädiger überlassen oder übertragen werden kann. Er wäre dadurch ebenso überfordert wie der Rehabilitand, ganz abgesehen davon, daß er in eine Konfliktsituation versetzt würde, weil er ja legitimerweise versuchen wird, seine Ersatzverpflichtungen gering zu halten. Die Sorge für eine angemessene medizinische und soziale Behandlung müßte daher einer Instanz zufallen, die primär das Wiederherstellungsinteresse der Geschädigten und erst in zweiter Linie das Wirtschaftlichkeitsinteresse der Schädiger vertritt. Denn für die Rehabilitation müßte der zivilrechtliche Grundsatz, daß der zum Schadensersatz Verpflichtete den Verletzten in Geld entschädigen kann, "wenn die Herstellung nur mit unverhältnismäßigen Aufwendungen möglich ist"7, zwar nicht außer Kraft gesetzt, aber doch relativiert werden. Bei Sachschäden mag die Verhältnismäßigkeit durch eine einfache Aufwands- und Ertragsrechnung ermittelt werden; bei Personenschäden dürften die Rehabilitationsaufwendungen jedoch nicht nur zu den andernfalls anfallenden Kosten oder zur Steigerung der ökonomisch verwertbaren Leistungsfähigkeit des Rehabilitanden ins Verhältnis gesetzt werden, sondern die Gesundheit, die Milderung der Folgen nicht voll auszuheilender Krankheiten und Verletzungen und die Erleichterungen für die Lebensführung des Behinderten müßten als personale Werte per se in die Bilanz mit eingesetzt werden. Wenn irgendwo, so ließe sich bei der Rehabilitation (im umfassenden Sinne der größtmöglichen Annäherung an den Normalzustand der Existenz) Zweckentsprechung interpretieren als "Versuch, ein Höchstmaß an Geld- und Sachleistungen zu erzielen, um Einzelpersonen oder Familien zu helfen oder sie zu ermutigen, eine Reihe persönlicher Probleme abzuändern, zu lösen oder zu beheben, die auf anderen Wegen und über andere Institutionen (Familie, Markt, Eigenmittel usw.) nicht angemessen bewältigt werden können. Dieser Grundsatz des Höchstmaßes gilt natürlich besonders bei Einzelpersonen, die anerkanntermaßen einen Ausgleich für Schäden benötigen ... Hier besteht eine besonders ausgesprochene soziale Pflicht, ein Höchstmaß von Diensten bereitzustellen"8.

Die vorgeschlagene Bundesanstalt für Unfall-, Rehabilitations- und Invaliditätsversicherung9 würde in diesem Sinne zugleich die Aufgaben 7

8 9

§ 251 Abs. 2 BGB.

Titmuss, Beziehungen, S. 67. Vgl. dazu Abschnitt 5.3.1.4.

6.1. Der Ausgleich von Integritätsverlusten

189

einer Bundesanstalt für Rehabilitation, entsprechend dem von der Sozialenquete-Kommission vorgetragenen Modell lO , erfüllen. Das bedeutet nun keineswegs, daß die neue Bundesanstalt sämtliche Einrichtungen und sämtliche Dienste, die für rehabilitative Versuche gebraucht werden, selbst betreiben und selbst leisten müßtel l • Es bedarf keiner näheren Erläuterung, daß sie im Gegenteil mit einer Fülle sozialer Berufe und Institutionen zu kooperieren, sich ihrer zu bedienen hätte, insbesondere auf die medizinischen und pflegerischen Leistungen und auf die Mitwirkung der Arbeitsverwaltung überhaupt nicht verzichten könnte12. Aber sie hätte doch zwei entscheidende koordinierende Funktionen zu erfüllen, die heute nur unzureichend wahrgenommen werden. Einerseits hätte sie darauf hinzuwirken, daß geeignete Einrichtungen für alle Arten und Phasen von Rehabilitationsverfahren in ausreichender Zahl und in sinnvoller räumlicher Verteilung zur Verfügung stehen, wie es im Sozialbericht 1970 der Bundesregierung als Planungsaufgabe bezeichnet ist1 3 • Andererseits hätte sie - durch örtliche Arbeitsstellen14 - die einzelnen Schadensfälle zu prüfen, Rehabilitationsverfahren rechtzeitig einzuleiten, einen Gesamtplan für die Behandlung aufzustellen15 und seine Durchführung zu garantieren, indem sie die verschiedensten - vorgefundenen, von ihr geförderten oder von ihr initierten - Kapazitäten zu kooperativen Bemühungen um diesen Rehabilitanden zusammenführt. Nur auf diese Weise wäre das Gleichbehandlungsprinzip zu verwirklichen, das nirgends eine größere Evidenz hat als in dem Leitsatz, daß "bei medizinisch gleichen Tatbeständen gleiche medizinische Hilfe zu leisten ist"16. Diese These wird selbst von denjenigen anerkannt, die sich der "bei den Fachleuten überraschend großen Einmütigkeit darüber, daß die Einheitlichkeit von Recht, Organisation und Finanzierung die beste Lösung sei"17, nicht anschließen zu können glauben. Um die Spezialeinrichtungen für kausal definierte Gruppen von Geschädigten zu verteidigen, geben sie nämlich die unterschiedlichen Ursachen von Behinderungen als unterschiedliche Behinderungen aus. Selbstverständlich ist es "ohne weiteres verständlich, daß ein an einem inneren Leiden, z. B. einer Lungentuberkulose Erkrankter einen völlig anderen Vgl. dazu Sozialenquete, Tz. 853 ff. Vgl. dazu Dieter Schäfer: Die sozialen Dienste im Rahmen einer Systematik der sozialen Hilfen. In: Sozialpolitik und persönliche Existenz, Festgabe für Hans Achinger anläßlich seines 70. Geburtstages, hrsg. von A. Blind, ehr. v. Ferber, H.-J. Krupp. Berlin 1969, S. 265-288. 12 Vgl. dazu den "Exkurs über Teamwork", Sozialenquete, Tz. 840 ff. 13 Vgl. dazu Sozialbericht 1970, Teil A, insbes. Tz. 50. 14 Vgl. dazu Sozialenquete, Tz. 841 und 858 c), sowie Abschnitt 5.3.1.4. 15 Vgl. dazu § 46 BSHG. 16 Sozialenquete, Tz. 858 a). 17 Sozialenquete, Tz. 855. 10

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6. Kap.: Leistungen

Rehabilitationsgang durchmachen muß als ein Unfallverletzter, der einen Arm oder ein Bein verloren hat"18. Das Argument tangiert jedoch das Gleichbehandlungspostulat überhaupt nicht. Dessen Anhänger vermögen nur nicht einzusehen, wo "die grundsätzlichen medizinischen Unterschiede" zwischen denjenigen, die durch einen Verkehrsunfall oder bei privater Beschäftigung, etwa bei der Hausarbeit oder beim Sport, einen Arm oder ein Bein verloren haben, und denjenigen, die das gleiche Schicksal durch einen Arbeitsunfall erlitten haben, liegen sollle, oder warum ein als Berufskrankheit anerkanntes Bronchialasthma und ein schicksalhaftes Bronchialasthma "völlig verschiedene Maßnahmen" erfordern, "die wiederum in voneinander verschiedenen Einrichtungen durchzuführen sind". Wenn wirklich "die medizinischen Tatbestände bei den Unfallverletzten ... regelmäßig ganz unterschiedlich" von denen anderer Gruppen von Verletzten wären20, würde das berufsgenossenschaftliche Rehabilitationsverfahren auch bei einem vereinheitlichten Leistungssystem unverändert erhalten bleiben. Denn die Vereinheitlichung soll ja gerade dem Ziel dienen, die Rehabilitationsmaßnahmen nach dem medizinischen und sozialen Befund anstatt, wie bisher, nach der Schadensentstehung zu differenzieren. Sie würde also keineswegs dazu führen, "die seit Jahrzehnten geübten und bis ins Kleinste verfeinerten Methoden der besonderen Krankenbehandlung für Unfallverletzte, des sogenannten berufsgenossenschaftlichen Heilverfahrens, und der Berufshilfemaßnahmen zu ändern"2l, sondern lediglich die "vorbildlichen Spezialeinrichtungen und Verfahren" der Unfallversicherung2! auch anderen, in gleicher Weise Verletzten zugänglich machen. Sie und nur sie würde dafür sorgen, "daß allen Behinderten die gebotenen medizinischen, erzieherischen, beruflichen und sozialen Hilfen schnell und unbürokratisch erreichbar sind, unabhängig davon, ob es sich um Kinder, Jugendliche oder Erwachsene handelt und ob die Behinderung angeboren ist, auf einer Erkrankung, einem Unfall oder einer Kriegsbeschädigung beruht". Die hier - insoweit in übereinstimmung mit der Sozialenquete - vorgeschlagene Bundesanstalt würde daher wie keine andere Lösung den Behinderten in Beruf und Gesellschaft Chancen eröffnen, wo immer dies möglich ist!3. 6.1.3. Wenn Rehabilitation - wie hier im Aktionsprogramm der Bundesregierung zur Förderung der Rehabilitation der Behinderten24 -

Lauterbach, Zentralinstitut für Rehabilitation? S. 71. So Gitter, Arbeitsunfallrecht, S. 199. 20 Lauterbach, Zentralinstitut für Rehabilitation? S. 71. 21 Lauterbach, Zentralinstitut für Rehabilitation? S. 66. 22 Sozialenquete, Tz. 807. 23 Sozialbericht 1970, Teil A, Tz. 48. 24 Vgl. dazu auch Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 51 vom 15. 4. 1970, S. 480 f. 18

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6.1. Der Ausgleich von Integritätsverlusten

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als der umfassende Versuch verstanden wird, die Lebensbedingungen aller beschädigten Personen denen der Gesunden so ähnlich zu machen wie nur irgend möglich, kann sie jedoch nicht als ein einmaliger Akt, als eine Maßnahme, die zu einem bestimmten Zeitpunkt endgültig abgeschlossen wäre, beschrieben werden. Selbstverständlich sollten zunächst alle Bemühungen darauf gerichtet sein, den Zustand des Geschädigten so schnell und vor allem so weitgehend wie möglich zu verbessern. Die Behandlung wäre also, auch wenn eine vollständige Heilung ausgeschlossen ist, so lange fortzusetzen, wie noch Aussichten bestehen, den pathologischen Befund zu mindern und die Folgen einer nicht voll auszuheilenden Krankheit oder Verletzung zu mildern, und zwar - wie es für die Heilbehandlung der Unfallversicherung vorgeschrieben ist - "mit allen geeigneten Mitteln"2s. Sie wäre also nicht durch Rentabilitätsgesichtspunkte zu begrenzen und folglich auch nicht durch die Hoffnung, daß aus dem Geschädigten wieder "ein Mensch mit Arbeitswert"26 werden kann. Sie wäre erst einzustellen, wenn eine weitere Annäherung an die physische und soziale Normalität nicht mehr erwartet werden kann. Von einem "Ende der Rehabilitation"l!7 kann aber eigentlich nur dann gesprochen werden, wenn eine völlige Wiederherstellung und Wiedereingliederung gelingt. Bleiben dagegen auf Dauer irgendwelche Schadensfolgen zurück, so sind fast immer auch auf Dauer irgendwelche Hilfen oder Hilfsmittel erforderlich, sei es um Rückfälle oder Verschlechterungen des erreichten Gesundheitszustandes zu vermeiden, sei es um Erleichterungen bei der Lebensführung und der Lebensbewältigung zu verschaffen oder um die Ausnutzung der verbliebenen Fähigkeiten zu eigener Lebensgestaltung zu ermöglichen. Das reicht von Blindenhunden, Hörapparten, Prothesen, Rollstühlen und ähnlichen Hilfsmitteln über ständige ärztliche Kontrollen, laufenden Bedarf an Heil- und Stärkungsmitteln, regelmäßig notwendige Kuren, Massagen und Bestrahlungen bis zur dauernden Betreuung durch eine Pflegeperson oder schließlich auch einer besonders geeigneten, etwa zu ebener Erde gelegenen oder mit dem Fahrstuhl erreichbaren Wohnung. Zum Ausgleich der Einbußen an physischer Integrität gehört also nicht nur die Deckung aller Behandlungs- und Rehabilitationskosten im engeren Sinne, d. h. des Aufwandes für die Heilung der Krankheit oder Verletzung, für die Verbesserung des Gesundheitszustandes und für die Wiedereingliederungsversuche. Darüber hinaus sind vielmehr auch die § 556 Abs. 1 RVO. Achinger, Nachgehende Fürsorge im Dienst der Rehabilitation, S. 15. 27 Vgl. Bialonski: Rehabilitation als Beitrag zur sozialen Sicherung. In: Rehabilitation, Bd. 2/3 der Schriftenreihe der Medizinisch Pharmazeutischen Studiengesellschaft, Frankfurt am Main 1965, S. 1. 25

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6. Kap.: Leistungen

Aufwendungen zu ersetzen, die durch anhaltende Beeinträchtigungen, durch andauernde Behandlungsbedürftigkeit und durch die Wahrnehmung aller Möglichkeiten der Lebenserleichterung bedingt sind. Soweit es sich dabei um einen laufenden oder sich regelmäßig wiederholenden zusätzlichen Bedarf handelt, wäre er - analog der Regelung in § 843 BGB - durch Zahlung einer Geldrente zu decken, die in den verschiedenen Formen des Pflegegeldes ihr Vorbild hat. Ihre Höhe wäre nach dem notwendigen effektiven Aufwand zu bestimmen. 6.2. Der Ausgleich von Verlusten der Leistungsfähigkeit 6.2.1. Ersatz des Verdienstausfalls 6.2.1.1. Die Frage, welches Ersatzeinkommen jemandem gezahlt werden soll, der infolge Minderungen seiner Leistungsfähigkeit sein bisheriges Erwerbseinkommen ganz oder teilweise verliert, ist das Standardproblem aller sozialen Sicherungssysteme. Wird der Ausgleich für Personenschäden in das soziale Sicherungssystem integriert, kann daher wegen der Leistungsmaßstäbe auf die Diskussionen verwiesen werden, die seit Jahrzehnten in der Sozialpolitik über die Bemessung von Rentenzahlungen geführt worden sind. Die Grundentscheidung, um die es dabei geht, nämlich ob einheitliche, nach dem Bedarf bemessene, oder differenzierte, am früher erzielten Einkommen orientierte Leistungen gewährt werden sollen, ist in der Sozialpolitik zunehmend zugunsten der zweiten Alternative ausgefallen1 • Das erleichtert es, den Schadensausgleich in das Sozialleistungssystem einzugliedern. Denn ein System, das alle Personenschäden ausgleichen und alle sonstigen diesbezüglichen Regelungen ablösen soll, könnte sich kaum damit zufrieden geben, nur eine Grundsicherung für die "basic needs" zu bieten, weil es dann diejenigen Verletzten leer ausgehen ließe, die sehr viel verloren, aber den einheitlichen Minimumstandard noch nicht unterschritten haben. Für den Ausgleich verminderten Wohlstandes und verminderter Lebenschancen kann daher eigentlich nur eine quotale Entschädigung infrage kommen. Soweit es um den Ersatz des Verdienstausfalls geht, sind nun aber Einkommensproportionalität und Schadensproportionalität identisch. Insoweit kann sich also auch eine Schadensausgleichsordnung den Bemessungskriterien der sozialen Sicherung anschließen. Die Entscheidung für eine einkommensproportionale Leistungsbemessung muß jedoch näher spezifiziert werden. In der Regel ist die Relation zwischen Rente und Erwerbseinkommen erheblich kleiner als eins. Bei der hier vorgeschlagenen allgemeinen Versicherung gegen 1 Vgl. dazu Abschnitt 4.1.2.2. Zur Motivation dieser Entscheidung vgl. statt vieler anderer Sozialplan der SPD, S. 26, und Sozialenquete, Tz. 331.

6.2. Der Ausgleich von Verlusten der Leistungsfähigkeit

193

Personenschäden müßte jedoch - eben weil sie das Schadensersatzrecht substituieren soll - so weit wie möglich der "Grundsatz des Höchstmaßes"! auch für den Einkommensersatz gelten. Das bedeutet, daß im Prinzip angestrebt werden sollte, die Rente bei Erwerbsunfähiglreit auf 100 Prozent des früheren Einkommens festzusetzen. "Der Sozialpolitiker wird im allgemeinen urteilen, daß in einem System lohnbezogener Sozialleistungen ein nur teilweiser Lohnersatz allein aus ethischen Gründen jedenfalls dann nicht erfolgen sollte, wenn die Ursache des Lohnausfalls unverschuldet durch den Sozialleistungsempfänger ist3 ." Daß "ein voller Ersatz für den Verdienstausfall, wenn überhaupt, nur für kurze Zeit zu rechtfertigen" sei4 , vermag nicht ganz zu überzeugen, wenn man bedenkt, daß der privatrechtliche Schadensersatz seit jeher keine Abzüge zu Lasten der Geschädigten kennt und daß der volle Lohnersatz im Krankheitsfall trotz früher auch dagegen vorgebrachter Bedenken seit vielen Jahren verwirklicht ist. 6.2.1.2. Allerdings wird man bei der Höhe der anderen Sozialleistungen nicht davon ausgehen können, daß der volle Ersatz des verlorenen Einkommens sofort durchzusetzen sein wird, zumal sich ohnehin mit den vorliegenden statistischen Daten kaum kalkulieren läßt, welche Ansprüche auf das neue Leistungssystem zukommen werden5 • Wenn man etwa auf das Niveau der Beamtenpensionen von 75 Prozent käme, wäre das zunächst schon eine recht befriedigende Lösung, wobei jedoch das Endziel nicht aufgegeben werden sollte'. Auf keinen Fall sollte man jedoch darauf verzichten, von Anfang an "zur eigentlichen Einkommenshilfe hinzukommende Beiträge zu leisten, die eine adäquate Altersrente ermöglichen. Eine konsequente Lösung dafür wäre, wenn die Beiträge auf der Basis des letzten erzielten Arbeitseinkommens berechnet und in der Annahme gesteigert würden, daß dieses letzte Einkommen bei Nichteintritt der partiellen oder völligen Arbeitsunfähigkeit analog zum Durchschnittseinkommen gestiegen wäre"7. VgI. dazu Anm. 8, Abschnitt 6.1. "The social policy expert would generally maintain that in a system of wage-related social benefits, partial wage compensation cannot, for ethical reasons, be justified when the loss of wages Is not the fault of the beneficiary." (Zöllner, Relating Social Insurance Benefits to Earnings, S. 229). 4 Sozialenquete, Tz. 830. 5 VgI. dazu Abschnitt 9.3.3. 8 Solange man einen solchen pragmatischen Kompromiß schließen muß, erscheint es bedauerlich, die Sach- und Vermögensschäden dem privaten Schadensersatzrecht zu überlassen, das sie zu 100 Prozent vergütet. Dadurch wird die Rangordnung der Rechtsgüter "Integrität der Person" und "Vermögen" umgekehrt. 7 Sozialenquete, Tz. 833. Schreiber hat bereits vorgeschlagen, "die Fortzahlung der Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung in ihrer bisher (vor der Erkrankung, vor dem Unfall) entrichteten Höhe" zusammen mit der Zahlung sämtlicher Ersatzeinkommen vor Erreichung der Altersgrenze der 2

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13 Schäfer

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6. Kap.: Leistungen

Eine andere Limitierung des Einkommensersatzes wird jedoch dauerhaft vorzusehen sein. So hat zum Beispiel auch v. Hippel, der sonst jede Restriktion der Entschädigung für den Verdienstausfall ablehnt, in seinem Reformmodell zum Verkehrsunfallrecht gefordert, daß "im Hinblick auf Großverdiener irgendwo eine Grenze gezogen werden" müsse; denn es sei "nicht Sache der die Prämien aufbringenden Kraftfahrzeugeigentümer, bestimmten Opfern den Bestand eines ungewöhnlich hohen Einkommens zu garantieren. Die Betroffenen mögen insoweit durch Lebens- oder Unfallversicherung selber Vorsorge treffen"8. Polemisch könnte man das Argument dahin variieren, daß nur Einkünfte, die noch durch eine Arbeitsleistung zu legitimieren sind, ersetzt werden sollen, nicht aber Bezüge, deren Höhe nur zu verstehen ist, wenn man sie als Status-, Monopol- oder Machtprämien interpretiert. Ob diese Grenze allerdings schon bei dem Höchstbetrag von 3000 DM im Monat überschritten wird, den v. Hippel in übereinstimmung mit dem Höchstbetrag des Jahresarbeitsverdienstes in der Unvallversicherung vorschlägt9, mag zweifelhaft erscheinen. Wenn, wie hier angeregt, der Ausgleich von Personenschäden voll in das soziale Sicherungssystem integriert wird, werden höhere Vergütungen jedoch auch kaum zu konzedieren sein. Dann sind nämlich "Leistungsbemessungsgrenzen notwendig, die zu den sonst geschaffenen Grenzen dieser Art in einem angemessenen Verhältnis stehen"lo. Am zweckmäßigsten dürfte es sein, sich dabei an die Systematik der Bezugsgrößen in der Rentenversicherung anzulehnen und die Obergrenze für den Einkommensersatz zwischen dem einfachen und dem doppelten Betrag der jeweiligen Beitragsbemessungsgrenze zu fixieren. 6.2.1.3. Zumindest in speziellen Fällen bietet die Frage, von welchem Einkommen bei der Rentenberechnung ausgegangen werden soll, besondere Schwierigkeiten. Beim privatrechtlichen Schadensersatz erstreckt sich die Ersatzverpflichtung auch "auf die Nachteile, welche die (schädigende) Handlung für das Fortkommen des Verletzten herbeiführt"l1. Anklänge an eine solche Bemessungsgrundlage, die auch ein hypothetisches zukünftiges Einkommen einbezieht, gibt es im Siche"neu zu schaffenden Bundesanstalt für Rehabilitation" zu übertragen (Rentenversicherung, S. 80). 8 v. Hippel, Schadensausglerch, S. 75. 9 Vgl. v. Hippel, Schadensausgleich, S. 120. 10 Sozialenquete, Tz. 832. Vgl. dazu jedoch die weitergehende überlegung in Tz. 527, auch eine über die gesetzliche Altersrente hinausgehende vermutbare freiwillige Alterssicherung bei Entschädigungsleistungen zu berücksichtigen. 11 § 842 BGB. Geminderte Aufstiegschancen werden bei der Bemessung des Verdienstausfalls aber nur insoweit berücksichtigt, als etwa "die künftige Beförderung oder Gehaltsaufbesserung zur Zeit des Urteils schon in sicherer Aussicht gestanden haben". Solange sich dagegen "die Gestaltung der Zukunft nicht übersehen läßt, muß sich der Verletzte darauf beschränken, die

6.2. Der Ausgleich von Verlusten der Leistungsfähigkeit

195

rungssystem etwa bei dem Berufsschadensausgleich der Kriegsopferversorgung, beim dem das effektive Einkommen des Beschädigten mit "dem höheren Durchschnittseinkommen der Berufs- oder Wirtschaftsgruppe, der der Beschädigte ohne die Schädigung nach seinen Lebensverhältnissen, Kenntnissen und Fähigkeiten und dem bisher betätigten Arbeits- und Ausbildungswillen wahrscheinlich angehört hätte", verglichen wird12 . In der Regel wird jedoch bei Sozialleistungen entweder das zuletzt verdiente Einkommen (so in der Krankenversicherung und in der Unfallversicherung) oder ein Durchschnitt früher verdienter Einkommen (so in der Rentenversicherung) zugrunde gelegt. In den meisten Fällen erscheint ein solcher Ansatz auch durchaus angemessen. Differenzierungen der Sozialleistungen sollen ja "bei dauerndem Verdienstausfall einen Absturz der Lebenshaltung verhindern"13; sie sollen die Lebenseinkommenskurve einigermaßen stabilisieren14, weil "die Ansprüche der Umwelt an die Menschen und die - oft sogar in Form langfristiger Verbindlichkeiten fixierten - Ansprüche der Menschen selbst je nach ihrem früheren Einkommen unterschiedlich sind"15. Das Ziel einer solchen (relativen) Kontinuität des sozialen Status erfordert jedoch in der Regel nicht, entgangene zukünftige Aufstiegschancen zu berücksichtigen; denn die gewohnte Lebensführung und der gewohnte Lebensstil sind im allgemeinen durch das bisher erzielte, nicht durch ein antizipiertes Einkommensniveau bestimmt. Unzumutbare Anpassungsreaktionen sind also durch lohnbezogene Sozialleistungen weitgehend zu vermeiden, soweit ein relativ hoher Prozentsatz des verlorenen Einkommens ersetzt wird. Der Verzicht auf die Einbeziehung der mutmaßlichen zukünftigen Karriere in die Bemessungsgrundlage ist jedoch nur angängig, wenn es sich um Personen handelt, die beruflich voll etabliert sind, deren berufliche Entwicklung bereits einen gewissen Reifegrad erreicht hat. Wenn dagegen Personen geschädigt werden, die noch ziemlich am Anfang ihrer Laufbahn stehen oder ihre Ausbildung noch nicht abgeschlossen oder sogar noch nicht einmal begonnen haben, kann sich die Kompensation für ihre Einbuße an Leistungsfähigkeit nicht einfach an den bisher verdienten bzW. nicht verdienten Einkommen orientieren. Für solche Fälle müßte eine andere Bezugsgröße gefunden werden, die - ähnlich wie bei dem erwähnten Berufsschadensausgleich für Kriegsopfer - dem wahrscheinlichen, bei Kindern und Jugendlichen aus den AusFeststellung zu verlangen, daß ihm ein etwaiger künftiger Schaden ersetzt werden müsse". (GeigeZ, Haftpflichtprozeß, S. 95 und 98 f.). 12 § 30 Abs. 4 BVG. 13 Sozialplan der SPD, S. 26. 14 Vgl. Liejmann-KeiZ, Sozialpolitik, S. 184. 16 Sozialenquete, Tz. 331. 13·

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6. Kap.: Leistungen

bildungszielen und eventuell auch aus ihrer sozialen Herkunft abzuleitenden beruflichen Werdegang entnommen werden müßte. 6.2.1.4. Der - vorläufige - pragmatische Kompromiß bei der Festsetzung des Verhältnisses der Rente zur Einkommensminderung und die - endgültige - systematische Limitierung der Renten durch dynamische Bemessungsgrenzen beschneiden zweilellos die Position des Geschädigten gegenüber der eines Schadensersatzgläubigers nach dem geltenden Privatrecht. Solche Verzichte erscheinen jedoch nicht nur zumutbar, sondern auch durch das Prinzip der Gleichbehandlung aller Geschädigten überkompensiert, das ja jedem einzelnen einen gegenüber dem augenblicklichen Zustand außerordentlich erweiterten und verläßlicheren Schutz bietet. Sie erscheinen darüber hinaus als Solidaritätsleistung zugunsten derjenigen Geschädigten, die im bisherigen System überhaupt nichts bekommen, gerechtfertigt. Außerdem ist damit zu rechnen, daß die Dilferenz zwischen Schadensersatzleistungen und Sicherungsleistungen im Laufe der Zeit schrumpfen wird, je vollkommener sich die Tendenz zur einkommensproportionalen Bemessung der Sozialleistungen durchsetzt1 6 , so daß die in dem hier unterbreiteten Reformvorschlag geforderte Solidarität immer weniger als Belastung empfunden werden wird. Schließlich wäre an die Einsicht zu appellieren, daß bei allen Bemühungen um ausgleichende Gerechtigkeit "immer ein gewisser Erdenrest bleibt, den zu tragen man dem Geschädigten zumuten kann, weil er sich in einer Gesellschaft befindet, in der jeder jeden anderen täglich in Gefahr bringt", und daß es "nicht mehr als recht und billig ist, daß derjenige, der die Vorteile einer so hoch entwickelten, dabei aber gefahrvollen Gesellschaft in Kauf nimmt, diesen letzten Erdenrest als eine Art sozialen Schadenselbstbehalts selbst trägt" 17. 6.2.2. Ersatz des Ausfalls naturaler Arbeitserträge

Die Verluste, die durch Minderungen der Leistungsfähigkeit entstehen, sind auch dann noch keineswegs voll ausgeglichen, wenn der Verdienstausfall hundertprozentig ersetzt wird. Denn "die Bedürfnisse der im Haushalt zusammenlebenden Menschen werden ... nicht allein durch Marktkäufe, sondern zu einem ganz erheblichen Teil durch Eigenleistung gedeckt". Dabei mögen im Einzelfall etwa Reparaturen im Haushalt und in der Wohnung, Selbstversorgung durch Gartenarbeit und insbesondere der Bau von Eigenheimen in Selbsthilfe erheblich zu Buche schlagen. Insgesamt gesehen hat jedoch "den größten Anteil an dieser Eigenleistung die Hausfrau"18. Die Sozialenquete hat darauf 11 17

18

Vgl. dazu Abschnitt 4.1.2.2. Prölss in Karlsruher Forum 1964, S. 42. Sozialenquete, Tz. 52.

6.2. Der Ausgleich von Verlusten der Leistungsfähigkeilt

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hingewiesen, daß die "voll im Haushalt beschäftigten Frauen zumindest zahlenmäßig in der Volltswirtschaft dasselbe Gewicht haben wie die in allen Industriegruppen Beschäftigten" 19, und die Bundesforschungsanstalt für Hauswirtschaft hat ermittelt, daß in den Haushalten jährlich 50 Milliarden Arbeitsstunden geleistet werden gegenüber 65 Milliarden in den Erwerbsbetrieben20 . Daß alle diese Leistungen nicht in die Berechnung des Sozialprodukts eingehen, weil sie außerhalb des marktvermittelten Tauschverkehrs erbracht werden, ändert nichts daran, daß sie einen höheren gesellschaftlichen Wert haben als manche statistisch das Volkseinkommen vermehrende Produktion, und daß erst das Zusammenwirken der Ehegatten im Hause zum eigenen Unterhalt und dem ihrer Kinder, erst die Verwendung des Geldeinkommens und die Leistung der Hausfrau zusammen den Nutzeffekt ergeben, der beiden und den Kindern zugute kommt21 . Daher stehen die "als Hausfrauen und Mütter vollbeschäftigten Frauen im erwerbsfähigen Alter in der Optik an der falschen Stelle, wenn man sie mit den unterhaltsbedürftigen Kindern und Jugendlichen in dieselbe Kategorie verweist ... Das Bild des Faktischen würde viel deutlicher, wenn man für die Altersstufe 20 bis 65 Jahre auf der Frauenseite eine zweite Kategorie neben der der Erwerbspersonen einführte: Verheiratete voll im Haushalt Tätige. Dann würde das Bild der Frauen im Aktivalter dem der Männer genau entsprechen: Es würde zeigen, daß in der Zeit der vollen Schaffenskraft vom 25. bis 50. Lebensjahr fast alle Männer und Frauen tätig sind und Werte schaffen, die ihren eigenen Unterhalt, den der gleichzeitig lebenden heranwachsenden Generation und den der Alten gewährleisten"22. Eine solche Korrektur gängiger sozioökonomischer Vorstellungen und Begriffe würde auch deutlich werden lassen, daß "Hausfrau" von der Arbeitslast und vom Arbeitsertrag her ein voller Beruf ist, daß eine Hausfrau und Mutter ebenso berufsunfähig werden kann wie ein Arbeitnehmer, und daß ihre Berufsunfähigkeit den Unterhalt der Familie ebenso schmälern kann wie die des Mannes. Aber da dieser Tatbestand dem Sozialrecht bisher unbekannt geblieben ist23 , gibt es für den Ausfall ihrer Arbeitsleistung bisher auch keinen Ersatz. Daher treten "besondere Schwierigkeiten in der Weiterführung des Haushalts im Falle starker Minderung der Leistungskraft der Hausfrauen und Mütter durch langwierige Leiden und Gebrechen auf. Ein gewerblicher Betrieb oder eine öffentliche Verwaltung mit einer Vielzahl von Beschäftigten kann Arbeitsausfall infolge Krankheit durch Sozialenquete, Tz. 53. Vgl. Brigitte Scherer: Denken ist nicht verboten. Arbeitsplanung Chance für die Hausfrau. In: FAZ Nr. 101 vom 2.5.1970, Sonderseite "Die Frau". 21 Vgl. Sozialenquete, Tz. 52. 22 Sozialenquete, Tz. 54. 23 Vgl. dazu auch Sozialenquete, Tz. 734 und 738-740. 18

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6. Kap.: LeistWlgen

Stellvertretung ausgleichen. Bei lang andauernder und schwerwiegender Leistungsminderung des Beschäftigten kann der Betrieb oder die Verwaltung den Arbeitsplatz mit einem anderen Beschäftigten besetzen. Der Leistungsgeminderte scheidet infolge Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit aus. All das ist im Haushalt nicht möglich, es gibt weder Stellvertretung noch Ausscheiden; die übrigen Familienmitglieder werden in Mitleidenschaft gezogen. Wenn die Hausfrau und Mutter krank wird, muß sie sehen, wie der Haushalt trotzdem weiterläuft"24. Bisher ist - wie an anderer Stelle schon dargestellt worden ist das Schadensersatzrecht mit dem sozialen Sicherungsrecht weitgehend darin einig gewesen, nur kommerzialisierte Werte als Berechnungsgrundlage eines Schadens anzuerkennen und alle nicht geld- und marktwirtschaftlichen Vorgänge zu ignorieren; jenes hat sich dabei eines Vermögensbegriffs bedient, der genau den ökonomischen Verengungen der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung entspricht25 , dieses hat - wie v. Ferber sich ausgedrückt hat - "ein Gaukelspiel mit dem Arbeitsbegriff" getrieben26, indem es nur Erwerbstätigkeit als Leistung wertet und folglich auch nur Erwerbseinkommen absichert. Mit dem Gleichberechtigungsgesetz hat sich - wie ebenfalls bereits erwähnt worden ist27 - das Privatrecht jedoch zu einer anderen Auffassung durchgerungen. Durch den neuen § 1360 BGB hat es anerkannt, daß die Führung des Haushalts in der Regel einen der Erwerbstätigkeit des Mannes gleichwertigen Beitrag zum Unterhalt der Familie darstellt28 • Das hat für den Schadensersatz zur Folge, daß nicht mehr, wie vorher, der Mann Ersatz für entgangene Dienste verlangen kann, wenn seine Frau nicht mehr imstande ist, den Haushalt und die Kinder zu versorgen; vielmehr hat bei Beeinträchtigung ihrer Leistungsfähigkeit die Frau selbst einen Anspruch, und zwar auf Ersatz des Schadens, der darin liegt, daß sie ihre Arbeitskraft nicht mehr als ihren Beitrag zum Familienunterhalt verwerten kann. Im Falle ihres Todes behält der Mann (bzw. die Kinder) zwar einen Entschädigungsanspruch, doch richtet er sich nunmehr auf Ersatz für entgangene Unterhaltsleistungen2D • Dieser Bewertung der hauswirtschaftlichen, pflegerischen und erzieherischen Leistungen der Frauen und Mütter, die allein den gegebenen Lebensverhältnissen und den ökonomischen, sozialen und kultuTz. 57. Vgl. Abschnitt 3.5.2.1. 28 v. FeTbeT, Sozialpolitik, S. 106. 17 Vgl. Abschnitt 3.5.2.2. 18 Die gleiche EinschätzWlg der Tätigkeit der Frau liegt den Vorschriften über die Zugewinngemeinschaft zugrunde, welche den Vermögenszuwachs während der Ehe grundsätzlich als von beiden Ehegatten zu gleichen Teilen erzielt ansehen (vgl. § 1363 Abs. 2 Satz 2, § 1373 und § 1378 Abs. 1 BGB). zg Vgl. LaTenz, Schuldrecht II, S. 467, Anm. 3. !4 Sozialenqu~te, Z5

6.3. Der Ausgleich immaterieller Verluste

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rellen Aufgaben der Familie gerecht werden kann, müßte sich die neue allgemeine Versicherung gegen Personenschäden anschließen. Es ist selbstverständlich, daß eine volle berufliche Rehabilitation hier ebenso versucht werden müßte wie bei Erwerbstätigen, schon deshalb, weil "die Gesellschaft an der Erhaltung der Arbeitskraft und Leistungsfähigkeit dieser Frauen und Mütter in den Haushalten ein ebenso elementares Interesse haben muß wie an der der Arbeitnehmer. Das gilt insbesondere für die Mütter, denen Pflege, Bildung und Erziehung der Kinder obliegt"so. Wenn ihre Berufsfähigkeit jedoch nicht wiederhergestellt werden kann, müßte zumindest bei langwierigen und erheblichen Behinderungen ein finanzieller Ausgleich geleistet werden. Es fragt sich nur, ob dabei, der bisherigen Praxis des Schadensersatzrechts entsprechend31 , die Kosten für das Dienstpersonal, das sie ersetzen könnte, zugrunde gelegt werden sollten, oder ob nicht vielmehr von dem Familieneinkommen auszugehen wäre, was den Grundvorstellungen des neuen Familienrechts viel näher käme. Bei der ersten Lösung könnte das Hausfraueneinkommen als ein bestimmter Prozentsatz des durchschnittlichen Einkommens aller Rentenversicherten festgesetzt werden, bei der zweiten wären die Einkommensverhältnisse des betroffenen Einzelhaushalts in Ansatz zu bringen. Beide Alternativen lassen Staffelungen nach der Zahl und dem Alter der zu versorgenden Kinder zu, wie sie bei den Sozialleistungen insbesondere in Form von Kinderzuschlägen üblich sind. Eine solche Geldrente zum Ausgleich der geminderten Leistungsfähigkeit wäre ein entscheidender Durchbruch in Richtung auf einen selbständigen Rentenanspruch für alle nicht erwerbstätigen Hausfrauen und hätte insofern präjudiziellen Charakter auch für die Alterssicherung. Es kann daher kaum zweifelhaft sein, daß das jeweilige Familieneinkommen zumindest von denjenigen als Bemessungsgrundlage empfohlen werden wird, die bestrebt sind, die nur akzessorische soziale Sicherung der Hausfrauen zu überwinden. 6.3. Der Ausgleich immaterieller Verluste

6.3.1. Bei der in dieser Arbeit angeregten Vereinheitlichung aller Ausgleichsleistungen für Personenschäden und ihrer Integration in das soziale Sicherungssystem liegt es nahe, sich dem Vorschlag anzuschließen, den v. Hippel aus ganz ähnlichen Motiven für den - allerdings sehr viel begrenzteren - Bereich der Verkehrsunfallschäden gemacht hat: Tz. 55. Vgl. dazu Wussow, Ersatzansprüche bei Personenschaden, S. 32 u. 34.

30 Sozialenqu~te,

31

200

6. Kap.: Leistungen

Einen Mittelweg zwischen den bisherigen Entschädigungsregeln zu wählenl und "einerseits grundsätzlich alle materiellen Schäden zu ersetzen, andererseits jedoch immaterielle Schäden grundsätzlich nicht zu vergüten"2. In Fällen, "in denen der Schmerz ungewöhnlich stark oder anhaltend ist oder in denen der Unfall zu einer dauernden Beeinträchtigung der physischen Integrität oder zu einer Verunstaltung des Verletzten geführt hat"3, will v. Hippel allerdings, abweichend von seinem Grundsatz des Ausschlusses immaterieller Schäden, ein Schmerzensgeld gewähren. Auch diese Anregung könnte für das hier befürwortete System übernommen werden. Der Schmerzensgeldanspruch würde dann gegenüber den privatrechtlichen Normen erheblich eingeschränkt sein, aber nicht völlig ausgeschlossen. Wenn die neue soziale Versicherung gegen Personenschäden grundsätzlich alle anderen Ersatzansprüche ablösen soll, erscheint es unbillig, nur die Behandlungskosten und den eingebüßten Ertrag der Arbeitskraft zu ersetzen, den Integritätsverlust als solchen, die physischen und psychischen Beschwerden des Beschädigten jedoch gänzlich außer Betracht zu lassen. Denn die Minderung der Lebensmöglichkeiten, die Reduzierung der Selbstentfaltung durch besonders schwerwiegende Behinderungen und anhaltende Leidenszustände wiegt für den Verletzten oft schwerer als der erlittene materielle Verlust. Wer blind geworden ist oder gelähmt, wer sein Gehör verloren hat, wer lebenslang entstellt oder von Schmerzen heimgesucht ist, ist in seiner Lebensgestaltung so entscheidend beeinträchtigt und um so wesentliche Aspekte eines humanen Daseins verkürzt, daß seine Situation auch dann mit der eines Gesunden nicht zu vergleichen ist, wenn er keinerlei Einkommens- oder sonstige materielle Verluste erlitten hat. Der reine Einkommens- und Vermögensvergleich erweist sich in solchen Fällen als indolente Menschenverachtung. Daß derartige Schicksalsschläge mit den Mitteln der Verteilungsgerechtigkeit nicht zu korrigieren sind, besagt jedoch nicht, daß auf jede materielle Kompensation verzichtet werden sollte. Eine Geldentschädigung vermag immerhin die dem Verletzten verbliebenen Möglichkeiten der Selbstverwirklichung zu erweitern; sie kann, "weil sie ihm die Möglichkeit gibt, sich irgendwelche Wünsche zu erfüllen, wenigstens mittelbar einen Ausgleich der erlittenen Unbill darstellen"4; sie könnte dazu dienen, "dem Verletzten für die erlittenen Unlustgefühle und entgangene Lebensfreude einen Ausgleich durch Gewährung von Daseinsfreude in einer den Umständen nach möglichen anderen Form zu schaf1

Vgl. dazu auch Abschnitt 5.3.1.6.

v. Hippel, Schadensausgleich, S. 74. a v. Hippel, Schadensausgleich, S. 78.

I

4

Larenz, Schuldrecht I, S. 190.

6.3. Der Ausgleich immaterieller Verluste

201

fen"5, "Unlustgefühle durch Lustgefühle zu kompensieren, also die ideellen Nachteile durch Gegenvorteile auszugleichen"6; sie könnte dem Verletzten zwar die verlorenen Möglichkeiten der Betätigung, der Lebensgestaltung und des Lebensgenusses nicht zurückgeben, aber sie könnte ihm wirtschaftliche Freiheitsgrade eröffnen, die es ihm erleichtern, sein Schicksal zu bewältigen. Alle diese Formeln, mit denen versucht wird, die Rechtsnatur und die Funktion des Schmerzensgeldes zu umschreiben, geben allerdings keinerlei Anhaltspunkte dafür, "wie dieses Unwägbare in Geld aufgewogen werden soll"7. Während die Bezifferung materieller Schäden im Prinzip ein reines Rechenexempel ist, wenn sie auch im Einzelfall Schwierigkeiten bereiten mag, ist bei den immateriellen Schäden eine richtige Bewertung grundsätzlich unmöglich. Wie hoch ein Schmerzensgeld sein soll, kann immer nur diskretionär entschieden werden. Daher ist eine im interpersonalen Vergleich angemessene Behandlung gleichartiger Fälle nur zu erreichen, wenn für anhaltende und besonders schwerwiegende Schädigungsfolgen in einer Art Schmerzensgeldtabelle bestimmte Beträge festgesetzt werden. Bei voll auszuheilenden oder leichteren Verletzungen, auch bei Dauerfolgen, die nach einer Anpassungs- und Gewöhnungszeit nicht mehr als besonders einschneidend empfunden werden, sollte auf Schmerzensgeldzahlungen ganz verzichtet werden. Da Schmerzensgelder demnach nur bei Dauerschäden gewährt würden, sollten sie in der Regel auch in Rentenform gezahlt werden. 6.3.2. Es mag erstaunen, daß hier für ein Schmerzensgeld als Leistungsart eines sozialen Sicherungsinstituts plädiert wird, gilt doch im allgemeinen als unbestritten, daß erlittene Schmerzen und Einbußen an körperlicher Integrität als solche bei Sozialleistungen - auch wenn sie kausal definiert sind - nicht berücksichtigt werden. Aber so uneingeschränkt ist die These nicht haltbar. Es gibt ganz offensichtlich Sozialrenten für Personenschäden, die weder Aufwendungen noch einen Verdienstausfall ersetzten. Das ist insbesondere bei Grundrenten aus der Kriegsopferversorgung, die an Bezieher hoher Einkommen gezahlt werden, nicht zu übersehen. Sie werden daher auch offen "als pauschale Abgeltung für die Einbuße an körperlicher Unversehrtheit, die jeder Beschädigte ohne Rücksicht auf seine Einkommensverhältnisse durch die Folgen seiner Schädigung erlitten hat"8, als "Entschädigung für ausgestandene und fortdauernde Leiden sowie für gesellschaftliche Beein5 Larenz, Schuldrecht H, S. 468 (Zitat aus einer Entscheidung des BGB). • Esser, Schuldrecht 11, S. 465. 7 Larenz, Schuldrecht H, S. 468. 8 Schewe und Nordhorn, übersicht, S. 138.

202

6. Kap.: Leistungen

trächtigungen im Verkehr mit Menschen", die folglich auch einem "Reichen" zugebilligt werden müsse', ausgewiesen. Weniger deutlich ist ein ganz ähnlicher Sachverhalt bei den Verletztenrenten aus der Unfallversicherung. Sie werden gewährt, wenn "die Erwerbsfähigkeit des Verletzten um wenigstens ein Fünftel gemindert ist"lo. Diese Definition verschleiert jedoch nur, daß insbesondere die Unfallrenten an leichter Verletzte in der Regel nicht für einen Einkommensausfall gezahlt werden. Was hier, fast ausschließlich von medizinischen Sachverständigen, als Minderung der Erwerbsfähigkeit deklariert wird, stellt viel eher "das Ergebnis des Bemühens dar, das Ausmaß körperlicher oder geistiger Versehrtheit einschließlich damit verbundener Beschwerden, Unbequemlichkeiten und psychischer Belastungen in Prozentzahlen auszudrücken"l1, als daß es eine effektive Beeinträchtigung der Verdienstchancen bezeichnen würde. Die Verletztenrenten haben daher, wie Gitter ausführlich dargestellt hat' !, einen Funktionswandel erfahren. Bis zum ersten Weltkrieg hätten die festgesetzte Minderung der Erwerbsfähigkeit und der Lohnausfall sich weitgehend gedeckt, weil der verletzte Arbeitnehmer - falls es ihm überhaupt gelang, einen seiner Leistungsminderung entsprechenden Arbeitsplatz zu finden - sich mit einem individuell vereinbarten Leistungslohn habe begnügen müssen, so daß die Unfallrente eine tatsächlich gegebene Lohneinbuße ausgeglichen habe. Heute sei dagegen bei allen Minderungen der Erwerbsfähigkeit um weniger als 50 Prozent kaum ein Verdienstausfall festzustellen. Einkommensminderungen treten in der Regel nicht mehr in solcher Kontinuität auf, wie die fein abgestuften Teilrenten glauben machen, sondern in Sprüngen, oft in Form der Alternative "volle Berufstätigkeit" oder "volle Pensionierung". Daher sind die Teilrenten der Unfallversicherung "heute in der Mehrzahl der Fälle weder Schadensersatzrente noch soziale Unterhaltsrente, sondern Versehrtenrente für den Körperschaden"13. Das ist jedoch ein sozial sehr unbefriedigendes Ergebnis. "Wenn nämlich Nichtschwerverletzte bis 50 °/0 MdE keinen ins Gewicht fallenden Einkommensausfall haben, dann wird in diesen Fällen von der Rente für den Ausgleich des Vermögensschadens nichts verbraucht, praktisch hat also die gesamte Rente den Charakter des Immaterial9 10

11

PTelleT, Praxis und Probleme der Sozialpolitik, S. 481. § 581 Abs. 1 RVO. GitteT, Arbeitsunfallrecht, S. 163.

111 Vgl. insbesondere den Abschnitt "Das Prinzip abstrakter Schadensberechnung" (GitteT, Arbeitsunfallrecht, S. 159 ff.). 13 GitteT, Arbeitsunfallrecht, S. 166.

6.3. Der Ausgleich immaterieller Verluste

203

schadensersatzes. Mit zunehmender MdE treten dagegen in steigendem Maße auch Einkommensverluste ein, so daß damit ein größerer Teil der Rente auf den Ausgleich des Vermögensschadens entfällt. Je schwerer die Verletzung ist, desto geringer ist also typischerweise der Prozentsatz der Rente, der für den Ausgleich der immateriellen Schäden zur Verfügung steht. Darin liegt aber eine umgekehrte und deshalb sinnwidrige Proportion .•. Die gegenwärtig gehandhabte Schadensberechnung bei der Verletztenrente der Unfallversicherung führt daher weder zu einem annäherungsweise zutreffenden Ausgleich des Erwerbsschadens allein noch zu einem sinnvollen Ausgleich des materiellen und zugleich des immateriellen SchadensI4 ." Solche Widersprüchlichkeiten und Ungerechtigkeiten würden aufgehoben, wenn das hier vorgeschlagene Leistungssystem bei Personenschäden realisiert würde. Es brächte eine klare Trennung der Funktion des Ausgleichs immaterieller Schäden von der des Ersatzes wirtschaftlicher Verluste durch eine gesonderte Rente. Leistungen, die faktisch weitgehend den Charakter eines Schmerzensgeldes angenommen haben, wie die Grundrenten für Kriegsopfer und die Teilrenren für Unfallverletzte, würden offen als solches deklariert. Damit würde der Gesetzgeber unter Entscheidungszwang gestellt. Er müßte den Ausgleich für Einbußen an personaler Integrität, der heute in - vor allem durch den Begriff der Minderung der Erwerbsfähigkeit - verschleierten Formen vollzogen wird, entweder explizit legitimieren oder ebenso explizit eliminieren. Er müßte seine - bisher zum Teil unbewußten oder verschwiegenen - Zielsetzungen und Werturteile offenlegen. Er müßte bestimmen, unter welchen Voraussetzungen "der immaterielle Schadensausgleich durch eine Versehrtenrente, die auch als Integritätsrente bezeichnet werden könnte"15, gewährt und nach welchen Kriterien er bemessen werden sollte. Eine solche schmerzensgeldähnliche spezielle Rente, die neben den Renten für wirtschaftliche Verluste gezahlt würde, hätte vor allem drei Vorteile. Zunächst könnte nur durch sie jene umgekehrte Proportionalität zwischen Leidenszuständen und Zuwendungen verhindert werden, die dadurch entsteht, daß unabhängig von der Einkommenssituation gewährte Leistungen zunehmend ihren Schmerzensgeldcharakter verlieren, je mehr sie zur Deckung des Verdienstausfalls herangezogen werden müssen. Zweitens könnte - was ihrer Zweckbestimmung entsprechen würde - eine selbständige Schmerzensgeldrente über die Altersgrenze hinaus weiterlaufen, während von diesem Zeitpunkt an die Lohnersatzfunktion auf die Rentenversicherung übergehen würde. 14 18

Gitter, Arbeitsunfallrecht, S. 167 f. Gitter, Arbeitsunfallrecht, S. 197.

204

6. Kap.: Leistungen

Schließlich böte sich die Integritätsrente als das Instrument an, mit dem Leistungsdifferenzierungen nach der Schadensentstehung, auf die man absolut nicht verzichten zu können glaubt, einigermaßen sachgerecht bewirkt werden könnten. Wenn man etwa das Opfer, das die Kriegsversehrten im Dienst des Staates erbracht haben, oder auch die Verletzung, die jemand an seinem Arbeitsplatz erlitten hat, besser honorieren will als die gleiche Behinderung, die sich jemand im zivilen oder im privaten Bereich zugezogen hat, so könnte man für derartige Gruppen Sondertaxen für die Bewertung ihrer Leiden schaffen, die sowohl höhere Entschädigungssätze als auch eine bereits bei geringeren Graden der Versehrtheit einsetzende Entschädigung vorsehen könnten. Dadurch würde aber wenigstens die Gleichwertigkeit der Rehabilitationsbemühungen und der Unterhaltssicherung bei gleichen Schädigungen nicht beeinträchtigt, und beabsichtigte Begünstigungen und Benachteiligungen würden offen als solche ausgewiesen und begründet werden müssen.

Siebentes Kapitel

Die Zurechnung von Schadensfolgen (Finanzierung) 7.1. Beiträge der Versicherten 7.1.1. Die allgemeine Unfall-, Rehabilitations- und Invaliditätsversicherung, deren Grundzüge hier entwickelt werden, basiert auf den beiden Prämissen, daß alle Personenschäden, unabhängig von ihrer Entstehung, nach den gleichen Kriterien ausgeglichen werden und daß Verhaltensweisen (Betätigungen und Unterlassungen), durch die Menschen gefährdet werden, dem durch sie hervorgerufenen Risiko entsprechend belastet werden. Dieser Ansatz schließt aus, daß die Einnahmen und die Ausgaben der neuen Bundesanstalt übereinstimmen, solange keine zusätzlichen Konstruktionselemente in das System eingefügt werden. Die Kombination einer akausalen Leistungsstruktur mit einer kausalen Finanzierungsstruktur müßte selbst dann zu einem Defizit führen, wenn es gelänge, alle potentiellen Schädiger ohne Ausnahme zu risikoadäquaten Beiträgen heranzuziehen; denn es wird immer Ausfallerscheinungen und pathologische Zustände geben, die schicksalhaft, das heißt trotz aller denkbaren Fortschritte der Ursachenforschung und der prophylaktischen Verfahren nicht zu vermeiden sind. Um diesen kausal nicht zu definierenden überschuß der Schäden zu decken, müssen daher auch akausale Einnahmequellen erschlossen werden. Dafür kommen - wie bei allen Instituten der sozialen Sicherung - Steuermittel oder Beiträge der Gesicherten in Frage. Es wird hier davon ausgegangen, daß die neue Bundesanstalt zwar öffentliche Zuschüsse erhält1, daß dadurch ihr Budget aber noch nicht ausgeglichen wird. Der verbleibende Fehlbetrag müßte also durch Beiträge aufgebracht werden. Sie wären prinzipell nach den gleichen Regeln zu gestalten, die auch für die anderen Sozialversicherungen gelten. Das bedeutet, daß alle Einkommensbezieher für sich selbst und für ihre nicht erwerbstätigen Familienangehörigen beitragspflichtig wären, weil ja die gesamte Bevölkerung zu den Begünstigten gehört, daß die Beiträge einkommensproportional sein sollten, weil ja auch die den Ver1

Vgl. dazu die Abschnitte 7.3.2. und 7.3.3.

206 dienstausfall ersetzenden Leistungen einkommensproportional sind, und daß es eine Obergrenze für die Beitragsbemessung geben müßte, weil es auch eine Obergrenze für die Rentenbemessung gibt. Zu diesen Regelungen bedarf es hier keiner näheren Erläuterungen und Begründungen, da sie den Motivationen der völlig analog verfahrenden bestehenden Sozialleistungszweige entnommen werden können. Bei einer Versicherung gegen Einbußen der körperlichen Integrität läge es nahe, die Beiträge auch nach dem individuellen Risiko zu staffeln. v. Hippel, der seinen Reformplan zur Verkehrsunfallversicherung als "Modell für eine allgemeine Unfallversicherung, die ... gegen sämtliche Unfallrisiken unserer Zeit" schützt2 , empfiehlt, schlägt eine solche differenzierende Beitragskalkulation vor: "Bevölkerungs- oder Berufsgruppen, die besonderen Unfallrisiken ausgesetzt sind - wie z. B. die von Raubmördern bevorzugten Taxifahrer - und denen die Volksunfallversicherung deshalb mehr als dem Normalbürger zugute käme, könnte man in einem dem Sonderrisiko entsprechenden Maße zur Finanzierung der Versicherung beitragen lassen3." Diese Anregung wird deshalb hier nicht aufgegriffen, weil die kalkulierbaren Sonderrisiken zum größten Teil bereits durch die Deckungsfonds egalisiert werden4 • Da die privaten Beschäftigungen sich nicht ausreichend kontrollieren lassen, um sie zur Grundlage für Prämienzuschläge zu machen, könnten als anormale Risiken kaum andere als die berufsbedingten erfaßt werden. Dafür sind aber in dem hier entwickelten System die Dekkungsfonds für Arbeitsunfälle als Nachfolger der heutigen Berufsgenossenschaften zuständig5 • 7.1.2. Wie hoch die Beiträge sein müßten, läßt sich schwer schätzen. Klar ist nur, daß sie die Differenz zwischen dem Gesamtaufwand der neuen Bundesanstalt und den Einnahmen, die ihr aus den drei anderen Finanzierungsquellen zufließen würden, decken müßten. In beiden Summen stecken jedoch unbekannte Größen6 • Sicher wird man davon ausgehen müssen, daß der Gesamtbeitrag für Sozialversicherungen nach Etablierung des neuen Systems nicht unerheblich über dem heute zu zahlenden läge, wenn auch die Mehrbelastung in Einkommensprozenten gerechnet wiederum nicht allzu einschneidend sein dürfte. Um beurteilen zu können, inwieweit erforderliche Erhöhungen der Belastung durch Sozialabgaben zumutbar und durchsetzbar wären, müßten ihnen die Ersparnisse, die sich durch die Reform ergäben, gegenübergestellt werden. Dabei wäre insbesondere zu berücksichtigen, daß alle sonstige ! 3 4

5 I

Schadensausgleich, S. 115. Schadensausgleich, S. 116. Vgl. dazu Abschnitt 7.2.1. Vgl. dazu Abschnitt 7.2.2.2. Vgl. zur näheren Beschreibung der offenen Fragen Abschnitt 9.3.3.

v. Hippel, v. Hippel,

7.2. Beiträge der potentiellen Schädiger

207

Vorsorge für Unfälle und Behinderungen entbehrlich würde. Privatversicherungen wären nur noch sinnvoll, um den über der Bemessungsgrenze liegenden Einkommensteil abzudecken, und, solange der volle Ersatz auch des unter der Bemessungsgrenze liegenden Verdienstausfall noch nicht zugesichert werden kann, eventuell auch für die verbleibende Differenz7 • Um durch solche Unsicherheiten hervorgerufenen Bedenken gegen die Vereinheitlichung des Restitutionsrechts zu begegnen, könnten gewisse Regulative in das neue Leistungssystem eingebaut werden. So könnte man in Erwägung ziehen, insbesondere bei den für ein Sozialleistungssystem teils neuartigen, teils nur durch klare Bezeichnung neuartig erscheinenden Leistungen, also den Hausfrauenrenten8 und den "Integritätsrenten"8, zunächst mit einer vorsichtigen Bemessung zu beginnen und sie nur in dem Maße den angestrebten Zielwerten allmählich anzunähern, in dem das ohne Überschreitung bestimmter Beitragssätze möglich wäre. 7.2. Beiträge der potentiellen Schädiger 7.2.1. Die Deckungsfonds und ihre Gliederung nach homogenen 8dlädigungsursadlen

Das bestehende Restitutionssystem ist grundsätzlich, in der Regel auch institutionell, nach weitgehend homogenen Typen von Schädigungsursachen gegliedert. Das neue System müßte bei den Leistungen auf dieses Gliederungsprinzip verzichten; je konsequenter sämtliche Unfall-, Rehabilitations- und Invaliditätsrisiken in das nach einheitlichen Kompensationsregeln verfahrende Leistungssystem einbezogen werden, desto heterogener wird es zwangsläufig in seiner kausalen Struktur. Bei der Aufbringung sollte jedoch die kausale Spezifikation nicht nur erhalten bleiben, sondern gegenüber dem heutigen Zustand sogar wesentlich verfeinert und auf bisher verschonte Gruppen potentieller Schädiger ausgedehnt werden. Das Instrument, das solche möglichst weitgehend risikoäquivalenten Belastungen mit einer durchgreifenden Vereinheitlichung der Entschädigungsmaßstäbe kompatibel macht, sind die Deckungsfonds. Sie stellen also sozusagen das Verbindungsglied zwischen der alten und der neuen Ordnung dar. Sie bringen die überkommenen Maximen der Schadensregulierung in einer erweiterten und modifizierten Form in die Aufbringungsverfahren des neuen Systems ein, ohne die Anwendung der neuen Maximen für die ZuteiVgl. dazu Abschnitt 6.2.1.2. Vgl. dazu Abschnitt 6.2.2. • Vgl. dazu Abschnitt 6.3.

7 8

208

7. Kap.: Finanzierung

lung von Leistungen zu vereiteln. Für die potentiellen Schädiger haben sie die Funktion einer Zwangshaftplichtversicherung, durch die alle individuellen Haftungsverpflichtungen abgelöst werden. Insoweit sind sie völlig analog zu den Berufsgenossenschaften konstruiert. Wie diese unterscheiden sie sich von privaten Haftpflichtversicherungen dadurch, daß sie entstehende Schäden nicht mehr einem Individuum, sondern einem Gefahrenbereich, einem Kollektiv, das gleichartige Schadensursachen produziert, zurechnen. Für die Geschädigten sind sie dagegen funktionslos. Denn im Gegensatz zu allen bisherigen Organisationsformen der Schadens deckung sind sie kein Leistungsinstitut mehr, sondern bloßes Finanzierungsinstitut1 • Sie haben keine Entschädigungsaufgabe zu erfüllen und stehen daher auch in keinerlei Beziehung zu den Geschädigten, sondern dienen lediglich als Medium einer verursachungsgerechten Repartierung der Schadenslasten. Derartige Deckungsfonds sollten für alle Gefahrenquellen geschaffen werden, die als solche identifiziert sind, das heißt für alle mit einer gewissen Regelmäßigkeit ausgeübten Betätigungen, die mit einer berechenbaren oder schätzbaren Wahrscheinlichkeit Beeinträchtigungen der körperlichen Integrität von Menschen verursachen werden. Soweit es heute schon Einrichtungen gibt, die - wie namentlich die Haftpflichtversicherungen und die Arbeitsunfallversicherung - in ähnlicher Weise der Schadensverteilung und Schadensabwälzung dienen, würden die Deckungsfonds solche bestehenden Institute fortsetzen. Soweit für bestimmte Gefahrenquellen bisher noch keine "Formen kollektiver Schadenstragung"2 entwickelt worden sind, obwohl sie - wie etwa die sogenannten Umweltgefahren - längst als schadensträchtig erkannt sind, wären neue Fonds zu errichten, die keine Vorgänger haben. Soweit schließlich der gefährdende Charakter bestimmter Tätigkeiten erst noch aufgedeckt und nachgewiesen werden müßte, wären weitere neue Fonds zu konstituieren, sobald sie durch die Fortschritte der ätiologischen Forschung zu rechtfertigen sind. Eine umfassende Typologie der Deckungsfonds kann erst entwickelt werden, wenn intensivere und umfassendere Untersuchungen über die Verursachung von Krankheiten und Behinderungen vorliegen als bisher3 • Auch dann stünde sie natürlich immer noch unter dem Vorbehalt weiterer Fortschritte der wissenschaftlichen Erkenntnis. Beim gegenwärtigen Wissensstand können jedoch nur einige der wichtigsten Dekkungsfonds als Beispiele für die angestrebte Gliederung nach möglichst homogenen Gefahrenbereichen genannt werden. 1 2 B

Vgl. dazu auch Abschnitt 8.2.4. Esser, Gefährdungshaftung, S. 120. Vgl. dazu auch Abschnitt 9.3.2.

7.2. Beiträge der potentiellen Schädiger

209

Die Deckungsfonds für Schädigungen am Arbeitsplatz dürften in ihrer Organisationsstruktur am ehesten bestehenden Einrichtungen nachzubilden sein. Sie wären wie die Berufsgenossenschaften für bestimmte Wirtschaftszweige zu errichten, da sie ein betriebsspezifisches Risiko zu decken haben; von daher könnte eventuell sogar eine stärkere Unterteilung als bei den heutigen Unfallversicherungsträgern angezeigt sein. Im Gegensatz zur derzeitigen .Rechtslage hätten sie jedoch nicht mehr für Wegeunfälle aufzukommen, da es sich dabei um ein völlig betriebs- und berufsunabhängiges Risiko handelt. Der Deckungsfonds für Schädigungen durch den Straßenverkehr würde gegenüber den heutigen Haftplichtversicherungen einen größeren Kreis von Beitragspflichtigen haben. Außer den Kraftfahrzeugeigentümern, die zur Zeit die Versicherung allein zu finanzieren haben, wären die Hersteller, die Werkstätten und die Verkehrssicherungspflichtigen, also insbesondere die Straßenbehörden, heranzuziehen4, um den Teil des Verkehrsunfallrisikos zu decken, der auf Konstruktionsund Fabrikationsfehler, auf mangelnde Sorgfalt bei Reparaturen und Inspektionen und auf den Zustand des Straßennetzes zurückzuführen ist. Schließlich wäre auch noch daran zu denken, den Arbeitgebern insoweit einen Ausgleich für die Entlastung von den Kosten der Wegeunfälle aufzuerlegen, als sie durch räumliche Konzentration der Arbeitsstätten und zeitliche Konzentration der Arbeitszeiten eine wesentliche Erhöhung des Unfallrisikos im Berufsverkehr herbeiführen. Deckungsfonds für Schädigungen, die durch Verletzung von Verkehrssicherungspflichten hervorgerufen werden, wären in den verschiedensten Varietäten vorzustellen. Soweit die Verkehrssicherungspflicht sich auf den Straßenverkehr bezieht, wären die Beiträge an den für Verkehrsunfälle zuständigen Fonds zu entrichten. Sonderfonds für Verkehrssicherungspflichtige, durch die ein typisches Sonderrisiko erfaßt würde, wären beispielsweise von den Eigentümern von Gebäuden und von den Bauunternehmern zu finanzieren, die für die Absicherung von stets eine spezifische Gefahrenquelle bildenden Baustellen verantwortlich sind. Gerade in diesem Bereich liefern die Haftpflichtversicherungen vielfältige Vorbilder. Die Deckungsfonds für Schädigungen durch fehlerhafte Produkte und sonstige fehlerhafte Leistungen würden einen Gefahrenbereich betreffen, in dem bisher sowohl die Versicherungs- als auch die Haftungsformen nur höchst unzulänglich ausgebildet sind. Sie wären grundsätzlich nach Produktgruppen zu gliedern. Da diese Einteilung sich weitgehend mit der nach Wirtschaftszeigen überschneidet, könnten die Fonds für Produktschäden eventuell mit denen für Arbeitsschäden verbunden , Vgl. dazu auch v. Hippel, Schadensausgleich, S. 98. 14 Schäfer

7. Kap.: Finanzierung

210

werden. Die Einstandspflicht der Kraftfahrzeugproduzenten für Fehler ihrer Erzeugnisse wäre durch die Beiträge an den Verkehrsunfallfonds abgegolten; diese Zuordnung erscheint zweckmäßig, weil Verkehrsunfälle die typische Folge von Mängeln an Kraftfahrzeugen sind. Im übrigen wären, um nur einige der sich nach den Schadensnachrichten der letzten J ahre 5 aufdrängenden Beispiele zu nennen, Fonds zu bilden für Schädigungen durch ele~trische Haushaltsgeräte, durch Medikamente, durch stationäre und durch ambulante ärztliche Behandlung, durch Kosmetika, durch Wasch- und Reinigungsmittel oder durch Lebensmittel, die etwa durch Rückstände von Schädlingsbekämpfungsmitteln und Futterzusätzen oder durch Konservierungsmittel und Geschmacksverbesserer verunreinigt sind. Die Deckungsfonds für Schädigungen durch gefährdende Anlagen und Substanzen könnten in ihrer Gliederung zum Teil dem Muster folgen, das durch bestehende oder vorgeschlagene Gefährdungshaftungen6 und die dafür entwickelten Versicherungen geliefert wird. So würde es etwa einen Deckungsfonds für Schäden durch ätzende Substanzen, durch gütige Gase und Dämpfe, durch Explosionen, durch Radioaktivität und durch Atomenergieanlagen geben. Diese Einteilung überschneidet sich wiederum mit der nach Wirtschaftszweigen, so daß die Fonds für Arbeitsschäden, Produktschäden und Anlagenschäden teilweise von der gleichen Instanz verwaltet werden könnten. Daneben wird jedoch eine Reihe von Fonds eingerichtet werden müssen, die nach anderen Kriterien zu organisieren sind, insbesondere die für Schäden durch Wasserverunreinigung, Luftverunreinigung und Lärm, also die für die typischen Umweltgefahren zuständigen. Bei ihnen wären nämlich, wie bei dem Verkehrsunfallfonds, ganz verschiedene Gruppen, die gemeinsam die Bedrohung der Gesundheit produzieren, beitragspflichtig zu machen. Die Luftverschmutzung wird zum Beispiel vor allem durch industrielle Anlagen, den Straßenverkehr und Heizungsanlagen verursacht. Das heißt nun aber keineswegs, daß der "Pollution"-Fonds von der Industrie, den Autofahrern und den Hausbesitzern oder Mietern finanziert werden müßte. Die Industrie wird man mit guten Gründen heranziehen, weil sie für die Konstruktion und den Zustand ihrer Fabrikationsanlagen selbst verantwortlich ist. Der Autofahrer und der Hausbesitzer kann sich jedoch keine Sonderanfertigung herstellen lassen, sondern muß kaufen, was angeboten wird. In welchem Maße der Autoverkehr und die Wohnungsheizung zur Vergiftung der Biosphäre beitragen, entscheiden also die Konstrukteure der Motoren und der Feuerungsanlagen, allenfalls noch diejenigen, die sie warten und ein6

Vgl. dazu auch Simitis, Haftung des Produzenten, S. 8, sowie Rudolt Fehltritte der Produktion, in FAZ Nr. 135 vom 14.6.1969, S. 17. Vgl. dazu Abschnitt 3.3.1.2.

Gerhardt, 8

7.2. Beiträge der potentiellen Schädiger

211

stellen, und die Brennstofflieferanten. Daher wären die Mittel für den Fonds, der die Schäden durch Luftverschmutzung zu decken hat, außer von der Industrie vor allem von den Automobilwerken, den Produzenten von Ölfeuerungsanlagen und der Mineralölindustrie aufzubringen. 7.2.2. Die prophylaktische Funktion der Schadenszurechnung

7.2.2.1. Hier zeigt sich das Zurechnungsprinzip, auf dem die Dekkungsfonds basieren, noch einmal an einem besonders markanten Fall. Der Satz, daß derjenige, der eine Gefahr erzeugt, auch für sie einzustehen hat, ist nicht genau genug, um es zu definieren. Er würde ohne erläuternde Zusätze die Argumentation vielleicht sogar in eine falsche Richtung lenken. Denn zunächst erscheint es völlig offenkundig, daß es niemand anderes als der Autofahrer ist, der immer dann zur Erzeugung giftiger Abgase beiträgt, wenn er sein Auto in Betrieb setzt, und der, da die Luftverschmutzung nun einmal zwangsläufig mit dem Betrieb von Kraftfahrzeugen verbunden ist, auch für die dadurch entstehenden Schäden aufzukommen habe. Aber es ist nicht der Autofahrer, der diese Gefahrenquelle beherrscht. Ob es mehr oder weniger Verkehrsunfälle gibt, hängt zum großen Teil von seinem Verhalten ab, und deshalb ist es gerechtfertigt, ihn mit dem größten Teil der Beiträge zu dem dafür zuständigen Deckungsfonds zu belasten. Ob es mehr oder weniger giftige Abgase gibt, kann er dagegen kaum beeinflussen. Dieses Risiko kann nur durch konstruktive Veränderungen, also nur von den Herstellern verringert werden, und deshalb ist es auch von ihnen zu decken. Zurechnungskriterium ist also stets die Beherrschbarkeit oder zumindest Beeinflußbarkeit der Gefahr; für ein Risiko hat immer derjenige einzustehen, der am ehesten in der Lage ist, der am ehesten über einen Entscheidungsspielraum und über technische Möglichkeiten verfügt, es zu begrenzen, zu verkleinern oder ganz auszuschalten.

Obwohl es dabei um eine Aufbringungspflicht für Beiträge und nicht um eine individuelle Haftung geht, mag es zunächst den Anschein haben, als ob mit diesem Kriterium auf Vorstellungen zurückgegriffen werde, die dem Deliktsrecht entstammen. Denn bei der Prüfung des Schuldvorwurfs im Schadensrecht wird ja auch gefragt, ob "im Zeitpunkt der Gefahrenentstehung die Möglichkeit bestand, gefahrenabwendende Maßnahmen zu ergreifen"7. Damit ist jedoch weder eine objektive noch eine absolute Grenze bezeichnet8 • Wenn in der juristischen Literatur zuweilen so argumentiert wird, als ob die beherrschbaren und die unbeherrschbaren Gefahren grundsätzlich andersartige und eindeutig gegeneinander abgrenzbare Erscheinungen seien, als ob es Gefahren 7

8

Simitis, Haftung des Produzenten, S. 53. Vgl. dazu Abschnitt 3.3.3.2., insbesondere Anm. 130.

212

7. Kap.: Finanzierung

gäbe, gegen die "nun einmal auch die minuziösesten Vorsichtsmaßnahmen" nicht hülfen, die "untrennbar mit dem Herstellungsverfahren verbunden" und die daher "einfach nicht abzuwenden" seien', so wird damit weniger eine Aussage über Tatsachen als über Bewertungsmaßstäbe gemacht, die der Abwägung dienen, welche Verhaltensweisen zu billigen und welche zu verwerfen sind. Die technisch möglichen Sicherheitsvorkehrungen reichen aber fast immer viel weiter als die rechtlich geforderten. Schon Formulierungen wie die, daß immer nur "eine dem Gefahrenpotential und der Betriebsform entsprechende Sorgfalt" angewendet werden müsse10, beweisen, daß eine größere Sorgfalt sehr wohl möglich wäre, aber vom Recht nicht verlangt wird. Wenn bestimmte Risiken als unvermeidbar deklariert werden, geht es also darum, Grenzen der Zumutbarkeit innerhalb eines viel umfassenderen Kontinuums von Handlungsmöglichkeiten zu umschreiben und damit gewisse Verhaltensnormen aufzustellen. Die in der Rechtsprechung gelegentlich erkennbare Tendenz, "die finanzielle Leistungsfähigkeit des Verkehrssicherungspflichtigen als Zumutbarkeitsgrenze anzusehen" 11, macht vollends klar, daß die Vermeidbarkeit oder Unvermeidbarkeit einer Gefahr letztlich eine Frage des Kostenkalküls ist. Gerade neuere Entwicklungen der Technologie haben gezeigt, daß Sicherheit fast beliebig, bis auf einen infinitesimalen Gefahrenrest, produziert werden kann, wobei sich allerdings eine steil exponentiell ansteigende Kostenkurve ergibt. So ist zum Beispiel vor kurzem berichtet worden, daß ein Elektrizitätswerk zwei Millionen Dollar aufwenden mußte, um seine Abgase zu 98 Prozent zu entstauben, daß eine Anlage, die 99 Prozent des Staubs zurückhalten würde, jedoch vier Millionen Dollar kosten würde 12 • Nicht zuletzt hat die Raumfahrt deutlich werden lassen, daß die technischen Grenzen der Vervollkommnung der normalen Erzeugnisse noch längst nicht erreicht sind. "Würde man sich einen entsprechenden Perfektionismus der Zuverlässigkeits- und Funktionskontrollen am Auto leisten, dann wäre eine störungslose Betriebszeit von Hunderttausenden von Jahren gewährleistet. Sie würden das einzelne Kraftfahrzeug allerdings unbezahlbar machen18." Die technisch durchaus gegebene Alternative zwischen gefährlichen und so gut wie gefahrlosen Produkten wäre ökonomisch also unter Umständen eine Alternative zwischen der Produktion gefährlicher Erzeugnisse und der Einstellung der Produktion. "Es kann durchaus Fälle geben, in denen , Simitis, Haftung des Produzenten, S. 66. Esser, Gefährdungshaftung, S. VI f. - Kursive vom Verfasser. 11 Simitis, Haftung des Produzenten, S. 48. 10

12 Vgl. "Unkoordinierter Umweltschutz" in FAZ Nr. 10 vom 13.1. 1971, S.15. 18 Kurt Rudzinski: Die Apollo-13-Havarie Kleine Ursachen, große Wirkungen. In: FAZ Nr. 91 vom 20.4.1970, S. 2.

7.2. Beiträge der potentiellen Schädiger

213

die Ausgaben für technisch ohne weiteres mögliche sicherheitsfördernde Verfahren letztlich die Produktion aufs Spiel setzen würden. Kosten lassen sich nicht immer auf den Preis abwälzen. Zudem verlieren auch die sichersten Produkte ihre Attraktivität, wenn der Preis eine bestimmte Grenze übersteigt14." Auch das beweist aber wiederum nur, daß die Vermeidung von Risiken eine Kostenfrage ist. Man könnte in jede Konstruktion eine immer noch etwas größere Sicherheitsmarge einbauen, immer noch etwas wirksamere Reinigungs- und Kontrollanlagen benutzen, immer noch etwas vorsichtiger mit gefährlichen Substanzen und Apparaturen umgehen, immer noch ein zusätzliches Absorptionsfilter und immer noch ein zusätzliches Sicherheitsventil verwenden, immer noch eine weitere Versuchsserie durchführen, immer noch eine zusätzliche Inspektion und immer noch einen zusätzlichen Kontrolltest vornehmen, wenn nicht Konkurrenzdruck und Gewinnstreben, technischer Wirkungsgrad und ökonomische Rationalität, Zeitaufwand und affektive Werte dem irgendwo Einhalt gebieten würden. 7.2.2.2. Aber im Bereich der marginalen Entscheidungen sind Verbesserungen immer möglich. Deshalb - und das ist wahrscheinlich die präziseste Formulierung und zugleich Begründung des hier diskutierten Zurechnungsprinzips - sollten die Beiträge zur Schadensdeckung immer dem auferlegt werden, der die Alternative hat, statt dessen Kosten zur Schadensverhütung aufzuwenden. Aus dieser Fassung erhellt auch sofort die prophylaktische Funktion des vorgeschlagenen Verfahrens. Wer sich in gefahrenträchtiger Weise verhält, verursacht, gesamtwirtschaftlich gesehen, auf jeden Fall Kosten. Das System der Deckungsfonds stellt ihn vor die Wahl, in welcher Form er sie aufbringen will: Als Aufwand für die Deckung des Risikos oder als Aufwand für die Minderung des Risikos. Das bedeutet, daß die Beitragshöhe davon abhängig sein sollte, welche Anstrengungen er zur Gefahrenabwehr unternimmt, denn davon hängt ja auch die Höhe des Risikos ab. Konkret wäre also die Beitragsgestaltung nach den gleichen Grundsätzen vorzunehmen wie in der Unfallversich-erung15 • Die Summe aller Beiträge eines Fonds müßte sämtliche Aufwendungen decken, die der neuen Bundesanstalt aus Ausgleichsleistungen für Schädigungen erwachsen, die seinem Gefahrenbereich zuzurechnen sind16 ; ein reines Umlageverfahren wäre hier sachgerecht. Die einzelnen Beitragspflichtigen würden nach Gefahrenklassen veranlagt t7 • Die Bemessungsgrundlage wäre natürlich bei den verschiedenen Fonds sehr verschieden; so wäre zum Beispiel bei den Fonds für Arbeitsunfälle die Lohnsumme, bei den Fonds 14

15 IS 11

Simitis, Haftung des Produzenten, S. 48. Vgl. dazu Schewe und Nordhorn, übersicht, S. 109. Analog zu § 724 RVO. Analog zu §§ 730 und 734 RVO.

214

7. Kap.: Finanzierung

für Produktschäden der Umsatz oder der Absatz, bei den Fonds für Hausbesitzer die Mieteinnahmen oder die Zahl der Hausbewohner oder die Länge der Straßenfront und bei den Fonds für gefährdende Anlagen etwa die Nennleistung oder der Brennstoffverbrauch zugrunde zu legen. Die am besten geeigneten Bezugswerte wären von Fall zu Fall zu ermitteln. Auf die so festgesetzten Beiträge wären dann nach dem Umfang und dem Erfolg der ergriffenen Verhütungsmaßnahmen "Zuschläge aufzuerlegen oder Nachlässe zu bewilligen ... An Stelle von Nachlässen oder zusätzlich zu den Nachlässen können nach der Wirksamkeit der Unfallverhütung gestaffelte Prämien gewährt werden"18. Schadenverhütungsmaßnahmen sollten aber nicht nur durch Beitragsnachlässe honoriert, sondern auch direkt von den Deckungsfonds angeordnet werden können. Durch ihre gefahrenspezifische Gliederung sind sie für diese Aufgabe prädestiniert. So könnte sich zum Beispiel der Deckungsfonds für Medikamentenschäden zu einer Institution entwickeln, die die bisher in der Bundesrepublik nicht existierende Arzneimittelprüfung übernähme. Umgekehrt könnten bestimmte Fonds auch bereits vorhandenen Kontrollinstanzen, wie etwa den Technischen überwachungsvereinen, angegliedert werden. Für die Kompetenzen und den praktischen Vollzug könnte wiederum die Unfallversicherung weitgehend als Vorbild dienen19. Wie diese sollten die Deckungsfonds bei Verstoß gegen die von ihnen erlassenen Vorschriften Ordnungsstrafen erlassen können!o. Zweifellos wirft das System eine ganze Reihe schwieriger Zuordnungsprobleme auf, sowohl was die Zugehörigkeit einzelner Unternehmungen zu einzelnen Deckungsfonds als auch was die Belastung bestimmter Deckungsfonds mit den Aufwendungen für bestimmte Schadensfälle betrifft. Das gilt insbesondere, wo Schäden nur multikausal erklärt werden können!1. Bei den ökologischen Gefahren wird man ohnehin mehr auf indirekte, statistische Beweisverfahren22 und auf steuerähnliche Abgaben zurückgreifen müssen. Aber das sind alles Fragen, die von Wissenschaft und Technik zu lösen und die notfalls auch politisch zu entscheiden sind. Im Prinzip sind sie nicht komplizierter als die Beweise, die unter dem heutigen personalistischen Schadensrecht der Geschädigte zu erbringen hat. Daran zeigt sich gerade der außerordentliche Vorteil des hier vorgeschlagenen Systems: Streitigkeiten darüber, wem welcher Schaden zuzurechnen ist, werden in ihm § 725 Abs. 2 RVO. Vgl. dazu Schewe und Nordhorn, übersicht, S. 98 ff., Linthe, Unfallversicherung, S. 17 f., und §§ 708 ff. RVO. 20 Vgl. dazu auch Abschnitt 7.4.2.3. 21 Vgl. dazu Abschnitt 4.2. 22 Vgl. dazu auch Abschnitt 9.3.2. 18 10

7.2. Beiträge der potentiellen Schädiger

215

nicht mehr auf dem Rücken des Geschädigten ausgetragen, sondern sind eine quasi verwaltungsinterne Angelegenheit zwischen der Bundesanstalt und den Deckungsfonds; der Geschädigte jedenfalls bleibt von ihnen unberührt. 7.2.3. Die Lenkungsfunktion der Schadenszurecbnung

7.2.3.1. Das Zurechnungskriterium der Deckungsfonds hat außer der prophylaktischen Funktion auch eine ökonomische Lenkungsfunktion. Aus ihr ergibt sich erst die Legitimation, es über die Verpflichtungen hinaus, die mit der Vermeidbarkeit oder Vorhersehbarkeit oder auch mit der Vorsorgemöglichkeit - etwa nach dem Motto "Versicherbarkeit verpflichtet"23 - begründet werden, auf alle Gefahrenquellen anzuwenden, also auch auf solche, bei denen keine weitere sinnvolle Maßnahme zur Schadensverhütung mehr getroffen werden kann. Das gilt zum Beispiel für die sogenannten Entwicklungsgefahren, die sich im Zeitpunkt ihrer Entstehung noch gar nicht konkret benennen lassen, sondern sich erst später durch ihre Auswirkungen als Gefahren erweisen. Es gilt aber auch für solche Gefahren, die durchaus bekannt, aber untrennbar mit Produkten oder Leistungen oder Betätigungen verbunden sind, auf die unter keinen Umständen verzichtet werden soll.

Ein besonders hervorstechendes Beispiel für derartige Produkte stellen die Arzneimittel dar. Es gibt kaum ein Medikament, das keine Nebenwirkungen hätte. "Selbst einem so unbedenklich benutzten Hausmittel wie Aspirin werden verschiedene unerwünschte Nebenwirkungen angelastet - von Reizungen der Magenschleimhaut bis zur Möglichkeit, daß bei Embryonen Mißbildungen hervorgerufen werden24 ." Ist die Heilkraft eines Medikamentes lebenswichtig - wie beim Penicillin, das tödliche Allergien auslösen kann, oder bei einem Pharmazeutikum mit so häufigen und schweren Nebenwirkungen wie Cortison -, so findet man sich damit ab. Auch Impfschäden nimmt man hin, selbst wenn sie - wie bei der Pockenimpfung - in einigen Fällen zum Tode oder zu zerebralen Dauerschäden infolge postvakzinaler Enzephalitis führen25 . Es ist also keineswegs so, daß ein Mittel, dessen schädigendes Potential genau erkannt ist, nicht mehr angewendet würde. Wenn es um sehr hohe Lebenswerte geht oder wenn einige geopfert werden müssen, um viele vor schweren Schädigungen zu bewahren, wird vielmehr durchaus ein kalkuliertes - und manchmal auch ein nicht kalkulierbares - Ri23 24

25

Simitis, Haftung des Produzenten, S. 73. Scheueh, Mut zum Haschisch? FAZ Nr. 62 vom 14.3.1970. Vgl. dazu Rainer FWhZ: Mängel der Pockenschutzimpfung

republik. In: FAZ Nr. 36 vom 12.2.1970, S. 7.

in der Bundes-

216

7. Kap.: Finanzierung

siko in Kauf genommen. Welches Risiko "in Kauf" genommen werden soll, läßt sich jedoch nur dann abwägen und entscheiden, wenn das Risiko beim Kauf mit berechnet wird. Das ist aber nur dann der Fall, wenn der gesamte Werteverzehr, der dadurch bewirkt wird, daß eine Leistung oder ein Produkt erzeugt und entweder auf den Markt gebracht oder vom Staat zur Verfügung gestellt wird, bei der Preisbildung Berücksichtigung findet; und zu dieser durch die Leistungserstellung bedingten Zerstörung von Werten gehört nun einmal auch der angerichtete Schaden. Nur wenn auch er im Preis zum Ausdruck kommt, läßt sich überhaupt beurteilen, ob eine Leistung oder ein Produkt dem Empfänger das wert ist, was sie kostet. Das gilt für öffentliche Leistungen ebenso wie für kommerzielle wie auch für private Betätigungen. Eine öffentliche Schutzimpfung ist eben nicht mehr kostenlos, wenn der Staat den Teil der Kosten, der in den Impfschäden besteht, auf die Opfer abwälzt. Zu dem gleichen Ergebnis kommt man, wenn man argumentiert, daß diejenigen, die auf ein bestimmtes Produkt nicht verzichten wollen sei es nun, weil es, wie ein Arzneimittel, lebenswichtig für sie ist, oder weil es, wie ein Auto oder eine Ölheizung, Annehmlichkeiten bringt -, jene entschädigen sollten, die durch dieses begehrte Produkt zu Schaden kommen; daß also die den Fortschritt Genießenden und von ihm Profitierenden den Opfern, die gerade unter dieser allgemeinen Verbesserung der Lebenschancen oder vielleicht sogar der überlebenschancen zu leiden haben, einen Ausgleich schuldig sind26 • Solche Kompensation ist aber wiederum nur dadurch zu bewerkstelligen, daß die Begünstigten und die Nutznießer ihren Anteil an den Schadenslasten im Preis abführen. Schon aus diesem Grunde wären auch an die Entwicklungsgefahren Beitragspflichten zu Deckungsfonds zu knüpfen. Es ist den Herstellern auch durchaus zuzumuten, sie bei der Kostenplanung für die Entwicklung neuer Produkte von vornherein mit zu berücksichtigen. Denn es ist hinreichend bekannt, daß zumindest bestimmte Wirtschaftszweige, insbesondere die chemische und pharmazeutische Industrie, "unter dem Damoklesschwert der Schädlichkeit ihrer Präparate" arbeiten1!7. Wenn aber "gerade die wissenschaftliche Entwicklung den Schluß nahelegt, daß es zu gefährlichen Komplikationen kommen kann"28, berechtigt den Hersteller eben nichts, auch nicht "die Tatsache, daß er alle wissenschaftlich und technisch notwendigen Vorkehrungen getroffen hat, zu der Annahme, daß es allenfalls zu Konstruktions-, Fabrikationsfehlern oder fehlerhaften Zulieferungen kommen kann" und daß sich das Produktionsrisiko darin er28 27

28

Vgl. dazu auch die Abschnitte 4.3.3.1. und 4.3.3.2. Simitis, Haftung des Produzenten, S. 15. Simitis, Haftung des Produzenten, S. 69.

7.2. Beiträge der potentiellen Schädiger

217

schöpfe 29 • Er muß vielmehr wissen und daher - und zwar schon bei der Aufstellung seines Forschungs- und Entwicklungsbudgets - damit rechnen, daß Entwicklungsfehler immer wieder einmal auftreten und deshalb durch eine Umlage der jeweils in Frage kommenden Branchen abzudecken sind. Denn Schäden, an die man zunächst nicht gedacht hat und ohne neue wissenschaftliche Erkenntnisse auch gar nicht denken konnte, erweisen sich eben im nachhinein doch als Folge ersparter Entwicklungskosten und belegen damit, daß ohne Beiträge zum Schadensausgleich das neue Produkt nicht mit den vollen Kosten seiner Herstellung belastet wäre. Bei alledem geht es im Grunde nur um die Generalisierung eines Prinzips, das in der sozialpolitischen Argumentation schon immer eine Rolle gespielt hat, nämlich um jene Überwälzung sozialer Lasten, die schon Roscher gemeint hat, wenn er es als "das natürlichste Verfahren" bezeichnet, mittels der Beiträge zur Kranken- und Unfallversicherung "die Heilungskosten als Bestandtheil der Productionskosten den Consumenten der Arbeitsproducte aufzulegen"3o. Das Argument kehrt seitdem immer wieder. In der Formulierung, die ihm das Internationale Arbeitsamt gegeben hat, kommt bereits zum Ausdruck, daß ihm auch für den Lenkungsmechanismus des Preissystems eine Bedeutung zukommt: "Da die Prämie in die Kosten der Erzeugnisse einkalkuliert wird, muß der Verbraucher für Güter, deren Herstellung den Arbeiter größeren Gefahren aussetzt, entsprechend höhere Preise zahlen; er wird daher naturgemäß einem Erzeugnis, das aus einem ungefährlicheren Produktionsprozeß hervorgeht und sich daher billiger stellt, den Vorzug geben31 ." Bei Esser wird dann die gleiche Argumentation insofern über die sozialen Lasten hinaus verallgemeinert, als er nicht nur die Betriebsunfälle als zu den Gestehungskosten einer Ware gehörig, sondern ebenso die VerkehrsunfäHe als Teil der Beförderungskosten bezeichnet und daraus folgert, es sei "ein volkswirtschaftlich und rechtlich angemessener Weg zur richtigen Preisbildung und Gefahrenverteilung", wenn "diese Unkosten mit den sonstigen Betriebskosten im Tarif und Verkaufspreis repartiert, d. h. umgelegt" würden, so daß sie "letzten Endes die Nutznießer des Betriebs und seiner Produkte" aufbrächten32 • Aus diesen überlegungen wird bereits deutlich, daß die in Form nicht abgegoltenen Schadens, also letztlich nach dem Prinzip "casum 29

Simitis, Haftung des Produzenten, S. 70.

System der Armenpflege und Armenpolitik. Stuttgart 1894, S. 288. 31 Internationales Arbeitsamt: Soziale Sicherheit. Ein Lehrgang für Arbeitnehmer. Genf 1958, S. 136. 32 EsseT, Gefährdungshaftung. S. 128. so Wilhelm RoscheT:

7. Kap.: Finanzierung

218

sentit dominus" entstehende "Belastung von dritten Personen oder der Gesellschaft mit Teilen der Produktionskosten nicht nur eine wirtschaftlich ungerechtfertigte Einkommensverschiebung zu ungunsten der geschädigten Personen darstellt, sondern die grundsätzliche Frage nach der Wirtschaftlichkeit des die Sozialkosten verursachenden Betriebes unbeantwortet läßt. So wäre z. B. ein Produktionsunternehmen, das seine Rentabilität der Abwälzung eines Teils seiner Kosten auf die Gesamtheit verdankt, selbst dann wirtschaftlich ungerechtfertigt, wenn sich zeigen ließe, daß sich die Sozialkosten nur mit Hilfe von Aufwendungen vermeiden lassen, die disproportional zu der erlittenen Werteinbuße sind"33. Das bedeutet nichts anderes, als daß "jene Schäden, die, obwohl sie direkt oder indirekt mit Produktion und Verteilung kausal verbunden sind, nicht in die wirtschaftliche Kostenrechnung eingehen"34, den Lenkungsmechanismus des Preissystems verfälschen. Denn unabhängig davon, ob bestimmte Gefahren zu vermeiden gewesen wären oder nicht, ob ihre Vermeidung einfach zu bewerkstelligen oder mit unverhältnismäßig hohen Aufwendungen verbunden gewesen wäre, und ob ein die Vermeidungskosten enthaltender Preis durchzusetzen gewesen wäre oder die Nachfrage zum Erliegen gebracht hätte, kann "eine Wirtschaftsrechnung, die die Sozialkosten nicht einschließt, nur durch Zufall zu einer optimalen Ausnutzung von knappen Mitteln führen"35. Wenn nicht alle "disutilities" bei der Kalkulation erfaßt werden, müssen relative Preise entstehen, die nicht der Kostensituation entsprechen. Da aber die Preisverhältnisse die Verteilung der Nachfrage auf die verschiedenen Erzeugnisse bestimmen, wird dadurch die optimale Anpassung der Produktionsstruktur an die Präferenzstruktur der Konsumenten blockiert. Es wird ein größerer Teil der knappen Ressourcen in gefahrenträchtige Verwendungen gelenkt, als es der Fall wäre, wenn die in Form von "diswelfare" geschädigter Personen anfallenden Kosten sich in der Preisbildung widerspiegeln würden36 • Sozialkosten, S. 526. Sozialkosten, S. 525. Sozialkosten, S. 526. Wegen der theoretischen Ableitungen der Wirkungen sozialer Kosten auf den Allokationsmechanismus, die hier nicht referiert werden können, sei nur auf zwei neuere deutsche Veröffentlichungen verwiesen: Heinemann, Externe Effekte der Produktion und ihre Bedeutung für die Wirtschaftspolitik, S. 94 ff. (Abschnitt "ökonomische Wirkungen externer Effekte der Produktion"), und Michalski, Grundlegung eines operationalen Konzepts der Social Costs, S. 148 ff. (Abschnitt "Social Costs und Sozialökonomisches Optimum"). - Die in dieser Arbeit behandelten Schädigungen von Personen stellen natürlich nur einen Teilaspekt der sozialen Kosten dar. Aber sie bilden doch wiederum einen wesentlichen Aspekt des Gesamtproblems, der einerseits nicht übergangen werden kann, wenn man der Meinung ist, "daß zu der Rationalität der Wirtschaftsrechnung die Zuordnung der Kosten nach dem Verursachungsprinzip gehört", und der andererseits der These genügt, man müsse "sich auf jene Bereiche beschränken, in denen man mit Sicherheit 33

3' 35 S8

Kapp, Kapp, Kapp,

7.2. Beiträge der potentiellen Schädiger

219

Auf diese Weise ergeben sich nicht nur für die einzelwirtschaftlichen Handlungsalternativen falsche Maßstäbe, sondern auch für die gesamtwirtschaftlichen Rechnungen und für die wirtschaftspolitische Willensbildung. Denn V-erluste, die durch produktionsbedingte Verletzungen der körperlichen Unversehrtheit und Zerstörungen der Gesundheit entstehen, werden bei der Berechnung des Sozialprodukts nicht als solche ausgewiesen, wenn sie - und sei es auch über eine Solidargemeinschaft der Gefährdeten - von d-en Geschädigten getragen werden müssen. Dadurch werden dann Vorstellungen begünstigt und sogar mit dem Anschein der durch Zahlen belegten Richtigkeit versehen, die in Wahrheit so unzutreffend und im Grunde inhuman sind wie die, daß Aufwendungen für den Umweltschutz das Realeinkommen und damit l-etztlich den individuellen Wohlstand vermindern würden37 - als ob eine weniger lebensfeindliche und lebensgefährliche Umwelt die Wohlfahrt der Menschen nicht verbessern würde38, sondern nur ein immer größeres Warenangebot. 7.2.3.2. Wenn die Allokation knapper Mittel optimiert oder wenigstens m-elioriert werden soll, müßten daher die Kosten der Schadensv-erhütung oder der Schadensdeckung konsequent und ausnahmslos denen auferlegt werden, die - sei es durch ihre Produkte, sei es durch ihre Produktionsverfahren oder sei es durch ihre Produktionsanlagen - eine Gefahr erzeugen, nicht denen, die zufällig ein-er Gefahr zum etwas sagen und Abhilfe schaffen kann", wenn man zu einem operationalen Konzept der Social Costs gelangen wolle (Vgl. die bei Lampen, Private und Soziale Kosten, S. 557 und 556, wiedergegebenen Bemerkungen von Seiden'Jus und WalZich). Die in den sehr umfangreichen literarischen Diskussionen zur Begriffsbildung und Terminologie getroffenen Unterscheidungen zwischen dem Teil der sozialen Kosten, der nur "auf Dritte abgewälzt und in dieser Höhe von den Betroffenen getragen" wird und den "durch diese Abwälzung entstandenen Schäden (also Mehrkosten), die, falls eine Abwälzung nicht möglich wäre, hätten verhindert werden können", sind nicht benutzt worden, weil - zumindest bei den hier behandelten physischen Beeinträchtigungen - einerseits diese beiden Kostenarten nur theoretisch auseinandergehalten, aber nicht getrennt festgestellt werden können, und andererseits "vom Standpunkt des geschädigten Individuums aus zwischen diesen beiden negativen Auswirkungen kein Unterschied" besteht (Fritsch, Zur Theorie und Systematik der volkswirtschaftlichen Kosten, S. 181 und S. 202, Anm. 48; vgl. auch die Bemerkungen zur "reinen Transferthese", S. 184). 37 Max Kruk: Saubere Luft kostet viel Geld. In: FAZ Nr. 189 vom 18.8. 1970, S. 1.

38 Nach amerikanischen Untersuchungen würde sich die Lebenserwartung Neugeborener um drei bis vier Jahre verlängern, wenn die Luftverschmutzung in den Großstädten um die Hälfte reduziert werden könnte; die Zahl der Todesfälle durch Lungenkrebs und andere Lungenerkrankungen würde um 25 % , die der tödlichen Herz- und Gefäßerkrankungen um 10 bis 15 0/0, die allgemeine Sterberate um 4,5 % sinken. Zugleich würden mindestens 2 Milliarden Dollar Behandlungs- und Pflegekosten eingespart. (Vgl. "Verschmutzte Luft verkürzt Lebenserwartung in Großstädten", in FAZ Nr. 195 vom 25.8. 1970, S. 7).

220

7. Kap.: Finanzierung

Opfer fallen. Die Feststellung, daß diese Kosten doch im Preis überwälzt würden, ist ebenso wenig ein stichhaltiges Argument gegen diesen Grundsatz wie der Einwand, daß sie sich vielleicht nicht im Preis überwälzen lassen. Die produktionslenkende Wirkung des Preismechanismus - und über ihn auch des Zurechnungsprinzips der Deckungsfonds - besteht ja gerade darin, daß die Herstellung solcher Erzeugnisse, die zu kostendeckenden Preisen nicht abgesetzt werden können, gedrosselt und notfalls eingestellt wird. Es ist nicht einzusehen, warum das nur gelten soll, wenn die Kosten in der Inanspruchnahme von Material, Maschinen, Energie und Arbeitskraft, nicht aber, wenn sie in der Inanspruchnahme, das heißt im Verschleiß der Gesundheit bestehen. Von daher dürfte es grundsätzlich für die Schadenslasten - in dem hier entwickelten Modell also konkret für die Beiträge an die Deckungsfonds - eine Zumutbarkeitsgrenze ebensowenig gegeben, wie es sie für andere Kosten gibt39 • Eher im Gegenteil: Je größer die mit einer bestimmten Betätigung verbundenen Gefahren sind, desto eher ist es angemessen und gerechtfertigt, sie zu unterbinden". Wenn die Belastung mit den Kosten der Schadens deckung zur Einstellung dieser Betätigung zwingt, so wirkt sie eben in einem solchen Fall als die zwar rigoroseste, aber offensichtlich der Größe des Schädigungspotentials angemessene Form der Schadensverhütung41 und zugleich als Instrument zur Freisetzung knapper Mittel für andere Verwendungen, in denen sie einen höheren sozialen Nutzen stiften. Es bliebe noch das Argument, daß die aus dem hier unterbreiteten Vorschlag resultierenden Belastungen im internationalen Wettbewerb untragbar werden könnten. Soweit es sich um Gefahren handelt, die vom Produkt ausgehen, könnten jedoch kaum Wettbewerbsverzerrungen entstehen. Denn wie bei der heutigen Haftpflicht, so wäre selbstverständlich auch bei dem neuen Versicherungssystem das Recht des Landes maßgebend, in dem verkauft wird42 • Auf dem Inlandsmarkt ergäben sich also keine Kostenvorteile des Importeurs gegenüber dem inländischen Produ:renten. Beide unterlägen grundsätzlich der gleichen Abgabenbelastung, die lediglich - jedoch für inländische und ausländische Konkurrenten in gleicher Weise - differieren könnte, wenn unterschiedliche Sicherheitsstandards der Produkte nachgewiesen werden. Umgekehrt ergäben sich auf den Auslandsmärkten auch keine Kostennachteile des im Inland produzierenden Exporteurs gegenüber ausländischen Mitbewerbern, da wiederum alle die gleichen, in dem 39

40 41

42

Vgl. dazu auch Simitis, Haftung des Produzenten, S. 48 f. Vgl. dazu auch Simon in Verhandlungen des 47. DJT, Teil M, S. 122. Vgl. dazu auch Schreiber in Verhandlungen des 47. DJT, Teil M, S. 93 f. Vgl. dazu auch Simon in Verhandlungen des 47. DJT, Teil M, S. 121.

7.2. Beiträge der potentiellen Schädiger

221

jeweiligen Bestimmungsland der Ausfuhr üblichen Abgaben zu leisten hätten. Schwierigkeiten im Exportgeschäft könnten allenfalls dadurch entstehen, daß das vorgeschlagene System auf eine größere Sicherheit der Erzeugnisse hinwirkt43, die vielleicht über den Normen und Erwartungen im Ausland liegt. Gelingt es nicht, gerade diesen Qualitätsvorsprung so als Werbeargument auszunutzen, daß sich höhere Preise durchsetzen lassen, rentiert es sich aber auch nicht, eigens für die Ausfuhr schlechtere Serien zu produzieren, so könnte die Konkurrenzfähigkeit inländischer Hersteller auf den Auslandsmärkten durchaus beeinträchtigt werden. Soweit es sich um Gefahren handelt, die von den Produktionsanlagen oder den Produktionsprozessen ausgehen, ist eine Angleichung der Kosten durch Anwendung des im Verkaufsland geltenden Rechts natürlich nicht möglich. Doch sind dabei zwei Fälle zu unterscheiden. Wenn etwa inländische Produzenten durch Beiträge an den "pollution fund" so stark belastet würden, "daß deren Erzeugnisse im internationalen Preiswettbewerb unterlegen wären, weil konkurrierende Werke in anderen Ländern, die fern jeder Zivilisation gelegen sind, solche Auflagen nicht kennen"44, so handelt es sich eben um einen echten Standortvorteil der ausländischen Konkurrenten, der nach den Regeln der internationalen Arbeitsteilung durchaus in einem niedrigeren Preis und damit in einer günstigeren Marktposition zum Ausdruck kommen soll. Erst wenn auch die ausländische Industrie jene Schäden verursacht, die eine Funktion des Agglomerationsgrades sind45 , erlangt sie einen durch die effektiven Kosten nicht mehr zu begründenden Wettbewerbsvorteil, falls ihr im Gegensatz zur inländischen die sozialen Kosten nicht auferlegt werden46 . Wie eine solche Situation sich auf die außenwirtschaftlichen Beziehungen auswirken würde, kann hier nicht im einzelnen analysiert werden. Sicher ist davon auszugehen, daß besonders gefährliche und daher hoch belastete Branchen im Exportgeschäft mindestens ebenso starke Einbußen werden hinnehmen müssen wie beim Inlandsabsatz; aber insoweit ist ihre Zurückdrängung ja auch beabsichtigt. Andererseits ist zu berücksichtigen, daß die entstehenden Schäden sich gesamtwirtschaftlich gesehen immer irgendwo 43 44

Vgl. dazu insbesondere Abschnitt 7.2.2.2.

Max Kruk: Saubere Luft kostet viel Geld. In: FAZ Nr. 189 vom 18.8.

1970, S. 1. 45 Vgl. dazu auch Heinemann, Externe Effekte der Produktion und ihre Bedeutung für die Wirtschaftspolitik, S. 40 f. und S. 52 f. 48 Die gleiche Gefährdung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit ist in den Diskussionen um die Einführung der Arbeiterversicherung den Arbeitgeberbeiträgen zugeschrieben worden. Vgl. dazu Vogel, Bismarcks Arbeiterversicherung, S. 43, und v. Zwiedineck-Südenhorst, Sozialpolitik, S. 139 f.

222

7. Kap.: Finanzierung

als Kosten niederschlagen, das heißt auch im Ausland von irgendjemandem getragen werden müssen. Erst wenn über die Inzidenz dieser Kosten im Ausland einerseits, über Ersparnisse an Pflege- und Behandlungskosten und über die Vermeidung von Invalidität, die das vorgeschlagene System im Inland bewirken könnte, andererseits etwas ausgesagt werden könnte, wäre es möglich, Rückwirkungen auf den Außenhandel genauer zu prognostizieren. Die bisherigen Erfahrungen mit den ökonomischen Effekten sogenannter sozialer Lasten lassen die vorläufige Annahme nicht unbegründet erscheinen, daß die außenwirtschaftlich bedingten Anpassungsreaktionen kaum wesentlich gravierendere Veränderungen der Produktionsstruktur erzwingen werden, als ohnehin angestrebt werden. 7.3. Der Anteil des Staates 7.3.1. Die Wirkungen, die durch eine risikoäquivalente Belastung aller Gefahrenquellen auf Produktion, Nachfrage und sonstige kostenabhängige Verhaltensweisen ausgeübt würden, werden - so sehr sie in der Regel erwünscht sein mögen - nicht in allen Fällen zugelassen werden sollen. Einige Wirtschaftszweige und Berufsgruppen, die bei ausnahmsloser und konsequenter Anwendung des Zurechnungsprinzips der Deckungsfonds gezwungen wären, ihre Tätigkeit einzustellen oder mehr oder weniger einzuschränken, sollen vielleicht ungeachtet eines hohen Schadenspotentials eher angeregt und gefördert werden. Welche Motive den Staat veranlassen können, eine andere Nachfragestruktur anzustreben, als sich aus den Präferenzstrukturen der Konsumenten und den Kostenstrukturen der Produzenten ergäbe, kann hier dahingestellt bleiben. Es mag sein, daß solchen Leistungen in übergeordneten und längerfristigen Zusammenhängen ein hoher sozialer Wert zugemessen werden muß, der aber in individuelle und kurzfristige KostenNutzen-Kalküle nicht eingeht; es mag sein, daß der Staat eine andere Dringlichkeitsskala postuliert als die von seinen Bürgern empfundene, um die schon von der Aufklärung beschworenen wahren Interessen der Menschen gegen partikulare und kurzsichtig-egoistische durchzusetzen; es mag sein, daß er auf diese Weise eine gewisse Einkommensumverteilung bewirken oder auch nur bestimmte Wirtschaftszweige begünstigen will. Jedenfalls "kann politisch die Erfüllung einer Aufgabe so hoch bewertet werden, daß der Verkauf von Gütern unter Kosten oder selbst die Hingabe von Leistungen ohne Gegenleistung der Begünstigten als optimales Wirtschaften anzusehen ist"1. Daher besteht ja auch öffent1 Heinz Kolms: Finanzwissenschaft, Bd. 1: Grundlegung, Öffentliche Ausgaben. 3. Aufl., Berlin 1966, S. 7; vgl. auch S. 50 ff. (Abschnitt "Veränderung der Nachfragestruktur").

7.3. Der Anteil des staates

223

liche Tätigkeit zu einem nicht unbeträchtlichen Teil darin, Leistungen zu erbringen oder durch direkte und indirekte Subventionen zu fördern, anzuregen oder erst zu ermöglichen, die nach den Maßstäben des Marktes oder der Kostenrechnung unwirtschaftlich sind, die also nicht oder in geringerem Maße erbracht würden, wenn die gesamten mit ihrer Erstellung verbundenen Kosten im Preis wieder eingebracht oder auch nur offen ausgewiesen werden müßten. Es ist kaum zu erwarten, daß ausgerechnet die Kosten der Deckung von Schädigungsrisiken nicht als Ansatzpunkt solcher lenkenden Eingriffe benutzt würden. Zumal bei Leistungen, die der Staat ohnehin schon subventionieren muß, wird er auch von diesen Kosten zu entlasten versuchen. So werden etwa, in Anbetracht ihrer kritischen Finanzlage, den Krankenhäusern, aber auch den Krankenkassen, sicher keine Beiträge zur Deckung von Behandlungskosten auferlegt werden sollen, wie sie durch Hospitalismus, Fehldiagnosen, Kunstfehler oder Nebenwirkungen von Medikamenten entstehen können. Das Zurechnungsprinzip der Deckungsfonds wird also nicht vorbehaltlos gelten, sondern nur mit Einschränkungen praktiziert werden können. Aber wenn es durchbrochen wird, wenn der Staat bestimmte Tätigkeiten dadurch begünstigen und die Inanspruchnahme bestimmter Leistungen dadurch fördern will, daß er ihnen den Teil der Kosten erläßt, der in der Zerstörung des Wertes "Integrität der Person" besteht, so müßte er eben diese Kosten selbst übernehmen. Er würde damit jenem bereits erwähnten Muster der Subventionierung einzelner Wirtschaftszweige folgen, das von den Bundeszuschüssen zur Unfallversicherung der Landwirtschaft und des Bergbaus und von der subsidiären Deckungspflicht des Bundes für Schäden durch Atomenergieanlagen geliefert wird2 , anstatt - wie er es mittels des geltenden Rechts zum Teil tut - Tätigkeiten und Leistungen, die er erleichtern und anregen will, durch die zufälligen Opfer, denen er eine Entschädigung versagt, subventionieren zu lassen3 • Er hätte also die jeweiligen Deckungsfonds ausreichend zu dotieren, um die fehlenden Beiträge zu ersetzen. Das bedeutet, daß diese Zuwendungen ebenso zu berechnen wären wie die Beiträge, an deren Stelle sie treten, also nach den Kriterien und Verfahren, die im vorigen Abschnitt genannt sind'. 7.3.2. Aber nicht überall, wo der Staat zur Finanzierung des neuen Systems herangezogen werden sollte, sind diese Kriterien und VerfahVgl. dazu Abschnitt 3.6.3. Vgl. dazu auch Essers These, daß die einseitig wirtschaftsfördernden Interessen des Liberalismus zum geistigen Hintergrund des Schadensrechts gehören (Gefährdungshaftung, S. 54 ff.), sowie Simitis, Haftung des Produzenten, S. 75. 4 Vgl. dazu Abschnitt 7.2.2.2. 2

3

224

7. Kap.: Finanzierung

ren anwendbar. Es gibt eine beträchtliche Anzahl von Fällen, in denen Schädigungen zwar insofern nicht als schicksalhaft bezeichnet werden können, als sie eindeutig auf kausale Faktoren zurückzuführen sind, die von Menschen geschaffen worden sind, in denen jedoch diese kausalen Faktoren nicht auf Gruppen oder Tätigkeitsbereiche aufgeschlüsselt werden können, die genügend klar zu definieren und abzugrenzen wären, um Beitragspflichten zu einem Deckungsfonds dekretieren zu können. Beispiele für solche Konstellationen bieten insbesondere jene Gefahren, die aus den Lebensbedingungen der modernen Gesellschaft erwachsen, also sozusagen aus einem historischen Prozeß, für den keine einzelne Person und keine bestimmte Gruppe verantwortlich gemacht werden kann6 • Die Sozialmedizin, die schon jetzt immer wieder auf solche ätiologischen Faktoren - von der Zerstörung der natürlichen Umwelt mit ihren Gleichgewichts- und Regelungssystemen über gewisse Formen der Arbeitsorganisation und des Leistungsdrucks bis zum neurotisierenden Stress moderner Zivilisationen - aufmerksam macht, mag vielleicht in einem wesentlich fortgeschritteneren Stadium Ergebnisse liefern, die in das hier entwickelte System passende kausale Zuordnungen ermöglichen. Zur Zeit sind in diesem Bereich jedoch erst sehr pauschale Aussagen möglich, die eine ebenso pauschale Abgeltung der solcherart verursachten Schäden als angemessene und vorläufig einzig praktikable Lösung erscheinen lassen. Da der Bundeszuschuß zu den Rentenversicherungen ausdrücklich für die Rehabilitationsaufwendungen und die Lasten der vorzeitigen Invalidität geleistet wird6 und deshalb - zusammen mit diesen Aufgaben - auf die neue Bundesanstalt zu übertragen wäre, könnte man ihn als den kausal nicht spezifiziertenöffentlichen Beitrag zu dem neuen Restitutionssystem sozusagen auf die hier in Rede stehenden Schädigungstypen verrechnen. 7.3.3. Diese nicht schicksalhaften, aber in ihrem Kausalnexus noch nicht oder jedenfalls noch nicht hinreichend geklärten Schädigungen berühren sich sehr eng mit einem Bereich, für den zunehmend dem Staat eine Mitverantwortung angelastet wird. Darüber ist an anderen Stellen schon eingehender gehandelt worden; um Wiederholungen zu vermeiden, sei auf diese früheren Ausführungen verwiesen7 und hier nur das Resümee gezogen, das sich daraus für die öffentliche Beteiligung an dem neuen Schadensausgleichssystem ergibt: Wo das Versagen öffentlicher Institutionen und die mangelhafte Erfüllung öffentlicher Aufgaben dazu beigetragen haben, daß Menschen gefährdende Situationen entstanden sind, müßte der Staat den Anteil abgelten, der ihm an Vgl. dazu auch Abschnitt 4.3.3. Vgl. § 1389 Abs. 1 RVO und § 116 Abs. 1 AVG. 7 Vgl. dazu insbesondere die Abschnitte 4.3.1.2. und 4.3.2.2., aber auch Abschnitt 3.4.2.2. 5

B

7.3. Der Anteil des staates

225

der Verursachung bestimmter Schädigungen, die einzelnen Deckungsfonds angelastet werden, zuzuschreiben ist. Zu diesem Zweck wäre bei Einführung des neuen Systems gesetzlich festzulegen, daß bestimmten Deckungsfonds bestimmte Prozentsätze ihrer Gesamtaufwendungen auf öffentlichen Mitteln erstattet werden. Solche Zuschüsse kämen - um nur an einige Beispiele zu erinnern wegen unzureichender oder gänzlich fehlender Lebensmittel- oder Arzneimittel-Gesetzgebung und -Kontrolle in Frage, aber auch wegen falscher Straßenplanung oder ungenügender Erfüllung von Verkehrssicherungspflichten. Nicht zuletzt wäre der Staat zur Finanzierung der "pollution-funds" heranzuziehen, weil er durch falsche Raumplanung oder durch gänzlich unterlassene Raumordnung erst jene Agglomerationsprozesse ermöglicht, vielfach sogar durch regionale oder lokale Maßnahmen zur Wirtschaftsförderung und Industrieansiedlung zielstrebig gefördert hat, ohne die ökologische Gefahren nicht oder jedenfalls nicht in so bedrohlichem Ausmaß hätten entstehen können. Der Beitrag aus öffentlichen Mitteln rechtfertigt sich in diesen Fällen daraus, daß die öffentlichen Instanzen vor allen anderen in der Lage gewesen wären, entweder solche Gefahren von vornherein zu unterbinden oder angemessene Vorkehrungen zu ihrer Eindämmung durchzusetzen. Die unmittelbare Verantwortung liegt zwar bei denen, die das Risiko geschaffen haben; aber es ist der Staat, der sie hat schuldig werden lassen, weil er sie nicht daran gehindert, sie vielleicht sogar dazu angereizt hat. 7.3.4. Wo der Staat selbst unmittelbar verantwortlich ist, wo er bestimmte Risiken allein oder überwiegend geschaffen hat, müßte er natürlich auch allein dafür aufkommen. Insoweit gilt für ihn selbstverständlich nichts anderes als für private Schädiger auch. Das heißt zunächst, daß er an alle Deckungsfonds Beiträge leisten müßte, in deren Gefahrenbereich er sich betätigt. Wo er als Arbeitgeber, Halter von Kraftfahrzeugen, Grundstückseigentümer oder Produzent auftritt, müßte er auch deren Verpflichtungen übernehmen; wegen Einzelheiten kann wiederum auf frühere Darstellungen verwiesen werden8 • Soweit er in einem bestimmten Gefahrenbereich allein tätig ist, müßte er eigene Deckungsfonds schaffen, zum Beispiel - in Analogie zur heutigen Eigenunfallversicherung9 - Fonds für Arbeitsunfälle öffentlicher Bediensteter und - als Ablösung von § 1 des Reichshaftpflichtgesetzes - einen Fonds für Unfälle im Eisenbahnverkehr. Deckungsfonds, die ausschließlich aus öffentlichen Mitteln zu speisen wären, müßten aber vor allem für solche Schädigungsrisiken errichtet 8 9

Vgl. dazu Abschnitt 7.2.1. Vgl. dazu §§ 653 ff. RVO.

15 Schäfer

226

7. Kap.: Finanzierung

werden, die aus spezifisch öffentlichen Tätigkeiten resultieren, bei denen also Ansprüche aus Amtshaftung oder öffentlich-rechtliche Aufopferungsanspruche entweder nach dem heutigen Restitutionsrecht gegeben sind oder gegeben wären, wenn das geltende Recht sachlich so umfassend wäre wie das hier vorgeschlagene. Dabei wäre zu unterscheiden zwischen Schädigungen, die direkt durch eine öffentliche Tätigkeit verursacht werden, und solchen, die infolge einer durch öffentliche Tätigkeit heraufbeschworenen Gefahrenlage von Dritten verursacht werden. In die erste Kategorie gehörten etwa die Schädigungen durch Pockenschutzimpfungen oder die Schußverletzung, die ein Unbeteiligter bei der Verfolgung von Verbrechern durch die Polizei erleidet, in die zweite würden vor allem Schädigungen durch kriegerische Ereignisse fallen. Diese spezifisch öffentlichen Deckungsfonds könnten in den verschiedensten Formen betrieben werden. Sie brauchten unter Umständen nichts anderes zu sein als Haushaltstitel, entweder in den Haushalten der Gebietskörperschaften oder in denen von selbständigen Anstalten oder Sondervermögen, also etwa der Bundesbahn oder des Lastenausgleichsfonds10• Sie könnten auch selbst ein Sondervermögen darstellen. Wo Aufgaben der Schadensverhütung wahrgenommen werden sollen, wäre in jedem Fall eine administrative Verselbständigung zweckmäßigl l , wie sie beispielsweise in den Ausführungsbehörden für die Eigenunfallversicherung gegeben ist. 7.3.5. Die beschriebenen öffentlichen Schadendeckungspflichten ergeben eine Reihe zunehmender öffentlicher Verantwortung für die Entstehung von Gefahrenquellen. Bei der Subventionierung bestimmter Tätigkeiten und Leistungen ergeben sich die Beitragsverbindlichkeiten des Staates nur daraus, daß er die Beitragszahlung durch den an sich Verpflichteten nicht wünscht und dadurch den Deckungsfonds Einnahmen, die ihnen zustehen, entzöge, wenn er die Beitragsschuld nicht selbst übernähme. Bei dem pauschalen Staatsbeitrag für solche Schädigungen, deren Verursacher wegen ungenügender Aufklärung des Kausalzusammenhangs nicht herangezogen werden können, ist eine öffentliche Mitverantwortung zwar nicht erwiesen, aber auch nicht auszuschließen. Zumindest bei einer Reihe derartiger Fälle ist anzunehmen, daß die Tätigkeit oder Untätigkeit öffentlicher Instanzen das Risiko mit bedingt hat, daß sie also bereits in die dritte Gruppe der ganz oder teilweise aus öffentlichen Mitteln zu finanzierenden Schädigungen fallen, bei der Unzulänglichkeiten der Gesetzgebung, überwachung oder Planung ein mitwirkendes Verschulden des Staates an 10

11

Vgl. dazu Abschnitt 8.2.3. Vgl. dazu die Abschnitte 7.2.2.2. und 8.2.2.

7.4. Individuelle Haftung

227

der Entstehung von Risiken begründen, die überwiegend Privaten an~ gelastet werden. Bei der vierten Gruppe schließlich, bei der die öffentliche Tätigkeit nicht mehr nur Voraussetzung für die Schaffung einer Gefahr durch andere ist, sondern die Gefahr unmittelbar herbeiführt, kann nur der Staat allein verantwortlich gemacht werden. Man könnte die beiden letzten Gruppen in der Sentenz zusammenfassen, daß sie das Pendant zur Produzentenhaftung im öffentlichen Bereich darstellten. Die Aufgabe eines Industriebetriebes ist es, Waren herzustellen. Erfüllt er diese Aufgabe mangelhaft, gelingt es ihm nicht, fehlerfreie Waren zu produzieren, so muß er dadurch entstehende Schäden decken. Die originäre Aufgabe des Staates ist es, die öffentliche Sicherheit und Ordnung herzustellen. Erfüllt er diese Aufgabe mangelhaft, gelingt es ihm nicht, innere und äußere Sicherheit und eine fehlerfreie Ordnung zu produzieren, so muß er ebenfalls dadurch entstehende Schäden decken. Damit konvergieren letzten Endes auch die Begründungen, die für eine Erweiterung der öffentlichen wie der privaten Restitutionspflichten zu einer vollen "Garantiehaftung" für die erfolgreiche Erfüllung der jeweiligen Zwecke vorgebracht werden. 7.4. Individuelle Haftung 7.4.1. Baftpßicltt als Bedürftigkeitsgrund

Die Alternative zu einer umfassenden Versicherungskonstruktion, wie sie hier vorgeschlagen wird, bestünde darin, daß man auch weiterhin an jener rechtsdogmatisch noch immer dominierenden, von Esser als kommutative oder wechselseitige Gerechtigkeit bezeichneten Denkfigur festhieltel , bei der die Regulierung der Schadensfolgen in das isolierte Dualverhältnis zwischen Schädiger und Geschädigtem verwiesen wird2 • Solche Restriktion läßt aber nichts anderes als "das Prinzip ,Alles oder Nichts' im Schadensrecht" zu3 • In einer Zeit, die das Instrumentarium des Versicherungswesens und der sozialen Sicherung zu einem hohen Grad der Vollkommenheit entwickelt hat, erweist sich jedoch nicht nur das Prinzip des "casum sentit dominus", also des "Nichts" für den Geschädigten, als fatalistischer und damit - jedenfalls bei Personenschäden - fataler Atavismus. Vielmehr kann seitdem auch das Prinzip, daß der überführte Schädiger "mit der vollen Wiedergutmachung eines im Umfang von schuldfremden Faktoren abhängigen Schadens" belastet wird4 , also des "Alles" vom Schädiger, nicht einmal 1 2

3

t

Esser, Gefährdungshaftung, S. 70 und 73. Vgl. dazu Abschnitt 5.1.2.1. SeIb, Individualschaden, S. 3. SeIb, -Individualschaden, S. 3.

15*

228

7. Kap.: Finanzierung

mehr als zweitbeste Lösung anerkannt werden, weil es im gleichen Maße den "Verzicht auf jedes soziale Gerechtigkeitsideal" impliziert5 • "Man hat nämlich darauf hingewiesen, daß es den Täter seinerseits rohen Zufälligkeiten aussetzt, je nachdem er Glück oder Pech hatte, einen Riesenschaden anrichtete oder gimpflich davon kam: so daß also die angebliche Gerechtigkeitsforderung des Verschuldensgrundsatzes das Spiel des Zufalls nur umkehrt6 ." Daß so der Schädiger "mitunter sehr weitreichenden, geradezu seine Existenz bedrohenden Ersatzansprüchen" ausgesetzt werden kann7 und daß darum die Beseitigung "der Unverhältnismäßigkeit der Schadensfolgen zu den Ursachen"8 nicht nur ein Problem der Gerechtigkeit ist, sondern auch als soziale Frage begriffen werden muß, sei an drei Beispielen 'erläutert, über die kürzlich berichtet worden ist. Der Bundesgerichtshof verurteilte einen zur Tatzeit siebeneinhalb Jahre alten Jungen, der mit dem Fahrrad auf der linken Straßenseite gefahren und dort mit einer Radfahrerin zusammengestoßen war, zum Schadensersatz. Das Urteil enthält folgenden Leitsatz: "Fehlt es einem Jugendlichen, der seine Verantwortlichkeit einzusehen fähig ist, noch an der Reife, sich dieser Einsicht gemäß zu verhalten, so ist er dennoch für den von ihm angerichteten Schaden verantwortlich9 ." Obwohl der Vorfall 12 Jahre zurückliegt, muß der Jugendliche nicht nur über 2000 DM Schadensersatz, sondern auch ein Schmerzensgeld von 2000 DM zuzüglich Zinsen seit 1962 zahlen. "Auch für etwaige künftige Schäden wird er aufkommen müssen", kommentierte die Frankfurter Neue Presse, "weil er als kleiner Bub seinen Spieltrieb nicht beherrschen konnte"10. Ein Kraftfahrer stürzte bei dem Versuch, einem siebenjährigen, seinem Ball nachlaufenden Mädchen auszuweichen, in einen nur einen Meter tiefen Bach, aus dem er sich wegen der erlittenen Verletzungen nicht schnell genug retten konnte, so daß er ertrank. Die Eltern des Kindes werden den entstandenen Schaden, insbesondere die Versorgung der Witwe, aus eigener Tasche bezahlen müssen. Sie haben damit zu rechnen, daß das Gehalt des Vaters von netto 1500 Mark im Monat bis auf einen Rest von 470 Mark gepfändet wird, und zwar auf die Dauer von mindestens 15 Jahren11 • 5 8 7 8

D

Esser, Gefährdungshaftung, S. 55. Esser, Gefährdungshaftung, S. 71 f. KlingmüHer, Haftpflichtversicherung, S. 760. Esser, Gefährdungshaftung, S. 103.

Urteil vom 10.3. 1970, M. VI ZR 182/68.

10 Frankfurter Neue Presse Nr. 144 vom 26. 6. 1970, S. I. 11

Vgl. Versicherungswirtschaft, Jg.22 Nr.23 (Dezember 1967), S. 1440.

7.4. Individuelle Haftung

229

In einem Bericht über die Obdachlosensiedlung im Mannheimer Stadtteil Waldhof wird das Schicksal einer kinderreichen Familie geschildert, "in der ein Kind an Kinderlähmung erkrankt war. Die Behandlung war langwierig und teuer, ein Kredit wurde aufgenommen. Zur gleichen Zeit verschuldete eines der Geschwister beim überqueren der Straße einen Autounfall; Kind und Fahrer blieben unverletzt, aber das Auto war schrottreif, die Eltern hatten für den Schaden aufzukommen. Es bedurfte nur noch eines verhältnismäßig kleinen Mißgeschicks in Gestalt eines häuslichen Unfalls, da gaben die Eltern auf: ,Immer nur zahlen, zahlen. Wir haben dann eines Tages nichts mehr gezahlt, auch nicht die Miete', berichtete die Mutter"12. Bei solchen Ergebnissen ist offensichtlich, daß die Verteilung der Schadensfolgen im eindimensionalen Zweiparteienverhältnis13 auf die Dauer nicht ohne "Korrektivmittel gegenüber ruinösen Unglücks zurechnungen" al,l.skommen kann14• Wenn weder das Maß der Schuld noch die soziale Lage des Täters in Rechnung gestellt, sondern seine Belastung ausschließlich durch die Höhe des entstandenen Schadens bestimmt wird, dann kann die Haftung ihrerseits zum Bedürftigkeitsgrund werden; wird der Regreß, und sei es auch nur in bestimmten Fällen, zugelassen, so vermag man sich nicht einmal durch den Abschluß einer Haftpflichtversicherung vor solchem Absturz in die Hilfsbedürftigkeit sicher zu bewahren. Denn der einzelne kann ohne eigene Not in der Regel nur kleinere Schäden aus privaten Mitteln decken. Bei wirklich schwerwiegenden Schäden, etwa bei einer dauernden Erwerbsunfähigkeit, müßte er aber nach dem heutigen Schadensrecht sowohl das Einkommen des Invaliden als auch einen erheblichen zusätzlichen Aufwand für Heilung und Pflege aus seinem Einkommen ersetzen. Das ist jedoch nur in seltenen Fällen, nämlich bei einem sehr hohen Einkommen des Geschädigten, möglich; aus einem durchschnittlichen Einkommen läßt sich nun einmal auf die Dauer kein zweites durchschnittliches Einkommen abzweigen. Für gravierende Schädigungen kann daher de facto nur derjenige grundsätzlich in vollem Umfang haften, der eine Abwälzungsmöglichkeit hat, sei es auf den Preis, sei es auf die Haftungsgemeinschaft einer Versicherung, die kein Regreßrecht hat. Damit steht man - zumindest für die im privaten Alltag verursachten Schäden - vor der Alternative, entweder die Schadensersatzleistungen direkt in das soziale Sicherungssystem zu integrieren, also den Geschädigten einen definitiven Anspruch auf Sozialleistungen zuzuer12 Ulla Hofmann: Fünf Menschen in einem Zimmer ohne Wasseranschluß. Die größte Obdachlosensiedlung in der Bundesrepublik. Mannheim auf der Suche nach Lösungen. In FAZ Nr. 31 vom 6.2.1970, S. 7. 13 Vgl. dazu Abschnitt 5.1.2.1. 14 Esser, Gefährdungshaftung, S. 107.

230

7. Kap.: Finanzierung

kennen, oder einen Anspruch des Schadensersatzpflichtigen auf soziale Sicherung zu etablieren, also sozusagen die Kette der Regresse um ein weiteres Glied in die Sicherungsinstitute hinein zu verlängern, so daß insoweit für die Inzidenz der finanziellen Schadensfolgen gar kein Unterschied bestehen würde. Die Sozialenquete, die die integrative Lösung des Gesamtproblems der Schadensregulierung nicht erwogen hat, hat daher erstmals ausdrücklich die Schadensersatzpflicht neben Alter, Krankheit und Frühinvalidität in den Katalog der Grundrisiken, "die jeden treffen können" und deren Deckung daher in die soziale Sicherung einzubeziehen sei, aufgenommen15 , allerdings einen Lösungsvorschlag für diese Aufgabe nicht entwickelt. 7.4.2. Verschulden, Sanktion und Prävention

7.4.2.1. "Wenn es auch dem Grundprinzip des Schadensersatzes zunächst widerstreitet, daß der Täter als übeltäter gewertet" wird16, so wirkt faktisch die volle Schadensersatzpflicht beziehungsweise der volle Regreß doch als gegen den Täter verhängte Sanktion, die ihn - verglichen mit allen Maximen der Strafzumessung - unbillig hart und manchmal sogar existenzgefährdend treffen kann. Daß die dogmatische Wertung des Schadensersatzes als rein zivilrechtliche Figur sowohl mit seinem Sanktionscharakter als auch mit seiner realen Wirkung auf die Lebensverhältnisse des Ersatzpflichtigen nicht kompatibel ist, macht nun umgekehrt unter Umständen die Strafe zur Farce. Wenn dem Täter einerseits vom Strafrichter attestiert wird, daß seine Schuld nur ganz geringfügig ist - weil sie z. B. nur in einer kleinen momentanen Unaufmerksamkeit besteht, die aber juristisch als leichte Fahrlässigkeit zu werten ist - und daß sein Verhalten deshalb nur mit einer minimalen Geldstrafe geahndet wird, ihm jedoch andererseits exorbitante Schadensersatzzahlungen aufgebürdet werden, die seinen Haushalt völlig deroutieren und ihn vielleicht "niemals im Leben ... aus diesem modernen Schuldturm wieder herauskommen" lassen17 , so wird er die beschwichtigende Erklärung, nur die Strafe, nicht aber der Schadensersatz sei als "übelszufügung, welcher von der Rechtsordnung der Vergeltungszweck beigelegt wird"18, gedacht, kaum als Trost, sondern eher als sophistischen Hohn empfinden. Die "Doppelfunktion des Schadensersatzes als Sühne oder Unrechtsausgleich und andererseits als distributiv gerechte Schadensverteilung"lG trifft den Täter eben trotz aller rechtssystematischen Separierung in voller ungeschiedener Härte. Die 15 11 17 18 18

Sozialenquete, Tz. 306 a. Klingmüller, Schadensberechnung, S. 21. Kraschutzki, Der Schuldturm vor den Gefängnistoren. Bockelmann, Strafe, S. 212. Esser, Gefährdungshaftung, S. 73.

7.4. Individuelle Haftung

231

dem Schadensersatz- und dem Strafrecht gemeinsame Begrifflichkeit von Schuld und Haftung, Delikt und Sanktion belegt darüber hinaus ebenso wie die Feststellung, daß das bürgerliche Schadensrecht "mit seinem schon äußerlich den Deliktsstandpunkt verkörpernden Titel der ,Unerlaubten Handlungen' eher den Anschein eines Strafgesetzbuches" hat20, daß die formal unterscheidende juristische Klassifizierung nicht einmal vom Rechtsdenken selbst durchgehalten wird. Dagegen ermöglicht es die Versicherungskonstruktion, daran festzuhalten - bzw. überhaupt erst durchzusetzen -, daß "die Frage der Schadloshaltung ... als solche überhaupt keine Imputation im Sinne eines Vorwurfs" enthält!1. Denn sie löst die Gleichheit der Zahlungen, die der Geschädigte erhält, mit denen, die der Schädiger leistet, auf, so daß gleichzeitig der Umfang des Schadens für die Ausgleichsleistung an den Geschädigten und der Umfang des Risikos für den von dem Schädiger aufzubringenden Beitrag maßgebend werden kann. Dabei enthält die Prämienbemessung nach der Höhe des Risikos bereits ein präventives Element und, wenn sie analog den Schadenfreiheitsrabatten und Maluszuschlägen in der Kraftverkehrsversicherung individualisiert wird, sogar in gewissem Maße eine Berücksichtigung des Verschuldens, weil ja das Risiko einerseits von der objektiven Gefahrenträchtigkeit der ausgeübten Tätigkeit, andererseits von den ergriffenen gefahrenund schadenmindernden Bemühungen - bzw. von der Vermeidung anormaler Zusatzgefahren - abhängt!!. 7.4.2.2. Damit sind freilich einmalige Verfehlungen nicht erfaßt, so daß außerdem doch noch die Drohung mit individuellen Einstandspflichten erwünscht sein könnte, weil man ihr eine Abschreckungsund Erziehungsfunktion zuschreibt. Aber "wer sich weder durch drohende Kriminalstrafen noch durch die Gefährdung seiner eigenen Person" von gefährlichem Verhalten abhalten läßt, "wird in der Regel auch nicht durch schadensrechtliche Sanktionen abzuschrecken sein"!!. Aus diesem Grunde "kann man sich von schadensrechtlichen Sanktionen wohl nur einen begrenzten Einfluß ... erhoffen. Die Schadensprophylaxe ist primär eine Aufgabe des Verwaltungsjuristen und des Strafrechtlers"2', und zwar schon deshalb, weil - solange es nicht um technische und organisatorische Vorkehrungen zur Abwehr von Gefahren, sondern um das Verhalten einzelner in einzelnen Situationen geht auch im Zivilrecht "eine vorbeugende Wirkung sich schlechterdings nur auf eine verschärfte Verschuldenshaftung stützen kann, denn das Ver20

!1 22

23

24

Esser, Gefährdungshaftung, S. 60. Esser, Gefährdungshaftung, S. 73.

Vgl. dazu auch Abschnitt 7.2.2.2. Schadensausgleich, S. 109. Schadensausgleich, S. 107.

v. Hippel, v. Hippel,

232

7. Kap.: Finanzierung

langen eines Kampfes mit dem Zufall ist ein Widerspruch in sich"25. Von daher erweist sich auch die These, daß "die Pflicht, den Schaden des Verletzten auszugleichen, Prävention und Strafe genug" sei, als unhaltbar 26 ; oft ist sie eben zu wenig Prävention und zu viel Strafe. Infolgedessen ist "der Ruf nach Proportionalität von Verschulden und Haftungsausmaß" nie verstummt27 . So sucht man nicht nur "schon länger ... de lege ferenda nach einer Formel, die Ersatzpflicht nach der Verfehlung zu stufen"28, sondern auch de lege lata ist "eine Tendenz im Sinne einer Pönalisierung des Schadensersatzes nicht zu verkennen"29. Wenn man aber schon auch im Schadensrecht von "einer atavistischen Erfolgshaftung" loskommen und die individuelle Haftung "auf die traditionellen Schuldelemente ... , auf Vorsatz und Fahrlässigkeit, auf das Unrechtsbewußtsein, auf die Zurechnungsfähigkeit" begründen will, so ist nicht einzusehen, weshalb man sich dazu nicht des mit eben diesen Begriffen operierenden, aber wesentlich sensibleren Strafrechts, dessen "Tendenz sogar allenthalben in Richtung einer Verfeinerung des Schuldgedankens" geht, bedienen sollte30 • Dadurch würde keineswegs "der Gedanke, daß der einzelne für sein Verhalten verantwortlich ist, ... preisgegeben, sondern nur auf seinen eigentlichen Gehalt reduziert"Sl. Denn der strafrechtliche Schuldgrundsatz hat ja gerade die Limitierungsfunktion, daß "das Maß der Strafe das Maß der Schuld nicht überschreiten" darfs2 , während ein rein individualistisches Schadensrecht auf das völlig andersartige Limitierungsprinzip, wonach "die Obergrenze der Verantwortung stets der angerichtete Schaden" ist33 , nicht verzichten könnte. Das Verschulden sollte daher nur noch strafrechtlich relevant sein. Denn da die schadensäquivalente Restitutionsleistung für das Opfer und die gefahrenäquivalente Finanzierungsleistung des potentiellen Schädigers durch die umfassende Versicherungskonstruktion gewährleistet sind, geht es nur noch darum, ein vorwerfbares Menschen gefährdendes Verhalten zu ahnden. Das aber ist sinnvoll nicht durch eine vom Ausmaß des Verschuldens völlig unabhängige, individualisierte Schadensersatzpflicht zu erreichen, sondern viel besser dadurch, daß man "sowohl den Schädiger als auch den Geschädigten im Falle vorsätzlicher 211 28

27 28

28

30 31 a! 33

Esser, Gefährdungshaftung, S. 74, Anm. 4. SeZb, Individualschaden, S. 3. Esser, Schuldrecht I, S. 267. SeZb, Individualschaden, S. 3. KlingmüZZer, Schadensberechnung, S. 21. Vgl. Kaufmann, Schuldstrafrecht und Resozialisierung, S. 41. v. HippeZ, Schadensausgleich, S. 83. BockeZmann, Strafe, S. 212. SeZb, Individualschaden, S. 3.

7.4. Individuelle Haftung

233

oder grobfahrlässiger Herbeiführung des Unfalls zu Bußen heranzieht", weil diese "nach strafrechtlichen Gesichtspunkten unter Berücksichtigung des Verschuldensgrads und der Vermögensverhältnisse festgelegt werden können und damit eine von der zufälligen Schadenshöhe abhängige Bestrafung unter Anwendung der zivilrechtlichen Schadensersatzregeln vermieden wird"34. Ein solches pönales Monopol des Strafrechts würde darüber hinaus nicht nur denjenigen, der trotz geringfügiger Schuld einen sehr großen Schaden angerichtet hat, vor übermäßigen Belastungen bewahren, sondern auch umgekehrt denjenigen heranzuziehen erlauben, der vorsätzlich oder durch unverantwortlich leichtfertiges Verhalten eine Gefahr herbeigeführt hat, jedoch das Glück hatte, keinen oder nur einen geringen Schaden zu verursachen. Es würde jeden Schädiger in gleicher Weise treffen, weil Personenschäden strafrechtlich stets Körperverletzungen oder Tötungen sind und als solche in der Regel von Amts wegen zu verfolgen wären35 , während die Wahrnehmung der Schadensersatz- und Regreßrechte von der Abwägung zwischen Prozeßaufwand und -risiko einerseits und der Höhe der streitigen Summen andererseits abhängt. 7.4.2.3. Da die Strafen, von denen hier die Rede ist, für schuldhaft andere Menschen gefährdende Handlungen verhängt werden, sollten alle Geldstrafen in voller Höhe an den Deckungsfonds abgeführt werden, in dessen Gefahrenbereich die strafbare Handlung fällt, dessen Verpflichtungen oder dessen Risiken also durch diese Handlung erhöht worden sind. Soweit es einen zuständigen Deckungsfonds nicht gibt, würden sie direkt der neuen Bundesanstalt zufließen. Auf diese Weise würde eine weitere Verfeinerung der Schadenszurechnung im Sinne des in dieser Arbeit entwickelten Gesamtsystems erreicht, aber auch dem eigentlichen Gedanken der Sühne für begangenes Unrecht (und damit auch dem Sinn der Strafe überhaupt) entsprochen, zur Wiedergutmachung eines angerichteten Schadens nach besten Kräften beizutragen.

Für Ordnungsstrafen (Geldbußen), die wegen der Verletzung von Unfall- und sonstigen Schadenverhütungsvorschriften oder wegen eines Verstoßes gegen andere der Vermeidung von Gefahrensituationen dienenden Ordnungsvorschriften (wie z. B. der Straßenverkehrsordnung) Gitter, Arbeitsunfallrecht, S. 44. Zur Zeit werden alle leichten und alle durch Fahrlässigkeit verursachten Körperverletzungen nur auf Antrag verfolgt, "es sei denn, daß die Strafverfolgungsbehörde wegen des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung ein Einschreiten von Amts wegen für geboten erachtet" (§ 232 Abs. 1 StGB). Da die Geldstrafen in Zukunft einen Teil der Verpflichtungen der neuen sozialen Schadensversicherung decken würden, wäre ein öffentliches Interesse wohl zumindest bei schwereren Körperverletzungen immer gegeben. 34 35

234

7. Kap.: Finanzierung

verhängt werden, gilt natürlich das Gleiche erst recht. Ob man dabei die Ordnungsstrafen mit den Kriminalstrafen in einem einheitlichen Strafbegriff zusammenfaßt oder ob man sie als direkte "Zusatzprämien" für eine zusätzlich geschaffene, vermeidbare Gefahr deutet, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Vielmehr kommt es allein darauf an, daß die Zuweisung der Geldstrafen und der Geldbußen an die zuständigen Deckungsfonds die Formel für die risikoäquivalente Schadenszurechnung durch die Einbeziehung der anormalen, insbesondere der schuldhaft geschaffenen Zusatzgefahren vervollständigt.

Achtes Kapitel

Die Abstimmung des Reformmodells mit den anderen Zweigen des Sichemngssystems (Organisation) 8.1. Das Verhältnis zur KraDkenversicllerung 8.1.1. Volle Integration der Krankenversicherung

Je umfassender und allgemeiner eine Versicherung gegen Personenschäden in der hier angeregten Art konzipiert würde, das heißt je weniger sie Sonderrechte und -ansprüche für bestimmte Personengruppen und kasuistisch spezialisierte Leistungen und Berechnungsverfahren für bestimmte Leidenszustände zuließe, desto mehr drängt sich ein organisatorisches und finanzielles Abgrenzungsproblem auf, das aus den gegebenen Strukturen aller sozialen Sicherungssysteme erwächst: Die Abstimmung mit der Krankenversicherung. Die in dieser Arbeit vorgetragene Konzeption läßt keine Abgrenzung zu, die logisch stringent wäre oder auch nur die Evidenz einer ohne weiteres plausiblen Lösung hätte. Denn da die neue Versicherung die gesamte Bevölkerung einbeziehen soll, ist eine Aufteilung nach Personengruppen nicht möglich. Da sie alle körperlichen Defekte einbeziehen soll, ist auch die Aufteilung nach Unfall einerseits, Krankheit andererseits nicht möglich. Und da sie die körperlichen Defekte ohne Rücksicht auf ihre Entstehung einbeziehen soll, ist schließlich auch die Aussonderung der "schicksalhaften" Leiden und Gebrechen, das heißt derjenigen, deren Ursache unbekannt ist oder die, juristisch gesprochen, der Privatsphäre zuzurechnen sind, nicht möglich. Das Modell schließt also seinem umfassenden Ansatz und seiner gedanklichen Struktur nach an sich die Krankenversicherung in vollem Umfang ein. Aber bei einem sozialpolitischen Reformvorschlag wie dem hier unterbreiteten und zur Diskussion gestellten kommt es ja nicht auf eine konsequent durchgesetzte Systematik an. Vielmehr geht es darum, Unzulänglichkeiten, Ungereimtheiten und Ungerechtigkeiten bestehender Regelungen zu beheben, das heißt ein Verfahren zu entwerfen, wie man bisher nicht oder nur mangelhaft gelösten sozialen Aufgaben

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8. Kap.: Organisation

gerecht werden, überschneidungen von bisher nicht oder nur mangelhaft koordinierten Zuständigkeiten und Leistungen vermeiden und eine bisher nicht erreichte oder nicht einmal erstrebte Gleichbehandlung gleichartiger Lebenslagen bewirken könnte. Dazu ist nun aber die Integration der Krankenversicherung nicht unbedingt erforderlich, ja sie wäre für die Realisierung von Reformvorstellungen wahrscheinlich sogar eher hinderlich. Vor allem ist der taktisch-politische Gesichtspunkt zu bedenken, daß Veränderungen des bestehenden Systems um so schwerer durchzusetzen sind, je mehr sie den "Besitzstand" etablierter Organisationsstrukturen antastenl • Eine Einbeziehung der Krankenversicherung in den neuen allgemeinen sozialen Schadensausgleich würde in dieser Hinsicht sicher noch viel hartnäckigeren Widerstand auslösen als die anderer Verwaltungen, denen dabei eher noch eine begrenzte Autonomie zugestanden werden könnte 2 • Aber auch von der Sache her dürften sich gerade bei der Krankenversicherung, die sich "als ein Gefüge von imponierender Geschlossenheit und innerer Konsequenz" präsentiert3 , schwerwiegende Reibungen nicht vermeiden lassen. 8.1.2. Trennung von Einkommenssicherung und Behandlung

Von daher wäre zunächst daran zu denken, den Vorschlag der Rothenfelser Denkschrift aufzugreifen und den Krankenkassen neben ihren bisherigen Aufgaben "alle medizinischen Rehabilitationsverfahren einschließlich derer, die seither von der Invaliden-, der Angestellten-, der Knappschafts- und der Unfallversicherung durchgeführt wurden", zu übertragen und dabei "auch allgemeine Unfälle (zum Beispiel Verkehrsunfälle)" einzubeziehen4 • In die Zuständigkeit des neuen Instituts fiele dann die Deckung von Einkommensausfällen und gegebenenfalls besonderen zusätzlichen Aufwendungen, die durch langfristige Leiden und Gebrechen bedingt sind. Würden insoweit - d. h. was die Einkommenssicherung betrifft - alle Fristen als "lang" unterstellt, die über die Dauer der Lohnfortzahlung durch den Arbeitgeber hinausgehen, wäre immerhin ein klares Organisationsschema gewonnen: Alle medizinischen Leistungen würden, unabhängig von ihrer Dauer, durch die Krankenversicherungen finanziert, alle Einkommenshilfen würden, ebenfalls unabhängig von ihrer Dauer, einheitlich von der neuen allgemeinen Schadensversicherung gedeckt5 • Damit wäre zuVgl. dazu Sozialenquete, Tz. 855. Vgl. dazu die Abschnitte 8.2.2. und 8.2.3. 3 Sozialenquete, Tz. 563. 4 Rothenfelser, Denkschrift, S. 115 f. Vgl. auch S. 79. 5 Die Rothenfelser Denkschrift hatte diese Funktion Betriebsgenossenschaften übertragen wollen, "die, aus den seitherigen Berufsunfallgenossen1

!

8.1. Das Verhältnis zur Krankenversicherung

237

gleich die immer wieder vorgetragene Anregung6 erfüllt, Krankenpflege- und Krankengeld-Versicherung aus ihrer institutionellen Verkoppelung zu lösen, "da beide Aufgaben miteinander wenig zu tun haben"7. Gerade dieses Desiderat verkehrt sich jedoch bei langfristigen Leiden und Gebrechen in sein Gegenteil. "In der Regel setzt wirksame Hilfe bei langfristigen Leiden und Gebrechen voraus, daß medizinische Hilfe von einer geeigneten Einkommenshilfe begleitet wird und daß alle Möglichkeiten genutzt werden, um diejenigen, die nicht mehr in ihre bisherige Arbeit zurückkehren können, zu einer anderen geeigneten Tätigkeit hinzuführen. Alle drei Gebiete hängen aufs engste zusammen; keines kann ohne Rücksicht auf die anderen Ziele gestaltet werden8 ." Außerdem ist es in vielen Fällen zweckmäßig, die Schaden-, insbesondere (aber nicht nur) die Unfallverhütung, der gleichen Instanz zuzuweisen, die für die Erfolglosigkeit dieser Bemühungen zu zahlen hat9 • Aus diesen überlegungen ist wohl auch in erster Linie zu erklären, daß die Zusammenfassung der kurzfristigen und der langfristigen Krankenhilfe in der Krankenversicherung, die auch in der Sozialenquete als eines der Organisationsmodelle zur Sicherung bei langfristigen Leiden und Gebrechen abgehandelt ist, von der Kommission nicht als die beste Lösung angesehen worden istl°. Geht man davon aus, daß "im Gegensatz zu der vielfach größeren Zahl von kurzfristigen Erkrankungen, für die geeignete, wenn vielleicht auch verbesserungsfähige Instrumente vorhanden sind", die Hilfe bei langfristigen Leiden und Gebrechen eine "in der deutschen Sozialpolitik noch nicht völlig gelöste Aufgabe" darstellt11 , so ist damit ein Kriterium bezeichnet, das eine Kompetenzverteilung zwischen der Krankenversicherung und dem hier vorgeschlagenen Institut nach der Langwierigkeit der Krankheit nahelegt. Freilich ist der Unterschied der Zustände, um die es geht, mit dem Hinweis auf ihre Dauer zunächst nur ungenau beschrieben12 • Von Krankheit wird in der Regel schaften hervorgehend, Zusammenschlüsse von gewerblichen Unternehmen nach Branchen darstellen" sollten (S. 116). 8 Vgl. dazu Rothenfelser Denkschrift, S. 81, und Sozialenquete, Tz. 731. 7 Achinger, Neuordnung, S. 37. 8 Sozialenquete, Tz. 82l. g Vgl. dazu auch Sozialenquete, Tz. 528, sowie Abschnitt 7.2.2.2. 10 Vgl. dazu die "Erfordernisse, die bei einer solchen Lösung auftreten würden" (Sozialenquete, Tz. 845), die Bemerkungen im Vorwort (S. 10 f.), sowie vor allem Tz. 856. 11 Sozialenquete, Tz. 843. 12 Die "Arbeitshypothese" der Sozialenquete-Kommission, die auf die Höchstdauer der Krankengeldzahlung abstellt (S. 261, Anm. 1), bedient sich einer vorgefundenen gesetzlichen Regelung, läßt jedoch offen, ob sie auch aus dem Sachverhalt, der erst noch zu klären wäre, begründet werden kann.

238

8. Kap.: Organisation

ganz unbefangen gesprochen, als sei völlig unmißverständlich, was das ist, nämlich das Gegenteil von Gesundheit13 • Was dagegen jene Leiden und Gebrechen sind, die man mit dem Adjektiv "langfristig" zu charakterisieren versucht, ist nirgends einigermaßen präzise definiert oder auch nur angemessen beschrieben. Daß es dafür keine Vokabel gibt, zeigt die Verlegenheit ebenso wie der Rückgriff auf den angelsächsischen Begriff "Rehabilitation", der seinerseits "sehr vieldeutig und unbestimmt" ist14• Das liegt nun an der Sache selbst, die fließende übergänge aufweist, und zwar nicht nur bei der immer willkürlichen Abgrenzung zwischen kurzen und langen Fristen, sondern z. B. auch bei der Unterscheidung zwischen akuten und chronischen Krankheiten oder zwischen Krankheiten, Leiden und Behinderungen. Andererseits ist völlig klar, daß ein dauerhaft Körperbehinderter, etwa ein Amputierter, krank und wieder gesund werden kann. Der semantische Gehalt, der diesem Sprachgebrauch zu entnehmen ist, deutet darauf hin, daß das Wort "Krankheit" vor allem einen grundsätzlich vorübergehenden, wenn auch manchmal langfristigen (Ausnahme-)Zustand bezeichnet, dem die dauerhaften, nicht mehr zu behebenden Beeinträchtigungen des Wohlbefindes, die noch keinen gemeinsamen Namen haben, gegenüberstehen15 • Die Schwierigkeiten, die durch definitorische Versuche jedoch nicht aus der Welt zu schaffen sind, entstehen vor allem bei der Einordnung der zwar grundsätzlich ohne schwerwiegende Dauerfolgen, aber nur in einem sehr langwierigen Heilungs- und Genesungsprozeß zu kurierenden Krankheiten, der chronischen, jedoch im pathologischen Befund an- und abschwellenden Krankheitsbilder und schließlich derjenigen Dauerschäden, die entweder keine schwerwiegende Behinderung darstellen oder bei denen sich die Folgen der Behinderung für das Leben der Betroffenen durch Spezialhilfen weitgehend abfangen lassen. 8.1.3. Verlust des Arbeitsplatzes als Abgrenzungskriterium

Da die Mängel, die dem deutschen Sozialleistungssystem bei der Sicherung gegen langfristige Leiden und Gebrechen immer wieder attestiert werden, in erster Linie in diesem undefinierten und schwankenden Zwischenbereich liegen, dürfte es sich empfehlen, die Aufgaben, die sich hier stellen, den beiden beteiligten Instituten doch nach irgend13 Die Definition der Weltgesundheitsorganisation: "Gesundheit ist ein Zustand völligen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheiten" (Zitiert nach HdSW, Bd. 4, S. 454) zeigt jedoch, wie verschwommen auch dieser Begriff ist. 14 Sozialenquete, Tz. 799. 15 Vgl. dazu Achinger, Neuordnung, S. 38, und Rothenfelser Denkschrift, S.71.

8.1. Das Verhältnis zur Krankenversicherung

239

einer zeitlichen Stufung zuzordnen, die aber kein starres, Ausschlußfristen begründendes Gesetz sein sollte. Sie hätte lediglich für die Verwaltungsvollzüge praktikable Regeln zu liefern, ohne eine prinzipielle Bedeutung in dem Sinne zu beanspruchen, daß alle anderen Regelungen falsch oder auch nur schlechter sein müßten. Was zunächst die Einkommenssicherung betrifft, so liegt der Gedanke nahe, sie zu dem Zeitpunkt von der Krankenversicherung auf die neue Schadensversicherung überzuleiten, zu dem der Betroffene seinen Arbeitsplatz verliert. Bei einer kurzfristigen Krankheit ist eine Kündigung nach § 1 des Kündigungsschutzgesetz nicht zulässig. Auch häufige kürzere Krankheiten werden ebensowenig wie langwierige Krankheiten ohne weiteres als Kündigungsgrund anerkannt. Die Rechtsprechung der Arbeitsgerichte hat in einer langen Spruchpraxis Kriterien dafür entwiclrelt, unter welchen besonderen Verhältnissen und Bedingungen krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit den Arbeitgeber zur Kündigung berechtigt. Wegen Einzelheiten dieser Entscheidungen muß auf die Lehrbücher und Kommentare zum Arbeitsrecht verwiesen werden. Die grundsätzliche überlegung, auf der die meisten von ihnen beruhen, geht dahin, dem Arbeitnehmer den Arbeitsplatz zu erhalten, solange dem Arbeitgeber zuzumuten ist, das Risiko des Arbeitsausfalls durch Krankheit zu tragen, solange dieses Risiko also im Rahmen einer noch als normal anzusehenden Toleranzgrenze bleibt. Erst wenn diese Grenze überschritten ist, das heißt wenn der Arbeitnehmer nicht mehr als normal leistungsfähige Arbeitskraft gelten kann, ist die Kündigung zulässig. Erst dann "wird der Betrieb, dem der Betroffene seither angehörte - auch in der Zeit einer langen Krankheit - aus der Verantwortung für die wirtschaftliche Existenz endgültig entlassen. Der Arbeitsplatz kann und muß spätestens zu diesem Zeitpunkt neu besetzt werden" 16. Spätestens von diesem Zeitpunkt an muß daher auch angenommen werden, daß auf absehbare Zeit, vielleicht sogar auf Dauer, der Erwerb des Lebensunterhalts durch eigene Leistung nicht mehr möglich sein wird. Denn die Begründung für den Verlust des Arbeitsplatzes liegt ja gerade darin, daß mit langwierigen Sonderbehandlungen zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit, mit Spezialmaßnahmen zur Wiedereingliederung, die ohnehin vielleicht einen Berufswechsel implizieren, oder mit einer sich als nicht mehr behebbar erweisenden Erwerbsunfähigkeit gerechnet werden muß. Das heißt, daß von diesem Zeitpunkt an schon von ihrer funktionalen Definition her die Zuständigkeit einer Rehabilitations- und Invaliditäts-Versicherung gegeben wäre und die Krankenversicherung aus ihrer Leistungspflicht entlassen werden müßte. 18

Rothenfelser Denkschrift, S. 72.

240

8. Kap.: Organisation

Was die Verantwortung für die medizinische Versorgung (und für eventuelle weitergehende, sie ergänzende Bemühungen) betrifft, wären kaum zusätzliche überlegungen erforderlich. Die Abwägung zwischen dem Leistungsinteresse des Arbeitgebers und dem Sicherungsinteresse des Arbeitnehmers, wie sie den im Arbeitsrecht erarbeiteten Grundsätzen, wann Krankheit als Kündigungsgrund akzeptiert werden kann, zugrunde liegt, trifft ziemlich genau die Abgrenzung, die zwischen kurzfristigen Krankheiten und langfristigen Leiden und Gebrechen sinnvoll erscheint. Wenn trotz wochen- oder sogar monatelanger ärztlicher Bemühungen eine Krankheit noch nicht auskuriert werden konnte oder sich zumindest noch eine längere Rekonvaleszenz anschließen muß, und wenn auf der anderen Seite die Rückkehr auf den alten Arbeitsplatz abgeschnitten ist, so daß auf jeden Fall eine berufliche Neuplacierung erforderlich wird, ist sicher der Zeitpunkt erreicht, an dem das dafür zuständige Institut mit besonderen Rehabilitationsmaßnahmen eingreifen sollte. Die Maximen, die im Kündigungsrecht entwickelt worden sind, scheinen demnach sowohl für die sogenannten Sachleistungen als auch für die Einkommenshilfe ein sachgerechtes Abgrenzungskriterium zu liefern. Die Entlassung aus dem Arbeitsverhältnis als das Datum zu fixieren, an dem die Verpflichtung, für Einkommenshilfe, ärztliche Hilfe und Berufshilfe aufzukommen, auf die neu zu errichtende Versicherung überginge, hätte vier Vorteile: 1. Die Verantwortung für alle Arten der Hilfe läge immer bei dem gleichen Träger. 2. Es wären keine unterschiedlichen Kriterien erforderlich, um die Höchstdauer für die Verpflichtung der Krankenversicherung zu Transferzahlungen zur Einkommenssicherung einerseits, zu Zahlungen für ärztliche Hilfen andererseits festzulegen.

3. über den Zeitpunkt, zu dem die Leistungspflicht der einen Institution enden und die der anderen beginnen würde, entschiede eine von der Interessenlage der beteiligten Versicherungen und des Versicherten unabhängige, finanziell nicht engagierte Instanz: Das Arbeitsgericht. 4. Das Kriterium würde jedem denkbaren Bedürfnis der Verwaltung nach Eindeutigkeit und leichter Feststellbarkeit gerecht. Trotzdem dürfte das Merkmal "Verlust des Arbeitsplatzes" für die zeitliche Zuständigkeitsverteilung zwischen Krankenversicherung und "Rehabilitationsversicherung" letztlich nicht praktikabel sein. Selbst wenn man vorläufig außer acht läßt, daß während eines eventuellen Rechtsstreites über die Wirksamkeit einer vom Arbeitgeber ausge-

8.1. Das Verhältnis zur Krankenversicherung

241

sprochenen Kündigung unentschieden bliebe, welches Sicherungsinstitut für den Patienten zuständig wäre, müßte es dem Einwand weichen, daß es nicht auf alle Fälle anwendbar ist. Zunächst kann das Arbeitsverhältnis auch während einer Krankheit aus anderen Gründen als dem der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit beendet werden, so etwa - um nur zwei eindeutige Beispiele zu nennen - bei einem vertraglich von vornherein befristeten Arbeitsverhältnis oder bei der Einstellung der Tätigkeit des Betriebes im Ganzen und der Entlassung aller Beschäftigten. Zweitens ist auf solche Krankheiten und Verletzungen hinzuweisen, die überhaupt nicht oder nur kurzfristig zur Arbeitsunfähigkeit führen, aber dennoch langwierige oder dauerhafte Behinderungen hinterlassen und Behandlungen erfordern. Gerade bei Unfällen, die nach der heute gegebenen Rechtslage die überwiegende Mehrzahl der Haftpflichtfälle bilden, sind solche Konstellationen keineswegs selten. Drittens und vor allem ist das Kriterium "Entlassung aus dem Arbeitsverhältnis" auf alle diejenigen, die überhaupt nicht in einem Arbeitsverhältnis stehen, also auf alle selbständig und alle nicht Erwerbstätigen, nicht anwendbar. Es durch eine Analogie zu ersetzen und so retten zu wollen, indem kodifiziert wird, daß die Leistungspflicht der Krankenversicherung endet, sobald Verhältnisse und Bedingungen vorliegen, die einen Arbeitgeber zur Kündigung berechtigen würden, müßte zu unerträglichen Komplikationen im praktischen Vollzug führen, denen gegenüber sogar jede nur denkbare Generalklausel oder der einfache Rückgriff auf die undefinierten Termini "kurzfristige Krankheiten" und "langfristige Leiden und Gebrechen" als präzise Richtlinien für die Verwaltung erscheinen würden. 8.1.4. Dauer der Lohnfortzahlung als Abgrenzungskriterium

8.1.4.1. Trotzdem braucht nicht darauf verzichtet zu werden, an die Dauer der Verpflichtung des Betriebes zur wirtschaftlichen Existenzsicherung anzuknüpfen, um einen konkreten, leicht zu handhabenden Maßstab für den Eingriffszeitpunkt der neuen Schadensversicherung zu finden. Stellt man nicht darauf ab, wie lange die Chance zur Rückkehr auf den alten Arbeitsplatz offengehalten werden muß, sondern auf die Dauer der effektiven Einkommenssicherung, so ist ohne Schwierigkeiten sowohl ein Anschluß an bestehende Regelungen herzustellen, als auch das gewählte Kriterium auf Nicht-Arbeitnehmer zu übertragen. Bestätigt sich die Vermutung der Sozialenquete-Kommission, daß die 1970 eingeführte volle Lohnfortzahlung auch für Arbeiter während der ersten sechs Wochen einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit "die gesetzliche Krankenversicherung vom Risiko der Krankengeldbzw. Hausgeldzahlung weithin entlasten" wird, weil "die weitaus über16 Schäfer

242

8. Kap.: Organisation

wiegende Zahl der Krankheitsfälle von kürzerer Dauer als sechs Wochen" ist17 , so bietet sich die Lösung an, für die Einkommenssicherung nach dieser einheitlichen Frist unmittelbar die neue Schadensversicherung eintreten zu lassen. Die Krankenversicherung würde zur reinen Krankheitskostenversicherung. Mit der Einkommenssicherung wäre sie überhaupt nicht mehr befaßt. Diese obläge vielmehr für mindestens sechs Wochen dem Arbeitgeber oder, genauer und allgemeiner formuliert: Die normalen Quellen der laufenden Einkünfte müssen kurzfristige krankheitsbedingte Unterbrechungen der Arbeitsfähigkeit mit abdecken. Danach setzen sofort die Zahlungen der neuen Schadensversicherung ein, die andauern, solange die Arbeitsunfähigkeit besteht. überleitungen von einer Versicherung auf die andere, von Krankengeld auf Rente und ähnliche Friktionen wären nicht mehr erforderlich. Eine Abweichung von der Lohnfortzahlungsfrist - zur Zeit also sechs Wochen - sollt nur insoweit vorgesehen werden, als die Einkünfte weiterfließen, gleichgültig aus welchen Quellen. Denn es kann nicht der Sinn der hier vorgeschlagenen Regelung sein, für einen Schaden aufzukommen, der gar nicht entstanden ist. Daher wäre festzulegen, daß die neue Schadensversicherung mit ihren Zahlungen an den Geschädigten in dem Augenblick zu beginnen hätte, in dem die bisherigen Einkünfte oder Arbeitserträge versiegen, frühestens jedoch nach Ablauf der allgemeinen Lohnfortzahlungsfrist. Eine solche Klausel würde auch auf selbständig oder nicht Erwerbstätige in vollem Umfang anwendbar sein. 8.1.4.2. Insoweit, d. h. in Bezug auf die Barleistungen, entspricht der Vorschlag dem ersten der in diesem Abschnitt diskutierten Modelle. Im Gegensatz dazu erscheint jedoch bei den Sachleistungen die Zusammenfassung der vorübergehenden, meistens kurzfristigen, mit den langwierigen oder dauerhaften Leidenszuständen bei einem Träger, sei es durch die übernahme auch der langfristigen Risiken durch die Krankenversicherung, sei es durch die volle Integration der Krankenversicherung in die neue Schadensversicherung, aus verschiedenen Gründen nicht als die zweckmäßigste Lösung18 • Hier dürfte sich vielmehr eine funktional definierte Auf teilung der Verantwortung auf zwei verschiedene Träger empfehlen, um einerseits die unbestreitbaren Erfolge der Krankenversicherung nicht unbekümmert aufs Spiel zu setzen19 , andererseits die Rehabilitation, die "in der bisherigen Regelung völlig zersplittert, zum Teil noch gar nicht als soziale Aufgabe erkannt" ist20 , einer leistungsfähigen Institution zu übertragen, die Sozialenquete, Tz. 722. Vgl. dazu auch Abschnitt 8.1.2. 19 Vgl. dazu Sozialenquete, Tz. 563. zo Achinger, Neuordnung, S. 38. 17 18

8.1. Das Verhältnis zur Krankenversichenmg

243

"die Vernachlässigung bestimmter Gruppen gegenüber anderen ... wie die Vernachlässigung der sozialmedizinischen Gesichtspunkte" nicht weiter fortsetzt21 • Der Krankenversicherung würde daher im Bereich der "Krankenpflege" ihr gegenwärtiger Aktionsbereich grundsätzlich zu belassen sein, während Fälle, die einer über die normale ärztliche Hilfe hinausgehenden Sonderbehandlung, einer langwierigen Rekonvaleszenz, spezieller Hilfen zur beruflichen Wiedereingliederung oder sonstiger unter den Begriff der Rehabilitation fallender Maßnahmen bedürfen, voll in die Verantwortung der als einheitlicher Träger für alle Rehabilitationsbemühungen fungierenden neuen Bundesanstalt übergehen würden. Ob solche zusätzlichen Aufgaben zu erfüllen sind, dürfte in den meisten Fällen nach mehreren Wochen oder zumindest nach wenigen Monaten zu erkennen sein. Daher sollte nach einer bestimmten Frist geprüft werden, ob außer der normalen medizinischen Therapie eine rehabilitative Behandlung erforderlich ist. Da die neue Schadensversicherung für die Einkommenssicherung aufzukommen hat, sobald die Lohnfortzahlung aufhört, könnte sie - zumindest von diesem Zeitpunkt an - durchaus daran interessiert sein, eine Behandlung einzuleiten, von der sie sich eine schnellere Wiederherstellung oder die Vermeidung von dauerhaften Beeinträchtigungen der Leistungsfähigkeit bis hin zur völligen Invalidität und damit die Ersparnis von langfristig oder dauernd zu leistenden Rentenzahlungen verspricht. Das spräche dafür, ihr das Recht einzuräumen, von der siebenten Woche an jeden Fall an sich zu ziehen22 • Da sie dieses Recht auch im weiteren Verlauf behielte, ist damit keine Ausschlußfrist etabliert. Die überleitung in ein Rehabilitationsverfahren bliebe jederzeit möglich. Andererseits müßte nach sechs Wochen die Krankenversicherung (und auch der Patient selbst) das Recht haben, die Einleitung eines besonderen Rehabilitationsverfahrens zu verlangen, wenn das nach dem ärztlichen Befund erforderlich erscheint23 • Wird diesem Antrag durch die Rehabilitationsversicherung nicht stattgegeben, so sollte ein unabhängiger vertrauensärztlicher Dienst (der evtl. von den Gesundheitsämtern ausgeübt werden könnte) zusammen mit einem beruflichen Beratungs- und Eingliederungsdienst (der der Bundesanstalt für Arbeit übertragen werden könnte)!4 darüber entscheiden. Sozialenquete, Tz. 844. Das entspräche etwa der heutigen Regelung des Verhältnisses zwischen Krankenversichenmg und Unfallversicherung in § 565 Abs. 2 Satz 1 RVO, bei der allerdings keine Zeitgrenze vorgesehen ist. 23 Zur Zeit besteht eine entsprechende Mitteilungspflicht der Krankenkassen gegenüber der Unfallversicherung nach § 565 Abs. 2 Satz 4 RVO. 24 Vgl. dazu den im Sozialplan der SPD (S. 25) vorgeschlagenen Berufsdienst. 21

22

16·

244

8. Kap.: Organisation

Die übergangszeit, in der jeweils nach den Besonderheiten des Einzelfalles darüber entschieden würde, ob die Krankenversicherung oder der neue Träger der Rehabilitation zuständig sein soll, würde von zwei festen Fristen eingerahmt. Am Anfang würde stets die Krankenversicherung die Behandlung übernehmen. Das ist schon deshalb sinnvoll, wahrscheinlich sogar notwendig, weil beim Beginn einer Krankheit in aller Regel weder ihre Dauer noch ihre Ursache sofort festzustellen ist; selbst bei Unfällen gilt häufig das Gleiche. Daher muß in der überwiegenden Mehrzahl aller Fälle sowieso zunächst die Krankenversicherung in Anspruch genommen werden. Andererseits sollte nach einer ebenfalls fixierten Höchstdauer die weitere Behandlung automatisch auf die Rehabilitations- und Invaliditäts-Versicherung übergehen, weil von einem bestimmten Zeitpunkt an einfach nicht mehr damit gerechnet werden kann, daß ein Leiden völlig folgenlos auszuheilen und eine reibungslose Rückkehr in den früheren Lebensbereich, insbesondere in die bisherige berufliche Tätigkeit möglich ist. Wo diese Grenze sinnvoll zu setzen wäre, ist weitgehend, wenn auch nicht ausschließlich, eine medizinische Frage; eine Frist von einem Jahr wäre wohl eher zu lang als zu kurz. Eine solche zeitliche Begrenzung der Leistungspflicht der Krankenversicherung wäre keine Verschlechterung gegenüber dem gegenwärtigen Rechtszustand, weil sie ja nicht länger eine Beendigung der Behandlung und der Leistungen überhaupt, sondern nur ihre übernahme durch einen im Zweifel besser geeigneten Träger bedeuten würde. Nur weil ein solcher bisher fehlte, sind wohl die Höchstzeiten der Behandlungsdauer durch die Krankenversicherung in den letzten Jahrzehnten so stark ausgedehnt worden. 8.1.4.3. Die Koordination zwischen der Krankenversicherung und der neuen Schadensversicherung würde diesen überlegungen zufolge also vor allem an das formale Kriterium des Lohnfortzahlungszeitraums anknüpfen. Solange die Einkünfte oder sonstigen Arbeitserträge nicht oder nur unwesentlich gemindert sind, ist eine Ersatzleistung nicht erforderlich. Danach, frühestens nach sechs Wochen, setzen sofort die Ersatzzahlungen der neuen Schadensversicherung ein. Krankengelder, Zeitrenten, Berufsunfähigkeitsrenten und Erwerbsunfähigkeitsrenten schließen unmittelbar aneinander an, da sie stets von der gleichen Institution geleistet werden. Die Krankenversicherung ist mit der Einkommenssicherung nicht mehr befaßt. Die Behandlungskosten werden in den ersten sechs Wochen grundsätzlich von der Krankenversicherung, nach Ablauf einer längeren Frist, die man etwa zwischen sechs und zwölf Monaten fixieren könnte, grundsätzlich von der neuen Bundesanstalt übernommen. In dem Zwischenzeitraum wird nach den individuellen Besonderheiten des jeweili-

8.1. Das Verhältnis zur Krankenversicherung

245

gen Falles entschieden, wo die Verantwortlichkeit für die Behandlung liegen soll. Diese zunächst unter rein pragmatischen Gesichtspunkten vorgeschlagene, an einer einfachen und möglichst eindeutigen Kompetenzregelung orientierte und weitgehend an bestehende Vorschriften und Fristen anschließende Lösung führt zu einem auch von den Aufgaben her sinnvollen Ergebnis - wobei natürlich die Wahl der Zeitgrenzen immer in einem gewissen Maße willkürlich bleibt. Die Krankenversicherung und die neue allgemeine Versicherung gegen Personenschäden würden bei einer solchen Zuordnung ein funktional gegliedertes Gesamtsystem für alle Hilfen und Entschädigungen bei Unfällen, Krankheiten und Behinderungen bilden. 8.1.5. Ausgleich der Belastungen

Die Teilung der Aufgaben zwischen den beiden Versicherungen bedingt natürlich, daß auch die insgesamt verfügbaren - oder eventuell noch zu erschließenden - Finanzierungsmittel aufgeteilt werden. Die im vorigen Kapitel dargestellten und erläuterten Einnahmearten stünden also nur zum Teil der neuen Bundesanstalt zur Verfügung; die Krankenversicherung müßte ebenfalls an ihnen partizipieren. Bei dem infolgedessen erforderlichen Finanzausgleich wäre ein Modus anzustreben, der beiden Einrichtungen von vornherein eine finanzielle Ausstattung sichert, die dem jeweiligen Umfang der von ihnen zu erbringenden Leistungen entspricht. Das heißt mit anderen Worten, daß die Einnahmearten so aufgeteilt werden sollten, daß Verrechnungen zwischen den beiden Versicherungen überflüssig sind. Erst dadurch gewönne die vorgeschlagene Regelung letzten Endes die überzeugungskraft eines nicht nur sozial effizienten, sondern auch ökonomisch und organisatorisch rationalen Modells. Bei der Zuweisung der Einnahmen wird, zumindest probeweise, davon ausgegangen, daß die Versicherten einen konsolidierten Gesamtbeitrag für die beiden Zweige des Gesamtsystems der Sicherung gegen Krankheiten, Unfälle und deren Folgezustände entrichten, der den Krankenkassen zufließt. Das entspricht weitgehend dem derzeitigen Zustand - jedenfalls wenn man unterstellt, der Bundeszuschuß zur Rentenversicherung würde die durch Heilbehandlungen und Frühinvalidität entstehenden Aufwendungen in etwa decken. Der neuen Bundesanstalt verblieben also die Mittel der Deckungsfonds und der auf sie übergehende Bundeszuschuß25. Bei einer solchen Einnahmenverteilung müßten !5

Vgl. dazu Abschnitt 7.3.2.

246

8. Kap.: Organisation

a) die "kurzfristigen" Behandlungskosten mit b) den Beiträgen der Versicherten und c) die "langfristigen" Behandlungskosten zuzüglich der Kosten der "langfristigen" Einkommenssicherung mit d) dem Aufkommen der Deckungsfonds zuzüglich des Bundeszuschusses verglichen werden. Wenn das vorgeschlagene Organisationsmodell ohne Verrechnungen funktionieren soll, müßte gelten: (1)

a

(2)

c

b =

d

Die erste Bedingung ist sicher ohne weiteres zu erfüllen, denn heute finanziert die Krankenversicherung aus den Beiträgen der Versicherten ja erheblich weitergehende Leistungen. Bei der zweiten Bedingung muß es jedoch mit dem formalen Kriterium sein Bewenden haben; es fehlen bis jetzt die meisten Schätzunterlagen, die zu prüfen erlauben würden, ob es ebenfalls erfüllt werden kann26 • Wenn das System ohne gegenseitige Regreßforderungen operieren soll, genügen jedoch die Bedingungen 1 und 2 nicht. Darüber hinaus müßte vielmehr auch die Chance bestehen, daß sich die Aufwendungen ausgleichen, die bei der vorgeschlagenen Verteilung der Aufgaben und der Einnahmen von dem falschen Institut getragen würden, das heißt nicht von dem, das nach den - vor allem im vorigen Kapitel entwickelten - Prinzipien für die Zurechnung sozialer Kosten leistungspflichtig sein müßte. Die Beiträge der Versicherten sollen ja als die akausalen Finanzierungsmittel des Gesamtsystems nur für den Ausgleich der "schicksalhaften" physischen Beeinträchtigungen herangezogen werden, während alle "verursachten" und darum "zurechenbaren" Schäden aus kausalen Finanzierungsmitteln gedeckt werden sollen, das heißt aus dem Aufkommen der Deckungsfonds 27 • Es müßten also f) alle Aufwendungen für "zurechenbare" Schädigungen aus d) dem Aufkommen der Deckungsfonds (zuzüglich des Bundeszuschusses) finanziert werden, während b) die Beiträge der Versicherten danach zu bemessen wären, daß aus ihnen e) alle Aufwendungen für "schicksalhafte" Schädigungen Vgl. dazu die Abschnitte 7.1.2. und 9.3.3. Daß die Deckungsfonds aus privaten Beiträgen (vgl. dazu Abschnitt 7.2., insbesondere 7.2.1.), aus öffentlichen Mitteln (vgl. dazu die Abschnitte 7.3.1., 7.3.3. und 7.3.4.) und aus Straf- und Bußgeldern (vgl. dazu Abschnitt 7.4.2.3.) 26 27

8.1. Das Verhältnis zur Krankenversicherung

247

gedeckt werden können. Diese beiden Bedingungen (3)

e

(4)

f

=

b

d

würden aber zusammen mit Bedingung (1) und Bedingung (2) bedeuten, daß (5)

a.

(6)

c

=

e

und

f,

also die "kurzfristigen" Behandlungskosten den Aufwendungen für "schicksalhafte" Schädigungen und die "langfristigen" Behandlungskosten zuzüglich der Kosten der "langfristigen" Einkommenssicherung den Aufwendungen für "zurechenbare" Schädigungen gleich sein müßten. Auf den ersten Blick scheint nichts dafür zu sprechen, daß es irgendeinen Mechanismus gäbe, der auf die Erfüllung von Bedingung (5) und Bedingung (6) hinwirken würde. Aber wenn die einzelnen Positionen aufgegliedert werden, zeigt sich, daß das keineswegs ausgeschlossen ist. In der Gesamtrechnung wäre nur außerdem zu berücksichtigen, daß die Kosten der "kurzfristigen" - also in der Regel auf sechs Wochen begrenzten - Einkommenssicherung, die ja weder von der Krankenversicherung noch von der neuen Bundesanstalt übernommen werden28 , bei "zurechenbaren" Schädigungen an sich auch aus den Deckungsfonds beglichen werden müßten. Dann ergeben sich bei der vorgeschlagenen Verteilung der Aufgaben und der Einnahmen folgende "falsch zugerechnete" Positionen: Die neue Bundesanstalt müßte erstatten g) die Kosten der Lohnfortzahlung bei "zurechenbaren" Schädigungen, h) die in den ersten sechs Wochen anfallenden Behandlungskosten bei "zurechenbaren" Schädigungen, i) die von der siebten Woche an entstehenden Kosten einer Behandlung, die sie weiterhin der Krankenversicherung überläßt, bei "zurechenbaren " Schädigungen. Sie könnte dagegen aufrechnen k) die Kosten der Einkommenssicherung 29 nach Ablauf der Lohnfortzahlungsfrist bei "schicksalhaften" Schädigungen, gespeist werden, kann hier außer Betracht bleiben; denn alle diese Aufbringungsverfahren dienen ja dazu, Schäden verursachungsgerecht zuzurechnen. 28 Vgl. dazu Abschnitt 8.1.4.1. 28 Der Begriff "Einkommenssicherung" schließt die Zahlung der Rentenversicherungsbeiträge und den Ersatz naturaler Arbeitserträge ein (Vgl. dazu die Abschnitte 6.2.1.2. und 6.2.2.).

8. Kap.: Organisation

248

1) sonstige Barleistungen, wie Pflegegelder, bei "schicksalhaften" Schädigungen, m) Schmerzensgeld-Renten30 bei "schicksalhaften" Schädigungen n) die Kosten einer Behandlung, die sie nach sechs Wochen an sich gezogen hat, bei "schicksalhaften" Schädigungen 0) die Kosten einer Behandlung nach Ablauf der Leistungspflicht der Krankenversicherung (6 bis 12 Monate) bei "schicksalhaften" Schädigungen. Falls diese Bilanzierung ergibt, daß

(7)

g+h+i=k+Z+m+n+o

ist, daß also, kurz gesagt, in der Summe aller Fälle die "kurzfristigen" Aufwendungen bei "zurechenbaren" Schädigungen gleich sind den "langfristigen" Aufwendungen bei "schicksalhaften" Schädigungen, wären die Bedingungen (5) und (6) erfüllt, so daß das Gesamtsystem auch mit allen Zurechnungskriterien ohne Verrechnungen kompatibel wäre. Es ließen sich einige begründete Vermutungen dafür aufstellen, daß das Ergebnis nicht weit von der Bedingung (7) abweichen wird, insbesondere wenn man berücksichtigt, daß eine ganze Reihe von Annahmen über die Verursachung von Schädigungen in die Rechnung eingehen, die zu einer Art öffentlicher Ausfallbürgschaft für (noch) nicht identifizierte oder nicht ersatzpflichtig zu machende Schädiger führt, die durch den nicht spezifizierten öffentlichen Zuschuß abgegolten wird31 • Dieser Zuschuß stellt also gewissermaßen eine Manövriermasse dar, die mehr oder weniger beliebig, auf beiden Seiten der Gleichung, eingesetzt werden könnte. Ergeben sich jedoch starke Abweichungen von der Bedingung 7, so könnten einige Regeln des Modells ohne weiteres so verändert werden, daß der Ausgleich der Belastungen sich automatisch wieder einstellt. Zunächst könnten die beiden festen Zeitgrenzen, die für die Verteilung maßgebend sind, insbesondere die das Ende der Leistungspflicht der Krankenversicherung fixierende, etwas verschoben werden. Bei einem größeren Defizit der neuen Bundesanstalt müßte allerdings für den Finanzausgleich mit der Krankenversicherung das Verbundsystem eingeführt, das heißt der neuen Versicherung ein bestimmter Anteil der von den Versicherten gezahlten Beiträge zugewiesen werden. Ein empirischer Test der Bedingung (7) wäre nur möglich, wenn genauere und umfassendere Untersuchungen über Krankheits- und Unso SI

Vgl. dazu Abschnitt 6.3.1. Vgl. dazu Abschnitt 7.3.2.

8.2. Überleitung bestehender Restitutions-Institute in Deckungsfonds 249

fallursachen vorlägen3z• Wir könnten jedoch schon heute viel mehr "über Gesundheit und Krankheit wissen, wenn die fast die ganze Bevölkerung umfassende Krankenversicherung ihre eigenen Schätze höbe"38. Sie verfügt über das meiste Material, das solche Ursachenforschung ermöglichen würde, und sie könnte zusätzlich erforderliches Material am leichtesten erheben34• Käme zu dieser bisher ungenutzten Potenz, soziale Zusammenhänge zu erforschen, der Anreiz des eigenen finanziellen Interesses hinzu, so könnte dadurch die Entwicklung einer sozialen Ätiologie stimuliert werden, deren Fehlen schon lange lebhaft bedauert wird.

8.2. Die Vberleitung bestehender RestitutionsInstitute in Deckungsfonds der neuen Versicl1erung 8.2.1. Bei kausal definierten Sondersystemen läßt der Reformvorschlag eine Abstimmung wie mit der Krankenversicherung nicht zu. Was die Leistungen betrifft, würden alle Schadensersatz- und Entschädigungs-Institute, alle Haftpflicht- und Unfallversicherungen vollständig und ersatzlos durch die neue allgemeine Schadensversicherung verdrängtl. Das bedeutet jedoch nicht, daß sie auch völlig aufgelöst werden müßten. Denn was die Aufbringung der Mittel betrifft, würde das neue System ja in den Deckungsfonds eine sehr stark differenzierte und gegliederte Organisationsstruktur erhalten. Bestehende Restitutions-Institute könnten also in die Deckungsfonds übergeführt werden und in dieser Form durchaus erhalten bleiben. Inwieweit sie als solche noch autonome Gebilde darstellen würden, hinge allerdings von den Verwaltungs- und Rechtsformen, in denen die Fonds konstituiert würden, ab, wobei sich eine Stufenfolge vorstellen ließe, die von der nur buchungsmäßigen Aussonderung bis zur völlig selbständigen Körperschaft reicht.

Das Minimum einer sinnvollen Verselbständigung bei der Erfassung der verschiedenen Schadensursachen und der entsprechenden Risiken wäre die Errichtung heteronomer Beitragsabteilungen bei der neuen Bundesanstalt. Der Einsatz elektronischer Datenverarbeitungsanlagen würde auch bei einer ansonsten voll integrierten Verwaltung eine nahezu beliebige Trennung verschiedener Risiken, sei es nach Schädigungsursachen, sei es nach Gruppen von Schädigern, erlauben und auf 32 33 3f

1

Vgl. dazu auch Abschnitt 9.3.2. Achinger, Soziale Daten, S. 18 Vgl. dazu v. Ferber, Sozialpolitik, insbesondere S. 138 f. Vgl. dazu Abschnitt 5.3.1.3.

250

8. Kap.: Organisation

diese Weise die Unterlagen für eine risikogerechte Beitragsberechnung liefern2 • 8.2.2. Da den Declrungsfonds auch die Schadensverhütung übertragen werden soll3, wäre jedoch eher an den Status zumindest halbautonomer Sektionen im Rahmen der neuen Bundesanstalt zu denken. Vorkehrungen, Richtlinien und Kontrollen zur Schadensprophylaxe sind stark "branchenspezifisch", so daß zu erwarten ist, daß sie wirksamer gestaltet und erfolgreicher gehandhabt werden können, wenn diese Sektionen mit - allerdings in ihren Kompetenzen begrenzten - Selbstverwaltungsorganen ausgestattet werden. Ist eine solche Selbstverwaltung erst einmal etabliert, so spricht nichts dagegen, aber vieles dafür, ihr auch die Beitragshoheit zu überlassen. Die einzelnen Sektionen würden damit auf der Aufbringungsseite souverän. Jede Sektion könnte eigene, spezifische Grundsätze für die Aufbringung der auf sie entfallenden Deckungssummen statuieren, die sich von denen aller anderen Sektionen unterschieden. Sie wäre jedoch auf der Leistungsseite gebunden, das heißt verpflichtet, bestimmte, sich aus den ihr zuzurechnenden Schädigungen ergebende Beträge aufzubringen. Eine solche Konstruktion unterschiede sich in ihrem sachlichen Gehalt nicht entscheidend von heutigen Verhältnissen. Die sozialen Leistungen sind so weitgehend gesetzlich normiert, daß auch im gegenwärtigen System den Selbstverwaltungen nur ein sehr geringer Spielraum bei der Leistungsgestaltung bleibt. Aber auch private Versicherungen befinden sich vielfach in der grundsätzlich gleichen Situation; so hat zum Beispiel die gesamte Kraftfahrzeughaftpflichtsparte keinen ins Gewicht fallenden Einfluß auf die Höhe ihrer Aufwendungen. Von daher erscheint die Hoffnung nicht völlig trügerisch, daß den "eigenständigen und auf ihren Besitzstand pochenden Verwaltungen", von denen oft die hartnäckigsten Widerstände gegen Reformen ausgehen4 , einsichtig gemacht werden könnte, daß ihr Status durch die überleitung in derartige halbautonome Sektionen mit eigener, wenn auch begrenzter Selbstverwaltung nicht gravierend gemindert würde. Auf eine rationelle Verwaltung und auf eine Koordinierung bei der Erfassung und Auswertung statistischer Daten, die für die Kalkulation der verschiedenen Risiken ohnehin erforderlich wäre, brauchte bei diesem Modell ebensowenig verzichtet zu werden wie bei dem der unselbständigen Beitragsabteilungen. "Innerhalb einer ... einheitlichen Verwaltungsorganisation behalten die Nachfolger der derzeitigen Lei2 Vgl. dazu Frey, Thesen und Anregungen zu einem künftigen System sozialer Sicherung, S. 354 und 356. a Vgl. dazu Abschnitt 7.2.2.2. 4 Sozialenquete, Tz. 855.

8. 2. überleitung bestehender Restitutions-Institute in Deckungsfonds 251

stungsträger ihre ... Selbständigkeit mit eigener Finanzhoheit und Selbstverwaltung ..., wobei die elektronische Datenverarbeitungsanlage durch entsprechende Programmierung die Verwaltungs abläufe zwar synchronisiert, zugleich aber die buchmäßige und statistische Aufteilung auf die ... selbständigen Untergliederungen vornimmt. Die einheitliche Organisation ist also gewissermaßen die gemeinsame Datenbank und datenverarbeitende Stelle, während die Risikotrennung in Anlehnung an die z. Zt. bestehende erhalten bleibt ... Sie ist nur der gemeinsame Verwaltungsrahmen, die den beteiligten selbständigen Risikogemeinschaften dienende, nicht sie beherrschende Apparatur 5 ." 8.2.3. Noch einen Schritt weiter zu gehen und Deckungsfonds mit uneingeschränkter, auch rechtlich vollwertiger Autonomie zu errichten, würde zwar eine nicht ganz unbedenkliche Spaltungstendenz in das neue System einbringen, hätte jedoch den großen Vorteil, die mit Sicherheit zu erwartenden, nicht unbeträchtlichen Widerstände gegen seine Einführung weiter herabzusetzen. Ein solches drittes Modell wäre nämlich außerordentlich flexibel, machte die neue Sozialversicherung mit nahezu allen denkbaren Varietäten von Deckungsfonds kompatibel und würde insofern allen bestehenden Institutionen, die mit Entschädigungen befaßt sind, ihre Weiterexistenz quasi garantieren. Die Dekkungsfonds könnten ihre Rechts- und Organisationsform nach Belieben wählen, sie könnten sogar Bestandteil von Verwaltungen oder von Unternehmungen sein, die außerdem noch völlig andere Geschäfte betreiben. Es müßte lediglich garantiert sein, daß sie ihre Deckungspflicht gegenüber der neuen Bundesanstalt erfüllen und daß für alle zurechenbaren Risiken ein Deckungsfonds vorhanden ist. Wie die Beziehungen im einzelnen vorzustellen wären und welche Freiheitsgrade sie den Aufbringungspflichtigen einräumen würden, läßt sich am besten an der Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung verdeutlichen. Die Kraftverkehrsversicherer müßten alle Kosten übernehmen, die aus Schädigungen von Personen im Straßenverkehr resultieren. Das könnte zum Beispiel schon über den HUK-Verband6 geschehen, erforderte also keine neue Organisation, vorausgesetzt daß der Verband mit den nötigen Vollmachten ausgestattet wird, um der neuen Versicherungsanstalt für die Aufbringung der auf ihn entfallenden Mittel zu bürgen, und daß es gelingt, die außer den Kraftfahrern zum Verkehrsunfallfonds Beitragspflichtigen7 heranzuziehen. Nach welchen Maßstäben die einzelnen Versicherer an der Finanzierung beteiligt 5 Frey, Thesen und Anregungen zu einem künftigen System sozialer Sicherung, S. 356. a Verband der Haftpflicht-, Unfall- und Kraftverkehrsversicherer e. V. 7 Vgl. dazu Abschnitt 7.2.1.

252

8. Kap.: Organisation

würden und welche Versicherungen sie außerdem betrieben, würde die neue Bundesanstalt nicht tangieren. Die Kraftfahrzeugversicherung könnte also in das einheitliche Leistungssystem einbezogen werden, ohne im Prinzip etwas an ihrem Aufbau oder ihrem Geschäftsbereich zu ändern. Dieses dritte Modell wäre zwar anfällig für Friktionen und Komplikationen zwischen den 'einzelnen Deckungsfonds, etwa durch wechselseitige Regreßansprüche und einen dadurch wieder in Gang gesetzten Verrechnungsverkehr, die bei dem zweiten Modell, das die Autonomie der Sektionen immerhin an gemeinsame Regularien der insoweit übergeordneten Versicherungsanstalt binden würde, weitgehend zu vermeiden wären. Aber es würde weniger Eingriffe in bestehende Rechtspositionen, Verwaltungsstrukturen, Unternehmensformen und Vertragsbeziehungen bedingen als jedes andere Modell, ohne die beiden obersten Maximen des hier entwickelten Vorschlags, die risikogerechte Belastung der potentiellen Schädiger und den Ausgleich aller Schädigungen nach gleichen Kriterien, in Frage zu stellen. Es würde insbesondere erlauben, die Unfallversicherung und die Kriegsopferversorgung institutionell nahezu unangetastet zu lassen. Das aber kann für die Realisierungschancen des Reformkonzepts letztlich entscheidend sein, so daß dem Organisationsmodell der rechtlich selbständigen Dekkungsfonds vor allen puristischen und perfektionistischen Lösungen eindeutig der Vorzug zu geben sein wird. 8.2.4. Das Reformkonzept würde jedoch denaturiert, wenn den Dekkungsfonds auch auf der Leistungsseite Autonomie zugestanden würde. Die Versuche der Verwaltungen, sich gegenseitig die Kompetenz zuzuschieben, würden dann ebenso fortgesetzt wie die der Geschädigten, jeweils die Art der Schadensentstehung nachzuweisen, die zur Rubrizierung bei dem für sie günstigsten Leistungsträger führt. Der Vorteil, daß der Geschädigte immer nur mit einer Instanz zu tun hätte, wäre ebenso verspielt wie der, daß er nach klaren, einheitlichen Regeln behandelt würde, die sich ausschließlich nach der erlittenen Schädigung richten, ohne daß zuvor Recherchen über ihre Herkunft angestellt werden müßten. Die Deckungsfonds sollten daher prinzipiell nicht zugleich Leistungsträger sein. Das schließt nicht unter allen Umständen aus, daß bestimmte Deckungsfonds auch einmal bestimmte medizinisch-rehabilitative Spezialeinrichtungen betreiben, vor allem wenn sie von ihnen in das neue Leistungssystem eingebracht worden sind. Namentlich den Berufsgenossenschaften könnten solche Befugnisse und Initiativen konzediert werden, und zwar nicht allein aus taktischen Gründen. Allerdings sollte ohne Ausnahme darauf bestanden werden, daß diese Ein-

8.3. Das Verhältnis zur Rentenversicherung

253

richtungen keine Exklusivität beanspruchen können. Sie müßten vielmehr allen Personen, die von dem Schädigungstypus, für den sie errichtet worden sind, betroffen werden, zur Verfügung stehen. Sie würden also gewissermaßen im Auftrag und auf Rechnung der neuen Bundesanstalt betrieben. In berufsgenossenschaftlichen Unfallkrankenhäusern, die für mehrere Berufsgenossenschaften gemeinsam betrieben werden, und insbesondere in solchen, die auch andere Unfallgeschädigte, in erster Linie Verkehrsopfer, aufnehmen und behandeln, ist ein derartiger kooperativer Ansatz vorgezeichnet. Wer der überzeugungskraft des Vernünftigen noch etwas zutraut, wird es für möglich halten, daß ihm gegen alle institutionell verfestigten Zuständigkeitsgrenzen allgemeine Geltung verschafft werden kann. 8.3. Das Verhältnis zur Rentenversicherung Um die Systematik der Beziehungen der neuen allgemeinen Versicherung gegen Personenschäden zu den bestehenden Leistungszweigen des Sozialversicherungssystems zu komplettieren, sei hier - sozusagen nur als Merkposten - noch einmal auf das hingewiesen, was an anderer Stelle bereits über das Verhältnis zur Rentenversicherung gesagt worden istl • Zu dem wirtschaftlichen Schaden, der sich als Verdienstausfall infolge Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit darstellt, gehören auch die Beiträge, die aus diesem Einkommen für die Alterssicherung aufgewendet worden wären!, natürlich einschließlich des Arbeitgeberanteils. Deshalb wären von der neuen Bundesanstalt, die in Zukunft bei Personenschäden der einzige zum Einkommensersatz Verpflichtete wäre, "Beiträge für die noch nicht 65jährigen an die gesetzlichen Rentenversicherungen (zu) zahlen ... , die ... nach der ohne den Schadens eintritt vermutbaren Höhe der Einkommen der Geschädigten zu berechnen wären"3. Die finanziellen Verflechtungen zwischen der neuen Schadensversicherung und den Rentenversicherungen würden sich auf diese Beitragspflicht beschränken. Mit Erreichung der Altersgrenze wäre der Geschädigte in der Regel aus dem Erwerbsleben ausgeschieden. Von diesem Zeitpunkt an würde er also auch ohne Schädigung kein Leistungseinkommen mehr bezogen haben; jedenfalls ist es - bei dem Schematismus, mit dem hypothetische Berechnungen über unterbrochene Karrieren immer und unausweichlich operieren müssen4 - gerechtfertigt, eine dahingehende unVgl. dazu die Abschnitte 5.3.1.3. und 6.2.1.2. Dasselbe gilt selbstverständlich auch insoweit, als durch die Beiträge ein Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung erworben wird; vgl. dazu LaTenz, Schuldrecht H, S. 466 f. 3 Sozialenquete, Tz. 529. Vgl. auch Tz. 833. 4 Vgl. dazu auch Sozialenquete, Tz. 527. I

2

254

8. Kap.: Organisation

widerlegliche Rechtsvermutung aufzustellen5 • Ein schädigungsbedingter Einkommensverlust kann daher immer nur bis zur Altersgrenze eintreten, so daß mit diesem Zeitpunkt auch die Leistungspflicht der neuen Bundesanstalt enden würde. "Mit Erreichen des Renteneintrittsalters würde sodann für alle die gesetzliche Rentenversicherung eintreten'." Infolge der Beitragszahlungen der neuen Bundesanstalt wäre der Geschädigte dann so gestellt, wie wenn er in seinem Berufsleben nicht beeinträchtigt worden wäre. So ergibt sich eine klare Abgrenzung zwischen der Rentenversicherung und der neuen Schadensversicherung: Da diese das Risiko vorzeitiger Invalidität voll abdeckt, verbleibt jener nur das Altersrisiko. Das entspricht Vorschlägen, die - mit verschiedenen Motivationen und mit mancherlei Modifikationen in den Einzelheiten - von vielen Seiten in den letzten Jahren gemacht worden sind7 • Wenn außerdem - wiederum einer Anregung der Sozialenquete-Kommission folgend - der gegenwärtig an die Rentenversicherungen gezahlte Staatszuschuß auf die neue Versicherungsanstalt übertragen wird8 , wäre die reine Beitragsfinanzierung der Rentenversicherungen realisiert, auf die vor allem Wilfried Schreiber immer großen Wert gelegt hat9 • Als reine Altersrentenversicherung mit reiner Beitragsfinanzierung gewönne sie, die heute schon der am genauesten kalkulierbare Zweig des sozialen Sicherungssystems ist, auch für den Versicherten wesentlich an Klarheit und Berechenbarkeit.

5 Vgl. dazu Gitter, Arbeitsunfallrecht, S. 184 f. aSozialenquete, Tz. 529. 7 Vgl. dazu u. a. Sozialenquete, Tz. 526-538 und 831-835; Schreiber, Rentenversicherung, S. 79 f.; Gitter, Arbeitsunfallrecht, S. 184 f. und 198; Hoernigk, Konzeptionen, S. 118 f. 8 Vgl. dazu Sozialenquete, Tz. 831. 8 Vgl. dazu Schreiber, Existenzsicherheit, S. 11 ff.; Sozialpolitik, S. 30 und 86 ff.; Reform, S. 4 f. und 16 f.; Ordnungspolitik, S. 33 f. und 51 f.

Neuntes Kapitel

Prämissen, Programme und Projekte (Leitsätze) 9.1. Zusammenfassende Thesen Die Feststellungen, Voraussetzungen und Zielsetzungen, von denen das in der vorliegenden Arbeit entwickelte Reformkonzept ausgeht, las~ sen sich in folgenden Thesen zusammenfassen: 1. Die Ansprüche auf Leistungen zum Ausgleich von Schäden (Restitutionsleistungen) haben eine expansive Tendenz. Es nehmen zu:

a) der Umfang der Haftung bei gegebener Haftpflicht Aufgrund der gegebenen Rechtslage werden höhere und andersartige Schadensersatzforderungen geltend gemacht, und zwar sowohl gegenüber privaten als auch gegenüber öffentlichen Haftpflichtigen. b) die Haftungstatbestände über die gegebene Haftpflichthinaus Durch extensive Auslegung des geltenden Rechts und durch Bemühungen um Änderungen des Rechts wird versucht, die Haftung auf Fälle auszudehnen, in denen bisher kein Schadensersatz zu erlangen war, und zwar sowohl gegenüber privaten als auch gegenüber öffentlichen Schädigern. c) die Forderungen auf öffentliche Restitutionsleistungen Soweit ein Schädiger nicht haftbar gemacht werden kann, nicht zu ermitteln oder nicht vorhanden ist, wird eine öffentliche Verpflichtung zum Schadensausgleich postuliert. 2. Die Verfahren für die Verteilung der Schadenslasten lassen sich durch die folgende Reihe rechtlicher Konstruktionen systematisch klassifizieren: a) Haftung nur für eigenes Verschulden b) Haftung auch für fremdes Verschulden (der "VerrichtungsgehilfenU) c) Haftung für präsumiertes - eigenes und fremdes - Verschulden (Umkehr der Beweislast) d) Haftung auch ohne Verschulden (Gefährdungshaftung) e) Mithaftung für fremde Betriebsgefahren (Haftpflichtversicherungszwang) f) Ersatzanspruch des Geschädigten auch gegen die Haftpflichtversicherung des Schädigers (action directe)

256

9. Kap.: Leitsätze

g) Ersetzung der Haftung für gleichartige Betriebsgefahren durch Versicherungen (spezielle Unfallversicherungen) h) Ersetzung der Haftung für alle Gefahren durch Versicherung (allgemeine Unfallversicherung) Dieses Schema bezeichnet zugleich eine Art historischer Entwicklungsreihe, so daß tendenziell die einzelnen Teilgebiete der Schadensordnung konvergieren1 • 3. Die expansive Tendenz der Restitutionsansprüche läßt sich aus langfristigen gesellschaftlichen Entwicklungen erklären. Die zugleich wichtigsten und allgemeinsten sind: a) Die allgemeine Zunahme des Wohlstandes macht empfindlicher gegen Verluste. b) Der wissenschaftliche Fortschritt fördert die Erkenntnis der Ursachen von Schädigungen. c) Schädigungen werden nicht mehr als Schicksalsschläge hingenommen. Der Glaube an und die Ergebung in ein unausweichliches Fatum sind von einem kausalen Denken abgelöst worden. Man sucht den Verursacher des Schadens oder macht - wo das nicht gelingt den Staat verantwortlich. d) Das Bewußtsein der Abhängigkeit von gesellschaftlichen Verflechtungen begünstigt ein solidarisches Gleichheitsdenken, wie es sich international in den Begründungen der sozialen Sicherheit manifestiert 2 • 4. Die Ansprüche auf öffentliche Leistungen, die dem Ersatz fehlender Erwerbseinkünfte oder der Deckung außerordentlicher Aufwendungen dienen (Sicherungsleistungen), haben eine expansive Tendenz. Es nehmen zu: a) der in soziale Sicherungssysteme einbezogene Personenkreis Soziale Sicherungssysteme entwickeln sich von Einrichtungen für bedürftige Minderheiten zu tendenziell die Gesamtbevölkerung umfassenden Instituten. b) die Leistungen sozialer Sicherungssysteme Die Entwicklung geht von der Sicherung des Existenzminimums zur Sicherung des Einkommens mit dem Ziel der Statuskonsistenz und der (zumindest relativen) Erhaltung individueller Wohlstandslagen. 1 Die Produzentenhaftung befindet sich zur Zeit etwa im übergang von b zu c, die Haftung für Verkehrsunfälle seit 1965 bei f, die für Arbeitsunfälle seit 1884 bei g. 2 Vgl. dazu Achinger, Soziale Sicherheit, Abschnitt I, und Dieter Schäfer, Die Rolle der Fürsorge im System sozialer Sicherung, Frankfurt am Main 1966, Kapitel IV Abschnitt III.

9.1. Zusammenfassende Thesen

257

5. a) Die expansive Tendenz der Restitutionsleistungen (These 1) führt bei gleichzeitig fortschreitender personeller Ausdehnung der kausal unspezifischen Sicherungsleistungen (These 4 a) dazu, daß immer öfter mehrere Ansprüche wegen desselben Sachverhalts bei einer Person zusammentreffen. Das dadurch entstehende Problem der Anspruchskumulation oder Anspruchskonkurrenz ist weitgehend ungelöst. Es wird um so gewichtiger, je mehr sich bei der Bemessung der Sicherungsleistungen das Ziel der Statussicherung (These 4 b) durchsetzt. 5. b) Das Problem der Koordination von Restitutionsleistungen und Sicherungsleistungen stellt sich nur für Personenschäden. Denn für Sachschäden gibt es keine kausal unspezifischen öffentlichen Sozialleistungen, sondern nur Entschädigungen in bestimmten Ausnahmefällen, in denen Schadensersatzansprüche - wegen der Art des schädigenden Ereignisses - nie gegeben sind3 • 6. Die sowohl bei Restitutions- als auch bei Sicherungsleistungen zu konstatierenden expansiven Tendenzen (Thesen 1 und 4) und die daraus resultierenden Anspruchskumulationen (These 5 a) schließen Lücken im Gesamtsystem der Ausgleichsleistungen nicht aus. Vielmehr verbleiben trotzdem a) Schadensfälle, in denen weder ein Restitutions- noch ein Sicherungsanspruch besteht, b) oft unzureichende Leistungen in Rehabilitations- und Pflegefällen, vor allem wenn nur durch sehr langwierige und komplexe, nicht auf die geläufige medizinische Behandlung beschränkte Methoden der Zustand des Geschädigten gebessert werden kann oder wenn es sich um Dauerschäden handelt, die selbst durch laufende Behandlung nicht mehr zu beheben oder auch nur zu mildern sind. Von beiden Unzulänglichkeiten sind insbesondere Personen betroffen, die vor der Schädigung nicht erwerbstätig waren. 7. a) Unterschiedliche Ursachen des gleichen Schadens führen nicht zu einem differenzierten Ausgleichsbedarf. Lebenschancen und Lebensformen eines Geschädigten hängen ebenso wie die zur Milderung oder Behebung der Schädigungsfolgen erforderlichen Aufwendungen ausschließlich von Art und Ausmaß der Schädigung ab; mit der Ursache der Schädigung stehen sie in keinerlei Zusammenhang. Es gibt daher keine Rechtfertigung für nach der Ursache eines Schadens anstatt nach diesem selbst bemessene Restitutionsleistungen.

3

Insbesondere bei Kriegsschäden oder auch bei Naturkatastrophen.

17 Schäfer

258

9. Kap.: Leitsätze

7. b) Alle Argumente, die für kausal differenzierende Restitutionsleistungen vorgebracht werden, erweisen sich bei genauerer Betrachtung als von der Finanzierungs-, nicht von der Leistungsseite abgeleitet. Sie können daher nur die Düferenzierung der Belastungen der Schädiger, nicht die Differenzierung der Leistungen an die Geschädigten rechtfertigen. 8. Kausal düferenzierende Restitutionsleistungen machen die Lösung des Problems ihrer Koordination untereinander und mit kausal unspezüischen Sicherungsleistungen (These 5 a) grundsätzlich unmöglich. Denn diese Lösung könnte nur darin bestehen, jeden Anspruch auf eine Restitutionsleistung zum Ausschlußgrund für jeden anderen Restitutionsanspruch und für jeden Sicherungsanspruch zu machen. Dann müßte jedoch bis zur Klärung der Schadensursache jegliche Leistung verweigert werden. Soll das vermieden werden, so müßte doch wieder das Sicherungssystem nach seinen Maßstäben vorleistungspflichtig gemacht werden. 9. Das Prinzip "Gleiche Leistungen bei gleichen Schäden" (These 7 a) ist nur durch ein einheitliches, umfassendes und kausal unspezifisches System von Restitutionsleistungen zu verwirklichen, das alle kausal differenzierenden Leistungen ausschließt. Es würde damit zum Teilsystem des allgemeinen sozialen Sicherungssystems. 10. Je vollkommener sich die Tendenz zur einkommensproportionalen Bemessung der Sozialleistungen (These 4 b) durchsetzt, desto geringer wird die Differenz zwischen Schadensersatzleistungen und Sicherungsleistungen; desto geringer wird daher auch die Präferenz der Geschädigten für Schadensersatzansprüche werden. Noch verbleibende Unterschiede werden überkompensiert, wenn das Prinzip "Gleiche Leistungen bei gleichen Schäden" (These 7 a) realisiert wird. 11. Der Verzicht auf kausal differenzierende Leistungen ist nicht gleichbedeutend mit dem Verzicht auf eine kausal differenzierende Aufbringung der Mittel. Vielmehr sind zur Finanzierung eines kausal unspezifischen Systems von Restitutionsleistungen (These 9) heranzuziehen: a) Schädiger, denen ein Schuldvorwurf zu machen ist, nach dem Maß ihrer Schuld und des durch ihr schädigendes Verhalten erzielten Gewinns, nicht - wie bisher - nach dem Maß des von ihnen angerichteten Schadens, b) potentielle Schädiger, mit deren Betätigung erfahrungsgemäß das Risiko verbunden ist, Schäden zu verursachen (Gefährdungshaftung), nach dem Maß des ihnen als Kosten dieser Betätigung zuzurechnenden Risikos,

9.2. Die Grundstruktur des Reformvorschlages

259

c) die potentiellen Geschädigten für die Deckung der Schäden, deren Verursacher nicht festzustellen oder aus anderen Gründen nicht zu belasten ist, und zwar als Solidargemeinschaft der Versicherten durch Beiträge und als Solidargemeinschaft der Haftenden durch Steuern. 12. Eine kausal differenzierende Finanzierung (These 11 a und b) hat die doppelte Funktion, a) durch Androhung von Sanktionen gegen schuldhafte Schädiger und durch den Anreiz zu schadenverhütenden Vorkehrungen schuldloser potentieller Schädiger die Schadensprophylaxe zu fördern, b) die in Form von "diswelfare" der Geschädigten entstehenden sozialen Kosten volkswirtschaftlich richtig, d. h. dort, wo sie verursacht werden, anzulasten und dadurch den ökonomischen Steuerungsmechanismus zur optimalen Allokation knapper Mittel zu verbessern. 9.2. Die Grundstruktur des Reformvorschlages

Das aus diesen Thesen abgeleitete Modell läßt sich - unter Vernachlässigung aller Einzelheiten der gesetzes- und verwaltungstechnischen Gestaltung, insbesondere solcher, die für die überleitung der bisherigen Regelungen in das neue Recht erforderlich sind - in seinen Grundzügen wie folgt skizzieren: 9.2.1. Leistungen

Es wird eine Bundesanstalt für Unfall-, Rehabilitations- und Invaliditäts-Versicherung errichtet. Sie umfaßt die gesamte Bevölkerung. 9.2.1.1. Sie hat zugleich die Aufgaben einer Bundesanstalt für Rehabilitation. In dieser Eigenschaft hat sie 1. darauf hinzuwirken, daß geeignete Einrichtungen für alle Arten und Phasen von Rehabilitationsmaßnahmen ausreichend zur Verfügung stehen, 2. erforderliche Rehabilitationsverfahren rechtzeitig einzuleiten, einen Gesamtplan dafür aufzustellen, dessen Durchführung zu kontrollieren und zu garantieren. 9.2.1.2. Die Anstalt gewährt- zusammen mit der Krankenversicherung - einen Ausgleich für alle aus Schädigungen (Krankheiten und Verletzungen) einer Person entstehenden Folgen. Das umfaßt folgende Leistungen:

260

9. Kap.: Leitsätze

1. Deckung aller Behandlungs- und· Rehabilitationskosten, d. h. des Aufwandes für die Heilung der Krankheit oder Verletzung, für die Milderung der Folgen einer nicht voll auszuheilenden Krankheit oder Verletzung und für die berufliche und (resp. oder) soziale Wiedereingliederung. Diese Kosten werden zwischen der Krankenversicherung und der neuen Bundesanstalt nach der Dauer und nach der Art der Behandlung aufgeteilt. Sie werden von der Krankenversicherung in jedem Fall während der ersten 6 Wochen der Behandlung übernommen, darüber hinaus, solange ein Rehabilitationsverfahren noch nicht eingeleitet ist; die Anstalt tritt ein, sobald ein Rehabilitationsverfahren eingeleitet wird, spätestens nach Ablauf einer bestimmten längeren Behandlungsdauer (z. B. nach 1 Jahr).

2. Zahlung einer Geldrente in Höhe des durch eine andauernde Behinderung bedingten zusätzlichen Aufwandes, insbesondere für häusliche Pflege und (resp. oder) laufend oder wiederholt benötigte Hilfsmittel. Die Aufwendungen werden nach den gleichen Kriterien wie die Behandlungs- und Rehabilitationskosten zwischen der Krankenversicherung und der neuen Bundesanstalt aufgeteilt. 3. Zahlung einer Geldrente zur Deckung des durch die Schädigung bedingten Verdienstausfalles 1 oder Ausfalles des wirtschaftlichen Ertrages einer nicht erwerbswirtschaftlichen Tätigkeit, insbesondere der Arbeit der Hausfrau, bis zu einer bestimmten Höchstgrenze (z. B. bis zur Beitragsbemessungsgrenze der Rentenversicherung oder bis zum Höchstbetrag des Jahresarbeitsverdienstes in der Unfallversicherung). Dabei wird in jedem Falle unterstellt, daß während der Dauer der Lohnfortzahlung (6 Wochen) kein Verdienst oder sonstiger wirtschaftlicher Ertrag entfällt. Die Arbeit der Hausfrau wird, eventuell nach der Zahl und dem Alter der zu versorgenden Personen gestaffelt, mit einem bestimmten Prozentsatz entweder des durchschnittlichen Einkommens aller Rentenversicherten oder des Familieneinkommens bewertet. - Dieser Aufwand für Renten wird voll von der neuen Bundesanstalt getragen. 4. Zahlung einer Geldrente zum Ausgleich der durch andauernde und besonders schwerwiegende Folgen der Schädigung (wie Blindheit, Gehörlosigkeit, Lähmungen, Verunstaltungen, Schmerzen) geminderten Lebensmöglichkeiten. Dafür sollten in einer Art "Schmerzensgeldtabelle" bestimmte Beträge festgesetzt werden. - Der Aufwand wird voll von der neuen Bundesanstalt getragen. 1 Der Begriff "Verdienstausfall" schließt die Beiträge zur Rentenversicherung ein. .

9.2. Die Grundstruktur des Refonnvorschlages

261

9.2.1.3. Alle sonstigen gesetzlichen (privatrechtlichen oder öffentlichrechtlichen) Ersatzansprüche wegen Personenschäden entfallen. Insbesondere werden in das Leistungsrecht der neuen Bundesanstalt einbezogen und entfallen insoweit (d. h. soweit sie Personenschäden und deren Folgen betreffen): 1. Die Ansprüche aus Vertragsverletzung

2. Die Ansprüche aus unerlaubter Handlung 3. Die Ansprüche aus Amtshaftung 4. Die öffentlich-rechtlichen Aufopferungsansprüche

5. Die Ansprüche aus besonderen Gefährdungstatbeständen, insbesondere die aus der Haftpflicht für den Kraftfahrzeugverkehr 6. Die Ansprüche aus der Unfallversicherung

7. Die Ansprüche aus der Rentenversicherung auf Rehabilitation und wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit 8. Die Ansprüche auf Kriegsfolgeleistungen, insbesondere die aus der Kriegsopferversorgung und aus dem Lastenausgleich. Wenn sichergestellt wäre, "daß keine neuen Entschädigungsansprüche aus dem Komplex der Kriegsfolgenhilfe hinzukommen"!, daß also derartige Ansprüche irgendwann endgültig auslaufen, könnte in Erwägung gezogen werden, sie in ihrem Sondercharakter vorläufig bestehen zu lassen, falls dadurch Widerstände überwunden werden könnten, die sonst die vorgeschlagene Reform verhindern würden. Günstiger, insbesondere auch für die Betroffenen, wäre es allerdings, die Besonderheiten der Kriegsfolgeleistungen bei der Gestaltung der schmerzensgeldähnlichen Integritätsrente8 zu berücksichtigen. 9.2.2. Finanzierung

Das Gesamtsystem des Ausgleichs für alle aus Schädigungen (Krankheiten und Verletzungen) einer Person entstehenden Folgen wird grundsätzlich aus vier Quellen finanziert: 1. Beiträge der Versicherten 2. Beiträge potentieller Schädiger 3. Geldstrafen und Geldbußen, die wegen Personen gefährdender oder schädigender Handlungen verhängt werden 4. Zuschüsse aus öffentlichen Mitteln. 9.2.2.1. Die Beiträge der Versicherten werden an die Krankenversicherung gezahlt. Die Leistungen der Krankenversicherung werden voll 2

S

Rothenfelser Denkschrift, S. 130. Vgl. dazu Abschnitt 6.3.2.

9.lCap.:IArltsätze

262

aus diesen Beiträgen gedeckt. Gegenüber den Leistungen der neuen Bundesanstalt werden sie möglichst so abgegrenzt, daß keine Verrechnungen zwischen den beiden Institutionen erforderlich werden4 • Gelingt das, so stehen für die Finanzierung der neuen allgemeinen Volksversicherung gegen Personenschäden die Prämienzahlungen der Schädiger, Geldstrafen- und -bußen sowie öffentliche Mittel zur Verfügung. 9.2.2.2. Die Beiträge der potentiellen Schädiger werden an einzelne Deckungsfonds entrichtet. Diese Deckungsfonds werden nach Gefahrenbereichen gebildet, d. h. nach mit bestimmten Tätigkeiten erfahrungsgemäß verbundenen Schädigungsursachen, die ausreichend homogen sind, um Schadenswahrscheinlichkeiten statistisch ermitteln und Versicherungsprämien berechnen zu können. Jeder Fonds hat sämtliche Aufwendungen zu decken, die der neuen Bundesanstalt aus Ausgleichsleistungen für die Folgen von Schädigungen, die seinem Gefahrenbereich zuzurechnen sind, erwachsen. Dabei ist nicht nur das Unfallrisiko zu berücksichtigen, sondern alle - auch durch als schädigend bekannte Dauereinwirkungen entstehende - Schädigungsrisiken. Die Fonds haben eine begrenzte Selbstverwaltung; diese ist für die Schadensverhütung zuständig. Deckungsfonds werden insbesondere gebildet für 1. Schädigungen am Arbeitsplatz

Sie werden - wie die Berufsgenossenschaften und diese ablösend bzw. fortsetzend - nach Wirtschaftszweigen gegliedert. Öffentliche Bedienstete werden - wie bei der bestehenden Unfallversicherung - einbezogen. 2. Schädigungen durch den Straßenverkehr Zu seiner Finanzierung tragen bei a) die Fahrzeugeigentümer b) die Fahrzeughersteller c) die Reparaturwerkstätten d) die Verkehrssicherungspflichtigen, zum Beispiel die Straßenbehörden 3. Schädigungen infolge Verletzung von Verkehrssicherungspflichten Sie werden nach besonderen Gruppen von Verkehrssicherungspflichtigen gegliedert, wie Bauunternehmer und Hausbesitzer. 4. Schädigungen durch fehlerhafte Produkte und sonstige fehlerhafte Leistungen Sie werden nach Produktgruppen gegliedert und eventuell, soweit diese Einteilung mit der nach Wirtschaftszweigen übereinstimmt, mit den Fonds für Arbeitsschäden verbunden. 4

Vgl. dazu Abschnitt 8.1.5.

9.2. Die Grundstruktur des Reformvorschlages

263

5. Schädigungen durch gefährdende Anlagen und Substanzen

soweit sie nicht bereits durch die Fonds gemäß 1. bis 5. abgedeckt sind 6. Schädigungen durch öffentliche Tätigkeit 7. Schädigungen durch öffentlich zu verantwortende Ereignisse. Neue Deckungsfonds werden gebildet, wenn mit bestimmten Tätigkeiten verbundene Schädigungsursachen erst später erkannt werden und wenn neue Gefahrenbereiche entstehen. 9.2.2.3. Die Geldstrafen und Geldbußen, die wegen Personen gefährdender oder schädigender Handlungen verhängt werden, fließen in der Regel in voller Höhe dem Deckungsfonds zu, in dessen Gefahrenbereich die jeweilige Handlung fällt, das heißt dessen Verpflichtungen oder dessen Risiken durch diese Handlung erhöht werden. Die Höhe der Geldstrafoen und Geldbußen richtet sich nach dem Maß der Schuld, nach den persönlichen Verhältnissen des Verurteilten (im Sinne des Systems von Tagesbußen) und gegebenenfalls nach dem Vorteil, den er durch sein Verhalten erlangt hat. Bei vorsätzlich herbeigeführten oder durch unverantwortlich leichtfertiges Verhalten verursachten Schädigungen könnte eventuell bei der Strafzumessung auch die Höhe des Schadens berücksichtigt werden. Regreßansprüche der Versicherung gegen den Schädiger sind in jedem Fall ausgeschlossen. 9.2.2.4. Die Zuschüsse aus öffentlichen Mitteln haben drei Funktionen: 1. an die Stelle der Beiträge bestimmter Gruppen potentieller Schädiger zu treten, die nicht belastet werden sollen oder die zu belasten bisher versäumt worden ist Diese Beiträge werden grundsätzlich in gleicher Weise wie die von potentiellen Schädigern an Deck:ungsfonds zu entrichtenden berechnet. 2. die Aufwendungen für den Ausgleich der Folgen solcher Schädigungen zu decken, deren Ursachen (noch) nicht bekannt sind Zu diesem Zweck wird insbesondere der Zuschuß des Bundes an die Rentenversicherung, der "zur Zeit schon mit den Sonderlasten der Invalidität begründet wird"5, an die neue Bundesanstalt geleistet. 3. den Anteil abzugelten, den das Versagen öffentlicher Institutionen - wie mangelhafte Gesetzgebung, Überwachung oder Planung an der Verursachung von Schädigungen hat, die einzelnen Deckungsfonds angelastet werden.

5

Sozialenquete, Tz. 831.

264

9. Kap.: Leitsätze

Zu diesem Zweck wird gesetzlich festgelegt, daß bestimmte Deckungsfonds bestimmte Prozentsätze ihrer Gesamtaufwendungen als Zuschuß aus öffentlichen Mitteln erhalten. 9.3. Forscllungsaufgaben 9.3.0. Die Wirkungen eines derart strukturierten Leistungssystems zu prognostizieren, ist bei dem gegebenen Wissensstand nur begrenzt möglich. Das Modell hätte präziser und detaillierter entwickelt und damit zugleich gegen zu erwartende Bedenken und Einwendungen besser abgesichert werden können, wenn Materialien vorlägen, die ein genaues Budget dafür aufzustellen erlaubten. Aber nicht nur die finanziellen Dimensionen stehen in Frage. Forschungsstrategisch handelt es sich vielmehr vor allem um drei größere Problemkreise, deren eingehendere Untersuchung zu wünschen wäre: Einen juristischen, einen sozial-medizinischen und einen finanziellen. 9.3.1. Die juristische Problematik ergibt sich schon daraus, "daß die Sozialpolitik als praktische wie als wissenschaftliche Disziplin sich in der staatlichen Wirklichkeit nahezu ausschließlich mit Hilfe des Rechts, also im Wege über Normen, entfaltet, daß sie sich im wesentlichen des Rechts als eines Mittels bedient, um ihre sozialpolitischen Vorstellungen in die Wirklichkeit umzusetzen"l. Das bedeutet, daß die Rechtswissenschaft das Normen- und Begriffsinstrumentarium zur Verfügung stellen und gegebenenfalls neu entwickeln muß, durch das sozialpolitische Programme in anwendbare Rechtssätze transkribiert werden können. In Bezug auf die in dieser Arbeit angeregte Reform wäre daher an die Jurisprudenz zunächst die Anfrage zu richten, wie das Leistungs- und Finanzierungssystem kodifiziert werden könnte, um administrativ praktikabel und justiziabel zu werden, und welche Rechtsformen für die institutionelle und organisatorische Struktur des Systems angeboten werden können. Dazu käme die Notwendigkeit, für Sonderfälle und Randgruppen - die in Modellvorstellungen nicht einzugehen pflegen - Regelungen zu treffen. Das beträfe Fragen wie die nach der Behandlung von Ausländern, sei es als Schädiger oder sei es als Geschädigte, oder die nach dem Ausschluß oder der Kürzung von Ansprüchen bei besonders schwerwiegendem Eigenverschulden des Geschädigten, z. B. bei Unfällen, die vorsätzlich herbeigeführt, bei Begehung eines Verbrechens erlitten oder durch eine mutwillig geschaffene außerordentliche Gefahr ausgelöst worden sind2 • 1 !

Sozialrecht, S. 645. Vgl. dazu v. Hippel, Schadensausgleich, S. 65 ff. und S. 119 f.

Rode,

9.3. Forschungsaufgaben

265

Soweit es nur um eine solche übersetzungs- und Formulierungshilfe geht, ist die Rechtswissenschaft nicht stärker beansprucht als bei jedem Gesetzgebungsverfahren. Das gilt im Prinzip auch noch für die Prüfung der Frage, inwieweit andere Gesetze geändert oder außer Kraft gesetzt werden müßten. Der sich dabei ergebende Änderungskatalog dürfte allerdings so umfangreich werden, daß er sich als ein andere Rechtsgebiete auch qualitativ verändernder Eingriff erweisen könnte. Es sei hier nur daran erinnert, daß sowohl öffentliches Recht als auch Privatrecht in erheblichem Maße tangiert werden. Im publizistischen Bereich geht es nicht nur um eine weitgreifende Novellierung des Sozialrechts, sondern es werden auch die Teile der öffentlich-rechtlichen Ersatzleistungen, die Personenschäden betreffen, aus dem allgemeinen Verwaltungsrecht ausgegliedert und dem Sozialrecht zugeordnet; im zivilistischen Bereich werden die unmittelbaren, bisher privatrechtlich geregelten Zahlungsverpflichtungen eines Schädigers teils durch sozialrechtliche Versicherungsbeiträge abgelöst, teils in das Strafrecht einbezogen. Der Vorschlag läuft also darauf hinaus, "die Einheit des Schuldrechts aufzulösen in die Zweiheit von Vertragsordnung und Schadensordnung"8, wobei jedoch zunächst nur für das Recht der Personenschäden eine neue Konzeption entwickelt wird. Von daher wird dann deutlich, daß nicht nur auf einen rechtstechnischen Sukkurs durch die Jurisprudenz bei der Transformation des Reformmodells in ein praktikables Gesetzeswerk rekurriert wird, sondern daß darüber hinaus auch rechtssystematische und rechtsdogmatische Probleme aufgeworfen sein könnten. Schon ihre genaue Beschreibung, erst recht ihre Lösung wird der juristische Laie sich nicht anmaßen können. Da er - jedenfalls für Personenschäden - einen "Umbau der gesamten überkommenen Schadensordnung"4 vorschlägt, hält er jedoch eine umfassende Prüfung seines Modells auf dessen Kompatibilität mit anderen Rechtsmaterien hin für erforderlich. Denn immerhin stellt dieses Modell zum Beispiel Begriffe wie "Verschulden", "Haftung" und "Gefahrtragung" in ihren tradierten Auslegungen und Rechtsfolgen infrage, postuliert es - entgegen der bisherigen Dogmatik und Rechtspraxis - eine Höherrangigkeit des Rechtsgutes "Integrität der Person" gegenüber dem Schutz des Vermögens, und substituiert es lineare Rechtsbeziehungen, d. h. Berechtigungen und Verpflichtungen zwischen je zwei Rechtsgenossen, durch ein versicherungsähnlich konstruiertes, öffentlich-rechtliches Solidarverhältnis innerhalb größerer Gefahrengemeinschaften. Derartige Vorstellungen könnten Weiterungen für die systematische Konsistenz des Rechts haben, die der juristische Laie nicht übersieht. 3

LaTenz, Schuldrecht I, S. 1, Anm. 1.

4 'V.

Hippel,

Schadensausgleich, S. 2.

266

9. Kap.: Leitsätze

Trotzdem ist er zuversichtlich, daß sein Konzept nicht mit Grundfiguren des bestehenden Rechtssystems in unlösbaren Widerspruch gerät. Er kennt die Entwicklung des Arbeitsunfallrechts, die zwar "die Schwierigkeiten einer einseitig an Tradition und Begrifflichkeit ausgerichteten rechts dogmatischen Betrachtungsweise bei der Bewältigung neuartiger sozialer Erscheinungen sichtbar" macht5 , aber auch beweist, daß sie zu überwinden sind; und sein Modell ist nichts anderes als eine Generalisierung der Unfallversicherung. Er sieht sich durch die Meinung eines Juristen bestätigt, der die "Haftungsersetzung durch Versicherungsschutz" bei Verkehrsunfällen als "Modell für eine allgemeine Volksunfallversicherung" empfiehlt und glaubt, "daß - zumindest bezüglich der Regulierung von Personenschäden - der versicherungsrechtlichen Lösung die Zukunft gehört"8. Und er würde - selbst gegen juristischen Sachverstand - mit einem anderen Juristen darauf beharren, daß "die Jurisprudenz eine praktische Wissenschaft" ist und es "darum die praktischen sozialen Fakten sind, die ihre AufgabensteIlungen diktieren. Daran können auch historische Entwicklungen des normativen Bereichs nichts ändern, wenn sie sich auch noch so fest installiert zu haben scheinen"7. 9.3.2. Das Rubrum "sozialmedizinisch", mit dem in den einleitenden Bemerkungen dieses Abschnittes der zweite Problemkreis versehen worden ist, dient zunächst nur der summarischen Klassifikation eines Forschungsbereiches, der wissenschaftssystematisch keine Einheit darstellt. Trotzdem geht es um integrale Fragestellungen, nämlich um die Entwicklung einer umfassenden Ätiologie von Krankheiten und Unfällen und deren Folgezuständen. Das ist nur zum Teil ein im eigentlichen Sinne medizinischer Gegenstand, darüber hinaus der einer breit angelegten, nicht nur technische Gegebenheiten berücksichtigenden Unfallursachenforschung, und insgesamt - auch methodisch - einer der Statistik, nicht zuletzt wiederum der Medizinalstatistik. Solche ätiologischen Untersuchungen können nach zwei verschiedenen - logisch inversen - Strategien betrieben werden. Einerseits ist nach der Genese von Krankheiten und der Kausalität von Unfällen zu fragen, d. h. nach den Ursachen bekannter Schädigungen, andererseits nach den Wirkungen bestimmter Einflüsse der zivilisatorischen Umwelt, deren Schädlichkeit teils bewiesen ist, teils begründet vermutet wird, d. h. nach den schädigenden Folgen bekannter Ursachen. Der erste Ansatz charakterisiert vorwiegend die Unfallursachenforschung, während der zweite vor allem bei der Untersuchung schädigender Dauereinwirkungen benutzt wird, bei denen die Kausalität nie unmittelbar 5

8 7

Gitter, Arbeitsunfallrecht, S. 5. v. Hippel, Schadensausgleich, S. 115 f.

Rode, Sozialrecht, S. 738.

9.3. Forschungsaufgaben

267

im Einzelfall, sondern nur als statistisch ermittelte Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden kann8 • Das macht die Erforschung solcher nur über längere Zeiträume und bei bestimmter Konzentration oder Intensität schädigend wirkender Vorgänge außerordentlich schwierig, insbesondere wenn die Forschungsergebnisse beweiskräftig genug sein sollen, um die Verursacher mit den finanziellen Folgen einer Schädigung zu belasten. Daß Unfälle einen für Entschädigungsregelungen sehr viel günstigeren Ansatzpunkt liefern, zeigt schon der Vergleich zwischen Berufskrankheiten und Arbeitsunfällen. Selbst bei erheblicher Intensivierung der wissenschaftlichen Bemühungen um die Aufklärung von Schädigungsursachen wird man in Rechnung stellen müssen, "daß es wissenschaftlich, statistisch und juristisch in jeder modernen Gesellschaft ... immer schwieriger wird, die verursachenden Faktoren für den Verlust an sozialem Wohlergehen ausfindig zu machen und sie mit den Kosten zu belasten"9. Das liegt jedoch nicht in erster Linie daran, daß diese kausalen Faktoren nicht zu ermitteln wären. Auch das mag komplizierter werden. Aber das eigentliche Problem der Schadenszurechnung besteht darin, daß gerade bei fortschreitender Erkenntnis der Verursachungsstruktur evident wird, daß monokausale Erklärungen unzureichend, wenn nicht sogar unzulässig sind. Das betrifft die zunächst so eindeutig erscheinenden Unfälle 10 ebenso wie die schädigenden Dauereinwirkungen. Spätestens seit der Kampagne Ralph Naders gegen unsichere Automobilkonstruktionenl l ist auch einer breiten Öffentlichkeit bewußt geworden, daß zum Beispiel die "polizeilich festgestellten Ursachen bei Straßenverkehrsunfällen"12, bei denen "zu schnelles Fahren" eine auffällige, nur aus der Funktion als Restposten für sonst nicht zu klassifizierende Fälle erklärliche Beliebtheit genießt, oft mehr eine reine Hergangsbeschreibung als eine Ursachenfeststellung sind. Solche Komplikationen brauchen das hier entwickelte Modell jedoch nicht aus den Angeln zu heben. Denn einerseits korrespondiert das 8 Als Musterbeispiel dafür kann der Nachweis der lungenkrebserzeugenden Wirkung des Rauchens im sogenannten Terry Report gelten (vgl. Smoking and Health. Report of the Advisory Committee to the Surgeon General of the Public Health Service, hrsg. vom U.S. Department of Health, Education, and Welfare - Public Health Service, Washington 1964). 9 Titmuss, Beziehungen, S. 65. 10 Vgl. dazu Sozialbericht 1970, Teil A. Tz. 35: "Dringend notwendig ist eine bessere Organisation der Erforschung der Unfallursachen und der Umsetzung der neuen Forschungsergebnisse in die Praxis. Die Einzelforschungen auf diesem Gebiet müssen zu einer Gemeinschaftsforschung aller wissenschaftlichen Disziplinen von den Naturwissenschaften, der Medizin, der Psychologie bis zur Betriebswirtschaftslehre und Technologie zusammengeführt werden." 11 Vgl. Nader, Unsafe at any Speed. 12 Vgl. Statistisches Jahrbuch 1968, S. 342.

268

9. Kap.: Leitsätze

System der verschiedenen Deckungsfonds mit verschiedenen Gruppen von Beitragspflichtigen der polykausalen Struktur der Schädigungen und macht es im Gegensatz zu allen bestehenden, auf dem Prinzip des Entweder-Oder beruhenden Entschädigungs-Instituten möglich, mehrere Ursachen einer Schädigung bei der Finanzierung zu berücksichtigen. Andererseits löst es eine Konkurrenz um die Erforschung und Beseitigung von Schädigungsursachen aus, weil es sie bei der Beitragsbemessung prämiiert. Die Beobachtung, daß die einzigen Statistiken, die auswertbare Schädigungsursachen nachweisen, dort zu finden sind, wo es eine strikte Haftpflicht gibt, nämlich bei Arbeitsunfällen13 und bei Verkehrsunfällen14 , legt es nahe, nicht allzu skrupulös auf die letzte Gewißheit über Kausalzusammenhänge zu warten, sondern gerade ihre Aufklärung durch Beitragspflichten zu der neuen allgemeinen Schadensversicherung zu provozieren. 9.3.3. Der dritte, der finanzielle Problemkreis ist offensichtlich eng mit der Ätiologie der Schädigungen verbunden. Zumindest die Struktur der Einnahmenseite der neuen Versicherung hängt davon ab, für welche Betätigungen das Risiko einer kausalen Beteiligung an Schädigungen nachgewiesen oder zumindest mit einer Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht werden kann, die hoch genug ist, um die Verpflichtung zu Beitragszahlungen zu rechtfertigen, und für welche Schädigungen der Beweis einer individuellen Schuld gelingt, der Straf- und Bußgeldzahlungen auslöst.

Schwieriger ist jedoch die Kalkulation der Aufwandsseite, weil fast alle dafür erforderlichen Daten fehlen. Seit dem Mikrozens vom April 1966, der die "erste und bisher einzige umfassende morbiditäts-statistische Erhebung der Bundesrepublik Deutschland" darstellt15 , während alle "bisher geführten Statistiken ... nur Teilausschnitte bieten"16, lassen sich immerhin einigermaßen fundierte Schätzungen anstellen, wieviele P.ersonen überhaupt von Krankheiten, Unfällen und chronischen Leiden betroffen sind17 • Freilich gelten für solche Zahlen immer noch 18 Vgl. Unfallstatistik der gesetzlichen Unfallversicherung in der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung. - Diese Statistik ist nur bis 1961 geführt worden. Im Sozialbericht 1970, Teil A, Tz. 35, ist jedoch die Errichtung einer Bundesanstalt für Unfallforschung und Arbeitsschutz angekündigt worden, die sich intensiv der interdisziplinären Erforschung von Unfallursachen widmen soll. U Vgl. Straßenverkehrsunfälle, Fachserie H, Reihe 6 der Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes (erscheint monatlich und jährlich). 16 Wirtschaft und Statistik, Nr. 12/1968, S. 595. 18 Wirtschaft und Statistik, Nr. 6/1968, S. 308. 17 Vgl. dazu insbesondere Wirtschaft und Statistik, Nr. 2/1968, S. 84 ff. ("Kranke Personen im April 1966 nach Altersgruppen und Beteiligung am Erwerbsleben"), Nr. 5/1968, S. 252 ff. ("Unfallverletzte Personen") und Nr. 7/ 1968, S. 348 ff. ("Körperlich und geistig behinderte Personen").

9.3. Forschungsaufgaben

269

die gleichen, ihre Signilikanz erheblich relativierenden Einwendungen, die bereits in der Sozialenquete für die Statistik der Behinderungen vorgetragen worden sind18. Das Statistische Bundesamt weist auch selbst darauf hin, daß die Interviewer sich auf von ihnen nicht nachprüfbare Aussagen der Befragten verlassen müssen, die "u. a. von der Art der Krankheit, von der Zahl der ärztlichen Konsultationen, von den Auswirkungen der Krankheit auf die Lebensweise und der individuellen Einstellung zur Krankheit, von der Kostspieligkeit und der Schwere der Krankheit, vom Verständnis des Befragten"19 und nicht zuletzt - so wäre hinzuzufügen - davon abhängig sind, ob die Krankheit Grundlage irgendwelcher Ansprüche ist. Aber selbst bei genauer statistischer Erfassung aller betroffenen Personen fehlten immer noch wichtige Berechnungsunterlagen. Zunächst müßte nicht nur bekannt sein, wer nach dem vorgeschlagenen Leistungssystem anspruchsberechtigt wäre, sondern auch was er bekäme (also die Höhe seines Schadens, wozu auch Art und Dauer gehören) und von wem die Mittel für seine Entschädigung aufzubringen wären (also der Verursachungsbereich oder der individuelle Verursacher, dem sein Schaden zuzurechnen ist). Darüber hinaus aber müßte man das Gleiche, also wer welche Leistungen aus welchen Quellen erhält, erst einmal für den gegebenen Zustand wissen. Erst dann ließen sich Vergleichsrechnungen anstellen, aus denen der reformbedingte Mehraufwand zu ermitteln wäre. Erst dann ließe sich folglich auch beurteilen, ob die finanziellen Dimensionen des neuen Systems so viel größer wären als die Summe der bisherigen Einzelsysteme, daß sich daraus überhaupt ein irgend gewichtiger Einwand erheben ließe. Für einen solchen Bilanzvergleich sind vor allem zwei Gruppen problematisch: Einerseits diejenigen, die bisher leer ausgegangen sind, die also weder aus einem Leistungszweig der sozialen Sicherung noch aus einem öffentlich-rechtlichen oder privatrechtlichen Haftpflichtanspruch entschädigt worden sind, und andererseits diejenigen, die bisher mehrere derartige Leistungen wegen derselben Beeinträchtigung ihrer körperlichen Integrität erhalten haben. über beide Gruppen wissen wir kaum etwas. Von der ersten ist anzunehmen, daß sie überwiegend aus nicht oder noch nicht Erwerbstätigen besteht, d. h. aus Hausfrauen und Kindern. Forschungen in diesem Bereich würden daher die wichtigsten 18

19

Vgl. Sozialenquete, Tz. 733-736. Wirtschaft und Statistik, Nr. 6/1968, S. 308.

270

9. Kap.: Leitsätze

Daten verfügbar machen, die aus den bestehenden Leistungssystemen nicht zu gewinnen sind. Die zweite Gruppe ist zwn ersten und letzten Mal 1953 in der sogenannten L-Enquete untersucht worden, und auch das nur in Bezug auf die Einkommenshilfen aus dem öffentlichen Sozialleistungssystem2o• Eine derartige Erhebung ist also ohnehin überfällig. Sie müßte jedoch, wenn sie mit dem vorgeschlagenen Reformmodell kompatibel sein soll, alle Leistungen einbeziehen, die in das neue System integriert werden sollen, also alle öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Ersatzleistungen bei Schädigungen von Personen, alle Zahlungen aus und an Unfall- und Haftpflichtversicherungen sowie alle Verrechnungen, Erstattungen und Regresse oder den in Teilungsabkommen vereinbarten Verzicht darauf. Diese konsolidierte Bilanz müßte dann dem Budget der neuen Versicherungsanstalt gegenübergestellt werden. 9.3.4. Das ist sicher ein umfangreiches Erhebungs- und Rechenprogramm. Um das vorgeschlagene Modell als grundsätzlich realisierbar zu erweisen, brauchte es jedoch nicht lückenlos und nicht mit allen statistischen Feinheiten und Raffinessen durchgeführt zu werden. Es genügte, seine finanzielle Größenordnung mit hinreichender Sicherheit zu prognostizieren. Wenn das gelänge, wäre die Reform keine utopistische Leichtfertigkeit, sondern dann käme es nur darauf an, ob man die an sie geknüpften Zielvorstellungen für sinnvoll hält. Reimut Jochimsen hat bei seiner Nominierung zum Leiter der Planungs abteilung im Bundeskanzleramt gesagt: "In der Politik wird heute ungeheure Energie auf den Streit um Details verschwendet, Grundsatzentscheidungen dagegen werden meistens erschlichen21 ." Eine Reform in der Art und nach den Grundsätzen, die in dieser Arbeit entwickelt worden sind, als Phantasterei abzutun oder mit dem Hinweis auf technische Schwierigkeiten oder noch ungeklärte finanzielle Einzelfragen abzulehnen, würde bedeuten, daß die Grundsatzentscheidung, das Entschädigungsrecht unkoordiniert weiterwuchern zu lassen und den Opfern, nicht den Nutznießern und den Verursachern von Menschen gefährdenden Betätigungen die Lasten entstehender Schädigungen aufzubürden, durch Nichtstun erschlichen würde.

20 Vgl.: Die sozialen Verhältnisse der Renten- und Unterstützungsempfänger. Bd. 137 der Statistik der Bundesrepublik Deutsdlland. Z1 Der Spiegel, Nr. 5/1970, S. 27.

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