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German Pages [365] Year 2020
Hermann Deuser Markus Kleinert (Hg.)
Sokratische Ortlosigkeit: Kierkegaards Idee des religiösen Schriftstellers
B
https://doi.org/10.5771/9783495820506 .
Hermann Deuser / Markus Kleinert (Hg.) Sokratische Ortlosigkeit: Kierkegaards Idee des religiösen Schriftstellers
VERLAG KARL ALBER
A
https://doi.org/10.5771/9783495820506 .
https://doi.org/10.5771/9783495820506 .
Hermann Deuser Markus Kleinert (Hg.)
Sokratische Ortlosigkeit: Kierkegaards Idee des religiösen Schriftstellers
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Hermann Deuser / Markus Kleinert (Eds.) Socratic Placelessness: Kierkegaard’s Idea of the Religious Writer Kierkegaard considered himself a ›religious writer‹. This term indicates the ambivalence and risk of a literary venture that seeks to establish an aesthetic existence on a religious basis and to safeguard a religious existence aesthetically, but does not rely on any religious authority and cannot be assigned to the established scientific system either. The contributions in this volume examine Kierkegaard’s idea of the religious writer, its ancient models and modern history of impact (especially in German literature), as well as the relevance of this idea with regard to the articulation of Christian faith and religiosity under the conditions of secular modernity.
The Editors: Prof. Dr. Dr. h. c. Hermann Deuser, Professor em. for Systematic Theology and Philosophy of Religion at the Goethe University Frankfurt am Main and Associate Fellow at the Max Weber Center of the University of Erfurt. PD Dr. Markus Kleinert, Head of the Kierkegaard Research Unit at the Max Weber Center of the University of Erfurt.
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Hermann Deuser / Markus Kleinert (Hg.) Sokratische Ortlosigkeit: Kierkegaards Idee des religiösen Schriftstellers Kierkegaard hat sich selbst als ›religiöser Schriftsteller‹ verstanden. Mit dieser Bezeichnung wird die Zwiespältigkeit und das Wagnis eines literarischen Unternehmens angedeutet, das eine ästhetische Existenz religiös begründen und eine religiöse Existenz ästhetisch absichern will, sich dabei aber auf keine religiöse Vollmacht stützt und sich auch nicht dem etablierten Wissenschaftssystem zuordnen lässt. Die Beiträge des Bandes untersuchen Kierkegaards Idee des religiösen Schriftstellers, deren antike Vorbilder und moderne Wirkungsgeschichte (insbesondere in der deutschen Literatur), sowie die Aktualität dieser Idee im Hinblick auf die Artikulation von christlichem Glauben und Religiosität unter den Bedingungen einer säkularen Moderne.
Die Herausgeber: Prof. Dr. Dr. h. c. Hermann Deuser Professor em. für Systematische Theologie und Religionsphilosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und assoziierter Fellow am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt. PD Dr. Markus Kleinert Leiter der Kierkegaard-Forschungsstelle am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt.
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Mit freundlicher Förderung durch die Kolleg-Forschergruppe »Religiöse Individualisierung in historischer Perspektive«, das Max-Weber-Kolleg und die Universität Erfurt.
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Cover: Marco Schuler: »Phantom« (Holz, Leinwand, Knochenleim, Teer; 304 � 180 � 95 cm; 2005), Esther Eppstein message salon, Perla-Mode, Zürich 2010. Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI buch bücher.de, Birkach Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48809-6 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82050-6
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hermann Deuser/Markus Kleinert
11
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Markus Kleinert
13
Siglenverzeichnis
21
I.
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kierkegaards Begriff des religiösen Schriftstellers
Entweder – Oder in der religiösen Strategie von Kierkegaards Gesamtwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Niels Jørgen Cappelørn Wahrhaftigkeit zwischen Offenbarung und Verbergung. Entweder – Oder im Lichte von Kierkegaards ›Gesichtspunkt‹ – und umgekehrt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Magnus Schlette Von der Existenzwissenschaft zur christlichen Redekunst. Kierkegaards Selbstverständnis als religiöser Schriftsteller Heiko Schulz
25
82
. . .
96
A Thinker With a Predominantly Poetic Strain. Plato as a model for Kierkegaard’s literary strategy . . . . . . . Rasmus Sevelsted
123
II. Muster in Antike und Moderne
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Inhalt
Lukian und Kierkegaard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Spickermann Der Don Juan des Glaubens. Mediale Paradoxien des religiösen Schriftstellers bei Søren Kierkegaard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heinz Hiebler Kierkegaards heteronome Texturen . . . . . . . . . . . . . . Angelika Jacobs Die Ethik des Paradoxen. Impulse Kierkegaards für die Literatur . . . . . . . . . . . . . Mathias Mayer
154
180
218
245
III. Rezeption in Literatur und Wissenschaft Kierkegaards Selbstverständnis – ignoriert, adaptiert, transformiert, korrumpiert. Versuch einer Typologie der literarischen Rezeptionen um 1910 . . . . . . . . . . . . . . Christian Wiebe
263
From the Mountain to the Swamp: Kierkegaard in the Weimar Republic . . . . . . . . . . . . . . Charles Cahill
278
Kierkegaard als (nicht nur) religiöser Schriftsteller in der skandinavistischen Literaturwissenschaft . . . . . . . . . . . . Joachim Grage
297
IV. Religiöse Rede nach Kierkegaard Post-Kierkegaardsche religiöse Rede. Komparative Schattierungen in Religionsphilosophie, Literaturkritik und Künsten . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Tschuggnall
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317
Inhalt
Writing Christianity in a Post-Christian Age . . . . . . . . . . George Pattison
334
Kurzbiographien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
351
Personenregister
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
361
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Vorwort
Der vorliegende Sammelband basiert auf einer Tagung, die vom 14. bis 16. Februar 2013 am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt stattfand und die in Kooperation mit der dort angesiedelten KollegForschergruppe »Religiöse Individualisierung in historischer Perspektive« sowie dem Deutschen Literaturarchiv Marbach veranstaltet wurde. Den Anlass zur Tagung bildete Kierkegaards zweihundertster Geburtstag am 5. Mai 2013. Dass die Tagung kurz vor diesem Jubiläum stattfand und deren um einige Beiträge erweiterte Dokumentation nun erst lange danach erscheint, ist kaum von Belang, werden mit der Sokratischen Ortlosigkeit und der Idee des religiösen Schriftstellers doch Aspekte thematisiert, die für Kierkegaards Werk von grundlegender Bedeutung sind und die zugleich die Aktualität seines Werkes betreffen. Im besten Fall erweist sich Kierkegaards Werk auf diese Weise als ein literarisches Experiment, das uns etwas angeht, was durch akademische Feierstunden und die gewohnheitsmäßige Zuschreibung geistesgeschichtlicher Bedeutung ja noch nicht bewiesen ist. An dieser Stelle möchten die Herausgeber all denen Dank sagen, die das Entstehen dieses Buches ermöglicht und gefördert haben: Unser Dank gilt selbstverständlich zuerst den Autorinnen und Autoren des Bandes und allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Erfurter Tagung. Für die Unterstützung bei der Vorbereitung und Durchführung der Tagung danken wir Prof. Dr. Hans Joas und Prof. Dr. Jörg Rüpke als den beiden Leitern der Kolleg-Forschergruppe »Religiöse Individualisierung in historischer Perspektive« sowie Dr. Jan Bürger und Dr. Marcel Lepper vom Deutschen Literaturarchiv Marbach. Für seine gründlichen Redaktions- und Registerarbeiten danken wir Dr. Jan Leichsenring. Für die gute Zusammenarbeit danken wir Lukas Trabert und Steffen Bonhoff vom Alber Verlag. Ein besonderer Dank gebührt Prof. Dr. Niels Jørgen Cappelørn, der mit seinem elaborierten Schema zu Kierkegaards Gesamtwerk einen Überblick ermöglicht, an 11 https://doi.org/10.5771/9783495820506 .
Vorwort
dem sich die zukünftige Forschung orientieren kann. Schließlich danken wir dem Künstler Marco Schuler dafür, dass wir eine seiner Fotografien auf dem Umschlag des Buches wiedergeben dürfen. Sie zeigt Schulers Plastik »Phantom« auf dem Dach des von Esther Eppstein geleiteten »message salon« in Zürich. Nun ließe sich Schulers Plastik schon für sich genommen mit dem Thema dieses Buches in Verbindung bringen, sie könnte in diesem Zusammenhang etwa Assoziationen an das abweisende Äußere und anziehende Innere des Sokrates oder an die berühmte Christus-Statue von Thorvaldsen in der Kopenhagener Frauenkirche aufrufen. Indem das »Phantom« auf dem Foto allerdings nicht in der Galerie ausgestellt ist, sondern an unerwarteter Stelle erscheint, und doch zugleich in einer heutigen und alltäglichen Szene, scheint die Frage nach der Irritation und Aktualität des Kierkegaardschen Werkes auf eine Weise ins Bild gesetzt, wie wir sie uns treffender nicht wünschen könnten. Erfurt, im August 2019
Hermann Deuser und Markus Kleinert
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Einleitung Markus Kleinert
»›Ohne Vollmacht‹ aufmerksam zu machen auf das Religiöse, das Christliche, das ist die Kategorie für meine gesamte Wirksamkeit als Schriftsteller, als ein Ganzes betrachtet. Daß ich ›ohne Vollmacht‹ war, habe ich vom ersten Augenblick an eingeschärft und mit Gleichmäßigkeit wiederholt; ich betrachte mich selbst am liebsten als einen Leser meiner Bücher, nicht als Verfasser.« Kierkegaard, »Rechenschaft« (1849)
I.
Zum Thema
Kierkegaard hat sich selbst als religiöser Schriftsteller verstanden. Wenn das Selbstverständnis eines Autors auch nicht bindend ist für die Interpretation seines Werkes, ist die Idee des religiösen Schriftstellers doch in mehrfacher Hinsicht bedenkenswert: Sie deutet die Zwiespältigkeit und das Wagnis eines literarischen Unternehmens an, das eine ästhetische Existenz religiös begründen und eine religiöse Existenz ästhetisch absichern will, sich dabei aber auf keine kirchlichreligiöse Vollmacht stützt und sich auch nicht dem etablierten Wissenschaftssystem zuordnen lässt, ja insbesondere gegenüber der Universitätsphilosophie und -theologie auf Distanz geht. Diese Distanzierung lassen selbst die ursprünglich für diesen institutionellen Rahmen konzipierten Werke Über den Begriff der Ironie und Der Begriff Angst erkennen. Weil die Idee des religiösen Schriftstellers die internen Spannungen und die spezifische Ungreifbarkeit des Kierkegaardschen Werkes markiert, dem keine der von ihm hervorgerufenen Rezeptionsweisen ganz genügen zu können scheint, wird diese Idee hier in den Mittelpunkt gerückt und aus verschiedenen Gesichtspunkten umkreist. Kierkegaards Idee des religiösen Schriftstellers mit Sokrates und 13 https://doi.org/10.5771/9783495820506 .
Einleitung
der diesem bei Platon zugeschriebenen Ortlosigkeit in Verbindung zu bringen, liegt nahe. Schließlich ist Kierkegaards Werk von der Auseinandersetzung mit Sokrates und dessen auch explizit thematisierter Atopie geprägt – und Kierkegaard selbst stellt zahlreiche Analogien zwischen seiner Aufgabe und der des Sokrates her. An dieser Stelle sei nur eine dieser Analogien kurz angesprochen: Eine besonders eingehende Darstellung seiner Idee des religiösen Schriftstellers gibt Kierkegaard in der zu Lebzeiten nicht veröffentlichten Schrift Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller. Wenn man nach einem Vorbild für diesen komplexen Versuch über sich selbst sucht, dann ist nicht allein die Tradition der autobiographischen Literatur zu berücksichtigen, wenngleich deren Elemente vorhanden sind, sondern auch und vor allem eine frühe Schrift von Kierkegaard selbst: seine Doktorarbeit Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates. Entsprechungen zwischen der frühen Sokrates-Darstellung und der späteren Selbstdarstellung sind offensichtlich, zum Beispiel zwischen der negativen Dialektik des Sokrates und der des Schriftstellers, hier angewandt gegen die Sophisten, dort gegen die Christenheit, hier die Abgrenzung von der subjektivistischen Ironie der Romantiker, dort die Abgrenzung von der vulgären Ironie des Publikums. Auch ähnelt die Darstellung, die Kierkegaard in der Doktorarbeit vom Dämon des Sokrates gibt, der Darstellung einer nur mittelbar anzusprechenden Weltlenkung, der das längste Kapitel des Gesichtspunkts gewidmet ist. Kierkegaard geht in seiner Selbststilisierung als dänischer Sokrates so weit, von ›seinem Liebhaber‹, also seinem Alkibiades zu sprechen, und ›seinen Dichter‹ zu antizipieren, der das eigene Leben in Platonischem oder Aristophanischem Licht, tragisch oder komisch, erscheinen lassen könnte. Hervorzuheben ist, dass sowohl der Standpunkt des Sokrates als auch der Gesichtspunkt für die eigene schriftstellerische Arbeit als notwendig ausgewiesen werden sollen. In seiner Doktorarbeit gerät Kierkegaard dabei in die Fallstricke der Hegelschen Geschichtsphilosophie, in der Sokrates gefährlich nahe an Christus heranrückt. In seiner späteren Selbstdarstellung ist er in dieser Hinsicht viel vorsichtiger, dafür wird die prekäre Rechtfertigung des religiösen Schriftstellers deutlich, der nicht Auserwählter im religiösen Sinne ist, aber doch ein besonderer Einzelner. Die Bilder, die Kierkegaard innerhalb des Gesamtwerkes zu seiner Rechtfertigung entwirft und die das Sokrates-Vorbild zum Teil ergänzen und zum Teil überlagern: der Spion, der Brand-Major, der Polizist, der der Wahrheit durch Verhaftung falscher Propheten den 14 https://doi.org/10.5771/9783495820506 .
Einleitung
Weg bahnt – diese Bilder fraglosen Gehorsams und eindeutiger Bevollmächtigung dienen wohl auch der Selbstbeschwichtigung des Singulären, sie verraten die Unsicherheit und Unruhe eines Einzelnen, der nicht einzuordnen ist. In der ersten von den vier Sektionen des Sammelbandes wird Kierkegaards Begriff des religiösen Schriftstellers untersucht, wie er vor allem in den Schriften über sich selbst (dem nicht veröffentlichten Gesichtspunkt und dem veröffentlichten Abriss Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller) und den Journalen und Aufzeichnungen entwickelt wird. Dieser Begriff des religiösen Schriftstellers, der eben weniger die Schlussformel einer Selbstfindung denn das Kürzel für einen Problemzusammenhang bildet, wird in der zweiten Sektion durch die vergleichende Hinzuziehung ausgewählter Muster in Antike und Moderne kontextualisiert, zu denen auch die Sokratische Atopie oder genauer die Platonische Sokrates-Darstellung zählt. Die dritte Sektion wendet sich der Rezeption in Literatur und Wissenschaft zu. Die Sperrigkeit des Kierkegaardschen Werkes, das herkömmliche Kategorisierungen abweist, hat oft Auseinandersetzungen über die angemessene akademische und außerakademische Rezeption provoziert. Um nur an zwei prominente Positionen der philosophischen Rezeption zu erinnern: Adorno begreift eine leichtfertige Zuweisung zur Dichtung als Verrat am philosophischen Wahrheitsgehalt des Kierkegaardschen Werkes, Heidegger greift Kierkegaards Selbstverständnis auf, um die Inkommensurabilität des religiösen Schriftstellers (und zwar des einzigen, der dem Geschick seines Zeitalters entspricht) und eines metaphysischen Denkers hervorzuheben. Wenn sich die Beiträge hier auf die literarische Rezeption und dabei wiederum auf die Rezeption in der deutschen Literatur konzentrieren, ist das weniger selbstverständlich, als es Kierkegaards Selbstcharakteristik als religiöser Schriftsteller und seine vielfältigen Resonanzen in der deutschen Literatur vermuten lassen könnten. Die vergleichsweise zurückhaltende literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit Kierkegaard beschränkt sich oft auf den Nachweis einzelner Lektüren, auf die Nachzeichnung dieser oder jener Anverwandlung oder Ablehnung. Die Frage nach den Paradigmen der literarischen Rezeption soll klären, welche echten oder zugeschriebenen Merkmale des Kierkegaardschen Werkes die literarische Rezeption bestimmen und ob das Selbstverständnis als religiöser Schriftsteller wirkungsgeschichtlich relevant ist. Neben der literarischen wird auch die literaturwissenschaftliche Kierkegaard-Rezeption thematisiert, die, von 15 https://doi.org/10.5771/9783495820506 .
Einleitung
Ausnahmen wie der ›existentiellen Literaturwissenschaft‹ (Erik Lunding) abgesehen, bislang wenig Aufmerksamkeit gefunden hat. Die vierte und letzte Sektion des Bandes – religiöse Rede nach Kierkegaard – fragt nach der Aktualität der Kierkegaardschen Idee des religiösen Schriftstellers, inwiefern etwa die sokratisch-indirekte Bezugnahme auf das Religiöse als ein Modell für die Artikulation von Religiosität unter den Bedingungen der säkularen Moderne dienen kann. Durch die Akzentuierung und Kontextualisierung von Kierkegaards Selbstverständnis, durch den Vergleich von Selbstverständnis und Wirkungsgeschichte und durch die Erprobung der Aktualität der Idee des religiösen Schriftstellers kann insgesamt auch erkennbar werden, ob und in welchen Hinsichten Kierkegaards Version der Sokratischen Atopie als Utopie zu begreifen ist, seine religiöse Schriftstellerei eine ›Ästhetik der Utopie‹ (Günther K. Lehmann) entwirft.
II.
Zu den Beiträgen
Die erste Sektion (Kierkegaards Begriff des religiösen Schriftstellers) eröffnet der Beitrag von Niels Jørgen Cappelørn, der mit großer philologischer Sorgfalt nachzeichnet, wie die geplante Neuauflage des Debütwerks Entweder – Oder Kierkegaard zu einer grundlegenden Klärung der Bedeutung seiner literarischen Tätigkeit veranlasst, die sich in zahlreichen, mehr oder weniger ausgeführten Schriften über sich selbst niederschlägt und die schließlich zur simultanen Publikation der Neuauflage von Entweder – Oder und der drei Reden über Die Lilie auf dem Felde und der Vogel unter dem Himmel führt sowie zur Erschließung der religiösen Strategie des eigenen Gesamtwerks. Die Konfrontation von Kierkegaards Erstlingsschrift Entweder – Oder mit seinem Gesichtspunkt lässt im Beitrag von Magnus Schlette eine Strukturlogik des Kierkegaardschen Gesamtwerks hervortreten, wonach die Lebensführung des religiösen Schriftstellers an Krisenerfahrungen gebunden ist, um den Anspruch auf Wahrhaftigkeit im Christwerden bewähren zu können, ohne dass jedoch die individuelle Entwicklung in einer modellhaften aufgeht (wie der Vergleich mit der Autobiographie von August Hermann Francke verdeutlicht). Heiko Schulz untersucht die Kategorie des religiösen Schriftstellers bei Kierkegaard in systematischer, werkgenetischer und gattungsspezifischer Hinsicht: Während sich der Begriff des religiösen Schriftstellers im Anschluss an die von Kierkegaard konzipierte ›Existenz16 https://doi.org/10.5771/9783495820506 .
Einleitung
wissenschaft‹ (als Gegenstück zur Metaphysik) und ›christliche Redekunst‹ (als Gegenstück zur Dogmatik) immer genauer bestimmen lässt, wird dessen Funktion bei historischer Kontextualisierung fragwürdig, insofern sich die Funktion eines Korrektivs innerhalb der Christenheit in einer säkularen Moderne erübrigt. In der zweiten Sektion (Muster in Antike und Moderne) zeigt Rasmus Sevelsted, dass Kierkegaards Berufung auf Sokrates nicht die Verwandtschaft seines literarischen Vorgehens mit demjenigen Platons übersehen lassen sollte, wenn (auch im Anschluss an Schleiermachers PlatonDarstellung) die Notwendigkeit des Dichterischen und die Einheit des mäeutisch-spekulativen Werkes hervorgehoben wird. Wolfgang Spickermann stellt mit Lukian einen weiteren antiken Wahlverwandten Kierkegaards vor, dessen Verwandtschaft nicht nur in der Neigung zu satirischen und ironischen Schreibweisen begründet ist, sondern im unaufhebbaren Mystifizieren des Autors. Die systematischen Überlegungen zum Medium und der paradoxen Vermittlung von Unmittelbarkeit, mit denen Heinz Hiebler seine Untersuchung beginnt, bilden zugleich einen Übergang zwischen antiken und modernen Mustern für Kierkegaards Idee des religiösen Schriftstellers, ehe im besagten Beitrag der mediengeschichtliche Kontext Kierkegaards rekonstruiert und am Beispiel von Entweder – Oder gezeigt wird, wie die Analyse von Inhalt und Form um den Aspekt des Mediums zu ergänzen ist. Angelika Jacobs untersucht Kierkegaards literarisches Verfahren vor dem Horizont der Moderne und arbeitet (insbesondere anhand von Entweder – Oder und Furcht und Zittern) ein Prinzip der ständigen Unterbrechung heraus, das sich zur Ästhetik des Erhabenen in Beziehung setzen lässt, jedoch gegen Autonomieansprüche von Vernunft oder Einbildungskraft gerade die transzendente Abhängigkeit vergegenwärtigt und zur Aneignung der religiösen Tradition motiviert. Die motivierende Wirkung des Kierkegaardschen Werkes wird auch im Beitrag von Mathias Mayer hervorgehoben, der sich zunächst systematisch der Sprach- und Denkfigur des Paradoxen zuwendet und dessen ethische Funktion akzentuiert, insofern damit eine Reflexion von Moral, von Wertsetzungen und -handlungen veranlasst werden kann (ohne zu moralisieren); indem Kierkegaards Werk unter dem Gesichtspunkt der Ethik des Paradoxen betrachtet wird, lässt sich dann auch dessen intensive Rezeption in Zeiten moralischer Verunsicherung, hier am Beispiel der deutschen Literatur der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, und literarische Wirkung bis in die Gegenwart begreiflich machen. Die 17 https://doi.org/10.5771/9783495820506 .
Einleitung
rezeptionsgeschichtliche Perspektive leitet über zur dritten Sektion (Rezeption in Literatur und Wissenschaft), in der Christian Wiebe die Frage nach der rezeptionsgeschichtlichen Relevanz von Kierkegaards Selbstverständnis als religiöser Schriftsteller am Beispiel der Kierkegaard-Rezeption in der Literatur um 1910 untersucht und zeigt, wie Kierkegaards Selbstverständnis, sofern es nicht einfach übergangen wird, vor allem den eigenen kirchen- und kulturkritischen Intentionen entsprechend adaptiert, transformiert oder korrumpiert wird. Der Beitrag von Charles Cahill schließt hier unmittelbar an, da er die Kierkegaard-Rezeption in der Weimarer Republik untersucht, wie sie sich insbesondere in der als Gegenstück zur Zeitschrift Der Brenner konzipierten Zeitschrift Der Sumpf manifestiert, wobei Kierkegaard vor allem als Repräsentant einer anti-institutionellen Haltung gilt, mit der sich ganz verschiedene und gegensätzliche politische Positionen und Weltanschauungen identifizieren lassen. Der gerade im Vergleich mit den literarischen KierkegaardAneignungen lange Zeit zurückhaltenden literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit Kierkegaard wendet sich Joachim Grage zu, demzufolge (nach vereinzelten Ansätzen etwa bei Georg Brandes oder Walther Rehm oder im Zusammenhang editionsphilologischer Fragestellungen) in der Mitte des 20. Jahrhunderts eine literaturwissenschaftliche Wende in der Kierkegaard-Forschung zu bemerken ist, die unter anderem durch die Beiträge von F. J. Billeskov Jansen eingeleitet wird und die Eigenständigkeit der (skandinavistischen) literaturwissenschaftlichen Forschung hervortreten lässt – wobei sich in der allmählichen Annäherung der Literaturwissenschaft an Kierkegaard auch der jeweils zugrundeliegende Literatur- beziehungsweise Wissenschaftsbegriff zu erkennen gibt. Wenn in der vierten Sektion (Religiöse Rede nach Kierkegaard) nach Möglichkeiten der Artikulation von Religiosität im Anschluss an Kierkegaard gefragt wird, antwortet Peter Tschuggnall hierauf, indem er im Sinne der ›Comparative Humanities‹ vielfältige, künstlerische, religiöse und philosophische Werke miteinander in Beziehung setzt, die einerseits die Sprachkrise und Glaubenszweifel der Moderne zum Ausdruck bringen und andererseits eine besonders von Kierkegaard und Northrop Frye inspirierte Vision der Wiederholung von Sprache und Glauben festhalten. George Pattison setzt bei Kierkegaards Selbstverständnis als religiöser Schriftsteller an und bestimmt den Zusammenhang von literarischer und christlicher Praxis so, dass Kierkegaards Schreiben als Lebensform (unabhängig von einzelnen inhaltlichen oder formalen 18 https://doi.org/10.5771/9783495820506 .
Einleitung
Eigenschaften) einem post-christlichen, vom Ende des theistischen Konsenses (›Tod Gottes‹) und der Prosaisierung von Kunst und Leben geprägten Zeitalter entspricht, ohne dass die Kierkegaardsche literarisch-christliche Praxis zukünftig einfach übernommen werden könnte – so dass dieser Beitrag ebenso auf die in diesem Buch aus verschiedenen Perspektiven betrachtete Idee des religiösen Schriftstellers bei Kierkegaard verweist wie darüber hinaus.
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Siglenverzeichnis
Kierkegaard-Werkausgaben DSKE
GW1
Pap.
SKS
T 1–5
Søren Kierkegaard, Deutsche Søren Kierkegaard Edition, bislang Bd. 1–6, hg. v. Niels Jørgen Cappelørn et al., Berlin/New York 2005 ff. Sören Kierkegaard, Gesammelte Werke, übers. und hg. v. Emanuel Hirsch, Hayo Gerdes und Hans-Martin Junghans, 36 Abt. in 26 Bdn. und Registerbd., Düsseldorf/Köln 1950–1969. Søren Kierkegaards Papirer, Bd. I–XI,3, hg. v. P. A. Heiberg, V. Kuhr und E. Torsting, Kopenhagen 1909–1948; zweite vermehrte Ausgabe, v. N. Thulstrup, Bd. XII–XIII Ergänzungsbde., hg. v. N. Thulstrup, Bd. XIV–XVI Index v. N. J. Cappelørn, Kopenhagen 1968–1978. Søren Kierkegaards Skrifter, Bd. 1–28, K1-K28, hg. v. Niels Jørgen Cappelørn et al. in Zusammenarbeit mit dem Søren Kierkegaard Forskningscenter in Kopenhagen, Kopenhagen 1997–2012. Sören Kierkegaard, Die Tagebücher, übers. und hg. v. Hayo Gerdes, Bd. 1–5, Düsseldorf/Köln 1962–1974.
Kierkegaards Werke in GW1: 2R43 3R43 4R43 2R44 3R44 4R44 A AUN1–2 B BA BI BÜA
Zwei erbauliche Reden 1843, Abt. 3/Bd. 2. Drei erbauliche Reden 1843, Abt. 6/Bd. 4. Vier erbauliche Reden 1843, Abt. 7/Bd. 5. Zwei erbauliche Reden 1844, Abt. 8/Bd. 5. Drei erbauliche Reden 1844, Abt. 9/Bd. 5. Vier erbauliche Reden 1844, Abt. 13/Bd. 8. Der Augenblick, Abt. 34/Bd. 24. Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken, Abt. 16,1/Bd. 10 und 16,2/Bd. 11. Briefe, Abt. 35/Bd. 25. Der Begriff Angst, Abt. 11/Bd. 7. Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates, Abt. 31/Bd. 21. Das Buch über Adler, Abt. 36/Bd. 26.
21 https://doi.org/10.5771/9783495820506 .
Siglenverzeichnis CR CS DMGW DRG EC EER EO1 EO2 ERG ES FZ GU GWS HZS JC KA KK KT LA LF LP LT PB RAF SLW US V W WCC WS Z ZKA ZS
Christliche Reden 1848, Abt. 20/Bd. 15. Der Corsarenstreit, Abt. 32/Bd. 22. Dies muss gesagt werden; so sei es denn gesagt, Abt. 34/Bd. 24. Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten 1845, Abt. 14/Bd. 8. Einübung im Christentum, Abt. 26/Bd. 18. Eine erbauliche Rede 1850, Abt. 27/Bd. 19. Entweder/Oder, 1. Teil, Abt. 1/Bd. 1. Entweder/Oder, 2. Teil, Abt. 2/Bd. 2. Erbauliche Reden in verschiedenem Geist 1847, Abt. 18/Bd. 13. Erstlingsschriften, Abt. 30/Bd. 20. Furcht und Zittern, Abt. 4/Bd. 3. Gottes Unveränderlichkeit, Abt. 34/Bd. 24. Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller, Abt. 33/Bd. 23. Der Hohepriester – der Zöllner – die Sünderin, Abt. 25/Bd. 17. Johannes Climacus oder De omnibus dubitandum est, Abt. 10/ Bd. 6. Kleine Aufsätze 1842–1851, Abt. 32/Bd. 22. Die Krise und eine Krise im Leben einer Schauspielerin, Abt. 21/ Bd. 16. Die Krankheit zum Tode, Abt. 24/Bd. 17. Eine literarische Anzeige, Abt. 17/Bd. 12. Die Lilie auf dem Felde und der Vogel unter dem Himmel, Abt. 22/ Bd. 16. Aus eines noch Lebenden Papieren, Abt. 30/Bd. 20. Der Liebe Tun [Die Taten der Liebe], Abt. 19/Bd. 14. Philosophische Brocken, Abt. 10/Bd. 6. Zwei Reden beim Altargang am Freitag 1851, Abt. 27/Bd. 19. Stadien auf des Lebens Weg, Abt. 15/Bd. 9. Urteilt selbst, Abt. 29/Bd. 19. Vorworte, Abt. 12/Bd. 7. Die Wiederholung, Abt. 5/Bd. 4. Wie Christus über das amtliche Christentum urteilt, Abt. 34/ Bd. 24. Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller, Abt. 33/Bd. 23. Zeitungsartikel (1854–1855), Abt. 34/Bd. 24. Zwo kleine ethisch-religiöse Abhandlungen, Abt. 23/Bd. 16. Zur Selbstprüfung der Gegenwart anbefohlen 1851, Abt. 28/Bd. 19.
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I. Kierkegaards Begriff des religiösen Schriftstellers
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Entweder – Oder in der religiösen Strategie von Kierkegaards Gesamtwerk* Niels Jørgen Cappelørn
Dieser Aufsatz beabsichtigt, das Werk Entweder – Oder und dessen Neuauflage in der Struktur des Gesamtwerkes zu verorten und zu zeigen, welch entscheidende Bedeutung die Neuauflage für Kierkegaards retrogrades Verständnis der religiösen Strategie des Gesamtwerkes hat. Die dreiteilige These des Aufsatzes lautet: 1. Dass die Idee der Neuauflage von Entweder – Oder, ursprünglich erschienen im Februar 1843, teils durch Professor Christian Molbechs Brief vom April 1847 angeregt wurde, worin dieser den Umstand, dass Entweder – Oder bereits ausverkauft war, als ein literaturgeschichtliches Phänomen bezeichnet; teils weiter vorangetrieben wurde durch die einschneidenden Verhandlungen, die Kierkegaard im Sommer 1847 mit dem Universitätsbuchhändler C. A. Reitzel führte, weil Kierkegaard nicht länger sein eigener Verleger mit Reitzel als vornehmlichem Kommissionär, sondern entlohnter Schriftsteller mit Reitzel als Verleger sein wollte. 2. Dass die Überlegungen zur Neuauflage von Entweder – Oder in Kierkegaard den Wunsch hervorriefen, den Gesichtspunkt für das bzw. die Strategie dessen zu beschreiben, was er 1848 als sein eigentliches schriftstellerisches Werk verstand oder als seine schriftstellerische Wirksamkeit, wie er es zunehmend mit einem aktiveren Wort zu nennen beliebte; und vice versa, dass die Arbeit an dem, was nach und nach zu einem Konglomerat von Schriften über die schriftstellerische Wirksamkeit wurde, Kierkegaard schließlich dazu brachte, im April 1849 die zweite Auflage von Entweder – Oder erscheinen zu lassen, begleitet von den drei frommen Reden Die Lilie auf dem Felde und der Vogel unter dem Himmel. 3. Dass Kierkegaard * Aus dem Dänischen übersetzt von Hermann Deuser und Markus Kleinert. Für die Hilfe bei der technischen Reproduktion seiner Grafik zu Kierkegaards Autorschaft (S. 81) dankt der Verf. Niels Jacobsen und Kjeld Kluge. Eine kürzere Fassung des Aufsatzes enthält der Kierkegaards Entweder – Oder gewidmete Band 67 der von Otfried Höffe herausgegebenen Reihe Klassiker Auslegen (hg. v. Hermann Deuser und Markus Kleinert, Berlin/Boston 2017, S. 13–37).
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in den Schriften über seine schriftstellerische Wirksamkeit von 1848 und 1849 sein damals gewonnenes retrogrades Verständnis der religiösen Strategie des Gesamtwerkes, dessen dialektische Struktur und architektonischen Aufbau, zum Ausdruck brachte.
I.
Ein literaturgeschichtliches Phänomen
Im April 1847 sandte Søren Kierkegaard dem dänischen Historiker, Philologen, Herausgeber, Kritiker, Schriftsteller, früheren Mitglied der Direktion des Königlichen Theaters, Professor der Literaturgeschichte, Etatsrat Christian Molbech ein Exemplar von Entweder – Oder. Dem Exemplar war ein kurzer, sehr freundlicher Brief beigelegt, aus dem hervorgeht, dass Molbech nur wenige Tage zuvor Kierkegaard brieflich um die Zusendung eines seiner Bücher gebeten hatte, das wohl in ein größeres Buchpaket für einen deutschen Freund in Stuttgart aufgenommen werden sollte. 1 In seinem Brief schreibt Kierkegaard über das mitgesandte Exemplar, dass es, obgleich recht gut erhalten, doch nicht ganz neu sei. Und er fügt hinzu: »Das Buch ist nämlich ausverkauft, so dass es mir unmöglich ist, ein neues Exemplar zu besorgen, und doch finde ich, dass das Buch für den Versand das passendste sein könnte.« 2 Mit anderen Worten, Kierkegaard entnimmt seiner privaten Buchsammlung ein Exemplar der Erstausgabe von Entweder – Oder und schickt es an Chr. Molbech, der es an seinen deutschen Literaturfreund weiterleitet. Nur ein paar Tage nach der Entgegennahme sendet Molbech einen längeren, etwas weitläufigen Dankesbrief an Kierkegaard. Hier schreibt er u. a.: »das Interessanteste in Ihrem Billet war für mich die
S. Brief Nr. 58 in SKS 28, 102. Der Brief ist nur mit »Montag« datiert; zu seiner genaueren Datierung s. Anm. 3. – Mit einem Ausdruck, der Molbechs Brief entnommen scheint, wird der Freund in Kierkegaards Brief als »der deutsche Freund der dänischen Sprache« umschrieben. Es handelt sich vermutlich um den deutschen Bibliothekar und Schriftsteller Edmund Zoller. Chr. Molbech führte 1847/48 eine längere Korrespondenz mit Zoller, aus der hervorgeht, dass zwischen beiden Freunden Bücher auf Deutsch bzw. Dänisch getauscht wurden und dass Zoller an der dänischen Sprache und Literatur und den gesellschaftlichen Verhältnissen in Dänemark interessiert war. Vgl. NKS 2336 4o und fot.brev. in den Handschriftensammlungen der Königlichen Bibliothek zu Kopenhagen. 2 SKS 28, 102. 1
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Nachricht, dass die Auflage ›des umfangreichen Buches‹ ausverkauft ist – ein Phänomen in unserer Literaturgeschichte, das wohl studiert zu werden verdient.« 3 Molbech betrachtete es also als aufsehenerregend, dass ein so umfangreiches Buch, das im Februar 1843 erschienen war, in Dänemark bereits im April 1847 ausverkauft sein konnte. Was Molbech jedoch nicht wusste, war, dass Entweder – Oder bereits 1845 ausverkauft war, also nicht vier, sondern nur zwei Jahre nach Erscheinen. Dieser Umstand veranlasst eine längere Aufzeichnung im Journal NB. Darin betrachtet Kierkegaard das Phänomen dialektisch und unterscheidet zwischen der Beurteilung eines solchen Phänomens gemäß der Dialektik der Unmittelbarkeit und der der Umkehrung. Die meisten Menschen, behauptet er, haben nur Sinn für die Dialektik der Unmittelbarkeit; sie können die Dialektik der Umkehrung zwar gut erfassen, wenn sie ihnen erklärt wird, doch sie fallen rasch in das direkt dialektische Verständnis zurück. Er schreibt: »Nur einen Leser zu haben od. sehr wenige, versteht man innerhalb der Dialektik der Unmittelbarkeit also sehr leicht: dass es ein Unglück für den Schriftsteller ist usw., aber dass es schön und gut von ihm ist, sich dareinzufinden usw.« Anders verhält es sich in der Dialektik der Umkehrung; hier ist es der Autor, der selbst frei darauf hinwirkt, nur wenige Leser anzuziehen, ja, er »wünscht nur einen od. wenige Leser: schau, dies wird niemals populär.« Auch Molbechs Einschätzung, es sei ein Phänomen von literaturgeschichtlichen Dimensionen, dass ein großes Buch in wenigen Jahren ausverkauft ist, ist Ausdruck eines direkt dialektischen Verständnisses; »er lässt es sich nicht träumen«, schreibt Kierkegaard, »wie ich im dialektischen [Dienst] der Umkehrung und im womöglich etwas reinigenden Dienst der Wahrheit mir selbst entgegenarbeite«. 4 Kierkegaards eigenes Verständnis, dass er nach der Veröffentlichung von Entweder – Oder seinen eigenen direkten Interessen ent3 Brief Nr. 59 in SKS 28, 103 f.; der Brief war bislang nur durch Kierkegaards Bezugnahme auf ihn bekannt und wird in SKS 28 zum ersten Mal wiedergegeben. – Molbechs Brief ist auf den 29. April 1847 datiert. Da er schreibt, dass Kierkegaards Begleitschreiben »nur ein paar Tage alt ist«, und da der 29. April 1847 auf einen Donnerstag fiel, während Kierkegaards Begleitschreiben mit »Montag« datiert ist, muss letzteres am Montag, den 26. April 1847 verfasst worden sein. 4 NB:194, SKS 20, 116 f. / DSKE 4, 128–130. Die Aufzeichnung ist undatiert. Da Kierkegaard aber auf Molbechs Brief als von »gestern« Bezug nimmt, kann die Aufzeichnung auf den Buß- und Bettag, Freitag, den 30. April 1847 datiert werden.
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gegenzuarbeiten suchte, ist ein Vorgriff auf den Gesichtspunkt, den er zwei Jahre später in Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller ausführt; darüber später mehr. Hier soll aber doch beachtet werden, dass, wie negativ Kierkegaard Molbechs Einschätzung des großen und raschen Verkaufs – gesehen im Verhältnis zur Dialektik der Umkehrung – auch bewertete, der Brief zweifellos einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht hat. Molbech war in einem solchen Zusammenhang nicht irgendjemand, sondern eine literaturgeschichtliche Autorität, dessen Worte Kierkegaard fachlich respektierte – und durch die er sich geschmeichelt fühlte. Und so bestärkten sie ihn weiter darin, dass Entweder – Oder ein Ereignis gewesen war und nun darüber hinaus eine literaturgeschichtliche Sensation.
II.
Die Genese von Entweder – Oder
Am Montag, den 25. Oktober 1841 verließ Søren Kierkegaard mit dem Postdampfer Kopenhagen und zwei Tage später kam er mit der Postkutsche in Berlin an. 5 Rasch bezog er im Zentrum von Berlin Quartier. 6 Für Kierkegaard gab es mindestens zwei Gründe, um Kopenhagen zu verlassen und nach Berlin zu reisen. Zum einen, weil er der dänischen Hauptstadt wegen der aufgehobenen Verlobung mit Regine Olsen und wegen des darauf folgenden skandalösen Stadtklatsches entkommen wollte. Zum anderen, weil er – wie so viele andere aus der dänischen akademischen Welt – nach Berlin wollte, um F. W. J. Schellings Antrittsvorlesung an der dortigen Universität, an die dieser als Nachfolger von G. W. F. Hegel berufen worden war, mitzuerleben. 7 Kierkegaard besuchte jedoch nicht nur Schellings Vor-
5 Vgl. Peter Tudvads Kommentare zu Notizbuch 8, insb. 8:2 und 8:9, in SKS K19, 307 bzw. 309 / DSKE 3, 699 bzw. 700. 6 Vgl. Brief Nr. 80 (mit Poststempel vom 31. Okt. [1841]) und Brief Nr. 83 (datiert auf den 1. Jan. 1842), beide von Kierkegaard an seinen engen Freund Emil Boesen, in SKS 28, 145 bzw. 156, und meine dazugehörigen Kommentare in SKS K28, 241 bzw. 249. S. ferner Brief Nr. 188 (mit Poststempel vom 28. Dez. [1841]) an den Neffen Michael Lund, in SKS 28, 301. 7 Schelling eröffnete seine Antrittsvorlesung über die »Philosophie der Offenbarung« am 15. Nov. 1841. Kierkegaard besuchte die Vorlesungen von Beginn an und schrieb bis zum 4. Febr. 1842 ausführlich mit, s. Notizbuch 11, SKS 19, 305–367 / DSKE 3, 333–405.
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lesungen, sondern auch Vorlesungen von Ph. K. Marheineke, K. F. Werder und H. Steffens. 8 Aus dem ersten Brief aus Berlin an seinen vertrauten Freund Emil Boesen geht hervor, dass Kierkegaard bereits bei seiner Ankunft in der preußischen Hauptstadt »an einer ungeheuren ProduktivitätsObstruktion« litt, und dass er in Berlin keinerlei Veranlassung sah, »deren nisus […] vorübergehen zu lassen«. 9 Die Produktivität, die sich angestaut hatte, erwies sich bald als Entweder – Oder. Die Idee zum Werk scheint aus der Zeit kurz vor der Abreise nach Berlin zu stammen; es handelt sich um »Die ersten Rudimente zu Entweder – Oder«, bestehend aus zwei Foliobögen oder vier Blättern. 10 Der Brief an Emil Boesen dürfte kaum abgesandt worden sein, bevor Kierkegaard an die Arbeit gegangen war. Die Kladde zur Verteidigung der »Ästhetischen Gültigkeit der Ehe«, die in den zweiten Teil von Entweder – Oder eingeht, scheint bereits um den 1. November 1841 herum begonnen und am 7. Dezember 1841 abgeschlossen. 11 Nach diesem Kraftakt lag Kierkegaard eine Woche darnieder, aber, schreibt er Mitte Dezember in einem Brief an Emil Boesen, »ich spüre schon, dass es sich in mir rührt.« 12 Und vieles spricht dafür, dass das, was ›sich rührte‹, die Idee zu dem ästhetischen Essay »Die erste Liebe« war, einer theaterkritischen Abhandlung über Die erste Liebe. Lustspiel in einem Akt des französischen Dramatikers A. E. Scribe,
Kierkegaard fertigte ausführliche Notizen zu Marheinekes Vorlesungen über »Die Christliche Dogmatik, mit Rücksicht auf Daubs System« an, s. Notizbuch 9:1 und 10:8–9, SKS 19, 249–277 und 288–301 / DSKE 3, 267–300 und 313–328. – Zu Werders »Logik und Metaphysik mit besonderer Rücksicht auf die bedeutendsten älteren und neueren Systeme« finden sich bei Kierkegaard nur verhältnismäßig wenige und kurze Notizen, s. Notizbuch 9:2–9, SKS 19, 278–282 / DSKE 3, 301–305. – Obwohl Kierkegaard Steffens früher mit »ungeheurem Enthusiasmus« gelesen hatte, war er von dessen mündlichem Vortrag so enttäuscht, dass er aufhörte, die Vorlesungen zu besuchen; s. Brief Nr. 162 (datiert auf den 15. Dez. [1841]) von Kierkegaard an den dänischen Philosophieprofessor F. C. Sibbern, SKS 28, 268. Kierkegaard scheint keine Notizen zu Steffens’ Vorlesungen über Anthropologie angefertigt zu haben. 9 Brief Nr. 80, SKS 28, 144; vgl. Anm. 6. 10 S. Manuskript Nr. 1 in SKS K2–3, 10–12. Diese und die folgenden Nummern beziehen sich auf die umfassende Manuskriptbeschreibung in Jette Knudsens und Johnny Kondrups editorischem Bericht zu Entweder – Oder in SKS K2–3, 10–38. 11 Diese und die folgenden Datierungen der Manuskripte beruhen auf der detaillierten Entstehungsgeschichte in Jette Knudsens und Johnny Kondrups editorischem Bericht zu Entweder – Oder in SKS K2–3, 38–58. 12 Brief Nr. 82 (datiert auf den 14. Dez. [1841]), SKS 28, 151. 8
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ins Dänische übersetzt von J. L. Heiberg (1832), 13 und über dessen Aufführung am Königlichen Theater in Kopenhagen. 14 Hierfür spricht, dass Kierkegaard am Schluss des Briefes schreibt: »NB schicke mir so schnell Du kannst: Die erste Liebe übersetzt von Heiberg, sie erscheint im Theater-Repertoire und ist bei Schubothe zu bekommen, doch darf niemand ahnen, dass es für mich ist.« 15 Das Stück aus dem Theaterrepertoire findet sich unter den Manuskripten zu Entweder – Oder und es enthält auf den Umschlagseiten eine Reihe von Aufzeichnungen und im Text Anstreichungen, Verweise und Anmerkungen. Vor diesem Hintergrund können Entwurf und Kladde Ende Dezember 1841 und Anfang Januar 1842 niedergeschrieben worden sein. 16 Aus dem Entwurf und der Kladde zur Einleitung und ungefähr der Hälfte von Cordelias Verführungsgeschichte geht hervor, dass auch sie im Januar in Berlin geschrieben worden sein müssen. Der übrige Teil vom »Tagebuch des Verführers« wurde verfasst, nachdem Kierkegaard zurück in Kopenhagen war, genauer im April 1842. Ende Januar 1842 hat Kierkegaard die Kladde zu »Der Reflex des antiken Tragischen in dem modernen Tragischen« geschrieben; unter die letzte Zeile der Kladde hat er folgende Datierung notiert: »d. 30. Jan. 42.« 17 Vermutlich danach, also im Februar 1842, ist die Kladde zu »Die Wechselwirtschaft. Versuch einer sozialen Klugheitslehre« entstanden. »Die Wechselwirtschaft« kann auch im Dezember geschrieben worden sein, während Kierkegaard darauf wartete, von Emil Boesen Die erste Liebe zu erhalten. Wenngleich hinsichtlich der Entstehung der »Diapsalmata« im ersten Teil von Entweder – Oder in Bezug auf die Datierung eine gewisse Unsicherheit herrscht, stammen doch auf jeden Fall einige der Aphorismen innerhalb der Sammlung von 28 Papierfetzen und -streifen, die die Kladde zu einem Teil der Diapsalmata bilden, aus Erschienen in Det kongelige Theaters Repertoire, Nr. 45, Bd. 2, Kopenhagen 1832. Das Lustspiel wurde bei einer Sommervorstellung im Juni 1831 uraufgeführt und wurde dann in regelmäßigen Abständen bis Ende der 1840er Jahre aufgeführt, danach in längeren Abständen bis Mai 1887. Das Stück war außerordentlich populär und erlebte bereits am 8. Febr. 1842 seine 50. Aufführung. 15 SKS 28, 152. Schubothe ist der Kopenhagener Buchhändler J. H. Schubothe. 16 Vgl. den editorischen Bericht in SKS K2–3, 43–48. Hier wird auch die Hypothese begründet, dass eine etwas kürzere Urform dieses Essays, geschrieben spätestens 1835, vorgelegen haben muss. 17 S. Manuskript Nr. 10 in SKS K2–3, 18. 13 14
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der Zeit in Berlin, wohingegen andere vor, während oder auch nach dem Berlinaufenthalt niedergeschrieben worden sein können. Vieles spricht dafür, dass die Berliner Aphorismen im Zeitraum zwischen Anfang Februar 1842 und der Heimreise Anfang März desselben Jahres geschrieben wurden. 18 Nach der Heimkehr am 6. März 1842 nahm Kierkegaard die Arbeit an Entweder – Oder wieder auf. Zunächst führte er die Kladde zum »Tagebuch des Verführers« fort, das am 14. April 1842 abgeschlossen wurde. 19 Hierauf wurden »Die unmittelbaren erotischen Stadien oder das Musikalisch-Erotische« angefertigt, die am 13. Juni abgeschlossen wurden, gefolgt von »Schattenrisse. Psychologischer Zeitvertreib. Gelesen vor den Συμπαϱανεϰϱωμενοι«, die der Datierung des Kladdenmaterials zufolge am 25. Juli fertiggestellt wurden. Dagegen ist nicht zu entscheiden, ob »Der Unglücklichste. Eine begeisterte Ansprache an die Συμπαϱανεϰϱωμενοι« vor oder vielleicht auch nach »Schattenrisse« geschrieben wurde, also entweder Ende Juni oder nach dem 25. Juli 1842. Übrig bleiben »Das Gleichgewicht zwischen dem Ästhetischen und dem Ethischen in der Herausarbeitung der Persönlichkeit« und der Abschluss des Werkes: »Ultimatum«. Was das »Gleichgewicht« betrifft, so deuten mehrere Umstände darauf hin, dass die Ausarbeitung der Kladde vermutlich erst im August/September 1842 erfolgte. Die Kladde zum »Ultimatum« kann hingegen nicht genauer datiert werden als auf die Zeit zwischen der Rückkehr von Berlin und dem Beginn der Reinschrift. Diese umfassende Reinschrift wurde vermutlich in den Monaten zwischen September und Dezember angefertigt. Durchgeführt wurde sie von Kierkegaard zusammen mit seinem damaligen Sekretär, dem Theologen P. V. Christensen, und zwar so zwischen ihnen verteilt, dass Kierkegaard selbst diejenigen Manuskripte ins Reine schrieb, die zuerst verfasst worden waren und die meiste Bearbeitung und Umformung erforderten, während Christensen die Manuskripte ins Reine schrieb, die zuletzt verfasst worden waren und so im Wesentlichen fertig vorlagen. Zur Zeit der Reinschrift verfasste Kierkegaard das Vorwort, das dem pseudonymen Herausgeber des Werkes, Victor 18 S. Manuskript Nr. 16 in SKS K2–3, 23–29, und den editorischen Bericht zu Entweder – Oder in SKS K2–3, 48–50 und 54. 19 Das letzte Manuskript im Kladdenmaterial trägt diese Datierung, s. Manuskript Nr. 12.4 in SKS K2–3, 21.
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Eremita, zugeschrieben wird; die Kladde ist – wie das gedruckte Vorwort – mit »Im November 1842« datiert. Mit der Korrektur wurde am Tag vor Heiligabend 1842 begonnen; das berichtet Kierkegaards Freund, der damalige Redaktionssekretär und Geschäftsführer der nationalliberalen Zeitung Fædrelandet, der Jurist J. F. Giødwad, der beim Korrekturlesen mithalf. 20 Um es zusammenzufassen, die Entstehungszeit von Entweder – Oder erstreckte sich von Oktober 1841 bis Januar 1843, über insgesamt ca. 16 Monate. Um das Kladdenmaterial für das ganze Werk auszuarbeiten, benötigte Kierkegaard ungefähr 11 Monate, nämlich von Oktober 1841 bis September 1842, wenn vom Entwurf des Vorworts abgesehen wird. Die Reinschrift des Druckmanuskripts dauerte ungefähr 3 Monate, von Mitte September bis Mitte Dezember 1842, und das Korrekturlesen einen Monat, von Ende Dezember 1842 bis Ende Januar 1843. Das Buch war am 15. Februar 1843 fertig. Über den Entstehungsprozess bemerkt Kierkegaard im Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller in einem historischen Rückblick, dass »buchstäblich nur ungefähr eine Seite existierte, nämlich ein paar Diapsalmata, während das ganze Buch in 11 Monaten geschrieben wurde, und der zweite Teil zuerst«. 21 Dass vor der Entstehung von Entweder – Oder nur eine einzige Seite, mit Aphorismen, existierte, ist eine Wahrheit mit gewissen Modifikationen: Denn einerseits hat Kierkegaard beim Anlegen der Kladden in verschiedenen Fällen Aufzeichnungen aus den Journalen eingearbeitet, die aus der Zeit zwischen 1836 bis 1842 stammen. Andererseits existierten keine fertigen Manuskripte, die direkt in Entweder – Oder aufgenommen werden konnten; in diesem Sinne mag Kierkegaards Behauptung also berechtigt sein. Ob er auch Recht behält, wenn er behauptet, dass er das ganze Buch in 11 Monaten geschrieben habe, hängt davon ab, was man hier unter ›geschrieben‹ versteht. Wenn von der fundamentalen Entstehungsphase, also der Ausarbeitung des gesamten Kladdenmaterials ohne den anschließenden Prozess der Reinschrift die Rede ist, hat er Recht – oder teilweise Recht, insofern die Reinschrift in gewissen Fällen auch eine tiefgreifende Bearbeitung einschloss.
S. den editorischen Bericht zu Entweder – Oder in SKS K2–3, 54 mit Note 1. SKS 16, 20. Etwas Entsprechendes schreibt Kierkegaard in der Journalaufzeichnung JJ:81, vermutlich vom April 1843, SKS 18, 165 / DSKE 2, 169: »Wenn ich nicht reus voti [durch ein Gelübde gebunden] bin, will mir nichts gelingen […] dadurch wurde ich in 11 Monaten mit ›Entweder – Oder‹ fix und fertig.«
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Dagegen scheint ihn seine Erinnerung zu trügen, wenn er behauptet, dass der zweite Teil von Entweder – Oder zuerst geschrieben wurde. Wohl schrieb er als Erstes die Abhandlung über die Ehe, in Form eines Briefes vom pseudonymen Assessor Wilhelm oder Herrn B an den pseudonymen Verfasser des ersten Teils, den Ästhetiker Herrn A. Aber der zweite Essay oder Brief über die Herausarbeitung der Persönlichkeit wurde zusammen mit dem »Ultimatum« als Letztes geschrieben, abgesehen vom Vorwort des Herausgebers. Entweder – Oder. Ein Lebens-Fragment, herausgegeben von dem Pseudonym Victor Eremita, in zwei Teilen, »Erster Teil, enthaltend die Papiere von A.« und »Zweiter Teil, enthaltend die Papiere von B., Briefe an A.«, erschien am 20. Februar 1843. Der erste Teil hat einen Umfang von 496 Seiten, der zweite einen Umfang von 376 Seiten, im Oktavformat. Das Werk wurde in einer Auflage von 525 Exemplaren gedruckt.
III. Herausgabe und Aufnahme Kierkegaard gab das große zweibändige Werk im Selbstverlag heraus, jedoch in Kommission beim Universitätsbuchhändler C. A. Reitzel. Das bedeutete, dass Kierkegaard für die Produktion und für die Bezahlung aller Produktionskosten selbst verantwortlich war. Die Kommissionsabsprache besagte, dass der Kommissionär gegen eine Abgabe den Verkauf leitete und dass er die Verkaufseinnahmen direkt mit dem Verfasser oder Herausgeber abrechnete, abzüglich der Abgabe. So verhielt es sich im Prinzip, nicht aber in der Praxis. Da sowohl die zwei Verfasser von Entweder – Oder als auch der Herausgeber des Doppelbandes Pseudonyme waren, und da Kierkegaard über die Pseudonymität wachte, konnte er weder mit dem Buchdrucker noch mit dem Kommissionär selbst Absprachen treffen, sondern musste das einem Mittelsmann überlassen. Für diesen Auftrag wurde J. F. Giødwad ausgewählt, der in Kierkegaards Namen die besagten Verabredungen einging, wie er auch an Kierkegaards Stelle die Produktion bezahlte und den Kommissionserlös entgegennahm, wenn dieser ausbezahlt wurde. Am 6. Mai 1843 verfasste Kierkegaard ein Dokument, in dem Giødwad »auf Leben und Tod« bestätigte, 22 dass Kierkegaard Das Dokument befindet sich im Kierkegaard-Archiv (D pakke 7 læg 1) der Königlichen Bibliothek zu Kopenhagen.
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dazu berechtigt war, sämtliche Einnahmen, die Giødwad von Reitzel ausbezahlt wurden, zu kassieren. Kierkegaard hatte viel Sinn für Marketing. Bereits am 12. Juni 1842 veröffentlichte er in der von den Intellektuellen bevorzugten Zeitung Fædrelandet den kleinen Artikel »Öffentliche Beichte«, 23 der Kierkegaard mit dem Schimmer des Geheimnisses umgab und die Aufmerksamkeit der Leute auf ihn lenkte. In dem Artikel schreibt er, dass er während der letzten vier Monate immer wieder für den Verfasser einer Menge »inhaltsreicher, belehrender, witziger« Zeitungsartikel sowie einiger Flugschriften, deren »schwerer, gewichtiger und gediegener« Inhalt ihnen eine über den Augenblick hinausweisende Bedeutung verlieh, gehalten wurde. Dadurch sei er zu einem Ansehen gelangt, das ihm nicht zustehe; deshalb fühle er sich dazu verpflichtet hervorzuheben, dass er nicht der Verfasser auch nur einer der genannten Publikationen sei. Und da er fürchte, dass er wieder zum Verfasser von etwas, das er nicht geschrieben hat, erklärt werden könne, bittet er seine Zeitgenossen, dass sie ihn nie als Verfasser von etwas betrachten mögen, worauf nicht sein Name steht. Auf diese Weise machte sich Kierkegaard selbst interessant und er erweckte öffentliche Neugier. Der Boden war bereitet für einen guten Verkauf von Entweder – Oder. Doch damit nicht genug. Am 27. Februar 1843, eine Woche nachdem Entweder – Oder in den Handel gekommen war, veröffentlichte Kierkegaard ebenfalls im Fædrelandet unter dem Kürzel »A. F. .....« den kleinen, scherzhaften Artikel »Wer ist der Verfasser von Entweder – oder«. 24 Nun hatte Entweder – Oder nicht nur auf Grund seines Umfangs und seines Inhalts Aufsehen erregt, die fünffache Pseudonymität (Victor Eremita, A, B, Johannes der Verführer, Pfarrer in Jütland) hatte beim lesenden Publikum auch ein beachtliches Interesse an der Identität des Autors hervorgerufen. Eben dieses Aufsehen und Interesse heizt Kierkegaard mit dem kleinen Zeitungsaufsatz weiter an und nutzt es so zum weiteren Marketing. Mit seiner selbstironischen Spitze ist der Schluss des Artikels hinsichtlich der Verfasserstrategie interessant: »Die meisten, darunter auch der Verfasser dieses Artikels, glauben, daß es die Mühe nicht lohne, sich darum zu kümmern, wer der Verfasser sei; sie freuen sich dessen, daß Fædrelandet, Nr. 904, Sonntag, 12. Juni 1842, Sp. 7245 (Vorderseite) bis Sp. 7252 (Rückseite), in SKS 14, 41–46. 24 Fædrelandet, Nr. 1162, Montag, 27. Febr. 1843, Sp. 9330–9332, in SKS 14, 49–51. 23
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er verborgen ist, so daß sie sich allein mit dem Werk beschäftigen können, ohne daß sie durch die Persönlichkeit des Verfassers gestört oder abgelenkt werden.« 25 Hier erhält die Pseudonymität also die Funktion, den Autor zu verbergen, damit der Leser mit dem Text allein bleiben und unbeeinflusst vom Autor selbst entscheiden kann, wie er den Text verstehen und sich zu ihm verhalten will, ob er sich den Inhalt vielleicht existentiell aneignen will. Und als sei das noch immer nicht genug, publizierte Kierkegaard Anfang Mai noch einen Artikel, »Danksagung an Hr. Professor Heiberg«, dieses Mal unter dem Pseudonym Victor Eremita, wieder in Fædrelandet. 26 J. L. Heiberg, der seinerzeit herrschende ästhetische Geschmacksrichter, hatte ein paar Tage zuvor in seinem eigenen ästhetischen Magazin Intelligensblade in dem Artikel »Literarische Wintersaat« seine Anzeige oder anzeigende Besprechung von Entweder – Oder veröffentlicht. 27 Nach der Erwähnung einiger anderer Herausgeber wendet sich Heiberg Entweder – Oder zu, dem Hauptthema des Artikels. Einleitend geht er, etwas herablassend, auf den großen Umfang des Werkes ein; er schreibt: »Desweiteren ist in diesen Tagen, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, plötzlich ein Monstrum von einem Buch in unsere Lesewelt eingeschlagen; ich meine das aus zwei großen und dicken Bänden oder aus 54 großen und eng bedruckten Bögen bestehende ›Entweder – Oder‹ von ›Victor Eremita‹. Das Buch muss deshalb zunächst mit Blick auf den Umfang als ein Monstrum bezeichnet werden, denn es beeindruckt bereits durch seine Masse, noch bevor man weiß, welcher Geist in ihm haust, und ich zweifle nicht daran, dass der Autor ebensoviel einnehmen würde, wenn er es für Geld anschauen ließe, wie dadurch, dass er es für Geld lesen lässt. Diese große Masse weckt ein vorläufiges Unbehagen, über das man sich hinwegsetzen muss. Man denkt: ›Habe ich die Zeit, ein solches Buch zu lesen, und welche Garantie habe ich, dass das Opfer belohnt werden wird?‹ Man fühlt sich sonderbar berührt vom Titel selbst, indem man ihn auf sein eigenes Verhältnis zum Buch anwendet und sich selbst fragt: ›Soll ich das entweder lesen oder es sein lassen?‹ Wir leben nicht mehr im Goldenen Zeitalter, sondern,
SKS 14, 51 / CS, 18. Fædrelandet, Nr. 1168, Sonntag, 5. März 1843, Sp. 9373 (Vorderseite) bis Sp. 9376, in SKS 14, 55–57. 27 Intelligensblade, Nr. 24, 1. März 1843, aufgenommen in Intelligensblade, Bd. 2, 1843, S. 285–292. 25 26
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wie bekannt, im Eisernen Zeitalter, oder, genauer gesagt, im Eisenbahn-Zeitalter; was ist es da für ein sonderbarer Anachronismus, mit einem solchen farrago [Mischmasch] in einem Zeitalter zu kommen, dessen Aufgabe es ist, die längsten Abstände in der kürzesten Zeit zu bewältigen? – Schließlich, nach all diesen Reflexionen und vorläufigen Verwünschungen, sagt man: ›Ebenso gut hineingesprungen wie hineingekrochen!‹ Und nun springt man wirklich in das Buch, liest hier ein wenig und dort ein wenig, um eine Kostprobe zu bekommen, die entweder zu genauerer Bekanntschaft verlocken oder zum Abbruch des bereits Errichteten bewegen kann. Als ein gutmütiger Leser springt man doch in den ersten Band, ehe man in den zweiten springt, das heißt, man streift in Entweder herum, ehe man in Oder herumstreift.« 28 Der angeschlagene Ton setzt sich im Artikel weitgehend fort. Er scheint davon zu zeugen, dass Heiberg dieses große Werk unbequem ist, dessen Genre aus seinen ästhetischen Systemen herausfällt und dessen Inhalt seinen gekünstelten literarischen Geschmack reizt. Er schreibt z. B. über den ersten Teil: »Man wird darüber ungeduldig, dass der ungewöhnliche Geistesreichtum, die Gelehrtheit und stilistische Fertigkeit des Verfassers nicht mit einer organisierenden Fähigkeit vereint ist, die die Idee plastisch hervortreten lassen kann. Alles scheint traumhaft, unbestimmt und verschwindend.« 29 Bis jetzt war Heiberg vor allem irritiert, doch als er zum »Tagebuch des Verführers« kommt, ist er direkt pikiert: »man ist angewidert, man ekelt sich, man ist aufgewühlt, und man fragt sich, nicht ob es möglich ist, dass ein Mensch wie dieser Verführer sein kann, sondern ob es möglich ist, dass eine Verfasser-Individualität so beschaffen sein kann, dass es ihr Behagen bereitet, sich in einen solchen Charakter hineinzuversetzen und ihn in seinen stillen Gedanken auszuarbeiten. […] Man schließt das Buch und sagt: ›Basta! Ich habe genug von Entweder, ich möchte nichts von Oder.‹« 30 Und doch weidet er sich an dem Gedanken, wie diese ›Salve‹ bei den verkniffenen Moralisten und philiströsen Literaturinteressierten einschlagen wird. Heiberg selbst kommt einen Augenblick zur Besinnung; er erläutert, dass er bislang nur ein »Man« habe zu Wort kommen lassen; »Anderes habe ich nicht gesagt«, fügt er hinzu, als ob er vor seinen 28 29 30
Op. cit., S. 288 f. Op. cit., S. 290. Op. cit., S. 290 f.
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eigenen starken Worten Angst bekäme. Den Gegensatz zu diesem abstrakten »Man« bilden demnach »Einzelne«, die neugierig sind zu erfahren, »was das für ein Oder ist, das der Verf. einem solchen Entweder entgegensetzt, und die in dem zweiten Band zumindest zu blättern beginnen.« Und Heiberg stellt sich vor, dass diese ›Einzelnen‹ im zweiten Teil von Entweder – Oder »die organisierende Macht« finden werden, die das Ganze zu einer wirklichen Ganzheit zusammenbindet und die im ersten Teil vermisst wurde. Außerdem werden sich diese ›Einzelnen‹ vom zweiten Teil fesseln und zugleich von »der schönsten ethischen Anschauung« und von »dem pikantesten Witz und Humor« beeinflussen lassen, die den ganzen Band wie ein Strom durchzieht. Heiberg beschließt seine Besprechung mit folgender besonnenen und äußerst vorläufigen Vorstellung: »Aber die zuletzt erwähnten ›einzelnen‹ Leser, die nicht durch das ›Man‹ erfasst werden, werden sich aus Respekt vor dem Verfasser, der ein solches Oder geschrieben hat, sein Entweder wieder vornehmen und es sorgfältig durchlesen. Danach werden sie sich eine bestimmte Anschauung von der Bedeutung, die dem ganzen Buch zukommt, bilden, und schließlich wird vielleicht ein Einzelner von diesen Einzelnen dem Publikum diese Anschauung vorlegen.« 31 Aus den Journalen wissen wir, dass Kierkegaard verletzt war von J. L. Heibergs distanzierter und herablassender Behandlung von Entweder – Oder und auch wütend darüber. Vermutlich hatte er auf eine begeisterte Besprechung jener mächtigen Autorität gehofft, der er bislang mit Respekt und Ehrerbietung begegnet war. Heute betrachtet man es als schlechten Stil, wenn ein Verfasser anlässlich einer schlechten Besprechung zu Gegenangriff und Selbstverteidigung übergeht. So scheint man das zu Kierkegaards Zeit nicht gesehen zu haben. Und doch geht Kierkegaard, alias Victor Eremita, selbstverständlich nicht zu einem direkten Gegenangriff auf Heiberg über, aber in einer ergebenen und vermeintlich dankbaren Verpackung macht er seine Meinung doch klar. Indem er beständig viele Zitate aus Heibergs Besprechung einflicht, gelingt es Kierkegaard, auf eine indirekte Weise eine gänzlich ironische, raffinierte Kritik an Heiberg zum Ausdruck zu bringen. Und indem er Heiberg beim Wort nimmt und »Man« als die Stimme des Publikums versteht, fällt ein sarkastischer Schlagschatten auf Heibergs kritische Rede durch ein ausweichendes, anonym abstraktes ›Man‹ anstelle eines mutigen, kon31
Op. cit., S. 291 f.
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kret subjektiven ›Ich‹. Zum Beispiel schreibt Victor Eremita in seiner Danksagung: »Aber ist es auch wirklich wahr, daß ›man‹, nachdem man lediglich im ersten Teil ein wenig herumgerochen hat, so über ein Werk und seine einzelnen Teile urteilt, so laut urteilt, wie es im Intelligenzblatt widertönt? Ach ja, Gott bessere es, die Zeiten sind böse! Nun haben Sie, Herr Professor! mehrere Jahre lang an der Erziehung des Publikums gearbeitet, und doch müssen Sie so etwas erleben. Als ich das las, wurde meine Herz so wund, daß es sich nicht trösten lassen wollte […]«. 32 Und etwas später: »vielmehr darf ich dessen sicher sein, daß im Verhältnis zu ›Entweder/Oder‹ niemand mehr ›man‹ sein will, nachdem Sie so treffend erläutert haben, was man unter ›man‹ verstehen müsse; daß man darunter einen jeden verstehen solle, der sich nicht ›als ein ordentlicher und gewissenhafter Leser‹ zeigt, sich nicht als der ›Einzelne‹ im Intelligenzblatt ausweist, sondern sich benimmt, ja, mehr möchte ich nicht sagen, sich benimmt wie ›man‹ im Intelligenzblatt.« 33 Trotz J. L. Heibergs kurzer und negativer Besprechung – oder vielleicht eher auf Grund von deren geschickter Verdrehung in ihr Gegenteil durch Victor Eremita – wurde Entweder – Oder ein Verkaufs- und Publikumserfolg. Im Laufe von gut zwei Jahren war die gesamte erste Auflage von wie gesagt 525 Exemplaren ausverkauft. Wenngleich Kierkegaard die vielfache Pseudonymität strikt wahrte, scheinen die meisten Zeitgenossen gewusst zu haben, wer der ›Verfasser‹ war. Im Übrigen war Entweder – Oder die am meisten besprochene der pseudonymen Schriften. Für den allgemein interessierten Leser ragte Entweder – Oder wie eine Sensation hervor, und insbesondere das »Tagebuch des Verführers« erregte beim lesenden Publikum Aufsehen. Hier nur ein paar Zeugnisse. In einem Brief vom 20. Februar 1843 berichtet die literarisch interessierte Henriette Wulff an H. C. Andersen zum Beispiel: »Hier ist in diesen Tagen ein Buch herausgekommen, das heißt: EntwederOder! – Es soll ganz merkwürdig sein, der erste Teil voll von DonJuanismus, Skeptizismus, etc., der zweite Teil besänftigend und versöhnend, endend mit einer Predigt, die ganz vortrefflich sein soll. Das ganze Buch erregt viel Aufsehen, noch hat es keiner öffentlich besprochen, doch das kommt schon noch. Es soll eigentlich von einem Kirkegaard [sic!] sein, der sich einen pseudonymen Namen gegeben 32 33
SKS 14, 55, Sp. 1 / CS, 19. SKS 14, 56, Sp. 2 / CS, 22.
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hat; kennen Sie ihn?« 34 In einem weiteren Brief an H. C. Andersen, dieses Mal vom 7. April 1843, kann die ebenfalls literarisch interessierte Signe Læssøe – mit sichtlicher Anleihe an J. L. Heibergs Besprechung – erzählen: »Hier ist am literarischen Himmel ein Komet aufgegangen […], unheilschwanger und unheilbringend; er ist so dämonisch, dass man liest und liest, ihn unzufrieden beiseitelegt und immer wieder aufhebt; denn man kann ihn weder fallenlassen noch behalten. ›Was ist denn das?‹ höre ich Sie sagen. Es ist ›Entweder – Oder‹ von Søren Kierkegaard. Sie machen sich keinen Begriff davon, was für eine Sensation es gewesen ist; ich glaube, seit Rousseau seine confession[e]s auf dem Altar darbrachte, hat kein Buch in der Lesewelt so viel Tumult hervorgerufen wie es. […] Heiberg schrieb zuerst eine brillante Anzeige im Intelligensbladet; doch glaube ich, dass ihm nun genauere Überlegung und Lektüre die Augen etwas geöffnet haben; ich erwarte für Mitte des Monats eine Kritik in seinem Blatt; deshalb haben wir am 1. April nichts erhalten, da sie vermutlich 2 Bogen füllt; ich freue mich auf sie, die er [Kierkegaard] sehr wohl verdient; sich aussprechen, wie er sich ausspricht, kann nur der, der alle Menschen verachtet; der Arme, das ist am schlimmsten für ihn selbst!« 35 In sein Tagebuch für den Februar 1843 schreibt Søren Kierkegaards älterer Bruder Peter Christian Kierkegaard folgende Notiz: »Heute höre ich in Sorø, dass Sørens Schrift ›Entweder Oder‹ erschienen sein soll, doch unter dem Pseudonym Victor Eremita.« 36 Und in einer anonymen Besprechung von Entweder – Oder in der Tageszeitung Dagen heißt es: »Die ganze Schrift trägt eine ausgeprägte innere Gleichheit in Geist und Gedankengang und eine äußere Übereinstimmung in Leichtigkeit [und] Sprachbeherrschung mit einer bekannten akademischen Arbeit [d. h. Kierkegaards Magisterabhandlung Über den Begriff der Ironie von 1841] und einzelnen Zeitungsartikeln aus der Hand eines unserer wahren philosophischen Genies, weshalb es uns nicht gewundert hat zu hören, dass das Werk diesem zugeschrieben wird.« 37 Es kursierten also allerlei Gerüchte, dass Søren Kierkegaard der
Hier zit. n. Søren Kierkegaard truffet. Et liv set af hans samtidige, hg. v. Bruce H. Kirmmse, Kopenhagen 1996, S. 89 f. 35 Hier zit. n. Søren Kierkegaard truffet, S. 90 f. 36 Hier zit. n. Søren Kierkegaard truffet, S. 205. 37 Dagen, Nr. 52, 22. Febr. 1843. 34
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Verfasser von Entweder – Oder sei. Und diese Gerüchte wollten nicht verstummen. Unter ihnen scheint insbesondere eines sehr verbreitet und hartnäckig gewesen zu sein, das Gerücht, dass es sich bei der Predigt »Das Erbauliche, dass in dem Gedanken liegt, dass wir gegen Gott immer Unrecht haben«, herausgegeben unter der Überschrift »Ultimatum« am Schluss des zweiten Teils von Entweder – Oder, um eine Predigt handle, die Kierkegaard während seines Unterrichts am Königlichen Pastoralseminar im Wintersemester 1840/41 gehalten habe. Um dieses Gerücht aus der Welt zu schaffen, publizierte Kierkegaard im Mai 1843 im Fædrelandet einen kleinen Aufsatz mit dem Titel »Eine kleine Erklärung«. 38 Ob es dieses Gerücht wirklich gab oder ob es vielleicht nur von Kierkegaard erfunden war, lässt sich nicht entscheiden. Sollte es erfunden sein, läge der Anlass nahe, nämlich auf das Erscheinen der ersten Zwei erbaulichen Reden 1843 und auf Kierkegaard als erbaulichen Schriftsteller aufmerksam zu machen und zugleich die zwei Reden mit Entweder – Oder in Zusammenhang zu bringen. Das Heft mit Zwei erbauliche Reden erschien am 16. Mai 1843, demselben Tag, an dem der Aufsatz in der Zeitung zu lesen war. 39 Kierkegaard bestreitet, dass es irgendeine Verbindung gebe zwischen der Predigt im zweiten Teil von Entweder – Oder und der Predigt, die er als integralen Teil des Unterrichts in Homiletik als eine Art Übungspredigt im Januar 1841 in der Holmens Kirke gehalten hat; 40 übrigens gibt er an, dass die Übungspredigt auf Phil 1,19–25 basierte. Diese Predigt ist im Kierkegaard-Archiv erhalten und als »Predigt, gehalten im Pastoralseminar« in Løse Papirer erschienen. 41 Dagegen ist aus der Zeit am Pastoralseminar keine Predigt überlieFædrelandet, Nr. 1236, 16. Mai 1843, Sp. 9921 f. Vgl. den Schlussteil des Aufsatzes, wo Kierkegaard auf die Idee kommt, dass der Urheber des Gerüchts vielleicht auch auf die Behauptung verfallen könnte, »daß diese beiden Reden die gleiche eine Predigt seien, die ich im Seminar gehalten habe«, SKS 14, 61, Sp. 2 / CS, 25. Welcher Zusammenhang zwischen der Herausgabe von Zwei erbauliche Reden und Entweder – Oder besteht, wird in diesem Aufsatz später noch dargelegt. 40 Im Aufsatz bestimmt Kierkegaard den Zeitpunkt mit Jan. 1842. Gemäß den im Reichsarchiv aufbewahrten homiletischen Protokollen des Pastoralseminars fand die Übungspredigt am 12. Jan. 1841 in der Holmens Kirke in Kopenhagen statt, s. Jon Tafdrups editorischen Bericht zu »Eine kleine Erklärung« in SKS K14, 167. Im Jan. 1842 hielt sich Kierkegaard in Berlin auf. 41 Papir 270 in SKS 27, 245–257. 38 39
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fert, die der entspricht, die in den zweiten Teil von Entweder – Oder eingeht. Dafür findet sich in Journal HH, das geschrieben wurde, während Kierkegaard den praktisch-theologischen Unterricht besuchte, ein kurzer Entwurf zu einer Predigt mit dem Titel »Über das Erbauliche, das in dem Gedanken liegt, dass wir Gott gegenüber immer Unrecht haben«. 42 Der Titel des Entwurfs und der Abschlusspredigt in Entweder – Oder ist offensichtlich identisch, bis auf einige unbedeutende sprachliche Varianten und die Menge der Hervorhebungsmittel. Der Entwurf in HH ist ohne Angabe des neutestamentlichen Texts, der die Grundlage der Predigt bilden soll, im Gegensatz zur Predigt in Entweder – Oder, als deren Grundlage Lk 19,41–48 angegeben ist, wo Jesus über die Stadt Jerusalem weint und darauf die Händler und Wechsler aus dem Jerusalemer Tempel vertreibt. Thematisch besteht nur eine sehr schwache Verbindung zwischen dem Entwurf, der die Vorsehung und den Zweifel behandelt, und der gedruckten Predigt, in der in der Einleitung auf »Gottes ewige[n] Rat« und später auf »Gottes Lenkung« verwiesen wird 43 und in der der Zweifel auch eine Rolle spielt. Die eigentliche Verbindung zwischen den beiden Predigten besteht also vor allem in den beiden nahezu übereinstimmenden Titeln, die auch das Thema angeben. Was immer Kierkegaard auch tat oder nicht tat, das Gerücht, er sei der Verfasser von Entweder – Oder wollte einfach nicht verstummen. Es wurde in der Presse wieder vorgebracht in dem im Mai 1845 unter dem Kürzel »– n.« veröffentlichten kleinen Artikel »Mag. Kjerkegaard: drei Reden; Stadien des Lebens«. 44 Und wieder hielt Kierkegaard es für nötig, sich gegen das zählebige Gerücht zu wehren. Dieses Mal betraf es zwar nicht in erster Linie, doch auch Entweder – Oder. So heißt es im Artikel: »Man sollte glauben, Mag. Kjerkegaard sei im Besitz einer solchen Wünschelrute, durch die er im Nu Schriften herbeizaubert, eine solche fast ans Unglaubliche grenzende Produktivität hat er mit seiner Schriftstellerwirksamkeit in den letzten Jahren entfaltet, falls man dem Gerücht glauben darf, das ihn wohl nicht zu Unrecht zum Verfasser von ›Entweder – Oder‹ erklärt und der Reihe von Schriften, die offenbar derselben Hand entstammen.« Jetzt betraf das Gerücht also nicht nur das pseudonyme Debüt, son42 43 44
HH:10, von 1840/41, SKS 18, 130 f. / DSKE 2, 134 f. SKS 3, 322,12 und 329,32 / EO2, 364 und 373. Berlingske Tidende, Nr. 108, 6. Mai 1845, Sp. 3.
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dern alle pseudonymen Schriften von Entweder – Oder über Die Wiederholung, Furcht und Zittern, Philosophische Brocken, Der Begriff Angst und Vorworte bis zu dem jüngst erschienenen Werk Stadien auf des Lebens Weg. Der Artikel lobt alle genannten Titel außerordentlich: »jede einzelne dieser Schriften zeichnet sich aus durch einen Tiefsinn im Denken, das seinen Gegenstand bis in die kleinste Faser aufdröselt, und dabei eine seltene Schönheit und Eleganz in der Sprache entfaltet, insbesondere aber eine Volubilität, dass sich kein lebender dänischer Schriftsteller mit dem Verfasser darin messen kann.« 45 Wenige Tage nach Erscheinen des Artikels in der Berlingske Tidende ließ Kierkegaard einen kleineren Beitrag in Fædrelandet einrücken, mit dem Titel »Eine Erklärung und ein wenig mehr«. 46 Darin bestreitet Kierkegaard irgendeine Verbindung zu dem besagten Artikel und den genannten Schriften zu haben; er schreibt: »da ich überdies stets befürchten muß, mit den Pseudonymen und Anonymen in Verbindung gebracht zu werden: so ist es deswegen vielleicht nicht ganz überflüssig, daß ich mich hiermit auf das bestimmteste gegen die Behauptung verwahre, ich sei Verfasser und Mitwisser eines anonymen Artikels in der Berlingschen Zeitung Nr. 108, der mich mit Hilfe eines erfinderischen Doppelpunktes gleich zu Anfang und eines täuschenden Pronomens etwas weiter unten in sehr enge Verbindung zu der Verfasserschaft verschiedener pseudonymer Bücher bringt, fast als sei daran kein Zweifel. Ich glaube, das hier Gesagte wird genügen. Jeder, der überhaupt nachdenkt, wird Folgendes leicht einsehen. Sollte ich nicht der Verfasser jener Bücher sein, so ist das Gerücht die Unwahrheit; sollte ich hingegen der Verfasser sein, so bin ich der einzige, der berechtigt wäre zu sagen, daß ich es sei. Letzteres vorausgesetzt wäre dann jeder andere Versuch unberechtigt, und als Gerücht wiederum eine Unwahrheit. Im einen Fall ist das Gerücht unwahr, im andern Fall ist die Unwahrheit die, daß es sich um nichts anderes als ein Gerücht handeln kann.« 47 Wenn man bedenkt, wie schwer es Kierkegaard fiel, diesen nicht sonderlich langen Artikel zu verfassen, 48 und wenn man ebenso den Ibid. Fædrelandet, Nr. 1883, 9. Mai 1845, Sp. 1593–1596 (Rückseite), SKS 14, 65 f. / CS, 26–29. 47 Op. cit., Sp. 1593 f., SKS 14, 65, Sp. 1 / CS, 26. 48 Im Manuskriptmaterial finden sich zwei Kladden, die verworfen und zurückgelegt wurden, ehe eine dritte, von den beiden ersten ganz abweichende für gut befunden 45 46
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Wortlaut des Zitats bedenkt, kann sich folgender Gedanke einstellen: Bereits bei der Anfertigung des Artikels hatte Kierkegaard eine Vorstellung davon, sich in Bälde öffentlich zur Verfasserschaft aller pseudonymen Schriften zu bekennen, da er sich nun dem näherte, was er zum damaligen Zeitpunkt als endgültigen Abschluss der Verfasserschaft vorgesehen hatte. Während der Artikel geschrieben wurde, hatte Kierkegaard gerade mit der Ausarbeitung der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift begonnen. 49
IV. Johannes Climacus’ gleichzeitige Deutung Im zweiten Abschnitt des zweiten Teils der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift, Kap. 2, in einer Beilage mit dem Titel »Blick auf ein gleichzeitiges Bemühen in der dänischen Literatur«, lässt Kierkegaard den pseudonymen Verfasser des Buches, Johannes Climacus, seine Deutung aller pseudonymen Schriften von Entweder – Oder bis zu Stadien auf des Lebens Weg vorlegen, weil diese Schriften Schritt für Schritt umsetzten, was Climacus sich feierlich vorgenommen hatte, nämlich die Frage zu klären, wie ich als ein einzelner Mensch in Beziehung zum Christentum kommen und ein Christ werden kann. Für Climacus war es zu einem zentralen Gedanken geworden, dass man in seiner Gegenwart völlig vergessen hatte, was eine religiöse Existenz ist und was Innerlichkeit bedeutet. Des Weiteren, dass dieses Vergessen die Ursache für das Missverständnis zwischen dem hegelianischen, philosophisch-spekulativen Denken und dem Christentum war. Um nicht vorschnell vorzugehen, beschloss er, mit der Darstellung dessen, was es heißt, als ein einzelner Mensch zu existieren, zu beginnen, oder genauer, von Grund auf zu beginnen: »das Existenzverhältnis zwischen dem Ästhetischen und dem Ethischen in existierender Individualität erstehen [zu] lassen«. 50 Hier werden wir uns hauptsächlich damit beschäftigen, was Climacus über Entweder – Oder zu sagen hat. wurde. S. die Manuskriptbeschreibung und Entstehungsgeschichte in Jon Tafdrups editorischem Bericht zu »Eine Erklärung und ein wenig mehr« in SKS K14, 179–183. 49 Vgl. die Entstehungsgeschichte der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift im editorischen Bericht von Finn Gredal Jensen, Jette Knudsen und Kim Ravn, woraus hervorgeht, dass die Nachschrift im Zeitraum zwischen Ende April bis Mitte Dez. 1845 entstanden ist, SKS K7, 45. 50 SKS 7, 228 / AUN1, 243.
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Das erste ist die Feststellung, dass Entweder – Oder gerade »das Existenzverhältnis zwischen dem Ästhetischen und dem Ethischen in existierender Individualität entstehen« lässt und darin die indirekte Polemik des Werkes gegen die philosophische Spekulation besteht, die Climacus zufolge gegenüber der Existenz indifferent ist. 51 Dass Entweder – Oder kein Ergebnis hat und zu keiner endgültigen Entscheidung gebracht wird, ist ein indirekter Ausdruck für die Wahrheit als Innerlichkeit, betont Climacus. Außerdem hebt er hervor, dass in dem Werk nicht »doziert« wird, was ebenfalls eine Polemik gegen die ›Spekulation‹ ist, doch vermutlich auch ein Ausdruck dafür, dass das Werk in seiner Form nicht fachphilosophisch, sondern literarisch ist. Das heißt jedoch nicht, schreibt Climacus, dass das Werk ohne »Gedankeninhalt« sei, was wohl besagt, dass es einen seriösen philosophischen Inhalt hat. Und wenn er im Weiteren zwischen dem Denken und dem Existieren unterscheidet und hinzufügt, dass in dem Werk »im Denken existiert wird« und dass die »Durchsichtigkeit des Denkens in der Existenz […] eben die Innerlichkeit [ist]«, 52 scheint er Entweder – Oder hier als ein Werk zu deuten, in dem philosophisches Denken in literarischer Form praktiziert wird. Nach Climacus ist der erste Teil von Entweder – Oder eine Existenz-Möglichkeit, die zwar auf Existenz hin gerichtet ist, aber mit ästhetischer Leidenschaft festgehaltene Phantasie-Existenz bleibt. Der pseudonyme Verfasser A leidet an Schwermut – und in potenzierter Form an Verzweiflung. Und er kommt niemals zu einer existentiellen Entscheidung, weil er die Existenz mit Hilfe des Denkens und dialektischer Fähigkeiten täuschend auf Abstand hält. Im zweiten Teil von Entweder – Oder ist der pseudonyme Verfasser B nach Climacus eine ethische Individualität, die kraft des Ethischen existiert; B ist ein Ethiker, der verzweifelt war, und der in der Verzweiflung sich selbst gewählt hat und so offenbar geworden ist. Climacus zitiert hier B mit der folgenden wesentlichen Unterscheidung: »Die Formulierung, die die Differenz zwischen dem Ästhetischen und dem Ethischen scharf herausstellt, ist die: Es ist die Pflicht jedes Menschen, offenbar zu werden«, und fügt selbst hinzu: »der erste Teil war die Verborgenheit«. 53 Climacus stellt den Ästhetiker A und den Ethiker B auf folgende Weise gegeneinander: Während A in 51 52 53
SKS 7, 229 / AUN1, 246. SKS 7, 231 / AUN1, 249. SKS 7, 230 / AUN1, 247, vgl. SKS 3, 304 / EO2, 344.
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seiner Phantasie-Innerlichkeit viele Möglichkeiten heraufbeschwor und mit seiner Dialektik verzweifelt alles in nichts verwandelte, wählte B sich selbst, indem er verzweifelte und im Augenblick der Verzweiflung sich selbst aus dem Entsetzen herauswählte, »daß er sich selbst, sein Leben, seine Wirklichkeit in einem ästhetischen Traum, in Schwermut und in der Verborgenheit hatte«. 54 Selbstverständlich bemerkt Climacus auch, dass Entweder – Oder mit der erbaulichen Wahrheit und damit im Religiösen endet, 55 doch hätte er sich klarere und deutlichere Hinweise im Hinblick auf die christliche Existenz gewünscht. »Denn die christliche Wahrheit als Innerlichkeit ist auch erbaulich, aber daraus folgt keineswegs, daß jede erbauliche Wahrheit christlich ist; das Erbauliche ist ein weiterer Begriff«, schreibt Climacus. 56 An diesem Punkt der Überlegungen ist Climacus soweit, mit seinem eigenen Projekt zu beginnen, und er schreibt: Da traf gerade das erste Heft Zwei erbauliche Reden 1843 mit Kierkegaards Namen auf dem Titelblatt ein, später folgten Drei erbauliche Reden 1843, in deren Vorwort wiederholt wurde, dass nicht von Predigten die Rede war, wie Climacus sich notiert; und er macht darauf aufmerksam, dass er, wäre das nicht geschehen, hätte Kierkegaard nicht ausdrücklich selbst darauf aufmerksam gemacht, dass es erbauliche Reden und nicht verkündigende Predigten seien, dagegen protestiert haben würde, »da sie nur ethische Immanenzkategorien gebrauchen, nicht die doppelt reflektierten religiösen Kategorien, die das Paradox angehen« 57 – welches ja Climacus’ Spezialität ist. Damit ist gesagt, dass die erbaulichen Reden ethisch-religiös sind und eben deshalb nicht Predigten, die dem Christlich-Religiösen entsprechen. In einer längeren Fußnote markiert Climacus einen wichtigen Unterschied zwischen ›dem Dichter‹ und ›der erbaulichen Rede‹ : Während ›der Dichter‹ kein anderes Ziel hat als die psychologische SKS 7, 235 / AUN1, 252. Das verweist auf den Schluss des zweiten Teils und somit Abschluss des ganzen Werkes, d. h. auf das »Ultimatum«, das aus einer Predigt besteht, die B von einem befreundeten älteren jütländischen Pfarrer erhalten hat und die zum Thema hat: »Das Erbauliche, welches in dem Gedanken liegt, daß wir Gott gegenüber allezeit Unrecht haben«, SKS 3, 326 / EO2, 369. Die Predigt, die B an A sendet, schließt mit folgendem sentenzenhaften Ausdruck: »denn allein die Wahrheit, die da erbaut, ist für dich Wahrheit«, SKS 3, 332 / EO2, 377. 56 SKS 7, 232 / AUN1, 250. 57 SKS 7, 233 / AUN1, 250. 54 55
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Wahrheit und die künstlerische Darstellung, hat ›die erbauliche Rede‹ darüber hinaus und hauptsächlich das Ziel »alles in das Erbauliche zu überführen«. 58 Wieder im Haupttext bestimmt Climacus auch als Merkmal des Erbaulichen, dass es beim Leser zuerst das gebotene und angemessene Entsetzen hervorrufen muss; geschieht das nicht, ist die Erbauung reine Einbildung. Das Entsetzen ist eine neue Bestimmung von Innerlichkeit und nötig für die Enthüllung, dass es dem Individuum unmöglich geworden ist, durch sich selbst offenbar zu werden, weil das Ethische es verhindert und damit auf das Religiöse hingewiesen wird – im weiteren Sinne auf das Paradox- oder Christlich-Religiöse. In seinem weiteren Gang durch die pseudonymen Schriften vertritt Climacus fortgesetzt die Auffassung, dass er beständig das zu tun beabsichtigte, was dann die jeweiligen pseudonymen Verfasser für ihn tun, und er sich auf diese Weise fortlaufend daran hindern lässt, mit seinem eigenen Projekt in Gang zu kommen. Anders, schreibt Climacus, verhält es sich mit Magister Kierkegaard: »[Er] dagegen muß es entgelten, jedesmal wenn eine solche Schrift erscheint«. 59 Climacus scheint sich hier darauf zu beziehen, dass Kierkegaard jedes Mal, wenn eine pseudonyme Schrift erschien, ein Heft mit erbaulichen Reden aussandte – zuletzt in Form von Gelegenheitsreden. Das deutet darauf hin, dass Climacus bereits einen Blick für das hatte, was Kierkegaard einige Jahre später in den Schriften über seine schriftstellerische Wirksamkeit als die dialektische Struktur seines Werkes auffasste und beschrieb. Hierüber später mehr. Ehe wir Johannes Climacus verlassen, bleibt anzumerken, dass ihm von Kierkegaard gleichsam die Rolle eines übergeordneten Richters über seine pseudonymen Schriftstellerkollegen zugeteilt wird, wodurch sich eine Potenzierung der Pseudonymität ergibt und wodurch in gewisser Weise eine vorläufige, pseudonyme Deutung der Pseudonymität und ihrer Funktion im Werk vorgenommen wird, auf die in einer Beilage zur Nachschrift Kierkegaards erste autonyme Deutung folgt.
58 59
SKS 7, 234 f. Fn. / vgl. AUN1, 251 Fn. SKS 7, 237 / AUN1, 255.
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V.
Anerkennung der Verfasserschaft der pseudonymen Schriften
Als die Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift am 27. Februar 1846 erschien, war ganz hinten im Buch eine Beilage angehängt, vom übrigen Text abgetrennt durch ein leeres Blatt; die Beilage war unpaginiert und in viel kleinerer Schrift als der Haupttext des Buches gesetzt. 60 Die Beilage, die den Titel »Eine erste und letzte Erklärung« trägt, ist sowohl datiert als auch unterzeichnet: »Kopenhagen, im Februar 1846. / S. Kierkegaard.« Mit Bezug auf die Idee der Pseudonymität konnte Kierkegaard diese Beilage dem Buch nur deshalb hinzufügen, weil er auf dem Titelblatt als der Herausgeber des abschließenden Werkes angegeben war, 61 das angeblich Johannes Climacus zum Verfasser hatte. In der Beilage bekennt Kierkegaard öffentlich, dass er der Verfasser all der pseudonymen Schriften von Entweder – Oder (1843) bis Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift (1846) ist, d. h. dass er für die Schriften und ihren Inhalt gegenüber der Öffentlichkeit und den öffentlichen Autoritäten juristisch und literarisch verantwortlich ist. Doch wenn das Geschriebene auch von ihm ist, bedeutet das keineswegs, wie Kierkegaard pointiert, dass er einen wie auch immer besonderen Zugang zum Verständnis dieser Schriften hat; im Verhältnis zu ihnen ist er nur eine »dritte Person, ein Souffleur«, der die pseudonymen Verfasser hervorgebracht hat, während die Pseudonyme selbst »dichterisch-wirkliche« Verfasser sind. Ja, mehr noch; über den pseudonymen Herausgeber von Entweder – Oder heißt es – als repräsentatives Beispiel –, dass er »ein dichterisch-wirklicher subjektiver Denker« ist, noch dazu in einem solchen Sinne, dass er SKS 7, 569 / AUN2, 339. In SKS ist die Beilage der Verweismöglichkeit wegen in Verlängerung des Buches fortlaufend paginiert. 61 ›Abschließend‹ hier wohl im doppelten Sinn: Zum einen sagt Kierkegaard in der Beilage direkt, dass er von seinen Pseudonymen Abschied nimmt, d. h. er schließt sein pseudonymes Werk ab. Zum anderen war Kierkegaard der Auffassung, dass er jetzt das Schriftstellerdasein beenden und eine Pfarrstelle auf dem Land suchen wolle. Die beiden Dinge sind intern miteinander verbunden. Bereits als Entweder – Oder erschien, hatte Kierkegaard den Gedanken, mit dem Dasein als Schriftsteller aufzuhören und Landpfarrer zu werden; und dieser Gedanke blieb in den folgenden Jahren in seinem Bewusstsein, trat aber mit der Herausgabe der Nachschrift besonders in den Vordergrund (vgl. z. B. die Journalaufzeichnung NB10:60, SKS 21, 289 f. / DSKE 5, 338–340). Obwohl der Gedanke in den folgenden Jahren mehr oder weniger präsent blieb, wurde er niemals realisiert. 60
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auch in »In vino veritas« auftritt. 62 Mit der Bezeichnung ›Denker‹ scheint sich Kierkegaard Johannes Climacus’ Deutung von Entweder – Oder anzuschließen, dass es nicht dozierend ist und einen ›Gedankeninhalt‹ hat, also philosophisches Denken vorführt. Zum Verständnis der Pseudonyme gehört, dass sie als ›erdichtete Verfasser‹ jeweils ihre »bestimmte Lebensanschauung« haben, 63 d. h. ihre bestimmte Auffassung der Existenz und des Existentiellen, oder jeweils eine bestimmte existentielle Position repräsentieren; sie sind mit einem modernen Ausdruck verschiedene Meinungsmacher mit ihrer jeweiligen Auffassung vom Dasein. Darin liegt ihre Bedeutung. Oder anders ausgedrückt: Ihre Bedeutung liegt ironischerweise darin, keine Bedeutung haben zu wollen, sondern »solo die Urschrift der individuellen, humanen Existenzverhältnisse, das Alte, Bekannte und von den Vätern Überlieferte, noch einmal, womöglich auf eine innerlichere Weise, durchlesen zu wollen«. 64 Es scheint Kierkegaard wichtig, deutlich zu machen, dass sein Gebrauch von Pseudonymität – oder wie er es auch nennt: ›Polyonymität‹ – nicht einen zufälligen Grund in seiner Person hat, sondern vielmehr seine wesentliche Begründung in der Produktion selbst. Man könnte auch sagen, dass die Pseudonymität mit Bezug auf den ersten Teil des Werkes von 1843 bis 1846 verfasserstrategisch und dichterisch gefordert ist. Dies ist vermutlich auch der Grund für Kierkegaards starke Betonung, dass die pseudonymen Schriften kein einziges Wort von ihm enthalten, dass er allein als Außenstehender eine Meinung über sie und allein als Leser ein Wissen von ihrer Bedeutung hat und haben kann, und dass er kein privates Verhältnis zu ihnen hat oder haben kann. Wie er der eigentliche und direkte Verfasser aller erbaulichen Reden ist, so ist er nur der uneigentliche Verfasser der pseudonymen Bücher. All dies scheint jedoch ein wenig 62 Vgl. SKS 7, 569 f. / AUN2, 339 f. »In vino veritas«, »eine Erinnerung nacherzählt« vom Pseudonym William Afham, bildet den ersten Teil der Stadien auf des Lebens Weg, 1845 zum Druck befördert vom pseudonymen Herausgeber Hilarius Buchbinder. 63 Vgl. SKS 7, 571 / AUN1, 342. 64 SKS 7, 573 / AUN2, 344. Darauf verweist Kierkegaard mit Zitat im Vorwort zu Zwei Reden beim Altargang am Freitag, die diesem Vorwort zufolge das abschließen, was Kierkegaard als sein schriftstellerisches Werk betrachtete, vgl. SKS 12, 281 / RAF, 19. – Unter ›der Urschrift‹ verstehe ich die Bibel und unter ›dem Überlieferten‹ das durch die Tradition übermittelte Christentumsverständnis bei einzelnen christlichen Denkern und Schriftstellern von der Patristik über die Reformation bis zur lutherschen Orthodoxie und dem Pietismus.
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unschärfer, wenn er später Gottes Lenkung dafür dankt, sein Streben während jener viereinhalb Jahre begünstigt zu haben, in denen ›das Geleistete‹, das heißt hier: die pseudonymen Schriften, entstanden sind, und wenn er wiederum etwas später sagt, dass er die Pseudonyme aus ›vertrautem Umgang‹ kennt und von daher weiß, dass sie keine große Leserschaft erwarten dürfen. Aus der Beilage sei hier schließlich noch Kierkegaards Auffassung vermerkt, dass er als wirkliche Person »etwas Genierendes ist, was die Pseudonyme in pathetisch-selbstherrlicher Weise je eher je lieber wegwünschen müßten« oder das sie »ironisch-aufmerksam« als »den abstoßenden Widerstand« zu haben wünschen müssten. 65 Dies scheint dem Verständnis seines Frühwerkes vorzugreifen, das Kierkegaard einige Jahre später in der kleinen Schrift Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller vorbringt, dass er nämlich, während Entweder – Oder die Gunst des Publikums gewann, diesem Erfolg dann durch die begleitende Herausgabe erbaulicher Reden entgegenarbeitete. Darüber später mehr.
VI. Eine zweite Auflage des pseudonymen Debütwerkes Im Januar 1845 erstellte Kierkegaard mit seinem Hauptkommissionär, dem Universitätsbuchhändler C. A. Reitzel, eine Abrechnungsübersicht über offene Rechnungen; die Abrechnungen der Übersicht betreffen außer Entweder – Oder die übrigen pseudonymen Schriften von 1843 und 1844. 66 Was Entweder – Oder betrifft, schreibt Kierkegaard: »Im Dezember [1844] sprach er [Reitzel] davon, dass die Auflage verkauft sei, und er eine neue Auflage herausbringen wolle, doch später erklärte er, dass er noch 50 Exemplare übrig habe.« 67Aus Kierkegaards Übersicht geht des Weiteren hervor, dass die Druckauflage bei 525 Exemplaren lag, und dass davon 475 verkauft waren. Die Rechnungsübersicht ist jedoch fehlerhaft, da am 30. Dezember 1844 faktisch 483 Exemplare verkauft waren und somit nur eine Restauflage von 42 Exemplaren verblieb. Wenngleich der Verkauf in den ersten Monaten nach der Lancierung im Februar 1843 selbstverständlich SKS 7, 571 / AUN2, 341. Die Wiederholung, Furcht und Zittern, Der Begriff Angst und Vorworte. 67 Die Abrechnung befindet sich im Kierkegaard-Archiv (D pk. 7 læg 6) der Königlichen Bibliothek zu Kopenhagen. 65 66
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am stärksten gewesen sein dürfte, ist es sehr wahrscheinlich, dass Entweder – Oder – wie oben angeführt – im Laufe des Frühjahrs 1845 ausverkauft war, also gut zwei Jahre nach Erscheinen des Werkes. 68 In der oben besprochenen Journalaufzeichnung NB:194 von Ende April 1847 bezieht sich Kierkegaard auf C. A. Reitzels Vorschlag vom Dezember 1844, eine neue Auflage von Entweder – Oder zu drucken. Aus diesem Vorschlag scheinen keine weiteren Verhandlungen hervorgegangen zu sein; Kierkegaard notiert in der besagten Aufzeichnung auch, dass er selbst es sei, der einen Wiederabdruck verhindert. 69 Das blockierte Reitzel für einen längeren Zeitraum. Eine gewisse Zeit nach der Herausgabe von Erbauliche Reden in verschiedenem Geist am 13. März 1847 wuchs in Kierkegaard der Wunsch, die Stellung eines Selbstverlegers mit Kommissionär zu beenden und zu der eines bezahlten Autors mit externem Verleger überzugehen. Das führte im Sommer desselben Jahres zu Verhandlungen mit Reitzel, alle Restauflagen der bisher bei diesem in Kommission erschienenen Titel zu übernehmen. Während dieser Verhandlungen hat Reitzel den Vorschlag einer neuen Auflage von Entweder – Oder vermutlich wieder in Erinnerung gebracht. Auf jeden Fall schreibt Kierkegaard in einem längeren und entscheidenden Brief an Reitzel, abgefasst Ende Juli oder Anfang August 1847: »Was Entweder – Oder betrifft, so muss das wohl auf ein andermal verschoben werden.« 70 Hiermit stellt Kierkegaard eine mögliche Neuausgabe von Entweder – Oder in Reitzels Verlag in Aussicht. Wann konkrete Verhandlungen hierüber mit Reitzel wieder aufgenommen wurden, wissen wir nicht mit Sicherheit, doch es verging eine geraume Zeit. 71 Einiges spricht dafür, dass sie zu einem frühen Vgl. den editorischen Bericht in SKS K2–3, 60 f. S. SKS 20, 116 / DSKE 4, 129. 70 Brief Nr. 224, SKS 28, 345. Der Brief enthält eine Übersicht über einige der Restauflagen (auf der Basis der Unterlagen von Kierkegaards Drucker Bianco Luno), die gewöhnlich im Lager der Druckerei aufbewahrt wurden (vgl. Brief Nr. 222, SKS 28, 340). Der Brief an Reitzel enthält darüber hinaus zahlreiche Bemerkungen zur Berechnung der übrigen Restauflagen, darunter auch den Verkauf der Herausgeberrechte zu den Erbaulichen Reden in verschiedenem Geist, damit Kierkegaard seine Kosten durch ein entsprechendes Honorar ausgleichen konnte. 71 Um so bemerkenswerter ist es, dass Kierkegaard bereits Mitte Aug. desselben Jahres in ernsthaften Verhandlungen mit Verlagsbuchhändler P. G. Philipsen stand bzgl. der Wiederauflage von Entweder – Oder. Philipsen war früher Kierkegaards Kommissionär für die Dissertation und für die letzten fünf der sechs Hefte mit erbaulichen Reden, die er als Verleger 1845 auf eigene Initiative, aber mit Zustimmung Kierke68 69
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Zeitpunkt 1849 begannen, jedenfalls liegt ein undatierter Brief an Reitzel vor, wahrscheinlich aus den Tagen vor dem 9. Februar 1849, 72 worin Kierkegaard – wie ein geübter Händler – schreibt: »Sie wissen, wie gerne ich alles in Ordnung und entschieden haben will, auch, wie gerne ich will, dass die andere Seite zufrieden sein soll. Und wenn Sie die andere Seite sind, so glaube ich zugleich, dass auch Sie auf meinen Vorteil sehen. Deshalb nehme ich ohne weiteres Ihr Angebot für Entweder – Oder an, wenn auch das Honorar gering genug ist, – doch das Land ist ja auch so klein. So will ich mich gewiss lieber an meinem Vertrauen zu Ihnen und Ihrer Rücksicht auf meine Bedürfnisse freuen, daran freuen, Sie zufrieden zu wissen, als Sie misstrauisch dahin zu drängen, entgegen Ihrem Wunsch, ein wenig mehr zu geben. Also abgemacht.« 73 Aus dem Brief geht weiter hervor, dass Reitzels Honorarangebot 550 Reichsbanktaler betrug, also um 150 niedriger lag als die Forderung gegenüber Philipsen; andererseits legt Kierkegaard im selben Brief die Auflagenhöhe auf 750 fest, im Unterschied zu Philipsens Angebot von 1000 Exemplaren. Was die Bezahlung angeht, so verlangt Kierkegaard – generös, wie er selbst meint – die Auszahlung in zwei Raten, die erste in Höhe von 300 Reichsbanktalern mit Frist zum 11. Juni 1849 und die andere in Höhe von 250 bis Ende Juli desselben Jahres. Kierkegaard erbittet eine umgehende schriftliche Bestätigung der genannten Bedingungen, um dann auf den freundlichen und leicht verführerischen Ton vom Beginn des Briefes zurückzukommen: »Somit glückliche Geschäfte. Aus meiner Sicht ist es ein vorteilhafter Handel, den Sie betreiben, und Sie werden sehen, das Vorhaben wird sein Glück machen.« Und Kierkegaard fügt eine Bemerkung an, die an die Journalaufzeichnung erinnert, die er nach dem Empfang von Chr. Molbechs Dankesbrief im April 1847 niedergeschrieben hatte: »Wenn ich in meiner Zeit als Verleger nicht auf
gaards, als Sammlung aller Reden von 1843 bis 1844 als Achtzehn erbauliche Reden wieder aufgelegt hatte. Die Verhandlungen betreffs einer Neuauflage von Entweder – Oder resultierten aber in ökonomischer Uneinigkeit und damit war Philipsen aus dem Spiel (vgl. die Korrespondenz in den Briefen Nr. 226–229, SKS 28, 347–349). 72 Vgl. die Journalaufzeichnung NB10:4, sie ist undatiert, aber als direkte Fortsetzung der letzten Aufzeichnung in Journal NB9 muss sie am selben Tag geschrieben sein, an dem NB10 in Gebrauch genommen wurde, nämlich am 9. Feb. 1849. Kierkegaard beginnt die Aufzeichnung mit der Mitteilung: »Jetzt erscheint die 2. Aufl. von Entweder – Oder« (SKS 21, 260 / DSKE 5, 304). 73 Brief Nr. 225, SKS 28, 346.
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vielfache Weise dem Absatz entgegengearbeitet hätte, wäre dieser auch ein ganz anderer gewesen.« Im Hinblick auf Reitzel sollte das zur Beruhigung dienen: Wenn die zweite Auflage auch 225 Exemplare mehr hatte als die erste, sie würde sich schon verkaufen. Die zweite Auflage wurde allerdings zu Kierkegaards Lebzeiten nicht verkauft, erst 1865 musste Reitzel eine dritte Auflage drucken lassen. Im Hinblick auf Kierkegaard ging es mit der Formulierung, ›dem Absatz selbst direkt entgegengearbeitet zu haben‹, um etwas ganz anderes; worum es sich dabei handelt, darauf gibt später Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller die Antwort. Obwohl Kierkegaard in der Journalaufzeichnung NB10:4, vom 9. Februar 1849, 74 notieren kann: »Jetzt kommt die 2. Aufl. von Entweder – Oder heraus«, wurde die Herausgabe aufgeschoben. Dafür gab es wohl mehrere Gründe: Einer lag darin, dass Kierkegaard es schwer hatte, herauszufinden, welche Schrift die neue Auflage von Entweder – Oder begleiten sollte. Dass sie durch die eine oder andere Schrift begleitet werden sollte, so wie es bei der Erstausgabe die Zwei erbaulichen Reden 1843 waren (wenn auch ein wenig zeitverschoben), hatte Kierkegaard schon eine Zeit lang, spätestens seit dem Sommer 1848, klar vor Augen, jedenfalls der Idee nach geplant. Das geht aus der undatierten Aufzeichnung NB 10:69 von Ende Februar oder Anfang März hervor, wo Kierkegaard schreibt: »Die zweite Auflage von Entweder – Oder ganz ohne etwas Begleitendes herausgehen zu lassen, geht doch eigtl. nicht an. Da muss doch ein Akzent darauf fallen, dass ich mit mir selbst darüber einig bin, religiöser Verf. zu sein.« 75 Und weiter in derselben Aufzeichnung: »›Der Gesichtspunkt‹ kann nicht herausgegeben werden. […] Aber die zweite Auflage von Entweder – Oder ist ein entscheidender Punkt, (wie ich ihn ja auch ursprünglich verstanden und den Gesichtspunkt geschrieben habe, um gleichzeitig damit herauszukommen und wohl kaum sonst einmal Ernst damit gemacht hätte, die zweite Auflage herauszugeben) er kommt nie wieder. Geht dieser Augenblick völlig ungenutzt vorbei, zieht es die Produktivität total betrachtet überwiegend herunter in das Ästhetische.« 76
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Vgl. Anm. 72. SKS 21, 293 / DSKE 5, 344. SKS 21, 294 / DSKE 5, 345.
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Die zuletzt zitierte Aufzeichnung enthält den Hinweis, dass der erste entscheidende Beschluss, Entweder – Oder in zweiter Auflage herauszugeben, im Juli 1848 getroffen wurde, zu dem Zeitpunkt, als Kierkegaard die Arbeit an Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller aufgenommen hatte. Der Schrift, die die Neuauflage von Entweder – Oder begleiten sollte. Die Aufzeichnung zeigt darüber hinaus, dass es für Kierkegaards damaliges Selbstverständnis als Schriftsteller entscheidend war, dass Entweder – Oder nicht ohne ein Gegengewicht erscheinen dürfe, um zu verhindern, dass die Balance seiner Produktivität im Ganzen nach der Seite des Ästhetischen kippen würde; und diese Funktion des Gegengewichts kam genau dem Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller zu, mit der Akzentuierung, dass Kierkegaard zuerst und vor allem religiöser Schriftsteller war und von Beginn an gewesen ist. Ebenso muss erwähnt werden, dass Kierkegaard zu diesem Zeitpunkt noch eine andere Möglichkeit im Sinn hatte. In einer undatierten Journalaufzeichnung, vermutlich von Ende Juli oder Anfang August 1848, schreibt er: »Es bleibt doch gewiss das Richtige: der Gegenwart einmal einen bestimmten und nicht-reduplizierten Eindruck von dem zu geben, als was ich mich selbst bezeichne, was ich will usw. Das war es, was ich mir als Programm gedacht hatte für ›die bewaffnete Neutralität‹[,] eine Zeitschrift. Sie sollte gleichzeitig mit der 2. Auflage von Entweder – Oder herauskommen. Und darin würde ich Stück für Stück das ganze Christentum revidieren und die Sprungfeder ansetzen.« 77 Also sollte auch diese Zeitschrift deutlich zum Ausdruck bringen, dass sich Kierkegaard jetzt primär als religiöser Schriftsteller verstand. Aus der Zeitschrift wurde jedoch nichts, wohl aber aus dem Titel und der Idee. Irgendwann zwischen August und Dezember 1848 schrieb Kierkegaard eine kleinere Schrift mit dem Titel »Die bewaffnete Neutralität / oder Meine Position als christlicher Schriftsteller in der Christenheit / Anhang zum ›Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller‹«. 78 In der Beilage ist nun nicht mehr allein davon die Rede, dass Kierkegaard sich NB6:61, SKS 21, 44 / DSKE 5, 46. Vgl. Thomas Eske Rasmussens editorischen Bericht zur »Bewaffneten Neutralität«, SKS K16, 109–119. Die Schrift wurde, möglicherweise fehlerhaft, nicht in Verbindung mit dem Gesichtspunkt gebracht, der erst 1859 erschien, postum herausgegeben von Kierkegaards älterem Bruder Peter Christian Kierkegaard. Vgl. »Die bewaffnete Neutralität«, SKS 16, 107–123 / EC, 284–298 (»2. Beilage« zur Einübung im Christentum).
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selbst als religiöser Schriftsteller verstand, sondern dass er sich als christlicher Autor in der säkularisierten Christenheit gesehen hat. Weil Kierkegaard kurz nach der Fertigstellung des Gesichtspunktes immer noch im Zweifel war, ob er diese kleine Schrift herausgeben sollte oder überhaupt konnte, und weil die oben genannte Zeitschrift, wie gesagt, nicht realisiert wurde, erkundete er auch andere Möglichkeiten, welche Schriften zur Begleitung der zweiten Auflage von Entweder – Oder in Frage kämen. In der undatierten Journalaufzeichnung NB9:74, vermutlich aus der zweiten Januarhälfte, schreibt Kierkegaard einleitend, dass er nun beinahe entschlossen sei, nichts im Umfeld der zweiten Auflage von Entweder – Oder herauszugeben; das würde dann bedeuten, dass der Nachdruck für sich allein erschiene. Doch kurz darauf nimmt er in derselben Aufzeichnung eine ganz entscheidende Korrektur vor: »Die 2. Aufl. von Entweder – Oder wird herauskommen. Aber seit der Zeit bin ich in die Rolle des religiösen Schriftst. getreten: wie dürfte ich es nun veröffentlichen lassen ohne eine nähere Erklärung, das wäre ja geradewegs Ärgernis erregend.« 79 Im Übrigen geht aus dieser und einer Reihe anderer Aufzeichnungen aus der Zeit hervor, dass Kierkegaard eine neue Motivation hatte, etwas herauszugeben, darunter auch die zweite Auflage von Entweder – Oder; er hat nicht nur eine Ahnung, sondern er kann für die nähere Zukunft ökonomische Schwierigkeiten voraussehen, weshalb der Gedanke wieder aufkommt, eine Pfarrstelle zu suchen. 80 Am 9. Februar desselben Jahres taucht deshalb die Idee auf, dass die begleitende Schrift die bereits fertige Sammlung kleinerer Texte unter dem Titel Ein Zyklus ethisch-religiöser Abhandlungen 81 sein könnte. Eine ganz kurze Aufzeichnung bringt das zum Ausdruck, doch die Idee wurde schnell, in weniger als ein paar Tagen, wieder aufgegeben. 82 Kierkegaard hat den Zyklus niemals als ganzen veröffentlicht, aber zwei der sechs Texte wurden anonym herausgegeben von
SKS 21, 246 / DSKE 5, 288. Vgl. Anm. 61. 81 Vgl. NB10:4, SKS 21, 260 / DSKE 5, 304; vgl. Anm. 72. Ein Zyklus ethisch-religiöser Abhandlungen, zusammengestellt im Okt. 1848, bestand aus sechs Abhandlungen, die alle in bearbeiteter Fassung dem Buch über Adler entnommen waren, dessen erste Fassung zwischen Juni 1846 und Jan. 1847 geschrieben wurde, vgl. Steen Tullbergs editorischen Bericht zum Buch über Adler, SKS K15, 154. 82 Vgl. NB10:38, SKS 21, 275 f. / DSKE 5, 321–323. 79 80
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H. H. als Zwei kleine ethisch-religiöse Abhandlungen und erschienen am 19. Mai 1849. 83 Während der Ausarbeitung des Gesichtspunktes, die sich über eine Periode zwischen Juli und September oder Oktober 1848 erstreckte, 84 beschloss Kierkegaard, folgende drei Anmerkungen als Beilage der Schrift über die schriftstellerische Wirksamkeit beizugeben: Nr. 1. »Zur Widmung an ›jenen Einzelnen‹«, ursprünglich 1846 geschrieben, 85 Nr. 2. »Ein Wort über das Verhältnis, das meine Wirksamkeit als Schriftsteller zu ›dem Einzelnen‹ hat«, ursprünglich 1847 geschrieben, 86 und Nr. 3. »Vorwort zu den Freitags-Reden«, ursprünglich im Oktober 1847 geschrieben. 87 Zu einem späteren Zeitpunkt gab Kierkegaard den drei Anmerkungen den Titel »Drei freundschaftliche ›Noten‹ meine schriftstellerische Wirksamkeit betreffend«, doch später strich er das Wort »freundschaftlich« wieder. Wiederum zu einem anderen Zeitpunkt überlegt er, dass es die ›drei Noten‹ sein könnten, die die zweite Auflage von Entweder – Oder begleiten sollten; dazu heißt es z. B. in der Journalaufzeichnung NB10:38 vom 19. Februar 1849, dass im Verhältnis zur zweiten Auflage von Entweder – Oder der Akzent auf »ein[em] korrekte[n] Gegensatz zu Entweder – Oder« liegen müsse. »Dazu sind die 3 Anmerkungen zu meiner W. als Schriftsteller wie Vgl. Anm. 134. Vgl. Steen Tullbergs editorischen Bericht zum Gesichtspunkt, SKS K16, 31–34, woraus hervorgeht, dass Kierkegaard im Febr. 1849 bestimmte kleine Änderungen vorgenommen hat. In der genannten Periode von Juli bis Okt. 1848 hat Kierkegaard im Übrigen auch an anderen Schriften gearbeitet. 85 Vgl. »›Jenem Einzelnen‹ sei diese kleine Schrift gewidmet«, gedruckt auf der Rückseite des Zwischentitelblattes »Eine Gelegenheitsrede«, erste Abteilung der Erbaulichen Reden in verschiedenem Geist, die am 13. März 1847 erschienen. 86 Vgl. die Fußnote zu Nr. 2: »Dieser Aufsatz ist 1847 geschrieben, später jedoch überarbeitet und vermehrt«, SKS 16, 93 / GWS, 107. 87 Wie es der Titel anzeigt, war diese ›Anmerkung‹ ursprünglich gedacht und geschrieben als Vorwort zu den »Reden beim Abendmahl am Freitag«, vierte Abteilung der Christlichen Reden, die am 25. April 1848 erschienen. In Verbindung mit der Bearbeitung von Zwei Reden beim Abendmahl am Freitag beschloss Kierkegaard, die Anmerkung Nr. 3 aus der Beilage zum Gesichtspunkt herauszunehmen und stattdessen als Vorwort zu der Schrift zu verwenden, die das zum Abschluss bringen sollte, was er als sein eigentliches Werk betrachtete. Das Vorwort wurde 1851 redaktionell bearbeitet und die beiden Reden erschienen am 7. Aug. 1851, am selben Tag wie Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller. Vgl. den editorischen Bericht von Anne Mette Hansen, Elise Iuul und Finn Gredal Jensen zu Zwei Reden beim Abendmahl am Freitag, SKS K12, 348–351. 83 84
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berechnet, und das sagt mir vortrefflich zu.« Er unterstreicht, dass er selbst weiß, dass seine ganze Wirksamkeit als Schriftsteller »eine Totalität« darstellt, und er fügt hinzu: »Das Fesselnde an der Totalität der Produktivität (dass sie ästhetisch ist – und dann religiös) wird durch die 3 Anmerkungen ganz schwach angedeutet.« Gerade in der Zeit nach der Herausgabe der Christlichen Reden hatte Kierkegaard den Wunsch, für einen Augenblick lang »Milde und Freundlichkeit« in sein ganzes Verhältnis als Schriftsteller zu bringen: »Besser kann es, glaube ich, nicht erreicht werden als durch die zweite Auflage von Entweder – Oder und dann die drei Anmerkungen.« 88 Wann Kierkegaard diese Idee aufgibt, kann nicht abschließend gesagt werden, doch er scheint noch Ende 1849 an einer separaten Ausgabe der »3 freundschaftlichen Anmerkungen« festzuhalten, vermutlich weiterhin zusammen mit der zweiten Auflage von Entweder – Oder. 89 Dass die Idee aufgegeben wurde, muss spätestens Anfang März desselben Jahres geschehen sein, denn aus der Journalaufzeichnung NB10:71, undatiert, aber von Anfang März, geht hervor, dass Kierkegaard zu diesem Zeitpunkt eine weitere Idee aufgibt, nämlich auf die zweite Auflage von Entweder – Oder »ein Paar ethisch-religiöse Abhandlungen« folgen zu lassen, 90 die vermutlich aus folgenden drei Abhandlungen bestanden: »Die dialektischen Verhältnisse: das Allgemeine, der Einzelne, der besondere Einzelne«, »Hat ein Mensch das Recht sich für die Wahrheit totschlagen zu lassen?« und »Über den Unterschied zwischen einem Genie und einem Apostel«, alle drei aus Ein Zyklus ethisch-religiöser Abhandlungen. 91 Wenig später im März 1849 hat Kierkegaard den ironischen Gedanken, dass er hinten in die zweite Auflage von Entweder – Oder hineinschreiben könnte: »Nachschrift / Hiermit widerrufe ich diese Schrift. Sie war ein notwendiger Betrug, um wenn möglich die Mschen hinein zu betrügen in das Religiöse, das stets meine Aufgabe gewesen ist […], ich habe mich ja nie als ihr Verf. ausgegeben.« 92 Es blieb (natürlich) beim Gedanken, dieser wurde niemals verwirklicht. Folgenreicher ist die Auskunft, die Kierkegaard in der undatierten Journalaufzeichnung NB10:185, vermutlich von Ende März 1849,
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SKS 21, 276 f. / DSKE 5, 322 f. Vgl. NB10:60, SKS 21, 290 / DSKE 5, 340. Vgl. SKS 21, 295 / DSKE 5, 346. Vgl. Anm. 81. Vgl. NB10:113, SKS 21, 317 / DSKE 5, 372.
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niederlegt, dass er einen letzten Versuch gemacht habe, etwas über seine Wirksamkeit als Autor zu schreiben, und den kurzen, aber prägnanten Text mit dem Titel »Rechenschaft« abgefasst hat, um diese als »Folgeblatt« den frei frommen Reden Die Lilie auf dem Felde und der Vogel unter dem Himmel beizugeben. Und weiter heißt es zur »Rechenschaft«: »Es ist meiner Meinung nach ein Meisterstück […]. Die Sache ist, ich sehe mit außerordtl. Klarheit den unendlich sinnreichen Gedanken ein, den es in der Totalität der Verfasserschaft gibt. Menschlich gesprochen wäre gerade jetzt der Augenblick, jetzt da die zweite Auflage von Entweder – Oder erscheint. Es würde großartig sein. Aber es ist etwas Unwahres daran.« 93 Kierkegaard schrieb den Gesichtspunkt als Begleittext zur zweiten Auflage von Entweder – Oder, konnte ihn aber nicht herausgeben; jetzt versucht er es mit einer viel kleineren Schrift zur Wirksamkeit als Schriftsteller, die als Folgeblatt zu den drei frommen Reden ebenfalls den Wiederabdruck von Entweder – Oder begleiten sollte, doch kaum war der neue Versuch entworfen, da wurde ihm klar, dass er überhaupt nichts über sich selbst als Autor veröffentlichen konnte. »Die Rechenschaft« war ursprünglich betitelt »Eine Note meine Wirksamkeit als Schriftsteller betreffend«, datiert mit »im März 1849«, vielleicht aber aus dem April desselben Jahres, sie wird später den Hauptbestandteil der Schrift Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller ausmachen, die im September 1850 ihren Titel erhielt und fertiggestellt wurde. 94 Im Oktober 1849 hatte Kierkegaard – mit einiger Beschwer, wie das Manuskriptmaterial zeigt – die »Rechenschaft« mit einer langen Anmerkung versehen; mit der Absicht, teils die Bedeutung des neuen Pseudonyms Anti-Climacus und von Zwei kleine ethisch-religiöse Abhandlungen im Blick auf sein Gesamtwerk zu beschreiben, teils um den Leser über die Titel auf dem Laufenden zu halten, die seit April 1849 erschienen waren, hier in ihrer Reihenfolge notiert: Die Krankheit zum Tode, erschienen unter dem Pseudonym Anti-Climacus am 30. Juli 1849; Zwei kleine ethisch-religiöse Abhandlungen, anonym veröffentlicht unter »H. H.« am 19. Mai 1849; Die Lilie auf dem Felde und der Vogel unter dem Himmel. Drei fromme Reden, die die »Gefolgschaft« der zweiten Auflage von Entweder – Oder abgaben, beide am 14. Mai 1849 erschienen; und Der Hohepriester – der Zöllner – die Sünderin, drei Reden beim Abend93 94
SKS 21, 351 / DSKE 5, 413. S. SKS 13, 12 / WS, 4.
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mahl am Freitag, die die »Gefolgschaft« der Krankheit zum Tode abgaben und am 14. November 1849 erschienen (nach der Datierung der Anmerkung selbst). In Verbindung mit der Fertigstellung im November 1850 fügt Kierkegaard Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller ein »Beiblatt« an, das so den zweiten Teil der Schrift ausmacht, unter dem Titel »Meine Stellung als religiöser Schriftstelle in der Christenheit und meine Taktik«, gedruckt mit einer sichtbar geringeren Buchstabengröße als der erste Teil der Schrift. 95 Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller erschien am 6. August 1851 als Heft mit 16 Druckseiten im Oktavformat, am selben Tag wie die Zwei Reden beim Abendmahl am Freitag, womit für das, was Kierkegaard als sein Werk oder aktiver ausgedrückt als seine Wirksamkeit als Autor betrachtete, ein Schlusspunkt gesetzt wurde. In der Journalaufzeichnung NB11:53 – undatiert, doch vermutlich vom Mai 1849 – wiederholt Kierkegaard, was er früher schon angedeutet hatte: »Die Anschauung der ganzen Verfasserschaft […] zielt definitiv auf Reden beim Abendmahl am Freitag.« 96 Jetzt im August 1851 ging diese Sichtweise in Erfüllung. 97 In dem Vorwort, das seinen Platz schließlich in Zwei Reden beim Abendmahl am Freitag fand und so seine Bestimmung erfüllte, sagt Kierkegaard, dass das, was ihn selbst, sein ganzes Leben und seine Wirksamkeit als Schriftsteller getragen hat, die »Lebensanschauung«, der Gedanke der »Menschlichkeit und Menschen-Gleichheit« ist: Dass christlich gesehen unbedingt jeder einzelne Mensch als der Einzelne Gott gleich nah ist, und zwar deshalb, weil er von Gott geliebt wird. Genau darin besteht die unendliche Gleichheit zwischen Mensch und Mensch. Eine Gleichheit, die christlich gesehen jeden Unterschied zwischen den Menschen außer Kraft setzt. 98 Aus der oben genannten Journalaufzeichnung NB11:53 geht unmittelbar hervor, dass Die Lilie auf dem Felde und der Vogel unter dem Himmel. Drei fromme Reden, die im März 1849 geschrieben wurden, 99 dazu bestimmt waren, auf die zweite Auflage von EntVgl. im Übrigen Steen Tullbergs instruktiven editorischen Bericht in SKS K13, 38– 57. 96 SKS 22, 36 / DSKE 6, 36. 97 Vgl. Anm. 87. 98 Vgl. SKS 12, 281 / RAF, 19. 99 Die Idee zu den drei frommen Reden über Lilie und Vogel, die Mt 6, 24–34 zur neutestamentlichen Grundlage haben, wurde in einer Journalaufzeichnung, NB4:154 (SKS 20, 358 / DSKE 4, 409 f.), Ostern 1848, entworfen. Der Ostertag fiel auf den 95
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weder – Oder zu folgen, und sie sollten dafür, wie gesagt, am Ende des Buches die »Rechenschaft« als Beiblatt enthalten. Doch diese Idee wurde fallen gelassen. Die Lilie auf dem Felde und der Vogel unter dem Himmel gingen am 19. April in Druck, der Druck war am 9. Mai abgeschlossen und das Buch erschien am 14. Mai 1849, am selben Tag, an dem Kierkegaard endlich die zweite Auflage von Entweder – Oder im Verlag C. A. Reitzels erscheinen ließ. 100 Der Wiederabdruck von Entweder – Oder in Bianco Lunos Druckerei war am 8. Mai 1849 abgeschlossen; anders als bei der Erstausgabe, die entsprechend den zwei Teilen des Werkes in zwei Bänden erschienen war, ließ Kierkegaard die zweite Auflage in großem Oktavformat in einem Band erscheinen, größer als der Erstdruck, mit einem Gesamtumfang von 592 Seiten, aber mit separater Seitenzählung der beiden Teile: Der erste Teil mit 336 Seiten gegenüber 492 im Erstdruck, der zweite Teil mit 256 Seiten gegenüber 360. 101 Nach der Herausgabe am 14. Mai 1849 erinnert sich Kierkegaard in einer Journalaufzeichnung vom selben Monat, dass er seinerzeit auch daran dachte, die zweite Auflage von Entweder – Oder begleiten zu lassen von der Schrift »Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch Ruhe geben.« 102 Wann diese Idee aufgegeben wurde, lässt sich nicht sagen. Die Schrift, die in einer ersten 23. April. Vgl. den editorischen Bericht von Niels W. Bruun, Anne Mette Hansen und Finn Gredal Jensen, SKS K11, 21–25. Das Buch besteht aus einem Vorwort, einem Gebet und drei Reden mit jeweils eigenem Thema: die erste handelt vom Schweigen, die zweite vom Gehorsam und die dritte von der Freude. Vgl. meine »Nachschrift« zu Søren Kierkegaard, Lilien paa Marken og Fuglen under Himlen. Tre gudelige Taler. Monotypier af Maja Lisa Engelhardt, Efterskrift af Niels Jørgen Cappelørn, Kopenhagen 2010, S. 61–107. 100 Vgl. den editorischen Bericht, SKS K11, 7. Die Lilie auf dem Felde und der Vogel unter dem Himmel erschien wie die zweite Auflage von Entweder – Oder im Verlag von Universitätsbuchhändler C. A. Reitzel. 101 Die Textänderungen, die in Verbindung mit dem Satz zur zweiten Auflage vorgenommen wurden, betreffen hauptsächlich Orthographie und Interpunktion, offenbar in der Absicht, die Rechtschreibung zu harmonisieren. Die Korrekturen lassen erkennen, dass sie von Kierkegaards Sekretär, Israel Levin, vorgenommen wurden, während Kierkegaards Handschrift allein auf dem Titelblatt zum ersten Teil zu sehen ist. Es findet sich nur eine inhaltliche Änderung, die Kierkegaard selbst zugeschrieben werden muss: »eine Doppel-Bewegung« wird abgeändert in »eine doppelte Bewegung« – vermutlich weil »Doppel-Bewegung« in Furcht und Zittern eine andere, prägnante Bedeutung angenommen hat. Vgl. den editorischen Bericht SKS K2–3, 67– 70 (mit allen Änderungen zwischen erster und zweiter Auflage). 102 Vgl. NB11:22, SKS 22, 20 / DSKE 6, 17.
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Fassung über den Sommer 1848 entstand, blieb zwischenzeitlich liegen und erschien erst als Nr. 1 der Einübung im Christentum, am 25. September 1850 unter dem neuen Pseudonym Anti-Climacus und mit Kierkegaard als Herausgeber. 103 So kommt es zu folgender Parallelität zwischen der früheren und der späteren Zeit in der Anlage seines Werkes: Wie Kierkegaard als Herausgeber der beiden Bücher von Johannes Climacus’, Philosophische Brocken und Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift, figuriert, so auch als Herausgeber der beiden Schriften von Anti-Climacus, Die Krankheit zum Tode und Einübung im Christentum. In der gerade genannten Aufzeichnung NB11:22 notiert Kierkegaard, dass, sofern »Kommet her zu mir alle« Anwendung gefunden hätte und im Gefolge des Wiederabdrucks von Entweder – Oder veröffentlicht worden wäre, dann das Vorwort, das jetzt in der Lilie auf dem Felde steht, hätte benutzt werden können. Allerdings mit der Hinzufügung, dass »es dieses Mal des Erbaulichen zweites Mal ist« 104, wohl deshalb, weil das ›Erbauliche‹ im Zusammenhang mit dieser christlichen Schrift ›zur Erweckung und Verinnerlichung‹ nicht so einleuchtend gewesen wäre wie bei den drei frommen Reden, die sich deutlich in Fortsetzung der sechs ersten Hefte mit erbaulichen Reden von 1843 und 1844 verstehen und so gesehen ›des Erbaulichen zweites Mal‹ darstellen. Wenn Kierkegaard den Eindruck hatte, dass dieser Aspekt als Pointe herausgestellt werden müsste, so geschah das in Anbetracht zweier für das Verständnis des inneren Zusammenhangs des Gesamtwerkes wesentlicher Bedingungen. Der Untertitel zu »Kommet her zu mir alle« lautet, wie gesagt, »zur Erweckung und Verinnerlichung«, und benennt eine bestimmte Stufe in der Hierarchie der direkt christlichen Schriften, die Kierkegaard mit der Veröffentlichung von »Das Evangelium der Leiden«, dem dritten und letzten Teil der Erbaulichen Reden in verschiedenem Geist, 1847 begonnen hatte. Der Untertitel »Zur Erweckung und Verinnerlichung« liegt z. B. eine Stufe höher in der Rangfolge der christlichen Schriften als der Untertitel »Zur Erbauung und Erweckung«, der mit der
103 Das Buch besteht aus drei Teilen: Nr. 1. »›Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch Ruhe geben.‹ Zur Erweckung und Verinnerlichung«; Nr. 2. »›Selig der sich nicht an mir ärgert.‹ Eine biblische Darlegung und christliche Begriffsbestimmung«; und Nr. 3. »Von der Hoheit her will er sie alle zu sich ziehen. Christliche Erörterungen«, vgl. SKS 12, 5–253 / EC, 1–254. 104 Vgl. SKS 22, 20 / DSKE 6, 17.
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Krankheit zum Tode verbunden ist und vor der Einübung im Christentum geschrieben und veröffentlicht wurde. Die drei Reden über die Lilie und den Vogel werden im Untertitel als »fromme« [gudelige] charakterisiert. Sie werden also nicht als ›christliche‹ rubriziert, obwohl die Betrachtung des Todes am Ende in der dritten Rede ausdrücklich als christlich bezeichnet wird und sie in der Periode veröffentlicht wurden, in der Kierkegaard sonst Reden herausgab, die dem Titel nach als ›christlich‹ bezeichnet werden. Es ist das einzige Mal, dass Kierkegaard Reden veröffentlicht, die als »fromme« ausgezeichnet werden, was sprachlich unmittelbar bedeutet, dass sie das Verhältnis des Menschen zu Gott betreffen und in Bezug auf ihren Inhalt das Verhältnis zu Gott als allmächtigem und allgegenwärtigem Erhalter der Welt. Sie sind, anders gesagt, nicht christologisch, sondern schöpfungstheologisch orientiert. Die Frage ist daher, ob sie auch als ›erbauliche‹ aufgefasst werden können, und das müssen sie für Kierkegaard, so wahr sie ihn gemäß ihrem Vorwort erinnern an »mein erstes [Wort] zu meinem Ersten [erbaulichen Titel]«, nämlich das »Vorwort zu den zwei erbaulichen Reden 1843, die direkt nach ›Entweder – Oder‹« erschienen, und seinen Leser, »jenen Einzelnen«, gerne an dasselbe erinnern sollten. 105 Dass Kierkegaard hier die Zwei erbaulichen Reden 1843 sein ›erstes‹ nennt, verdankt sich, wie schon erwähnt, dem Umstand, dass er diese Reden als sein Debütbuch als erbaulicher Autor betrachtete. Dass Zwei erbauliche Reden ›direkt‹ nach der Erstausgabe von Entweder – Oder erschienen sind, ist nur wahr mit Modifikationen. Während Entweder – Oder, wie schon erläutert, am 20. Februar 1843 erschien, wurden Zwei erbauliche Reden erst am 16. Mai 1843 als erschienen annonciert. Der zeitliche Abstand gibt Kierkegaard die Möglichkeit, ihn in seinem retrograden Verständnis der Totalität seines Gesamtwerkes als ›direkt nach‹ aufzufassen; zumindest dauert es fünf Monate, bevor die nächsten beiden pseudonymen Schriften, Die Wiederholung und Furcht und Zittern, am 16. Oktober 1843 am selben Tag zusammen erscheinen, übrigens auch zusammen mit Drei erbauliche Reden, während das nächste begleitende Heft, Vier erbauliche Reden, erst am 6. Dezember 1843 erscheint. Diese zeitmäßigen Verschiebungen in der gleichzeitigen Begleitung der pseudonymen Schriften durch Sammlungen erbaulicher Reden im ersten Teil des Gesamtwerkes bis 1846 sind vermutlich der Grund dafür, dass Kier105
Vgl. SKS 11, 9 / LF, 30.
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kegaard sich nicht von Beginn an der dialektischen Struktur als Strategie bewusst war. Das Vorwort zu den drei frommen Reden reflektiert auf eine doppelte Gleichzeitigkeit, 1843 zwischen der Erstausgabe von Entweder – Oder und Zwei erbauliche Reden und 1849 zwischen der zweiten Auflage von Entweder – Oder und der Lilie auf dem Felde. Die Zusammengehörigkeit der beiden Vorworte, nämlich in der ersten Sammlung erbaulicher Reden und im Heft mit den drei frommen Reden, kommt z. B. auch in der Datierung zum Ausdruck. Während Kierkegaard das Vorwort zu den beiden erbaulichen Reden auf seinen 30. Geburtstag datiert (5. Mai 1843), unterzeichnet er das Vorwort zu den drei frommen Reden an seinem 36. Geburtstag (5. Mai 1849). Ein weiterer Aspekt im Vorwort zu den drei frommen Reden ist wesentlich für das Verständnis des Ortes, den die erste und zweite Auflage von Entweder – Oder im Gesamtwerk einnehmen. Das deutet sich an in der schon behandelten Journalaufzeichnung NB11:53 vom Mai 1849. Nachdem Kierkegaard behauptet hat, dass Die Lilie auf dem Felde dazu bestimmt war, die zweite Auflage von Entweder – Oder zu begleiten, fügt er zur Begründung hinzu: »um den Unterschied zu markieren zw. dem, was mit der Linken, und dem, was mit der Rechten geboten wird.« 106 Das kommt im Vorwort zu den drei frommen Reden dadurch zum Ausdruck, dass Kierkegaard die Hoffnung äußert, dass das kleine Buch seinen Leser daran erinnern wird, so wie es ihn selbst »an das Vorwort zu den zwei Reden 1844« erinnert hat: »›es wird mit der rechten Hand geboten‹ – im Gegensatz zu der pseudonymen Schrift, die dargereicht worden ist und wird mit der Linken.« 107 Gewiss bedeutet das, dass, während die drei frommen Reden dem Leser mit der rechten Hand angeboten werden, jetzt die zweite Auflage von Entweder – Oder – wie schon die erste Auflage – durch die linke Hand gereicht wird. Die neue Auflage ist weiterhin, ganz wie die Erstausgabe, pseudonym herausgegeben und pseudonym geschrieben, und das, obwohl Kierkegaard zwischenzeitlich in der Beilage am Ende der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift öffentlich seine Verfasserschaft aller pseudonymen Schriften zwischen 1843 und 1846 juristisch und literarisch anerkannt hatte. In einer Journalaufzeichnung, undatiert, aber wohl von Mitte Juli 1849, erweitert Kierkegaard die Perspektive des Ausdrucks: das 106 107
SKS 22, 36 / DSKE 6, 36. SKS 11, 9 / LF, 30.
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»Pseudonym, das dargereicht wurde und dargereicht wird mit der Linken«, so, dass er auch das neue Pseudonym Anti-Climacus einbeziehen konnte, 108 hier bezogen auf den pseudonymen Verfasser der Krankheit zum Tode, die wie erwähnt zweieinhalb Monate nach der Lilie auf dem Felde erschien. Die Vorstellung vom Geben mit der rechten Hand stammt von dem epikuräischen Philosophen Theodoros von Kyrene (4. Jh. v. Chr.) mit dem Beinamen Atheos, der atheistische oder gottlose. Das geht aus einer Journalaufzeichnung von März/April 1843 hervor: »Theodorus Atheos hat gesagt: Er gab seine Lehre mit der rechten Hand, während seine Zuhörer sie mit der linken entgegennahmen.« 109 Das gibt ein illustratives Beispiel für Kierkegaards Umgang mit seinen Lesefrüchten, indem er sie zum eigenen Vorteil kreativ verwendet. Denn für Theodoros ist es deutlich ein negativer Vorgang, dass, was er mit der rechten Hand gibt, von seinen Zuhörern nur mit der linken entgegengenommen wird. Das Letztere verändert Kierkegaard in ein Geben mit der linken Hand, und das muss hier bedeuten, sich selbst auf Distanz zum Geben der anderen Hand zu halten. Dazu passt auch das unpersönliche ›Darreichen‹ dessen, was man gibt. Das Erste, mit der rechten Hand zu geben, verbindet Kierkegaard mit dem Empfangen mit der rechten Hand; und mit der rechten Hand zu geben muss hier wohl so viel bedeuten wie sich selbst erster Hand zu dem zu verhalten, was man gibt. Im Geben liegt für den Geber selbst wie für den Empfänger der Ansporn, dementsprechend zu handeln. Dem entspricht auch, das, was man gibt, ›anzubieten‹. Alles, was man von einem Anderen bekommt, bekommt man aus zweiter Hand; und die Frage ist, ob man es in der Weise empfangen will, dass man es entgegennimmt, es sich aneignet und in Existenz umsetzt, so dass man es aus erster Hand besitzt. Das heißt mit der rechten Hand empfangen, und darin besteht die Aufgabe des Lesers. 110 Wenn Kierkegaard in der schon genannten Aufzeichnung NB11:53 vom Mai 1849 explizit sagt, dass Die Lilie auf dem Felde NB12:10, SKS 22, 151 / DSKE 6, 167. JJ:86, SKS 18, 166 / DSKE 2, 171. In der Aufzeichnung gibt Kierkegaard W. G. Tennemann, Geschichte der Philosophie Bd. 1–11, Leipzig 1798–1819; Bd. 2, 1799, S. 124 Note 39, als seine Quelle an. Tennemann zitiert griechisch aus Plutarch, De tranquillitate animi, Kap. 5, 467c. Vgl. Peter Tudvads Kommentar, SKS K18, 265. Kierkegaard besaß ein Exemplar von Tennemanns Philosophiegeschichte in seiner Bibliothek. 110 Vgl. meine »Nachschrift« (Anm. 99), S. 107. 108 109
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dazu bestimmt war, die zweite Auflage von Entweder – Oder zu begleiten, liegt es nahe zu überlegen, was die drei frommen Reden über Lilie und Vogel als Begleitung zu Entweder – Oder empfiehlt und zugleich den Unterschied zu markieren. Es sind dies zumindest zwei Verhältnisbestimmungen: Erstens erscheint in der Lilie auf dem Felde ›das Einfältige‹ als Kennzeichen des Religiösen, was dem entspricht, wie in der »Rechenschaft« in Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller ausdrücklich und direkt gesagt wird, dass das Religiöse das Ziel des Gesamtwerkes in seiner Totalität war und ist. Hier begründet Kierkegaard – wie auch im Gesichtspunkt –, dass sein Werk »total betrachtet von Anfang bis Ende religiös« ist, und dass der Autor »nur eines gewollt hat«, nämlich das Religiöse. In der »Rechenschaft« aber fügt er noch den entscheidenden Aspekt hinzu, dass das Religiöse voll und ganz in Reflexion gesetzt war und ebenso voll und ganz wieder aus der Reflexion herausgenommen wurde »zurück in Einfältigkeit«. So liegt der für die religiöse Bewegung zurückgelegte Weg darin, es zu erreichen, zum Einfältigen zu gelangen. Kierkegaards Pointe besteht darin, dass dies auch die christliche Bewegung ist, denn christlich gesehen geht man nicht von dem Einfältigen aus, um auf diesem Wege immer interessanter zu werden, sondern man beginnt umgekehrt mit dem Interessanten und wird »einfältiger und einfältiger, gelangt zum Einfältigen«; genau das ist die christliche Reflexions-Bewegung, die Aufgabe, die der säkularisierten Christenheit gestellt ist: »man reflektiert sich nicht ins Christentum hinein, sondern man reflektiert sich aus dem Anderen heraus und wird, einfältiger und einfältiger, Christ.« 111 Durch die Betonung des Einfältigen bei Lilie und Vogel als Lehrmeister des Menschen – worin das Einfältige kurz gesagt bedeutet, das zu tun, was man sagt, und es gehorsam zu tun, wie es Gottes Wille ist, im gelebten Leben danach zu leben – konnte Kierkegaard eine wesentliche und entscheidende Pointe zum Telos seiner Wirksamkeit als Autor in dem Buch über Lilie und Vogel zur Geltung bringen, geschrieben zur Begleitung der Wiederauflage von Entweder – Oder; und das zu einem Zeitpunkt, zu dem für ihn die Zeit noch immer nicht reif war, eine direktere Mitteilung über Bewegung und Ziel des Gesamtwerkes zu veröffentlichen. Zweitens sind nach meiner Auffassung die drei frommen Reden ein genuin abgestimmtes Gegenstück zum Pseudonym A, zu seiner 111
SKS 13, 12 f. / WS, 4 f.
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ästhetischen, teilweise nihilistischen Lebenshaltung und Lebensanschauung, wie sie nicht zuletzt in seinen aphoristischen »Diapsalmata« und seinem epilogischen Aufsatz »Der Unglücklichste« zum Ausdruck kommen. 112 Wir konzentrieren uns hier auf den letztgenannten Text, besonders auf den Unglücklichsten als den ›sich selbst immer Fremden‹ im Gegensatz zu dem Glücklichen, der entsprechend den drei frommen Reden der ›sich selbst immer Gegenwärtige‹ ist. Dem genannten Aufsatz im ersten Teil von Entweder – Oder zufolge besteht die Versammlung der Συμπαϱανεϰϱωμενοι 113 aus Menschen, die ein aphoristisches Leben führen. D. h. sie leben ohne Zusammenhang und ohne eine andere Gemeinsamkeit als die Einigkeit darüber, dass der Tod ein gemeinsames Glück für alle Menschen darstellt und dass deshalb auf nichts anderes Verlass ist als auf das Unglück. Alles andere ist sinnlose Vergänglichkeit. Das Ziel der Rede an ›die Mitverstorbenen‹ ist es einzukreisen, wer der Unglücklichste ist; er wird als Mensch bestimmt, der »seinen Lebensinhalt, die Fülle seines Bewusstseins, sein eigentliches Leben irgendwie außer sich hat. Der Unglückliche ist immer von sich abwesend, nie sich selbst gegenwärtig.« 114 Die unglücklichen Individualitäten teilen sich in zwei Klassen, die hoffende und die erinnernde. Keine von beiden ist sich selbst gegenwärtig, doch um wirklich zu einer ›Formation‹ der Unglücklichen zu gehören, muss der Hoffende auch in der kommenden Zeit sich selbst abwesend sein und der Erinnernde entsprechend in der vergangenen Zeit sich selbst abwesend sein. Um aber zu einer ›Formation‹ der eigentlichen Unglücklichen zu gehören, muss noch ein weiteres Merkmal hinzukommen: Dass die hoffende Individualität nichts zu hoffen hat, doch anstelle eine erinnernde zu werden, dabei bleibt, eine hoffende Individualität zu sein; und dass die erinnernde Individualität nichts zu erinnern hat, doch anstelle eine hoffende zu werden, dabei bleibt, eine erinnernde zu sein. Da die unglücklich Hoffenden aber niemals das Schmerzliche an sich haben, das zu den unglücklich Erinnernden gehört, und damit
112 Vgl. »Diapsalmata« bzw. »Der Unglücklichste. Eine begeisterte Ansprache an die Συμπαϱανεϰϱωμενοι. Peroration bei den Freitagszusammenkünften«, SKS 2, 25–52 und 211–223 / EO1, 17–46 und 231–245. 113 Das konstruierte gr. Wort müsste grammatisch gesehen eigentlich lauten Συμπαϱανενεϰϱωμένοι, und es bedeutet ›Mitverstorbene‹. 114 Vgl. SKS 2, 216 / EO1, 236.
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›hoffnungsfroher‹ enttäuscht sind, wird man den Unglücklichsten stets unter den unglücklich erinnernden Individualitäten finden. 115 Es ist das Unglück der erinnernden Individualität, dass sie zu früh zur Welt kommt und deshalb immer zu spät ist. Das Gegenstück entwickelt Assessor Wilhelm in seinem Essay über »Das Gleichgewicht zwischen dem Ästhetischen und dem Ethischen in der Herausarbeitung der Persönlichkeit«, dass genau der, der sich selbst ewig besitzt, weder zu früh noch zu spät zur Welt kommt, und dass der, der sich selbst in seiner ewigen Gültigkeit besitzt, seine Bedeutung in diesem Leben schon finden wird. 116 Das Leben des Erinnernden dagegen ist, A zufolge, ohne Bedeutung, ohne Ruhe und ohne Inhalt, »er ist sich nicht präsentisch im Augenblick, nicht präsentisch in der Zukunft, denn das Zukünftige ist erlebt; nicht in der Vergangenheit, denn das Vergangene ist noch nicht gekommen.« Auf diese Weise wird er umhergetrieben, er kann »nicht zum Gebären kommen und ist doch ständig ein Gebärender«. 117 Einsam und allein ist er vollständig sich selbst überlassen, ohne gegenwärtige Zeit, an die er sich anschließen könnte, ohne Vorzeit, nach der er sich sehnen könnte, ohne kommende Zeit, auf die die Hoffnung sich richten könnte. Er hat keine gegenwärtige, keine kommende und keine vorübergegangene Zeit, und so kann er nicht lieben, denn die Liebe ist immer präsentisch; und doch hat er »eine sympathetische Natur«, die die Welt hasst, weil er sie liebt. Und er ist ohnmächtig, »nicht weil es ihm an Kraft fehlte, sondern weil seine eigene Kraft ihn ohnmächtig macht.« 118 So endet sein Leben in reinem Nihilismus. »Seht, die Sprache versagt und der Gedanke verwirrt sich«, heißt es zuletzt in der Rede, »denn wer ist schon der Glücklichste, es sei denn der Unglücklichste, und wer der Unglücklichste, es sei denn der Glücklichste, und was ist das Leben anderes als Wahnsinn, und der Glaube anderes als Torheit, und die Hoffnung anderes als Galgenfrist, und die Liebe anderes als Essig in der Wunde.« 119 Dagegen steht besonders die Rede mit dem Thema »Freude« in Die Lilie auf dem Felde, worin die Lilie und der Vogel als die wahren Lehrmeister der Freude, als Vorbilder der unbedingten Freude dar-
115 116 117 118 119
Vgl. SKS 217 f. / EO1, 237 f. Vgl. SKS 3, 184 / EO2, 202 f. Vgl. SKS 2, 219 / EO1, 240 f. Vgl. SKS 2, 220 / EO1, 241. Vgl. SKS 2, 223 / EO1, 245.
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gestellt werden, gerade weil sie selbst Freude sind. Und das der Sorge zum Trotz, die auch Lilie und Vogel kennen, wie die ganze Natur in Sorge sein kann, weil sie der Vergänglichkeit unterliegt. 120 Im Verlauf der Rede stellt Kierkegaard die entscheidende Frage, was Freude ist oder was das ist, froh zu sein. Er schreibt, froh zu sein ist, »in Wahrheit sich selbst gegenwärtig zu sein, aber dass man sich selbst in Wahrheit gegenwärtig ist, es ist dieses ›Heute‹, dies, dass man heute ist, dass man in Wahrheit heute ist.« 121 Sofern dieses Zitat die positive Gegenüberstellung enthält zwischen froh zu sein, immer sich selbst gegenwärtig zu sein, und unglücklich sein, immer von sich selbst abwesend zu sein, ist das Positive genauer zu untersuchen. Sich selbst in Wahrheit gegenwärtig zu sein bedeutet, sich zu sich selbst zu verhalten, zu seinem persönlichen Selbst, dem Selbst, das man nach seiner Bestimmung im ›Augenblick‹ ist, in der Fülle der Zeit. Sich selbst in Wahrheit gegenwärtig zu sein bedeutet, heute zu sein, sich selbst in der Weise gegenwärtig zu sein, dass man mit sich selbst identisch und damit gleichzeitig in dem konkret präsentischen Heute ist; also gibt es eine gemeinsame Zeit, an die angeknüpft werden kann. Ist man nicht im Heute gleichzeitig mit sich selbst, ist man von sich selbst abwesend und kann sich nicht zu sich selbst verhalten, so wird man unglücklich, unpassend, steht neben sich, fern von sich selbst, seiner eigenen Identität fremd, und – so könnte man sagen – man beginnt aphoristisch zu leben, ohne gemeinsame Zeit, an die angeknüpft werden könnte. Sich selbst in persönlicher Individualität gegenwärtig zu sein, ist also nichts, was man auf einen späteren Zeitpunkt verschieben kann, sondern man muss es heute sein. Die Freude ist eben die gegenwärtige Zeit, schreibt Kierkegaard weiter und legt den ganzen Nachdruck auf die gegenwärtige Zeit. Im Erstdruck des Buches war die Betonung nicht kursiv, sondern spatiiert; das ist insoweit nicht auffällig, weil es damals die gängige Methode zur Hervorhebung im Text war. Doch hier kommt es zu einer besonderen inhaltlichen Bedeutung, die über die Konvention hinausgeht. Das G e g e n w ä r t i g e ist in dem Sinn spatiiert, dass es spatium in sich hat, Raum und hier besonders Zeitraum; das Gegenwärtige hat zeitliche E r s t r e c k u n g im Gegensatz zum Jetzt, das punktuell und flüchtig Zeit und Raum ermangelt. Im Jetzt kann man sich selbst nicht gegenwärtig sein, denn das verlangt ja eine Erstreckung wie 120 121
Vgl. SKS 11, 44 / LF, 69 (vgl. Paulus in Röm 8, 20–22). SKS 11, 43 / LF, 67.
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die des heutigen Tages. Der Ausdruck ›die gegenwärtige Zeit‹ bedeutet also teils die Zeit, die als präsentische ganz nahe ist, teils die Zeit, worin die einzelne Individualität gegenwärtig anwesend ist, ganz präsentisch, und das, indem sie sich selbst im Heute gegenwärtig ist. Das heißt froh zu sein, denn da gibt es keine Sorge vor der kommenden Zeit und kein Ärgernis über die vergangene Zeit. 122 Im Übrigen kann noch festgehalten werden, dass im Kontrast zum Fehlen von Gemeinschaftlichkeit im aphoristischen Leben der ›Mitverstorbenen‹ Kierkegaard in der dritten Rede der Lilie auf dem Felde davon spricht, dass die Freude »sich mitteilt«. 123 Das besagt, dass die Freude ansteckend ist, mit anderen geteilt werden will und in diesem Sinne auch Gemeinschaft stiftet.
VII. Die Besprechung von Entweder – Oder in den Schriften über die Wirksamkeit als Schriftsteller Wir haben schon einige Ansätze zum Verständnis der Totalität des Gesamtwerkes berührt, darunter seine dialektische Struktur und Architektonik, so wie es Kierkegaard in den beiden Hauptschriften zu seiner Wirksamkeit als Schriftsteller zum Ausdruck bringt: Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller, geschrieben im Sommer 1848, postum herausgegeben von Kierkegaards älterem Bruder P. C. Kierkegaard im Mai 1859, und Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller, geschrieben im April 1849, herausgegeben im August 1851. Doch im Fokus soll im Folgenden allein Entweder – Oder stehen, um der Bedeutung und Platzierung nachzuspüren, die Kierkegaard seinem Debütwerk und dessen Wiederabdruck in seinen autobiographischen Schriften über sich selbst als Autor gibt, nicht als Person. Entweder – Oder soll aber nur in dem Sinn im Mittelpunkt stehen, insofern es die Wiederauflage dieser Schrift ist, die das ganze Konglomerat von Schriften über die Wirksamkeit als Schriftsteller veranlasst. Zuerst der »Gesichtspunkt«, dessen voller und bemerkenswerter Titel lautet: Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller. Eine unmittelbare Mitteilung, Rapport an die Geschichte. Kierkegaard will also eine direkte, keine indirekte Mitteilung geben, die als Rapport über die Wirksamkeit des Autors vor der Geschichte 122 123
Vgl. meine »Nachschrift« (Anm. 99), S. 89 f. Vgl. SKS 11, 40 / LF, 64.
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fungieren soll. Oder anders gesagt, Kierkegaard will augenscheinlich auf das Verständnis seines Wirkens in der künftigen Rezeptionshistorie Einfluss nehmen. Es ist häufig, besonders in den letzten Jahren, auch in der Kierkegaard-Literatur und nicht zuletzt unter dem Einfluss der Dekonstruktion behauptet worden, es wäre ein Unding, dass ein Autor auf diese Weise die eigene Interpretation seines Werkes weitergeben wolle. Diese Einstellung gründet auf der Devise, dass ein Text mehr ist als sein Verfasser und für größere Deutungspotentiale Raum gebe, als der Autor selbst erkennen kann, und dass dieser der schlechteste Interpret seiner selbst ist. Denn eine solche Selbstdeutung nimmt leicht die Form einer Umdeutung an aufgrund einer später erst konstruierten Auffassung seiner eigenen Sichtweise oder Verfasserintention. Es ist hier nicht meine Aufgabe, mich an dieser Diskussion zu beteiligen, sondern ich will stattdessen Kierkegaards rapportierende Mitteilung kritisch ernst nehmen und versuchen, deren architektonischen und strukturell dialektischen Aufbau herauszustellen, wie ihn Kierkegaard selbst in seinem retrograden Verstehen aufdeckt. Und mit dieser aufdeckenden Deutung unterstreicht er, dass hier von einem retrograden Verständnis die Rede ist, das er bestimmt noch nicht hatte, als er 1843 als Autor mit seinem pseudonymen Debütwerk Entweder – Oder und ein paar Monate später mit seiner autonymen Debütschrift Zwei erbauliche Reden begann. 124 Dass die Wiederauflage des pseudonymen Debütwerkes für die Entscheidung Kierkegaards eine ausschlaggebende Rolle spielte, im Sommer 1848 einen solchen Rapport über seine Wirksamkeit als 124 Z. B. schreibt Kierkegaard in einer rekapitulierenden Journalaufzeichnung NB10:38 von Mitte Febr. 1849, er könne nicht genug hervorheben, dass es die ›Lenkung‹ ist, d. h. Gottes Lenkung, die die eigentlich »dirigierende Macht« ist und dass er »auf so verschiedene Weise erst hinterher versteht« (SKS 21, 276 / DSKE 5, 323). Diese Einwirkung der ›Lenkung‹ auf die Wirksamkeit als Schriftsteller kommt in einem ›religiösen Warum‹ zum Ausdruck; dazu heißt es in NB10:185 von Ende März 1849: »Denn ich bin dermaßen Genie, dass ich das Ganze nicht ganz direkt persönlich übernehmen kann, ohne der Lenkung zu nahe zu treten. Jedes Genie ist überwiegend Unmittelbarkeit und Immanenz, hat kein Warum; und es ist daher wiederum meine Genialität, die mich so klar, jetzt im Nachhinein, das unendliche Warum in dem Ganzen sehen lässt; aber dies ist also der Part der Lenkung. Auf der anderen Seite, ich bin nicht dermaßen der Religiöse, dass ich alles direkt auf Gott zurückführen kann.« (SKS 21, 351 / DSKE 5, 413). Vgl. auch »Der Anteil der Weltlenkung an meinem schriftstellerischen Werk«, zweiter Abschnitt, Kap. III im Gesichtspunkt, SKS 16, 50–69 / GWS, 66–87.
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Schriftsteller auszuarbeiten, geht aus folgendem Zitat aus der »Einleitung« zum Gesichtspunkt hervor, wo es heißt: »Es ist in meiner Wirksamkeit als Schriftsteller ein Punkt erreicht, wo es sich machen lässt, wo ich ein Bedürfnis fühle, weshalb ich es denn auch als meine Pflicht ansehe: ein für allemal so geradezu und offen und bestimmt wie möglich zu erklären, wie es damit bestellt ist, was ich behaupte als Schriftsteller zu sein. Der Augenblick ist, wie ungünstig er auch in einem andern Sinne sei, jetzt gegeben, teils weil, wie gesagt, dieser Punkt erreicht ist, teils, weil ich jetzt in der Literatur zum zweiten Male mit meinem Erstling zusammentreffe, mit der zweiten Auflage von ›Entweder – Oder‹, die ich nicht früher habe herauskommen lassen wollen.« 125 Das entspricht in wesentlichen Punkten der früher schon genannten Stelle in NB10:69, wo Kierkegaard explizit sagt, dass er den Gesichtspunkt geschrieben hat, damit er zeitgleich mit der zweiten Auflage von Entweder – Oder erscheinen kann. 126 Der auslösende Faktor, der Kierkegaard im Sommer 1848 dazu veranlasste, mit der Ausarbeitung eines übergeordneten Verständnisses seiner Wirksamkeit zu beginnen, war also die Wiederauflage dessen, was er als den Beginn seines Gesamtwerkes betrachtete. Wenn dies nicht früher geschehen konnte, obwohl Entweder – Oder seit drei Jahren ausverkauft war und Verhandlungen über eine Neuauflage geführt worden waren, so hat dies seinen Grund in dem Verständnis seines Werkes, das Kierkegaard nach und nach gewonnen hatte, dass es nämlich erst jetzt vorliege »in seiner Totalität und das Verständnis etwas Anderes werden könne als Missverständnis.« 127 Jetzt verstand er rückwärts, dass es aufgrund der erbaulichen Reden von Beginn an religiös gewesen ist; genau das wird im Gesichtspunkt als Duplizität des Werkes bezeichnet. Wie in einer Art Programmerklärung für den Gesichtspunkt heißt es dort über seinen Inhalt: »was ich als Schriftsteller in Wahrheit bin, dass ich religiöser Schriftsteller bin und gewesen bin, dass meine gesamte Wirksamkeit in einem Verhältnis zum Christentum steht, zu dem Problem: ein Christ zu werden, mit direkter und indirekter polemischer Sicht auf den ungeheuren Sinnentrug: die Christenheit, oder dass in einem Lande alle einfach so Christen sind.« 128 125 126 127 128
SKS 16, 11 / GWS, 21. Vgl. Anm. 76 mit zugehörigem Text. Vgl. SKS 16, 11 / GWS, 21. Ibid.
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Diese Totalität, wie sie sich in der Struktur des Werkes ausdrückt, ist seine Duplizität, seine Zweideutigkeit oder Komplexität, eine dialektische Spannung zwischen dem Ästhetischen und dem Religiösen, dem Pseudonymen und dem Autonymen. Kierkegaard materialisiert dieses Verständnis in einer Rubrizierung der bisher erschienenen Bücher: »1. Abteilung (ästhetische Produktivität): Entweder – Oder; Furcht und Zittern; Die Wiederholung; Der Begriff Angst; Vorworte; Philosophische Brocken; Stadien auf des Lebens Weg – zusammen mit 18 erbaulichen Reden, die sukzessive erschienen sind. 2. Abteilung: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift. 3. Abteilung (rein religiöse Produktivität): Erbauliche Reden in verschiedenem Geist; Die Taten der Liebe; Christliche Reden – zusammen mit einem kleinen ästhetischen Artikel: Die Krise und eine Krise im Leben einer Schauspielerin.« 129 Die Duplizität zeigt bei ihrem ersten Erscheinen, dass sie nicht zwischen dem ersten und dem zweiten Teil von Entweder – Oder auftritt, sondern gerade in der Dialektik zwischen beiden Bänden von Entweder – Oder in ihrer Werkeinheit und Zwei erbauliche Reden. Eine entsprechende Duplizität versuchte Kierkegaard auf verschiedene Weisen in Verbindung mit der zweiten Auflage von Entweder – Oder zu etablieren, was sich aber erst mit Bezug auf die Begleitung der zweiten Auflage durch die Lilie auf dem Felde machen ließ. Zugleich erreichte Kierkegaard mit der zweiten Auflage auch, dass das, was er die ›ästhetische Produktivität‹ nennt, im zweiten und hauptsächlich christlichen Teil des Gesamtwerkes repräsentiert ist. Auf diese Weise nimmt die zweite Auflage als Wiederauflage eine Sonderstellung ein, die keiner anderen Neuauflage oder Neuausgabe zuerkannt wurde, die zu Kierkegaards Lebenszeit erschien. Häufig wurden solche Wiederausgaben nicht einmal in den Journalen erwähnt. Entweder – Oder hat insofern einen doppelten Sonderstatus: Zum einen führte die Erstauflage zusammen mit Zwei erbauliche Reden als Widerstand die Duplizität zwischen dem ästhetischen und dem religiösen Werk ein, zum anderen war die Wiederauflage zusammen mit Die Lilie auf dem Felde dazu geeignet, die Duplizität festzuhalten, wie sie in den christlichen Teil des Werkes durch die Herausgabe des Feuilletonartikels »Die Krise und eine Krise im Leben einer Schauspielerin« wieder eingeführt wurde: als Begleitung zu den Christlichen Reden 1848, oder vielleicht sogar als mehr oder minder 129
SKS 16, 15 Fn. 1 / GWS, 25 Fn. 1.
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verspäteter Begleiter aller drei christlich-religiösen Schriften nach dem ›Wendepunkt‹ 1846, nämlich Erbauliche Reden in verschiedenem Geist und Die Taten der Liebe 1847 zusammen mit Christliche Reden, die am 25. April 1848 erschienen waren. 130 Dazu heißt es im Gesichtspunkt: »Sowohl am Anfang wie am Ende findet sich also eine Sicherung dagegen, die Erscheinung so zu erklären: dass es ein ästhetischer Schriftsteller sei, der im Verlauf der Zeit sich derart änderte und derart religiöser Schriftsteller wurde. So wie die ›zwei erbaulichen Reden‹ ungefähr 2 à 3 Monate nach Entweder – Oder herauskamen, so erschien jener kleine ästhetische Artikel [»Die Krise und eine Krise«] 2 à 3 Monate nach den rein religiösen Schriften der zwei Jahre. Die zwei erbaulichen Reden und der kleine Artikel stehen in umgekehrter Entsprechung zueinander und beweisen in der Umkehrung, dass die Duplizität sowohl am Anfang war wie am Ende besteht.« 131 Gemäß Kierkegaards Verständnis der dialektischen Struktur seines Gesamtwerkes geht es also darum, dass die sechs Hefte mit erbaulichen Reden von 1843 und 1844 zusammen mit dem Heft der drei Gelegenheitsschriften von 1845 als autonyme Produktivität mit der pseudonymen Produktivität verschlungen sind und laufend die Begleitung einer der pseudonymen Schriften von 1843 bis 1845 übernehmen. Außerhalb dieser Dialektik ist das Pseudonym Johannes Climacus platziert mit dem großen, vorläufig abschließenden Werk der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift, die dafür aber den Wendepunkt im Gesamtwerk vom Ästhetischen und Ethisch-Religiösen zum Christlich-Religiösen darstellt und auf diese Weise das ›Problem‹ der gesamten Wirksamkeit als Schriftsteller par excellence zum Ausdruck bringt: ein Christ in Existenz zu werden. Zugleich tritt damit sowohl die ästhetisch-pseudonyme als auch die religiös-auto130 Der ›ästhetische‹ Artikel »Die Krise und eine Krise im Leben einer Schauspielerin« war als Feuilleton I–IV in Fædrelandet, Nr. 188–191, vom 24.–27. Juli 1848, unter dem Pseudonym Inter et Inter erschienen und sollte Kierkegaard zufolge sein Gesamtwerk gewissermaßen »auf einmal zum Bewusstsein« bringen und »in der Umkehrung an die ›zwei erbaulichen Reden‹« erinnern (SKS 16, 18 / GWS, 28) – das soll vermutlich der Name des Pseudonyms zum Ausdruck bringen, der mit ›zwischen diesem und jenem‹ wiedergegeben werden kann, vgl. SKS K14, 303. Der Feuilletonartikel ist eine theaterkritische Abhandlung über die damals hoch geschätzte und gefeierte königliche Schauspielerin Johanne Luise Heiberg; sie war verheiratet mit dem zu seiner Zeit führenden Experten in Sachen Ästhetik, Professor, Autor, Kritiker, Übersetzer und Herausgeber Johan Ludvig Heiberg. 131 Vgl. SKS 16, 16 f. / GWS, 26 f.
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nyme Produktivität »in sein Bewusstsein«, nämlich in Johannes Climacus’ würdigendem Durchgang durch alle diese Schriften im Anhang »Blick auf ein gleichzeitiges Streben in der dänischen Literatur.« 132 Im Übrigen ist sich Kierkegaard dessen ganz bewusst, dass es ein problematisches Vorhaben war, dafür zu argumentieren, ja, sogar zu versichern, dass der Autor religiöser Schriftsteller von Beginn an gewesen ist. Denn sofern es der Autor selbst ist, der sich auf einen solchen Versuch der Versicherung einlässt, so steht er in der Gefahr, selbst störend in die Dialektik der Produktivität einzugreifen. Deshalb führt Kierkegaard seine Versicherungen so durch, dass er als außenstehende dritte Person auftritt, als ein Leser, der seine Erklärungen aus den Schriften selbst beziehen will, und das auf so überzeugende Weise, dass es selbstevident erscheint. Diese Erklärung ist nicht ohne Probleme. Der Verfasser dieses Aufsatzes hat sich immerhin überzeugen lassen und die Erklärung als Ansatz für ein produktives Verstehen der Totalität des Gesamtwerkes empfunden, seiner dialektischen Struktur und architektonischen Konstruktion. Doch das bedeutet nicht, dass er unkritisch gegenüber der Selbstdeutung als Autor wäre, die Kierkegaard als Leser vornimmt. Das Problematische besteht nicht so sehr darin, dass Kierkegaard seine beiden ersten Schriften von seiner Wirksamkeit als Schriftsteller ausnimmt, 133 sondern darin, dass er Eine literarische Anzeige von 1846 mit der Begründung auslässt, diese Schrift sei von ihm als Kritiker verfasst worden, während er umgekehrt argumentiert, dass »Die Krise und eine Krise im Leben einer Schauspielerin« einen außerordentlich zentralen Punkt in der dialektischen Struktur einnimmt, obwohl die Schrift von ihm ebenfalls als Kritiker geschrieben wurde. Doch diese Argumentation findet sich nicht im Gesichtspunkt, sondern in dem Heft Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller. Hier behauptet er auch, dass der angegebene Verfasser von Zwei kleine ethisch-religiöse Abhandlungen »H. H.« kein Pseudonym, sondern ein Anonym ist, das nicht innerhalb, sondern außerhalb der Totalität des Gesamtwerkes steht, auf das
132 SKS 7, 228–273 / AUN1, 245–296. Vgl. oben die Behandlung des ersten Teils dieses Anhangs. 133 Die literaturkritische Schrift von 1838: Aus eines noch Lebenden Papieren, über H. C. Andersen als Romanautor; und die philosophische Dissertation von 1841: Über den Begriff der Ironie.
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es sich wie eine ›Seemarke‹ zur Navigation des Autors bezieht und damit zugleich die Grenze des Werkes definiert. 134 Der Unterschied zwischen den beiden Schriften besteht doch darin, dass Kierkegaards doppelte Platzierung von Eine literarische Anzeige zum retrograden Verständnis gehört, wonach die kritische Schrift nahezu gleichzeitig mit der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift erscheint und auf diese Weise in das Gesamtwerk eingeordnet wird, und zugleich als Werk des Literaturkritikers und nicht des Schriftstellers betrachtet und auf diese Weise aus dem Gesamtwerk ausgeschlossen wird. Dagegen ist Kierkegaard während der Abfassung und Herausgabe der Zwei ethisch-religiösen Abhandlungen die Rolle und Platzierung dieser Schrift bewusst gewesen. Zurück zum Gesichtspunkt. Im ersten Abschnitt, Kap. B, worin Kierkegaard seine Argumente für die Erklärung, »dass der Verfasser religiöser Schriftsteller ist und gewesen ist«, vorträgt, findet sich auch eine ganze Reihe wesentlicher Äußerungen zu Entweder – Oder, weiterhin nicht als Autor vorgebracht, sondern als ein Mensch, der das Mitgeteilte als seine religiöse Pflicht betrachtet, also fast eine Privatperson, die in dieser Hinsicht dem Gesichtspunkt die Züge einer persönlichen Autobiographie oder einer religiösen Bildungsgeschichte verleiht. Hier nennt Kierkegaard Entweder – Oder eine ›dichterische Ergießung‹, die nicht weiter ging als bis zum Ethischen; also nicht zum Religiösen, während er selbst religiös gesehen schon »ins Kloster« gegangen war, »ein Gedanke, der versteckt war im Pseudonym Victor – Eremita.« 135 Hierauf berichtet Kierkegaard, dass Entweder – Oder direkt bei seinem Erscheinen glücklichen Erfolg hatte, nicht zuletzt »Das Tagebuch des Verführers« – erstaunlich genug – hatte ungeheuren Erfolg und erregte Aufsehen beim Publikum, wo134 Vgl. SKS 13, 12 Note 1, und 16 Note 2 / WS, 4 Note 1, und 9 Note 1. Die kleine anonyme Schrift besteht aus zwei Abhandlungen: »Hat ein Mensch das Recht, sich für die Wahrheit totschlagen zu lassen? Hinterlassenschaft eines alleinstehenden Menschen. Dichterischer Versuch« und »Über den Unterschied zwischen einem Genie und einem Apostel«. 135 SKS 16, 20 / GWS, 31. Victor Eremita bedeutet: der siegreiche Einsiedler oder der, der in der Einsamkeit siegt. – Doch bleibt diese Erklärung nicht ohne Problem, weil gegen Kierkegaard mit gutem Recht behauptet werden kann, dass Entweder – Oder doch insofern das Religiöse erreicht, als der zweite Teil mit einer Predigt schließt, die auch die für zeitgenössische Predigten charakteristischen Züge aufweist, wenn sie auch im Religiös-Erbaulichen verbleibt und nicht das Religiös-Christliche erreicht. Die Predigt trägt den Titel: »Das Erbauliche, welches in dem Gedanken liegt, dass wir Gott gegenüber immer Unrecht haben.«
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hingegen nicht einer da war, der in tieferem Sinne die Zwei erbaulichen Reden bemerkt hätte, geschweige denn, dass sich jemand um das unprätentiöse Heft, das da erschienen war, gekümmert hätte. »Mit der linken Hand reichte ich ›Entweder – Oder‹ hinaus in die Welt, mit der Rechten ›zwei erbauliche Reden‹«, schreibt Kierkegaard und fährt fort: »aber sie griffen alle oder so gut wie alle mit ihrer Rechten nach der linken Hand.« Kierkegaard selbst war entschlossen, sich an die zwei erbaulichen Reden zu halten und mit dem Vorwort der Reden die Situation für »jenen Einzelnen« zu nutzen; und in dem Gedanken: ›der Einzelne‹ im Gegensatz zu ›Publikum‹ konzentriert sich, wie Kierkegaard weiter schreibt, »eine ganze Lebens- und Weltanschauung.« 136 Nach Kierkegaards Analyse der dänischen Christenheit unterliegt diese einer falschen Vorstellung, einer Illusion, dass alle Christen sind, obwohl sie es in Wirklichkeit nicht sind, jedenfalls nicht im Sinne des Neuen Testaments, sondern höchst säkularisierte Kulturchristen, die nach ästhetischen oder im besten Fall nach ästhetischethischen Kategorien leben. Er selbst sah es deshalb als seine Aufgabe an, das Christentum wieder in die Christenheit einzuführen. Und es war seine grundlegende Auffassung, dass eine falsche Vorstellung oder eine Illusion allein auf indirektem Wege aufgelöst werden kann. Dazu musste er als religiöser Schriftsteller, methodisch gesehen, mit einer ästhetischen Prästation beginnen, um die Aufmerksamkeit der Menschen zu gewinnen und mit ihnen in Kontakt zu kommen. War das geschehen – und das war mit Entweder – Oder 1843 der Fall –, so kam es auf den richtigen Zeitpunkt und den richtigen Rhythmus an, um das Religiöse anzubringen und fortgesetzt ins Spiel zu bringen, damit die richtige Wirkung hervorgebracht werden kann. Wenn es einem religiösen Schriftsteller gelingt, mithilfe von ästhetischen Darstellungen einen Menschen zu fangen und zu fesseln, der in der säkularisierten Illusion der Christenheit lebt, ein Christ zu sein, und wenn der religiöse Schriftsteller direkt danach religiöse Darstellungen herausgibt, dann wird die betroffene Person direkt auf die religiösen Kategorien gestoßen. Was dann die weiteren Konsequenzen sein werden, ist nicht vorauszusehen; es bleibt aber die Wirkung, dass diese Person ›aufmerksam gemacht‹ wurde – davon ist Kierkegaard überzeugt, ebenso davon, dass er damit sein erstes Ziel erreicht hat. Ist man einmal auf seine Einbildung oder falsche Vorstellung 136
SKS 16, 21 f. / GWS, 32 f.
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aufmerksam geworden, so lässt sich das nicht mehr wegdenken. Bei diesem Versuch, auf indirekte Weise eine Illusion durch den Einsatz einer ästhetischen Prästation aufzulösen, von der das Publikum gefangen ist, muss der religiöse Autor methodisch gesehen bereit sein, sich selbst unter der Decke der Pseudonymität zu verbergen und zugleich sich strikt dessen bewusst sein, dass das Ästhetische ein Inkognito ist, eine Verbergung für das Religiöse, während das Religiöse das Entscheidende ist. 137 Auf dem Hintergrund von Sokrates behauptet Kierkegaard, dass man einen Menschen, der in einer falschen Vorstellung befangen ist, nur dann in die Wahrheit führen kann – oder wie hier in das Religiöse oder in die religiöse Wahrheit – wenn, als Methode, hineinbetrogen wird. Da die Einbildung sich auf die Verhinderung des Empfangens von Mitteilungen verlegt, bleibt der erste Schritt in dem Sinne negativ, dass es ein methodischer Betrug ist mit der strategischen Funktion, die Einbildung entfernen zu können; der religiöse Schriftsteller darf also nicht direkt mit der religiösen Mitteilung beginnen, sondern er muss beginnen mit dem Eingehen auf die Einbildung, dass das Christliche das Ästhetische ist. Der Betrug liegt also darin, dass der Autor mit dem Ästhetischen beginnt, um zum Religiösen zu gelangen und in weiterer Perspektive zum Christlichen. 138 Als Teil der Konklusion aus den beiden ersten Kapiteln im zweiten Abschnitt des Gesichtspunktes notiert sich Kierkegaard, dass er dank der ersten Ausgabe von Entweder – Oder zum »Liebling des Publikums« geworden war, »wohlangeschrieben bei jedermann als ungeheuer interessant und pikant.« 139 Und im Epilog schreibt er, dass gerade der religiöse Schriftsteller, der mit Entweder – Oder unter der Verbergung der Pseudonymität und im ästhetischen Inkognito hervorgetreten war und dem der Platz des ›Interessanten‹ zuerkannt worden war, gerade er »stand in Pflicht und Dienst des Christentums, hatte ihm sich geweiht seit dem ersten Augenblick, da er jene pseudonyme schriftstellerische Wirksamkeit begann, eben er kämpfte in sich selber und als Schriftsteller darum, es an den Tag zu bringen, dies Einfältige: Christ zu werden.« 140 Also ist die Bewegung in der Totalität des Gesamtwerkes, retrograd gesehen, die vom Interessanten zum 137 138 139 140
Vgl. SKS 16, 29–34 / GWS, 41–47. Vgl. SKS 16, 35–37 / GWS, 47–49. SKS 16, 43 / GWS, 57. SKS 16, 72 f. / GWS, 90 f.
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Einfältigen, d. h. dazu, Christ zu werden. Der Wendepunkt ist, wie früher schon gesagt, die Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift, die das Christwerden zum Problem des Gesamtwerkes erhebt. Auf dem Weg dahin hat Kierkegaard im Abschnitt über den Anteil von Gottes Lenkung an seinem Werk 141 Johannes Climacus’ Auslegung von Entweder – Oder mit einbezogen und in der WerkPerspektive von 1843 bis 1846 gesehen, besonders Climacus’ Herausstellung des Übergangs vom ersten zum zweiten Teil von Entweder – Oder, nämlich von »einer Dichter-Existenz zu einem ethischen Existieren«. 142 Zum Schluss referiert Kierkegaard gleichfalls auf Entweder – Oder, das Wort des Ästhetikers A im ersten Teil, den ersten Diapsalm, nicht Dichter sein zu wollen, und auf den Ethiker B, seine Zustimmung mit der Betonung auf der Richtigkeit dessen, dass ein Mensch wegkommen muss vom Dichtersein und von dem, worüber der Dichter schreibt, und hineinfinden muss in das Existentielle, hier in der Bedeutung des Ethischen. Worauf Kierkegaard in einer Fußnote die Perspektive noch erweitert und anführt, dass diese Bewegung vom Dichter zum religiösen Existieren, wie es sich in anderen pseudonymen Schriften findet, entsprechend dem Gegensatz zwischen dem Philosophischen oder Systematischen und dem Einfältigen oder Existentiellen, dass dies die grundlegende Bewegung seiner Wirksamkeit als Schriftsteller total betrachtet ausmacht. 143 Man sieht wiederum, wie Kierkegaard entscheidende Linien von Entweder – Oder, dem Beginn des Gesamtwerkes, bis in die christlichen Schriften nach der Nachschrift zieht; hier z. B. Die Taten der Liebe, 144 worin der ›Dichter‹ als ›terminus a quo‹ für das christlichreligiöse Existieren eingesetzt wird. Nun im Blick auf die »Rechenschaft«, den Hauptteil von Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller, findet sich dort gleich zu Beginn eine vollständige Parallele, aber noch prägnanter eine Beschreibung der dialektischen Bewegung, die das Gesamtwerk ausmacht: »vom ›Dichter‹ – vom Ästhetischen, vom ›Philosophen‹ – vom Spekulativen zur Andeutung der innerlichsten Bestimmung des Christlichen: vom pseudonymen ›Entweder – Oder‹ durch die ›AbschlieVgl. SKS 16, 50–69 / GWS, 66–87. SKS 16, 57 Note 1 / GWS, 73 Note 1. 143 Vgl. SKS 16, 100 f. / GWS, 115. 144 Kierkegaard verweist auf Die Taten der Liebe, erste Folge, Nr. II.A und II.B, SKS 9, 25–67 / LT, 21–69. 141 142
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ßende Nachschrift‹, mit meinem Namen als Herausgeber, zu den ›Reden beim Abendmahl am Freitag‹, wovon die ›zwei‹ in der Frauenkirche gehalten worden waren. Diese Bewegung ist uno tenore zurückgelegt oder beschrieben, in einem Atemzug, wenn ich so sagen darf, so dass das Gesamtwerk, total betrachtet, religiös ist vom Anfang bis zum Ende, etwas, was jeder, der sehen kann, auch sehen muss, wenn er sehen will.« 145 Etwas von dem, was Kierkegaard selbst in seinem retrograden Verständnis der Strategie des Gesamtwerkes erkennt, ist die Bedeutung der pseudonymen Schriften als ›Mäeutik‹. 146 Das versteht er so, dass das Mäeutische zwischen der pseudonymen Produktivität als Beginn (und so nicht zuletzt zwischen Entweder – Oder, dem pseudonymen Erstlingswerk) und der direkt religiösen Produktivität als Telos liegt. Deshalb ist es ihm wichtig, mit seinem retrograden Verständnis die Gleichzeitigkeit zwischen Entweder – Oder als ästhetischem Werk und Zwei erbaulichen Reden 1843 als religiöser Schrift zu unterstreichen; und in weiterer Perspektive die Bedeutung der fortgesetzten Gleichzeitigkeit des Religiösen mit dem Pseudonymen, weil alle pseudonymen Bücher von 1843 bis 1845, also bis zur Nachschrift, in Begleitung der übrigen fünf Hefte mit erbaulichen Reden 1843–44 und dem Heft mit Gelegenheitsreden 1845 erschienen sind. 147 Das Mäeutische, so lässt sich sagen, liegt hier schon in dem Ausdruck ›entweder – oder‹, was als Buchtitel so verstanden werden kann, dass weder der erste noch der zweite Teil je für sich oder beide zusammen eine eindeutige existentielle Botschaft darstellen oder eine eindeutige Antwort darauf, wie man sich zum Religiösen verhalten soll. Gerade deshalb stellen sich Fragen, die bei dem einzelnen Leser Antworten hervorrufen sollen. Auf diese Weise werden die Menge oder das Publikum aufgesprengt in einzelne Menschen, und gerade der Einzelne ist der bevorzugte Leser der direkten religiösen und erVgl. SKS 13, 12 / GWS, 4 f. Mäeutik kann mit ›Hebammenkunst‹ wiedergegeben werden. Das Wort stammt aus dem griechischen ›maieúesthai, erlösen (eine Gebärende)‹ und verweist auf Sokrates’ Hebammenkunst, die darin bestand, im Gespräch einen anderen erlösen zu können, der zuvor schon mit einem Wissen schwanger ging, das er bloß vergessen hatte und bei dessen Wiedergewinnung er sich helfen lassen musste, vgl. z. B. Platons Dialog Theaitetos, 148e – 151d. Vgl. hierzu auch die undatierte Aufzeichnung NB20:5, vom Juli 1850, SKS 23, 392 f. / T4, 205 f. 147 Vgl. SKS 13, 13–15 / GWS, 5–7. 145 146
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baulichen Reden. Deshalb kann Kierkegaard darauf verweisen, dass das kleine Buch Zwei erbauliche Reden 1843 die Formel einführte: Das Buch suche »jene/n Einzelne/n, die ich mit Freude und Dankbarkeit meine/n Leser/in nenne«, eine Formel, die stereotyp in allen folgenden Heften oder Büchern mit erbaulichen Reden wiederholt wird. 148 Entweder – Oder ist also das Werk, das mäeutisch begann 149, mit einer »Sensation, und dem, was dazu gehört, dem Publikum, das jederzeit dabei ist, wo etwas im Gange ist; und die Bewegung war, mäeutisch, die ›Menge‹ abzuschütteln, um ›den Einzelnen‹ zu fassen zu bekommen, ›den Einzelnen‹ im religiösen Sinn.« Und genau in dieser Zeit, die durch die Sensation geprägt war, verursacht durch Entweder – Oder, lässt Kierkegaard die beiden Reden erscheinen, deren Vorwort die schon genannte Formel ›jener Einzelne‹ enthält. 150 Genau das bezeichnet Kierkegaard als dialektische Bewegung oder schlecht und recht »das Dialektische: beim Arbeiten zugleich sich selbst entgegenzuarbeiten«, was er auch Reduplikation oder Verdoppelung nennt. Darin liegt der Ernst und das ist der Ausdruck für die Ungleichartigkeit zwischen dem wahrhaft gottesfürchtigen und dem weltlichen Streben. Gerade das Dialektische der Ungleichartigkeit zwischen Arbeiten und Sich-selbst-Entgegenarbeiten nennt er ›das Umgekehrte‹. 151 Damit haben wir schließlich das erreicht, was Kierkegaard in der Aufzeichnung NB:194 über den Brief von Chr. Molbech »Dialektik der Umkehrung« genannt hat. 152 Wie erinnerlich stellt Kierkegaard in dieser Aufzeichnung die Dialektik der Unmittelbarkeit der Dialektik der Umkehrung gegenüber, und er verschärfte diese Dialektik noch im Blick auf einen Autor, in casu ihn selbst (als Verfasser von Entweder – Oder), dessen Werk beim Publikum schnell große Popularität gewann. Aus der Sicht der Dialektik der Unmittelbarkeit ist das als ein Erfolg für den Autor einzustufen, aber aus der Sicht der Dialektik der Umkehrung soll der Autor jetzt sich selbst entgegenarbeiten, um weniger Leser anzuziehen, oder anders ausgedrückt, um ›den Einzelnen‹ zu fassen zu bekommen. Das ›Umgekehrte‹ bedeutet also,
148 149 150 151 152
Vgl. SKS 13, 16 und SKS 5, 13 / WS, 8 und 2R43, 381. Vgl. SKS 16, 43 / GWS, 56. Vgl. SKS 13, 15 f. / WS, 7 f. SKS 13, 15 f. Note / WS, 8 Note 1. Die Aufzeichnung stammt von Ende April 1847, SKS 20, 116 / DSKE 4, 129.
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beim Arbeiten sich selbst entgegenzuarbeiten, wie der »Druck auf den Pflug, der die Tiefe der Furche bestimmt«. 153 In einer längeren undatierten Aufzeichnung, NB16:88, um den 1. März 1850, worin Kierkegaard in der Rückschau und zusammenfassend über Entweder – Oder im Verhältnis zu dieser seiner reduplizierenden oder die Umkehrung praktizierenden Dialektik schreibt, beschreibt er das unmittelbare Streben, das beim Arbeiten sich selbst nicht entgegenarbeitet, als »bloßes darüber Hinweggleiten«. 154 Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Entweder – Oder in den beiden Hauptschriften über die Wirksamkeit als Schriftsteller, sowohl zu Beginn als auch zur Wiederausgabe, ganz wesentliche Bedeutung zukommt, ein zentraler Platz in der religiösen Strategie des Gesamtwerkes. Es ist deshalb auch berechtigt zu sagen, dass so wie die Idee der Wiederauflage von Entweder – Oder die produktive Kraft für die Entstehung des Gesichtspunktes war, so war die Realisierung der zweiten Auflage des Werkes zugleich der wirksame Faktor in der Erarbeitung der »Rechenschaft«. Das belegt unmittelbar der mit größeren Buchstaben und doppelseitig gesetzte Text am Ende der »Rechenschaft«, zu der es heißt, dass »diese kurze Mitteilung zuallernächst dadurch« veranlasst ist, »dass das erste Stück des Gesamtwerkes jetzt zum zweiten Mal erscheint: die neue Auflage von ›Entweder – Oder‹, die ich nicht früher habe ausgehen lassen wollen.« 155 Es sind auch diese beiden wesentlichen Seiten, auf denen Kierkegaard am kürzesten und klarsten formulieren kann, worin die eigentliche religiöse Strategie des Gesamtwerkes besteht: »›Ohne Mündigkeit‹ aufmerksam zu machen auf das Religiöse, das Christliche, das ist die Kategorie für meine Wirksamkeit als Schriftsteller total betrachtet.« Und an gleicher Stelle kann er ebenso prägnant seine eigene religiöse Bildungsgeschichte als integrierten Teil seines Wirkens darstellen, wenn er kurz gefasst »die ganze Wirksamkeit als Schriftsteller [als] meine eigene Erziehung und Entwicklung« bezeichnet. 156
153 154 155 156
Vgl. SKS 13, 15 Note / WS, 8 Note 1. Vgl. SKS 23, 153. Vgl. SKS 13, 18 / WS, 10. Vgl. SKS 13, 19 / WS, 10.
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Wahrhaftigkeit zwischen Offenbarung und Verbergung Entweder – Oder im Lichte von Kierkegaards ›Gesichtspunkt‹ – und umgekehrt Magnus Schlette
Oktober 1687: August Hermann Francke, Magister der Philosophie und Student der Theologie an der Leipziger Universität, macht sich zu einer Reise nach Lüneburg auf, um sich dort von dem Superintendenten Caspar Hermann Sandhagen in exegetischen Übungen unterweisen zu lassen. Francke wird im Hause des Superintendenten herzlich empfangen und gebeten, sich in der örtlichen Gemeinde mit einer Predigt einzuführen. Der Gast nimmt sich vor, »von einem wahren lebendigen Glauben zu handeln und wie solcher von einem bloßen menschlichen und eingebildeten wahn-Glauben unterschieden sey.« 1 Zu dem Einstand wird es nicht kommen. Während der Vorbereitung auf die Predigt stellt Francke nämlich bestürzt fest, selber nicht zu haben, wozu er von der Kanzel herab die Gläubigen ermahnen will. Religiöse Selbstzweifel, die ihn seit Jahr und Tag begleiten, leben wieder auf, heftiger denn je, und entfachen eine schwere Glaubenskrise. Francke tritt von der Predigt zurück, stürzt in eine Zeit tiefster Selbstinfragestellung, aus der er schließlich durch Gottes Gnade erhoben und zum Sieg über die Anfechtungen der Reflexion geführt wird. – So steht es in seinem Lebenslauf, den er etwa vier Jahre später, im Alter von 27 Jahren, verfasst hat. Die Lüneburger Szene ist von geradezu emblematischer Bedeutung. Francke, wie er sich von den »gottseligen Leuten« auf seine Stube zurückzieht, um innerhalb der engen vier Wände Halt vor dem Schwindel zu finden, der ihn bedrängt wie beim Blick von einem hohen Turm herab und mit einer Mischung aus Angst und Faszination in die Infragestellung seiner gesamten Existenz hineintreibt – Francke pointiert in seinem Lebenslauf nicht weniger als die Dynamik des modernen Strebens nach Wahrhaftigkeit: dass mir das Wort, »H. M. August Hermann Franckens … Lebenslauff«, in: August Hermann Francke, Werke in Auswahl, hg. v. E. Peschke, Berlin 1969, S. 26.
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Wahrhaftigkeit zwischen Offenbarung und Verbergung
das ich spreche, zum lebendigen Ausdruck dessen gereiche, der ich bin, und dass wer immer ich sein werde, für das gesprochene Wort einstehen möge. Denn wahrhaftig sein heißt: im gesprochenen Wort einerseits mich auszusprechen, das aber andererseits auch nur zu tun, sofern ich mich von diesem Wort zugleich auch ansprechen lasse, mich nämlich von ihm aufgefordert fühle, seinem Gehalt zu entsprechen. Francke bekennt in seinem Lebenslauf die Liebe zum Wort Gottes – und zwar »von Kindesbeinen an« 2, aber anders als im Falle leidenschaftlicher Hingezogenheit zu einem anderen Menschen ist diese Liebe mehr als ein schicksalshaft anmutendes Ereignis; es ist die Forderung einer individualisierten Gottesbeziehung, in die Francke sich seit frühester Jugend im Geiste von Johann Arndts Wahrem Christentum eingelebt hat. ›Wahres‹ Christentum ist Arbeit an der Wahrhaftigkeit, Arbeit daran, dass das Bekenntnis zum Wort Gottes unwillkürlicher Ausdruck des Selbst sei, so innig und verbindlich, dass es den Bekennenden zu einem immer tieferen Verständnis des Bekenntnisses zu erziehen vermöge und auf diesem Wege erneuere. ›Wahres Christentum‹ ist Arbeit an der Kongruenz von Innen und Außen. Aber Francke musste wiederholt – und nirgends dramatischer als in der Lüneburger Szene – sich ängstigen, dass seine Suche nach dem rechten Gottesverhältnis, so sehr er sich auch darum bemühte, »dennoch mehr im äusserlichen als im innerlichen« 3 bestand. Dieser Verdacht ist beharrlich, muss es auch sein. Denn die Innerlichkeit, die sich noch nicht ausgesprochen hat, bleibt in ihrer Vorsprachlichkeit unwägbar. Und so ist es aus intrinsischen Gründen immer fraglich, ob sie sich im gesprochenen Wort als sie selbst ausgedrückt oder unter einer Maske verborgen hat. Maskiert sich mit dem gesprochenen Wort menschliche Schwäche, Unlauterkeit oder gar Bösartigkeit? Das sind Kants Worte in seiner Religionsschrift für das böse Herz, das dem Hange erliegt, bei äußerlich integrer Lebensführung das Geforderte als Triebfeder des Willens den Leidenschaften hintanzusetzen. 4 Arbeit an der Wahrhaftigkeit, Arbeit an der Kongruenz von Innen und Außen, wird zur Arbeit gegen den Verdacht, wird zur Arbeit daran, sich gleichsam in die Selbstgewissheit hineinEbd., S. 6. Ebd., S. 14. 4 Vgl. Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Erstes Stück, in: Kants Werke, Akademie-Textausgabe, Bd. 6, Berlin 1968, S. 1–202. 2 3
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zuverdächtigen. So emblematisch wie die Lüneburger Szene, so wirkungsgeschichtlich signifikant ist daher auch der Lebenslauf, der sie schildert: Das ›wahre‹ Christentum initiiert eine Lebensgeschichte, in der sich der Gläubige an dem Anspruch der Wahrhaftigkeit abarbeiten muss – ›Lebensgeschichte‹ wohl verstanden in dem doppelten Sinne des Lebensvollzugs und seiner narrativen Repräsentation. Der größte anzunehmende Unfall einer solchen Lebensgeschichte wäre es, schlechterdings keinen Grund für den Selbstverdacht zu haben. Denn vielleicht spricht sich das Selbst nur deshalb wahrhaftig im rechten Wort aus, weil es bisher keinerlei Anlass dazu hatte, es nicht zu tun. Auffällig sind Franckes autobiographische Stilisierungen jugendlicher Belanglosigkeiten zu existentiellen Anfechtungen. Der Autobiograph muss aus dem Auf und Nieder des Ringens um das ›wahre‹ Christentum Evidenzen dafür gewinnen, dass die Kongruenz von Innen und Außen die Leistung eines Bewährungskampfes ist. Alles andere wäre ihm unglaubwürdig, es wäre wahrscheinlicherweise bloßer Scheinglaube. Der Anspruch der Wahrhaftigkeit nötigt ihn, sein Leben als Folge von Krisensituationen zu verstehen, in denen die Wechselbeziehung von Selbst und Wort sich zu bewähren hat. Die durch das Wort Gottes vermittelte Kongruenz von Innen und Außen setzt den einzig gültigen Maßstab richtigen Lebens: den Maßstab eines explorativen Selbstverhältnisses, das sich in einer Sukzession von Anlässen kritischer Reflexion auf den Stand der christlichen Persönlichkeitsbildung zum Christsein emporarbeitet. Das hat nichts zu tun mit simpler Werkgerechtigkeit; die guten Taten könnten sich auch einer legalistischen Auslegung des Geforderten verdanken, wie es Kant immer wieder betont hat. Die Lüneburger Szene ist emblematisch, weil sie sinnbildhaft die Struktur eines praktischen Selbstverhältnisses veranschaulicht, das wesentlich bestimmt ist durch den Anspruch der Wahrhaftigkeit im Streben nach einer ideell vermittelten Kongruenz von Selbst und Wort, von Innen und Außen, von Wille und Wahrheit. Diese Struktur beinhaltet die Disposition zur methodischen, das heißt vorsätzlichen und planvollen Konfrontation möglicher Krisensituationen der Selbstinfragestellung, der Selbstverwirklichung durch Bewährung und der Selbstverständigung im Medium der autobiographischen Form. Meine These lautet, dass Sören Kierkegaards Denkungsart diese Struktur in der Entwicklung seines Werkes sowohl verkörpert als auch theoretisch reflektiert hat. Und es ist kein Zufall, dass ein Mensch, der sich wesentlich als religiöser Schriftsteller ver84 https://doi.org/10.5771/9783495820506 .
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standen hat, zum Begründer des existenzphilosophischen Denkens geworden ist. Das Vermittlungsglied zwischen religiöser Selbstvergewisserung und existenzphilosophischer Reflexion ist die autobiographische Form. Ich möchte diese These im Folgenden kursorisch plausibilisieren, indem ich mich zunächst mit dem Aufbau des Gesichtspunkts über meine Wirksamkeit als Schriftsteller befasse (I) und dann die Perspektiven dieses späten, Kierkegaards Werkentwicklung beschließenden Textes und die ihres Anfangs, seiner Erstlingsschrift Entweder – Oder, ineinander spiegele (II).
I. Der Gesichtspunkt ist von Kierkegaard zur Veröffentlichung nach seinem Tode bestimmt und durch seinen Bruder 1859 herausgegeben worden. Folgen wir Kierkegaards eigenen Worten im Gesichtspunkt, dann handelt es sich bei dem kleinen Buch um die abschließende Darstellung seines Selbstverständnisses als eines religiösen Schriftstellers. Der Gesichtspunkt nimmt von Ferne Anleihen an die Gelehrtenbiographie, deren Genre ihren Verfassern zur Rechtfertigung ihrer Werkentwicklung vor dem Forum der kollegialen Kritiker diente. 5 Auch Kierkegaard bemüht sich offensichtlich, die Eigenart seines Œuvres vor der Nachwelt zu rechtfertigen, sogar mit einer geradezu irritierenden Beflissenheit, die er dabei an den Tag legt, den Verdacht zu entkräften, was er über sein Werk zu sagen habe, rücke die tatsächlichen Verhältnisse vielleicht nur in ein dem Autor nachträglich passendes Licht. Schon der Titel suggeriert eine objektivierende Stellung zu den Niederungen der Werkentwicklung. So spielt er auf den Begriff des Scopus an, der von Philipp Melanchthon über Matthias Flacius bis Johann Conrad Dannhauer und darüber hinaus zum Grundbesteck hermeneutischer Methodenlehre gehört hat. »Das erste, worauf es ankommt, ist die hauptsächliche Absicht und«, so Melanchthon, »der zentrale Gesichtspunkt oder, wie wir es nennen, der Scopus der Rede.« 6 Der Gesichtspunkt einer Rede bzw. eines
5 Vgl. Günter Niggl, »Einleitung«, in: ders. (Hg.), Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt 1989, S. 1–21. 6 Philipp Melanchthon, Rhetorik, zit. n. Hans-Georg Gadamer, »Rhetorik und Hermeneutik (1976)«, in: ders., Wahrheit und Methode. Ergänzungen, 2. Aufl., Tübingen 1993, S. 282.
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Textes ist der Schlüssel zur Einheit des Werkes, und um die Betonung dieser Einheit bemüht sich auch Kierkegaard. Mit der Niederschrift des Gesichtspunkts habe er gewartet, bis das schriftstellerische Werk »in seiner Ganzheit« vorlag (GWS, 21). 7 Die Pointe der Schrift liegt nun in dem Bestreben, diese Ganzheit als Einheit aufzuweisen, in der die verschiedenen Aspekte des Werks, vor allem aber die Pluralität teils pseudonymer Perspektiven auf ein zentrales Thema ausgerichtet sind und in dieser Ausrichtung sowohl ein eindeutiges Ziel verfolgen als auch gleichsam arbeitsteilig ihren angemessenen Ort einnehmen. Wer daran zweifle, dem könne er, Kierkegaard, nachweisen, dass es sich genau so verhalte, wie er es darstelle. Und jeder Leser werde doch wohl einräumen: »wenn man in Beziehung auf eine Erscheinung zeigen kann, daß sie sich auf andere Weise nicht erklären lasse, daß sie sich dagegen auf diese Weise Punkt für Punkt erklären lasse, oder daß diese Erklärung Punkt für Punkt zutreffe, so ist die Richtigkeit dieser Erklärung so einleuchtend dargetan wie die Richtigkeit einer Erklärung sich überhaupt dartun läßt« (GWS, 29). »Punkt für Punkt« erzeugt das Inhaltsverzeichnis der Schrift denn auch die Anmutung, es werde nun kurzer Prozess mit allen noch so schillernden Zweideutigkeiten des Œuvres gemacht: auf A folgt B und auf B der zweite Abschnitt, wiederum in alphabetisierter Folgerichtigkeit; und für den Fall, es könne ein Leser dem Autor immer noch Schlamperei in der Rekonstruktion seines Lebenswerks nachweisen, greift Kierkegaard dann sogar auf die Paragrapheneinteilung zurück, als ob es gelte, eine wissenschaftliche These zu verteidigen. Was anderen Autoren vielleicht ihr persönlichstes Zeugnis wäre, die autobiographische Besinnung auf das Lebenswerk, kündigt Kierkegaard als seine geradezu unpersönlichste Schrift an: »Vermag ich nicht in Eigenschaft eines Dritten, als Leser, aus den Schriften selber darzutun, daß es so ist wie ich sage, daß es anders nicht sein kann: so könnte es mir nie beikommen gewinnen zu wollen, was ich derart als verloren ansehe« (GWS, 28). Frei nach Hegels Diktum, alles, was von ihm selbst stamme, sei falsch, mutet Kierkegaard den Lesern seines Gesichtspunkts doch tatsächlich die Behauptung zu, alles daran, was nicht ein x-beliebiger anderer Leser auf der Basis einer gründlichen Werkkenntnis hätte schreiben können, sei dieser autobiographischen SelbstverDie Werke von Kierkegaard werden nach der von Emanuel Hirsch initiierten Ausgabe der Gesammelten Werke im Eugen Diederichs Verlag, Düsseldorf 1957 ff., zitiert.
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gewisserung entbehrlich. Das ist in der Tat ein starkes Stück und der Leser wird von der Ahnung beschlichen, er gehe Kierkegaard wieder einmal auf den Leim. So eindeutig die Zweideutigkeiten des pseudonymen Werks sind, so zweideutig ist die zur Schau gestellte Eindeutigkeit der paragraphengestützten Beweisaufnahme im Gesichtspunkt. Aber was gibt Kierkegaard denn überhaupt so eindeutig als Thema und Ziel seines Œuvres aus? Was soll sich »Punkt für Punkt« nachweisen lassen? Die Antwort auf diese Fragen finden wir Kierkegaard zufolge schon im Auftakt der Werkentwicklung: in dem Doppelpack von Entweder – Oder und den Zwei erbaulichen Reden von 1843. Pointiere Entweder – Oder in einer für die weitere Werkentwicklung gültigen Weise das Thema des Selbstseinkönnens menschlicher Existenz, so steckten bereits die Zwei erbaulichen Reden mit einer Meditation auf das Christwerden das Ziel dieser Werkentwicklung ab; sie besteht Kierkegaard zufolge darin, die Scherblätter von Thema und Ziel zusammenzuziehen, das Thema schrittweise auf das im Vorgriff der erbaulichen Reden bereits präsente Ziel hin engzuführen. Nur durch den Vollzug des Christwerdens ist Selbstseinkönnen demnach möglich. Diese Einsicht habe dem Adressaten des Werks, laut Kierkegaard der bestehenden Christenheit, vornehmlich der dänischen und insbesondere derjenigen im Kopenhagen der vierziger Jahre, allerdings indirekt mitgeteilt werden müssen. Denn die Mehrheit der Christen befinde sich in einer Täuschung über ihre eigene Christlichkeit und verwechsele ihre hedonisierende Spießbürgerlichkeit mit dem Christsein – und zwar unter offiziellem Segen der Kirche. Die irreführenden Maximen bloß vermeintlichen Selbstseinkönnens sollten zunächst wertfrei, gleichsam aus dem dichterisch imaginierten Zentrum der ihnen entsprechenden Lebensform heraus unter den camouflierenden Namen pseudonymer Herausgeber und Autoren entfaltet werden; die Leser der bestehenden Christenheit würden sich dann, so die Erwartung Kierkegaards, diesen geheimnisvollen Pseudonymen interessiert zuwenden, daraufhin von den immanenten Widersprüchen des Dargestellten irritiert werden und den Grund ihrer anfänglichen Sympathie auf die eigene existentielle Verstrickung in die dargestellte Lebensform zurückführen; schließlich wären sie, wenigstens für einen wertvollen Augenblick der Verblüffung, bevor das Besser- und Bescheidwissen wieder einsetzt, aufmerksam auf ein Andersseinkönnen. Der Autor als versierter Seelen87 https://doi.org/10.5771/9783495820506 .
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analyst ergreife diesen Augenblick beim Schopfe und souffliere dem vorübergehend orientierungslosen Scheinchristen die zunächstliegende, wenn auch immer noch fehlgeleitete Option des Andersseinkönnens, um eine erneute Runde der Reflexion zu initiieren, in der sich auch die Schwächen dieser Alternative herausstellen – und so weiter, immer näher an die christliche Option heran, bis dass der Leser schließlich so weit ist, mit dem Ansinnen des Christwerdens konfrontiert zu werden; Kierkegaard nennt dies das »Hineintäuschen« des Lesers »in das Wahre« (WS, 6). Als unbeirrbarer Pol der Stetigkeit und Verlässlichkeit zeichne er, so Kierkegaard, in diesem Reigen der Pseudonyme allein die erbaulichen Reden mit seinem eigenen Namen, ein religiöser Schriftsteller, der bereits dort ist, wo er die anderen erst noch hinführen will. Franckes glaubensvirtuose Selbstdisziplinierung zur Hineinverdächtigung in die Gnadengewissheit und Kierkegaards List der Hineintäuschung der Scheinchristen in das Wahre haben bei aller Differenz den Anspruch religiöser Wahrhaftigkeit gemeinsam, die sich in Krisensituationen bewähren muss und auf diesem Weg eine Bildungsgeschichte initiieren möge. In beiden Fällen wird die gleichsam naturwüchsige Religiosität: die Religiosität von Tradition und Sitte, der persönlichen Herkunft und alltäglichen Bewandtnis als Schein decouvriert, in beiden Fällen soll das Subjekt mit der Unwillkürlichkeit seiner religiösen Artikulation brechen; in beiden Fällen soll es mit der Inkongruenz von Innen und Außen, von Selbst und Wort, von Wille und Wahrheit konfrontiert werden und in beiden Fällen wird diese Konfrontation als unabdingbar für das ›wahre‹ Christentum verstanden; in beiden Fällen wird das Christsein schließlich und durchaus folgerichtig zum Christwerden prozessualisiert, zu einem Vollzug, dessen Dynamik sich aus der nur asymptotisch aufhebbaren Inkongruenz von Selbst und Wort speist, aus Selbstvervollkommnung, aus Selbstverwirklichung. Dem Lebenslauf Franckes, das heißt seiner autobiographischen Darstellung korrespondiert demnach die biographische Anmutung der Werkentwicklung Kierkegaards: Das Auf und Ab des Bewährungskampfes wird in das Ensemble von dichterisch evozierten Charakteren zerlegt, die wir uns als personalisierte Bewährungskonstellationen vorstellen müssen, in die der Leser des Werks hineingeführt wird. Der implizite Leser Kierkegaards begegnet bei der Lektüre von dessen Schriften in den Spiegelbildern der literarischen Persönlichkeiten sich selbst, und zwar jeweils derjenigen seiner verborgenen Seiten, die sich im Prozess der Aneignung des Ge88 https://doi.org/10.5771/9783495820506 .
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lesenen hervorkehren – angefangen beim Ästhetiker A und dem Gerichtsrat aus Entweder – Oder. Gewiss, Franckes Lebenslauf ist später zu einem mentalitätsgeschichtlich unüberschätzbaren Muster des christlichen Bewährungskampfes stilisiert und als solches gelesen und nachgeahmt worden. Aber in erster Linie bleibt er doch Franckes Lebenslauf und daher in erster Linie der Ausdruck seiner religiösen Selbstvergewisserung. Bei Kierkegaard scheint es sich anders zu verhalten. Selbst wenn wir zu konzedieren bereit sind, dass die Werkentwicklung eine gleichsam fiktional-biographische Tiefenstruktur besitzt, wird sie damit noch nicht zu einer Form der autobiographischen Selbstvergewisserung. Und bemüht Kierkegaard sich im Gesichtspunkt nicht unmissverständlich, statt der Selbstvergewisserung die Leserorientierung als Pointe seiner Schriftstellerei auszuweisen? Seine literarische Produktion erklärt er mit dem ungeheuerlichen Sinnentrug der bestehenden Christenheit. Wenige Jahre zuvor, in dem Anhang »Eine erste und letzte Erklärung« zum zweiten Band der Unwissenschaftlichen Nachschrift hatte Kierkegaard sogar mit apodiktischem Ton verlautbart: »Es ist also in den pseudonymen Büchern nicht ein einziges Wort von mir selbst; ich habe keine Meinung über sie außer als Dritter, kein Wissen um ihre Bedeutung außer als Leser, nicht das entfernteste private Verhältnis zu ihnen …« (AUN2, 340). Ist das wahr? Dem Leser des Gesichtspunkts fällt auf, dass das Buch einen Aufbau hat, der in der Einteilung des Inhaltsverzeichnisses nicht, jedenfalls nicht offensichtlich abgebildet wird. Nachdem der erste Abschnitt der Schrift mit der bereits erwähnten objektivierenden Akribie nachzuweisen beansprucht, dass Kierkegaard von Anbeginn seines Schaffens religiöser Schriftsteller gewesen und es nicht etwa erst im Fortgang der Pseudonyme geworden sei, überrascht den Leser der zweite Abschnitt unter dem Titel »Die gesamte Wirksamkeit als Schriftsteller dahin verstanden und unter den Gesichtspunkt gestellt, daß der Verfasser religiöser Schriftsteller ist« mit einer Aufeinanderfolge von Stufen der Selbstthematisierung in Kierkegaards Darlegung seines Werkverständnisses. Die erste Stufe bildet das erste Kapitel des zweiten Abschnitts, das sich mit dem Verhältnis zwischen dem Werk und seinem Adressaten befasst; hierher gehört Kierkegaards ausführliche Erläuterung der Strategie, seine Zeitgenossen in das Wahre hineinzutäuschen. In diesen Passagen hält er sich ganz aus der pseudonymen Werkentwicklung heraus. Die zweite Stufe wird vom zweiten Kapitel dieses Abschnitts formuliert; es thematisiert 89 https://doi.org/10.5771/9783495820506 .
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das Entsprechungsverhältnis von Werkintention und persönlicher Existenzweise. Hier erfahren wir, wie sich Kierkegaard in seinem persönlichen Verhalten gegenüber der potentiellen Leserschaft der jeweiligen Mitteilungsform seiner Bücher angepasst hat. Auf der dritten Stufe schließlich, die das dritte Kapitel unter dem bezeichnenden Titel »Der Anteil der Weltlenkung an meinem schriftstellerischen Werk« erreicht, wird das Verhältnis zwischen Werk und Existenz als ein Ausdrucksverhältnis, aber in umgekehrter Richtung pointiert: das Werk als Manifestation einer Lebensaufgabe, mehr noch, als Vollzug dieser Lebensaufgabe, genauer: die religiöse Schriftstellerei als Vollzug des Christwerdens. Die Stoßrichtung dieser Stufung wird bereits in den einleitenden Bemerkungen zu dem zweiten Kapitel vorgegeben, und zwar im Widerspruch zu der von Kierkegaard beförderten Deutungshypothese, die pseudonymen Schriften enthielten kein einziges Wort von ihm selbst: »Man hat in diesen Zeiten«, schreibt er dort, »und zwar schon seit langen Zeiten die Vorstellung davon verloren, daß Schriftsteller sein ist und sein soll ein Handeln und darum ein persönliches Existieren« (GWS, 51). Der typische zeitgenössische Leser richte sich »bloß nach dem Was, dem Objektiven« (52) – man könnte auch sagen: nach dem propositionalen Gehalt des Mitgeteilten – und setze entsprechend den Autor auf »ein X, ein unpersönliches Etwas« herab (ebd.). Kierkegaards Diktum, dass die Schriftstellerei eine Art des persönlichen Existierens sei, pointiert den Anspruch der Wahrhaftigkeit im Streben nach einer ideell vermittelten Kongruenz von Selbst und Wort, von Innen und Außen, von Wille und Wahrheit und revoziert folglich die strikte Trennung von Autor und Text. Dieser Wahrhaftigkeit kann ein bloßes Entsprechungsverhältnis von Werkintention und persönlicher Existenzweise, wie Kierkegaards Gesichtspunkt es im zweiten Kapitel des zweiten Abschnitts entfaltet, nur äußerlich bleiben; die ganze Konzeption drängt auf die Artikulation eines Ausdrucksverhältnisses zwischen Leben und Werk hin, das Kierkegaard in dem dritten Kapitel über den Anteil der Weltlenkung an seinem schriftstellerischen Werk nuanciert. Erst in diesen Passagen werden die Konturen eines großartigen autobiographischen Projektes sichtbar gemacht, das der Strukturlogik einer methodischen Exploration von Krisenerfahrungen folgt, in denen sich der Anspruch der Wahrhaftigkeit im Christwerden zu bewähren hat. Den Beginn dieses autobiographischen Projektes markiert Kierkegaard mit seiner Erstlingsschrift Entweder – Oder und den begleitenden Zwei erbaulichen 90 https://doi.org/10.5771/9783495820506 .
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Reden. In dieser Konstellation wird die besagte Grundstruktur entfaltet, welche die Dynamik der Werkentwicklung initiiert. Werfen wir also mit Kierkegaard vom Gesichtspunkt aus einen Blick auf diesen Anfang und überlegen wir dann, wie dieser Blick plausiblerweise erwidert wird.
II. Bereits in seiner »Erklärung: daß der Verfasser religiöser Schriftsteller gewesen ist und ist«, die den ersten Abschnitt des Gesichtspunkts beschließt, findet Kierkegaard Worte, deren autobiographischer Hintersinn erst in dem das Buch abschließenden Kapitel über den Anteil der Weltlenkung an seiner literarischen Produktion ganz deutlich wird: »Als ich mit ›Entweder – Oder‹ begann …, hatte ich in der Potenz die Wirkung des Religiösen so tief erfahren, wie ich es überhaupt getan habe. Ich war so tief erschüttert, daß ich von Grund auf verstand, es könne mir unmöglich gelingen, die beruhigte sichere Mitte zu treffen, in welcher die meisten Menschen ihr Leben haben: ich musste mich entweder in Verzweiflung und Sinnlichkeit stürzen, oder schlechthin das Religiöse wählen als das Einzige – entweder die Welt nach einem Maßstabe, der grauenvoll sein würde, oder das Kloster. Daß das Letztere es war, das ich wählen wollte und musste, war im Grunde entschieden; die Exzentrizität der ersten Bewegung war lediglich Ausdruck für die Intensität der zweiten, dafür daß ich mich selbst darin verstanden hatte, wie unmöglich es mir sein würde, religiös zu sein soso bis zu einem gewissen Grade. Hier liegt ›Entweder – Oder‹. Es war eine dichterische Ergießung, welche jedoch nicht weiter als bis zum Ethischen geht. Persönlich war ich weit davon entfernt, das Dasein beruhigend zur Ehe zurückrufen zu wollen, ich, der ich religiös bereits im Kloster war, ein Gedanke, der versteckt ist in dem Pseudonym: Victor – Eremita« (31). Ich enthalte mich der Rückversicherung durch biographische Informationen – etwa zu Kierkegaards Auflösung seiner Verlobung – und beschränke mich auf eine Pointierung der Strukturlogik seiner autobiographischen Erinnerung als solcher. Der Autor ist sich zu Beginn seiner Werkentwicklung demnach bereits der Wahrhaftigkeitsforderung ›wahren‹ Christentums bewusst, der er nicht in eine bloß legalistische oder zeremonielle Religiosität entweichen kann. Die Alternative dazu wäre allein die nihilistische Zuwendung zur Welt91 https://doi.org/10.5771/9783495820506 .
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lichkeit der Welt, nicht aber die kleinmütige Selbstbescheidung des verständigen Spießertums. Das Christwerden darf sich allerdings auch nicht gegen seine nihilistische Alternative in der Hoffnung verschließen, sie vermeiden zu können, sondern muss sich durch ihre Evokation hindurch bewähren: »die Exzentrizität der ersten Bewegung« – der Bewegung von Verzweiflung und Sinnlichkeit – »war lediglich Ausdruck für die Intensität der zweiten«, also der religiösen. Die eigene Disposition zum Dichterischen und die kontingenten biographischen Umstände, unter denen sie ins Spiel kommt (vgl. 71 f.), befördern die literarische Imagination als Medium eines Probehandelns, das im Geiste die Alternative durchspielt und sie »beiseite [ ] schafft des Christ Werdens wegen« (73); das Dichterische ist »eine notwendige Ergießung« (ebd.) auf dem Weg des religiösen Schriftstellers, der um des ›wahren‹ Christentums willen ›auszog, das Fürchten zu lernen‹. Dieser Auszug spielt sich freilich vor allem inwendig ab; gelebt, so Kierkegaard, habe er eigentlich nicht. Gleichwohl ist der Ausgang der Unternehmung nur dann Zeugnis des Christwerdens, wenn der Erfolg der Kongruenz von Selbst und Wort nicht von vornherein klar und der Eigenmächtigkeit des Handelnden zugeschrieben werden kann. Folgerichtig wird die Bewährungsgeschichte der Abarbeitung an den Imaginationsgestalten des Antichristlichen und des Nochnicht-Christlichen als Erziehung durch die Weltlenkung erinnert. Auch wenn man konzedieren will, dass Kierkegaard »nie auch nur einen Augenblick« seines Lebens vom Glauben verlassen gewesen sei (76), wird dem Wahrhaftigkeitsanspruch dieses Glaubens nur durch die Zukunftsoffenheit des Bewährungshandelns Genüge getan, dessen Verlauf retrospektiv den Charakter einer die Religiosität vertiefenden Erziehung annimmt, annehmen muss: »Solchermaßen meine ich der Sache des Christentums gedient zu haben, mittlerweile ich selbst unter ihm erzogen wurde. Er, auf den man staunend sah als so ungefähr etwa den Klügsten (und das ward mit ›Entweder – Oder‹ erreicht); er, dem man willig den Platz zugestand, den der ›Interessante‹ einnimmt (und das ward mit ›Entweder – Oder‹ erreicht): eben er stand in Pflicht und Dienst des Christentums, hatte ihm sich geweiht seit dem ersten Augenblicke, da er jene pseudonyme schriftstellerische Wirksamkeit begann, eben er kämpfte in sich selber und als Schriftsteller darum, es an den Tag zu bringen, dies Einfältige: Christ zu werden« (90 f.). Die erbaulichen Reden und die pseudonymen Existenzoptionen 92 https://doi.org/10.5771/9783495820506 .
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verhalten sich zueinander wie Standbein und Spielbein, denn Christwerden heißt werden, was man ist, und zwar durch eine in ihrer Wirkung nicht vollends antizipierbare Abarbeitung am Anderen des Christlichen, an den ›Polyonymen‹, wie Kierkegaard in der »Ersten und letzten Erklärung« auch sagt, des Andersseins. Die Gestaltrichtigkeit dieser Arbeit an der Wahrhaftigkeit, der Umstand also, dass sie nicht in einer Zwiefältigkeit stecken geblieben ist, sondern sich tatsächlich zur Einfältigkeit vertieft und entwickelt hat, muss Kierkegaard höherer Lenkung zuschreiben, denn es kann nicht in seiner Macht gestanden haben, die Souffleure des Andersseins zum Schweigen gebracht und die Einstimmigkeit wahrer Christlichkeit verwirklicht zu haben: »… es ist die Weltlenkung, die mich erzogen hat, und die Erziehung ist reflektiert im Vorgang der Schriftstellerei. Insofern erweist es sich als nicht völlig wahr, was da im Vorhergehenden entwickelt worden ist«, so Kierkegaard im letzten Kapitel des Gesichtspunkts, »daß nämlich die gesamte ästhetische Schriftstellerei eine Täuschung sei; denn dieser Ausdruck gesteht ein bisschen zuviel zu in Richtung auf Bewusstheit. Mittlerweile ist er jedoch auch nicht völlig unwahr, denn ich bin mir meiner bewußt gewesen bei der Erziehung und das von Anbeginn an« (73). Kierkegaard vermittelt im Begriff der Weltlenkung und der Erziehung durch die Weltlenkung göttlichen Beistand und freiheitliche Existenzbestimmung. Ähnlich wie in Kants Postulatenlehre ist Gottes Mitwirkung nicht am Handlungsvollzug, sondern allein am Handlungsziel, der Realisierung ›wahren Christentums‹ vorstellbar. Dieses Ziel ist indessen Aufgabe steter Approximation: »Auch in diesem Augenblick«, so Kierkegaard in objektivierendem Selbstbezug, »fühlt er kein Bedürfnis weiter zu gehen als bis zum Christ Werden; mit seiner Vorstellung von der Aufgabe und mit seinem Bewußtsein, noch weitab vom Vollkommenen zu sein, fühlt er bloß das Bedürfnis weiter zu gehen im Christ Werden« (91). Freilich ist im autobiographischen Rückblick das Entscheidende, das Religiöse, »an den Tag« (43) gekommen, Kierkegaard hat sich »aus dem Anderen heraus[reflektiert]« (WS, 5), die Schriftstellerei resultiert in der einstimmigen unmittelbaren Mitteilung, in einer Wahrhaftigkeit, die sich am anderen ihrer selbst, an den Souffleuren des vermeintlichen Andersseinkönnens abgearbeitet hat. Seine erinnernde Deutung der Existenzsituation des religiösen Schriftstellers an der Wegscheide von Entweder – Oder einmal vorausgesetzt, was ergibt sich aus ihrer Perspektive nun für die Ein93 https://doi.org/10.5771/9783495820506 .
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schätzung des Gesichtspunkts? Welche Stellung weist er sich selbst indirekt als Endpunkt der erinnerten Werkentwicklung an, dieser Autobiographie einer Autobiographie? Er sei kein Lehrer, sondern bloß Mitschüler in der Erziehung zum Christwerden, und in diesem Sinne muss man wohl seine Aufforderung an den Leser verstehen, den Gesichtspunkt seinerseits zur Erbauung zu lesen: »Jedem, dem die Sache des Christentums in Wahrheit am Herzen liegt, und je ernstlicher sie ihm am Herzen liegt, den möchte ich, und desto inständiger, darum bitten sich mit dieser kleinen Schrift bekannt zu machen, nicht in Neugier, sondern in Besinnlichkeit, so wie man eine religiöse Schrift liest« (GWS, 22). Was könnte sie bewirken, was bewirken sollen? In erster Linie, so meine These, eine Revozierung der »Ersten und letzten Erklärung«, nicht ein einziges Wort der pseudonymen Schriften sei von ihm selbst; diese Erklärung bekräftigt Kierkegaard zu Beginn des Gesichtspunkts noch mit der Behauptung, es sei in seinem Werk darum gegangen, den Anderen in das Wahre hineinzutäuschen. Im weiteren Verlauf erkennt der Leser dann aber in der Durchführung dieses Vorhabens die Signatur einer in erster Linie persönlichen Existenzbewegung, aus der nicht, wie aus Franckes Lebenslauf, Muster gestanzt werden können, nach denen der in der Täuschung befangene Leser schrittweise zum Guten aufsteigt. Derjenige, der die Pseudonyme nachvollzogen hat, wird nun im Gesichtspunkt mit einer radikalen Personalisierung der Werkentwicklung konfrontiert, deren Geist Kierkegaard in den beiden Motti verdichtet hat: »In jedem Dinge muß die Absicht mit der Thorheit auf die Wagschale gelegt werden« (Shakespeare) und »Was soll ich sagen? Meine Worte / wollen nicht viel sagen, / O, Gott wie ist deine Weisheit groß, / deine Güte, Macht, dein Reich« (Hans Adolph Brorson). Der Gesichtspunkt regt an, aus der Perspektive von Entweder – Oder gelesen zu werden, nämlich als Endpunkt einer Selbstvergewisserung, die dem Leser jede Befugnis entzieht, das Telos der Werkentwicklung umstandslos auf sich selbst anzuwenden: Torheit des Autors, der dies intendierte, Torheit des Lesers, der ihm diese Intention unterstellen würde. Die Wahrheit, so macht nun die wirklich allerletzte Erklärung Kierkegaards ganz deutlich, die Wahrheit, in die der Leser hineingetäuscht wird, diese Wahrheit kann keines der Pseudonyme aussprechen, keine der vielfältigen Stimmen im Werk, nicht einmal die erbaulichen Reden. Die Wahrheit ist, dass jeder diesen Weg, auf dem Kierkegaard sich als zu dem erzogen wusste, der er dann am Ende war, auf seine Weise selbst gehen muss, und zwar ohne 94 https://doi.org/10.5771/9783495820506 .
Wahrhaftigkeit zwischen Offenbarung und Verbergung
Gewähr. Was bleibt, ist der Anspruch der unbedingten Wahrhaftigkeit, der das Selbstsein zum Selbstwerden prozessualisiert. Für Kierkegaard und seine Zeit bedeutete das die Prozessualisierung des Christseins zum Christwerden. Aber man muss diese Dynamik ernst nehmen: Es ist überhaupt nicht klar, ob das Christwerden auch wieder zu einem – jetzt erneuerten – Christsein hinführt. Die Gestaltschließung der Zukunftsoffenheit ist immer nur die eines einzelnen Individuums, das die Struktur des Wahrhaftigkeitsstrebens auf eine einzigartige, wenn auch subjektiv niemals auf Wahrhaftigkeit reduzible Weise instanziiert. Aber die Spezifik individueller Gestaltschließung bestätigt immer wieder die bewährungslogische Zukunftsoffenheit der Struktur. Das scheint mir der existenzphilosophische Ertrag von Kierkegaards autobiographischen Schriften zu sein.
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Von der Existenzwissenschaft zur christlichen Redekunst Kierkegaards Selbstverständnis als religiöser Schriftsteller Heiko Schulz
Von den eher seltenen Journalpassagen zu rein akademischen Zwecken abgesehen stellt sich der Gesamtbestand von Kierkegaards pseudonymen, erbaulichen und nachgelassenen Schriften als Resultat und als Manifest einer mindestens dreifachen Reflexionsbewegung dar: Er bringt erstens das Bewusstsein eines bestimmten (meist ästhetischen, ethischen oder religiösen) Sachverhaltes oder Gegenstandsbereiches zur Sprache; er spiegelt zweitens die Überzeugung, dass die Mitteilung des jeweiligen Sachverhaltes mit Rücksicht auf deren erwartete und/oder intendierte Rezeption gattungs-, sprach- und stilspezifisch variabel zu gestalten ist. Und er ist drittens Resultat und Ausdruck eines fortgesetzten Selbstklärungsprozesses auf Seiten seines Autors – und zwar sowohl mit Blick auf die mitgeteilten Sachverhalte selbst wie bezüglich der Legitimation, diese als Schriftsteller, und zwar in der jeweils gewählten Art und Weise, mitzuteilen. Nun ist diese dreifache, in Anlehnung an literaturwissenschaftlich etablierte Unterscheidungen auch als werk-, rezeptions- und produktionsästhetisch zu bezeichnende Reflexionsbewegung an sich nichts Ungewöhnliches: In der Regel wird ein Autor sich seines Gegenstandes ebenso zu versichern suchen wie der Art und Weise, diesen mitzuteilen – und zwar unabhängig davon, ob er fiktionale oder Sachtexte produziert; und für jeden steht mit dieser doppelten Reflexionsbewegung – und deren Ergebnis: dem ausformulierten Text – in irgendeiner Weise immer auch sein eigenes Selbstverständnis als Autor auf dem Spiel. Aber im Unterschied zu Kierkegaard bleibt diese Doppel- oder Dreifachreflexion bei vielen Autoren an die primäre Mitteilungsebene gebunden: Deren Faktizität und Stoßrichtung können also für den Leser oder Hörer aus dem direkt und explizit Mitgeteilten allenfalls indirekt bzw. als ein in diesem primären Mitteilungsvollzug lediglich implizit Kommuniziertes erschlossen werden. Und selbst wenn dies nicht der Fall ist, jene Mehrfachreflexion auf einer sekundären Ebene mithin selber zum expliziten Mit96 https://doi.org/10.5771/9783495820506 .
Von der Existenzwissenschaft zur christlichen Redekunst
teilungsgegenstand avanciert, so geschieht dies jedenfalls selten in ein und demselben Mitteilungsvollzug bzw. Text. Im Unterschied dazu finden wir in den erbaulichen, vor allem und durchweg aber in den pseudonymen Schriften und auch im nachgelassenen Werk Kierkegaards strategisch reflektierte und im Vollzug entsprechend umgesetzte Mitteilungskomplexe, die selber von expliziten Überlegungen zur Eigenart und Funktion eben jener Strategien durchsetzt sind; und diese Mitteilungsformen, die sich als Reflexion im Vollzug oder als Vollzug ihrer selbst unter den Bedingungen ihrer eigenen Reflexion darstellen, sind als solche offensichtlich ihrerseits Resultat und integraler Bestandteil jener Doppelreflexion. Kierkegaard hat jedoch, wenn ich recht sehe, auch abgesehen davon die Eigenart, die Funktion sowie die Voraussetzungen und Folgen jener Doppelreflexion in mindestens fünf Sachzusammenhängen separat bzw. sekundär erörtert, wobei dies beziehungsreicherweise nahezu ausschließlich in den Journalen geschieht: erstens im knappen Entwurf dessen, was er Existenzwissenschaft nennt; 1 zweitens in den umrisshaft skizzierten Vorlesungen zu einer Theorie der indirekten Mitteilung; 2 drittens in den verstreuten Überlegungen zur christlichen Redekunst als Substitut der zeitgenössischen Dogmatik; 3 viertens in einer Reihe von Journalnotizen zur Eigenart und Funktion der religiösen im Unterschied zur christlichen Rede; 4 und fünftens in den teilweise postum publizierten Texten über sein Selbstverständnis als religiöser Schriftsteller. 5 Nun wäre es sicherlich eine eigene, zudem einigermaßen komplexe Aufgabe, diese Problemfelder bzw. die ihnen zugeordneten Leitbegriffe einer systematisch erschöpfenden und vollständigen Analyse zu unterziehen. Unter den gegebenen Umständen erlaube ich mir, diese Aufgabe bzw. deren Umsetzung ›utopisch‹ zu delegieren – z. B. an einen künftigen Doktoranden: jenen Einzelnen, den ich mit Freude und Dankbarkeit meinen Leser nennen würde und dem die nachfolgenden Überlegungen zur heuristischen Erbauung und Erweckung dienen mögen. Vgl. Papir 281, SKS 27, 271. Vgl. Papir 364–371, SKS 27, 389–434. 3 Für die Belege s. u. Anm. 46–50. 4 Vgl. dazu die Belege und Erläuterungen in Heiko Schulz, Aneignung und Reflexion II: Studien zur Philosophie und Theologie Søren Kierkegaards, Berlin/Boston 2014, S. 63 ff.; ferner unten Anm. 56. 5 Vgl. exemplarisch SKS 13, 7–27 / WS, 1–17; SKS 16, 7–106 / GWS, 21–120. 1 2
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Heiko Schulz
Angesichts der unvermeidlichen Einschränkungen eines ursprünglich aus Vortragszusammenhängen generierten Aufsatzes konzentriere ich mich in drei in sich geschlossenen Reflexionsgängen auf lediglich drei der genannten Bezugsgrößen: Existenzwissenschaft, christliche Rhetorik, religiöse Schriftstellerei. Dies allerdings keineswegs zufällig, da sich diese nach meinem Eindruck vergleichsweise zwanglos auf die bereits genannte Dreifachperspektive von Werk-, Rezeptions- und Produktionsästhetik beziehen lassen. Die übrigen Leitbegriffe (indirekte Mitteilung, erbauliche bzw. christliche Rede) werden zu gegebener Zeit einbezogen, ja kontextfunktional mit einbezogen werden müssen, stehen aber nicht im Zentrum der Analyse. Leitziel ist die präzise Bestimmung des systematischen, werkgenetischen und gattungsspezifischen Ortes der Kategorie des religiösen Schriftstellers in Kierkegaards Werk. Primär drei, durch weitere Einzelthesen zu ergänzende Thesenblöcke sollen dabei im Anschluss an meine Ausführungen als plausibel einleuchten, zwei hermeneutisch-interne, ein systematisch-externer. Ersterer bezieht sich zunächst auf das Verhältnis der drei genannten Leitbegriffe im Verständnis Kierkegaards. Demnach gilt: Jeder christliche Rhetoriker (CR) ist Existenzwissenschaftler (EW), aber nicht umgekehrt; jeder religiöse Schriftsteller (RS) ist christlicher Rhetoriker, aber nicht umgekehrt; jeder religiöse Schriftsteller ist Existenzwissenschaftler, aber nicht umgekehrt. Zwischen den drei Begriffen besteht also ein pyramidales Verhältnis: RS CR EW
Sodann behaupte ich, dass Kierkegaard in wissenschaftstheoretisch folgeträchtiger Weise die Philosophie qua Metaphysik zugunsten der Existenzwissenschaft, die Theologie qua Dogmatik zugunsten der christlichen Redekunst suspendiert. Der abschließende systematische Thesenblock bezieht sich direkt auf die leitende Fragestellung jener Tagung, der der vorliegende 98 https://doi.org/10.5771/9783495820506 .
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Text seine Entstehung verdankt; die (durch drei weitere ergänzte) Leitthese lautet: Die Stellung des religiösen Schriftstellers als ›ortlos‹ im weitesten Sinne wahrnehmen zu können, setzt als historische Bedingung seiner Möglichkeit dessen situative Ortlosigkeit voraus. Will sagen: Im Kontext nicht nur einer pluralistisch-säkularen, sondern auch in dem einer pluralistisch-postsäkularen Moderne ist Kierkegaards vielfach gebrochen und ironisch-schwebend, mitteilungstheoretisch aber gleichwohl präzise inszenierte und nach Absicht, Funktion und situativem Ort klar bestimmbare ›Einübung im Christentum‹ durch den religiösen Schriftsteller obsolet geworden.
I.
Existenzwissenschaft
1. Ich beginne mit dem hermeneutisch schwierigsten Problemfeld, Kierkegaards Überlegungen zur Eigenart und zum wissenschaftstheoretischen Ort der sog. Existenzwissenschaft. Ende 1842 notiert er hierzu folgende skizzenhafte Bemerkungen in sein Journal: Über die Begriffe Esse und Inter-esse. Ein methodologischer Versuch. [D]ie unterschiedlichen Wissenschaften sollten gemäß der unterschiedlichen Weise, in der sie Sein akzentuieren [accentuere Væren], geordnet werden; und [gemäß der Weise], wie das Verhältnis zu Sein reziproken Vorteil [reciprok Fordeel] gibt. Ontologie Mathematik. Ihnen kommt absolute Gewissheit [Vished] zu – hier sind Denken und Sein eins, aber im Gegenzug sind diese Wissenschaften Hypothesen. Existenz-Wissenschaft [Existentiel-Videnskab]. 6
Kierkegaard führt hier eine wissenschaftstypologische Kernunterscheidung ein zwischen denjenigen Wissenschaften, in denen bzw. für die Denken und Sein ex hypothesi übereinstimmen (hier: Ontologie und Mathematik), und denjenigen, bei denen das nicht der Fall ist (hier: Existenzwissenschaft). Dem entspricht die Unterscheidung zwischen einem Wissenschaftstyp, in dem das Subjektivitätsprinzip Papir 281, SKS 27, 271. Hier und im Folgenden stammen Übersetzungen von mir, wo immer die deutsche Parallelstelle zu den aus SKS angegebenen Quellen fehlt. Die nachfolgende Interpretation der zitierten Passage bietet eine komprimierte Fassung von Heiko Schulz, Aneignung und Reflexion II (Anm. 4), S. 39–61; vgl. flankierend die jüngste Studie von Gabriel Ferreira da Silva, »›The Philosophical Thesis of the Identity of Thinking and Being is Just the Opposite of What it seems to be.‹ Kierkegaard on the Relations between Being and Thought«, in: Kierkegaard Studies. Yearbook 2015, Berlin/Boston 2015, S. 3–20. 6
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keine oder jedenfalls keine tragende Rolle spielt, und demjenigen, für den das Gegenteil der Fall ist. Dabei gilt, dass sich Subjektivität – hier: bezogen auf das menschliche Erkennen und Urteilsverhalten – immer dann geltend macht, wenn der behauptete Sachverhalt einen Widerspruch oder zumindest eine Spannung zwischen Idealität und Faktizität impliziert, anders ausgedrückt, wenn das menschliche Bewusstsein als ein interessiertes, d. h. dem Wort nach als ein Verhältnis zwischen zweien bestimmt ist. Und von eben dieser Grundunterscheidung her nimmt Kierkegaard seine rudimentäre Einteilung der Wissenschaften in solche, die das ›esse‹ (in einem noch zu bestimmenden bestimmten Sinn, s. u.) und solche, die das ›interesse‹ akzentuieren – oder aber nur vor dem Hintergrund dieser Akzentuierung in ihrem Wissenschaftsstatus verstanden und angemessen beurteilt werden können –, vor. Was besagt nun aber dieser Widerspruch von Idealität und Faktizität bzw. ideellem und faktischem Sein? 7 Zunächst sind keine bloßen Synonyme zum traditionellen Begriffspaar Essenz und Existenz, Wesen und Dasein gemeint. Faktizität und Existenz sind zwar koextensive Begriffe, 8 bezeichnen aber, wenn ich recht sehe, verschiedene Hinsichten an ein und derselben Sache. Dass etwas faktisch da ist, akzentuiert eine bestimmte Seinsweise 9 dessen, was existiert, nämlich, ein Einzelnes oder genauer: als ein Einzelnes zu sein. Faktisch existiert etwas mithin als ein solches, das sich aus seinem gebrochenen oder sogar widersprechenden Bezug zu einem Allgemeinen oder Idealen bestimmt, von dem her allein es zugleich die Qualifizierung dessen, was und wie es ist, gewinnen kann. Spannungsvoll, gebrochen oder sogar widersprechend ist dieser Bezug, insofern das Ideale, inVgl. als orientierende Textbelege zu dieser Basisunterscheidung: SKS 4, 246 / PB, 39 f. (Fußn.); NB14:150, SKS 22, 433–435 / T 4, 74. 8 Das wird deutlich, wenn man die Erläuterungen, die Climacus in SKS 4, 246 / PB, 40 (Fußn.) zum Begriff des faktischen Seins liefert, mit den – sachlich entsprechenden – Ausführungen in NB14:150, SKS 22, 433–435 / T 4, 74 vergleicht: Und dort ist von (empirischer) Existenz die Rede! 9 Vgl. Helmut Fahrenbach, Kierkegaards existenzdialektische Ethik, Frankfurt am Main 1968, S. 5 f., der die Differenz von Idealität und Faktizität als Differenz von Seinsmomenten, Seinsbereichen und Seinsweisen entfaltet. Fahrenbach hält – bezüglich der Aufgliederung in Seinsmomente – allerdings an der Bedeutungsidentität der traditionellen Zweiheit von Essenz und Existenz fest. Anders (und m. E. richtig) Klaus Schäfer, Hermeneutische Ontologie in den Climacus-Schriften Sören Kierkegaards, München 1968, S. 320 (A 237): Das »faktische Sein in 10, 68 ff. [SKS 4, 272 ff. / PB, 68 ff.] ist nicht die existentia der Tradition«. 7
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dem es faktisch, wirklich oder in Existenz gesetzt wird, ein Moment des Zufälligen (i. S. des Unwesentlichen) in sich aufnimmt. 10 Faktizität besagt insofern mehr als das bloße Vorliegen einer Sache in Raum und Zeit oder – aristotelisch-thomistisch – ein esse rei extra causas. 11 Der Begriff akzentuiert vielmehr (a) das spatio-temporale Dass des (b) als ein Einzelnes und damit Zufälliges gesetzten (c) Allgemeinen. 12 Kurzum: Faktizität ist Wirklichkeit i. S. der Einheit von Idealität und Zufälligkeit. Was ist aber das Allgemeine oder die Idealität? Zunächst und wiederum in negativer Vorzeichnung wird dadurch offenbar keine Reflexionsbestimmung zur Faktizität bezeichnet; die »höchste Idealität« 13 nämlich, die der Notwendigkeit, kann Kierkegaard zufolge gerade nicht faktisch werden. D. h.: Es ist keine Faktizität denkbar, die nicht als solche ideal bestimmt wäre; gleichwohl aber eine Form von Idealität, die keinerlei Bezug zur Faktizität aufweist. Darüber hinaus besitzt jene die größere Intension und die kleinere Extension im Verhältnis zur traditionellen Kategorie der Essenz. Denn es existiert eine Form von Idealität, die nicht der Wesensbestimmung einer Sache korrespondiert (also dem, was zuvor Idealität der Notwendigkeit genannt wurde), sondern einer bloßen Möglichkeit. Solcher Idealität bedient sich z. B. die Dichtung. So sagt der Ausdruck, Fahnen seien »zerknitterte Prostituierte« 14, nichts über die Eigenart von Fahnen – es sei denn in einem Sinne, der die traditionelle Semantik dieses Begriffs Vgl. zum Begriff des Zufälligen etwa Not13:42, SKS 19, 407 / DSKE 3, 445; außerdem SKS 15, 248 / BÜA, 106: Wirklichkeit oder Faktizität schließt »stets auch etwas Zufälliges in sich« (ebd.), da kein einzelnes faktisch Existierendes »reine Idealität ist« (ebd.). Und insofern bezeichnet Existenz den »Widerspruch, daß das Allgemeine als das Einzelne gesetzt ist« (SKS 4, 381 / BA, 79); denn dadurch, dass das Allgemeine, indem es sich qua faktischer Existenz vereinzelt, ein Moment des Zufälligen in sich aufnimmt, liegt dies Einzelne »jenseits des Begriffs oder geht doch in ihm nicht auf« (NB14:150.a, SKS 22, 435 / T 4, 74). 11 Vgl. dazu Wolfgang Janke, Historische Dialektik. Dekonstruktion dialektischer Grundformen von Kant bis Marx, Berlin/New York 1977, S. 380. 12 Der wesentliche Unterschied zwischen menschlich- und außermenschlich-faktischer Existenz besteht allerdings darin, dass das menschliche Individuum eine (sich selber wissende, fühlende und wollende) »Synthese, das reale Ding eine unmittelbare Einheit von Allgemeinem und Einzelnem darstellt« (Anton Hügli, Die Erkenntnis der Subjektivität und die Objektivität des Erkennens bei Søren Kierkegaard, Zürich 1973, S. 269 [Fußn. 10]; Hervorh. H. S.). 13 SKS 4, 246 / PB, 40 (Fußn.). 14 Wolfgang Koeppen, Tauben im Gras. Das Treibhaus. Der Tod in Rom. Drei Romane, Frankfurt am Main 1986, S. 257. 10
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sprengt –, aber er drückt Kierkegaard zufolge nichtsdestoweniger Idealität aus: und zwar i. S. einer einzigen (hier: ästhetischen) aus einer unendlichen Vielzahl möglicher Bedeutungsvarianten, die einem faktisch Existierenden über das hinaus, als was es unmittelbar erscheint oder erkannt wird (als Fahne nämlich), verliehen werden kann. 15 2. Diejenigen Wissenschaften nun, die es im weitesten Sinne mit (dem Interesse an der) Faktizität oder Wirklichkeit zu tun haben, nennt Kierkegaard historische Wissenschaften; denn ihre Gegenstände unterliegen im Verhältnis zum Erkennen nicht nur der Dialektik von Einzelheit und Allgemeinheit, Faktizität und Idealität, Wirklichkeit und Möglichkeit, sondern zugleich – und das fasst die vorgenannten Bestimmungen nur zusammen – der Dialektik des Werdens. Dass da etwas wurde, und dass es sich bei dem, was da, aus einem unendlich möglichen Wie, zu einem Wirklichen, so und so Bestimmten wurde, kann nur retrospektiv und auch hier nie mehr als wahrscheinlich gemacht werden. Daher bleiben diese Wissenschaften, zu denen neben der Geschichtswissenschaft vor allem und provozierenderweise die Naturwissenschaften gehören, letztlich Approximationen. Man könnte auch sagen, ihre Aussagen seien in eins kategorisch und problematisch – »kategorisch, weil sie auf das faktische Sein gehen, problematisch, weil sie das Faktische im abstrakten Medium der Idealität ausdrücken.« 16 Anders die sog. abstrakten Wissenschaften. Zu ihnen zählen, neben der Logik, vor allem Ontologie und Mathematik, d. h. diejenigen Wissenschaften, die, wenn wir uns an die anfangs zitierte Tagebuch-Notiz erinnern, offensichtlich das ›esse‹ akzentuieren. Was bedeutet das? Abstrakte Wissenschaften sind laut Kierkegaard solche, die von der Dialektik von Faktizität und Idealität nicht betroffen sind; in ihnen geht es nicht um das problematische Werden des Einzelnen, Es ist daher nicht verwunderlich, dass Kierkegaard an anderer Stelle denselben Zusammenhang semiotisch ausdrückt: Ein Zeichen ist »verneinte Unmittelbarkeit«, und etwas Faktisches (i. S. der Möglichkeit) idealisieren heißt nichts anderes, als seine Unmittelbarkeit zu negieren, um es zum Zeichen von etwas anderem zu machen, auf das es als eine seiner möglichen idealen Bedeutungen verweist. Solche semiotische Idealisierung, deren Bedingung der Möglichkeit im menschlichen Bewusstsein selber wurzelt, ist prinzipiell unendlich. 16 Hügli, Die Erkenntnis der Subjektivität und die Objektivität des Erkennens (Anm. 12), S. 88. 15
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sondern um die logische Notwendigkeit von Wesensbeziehungen innerhalb eines Seienden. 17 Diese Wissenschaften formulieren mithin eine Reihe apriorischer, apodiktisch gewisser Implikationsketten in ›wenn … dann‹-Form, bloße Begriffsentwicklungen oder – modern ausgedrückt – Koextensivitätsbestimmungen. Deren Aussagen basieren ihrerseits auf der hypothetisch vorausgesetzten Existenz dessen, wovon sie handeln, ohne diese eigens thematisieren bzw. problematisieren zu können – oder zu müssen: Wenn es Körper gibt, so sind diese ausgedehnt; wenn es Dreiecke gibt, so ist deren Winkelsumme gleich zwei Rechten; Schnee ist weiß, dann und nur dann, wenn Schnee weiß ist; gesetzt, es gibt Substanzen, so kommen diesen bestimmte Qualitäten zu etc. Im Grunde sind – so Kierkegaard – deren logisch notwendige Schlussketten innerhalb ihrer jeweiligen Hypothesen reine Tautologien, ihr Grundprinzip ist das der logischen Identität (A = A). 18 Nun setzen zwar auch die historischen Wissenschaften die Existenz dessen, wovon sie handeln, immer schon voraus – die Existenz von etwas kann Kierkegaard zufolge nämlich stets nur vorausgesetzt, ergo niemals bewiesen werden. 19 Aber die ›Existenz‹, die hier vorausgesetzt ist, ist die des faktischen Seins, wohingegen Ontologie und Mathematik sich auf das esse als ein ideales, vom Faktischen gerade abstrahiertes Sein aeterno modo beziehen. 20 Immerhin besteht zwischen den beiden abstrakten Wissenschaften noch ein gewisser Unterschied: Denn die Mathematik unterhält im Unterschied zur OntoVermutlich hat Kierkegaard diese Auffassung von seinem Lehrer Poul Martin Møller übernommen. Dieser schreibt: Die »Ontologie enthält gleich wie die Mathematik eine Summe hypothetischer Sätze: Sie gibt eine apriorische Entwicklung all derjenigen Prädikate, die von allem ausgesagt werden müssen, was existieren können soll.« (Poul M. Møller, Efterladte Skrifter, Bd. 5–6 (in 1 Bd.), Kopenhagen 1856, Bd. 5, S. 63; vgl. dazu Hügli, Die Erkenntnis der Subjektivität und die Objektivität des Erkennens (Anm. 12), S. 88 ff.) 18 Vgl. z. B. JJ:266, SKS 18, 225 / DSKE 2, 232: »Aus Analogie und Induktion lässt sich nur durch einen Sprung schließen. / Jegliches andere Schließen ist wesentlich Identität.« Vgl. auch SKS 7, 174 f. / AUN1, 180 f. 19 Vgl. SKS 4, 244 ff. / PB, 37 ff. 20 Vgl. SKS 4, 246 / PB, 40 (Fußn.): »Das faktische Sein [faktiske Væren] ist gleichgiltig gegen die Unterschiedlichkeit aller Wesensbestimmungen, und alles, was da ist [er til], hat ohne kleinliche Eifersucht Teil am Sein … Ideell [Ideelt] verhält es sich anders, das ist ganz richtig. Jedoch sobald ich ideell von Sein spreche, spreche ich nicht mehr von Sein, sondern vom Wesen [Væsenet].« Vgl. auch NB14:150, SKS 22, 433– 435 / T 4, 74 und SKS 7, 173 ff. / AUN1, 179 ff. zum Unterschied von empirischem (= faktisch-einzelhaftem) und abstraktem (= ideal-allgemeinem) Sein. 17
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logie überhaupt kein Verhältnis zum faktischen Dasein. Für den Satz »Schnee ist weiß dann und nur dann, wenn Schnee weiß ist«, muss immerhin die mögliche Existenz (weißen) Schnees vorausgesetzt werden; Dreiecke ›existieren‹ hingegen (im idealen Sinne) einzig und allein dank der für sie geltenden Gesetze, etwa der notwendigen Winkelsumme von zwei Rechten. 21 Damit sind die wesentlichen Voraussetzungen zum Verständnis jener zu Beginn angeführten kryptischen Behauptung Kierkegaards erfüllt, wonach das jeweilige Akzentuieren von Sein den verschiedenen Wissenschaften ›reziproken Vorteil‹ verschaffe: Die abstrakten Wissenschaften akzentuieren das ideale Sein und damit eine Übereinstimmung von Denken (als Medium der Idealität) und Sein (als dessen – idealem – Gegenstand). Das verschafft ihnen den Vorteil apodiktischer Gewissheit, freilich um den Preis einer letztlich hypothetischen Geltung bezüglich des faktischen Seins. Die historischen Wissenschaften akzentuieren umgekehrt faktisches Sein und damit – im Denken – dessen Widerspruch zum Denken. Das bringt den Nachteil einer bloß problematischen Korrespondenz mit sich, besitzt aber andererseits den Vorzug kategorischer, weil auf Faktisches referierender Urteile. 22 3. Zu beantworten bleibt noch die Frage nach der Eigenart dessen, was Kierkegaard Existenzwissenschaft nennt. Wenn ich recht sehe, ist diese weder identisch mit der ontologisch-abstrakten oder den historisch-konkreten Wissenschaften, so wie diese am Leitfaden der Journalnotiz von 1842 erläutert wurden, noch schließt sie (eine der) beide(n) prinzipiell aus. Man könnte sagen, die Existenzwissenschaft bedient sich als ein tertium genus cognitionis dieser übrigen Wissenschaften mit dem Erkenntnisinteresse einer Theorie der – eigenen wie der fremden – Subjektivität, und zwar, wenn ich recht sehe, in folgender Weise: Zunächst stellt die Existenzwissenschaft selber eine Form von Ontologie im oben bezeichneten Sinn dar. Denn ihre Bestimmung des Verhältnisses von Subjektivität und Objektivität in den verschiedenen Daseinsbereichen muss ja ihrerseits mit dem AnDas bedeutet nicht, dass mathematische Sätze als abstrakte zugleich notwendig wahr sind. Es heißt nur, dass hier keine Möglichkeit besteht, ihre evtl. Fehlerhaftigkeit durch den Nachweis der Nicht-Existenz des Subjekts ihrer Aussagen (etwa: eines Dreiecks) zu demonstrieren. 22 Vgl. dazu auch Hügli, Die Erkenntnis der Subjektivität und die Objektivität des Erkennens (Anm. 12), S. 84 ff. 21
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spruch der Idealität auftreten – und zwar i. S. jener reinen Objektivität, die der Idealität des Notwendigen entspricht. Gleichwohl akzentuiert sie dieses Verhältnis zugleich als ein ideal mögliches, d. h. sie begibt sich kategorial gesehen von der Ebene der reinen Idealität des Notwendigen (= die Eigenart des Verhältnisses von Subjektivität und Objektivität im menschlichen Dasein) in die Darstellung, Analyse und Beurteilung möglicher Formen dieses Verhältnisses im faktischen Existieren des Einzelnen. Anti-Climacus etwa entwirft eine Phänomenologie des subjektiven Geistes, und d. h. hier: eine dem Anspruch nach vollständige Schematik jener Fehlformen der menschlichen Subjektivität, die er Verzweiflung nennt und in ihren unterschiedlichen Formen und Entwicklungsstufen ›durchdekliniert‹. 23 Eine solche Darstellung kommt zwar aus den o. g. Gründen nicht an die Beschreibung des faktischen Daseins in seiner Individualität heran (und dass sich dies so verhält, weiß bereits der Existenzwissenschaftler als Ontologe); aber sie vermag gleichwohl Existenzkategorien 24 und Schemata zur Interpretation und Beurteilung der möglichen Idealität des singulär-faktischen Daseins und seines jeweiligen Existenzstandpunktes bereitzustellen und anzuwenden. 25 Nimmt die Existenzwissenschaft eine derartige Perspektive ein, dann betätigt sie sich als historische Wissenschaft, etwa i. S. der Psychologie. So verfasst Kierkegaard z. B. eine Studie über den Bornholmer Pastor A. P. Adler, der behauptet hatte, Adres-
Vgl. SKS 11, 145 ff. / KT, 25 ff. Vgl. zu Bedeutung, Funktion und systematischer Tragweite des Begriffs ›Existenzkategorie‹ Annemarie Pieper, »Die Bedeutung des Begriffs ›Existenzkategorie‹ im Denken Kierkegaards«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 25 (1971), S. 187–201; außerdem Frank E. Wilde, Art. »Category«, in: N. Thulstrup/M. M. Thulstrup (Hg.), Bibliotheca Kierkegaardiana, Bd. 3, Kopenhagen 1980, S. 9–13. 25 Vgl. z. B. die folgende Bemerkung des Verfassers der Angstabhandlung zur Voraussetzung, die der Existenzwissenschaftler erfüllen muss, damit eine adäquate Diagnose des Faktischen durch ideale (Existenz-)Kategorien (hier: die Angst des Dämonischen) gewährleistet, ja auch nur möglich ist: »Daß man seine Kategorie [Kategorie] anzuwenden wisse, ist die unerläßliche Bedingung dafür, daß die Beobachtung in tieferem Sinne Bedeutung habe. Wenn die Erscheinung [Phænomenet] in einem gewissen Maße gegenwärtig ist, so werden die meisten Menschen darauf aufmerksam, vermögen es aber nicht, sie zu erklären, weil sie der Kategorie ermangeln, und wenn sie sie hätten, so hätten sie wiederum einen Schlüssel, der überall da schließt, wo auch nur eine Spur der Erscheinung sich findet; denn die Erscheinungen[,] die unter einer Kategorie stehen, gehorchen ihr so wie die Geister des Rings dem Ring gehorchen.« (SKS 4, 428 / BA, 131 [Fußn.]) 23 24
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sat einer göttlichen Offenbarung geworden zu sein. 26 Und Climacus, dessen Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift als Musterbeispiel einer in allen denkbaren Varianten durchgeführten Existenzwissenschaft betrachtet werden kann, entwirft, hier mit Blick auf Napoleon, unter anderem eine Psychologie des Schicksalsverhältnisses. 27 4. Jede Beobachtung, Beschreibung und Beurteilung des Faktischen durch den Existenzwissenschaftler ist dabei zweitens subjektiv motiviert – und zwar in doppelter Hinsicht. Zum einen in Richtung auf den objektiven Sachverhalt oder das Untersuchungsobjekt: So interessieren Kierkegaards Pseudonyme z. B. bestimmte metaphysische oder erkenntnistheoretische Fehler (etwa des Empirismus oder der Spekulation) nicht an sich; vielmehr führt ihr subjektives Interesse diese zurück auf ›Objektivität‹ : als einer bestimmten Verhaltensweise oder Einstellung, d. h. einer Form von mangelhaft akzentuierter Subjektivität im Selbstverständnis des inkriminierten Theoretikers. Die subjektiv interessierte Sichtweise des Existenzwissenschaftlers legt also in Hinsicht auf dessen Untersuchungsobjekt die Vermutung nahe, dass die identifizierten Fehler mindestens auch und unter anderem in einem spezifisch subjektiven Mangel, dem Selbstmissverständnis der theorietreibenden Subjekte als solcher, wurzeln. Darüber hinaus aber vergisst der Existenzwissenschaftler als solcher über seinem Interesse am Untersuchungsobjekt keinen Augenblick das Interesse an sich selbst und der Wahrheit des eigenen Existierens. Er bringt m. a. W. die Kategorien der Idealität mit dem primären Interesse, sich selbst ›in Existenz‹, d. h. im Verhältnis von Subjektivität und Objektivität zu verstehen, zur Geltung. Er wird infolgedessen mit der Idealität des Verhältnisses von Subjektivität und Objektivität vor Augen faktisch zu existieren, sich mit jener in Übereinstimmung zu bringen oder sie in Existenz auszudrücken versuchen. Dass er das tatsächlich tut, dass er folglich nicht nur irgendeiner Form von trügerischer Unmittelbarkeit, die den bezeichneten Widerspruch im Dasein noch vor und außer sich hat, aufsitzt, kann er mit Sicherheit nicht einmal von sich selbst wissen, geschweige denn von jemand anderem. Von daher leuchtet ein: Wissenschaft in dem für Kierkegaard einzig akzeptablen Sinne wäre die Philosophie allenfalls in dem Bewusstsein, das den Philosophierenden in jedem 26 27
Vgl. Pap. VIII 2B 27,75 ff. / BÜA, 3 ff. Vgl. SKS 7, 362 ff. / AUN2, 103 ff.
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Augenblick mit der Aufgabe konfrontiert, sich selber als Wissenschaftler den Abschied zu geben, um das Erkannte in Existenz auszudrücken und d. h.: als Existenzwissenschaft.
II.
Christliche Redekunst
1. Obwohl Kierkegaard die Bezeichnung Philosoph gelegentlich für sich selbst reklamiert, hat er diese zumindest im veröffentlichten Werk nach Möglichkeit vermieden – auch wenn er in punkto Selbstbewusstsein als philosophischer Denker den zeitgenössischen Hauptvertretern der von ihm mit Argwohn betrachteten Zunft durchaus in nichts nachstand. Die Gründe für seinen Verzicht, auf diesen Titel Anspruch zu erheben, lassen sich nach dem Voranstehenden mindestens indirekt erschließen: Kierkegaard setzt im Vollzug der (vor allem pseudonymen) Umsetzung dessen, was er Existenzwissenschaft nennt, diese de facto und vermutlich auch programmatisch an die Stelle einer durch seine Lesart re-interpretierten Metaphysik klassischen Zuschnitts. Er tut dies, wie wir noch sehen werden, zugleich als religiöser Schriftsteller, dem es vor dem Hintergrund der Einsicht in die Dialektik von Subjektivität und Objektivität, Interesse und Indifferenz, Existenzdenken und Ontologie etc. vor allem darum geht, in Bezug auf das Religiöse an die Stelle einer bloßen Wissensmitteilung (›knowing what‹) die des religiösen Glaubens als eines individuell unvertretbaren und undelegierbaren Könnens (›knowing how‹), einer genuinen Existenzmöglichkeit also, treten zu lassen. Dass es diesbezüglich im Verlauf der Religions-, spezifischer: der Christentumsgeschichte wiederholt zu Fehlentwicklungen und Konfusionen kam, ist aus seiner Sicht vor allem einer Kirche anzulasten, deren historisch wie theologisch weitreichender Doppelfehler darin besteht, den christlichen Glauben entweder als Wissen (statt als Können) oder aber als rein ästhetisches (statt ethisches) Können interpretiert: und ergo verfälscht zu haben. Dies gilt, wie Kierkegaards Spätschriften im Einzelnen herausarbeiten, in besonderem Maße für die lutherische Staatskirche im Dänemark des 19. Jahrhunderts: Diese ist nach Auftreten und gesellschaftlicher Funktion de facto zum bloßen Theatersurrogat degeneriert, d. h. zu einem Handeln und Verkündigen am Maßstab rein ästhetischer Kategorien (z. B. rhetorische Brillanz, öffentliche Geltung, ökonomischer Erfolg, kulturelle Assimilationsfähigkeit, politischer 107 https://doi.org/10.5771/9783495820506 .
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Einfluss), und dies im Medium einer theologisch, rhetorisch und rituell gleichermaßen virtuosen Selbstinszenierung. 28 Im Unterschied zum tatsächlichen Theater, dessen Praxis als theatralische unter anderem die Redlichkeit des Bekenntnisses voraussetzt, ja mit in Szene setzt, dass es sich hier um bloß Theatralisches handelt, 29 identifiziert die Kirche ihre eigene Praxis jedoch nach außen zu Unrecht mit der Idealität des neutestamentlichen Christentums und verfälscht damit auf heuchlerische Weise »die Bestimmung des Christseins« 30. Hier liegt nach Kierkegaard eine analoge Verwirrung vor wie im Fall der zeitgenössischen Philosophie qua Spekulation bzw. der spekulativen Theologie im Kontext des dänischen Hegelianismus: Die staatskirchlich verfasste Christenheit ist weder Theater noch Kirche, sondern ein uneingestanden zwitterhaft Drittes geworden, das in Wahrheit weder Kirche noch Theater, vielmehr Kirche als Theater (oder umgekehrt Theater als heuchlerische Inszenierung von Kirche) darstellt – und dies, wie wir noch sehen werden, vor allem mit Hilfe des Missbrauchs der Rhetorik. 2. Dieser kirchenkritische Kontext mag ein Stück weit erklären, dass und weshalb Kierkegaard – insbesondere in den späteren Journalen – ein besonderes Interesse an den Möglichkeiten, aber auch an den Gefahren der Rhetorik als einer Theorie und Praxis der Redekunst im Kontext des Christentums entwickelt. Er profiliert seine entsprechenden Überlegungen dabei auf der expliziten Ebene durchweg im Rückgriff auf den abendländischen locus classicus, die Rhetorik des Aristoteles, während, situationskontextuell durchaus verständlich, die Auseinandersetzung mit Jakob Peter Mynster (1775–1854), dem gleiÄhnliche Vorwürfe hat unter ansonsten differierenden politischen und kulturhistorischen Bedingungen schon Spinoza im Tractatus theologico-politicus erhoben und damit ebenso wie Kierkegaard eine spezifische Rhetorik-Kritik verbunden: Aus der zeitgenössischen Tendenz zur Reduktion der Religion auf äußeren Kultus sei, so Spinoza, eine falsche Verehrung der Geistlichkeit hervorgegangen, wobei »der Drang, die göttliche Religion auszubreiten, … zur schmutzigen Habgier und Ehrsucht und das Gotteshaus selbst zum Theater herab[sank] [in theatrum degeneravit], in dem sich nicht mehr Kirchenlehrer, sondern Redner [oratores] hören ließen, denen es nicht darauf ankam, das Volk zu belehren, sondern bloß es zur Bewunderung hinzureißen« (Benedictus de Spinoza, Tractatus theologico-politicus / Theologisch-politischer Traktat (Opera / Werke, Bd. 1, hg. von G. Gawlick u. F. Niewöhner), Darmstadt 1979, S. 13). 29 Vgl. SKS 13, 275 / A, 218. 30 SKS 13, 241 / A, 187. 28
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chermaßen respektierten wie kritisierten Primas der dänisch-lutherischen Staatskirche, dessen Predigten und homiletische Schriften hier durchaus Diskussionsanlass geboten hätten, weitgehend auf der impliziten bzw. rein textpragmatischen Ebene verbleibt. 31 Die im vorliegenden Zusammenhang ausschließlich zu berücksichtigende Anknüpfung an Aristoteles ist dabei einerseits formal und affirmativ, andererseits material und kritisch bestimmt. In formaler Hinsicht findet Kierkegaard in den aristotelischen Vorgaben eine willkommene Bestätigung für die Notwendigkeit der Unterscheidung von Dialektik und Rhetorik: Der Redner beabsichtigt, seine Adressaten zu bewegen, zu begeistern und zu überzeugen, und er greift zu diesem Zweck unter anderem auf bestimmte Argumentationsfiguren – d. h. auf die Mittel der Dialektik – zurück, die auf die Zustimmung jener Adressaten berechnet, freilich als solche zugleich zum sophistischen Missbrauch geeignet sind (laut Aristoteles insbesondere das sog. Enthymem 32). So gesehen zeigt die Redekunst nach Kierkegaards Auffassung ein Janusgesicht: Einerseits ermöglicht und begünstigt sie – vor allem im ethisch-religiösen Kontext – die Mitteilung von etwas als eines Könnens und verhindert so, korrekt angewandt, das Missverständnis, es handle sich um bloße Dialektik i. S. der reinen Wissensmitteilung. Andererseits verführt die Beherrschung ihrer Prinzipien offenbar zum Missbrauch der rhetorisch zu Gebote stehenden Mittel der Dialektik i. S. der Sophistik: mit dem Resultat, dass sie auf Seiten ihrer Rezipienten nicht nur Irrtümer, sondern auch fehlgeleitetes Handeln oder affektbestimmten Quietismus (etwa i. S. bloßer Rührung oder Sentimentalität) provoziert. 33 3. Kierkegaard zufolge sieht Aristoteles dies alles durchaus – auch wenn er der Indienstnahme des Dialektischen im Rhetorischen prinzipiell weit weniger kritisch gegenübersteht als sein Lehrer Platon. Auf der rein formalen Ebene kann Kierkegaard daher an die aristotelischen Vorgaben anknüpfen. Nicht so in materialer Hinsicht, und das besagt hier: im Blick auf den Begriff und die Mitteilung des (hier: christlich-religiösen) Glaubens als einer Existenzmöglichkeit eigener
Vgl. dazu Heiko Schulz, Aneignung und Reflexion I: Studien zur Rezeption Søren Kierkegaards, Berlin/Boston 2011, S. 277–298, bes. S. 283. 32 Vgl. ebd., S. 286 ff., 290 f. 33 Vgl. ebd., S. 290 ff. 31
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Art. 34 Zwar tut Aristoteles Recht daran, zwischen Glauben (πίστις) und Wissen (ἐπιστήμη) mit der Konsequenz zu unterscheiden, dass ein rhetorisch und d. h. vor allem durch Anwendung von Enthymemen 35 generierter Glaube im Unterschied zum Wissen nicht durch einen dialektischen, d. h. rein diskursiv schlussfolgernden, sondern – in Kierkegaards Diktion – durch einen pathetischen Übergang, mithin durch Entschluss zustande kommt. Nichtsdestoweniger missversteht Aristoteles und mit ihm das griechisch-vorchristliche Denken insgesamt nicht nur die Eigenart und den genuinen Gegenstandsbereich des (nota bene: religiösen) Glaubens, sondern auch dessen axiologische Stellung im Verhältnis zum Wissen. Erstens ist der Glaube keine Form der Erkenntnis, sondern der Leidenschaft. Griechisch gedacht gehört er daher in die ›Sphäre der Intellektualität‹, christlich in die des ›Existentiellen‹, wie Kierkegaard schreibt. 36 Glaube ist zwar nicht zuletzt aufgrund seiner propositionalen und/oder intentionalen Struktur jederzeit mit intellektueller Aktivität verbunden; aber er kann nicht darauf reduziert werden – erst recht nicht und umso weniger auf Erkenntnis, als diese vielmehr umgekehrt und i. S. des Erkenntnisstrebens selber von der Seinsart der Leidenschaft ist. Da nun zweitens und einer erkenntnistheoretischen Grundüberzeugung Kierkegaards zufolge Intentionalitätsart und intentionaler Gegenstand ›korrelieren‹ müssen (›Gleiches wird nur von Gleichem erkannt‹); und da ferner ein glaubendes Sich-Richten auf den intentionalen bzw. propositionalen Gegenstand nur dann leidenschaftlicher Natur sein kann, wenn die Wirklichkeit, Wahrheit oder Glaubwürdigkeit dieses Gegenstandes ein Mindestmaß an Unwahrscheinlichkeit aufweist, wird die genetische Möglichkeit des Glaubens als Leidenschaft durch die Unwahrscheinlichkeit ihres propositionalen Gegenstandes notwendig bedingt. Die Regel lautet: Je höher die Unwahrscheinlichkeit, desto höher die Leidenschaft des Glaubens – und umgekehrt. Zugespitzt formuliert: Nur das Unglaubliche ist gewiss. Bekanntermaßen verbinden Kierkegaards Pseudonyme diese Auffassung mit der berüchtigten Korrelationsthese von christlichem Glauben und paradoxem Glaubensgegenstand qua Gottmensch; das kann Erweitert und ergänzt wird diese kritische Perspektive in ontologischer und historischer Hinsicht (vgl. dazu ebd., S. 292–298); ich beschränke mich auf den konzeptuellen und den redetheoretischen Aspekt. 35 Die Aristoteles zu den Überzeugungsmitteln rechnet, wobei diese, semantisch eigenwillig, ihrerseits als πίστεις bezeichnet werden, vgl. ebd., S. 286. 36 Vgl. NB30:57, SKS 25, 432 ff. / T 5, 224 f. 34
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hier auf sich beruhen. 37 Festzuhalten bleibt jedenfalls die damit verbundene Selbstabgrenzung des Christentums vom griechischen Denken. Denn, so Kierkegaard, »πίστις bedeutet im klassischen Griechisch die Überzeugung …, die sich zum Wahrscheinlichen verhält. Aber das Christentum, das stets die Begriffe des natürlichen Menschen auf den Kopf stellt und ihnen die entgegengesetzte Bedeutung entnimmt, bezieht πίστις auf das Unwahrscheinliche.« 38 Eben diesen Zusammenhang hat Aristoteles nicht gesehen bzw. nicht sehen können. Mit diesem begrifflichen bzw. glaubensgenetischen Missverständnis geht drittens ein spezifisch geltungstheoretischer Fehler, nämlich die Verkehrung der Rangfolge von Glauben und Wissen einher. Kierkegaards originelle, wenngleich m. E. durchaus diskussionswürdige erkenntnistheoretische Maxime lautet, dass allein demjenigen Modus des intentionalen oder propositionalen Gegenstandsbezugs epistemischer Vorrang gebührt, der den höchsten Grad von Gewissheit zulässt bzw. generiert. Eben dies gilt s. E. aufgrund der beschriebenen Korrelationsregel von Unwahrscheinlichkeit und Leidenschaft aber gerade nicht vom Wissen, sondern vom Glauben. Aristoteles und das gesamte ›Heidentum‹ haben dies weder gesehen noch streng genommen sehen können. Die Folge ist erstens eine unzulässige Herabsetzung des religiösen Glaubens im Verhältnis zum Wissen, zweitens die Degradierung alles Paradoxen – i. S. des als notwendig unverstehbar Verstandenen – zu einer bloßen rhetorischen Figur 39 anstelle seiner Auszeichnung als einem erkenntnistheoretisch und ontologisch unüberbietbaren Ausdruck für das Verhältnis von Gott und Mensch. 40 Kierkegaards Journale verknüpfen diesen kritischen Befund mit einer verfallsgeschichtlichen Diagnose, derzufolge das Christentum, vor allem unter dem fatalen Einfluss Augustins, 41 der griechischen Linie im Wesentlichen treu geblieben und damit in mindestens vierfacher Hinsicht von der Idealität seiner neutestamentlichen Ursprünge abgewichen ist: erstens und in ontologisch-begrifflicher Hinsicht durch eine Intellektualisierung des Glaubens als Form von Erkennt-
37 38 39 40 41
Vgl. dazu Heiko Schulz, Aneignung und Reflexion I (Anm. 31), S. 292 f. NB15:25, SKS 23, 23 f. / T 4, 82 (meine Übers.). Vgl. SKS 7, 201 / AUN1, 212. Vgl. NB:125, SKS 20, 88 f. / DSKE 4, 98 f. Vgl. NB28:10, SKS 25, 222; NB30:57, SKS 25, 432 f. / T 5, 224 f.
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nis; zweitens und in epistemischer Hinsicht durch eine Degradierung des Glaubens als untergeordneter Erkenntnisform; drittens und in theologischer Hinsicht durch eine Dogmatisierung des Glaubens i. S. der Fokussierung auf den Glaubensgegenstand qua ›Lehre‹ ; viertens und in mitteilungstheoretischer Hinsicht durch eine Ästhetisierung des Glaubens als bloßem Wissensbestand unter Ausschluss seines intrinsischen Handlungsbezugs. 42 Und so wie sich aus Kierkegaards Perspektive der Niedergang einer Kultur prinzipiell an der Bedeutungszunahme einer an das Wahrscheinliche gemeinsamer Grundüberzeugungen appellierenden Rhetorik ablesen lässt, so auch im Speziellen der Niedergang des Christentums nach einer 1800-jährigen Verfallsgeschichte: »Das Christentum ist abgeschafft worden in der Christenheit; … die Priester sind Rhetoriker und die sonntäglichen Gottesdienste sind wie Übungen in der Schule der Rhetorik.« 43 So betrachtet geht die apologetisch motivierte und d. h. primär am Wahrscheinlichkeitsnachweis des Glaubensgegenstandes interessierte Dogmatisierung des christlichen Glaubens mit dessen Rhetorisierung Hand in Hand: »Das Christentum ist nun wahrscheinlich gemacht – und folglich blüht eo ipso die Rhetorik. Mit der Anhäufung von Gründen über Gründen sind sie [d. h. die Pfarrer] imstande …, das ganze Christentum so wahrscheinlich zu machen … – dass es wahrscheinlich nicht länger Christentum ist.« 44 4. Dass Kierkegaard auf jeden Versuch der Ausarbeitung einer Dogmatik nach eigenem Zuschnitt, d. h. als ›angewandte Existenzwissenschaft‹ verzichtet hat, mag vor diesem Hintergrund einigermaßen naheliegend erscheinen – auch wenn er hierzu m. E. durchaus über alle erforderlichen materialen und mitteilungstheoretischen Mittel verfügt hätte: 45 Dabei hat er sich, wenn ich recht sehe, nicht etwa aus Gründen einer angeblich erkannten Undurchführbarkeit im Detail geweigert, eine solche Dogmatik auszuarbeiten, sondern schlicht deshalb, weil er offenkundig der Auffassung war, dass jedes mehr oder minder weitläufige Sich-Einlassen auf Lehrstreitigkeiten dem aus seiner Sicht einzig christentumskonformen Projekt einer Kom-
Vgl. Heiko Schulz, Aneignung und Reflexion I (Anm. 31), S. 292 ff. NB25:96, SKS 24, 510 f. 44 NB26:80, SKS 25, 83. 45 Vgl. dazu Heiko Schulz, Aneignung und Reflexion II (Anm. 4), S. 269–290, bes. S. 282–286. 42 43
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munikation der christlichen Botschaft als einer auf Aneignung angelegten Existenzmitteilung de facto einen Bärendienst erweisen würde. Dies nicht zuletzt deshalb, weil die zwangsläufig direkte Form der dogmatischen Kommunikation dem Gehalt dessen, was mitgeteilt werden soll, geradewegs widerspricht, die leitende Absicht jenes (recht verstanden allein indirekt möglichen) Kommunikationsvollzuges also vereiteln würde. Desungeachtet hat Kierkegaard ausdrücklich – und nach dem Voranstehenden sicherlich zunächst überraschend – dafür votiert, die Dogmatik durch eine christliche Theorie der Redekunst zu ersetzen, 46 und er hat diese nicht nur in einer Reihe von Vorlesungsentwürfen (!) zumindest im Umriss ausgearbeitet, 47 sondern ihre leitenden Prinzipien auch in concreto umgesetzt, vor allem im Korpus der erbaulichen Reden. Auffällig ist dabei die Vermeidung des Begriffs ›christliche Rhetorik‹ und deren Ersetzung durch ›christliche Redekunst‹ ; so heißt es in einer Notiz aus den 1840er Jahren: »Eine neue Wissenschaft [Videnskab] sollte eingeführt werden: die christliche Redekunst [den christelige Talekunst]. [Sie ist] zu konstruieren ad modum Aristoteles’ Rhetorik« 48. Später lässt er auch den Begriff Wissenschaft fallen; stattdessen heißt es: »Ein neuer Praxiskurs sollte für Theologen eingeführt werden … : [die] Übung in der christlichen Redekunst, … nicht in der Kunst der Predigt, des Rhetorischen [det Rhetoriske] und all dessen, was dazu gehört, sondern in der Kunst – das Christentum zu predigen.« 49 Der entscheidende Unterschied zur klassischen Rhetorik ist dabei klar markiert – und nach dem Voranstehenden kaum überraschend: Die christliche Beredsamkeit unterscheidet sich von der griechischen im Wesentlichen dadurch, dass sie es »ausschließlich mit Unwahrscheinlichkeit zu tun hat, damit zu zeigen, dass es [sc. der Inhalt der christlichen Verkündigung] unwahrscheinlich ist, damit man es dann glauben kann.« 50
Vgl. JJ:305, SKS 18, 236 / DSKE 2, 244; NB24:154, SKS 24, 421 / T 5, 42 f.; NB27:83, SKS 25, 198; dazu Heiko Schulz, Aneignung und Reflexion I (Anm. 31), S. 297 f. 47 Vgl. Papir 364–371, SKS 27, 389–434 / T 2, 113–127. 48 JJ:305, SKS 18, 236 / DSKE 2, 244. 49 NB10:135, SKS 21, 326 / DSKE 5, 383 (meine Übers.). 50 JJ:305.c, SKS 18, 236 / DSKE 2, 244 f. 46
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III. Der religiöse Schriftsteller 1. Nimmt man die Begriffe in der von Kierkegaard verwendeten Bedeutung, dann lautet ein erstes, semantisches Resultat der bisherigen Analyse: Jeder christliche Rhetoriker (oder in Kierkegaards Terminologie: jeder in der christlichen Redekunst Bewanderte) ist ein Existenzwissenschaftler, aber nicht umgekehrt. Als Beispiel kann auf Johannes Climacus, den pseudonymen Autor der Brocken und der Nachschrift verwiesen werden: Er ist das Musterbeispiel eines Existenzwissenschaftlers – aber als Nichtchrist 51 verfügt er weder über die persönlichen und motivationalen noch über die konzeptionellen und schriftstellerischen Voraussetzungen, um seine Leser mit den Mitteln christlicher und/oder religiöser Beredsamkeit im strengen, d. h. sowohl erweckenden wie tröstlichen Sinne zu erbauen. Umgekehrt wird bereits jeder Praktiker der religiösen bzw. christlichen Beredsamkeit in Kierkegaards Sinne mindestens stillschweigend jenen mitteilungstheoretischen Regeln Folge leisten, die sich aus den Prinzipien der Existenzwissenschaft ergeben. Nicht weniger bedeutsam ist ein zweites, enzyklopädisch wie geistespolitisch gleichermaßen beziehungsreiches Resultat: Als genuin religiöser Schriftsteller suspendiert Kierkegaard – ob programmatisch bzw. mit Absicht oder nicht – den Philosophen qua Metaphysiker durch den Existenzwissenschaftler einerseits, den Theologen qua Dogmatiker andererseits durch den Theoretiker und Praktiker der christlichen Redekunst. Und daraus ergibt sich ein dritter, m. E. entscheidender Befund: Aus Kierkegaards Sicht kann nur derjenige Autor, der in seiner Person beides zu vereinigen vermag – den als Existenzwissenschaftler suspendierten Philosophen qua Metaphysiker einerseits, den als christlichen Rhetoriker suspendierten Theologen qua Dogmatiker andererseits –, mit Recht darauf Anspruch erheben, religiöser Schriftsteller i. S. dessen zu sein, was Kierkegaard unter diesem Ausdruck versteht und im Übrigen für sich selber reklamiert. Von daher gilt, wie bereits eingangs thetisch formuliert: Jeder religiöse Schriftsteller ist christlicher Rhetoriker, aber nicht umgekehrt; jeder christliche Rhetoriker ist Existenzwissenschaftler, aber nicht umgekehrt; jeder religiöse Schriftsteller ist Existenzwissenschaftler, aber nicht umgekehrt.
51
Vgl. SKS 7, 25 / AUN1, 14.
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Freilich: Was unterscheidet den in Theorie und/oder Praxis der christlichen Redekunst Bewanderten vom religiösen Schriftsteller, wenn jener diesen bzw. dessen Möglichkeit allenfalls notwendig, aber nicht hinreichend bedingt? Zunächst und trivialerweise schlicht dies: Wer immer die Prinzipien der christlichen Redekunst theoretisch und/oder praktisch beherrscht, muss nicht zwangsläufig schriftstellerisch tätig sein, um seine Kunst als solche zur Geltung zu bringen bzw. unter Beweis stellen zu können. Anhand einschlägiger Belege aus den Journalen hatte sich ja bereits ergeben, dass Kierkegaard eine Theologen- bzw. Pfarramtsausbildung avisiert, bei der die theoretische und praktische Vermittlung der Prinzipien einer christlichen Redekunst die der Dogmatik und Dogmengeschichte weitgehend ersetzt, mindestens aber auf ein Minimum reduziert. Entsprechend ausgebildet wäre jeder Pfarrer unter diesen Voraussetzungen Experte in der christlichen Redekunst – aber das besagt natürlich nicht, dass er eben deshalb auch religiöser Schriftsteller sein würde oder sein müsste, um in der von Kierkegaard beschriebenen Weise sein Amt angemessen versehen zu können. 2. Damit ist allerdings für die Bestimmung der Eigenart des religiösen Schriftstellers an sich noch nicht allzu viel gewonnen. Zudem muss man sich klarmachen, dass der Begriff, wie so häufig in Kierkegaards Œuvre, als Ausdruck einer versteckten Problemanzeige fungiert. In diesem Fall verbirgt sich dahinter die in den Journalen unablässig ventilierte Frage nach einer am Ideal des Christseins zu bemessenden Vereinbarkeit der Existenz als Christ und als Schriftsteller. Der Schriftsteller folgt einer ›Naturbestimmung‹, einer Begabung, die als solche existenzdialektisch geurteilt in den Bereich der ästhetischen Unmittelbarkeit fällt. Der Christ hingegen folgt einer ›Bestimmung des Geistes‹, einem Glaubensentschluss, der die Bestimmung des eigenen Daseins zusammen mit der Forderung, diese in jedem Augenblick ›in Existenz auszudrücken‹, aus der Hand Gottes, mithin im und aus dem Medium einer Unmittelbarkeit nach der Reflexion empfängt. Kann ein Dichter – und sei es ein ›dialektischer Dichter‹ 52 vom Schlage Kierkegaards – Christ, kann mithin ein Ästhet zugleich reli-
Vgl. den Untertitel von Furcht und Zittern: SKS 4, 99 / FZ, 1; ferner Pap. X 5B 42, 263.
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giös Existierender, ein Schriftsteller als solcher Christ und ein Christ als solcher Schriftsteller sein? 53 Kierkegaard hat nicht nur grundsätzlich und im Allgemeinen, sondern auch und vor allem für seine eigene Person über Jahre hinweg um eine positive Antwort gerungen – ein Kampf, der im Blick auf beides, Frage wie Antwort, über hunderte von Journalseiten hinweg einen ebenso subtilen wie gelegentlich durchaus ermüdenden Ausdruck findet. Das Ergebnis dieses fortgesetzten Reflexionskampfes lautet: Eine religiöse Schriftstellerexistenz ist in der Tat möglich und legitim, allerdings nur dann, wenn diese einer providentiellen ›Bestimmung‹ im Dasein des betreffenden Einzelnen entspringt und entspricht. Diese setzt aber ihrerseits – zumindest im Falle Kierkegaards (und ich bin im Zweifel, ob er diesen Befund verallgemeinern würde) – voraus, dass die schriftstellerische Produktion einerseits und produktionsästhetisch als Ausdruck eines religiös motivierten Bußvollzugs, andererseits und werk- bzw. rezeptionsästhetisch als situatives Korrektiv konzipiert ist, d. h. der Einübung der Christenheit im Christentum unter den Bedingungen des ›Reflexionszeitalters‹ dient. In den Rahmenkontext dieser teils autor-, teils werk- und rezeptionsbezogenen Basisvorgaben lassen sich eine Reihe weiterer, von Kierkegaard primär in den Journalen, hier freilich mehr oder minder rhapsodisch notierte Zusatzbestimmungen dessen einfügen, was die Eigenart des religiösen Schriftstellers nach seiner Meinung auszeichnet bzw. dessen Möglichkeit notwendig bedingt. Ich nenne hier en passant und rein summarisch diejenigen Merkmale, die mir am wichtigsten zu sein scheinen, wobei ich von den autor- oder produktionsbezogenen zu den werk- und rezeptionstheoretischen übergehe: Erstens kann Kierkegaard zufolge nur derjenige Autor beanspruchen, religiöser Schriftsteller zu sein, der seine Produktion insgesamt wie im Detail unter den Gesichtspunkt einer leitenden – hier natürlich: christlich-religiösen – Lebensanschauung stellt. Im Gegensatz zu dieser, alles Einzelne in ein organisches Verhältnis zum übergeordneten Ganzen setzenden Verfasserwirksamkeit steht die des sog. Prämissen-Schriftstellers der, wie Kierkegaard unter anderem am Beispiel von Adolph Peter Adler (1812–1869) zeigt, Voraussetzungen macht bzw. Ansprüche stellt, die er faktisch weder einholen bzw. zureichend begründen noch kontextfunktional absichern kann.
53
Vgl. Pap. X 5B 209.
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Zweitens ist der religiöse Schriftsteller als Christ zugleich Wahrheitszeuge: Als solcher beweist er weder noch kann er nach eigenem Dafürhalten die Wahrheit dessen beweisen, wofür als wahr er gleichwohl persönlich wie schriftstellerisch unbedingt einsteht; vielmehr bezeugt er diese Wahrheit: d. h. er teilt das für wahr Gehaltene als etwas mit, an dessen Wahrheit er selber glaubt, und zwar im Bewusstsein glaubt, dass sich diese nicht nur nicht beweisen lässt, sondern als bewiesene aufhören würde, eben diese Wahrheit zu sein. Drittens rechnet der religiöse Schriftsteller als Zeuge für die Wahrheit des christlichen Glaubens jederzeit damit, dass er aufgrund der Bezeugung des für wahr Gehaltenen von Seiten einer ihm bzw. dieser Wahrheit gegenüber gleichgültig oder aber feindlich gesonnenen Umwelt wird leiden müssen – und er akzeptiert, ja begrüßt dies als subjektiv wie objektiv unvermeidliches Indiz für die tatsächliche Wahrheit des Bezeugten. Unter den Bedingungen des pseudochristlichen Reflexionszeitalters heißt das, wie Kierkegaard aufgrund eigener Leidenserfahrungen im Zuge des sog. Corsarenstreits nicht müde wird zu betonen: Er setzt sich freiwillig dem Martyrium des Gelächters aus. 54 Viertens wird der religiöse Schriftsteller aufgrund der Einsicht in die Unausweichlichkeit der Leidenskonsequenzen seines kompromisslosen Eintretens für die Wahrheit auch und unter anderem bereit sein und bereit sein müssen, auf jedes und auf jeden, vor allem finanziellen Verdienst im Zuge der Veröffentlichung seiner schriftstellerischen Produktion zu verzichten. Schließlich und fünftens wird er seine Botschaft angesichts der unterstellten situativen Rezeptionsbedingungen in gattungs- und mitteilungstheoretischer Hinsicht sokratisch-indirekt und d. h. mit gebührender Zweideutigkeit platzieren und gestalten, um eben dadurch eine hermeneutisch und existentiell ernst zu nehmende Aneignung des äußerlich Rezipierten zu ermöglichen und zu fördern. Er wird sich mithin einerseits der stilistischrhetorischen und literarischen Mittel des Ästhetischen bedienen, um auf diesem Wege seine Rezipienten gleichsam ›in die Wahrheit hinein zu betrügen‹, wie Kierkegaard explizit formuliert. 55 Kurzum, der religiöse Schriftsteller: • lässt sich und seine Produktion von einer – hier: christlich-religiösen – Lebensanschauung leiten; 54 55
Vgl. z. B. NB12:80, SKS 22, 187. Vgl. z. B. Pap. X 5B 217, 405.
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versteht sich selbst als Wahrheitszeuge; erwartet und akzeptiert, dass er um Willen seines Wahrheitszeugnisses wird leiden müssen; • ist bereit, auf jedes und jeden, insbesondere finanziellen Verdienst im Blick auf seine literarische Produktion zu verzichten; • stellt das Ästhetische und Rhetorische seiner Produktion in den Dienst (der Aneignung) des Religiösen i. S. des Versuchs, den Rezipienten ›in die Wahrheit hinein zu betrügen‹. Freilich wird der religiöse Schriftsteller die Strategie der ästhetischen Verführung bzw. der Verführung durch das Ästhetische parallel durch eine erbauliche bzw. christlich-erbauliche Literatur konterkarieren, 56 die den Leser oder Hörer mit einem provozierenden, in der Sache einheitlichen und nur der Form nach variierenden Kettenschluss konfrontiert; dieser Schluss, in dem sich nach Kierkegaards Auffassung zugleich ein allgemeinmenschlich Wesentliches und universalreligiös Verbindendes bzw. Verbindliches zur Geltung bringt, 57 lautet: Wahr genannt zu werden verdient nur, was Wahrheit ist ›für dich‹ ; nur das Erbauliche ist Wahrheit ›für dich‹ ; nur das, was die Einsicht zur Geltung bringt bzw. einschließt, dass man gegen Gott immer Unrecht 58 und also stets Grund zur Dankbarkeit ihm gegenüber hat, ist in Wahrheit erbaulich; also verdient nur das Erbauliche i. S. der Einsicht, dass man gegen Gott immer Unrecht hat, wahr genannt zu werden. • •
IV. Ausblick: Vier Thesen Retrospektiv hat Kierkegaard vor allem in den beiden Rechenschaftsberichten über seine Wirksamkeit als Schriftsteller 59 direkt und unzweideutig jener Überzeugung Ausdruck verliehen, derzufolge sein Aus Vereinfachungsgründen unterscheide ich hier nicht zwischen (a) der erbaulichen Rede und der Rede ›zur Erbauung‹ (vgl. z. B. Pap. IV B 159,6); (b) der erbaulichen bzw. christlichen Rede und der Predigt (vgl. z. B. Papir 324, SKS 27, 337 f.); (c) dem Erbaulichen simpliciter und dem Christlich-Erbaulichen (vgl. z. B. NB:134 f., SKS 20, 93 f.); (d) dem Christlich-Erbaulichen und der christlichen Erwägung (vgl. z. B. NB2:176, SKS 20, 211 / DSKE 4, 239); zu den vorgenannten Unterscheidungen im Kontext vgl. Heiko Schulz, Aneignung und Reflexion II (Anm. 4), S. 63–66. 57 Vgl. z. B. Papir 382, SKS 27, 453 ff. 58 Vgl. z. B. HH:10, SKS 18, 130 f. / DSKE 2, 134 f. 59 Vgl. SKS 13, 7–27 / WS, 1–17; SKS 16, 7–106 / GWS, 21–120. 56
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Werk als Ganzes von Beginn an – oder doch zumindest seit Abschluss von Entweder – Oder 60 – religiöses Gepräge besessen und er sich selber dementsprechend als religiöser Schriftsteller im oben bezeichneten Sinne verstanden habe. Alles Ästhetische, so heißt es in diesem Zusammenhang, sei diesem Leitsinn konsequent zu- und untergeordnet bzw. immer schon zugeordnet gewesen, wenngleich dem Autor in seiner sachlichen, mitteilungsstrategischen und nicht zuletzt religiösen Bedeutung erst in der Retrospektive, darin freilich als providentiell gefügt durchsichtig geworden. 61 Über den Wahrheitsgehalt dieser rückwärts gewandten Selbstinterpretation, die in der Forschung kontrovers diskutiert wird, ist hier nicht zu befinden. Ich schließe stattdessen mit vier Thesen, die nicht nur als knappe Ergänzung und Kontextualisierung des Vorherigen dienen sollen, sondern sich – kraft einer vierfachen Bedeutungszuschreibung von ›Ortlosigkeit‹ – direkt auf die übergeordnete Fragestellung des vorliegenden Bandes beziehen und meine Darstellung insofern hoffentlich abrunden. Erstens: Die Stellung des religiösen Schriftstellers als ›ortlos‹ im weitesten Sinne wahrnehmen zu können, setzt als historische Bedingung seiner Möglichkeit dessen situative Ortlosigkeit voraus. Das besagt: Im Kontext nicht nur einer pluralistisch-säkularen, sondern auch in dem einer pluralistisch-postsäkularen Moderne ist Kierkegaards vielfach gebrochen und ironisch-schwebend, mitteilungstheoretisch aber gleichwohl präzise inszenierte und nach Absicht, Funktion und situativem Ort klar bestimmbare ›Einübung im Christentum‹ durch den religiösen Schriftsteller obsolet geworden. 62 Vgl. NB28:54, SKS 25, 257 f. Vgl. dazu Heiko Schulz, Eschatologische Identität. Eine Untersuchung über das Verhältnis von Vorsehung, Schicksal und Zufall bei Sören Kierkegaard, Berlin/New York 1994, S. 585–595. 62 Mit dieser These soll nicht in Abrede gestellt werden, dass Kierkegaards Zeitgenossen die leitende Absicht seines Werkes nicht hätten missverstehen können – oder faktisch missverstanden haben: das Gegenteil ist der Fall. Ebenso wenig soll das Faktum und a fortiori die prinzipielle Möglichkeit geleugnet werden, dass sich auch heute noch – genauso wie vor 150 Jahren – Menschen durch Kierkegaards Projekt der christlichen Existenzmitteilung in ihrem Glauben herausgefordert fühlen, um so ihr vermeintlich selbstgewisses Christsein an der unerbittlichen Idealität des christlichen Glaubens in dem durch Kierkegaard und seine Pseudonyme präzisierten Sinn zu messen und zu überprüfen. Markiert wird lediglich die historisch-situative Verortung – und: Begrenzung – des Kierkegaardschen Mitteilungsprojektes insgesamt, so wie es sich durch seine intentionale und/oder faktische Korrektivfunktion bestimmen lässt. 60 61
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Zweitens: Die Situation der existentiellen Gleichzeitigkeit weist dem religiösen Schriftsteller einen durchaus fest umrissenen, in seiner historischen wie mitteilungstheoretischen Funktion klar bestimmbaren Ort zu: den des Korrektivs bzw. der christlichen Zeugenschaft im Kontext einer sich selbst als christlich missverstehenden Christenheit. Mithin verweist die durch die (NB: historische) Ungleichzeitigkeit ermöglichte und begünstigte Wahrnehmung der Ortlosigkeit des religiösen Schriftstellers auf das Faktum einer im existentiell qualifizierten Sinne ungleichzeitigen Perspektive auf dessen Œuvre, d. h. auf eine Form von existentieller Ortlosigkeit als Ermöglichungsbedingung jener Wahrnehmung. Drittens: Die in These eins und zwei formulierten Beobachtungen werden durch einen Blick auf die Eigenart der gegenwärtigen Kierkegaard-Rezeption bestätigt. Sichtbar wird dabei ein Negativum: Die Ortsbestimmung des religiösen Schriftstellers fällt mit seiner rezeptionstheoretischen Ortlosigkeit zusammen; denn diese Rezeption ist mittlerweile nahezu vollständig ausgewandert in ihre eigene Geschichte. So gesehen ist nicht Kierkegaard oder dessen Werk an sich ›ortlos‹, wohl aber seine Wirkungsgeschichte, die sich durch Emigration in die Historisierung ihrer selbst hat irreführen lassen. Viertens: Die in These eins und zwei formulierten Beobachtungen werden darüber hinaus durch einen Blick auf Thema und Problemstellung der Tagung bestätigt, der der vorliegende Text seine Entstehung verdankt; sichtbar wird dabei ein Positivum: Sowohl die situative wie die existentielle Ortlosigkeit des religiösen Schriftstellers ermöglichen und begünstigen seine Wahrnehmung unter jenem Gesichtspunkt sokratischer Ortlosigkeit, die sich als Ausdruck und Indiz für die Bereitschaft interpretieren lässt, die perspektivische Vielfalt und hermeneutische Unausschöpfbarkeit des religiösen Schriftstellers unvoreingenommen und d. h. jenseits seiner Fixierung auf dessen religiöse Korrektivfunktion wahrnehmen und schätzen zu lernen. Ist also jener Sammelband, der mit den Ergebnissen der ihm zugrundeliegenden Tagung auch den vorliegenden Text öffentlich zugänglich macht, Anlass zur Hoffnung, ja am Ende selber Signal und Impuls für eine aus der Diagnose und vielfältigen Beschreibung der sokratischen Ortlosigkeit verklärt hervorgegangene Ortsbestimmung des religiösen Schriftstellers? Eine Entscheidung muss aller Wahrscheinlichkeit nach höheren Orts fallen.
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II. Muster in Antike und Moderne
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A Thinker With a Predominantly Poetic Strain Plato as a model for Kierkegaard’s literary strategy Rasmus Sevelsted
In this century our literature has displayed an almost abnormal wealth in the development of poetry; our prose literature, on the other hand, has not kept pace; we lacked the prose with the stamp of art. I have filled this gap, and my works will retain this significance for our literature.
This is how Søren Kierkegaard evaluated his contribution to Danish literature in a conversation with his friend Hans Brøchner, according to Brøchner’s memoirs. 1 Brøchner adds that Kierkegaard as an author is most reminiscent of Plato »who evidently also provided him with the model which he freely imitated.« Although this resemblance between Kierkegaard’s literary production and Plato’s dialogues is rather conspicuous and has been noted from time to time, 2 no attempt has been made, as far as I am aware, to show in any detail how Kierkegaard’s indirect, literary method was influenced by Plato’s dialogues. On the contrary, Kierkegaard scholars have generally paid more attention to Socrates and taken Kierkegaard to be very critical towards Plato. 3 This view is grounded in clear statements in Kierke1 Cited from Bruce H. Kirmmse, Encounters With Kierkegaard. A Life as Seen by His Contemporaries, Princeton 1996, p. 245. 2 E. g. Roger Poole, »Twentieth Century Receptions,« in: The Cambridge Companion to Kierkegaard, ed. by Alastair Hannay and Gordon D. Marino, Cambridge 1998, p. 61. More emphatically Per Krarup, Søren Kierkegaard og Borgerdydskolen, Copenhagen 1977, pp. 90–93. 3 For Kierkegaard’s Socrates, see e. g. Jens Himmelstrup, Søren Kierkegaards opfattelse af Sokrates. En studie i dansk filosofis historie, Copenhagen 1924; Jacob Howland, Kierkegaard and Socrates. A Study in Philosophy and Faith, Cambridge 2005 and the articles in Kierkegaard and the Greek World, Tome I: Socrates and Plato, ed. by Jon Stewart and Katalin Nun, Farnham 2010. For Kierkegaard’s critical view of Plato, see e. g. David D. Possen, »Meno: Kierkegaard and the Doctrine of Recollection,« in: Kierkegaard and the Greek World, Tome I: Socrates and Plato, op. cit., pp. 27–44; Janne Kylliäinen, »Phaedo and Parmenides: Eternity, Time, and the Moment,« in: ibid., pp. 45–71 (esp. p. 70). Good accounts of Plato’s influence on Kierkegaard’s thinking include Karsten Friis Johansen’s »Kierkegaard und die Griechische
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gaard’s writings. He carefully distinguishes Socrates from Plato in The Concept of Irony, 4 and while he praises Socrates as the existing philosopher par excellence in both his published writings and in his notebooks and journals, he has much less to say about Plato, and sometimes even takes him to be a step back from Socrates. Thus, Kierkegaard in The Point of View for My Work as an Author declares that Socrates has taught him his indirect method, while he does not mention Plato. There is, however, some evidence that Plato played a much more central role in Kierkegaard’s poetics than is usually recognized, and perhaps even that Brøchner was correct in identifying the Platonic dialogue as Kierkegaard’s model. After all, Socrates, exactly because he was an existing philosopher who did not write a single line, can hardly have taught Kierkegaard how to be a highly literary author of an oeuvre, which Kierkegaard himself presents as a coherent and carefully structured piece of work. In the following I argue, first, that Kierkegaard’s reading of Plato strongly influenced the poetics of his indirect method, in that it provided him with an understanding of how to represent life in writing, that is, how to write the Socratic situation poetically; and second, I argue that Kierkegaard was inspired by Plato in his understanding of his own oeuvre as a unity, which combined the indirectly communiDialektik,« in: Kierkegaard and Dialectics, ed. by Hermann Deuser et al., Aarhus 1979, pp. 51–124 and Rick Antony Furtak, »Symposium: Kierkegaard and Platonic eros,« in Kierkegaard and the Greek World, Tome I: Socrates and Plato, op. cit., pp. 105–14. The most detailed account for similarities between Kierkegaard and Plato that I know of is Poul Johs. Jensen, »Kierkegaard and Platon,« in: Studier I antik og middelalderlig filosofi og idéhistorie, Copenhagen 1980, pp. 699–710. 4 A note on translation: All English titles and translations of Kierkegaard’s published works are from Hong translations, namely The Concept of Irony [CI], trans. by Howard V. Hong and Edna H. Hong, Princeton 1989; Fear and Trembling, Repetition [R], trans. by Howard V. Hong and Edna H. Hong, Princeton 1983; Philosophical Fragments [PF], Johannes Climacus or De omnibus dubitandum est [JC], trans. by Howard V. Hong and Edna H. Hong, Princeton 1985; Concluding Unscientific Postscript vol. 1 & 2 [CUP1 & 2], trans. by Howard V. Hong and Edna H. Hong, Princeton 1992; Without Authority [WA], including Two Ethical-Religious Essays and Two Discourses at the Communion on Fridays, trans. by Howard V. Hong and Edna H. Hong, Princeton 1997; The Point of View [PV], including On My Work as an Author and The Point of View for My Work as an Author, trans. by Howard V. Hong and Edna H. Hong, Princeton 1998. Translations of Kierkegaard’s journals are from Kierkegaard’s Journals and Notebooks vols. 1–11 [KJN], ed. by Niels Jørgen Cappelørn et al., Princeton/Oxford 2007 ff.
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cated philosophy with directly communicated thoughts. I do this, first, by considering some aspects of Kierkegaard’s understanding of Plato as a literary artist and a religious writer. Second, I consider the ways in which Schleiermacher’s ground-breaking reassessment of Plato’s dialogues influenced Kierkegaard’s reading of Plato, an influence which I believe is more profound than has hitherto been recognized. In the third section I argue that Kierkegaard’s comments on Johannes Climacus or De omnibus dubitandum est and Repetition reveal that Kierkegaard considers his own poetics to be fundamentally Platonic. Section four argues that Kierkegaard’s understanding of his entire work as an author is influenced by his conception of Plato’s literary and philosophical strategy. Finally, in the fifth and last section, I consider Kierkegaard’s critique of Plato in light of the above.
I.
Kierkegaard’s reading of Plato in The Concept of Irony
When Kierkegaard begins his discussion of Plato in The Concept of Irony, he enthusiastically voices the pleasure he found in reading Plato: Dear critic, allow me just one sentence, one guileless parenthesis, in order to vent my gratitude, my gratitude for the relief I found in reading Plato. Where is balm to be found if not in the infinite tranquillity with which, in the quiet of the night, the idea soundlessly, solemnly, gently, and yet so powerfully unfurls in the rhythm of the dialogue, as if there were nothing else in the world, where every step is deliberated and repeated slowly, solemnly, because the ideas themselves seem to know that there is time and an arena for all of them? 5
This rather unusual expression of joy over reading Plato’s prose points to a fact which is easily overseen: Kierkegaard’s high esteem for Plato as a writer of literary and philosophical prose. We easily overlook this admiration because Socrates, not Plato, is the main object of Kierkegaard’s interest in The Concept of Irony. Thus, formally Kierkegaard in the dissertation is interested in Plato as a source of knowledge about the historical Socrates, and his methodology to reach this knowledge is to strip the Platonic dialogues of everything Platonic. His rather unusual way of doing this is the subject for this section. But, as the above passage clearly shows, this interest in the 5
CI, 28–29 / SKS 1, 89.
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historical figure of Socrates should not, at least not in The Concept of Irony, be confused with any contempt for Plato as a writer in general or as a philosopher and religious thinker. 6 As is well known, the thesis Kierkegaard is trying to defend is that Socrates as a philosopher was purely negative and that his irony was the main constituent of this negativity. To demonstrate this, Kierkegaard needs to show that Plato’s depiction of Socrates mixes the originally Socratic with his own development of Socrates’ thinking by adding a positive – that is, speculative – component to the Socratic negativity. Thus, Kierkegaard understands Plato’s works as a combination of the negative dialectical philosophy which he inherited from Socrates, and a positive exposition of metaphysical theory. The problem for the interpreter of Plato is that Plato did not, indeed could not, represent Socrates literally. Kierkegaard emphasises this difficulty already at the beginning of the dissertation, focusing on a passage in F. C. Baur’s Das Christliche des Platonismus oder Sokrates und Christus in which Baur compares Xenophon’s depiction of Socrates with the synoptic evangelists’ depiction of Christ, and Plato’s with John’s. Kierkegaard finds Baur’s comment »to the point«, but then goes on to emphasize a difference between Christ and Socrates which in fact alters the comparison fundamentally. For, on Kierkegaard’s picture, Christ was true in his immediate appearance, and therefore, the synoptic Gospels are also true. John, whose eyes were opened to the immediate divinity of Christ, is able to present it »in all its objectivity«, but this does not contrast with the representation of Christ in the synoptic gospels; rather, it complements them, because Christ’s immediate appearance is completely harmonious with his divine reality. 7 The upshot of all this is poetological: The writers of the gospels could give a literal and straightforward account of Christ, 6 Like most of his contemporaries, Kierkegaard in The Concept of Irony clearly considers Plato a greater thinker than Socrates. This is the underlying premise of his dissertation: Socrates qua ironist was purely negative, and therefore his main contribution to the history of philosophy was to rid the world of false belief thereby paving the way for Plato’s ideal philosophy. Thus, we should not take Kierkegaard’s statement that Aristophanes gives us the most truthful depiction of Socrates’ irony, to mean that Plato was a lesser thinker than Socrates. The statement about Aristophanes has to do with Socrates’ irony and negativity, that is, a historical fact that Kierkegaard believes Aristophanes to have represented more truthfully because Plato idealizes Socrates by letting him voice Plato’s own constructive philosophy in the later dialogues. 7 CI, 13–15 / SKS 1, 75–77.
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because the representation of Christ is true both literally and symbolically. This is fundamentally different for the Socratic writer, because Socrates, on Kierkegaard’s understanding, was not true in his immediate appearance, and hence, a literal account of him would be untrue. Thus, while John’s account of Christ is both literally and symbolically true, Plato could not give a literal account of Socrates’s life. Therefore, Kierkegaard states, Plato had to reproduce Socrates poetically because that is the only possible way to bring out Socrates’ double nature in writing. The difficulty in portraying Socrates lies in the fact that irony and negativity makes every literal statement or action on his part an allegorical statement of something other. Socrates seems humble and seems to be talking about the most trivial matters, but underlying his trivial appearance lies a profound understanding – or rather feeling – of the divine reality in even the smallest things. This duality, his seeming worldly interests, and his profound divine perspective that underlies every uttering of his, is what makes him so difficult to understand, and the reason why he can be comprehended »only through a combined reckoning«: »The outer continually pointed to something other and opposite […] what Socrates said meant something different. The outer was not at all in harmony with the inner but was rather its opposite, and only under this angle of refraction is he to be comprehended.« 8 It seems slightly odd that Kierkegaard mentions Baur’s argument at the beginning of his dissertation only to undercut it. But it allows him to obliquely introduce two points at the beginning of the dissertation. First, the comparison of Socrates and Christ allows him to explain why Socrates had to be negative. The reason Kierkegaard seems to be hinting at, is that a mere human will have to work indirectly to rid the world of false belief. His indirect method was necessary as a reaction against the false belief of his contemporaries, and especially the sophists. Christ is the exception, and therefore, Socrates could not have done what Christ did. Second, the comparison explains the poetics of Plato in contrast to that of the evangelists: Because Plato needed to represent the negativity of Socrates in writing in order to come to his positive philosophy, he could not just give a historical 8
CI, 12 / SKS 1, 74.
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account of Socrates, but had to transfer his activity into writing by reproducing him poetically. Thus, Kierkegaard already at this point conceives of Socrates as a religious figure. And, more importantly, he reflects on the possibility of communicating a religious view through writing. Socrates’ indirect method is understood as a necessary first step for the religious author whose contemporaries are tangled up in false belief. We should also note that Kierkegaard in fact agrees with Baur that Plato is the only Socratic writer who understood the religious position of Socrates and also drew some of its consequences. Plato reproduced Socrates poetically exactly because he understood Socrates and the importance of his negativity. Because of Socrates’ negative irony, Plato needed to make him a literary figure in order to convey this irony in writing. Kierkegaard explains this poetics, by showing what Xenophon did wrong and what Plato did right. Xenophon fails to depict Socrates as he really was, exactly because he gives an historical and literal account of events; he »stopped with Socrates’ immediacy and thus has definitely misunderstood him in many ways«. Plato and Aristophanes, on the other hand, »have blazed a trail through the tough exterior to a view of the infinity that is incommensurable with the multifarious events of his life.« 9 According to Kierkegaard, then, Socrates must be understood against the backdrop of his surroundings. This is the meaning of ›situation‹ as he uses it in this context. He emphasizes that Xenophon’s work is characterized by a »total lack of situation«, which he then goes on to explain as follows: Yet situation was immensely important to Socrates’ personality, which must have given an intimation of itself precisely by a secretive presence in and a mystical floating over the multicolored variety of exuberant Athenian life and which must have been explained by a duplexity of existence, much as the flying fish in relation to fish and birds. This emphasis on situation was especially significant in order to indicate that the true center for Socrates was not a fixed point but an ubique et nusquam, in order to accentuate the Socratic sensibility, which upon the most subtle and fragile contact immediately detected the presence of idea, promptly felt the corresponding electricity present in everything, in order to make graphic the genuine Socratic method, which found no phenomenon too humble a point of departure from which to work oneself up into the sphere of thought. This So9
CI, 13 / SKS 1, 75.
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cratic possibility of beginning anywhere, actualized in life (although it no doubt would most often be overlooked by the crowd, for whom the way they ever came upon this or that subject always remains a riddle, because their discussions often end and begin in a stagnating village pond), this unerring Socratic magnifying glass for which no subject was so compact that he did not immediately discern the idea in it. 10
This, Kierkegaard states, is what Xenophon fails to do. Situation must be emphasized in order to »indicate« or »show« (Danish: vise) Socrates’ true nature; »to accentuate« (fremhæve) his sensibility and »to make graphic« (anskueliggøre) his method. These are terms that have to do with poetics; they concern Xenophon, who did not manage to do all this, but they do not concern Socrates because Socrates did not write, with Socrates it was all »actualized in life«. The task for the Socratic writer is then to show, or make graphic, the dual nature of Socrates, his humble, even inappropriate, exterior, both in his appearance and in his choice of words, which contrasts sharply with the polished appearance and rhetoric of the sophists. The ›situation‹ must bring out the radically different and highly remarkable other perspective underlying Socrates’ seeming triviality. This is what Xenophon fails to show. Plato, on the other hand, succeeds, as Kierkegaard goes on to explain: And what life would then have come into the presentation if in the midst of the bustling work of the artisans and the braying of the pack-asses one had discerned the divine woof with which Socrates interlaced the web of existence. If through the boisterous noise of the marketplace one had heard the divine fundamental harmony that resounded through existence (since for Socrates every single thing was a metaphorical and not inappropriate symbol of the idea), what an interesting conflict there would have been between the earthly life’s most routine forms of expression and Socrates, who seemed to be saying the very same thing. This importance of situation is not lacking in Plato, however, although it is purely poetical, and thus demonstrates precisely its own validity and the lack in Xenophon. 11
It is, I think, remarkable that Kierkegaard in a dissertation which is essentially historical, emphasizes that the true Socrates can only be found in a poetical depiction. But exactly because Socrates needs to be understood in his surroundings, a literal depiction of his life, an account of events as the one Xenophon gives us, fails to capture his real 10 11
CI, 17–18 / SKS 1, 78–79. CI, 18 / SKS 1, 80.
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nature, which is »incommensurable with the multifarious events of his life«. To discover Socrates’ inner infinity we need to see him in context of Athenian life and society, that is, in situation, and to capture the situation we need a poet rather than a historian, Kierkegaard says. Plato’s portrayal shows its validity simply by being poetical. It is in the tension between Socrates’ underlying divine perspective and the world that surrounds him that there is an intimation of something altogether different, and this poetic technique, to let the divine harmony be heard not in any single utterance, but between them, as it were, is what Kierkegaard notices and praises in Plato.
II.
Kierkegaard’s Plato – or Schleiermacher’s?
Although the general view of Socrates and Plato in The Concept of Irony is heavily influenced by Hegel’s thinking, Kierkegaard’s understanding of Plato’s poetic technique is not. In fact, in most important aspects, it goes against Hegel. This becomes conspicuous if we realize how important Schleiermacher’s understanding of Socrates and Plato was to Kierkegaard. Schleiermacher’s main contribution to Plato scholarship is his translation of (most of) the dialogues, and especially the introduction to these translations along with the introductions to the individual dialogues. It might be due to this rather unusual format that Schleiermacher’s importance as a Plato scholar is often overlooked by modern scholars. Nonetheless, his translations and introductions are justly recognized as the foundation of modern Plato scholarship. To call Schleiermacher the most important Plato scholar of the nineteenth century is not an exaggeration. 12 Schleiermacher’s main achievement was to recognize the importance of the form of Plato’s dialogues to his philosophy. Since antiOn Schleiermacher’s methods and his interpretation of Plato in general, see Wilhelm Dilthey, Leben Schleiermachers vol. 1,2, hg. v. Martin Redeker, Berlin 1970, pp. 37–75; Julia A. Lamm, »The Art of Interpreting Plato,« in: The Cambridge Companion to Friedrich Schleiermacher, ed. by Jacqueline Mariña, Cambridge 2005, pp. 91–108 and »Plato’s Dialogues as a single Work of Art: Friedrich Schleiermacher’s Platons Werke,« in Lire les dialogue, mais lesquels et dans quel ordre? Définitions du corpus et interprétations de Platon, ed. by Anne Balansard and Isabelle Koch, Sankt Augustin 2014, pp. 173–188; Jan Rohls, »Schleiermacher’s Platon,« in: Schleiermacher und Kierkegaard, ed. by Niels Jørgen Cappelørn et al., Berlin/New York 2006, pp. 709–732. 12
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quity the literary brilliance of Plato’s work had been admired, but had at the same time been seen as a serious obstacle for the understanding of his thought. It was the achievement of Friedrich Schleiermacher to bring attention to the literary form of Plato’s work as the natural expression of his philosophy. Instead of seeing the literary form as an obstacle to the understanding of his philosophy, Schleiermacher understood Plato as a »philosophical artist«, whose philosophical thinking could only be understood through the correct appreciation of his art. 13 This marks a fundamental shift in the reception of Plato because it forces the reader not to assume a set of esoteric teachings outside the dialogues and try to find them in the dialogue by discarding the form, but to engage with dialogical conversation. Schleiermacher thus marks the end of various forms of Platonism. 14 Schleiermacher’s radically new understanding of Plato as philosophical artist not only implied that the dialogues were understood as pieces of art, in which every detail has its importance, but also that Plato’s entire oeuvre was to be seen as a coherent whole. For this reason Schleiermacher attempts to restore the natural sequence of dialogues, believing that this order had been destroyed in the later tradition. 15 Unlike later scholars who have attempted to restore the chronological order of Plato’s dialogues, Schleiermacher was not primarily interested in chronology. The novelty of his approach was grounded in his view of Plato as an artist and of his work as an organic whole, a principle which he derived from Plato himself. On Schleiermacher’s view, Plato’s philosophy did not change or even develop This idea of Plato as an artist is the fundament of Schleiermacher’s understanding of the dialogues. For the formulation, see e. g. F. D. E. Schleiermacher, Platons Werke, Berlin 1804–1809; zweite vom Autor verbesserte und um Band 3/1 erw. Aufl. von 1817–1828, p. 6; 17. All translations of Schleiermacher’s introductions are my own and all references are to the second edition, which Kierkegaard used and of which he had a copy in his own collection of books. 14 On this point, see especially E. N. Tigerstedt, The Decline and Fall of the Neoplatonic Interpretation of Plato. An Outline and Some Observations, Helsinki/Helsingfors 1974. The importance of Schleiermacher’s interpretation is perhaps best seen from the reaction of the minority of Plato scholars who have wanted to maintain the esoteric interpretation of Plato, thus, e. g. H. J. Krämer, Arete bei Platon und Aristoteles, Heidelberg 1959, p. 18: »Es war allein die Autorität Schleiermachers, welche diese wohl fundierte Auffassung binnen kurzem fast völlig zum Erliegen brachte.« See further Peter M. Steiner, »Zur Kontroverse um Schleiermachers Platon,« in: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Über die Philosophie Platons, hg. u. eingel. v. Peter M. Steiner, Hamburg 1996, pp. xxiii–xliv. 15 Platons Werke 1,1, p. 49–50. 13
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fundamentally over time, but was more or less present from the very beginning (and the beginning was the Phaedrus). Schleiermacher did consider the order of the dialogues, which he attempted to reconstruct, to be a chronological order, but that was, given Schleiermacher’s unitarian view of the dialogues, only of secondary importance. Instead, he saw in the dialogues the unfolding of one coherent philosophical vision, the progression of which progression was above all a pedagogical, designed to bring »the not yet knowing student to knowledge.« 16 On the whole, Kierkegaard adopts Schleiermacher’s understanding of Plato and his dialogues in The Concept of Irony. This has gone rather unnoticed by scholars. 17 I can think of two reasons for this neglect; first, Kierkegaard’s aim is to get to Socrates which to some degree makes his understanding of Plato’s works less conspicuous. 18 Second, most scholars tend to see Schleiermacher as a philologist in a limited sense and thereby overlook his importance as a historian of philosophy. Whatever the reasons, Kierkegaard’s adherence to Schleiermacher’s interpretation of Plato is evident in several respects. Most obviously Kierkegaard’s idea that Socrates is purely ironic should probably be seen as a development of Schleiermacher’s view that Socrates’ significance and influence consisted in his method of dialectics. 19 Besides this, Kierkegaard follows Schleiermacher in his understanding of all the five dialogues he analyses, and in several Platons Werke 1,1, p. 19. Thus, Schleiermacher’s introductions receive only a very brief mention in two otherwise thorough studies, namely Harald Steffes, »Kierkegaard’s Germanophone Socrates Sources,« in: Kierkegaard and the Greek World, Tome I: Socrates and Plato, op. cit., p. 293, and Andreas Krichbaum, Kierkegaard und Schleiermacher. Eine historisch-systematische Studie zum Religionsbegriff, Berlin 2008, pp. 135–136. An exception is Richard E. Crouter, »Schleiermacher: Revisiting Kierkegaard’s relation to him,« in: Kierkegaard and His German Contemporaries. Tome II: Theology, ed. by Jon Stewart, Aldershot 2007, pp. 207–231. Crouter notes the importance of Schleiermacher’s translations for Kierkegaard (cf. esp. pp. 211–212) and interestingly considers their importance in the context of other of Schleiermacher’s works. 18 It might also play a role that the significance of Schleiermacher’s work in general is not often emphasized in modern Plato scholarship. Note that already Himmelstrup, writing in 1924, sees Kierkegaard’s discussion of Plato in light of later scholarship, mainly from the beginning of the twentieth century, and evaluates Schleiermacher in that light. See Jens Himmelstrup, Søren Kierkegaards opfattelse af Sokrates (note 2), pp. 253–254. 19 Note that the assessment committee considered this part of Kierkegaard’s thesis to be an »addition to Schleiermacher’s view«, cf. SKS K1, 133. 16 17
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cases defends Schleiermacher’s understanding of them against those of later scholars. 20 However, Kierkegaard’s most important use of Schleiermacher’s Plato is not any specific point, but his general understanding of Plato as a philosophical artist. This dependence is evident already in Kierkegaard’s methodological point (considered above) that Plato had poetically written his Socrates in order to convey his impression of him (the combined reckoning). It was Schleiermacher who, as part of his novel understanding of Plato, emphasized poetical reproduction of the Socratic method in writing to be a central part of Plato’s aim. 21 Kierkegaard also seems strongly influenced by Schleiermacher’s understanding of Plato’s dialogues as an artistic unity consisting of an indirect, maieutic part, and a direct constructive one. This influence is especially evident in Kierkegaard’s treatment of Plato’s Protagoras in The Concept of Irony. Here we find some of the key phrases he used to describe Plato’s poetics in the passages I dealt with in the previous section, this time directly ascribed to Schleiermacher: As for the objective in the dialogue Protagoras, whether it aims to make a running start at a definitive answer to the problems (of the unity of virtue and the possibility that it can be taught) posed in the dialogue, or whether, as Schleiermacher assumes, it does not consist in any single point and consequently is incommensurable with the concerns touched on in the dialogue and, in a state of suspension throughout the whole dialogue, is not comIn fact Kierkegaard discusses Schleiermacher’s view of all his selected dialogues, and in most cases, Schleiermacher provides the grounds for considering these dialogues Socratic: Thus, for the Protagoras, the Symposium, Apology of Socrates and Republic bk. 1 respectively, see SKS 1, 113–122; 122–124 and 172; 138; 163–164 and 170 / CI, 53–62; 62–65 and 120; 79–80; 109–111 and 118. Schleiermacher is also fundamental to Kierkegaard’s understanding of Plato’s myths, as I discuss below. Finally, Kierkegaard refers extensively to Schleiermacher in his concluding »Justifying Retrospection« (SKS 1, 171–174 / CI, 119–126) where he also admits that his own attempt to isolate the Socratic irony in Plato has a strong affinity with Schleiermacher’s analysis of the Socratic dialectics in Plato: »It might seem that the first stage could be designated as pure dialectic and Socrates could thus be understood only as a dialectician. Schleiermacher did in fact do this in his well-known treatise, but dialectic as such is a much too impersonal category to encompass a figure such as Socrates; on the other hand, whereas dialectic infinitely expands and emanates into the extremities, irony leads it back into personality, rounds it off in personality« (CI, 122n / SKS 1, 174n). 21 Platons Werke 1,1, p. 18, cf. also Schleiermacher’s »Ueber den Werth des Sokrates als Philosophen,« in: Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin, aus den Jahren 1814–15, Berlin 1818, pp. 67–68. 20
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pleted until, by way of the successive disappearance of each specific point, it is fulfilled in the illustration of the Socratic method, purified and rejuvenated – I shall not determine this here but say only that I can readily agree with Schleiermacher, provided the reader bears in mind that in my opinion the method consists not in the dialectical in the form of the question as such, but in the dialectical sustained by irony, springing from irony and returning to irony. 22
Kierkegaard is eager to stress his own point – that the Socratic method is an ironic method – and that is probably why he puts some distance to Schleiermacher here. For he follows Schleiermacher’s understanding of the dialogue in every other respect, as he admits himself towards the end of the passage. In fact, Schleiermacher also notes that the irony in Protagoras should be seen in close connection to the overall goal of the dialogue and not considered mere colouring or evidence of Plato’s fondness of comic genres. On the contrary, Schleiermacher emphasizes that the irony of the dialogue is not Plato’s own, but an imitation of Socrates’ irony and that this is Plato’s objective. The irony in this dialogue is, like all other details, according to Schleiermacher, »not mere ornamentation, but a means, tied to the matter itself, to make the truth of the whole graphic [um die Wahrheit des Ganzen anschaulich zu machen], and to document it by carefully removing anything exaggerated and unnatural«. 23 This leads up to the point which Kierkegaard paraphrases in the passage above, that one should not focus exclusively on any one point in the conversation, but exactly by recognizing what lies in and between the different discussions, see the form and method as the main purpose of the dialogue, despite the multifarious subjects it treats. 24 Thus, Plato in the dialogue essentially praises »the Socratic form of conversation« as »the proper form of any philosophical communication.« 25 Schleiermacher sees the Protagoras as Plato’s most successful attempt to deploy his truly philosophical form of art to »imitate the living and inspired language of the wise man in writing.« 26 This understanding of the dialogue demonstrates Schleiermacher’s method of interpreting Plato: The details of the dialogue cannot be understood separately, but must be seen as part of an artistic 22 23 24 25 26
CI, 55 / SKS 1, 115–116. Platons Werke 1,1, p. 227. Ibid. Platons Werke 1,1, p. 232. Ibid.
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whole. It also strongly suggests that Kierkegaard’s general understanding of Plato’s poetic depiction of Socrates is informed by Schleiermacher’s introductions, and his introduction to the Protagoras in particular. Thus, Kierkegaard’s own paraphrase of Schleiermacher above – that the aim of the Protagoras »does not consist in any single point and consequently is incommensurable with the concerns touched on in the dialogue« – is also what seems to lie behind Kierkegaard’s assessment of Plato’s general ability to represent Socrates poetically »in order to indicate that the true center for Socrates was not a fixed point« but is fulfilled only »in the illustration of the Socratic method«, which we considered in the previous section. Similarly, when Kierkegaard understands Plato’s literary Socrates as a representation, the aim of which is »to make graphic the genuine Socratic method«, he is close to Schleiermacher’s description of the Protagoras. To make graphic, anskueliggøre, is in fact the literal equivalent of the German anschaulich machen, which Schleiermacher uses in the passage cited above. And when Kierkegaard praises Plato and Aristophanes for having »blazed a trail through the tough exterior to a view of the infinity that is incommensurable with the multifarious events of his life« is entirely in accordance with Schleiermacher’s understanding of Plato’s representation of Socrates in Protagoras. In a second, equally important, respect Kierkegaard adheres to Schleiermacher’s view of Plato against that of several other scholars. Although Friedrich Ast and Friedrich Hermann, both of whom Kierkegaard had read and refers to in the dissertation, had argued in favour of a more developmentalist understanding of the sequence of Plato’s dialogues, Kierkegaard sticks to Schleiermacher’s view as the dialogue as an organic whole, as he explicitly recognizes in the dissertation: I must make a more general comment somewhere with respect to Plato’s dialogues, and I believe this the right place, inasmuch as the Protagoras is the first dialogue to provide occasion for it. When Plato’s dialogues are to be classified, I believe it best to follow Schleiermacher’s division between the dialogues in which the dialogical is the main element and the tireless irony at times disentangles, at times tangles, the disputation and the disputants, and the constructive dialogues, which are characterized by an objective, methodical style. 27 27
CI, 52–53 / SKS 1, 113.
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This is the fundament also for Kierkegaard’s understanding of the mythical in Plato. In the famous chapter on Plato’s myths, he considers »the mythical in the earlier Platonic dialogues as an indication of a more copious speculation«. 28 The idea of the section is that myths in the Socratic dialogues of Plato are to be understood as belonging to Plato, not Socrates. It is strange that Kierkegaard does not mention Schleiermacher in this section, since Schleiermacher’s understanding of the myths was well-known. Consider the following passage: If this is the case, then one will indeed see the correctness of regarding, as all the above suggested, the expressions in the first dialogues, which vacillate between a positive and a negative position, as an ambiguous preliminary glimpse, the mythical part of these dialogues as an anticipation, and the cycle of dialogues to which the Parmenides, Theaetetus, Sophist, and Statesman belong as the beginning of authentic Platonism. 29
Kierkegaard differs slightly from Schleiermacher in the concrete assessment of the individual dialogues, but he agrees with the general function of myth in Plato as an anticipation of the constructive philosophical views developed later. It is fundamental to Schleiermacher’s understanding of the dialogues that Plato’s later philosophical views are present from the very beginning, but not explicitly so. The philosophical views are only present in the form of hints and indications, and the myths are the most conspicuous of these hints. This is part of Plato’s indirect communication, according to Schleiermacher. 30 Schleiermacher uses the German antizipieren 31 and Andeutung. 32 Kierkegaard uses simply their Danish equivalents Anticipation and Antydning, 33 which, I think, suggests direct dependence.
»Det Mythiske i de tidligere platoniske Dialoger som Antydning af en riigholdigere Speculation«, the heading of the section, p. 96, SKS 1, 150. Hong has »Token« for »Antydning«. 29 CI, 123 / SKS 1, 174. 30 See e. g. »indirekte Verfahren«, Platons Werke 1,1, p. 231; 2,3, p. 9. Cf. also »die bekannte indirekte Weise«, Platons Werke 1,2, p. 294. 31 Platons Werke 1,1, p. 47: »… nach [der hier vorgeschlagenen Folge] nicht selten mythisch antizipiert wird, was erst später in seiner wissenschaftlichen Gestalt erscheint.« 32 »indirekte Andeutungen«, Platons Werke 1,1, p. 233; 1,2, p. 51. 33 SKS 1, 174: »den mythiske Deel af disse Dialoger være en Anticipation …«; cf. Kierkegaard’s general understanding of the myths as »Antydning af en riigholdigere Speculation«, SKS 1, 150, cf. note 26 above. 28
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Kierkegaard’s adherence to Schleiermacher’s understanding of Plato is important also because it marks one of the most significant points of opposition to Hegel in The Concept of Irony. Hegel did appreciate the artistic quality of Plato’s dialogues but ultimately saw the form itself as a sign of philosophical inability and immaturity because inadequate to truly convey philosophical thought. 34 This is in direct contrast to Schleiermacher’s view of Plato as a sublime artist who mastered his form completely and saw Plato’s value exactly in his ability to combine art and philosophy, two things that Hegel is eager to keep separate. Kierkegaard’s most thorough criticism of Hegel in The Concept of Irony is precisely his neglect of Schleiermacher’s theory of Plato’s work as a unified piece of art. Hegel does not really figure in the first part of the dissertation, which is not surprising since this part deals with the relation between the Socratic writers and Socrates, something that does not really interest Hegel. Here Kierkegaard is deeply influenced by Schleiermacher, as I have argued. The appendix at the end is Kierkegaard’s first attempt to combine the first part with the general Hegelian discussion that takes up the rest of the dissertation, and here he directs some critique at Hegel for neglecting the work of Schleiermacher: On the whole, he does not like much fuss, and does not cast a benevolent eye even upon Schleiermacher’s efforts to order the Platonic dialogues so that one great idea moves through them all in successive development. Das Literarische, das Kritische Herrn Schleiermachers, die kritische Sonderung, ob die einen oder die andern Neben-Dialoge ächt seien, – (über die großen kann ohnehin nach den Zeugnissen der Alten kein Zweifel sein), – ist für Philosophie ganz überflüssig, und gehört der Hyper-Kritik unserer Zeit an (Pag. 179). Anything like this is effort wasted on Hegel, and when the phenomena are paraded, he is in too much of a hurry and is too aware of the great importance of his role as commander-in-chief of world history to take time for more than the royal glimpse he allows to glide over them. 35
Kierkegaard here criticizes Hegel, even satirizes him, for neglecting Schleiermacher’s view of Plato. This is more than a critique for simply neglecting philology; 36 on the contrary, Kierkegaard rather critiCf. e. g. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II, Frankfurt am Main 1970, pp. 24–27. 35 CI, 222 / SKS 1, 266. The emphasis is Kierkegaard’s (although absent in Hong’s translation). 36 Again, even thorough scholars tend to see Schleiermacher’s work on Plato, and Kierkegaard’s use of it, as a matter of strict philology; thus, e. g., Jon Stewart, Kierke34
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cizes Hegel for reducing Schleiermacher’s efforts to a matter of petty philology, thereby demonstrating his own blindness to the function and philosophical importance of Plato’s literary form and the structure of the entire oeuvre. This critique of Hegel is a direct continuation of a comment made earlier, in which Kierkegaard reflects on the impossibility of understanding individual life, and especially Socratic irony, through Hegelian concepts alone: But we forget that a position is never as ideal in life as it is in the system; we forget that irony, just as any other position in life, has its spiritual trials, its battles, its retreats, its victories. Thus doubt is also a vanishing element in the system, but in actuality, where doubt is carried out in continual conflict with everything that rises up and wants to hold out against it […], doubt has much content in another sense. This is the purely personal life with which science [Videnskaben] admittedly is not involved […]. Whatever the case may be, grant that science [Videnskaben] is right in ignoring such things; nevertheless, one who wants to understand the individual life cannot do so. And since Hegel himself says somewhere that with Socrates it is not so much a matter of speculation as of individual life, I dare to take this as sanction for my procedural method in my whole venture, however imperfect it may turn out because of my own deficiencies. 37
Kierkegaard’s critique of Hegel for neglecting the literary Plato which Schleiermacher had brought attention to, is closely connected to this critique of his speculative method for neglecting individual life. According to Kierkegaard, Socrates’ irony must be understood in its cultural setting and as part of his personal life, or as he puts it, in situation. What Plato understood, and what Hegel missed, according to Kierkegaard here, is thus both the importance of situation, the creation of real life through literary writing, and the structure of the entire corpus which successively unfolds one major idea. What Hegel misses, then, is exactly the fundamental strategy of Plato, the parts of his writing that would be lost in any literal rendering or scholarly exposition. gaard’s Relations to Hegel Reconsidered, Cambridge 2003, p. 154 takes Kierkegaard’s comment to be about »matters of philology or textual criticism« which, I think, overlooks the importance of Schleiermacher’s point. Crouter, »Schleiermacher: Revisiting Kierkegaard’s relation to him« (note 17), p. 212 rightly notes the philosophical importance which Kierkegaard attributes to Schleiermacher’s understanding in this passage. 37 CI, 166–167 / SKS 1, 214 f. Translation modified.
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Kierkegaard’s critique of Hegel at this point seems at least partly to be an attempt to justify his own method in the first part of the dissertation in the larger framework of Hegel’s thinking. It seems doubtful if he actually succeeds in this, 38 and this brings out an important conflict in respect to poetics. Kierkegaard clearly recognizes the quality of Plato’s situations, his ability to make graphic and illustrate his philosophy through his poetic prose. He also shows his admiration for Plato as Schleiermacher has made us see him: The literary artist who pedagogically brings out one major idea through the progression of his dialogues. However, he still recognizes that this, from a Hegelian point of view, is a shortcoming rather than an advantage, and struggles to bring the two conflicting views together.
III. Kierkegaard’s Platonic poetics: Johannes Climacus and Repetition If Kierkegaard, already in the dissertation, recognizes the quality of the Platonic dialogue to bring the concept in relation to individual life, it should not surprise us that he takes over parts of a Platonic poetics as he grows dissatisfied with the Danish Hegelians. It is my contention in the next two sections that Kierkegaard’s appreciation of Plato’s ability to make life visible through writing became crucial in his own endeavours to highlight existence over speculation. This is particularly evident in his use of situation to make existence visible in his writing. There are direct references to Plato’s writings in Kierkegaard’s own comments on Johannes Climacus or De omnibus dubitandum est and Repetition. Johannes Climacus is in itself an attempt to go against the Hegelians, thus changing the perspective of the dissertation. This is partly done by describing a life, letting existence meet speculation, thereby exposing pretention and empty clichés that were current in the intellectual milieu of Copenhagen at the time. The contrast between the literary and the scholarly exposition, already present in Kierkegaard’s treatment of Plato, is now at the forefront. This marks not only an important step in Kierkegaard’s growing dissatisfaction with the Hegelians, but can also be seen as marking an even stronger 38 On this point see Jon Stewart, Kierkegaard’s Relations to Hegel Reconsidered (note 36), p. 156.
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commitment to the Platonic poetics. From Kierkegaard’s point of view in Johannes Climacus, the aim is no longer to reach pure speculative thought and leave the individual behind; on the contrary, Kierkegaard emphasizes the importance of the individual, and his method to do so is Platonic; instead of a scholarly form, he chooses the narrative and emphasizes this point by giving it the subtitle A Narrative (or ›story‹ [En Fortælling]). Kierkegaard eventually leaves the piece unfinished but explains the aim of his story thus: The plan of this narrative was as follows. By means of the melancholy irony, which did not consist in any single utterance by Johannes Climacus but in his whole life, by means of the profound earnestness involved in a young man’s being honest and earnest enough to do quietly and unostentatiously what the philosophers say (and he thereby becomes unhappy) I would strike a blow at philosophy. 39
This negative irony conveyed through the literary narrative of an individual, a written situation in which the abstract philosophy is incompatible with real life and loses its meaning. Note especially Kierkegaard’s statement that the point of the narrative was not one single utterance (but rather the irony and earnestness in the life of Johannes as depicted poetically by Kierkegaard), which is very close to his understanding of Plato as the writer who succeeded in capturing the Socratic irony, not by attempting to give a literal account of any single point, but instead, by poetically making graphic the Socratic irony and method. 40 When Kierkegaard drops the idea of finishing Johannes Climacus, important parts of the thinking he had put into that piece find their way into the pseudonymous works, above all Repetition. 41 He drops the idea of a narrative account, and chooses instead to let the pseudonyms speak. In Repetition the pseudonymous author Constantin Constantius tells of his meeting with a young man, and also prints the letters he received from him. In the final letter to the reader of the book he describes his relation to the young man thus: My dear reader, you will now understand that the interest focuses on the young man, whereas I am a vanishing person, just like a midwife in relation to the child she has delivered. And that is indeed the case, for I have, so to 39 40 41
JC, 234 / SKS K15, 38–39. CI, 55 / SKS 1, 115–116, cf. my discussion in section II above. Cf. SKS K15, 42.
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speak, delivered him, and therefore as the elder I act as spokesman. My personality is a presupposition of consciousness that must be present in order to force him out, but my personality will never be able to attain what he attains, for the primitivity in which he conies forward is the other factor. So he has been in good hands from the very beginning, even though I frequently had to tease him so that he himself could emerge. 42
Whether Constantius is aware that he acts exactly like Socrates in conversation with the Athenian youth is doubtful, but Kierkegaard is undoubtedly aware of his own pastiche. The reference is to the Theaetetus where Socrates compares his own activity to that of a midwife who cannot herself give birth, but only help others to deliver, is famous, and Kierkegaard refers to it several times in The Concept of Irony, where he refers to it as »a metaphor of Socrates’ delivering activity«. 43 In the Theaetetus, Socrates is concerned with his own contribution to the ideas of his younger followers and denies to actually do anything other than test their beliefs, since he himself does not get any ideas. In Repetition, Kierkegaard thus lets Constantius take the role of Socrates in dialogue with his younger friend whom he helps to deliver. This implies that Repetition is to be understood as a pastiche of a Platonic dialogue, such as the Protagoras and the Theaetetus, in which Socrates converses with the young men and helps them realize their potential. 44 Kierkegaard thus reproduces a Socratic maieutic in writing, and at the same time makes it part of a larger work, which characteristically leaves the interpretation to the reader. As the real, but entirely absent, author of Repetition, Kierkegaard takes the role of Plato and engages the reader in the dialogue between his characters. That Kierkegaard was aware of the parallel is confirmed by a draft for an open letter to Professor Heiberg. The letter, signed by the pseudonymous author Constantius, was a reaction to Heiberg’s remonstration of the notion of repetition put forward in his book, R, 230 / SKS 4, 96. CI, 29 / SKS 1, 91. 44 Note in addition the emphasis on the young man’s good looks, when he is first mentioned, the »alluring effect« he has on Constantius and Constantius’ »almost enamoured glance« at him, »for a young man like that is almost as seductive to look at as a young girl« (R, 133–135 / SKS 4, 11–13). This suggests that Kierkegaard is playing on the well-known Platonic topos of eros between Socrates and his disciples here, thus underlining Constantius’ role as a Socratic midwife. Compare Kierkegaard’s comments on this theme in CI, 29 / SKS 1, 90. 42 43
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and it gives us some interesting insight into the poetics of Repetition. In the letter Constantius distinguishes between three qualifications of freedom that he wanted to bring into play; first, freedom as desire, in which form freedom is understood as opposed to repetition; second, freedom as sagacity, in which form freedom still strives to gain new aspects of repetition and therefore despairs. Finally, the highest form of repetition in which it is qualified in relation to itself, a stoic stance in which freedom simply is repetition. Constantius calls these forms a, b and c, respectively, and goes on to explain that he wanted to avoid the scholarly style and instead use a literary form: What is developed under (c) was what I wanted to set forth in Repetition, but not in a scientific-scholarly way […]. I wanted to depict and make graphic psychologically and esthetically; in the Greek sense, I wanted to let the concept come into being in the individuality and the situation, working itself forward through all sorts of misunderstandings. 45
This poetics seems to be heavily inspired by Kierkegaard’s own interpretation of Plato’s poetics as explained in The Concept of Irony. We find here several points which are identical to what Kierkegaard found in Plato: First, the literary form is meant to depict and make graphic, which is exactly what Kierkegaard praises Plato for. Second, ›the Greek sense‹ can hardly refer to any other writer than Plato. In fact, Kierkegaard distinguishes between Plato and Socrates on this point. What Socrates did, was not, he emphasizes in The Concept of Irony, »to make the abstract concrete, but to let the abstract become visible through the immediately concrete.« 46 To make the abstract concrete, he adds, was what Plato’s Socrates did. This is an important point in Kierkegaard’s understanding of Socrates and Plato, because Socrates (on Kierkegaard’s reading) was merely negative. Plato, on the other hand, had a more advanced philosophical understanding of concepts. This is connected to Plato’s position as a writer, and a writer who came after Socrates. He goes back, as it were, and makes the abstract concrete to incorporate Socrates’ maieutic into a larger body of work with a clear strategy. In Repetition, the parallel to Plato is further elaborated by a striking comparison, which Constantius uses to explain his poetics:
45 46
»Open Letter to Professor Heiberg« in R, 302 / SKS 15, 68. Translation modified. »Open Letter«, 304 / SKS 15, 267.
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Just as on the street one hears the minutest portion of a solitary flute player’s performance, and almost instantly the rattle of the carriages and the noise of traffic make it necessary even for the Amager hawker to shout loudly so that the madame standing there can hear the price of her kale, and then for a brief instant it is quiet and one again hears the flute player, just so in the first part repetition (c) is continually interrupted by the noise of life. 47
This description of the noise of everyday life blended with an underlying musical tone is highly reminiscent of Kierkegaard’s understanding of Plato’s use of situation to describe Socrates, as if »through the boisterous noise of the marketplace one had heard the divine fundamental harmony that resounded through existence« as we saw in section I above. Constantius sums up these Platonic references at the end of the draft, explaining his intention to »suggest in abstracto what cannot be realized in abstracto, and in the meantime I maieutically arrange everything properly for the young man to discover actually what appears defined in the second part of the book.« Constantius describes a method of writing which indirectly communicates a philosophical message by use of poetic prose. The close parallel to Kierkegaard’s reading of Plato, suggests that he is consciously deploying a Platonic poetics to convey his message – attempting to rewrite Plato for his own time. Plato’s dialogues, set in the midst of Athenian life in the Golden Age has been transferred to the everyday scenery of Golden Age Copenhagen. These comments offer an insight into the poetics of Kierkegaard’s pseudonymous works that gives an impression of these works as Platonic dialogues transferred and adapted to Golden Age Copenhagen. There are more hints of a direct intertextuality with Plato’s dialogues in other pseudonymous works, most notably in »In vino veritas« in Stages on Life’s Way, which is a pastiche of Plato’s Symposium and follows the structure of Plato’s work rather closely. 48 But the comments on Johannes Climacus and Repetition, which I have considered in this section, show, I believe, how influenced Kierkegaard was by a Platonic poetics. The conflict between the Platonic and the Hegelian poetics, evident in The Concept of Irony, is developed in these early pseudonymous works and a Platonic form is used »Open Letter«, 303 / SKS 15, 68. For a demonstration of how closely Kierkegaard’s In vino veritas imitates Plato’s Symposium, see Poul Johs. Jensen, »Kierkegaard and Platon« (note 3).
47 48
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precisely to avoid the scholarly exposition and, instead, to highlight individual life.
IV. Kierkegaard and Plato as religious authors In The Point of View of My Work as an Author and On My Work as an Author, Kierkegaard famously describes his own work as a carefully structured unity which comprises two parts, one maieutic, the other edifying. This again has some affinity with his reading of Plato, which I will try to bring out in the following. Kierkegaard himself focuses on Socrates, especially in The Point of View where he declares Socrates as his teacher and also refers to him as the inventor of the category of »the single individual«, 49 and of the maieutic method. This method he then explains as a deceit into what is true. The need for such a deceit is explained as follows: One can deceive a person out of what is true, and – to recall old Socrates – one can deceive a person into what is true. Yes, only in this way can a deluded person actually be brought into what is true – by deceiving him. 50
Kierkegaard explains this deceit by use of an analogy. A person who suffers from a false belief is not like an empty vessel that needs to be filled or a blank page that needs to be written on, because his delusion must first be taken away. 51 The passage has a close parallel in On My Work as an Author where Kierkegaard again uses the analogy with a vessel to explain his indirect method: In relation to pure receptivity, like the empty vessel that is to be filled, direct communication is appropriate, but when illusion is involved, consequently something that must first be removed, direct communication is inappropriate. 52
This analogy explains Kierkegaard’s method of combining indirect and direct communication in order to empty and fill up: »Direct communication« is: to communicate the truth directly; »communication in reflexion« is: to deceive into the true. But since the movement is to arrive at the simple-minded, the communication in turn must sooner or 49 50 51 52
PV, 69 / SKS 16, 49. PV, 53 / SKS 16, 35. PV, 53–54 / SKS 16, 35. On My Work as an Author in PV, 8n / SKS 13, 15n.
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later end in direct communication. It began, maieutically, with aesthetic production, and all the pseudonymous writings are maieutic in nature. Therefore this production was also pseudonymous, whereas the directly religious – which from the beginning was present in the gleam of an indication – carried my name. 53
The term maieutic directly suggests Socrates as an inspiration, or rather, Plato’s poetic reproduction of Socrates in the Theaetetus. 54 And like Plato, Kierkegaard incorporates this Socratic method into a larger structure of written works, thus creating a movement, which is what Kierkegaard emphasizes here. This movement only emerges when we see his works as a whole. Thus, the view that one can deceive a person into what is true, which Kierkegaard ascribes to Socrates in the Point of View, seems to fit Plato’s poetic image of Socrates better than Kierkegaard’s own, historical Socrates. Kierkegaard’s metaphor of a vessel is revealing: It seems to be taken from a passage of Plato’s Symposium, in which Socrates says that it would be great if wisdom could flow from the fuller to the emptier person like water running from the fuller to the emptier vessel through a piece of yearn. 55 Socrates’ point in the Symposium is that wisdom is not at all like that, and this is precisely what Kierkegaard emphasizes about Socrates: He is unable to ›fill up‹. His art was the art of taking away, and thus, »communicate, fill up, enrich – this he could not do«, as Kierkegaard puts it. 56 When Kierkegaard in On My Work as an Author explains the maieutic as »the relation between the aesthetic writing as the beginning and the religious as the telos«, 57 he is describing his work in Platonic terms, as a combination of the negative and the constructive. In other words, Kierkegaard’s understanding of his own works is similar to his understanding of Plato’s, as presented in the dissertation and reiterated in the Postscript, 58 in that it assimilates Socrates’ maieutic and adds a positive, or constructive, element to complement Socrates’ negativity. The language in which Kierkegaard describes the relation between the maieutic and the upbuilding in his own body of work is On My Work as an Author in PV, 7 / SKS 13, 13–14. Translation modified. Cf. Socrates in Plato’s Theaetetus 148e–151d. Kierkegaard refers to this passage in CI, 29 / SKS 1, 91 as an image or metaphor (»billedlig Betegnelse«). 55 Plato, Symposium 175d. Kierkegaard refers to this passage in CI, 40n / SKS 1, 98n. 56 CI, 188 / SKS 1, 235. 57 On My Work as an Author in PV, 7 / SKS 13, 13. 58 CUP1, 205 / SKS 7, 188. Cf. also my discussion below in section V. 53 54
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highly reminiscent of his description of the structure in Plato’s works in The Concept of Irony. In the dissertation, Kierkegaard, following Schleiermacher, argued that the positive elements in Plato’s early dialogues were indications of Plato’s constructive philosophy, mainly in the myths. According to this view, »the expressions in the first dialogues, which vacillate between a positive and a negative position« are »an ambiguous preliminary glimpse [foreløbig Glimten],« and the myths are »an anticipation« and an »indication« [Antydning] of the positive philosophy which is more fully developed in the later dialogues. When Kierkegaard sees »the directly religious« as being present from the beginning »in the gleam of an indication [en Antydnings Glimten]« he is thus very close to his own description of Plato’s writings. The understanding that underlies this division is, as we saw above, Schleiermacher’s idea that »one great idea moves through [all of Plato’s dialogues] in successive development« 59, and this is exactly the coherence Kierkegaard sees in his own writings. He is thus eager to demonstrate that »the authorship, regarded as a totality, is religious from first to last.« 60 These similarities suggest, I believe, that Kierkegaard was inspired by Plato not only in his way of transferring the Socratic, indirect method, into writing, but also in his understanding of his own oeuvre as a unity which by means of indirect and direct communication brings out ›one great idea‹. It follows from Kierkegaard’s understanding of Socrates as purely negative, that the Socratic element is not in itself enough for the religious writer, who must have a positive message to deliver. The Socratic negativity needs to be complemented by a more directly formulated communication. For despite his religious outlook or fundamental religious belief, Socrates has no real religion to communicate, according to Kierkegaard. Like Socrates himself, his communication with divinity, his daimonion, is only negative, 61 and therefore he has nothing to offer his disciples, as Kierkegaard states in the dissertation. His pseudonym H. H. addresses this problem more directly in Two Minor Ethical-Religious Essays, perhaps the most direct critique of Socrates in Kierkegaard, the pseudonym states:
59 60 61
CI, 222/SKS 1, 266, cf. section II above. On My Work as an Author in PV, 6 / SKS 13, 12. CI, 159–160 / SKS 1, 209–210.
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The falseness in Socrates’ conduct was that he was an ironist, that he naturally had no conception of Christian love, which is known specifically by the concern of responsibility with regard to others, whereas he thought that he had no responsibility on behalf of the contemporaries but only to the truth and to himself. 62
Johannes Climacus addresses this problem about the Socratic in a slightly different way in the beginning of Fragments: Viewed Socratically, any point of departure in time is eo ipso something accidental, a vanishing point, an occasion. Nor is the teacher anything more, and if he gives of himself and his erudition in any other way, he does not give but takes away. 63
Viewed religiously, the moment is the decisive category, but for Socrates any moment is an occasion and a vanishing point. Thus, any moment in time is »hidden in the eternal«. 64 This, Climacus continues, is also why Socrates philosophized in the workshops and in the market-place, »with whomever he spoke.« This is entirely in keeping with Kierkegaard’s understanding of Socrates in the dissertation: He takes away. He can empty, but he cannot deliver any message or fill up. In section I, I noted that Kierkegaard begins The Concept of Irony with a reflection on Ferdinand Baur’s comparison of Plato and Xenophon with the evangelists. Kierkegaard, as we saw, rejected the comparison, but did acknowledge a certain similarity, in that Plato saw in Socrates »an immediate conveyer of the divine«. On this view, Plato’s constructive philosophy was an attempt to pursue this notion of divinity. It seems that Kierkegaard recognizes that Plato was, at least to a certain extend, correct in his attempt to add a positive element to Socrates’ maieutic, but in itself negative, method. Even if Kierkegaard is critical towards parts of Plato’s constructive or speculative philosophy – a critique I will address in the next section – he realizes the need for such a constructive element. For Kierkegaard himself, it is possible to add such an element to the negative maieutics while avoiding speculation or teaching, namely by pointing to Christ in his religious works. In this way Kierkegaard manages to deploy a Platonic poetics, combining a Socratic maieutic with a constructive counterpart, without speculating himself 62 63 64
WA, 75 / SKS 11, 80. PF, 11 / SKS 4, 220. PF, 13 / SKS 4, 221.
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or taking on the role as a teacher, because he can point to Christ as the teacher. This difference between Plato as a Socratic writer and Kierkegaard as a Christian writer can be seen as a development of the difference between describing Christ and describing Socrates, which Kierkegaard noted already in the dissertation. According to that distinction, Christ could be described literally because he, unlike Socrates, was absolutely true. This difference is crucial for the communication of truth because Christ acts as a teacher, which is exactly what humans cannot do. This difference is, I think, also what makes it possible for Kierkegaard to see his own authorship in Platonic terms, as a unity of an indirectly communicated maieutic part and a directly communicated constructive part.
V.
Kierkegaard’s Critique of Plato
There are, from the Postscript onwards, a number of critical remarks about Plato in both Kierkegaard’s published writings and in his journals. In most of these, Kierkegaard or his pseudonyms criticize Plato for poeticizing and thereby removing himself from existence. We should probably see this critique in light of Kierkegaard’s fondness of Socrates. Socrates comes to take the place as Kierkegaard’s ideal philosopher, because he continually emphasized existence. This is crucial to Climacus’ project in the Postscript, where Climacus comes to see Socrates as the example of a truly existing thinker, even an ethicist bordering on the religious. 65 From this perspective, Plato is seen as a step back from the Socratic position because Plato chose to pursue thinking and writing instead of existing, as Climacus remarks in the Postscript. 66 However, CUP1, 503 / SKS 7, 456, cf. 457n, 515. In fact Climacus goes as far as taking Socrates’ ignorance as »an analogue to the category of the absurd, in the repulsion exerted by the absurd« and »the Socratic inwardness in existing is an analogue to faith«, CUP1, 205 / SKS 7, 188. 66 CUP1, 205 / SKS 7, 188. Climacus is discussing the doctrine of recollection and makes a distinction between Socrates and Plato, which he did not make in the Fragments: »This thesis is an intimation of the beginning of speculative thought, but for that very reason Socrates did not pursue it; essentially it became Platonic. This is where the road swings off, and Socrates essentially emphasizes existing, whereas Plato, forgetting this, loses himself in speculative thought. Socrates’ infinite merit is precisely that of being an existing thinker, not a speculative thinker who forgets what it means to exist.« This is followed by the long footnote in which Climacus explains 65
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it should be noted that Climacus, despite his critique, also points to the Platonic dialogue as an ideal form of philosophical writing as opposed to the Hegelian scientific account. 67 Furthermore, we should not overlook the contrast between Johannes Climacus himself, who is the author of two dense and complicated pieces of philosophical prose writing, and Socrates, the hero of these books, who is praised for continually avoiding speculation and emphasizing existence. Climacus is himself aware of this contrast and his inability to practice what he preaches. He addresses this problem explicitly in his statement of »understanding with the reader« at the very end of the book: The undersigned, Johannes Climacus, who has written this book, does not make out that he is a Christian; for he is, to be sure, completely preoccupied with how difficult it must be to become one; but even less is he one who, after having been a Christian, ceases to be that by going further. 68
Socrates is fundamental to Climacus’ idea of a Christian, and as our passage shows, Climacus is fully aware that he is not a Christian Socrates. Kierkegaard himself seems to face a similar problem. In general, Kierkegaard seems to pay less attention to Plato’s alleged tendency to speculation. Instead he problematizes Plato’s position as a poetical writer, as I discuss below. And following directly on Climacus’ statement above, Kierkegaard, in his »First and Last Explanation« acknowledges being the author of the pseudonymous writings, 69 and here he describes his own practice as a writer as »poetic creation« (Digterisk Frembringelse). 70 His pseudonyms are »poetically real« the need to distinguish between Socrates and Plato which he did not make a point of in Philosophical Fragments. The distinction is the same as in The Concept of Irony, to which Climacus explicitly refers. Niels Jørgen Cappelørn has pointed out to me that Climacus’ use of ›speculation‹ here should probably not be understood in the Hegelian sense, but simply as ›thinking or philosophizing as opposed to existing‹ ; this is corroborated by Climacus’ claim that every Greek thinker is a passionate thinker, which implies that they are not speculative in the way he considers Hegel to be speculative (CUP1, 91–92, 121–122, 311–313 / SKS 7, 90–91, 117, 283–285). David D. Possen, »Meno: Kierkegaard and the Doctrine of Recollection« (note 3), pp. 27–44 has argued that this distinction between the Socratic and the Platonic position undermines Kierkegaard’s use of Plato as a philosopher altogether. This treatment should be read along with other, less critical, treatments of Kierkegaard’s relation to Plato, such as Karsten Friis Johansen, »Kierkegaard und die Griechische Dialektik« (note 3), pp. 51–124. 67 CUP1, 304 / SKS 7, 298–299. 68 CUP1, 617 / SKS 7, 560. 69 CUP1, 625–630 / SKS 7, 569–573. 70 CUP1, 627 / SKS 7, 571.
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authors who are »poetically real subjective thinkers«. 71 Kierkegaard seems to realize that this is also a step back from the Socratic ideal. There is thus a certain irony in the fact that Kierkegaard, as he comes to praise Socratic existence more strongly over Platonic thinking and writing, he himself more and more resembles not Socrates, but Plato. This irony is not lost on Kierkegaard himself, who, in the time of writing The Point of View and On My Work as an Author grows increasingly dissatisfied with his own task. This paradox can be seen in light of Kierkegaard’s thoughts on the genius as opposed to the apostle. The theme is taken up in the Postscript as part of the discussion on direct and indirect communication, and continued in Two Minor Ethical-Religious Essays, published under the pseudonym H. H. The difference is, so the argument, a difference of authority: The apostle has authority from God, while the genius has none. This involves a difference in terms of communication because the genius, as opposed to the apostle, has no right to act as a teacher. This problem is connected to the discussion of literary and maieutic strategy, as I discussed in the previous section. Kierkegaard is not an apostle and cannot, therefore, act as a teacher. It is somewhat surprising in this context to find that Kierkegaard uses Plato along with Shakespeare as his examples of the geniuses he opposes to the apostle Paul. 72 Shakespeare is anything but surprising, since he was the ›original genius‹ par excellence in eighteenth and nineteenth century discussions. But the typical Greek example of the genius is Homer, sometimes in the company of Pindar, 73 which is little surprising since the Romantic idea of the genius is closely connected to the idea of the poetic genius. To consider Plato a genius therefore implies that he has to be understood as an artist, which is why Plato was considered a genius by those who, in the wake of Schleiermacher and Schlegel, saw Plato as an artist-philosopher and his dialogues as
SKS 7, 570, »digterisk-virkelig«. Hong translates »poetical actual«, CUP1, 626. WA, 94 / SKS 11, 98: »As a genius, Paul cannot stand comparison with either Plato or Shakespeare […] And as an apostle he again has no affinity, none whatever, with either Plato or Shakespeare«. 73 For a comprehensive study of the role the idea of the genius played, especially among Kierkegaard’s german contemporaries, see Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750– 1945, 2 vols., Darmstadt 1985. 71 72
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the unity of art and thought. 74 That Kierkegaard includes Plato along with Shakespeare is revealing of his esteem for Plato as a literary artist and perhaps also his identification with him. Again, the understanding of Plato as a genius contrasts with Kierkegaard’s understanding of Socrates to whom he continually refers as a hero and a martyr who devoted his life to action rather than writing. 75 Thus, for example, in the entry NB16:87: »When I speak of a hum[an] being, pure and simple, I say: O, greatest of all hum[an] beings, old Socrates, hero and martyr of intellectuality, you alone understood what it is to be a reformer, and understood yourself in being one, and were one.« Kierkegaard at the same time emphasizes that Socrates was not a genius, but a hero.76 However, Kierkegaard considers himself – a genius. This discussion of the genius is constantly connected to Kierkegaard’s own activity as a writer, as is also widely attested in his journals. 77 Here Kierkegaard refers directly to Two Minor EthicalReligious Essays and states about himself: »I am ›without authority,‹ I am a genius – not an apostle«. 78 In the same journal he repeatedly reproaches himself for being »a poet and absolutely nothing more than a poet«. 79 When Kierkegaard in the preface to Two Discourses at the Communion on Fridays, gives his final opinion on his entire work and his own position, he states that »the author, personally most aware of his own imperfection and guilt, certainly does not call himself a truth-witness, but only a singular kind of poet and thinker, who, without authority, has had nothing new to bring«. 80 It would seem that the more Kierkegaard comes to praise Socrates, the more he realizes, and painfully so, that he himself is a So, emphatically, Friedrich Ast, Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik, Landshut 1808, pp. 209–215. 75 E. g. NB16:87; NB11:22; NB11:53. 76 NB4:10. 77 NB3:19 (KJN 4, 253–255): »What our time needs is not a genius – it surely has had geniuses enough – but a martyr, one who in order to teach ppl. to obey would himself become obedient to the point of death, one whom men put to death; but, see, just because of that they would lose, for simply by killing him, by being victorious in this way, they would become afraid of themselves. This is the awakening that our age needs.« Compare the statement in SUD, 92 / SKS 11, 205: »what the world, confused simply by too much knowledge, needs is a Socrates.« 78 NB11:33. 79 NB:204 (KJN 6, 124). Cf. also NB11:8; 49 and passim. 80 WA, 165 / SKS 12, 281. 74
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Plato. It is in any case notable that most of the critical remarks about Plato are made after 1847 in a period when Kierkegaard was increasingly concerned about his own position as a religious writer and the coherence of his authorship. I would thus argue that Kierkegaard’s critical remarks on Plato, the fact that he at least at times considers him a step back from Socrates, attests to Kierkegaard’s own indebtedness to Plato as a writer, rather than the opposite. For right beneath the discussion of Plato’s style lies, I think, a discussion with himself about his own role as author and potential poet. The following entry from the journal NB17, no. 35 is an example. The entry bears the title ›Plato‹ : 81 Is it not strange that in the Republic Plato wants to have »the poets« exiled from the state, attacks »the poets« frequently – and yet was in fact himself a poet or a thinker with a predominantly poetic strain. Again, what is remarkable here is that this is not an earlier stage and the decisively ethical a later stage. Alas, no, it is the reverse. It is a reversed μετάβασις εἰς ἄλλο γένος. This is reminiscent of Socrates, who himself was actually an ethicist and was right in wanting to get rid of »the poet.« With the second generation (Plato) we have come so far that Plato is the poet who wants to get rid of »the poet« – he poetizes wanting to get rid of the poet, that is how far things have gone backwards. I have been struck by some words of Aristippus (in Wieland’s Aristipp und seine Zeit, 4th vol. p. 34), where he speaks of Plato’s Republic: »You require,[«] he writes, [»]my views of this new poem by our declared enemy of poets.« This point about Plato has also been significant to me personally. I have always recognized that there is a poetic strain in me. But in me there is a struggling forward. I do not follow immediately after a Socrates and let the matter go backward. No, in the limitless confusion of religion, I am a step forward. I point out the turn that is to be made, but, almost fainting under the enormous intellectual task of clearing the ground, I myself point out the simple ethical existence as that which is higher. 82
Kierkegaard’s considerations in this entry seem to be a direct result of his reading Wieland’s critique of Plato. As the last paragraph reveals, Kierkegaard is concerned with the critique because he is aware that it affects his own writings. In other entries from around the same time he recognizes and laments his own »predominantly poetic strain« [et
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NB17:35 (1850), cf. also NB14:55 (1849), where a similar point is made. KJN 6, 189–190, translation modified.
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overveiende Digterisk], 83 the exact words he uses to describe Plato here. It is telling that the last paragraph of an entry titled ›Plato‹ ends with a discussion of his own position, in which he acknowledges that he is similar to Plato – so much so that a critique of Plato’s poetics is also a critique of Kierkegaard’s. 84
NB12:147; NB19:32. I wish to thank the organizers of the conference, Hermann Deuser and Markus Kleinert, along with the other participants in the conference for questions and discussions which helped me to clarify my view and my argument. I am grateful to David Bloch for commenting on a previous version of this article, and above all to Niels Jørgen Cappelørn who incited me to begin this project, and who generously read and commented on previous versions, as well as discussed the topic with me on several occasions.
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Einleitung 1 Den heidnischen Satiriker des 2. Jahrhunderts n. Chr. Lukian von Samosata mit dem berühmten dänischen Philosophen, Essayisten, Theologen und christlichen Schriftsteller Søren Kierkegaard zu verbinden, scheint auf den ersten Blick gewagter, als es tatsächlich ist. Immerhin eckten beide mit ihren Schriften bei ihren Zeitgenossen ziemlich an, aber das ist nur eine formale Gemeinsamkeit. Es gibt, neben der formalen, auch eine inhaltliche Gemeinsamkeit von Kierkegaard und Lukian, gar eine geistige Verwandtschaft. Um die soll es im Folgenden gehen. Kierkegaards Dissertation Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates aus dem Jahre 1841 setzt ihn in direkte Beziehung auch zur antiken Satire und damit auch zu einem ihrer prominentesten Vertreter im 2. Jahrhundert n. Chr., Lukian von Samosata. Nun kann dieser Beitrag keine neuen substantiellen Erkenntnisse über Kierkegaard bringen, wohl aber etwas über Lukian, dessen Werke Kierkegaard an einigen Stellen verwendet. So will dieser Beitrag sich auf den Weg zu Lukian zu machen, um vielleicht auch unterwegs Kierkegaard zu begegnen.
I.
Leben und Werk des Lukian von Samosata
Geboren zwischen 115 und 125 n. Chr. im syrischen Samosata, bezeichnet er sich selbst in der Dea Syria als Assyrer, 2 während er sich anderenorts »Syrer« oder sogar »Barbar« nennt. 3 Ein hellenisierter Für seine wertvollen Hinweise bin ich Herrn Dr. Markus Kleinert, Erfurt, zu großem Dank verpflichtet. 2 »Über die syrische Göttin« (Syr.D.) 1, 8. 3 Jane-L. Lightfoot (Hg.), Lucian. On The Syrian Goddess, Oxford 2003, S. 205. 1
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Lukian und Kierkegaard
Syrer kann zugleich Ethnographie des eigenen Territoriums betreiben oder, gleichsam in den Fußstapfen des Herodot, in der Dea Syria als Tourist aus hellenischer Sicht die ›barbarischen‹ Riten im syrischen Hierapolis beschreiben. Letztlich wissen wir aber nicht ganz genau, wie es sich mit den Ich-Erzählern der lukianischen Schriften genau verhält, inwieweit sich hier Fiktion und Biographisches vermischen. 4 Relativ sicher ist jedoch, dass Lukian in Samosata am Ufer des Euphrats am östlichen Rand des römischen Syrien in eine wohlhabende Familie von mittlerer sozialer Situierung geboren wurde. Er erhielt in Ionien (Kleinasien) seine rhetorische Ausbildung 5 und kam dann als Wanderredner auch nach Makedonien, Griechenland, Italien und Gallien. 6 Im Jahre 163/164 hielt er sich vielleicht in Antiochia auf, wo er um die Gunst des sich von 161–166 auf dem Partherfeldzug befindlichen Kaisers Lucius Verus warb. 7 Möglicherweise war er vorher 161/162 n. Chr. in Samosata gewesen. 8 Bald darauf spielt die von ihm selbst geschilderte Auseinandersetzung mit dem Orakelpropheten Alexander von Abonuteichos (Alexander oder der Lügenprophet). Die von ihm ebenfalls beschriebene Selbstverbrennung des pythagoreischen Kynikers Peregrinos in Olympia datiert 165 n. Chr. Um diese Zeit bis in die 70er Jahre muss sich Lukian in Athen aufgehalten haben, wo er zahlreiche Schriften verfasste. Später scheint er in der Provinzialbürokratie Ägyptens tätig gewesen zu sein, 9 die Prolalia Herakles zeigt aber, dass er im fortgeschrittenen Alter wieder zur Rhetorentätigkeit zurückkehrte. Da er die Divinisierung Marc Aurels im Alexander noch erwähnt, muss er nach 180 gestorben sein. 10 Die Vorrede Herakles lässt ihn als alten Mann erscheinen, sie nimmt die erneute Aufnahme einer Redetätigkeit zum Anlass. Als alter Mann erscheint er auch in der Vorrede Dionysos sowie in seinen Ebd. »Der doppelt Angeklagte« (Bis Acc.) 27. 6 Bis Acc. 27; ferner »Apologie« (Apol.) 15. 7 Vgl. Wolfgang Spickermann, »Lukian und die (Götter)Bilder«, in: D. Boschung/ A. Schäfer (Hg.), Römische Götterbilder der mittleren und späten Kaiserzeit, Paderborn 2015, S. 87–107, hier S. 97–99. 8 Lightfoot, Lucian (Anm. 3), S. 208. 9 Apol. 12. 10 Heinz-Günther Nesselrath, »Lukianos«, in: H. Cancik/H. Schneider (Hg.), Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 7, Stuttgart/Weimar 1999, Sp. 493–501, hier Sp. 493. Schon Barry Baldwin, Studies in Lucian, Toronto 1973, S. 18, bemerkt zur Vita Lukians: »it should be iterated that there is virtually nothing in the evidence, internal and external, for Lucianic chronology that deserves the status of a fact«. 4 5
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autobiographischen Essays Apologia und »Zur Verteidigung eines Fehlers in der Anrede«. Insgesamt kennen wir von ihm acht Vorreden, mit denen er seine Vortragsdarbietungen zu eröffnen pflegte: »Der Geschichtsschreiber Herodot«, »Der Maler Aetion«, »Der Aulos-Spieler Harmonides«, »Der Skythe«, »Über die Dipsas-Schlangen«, »Über Bernstein«, »Der Maler Zeuxis« und »Der König Antiochos«. Hinzu kommen einige kleine Schriften, bei denen es sich um geistreich-paradoxe Spielereien handelt. Anders stellt die Dea Syria eine Schrift zu einem zeitgenössischen Phänomen dar, wenn man so will die erste systematische religionshistorische Schrift. Wenn auch die Autorschaft Lukians umstritten war, so gilt sie heute doch bei der Mehrheit der Forscher als akzeptiert. Sollte Lukian übrigens tatsächlich Hierapolis selbst besucht haben – wie er angibt –, dann dürfte dies während seines Syrienaufenthaltes Anfang der 160er Jahre zu datieren sein. Zu den erzählenden Schriften gehören übrigens die Wahren Geschichten, in denen der Ich-Erzähler münchhausenhafte Reisen zu märchenhaften Orten schildert, was sich vor allem gegen die zeitgenössischen utopisch-abenteuerlichen Reiseromane richtete. Teilt man das umfangreiche Œuvre Lukians systematisch ein, so kann man zwischen rhetorischen Schriften, Dialogen, menippeischen Schriften, erzählenden Schriften und Pamphleten zu zeitgenössischen Phänomenen unterscheiden, darunter die schon erwähnte Schilderung der Selbstverbrennung des Peregrinos, Alexander oder der Lügenprophet, die Beschreibung der unwürdigen Existenz griechischer Philosophen in den Häusern reicher Römer (Über die, die für Lohn Unterricht halten), gegen den Ungebildeten, der viele Bücher kauft oder aber Wie man Geschichte schreiben soll, eine Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Historiographie zum damaligen Partherkrieg. 11 In seiner Schilderung des Todes des Peregrinos verübt er einen heftigen Christenspott, was zu heftigen Beschimpfungen byzantinischer Autoren führte. 12 Lukian ist einer der zahlreichen antiken Schriftsteller, welche die europäische Kultur mit Schwankungen maßgeblich beeinflusst haben, was ich hier nur skizzieren kann.
11 12
Nesselrath, »Lukianos« (Anm. 10), S. 497 ff. Peregr. 11–16; vgl. Blasphemiker: Suda 683 Λ.
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Lukian und Kierkegaard
II.
Die Lukianrezeption im deutschen Sprachraum
»Die gesündesten Köpfe aller Zeiten sind seine Freunde gewesen«, hat der Lukian-Übersetzer Christoph Martin Wieland über ihn gesagt, »und ein einziger Anpreiser wie Erasmus von Rotterdam wiegt eine Legion von Anbellern mit und ohne Kapuzen zu Boden.« 13 Dass die Rezeption Lukians immer schon sehr kontrovers war, die größten Köpfe seiner eigenen Zeit ihn offenbar ignoriert haben und die Beurteilung seiner Werke in den letzten 500 Jahren zwischen begeisterter Aufnahme und völliger Ablehnung mehrfach hin und her schwankte, vermögen vor allem die umfangreichen Untersuchungen von Christopher Robinson 14 und Manuel Baumbach 15 sowie ein Beitrag von Letizia Panizza über Lukian in der italienischen Renaissance 16 und deren Besprechung von Martin Mulsow in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nachzuzeichnen. 17 Letizia Panizza kann herausarbeiten, dass je nach Rezipient und Intention ganz verschiedene Lukian-Bilder zugleich existierten: der unfromme Lukian, der heitere Moralphilosoph und der politisierte Meister von Verstellung und Freiheitsforderung. Hier können nur einige wenige bekannte Beispiele genannt werden. Nach dem Erscheinen der griechischen und zum Teil schon lateinischen Werkausgaben lukianischer Schriften, teilweise schon im frühen 15. Jahrhundert, ist zunächst Erasmus von Rotterdam als großer Verehrer Lukians zu nennen, der gemeinsam mit Thomas Morus im Jahre 1506 eine neue Werksammlung (Luciani opuscula) herausgab; beide adaptierten später »viel Lukian« in ihren Satiren Das Lob der Torheit und Utopia. 18 Aber auch der Humanist Willibald Pirckheimer bezieht sich in seiner Lobrede auf die Podagra auf ihn und Christoph Martin Wieland, Lucians von Samosata Sämtliche Werke, 6 Bde., Leipzig 1788/89, hier Bd. 1, S. XXXV. 14 Christopher Robinson, Lucian and his influence in Europe, London 1979. 15 Manuel Baumbach (Hg.), Lukian in Deutschland. Eine forschungs- und rezeptionsgeschichtliche Analyse vom Humanismus bis zur Gegenwart (Beihefte zu Poetica, Heft 25), München 2002. 16 Letizia Panizza, »Vernacular Lucian in Renaissance Italy: Translations and Transformations«, in: C. R. Ligota/L. Panizza, Lucian of Samosata vivus et redivivus (Warburg Institute Colloquia, Bd. 10), London/Turin 2007, S. 71–114. 17 FAZ vom 14. Jan. 2004. 18 Vgl. Heinz-Günther Nesselrath, »Lukian (Lukianos von Samosata)«, in: Chr. Walde (Hg.), Die Rezeption der antiken Literatur. Kulturhistorisches Werklexikon (Der Neue Pauly. Supplemente, Bd. 7), Stuttgart/Weimar 2010, S. 466. 13
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seine gleichnamige Schrift, Hans Sachs ließ sich durch das 10. Totengespräch zu seinem Charon, durch das 20. Göttergespräch zum Urteil des Paris inspirieren, 19 Ulrich von Hutten nutzte ihn für seine Angriffe auf Kirche und Fürsten. 20 Erwähnenswert ist auch eine Handzeichnung Albrecht Dürers, der den lukianischen Ogmios zwischen 1510 und 1520 gezeichnet haben muss. Dürer hatte Lukian über Willibald Pirckheimer kennen gelernt. Seine Darstellung des Herakles im Stile eines Hermes Logios ist an den mittelalterlichen Totentänzen orientiert und erinnert damit wiederum an den Psychopompos. Die schwindende Aufmerksamkeit des 17. Jahrhunderts gegenüber Lukian wird sowohl mit der Stigmatisierung des griechischen Autors als Blasphemist als auch mit der Abwendung von der Prosasatire zugunsten der römischen Verssatire (Horaz, Persius, Juvenal) erklärt. 21 Das einzige Bild, das wir von Lukian besitzen, ist übrigens ein Kupferstich aus dem Jahr 1664 mit einem Fantasieporträt von William Faithorne (1627–1691). Im 18. Jahrhundert haben sich Christoph Martin Wieland als Übersetzer, Johann Wolfgang von Goethe, besonders in seinem Zauberlehrling, und auch Friedrich Schiller von ihm inspirieren lassen. Goethe nimmt auch in seinem im Dezember 1791 in Weimar aufgeführten Stück »Groß-Cophta« im 4. Auftritt des 1. Aufzuges Bezug auf Lukians Herakles. Dort heißt es: »Da sah ich den GroßCophta wandeln; ich sah ihn umgeben von Schülern, die wie mit Ketten an seinen klugen Mund gebunden waren.« Goethe hatte Lukian schon während seiner Ausbildung kennen gelernt, verdankt eine engere Beziehung aber wohl seinem Umgang mit Wieland, der seine Übersetzung Lukians in sechs Bänden 1788/89 in der Weidmannschen Verlagsbuchhandlung in Weimar veröffentlicht hatte. 22 Der Vater der Nationalökonomie Adam Smith (1723–1790) sah in Lukian einen epikuräischen Moralisten, dem er seine Hochachtung zollte: »there is no author from whom more real instruction and good sense can be found than Lucian«. Smith behauptet, dass Lukian ein exzelEbd., S. 470 f. Genannt sei hier vor allem sein Phalarismus, ein in der Unterwelt angesiedelter Dialog zwischen dem antiken Despoten Phalaris und einem deutschen Tyrannen (Ulrich von Württemberg), bei dem Lukians Phalaris I und II Pate gestanden haben könnten. 21 Baumbach, Lukian in Deutschland (Anm. 15), S. 24 f. 22 Albin Lesky, »Ogmios bei Goethe«, in: Doris Ableitinger/H. Gugel (Hg.), Festschrift Karl Vretska, Heidelberg 1970, S. 116–120, hier S. 116 ff. 19 20
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lentes Vorbild für alle Morallehrer sein könnte, ganz im Gegensatz zu allen vorherrschenden Morallehren seiner Zeit. 23 Nach Lukians Beschreibungen entstanden weiter Gemälde – erwähnt sei nur Boticellis Rekonstruktion der Calumnia des Apelles nach der gleichnamigen Schrift Lukians, daneben beziehen sich Bauwerke und, wie gezeigt, Theaterstücke auf ihn, sogar Musikstücke wurden von Lukians Werk inspiriert. So schuf der österreichische Komponist Hartmut Schmidt auf der Grundlage von Lukians »Ikaromenippus oder Die Luftreise« beispielsweise 1980 die Oper »Menippus« (Text von Werner Thuswaldner). Wenn wir auf den deutschsprachigen Raum schauen, sind natürlich die Übersetzungen besonders wichtig. Die bis heute maßgebliche Lukianübersetzung Christoph Martin Wielands erschien ja – wie gesagt – 1788/89. Wieland hatte schon 1782 den Horaz und 1808 auch alle Briefe Ciceros übersetzt. Auch hat er sich in seinem Œuvre von Lukian beeinflussen lassen, so insbesondere sein Roman Geheime Geschichte des Philosophen Peregrinus Proteus (Vorabdruck: Weimar 1788/89; Leipzig 1791), eine Weiterführung des lukianischen Peregrinus. 24 Kierkegaard hat allerdings nicht Wielands Übersetzung benutzt, sondern die vierbändige von Johann Heinrich Waser, die 20 Jahre zuvor 1769 in Zürich erschien. Die 1827 bis 1832 in fünfzehn Bändchen publizierte Übersetzung von August Friedrich von Pauly und die 1866/67 erschienene von Theodor Fischer waren zwar recht verbreitet und hielten sich sehr an den griechischen Originaltext, konnten aber nicht an die literarische Qualität von Wieland heranreichen. Da Lukian sich zu allem und jedem häufig satirisch und in einem gefälligen, schon feuilletonistischen Stil geäußert hat, waren seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konservative Altphilologen und Althistoriker, deren Disziplinen sich in dieser Zeit etablierten, lange Zeit geneigt, einem solchen Autor jedwede Glaubwürdigkeit abzusprechen. 25 Die kreative Rezeption rückte dadurch im 19. Jh. vorAdam Smith, Lectures on rhetoric and belles lettres (The Glasgow edition of the works and correspondence of Adam Smith, Bd. IV), ed. by J. C. Bryce and A. S. Skinner, Indianapolis 1985, p. 51. Für diesen Hinweis bin ich Herrn Prof. Knuth Haakonsen, Erfurt, zu Dank verpflichtet. 24 Nesselrath, »Lukian (Lukianos von Samosata)« (Anm. 18), S. 472. 25 Hierzu besonders Rudolf Helm, Lucian und Menipp, Leipzig/Berlin 1906; vgl. ders., »Lukianos«, in: Paulys Realencyklopädie der classischen Altertumswissenschaft 13, 2, Stuttgart 1927, Sp. 1725–1777, hier Sp. 1771 ff. über die Charakter23
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wiegend gegenstandsbedingt stark in den Hintergrund. Diese einflussreiche Haltung findet sich auch noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, erfuhr aber einen Kontrapunkt durch die Wertschätzung Lukians durch Schriftsteller wie Kurt Tucholsky (s. u.) oder Albert Ehrenstein. 26 Verdient so die schriftstellerische Fähigkeit Lukians uneingeschränktes Lob, so muss man dies seinem Charakter umso mehr vorenthalten. Vergangene Zeiten haben ihn stark überschätzt, weil sie Art und Zweck seiner Werke falsch ansahen und höchstens in ihrer Voreingenommenheit an seiner Ablehnung des Christentums Anstoß nahmen. […] Man muss Lukians tüchtige Begabung, sein ehrgeiziges Streben, seinen hervorragenden Fleiß im Erlernen der griechischen Sprache anerkennen, man muss auch seinem guten Geschmack, seinem literarischen Wissen und der Beweglichkeit seines Geistes Gerechtigkeit widerfahren lassen, wenn schon die Oberflächlichkeit auffällt und die Wiederholung der gleichen Motive nicht gar zu große Phantasie verrät, aber ebenso wenig kann man an die Lauterkeit seines Charakters glauben. Schon bei der Auswahl seiner Stoffe beeinflusste ihn manchmal sein Hang zum Frivolen. 27
So lautet das harte Urteil Rudolf Helms in seinem 1927 erschienenen Artikel in Paulys Realenzyklopädie über Lukian von Samosata. Helm war sehr einflussreich mit seiner Einschätzung, denn noch in einer bei Artemis 1947 unter dem Titel »Parodien und Burlesken« publizierten Anthologie lukianischer Werke auf der Grundlage der wielandschen Übersetzung beklagt sich der Kommentator Emil Ermantinger in der Einleitung darüber, dass wie auch während des letzten Krieges ungezählte Bücher in Deutschland dem Verderben anheimfielen, so wurde daneben viel wertloses Gut gerettet, bloß weil es in Gestalt von Bestsellern in größerer Stückzahl produziert worden sei. Ähnlich verhalte es sich mit Lukian unter dessen Namen mehr als 80 Schriften erhalten seien; seine Schriften kamen nach der Einnahme von Byzanz 1453 mit als erste in den Westen, während Schrif-
schwäche Lukians. Auch Hans Dieter Betz, Lukian von Samosata und das Neue Testament. Religionsgeschichtliche und paränetische Parallelen. Ein Beitrag zum Corpus Hellenisticum Novi Testamenti (Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur 76 = Reihe V, Band 21), Berlin 1961, S. 6, nimmt diese Wertung auf, wenn er schreibt, dass man bei Lukians Charakter nicht erwarten dürfe, dass er sich um genauere Informationen über die Christen bemüht habe. 26 Vgl. z. B. die Übersetzung lukianischer Werke von 1918 im Rowohlt-Verlag. 27 Helm, »Lukianos« (Anm. 25), Sp. 1771 f.
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ten Größerer verloren gegangen seien. 28 An anderer Stelle vergleicht er Wieland mit Lukian und bescheinigt ersterem mehr Größe, da er entgegen Lukians oberflächlicher Kritik versuche, den Dingen auf den Grund zu kommen. 29 Dieser durch die Erfahrungen des 2. Weltkriegs beeinflusste Blickwinkel des Kommentators verkennt aus heutiger Sicht völlig den Sinn der satirischen Schriften Lukians und seine Verbindung mit dem klassischen griechischen Bildungsideal, der Paideia. Das vernichtende Urteil ist vielleicht auch der Grund, warum die Werke Lukians keine neue deutsche Gesamtübersetzung erfuhren. Neben der erwähnten Auswahl gibt es eine weitere zweisprachige griechisch-deutsche Ausgabe der Hauptwerke Lukians von Karl Mras aus dem Jahr 1954. 30 Allerdings wurde die Wieland-Übersetzung 1974 vom Ostberliner Aufbau Verlag sprachlich überarbeitet in drei Bänden wiederaufgelegt. Es sei nur am Rande erwähnt, dass Lukian nach der achtbändigen Loebausgabe von 1913 bis 1967 zahlreiche englische Übersetzungen in Auszügen erfuhr. In Deutschland wurde ihm diese Ehre dann wieder durch Reclam-Ausgaben einzelner Schriften zuteil und seit Neuestem durch kommentierte Reihen der Wissenschaftlichen Buchgemeinschaft Darmstadt oder der Bibliothek der Alten Welt. 31 Die Verurteilung ist damit heute einer differenzierteren Auffassung gewichen, wobei die Intention des lukianischen Œuvres nach wie vor umstritten bleibt. Während Josef Delz, James H. Oliver und Barry Baldwin in Lukian einen Kritiker politischer, kultureller und sozialer Zustände seiner Zeit sehen wollen, 32 Lukian, Parodien und Burlesken. Auf Grund der Wielandschen Übertr. hg. v. Emil Ermatinger und Karl Hoenn, Zürich 1948, S. VII. 29 Ebd., S. XXXIII. 30 Lukian, Die Hauptwerke des Lukian. Griechisch und deutsch, hg. v. Karl Mras, München 1954. 31 Reclam: Otto Seel, Gespräche der Götter und Meergötter, der Toten und der Hetären, Stuttgart 1967 (Reclams Universal-Bibliothek, Nr. 1133/33a/b); Jula Wildberger, Symposion. Griechisch/Deutsch, Stuttgart 2005 (Reclams Universal-Bibliothek, Nr. 18377). Neuere kommentierte Ausgaben: Martin Ebner et al. (Hg.), Die Lügenfreunde oder: Der Ungläubige (SAPERE, Bd. 3), Darmstadt 2001; Peter Pilhofer (Hg.), Der Tod des Peregrinos. Ein Scharlatan auf dem Scheiterhaufen (SAPERE, Bd. 9), Darmstadt 2005; Peter von Möllendorff, Hermotimos oder: Lohnt es sich, Philosophie zu studieren? (Texte zur Forschung, Bd. 74), Darmstadt 2000; Peter von Möllendorff, Gegen den ungebildeten Büchernarren. Ausgewählte Werke, Düsseldorf 2006. 32 Josef Delz, Lukians Kenntnis der athenischen Antiquitäten, Freiburg/Schweiz 1950. Vgl. James H. Oliver, »The actuality of Lucian’s ›Assembly of the Gods‹«, in: American Journal of Philology 101 (1980), S. 304–313; Baldwin, Studies in Lucian (Anm. 10). 28
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relativieren etwa Jacques Bompaire, Jennifer Hall und Matthew D. Macleod die Aktualität seiner Schriften und stellen eher seinen Klassizismus in den Vordergrund. 33 Graham Anderson bezieht hier eine vermittelnde Position. 34 Gilbert Highet drückt die die Werke Lukians betreffende Problematik – seine Ortlosigkeit – aus seiner Sicht ziemlich drastisch aus: When I try to read these satires in which, with the same subtlety as a freshman preaching atheism, he deflates Bronze Age myths of Zeus and the Olympians and lards his thin dictionary-Attic prose with cultured quotations from correct classics, I feel as though I were trying to savour a satire on the medieval Christian cult of relics written in Chaucerian verse by an intelligent Hindu of the present day. 35
Es ist ja in der Tat ein Problem, wenn Lukian seine Leser immer wieder in die Irre führt, voller Spottlust eben noch als sicher Geglaubtes in Frage stellt, und man immer begründete Zweifel haben muss, ob der Ich-Erzähler tatsächlich den Autor vertritt. Selbst die schöne Szene, als der Ich-Erzähler den Lügenpropheten Alexandros bei einem Besuch in Abunoteichos in die Hand beißt, muss leider nicht unbedingt für bare Münze genommen werden. 36
III. Der Einfluss der zweiten Sophistik Wenden wir uns zunächst einmal dem literarischen Genre zu, in welchem sich Lukian bewegt. Die zweite Sophistik war mit einer Wertschätzung der Gelehrsamkeit verbunden, die nicht auf einen be33 Jacques Bompaire, Lucien écrivain. Imitation et création, Paris 1958; Jennifer Hall, Lucian’s satire, New York 1981; Matthew D. Macleod, »Lucianic Studies since 1930«, in: W. Haase/H. Temporini (Hg.), Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt II, 34, 2, Berlin/New York 1994, Sp. 1362–1421. 34 Graham Anderson, Lucian. Theme and variation in the second sophistic (Mnemosyne: Supplementum, Bd. 41), Leiden 1976. 35 Gilbert Highet, The Anatomy of Satire, 1st Princeton pbk. ed., Princeton 1972 [1962], S. 42 f. 36 Alex. 55.; dazu Dorothee Elm von der Osten, »Die Inszenierung des Betruges und seiner Entlarvung: Divination und ihre Kritiker in Lukians Schrift ›Alexandros oder der Lügenprophet‹«, in: D. Elm von der Osten/J. Rüpke/K. Waldner (Hg.), Texte als Medium und Reflexion von Religion im römischen Reich (Potsdamer Altertumswissenschaftliche Beiträge, Bd. 14), Stuttgart 2006, S. 141–157; anders Andreas Bendlin, »Vom Nutzen und Nachteil der Mantik: Orakel im Medium von Handlung und Literatur in der Zeit der Zweiten Sophistik«, in: ebd., S. 159–207, hier S. 197 ff.
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stimmten Themenkreis beschränkt war. Es war dem »Viel-Wissen«, der Polygnomia förderlich, sich gelegentlich mit einer scheinbar beiläufigen Literatur zu beschäftigen, und so kam es zu der sogenannten »Buntschriftstellerei«, Werke, die ihren Stoff in einer bewusst unterschiedslosen Reihenfolge präsentierten. 37 Während der Begriff sich auf ein Werk eines bestimmten Autors bezieht, geht das große Themenspektrum des gesamten Œuvres des Lukian als Polyhistor darüber hinaus. Dabei ist das Primat der Rhetorik durchaus erkennbar, die er aber immer mit andern Formen zu verbinden versteht. Sein griechischer Stil ist exzellent, ja er schafft mit der menippeischen Satire oder geschickten Verbindung von Formen des philosophischen Dialogs und der Komödie Neues. Im Vordergrund scheint ihm aber zu stehen, der Gesellschaft im römischen Reich den Spiegel vorzuhalten. Eine Gesellschaft, die sich immer wieder selbst wie in einer öffentlichen Theateraufführung inszeniert, die Formen eines hierarchisch gelenkten öffentlichen Diskurses entwickelt, der wie im Theater an ein Publikum gerichtet ist. So muss man vor allem die satirischen Schriften Lukians nach Tim Whitmarsh gleichsam als im theatralen Raum an ein imaginäres Publikum gerichtet sehen. Im Theater repräsentiert sich die lokale Gesellschaft in ihrer Hierarchie allein schon durch die Sitzordnung, die Darbietung ist entsprechend ausgerichtet und trifft entweder den Zeitgeschmack oder nicht. Lukian scheint seine Themen für diese Art der Kommunikation im Rahmen eines Schauspiels auszuwählen und aufzuarbeiten. Sie müssen in das Bildungsideal eines kultivierten Umfeldes passen, welches literarische Formen pflegte, aber gleichzeitig auch ein größeres Publikum ansprechen. Wie im Theater geht es aber nicht um die bloße Darstellung der Fakten. Es geht vielmehr um das Erzählen von Geschichten, Dialoge, das Vortragen von Reden auf hohem Niveau. Nicht alles muss buchstabengetreu der Wahrheit entsprechen, aber es muss doch glaubwürdig bleiben. Auch wenn Lukian mit seinem Nigrinus den Konflikt zwischen dem frei lebenden und wahrheitsliebenden Philosophen und der wirtschaftlichen und sozialen Macht Roms darstellt, welche die griechischen Philosophen von den Reichen abhängig macht, stellt er dieses System doch nicht grundsätzlich infrage. Rom ist aufgrund seiner Macht das neue Athen, das Zentrum der Patronage für PhiEwen Bowie/Helmut Krasser, »Buntschriftstellerei«, in: H. Cancik/H. Schneider (Hg.), Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 2, Stuttgart/Weimar 1997, Sp. 850–852.
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losophen. So ist es ein reichsrömisches Publikum, welches angesprochen werden muss und auch die Sujets beeinflusst. 38 Lukian war ein Meister darin, Belehrendes und Unterhaltendes zusammenzubringen und dazu verschiedenste Bilder zu benutzen. Er steht in der Tradition des antiken Satyrspiels, welches er, wie wir gleich noch sehen werden, durch neue Kombinationen erweitert. Sein Mittel ist die (sokratische) Ironie, verbunden mit maßloser Übertreibung insbesondere im Verspotten der zeitgenössischen Philosophie und Religion, ohne seine eigene Position greifbar zu machen. Einer unserer Zeitgenossen namens Lukianos […] fabrizierte ein Buch, in das er dunkle Reden niedergeschrieben hatte, hinter denen sich überhaupt kein Sinn verbarg, und schrieb es Heraklit zu. Er übergab es anderen, und die brachten es zu einem Philosophen, dessen Wort etwas galt. […] Jener Unglückliche merkte nicht, dass sie sich nur über ihn lustig machen wollten. So machte er sich daran, Deutungen zu jenen Reden beizubringen, wobei er sich äußerst scharfsinnig vorkam, und so blamierte er sich. Lukianos hatte auch […] Ausdrücke fabriziert, hinter denen kein Sinn steckte, und einigen Grammatikern zugesandt, worauf diese sie deuteten und kommentierten und sich damit blamierten. 39
Diese einzige Erwähnung Lukians durch einen bekannten Zeitgenossen in einer arabischen Übersetzung einer sonst verlorenen Schrift Galens zeigt uns jemanden, der sich in kluger Weise über den Habitus seiner gebildeten Zeitgenossen lustig macht. Dies war wohl auch der Grund, warum man ihn weitgehend ignorierte und kaum zitierte. Ja er ist nicht einmal bei Philostrat erwähnt. 40 Nur die Tatsache, dass seine Schriften offenbar abgeschrieben wurden, zeigt, dass er mit Sicherheit in Byzanz gelesen wurde. 41 Dennoch steht Lukian in der griechischen Bildungstradition der zweiten Sophistik, deren Bildungsideal, die Paideia, er vehement verteidigt. Er wendet sich in erster Linie gegen übertriebene Interpretationen, Philosophen, die den eigenen ethischen Prinzipien zuwiderhandeln und gegen Oberflächlichkeit. Als Satiriker nimmt er die Paideia durchaus in einer Weise ernst, dass eine unmittelbare AusVgl. Tim Whitmarsh, Greek literature and the Roman empire. The politics of imitation, Oxford/New York 2001, S. 265 ff. 39 Galen, In Hippocratis Epidemiarum II 6,29 (Übers. nach Strohmeier); vgl. HeinzGünther Nesselrath, »Vorwort«, in: Lucians Werke, übers. v. A. Pauly, ND 2. Aufl. 1929, Bd. 10, Stuttgart/Weimar 1997, S. VII–XIV, hier S. VIII. 40 Nesselrath, ebd., S. VIII f. 41 Nesselrath, »Lukian (Lukianos von Samosata)« (Anm. 18), S. 466. 38
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wirkung auf das Leben ihrer Vertreter postuliert wird. Diese fast schon rigoros zu nennende Haltung findet sich auch in seinen Stellungnahmen zu religiösen Themen, wobei er natürlich immer wieder auf klassisches Bildungsgut, aber auch auf zeitgenössische Themen zurückgreift. Dies ist vor dem Hintergrund dessen, dass er zu den meistgefragten Rednern seiner Zeit gehörte und vornehmlich mit rhetorischen Events seinen Unterhalt verdiente, auch nicht verwunderlich. Rhetoren wie er hielten Prunkreden bei Einweihungen öffentlicher Gebäude oder bei Empfängen vor einem hör- und schaulustigen Publikum, dem sie auch eine gewisse Performance boten.
IV. Das Mittel der (menippeischen) Satire Kierkegaard erwähnt im Journal DD am 25. September 1837, dass er ein passendes Thema für eine Disputation wisse, den Begriff der Satire bei den Alten, über das gegenseitige Verhältnis der verschiedenen römischen Satiriker. 42 Lukian bedient sich ja bekanntlich der Satire, um durch die scherzhaft-kritische Verzerrung des Vertrauten Zustände bzw. Missstände aufzudecken. Der Begriff kommt von Lanx satura und bedeutet »gemischte Platte«, die den Göttern dargeboten wurde. Hier wird auf Fülle und Vielfalt angespielt, es geht um eine Offenheit gegenüber den körperlichen und sinnlichen Seiten des Lebens. Als literarischer Gattungsbegriff spielte das Wort aber zunächst keine Rolle. Seine Ableitung von Satyr ist schlichtweg falsch. Der große Rhetor Quintilian beansprucht römische Überlegenheit für die Gattung, wenn er sagt: »Die Satire ist vollständig unser Eigentum.« 43 Er spielt auf die römische Hexametersatire eines Ennius und Lucilius, der als ihr eigentlicher Schöpfer gilt, an, in deren Folge dann Horaz, Persius und Juvenal mit seinem Satyricon stehen. Der Polyhistor Marcus Terentius Varro war der Erste, der im 1. Jahrhundert v. Chr. mit seinen Saturae Menippeae (Gell. 2,18,7) die Mischform von Prosa und Versen in das Lateinische brachte. Senecas Apocolocyntosis (Die Verkürbissung des Kaisers Claudius), eine politische Satire, ge-
DD:58, DSKE 1, 206. Inst. 10,1,39; dazu Susanna Braund, »Satire«, in: H. Cancik/H. Schneider (Hg.), Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 11, Stuttgart/Weimar 2001, Sp. 101– 104, hier Sp. 102.
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schrieben zu Beginn von Neros Herrschaft (Mitte 1. Jahrhundert n. Chr.), ist die einzige antike ›menippeische Satire‹, die praktisch unbeschädigt erhalten ist. Petronius scheint in seinen umfangreichen Satyrica, von denen wir nur die Bücher 14–16 vollständig besitzen, die Gattung in Richtung des Romans weiterzuentwickeln. 44 Der griechische Vorläufer dazu ist die menippeische Satire, für deren Urheber der griechische Kyniker Menippos von Gadara aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. gehalten wurde. Sie entwickelte sich offensichtlich aus frühen kynischen Texten, die eine Mischung aus Prosa und Vers gebrauchten. Vielfalt, Wandlungsfähigkeit und Parodie waren für die Gattung offensichtlich von zentraler Bedeutung, und es sind genau diese Eigenschaften, die Definitionen erschweren. Von den menippeischen Schriften sind leider keine erhalten, wir wissen das meiste von ihm über Varro und natürlich über unseren Lukian, der einen Teil seiner Schriften in dieser freien ›menippeischen‹ Form verfasste und an die Charakteristik des Kynikers anknüpfte. Menippos’ Werke liefen nicht auf bloße Kritik und kynischen Spott über die verschiedensten Unzulänglichkeiten der Welt hinaus, 45 sondern mit dem Beinamen spudogéloios wird ihm eine Verbindung von »Ernstem und Heiterem« bescheinigt. 46 Der Historiker und Nobelpreisträger Theodor Mommsen bezeichnete Menippos als der echteste litterarische Vertreter derjenigen Philosophie, deren Weisheit darin besteht, die Philosophie zu leugnen und die Philosophen zu verhöhnen, der Hundeweisheit (Anm.: gemeint ist Kynismus von κύων = Hund) des Diogenes; ein lustiger Meister ernsthafter Weisheit, bewies er in Exempeln und Schnurren, daß außer dem rechtschaffenen Leben alles auf Erden und im Himmel eitel sei, nichts aber eitler als der Hader der sogenannten Weisen. 47
Lukian lässt in seinen Schriften Menippos häufig als Figur auftreten, ihn in den Himmel und ins Totenreich reisen oder gar selbst in den
Susanna Braund, »Prosimetrum«, in: H. Cancik/H. Schneider (Hg.), Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 10, Stuttgart/Weimar 2001, Sp. 440–442, hier Sp. 441. 45 Vgl. Diog. Laert. 6,99, M. Aur. 6,47. 46 Strab. 16,2,29; dazu Manuel Baumbach, »Menippos aus Gadara«, in: H. Cancik/ H. Schneider (Hg.), Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 7, Stuttgart/Weimar 1999, Sp. 1243 f., hier Sp. 1243. 47 Theodor Mommsen, Römische Geschichte, Bd. III, 5. Buch, 7. Aufl., Berlin 1882, S. 603. 44
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Totengesprächen – eine Nachahmung einer menippeischen Schrift – Dialogpartnern unangenehme Fragen stellen. Hervorzuheben ist, dass die menippeischen Personen die Grenzen zwischen unserer Welt und ihren Antipoden aufheben, zwischen Alltag und Mythos, Erde, Himmel und Hölle, Gegenwart und Vergangenheit (und Zukunft in der Zeitutopie), um die Dinge einem radikalen Fremdblick zu unterwerfen, wenn außer-, über- und unterweltliche Standpunkte eingenommen werden. 48 Hierunter kann man zahlreiche Schriften Lukians fassen, die Necyomanteia, die Unterweltsfahrt des Menippos, seine Himmelsreise, die utopischen Wahren Geschichten oder gar die Totengespräche. Die Themen dieser Satiren lehnen sich wiederum häufig an die alte und neue Komödie an. Irreal-märchenhafte, ja absurde Handlungselemente finden sich schon bei Aristophanes im 5. Jahrhundert v. Chr. Es gibt abenteuerliche Himmelsflüge (Frieden), Gründungen absurd-utopischer Gemeinwesen (Vögel), Unterweltabstiege (Frösche), Wiederkehr der Toten (Eupolis, Demen), Schlaraffenlanddarstellungen und ähnliches, deren Sujets Lukian weiterentwickelt. Aber auch die in der im Hellenismus entwickelten Neuen Komödie häufiger vorkommenden Randexistenzen der menschlichen Gesellschaft, die Ausbildung von Typenrollen wie Parasiten, Hetären, Soldaten, Kuppler etc. ist bei Lukian ebenfalls zu finden. Dass Lukian dabei häufig in seinen Dialogen das Stilmittel der sokratischen Ironie einsetzt, scheint nicht verwunderlich. Als sokratische Ironie bezeichnet man ja häufig ein sich klein machendes Verstellen (man stellt sich dumm), um den sich überlegen wähnenden Gesprächspartner in die Falle zu locken, ihn zu belehren oder ihn zum Nachdenken zu bringen. Gemeint ist hiermit ein echtes Verstellen, das im Gegensatz zur rhetorischen Ironie nicht unbedingt als Verstellung erkannt werden will. Dieser Ironiebegriff entspricht der Bedeutung zur Zeit des Sokrates und auch noch des Aristoteles, der die Verstellung durch Untertreibung etwas weniger negativ als die durch Übertreibung sieht. 49 Erst mit der Ausbildung der Rhetorik bekam der Begriff der Ironie ja seine heutige Bedeutung. Als echtes Verstellen galt in der Antike die Ironieverwendung auch als moralisch verwerflich. Bei Platon findet sich Ironie als Darstellungsmittel in vielfältiger Form: zur BestimWerner von Koppenfels, Der Andere Blick oder das Vermächtnis des Menippos. Paradoxe Perspektiven, München 2007, S. 27 f. 49 Eth. Nic. 1127a 20–32. 48
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mung der Handlung, Charakterisierung von Personen, Relativierung von Meinungen, als Selbstironie. 50 Lukian bleibt bei dieser platonischen Verwendung der Ironie, wenn etwa der scheinbar naive Tychiades seinen Philosophie studierenden Gesprächspartner Hermotimos in Lukians gleichnamiger Schrift immer weiter in die Aporie treibt, zugeben zu müssen, dass seine bisherige Auswahl philosophischer Lehren, zuletzt die Stoa, verfrüht und unreflektiert gewesen sei und ihn nicht zur Wahrheit führe.
V.
Das erzählerische Ich und die Pseudonyme
Bevor auf ausgewählte Stellen aus Lukians Werken eingegangen wird, die auch Kierkegaard aufgreift, soll noch einmal seine eigene Ortlosigkeit ganz in der Nachfolge des Sokrates thematisiert werden. Ganz anders als Sokrates hat uns Lukian viel Schriftliches hinterlassen, Dialoge, in denen er zwar selbst auftaucht, ohne dass wir allerdings seine Position bestimmen können. Daneben benutzt er Pseudonyme wie den Gott des Tadels, Momos, den Zweifler Tychiades oder gar Kyniskos mit dem sprechenden Namen, der es sogar versteht, Zeus hereinzulegen. Fangen wir mit der Beschreibung seines Werdeganges an, den er in seinem »Traum« beschreibt. Demnach geht Lukian als junger Mann bei seinem Onkel in eine Steinmetzlehre und zerbricht schon am ersten Tag eine wertvolle Steinplatte, wird dafür vom Meister verprügelt und läuft weinend nach Hause. In der folgenden Nacht hat er dann einen Traum: Zwei Frauen fassten mich zu gleicher Zeit bei den Händen und zogen mich jede mit solcher Gewalt und Heftigkeit auf ihre Seite, dass sie mich, weil keine die Schande haben wollte nachzugeben, beinahe darüber in Stücke zerrissen hätten. Bald wurde die eine Meister und hatte mich fast ganz in ihrer Gewalt, bald darauf fand ich mich wieder in den Armen der anderen. Beide schrien gewaltig aufeinander ein: »Er ist mein, ich habe ein älteres Recht an ihm und laß ihn mir nicht nehmen!« – »Er geht dich nichts an, du bemühst dich vergeblich, ihn mir wegzunehmen!« Die erstere hatte ein arbeitsames und männliches Aussehen, ihre Haare waren schmutzig, ihre Hände voller Schwielen, ihr Rock hoch aufgeschürzt, ihre ganze Person mit Kalk bestäubt; kurz, sie sah geradeso aus wie mein Onkel, wenn er Steine Michael Erler, »Ironie«, in: H. Cancik/H. Schneider (Hg.), Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 7, Stuttgart/Weimar 1998, Sp. 1106–1108, hier Sp. 1107 f.
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polierte. Die andere hingegen war eine Frau von feiner Gesichtsbildung, von edlem Anstand und zierlich gekleidet.
Die beiden konkurrierenden Frauen stellen dann doch verbal ihre jeweiligen Vorzüge dar. Die als Arbeiterin auftretende personifizierte Steinmetzkunst bietet dem jungen Mann ein biederes risikoarmes Leben in gewohnter Umgebung. Die andere bietet Ruhm und Abenteuer: »Ich, mein Sohn, bin die Bildung. Folgst du mir, so werde ich dich vor allen Dingen mit allem, was die edelsten Menschen der Vorwelt Bewunderungswürdiges gesprochen, getan und geschrieben haben, und überhaupt mit allem, was wissenswert ist, bekannt machen; insbesondere aber werde ich dein edelstes Teil, dein Herz, mit Mäßigung, Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Sanftmut, Billigkeit, Klugheit und Standhaftigkeit, mit der Liebe zum Schönen und mit Streben nach jeder Vollkommenheit zieren; denn diese Tugenden sind der Seele wahrer unvergänglicher Schmuck. Es soll dir nichts verborgen sein, was ehemals Denkwürdiges geschah, noch was jetzt geschehen muß; ja, du wirst durch mich sogar das Künftige vorhersehen: mit einem Worte, ich will dich in allen göttlichen und menschlichen Dingen, und zwar in kurzer Zeit, vollständig unterrichten.«
Da die Bildung dem jungen Mann, der vor der Wahl steht, auch noch höchstes regionales Ansehen, sogar reichsweiten Ruhm, Reichtum und Einfluss nach einer doch relativ wenig anstrengenden Erziehung verspricht, entscheidet er sich für sie. 51 Letztlich ist der Traum des Lukianos an den dreitägigen Traum des Herakles angelehnt, wie er steht er am Scheideweg, muss sich entscheiden und macht als Redner und nicht als Steinmetz Karriere. Am Ende seiner Laufbahn greift er den Herakles-Gedanken in seiner gleichnamigen Schrift noch einmal auf, die uns auch einiges über seine Selbsteinschätzung gewissermaßen in seinem letzten Lebensdrittel geben kann. 52 Hierbei erwähnt er einen Herakles Ogmios, dessen Bild er selbst in Gallien gesehen habe und auf dem der Gott als dunkelhäutiger, kahlköpfiger Greis mit Löwenfell, Keule und Bogen Peter von Möllendorff, »Grübler, Schwätzer, Scharlatane – das Bild des Intellektuellen bei Lukian«, in: Pegasus-Onlinezeitschrift VII/1 (2007), S. 31–45, hier S. 31 f.; URL: http://www.pegasus-onlinezeitschrift.de/2007_1/erga_1_2007_moellendorf. html (letzter Zugriff: 2. Nov. 2015). 52 Vgl. zum Folgenden: Wolfgang Spickermann, »Ekphrasis und Religion: Lukian und der Hercules Ogmios«, in: G. Schörner/D. Šterbenc-Erker (Hg.), Medien religiöser Kommunikation im Imperium Romanum (Potsdamer Altertumswiss. Beitr. 24), Stuttgart 2008, S. 53–63. 51
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dargestellt gewesen sei. Das Erstaunlichste an dem Bild sei aber gewesen, dass jener alte Herakles an feinen Ketten aus Gold und Bernstein eine große Menge Menschen nach sich gezogen habe. Diese Ketten seien an der durchbohrten Zungenspitze des Herakles und den Ohren der ihm folgenden Menschen befestigt gewesen. Ein Gallier habe ihm daraufhin erklärt, dass sich die Kelten die Kraft der Beredsamkeit nicht wie die Griechen durch Hermes, sondern – seiner größeren Stärke wegen – durch Herakles personifiziert vorstellten. Als Greis werde Herakles aber deswegen abgebildet, weil die Redekraft erst im Alter zur vollen Entfaltung gelange. Vor allem aber unter den Altertumswissenschaftlern hat sich ein Forschungsdisput entwickelt, ob dieser Gott authentisch ist, zumal der keltische Beiname zwar nicht auf Weihinschriften, aber doch auf zwei defixiones aus Bregenz überliefert ist. 53 Es bleibt nicht viel von der Authentizität des Heraklesbildes. Lukian hält seine Prolalia als alter Mann. Hierzu bedient er sich des Bildes des alten Hercules, den er in ein exotisches Umfeld nach Gallien versetzt, also außerhalb der unmittelbaren Erfahrungswelt seiner Zuhörer und im Grunde auch außerhalb der engeren römisch-griechischen Welt. Dabei benutzt er die Technik der Ekphrasis und lehnt sich in der Beschreibung seines Bildes eng an die Tabula Kebetis an, die ihm als Schrift wohl bekannt war, da er sie mehrfach zitiert. Außer der Tatsache, dass es im griechisch-römischen Raum Tempelbilder mit allegorischen Darstellungen gab, weist nichts auf das tatsächliche Vorhandensein eines solchen Bildes in einem gallischen Heiligtum. Und auch der hinzutretende Weise, der das Bild erklärt, ist ein alter Bekannter: Favorinus von Arelate, der auch dem Publikum des Lukian ein Begriff sein musste. Der Text verdeutlicht die lukianische Arbeitsweise, seine Beispiele und Bilder scheinen plausibel: Es gibt allegorische Tempelbilder, es gibt einen Ogmios, doch ihre Komposition ist fiktiv und damit eben lukianisch. Ein Hercules/Herakles Ogmios ist genauso wenig bezeugt wie die Darstellung eines alten Hercules als Gott der Beredsamkeit auf einem gallischen TemFriedrich Wagner, »Neue Inschriften aus Rätien. Nachtrag zu F. Vollmer Inscriptiones Baivariae Romanae«, in: Bericht der Römisch-Germanischen Kommission 37– 38 (1956/57), S. 215–264, Nr. 8 + 9. Zur Forschungsdiskussion vgl. u. a. Miranda Green, Dictionary of Celtic Myth and Legend, London, S. 165 f., und zuletzt Alexander Schinnerl, Der gallische Gott Ogmios, Diplomarbeit, Universität Wien, Phil.-Kulturwiss. Fakultät 2014; URL: http://othes.univie.ac.at/34643/ (letzter Zugriff: 2. Nov. 2015).
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pelbild. Aber es gibt auch den älteren Redner in Athen, der sein Publikum mit der eigenen Situation buchstäblich fesseln will. In seiner Schrift »Der doppelt Angeklagte« inszeniert Lukian fiktive Gerichtsprozesse in Anwesenheit mehrerer Götter auf dem Athener Areopag unter Vorsitz der Dike (Gerechtigkeit), wobei die philosophische Sekte der Akademie gegen die Zügellosigkeit, die Stoa gegen Epikur und den Hedonismus, die Tugend gegen das lockere Leben und der Kyniker Diogenes gegen die Geldverleiher klagen. Am Ende kommt es zu einer doppelten Anklage gegen einen namentlich nicht genannten Syrer, in dem man unschwer Lukian erkennen kann. Die Rhetorik beschuldigt ihn, dass er lange bei ihr gelernt und gelebt, sie sogar geehelicht habe, ihr aber dann untreu geworden sei und sie zugunsten des Dialogs verlassen habe. Der (philosophische) Dialog erhebt Anklage gegen den Syrer, dass dieser ihn gemein und gewöhnlich gemacht habe. Er sei von vornehmer, nämlich sokratischplatonischer Herkunft und der Syrer habe ihn mit dem Iambus, Kynismus, den Komödienschreibern Eupolis und Aristophanes eingesperrt, ja mit dem bissigsten aller Kyniker Menippos zusammengebracht und so entehrt. 54 Hier erfahren wir nebenbei, dass die Rhetorik ihren jungen Ehemann berühmt gemacht habe und ihn auf seinen Reisen nach Griechenland, Ionien, Italien, ja sogar Gallien begleitet und ihn wohlhabend gemacht habe. 55 Lukian verteidigt sich, dass die Rhetorik sich immer mehr jedermann feilgeboten habe und es hinter seinem Rücken wild mit ihren unwürdigen Freiern trieb und er bei dem ruhigen Nachbarn Dialog Schutz gesucht habe. Diesem entgegnet er, dass er ihn von seinem stacheligen Gewand befreit habe, indem er ihm die Komödie beigesellte und er ihn auch von dem Höhenrausch subtiler und unnützer philosophischer Fragen vom Himmel auf den Erdboden zurückgeholt habe. Der Angeklagte wurde in beiden Fällen mit zehn zu einer Stimme freigesprochen. Der selbstironische Blick dient hier in Wahrheit der Rechtfertigung der eigenen neuartigen Arbeitsweise in der Nachfolge des Menippos, die aber beiden Seiten verhaftet blieb. Genau dieses Neue sicherte ihm einen beträchtlichen Erfolg bei seinen Zuhörern; denn immer wieder »liefen alle diese Lobsprüche einzig und allein darauf hinaus, es sei in meinen Vgl. dazu Andreas Bässler, Sprichwortbild und Sprichwortschwank. Zum illustrativen und narrativen Potential von Metaphern in der deutschsprachigen Literatur um 1500 (Diss. Universität Heidelberg 2001), Berlin 2003, S. 317 f. 55 Bis acc. 27. 54
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Aufsätzen alles so neu und unerhört« sagt er in seiner Schrift Zeuxis und Antiochos. 56 Und weil dieses so komische (eigenartige wie lustige) Neue von niemandem im Vorhinein richtig eingeschätzt werden kann, besiegt es die Zuhörer ebenso unversehens wie Dionysos in jenem Märchen, das Lukian in seinem Dionysos erzählt, mit seinen wenigen Mänaden, Silenen, Satyrn und Pan das Heer der Inder überwältigt. 57 Ich zitiere hier die treffende Übersetzung von Friedrich Pauly von Dionysos 5: Es will mich nämlich bedünken, als ob es vielen Leuten mit Aufsätzen neuer Art, insbesondere aber mit den meinigen, gerade so gehe, wie dort den Indiern mit der Bacchantenschaar. Ich weiß nicht, welche sonderbare Vorstellung von mir sie sich in den Kopf gesetzt haben: kurz sie glauben, bei mir seyen weiter nichts als einige gar schnurrige und satyrhafte Possen zu vernehmen. Einige bleiben daher gar weg, und halten es nicht für der Mühe werth, von ihren Elephanten herabzusteigen, um den Bocksprüngen eines Satyr und seinem Mänadischen Muthwillen zuzusehen. Andere kommen gerade, um etwas Lustiges zu hören; wenn sie aber finden, daß der Epheustab gleichwohl seine eiserne Spitze hat, so können sie sich, zu sehr betroffen von der unerwarteten Entdeckung, nicht entschließen, ihren Beifall zu geben.
Man könnte meinen, Lukian ziele hier schon auf die altphilologischen Gelehrten des 19. Jahrhunderts. Auf die Neuigkeit seiner Werke ist auch im Titel seines Prometheus angespielt: Lukian wurde mit Prometheus verglichen (oder gibt Entsprechendes vor), der aus Lehm und ohne unmittelbare Vorbilder die Menschen geschaffen hatte, und bekennt nun, »dass ich etwas Neues gemacht habe und dass niemand unter allen Werken meiner Vorgänger eines zeigen kann, wovon die meinigen die Abkömmlinge wären«. 58 Entsprechend Prometheus, der aus Mann und Frau eins gemacht hatte, hat Lukian »zwei der schönsten Dinge der Welt«, 59 den ernsthaften und philosophierenden Dialog und die spöttische Komödie, zu etwas völlig Neuem vereint: »Wiewohl also der Unterschied zwischen ihnen so groß war, dass er nicht wohl größer sein konnte, so erkühnte ich mich doch des verwegenen Unternehmens, sie zu vereinigen und (…) in Harmonie zu bringen.« 60 Aber noch in einem dritten Punkte sieht sich Lukian 56 57 58 59 60
Zeux. 1. Bacch. 1–4. Prom. 3. Prom. 5. Prom. 6.
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dem Prometheus ähnlich: Wie jener Zeus mit einem Opfer betrog, indem er unter eine Tierhaut nichts als Knochen legte (aber kein Fleisch), so könnte man ihm – wie er im Scherz meint – vorwerfen, er setze seinen Zuhörern nur »komischen Spaß in philosophischen Ernst eingewickelt« vor. 61 In einer ähnlichen Situation wie im doppelt Angeklagten muss er sich in seiner Schrift »Der Fischer oder die Auferstandenen« gegen die Angriffe der wiederauferstandenen berühmten Philosophen Sokrates, Pythagoras, Plato, Empedokles, Aristippos, Aristoteles und Chrysippos verteidigen, die ihn, der sich Parrhesiades (Freiredner) nennt, wegen seiner ständigen Angriffe auf ihre Philosophie umbringen wollen. Doch Lukian kann ein von der Philosophia selbst präsidiertes Schiedsgericht einsetzen lassen, vor dem er sich damit verteidigt, dass er sich nicht gegen die Lehren dieser berühmten Philosophen, sondern gegen seine Zeitgenossen gewendet hat, welche die selbstgewählten philosophischen Schulen in unwürdigster Weise vertreten und dadurch diskreditieren. 62 Hier haben wir vielleicht die von Kierkegaard geschmähten Privatdozenten vor uns. Diese Schrift fügt dem »Doppelt Angeklagten« nicht viel Weiteres hinzu, sie führt den (aus philosophischer Sicht) Missbrauch des Dialogs zusammen mit der Verwendung des Menippos näher aus und gibt eine andere Perspektive der Abkehr Lukians von der Rhetorik, 63 wobei die (angebliche?) Hinwendung zur Philosophie (die auch schon im »Doppelt Angeklagten« begegnet war) in den Vordergrund rückt. Auch hier wird er natürlich freigesprochen. Lukians Selbststilisierung ist enorm, das lukianische Ich zeigt uns den Redner und Literaten und seine (neue) Art, seine Stoffe darzubieten. Genauso, wie es aber unmöglich ist, Lukian als Anhänger einer bestimmten philosophischen Schule zu bestimmen, 64 sind seine religiösen Überzeugungen weitgehend verborgen. Im »Lügenfreund«
Prom. 7. Vgl. dazu bes. Peter Kien, Die Komödie der Weisheiten. Philosophie, Philosophen und Philosophenschulen bei Lukian von Samosata, Diplomarbeit zur Erlangung des Magistergrades der Philosophie an der Fakultät für Human- und Sozialwissenschaften der Universität Wien 2002, S. 13–15, dort auch die Zitate; URL: http:// othes.univie.ac.at/37/2/Dipl.-Arb_Endfassung.pdf (letzter Zugriff: 2. Nov. 2015). 62 »Die Fischer« (Pesc.) 29 ff. 63 Pesc. 25–26 u. 29. 64 Dazu bes. Heinz-Günther Nesselrath, »Lukian und die antike Philosophie«, in: Ebner, Die Lügenfreunde (Anm. 31), S. 135–152, hier S. 150–152. 61
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betont er durch sein Alter Ego, den Zweifler Tychiades, dass er keineswegs die Existenz der Götter leugne und die Götter auch ehre, ja, er bekennt sich zur traditionellen Tempelmedizin. 65 Und die Götter, die Tychiades/Lukian verehrt, sind die Di indigetes der griechischrömischen Religion. Lukian nimmt eine Außenperspektive ein, ohne seine eigenen Überzeugungen offenzulegen, außer dem Ideal der Paideia und seinen Folgen für den individuellen Lebensstil. Er steht hier in der Tradition der aristotelischen Phronesis, wonach das richtige Wissen nicht von einer tugendhaften Praxis getrennt werden kann. 66 Auch kann die Authentizität konkreter Episoden nicht entschieden werden, so etwa ob Lukian tatsächlich, wie er es in seiner Schrift Alexander oder der Lügenprophet ausführt, diesen in Abonuteichos besucht und in die Hand gebissen hat. 67 Lukian verbirgt sich hinter dem Zweifler Tychiades, der in verschiedenen seiner Dialoge die Hauptrolle spielt und seine Gesprächspartner nach sokratischer Manier an ihrer eigenen Argumentation scheitern lässt, so im Hermotimos. Oder er verkörpert den Skeptiker und Spötter wie im zitierten Lügenfreund oder z. B. in Panthea oder die Bilder oder die Verteidigung der Bilder, wo er kritisch die Beschreibung der angeblich schönsten Frau durch seinen Gesprächspartner begleitet. Wenn der Schauplatz der Olymp ist, wird dieser Zweifler und Spötter zum Gott des Tadels, Momos, der dem Leser auf ironische Weise immer wieder die Ungereimtheiten und Widersprüche der homerisch-hesiodischen Tradition vor Augen führt, wenn auch Kierkegaard in seiner Schrift Über den Begriff der Ironie (BI, 257) bemerkt, dass sich in den griechischen Göttergeschichten ohnehin viel Ironie verberge, ohne dass es dazu erst der Spöttereien eines Lukian bedurft hätte.
»Lügenfreunde« (Philops.) 10: »Ich für meine Person aber verehre sehr wohl (die) Götter, sehe ihre Heilungen und was sie den Kranken Gutes tun, indem sie sie mit Hilfe von Heilmitteln und ärztlicher Kunst wieder auf die Beine stellen« (Übers. M. Ebner et al.); vgl. dazu Katharina Luchner, Philiatroi. Studien zum Thema Krankheit in der griechischen Literatur der Kaiserzeit (Hypomnemata, Bd. 156), Göttingen 2004, S. 379. 66 Aristot. Eth. Nic. 1140a 24. Vgl. Charles Taylor, A Secular Age, Harvard 2007, S. 501. 67 Alex. 55. 65
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VI. Kierkegaards Bezüge auf Lukian In der zitierten Arbeit Über den Begriff der Ironie (BI, 288) erwähnt Kierkegaard die lukianische Schrift Der Hahn, die er als Bild für die in der Ironie stets auf Wanderschaft befindliche Seele verwendet, wie dies nach der Lehre des Pythagoras ihr Schicksal in der Welt sei, nur dass sie dazu nicht so lange Zeit brauche. In der Tat ist der Hahn eine satirische Schrift auf die pythagoreische Seelenwanderungslehre, wobei dieser seinem Gesprächspartner erzählt, er sei zunächst Pythagoras selbst, dann Aspasia von Milet (die Frau des Perikles), darauf der bucklige Kyniker Krates (ein berühmter Schüler des Diogenes), dann ein König, ein Bettler, ein persischer Satrap, ein Pferd, eine Dohle, ein Frosch, viele weitere Dinge und schließlich ein Hahn geworden. Die Tierperspektive ist eine charakteristisch menippeisch/lukianische Inszenierung der Heterotopie mit dem Ziel, die reale Welt aus anderem Blickwinkel zu betrachten und zu hinterfragen. 68 Besonders beeinflusst haben Kierkegaard offenbar Lukians Totengespräche (Nekrikoi Dialogoi) in der Nachfolge des Menippos, die in der abendländischen Literaturgeschichte eine lange Rezeption über Erasmus von Rotterdam, später Grillparzer, Mauthner bis zuletzt Walter Jens erfuhren. Kierkegaard spricht im Journal FF am 9. Januar 1838 ironisch von Paranekroi, jenem Menschenschlag, für den zu schreiben er Lust hätte, in der Überzeugung, dass er diese Anschauung teilen werde. Solche Paranekroi (einer, der wie ich tot ist) finde er bei Lukian und Kierkegaard hätte Lust, eine Zeitschrift für Paranekroi herauszugeben. 69 Das Wort findet sich allerdings so nicht in den Totengesprächen, Lukian nutzt das sinngleiche homónekros (mitverstorben), Waser übersetzt »so todt, wie ihr selbst«. Es ist wieder die Heterotopie des menippeisch/lukianischen Hades, die Kierkegaard hier als Perspektive auf die reale Welt wählt. Und so lässt er in Entweder – Oder den »Reflex des antiken Tragischen in dem modernen Tragischen. Ein Versuch im fragmentarischen Streben vor den Symparanekromenoi«, den mit ihm zusammen Verstorbenen, lesen, ebenso die »Schattenrisse. Psychologischer Zeitvertreib«. Diese Symparanekromenoi sind eine Gesellschaft mit Zusammenkünften am Freitag, an die man Ansprachen halten kann, wie etwa über den Un-
68 69
Koppenfels, Der Andere Blick (Anm. 48), S. 28. FF:169, DSKE 2, 110.
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glücklichsten. Hier ist Kierkegaard nicht nur von Lukian inspiriert, er imitiert ihn auf seine ganz eigene Art und Weise. Das lukianische Totengespräch, das er in Journal FF am 10. Januar 1838 besonders hervorhebt, 70 ist ein absurder Dialog zwischen dem gerade verstorbenen Menippos, der sein Fährgeld über den Styx nicht bezahlen kann, Charon und Hermes. Hier treibt Lukian satirisch auf die Spitze, was er an anderer Stelle in seiner Diatribe über die Trauer am Verhalten der einfachen Leute offen kritisiert: Diese Vorstellungen sind es, welche bei den Leuten allgemein im Umlauf sind. Wenn daher einer ihrer Angehörigen gestorben ist, so sind sie sogleich mit einem Obolus bei der Hand, den sie ihm in den Mund stecken, damit er dem Fährmann die Überfahrt bezahlen könne. Welches Geld dort unten kursiere, ob der attische, der makedonische oder der aeginetische Obolus, danach fragt man nicht, eben so wenig bedenkt man, dass es viel klüger wäre, gar kein Fährgeld bei sich zu haben; denn so würde der Tote, wenn der Fährmann ihn nicht einnähme, zurückgeschickt und könnte wieder ins Leben heraufkommen. 71
Kierkegaard scheint die Art, das Absurde des Brauches in einem Dialog zu verspotten, als besonders adäquate Darstellung zu verstehen. In Journal JJ geht Kierkegaard 1842/43 auch auf eine weitere prominente Figur Lukians ein, den athenischen Kyniker Demonax von Kypros aus dem 2. Jahrhundert n. Chr., vielleicht ein Lehrer des Lukian, dem er wie seinem römischen Pendant, dem Platoniker Nigrinus eine eigene Schrift widmet. Entgegen allem Philosophenspott in seinen satirischen Schriften werden diese beiden Figuren sehr positiv dargestellt, besonders Demonax. Ob dabei die Gestalt des Nigrinus fiktiv ist oder ob sich hinter dem Namen eine Anspielung vielleicht auf den zeitgenössischen Mittelplatoniker Albinos verbirgt (wegen des Wortspiels albus – niger/schwarz – weiß), ist umstritten, 72 für Demonax überliefert Johannes Stobaios (5. Jahrhundert) Apophthegmata und moralische Sentenzen. 73 Kierkegaard hebt hervor, dass Lukian hier berichte, dass nicht nur der, der die eleusinischen FF:170, DSKE 2, 111. »Über die Trauer« (Luct.) 10 (Übers. C. Wieland). 72 Matthias Baltes/Marie-Luise Lakmann, »Nigrinos«, in: H. Cancik/H. Schneider (Hg.), Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 8, Stuttgart/Weimar 2000, Sp. 891 f., hier Sp. 892. 73 Marie-Odile Goulet-Cazé, »Demonax [3] von Kypros«, in: H. Cancik/H. Schneider (Hg.), Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 3, Stuttgart/Weimar 1997, Sp. 460 f. 70 71
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Mysterien verrate, sondern auch der, der sich nicht darin einweihen lassen wolle, bestraft worden sei. Dies sei bei Demonax der Fall gewesen. Die Athener wollten ihn schon vor seiner Verteidigungsrede steinigen, seien jedoch von seiner Verteidigungsrede bewegt gewesen, weil er die Bedingung nicht erfüllen konnte weil … hier bricht der Text ab.74 Hier geht Kierkegaard in seiner Interpretation der Stelle ein wenig zu weit, da Lukian beschreibt, wie Demonax in der attischen Ekklēsía wie Sokrates der Asebie beschuldigt wird und man als Indiz hierfür ansieht, dass er sich nicht in die eleusinischen Mysterien einweihen lassen habe. Er weiß sich aber eben geschickt gegen diesen Vorwurf zu verteidigen. 75 An anderer Stelle fragt er übrigens in der Volksversammlung, warum die Ausländer von den eleusinischen Mysterien ausgeschlossen würden, da die Athener diese doch selbst von Eumolpos von Thrakien empfangen hätten. 76 Zuletzt sei noch auf ein Lukianzitat in der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift zu den philosophischen Brocken von 1846 verwiesen (AUN1, 78 f.). Kierkegaard behandelt hier das unaufhörliche Werden als Ungewissheit des Erdenlebens und bringt in diesem Zusammenhang ein paraphrasiertes Zitat aus Lukians Schrift Charon oder die Weltbeschauer, in der Hermes und der Fährmann Charon von der Unterwelt auf die Erde kommen und auf einem Berg sitzend quasi aus der Vogelperspektive über das Leben der Menschen sinnieren. Kierkegaard versetzt diese Szenerie fälschlich in die Unterwelt: Charon: Als, zum Beispiel wie wir einander antrafen und du mich lachen sahest und fragtest, was ich lache? Da hatte ich eben was gehört, das mir großen Spaß machte. Hermes: Und was war denn das? Charon: Einer wurde, denke ich, von einem anderen am folgenden Tag zu Gaste gebeten und sagte, er würde unfehlbar kommen; indem er noch im Reden war, fiel ihm ein Ziegel vom Dach auf den Kopf und schlug ihn tot – Da mußte ich lachen, daß der Mann sein Versprechen nicht halten konnte. 77
Kierkegaard fügt hinzu, dass, gesetzt der Eingeladene wäre ein Redner gewesen, der noch im Augenblick zuvor sich selbst und andere gerührt hätte, indem er davon redete, dass alles ungewiss sei, er eben JJ:50, DSKE 2, 161. Demonax 11; vgl. Delz, Lukians Kenntnis der athenischen Antiquitäten (Anm. 32), S. 115. 76 Demonax 34. 77 Charon 6 (Übers. C. Wieland). 74 75
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tatsächlich nichts vom nächsten Augenblick hätte wissen können. Er bleibt hier auf dem von Lukian eingeschlagenen Weg – irdisches Glück ist unbeständig und ungewiss. Dies betont Charon auch noch einmal: Denn man braucht ja nur das Los ihrer Könige zu betrachten, die für die Glücklichsten unter ihnen gelten, um zu sehen, dass selbst bei diesen das Angenehme in ihrem Leben von dem Unangenehmen bei weitem überwogen wird; denn Furcht und Unruhe ihrer eigenen Launen und Leidenschaften von innen, Hass und Nachstellungen von außen und was noch ärger als das alles ist, das Unglück, immer geschmeichelt zu werden, sind lauter tägliche und von ihrem Stand unzertrennliche Übel. Nichts von der Unbeständigkeit des Glücks und von allem anderen Ungemach zu sagen, dem sie, bloß als Menschen, wie alle übrigen unterworfen sind. 78
Schluss Kierkegaards Wertschätzung für Lukian liegt sicher auch in dessen Ortlosigkeit begründet, die es schwer macht, ihn auf eine Position festzulegen. Lukian bleibt sich treu, indem er, ganz in der Tradition des Aristophanes, mit dem Hauptvertreter dieser Ortlosigkeit im 21. Totengespräch seinen Spott treibt. Menippos fragt dort den Höllenhund Kerberos, wie sich denn Sokrates aufgeführt habe, als er in die Unterwelt gelangte; da sagt dieser, dass Sokrates sich angesichts seines unausweichlichen Todes eben nicht teilnahmslos gezeigt, sondern wie ein kleines Kind um sich und seine Kinder wehgeklagt hätte. So ginge es den meisten Menschen, bis zur Hadespforte seien sie mannhaft, da drinnen erfolge ihre gänzliche Widerlegung. Einer, der wie Lukian kaum zu stellen ist, der seine Finger auf die Wunden seiner Zeit oder vielmehr noch allgemein auf menschliche Unzulänglichkeiten legt und insbesondere mit dem zeitgenössischen Bildungsbetrieb und seinen Vertretern abrechnet, aber im Grunde Moralist ist und als Syrer die klassische griechische Bildung, die Paideia hochhält, das mag ein Mann im Sinne Søren Kierkegaards gewesen sein. Geendet werden soll mit einem Gedicht eines bekannten Literaten, der ihn aus einer ähnlichen Perspektive hochschätzte:
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Charon 18.
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Lukian und Kierkegaard
Kurt Tucholsky: An Lucianos 79 Freund! Vetter! Bruder! Kampfgenosse! Zweitausend Jahre – welche Zeit! Du wandeltest im Fürstentrosse, du kanntest die Athenergosse und pfiffst auf alle Ehrbarkeit. Du strichst beschwingt, graziös und eilig durch euern kleinen Erdenrund – Und Gott sei Dank: nichts war dir heilig, du frecher Hund! Du lebst, Lucian! Was da: Kulissen! Wir haben zwar die Schwebebahn – doch auch dieselben Hurenkissen, dieselbe Seele, jäh zerrissen von Geld und Geist – du lebst, Lucian! Noch heut: das Pathos als Gewerbe verdeckt die Flecke auf dem Kleid. Wir brauchen dich. Und ist dein Erbe noch frei, wirfs in die große Zeit. Du warst nicht von den sanften Schreibern. Du zogst sie splitternackend aus und zeigtest flink an ihren Leibern: es sieht bei Göttern und bei Weibern noch allemal der Bürger raus. Weil der, Lucian, weil der sie machte. So schenk mir deinen Spöttermund! Die Flamme gib, die sturmentfachte! Heiß ich auch, weil ich immer lachte, ein frecher Hund!
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Kaspar Hauser, in: Die Weltbühne, Nr. 50, 12. Dez. 1918, S. 563.
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Der Don Juan des Glaubens Mediale Paradoxien des religiösen Schriftstellers bei Søren Kierkegaard Heinz Hiebler
Der folgende Artikel beschäftigt sich mit den oralen Aspekten in der Philosophie Søren Kierkegaards und geht den medialen Profilierungen des religiösen Schriftstellers nach, wie sie aus dem Blickwinkel der Medienästhetik und Medienepistemologie bereits in seinem pseudonymen Erstlingswerk Entweder – Oder (1843) angelegt sind. Ausgehend von grundlegenden Medienparadoxien, mit denen auch Kierkegaards christliche Philosophie des Ereignisses konfrontiert ist, 1 wird zunächst sein reflektierter Umgang mit den Medien seiner Zeit skizziert. Indem seine publizistischen Überlegungen weniger von der Frage nach dem »Was?« als von der medienwissenschaftlich bedeutsameren Frage nach dem »Wie?« beherrscht werden, wird deutlich, wie sehr Kierkegaards schriftstellerisches Schaffen von medientheoretischen Überlegungen geprägt ist, bei denen es weniger um die Inhalte, sondern mehr um die formalen medienästhetischen Strategien ihrer jeweils konkreten Darstellung und Gestaltung geht. Grundsätzliche epistemologische Fragestellungen nach den Möglichkeiten religiösen Wahrnehmens, Denkens und Handelns, wie sie für den medienästhetischen Aktionsradius des »religiösen Schriftstellers« von zentraler Bedeutung sind, werden nicht in den eigentlich religiösen Schriften Kierkegaards, sondern vor allem in ästhetischen bzw. aisthetischen Kontexten reflektiert. Wie sich am Beispiel der mediensemiotischen Überlegungen im ersten Teil von Entweder – Oder zeigen lässt, kommt dabei der Auseinandersetzung mit dem Auditiven in seinen unterschiedlichsten Erscheinungsformen eine Schlüsselrolle zu. Dreh- und Angelpunkt seiner Mediensemiotik des Auditiven bilden die Überlegungen zu Wolfgang Amadeus Mozarts Don Giovanni. Diese entfalten ihre eigentliche Bedeutung sowohl in Hinblick Zu dieser an Kierkegaard anschließenden Lesart des Christentums als »erste[r] und einzige[r] Religion des Ereignisses« vgl. neuerdings Slavoj Žižek, Was ist ein Ereignis? Aus dem Englischen von Karen Genschow, Frankfurt am Main 2014, S. 42.
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Der Don Juan des Glaubens
auf Kierkegaards Gesamtwerk als auch in Hinblick auf die Medienkulturgeschichte nicht als merkwürdige monolithische Musiktheorie 2, sondern als poetologische bzw. mediensemiotische Reflexion zu den medienästhetischen Voraussetzungen des Konzepts eines »religiösen Schriftstellers«. Das alles führt letzten Endes zur paradoxen Figur eines ›Don Juan des Glaubens‹, der als unmögliche Gestalt für die an sich unerfüllbare Forderung nach einem utopischen Medium der reflektierten Unmittelbarkeit und der konkreten Abstraktion steht, wie es für die Vermittlungsversuche des »religiösen Schriftstellers« bei Kierkegaard erforderlich wäre. Während die religiöse Unmittelbarkeit damit aus dem Blickwinkel der ästhetischen Vermittlung eine unauflösbare Paradoxie darstellt, wird sie auf der Ebene des Erlebens zu einer Verheißung des Realen, die sich der direkten schriftstellerischen Darstellung im Sinne einer für jedermann verständlichen und einfach wiederholbaren Gebrauchsanleitung konsequent entzieht. Kierkegaard weist damit – wie neuerdings auch aktuelle Ansätze der Posthermeneutik 3 – auf ein mit medienästhetischen (und damit auch schriftstellerischen) Mitteln unerreichbares Jenseits des Medialen hin, in dem die schmerzvolle individuelle Erfahrung des Einzelnen ihr reales alltagstaugliches Fundament erhält.
I.
Paradoxien der Medien: Zur Un/Mittelbarkeit und Un/Sichtbarkeit des Medialen
Medien sind ihrer Grundbedeutung nach ein Mittleres. Sie vermitteln Informationen über zeitliche und / oder räumliche Entfernungen, wobei sie paradoxerweise die Entfernungen, die sie überbrücken, im Akt der Überbrückung bzw. Entgrenzung gleichzeitig setzen. Auch wenn Medien uns gerne den Eindruck vermitteln, dass wir unmittelbar, also ›live‹, an einem in Zeit und / oder Raum entfernten Geschehen teilhaben können, so vermögen sie als Mittler dieses Versprechen auf Unmittelbarkeit doch nie vollständig einzulösen. MeZu diesem in Hinblick auf Kierkegaards Auseinandersetzung mit der Musik einleuchtenden Befund vgl. Joachim Grage, »Durch Musik zur Erkenntnis kommen? Kierkegaards ironische Musikästhetik«, in: Kierkegaard Studies. Yearbook 2005, S. 418–439. Aus dem Blickwinkel der Musiktheorie »scheint der immens aufwendige medientheoretische Apparat einzig und allein deswegen entfaltet zu werden, um die Klassizität des Don Giovanni zu begründen« (ebd., S. 436). 3 Vgl. Dieter Mersch, Posthermeneutik, Berlin 2010. 2
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Heinz Hiebler
dien wie der Brief oder das Telefon ermöglichen uns zwar eine zwischenmenschliche Kommunikation über Zeit und Raum hinweg, ein reflektierter Blick auf die zu diesem Zweck eingesetzten Mittel – ein beschriebenes Blatt Papier oder den Telefonapparat – machen jedoch deutlich, dass diese Formen der Kommunikation nicht nur etwas Verbindendes, sondern auch etwas Trennendes haben. So sehr wir beim Lesen des Briefes oder beim Telefonieren an der Anwesenheit des schreibenden oder sprechenden Gegenübers partizipieren, so sehr erweist sie sich bei näherer Überlegung als Illusion. Da wir beim alltäglichen Gebrauch der Medien (etwa bei der Live-Übertragung eines Fußballspiels im Fernsehen) den Einfluss der Kommunikationsmittel auf unser Wahrnehmen, Denken und Handeln aus dem Blick verlieren, weil wir unsere Aufmerksamkeit auf den vermittelten Inhalt (das übertragene Fußballspiel) und nicht auf die medienästhetischen oder gar medienepistemologischen Aspekte der Vermittlung konzentrieren, geraten die eigentlichen Rahmenbedingungen der Vermittlung (der Fernsehapparat als machtvolles Dispositiv mit all seinen technischen, medienästhetischen, organisatorischen und kulturellen Konsequenzen) in Vergessenheit. In Erinnerung gerufen wird uns die durch den Apparat scheinbar überbrückte Distanz zu einer außermedialen Realität in der Regel erst wieder, wenn eine Störung auftritt, die Übertragung unterbrochen wird oder der Apparat ganz ausfällt. Für gewöhnlich ist dies der Moment, in dem wir nicht mehr Fußball-schauen, sondern im eigentlichen Sinne des Wortes fern-sehen. Medien haben die paradoxe Grundeigenschaft, im Akt der störungsfreien Vermittlung unsichtbar zu werden, da wir sie – wie den Fernsehapparat bei einer Fußballübertragung – ausblenden und uns ganz auf den vermittelten Inhalt fokussieren. Gleichzeitig setzen sie Differenzen 4 und Zäsuren 5. Sie setzen Grenzen und können nur von diesen Grenzen aus beobachtet und beschrieben werden. Die Medienwissenschaft kann die prinzipielle Unsichtbarkeit der Medien nicht generell auflösen, auch dann nicht, wenn sie das Erscheinen der Medien als Störung thematisiert. Eine derartige Perspektive würde den Forschungshorizont der Disziplin auf ein Minimum reduzieren. Was
Vgl. Dieter Mersch, »Medialität und Undarstellbarkeit. Einleitung in eine ›negative‹ Medientheorie«, in: Sybille Krämer (Hg.), Performativität und Medialität, München 2004, S. 75–95. 5 Vgl. Georg Christoph Tholen, Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen, Frankfurt am Main 2002. 4
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sie aber konstruktiver Weise tun kann, ist die gezielte Auseinandersetzung mit Forschungsfeldern des Umbruchs, der Differenz und der Grenze. Für medienwissenschaftliche Auseinandersetzungen ist es dabei von ganz entscheidender Bedeutung, dass die in den Medien verhandelten Themen nicht nur hinsichtlich ihrer inhaltlichen und formalen Aspekte, sondern vor allem auch in Hinblick auf ihre medienästhetischen Strategien beobachtet und beschrieben werden. Die medienästhetischen Strategien, das WIE der sprachlichen, schriftlichen, auditiven und / oder visuellen Umsetzung, werden bei dieser Betrachtungsweise als elementarer und unauslöschbarer Teil der Botschaft begriffen. WAS in den unterschiedlichsten medialen Erscheinungsformen in Schriften oder Büchern, auf Tonträgern oder im Hörfunk, in Film, Fernsehen oder gar im Internet tatsächlich kommuniziert wird, steht mit der Art und Weise der medialen Umsetzung, jenen für viele verborgenen oder häufig übersehenen medienästhetischen Aspekten der Gestaltung von Kommunikation, ohne die Kommunikation prinzipiell unmöglich ist, in einer untrennbaren Verbindung. Eine »negative Medientheorie«, wie sie Dieter Mersch in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat, nimmt die prinzipielle Unsichtbarkeit des Medialen zum Anlass, die Grenzen der medienwissenschaftlichen Beobachtung und Beschreibung aufzuzeigen, die es mit Hilfe der Künste zu überschreiten gilt. Als philosophiegeschichtlichen Bezugspunkt verweist Mersch dabei auf eine »Negativität des Medialen«, wie man sie schon in der Ästhetik und der Logik Georg Wilhelm Friedrich Hegels angedeutet findet: In seinem Wesen Verwandlung, konstituiert es [das Medium bei Hegel; Anm. Hiebler] ein Anderes, doch so, dass es in diesem vollständig zurücktritt und verschwindet. Dem Medium kommt dann die Eigenart zu, als Medium zwar zu bewirken, aber selbst nicht zu erscheinen. Seinem Charakter des Bedingens korrespondiert zugleich ein Charakter des Verbergens. 6
Das einzige Feld, auf dem die Materialität und Medialität der Idee, die bei Hegel den höchsten Stellenwert einnimmt, in Erscheinung tritt, ist die Kunst, »wobei die Kunst ihr ›Wahrhaftes‹ weder im Sinne von Philosophie begreift noch im Sinne von Religion verinnerlicht, sondern im Stofflichen verklärt« 7. Geht es bei Hegels idealistischem Pro6 Vgl. Dieter Mersch, Medientheorien. Zur Einführung, Hamburg 2006, S. 40 [Hervorhebungen im Original]. 7 Vgl. ebd., S. 41 [Hervorhebungen im Original].
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jekt eines unsichtbaren Mediums letzten Endes darum, dass dieses »seine Materialität und damit auch seine Medialität abstreifen und seine Manifestation im Immateriellen finden muss, um ganz Begriff, d. h. wahrhaftes ›Vernunftsmedium‹ zu werden« 8, so steht am Ende dieses monströsen Projekts nicht nur die Verschmelzung von Inhalt und Begriff, sondern auch das »Ende der Kunst«. 9 Merschs negative Medientheorie verfolgt dagegen ein umgekehrtes Ziel: In einer Zeit, in der wir mehr denn je Medien ausgeliefert sind, die sich ihrer Beobachtung und Beschreibung entziehen, um uns ganz zu ›verzaubern‹, funktionalisiert Mersch die Künste zum Experimentierfeld der Medienreflexion um. Der intensive Bezug zu Materialität und Medialität, der den Künsten in Hegels idealistischem System als Schwäche ausgelegt wurde, wird nun zu ihrer Stärke. Einen besonderen Stellenwert nimmt dabei der »Einsatz ›medialer Paradoxa‹« ein, durch die »der Zauber« der Medien »wenigstens partiell aufgebrochen und das Medium in seine Reflexion gestellt werden« soll. 10 Das ist schließlich auch der Grund, weshalb die Kunst der Medientheorie mehr zu zeigen hat, als umgekehrt die Medientheorie der Kunst zu sagen hätte. Denn mittels paradoxer Interventionen bringen Künste die medialen Bedingungen und Strukturen ebenso ins Spiel, wie sie sie in negativer Weise auf sich selbst anwenden, sie verkehren und gerade dadurch zum Vorschein kommen lassen. Die Medialität des Mediums gegen den Strich zu bürsten und ihre Unkenntlichkeit selbst kenntlich zu machen: 11
Diese Zielsetzungen findet man nicht erst bei Heidegger und Derrida, also jenen Philosophen des 20. Jahrhunderts, die Mersch ins Treffen führt, sondern schon in der unmittelbaren Nachfolge Hegels. Der Philosoph, der aus einer durchwegs künstlerischen, stilistisch äußerst anspruchsvollen Perspektive diese medienästhetischen und medienepistemologischen Grundbedingungen der Kommunikation und die damit verbundenen Konstellationen der Unterbrechung, der Unruhe, ja der Angst, schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts am intensivsten und nachdrücklichsten verhandelt hat, ist Søren Kierkegaard. Kierkegaard entwickelt eine Medientheorie des existenziellen religiösen Ereignisses, bei der sich die Modi von ›Sagen‹ und ›Zeigen‹ in einem ›erotischen‹ Wechselverhältnis befinden. In einer Zeit, in der Ebd., S. 44. Vgl. ebd., S. 44 f. 10 Vgl. ebd., S. 227 f. 11 Ebd., S. 228. 8 9
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sich die meisten medienästhetischen Überlegungen auf visuelle Medien beziehen, entwickelt Kierkegaard bemerkenswerterweise eine Medientheorie des Auditiven, in der es vordergründig zunächst nur um das Verhältnis von Sprache und Musik geht. Hintergründig werden aber bereits auf diesem spielerisch erkundeten ästhetischen Experimentierfeld die grundsätzlichen mediensemiotischen Aporien und Paradoxien veranschaulicht, denen jegliche Form der Vermittlung von Unmittelbarkeit (auch jene des Glaubens) unweigerlich ausgesetzt ist.
II.
Zur medienästhetischen Ausgangslage des religiösen Schriftstellers
Für den Schriftsteller, der nach Kierkegaards eigenem ironischen Selbstverständnis zunächst vor allem ein Lesepublikum braucht, um auch als »Schriftsteller« gelten zu können, 12 sind im typographischen Bezugssystem des 19. Jahrhunderts das gedruckte Buch und die Zeitung die bevorzugten und naheliegenden Verbreitungsmedien, in denen derartige Fragestellungen ausgehandelt werden können. Obwohl Kierkegaard sich als »religiöser Schriftsteller« notgedrungen, aber auch nicht ohne eine gewisse Begeisterung ebenfalls dieser Medien bedient, hat er ein durchaus kritisches Verhältnis zum Schreiben, zum Veröffentlichen sowie zu den damit verbundenen Konsequenzen der massenhaften Verbreitung von Schriften. Die medienästhetischen Strategien, die er auf der immer wieder selbst reflektierten Basis von Schrift und Buchdruck entwickelt, rekurrieren – wie im Folgenden gezeigt wird – zu einem großen Teil auf archaische Modelle oraler Kommunikation, die in den Medienkontexten der Schrift und des Buchdrucks ihrerseits jedoch nur in gebrochener, ja zum Teil sogar mehrfach gebrochener Form evoziert werden können. Die griechische Philosophie und insbesondere die rhetorischen Strategien der sokratischen Dialoge, die vielfach als bewusste medienästhetische Gestaltungsform zur Kompensation der in der Schrift angelegten Monologizität und Linearität des Denkens aufgefasst wurden, 13 geben Søren Kierkegaard, »Schrift-Proben«, in: ders., Schriftproben, hg. v. Tim Hagemann, Hamburg 2005, S. 183–222, hier S. 187 f. 13 Vgl. Eric A. Havelock, Als die Muse schreiben lernte, Frankfurt am Main 1992, S. 176. 12
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dabei bei Kierkegaard einen positiv hervorgehobenen Bezugsrahmen für die gesuchte Reanimation eines ebenso persönlichen wie existentiellen Denk- und Schreibstils ab. Kierkegaard begnügt sich allerdings nicht damit, die alten, unzeitgemäßen Formen simulierter Oralität zu reproduzieren, sondern entwickelt dem medienkulturhistorischen Kontext des 19. Jahrhunderts entsprechend eigene, innovative Medienstrategien, in denen die Praktiken der persönlichen Mitteilung eine besondere Rolle spielen: Neben den oralen auditiven Praktiken des Sprechens, Singens, Musizierens auf der einen Seite und des Hörens auf der anderen Seite wird privaten Äußerungsformen wie Briefen oder Tagebüchern eine besondere argumentative Bedeutung eingeräumt. Anders als in populären Medientheorien des 20. Jahrhunderts, die wie Marshall McLuhan im Buchdruck »das Mittel und den Anlaß für den Individualismus und den Selbstausdruck in der Gesellschaft« sehen, 14 begreift Kierkegaard den Buchdruck nicht als erfolgreiches Mittel einer fortschreitenden gesellschaftlichen Ausdifferenzierung und Individualisierung, sondern vor allem als Medium der Entmenschlichung und der Selbstüberschätzung. Der individuelle Autor von Büchern und sein kongenialer Leser gehorchen aus Kierkegaards Blickwinkel nicht dem einflussreichen Modell von Immanuel Kants Genie-Ästhetik und deren konzeptioneller Überhöhung in der Romantik. Der geniale Autor und sein kongenialer Leser werden nicht wie vor allem bei den Frühromantikern als kreative, fast gottgleiche Ausnahme-Individuen begriffen, die mit Hilfe einer universellen Einbildungskraft in die Lage versetzt wären, in den miteinander korrespondierenden ästhetischen Prozessen der Produktion und Rezeption vollkommen autonome Welten zu erschaffen und nachzuvollziehen. 15 Bei Kierkegaard geraten Leser wie Autoren vielmehr unter den Generalverdacht einer bloßen ästhetischen Selbstreferentialität, die keinen Bezug zur existenziellen Wirklichkeit des Einzelnen mehr aufweist. Überall statt Menschen phantastische Abstraktionen. Bücher-Welt – Publikum – sobald einer schreibt, ist er sich selbst nicht länger ein einzelner
14 Marshall McLuhan, Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Max Nänny, Bonn u. a. 1995, S. 163 f. 15 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Frankfurt am Main 1974.
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Mensch, und stellt sich auch keinen Leser vor, der ein einzelner Mensch ist. – Das Mitteilungsmittel ist schuld daran, es ist viel zu großartig. [82,9] 16
Eine zentrale Konsequenz der »Bücher-Welt« ist der Verlust des Einzelnen und Konkreten. Die Distanz zwischen dem Autor und seinem Leser ist unüberbrückbar. 17 Sie wird im Kontext des Buchdrucks außerdem dadurch verstärkt, dass der Autor gedruckter Bücher zum weltentrückten Schöpfer und sein individueller Leser zum Singularplural eines Lesepublikums wird, das sich vor allem dadurch auszeichnet, Bücher zu kaufen, nicht sie zu lesen oder gar zu verstehen. Die enorme potenzielle Reichweite des Buchdrucks beeinflusst nicht nur die Inhalte, die sich mit seiner Hilfe verbreiten lassen, die unheimliche Großartigkeit des Mitteilungsmittels verändert vor allem auch das zum Größenwahn tendierende Selbstverständnis aller am Mitteilungsprozess Beteiligten. Autoren und ihre Leser wachsen über ihr natürliches menschliches Maß hinaus und mutieren zu »phantastische[n] Abstraktionen«. Der Buchdruck als »Erweiterung des Menschen« 18 und seines in Zeit und Raum begrenzten Wirkungsbereichs wird zu einem ungeheuer machtvollen, aber auch gefährlichen Instrument vermeintlicher Allmacht und Objektivität. Zur näheren Beschreibung der Effekte, die der Buchdruck als Massenverbreitungsmittel zeitigt, greift Kierkegaard bemerkenswerterweise keine visuelle, sondern eine akustische Metapher auf, mit deren Hilfe er die unsägliche Reichweite und Machtentfaltung des gedruckten Wortes veranschaulicht: Falls einer, wenn er sprechen wollte, ein Sprachrohr zur Hand hätte, das so stark wäre, daß man es über das ganze Land hören könnte: Dann würde er bald die Einbildung entwickeln, daß er nicht ein einzelner Mensch wäre
Søren Kierkegaard, »Die Dialektik der ethischen und der ethisch-religiösen Mitteilung«, in: ders., Schriftproben (Anm. 12), S. 83–149, hier S. 99. 17 Vgl. Heinz Hiebler, »Medienorientierte Literaturinterpretation: Zur Literaturgeschichte als Medienkulturgeschichte und zur Medialisierung des Erzählens«, in: Ansgar Nünning/Jan Rupp (Hg.), Medialisierung des Erzählens im englischsprachigen Roman der Gegenwart: Theoretischer Bezugsrahmen, Genres und Modellinterpretationen (Studies in English Literary and Cultural History, Bd. 50), Trier 2011, S. 45–84, hier v. a. S. 60 f. 18 Zur anthropomorphen Vorstellung von Technik und Medien als Erweiterungen bzw. Ausweitungen des Menschen vgl. Ernst Kapp, Grundlagen zu einer Philosophie der Technik. Zur Entstehungsgeschichte der Kultur aus neuen Gesichtspunkten (1877), Hamburg 2015 sowie Marshall McLuhan, Understanding Media. The Extensions of Man, New York 1964, S. 23. 16
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(sondern etwas viel Größeres, z. B. die Stimme der Zeit usw., ein Abstraktum) und daß er nicht zu einem einzelnen spräche, oder einzelnen Menschen, sondern zu der ganzen Welt (das Geschlecht usw., ein Abstraktum). So mit der Erfindung der Buchdruckerkunst und insbesondere ihrer Ausdehnung. Die Mitteilung geschieht wie durch ein ungeheures Sprachrohr, ergo – ja, wäre es das Unbedeutendste, die größte Dummheit, wäre es nur, Prosit zu rufen, der Mitteiler wird sich selbst wichtig und hat eine phantastische Vorstellung davon, zu wem er spricht. Und jetzt die Anonymität. (Die persona der Antike – per sonare – die Stimme des Einzelnen zu potenzieren, während es doch die Stimme des Einzelnen ist – aber Anonymität und dann die Presse. Welch ein Wahnsinn!) [82,10] Alles ist objektiv geworden. 19
Indem Massenmedien wie Buchdruck und Zeitung die Wirkung eines Sprachrohrs oder Megaphons haben, durch das die Stimme des Einzelnen zur Stimme der Zeit mutiert, entfalten sie ein Wirkungspotential, das sich sowohl auf den einzelnen Produzierenden als auch auf die von ihm produzierten Inhalte gleichermaßen verheerend auswirkt: Der größte Dummkopf wird plötzlich nicht nur in die Lage versetzt, alle mit seiner Dummheit zu erreichen, die enorme Reichweite der Dummheit führt auch noch dazu, dass diese allein durch ihre Verbreitung und Omnipräsenz eine ungeheuerliche Bedeutung erhält und dadurch im schlimmsten Fall sogar zum Maßstab des Denkens wird. Die Dummheit des Einzelnen, gepaart mit den Objektivität verheißenden Parametern von »Anonymität« und »Verbreitung«, wie sie in der Presse des 19. Jahrhunderts gewährleistet sind, werden von Kierkegaard als das massenmediale Horrorszenario seiner Zeit beschrieben. Quantität und Lautstärke erwecken den qualitativen Eindruck von Autorität und gedanklicher Tiefe. Diesem Umschlagen von Quantität in Qualität, das Kierkegaard als ein Hauptübel der Massenmedien entlarvt, setzt er mit seinem Rückgriff auf die medialen Praktiken der Oralität und der Handschrift weitaus leisere Töne entgegen. Der aus den unkontrollierbaren Wirkungen des Buchdrucks und der Presse resultierenden »Unredlichkeit der modernen Zeit« begegnet Kierkegaard deshalb aus gutem Grund mit Strategien der »Naivität« und »Primitivität«. 20
Kierkegaard, »Die Dialektik der ethischen und der ethisch-religiösen Mitteilung« (Anm. 16), S. 99 [Hervorhebungen im Original]. 20 Vgl. ebd., S. 106. 19
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Eines der Unglücke der Moderne ist es gerade, das »Ich«, das persönliche Ich abgeschafft zu haben. Eben deshalb ist auch die eigentlich ethisch-religiöse Mitteilung wie aus der Welt verschwunden. Denn die ethisch-religiöse Wahrheit verhält sich wesentlich zur Persönlichkeit, kann nur von einem Ich an ein Ich mitgeteilt werden. Sobald hier die Mitteilung objektiv wird, ist die Wahrheit Unwahrheit geworden. Zur Persönlichkeit ist es, wohin wir kommen sollen! Und ich veranschlage es deshalb als mein Verdienst, daß ich durch Anbringen gedichteter Persönlichkeiten, die sagen: ich, mitten in der Wirklichkeit des Lebens (meine Pseudonyme) dazu beigetragen habe, die Zeitgenossen womöglich daran zu gewöhnen, wieder ein Ich, ein persönliches Ich reden zu hören (nicht jenes phantastische reine Ich und seine Bauchrednerei). Aber eben weil die Entwicklung der ganzen Welt so weit wie möglich von dieser Anerkennung der Persönlichkeit entfernt gewesen ist, mußte es dichterisch gemacht werden. Die dichterische Persönlichkeit hat stets ein Etwas, das sie erträglicher macht für eine Welt, der es ganz ungewohnt ist, ein Ich zu hören. Und weiter gelange ich wohl niemals. Ich werde mich wohl niemals erdreisten, ganz unmittelbar mein eigenes Ich zu gebrauchen.[…] Aber davon bin ich überzeugt, daß die Zeit kommen wird, da ein Ich in der Welt aufsteht[…], das ohne weiteres ich sagt, und in der ersten Person redet. Erst er wird auch wirklich im strengsten Sinne ethische und ethisch-religiöse Wahrheit mitteilen. 21
Da die ethisch-religiöse Wahrheit nur »von einem Ich an ein Ich mitgeteilt werden kann«, ist der Buchdruck als One-to-Many-Medium zu deren Vermittlung eigentlich vollkommen ungeeignet. Die grundlegenden Medien für derartige Mitteilungen wären der Brief oder – noch deutlicher, weil noch persönlicher – das persönliche Gespräch. Die medienästhetische Strategie hinter Kierkegaards Pseudonymen ist es deshalb, »die Zeitgenossen« dazu zu bringen, wieder »ein persönliches Ich reden zu hören« (Herv. Hiebler). Da er sich selbst nicht dazu in der Lage sieht, »ganz unmittelbar« sein »eigenes Ich zu gebrauchen« und selbst »in der ersten Person« zu reden, bedient er sich einer Reihe von »gedichteten Persönlichkeiten«, die gleichzeitig den Vorteil haben, dass sie es – wie die Gesprächspartner der sokratischen Dialoge – Kierkegaard ermöglichen, eine Problematik aus unterschiedlichen Perspektiven von verschiedenen persönlichen Standpunkten aus betrachten zu können. Aus dem Blickwinkel der aktuellen Medientheorien zu den demokratischen Potentialen der Internetnutzung im Zeitalter des Web 2.0 erscheint Kierkegaards schriftstellerisches Großprojekt vergleichbar mit der Strategie eines Weblogs, 21
Ebd., S. 120.
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dessen Autor – wie etwa im 20. Jahrhundert Karl Kraus in seiner Anti-Zeitung Die Fackel – alle Einträge und Kommentare selbst schreibt. Die Zuversicht, mit der Kierkegaard daran festhält, »daß die Zeit kommen wird, da ein Ich in der Welt aufsteht[…], das ohne weiteres ich sagt, und in der ersten Person redet«, nimmt man dem permanent dekonstruierenden Part seiner dichterischen Persönlichkeit zwar nicht ganz ab, die darin zum Ausdruck gebrachte Gewissheit gehört aber konstitutiv mit zum Verständnis des Glaubens, der sich zwar nicht unmittelbar kommunizieren oder verstehen lässt, wohl aber ausschließlich unmittelbar erlebt werden kann. Die Negativfolie, vor deren Hintergrund Kierkegaard seine poetisch-pragmatische Philosophie des selbsttätigen Erlebens und Glaubens entwickelt, geben im Rahmen seiner Dialektik der ethischen und der ethischreligiösen Mitteilung die zeitgenössischen Wissenschaften und ihr Objektivitätsanspruch ab. Hier wie überall fühle ich mich mit meinem Denken verlassen. In welche Richtung beinahe auch immer ich mein Auge wende, treffe ich auf: Wissenschaften. Soweit ich es beurteilen kann, sehe ich, daß diese, jede für sich, außerordentlich entwickelt sind, beinahe überall ein ungeheurer Apparat, der immer wieder durchgearbeitet und umgearbeitet wird. Aber ich finde auch überall, daß das, womit man sich beschäftigt, dieses Was ist, welches mitgeteilt werden soll. Was dagegen mich beschäftigt, das: was es heißt mitzuteilen, davon weiß ich eigentlich nicht das Geringste in den Hervorbringungen der neueren Zeit gelesen zu haben, auch habe ich keinen davon sprechen hören. Erst weit zurück, im Altertum, wesentlich in Griechenland, finde ich, daß man sich mit diesem Problem beschäftigt hat. 22
Während die zeitgenössischen Wissenschaften in der Wahrnehmung Kierkegaards sich ganz auf das Was der Mitteilung konzentrieren, verlegt er sein Interesse auf das Wie. An medialen Strategien, mit denen sich die Medien seiner Zeit in Hinblick auf ihre ästhetische und epistemologische Raffiniertheit verfeinern lassen, steht im 19. Jahrhundert ein reichhaltiges Angebot an Schreibweisen und Publikationsstrategien bereit. Zur Profilierung seines religiösen Schriftstellertums greift Kierkegaard interessanterweise bevorzugt auf poetische Ausdrucksformen zurück, die er für seine philosophischen und theologischen Argumentationen in besonderem Maß fruchtbar zu machen weiß. Da sich das Unsagbare, Unaussprechliche nicht als all22
Ebd., S. 123.
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gemein verständliche Sprachäußerung zum Ausdruck bringen lässt, bedarf es zum Zweck seiner Beschwörung anderer, zum Teil auch nonverbaler Mittel der ästhetischen Gestaltung, die Bezug auf außersprachliche Formen des Wissens nehmen. Auf diese Weise rückt in den Schriften Kierkegaards immer wieder die Art und Weise der Mitteilung gegenüber den zu vermittelnden Inhalten in den Vordergrund. Nicht was gesagt wird, sondern wie es gesagt wird, bestimmt die Botschaft. Kierkegaard wird dadurch zu einem der konsequentesten Vordenker für das, was Marshall McLuhan erst über hundert Jahre nach ihm mit dem berühmten Slogan »The medium is the message« 23 zum Ausdruck gebracht hat. Bezeichnend und auch für die späteren pseudonymen Schriften beispielgebend ist das komplexe Modell an narrativen und medialen Rahmungen, das Kierkegaard für seine pseudonyme Erstlingsschrift Entweder – Oder (1843) entwickelt. Schon ein Blick auf das Vorwort dieser Schrift macht deutlich, welche moderne epistemologische Ausrichtung Kierkegaards Philosophie hat und welche Bedeutung dabei dem Gehör als zentralem Erkenntnisorgan zukommt.
III. Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt – Kierkegaards literarische Strategien am Beispiel von Entweder – Oder (1843) Kierkegaards Faszination für das Ästhetische ist der Tatsache geschuldet, dass er in diesem Kontext immer auch die Beschränkungen der eigenen menschlichen Wahrnehmung und der Vermittlung von Wissen reflektiert. Im Grunde geht es in der Fortsetzung des sokratischen Verfahrens immer um die prinzipiellen Aporien einer Methode und das Austesten ihrer Möglichkeiten und Grenzen. Die Medien des eigenen Denkens und Philosophierens sowie die Aporien der unterschiedlichen medialen Repräsentationen des Denkens werden nicht nur als formale, ästhetische, strukturelle Probleme benannt, ihre Möglichkeiten und Grenzen werden gleichzeitig auch konkret ausgestaltet. Die dabei entwickelten Schreibweisen und Publikationsstrategien verhalten sich insgesamt mimetisch zu den jeweiligen inhaltlichen Problemstellungen. Mit dieser medienästhetischen Grundsatzentscheidung folgt er dem Konzept des Klassikers, wie er es selbst 23
McLuhan, Understanding Media (Anm. 18), S. 23–35.
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in den Überlegungen des Ästhetikers A zum Musikalisch-Erotischen als Einheit von Idee, Form und Medium ausbuchstabiert hat. Damit hebt A die von seinem angeblich so unterschätzten und rasch überflügelten Vorbild Hegel bevorzugte und auch zitierte Einheit von Idee und Form auf eine höhere Reflexionsebene. 24 Dieser häufig in sich widersprüchlichen und bewusst ironisierenden Denkweise entsprechend gehört es zu den Eigenheiten von Søren Kierkegaards schriftstellerischer Tätigkeit, dass er seine Bücher nicht unter seinem eigenen Namen, sondern unter wechselnden Pseudonymen veröffentlicht. Die sprechenden Namen der Autoren lassen sich ebenso wie die gewählte Darstellungsform in eine mehr oder weniger deutliche Beziehung zur Thematik des veröffentlichten Werkes setzen. Kierkegaard schafft dadurch ein polyphones Netzwerk fiktiver Stimmen. Das ermöglicht es ihm einerseits, sich von den darin verhandelten individuellen Positionen zu distanzieren, gibt ihm andererseits aber auch den nötigen Freiraum für eine literarische Betätigung, die ihn von der existenziellen Last befreit, in einem fort »ich« sagen und damit gleichzeitig das übermenschliche Konstrukt eines in sich konsistenten und widerspruchsfreien philosophischen Systems aufrechterhalten zu müssen. Obwohl er auf diese Weise eine Vielzahl an Perspektiven entwickelt, die jede für sich den Anspruch erhebt, die Meinungsäußerung einer konkreten individuellen Persönlichkeit sein zu können, gibt er mit seinen vielfachen Täuschungsmanövern insgesamt jedoch keinen konsistenteren oder verbindlicheren Rat als den, am Ende schließlich selbst als wahrnehmendes, denkendes und handelndes Individuum in Aktion zu treten. Für Entweder – Oder entwirft Kierkegaard ein komplexes Modell an narrativen und medialen Rahmungen, die zwei in sich widersprüchliche Funktionen erfüllen: Sie ermöglichen Kierkegaard einerseits eine Distanzierung zu den veröffentlichten Inhalten und dienen auf der anderen Seite der literarischen Strategie der Beglaubigung, indem den Texten eine (wenn auch fiktive) Form der Authentizität unterlegt wird. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht stellt die Pseudonymität von Entweder – Oder, die als »literarische Mystifikation […] Kierkegaards Naturell sehr« entsprach, nicht nur »eine still-
Vgl. Søren Kierkegaard, Entweder – Oder. Teil 1, unter Mitwirkung von Niels Thulstrup und der Kopenhagener Kierkegaard-Gesellschaft hg. v. Hermann Diem und Walter Rest, übersetzt von Heinrich Fauteck, München 1988, S. 65 f.
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schweigende ästhetische Forderung« seiner Zeit dar, 25 die Verknüpfung von Pseudonym und Herausgeberfiktion greift auch altbewährte medienästhetische Beglaubigungsstrategien des modernen Romans auf, wie man sie seit den großen Klassikern des Tagebuch- und Briefromans, Daniel Defoe, Samuel Richardson oder Henry Fielding, kennt. Der Roman, der in seiner englischen Ausprägung als »novel« eng mit dem Neuigkeits- und Sensationsdruck eines journalistischen Schreibens verknüpft ist, etabliert sich im 18. Jahrhundert als Ausdrucksform eines neuen Individualismus und einer neuen ebenso realistischen wie sinnlichen Weltsicht im Umkreis einer zunehmend säkularisierten und realistischen Philosophie. 26 Herausgeberfiktionen und Pseudonyme haben hier die Funktion, den Wahrheitsgehalt der Geschichte zu unterstreichen. Weitaus reflektiertere und verwickeltere Herausgeberstrategien findet man in der deutschen Literatur des Sturm und Drang und der Romantik. 27 Kierkegaard schließt sich mit seinem paradoxen Konzept der Beglaubigung und Distanzierung vor allem spätromantischen Spielarten der Herausgeber- und Autorschaft an, nicht ohne jedoch dem Ganzen eine weitere kritisch-parodistische Note zu verleihen. Das Vorwort des fiktiven Herausgebers Victor Eremita, in dem die Herkunft der in Entweder – Oder publizierten Texte erläutert wird, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als dialektische Komödie, die sowohl literarische Publikationspraktiken als auch philosophische Konzepte der Zeit aufs Korn nimmt. Der erste Zweifel, den der fiktive Herausgeber von Entweder – Oder in seinem an den »lieben Leser« gerichteten Vorwort schürt, ist der »an der Richtigkeit des bekannten philosophischen Satzes, daß das Äußere das Innere, das Innere das Äußere sei«. 28 Die Parodie, die damit in Gang gebracht wird, richtet sich gegen neuzeitliche Konzepte der Wahrnehmung und Beschreibung des Realen in der Philosophie, wie sie von Descartes über Kant bis Hegel vertreten wurden. Konkret spielt die Formulierung auf ein Unterkapitel in Hegels WisVgl. Joakim Garff, Kierkegaard. Biographie. Aus dem Dänischen von Herbert Zeichner und Hermann Schmid, 2. Aufl., München 2006, S. 257. 26 Vgl. dazu bereits Ian Watt, Der bürgerliche Roman. Aufstieg einer Gattung. Defoe – Richardson – Fielding. Aus dem Englischen von Kurt Wölfel, Frankfurt am Main 1974. 27 Vgl. Uwe Wirth, Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800: Goethe, Wieland, Brentano, Jean Paul und E. T. A. Hoffmann, München 2007. 28 Kierkegaard, Entweder – Oder, Teil 1 (Anm. 24), S. 15. 25
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senschaft der Logik (1813) an, in dem es um das Verhältnis des Äußeren und Inneren geht. 29 Mit seiner Geschichte von einem alten unscheinbaren Schreibtisch, den er nach langem Zögern bei einem Antiquitätenhändler kauft und in dem er per Zufall die von ihm herausgegebenen Schriften findet, die den Textkorpus von Entweder – Oder bilden, gibt Victor Eremita (wörtlich: »der siegreiche Einsiedler«) dem Leser ein kriminologisches Rätsel auf. Ein kleiner Ausflug in die Philosophiegeschichte soll helfen, hinter der scheinbar harmlosen Oberfläche des Schreibtischkrimis eine ganze Reihe tieferer Bedeutungen und unausgesprochener Botschaften zu erkennen. Im Mittelpunkt des Ganzen stehen letzten Endes so zentrale epistemologische Problematiken wie das Verhältnis des Menschen zur Welt, sein Verständnis von Realität und die Möglichkeiten und Grenzen von Wahrnehmung und Beschreibung. In Hinblick auf die Philosophiegeschichte der Neuzeit hat die Frage nach dem Verhältnis von ›Innen‹ und ›Außen‹ ihren Ausgangspunkt in der von René Descartes gestellten erkenntnistheoretischen Grundsatzfrage nach dem Verhältnis des Menschen zur Natur. Während »die innere Natur des Menschen« bei Descartes »als etwas prinzipiell Verfügbares« erscheint, bei dem die innere »Beziehung zu Gott« den Menschen »beglückt und trägt«, verwandelt sich die äußere Natur der Dinge und Körper »in einen seelenlosen Mechanismus, der uns nicht birgt«, den wir aber »beherrschen können«. 30 Im Kontext des cartesianischen Dualismus stellen »res cogitans« und »res extensa« als »Seele« und »Körper« oder auch »Geist« und »Materie« zwei getrennte Welten dar, zwischen denen Gott im günstigsten Fall vermittelt. Mit seiner transzendentalen Logik entwickelt Immanuel Kant eine Methode, die innere Welt der Begriffe mit der äußeren Welt der Anschauungen auf vernünftige Weise so eng wie möglich zu verknüpfen, indem er beide im Prozess der Wahrnehmung als epistemologische Kehrseiten ein und derselben Medaille untrennbar
Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik. Erster Band: Die objektive Logik. Zweites Buch: Die Lehre vom Wesen (1813), neu hg. v Hans-Jürgen Gawoll, mit einer Einleitung von Walter Jaeschke, 2., verb. Aufl., Hamburg 1999, S. 154–159. 30 Vgl. Rainer Specht, »René Descartes (1596–1650)«, in: René Descartes, Philosophische Schriften in einem Band. Mit einer Einführung von Rainer Specht und »Descartes’ Wahrheitsbegriff« von Ernst Cassirer, Hamburg 1996, S. XV–XL, hier S. XXXIX f. 29
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miteinander verschaltet. »Anschauung und Begriffe machen also die Elemente aller unsrer Erkenntnis aus, so daß weder Begriffe, ohne ihnen auf einige Art korrespondierende Anschauung, noch Anschauung ohne Begriffe, ein Erkenntnis abgeben können.« 31 Mit dem aufklärerischen Ziel, den Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit herauszuführen, wird der Verstand bei Kant zum zentralen »Vermögen, den Gegenstand sinnlicher Anschauung zu denken« 32 und mithin die äußere Welt der Anschauung mit der inneren Welt der Begriffe in Einklang zu bringen. Keine dieser Eigenschaften ist der anderen vorzuziehen. Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist es eben so notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen (d. i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen), als, seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d. i. sie unter Begriffe zu bringen). Beide Vermögen, oder Fähigkeiten, können auch ihre Funktionen nicht vertauschen. Der Verstand vermag nichts anzuschauen, und die Sinne nichts zu denken. Nur daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen. 33
Indem beide Vermögen nur durch den Bezug auf das jeweils andere überhaupt Sinn ergeben, bringt die Aufklärung Kants nicht nur das ehrgeizige Projekt auf den Weg, alle unsere Anschauungen auf den Begriff zu bringen, sie stellt auch einen wirkungsmächtigen Antrieb dafür dar, die äußere Welt der Erscheinungen mit der inneren Welt der Gedanken abzugleichen. Streng genommen kann aus dieser Perspektive eine Ästhetik oder Aisthesis, die sich nur auf eine unaussprechliche sinnliche Erfahrung bezieht, nichts Sinnvolles hervorbringen. Alles, was sich nicht veranschaulichen lässt, und alles, was sich nicht auf den Begriff bringen lässt, fällt durch das Raster unserer Wahrnehmung. Oder etwas überspitzt formuliert: Wo es keine Verknüpfungsmöglichkeit zwischen Innen und Außen gibt, gibt es auch keine Welt. Aktuelle Ansätze eines neuen alltagstauglichen Realismus, die sich gegen die konstruktivistischen und dekonstruktivistischen Modelle einer Realität im Kontext der Digitalisierung behaupten wollen, haben sich das von Kant entwickelte Modell der 31 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. Band 1 (1781), hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1990, S. 97. 32 Vgl. ebd., S. 98. 33 Vgl. ebd.
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Verknüpfung von Anschauung und Begriffen zur Grundlage ihres mentalen Zugangs zur Welt gemacht: Die Konzeption einer phänomenologischen Begriffsverwendung erlaubt es nun, zu erklären, wie es möglich ist, daß Wahrnehmungsinhalte weder rein begrifflich noch rein phänomenal (oder auf eine andere Weise begriffsunabhängig) sind: Wahrnehmungen (jedenfalls die erwachsener Menschen) sind danach begrifflich artikulierte phänomenale Erfahrungen. Weder der phänomenale noch der begriffliche Aspekt machen für sich genommen einen isolierbaren »Inhalt« der Wahrnehmung aus. Eine rein phänomenale Erfahrung, wie z. B. ein Schmerz, hat keinen intentionalen Gehalt. 34
Dementsprechend fällt die rein phänomenale Erfahrung des Schmerzes durch das Raster eines derartigen Wahrnehmungsverständnisses. Alles Erfahrbare und Erlebbare, das sich nicht auf einen Begriff bringen lässt, wird so zum blinden Fleck eines derartigen Philosophierens. Alle philosophischen, aber auch medienwissenschaftlichen Ansätze, die sich für den außersprachlichen Mehrwert sinnlicher und existenzieller Erfahrungen stark machen und Bedeutungen auch im Jenseits der Begriffe untersuchen, werden aus dieser Perspektive als künstlerische Unternehmungen von der Wahrheitsfindung ausgeschlossen. Für Søren Kierkegaards Philosophie des Unaussprechlichen und Unmitteilbaren, die ganz grundsätzlich auf den individuellen religiösen Erfahrungen des Undarstellbaren aufbaut, stellt ein derartiges Denken keine Option dar. Auch wenn Hegels Wissenschaft der Logik in ihrer Systematik über Kants Kritik hinausgeht, so lassen sich in den Passagen, auf die Eremita / Kierkegaard offenbar anspielt, 35 vergleichbare Belege für die Verschränkung von Innerem und Äußerem finden. Das Innere ist als die Form der reflektierten Unmittelbarkeit oder des Wesens gegen das Äußere als die Form des Seins bestimmt, aber beide sind nur eine Identität. – Diese Identität ist erstens die gediegene Einheit beider als inhaltsvolle Grundlage oder die absolute Sache, an der die beiden Bestimmungen gleichgültige, äußerliche Momente sind. Insofern ist sie Inhalt und die Totalität, welche das Innere ist, das ebensosehr äußerlich wird, aber darin nicht ein Gewordenes oder Übergangenes, sondern sich selbst gleich Marcus Willaschek, Der mentale Zugang zur Welt. Realismus, Skeptizismus und Intentionalität, 2. Aufl., Frankfurt am Main 2015, S. 278. 35 Zu dem Verweis auf Hegels Wissenschaft der Logik vgl. Philipp Schwab, »Innen und Außen. Zu Kierkegaards Auseinandersetzung mit der romantischen Ironie vor dem Hintergrund der Mitteilungsform von Entweder/Oder«, in: Kierkegaard Studies. Yearbook 2008, S. 38–52, hier S. 45. 34
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ist. Das Äußere ist nach dieser Bestimmung dem Inneren, dem Inhalt nach nicht nur gleich, sondern beide sind nur Eine Sache. 36
Mit seinem erfundenen Vorwort macht Kierkegaard vom Anfang seiner schriftstellerischen Tätigkeit an keinen Hehl daraus, dass ihm die Vorstellung einer äußeren Realität, die sich vollständig auf den Begriff bringen lässt, suspekt ist. Für das, was er an Unmittelbarem und Unaussprechlichem mit seiner Philosophie des Ereignisses ansprechen will, ist das epistemologische Programm einer Verknüpfung von res cogitans (Innenwelt/Begriff) und res extensa (Außenwelt/ Ding) ebenso unzureichend wie die zu diesem Zweck funktionalisierten Kommunikationsmedien Schrift und Buchdruck. Mit seiner Abwendung von einem philosophischen Erkenntnismodell, das im Kontext von Hegels Lehre vom Wesen Gott auf den Begriff der Natur reduziert, 37 hin zu einem psychologischen Erkenntnismodell, das zwischen Begriff und Anschauung ausreichend Freiraum für das Unaussprechliche und Nicht-Mitteilbare behält, gibt Kierkegaard eine kritische Antwort auf das von Kant angeregte Wahrnehmungs- und Erkenntnismodell einer möglichst nahtlosen Verknüpfung zwischen Begriffen (res cogitans) und Anschauungen (res extensa), das in Hegels Wissenschaft der Logik und in der dort postulierten Identität von Innen und Außen seinen idealistischen Höhepunkt erfährt. Kierkegaard setzt statt der angestrebten Verschmelzung von Denken und Erfahrung, bei der jegliches Wahrnehmen und Handeln auf den Begriff als höchster Kategorie menschlichen Geistes und menschlicher Rationalität gebracht werden soll, auf die Brüche und Differenzen, die er bei Hegel und den Hegelianern seiner Zeit nicht in ausreichendem Maße zu erkennen glaubt. Ihnen begegnet er mit einem auf den ersten Blick höchst widersprüchlichen Verfahren, bei dem der Fokus auf Hegel, Wissenschaft der Logik. Erster Band: Die objektive Logik. Zweites Buch: Die Lehre vom Wesen (Anm. 29), S. 155 [Hervorhebungen im Original]. 37 So heißt es in einer Anmerkung zu dem zuletzt als Auszug zitierten Abschnitt über das Verhältnis des Äußeren und Inneren abschließend: »So ist auch Gott in seinem unmittelbaren Begriff nicht Geist; der Geist ist nicht das Unmittelbare, der Vermittlung entgegengesetzte, sondern vielmehr das seine Unmittelbarkeit ewig setzende und ewig aus ihr in sich zurückkehrende Wesen. Unmittelbar ist daher Gott nur die Natur. Oder die Natur ist nur der innere, nicht als Geist wirkliche und damit nicht der wahrhafte Gott. – Oder Gott ist im Denken, als erstem Denken, nur das reine Sein oder auch das Wesen, das abstrakte Absolute, nicht aber Gott als absoluter Geist, als welcher allein die wahrhafte Natur Gottes ist.« Vgl. ebd., S. 159 [Hervorhebungen im Original]. 36
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dem Unaussprechlichen, dem Nicht-Mitteilbaren bzw. dem Unteilbaren persönlicher Erfahrung liegt. Für das Liebesspiel zwischen (weiblicher) Anschauung bzw. Erscheinung und (männlich-ritterlichem) Begriff hatte Kierkegaard schon am Beginn seiner Magisterdissertation Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates (1841) ein erotisches Modell ritterlichen Minnedienstes an der Realität entwickelt, dessen allumfassende Aufmerksamkeit darauf gerichtet sein sollte, »der Erscheinung zu ihrer vollkommenen Offenbarung zu helfen. Wiewohl der Betrachter deshalb nun den Begriff mitbringt, kommt es doch darauf an, daß die Erscheinung nicht gekränkt werde, und daß der Begriff gesehen werde als aus der Erscheinung entstehend.« 38 Wie der in diesem Zusammenhang nicht ganz passende Begriff der »Offenbarung« verrät, entbehrt schon hier der Bezug auf »neuere philosophische Bestreben« nicht einer gewissen (Selbst-)Ironie. Anschauung und Begriff sind, anders als bei Kant oder Hegel, nicht unzertrennlich miteinander verknüpft oder sogar identisch, sie stehen eher in einem respektvollen Distanzverhältnis, das es – bei aller erotischen Anziehungskraft – erst mit aller Sorgfalt und Behutsamkeit herzustellen und kritisch zu überprüfen gilt. Im Vorwort zu Entweder – Oder werden die Differenzen zu Kants Wahrnehmungs- und Realitätsmodell noch expliziter, selbst wenn die geäußerte Kritik auch hier in eine nicht ohne Voraussetzungen enträtselbare Geschichte verpackt ist. Der Zweifel als zentrale Kategorie einer rationalistischen Philosophie, deren naturwissenschaftliches Erkenntnisinteresse vor allem auf die Immanenz einer vorzugsweise sichtbaren und vermessbaren Realität fokussiert ist, die sich methodisch beobachten und beschreiben lässt, wird von Victor Eremita konsequenterweise auf ein anderes, ästhetisches Betätigungsfeld übertragen. Da er – mit einem gewissen ironischen Bezug auf Descartes – in puncto Zweifel »der Philosophie« gegenüber »von jeher etwas ketzerisch gesinnt« ist, beginnt er »so gut als möglich selbst Beobachtungen und Nachforschungen anzustellen« und sucht »bei den Schriftstellern […] Anleitung […], um dem Bedürfnis, das die philosophischen Schriften zurückließen, abzuhelfen.« 39 Worin dieses zurückgelassene Bedürfnis besteht, bleibt zunächst unbeantwortet. Der Umstand, dass er sich zu dessen Befriedigung nicht an den Philosophen, sondern an den Schriftstellern orientiert, scheint jedoch bereits 38 39
BI, 7. Kierkegaard, Entweder – Oder. 1. Teil (Anm. 24), S. 11.
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eine Richtung anzuzeigen, die durch eine weitere Grundsatzentscheidung in Hinblick auf die Wahl des für die Erkenntnisgewinnung zentralen Sinnesorgans untermauert wird. So ist mir denn nach und nach das Gehör der liebste Sinn geworden; denn gleichwie die Stimme die Offenbarung der dem Äußeren inkommensurablen Innerlichkeit ist, so ist das Ohr das Werkzeug, mit welchem diese Innerlichkeit erfaßt, das Gehör der Sinn, durch den sie angeeignet wird. Sooft ich also einen Widerspruch fand zwischen dem, was ich sah, und dem, was ich hörte, fand ich meinen Zweifel bestärkt, und meine Beobachtungslust wuchs. Ein Beichtvater ist von dem Beichtenden durch ein Gitter getrennt, er sieht nicht, er hört nur. Und derweilen er hört, bildet er nach und nach ein Äußeres, das dem entspricht; er gerät also nicht in Widerspruch. Anders dagegen, wenn man zugleich sieht und hört und doch ein Gitter zwischen sich und dem Sprechenden erblickt. Meine Bemühungen, in dieser Richtung Beobachtungen anzustellen, sind, was das Ergebnis anlangt, sehr unterschiedlich gewesen. Bald hatte ich Glück, bald keines, und Glück gehört immerhin dazu, um auf diesen Wegen einen Gewinn davonzutragen. 40
Mit der Priorisierung des Gehörs als dem leitenden Sinn der Erkenntnis wird der Akzent des Interesses von den oberflächlichen visuellen Reizen der Dinge der realen Welt auf eine »inkommensurable Innerlichkeit« verlegt, die von den philosophischen und naturwissenschaftlichen Schriften in der Nachfolge Descartes zunehmend vernachlässigt wird. Mit der sinnlichen Umorientierung vom Auge zum Ohr wird nicht nur die Stimme als Offenbarungsquelle und das Gehör als der zentrale Sinn der Sinnstiftung reinthronisiert, das Betätigungsfeld der Überlegungen wird von einem sichtbaren und vermessbaren Außen auf ein hörbares und unermessliches Innen verlagert. Aus der Beobachtungslust wird – nach dem Modell der Ohrenbeichte – im Grunde ein Lauschangriff. Das Äußere wird dabei zunächst vollständig ausgeblendet und bildet sich aus dem Gehörten erst nach und nach als ein widerspruchsfreies, aber nur imaginiertes Äußeres. Der Widerspruch ist hier also nur zum Schein aufgelöst, gleichwie das trennende »Gitter zwischen sich und dem Sprechenden« sofort wieder in Erscheinung tritt, sobald »man zugleich sieht und hört«. In einer Welt der Audiovision, in der für gewöhnlich das visuelle Paradigma über das auditive triumphiert und das eine das andere Lügen straft, bleibt anschlussfähige Kommunikation ähnlich 40
Ebd., S. 11 f.
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unwahrscheinlich wie die widerspruchsfreie Identität von Innen und Außen. In einer Welt, einem Denken, das so sehr auf Widersprüchen und Paradoxien aufbaut wie die ästhetischen Schriften Kierkegaards, darf es deshalb nicht verwundern, dass die eigentlichen großen Entdeckungen und Erkenntnisse nicht auf einer systematischen Methode, sondern auf Glück beruhen. Dass ein derart »unverhoffter Glücksfall« dennoch möglich ist, das soll nun ausgerechnet durch die merkwürdige Geschichte demonstriert werden, wie der Herausgeber in den Besitz der von ihm vorgelegten Papiere gekommen ist. »In den Papieren« selbst wiederum erhält der in der Ich-Perspektive schwadronierende Herausgeber »Gelegenheit, einen Einblick in das Leben zweier Menschen zu tun, der« seinen »Zweifel daran, daß das Äußere das Innere sei, noch bestärkte.« Insbesondere vom Ästhetiker A wird behauptet, dass »[s]ein Äußeres […] mit seinem Inneren in vollkommenem Widerspruch gestanden« habe. Aber »[a]uch von dem andern [dem Ethiker B; Anm. Hiebler] gilt es bis zu einem gewissen Grade, insofern er unter einem ziemlich unbedeutenden Äußeren ein recht bedeutendes Inneres verborgen« habe. 41 Veranschaulichungsobjekt dafür ist im Vorwort von Entweder – Oder der Schreibtisch, der eigentlich der paradigmatische Austragungsort für die Verknüpfung von Begriffen und Anschauungen, Innen und Außen ist und der bei Kierkegaard durch seine demonstrative Dysfunktionalität in dieser Hinsicht zum Symbol für ein neues Schreiben und Denken wird. Victor Eremita, der fiktive Autor des Vorworts, inszeniert den von ihm zufällig bei einem Antiquitätenhändler gekauften alten und nicht besonders schönen Schreibtisch nicht als Werkbank eines einsamen Autors, der – wie sonst üblich – das Geschriebene auf dieser Folterbank des Geistes selbsttätig produziert oder in einem inspirierten Zustand als »écriture automatique« empfangen hat. Kierkegaard geht mit seinem Ursprungskonzept noch einen entscheidenden ironischen Schritt weiter: Die in Entweder – Oder publizierten Schriften werden nicht auf dem Schreibtisch geschrieben, sie sind bereits in ihm verborgen und werden demnach in ihm vorgefunden. Erst als der Besitzer des Schreibtisches beim Versuch, seine Geldschublade zu entnehmen, mit einem Handbeil auf den Schreibtisch losgeht, öffnet sich eine lange unentdeckte Geheimtür, hinter der sich seinerseits wieder ein Fach verbirgt, in dem sich zur großen Überraschung des Herausgebers (und des 41
Vgl. ebd., S. 12.
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Lesers) jene »Menge von Papieren« findet, »die den Inhalt der vorliegenden Schrift ausmachen.« 42 Was sich dem Herausgeber offenbart und was wir als Leser von diesem präsentiert bekommen, ist also weder selbst produziert noch ein Plagiat. Es ist vielmehr vorgefundenes authentisches Material, das nicht nur durch seine Inhalte, sondern schon durch seine konkreten materiellen Erscheinungsformen eine Botschaft hat. Die vorgefundenen Schriften, die man in der aktuellen Sprache der Medienwissenschaften auch als »found footage« bezeichnen könnte, stammen offenbar von zwei höchst unterschiedlichen Persönlichkeiten, deren genaue Identität zwar ungeklärt bleibt, deren Wahrnehmen, Denken und Handeln sich aber nicht nur aus den Inhalten ihrer hinterlassenen Schriften erschließt, sondern konsequenterweise bereits aus deren vollkommen unterschiedlichen medialen Erscheinungsformen. Die medienästhetischen »Formationen« der beiden Schreibweisen werden auf der Ebene der Materialästhetik sowohl in Hinblick auf das verwendete Papier als auch in Hinblick auf die darauf erkennbare Schrift differenziert: Die eine von ihnen war auf eine Art von Post-Velin geschrieben, in Quart, mit ziemlich breitem Rand. Die Handschrift war leserlich, zuweilen sogar ein wenig zierlich, nur an vereinzelten Stellen hingeschludert. Die andere war auf ganzen Bogen Kanzleipapier geschrieben, mit gespaltenen Kolumnen, so wie man gerichtliche Urkunden und sonst dergleichen zu schreiben pflegt. Die Handschrift war deutlich, etwas langgezogen, einförmig und schlicht, sie schien einem Beamten zuzugehören. 43
Die verwendeten Papiersorten und die darauf enthaltenen Handschriften stehen ebenso in einem Verhältnis der Analogie wie die im Folgenden zur Schau gestellten Inhalte der beiden Autoren, über die der Leser jeweils nur so viel erfährt, wie er und der Herausgeber aus deren Schriften und den im Vorwort beschriebenen medialen Erscheinungsformen dieser Schriften herauslesen können. Der namenlose (weil tendenziell identitätslose) Ästhetiker A hinterlässt nur eine ungeordnete Menge loser Papiere. Die Papierqualität ist hoch, die darauf enthaltene Handschrift ist aber ebenso uneinheitlich wie die damit vermittelten Inhalte, Textgattungen, Denkstile und Stimmungen. Als weitaus berechenbarer und homogener erweisen sich die Schriften des Ethikers B, von dem man im Vorwort und aus dessen Briefen immerhin erfährt, dass er Gerichtsrat gewesen ist und Wilhelm heißt. 42 43
Vgl. ebd., S. 14. Ebd., S. 15.
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An die Stelle der von Kant proklamierten und von Hegel hypertrophierten Übereinstimmung von Begriff und Anschauung tritt mit diesen medialen Komponenten, die bei Kant und Hegel konsequent ausgeblendet bleiben, bei Kierkegaard ein Aspekt hervor, der nicht auf dem aufgeklärten Modell der Wahrnehmung basiert, sondern ironischerweise auf die voraufklärerische Vorstellung der Ähnlichkeit rekurriert, die sich in der materialästhetischen Erscheinungsform der im Schreibtisch vorgefundenen Papiere und Handschriften des Ästhetikers A und des Ethikers B als Spur oder Fährte widerspiegelt. Die Korrespondenzen von Innen und Außen, die sich auch im Konzept der Ähnlichkeiten finden lassen, basieren jedoch nicht auf dem durch genaue Beobachtung und Beschreibung herstellbaren naturwissenschaftlichen Verhältnis von Begriff und Anschauung, sondern auf der Vorstellung einer tieferen (vielleicht sogar göttlichen) Bedeutung der Dinge, die nach außen sichtbar wird, im Grunde aber von ihrem jeweiligen Schöpfer im Offensichtlichen verborgen wurde. So wie die Natur im Denken der Ähnlichkeiten als Buch Gottes lesbar wird, so spiegeln sich die unterschiedlichen Charaktere des Ästhetikers A und des Ethikers B in ihren Handschriften oder anderen medialen Aspekten ihrer äußeren Erscheinung oder ihrer Argumentations- und Schreibweisen wider. Voraussetzung, um dies zu erkennen, ist ein feines ebenso psychologisches wie graphologisches Gespür für die in der Regel nur schwer erfassbaren und häufig ausgeblendeten Aspekte des Medialen, die Kierkegaard im ersten Teil von Entweder – Oder am intensivsten an einer Mediensemiotik des Auditiven ausbuchstabiert.
IV. Kierkegaards Mediensemiotik des Auditiven Alles endet mit Gehör – die Regeln der Grammatik enden mit Gehör – die Gebote des Gesetzes mit Gehör – der Generalbaß mit Gehör – das System der Philosophie mit Gehör –, deshalb wird auch das andere Leben als lauter Musik dargestellt, als eine große Harmonie, – möchte doch meines Lebens Dissonanz sich bald darin auflösen. 44
Das Hören nimmt sowohl in der Medienphilosophie als auch in der Philosophie Søren Kierkegaards eine privilegierte Stellung ein. Mit dem Hören hört nicht nur alles auf, es fängt auch alles mit dem Hören 44
Søren Kierkegaard, Tagebucheintrag vom 11. Sept. 1836, in: T1, 54.
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an. Lange bevor Babys nach ihrer Geburt die Augen öffnen und beginnen, ihren Sehsinn und die dazugehörigen Hirnregionen zu trainieren, können sie hören. Der Hörsinn ist der Sinn, der uns immer begleitet. Anders als unsere Augen können wir unsere Ohren vor äußeren Eindrücken nicht verschließen. Das Hören nimmt nicht nur in Hinblick auf unsere pränatalen Erfahrungen im Mutterleib, sondern auch in der Medienkulturgeschichte menschlicher Kommunikations- und Erkenntnismodelle eine zentrale Rolle ein. 45 Lange bevor es durch die Schrift und vor allem durch den Buchdruck zu einer zunehmenden Bevorzugung der Augen als äußeren Sinnen zur Erkundung und Vermessung der Realität kommt, prägen die Klänge von Sprache und Musik die magischen ganzheitlichen Erkenntnismodelle oraler Kulturen, in denen das Unsichtbare und Innerliche menschlicher Erfahrungen – jenseits der von Immanuel Kant propagierten Verknüpfung von Begriffen und Anschauungen – den Takt des Wahrnehmens, Denkens und Handelns vorgeben. Bei Kierkegaard findet man dieses zentrale Thema, das seine selbstreferentiellen Überlegungen zur Rolle als religiöser Schriftsteller auf ästhetischer, ethischer und religiöser Ebene zeitlebens durchziehen wird, bereits ganz am Anfang seiner ersten pseudonymen Schrift Entweder – Oder. Wie es auf den ersten Blick scheint, wird hier die Frage nach dem Wesen des Dichters zunächst nur auf einer ästhetischen Ebene reflektiert: WAS IST EIN Dichter? Ein unglücklicher Mensch, der tiefe Qualen in seinem Herzen birgt, dessen Lippen aber so geformt sind, daß, indem der Seufzer und der Schrei über sie ausströmen, sie klingen wie eine schöne Musik. Es geht ihm wie jenen Unglücklichen, die im Ochsen des Phalaris langsam bei gelindem Feuer gepeinigt wurden, ihre Schreie drangen nicht bis an das Ohr des Tyrannen, um ihn zu entsetzen, ihm klangen sie wie eine süße Musik. Und die Menschen scharen sich um den Dichter und sagen zu ihm: Singe bald wieder; das heißt: möchten doch neue Leiden deine Seele martern, und möchten doch die Lippen so geformt bleiben wie bisher; denn der Schrei würde uns bloß ängstigen, die Musik aber, die ist lieblich. Und die Rezensenten treten hinzu, die sagen: Ganz recht, so soll es sein nach den Regeln der Ästhetik. Nun, versteht sich, ein Rezensent gleicht einem Dich-
Vgl. Joachim-Ernst Berendt, Nada Brahma. Die Welt ist Klang, Reinbek bei Hamburg 1985. – Ders., Das Dritte Ohr. Vom Hören der Welt, Reinbek bei Hamburg 1988. – Alfred A. Tomatis, Der Klang des Lebens. Vorgeburtliche Kommunikation. Die Anfänge der seelischen Entwicklung. Deutsch von Hainer Kober, Reinbek bei Hamburg 1990.
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ter ja aufs Haar, nur hat er nicht die Qualen im Herzen, nicht die Musik auf den Lippen. Sieh, darum will ich lieber Schweinehirt sein auf Amargerbro und von den Schweinen verstanden sein, als Dichter sein und mißverstanden von den Menschen. 46
Die Wesensbestimmung des Dichters, mit der Victor Eremita die ungeordnet überlieferten Papiere des Ästhetikers A beginnen lässt, markiert nicht von ungefähr auch den bemerkenswerten Start von Kierkegaards eigener Karriere als (religiöser) Schriftsteller. Was der Leser präsentiert bekommt, ist ein Bild für die Vorgangsweise des modernen Dichters, der seine Rezipienten und Rezensenten nicht dadurch begeistert, was er sagt, sondern vor allem wie er es zum Ausdruck bringt. Am Ausgangspunkt des Verhältnisses von Schriftsteller und Leserschaft steht ein kreatives Missverständnis, in dem es weniger um anschlussfähige Kommunikation und möglichst eindeutige Verständigung, sondern in erster Linie um das Zustandekommen eines ästhetischen Genusses bei der Rezeption von Dichtung geht. Der mediale Aggregatzustand, in dem Dichtung hier einzig verhandelt wird, ist nicht das geschriebene oder gedruckte Wort, ja noch nicht einmal die gesprochene Sprache. Vielmehr sind es existentielle auditive Daseinsäußerungen wie Seufzer und Schreie, die – über zwischengeschaltete Filter wie den »Ochsen des Phalaris« – in den Ohren einer (tyrannischen) Zuhörerschaft ihre eigentlich angsteinflößende Botschaft verlieren und als süße oder liebliche Musik wahrgenommen werden. Was ein Dichter ist, hat demnach gar nichts damit zu tun, was ein Dichter zu sagen hat, lässt ihn doch die fabelhafte ›Sprache‹, derer er sich bedient, zu einem Fabelwesen werden, das eher mit Ochsen und Schweinen als mit Lesern und Rezensenten zu kommunizieren vermag. Die Stimme, die so durch den Dichter vernehmbar wird, erinnert – in der Nomenklatur antiker Grammatiker, an die Giorgio Agamben in seinen Ausführungen zu Kindheit und Geschichte (1978, 2001) anknüpft – eher an »die ungeordnete Stimme der Tiere (phoné synkechyméne)« als an die »gegliederte Stimme« des Menschen (phoné énarthros), die sich als »phonè engrámmatos« bzw. als »Stimme, die mit Buchstaben transkribiert und erfaßt worden ist«, in erster Linie als Schrift begreifen lässt. 47 Kierkegaard, Entweder – Oder. 1. Teil (Anm. 24), S. 27. Vgl. Giorgio Agamben, Kindheit und Geschichte. Versuch über die Zerstörung der Erfahrung (Orig.: Infanzia e storia. Distruzione dell’esperienza e origine della storia, 1978). Aus dem Italienischen von Davide Giurato, Frankfurt am Main 2004, S. 83. 46 47
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Oralität wird bei Kierkegaard nicht über die gesprochene Sprache und die darin vermittelte Semantik verhandelt, sondern über das Auditive. Das, was sich der Transkription und Beschreibung tendenziell am deutlichsten entzieht, der Klang, der Sound, die Musik als wahrnehmbare Ereignisse, auf die man hinweisen, die man mit Sprache und Begriffen aber unmöglich übersetzen oder gar einholen kann, stehen dementsprechend im Mittelpunkt von Kierkegaards mediensemiotischen Überlegungen. Das Medium, dessen Ästhetik des SichZeigens bzw. Sich-Ereignens der an sich paradoxen Idee vermittelter Unmittelbarkeit am nächsten kommt, ist im medienkulturhistorischen Kontext der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Musik. In seinen musiktheoretischen Überlegungen im ersten, dem Thema der Ästhetik gewidmeten Teil von Entweder – Oder formuliert A die mediale Paradoxie des Sprechens bzw. Schreibens über Musik wie folgt: Im einzelnen etwas über die Musik zu sagen, ist nicht meine Absicht, und besonders werde ich mit Beistand aller guten Geister mich hüten, eine Menge nichtssagender, aber sehr lärmender Prädikate zusammenzuscheuchen oder in linguistischer Geilheit die Impotenz der Sprache zu verraten, und zwar um so mehr, als ich es nicht für eine Unvollkommenheit der Sprache, sondern für eine hohe Potenz halte, daher aber auch um so bereitwilliger bin, die Musik innerhalb ihrer Grenze anzuerkennen. Was ich dagegen will, ist teils dies: die Idee und ihr Verhältnis zur Sprache von so vielen Seiten wie möglich zu beleuchten und damit immer mehr und mehr das Territorium, in dem die Musik heimisch ist, zu umstellen, sie gleichsam zu ängstigen, bis sie hervorbricht, ohne daß ich doch mehr über sie sagen kann, wenn sie sich hören läßt, als: Hört! Ich meine damit das Höchste gewollt zu haben, was die Ästhetik zu tun imstande ist; ob es mir gelingen wird, ist eine andere Sache. 48
Wer über die Musik zu viele Worte verliert und nicht im entscheidenden Moment vom Modus des Sagens und Beschreibens in den Modus des Zeigens bzw. Zuhörens umschaltet, hat das Entscheidende der Differenz zwischen Sprache und Musik nicht begriffen. Auffallend ist schon hier das Evokative, Zum-Ereignis-Drängende des beschriebenen Vorgangs: Die Idee der Musik wird mit den Mitteln der Sprache nicht nur »beleuchtet«, sondern regelrecht »umstell[t]« und »geängstig[t]«, bis sie aus der Bedrängnis hervorbrechen muss. In Hinblick auf die schon zuvor entfalteten Funktionszuschreibungen von Sprache und Musik knüpft der Ästhetiker A an einen medien48
Kierkegaard, Entweder – Oder. Teil 1 (Anm. 24), S. 104.
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theoretischen Grundgedanken Gotthold Ephraim Lessings an, den dieser in seiner folgenreichen Poetologie über Laokoon: oder die Grenzen der Poesie und Malerei (1766) an den Zeichensystemen von Sprache und bildender Kunst ausformuliert hatte. In diesem Vorläufer einer semiotischen Medientheorie begründet Lessing die mediale Differenz von Sprache und Bild in den unterschiedlichen Zeichenmodi. 49 Lessing entwickelt darin eine an den ästhetischen Gestaltungsmöglichkeiten von Malerei und Poesie orientierte »Medientheorie«, in der er für jede der beiden Künste eine medienlogisch begründete Zuordnung zu ihren bevorzugten Gegenständen vornimmt. Als »Mittel« oder »Zeichen« der Malerei definiert die nach wie vor mimetische Medientheorie Lessings »Figuren und Farben in dem Raume«; als eigentliche Gegenstände der Malerei gelten demzufolge Körper, deren gleichzeitiges räumliches Nebeneinander sich der Medienlogik der Poesie widersetzt. Da dem Bild, das bei Lessing als Einzelbild (in Form eines Tafelbilds oder einer Skulptur) und noch nicht als Bilderfolge wie beim Comic oder als bewegtes Bild wie beim Film zu denken ist, die zeitliche Dimension abgesprochen wird, vermag es zwar unzählige Gegenstände nebeneinander im Raum zu zeigen, es vermag den Höhepunkt einer Geschichte darzustellen, nicht aber Geschichten von ihrem Anfang bis zum Ende zu erzählen. Die »Mittel« oder »Zeichen« der Poesie sind »artikulierte Töne in der Zeit«; ihr eigentlicher Gegenstand sind demzufolge Handlungen, deren zeitliches Nacheinander sich der Leistungsfähigkeit und dem Selbstverständnis der bildenden Künste des 18. Jahrhunderts entzieht. Lessing orientiert sich dabei an der mediensemiotischen Überzeugung, dass »unstreitig die Zeichen ein bequemes Verhältnis zu dem Bezeichneten haben müssen«. 50 Der Ästhetiker im ersten Teil von Entweder – Oder übernimmt Lessings ästhetische Einschätzung zu den ontologischen Funktionsweisen von Sprache und Bild, Poesie und bildender Kunst und differenziert seine Medientheorie in Hinblick auf das Verhältnis von Sprache und Musik weiter aus. Da diese Erscheinungsformen des Auditiven beide eine zeitliche Dimension aufweisen, führt der Ästhetiker A bei seiner Ausdifferenzierung sprachlicher und musikalischer Zeichensysteme notwendigerweise Vgl. Mersch, Medientheorien (Anm. 6), S. 34 ff. Vgl. Gotthold Ephraim Lessing, »Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie«, in: ders., Laokoon. Briefe, antiquarischen Inhalts, hg. v. Wilfried Barner, Frankfurt am Main 2007, S. 9–206, hier S. 116.
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weitere Unterscheidungskategorien ein. Diese orientieren sich im Wesentlichen an den Gegensatzpaaren »abstrakt« vs. »konkret« und »unmittelbar« vs. »reflektiert«. Da es A – wie schon Lessing – im Grunde um medienästhetische Fragestellungen wie die besondere Medienadäquatheit von Inhalten geht, 51 wird deutlich, »dass es sich hier nicht um eine Theorie der schönen Künste handelt, sondern umfassender um eine allgemeine Theorie der Sinne und der sinnlichen Vermittlung von bestimmten Ideen und Stoffen«. 52 Die Musik wird als abstraktes Medium definiert, das sich durch Unmittelbarkeit auszeichnet und die ebenso abstrakte Idee der sinnlich-erotischen Genialität transportiert. Verkörperung dieser Idee ist Don Juan in der musikalischen Gestaltung von Wolfgang Amadeus Mozart. So wie die Musik reflexionslos und erinnerungslos von Note zu Note eilt, so eilt Don Juan von Frau zu Frau und erobert (zumindest in der Lesart des Ästhetikers A) jede ein einziges Mal und jede im Sturm. Als Frauenheld par excellence ist er absolut siegreich und skrupellos. Hat er sie einmal erobert, muss er zur nächsten. Der »ewige Augenblick«, den Don Juan in seiner ästhetischen Spielart genießt, ist eine bloße Aneinanderreihung immanenter sinnlicher Augenblicke. Als bloße Abfolge einer scheinbar unendlichen Reihe von Erfahrungen des »ersten Mals«, die keine Entwicklung erkennen lassen, haben diese Augenblicke den Status bedeutungsloser Abenteuer bzw. »leerer Wiederholungen«. 53 Gegen die unmittelbare, aber gedankenlose Erinnerungslosigkeit der Musik profiliert sich die Sprache als das konkreteste Medium vor allem durch ihre Geschichtlichkeit. Sprache dient als reflexives Medium nicht nur zum Erzählen von Geschichten (Handlungen), sondern auch zur psychologischen Durchdringung von Situationen oder für die Darstellung philosophischer bzw. selbstDerart ontologische Fragen beschäftigen im 20. Jahrhundert auch die frühen Medientheorien zum Film oder zum Radio, wo es immer wieder ganz zentral um die Zuschreibung bestimmter Inhalte zu bestimmten Medien geht. Vgl. dazu u. a.: Rudolf Arnheim, Film als Kunst [Orig.: 1932]. M. einem Vorwort zur Neuausgabe, München 1974. – Ders.: Rundfunk als Hörkunst [Orig.: 1936], München/Wien 1979. 52 Grage, »Durch Musik zur Erkenntnis kommen?« (Anm. 2), S. 424. 53 Zur Abgrenzung der bedeutungslosen Wiederholung auf der Ebene des Ästhetischen gegenüber der »wahrhaften Wiederholung« des religiösen Genies, das »einer auf Gott gerichteten Erlösung teilhaftig« wird, vgl. Heinz Hiebler, »Sören Kierkegaards Don-Juan- und Faust-Konzeption und ihr Bezug zur deutschen Literatur am Beispiel von Nikolaus Lenau, Max Frisch und Peter Härtling«, in: Peter Csobádi et al. (Hg.), Europäische Mythen der Neuzeit: Faust und Don Juan, Bd. 1, Anif/Salzburg 1993, S. 153–164, hier S. 164. 51
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reflexiver Gedankengänge. Die Verkörperung dieser Idee ist der (cartesianische) Zweifler Faust, der – anders als der einzigartige Don Giovanni Mozarts – eine ganze Reihe von relativ gleichberechtigten Umsetzungen in der Literatur gefunden hat. In den idealtypisch profilierten Mythen von Don Juan und Faust, die der Ästhetiker A mediensemiotisch ausdifferenziert, spiegeln sich die Dualismen von Außen und Innen, Anschauung und Begriff wider: Don Juan repräsentiert ein Leben in der Anschauung, aber ohne Begriffe. Als typisch oraler Held ist er in der Konzeption von A so sehr von der sinnlicherotischen Genialität, die er verkörpert, getrieben, dass er sich keinen Begriff davon macht, was er tut. Faust ist sein reflektierter Gegenpart. Er repräsentiert die Welt der Begriffe, findet sich aber als Prototyp des wissbegierigen Naturwissenschaftlers und Schriftgelehrten, der mit den unüberbrückbaren Differenzen von Begriff und Anschauung hadert, weder in der sinnlichen Welt Don Juans noch in den ethischen oder religiösen Kontexten seiner Umwelt zurecht. Typisch für den Ironiker Kierkegaard ist es nun, dass er, obwohl er in der Rolle von A die Sprache zu seinem Hauptausdrucksmedium wählt und damit den Bezugsfeldern der Reflexion und der Begriffe näher ist, mit seinen eindeutigen Sympathien für Don Juan ein nahezu erotisches Verhältnis zur Anschauung unterhält. Möglich wird dies dadurch, dass A Sprache im Wesentlichen nicht als Schrift, sondern als gesprochene Sprache und damit in Analogie zur Musik als auditives Medium begreift. »Die Sprache wendet sich an das Ohr. Das tut kein anderes Medium. Das Ohr ist wiederum der am meisten geistig bestimmte Sinn.« 54 Als das »am meisten geistig bestimmte« Medium eignet sich die Sprache nicht nur zur Annäherung an die Musik, sondern auch zur Annäherung an den Glauben. In den scheinbar musiktheoretischen Überlegungen des Ästhetikers A äußern sich die Parallelen bei der Verbalisierung musikalischer und religiöser Erfahrungen nicht zuletzt in den immer wieder aufblitzenden Analogien zwischen Don Juan und Jesus. 55 So gesehen dürfte es sich wohl kaum um Zufälle
Vgl. Kierkegaard, Entweder – Oder. Teil 1 (Anm. 24), S. 82. Zur Analogie zwischen »erotischer Liebe« und »Gottesverhältnis« in Kierkegaards Bestimmung »der Existenz, genauer: des Menschen, insofern er ein ›subjektiv existierender Denker‹ ist« vgl. Hermann Deuser, »Existenz-Mitteilung – nicht unmittelbares Selbstbewusstsein: Kierkegaards Kritik transzendentaler Religionsbegründung«, in: Niels Jørgen Cappelørn et al. (Hg.), Schleiermacher und Kierkegaard. Subjektivität und Wahrheit, Berlin/New York 2006, S. 197–215, hier S. 202 f.
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handeln, wenn der Ästhetiker in Hinblick auf das Alter Don Juans mit 33 ein ähnliches »Generationsalter« angibt, 56 wie es auch für Jesus angenommen wird, oder wenn er – am Beispiel von Mozarts DonGiovanni-Ouvertüre – von der substanziellen Angst des an sich so furchtlosen Don Juan schreibt, aus der dieser – ähnlich wie Jesus in seinen letzten Minuten am Kreuz – eigentlich »seine Energie« 57 schöpft. Im Kontext der Thematisierung eines »reflektierten Don Juans« erinnert A sich sogar eines »Tableaus«, auf dem ein »hübscher junger Mann, so recht ein Mädchenjäger«, »mit einigen jungen Mädchen« im gefährlichen Alter spielte und sie sich unter anderem damit unterhielten, »über einen Graben zu springen«. 58 Im Vorgriff auf das Konzept des Sprungs aus Kierkegaards Begriff Angst (1844) hilft dieser junge Don Juan vor idyllischem Hintergrund über den mit Angst besetzten »Graben des Lebens« und übernimmt damit die Rolle eines Erlösers. Er stand an der Kante und war ihnen beim Sprung behilflich, indem er sie um den Leib faßte, sie leicht emporhob und auf die andere Seite hinübersetzte. Es war ein reizender Anblick; ich freute mich ebensosehr über ihn wie über die jungen Mädchen. Da dachte ich an Don Juan. Sie laufen ihm von selbst in die Arme, die jungen Mädchen, dann packt er sie, und so geschwind und so behende setzt er sie hinüber über den Graben des Lebens. 59
Abgesehen von derartigen Einzelbeobachtungen, in denen spätere Aspekte von Kierkegaards religiösem Schriftstellertum aufblitzen, reichen die eigentlichen mediensemiotischen Wurzeln der Beziehung zwischen Don Juan und Jesus weit tiefer. Beide zeichnen sich als Helden des Oralen vor allem durch die Souveränität und die Unmittelbarkeit ihres Handelns aus. Ihre Taten werden in beiden Fällen nicht von ihnen selbst aufgeschrieben, sondern von ihren Begleitern. Leporello ist so gesehen nicht nur das schriftliche, katalogisierende Alter Ego Don Juans, sondern auch eine »Schwundstufe« der vier Evangelisten. Don Juan ist der Held der Sinnlichkeit, sein Medium ist die Musik. Jesus ist als das »fleischgewordene Wort Gottes« (Joh 1,14), der Überbringer einer frohen Botschaft, wie man sie – in Analogie zur universellen Sprache der Musik – bestenfalls in Form einer »vollkom-
56 57 58 59
Vgl. Kierkegaard, Entweder – Oder. Teil 1 (Anm. 24), S. 124. Vgl. ebd., S. 156. Vgl. ebd., S. 131. Vgl. ebd.
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menen Sprache« 60 imaginieren könnte, die nur von Gott gesprochen und vom Menschen nur im Modus der Offenbarung wahrgenommen werden könnte. Der Status von Jesus als Gottes Sohn, der Mensch geworden ist, bezeichnet mediensemiotisch gesehen das Paradox des Abstrakten, von dem man sich kein Bild machen soll, das aber durch die Menschwerdung trotzdem konkret wird. Die Unmittelbarkeit seiner Existenz wie sein Tun entziehen sich eigentlich jeglicher Vermittlung. Als paradigmatisches Einzelschicksal zum Beweis des christlichen Erlösungsglaubens verkörpert Jesus als Messias bzw. Christus nicht nur das in Erfüllung gehende Heilsversprechen des Alten Testaments, er repräsentiert als Gott, der die Sprache der Menschen spricht und ihre Freuden und Leiden teilt, auch ein ganz ungeheuerliches Kommunikationsangebot, durch das für einen alles entscheidenden Augenblick alles Menschliche göttlich, alles Zeitliche ewig und alles sonst nur mittelbar Erfahrbare unmittelbar erlebbar wird. Als mediensemiotisch eigentlich uneinholbare Figur wird Jesus damit zu einem paradoxen Zeichen, in dem die unmöglich vereinbaren Gegensätze einer Konkretion des Abstrakten und einer Vermittlung des Unmittelbaren auf geheimnisvolle Weise real erscheinen. Aus dem Blickwinkel von Kierkegaards »christologischer Paradoxalsemiotik« 61 wäre damit aber schon wieder zu viel verraten: Weder der Nachweis spektakulärer Wunder, der Christus zu einer historischen Größe unter vielen machen würde, noch der Beweis seiner historischen Existenz oder einer kohärenten Lehre können als Gewissheiten im Bezug auf den Glauben dienen. Das Christentum ist kein Gegenstand hermeneutisch gesicherten Wissens oder philosophischer Spekulation, sondern ungewisse Existenzmitteilung im Modus der Stimmungen nach dem oralen Schema von Anruf und Antwort. 62
Wo »Sprache und Erkenntnis in einem« derart »komplizierten Verhältnis zueinander stehen«, erweist sich jede »direkte Mitteilung«, die den »Nachweis [dän. Visheden; auch: Gewissheit]« fordert, unvermeidlich als »Betrug«, weil »der Nachweis […] für den Werdenden« unmöglich ist. Eine Analogie, die ursprünglich für die erotische Liebe und das Gottesverhältnis, für Don Juan und Jesus, geltend gemacht 60 Zum Problemfeld der vollkommenen Sprache vgl. Umberto Eco, Die Suche nach der vollkommenen Sprache, München 1997. 61 Vgl. Angelika Jacobs, Stimmungskunst von Novalis bis Hofmannsthal, Hamburg 2013, S. 189–192. 62 Ebd., S. 191 f.
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werden konnte, lässt sich – wie Hermann Deuser gezeigt hat – mit Hilfe von Kierkegaards Konzept der Existenz-Mitteilung auch auf die betrügerischen Mitteilungsformen von Gott und Dichtern übertragen. 63 Getreu der geforderten Existenz-Mitteilung sucht Kierkegaard […] die Unmittelbarkeit des jeweils eigenen (innerlichen) Existierens, indem er sie im Modus der Möglichkeit, d. h. kraft sprachlicher Mittel […], dann aber gerade indirekt zu realisieren suchen muss: »Eine Darstellung in der Form der Möglichkeit legt es dem Empfänger so nahe, wie es zwischen Mensch und Mensch möglich ist, darin zu existieren.[…]« 64
Will Gott mit den Menschen kommunizieren, so muss er sich wohl oder übel auf deren Niveau begeben und sich – wenn es nach Kierkegaard geht – in den Künsten der indirekten Mitteilung und des Betrugs versuchen.
V.
Die zwei Betrüger: Der Dichter und Gott
Ausgangspunkt für Kierkegaards Reflexion des christlichen Glaubens ist eine Mediensemiotik des Hörens, bei der das eigene Hören (als sinnliche und mediale Erfahrung par excellence) durch die Geste des Zeigens bzw. Vorführens mit einer selbstständigen Tätigkeit des Rezipienten zusammen gedacht wird, die nicht vorweggenommen werden kann. Exemplarisch für eine derartige Vorgangsweise sind die Beschreibungen und Appelle des Ästhetikers A, in denen es um die unaussprechlichen Aspekte der Musik und deren Beschreibung von den Grenzen der Sprache geht. Dagegen will ich stets das Musikalische in der Idee, der Situation usw. aufspüren, erlauschen, und wenn ich den Leser dann so weit gebracht habe, derart musikalisch rezeptiv zu werden, daß er die Musik zu hören meint, obwohl er nichts hört, so habe ich meine Aufgabe erfüllt, so verstumme ich, so sage ich zum Leser wie zu mir selbst: Höre! 65
Der Ästhetiker A kann die Musik nicht wirklich zur Sprache bringen, er kann sie mit Sprache nie ganz einholen, er kann nur versuchen, den Leser in den Höreindruck der Musik hineinzutäuschen, um ihn 63 64 65
Vgl. Deuser, »Existenz-Mitteilung« (Anm. 55), S. 202 f. Ebd., S. 203. Das abschließende Kierkegaard-Zitat stammt aus AUN2, 62 f. Kierkegaard, Entweder – Oder. Teil 1 (Anm. 24), S. 104.
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dann seiner eigenen Wahrnehmung zu überlassen. Den Leser als Einzelnen in ein ähnliches Naheverhältnis zu Gott zu führen wie den hier direkt angesprochenen Leser zur Musik ist das zentrale Projekt des »religiösen Schriftstellers« bei Kierkegaard. Die Musik als Medium reflexionsloser Unmittelbarkeit und Hörigkeit (gegenüber der sinnlich-auditiven und der sinnlich-erotischen Erfahrung) gibt vor dem Hintergrund von Kierkegaards eigentlich religiösen Ambitionen das mediensemiotische Modell für jegliche Form der Anrufung bzw. Beschwörung von unmittelbarem Erleben ab. Ein wesentliches Merkmal dieses musikalisch-erotischen Erlebens ist die Verknüpfung von sinnlicher Erfahrung und Verinnerlichung, wie A sie am Beispiel des Musikhörens veranschaulicht. Das Wesen von Mozarts Don Juan an der Ouvertüre zu erklären, 66 korrespondiert mit diesem auditiven Verständnis der Oper als Hörstück, dessen ideale Rezeptionsweise nicht in der Loge, sondern vorzugsweise am Gang erfolgen soll, 67 damit der Zuhörer von visuellen Eindrücken nicht abgelenkt wird. Der Don Juan Mozarts wird nicht als audiovisuelles Gesamtkunstwerk im Sinne der Überwältigungsästhetik Richard Wagners begriffen, sondern ausdrücklich als Hörstück, das sich – nach dem Vorbild der Ohrenbeichte im Vorwort Victor Eremitas – ausschließlich an die Ohren und nicht an die Augen der Rezipienten richtet, damit nicht zuletzt auch die nur imaginierbare Einheit von Innen und Außen gewahrt bleibt. Nicht der oberflächliche Film bzw. Tonfilm, der auf die Zerstreuung seiner Zuschauer abzielt, sondern das an die Innerlichkeit des Zuhörers gerichtete Hörspiel ist die mediale Folie für das Verständnis von Mozarts Don Juan. Von dieser bloß ästhetischen musikalischen Offenbarung zur Vorstellung einer religiösen universellen Offenbarung zu gelangen, ist die Grundschwierigkeit des »religiösen Schriftstellers« bei Kierkegaard. Da er als Schriftsteller nur die beschränkten, hinweisenden Mittel von Sprache bzw. Schrift zur eigenen Verfügung hat, sich das religiöse Erlebnis aber ebenso wie das musikalische Erlebnis der Verbalisierung (nicht nur in ihrer schriftlichen, sondern auch in ihrer sprachlichen Form) entzieht, bleiben selbst die reflektiertesten ästhetischen Strategien, bleibt selbst die ausgefeilteste Rhetorik hinter dem außersprachlichen und nicht kommunizierbaren Ereignis des Erlebens zurück. Im Verhältnis zum un-
66 67
Vgl. ebd., S. 152–157. Vgl. ebd., S. 145.
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geheuerlichen Ereignis der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus kann sich der Künstler und Mensch im Sinne Kierkegaards nicht anders als der im »Ochsen des Phalaris« eingeschlossene Dichter artikulieren. Die Schmerzensschreie des um Wahrheit und Offenbarung ringenden Subjekts, das um die Unerreichbarkeit seines Ziels weiß und die prinzipielle Vergeblichkeit seines Tuns fürchtet, sind nicht nur ein wesentlicher Output von Kierkegaards ästhetischer, sondern auch seiner religiösen Schriftstellerei. Um sich den Menschen in Hinblick auf die Wiederholbarkeit außersprachlicher Ereignisse in irgendeiner wahrnehmbaren Form verständlich zu machen, haben sowohl Gott als auch der Dichter im Grunde nur eine Möglichkeit: Sie müssen sich der immer unperfekten Kommunikationsmittel des Menschen bedienen, um ihre Botschaften zu vermitteln, und sie haben dabei immer mit den materiellen und ästhetischen Beschränkungen der zum Einsatz gebrachten Medien zu tun. Im typographischen Bezugssystem des 19. Jahrhunderts geraten auf diese Weise unter dem medienkritischen Blickwinkel Kierkegaards selbst Heilige Schriften und Offenbarungen unter den Generalverdacht der Manipulation. Das Produkt, das sie vertreiben, ist notwendigerweise ästhetisch gestaltet und manipuliert, egal mit welcher medienstrategischen Raffinesse es zubereitet ist. Da es sich in Hinblick auf das mediale Apriori menschlicher Verständigung nicht vermeiden lässt, dass die zu kommunizierenden Inhalte immer auch in eine bestimmte ästhetische, d. h. im Geltungsbereich der Sprache in eine dichterische Form gebracht werden müssen, von der die Botschaft wesentlich geprägt wird, lassen sich religiöser und dichterischer Ausdruckswille nie ganz voneinander trennen. Es müssen zwei neue Bücher geschrieben werden: Bekenntnisse eines Dichters. Sein Leiden ist, daß er beständig eine religiöse Individualität sein will, und beständig greift er fehl und wird Dichter: also eine unglückliche Verliebtheit in Gott. (Die Leidenschaft dialektisch in Richtung darauf, daß da etwas gleichsam Betrügerisches an Gott ist.) [43] Geheimniss eines Herzens Vgl. p. 163 in diesem Buch[…] (Privatissima) Oder
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Nächst dem Unglück und doch der Unglücklichste Solche Situationen gibt es verschiedentlich im Leben, wo der, der daneben und folglich außerhalb steht, doch am meisten leidet. 68
Will ein Dichter (wie zufälligerweise auch Kierkegaard) »eine religiöse Individualität sein«, so kann er vor dem Hintergrund dieser misslichen medialen Ausgangslage gar nicht anders, er muss sich – wenn er seine individuelle Beziehung zu Gott öffentlich machen will – einer doppelten Gefahr aussetzen: Diese besteht einerseits in der medialen Notwendigkeit der eigenen dichterischen Gestaltung und im Fall einer Veröffentlichung, die den Schreiber ja erst eigentlich zum Dichter macht, andererseits in der Lektüre durch die Rezipienten, deren Auffassungsgabe immer von den unterschiedlichsten emotionalen, wahrnehmungspsychologischen und kognitiven Voraussetzungen abhängig ist. Dass diese medialen Grundregeln der Kommunikation nicht nur für die vergleichsweise profanen Erzeugnisse des religiösen Schriftstellers Kierkegaard, sondern auch für das Buch der Bücher und seinen göttlichen Urheber, den Autor aller Autoren, geltend zu machen sind, belegt eine Notiz Kierkegaards aus dem Jahr 1850: Ein neuer Beweis für die Göttlichkeit der Bibel. Bisher ist man damit folgendermaßen verfahren: Man hat gesagt: die heilige Schrift ist eine göttliche Offenbarung, inspiriert u. s. w., deshalb muß da eine vollständige Harmonie zwischen allen Nachrichten sein, bis hin zur kleinsten Unbedeutendheit, es muß das vollkommenste Griechisch sein u. s. w. Gott weiß doch genau, was es ist zu glauben […], daß es heißt, die unmittelbare Mitteilung zu negieren und eine Doppelung zu setzen. Schau, das bestätigt sich. Genau deshalb, weil Gott will, daß die heilige Schrift ein Gegenstand für den Glauben werden soll, und zum Ärgernis für jede andere Betrachtung, genau deshalb ist dort mit Fleiß für diese Unübereinstimmungen gesorgt (die sich in der Ewigkeit leicht auflösen können in Übereinstimmungen), deshalb ist es ein schlechtes Griechisch u. s. w. […]. 69
In Kierkegaards Denkweise des »religiösen Schriftstellers«, der auf die Darstellungs- und Wirkungsmechanismen des Medialen reflektiert, beruht ein »neuer Beweis für die Göttlichkeit der Bibel« ausdrücklich nicht auf inhaltlichen oder rational nachvollziehbaren, beSøren Kierkegaard, »Drittes Berliner Tagebuch. 1845«, in: ders., Schriftproben (Anm. 12), S. 43 f. 69 Søren Kierkegaard: Papirer X 3 A 328 (1850), zit. nach Mariele Nientied, Kierkegaard und Wittgenstein: »Hineintäuschen in das Wahre«, Berlin/New York 2003, S. 355. 68
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grifflichen Kriterien der Vollkommenheit, er beruht auf der richtigen medialen Strategie, der richtigen Schreibweise, dem richtigen Stil. In Analogie zu Kierkegaards eigenem schriftstellerischen Verfahren wird Gott ein Verfahren angedichtet, das ihn sub specie aeternitatis als »religiösen Schriftsteller« per se in Erscheinung treten lässt. Als solcher weiß er – wie Kierkegaard – um die Unzulänglichkeiten menschlicher Kommunikationsmittel und um die richtigen Strategien, seine Leser allen negativen Voraussetzungen zum Trotz in Bewegung zu setzen. Die dazu korrespondierende Strategie des religiösen Schriftstellers ähnelt der paradoxen Figur eines reflektierten Don Juan, der sich nicht in das Herz eines Mädchens, sondern in die Herzen und Hirne seiner LeserInnen stiehlt, um diese – wie sich selbst – als Hebamme des Glaubens in die Wahrheit hinein zu betrügen. Der religiöse Schriftsteller, dem es ebenfalls um die Unmittelbarkeit des Verhältnisses zu Gott geht, der dieses aber nicht anders als mit den Mitteln der Sprache (Rede, Schrift, Buchdruck) zum Ausdruck bringen kann, steht vor dem grundsätzlichen Dilemma, dass die ihm zur Verfügung stehenden Medien nicht zur Darstellung bzw. Kommunikation des Unmittelbaren geeignet sind. Wie der Ästhetiker A, der die Kunst Mozarts nur bis zu ihrer Grenze zu beschreiben vermag, die eigentliche Kunst aber nur mit dem Verweis darauf verständlich machen kann, dass man sie selbst hören muss, kann der religiöse Schriftsteller religiöse Erfahrungen nur bis zu einem unüberschreitbaren Grad beschreiben. So wie Kierkegaards Musiktheorie als eine negative Sprachtheorie aufgefasst werden kann, 70 so lässt sich seine Ästhetik als eine negative Theologie begreifen. Auch in diesem Bereich kann die Sprache als konkretes, reflektiertes und notwendig ästhetisches Ausdrucksmittel das Absurde und Unmittelbare des Glaubens nur in den paradoxen Modi der indirekten Mitteilung umzingeln. Der letzte Schritt – die Unmittelbarkeit des eigenen Erlebens (sei es als Wahrnehmung oder als Glaube) – bleibt dabei als unhintergehbare Leerstelle notwendigerweise ausgespart, da diese Unmittelbarkeit in einem Akt der Vermittlung weder auf der Seite der literarischen Produktion noch auf der Seite der kreativen Rezeption vorweggenommen werden kann. Die ästhetischen Darstellungsformen, die Kierkegaard zur Veranschaulichung dieser medienepistemologischen Paradoxie entwickelt, zeichnen sich durch »eine Bewegung ohne Ur70
Vgl. Grage, »Durch Musik zur Erkenntnis kommen?« (Anm. 2), S. 428.
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sprung und Ziel aus, die beschwörend in sich und um eine leere Mitte kreist«. 71 Im Gegenzug zu Hegels paradoxem Konzept einer »vermittelten Unmittelbarkeit«, 72 demzufolge es kein Entrinnen aus dem Würgegriff des Medialen gibt, entwirft Kierkegaard über das Sinnliche und Rationale hinausgehend nach sokratischem Vorbild eine Atopie des religiösen Existierens, einen Unort des Glaubens, in dem alle Kategorien des logischen Denkens und Reflektierens ausgesetzt sind. Die »Unmittelbarkeit nach der Reflexion«, durch die Kierkegaard diesen christlichen Glauben charakterisiert, 73 und »die Wiedergeburt des Menschen im Glauben« finden als »totaler[…] Neubeginn« 74 außerhalb aller Reden und Schriften, ja sogar außerhalb jedes Medialen statt. Die höchste Forderung des religiösen Schriftstellers besteht dementsprechend darin, als Medium unsichtbar bzw. diaphan zu werden »und sich seiner selbst auf Gott als seinen Grund hin ›durchsichtig‹[…]« 75 zu machen. Auch wenn es hierbei nicht – wie bei Hegels Konzept des wahrhaften Vernunftsmediums – um eine vernünftige Verschmelzung von Inhalt und Begriff geht, so werden in diesem Stadium doch auch Parallelen zum idealistischen Projekt eines unsichtbaren Mediums deutlich. Der wesentliche Akt der Verständigung zwischen dem religiösen Schriftsteller und seinem Leser, mit dem gleichzeitig jede Kommunikation und jede Vermittlung endet, findet bei Kierkegaard jedoch jenseits der Sprache und jenseits aller Medien im mediensemiotisch uneinholbaren »Sprung in den Glauben« statt. 76 Die epistemologischen Aporien, die damit im Glauben aufgelöst sein sollen, außerhalb des Glaubens bleiben sie bestehen. Für den Nichtgläubigen mögen sich sowohl die Erscheinungsformen des Glaubens als auch Kierkegaards Bemühungen als (religiöser) Schriftsteller gleichermaßen als absurd erweisen. Seinen unbestreitbaren Stellenwert als moderner Schriftsteller und Medientheoretiker avant la lettre verdankt er ohnehin nicht den einfachen Antworten einer Philosophie, mit deren Hilfe sich die Paradoxien und Dilemmata des Medialen in Wohlgefallen auflösen ließen. Søren Vgl. Angelika Jacobs, »Kierkegaards heteronome Texturen« (in diesem Band). Zu den Parallelen und Differenzen in Hinblick auf das Konzept der Unmittelbarkeit bei Hegel und Kierkegaard vgl. Gerhard Schreiber, »Glaube und ›Unmittelbarkeit‹ bei Kierkegaard«, in: Kierkegaard Studies. Yearbook 2010, S. 391–425, hier S. 408–417. 73 Vgl. ebd., S. 405, 411. 74 Vgl. ebd., S. 424. 75 Ebd., S. 424 f. 76 Vgl. ebd., S. 416. 71 72
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Kierkegaard steht vielmehr für die spielerische Virtuosität eines Schreibens, das im Zeitalter eines durch das Massenmedium Buchdruck intensivierten Schriftgebrauchs die medienepistemologischen Problemstellungen der literarischen Moderne im Umgang mit dem Mitteilen des Individuellen bzw. Unteilbaren und dem Zur-SpracheBringen des Unaussprechlichen aufzeigt und zur Darstellung bringt.
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Kierkegaards heteronome Texturen Angelika Jacobs
I.
Wegbereiter der Moderne?
Um die Jahrhundertwende nimmt die Übersetzung und damit die Rezeption Kierkegaardscher Werke im deutschsprachigen Raum Fahrt auf. Kierkegaard wird überwiegend als Theologe wahrgenommen, obwohl schon Georg Brandes’ kritische Kierkegaard-Monographie (1877, deutsch 1879) versucht, den Zugang zu den ›ästhetischen‹ Schriften freizulegen und Kierkegaard trotz seiner Religiosität als Autor von Weltrang zu etablieren. 1 Ab 1900 wird der ästhetische Rezeptionsstrang breiter, wobei man der verwirrenden Vielstimmigkeit der ästhetischen und pseudonymen Schriften durch Komplexitätsreduktion begegnet. Zum einen werden, wie 1903 in Max Dauthendeys Übersetzung des Tagebuchs des Verführers aus Entweder – Oder, homogenere Narrative aus unübersichtlicheren Werkstrukturen herausgelöst; zum anderen werden Biographie und Fiktion überblendet, was die Auszüge aus Kierkegaards Tagebüchern begünstigen, die 1905 unter dem Titel Das Buch des Richters erscheinen. 2 Im Zentrum des Interesses stehen das Narrativ der betrügerisch gelösten Verlobung und die zunehmend als literarische Deutungsfolie verwendete Lehre von den Existenzstadien. Hofmannsthal und Schnitzler, Rilke und Kassner, Lukács, Kafka und Robert Müller lesen Kierkegaard, so dass die literarische Rezeption schon für Heideggers Sein und Zeit (1927) von Belang gewesen sein dürfte. Die erste Monographie zum (damals verfügbaren) Gesamtwerk Kierkegaards, 3 Theodor W. Adornos Habilitationsschrift Kierke1 Georg Brandes, Sören Kierkegaard. Ein literarisches Charakterbild. Autorisierte deutsche Ausgabe, Leipzig 1879. 2 Vgl. Christian Wiebe, Der witzige, tiefe, leidenschaftliche Kierkegaard. Zur Kierkegaard-Rezeption in der deutschsprachigen Literatur bis 1920, Heidelberg 2012, S. 28– 37. 3 Die 1909 beginnende Werkübersetzung von Christoph Schrempf im Diederichs-
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Kierkegaards heteronome Texturen
gaard. Konstruktion des Ästhetischen, die 1933 am Tag der Machtergreifung erscheint, schlägt eine scharfe Klinge gegen den Irrationalismus des Kopenhagener Theologen wie gegen den Heideggers. Adorno konzediert, dass Kierkegaard eine luzide Kritik des Idealismus entwickele, die jedoch durch eine vormoderne Religiosität im Keim erstickt werde. Seine Absage an die Utopie eines autonomen Geistes, der das Absolute zu erkennen vermag, sei Marx und den Junghegelianern durchaus ebenbürtig, 4 werde aber unter Rückgriff auf den idealistischen Mythos des Selbst in eine religiöse Utopie des Einzelnen gewendet. Kierkegaards ausgeprägtes Gespür für die Phänomene der Vermassung und Verdinglichung, das ihn zum modernen Schriftsteller prädestiniert hätte, 5 führe an der Analyse des Hochkapitalismus und des Warencharakters der Kunst vorbei in eine asoziale Geschichte der religiösen Person, die das Subjekt ausschließlich über den inneren Gottesbezug definiere. Adorno will zeigen, dass Kierkegaards Kategorie des Ästhetischen zwischen Kunsttheorie, ethischer Existenzhaltung und existenzieller Mitteilungsform schwankt und im Hiatus zwischen der religiösen Zensur des Ästhetischen und einer nicht affirmierten romantisierenden Schreibpraxis verharrt. Während das Religiöse alles Natürliche und Mythische als bildhafte ästhetische ›Unmittelbarkeit‹ exkommuniziere, blieben die verdrängten Komponenten des Ontologischen und Mythischen in der schriftstellerischen Praxis virulent. 6 Resultat sei eine leblose Schreibart, in der abstrakte Begriffe den Außenweltbezug sinnlicher Bilder unterdrückten und die idealistische Subjektivierung autonomer Rationalität zur irrationalen religiösen Abhängigkeit pervertiere. Inspiriert von Walter Benjamins Studien zum Barock und zum 19. Jahrhundert konzentriert sich Adornos Beschäftigung mit Verlag widmet sich den ästhetischen und philosophischen Schriften und schließt die erbaulichen und christlichen Reden aus, die erst 1920 gesammelt erscheinen. Zur Problematik der (für Adorno relevanten) Schrempf-Übersetzung s. ebd., S. 33 f. 4 Vgl. Theodor W. Adorno, Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen (Gesammelte Werke, Bd. 2), 2. Aufl., Frankfurt am Main 1986, S. 59. 5 Nach Adorno gehört Kierkegaard trotz seines Scheiterns als Schriftsteller »mit den wenigen Denkern seiner Epoche wie E. A. Poe, Tocqueville und Baudelaire zu denen, die etwas von den wahrhaft chthonischen Veränderungen verspürt haben, die zu Beginn des Hochkapitalismus mit den Menschen selber, mit menschlichen Verhaltensweisen und mit der inneren Zusammensetzung menschlicher Erfahrung sich zugetragen haben. Das verleiht seinen kritischen Motiven ihren Ernst und ihre Dignität.« (Adorno, »Kierkegaards Lehre von der Liebe« [1939/40], ebd., S. 229). 6 Vgl. ebd., S. 23–37, 181 u. ö.
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dem Schriftsteller Kierkegaard auf dessen Darstellungen von Intérieurs und die Anthropologie der religiösen Person in den Stadien und in der Krankheit zum Tode. Seine Analysen und Kommentare verkennen jedoch den ironischen und sprachreflexiven Grundzug der ästhetischen Schriftstellerei Kierkegaards. Da ist zum einen der Vorwurf, dass Kierkegaards Darstellungen bürgerlicher Intérieurs den phantasmatischen Charakter isolierter Innerlichkeit verräumlichten, indem sie Waren in private Symbole und künstliche Tableaus verwandelten und die zugrundeliegenden Entfremdungsphänomene ausblendeten. 7 Hier werden Kierkegaards komplexe Erzählstrukturen nicht berücksichtigt, die gerade den gespenstischen Charakter solcher Scheinwelten desavouieren. So werden Intérieurs im Tagebuch des Verführers auf psychologische Weise gelesen und im Finale so teuflisch klug arrangiert, dass Johannes dem Opfer seiner geistigen Verführung eine vertrauenswürdige Beziehung und sich selbst seine Überlegenheit simuliert – eine bewusste Inszenierung also, die sich nicht nur die Prozesse der Verdrängung und Fetischisierung zunutze macht, sondern deren manipulierende Effekte im Narrativ der Verführung auch als semiotische Strategie ausstellt. Ein weiterer Vorwurf betrifft Kierkegaards religiöse Anthropologie. Diese ziele auf die Transparenz des religiösen Selbst, gleite faktisch aber von der prätendierten Höherentwicklung in eine tautologische Wiederholungsbewegung des isolierten individuellen Bewusstseins ab. Dies betrifft vor allem das Narrativ der scheiternden Verlobungsgeschichte, das Kierkegaard in Entweder – Oder, in der Wiederholung und in den Stadien variiert. Adorno übergeht auch hier die Möglichkeit, diese Variationen (im Sinne der sokratischen Verführung des Lesers) einer bewussten Desorientierungsstrategie zuzurechnen. Er sieht in ihnen lediglich den scheiternden Versuch, den verlorenen transzendenten Sinn auf irrationale Weise als Innerlichkeitsphänomen zu beschwören und über die ebenso irrationale Theorie des Anlasses mit der Kontingenz der ausgeblendeten Außenwelt zu vermitteln; 8 dies manifestiere sich stilistisch als Mesalliance von epischer Breite und subjektiver Monologizität: Die Unsinnlichkeit abstrakter Begriffe, die außer einer leeren, auf die Gottesfiktion bezogenen Innerlichkeit nichts mehr erzählen könnten, ersticke alles Bildliche und verfalle zur tautologischen Wiederholung, in der die 7 8
Vgl. ebd., S. 87. Vgl. ebd., S. 135 f.
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prätendierte Transparenz des Selbst nur noch als Verzweiflung erfahrbar sei. So blieben dem Einzelnen in Kierkegaards religiöser Anthropologie nur das Selbstopfer als imitatio Christi und der irrationale ›Sprung in den Glauben‹. Der verdrängte idealistische Kern des Kierkegaardschen Denkens generiere hingegen die bildmächtige Seite seines Denkens und Schreibens, die sich eindrücklich in der psychologischen Durchdringung des Alltäglichen zeige. Hier werde eine hoch entwickelte konstruktive Phantasie dazu missbraucht, Armut und Unschuld zum chiffrierten religiösen Versöhnungszustand umzudeuten, ähnlich wie die exkommunizierte Einbildungskraft im ›ewigen Augenblick‹ eine irrationale Brücke zwischen Zeit und Ewigkeit schlage. Für Adorno zeichnen die Verdrängung des mythischen Bildes aus dem Raum begrifflicher Abstraktion und des sozialgeschichtlichen Kontextes aus der Innerlichkeit des religiösen Subjekts maßgeblich für die Verwerfungen des Kierkegaardschen Ästhetikbegriffs verantwortlich. 9 Eine treffendere Kritik erfährt der Mangel an geschlossenen Erzählformen in Kierkegaards schriftstellerischem Werk durch den vergessenen Philosophen, Literaturhistoriker und Schriftsteller Ludwig Marcuse, 10 dessen Abhandlung Sören Kierkegaard. Die Überwindung des romantischen Menschen (1923) die Bezüge zum Idealismus und zur Konjunktur der Langeweile im 19. Jahrhundert differenzierter in den Blick nimmt. Das Besondere und zugleich Prekäre der negativen Theologie Kierkegaards besteht nach Marcuse im Versuch, den romantischen Verlust eines universalen Sinnerlebnisses ohne neue Systementwürfe und neomythische Narrative überwinden zu wollen: Keiner kämpfte den Kampf der Errettung vom eigenen Schicksal so bewußt, so heroisch-illusionslos in jeder Sekunde wie Kierkegaard. Deshalb ist sein Werk nicht so reich, wie die aus der Amalgamierung der absoluten Romantik mit positiven Tendenzen hervorgegangenen Aphorismen Nietzsches oder wie die Lebensschicksale Strindbergs; auch nicht so eindrucksvoll wie Grabbes Heldengedichte und Wedekinds leuchtende Vergöttlichungen des Menschen-Tieres. Aber Kierkegaards Werk ist von einer letzten geistig-asketischen, nüchternen Rechtschaffenheit. Er hat sich nie in logische Distinktionen oder architektonische Begriffsbauten gerettet. Er hatte nur e i n Vgl. ebd., S. 194–197. Ludwig Marcuse (1894–1971, Pseudonym: Heinz Raabe) war Schüler Ernst Troeltschs, Nietzsche-Forscher und ein Kenner der modernen Theater- und Literaturgeschichte.
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Problem – und diesem Problem widmete er zwölf Bände; vielleicht die wichtigsten zwölf Bücher des nachgoetheschen Europa – und dieses Problem heißt: Wie werde ich gläubig? […] // [D]urch seine exakten Photos der Romantik und der Tendenzen, mit denen der Romantiker sich selbst zu überwinden versuchte, [hat er] wie kein anderer die begriffliche Klärung des modernen Menschen gefördert. Kierkegaards Werk ist deswegen von so epochaler Bedeutung: durch den mißglückten Versuch zur Überwindung des romantischen Nihilismus und durch die psychologische Bespiegelung dieses Versuchs. In seiner zwölfbändigen ü b e r p r i v a t e n Autobiographie haben wir bisher die universalste und eindringlichste Psychologie der Romantik, d. h.: unserer Zeit, d. h.: unserer selbst. 11
Für Marcuse wie für Georg Lukács markiert die Romantik den Beginn des modernen Nihilismus, den Kierkegaard als Schriftsteller mit einer eigenen Schreibstrategie bekämpft und damit indirekt affirmiert. Lukács erkennt die konzeptionelle Ironie der Kierkegaardschen Position und nutzt sie in vollem Umfang für seine These, dass der Roman moderne Prozesse bürgerlicher Selbstentfremdung nur noch durch die negative Totalität seiner Form in der Grundstimmung transzendentaler Obdachlosigkeit widerspiegeln könne. 12 Seine Typologie der Romanformen knüpft nicht nur inhaltlich an Kierkegaards Analyse der Grundstimmungen des verzweifelten Existierens aus dem Begriff Angst und der Krankheit zum Tode an. Auch auf methodischer Ebene versteht sie sich als »Kierkegaardisieren der Hegelschen Geschichtsdialektik« 13, das statt der Hegelschen Übergänge Unterbrechungen und Differenzen setzt. Kierkegaard überwinde die idealistische Kluft zwischen lebendiger Vieldeutigkeit und abstrakter Eindeutigkeit in einem subjektivierten Wahrheitsbegriff, der auf die Praxis ziele: Doch der tiefste Sinn von Kierkegaards Philosophie ist der: unter den unaufhörlich schwankenden Übergängen des Lebens fixe Punkte zu setzen und absolute Qualitätsunterschiede im verschmelzenden Chaos der Nuancen. Und die als verschieden befundenen Dinge so eindeutig und so tief Ludwig Marcuse, »Sören Kierkegaard. Die Überwindung des romantischen Menschen«, in: Die Dioskuren. Jahrbuch für Geisteswissenschaften 2 (1923), S. 194–237, hier S. 196 f. (Sperrungen i. O.). 12 Georg Lukács, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik [1916], 11. Aufl., Darmstadt/Neuwied 1986. 13 Ebd., S. 12 f. Lukács beschreibt Kierkegaard als Ironiker, »der schärfer als alle anderen die Tausendfältigkeit und tausendfältige Wendbarkeit jedes Motivs sah; […] wie jede Sache in ihr Gegenteil übergeht, und wie sich, wenn wir wirklich hinschauen, zwischen den kaum unterscheidbaren Übergängen unüberbrückbare Schluchten auftun« (a. a. O., S. 44 f.). 11
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Kierkegaards heteronome Texturen
unterschieden hinzustellen, daß, was sie einmal getrennt hat, durch keine Übergangsmöglichkeit je wieder verwischt werden kann. So bedeutet die Ehrlichkeit Kierkegaards folgende Paradoxie: was nicht bereits zu einer neuen Einheit, die alle einstmaligen Unterschiede endgültig aufhebt, verwachsen ist, das bleibt für ewig voneinander getrennt. Man muß von den unterschiedenen Dingen eines wählen, man darf nicht »Mittelwege« finden, nicht »höhere Einheiten«, die die »nur scheinbaren« Gegensätze auflösen könnten. So gibt es nirgends ein System, denn ein System kann man nicht leben […]. 14
Lukács realisiert die performative Dimension, mit der sich Kierkegaards Schreibart gegen Hegel absetzt, und wechselt mithilfe des Kierkegaard-Prinzips der Unterbrechung vom Modell der dialektischen Höherentwicklung zu einer kontingenten Gattungsgeschichte des Romans. Damit erfährt Kierkegaard eine Würdigung als Markstein des postromantischen Moderneprozesses.
II.
Das Prinzip der Unterbrechung
Als Kierkegaard sich um 1840 als religiöser Schriftsteller zu etablieren beginnt, sind Mediationskonzepte en vogue: Hegels ›Weltgeist‹ verkörpert die Triebkraft der menschheitsgeschichtlichen Höherentwicklung, Goethes ›Weltliteratur‹ ebnet als Kommunikationsbeschleuniger einem friedlichen Dialog der Kulturen durch Übersetzung 15 den Weg. Beide Konzepte fundieren eine Utopie autonomer kommunikativer Vernunft, die unter Mitwirkung von Begriffen und Einbildungskraft eine bessere Weltordnung befördern soll. Dieser Utopie sagt der Kopenhagener Theologe auf allen Ebenen den Kampf Georg Lukács, »Das Zerschellen der Form am Leben: Sören Kierkegaard und Regine Olsen«, in: ders., Die Seele und die Formen [1911], Sonderausg., Neuwied/ Berlin 1971, S. 49. Vgl. Kierkegaards Postulat, dass die Unzuverlässigkeit des Existierens, in der Sein und Denken, Subjekt und Objekt getrennt seien, nur in einer indirekten Darstellungsform ohne Systemcharakter möglich sei (Sören Kierkegaard, Philosophische Brosamen und Unwissenschaftliche Nachschrift, unter Mitwirkung v. Niels Thulstrup und der Kopenhagener Kierkegaard-Gesellschaft hg. v. Hermann Diem und Walter Rest, aus dem Dänischen v. B. und S. Diderichsen, München 2005, S. 257 f.). 15 Koloniale Gewalt und politische Konflikte bleiben in diesem Diskurs des späten Goethe im Hintergrund, so dass die Dichtung auch im beginnenden Industriezeitalter noch als autonomes Leitmedium erscheinen kann. Die Kehrseite dieser Utopie zeigen indes die dystopischen Phantasmagorien des Zweiten Faust. 14
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an. Als Schriftsteller produziert er Szenarien der Entwicklungs- und Kommunikationsunterbrechung, die den Rezipienten vor die heteronome Erfahrung der eigenen inneren Ort- und Ziellosigkeit bringen. Der Glaube an die Autonomie des Geistes und den »geistigen Handelsverkehr« mit der Welt (Goethe) wird durch eine radikale Gewissenskur suspendiert, Utopie durch Atopie durchkreuzt, um den religiösen Selbstbezug des Einzelnen im Medium Literatur zu reanimieren. Zu diesem Zweck folgt die ästhetische »indirekte Mitteilung«, die Kierkegaard von der »direkten Mitteilung« der erbaulichen Reden trennt, dem Prinzip der Aktivierung des Rezipienten durch ironische Täuschung. Ihrem sokratischen Vorbild gemäß arbeitet sie im Medium Schrift mit szenischen Mitteln und zielt vor allem darauf ab, Simulakren begrifflicher Objektivität zu zerstören. 16 Diese Schreibstrategie richtet sich in erster Linie gegen den paneuropäischen Hegelianismus, darüber hinaus jedoch gegen jede Art von Heilsversprechen, das der Wahrheit des christlichen Glaubens Konkurrenz macht, was vor allem die romantische Literatur und ihr Paradegenre, den Roman, betrifft. Um seinen Leser aus den Routinen seiner Selbstwahrnehmung und vom Selbstbetrug rationaler Autonomie zu befreien, schließt Kierkegaard an ein Konzept an, das auch moderne Poetiken fundiert, das schreckenerregende Erhabene, das Illusionsbildungen unterbricht, fragmentiert oder zerstört, dadurch aber das Denken und Fühlen mobilisiert. 17 In der Kritik der Urteilskraft (1790) betritt es als das Andere des Schönen die Bühne des ästhetischen Urteils. Bei Kant wird das Schöne lustvoll über den Natur-Gegenstand erfahren, der sich durch bildhafte Ganzheit und klare Konturen (»Begrenzung«) auszeichnet. Es repräsentiert einen unbestimmten Begriff des Verstandes, der als sinnlich-lebendige Form erfahrbar ist. Hingegen erzeugt das Erhabene aufgrund seiner Formlosigkeit ein indirektes (von Unlust durchsetztes) Lustgefühl, das spannungsgeladene Affekte wie Ernst, Rührung, Bewunderung oder Achtung freisetzt. Seine unzweckmäßige Form repräsentiert einen unbestimmten VernunftVgl. Lore Hühn, »Ironie und Dialektik. Zur Kritik der Romantik bei Kierkegaard und Hegel«, in: Kierkegaard Studies. Yearbook 2009: Kierkegaard’s Concept of Irony, S. 17–40, hier S. 23. Hühn sieht Kierkegaards Sonderstellung innerhalb der Philosophie des 19. Jahrhunderts darin begründet, dass er statt des philosophischen Diskurses »ausgezeichnete Formen der Rede und des Gesprächs zum Ort der Wahrheit« erklärt. 17 Vgl. Angelika Jacobs, Stimmungskunst von Novalis bis Hofmannsthal, Hamburg 2013, S. 177–253. 16
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begriff, der in keinem unmittelbaren Verhältnis zur Anschauung mehr steht. Aufgrund dieser Unterbrechung des Unmittelbarkeitsverhältnisses ist das Subjekt gezwungen, den Eindruck des Übermächtigen durch die Beschäftigung mit der Idee zu überbrücken, um sich trotz der chaotischen Formlosigkeit des Erhabenen kraft seiner Vernunftbegabtheit als autonom erfahren zu können. Während das Gefühl des Schönen also eher passiv und spielerisch-lustvoll durch das Objekt erfahren wird, provoziert der Ernst des Erhabenen eine konstruktive Aktivität des Geistes und Gefühls, für die das Objekt nur der schockhafte Anlass ist. »Ernst« und »Anlass« finden in religiöser Wendung Eingang in Kierkegaards Anthropologie. Um 1800 konzentriert sich die Erfahrung des Erhabenen, die sich im Barock noch von der Rhetorik und Tragödientheorie her definiert, auf die Übermacht der Natur. Bei Kant leistet das Erhabene eine Übersetzung religiöser Stimmungen in theoretische Urteilsformen respektive (im Geltungsbereich des Begehrungsvermögens) in praktisches Handeln und mobilisiert die Urteilskraft. In Hegels Phänomenologie des Geistes wird es historisch im Bilderverbot der jüdischen Tradition verortet: Da es für Gott und für die Idee keinen Gegenpart in der Natur geben kann, dient die Natur nur als Medium, in dem sich das Göttliche dem Menschen symptomatisch ›zeigt‹. 18 Diese Unanschaulichkeit und Mittelbarkeit des Erhabenen wird von Kierkegaard durch die Verbindung mit ironischen Performativen von der Autonomie in die Heteronomie und von der Einbettung in eine Utopie dialektischer Höherentwicklung in die diskursive Ausbettung aus derselben und damit in die Atopie geführt. Wirken die Schrecken des Erhabenen bei Kant, der keine Sprachreflexion betreibt, noch vitalisierend und ermächtigend auf die Erkenntnisvermögen, so führen sie bei Kierkegaard zur Kritik der Sprache als Medium kommunikativer Vernunft. Das im Erhabenen konzeptualisierte Problem der Repräsentation abstrakter Ideen thematisiert schon 1841 die romantikkritische Magisterdissertation zum Ironiebegriff, die sich auf Hegels Spuren einer Fundamentalkritik der romantischen Ästhetik widmet und in der inVgl. ebd., S. 177–182 mit Bezug auf Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in zwanzig Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1970, Bd. 3 (Phänomenologie des Geistes), S. 479 f. Der idealistischen Filiation folgt auch Rudolf Ottos Definition innerer und äußerer Erscheinungen des Heiligen. Vgl. Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen [1917], München 1971, S. 172.
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direkten Mitteilung der 1840er Jahre ihr ästhetisches Verfahren findet. Die Abhandlung beginnt, auf den kantischen Dualismus von Anschauung und Begriff anspielend, mit der allgemeinen Forderung nach der Ausgewogenheit beider Komponenten. 19 Die ›Andersrede‹ der Ironie setzt jedoch auf die Unterbrechung der Harmonie von Phänomen und Begriff, da sie stets ein Entgegengesetztes andeutet, das nur konstruktiv (»vermittelst einer Kombinationsrechnung« 20) zu erschließen ist. 21 Sokratisches Erkennen operiert mit der Verkehrung und Vervielfachung der Perspektiven, die sich, indem sie die Gewissheiten des Wissens zertrümmern, als eigentlicher »Anfang zum Wissendwerden« erweisen. Kierkegaard sieht die erkenntnistheoretische Qualität der sokratischen Dialoge darin begründet, dass die Dramaturgie ironischer Verkehrung eine Konkretisierung des Abstrakten ermöglicht, indem sie die Bewegungen des Denkens selbst zum Vorschein bringt. 22 Daher spricht er der Ironie den Status einer eigenständigen Methode antisystematischen Philosophierens zu, die durch das permanente Hin- und Herkippen der Perspektiven echtes ErBI, 7 ff. (Sperrungen i. O.): »Der Betrachter muß ein Erotiker sein, kein Zug, kein Moment darf ihm gleichgiltig bleiben; auf der andern Seite aber soll er doch auch sein Übergewicht empfinden, dies jedoch nur dazu brauchen, der Erscheinung zu ihrer vollkommenen Offenbarung zu helfen. Wiewohl der Betrachter deshalb nun den Begriff mitbringt, kommt es doch darauf an, daß die Erscheinung nicht gekränkt werde, und daß der Begriff gesehen werde als aus der Erscheinung entstehend.«; »Diese beiden Erscheinungen sind es, denen allen beiden ihr Recht widerfahren muß, und welche die eigentliche A b r e c h n u n g zwischen Geschichte und Philosophie ausmachen, so daß e i n e r s e i t s der Erscheinung ihr Recht widerfährt und die Philosophie sie nicht mit ihrer Überlegenheit ängstigt und knickt und daß anderseits die Philosophie sich nicht vom Zauber des Einzelnen betören, sich nicht von der Übergewalt des Einzelnen ablenken läßt. Ebenso kommt es nun beim Begriff der Ironie darauf an, daß die Philosophie sich nicht versehe an einer einzelnen Seite von dessen erscheinendem Dasein, ebensowenig denn an dessen Erscheinungsbild, sondern in und mit dem Erscheinenden die Wahrheit des Begriffs ersehe.« 20 Vgl. BI, 10. 21 Vgl. BI, 303 (Sperrungen i. O.): »Insofern ist d i e [romantische, A. J.] P o e s i e [ … ] n i c h t d i e w a h r e Ve r s ö h n u n g ; denn sie versöhnt nicht mit der Wirklichkeit, in der ich lebe, es geschieht durch die poetische Versöhnung keinerlei Wandlung (Transsubstantiation) der gegebenen Wirklichkeit, sondern sie versöhnt mich, indem sie mir eine andere Wirklichkeit gibt, eine höhere und vollkommenere.« 22 Vgl. BI, 274 f. Zur positiven Bewertung des Nichts bei Böhme und Schelling vgl. David C. Kangas, »The Metaphysics of Interiority. The Two Paths of Schleiermacher and Kierkegaard«, in: Niels Jørgen Cappelørn et al. (Hg.), Schleiermacher und Kierkegaard. Subjektivität und Wahrheit, Berlin/New York 2006, S. 655–672, hier S. 670 f. 19
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kennen erst mobilisiert. 23 Die schwindelerregende Wirkung des ironischen Verfahrens wird durch ein Metabild erläutert, das seine eigene Bildlichkeit ausstellt, ein populäres Vexierbild mit dem Titel Napoleon, auf seinem Grab wandernd 24:
Es gibt einen Kupferstich, welcher Napoleons Grab darstellt. Zwei hohe Bäume überschatten es. Mehr ist auf dem Stich nicht zu sehen, und der unmittelbare Beobachter sieht sonst nichts. Zwischen den beiden Bäumen ist ein leerer Raum; indem das Auge den diesen Raum umreißenden Konturen folgt, tritt aus diesem Nichts plötzlich Napoleon selbst hervor, und nun ist es unmöglich, ihn wieder entschwinden zu lassen. Das Auge, das ihn einmal gesehen, sieht ihn mit einer fast beängstigenden Unentrinnlichkeit jederzeit. Ebenso auch mit den Erwiderungen des Sokrates. Man hört seine Reden, ebenso wie man die Bäume sieht, seine Worte bedeuten das, was ihr Laut besagt, ebenso wie die Bäume Bäume sind, auch nicht eine einzige Vgl. BI, 17. Die entsprechende Schlussform des syllogistischen »›Entweder-oder‹ (aut-aut)« produziert aufgrund ihrer Syntheselosigkeit ekstatisches »Schwindligsein« (vgl. BI, S. 84 f., 180). 24 Künstler und Quelle unbekannt, URL: http://sks.dk/BI/ill_K18.htm (Det kgl. Biblioteks billedarkiv, Kopenhagen; letzter Zugriff: 1. Mai 2010). 23
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Silbe gibt die Andeutung einer anderen Auslegung, ebenso wie auch nicht ein einziger Strich Napoleon andeutet, und gleichwohl ist in diesem leeren Raum, diesem Nichts, das Wichtigste verborgen. Wir finden in der Natur Beispiele von Orten, die so absonderlich eingerichtet sind, daß die am nächsten Stehenden den Redenden nicht hören können, sondern allein die, welche an einem bestimmten Punkte stehn, der oft weiten Abstand hat; ebenso ist es mit den Erwiderungen des Sokrates, wenn wir uns nur erinnern, daß hören hier verstehen heißt und nicht hören also mißverstehen. […] Situation und Erwiderung sind […] der Komplex, welcher das Ganglien- und Zerebralsystem der Persönlichkeit ausmacht. 25
Kierkegaards Subscriptio zum Vexierbild hebt weniger auf die Tatsache ab, dass sich der Betrachter zwischen zwei Fokussierungen (dem Panorama und der Silhouette Napoleons) entscheiden und die Synthese zum Ganzen der im Titel gegebenen Bildaussage eigens konstruieren muss, als vielmehr auf die Überraschung des Betrachters durch einen unausgesprochenen Subtext. Dieser ergibt sich der Erläuterung zufolge aus dem, was Sokrates positiv aussagt, und zwar als Negativ dessen, was diese Aussagen unausgesprochen umkreisen. Durch wechselnde Masken, durch erotischen und rhetorischen Bann verkehrt Sokrates dem Unterbrechungsprinzip gemäß seine positiven Aussagen plötzlich in ihr suggestives Gegenteil. 26 Auf diese Weise werden im maieutischen Prozess statt einer stabilen begrifflichen Position die vorbegrifflichen Bewegungen des Denkens zutage gefördert, die zur Anamnesis führen. Während das sokratische Modell mit den Mitteln des Eros anamnetisches Wissen und Wahrheit befördert, wird die Theatralität in Kierkegaards sokratischer Methode dazu BI, 17. Die ironische Rede fesselt den Hörer auf ebenso lustvolle wie vernichtende Weise mit der Präzision eines Messinstruments (vgl. BI, 62, 81), indem sie ihn durch ständigen Positionswechsel zwischen Anziehung und Abstoßung schweben und niemals zur Ruhe kommen lässt: »Nun ist es aber das Wesen der Ironie, niemals die Maske abzulegen, und andererseits ist es ihr ebenso wesentlich, die Maske proteusartig zu verändern […]. Indes wie sie dergestalt etwas Abschreckendes an sich hat, ebenso gewiß hat sie auch etwas außerordentlich Verführerisches und Zauberisches. Das Vermummte und Geheimnisvolle, das sie an sich hat, der von ihr eröffnete telegraphische Verkehr (ein Ironiker muß nämlich stets von Weitem her verstanden werden), die von ihr vorausgesetzte unendliche Sympathie, des Verstehens flüchtiges, aber unbeschreibliches Nu, das im gleichen Augenblick von des Mißverstehens Angst verdrängt wird, – dies alles fesselt mit unlöslichen Banden. Im ersten Augenblick also fühlt sich das Individuum durch die Berührung des Ironikers befreit und ausgeweitet, indem dieser für dies Individuum sich öffnet, aber schon im nächsten Augenblick ist es in des Ironikers Gewalt […].« (BI, 48 f.).
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eingesetzt, um das vermeintlich autonome Denken der Praxis christlicher Liebe unterzuordnen. 27 Beide operieren an den Grenzen des (begrifflichen) Wissens. 1844 bestimmt Kierkegaard in den Philosophischen Brosamen, einem weiteren Metatext, die sprachfernen Denkbewegungen aus der Ironieschrift genauer als singuläre Bewegungen des Existierens, in denen sich das Dasein selbst als das »absolut Verschiedene, wofür man kein Kennzeichen hat« 28, manifestiert. Nach Kierkegaard markieren sie, jenseits der kategorialen Starre begrifflicher und der Bilderflut sinnlicher Erkenntnis, die Grenze zwischen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit und einem erhabenen Gott. Sie erscheinen jedoch nur an der Oberfläche des Denkens, und zwar als sprunghafte Bewegung, die nicht sprachlich ausgesagt, sondern nur als Symptom verborgener Tiefenprozesse beobachtet und gedeutet werden kann: Das ist also das höchste Paradox des Denkens, etwas entdecken zu wollen, was es selbst nicht denken kann. Diese Leidenschaft des Denkens ist im Grunde überall im Denken zugegen […], auch in dem des Einzelnen, insofern er ja denkend nicht bloß er selbst ist. Aber auf Grund der Gewohnheit entdeckt man es nicht. 29
Diese Existenzbewegungen, in denen sich das Undenkbare des Daseins zeigt, das man Gott nennt, kann der begrenzte Verstand nur in zwei erhabenen Denkmustern fassen, im (ewigen) Augenblick, in dem sich das Göttliche ohne ersichtlichen Anlass manifestiert, und im Wunder, in dem sich das Unbegreifliche ereignet. 30 Beide zusammen werden als Leidenschaft des Glaubens bezeichnet, die das Paradox eines Göttlichen zu begreifen versucht, dessen Ewigkeit sich in der Zeit offenbart. Dieses spezifisch christliche Pathos wird immer wieder gegen verschiedene Traditionen abgegrenzt: Im Gegensatz zur aristotelischen Rhetorik zielt das christliche Pathos nicht auf Wahrscheinlichkeit und Angemessenheit, sondern auf das Unwahrscheinliche, das anstelle des Verstehens den Modus des Glaubens fordert; anders als die platonische Anamnesis ist es auf die kontingente Zukunft und nicht auf die Rückerinnerung gerichtet; und im Gegen-
Vgl. Leonardo Lisi, Marginal Modernity. The Aesthetics of Dependency from Kierkegaard to Joyce, New York 2013. 28 Kierkegaard, Brosamen / Nachschrift (Anm. 14), S. 57. 29 Ebd., S. 49. 30 Ebd., S. 41, 48 f., 63–66, 71, 79 sowie S. 357 f. u. ö. 27
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satz zur erstarrten christlichen Dogmatik zeichnet es sich durch rhetorische Sprengkraft aus. Diese Position entfaltet die sprachkritische Einleitung zum Begriff Angst (1844), die postuliert, dass Begriffe von den affektiven Bewegungen des Existierens abhängen, die sich in sprachfernen Stimmungen manifestieren: Daß auch die Wissenschaft, ebensosehr wie die Poesie und Kunst, Stimmung sowohl beim Produzierenden als auch beim Rezipierenden voraussetzt, daß ein Fehler in der Modulation ebenso störend ist wie ein Fehler in der Gedankenentwicklung, hat man in unserer Zeit völlig vergessen, in der man ja auch die Innerlichkeit und die Bestimmung der Aneignung völlig vergessen hat. 31
Demnach kann das von vermeintlich autonomen Begriffen gesteuerte Systemdenken objektive Wahrheit, bruchlose Synthesen und Höherentwicklungen nur simulieren. Tatsächlich unterdrückt es die zugrundeliegenden Stimmungen des Existierens in einer Bewegung der Angst. Dies wird erneut durch eine performative Metaphorik veranschaulicht: Was auf der Bühne der Sprache als logische Begriffsroutine von scheinbar reibungsloser Klarheit und Dynamik erscheint, wird erst durch die Aktionen der unsichtbaren »Bewegungsmeister« auf dem unsichtbaren Schnürboden über der Bühne möglich. 32 Übertragen auf das Verhältnis zwischen wissenschaftlichem Diskurs und ethischer Praxis heißt dies, dass religiöse Konzepte, die den undenkbaren Ursprung des Daseins zu fassen versuchen, im wissenschaftlichen Denken und Sprechen keinen Ort haben, weil die Existenzbewegungen des Denkens in der Latenz bleiben. Sie können vom Denken folglich nur verzerrt dargestellt werden. So wird der religiöse Begriff der Sünde in der Metaphysik distanziert und desinteressiert behandelt und in der Psychologie akribisch durch empirische Beobachtung erforscht und zerlegt, während die Ästhetik ihn mit dem falschen Pathos der Immanenz versieht. 33 Dementsprechend erscheint sie als Sören Kierkegaard, Der Begriff Angst, übersetzt v. Hans Rochol, Hamburg 2005, S. 11 f. 32 Die Einleitung zum Begriff Angst, die Topoi der Hegel-Kritik Jacobis und Trendelenburgs aufnimmt, betreibt ein Misreading Hegels, dessen Konzept der »lebendigen Begriffe« unberücksichtigt bleibt. Vgl. Lore Hühn, »Sprung im Übergang. Kierkegaards Kritik an Hegel im Ausgang von der Spätphilosophie Schellings«, in: Jochem Hennigfeld/Jon Stewart (Hg.), Kierkegaard und Schelling. Freiheit, Angst und Wirklichkeit, Berlin/New York 2003, S. 133–183. 33 Vgl. Kierkegaard, Brosamen / Nachschrift (Anm. 14), S. 143. 31
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Abnormität, Krankheit oder Disharmonie, aber nicht als Appell zum Handeln. Insbesondere wenn die Sünde in die Ästhetik hineingezogen wird, dann wird die Stimmung entweder leichtsinnig oder schwermütig; denn die Kategorie, in die die Sünde gehört, ist der Widerspruch; und [d]er ist entweder komisch oder tragisch. […] die der Sünde entsprechende Stimmung ist der Ernst. 34
Die Stimmung des Ernstes vermittelt nur die erbauliche Mitteilung der protestantischen Predigt. So wie die sokratische Maieutik den Schüler durch Ironie zur Aneignung des Ideenwissens führt, grenzt sich die direkte Mitteilung der protestantischen Predigt von den Wissenschaften ab und fordert die tätige Aneignung des christlichen Glaubens. In Rahmen der ästhetischen Schriftstellerei ist dafür das »Mimische« vonnöten, das zum Schlüsselbegriff der ›indirekten Mitteilung‹ wird, jener Strategie also, die den Leser sokratisch verführen und vor das Bewusstsein seiner transzendenten Abhängigkeit bringen soll. 35 Bei Kierkegaard agiert der Text selbst als sokratischer Mime. Er soll beim Rezipienten die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit dem Verdrängten fördern und ihn in die Wahrheit des Glaubens hineinbetrügen. Hierfür entwickelt die ästhetische Schriftstellerei der 1840er Jahre eine medienbewusste 36 Poetik der Unruhe, die sich aus der erhabenen Tradition des Bildentzugs und der sokratischen Ironie herschreibt. An ausgewählten Texturen aus Entweder – Oder und Furcht und Zittern soll im Folgenden gezeigt werden, wie die Grenzen des Denkens und Kommunizierens sinnfällig gemacht werden, indem die zugehörigen Gattungen des Darstellens durch Unterbrechung und Verkehrung, Bildstörung oder Bildausfall subvertiert werden, so dass gegebenenfalls neue Genres entstehen, die zwischen den Künsten und Wissensdisziplinen agieren.
Kierkegaard, Der Begriff Angst (Anm. 31), S. 11. Unterschlagen wird hier die romantische Vorgeschichte des Mimischen: Schon bei Friedrich Schlegel erscheint die sokratische Ironie im 42. Lyceum-Fragment als theatrale Anti-Philosophie, welche die exzentrische Perspektive auf das Spiel des Daseins vermittelt. 36 Vgl. den Beitrag von Heinz Hiebler in diesem Band. 34 35
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III. Kreisen um Nichts: Schattenriss und Vaudeville (Entweder – Oder) Die ironische Kippbewegung zeichnet für die Makrostrukturen vieler pseudonymer Werke verantwortlich. Für die antithetische Struktur von Entweder – Oder dient der ›Agon der Logoi‹ aus Aristophanes’ Komödie Die Wolken, die Kierkegaard und Hegel als unverfälschte Darstellung der sokratischen Ironie schätzen, als Modell für die prototypische Gegenüberstellung der ästhetischen und der ethischen Position. 37 Zudem stehen die vielstimmigen pseudonymen Schriften häufig in einem Echoverhältnis zueinander wie etwa das Tagebuch des Quidam aus den Stadien und das Tagebuch des Verführers aus Entweder – Oder. 38 Hier soll es um die mikrologische Genese kleiner Prosaformen gehen, die sich aus dem ironischen Verfahren der indirekten Mitteilung und dem Konzept der verborgenen Existenzbewegungen ergeben und an serielle Muster der romantischen Musik und Literatur sowie zeitgenössischer Techniken der Schatten-Projektion anknüpfen. 39 Eine von ihnen ist der Schattenriss. Er wird in Entweder – Oder durch den anonymen Ästheten (genannt A) als Gattung eingeführt, die dem Bewusstsein entzogene Seelenbewegungen enthüllt und ein »inneres Bild« zeigt, das erst vor dem rechten Hintergrund »bemerkbar wird, […] das zu fein ist, um äußerlich sichtbar zu werden, da es aus den sanftesten Stimmungen der Seele gewoben ist.« 40 Auch hier wird immer nur der Umriss eines Teilgegenstandes, ein schemenhafter Eindruck deutlich, während andere Teile aus dem Fokus geraten. Ursprung wie Gegenstand des Schattenrisses ist ein Zustand der Markus Kleinert, Sich verzehrender Skeptizismus. Läuterungen bei Hegel und Kierkegaard, Berlin/New York 2005, S. 206–208. Vgl. auch Ana-Stanca Tabarasi: »›… Zuchtmeister des unmittelbaren, gedankenlosen Lebens‹ : Ironie, Humor und ihr Verhältnis zum Religiösen in Kierkegaards ›Entweder – Oder‹«, in: Mihail Neamțu/Bogdan Tǎtaru-Cazaban (Hg.), Memory, Humanity, and Meaning. Selected Essays in Honor of Andrei Pleşu’s Sixtieth Anniversary, Bukarest 2009, S. 279–296. 38 Vgl. Jochen Schmidt, Vielstimmige Rede vom Unsagbaren. Dekonstruktion, Glaube und Kierkegaards pseudonyme Literatur, Berlin/New York 2006. 39 Vgl. Angelika Jacobs, »Aneignung und Vision. Mediale Strategien der Desillusionierung und Mobilisierung bei Kierkegaard und im symbolistischen Theater«, in: Études Germaniques 66,4 (2011) [Plurimedialität: Theater-Formen der Moderne und der Avantgarden in Europa, hg. v. Anke Bosse], S. 851–873. 40 Sören Kierkegaard, Entweder – Oder, ungekürzte Gesamtausgabe in zwei Bänden, München 1988, Bd. 1, S. 204 f.; künftig im Text als EO zitiert. 37
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Trauer, in dem die eruptive Energie des Verlusts unterdrückt und in rastlose Unruhe verwandelt wird. Diese Unruhe wirkt auf die traumatisierte Seele wie ein Narkotikum, zeigt sich gegen außen aber nur als vage Stimmung. Konkret geht es um den Schock des erotischen Betrugs aus der Sicht der Verführten, welche die Tatsache verdrängen, dass sie getäuscht wurden. Das vergeblich begehrte Liebesobjekt wird unter wechselnden Maskierungen erinnert, die jedoch, ähnlich wie Freuds Deckerinnerungen, austauschbar sind. Die Protagonistinnen der Schattenrisse entstammen bekannten Verführungsdramen der Literatur und werden als »Bräute der Trauer« eingeführt, deren psychische Verfassung A in kurzen Charakterstudien frei ausphantasiert. In den drei Porträts von Marie Beaumarchais aus Goethes Clavigo, Donna Elvira aus Mozarts Don Giovanni und Fausts Gretchen gibt es jeweils eine längere Passage, in der sich widersprüchliche Erklärungsversuche für den Liebesverrat nach Art eines Bewusstseinsstroms nahtlos aneinanderreihen (EO, 220–223, 239–241, 250–253). Wie in einer Gerichtsszene wird der erotische Verrat abwechselnd verdammt und gerechtfertigt, ohne dass es zu einem abschließenden Urteil über den Verführer käme. Dieser gerät vielmehr zur Projektionsfläche, auf der nun die Bewegung selbst erscheint, mit der die Psyche der Frauen um den unbegreiflichen Verrat herum schwankt und den begehrten Gegenstand verzweifelt sucht, ohne ihn finden zu wollen (EO, 211 f.). 41 Im Schattenriss werden daher Kippbewegungen sichtbar, die keine klare Kontur des Objekts und damit kein Erinnerungsbild ergeben können, dafür aber den Abspaltungsprozess selbst zum Vorschein bringen, der die undenkbare Leerstelle des Verrats umspielt. Je konsequenter der Liebesverrat verdrängt wird, desto mehr schließen sich die Kippbewegungen zu einem end- und ruhelosen Kreisen um den undenkbaren Gegenstand zusammen, das als inneres Bild bezeichnet wird. Das innere Bild ist zum einen so transparent, dass eine Projektionsfläche vonnöten ist, die das Verborgene sichtbar macht, und zum anderen wandelbar und instabil wie ein Proteus. 42 Gerade weil es aber der statischen Repräsentation entzogen ist, macht es den undarstellbaren Zustand des Selbstverlusts mit den Bewegungsmechanismen der Abspaltung, Verdrängung und Wieder-
Schon Brandes beschreibt Kierkegaards Stil als »Panorama jagender Bilder« (Brandes, Kierkegaard (Anm. 1), S. 149). 42 Vgl. dazu die zitierten Ausführungen zur Verführungsgewalt der Ironie in BI, 49. 41
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holung sinnfällig. 43 Voraussetzung dafür ist, dass es nicht mimetisch gelesen, sondern vom Experten wie eine »telegraphische Nachricht« dekodiert oder auch wie ein Krankheitssymptom gedeutet wird. Das Symptom erscheint auf der täuschend glatten ›Oberfläche‹ des Bewusstseins nur als vage, stimmungshafte Bewegung, die auf eine weitaus heftigere Bewegung in der ›Tiefe‹ des Inneren schließen lässt (EO, 206). Somit generiert das innere Bild, das um eine referenzlose Mitte kreist und semiotisch gesehen als Index der verborgenen Existenzbewegungen des Denkens fungiert, eine Atopie. Über den performativen Charakter des inneren Bildes ergibt sich die Analogie zum Theater und zu Mozarts Oper Don Giovanni, die der Ästhet in drei Schritten herstellt. Im ersten Schritt verknüpft er das Thema des erotischen Betrugs mit dem Diskurs der Tragödie, indem er den Verrat als moderne Kontrafaktur des antiken Tragischen darstellt. Wird das Subjekt der antiken Tragödie unbewusst schuldig, indem es in guter Absicht das Falsche tut und seinen schicksalhaften Untergang herbeiführt, so wurzelt das moderne Drama der erotischen Verführung in der Angst des Individuums vor der Endlichkeit des Daseins, die wiederum der christlichen Reflexionskultur entspringt. Die Anziehungskraft des Verführers gründet vor allem in seiner ›musikalischen‹ Fähigkeit, diese Angst kurzfristig in Ekstase aufzulösen. Weibliches Betörtsein und männlicher Liebesverrat erscheinen letztlich als einvernehmlicher Betrug am Selbst (EO, 241), den kein zweideutiges schicksalhaftes Verhängnis herbeiführt, das kollektiv zu betrauern wäre, sondern das eindeutig schuldhafte Selbstverhältnis des Einzelnen. Zur Disposition steht die Grundschuld des reflektierten Individuums, das im Versuch, sich der religiösen Erfahrung existenzieller Abhängigkeit zu entziehen, in der Kreisbewegung um eine leere Mitte und im Schmerz als metaphysisch reflektierter Form von Schuld endet. Vom Tragödiendiskurs ausgehend wird im zweiten Schritt der Bezug zur Komödie hergestellt, genauer zum seinerzeit in ganz Europa populären Vaudeville. Der Ästhet geht von der offenen Vaudeville-Form aus, die Eugène Scribes Les premières amours zugrunde liegt und lineare Komponenten wie Monologe oder Kommentare zugunsten des schnellen Wechsels der Dialoge und Situationen in den Hintergrund rückt. Dadurch, Vgl. EO, 197–254, 259–263. Die Verbindungen zur Psychoanalyse zeigt Elisabeth Strowick, Passagen der Wiederholung. Kierkegaard – Lacan – Freud, Stuttgart/Weimar 1999.
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dass eine stringent motivierte Handlungskette weitgehend fehlt, wird die »innere Unruhe« freigelegt, welche die Intrigen antreibt. Sie liefert kein handlungs- oder figurenbezogenes Motiv im klassischen Sinne (EO, 307), sondern stellt den romantikkritischen Bezug zur Dysfunktionalität des Mythos von der absoluten Liebe her, den A in seiner Lesart von Les premières amours als Serie absurder Phantasmen entlarven möchte (EO, 271–327). So erweisen sich auch die Phantasmen des Komischen als Kippfiguren eines »unendlichen Scherzes«, der um nichts kreist: Wenn dann der Vorhang fällt, ist alles vergessen, nur ein Nichts bleibt übrig, und das ist das einzige, was man sieht; und das einzige, was man hört, ist Gelächter, das als ein Naturlaut nicht von einem einzelnen Menschen kommt, sondern die Sprache einer Weltkraft ist, und diese Kraft ist die Ironie. (EO, 320)
In einem dritten Schritt zieht A die Verbindung zwischen dem Tragischen und dem Komischen und bewertet die Wirkungsästhetik des Vaudeville als dem Tragischen überlegen. Während die tragische Situation zur ruhigen, statischen Kontemplation führe, bringe die komische die innere »Reflexion in Bewegung«. Diese Mobilisierung der Reflexion erfolgt aber nur während der Aufführung und deren Nachwirkung im Kopf des Zuschauers, der durch die schwindelerregende, »schier wahnwitzige Kreuzung von Situationen« (EO, 305) die Distanz zum Geschehen verliert (EO, 308): 44 Der Vorhang fällt, das Stück ist aus, nichts blieb bestehen; nur die großen Umrisse, in denen jenes phantastische Schattenspiel der Situation, das von der Ironie dirigiert wird, erscheint, bleiben für die Kontemplation zurück. (EO, 324)
Auch hier bezeichnet die Schattenspiel-Metapher eine Serie instabiler szenischer Bewegungen, die sich gegenseitig annullieren und den Rezipienten in einem Zustand permanenter Unruhe halten. Indem der Zuschauer meint, das Stück sei aus, und er habe jetzt sicheren Grund unter den Füßen, entdeckt er plötzlich, daß das, worauf er tritt,
Sie wirkt umso soghafter, je unvollkommener die dramatische Form ist. Ein Erinnerungseffekt könnte höchstens durch den wiederholten Besuch der Aufführung aufgebaut werden, wobei aber nur die situativen Bewegungen des Stückes erinnert werden, nicht die konkreten Wortwechsel; zudem besteht das in der Wiederholung gezeigte Risiko, dass die Vorstellungen unterschiedlich verlaufen und somit nichtidentische Wirkungen hervorrufen.
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nichts Festes ist, sondern gleichsam das Ende einer Wippe, und indem er darauf tritt, wippt er das ganze Stück über sich hinweg. Es ergibt sich eine unendliche Möglichkeit der Konfusion […]. (EO, 302)
Schattenriss und Vaudeville stellen somit die tragische und die komische Spielart jenes vielstimmigen und syntheselosen Kreisens um ›Nichts‹ dar, in dem verborgene Bewegungsmuster innerer Unruhe zum Vorschein kommen. Indem A dem Komischen als dem Verstörenden den Vorzug vor der kontemplativen tragischen Katharsis gibt, schreibt er die romantische Theorie von der Auflösung der alten Tragödie in das ästhetische Spiel der Komödie fort. Anstatt diesen Prozess jedoch teleologisch zu denken wie Hegel, 45 nähert er sich Jean Pauls ironischer Bestimmung des Humors als permanenter Doppelbewegung zwischen Unendlichkeit (Vernunft) und Endlichkeit (Verstand) und damit einer wirkungsästhetischen Fortschreibung der Theorie des Erhabenen an. Jean Paul zufolge initiiert der Humor als das ›umgekehrte Erhabene‹, das die Grenzen des gesunden Menschenverstandes sprengt, den reflexiven Wechsel zwischen der Erhebung über sich selbst und der Rückkehr in die eigene unvermeidliche Bedingtheit. 46 Ähnlich votiert 1837 Friedrich Theodor Vischer, der das Komische als Verendlichung des erhabenen Tragödienpathos durch das Sinnlich-Alltägliche versteht, ein Prozess, der unter anderem im Tagebuch des Quidam zu beobachten ist. 47
45 EO, 307 f. Dazu s. Christoph Menke, »Ethischer Konflikt und ästhetisches Spiel. Zum geschichtsphilosophischen Ort der Tragödie bei Hegel und Nietzsche«, in: Hegel-Jahrbuch 1999, S. 16–28, hier S. 25. 46 Die Affinitäten und Differenzen zu Jean Paul erörtert Kleinert, Sich verzehrender Skeptizismus (Anm. 37), S. 84–102. 47 Friedrich Theodor Vischer, »Über das Erhabene und Komische. Ein Beitrag zur Philosophie des Schönen«, in: ders., Über das Erhabene und Komische und andere Texte zur Ästhetik [1837]. Eingeleitet von Willi Oelmüller, Frankfurt am Main 1967, S. 37– 215, hier S. 160 f. (Hervorhebungen i. O.): »Veranlaßt ist sie [die tragische Erwartung, A. J.] durch ein sich ankündigendes, in mehr oder minder pathetischem Schwung begriffenes Erhabenes; aufgelöst wird sie durch das Bagatell eines bloß der niederen Erscheinungswelt angehörenden Dings, das diesem Erhabenen, vorher verborgen, nun auf einmal unter die Beine gerät und es zu Falle bringt. Man kann dies auch so ausdrücken […]: das Komische sei ein deutlich gemachtes Erhabenes. Denn die Deutlichkeit besteht im Hervorheben der sinnlichen Einzelheiten, und diese sind es, die alsbald den Schein des Unendlichen aufheben.«
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IV. Aneignung biblischer Überlieferung: Die Stimmung in Furcht und Zittern Die Dekonstruktion des romantischen ›Mythos Liebe‹ im Begriff Ironie und in Entweder – Oder zeigt, wie die Verklärung der oder des Geliebten die religiöse Dimension der Aneignung verschütten kann und sich im Kern als Konstrukt einer Klugheit erweist, die ihre innere Leere mittels Einbildungskraft tarnt. Dass dies auch für die Aneignung biblischer Botschaften gilt, konstatiert schon die Demis-Predigt von 1844: Des Glaubens Gegenstand aber kann von dem irdischen Auge nicht gesehen werden, mithin sich auch nicht zeigen in Bildern der Einbildungskraft. […] denn wenn die Sicherheit und die Stille und die Lautlosigkeit, in denen das Bild entsteht, entschwinden, wenn der Kampf und Streit beginnt, so zeigt sich nichts, als was Angst und Entsetzen heraufbeschwören. 48
Um eine aktive Aneignung durch Bildentzug zu provozieren, zögert Kierkegaard nicht, die Bibel selbst als indirekte Mitteilung Gottes zu apostrophieren und allen Versuchen, die verschiedenen Teile des biblischen Kanons durch figurale Deutung, Exegese und historisch-kritische Hermeneutik zu harmonisieren, den ironischen Riegel vorzuschieben, ebenso wie der anthropomorphisierenden Lesart seines Zeitgenossen Ludwig Feuerbach. Kierkegaards heteronome Lesart enthebt den heiligen Text seines Ganzheitsstatus, indem sie dessen Widersprüche kurzerhand zur ironischen List Gottes erklärt, die den notwendigen Anlass zur Aneignung schafft: Ein neuer Beweis für die Göttlichkeit der Bibel. Bisher ist man damit folgendermaßen verfahren: Man hat gesagt: die heilige Schrift ist eine göttliche Offenbarung, inspiriert u. s. w., deshalb muß da eine vollständige Harmonie zwischen allen Nachrichten sein, bis hin zur kleinsten Unbedeutendheit, es muß das vollkommenste Griechisch sein u. s. w. Gott weiß doch genau, was es ist zu glauben […], daß es heißt, die unmittelbare Mitteilung zu negieren und eine Doppelung zu setzen. Schau, das bestätigt sich. Genau deshalb, weil Gott will, daß die heilige Schrift ein Gegenstand für den Glauben werden soll, und zum Ärgernis für jede andere Betrachtung, genau deshalb ist dort mit Fleiß für diese Unübereinstimmungen gesorgt (die sich in der Ewigkeit leicht auflösen können in Übereinstimmungen), deshalb ist es ein schlechtes Griechisch u. s. w. […]. 49 48 49
GW1, Bd. 5, S. 75–92, hier S. 84. Papirer X 3 A 328 (1850), zit. bei Mariele Nientied, Kierkegaard und Wittgenstein:
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Dem Programm des Ärgernisses gemäß entwickelt vor allem die Relektüre der Opferung Isaaks in Furcht und Zittern eine beunruhigende Wirkungsästhetik des Bildausfalls, die an das aus Entweder – Oder bekannte serielle Kreisen um Nichts anschließt. Zunächst wird die gewohnte Rezeption der Bibelgeschichte als göttliche Offenbarung hintertrieben. Die biblische Vorlage aus Genesis 22 wird durch literarische Präsentationsmuster profaniert, die umgekehrt eine sakrale Aura erhalten, so dass der Leser zwischen den Rezeptionsrahmen eines heiligen (inspirierten) und eines autonomen (hermeneutisch als Einheit lesbaren) Textes schwankt und letztlich in den Abgrund einer heteronomen Lesart fällt. Die Desorientierung beginnt schon bei der Gliederung, welche die gewohnte rhetorische Abfolge auf den Kopf stellt: Das Vorwort und der Eingangsteil der Stimmung übernehmen die Funktion der Pathoserregung, die traditionell dem Redeschluss zukommt. 50 Im Vorwort bezieht der pseudonyme Herausgeber Johannes de Silentio polemisch Position gegen die Verwässerung religiöser Ideen durch die Begriffsflut des Hegelianismus, die folgende Stimmung übernimmt die Exposition des Themas aus der subjektiven Sicht eines exemplarischen Lesers, der über das Sohnesopfer in Genesis 22 meditiert. Vorwort und Stimmung erinnern an dieser Stelle an den alten Musenanruf im Proömion, mit dem sie die Einleitungsfunktion und die im Untertitel genannte Option des Lyrischen teilen, dies allerdings in verkehrter Wirkungsabsicht. Denn beides dient dazu, den systematisierenden Gestus gelehrter Abhandlungen und Exegesen zu unterlaufen (wie es ein Jahr später auch das der Stimmung konzeptuell verwandte Antigenre des Vorworts tut). 51 Die szenische Stimmung schildert den schweren Gang Abrahams und Isaaks zum Berg Morija, wo Abraham auf Gottes rätselhaften Befehl hin seinen Lieblingssohn und Stammhalter opfern soll. Es geht also »Hineintäuschen in das Wahre«, Berlin/New York 2003, S. 355; vgl. Kierkegaard, Brosamen / Nachschrift (Anm. 14), S. 58, 155 f. 50 Vgl. Tim Hagemann, Reden und Existieren. Kierkegaards antipersuasive Rhetorik, Berlin/Wien 2001. 51 Vgl. V, 175 ff.; dazu Jacobs, Stimmungskunst (Anm. 17), S. 233 ff. sowie Tilman Beyrich, Ist Glauben wiederholbar? Derrida liest Kierkegaard, Berlin/New York 2001, S. 28: »Vielleicht kann man sogar sagen, daß Kierkegaard ›Abhandlungen‹ im strengen Sinne niemals geschrieben hat, dass es sich auch dort, wo jene Bücher die ›Sache‹ zu behandeln scheinen, nur um eine vorgetäuschte Bewegung handelt. Kierkegaards Schriftstellerei hat fast überall den Charakter weit ausgreifender ›Vorworte‹ zu niemals geschriebenen ›Büchern‹, d. h. Stimmungen zu erzeugen [sic!] für die allererst angemessene Behandlung bestimmter Probleme.«
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um eine doppelte Auslöschung, die des Sohnes und die der Wünsche und Hoffnungen Abrahams, dessen existenzieller Konflikt das Paradoxe der Glaubenserfahrung repräsentiert. Der erste Teil der Stimmung, auf den ich mich konzentrieren möchte, erfüllt seine ungewohnte affekterregende Funktion nicht durch rhetorische Überzeugung, sondern durch gezielte Desillusionierung. Die bekannte biblische Szene wird kommentarlos in vier Varianten präsentiert, gerahmt durch eine didaktische Narrativierung, die um die Frage kreist, wie sich der nicht gelehrte Leser die Überlieferung vom Sohnesopfer Abrahams aneignen könne. Wie in einer Predigt wird der auszulegende Text vorab rezitiert; anders als in der Predigt wird aber nur der erste Satz mit dem rätselhaften Befehl gegeben, in dem Gott von Abraham das eigenhändige Opfer Isaaks fordert. Er erfüllt die musikalische Funktion eines Themas, das in der Phantasie des »einfachen Mannes« in unterschiedlichen Variationen durchgeführt wird. 52 Dessen Versuche, sich Abrahams Gemütslage zu vergegenwärtigen, münden in eine Art Bewusstseinsstrom, der zwischen der Rahmenwelt des fiktiven Lesers und der erzählten Welt des Bibelmythos oszilliert. Der Musterleser beschwört vor seinem inneren Auge den Ritt Abrahams und Isaaks zum Berg Morija, den dramatischen Opferungsversuch und die Rückkehr; doch je mehr seine Begeisterung für Abrahams Glaubensmut wächst, desto weniger »versteht« er die Geschichte. Daraus entsteht der Wunsch nach Verlebendigung. Er möchte »Abraham sehen« und »unmittelbar« an seinem Erleben teilhaben. Anstatt jedoch die Urszene nachzuerleben, produziert der fiktive Leser eine Serie von Szenarien, welche den Beginn von Genesis 22 ausphantasieren und auf knappstem Raum die inneren Konflikte der Beteiligten durchspielen. Am Ende jeder Sequenz wird abrupt zu einem scheinbar zusammenhanglosen Thema umgeschwenkt, die Entwöhnung des Kindes von der Mutterbrust, das die vier Variationen des schweren Ganges zur Opferstätte unterbricht. Diese Struktur erinnert an zyklische Musikgattungen wie das Rondo, in dem sich die variierenden Wiederholungen des Ritornells mit den eigenständigeren Couplets abwechseln; das Sujet der Digressionen über die Entwöhnung des Kindes verweist dagegen auf die christliche Emblemtradition, in der das Weinen des entmilchten KinZur literalen Nutzung musikalischer Strukturen als performativer Erkenntnisform vgl. Joachim Grage, »Durch Musik zur Erkenntnis kommen? Kierkegaards ironische Musikästhetik«, in: Kierkegaard Studies. Yearbook 2005, S. 418–439, bes. S. 430.
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des mit dem Begehren der Seele nach Gott verglichen wird. 53 Der sinnbildliche Zusammenhang wird jedoch nicht durch eine Subscriptio expliziert, sondern bleibt auf das Zitat der Pictura beschränkt, so dass der Bezug zwischen den Digressionen und der Opferungsgeschichte vom impliziten Leser reflexiv erschlossen werden muss: So wie das Kind durch eine List von der Brust entwöhnt und damit eigenständig wird, gibt Abraham durch den vorgetäuschten Opferungsbefehl Gottes die Bindung an Isaak und die Gesetze des Ethischen auf, um dafür die Größe seines Glaubens zu erfahren. Die suggerierte Analogie besteht im Übergang zu einer höheren Entwicklungsstufe durch Täuschung. Um sie als Deutungsmuster für die vierfache Variation der Morija-Szene verwenden zu können, muss sich der Leser der Erfahrung ausliefern, dass die vier Szenarien die Leerstellen des Bibeltextes auf je unterschiedliche Weise füllen. Die ersten beiden Szenen stellen die dramatische Situation des Opfers ins Zentrum, die letzten beiden die langfristigen seelischen Konsequenzen des verstörenden Ereignisses. Szene eins schildert den Beginn des Opfers und das Täuschungsmanöver, mit dem Abraham Isaaks Vertrauen in Gott erhalten will, indem er ihm vorspielt, in Wahrheit ein mordlustiger Götzendiener zu sein. Die zweite Szene zeigt als einzige den rettenden Moment, das Erscheinen des Widders, relativiert ihn aber dadurch, dass Abraham gebrochen und traumatisiert zurückbleibt. Im dritten Szenario wird Abrahams Verstörung vor und nach dem Ereignis gezeigt: Entsetzt über seinen Versuch, Isaak zu opfern, tritt er den Gang nach Morija wieder und wieder an, ohne seine innere Ruhe wiederzufinden; weder versteht er, dass sein Gehorsam Sünde war, noch, dass Gott diese Sünde vergibt, und deutet das paradoxe Verhalten Gottes als eigene Schuld. Die vierte Szene malt den stummen Glaubensverlust Isaaks aus, der die Verzweiflung seines Vaters im Moment der Opferung bemerkt. Ähnlich wie die inneren Phantasmen der verführten Frauen sind auch hier alle Varianten aus verschiedenen Perspektiven erzählt und mit Schwerpunkten und Leerstellen ausgestattet, die sich weder Vgl. das 67. Epigramm im Ersten Buch des Cherubinischen Wandersmanns (1657) von Angelus Silesius: »Das Kind schreyt nach der Mutter. // Wie ein entmilchtes Kind nach seiner Mutter weint: / So schreyt die Seel nach Gott, die ihn alleine meint.« Hier nach der in Kierkegaards Bibliothek befindlichen Ausgabe Johannis Angeli Silesii Cherubinischer Wandersmann, oder Geistreiche Sinn- und Schlußreime, zur Göttlichen Beschaulichkeit anleitende, Sulzbach 1829. Für diesen Hinweis danke ich Markus Kleinert.
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decken noch ergänzen. Sie ergeben kein bildhaftes Ganzes vor dem inneren Auge des fiktiven Lesers, sondern präsentieren die biblische Urszene in der losen Serienform, die mehr einem musikalischen Thema mit Variationen ähnelt als einem literarischen Genre. Entscheidend ist der wirkungsästhetische Effekt: Wie im inneren Bild und im Vaudeville kreisen auch die Imaginationen des biblischen Musterlesers um eine leere Mitte, der Abraham nicht »sehen« kann. Anstelle einer linearen Narration, die den Urtext verlebendigt, wird wieder die Suchbewegung sichtbar, mit der die affekttragenden Details der subjektiven Aneignung plastisch hervortreten, von Isaaks Verzweiflung, die Abrahams innere Monologe reflektieren, über Abrahams stumme Verstörung und bleibende Ruhelosigkeit bis hin zu seinen hier erfolgreichen, dort vergeblichen Versuchen, den Sohn zu täuschen und die Schuld auf sich zu nehmen. All dies sind Splitter von größter szenischer Konkretion, welche die subjektive Einbildungskraft in die löchrige Matrix des heiligen Textes 54 implementiert, um die inneren Konsequenzen des grausamen und rätselhaften Geschehens für alle Beteiligten zu vergegenwärtigen. Denkbar lakonisch wird dagegen in der folgenden Lobrede auf Abraham (dem zweiten Teil der Stimmung) das zugehörige Deutungsmuster aufgerufen: »Wir wissen alle – es war nur eine Prüfung.« 55 Da diese nachträgliche Entschärfung des Konflikts in keiner Weise an die vorigen Szenarien anschließt, ist auch die Lesart einer dramatischen Entwicklung mit gutem Ausgang blockiert. Dominant bleibt der Eindruck, dass der Konflikt zwischen familiärer Bindung, sozialer Ethik und religiösem Gehorsam aus jedem möglichen Blickwinkel zur Unterbrechung oder Zerstörung von Kommunikation und Selbstgewissheit und damit in stumme Verzweiflung, Misstrauen und Traumatisierung mündet. Im Zentrum dieser heteronomen Lektüre von Genesis 22 steht das Selbstopfer Abrahams, seine Bereitschaft, die in Isaak verkörperten Wünsche und Hoffnungen aufzugeben und den größten denkbaren Schmerz zu erleiden. So wie sich die Authentizität der sokratischen Ironie im Tod ihres Genius erweist, zeigt sich Abrahams Glaubensstärke in der Bereitschaft, aus Gehorsam das Liebste, was er hat, zu
Vgl. Erich Auerbach, »Die Narbe des Odysseus«, in: ders., Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur [1946], 7. Aufl., Bern/München 1982, S. 5–27, bes. S. 12 ff. 55 FZ, 20. 54
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opfern und mit ihm sein Vertrauen in einen Gott, der ihn auf die fürchterlichste Weise in den Glauben hineinbetrügt. Der fiktive wie der implizite Leser wiederholen diese Täuschung als Enttäuschung über die unüberbrückbare Differenz zwischen Urszene und Aneignung, die vor allem die eigenen Phantasmen auf der Bühne des Bewusstseins zur Erscheinung bringt. So wie Abraham aus allen Sicherheiten heraustreten und sich selbst fremd werden muss, um Gott in Furcht und Zittern zu erfahren, muss sich der Leser dem Verstörungspotenzial der Opferungsgeschichte aussetzen, um seinem Vorbild Abraham nahezukommen. Erst die Unterbrechung seiner Begeisterung für den Glaubensvater führt zur Aneignung der Urszene. Statt in die Illusion einer unmittelbaren Verlebendigung tritt er in einen mühsamen und riskanten Dialog mit sich selbst ein und wird, der Strategie der indirekten Mitteilung entsprechend, mithilfe der Phantasie von der Illusion ihrer Fiktionsautonomie befreit und vor das Bewusstsein seiner transzendenten Abhängigkeit gebracht. In diesem Sinne bietet die Relektüre von Genesis 22 den erwähnten Anlass zur affektiven wie reflexiven Auseinandersetzung mit dem Unbegreiflichen im Akt des Lesens. Der heilsame Schock-Effekt wird durch die szenischen Kontrafakturen des biblischen Szenarios erreicht, so dass das Thema, die Zerschlagung des Selbstbewusstseins durch den Schrecken des Opfertodes, für den Leser unmittelbar als Zertrümmerung der sinnautonomen Form nachvollziehbar wird. Der Urtext wird dabei, dem sokratischen Muster entsprechend, nur negativ, als Nichtrepräsentierbares greifbar, das der sekundäre Aneignungsprozess zudem nur bruchstückhaft konturiert. Die erhabene Ausnahmeerfahrung des Angerufenseins durch die transzendente Sphäre kommt somit als Bildausfall zur Darstellung und motiviert den Medienwechsel vom inneren Bild zur akustischen Stimmung. Wie das innere Bild ist auch die Stimmung ein Sammelbegriff, der hier erstmals als Genre christlicher Redekunst erscheint. Als lyrische Anrufung ohne Antwort verhindert sie das Fingieren eines sekundären Offenbarungserlebnisses. 56 Der Leser kommt zum Schluss, dass er nicht imstande ist, Abrahams Größe zu verstehen, ein Schock, der den hohl gewordenen kirchlichen Ritus ebenso suspendiert wie Hegels Definition des Lyrischen versteht unter »Stimmung« ein subjektives Phänomen ohne systematischen Ort, das nur in gedankenlyrischer Fassung objektivierbar ist (vgl. Hegel, Werke (Anm. 18), Bd. 15 (Vorlesungen über die Ästhetik III), S. 415–474, bes. S. 417). Auch dieser begrifflichen Fixierung steuert die Stimmung entgegen.
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die bindungslose ästhetische Phantasie oder die exegetische Fixierung der religiösen Ausnahmeerfahrung. Ausgehend von der individuellen Relektüre der Bibel wird der Schrecken des Sohnesopfers, der Abraham für immer zeichnet, 57 für den impliziten Leser dergestalt spürbar, dass er durch die ›mimische‹ Bewegung des Textes bis an den Rand des Wahnsinns getrieben wird, wie Kierkegaard notiert 58 – nicht, um im Irrationalen zu verharren, sondern um sich durch den Schock des Erhabenen einen reflexiven Zugang zum biblischen Mythos zu erschließen. Tragischer Schattenriss und inneres Bild, komisches Vaudeville sowie die erhabene Stimmung vollziehen die ironischen Grundoperationen des Fragmentierens, Kippens und indexikalischen Verweisens. Sie stellen eine Bewegung ohne Ursprung und Ziel aus, die beschwörend in sich und um eine leere Mitte kreist, weil die Varianten des Themas inkongruent sind und keine positive Referenz anbieten, dafür aber wie das Vexierbild in der Ironieschrift als Umriss auf etwas Abwesendes, Nichtgenanntes verweisen. Diese Kipp- und Kreisbewegung wird als serielle Form gestaltet, deren zyklische Muster der Musik entlehnt sind; stilistisch gesehen handelt es sich um eine Mischung aus Prosa, Lyrik und szenischer Bewegung. Das innere Bild zeigt diese Bewegung als Bewusstseinsstrom (avant la lettre), der das Trauma des Liebesverrats zugleich enthüllt und verbirgt; das Vaudeville präsentiert ein handlungsarmes Kippspiel der Perspektiven und Situationen, das aus der distanzierten Sicht des Zuschauers die Dysfunktionalitäten des romantischen Liebesmythos zutage fördert; und die kleine Form der Stimmung, welche die biblische Urszene kaleidoskopartig verlebendigt, bringt dem Leser die paradoxe Erfahrung des Göttlich-Erhabenen durch den Schock des Bildausfalls nahe. Vor allem hier führt der Aneignungsprozess, den Kierkegaards indirekte Mitteilung provoziert, zur Geburt des Autors aus der individuellen Lektürebewegung des Lesers. Forderte schon Novalis im 125. Blüthenstaub-Fragment, dass der Leser ein »erweiterter Autor« sein Zum sakramentalen Aspekt des Gezeichnetwerdens vgl. Giorgio Agamben, »Theorie der Signaturen«, in: ders., Signatura rerum. Zur Methode. Aus dem Italienischen von Anton Schütz, Frankfurt am Main 2009, S. 41–99, hier S. 56–63. 58 Vgl. Papirer X 4, A 458, zit. bei Hermann Deuser, »›Und hier hast du übrigens einen Widder.‹ Genesis 22 in aufgeklärter Distanz und religionsphilosophischer Metakritik«, in: Bernhard Greiner/Bernd Janowski/Hermann Lichtenberger (Hg.), Opfere deinen Sohn! Das »Isaak-Opfer« im Judentum, Christentum und Islam, Tübingen, S. 1–17, hier S. 14. 57
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müsse, 59 so wird diese rezeptionsästhetische Urszene durch Kierkegaards ironische Atopien – trotz und wegen der religiösen Wirkungsabsicht – zum Wegbereiter moderner Poetologien und Philosophien. 60 Denn diese schreiben sich nicht mehr von der autonomen Erhabenheitskonzeption des Idealismus her, sondern von jener heteronomen, nicht mehr tragikfähigen Schockerfahrung, welche die späte Anthropologie der Krankheit zum Tode (1849) weiter ausbuchstabieren wird.
Hans-Joachim Mähl/Richard Samuel (Hg.), Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, 3 Bde., Darmstadt 1999, Bd. 2, S. 470. 60 Vgl. Karl Heinz Bohrer, Die Kritik der Romantik. Der Verdacht der Philosophie gegen die literarische Moderne, Frankfurt am Main 1989, S. 62–72; Bohrer betrachtet Kierkegaards Werk als Initialzündung der klassischen Moderne und zieht u. a. Verbindungen zu Baudelaire, Nietzsche und den Avantgarden. 59
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Die Ethik des Paradoxen Impulse Kierkegaards für die Literatur Mathias Mayer
Die Geschichte eines Denkens, in dem paradoxe Muster eine zentrale Rolle spielen, ist ebenso umfassend wie komplex. 1 Sie ist von Heraklit bis Levinas vielfach dokumentiert und anspruchsvoll kommentiert, und es dürfte keine ernsthafte Darstellung geben, in der dem Beitrag und der besonderen Stellung Kierkegaards nicht eine herausragende Würdigung zuteil geworden wäre. Besonders die Tiefen wie die Höhenzüge der eigentlichen Kierkegaardforschung bleiben für ein literaturwissenschaftliches Interesse allenfalls aus respektvollem Abstand sichtbar, zumal wenn man auf die Vermittlung der Quellen durch Übersetzungen angewiesen ist. Soll aber dennoch hier aus einer so von vornherein begrenzten Perspektive ein Beitrag versucht werden, der sich einer Ethik des Paradoxen und den Impulsen Kierkegaards für die Literatur widmen wird, dann scheint es möglich, vielleicht drei Aspekte zu isolieren und ein Stück weit zu verfolgen: I. Es wäre zu prüfen, inwiefern die Geschichte paradoxen Denkens eine in letzter Zeit vielfach praktizierte Unterscheidung zwischen einem geschlossenen und einem eher offenen Ansatz, zwischen Moral und Ethik, ja inwiefern sie den Beitrag schärfen kann, den Kierkegaards Umgang mit dem Paradox dazu leistet. Das wäre ein eher systematischer Einstieg, der dadurch zu rechtfertigen ist, dass
Paul Geyer/Roland Hagebüchle (Hg.), Das Paradox. Eine Herausforderung des abendländischen Denkens, Tübingen 1992; Jürgen Landwehr, »Krebsgang oder Tigersprung in die Vergangenheit? Über einige Paradoxien im Umgang mit der Literatur und ihrer Geschichte«, in: Literaturgeschichte als Profession, hg. v. Hartmut Laufhütte, Tübingen 1993, S. 461–491; Peter Probst/Henning Schröer/Franz von Kutschera, Art. »Paradox, das Paradox(e), Paradoxie«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, Darmstadt 1989, S. 81–97; David Roberts, »Die Paradoxie der Form in der Literatur«, in: Probleme der Form, hg. v. Dirk Baecker, Frankfurt am Main 1993; Hans Sckommodau, Die Thematik des Paradoxes in der Aufklärung, Wiesbaden 1972; Josef Steilen, Der Begriff Paradox. Eine Begriffsanalyse im Anschluß an Sören Kierkegaard (Diss.), Trier 1974.
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das Paradox als Sprachfigur, als rhetorisches Verfahren kaum von literarischen Techniken abgekoppelt werden kann. II. Ein historischer Ansatz hingegen wird sich in einer synchronen Beobachtung auf die Frage richten, in welcher mentalitätsgeschichtlichen Situation um 1910 die Wahrnehmung Kierkegaards zu einem so bedeutsamen Phänomen der Moderne hat werden können. III. Schließlich wäre eine diachrone Linie zu entwickeln, die sich auf unterschiedliche Dimensionen und Stationen paradoxen Denkens im Schreiben bezieht und als deren Impulsgeber Kierkegaard beschrieben werden kann.
I. Das Paradoxon als Form sprachlichen Handelns greift auf negative Energien zurück: Seine Botschaft ist nicht als schlichte Aussage, als Setzung oder Affirmation möglich, sondern das Paradoxon setzt einen Einspruch, einen Widerstand; es reagiert auf etwas bereits Vorhandenes, dem es die harmlose Zustimmung entzieht. Insofern eignet der impliziten Dialogik des Paradoxons etwas Polemisches, denn indem es sich vom »Meinungswissen« absetzt, 2 offenbart es eine zunächst verborgene, unerkannt gebliebene Wahrheit. Als Demonstration des gerade Nicht-Selbstverständlichen, mithin einer anderen, einer dunklen Wahrheit nimmt das Paradoxon den Adressaten auf eine Weise in Anspruch, die ein erhebliches Maß an Differenzierung, an Ambivalenzbewusstsein voraussetzt. Sprachlich wird es in der Nähe der Ironie angesiedelt, also im Kontext doppelsinniger Rede, für die im Allgemeinen ein kindliches Gemüt nicht zu gewinnen ist. Das Paradoxon könnte insofern als eine postlapsale Erkenntnisform beschrieben werden, indem es den Verlust der Unschuld impliziert und diesen selbst, mit einer prägenden Form paradoxalen Denkens, als ›felix culpa‹ zu bewältigen versucht. Schon in der Antike, die den Terminus für befremdliche, überraschende, ungewohnte Sachverhalte eingeführt hat, kann man drei unterschiedliche Einsatzmöglichkeiten unterscheiden: Als eher harmloses Instrument einer rhetorischen Strategie, der es auf die Be2 M. Neumeyer, »Das Paradox«, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. v. Gerd Ueding, Bd. 6, Tübingen 2003, Sp. 516–524, hier Sp. 517.
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wegung, die Überraschung und schließlich die Überredung des Hörers ankommt, findet das Paradoxon vielfältigen Einsatz. Ein anderer instrumenteller Zusammenhang besteht dann, als zweite Möglichkeit, im Bereich der Logik, als Schauplatz kategorialen und kontradiktorischen Denkens, etwa wenn es darum geht, mittels der berühmten Paradoxien Zenons die für selbstverständlich erachteten Annahmen der Bewegung (mit Achill und der Schildkröte) oder der Unterscheidbarkeit von Wahrheit und Lüge (in: alle Kreter lügen) zu problematisieren. Daneben kann man aber einen dritten Fall paradoxalen Denkens beschreiben, in welchem es eben nicht als ein letztlich austauschbares Instrument unter andern gefasst wird, sondern als Resultat, als notwendiges Ergebnis eines anders nicht formulierbaren Denkprozesses. Die wohl schärfste Ausgestaltung einer solchen Unverzichtbarkeit des Paradoxons kann man in dem knappen Traktat des Dionysius Areopagita De Mystica Theologia finden, das vermutlich dem frühen 5. Jahrhundert nach Christus entstammt. Der biographisch nicht bezeugbare Verfasser, der sich nach einer Stelle der Apostelgeschichte als Schüler des Apostels Paulus bezeichnet, entwirft in dieser wirkungsmächtigsten seiner Schriften die entschiedenste Form einer negativen Mystik, die aus dem Paradoxen, ja aus einer wiederum paradoxen Selbstaufhebung des Paradoxen lebt. Im Unterschied zu seinen anderen Texten steigt hier, in der Mystischen Theologie, die Darstellung nicht vom Höchsten herab zum Niedrigsten, sondern »von unten her zum Transzendenten empor, und je weiter sie nach oben gelangt, um so mehr verringert sich ihr Umfang; ist das Ende jeden Aufstiegs erreicht, wird unsere Rede vollends verstummen und mit dem ganz einswerden, der unaussprechlich ist.« 3 Der mystische Prozess einer Annäherung an Gott wird zum paradoxen Verfahren eines Verstummens, einer Selbstaufhebung, die alle Widersprüchlichkeiten oder Antinomien als essentiell und zugleich nicht ausreichend erfährt: »Daß wir in diesem überlichten Dunkel weilen und im Nichtsehen und Nichterkennen den sehen und erkennen möchten, der
Pseudo-Dionysius Areopagita, Über die Mystische Theologie und Briefe. Eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Adolf Martin Ritter, Stuttgart 1994, S. 78; Alois M. Haas, »Mystische Erfahrung und Sprache«, in: ders., Sermo mysticus, 2. Aufl., Freiburg 1989, S. 18–36; Joseph Keller, »The Function of Paradox in the Mystical Discourse«, in: Studia Mystica 6 (1983), S. 3–19; Henning Schröer, Die Denkform der Paradoxalität als theologisches Problem, Göttingen 1960.
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unser Sehen und Erkennen übersteigt, (und zwar gerade) durch Nichtsehen und Nichterkennen – denn das bedeutet in Wahrheit Sehen und Erkennen –, darum bete ich«. 4 Die Radikalität, die Leidenschaftlichkeit eines solchen strukturell paradoxen Denkens wäre die eine, die Rede vom »Sprungbrett« bei Dionysius die andere Facette, die ihn für Kierkegaard wichtig erscheinen lässt. Auch für die Wahrnehmung Kierkegaards ist es nachher entscheidend gewesen, dass das Paradox nicht als eine stilistische Finesse seine Texte begleitet oder schmückt, sondern dass es als Keimzelle seines denkerischen Ansatzes fungiert. Es ist nicht weniger als »die Leidenschaft des Gedankens«, wie es in den Philosophischen Brosamen heißt, »und der Denker, der ohne das Paradox ist, der ist wie ein Liebhaber ohne Leidenschaft: ein mittelmäßiger Patron.« 5 Das Paradox steht dabei offenbar im Schnittpunkt einer existentiellen Erfahrung, denn im Unterschied zu anderen Sprachmustern philosophischer Wahrheitssuche ist das Paradox nicht »lehrbar«, es beweist nichts, es vermittelt keine Aussage: vielmehr verstößt es als Zumutung einer dunklen Wahrheit gegen jenes spießige Irrenhaus des Wahrscheinlichen, in dem die spezifische Erkenntnis des Christentums gerade nicht formuliert werden kann. Denn nur als Einspruch, als undogmatische »Existenz-Mitteilung«, 6 als historisches Ärgernis – für Römer, für Juden wie auch für die dänische Amtskirche des 19. Jahrhunderts – ist erfahrbar, dass das Unwahrscheinliche, das Gottmenschentum, Wirklichkeit geworden ist. 7 Das riskante Denken Kierkegaards setzt voraus, dass man eben die Wahrheit nicht wissen kann, 8 denn das würde sie als Besitz, als Lehre verfügbar machen und ihr damit den paradoxen Stachel nehmen. Die Nichtbeweisbarkeit dieser Wahrheit sichert sie einerseits vor der nivellierenden und phantasielosen Instrumentalisierung, macht aber auch andrerseits erforderlich, dass die Defizienz des Wahrscheinlichen durch den Sprung in den Glauben aufgefangen wird. Wenn Gott als Pseudo-Dionysius Areopagita, Über die Mystische Theologie und Briefe (Anm. 3), S. 76. 5 Sören Kierkegaard, Philosophische Brosamen – Unwissenschaftliche Nachschrift, hg. v. Hermann Diem und Walter Rest, München 1976, S. 48. 6 Ebd., S. 550. 7 Ebd., S. 65. 8 Sören Kierkegaard, Einübung im Christentum, hg. und eingeleitet v. Walter Rest, München 1977, S. 215. 4
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oberste Wahrheit nichts anderes ist, als »dass alles möglich ist«, 9 dann ist sein Gottmenschentum die für den Verstand unwahrscheinlichste Möglichkeit, die gerade deshalb nicht mehr mit den Mitteln von Verstand, Lehre oder Dogma begriffen werden kann, sondern ihr Asyl in der absurden Ungewissheit des Glaubens erfährt. Eben die Unwissbarkeit und Ungewissheit legitimieren den Glauben in seinem Sprungcharakter, der eben nicht logisch oder wahrscheinlich herbeigeführt werden kann. Der »Ritter des Glaubens«, hat sich, wie Abraham, dem Absurden gestellt. 10 Die schwerste Existenzprobe, die Kierkegaard daher dem Einzelnen, aber auch dem Christentum abverlangt, ist die paradoxe Erfahrung, die Unwahrscheinlichkeit nicht als Unmöglichkeit auszuschließen, die Unwahrscheinlichkeit auch nicht berechnend zu entschärfen, sondern sie als Gewissheit des Glaubens im Angesicht des Absurden zu akzeptieren. »Der Gott-Mensch ist das Paradox, absolut das Paradox; deshalb ist es selbstverständlich, daß der Verstand daran stillstehen muß«, heißt es in der Einübung im Christentum. 11 Damit erstreitet sich Kierkegaard seinen besonderen Platz in der Geschichte des paradoxalen Denkens, denn sein absolutes Paradox bezeugt das Scheitern des Verstandes als notwendigen Schritt einer nur asymptotisch möglichen Annäherung an die Wahrheit. Zu diesem Schritt sieht der Polemiker Kierkegaard die Kirche nicht mehr in der Lage, sie schafft mit der Nivellierung des Paradoxen geradezu das Christentum selbst ab 12 und setzt Gott damit dem Martyrium eines bloßen Verstandes aus: »Käme Christus jetzt zur Welt, so würde er doch vielleicht nicht getötet werden, sondern ausgelacht. Das ist das Martyrium in der Zeit des Verstandes«. 13 Hier rückt Kierkegaard in die Nähe von Dostojewskis Großinquisitor-Legende aus den Brüdern Karamasov bzw. von Nietzsches antichristlicher Polemik. 14 Paradox ist dieses moderne Martyrium Kierkegaards auch deshalb, weil es seine Wahrhaftigkeit nicht im Sieg oder im Triumph, Sören Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode, in: ders., Die Krankheit zum Tode. Furcht und Zittern. Die Wiederholung. Der Begriff der Angst, hg. unter Mitwirkung v. Niels Thulstrup v. Hermann Diem und Walter Rest, München 1976, S. 64. 10 Kierkegaard, Furcht und Zittern (Anm. 9), S. 226. 11 Kierkegaard, Einübung (Anm. 8), S. 110. 12 Ebd., S. 74. 13 Zitiert bei Joakim Garff, Sören Kierkegaard. Biographie, München/Wien 2004, S. 480. 14 Heinrich Detering hat versucht, das Christliche der antichristlichen Polemik zu rekonstruieren: ders., Der Antichrist und der Gekreuzigte. Friedrich Nietzsches letzte Texte, Göttingen 2010. 9
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sondern nur in der Schwäche und in der historischen Niederlage beglaubigen kann 15 – ja in der Unverständlichkeit oder Schwerverständlichkeit; statt in abstrakt-dogmatischer Lehrform ist die wahre Unwissenheit nur als Existenz lebbar, das Paradox also eine Existenzform, die sich jeder rhetorisch-didaktischen Instrumentalisierung entzieht. Gleichwohl besteht ein doch offenbar erheblicher Teil der Faszination Kierkegaards in der Schwierigkeit, diese Unvermittelbarkeit der Existenz im philosophischen Text zum Ausdruck zu bringen oder zu spiegeln. Dem dabei einschlägigen Modus des Indirekten eignet eine ethische Dimension, die nicht von seiner ästhetischen Formalisierung zu trennen ist. Das Paradoxon widersteht einer planen Erklärbarkeit, 16 d. h. es kann nicht direkt als Lehre propagiert werden, sondern es lässt sich nur indirekt vermitteln. Die Indirektheit als Respekt vor dem Offenen, dem Nicht-Systematischen, ist zwar nicht in einem nietzscheschen Sinne unmoralisch, aber doch außerhalb einer fixierten, berechenbaren Moral – sie ist ethisch im Sinne einer Reflexionstheorie von Moral. Kierkegaards Strategien der Fiktionalisierung und der Herausgeberschaft sind auf eine Relativierung der Autorinstanz hin angelegt, sie folgen einer Ästhetik der Reduktion, des Verzichts auf ein moralisches Herrschaftswissen. 17 Kierkegaards Schreiben ist ein vielfach reflektiertes, es versteht sich als eine Mitteilung »ohne Vollmacht«, als ethische Annäherung, nicht als moralische Dogmatik. 18 Das ebenso Außermoralische wie Ethische einer solchen paradoxen Mitteilung kommt in der Formel vom »hineintäuschen in das Wahre« zum Ausdruck. 19 Denn in der Konsequenz des Denkens vom Paradoxon aus liegt es, dass auch Kierkegaard die Unvermittelbarkeit der Wahrheit, die Unmöglichkeit der Lehre, respektieren muss: Was bei Sokrates oder Christus als ethischen Lehrergestalten beobachtet werden kann, nämlich dass sie als Einzelne wirken und weniger auf ihre unmittelbaren Schüler als auf diejenigen, die später leben, die sie nicht persönlich erlebt haben und doch ihnen glauben, diese ErKierkegaard, Einübung (Anm. 8), S. 205. Kierkegaard, Unwissenschaftliche Nachschrift (Anm. 5), S. 364 f. 17 Vgl. Helmut Fahrenbach, »Kierkegaards ethische Existenzanalyse als ›Korrektiv‹ der kantisch-idealistischen Moralphilosophie«, in: Materialien zur Philosophie Sören Kierkegaards, hg. v. Michael Theunissen und Wilfried Greve, Frankfurt am Main 1979, S. 216–240, hier S. 232–234. 18 WS, 10. 19 WS, 6. 15 16
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fahrung prägt Kierkegaards eigene Textstrategie: Sie versteht sich als Weg, nicht als Besitz der Wahrheit, und entsprechende Verfahren einer persönlichen Zurücknahme, einer nur indirekten Vermittlung, folgen einer paradoxalen wie ethischen Voraussetzung. Denn auch die sokratische Maieutik ist nicht als direkte Rede der Wahrheit organisiert, sondern als ein schrittweises Heranführen, das Kierkegaard mit dem Paradoxon von »hineintäuschen in das Wahre« zu einer Denkfigur modernen Schreibens erhebt.
II. Wenden wir uns nun von einer eher systematischen Bemühung zu einer historischen Rekonstruktion, dann mag es sinnvoll erscheinen, hier nicht Anfänge einer deutschen Kierkegaard-Rezeption Revue passieren zu lassen. 20 Gerade die Perspektive auf seine Auseinandersetzung mit dem Paradoxen und die ethische Konfiguration dieser Basis legen vielmehr die Frage nahe, welche mentalitätsgeschichtliche Umgebung die gründlichere Rezeption des Dänen vorgefunden hat. Dazu kann man die Erscheinungsjahre der ersten großen Ausgabe ansetzen, die von 1909 an unter der Regie von Hermann Gottsched und Christoph Schrempf im Eugen Diederichs Verlag erschien. Zehn der zwölf Bände lagen bis Kriegsbeginn bereits vor, die beiden letzten Bände konnten erst 1922 folgen. Dabei ist also nicht die kritische Würdigung dieser Ausgabe, die mir nicht zusteht, erforderlich, noch auch geht es um ihre reichhaltige Rezeption – sondern im Blick steht die Frage, welche Voraussetzungen die Leserschaft mitgebracht haben mag, um etwa Kierkegaards Ethik des Paradoxen aufnehmen und einordnen zu können. Mir scheint, man kann dabei eine Reihe von zeittypischen Beobachtungen zusammenstellen, die von sehr unterschiedlicher Seite her eine Sensibilität für die Ethik des Paradoxen wo nicht erwarten lassen so doch unterstützen. Die »harte Fügung« bezeichnet in der Altphilologie, besonders in der Pindarforschung, im Unterschied zur glatten Fügung eine sprachliche Eigenwilligkeit. Unter Rückgriff auf diese von Dionysos von Halicarnassus geprägte Formel beschreibt der Georgianer NorVgl. dazu die gründliche Studie von Christian Wiebe, Der witzige, tiefe, leidenschaftliche Kierkegaard. Zur Kierkegaard-Rezeption in der deutschsprachigen Literatur bis 1920, Heidelberg 2012.
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bert von Hellingrath in seiner 1911 publizierten Dissertation Pindarübertragungen von Hölderlin. Prolegomena zu einer Erstausgabe ein Phänomen der von der Hölderlinrezeption völlig vernachlässigten späten Texte, das zwar in den Übersetzungen Hölderlins aus dem Griechischen dingfest zu machen ist, aber weit darüber hinaus auch in seinem lyrischen Spätwerk Epoche macht. Insofern leistet der gerade einmal Dreiundzwanzigjährige einen zentralen Beitrag zur Entdeckung des fast unbekannten Hölderlin, wobei nun die Erfassung der harten Fügung eine Vorgehensweise beschreibt, die das Risiko des Dunklen, Gewaltsamen und Unverständlichen eingeht – mithin Momente ins Zentrum rückt, die aus Kierkegaards Profilierung des Paradoxen bestätigt werden können. 21 Insbesondere die Beschreibung der harten Fügung ist der Konstitution des Paradoxen verwandt: erstaunlichere satzgefüge: anakoluthe / bald prädicatlos hingestellte worte / in deren kürze ein satz zusammengedrängt ist / bald weitgespannte perioden / die zwei mal drei mal neu einsetzen und dann doch überraschend abbrechen: nur niemals die widerstandslose folge des logischen zusammenhangs / stets voll jähen wechsels in der construction und im widerstreit mit den perioden der metrik. 22
Die mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzende Hölderlin-Rezeption wäre insofern als Hintergrund der Affinität zum paradoxen Sprechen mit in den Blick zu nehmen. Eine dagegen radikal zeitgenössische Version der harten Fügung ist in einer spezifischen Sprachkunst des Expressionismus zu benennen: Zu den beliebten Eigenheiten eines von der Wirklichkeitszertrümmerung zeugenden Fragmentarismus gehört der sogenannte Reihenstil der expressionistischen Lyrik. In einem Brief vom Juli 1910 charakterisiert Georg Trakl, ein Jahr älter als Hellingrath, seine eigenen Texte, damals noch überwiegend in vierzeiligen Reimstrophen, als seine »bildhafte Manier, die in vier Strophenzeilen vier einzelne Bildteile zu einem einzigen Eindruck zusammenschmiedet«. 23 Trakl formuliert hier nicht weniger als den Ansatz einer Ästhetik des
Norbert von Hellingrath, Pindarübertragungen von Hölderlin, Jena 1911, S. 21, 22, 23. Vgl. dazu jetzt den Band: Norbert von Hellingrath und die Ästhetik der europäischen Moderne, hg. v. Jürgen Brokoff, Joachim Jacob und Marcel Lepper, Göttingen 2014. 22 Hellingrath, Pindarübertragungen (Anm. 21), S. 5. 23 Georg Trakl, Dichtungen und Briefe, hg. v. Walther Killy und Hans Szklenar, 3. Aufl., Salzburg 1974, S. 267. 21
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Paradoxen, die der Beobachtung geschuldet ist, dass es, so Trakl, »ein so namenloses Unglück [ist], wenn einem die Welt entzweibricht.« 24 Trakls dramatische Veränderung seiner lyrischen Sprache, die ihm in den wenigen Jahren bis zu seinem Tod 1914 gegeben war, ist dabei von einer radikalen Verschärfung solcher Kontraste geprägt, und dass er ein genauer Kenner der Hölderlinschen Lyrik war, spielt dabei eine wichtige Rolle. In seinem Umfeld, dem Innsbrucker Kreis um die Zeitschrift Der Brenner, setzte 1913 mit Theodor Haecker eine intensive Kierkegaarddiskussion ein, von der man annehmen muss, es aber nicht belegen kann, dass Trakl daran beteiligt war. Verse, die sein vorletztes Gedicht, Klage, beschließen, gehen dabei über die Dunkelheit und Unverständlichkeit des Paradoxen noch hinaus, indem sie polyphone Bildsegmente montieren, die nicht mehr semantisch nachvollziehbar sind und syntaktisch extrem offen konstruiert werden: »Schwester stürmischer Schwermut / Sieh ein ängstlicher Kahn versinkt / Unter Sternen, / Dem schweigenden Antlitz der Nacht«. 25 Dieses Gedicht war wie viele andere im Brenner erschienen, dessen ethische Orientierung für einen leidenschaftlichen Kierkegaardleser wie Ludwig Wittgenstein bedeutungsvoll war. Trakls Dichten, im Schnittpunkt von Erlösungsbedürftigkeit und Ausweglosigkeit, eignet ein hohes Potential ethischer Reflexion. Wenn auch Wittgenstein über eine, laut Helmut Fahrenbach, »eher untergründige und scheinbar abseitige Wirkungsgeschichte« mit Kierkegaard verbunden ist, 26 so hat er doch in Kierkegaard einen »Heiligen« und den tiefsten Denker des 19. Jahrhunderts geschätzt. 27 Die Unaussprechlichkeit und Nicht-Lehrbarkeit der Ethik, wie sie Wittgenstein bedenkt, 28 nähern ihn dem paradoxen Denken Kierkegaards an. Sie wird in diesen Jahren aber noch aus einer ganz anderen Quelle gespeist, die sozusagen literaturgeschichtlich und stilistisch aufs engste mit dem Paradox verknüpft ist; 1909 hatte Martin Buber Georg Trakl, Brief an Ludwig von Ficker, Nov. 1913, in: ebd., S. 311. Ebd., S. 94. 26 Helmut Fahrenbach, »Kierkegaards untergründige Wirkungsgeschichte (zur Kierkegaardrezeption bei Wittgenstein, Bloch und Marcuse)«, in: Die Rezeption Sören Kierkegaards in der deutschen und dänischen Philosophie und Theologie, hg. v. Wilhelm Anz, Poul Lübcke, Friedrich Schmöe, Kopenhagen/München 1983, S. 30–69, hier S. 32. 27 Ludwig Wittgenstein, Porträts und Gespräche, hg. v. Rush Rhees, Frankfurt am Main 1987, S. 130; Onno Zijlstra, Language, Image and Silence. Kierkegaard and Wittgenstein on Ethics and Aesthetics, Bern 2006. 28 Fahrenbach, »Kierkegaards untergründige Wirkungsgeschichte« (Anm. 26), S. 40. 24 25
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in Berlin die Ekstatischen Konfessionen herausgegeben, eine Sammlung mystischer Entgrenzungserfahrungen vom 6. Jahrhundert vor Christus bis in die Gegenwart. Buber war mit dem pantheistischen Chassidismus vertraut, aber sein eigenes Zentrum lag sicherlich nicht im Bereich der Mystik, deren kosmische Einsfühlung die Gesamtheit der Welt einschließen sollte. Der bedeutendste Roman des 20. Jahrhunderts, Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften, schöpft nicht nur seinen Titel aus den Anregungen Meister Eckharts, sondern die Musilphilologie konnte rund 300 Belegstellen nachweisen, an denen der Dichter auf Bubers Sammlung zurückgegriffen hat. 29 Wie im Fall Trakls gilt aber auch hier: Es kommt nicht auf vereinzelte Affinitäten moderner Autoren zum paradoxen Schreiben und zum ethischen Profil des Paradoxen an, sondern Trakl veranschaulicht eine für den Expressionismus typische Verfahrensweise, so wie Musils Interesse an der Mystik keine Ausnahme, sondern einen großen Zusammenhang vertritt, der auch an Rilke oder Handke gezeigt werden könnte. Die Zwillingsgeschwister Ulrich und Agathe legen sich aber in den sogenannten »Heiligen Gesprächen« in Musils Roman Rechenschaft ab über das utopisch-ethische Potential mystischer Paradoxie, denn sie treten als Leser der Mystiker auf und beobachten dabei folgendes: Sie sprechen von einer ungeheuren Ruhe, die den Leidenschaften entrückt ist. Einem Stummwerden. Einem Verschwinden der Gedanken und Absichten. Einer Blindheit, in der sie klar sehen, einer Klarheit, in der sie tot und übernatürlich lebendig sind. Sie nennen es ›Entwerden‹ und behaupten doch, in vollerer Weise zu leben als je: Sind das nicht […] dieselben Empfindungen, die man noch heute hat, wenn zufällig das Herz – ›gierig und gesättigt‹, wie sie sagen! – in jene utopischen Regionen gerät, die sich irgend- und nirgendwo zwischen einer unendlichen Zärtlichkeit und einer unendlichen Einsamkeit befinden?! 30
Musil war dann auch der Meinung, dass es nicht eigens der Wahrnehmung Kierkegaards bedurft hätte, um die für diese Zeit entscheidenden Spannungen zu erkennen: was Kierkegaard gesehen und gesagt hatte, lag sozusagen in der Luft. Diese Befunde ließen sich möglicherweise aus anderen Disziplinen stabilisieren, wenn etwa die Emanzipation der Dissonanz in der Dietmar Goltschnigg, Mystische Tradition im Roman Robert Musils. Martin Bubers »Ekstatische Konfessionen« im »Mann ohne Eigenschaften«, Heidelberg 1974. 30 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek 1978, S. 753. 29
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Musik vom Kierkegaardleser Adorno ins Zeichen einer Wahrhaftigkeit gestellt wird; oder wenn um 1909/10 in der bildenden Kunst die Entdeckung eines lange verschollenen Malers einsetzt, der mit seinen anti-klassizistischen, oftmals ekstatisch gelängten Figuren der expressionistischen Malerei Impulse zu geben vermochte. Der in Spanien als El Greco erfolgreiche Maler wurde 1912 in mehreren Ausstellungen in Deutschland als Vorläufer der Moderne gewürdigt – seine suggestive Farbgestaltung und die Nähe zur mystischen Entrückung sowie die biographisch bezeugte Sympathie für das Paradoxon rücken ihn, wollte man diese mentalitätsgeschichtliche Umgebung der Kierkegaard-Rezeption erweitern, in den vordersten Rang des Interesses. 31 Vielleicht kann man die Geschichte der Kierkegaardrezeption von hier aus in einem größeren Zusammenhang sehen, nämlich dass die Diskussion des Paradoxen in der dialektischen Theologie in Verbindung zu sehen ist mit jenen Brüchen und Verwerfungen, die die Zäsur des Ersten Weltkriegs als Erfahrung einer paradoxen Wirklichkeit zeigt: Expressionismus, Dadaismus und Existentialismus wären als Reaktionen zu beschreiben auf jene Zertrümmerung der Wirklichkeit, die ihre adäquate Form im Paradox gefunden hat. Der Maler Max Beckmann hat in einem Brief aus dem Feld 1915 geschrieben, dass »die Existenz des Lebens wirklich zum paradoxen Witz geworden« ist. 32
III. Wenn das Paradox nicht als stilistisches Phänomen allein, sondern als Ausdruck eines ethischen Einspruchs genutzt wird, liegt eine satirische Sicht auf die Dinge nahe. Im Mai 1914 hatte Hermann Broch im Brenner eine Besprechung von Houston St. Chamberlains KantMonographie veröffentlicht, die er unter die Überschrift Ethik stellte. 33 Darin rekonstruiert er eine nicht ganz selbstverständliche Gemeinsamkeit zwischen dem Satiriker und dem Mystiker, nämlich
31 Museum Kunstpalast Düsseldorf (Hg.), El Greco und die Moderne, Ausstellungskatalog, Ostfildern 2012. 32 Max Beckmann, Briefe im Kriege, München 1955, S. 60. 33 Hermann Broch, »Ethik. Unter Hinweis auf H. St. Chamberlains Buch ›Immanuel Kant‹«, in: Hermann Broch, Kommentierte Werkausgabe, hg. v. Paul M. Lützeler, Bd. 10/1: Philosophische Schriften I, Frankfurt am Main 1977, S. 243–249.
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in der Ablehnung des Ungeistigen und in der Vernichtung des Dogmatischen. Unter seinen Zeitgenossen sah Broch vor allem einen, der sich auf dieser Höhe bewegen konnte – den großen Satiriker Karl Kraus. 34 Adorno wird in Kierkegaard dann den Schutzpatron von Kraus erkennen, 35 der Texte des Dänen während des Krieges mehrfach öffentlich vorgelesen hat. 36 Der »tragische Karneval« seines Weltuntergangsstückes Die letzten Tage der Menschheit 37 ist als ethische Anklage der politischen Verlogenheit, Dummheit und Brutalität durch paradoxe Zuspitzungen geprägt, die vorwiegend mit der zentralen Figur des sogenannten Nörglers verknüpft sind. Vom Rand aus beobachtet und kommentiert er bissig das absurde Geschehen, darin seinem Autor nahestehend, aber eben ohne einen politisch-moralischen Ausweg aus dem Dilemma weisen zu können. Als ein kierkegaardnaher Einzelner, der nun gegen die christliche Presse und ihre Gewaltbereitschaft sich stellt, ist Kraus von seinen Anhängern wahrgenommen worden. Die Paradoxien des Nörglers liegen dabei in der Nähe von Kraus’ eigenen geschliffenen Aphorismen – »das ist doch kein Widerspruch, daß ich unseren Sieg fürchte und auf unsere Niederlage hoffe«: Hier wird mit einer subversiven Anti-Logik gearbeitet, die selbst politisches Potential hat, denn die Überlebensmöglichkeit dieser aufklärerischen Erkenntnisdramatik liegt einzig darin, dass der Henker diesen paradoxen Stil nicht versteht. 38 Der aus seinen zahlreichen Lesungen als höchste Autorität auch gefürchtete Autor weiß freilich das ethische Potential des Paradoxons mit seinem humorvollen Untergrund zu verbinden und klinkt sich in jenen oftmals spezifisch österreichisch gefärbten Zynismus ein, der von Nestroy bis zu Thomas Bernhard beobachtet werden kann. So antwortet der Nörgler auf die Frage des Optimisten »Was sagen Sie zu den Gerüchten?« mit dem Bonmot »Ich kenne sie nicht, aber ich glaube sie.« 39
Broch, Ethik (Anm. 33), S. 248. Theodor W. Adorno, »Sittlichkeit und Kriminalität«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 11: Noten zur Literatur, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1974, S. 367–387, hier S. 380. 36 Vgl. Vf., Der Erste Weltkrieg und die literarische Ethik. Historische und systematische Perspektiven, München 2010, S. 103. 37 Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog, in: ders., Schriften, 10 Bde., hg. v. Christian Wagenknecht, Bd. 10, Frankfurt am Main 1986, S. 504. 38 Ebd., S. 205. 39 Ebd., S. 590. 34 35
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Hermann Broch hat von der Satire als ethischer Kunst gesprochen und Karl Kraus dafür in Anspruch genommen, 40 als einen Einspruch gegen die Verkitschung und gegen die Lüge. Damit gewinnt die von Kierkegaard auf den Weg gebrachte Ethik des Paradoxen eine Energie, die verschiedene Stationen des 20. Jahrhunderts geprägt hat – hier wäre an Kafkas eher existentiellen als nur satirischen Umgang mit dem Paradox zu erinnern, oder auch an die utopisch-subversiven Aspekte des Fragmentarischen, des Nicht-Einverstandenseins in Adornos Ästhetischer Theorie. Aber statt einer immer lückenhaft und unbefriedigend ausfallenden Literaturgeschichte des Paradoxen im 20. Jahrhundert möchte ich stellvertretend einen Fall ins Zentrum rücken, der beispielhaft die Möglichkeiten des Paradoxen als des kritischen Einspruchs beglaubigen kann. Es geht mit Günter Eich, 1907– 1972, um einen der wichtigsten Autoren nach 1945, deren Werk sichtbar zu halten nicht selbstverständlich ist, aber gewichtig, weil es von einem hohen literarischen Verantwortungsbewusstsein getragen ist. Nach einer nicht ganz unproblematischen Rundfunktätigkeit während des Zweiten Weltkriegs wurde Eich zu einem der maßgeblichen Autoren der Gruppe 47, die sich nicht scheute, die Verbrechen der unmittelbaren Vergangenheit aufzuarbeiten. Eichs Mahnung zum Widerstand, zum Einspruch gegen neue Lebenslügen, kommt in der berühmten Formulierung aus dem Hörspiel Träume von 1950 zum Ausdruck: »Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!« 41 Die Hörspiele sind der wohl prominenteste Teil seines Werkes; besonders in den 50er Jahren hat er in dieser Form erhebliche und repräsentative Stücke verfasst, die sich mit Fragen der Identität und der Sprache (Die Andere und ich, Das Jahr Lazertis), mit den Verbrechen der Geschichte (Die Mädchen von Viterbo) oder auch mit den spezifischen Chancen des eigentlich blinden Mediums ›Hörspiel‹ auseinandersetzten, etwa im Blick auf Venedig. In seiner Dankesrede, nachdem er den Hörspielpreis der Kriegsblinden erhalten hatte, geht Eich schon von kulturgeschichtlich etablierten Paradoxien aus, die er gesellschaftskritisch und ethisch reformuliert. Angesichts enormer medialer und technischer Erweiterungen ist Eich dennoch
Hermann Broch, »Das Weltbild des Romans. Ein Vortrag«, in: ders., Kommentierte Werkausgabe, Bd. 9/2: Schriften zur Literatur 2, Frankfurt am Main 1975, S. 89–118, hier S. 96. 41 Günter Eich, Gesammelte Werke in vier Bänden, revidierte Ausgabe, hg. v. Axel Vieregg und Karl Karst, Frankfurt am Main 1991, Bd. 2, S. 384. 40
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der Ansicht, »als würde der Mensch blinder, je mehr er sieht« und an zusätzlichen Möglichkeiten sich aneignet. 42 Er nimmt allenthalben einen Zug zum Totalitären wahr, einen nur mechanischen Segen, der aber letztlich die Werte entleert hat. Mit dem Hörspiel gewinnt er ein Instrument, um über all das auszusagen, »was uns bewegt«, und zu verhindern, dass die Erde »endgültig zum Konzentrationslager« gemacht wird. Überraschend ist dabei die programmatische Forderung, es komme darauf an, dass »alles Geschriebene sich der Theologie nähert«: Dabei geht es nicht um Affirmation oder Predigt, sondern um die Aufforderung zur Beunruhigung, zur Komödie, zur Posse, – um die immer nur approximativ mögliche Annäherung an jene verlorene Ursprache, den magischen Zustand der Schöpfung, als Wort und Ding noch identisch waren. Aus dieser uns nicht verfügbaren Sprache gelte es zu übersetzen. 43 Eine moderne Poetik also des Fragmentarischen, die der Unvollkommenheit der menschlichen Existenz Rechnung trägt und sie daher unter die Perspektive des Theologischen wie des Ethischen stellt. Als Sand im Getriebe der Welt geht es um den Einspruch gegen die schlechte Welt, um eine Kritik der Macht mit den Mitteln einer Sprache, die immer nur Übersetzung sein kann. Damit ist indes eine ethisch-ästhetische Verpflichtung zur Veränderung impliziert, denn angesichts des verlorenen Urtextes gibt es für uns keine klar fixierte Wirklichkeit mehr, sondern das Schreiben wird für Eich – wie auch für Celan, Bachmann, Aichinger oder Kaschnitz – zum Versuch, sich »in der Wirklichkeit zu orientieren […] Erst durch das Schreiben erlangen für mich die Dinge Wirklichkeit. Sie ist nicht meine Voraussetzung, sondern mein Ziel.« 44 Diese Poetik steht im Zeichen einer, so könnte man sagen, negativen Theologie, wenn man eine Aufzeichnung Eichs zur Hand nimmt. »Vermutlich gibt es Sünden«, schreibt er 1959, »die nicht als Sünden erkannt sind. Zum Beispiel die, Gott anzunehmen, wie er ist. Er will verändert werden.« 45 Es war daher schon eine Vermutung der Zeitgenossen, dass Eichs Hörspielwerk durch einen »protestantischen Geist« ausgezeichnet sei, ja, »daß diese Dichtungen ohne Kierkegaard überhaupt nicht denkbar« seien. Eich wollte sich darauf nur bedingt einlassen, er berief sich auf das Protestantische nur im Sinn des Protestierens, und 42 43 44 45
Günter Eich, op. cit., Bd. 4, S. 609. Ebd., S. 611 f. Günter Eich, »Der Schriftsteller vor der Realität«, in: ebd., S. 613. Ebd., S. 372.
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seine Kenntnis von Kierkegaard sei »relativ gering«, der natürlich, so Eich weiter, »auf hundert andere Weisen auch auf mich gewirkt haben kann, ohne daß ich ihn etwa direkt gelesen hätte.« 46 Dieser Hinweis scheint mir durchaus ausreichend – eine positivistische Quellenjagd muss nicht angestellt werden, um sagen zu können, dass Eich mit dem Elan einer ethischen Poetik des Paradoxen auf der Spur Kierkegaards geschrieben hatte. Seine zunehmend verknappte und lakonischer werdende Dichtung der 1960er Jahre riskiert immer radikaler den Widerspruch bis hin zum Absurden, manchmal fast Kalauerhaften. In dem aus lauter Einzeilern bestehenden Gedicht Formeln heißt es etwa einmal: »Was ich weiß, geht mich nichts an«, 47 um eine Poetik der Offenheit und Fragwürdigkeit, der Besitzlosigkeit zu beschreiben, die Kierkegaards Risiko des Ärgernisses fortführt. Eine Steigerung bieten darin noch einmal die nach 1968 erst veröffentlichten Maulwürfe, kleine und heikle Prosatexte am Rande des Absurden, bewusst als Grenzfälle eines nur begrenzt verständlichen Zynismus eingesetzt. Der als Initialgeschichte veröffentlichte Text über Hilpert beginnt mit der kalauernden Formulierung: »Hilperts Glaube an das Alphabet verhalf ihm zu der Entdeckung, daß auf die Erbsünde die Erbswurst folgt.« 48 Der in sich sehr raffinierte und komplexe Text, der einen recht hintergründigen mathematischen Horizont aufweist, greift auf eine besondere Weise auf die Biographie Kierkegaards bzw. seines Vaters zurück, indem von Hilpert Folgendes berichtet wird: »Seine einzige Reise hatte ihn der Erbsünde wegen nach Jütland geführt. Dort besichtigte er die berühmten Steine, auf die der Schafhirt Michael Pedersen Kierkegaard geklettert war und Gott verflucht hatte. Diese Reise ist für unsern Glauben ähnlich wichtig wie die Hedschra für den Islam«. 49 Hier wird deutlich: Die protestierende, subversive, ethische Potenz des Paradoxen wird bis in die Nähe des Absurden ausgereizt – sie beruft sich aber dafür auf den Ausgangspunkt bei Kierkegaard, und ausgerechnet auf jenes Fanal eines theologischen Nicht-Einverstandenseins, das Kierkegaard ein Leben lang begleitet und belastet hat. 50
Günter Eich, »›Ich lebe mehr vom Ohr als vom Auge her‹. Interview von Gerd Koogmann und Klaus Schöning, 1964«, in: ebd., S. 493–501, hier S. 499. 47 Günter Eich, op. cit., Bd. 1, S. 175. 48 Günter Eich, »Kulka, Hilpert, Elefanten«, in: ebd., S. 307–317, hier S. 310. 49 Ebd., S. 311. 50 Vgl. Garff, Sören Kierkegaard (Anm. 13). 46
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Die Sprach- und Denkfigur des Paradoxen erfährt daher in der engagierten Literatur des 20. Jahrhunderts eine Zuspitzung im Sinne besonderer Wahrhaftigkeit, die das ethische Potential dieses kritischen Sprechens nicht der Philosophie überlässt, sondern die Kierkegaards ethisches Schreiben als eine literarische Ethik sichtbar werden lässt. Kierkegaard kann dafür als Kronzeuge und Stichwortgeber in Anspruch genommen werden. Das hier schon mehrfach besprochene »Hineintäuschen in das Wahre« ließe sich als eine Theorie der Fiktionalisierung fassen, die keinen moralisch geschlossenen, sondern einen ethisch offenen Horizont aufspannt: Denn Kierkegaards zweites Argument, sein sokratisches, wenn man so will, ist von der Überzeugung getragen, dass die Wahrheit nicht lehrbar, nicht direkt mitteilbar ist, dass es also eines indirekten Verfahrens bedarf. Darin liegt insofern ein ethisches Profil dieser von ihm inspirierten Literaturtheorie, als das Indirekte sich der Erkenntnis verdankt, dass jeder Text nur eine asymptotische Annäherung sein kann. Ein ethisches Verständnis von Literatur bedeutet keinen Rückfall in eine moralische Instrumentalisierung, sondern literarische Ethik ist die mit Mitteln der Literatur gespeiste Reflexion von Wertsetzungen und -handlungen. Als Reflexion ist diese ethische Theorie aber nicht auf einen obersten Wert rückführbar, sondern sie ist gerade dem Fehlen eines solchen obersten Wertes verpflichtet. »Rein ethisch«, sagt Robert Musil, sei identisch mit »es gibt keinen letzten Wert«. Sören Kierkegaard, wie mir scheint, ist zwar innerhalb eines christlichen Horizontes zu sehen, aber von der subversiven Überzeugung getragen: »Wahrheit kann nicht gewußt werden«. 51 Damit kommt aber ein utopisches, ein kritisches Potential zum Ausdruck, das in der Moderne vielfach auf das Paradox zurückgegriffen hat. Insofern stellt Kierkegaards Ethik des Paradoxen einen höchst gewichtigen Beitrag zu einer ethisch profilierten Literaturtheorie dar.
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Kierkegaard, Einübung (Anm. 8), S. 215.
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III. Rezeption in Literatur und Wissenschaft
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Kierkegaards Selbstverständnis – ignoriert, adaptiert, transformiert, korrumpiert Versuch einer Typologie der literarischen Rezeptionen um 1910 Christian Wiebe
Der französische Literaturwissenschaftler Gérard Genette hat in seinem vielzitierten Buch Palimpseste versucht, die Beziehungen zwischen Texten zu klassifizieren. 1 Die Parodie ist das geläufigste Beispiel seiner Typologie. Alle Schwierigkeiten, die solche Klassifikationssysteme mit sich bringen, lassen sich bei Genette studieren, womit selbstverständlich nichts gegen den Wert seiner Überlegungen gesagt ist. Genette entwirft ein sehr feines System, um den vielfältigen Phänomenen der Bezüge zwischen mindestens zwei Texten gerecht zu werden. Das führt so weit, dass mitunter Nuancen des Tons den zu untersuchenden Text unter eine andere Kategorie fallen lassen. Intermodale Transmodalisierungen und diegetische Transpositionen: Man denkt an Kierkegaards Ausführungen zum System. Ein System des Daseins könne nicht gegeben werden, da das Dasein nicht abgeschlossen vor uns liegt. Mit einem resignativen Blick auf Genette kann auch kein System der Kunst gegeben werden. Das berührt ein grundsätzliches Problem: Die Systematisierbarkeit von komplexen Beziehungen zwischen Texten. Wie gut kann historisches Material überhaupt auf eine systematisch festgelegte Klassifikation passen? Dieses Problem wird in meinem eigenen Typologie-Versuch, sobald ich von meiner Klassifikation zu den Beispielen schreite, augenblicklich akut. Jeder Autor, jeder Text, den ich im Folgenden in den Blick nehmen werde, überschreitet in gewisser Weise den Rahmen, den ich durch die Klassifikation zu stecken glaube. Das Problem der Kategorisierbarkeit ließe sich mit Blick auf die kanonischen Autoren noch verschärfen, wenn man den Standpunkt einnehmen wollte, dass Kunst grundsätzlich nicht kategorisierbar sei, sondern sich gerade durch ihre Einmaligkeit auszeichne. Jede Klassi1 Gerard Genette, Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, aus d. Franz. v. Wolfram Bayer u. Dieter Hornig, Frankfurt am Main 1993.
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fikation ginge dann am Wesentlichen vorbei und wäre damit letztlich entbehrlich. Da nun eine konkrete Fragestellung vorliegt, auf die hin die Klassifikation vorzunehmen ist: nämlich die Rezeption der Idee des religiösen Schriftstellers Sören Kierkegaards, scheint mir dieser grundsätzliche Einspruch nicht zu greifen. Mit der konkreten Fragestellung ist aber zugleich ein zweites, schwerwiegendes Problem berührt. Um die Rezeption der Idee des religiösen Schriftstellers nachvollziehen und gewichten zu können, ist ein Verständnis dieser Idee des religiösen Schriftstellers bei Kierkegaard notwendig. Diese Idee ist allerdings nicht einfach zu haben. Wie lässt sich nun entscheiden, ob die Idee Kierkegaards adaptiert oder korrumpiert wurde, ohne präzise anzugeben, was diese Idee sei? Und zugleich verdoppelt sich das Problem im Blick auf die Rezeptionsgeschichte: Denn welche Idee des religiösen Schriftstellers ist um 1910 überhaupt denkbar und rezipierbar? Um nicht ständig hinter den Stand der Forschung zurückzufallen und dementsprechend die Definition umschreiben zu müssen, schlage ich eine Minimal-Definition vor: Die Idee des religiösen Schriftstellers bei Kierkegaard entspricht dem Bestreben, das eigene Werk als ein religiöses zu verstehen. Dann liegt eine Rezeption dieser Idee vor, wenn der Rezipient dieses Bestreben Kierkegaards wahrnimmt, das eigene Werk als ein religiöses zu verstehen. Damit sind die Probleme der Selbstdeutung und Fremddeutung, die Veränderung dieser Deutung und entsprechend des Werks alle eingeschlossen. Es gilt nur die Maßgabe, dass Kierkegaard sich selbst als einen religiösen Schriftsteller ansah. Das heißt, es sind ganz unterschiedliche Rezeptionen innerhalb eines Typs denkbar. Diese Minimaldefinition wird bei den konkreten Beispielen wiederum zu Schwierigkeiten führen, aber sie erlaubt zunächst einen Anfang. Vier Typen sollen nun unterschieden und definiert werden: 1) Die Idee des religiösen Schriftstellers wird ignoriert: Bedingung (auch diesen Falles) ist, eine Kierkegaard-Rezeption liegt vor. Also nicht Kierkegaard wird ignoriert, sondern er als religiöser Schriftsteller. Das bedeutet, Kierkegaards Selbstverständnis als religiöser Schriftsteller spielt für die Rezeption keine Rolle. Das könnte nun mindestens zwei Gründe haben: Erstens, die religiösen Schriften Kierkegaards, seine Religiosität wird überhaupt nicht wahrgenommen. Das ist um 1900 immerhin denkbar, das Wissen über Kierkegaard ist gering; eine Lektüre, die sich bei264 https://doi.org/10.5771/9783495820506 .
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spielsweise ganz auf das Tagebuch des Verführers 2 beschränkt, könnte von der Religiosität Kierkegaards tatsächlich absehen. Eine zweite Möglichkeit: Kierkegaards Religiosität könnte gezielt ignoriert werden bzw. darüber hinweggegangen werden, weil sie für die eigene Kierkegaard-Rezeption gar keine Rolle spielt, nicht einmal als Negativfolie. Es liegt eine Adaption vor, wenn Kierkegaard als religiöser Schriftsteller rezipiert wird und diese Idee auf die eigenen Bedingungen bezogen wird. Kierkegaards Idee des religiösen Schriftstellers wird genutzt, um das eigene Verständnis (bzw. Selbstverständnis) des religiösen Schriftstellers zu denken und zu überdenken. Dabei wird Kierkegaards Idee allerdings als seine Idee stehengelassen, was zum Beispiel bedeutet, dass Differenzen markiert werden. Eine Voraussetzung, die hier unter der Hand mitgeht, ist, dass die Rezipienten sich selbst als religiöse Schriftsteller begreifen. Kierkegaards Idee des religiösen Schriftstellers wird transformiert, wenn diese Idee rezipiert und so angepasst wird, dass sie besser zu dem eigenen Verständnis passt. Der Unterschied zu der Adaption auf den Punkt gebracht: Dort wird das eigene Verständnis bzw. Selbstverständnis überdacht und ggf. angepasst, hier wird Kierkegaards Verständnis bzw. Selbstverständnis angepasst. Es findet eine Transformation der Idee des religiösen Schriftstellers statt, Kierkegaards Idee ist nicht mehr dieselbe. Die Trennung zwischen einer Adaption und einer Transformation, wie sie hier vorgeschlagen ist, soll idealtypisch die Unterschiede ans Licht bringen. Selbstverständlich gilt: Es gibt keine Transformation der Ideen, wenn nicht auch eine Adaption vorliegt. Die Adaption bestimmter Elemente ist die Voraussetzung jeder Rezeption. Korrumpiert möchte ich schließlich, in Anlehnung an das Verständnis bei Handschriften, diejenigen Rezeptionen nennen, die die Idee des religiösen Schriftstellers so sehr verändern, dass sie als Kierkegaards Idee kaum noch lesbar ist. Nur der historische Wissenschaftler kann in seiner Rekonstruktion zeigen, dass hier
1903 erschien »Das Tagebuch des Verführers« selbständig im Insel-Verlag; vgl. Sören Kierkegaard, Das Tagebuch des Verführers, übers. v. Max Dauthendey, Leipzig 1903.
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eigentlich eine Kierkegaard-Rezeption zugrunde liegt, diese ist aber in ihrer Gestalt stark verfremdet. Wiederum gilt, dass de facto bestimmte Elemente adaptiert und transformiert werden. Der Typ der Korrumption sollte hier möglichst klar umrissen werden, ohne damit zu behaupten, dass er so ausschließlich vorkomme. Andere Typen ließen sich hinzufügen. Diese Typologie ist nicht erschöpfend für den gesamten Bereich denkbarer und tatsächlicher Rezeptionen. Mit Blick auf die literarische Kierkegaard-Rezeption um 1910 reichen diese vier Typen hin. 3 Im Folgenden wird nun jeweils ein Beispiel angeführt. 1) ignoriert: Für das Thema des religiösen Schriftstellers ist dieser Typ eher uninteressant, oder nur insofern sich zeigen ließe, aus welchen Gründen, mit welchen Absichten und Konsequenzen die Idee des religiösen Schriftstellers ignoriert wird. Zu solch einer differenzierten Untersuchung tragen die Beispiele aus der Zeit um 1910 leider nur wenig bei. Als Beispiel für den Typ des ›Ignorierens‹ möchte ich Eduard von Keyserling anführen. Seine Kierkegaard-Rezeption kann für diese Zeit leicht an einem Essay nachvollzogen werden. 1907 veröffentlicht Keyserling in der Neuen Rundschau einen Essay mit dem Titel Über die Liebe. 4 Viel Zeittypisches findet sich in diesem Text, so der emphatische Begriff des Lebens. Horst Thomé, der den Essay ausführlich interpretiert hat, zeigt vor allem Parallelen zu den Überlegungen Ernst Machs auf. 5 Worum geht es in diesem Text? Der Mensch, so Keyserlings These, strebe danach, ein »Mehr an Leben« 6 zu erlangen. Er will über die Beschränkungen des eigenen, einzelnen Lebens hinausgelangen. Das Leben ist nicht einfach gegeben, sondern ein emphatischer Begriff. Es ist denkbar, mehr oder weniger Leben zu haben, und zwar als ein qualitativer Begriff, nicht im Sinne einer längeren Lebensspanne: Die Kierkegaard-Rezeption für diese Zeit habe ich dargestellt in: Verf., Der witzige, tiefe, leidenschaftliche Kierkegaard. Zur Kierkegaard-Rezeption in der deutschsprachigen Literatur bis 1920, Heidelberg 2012. 4 Eduard von Keyserling, »Über die Liebe«, in: Die Neue Rundschau 18 (1907), Bd. 1, S. 129–140. 5 Horst Thomé, Autonomes Ich und ›Inneres Ausland‹. Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848–1914), Tübingen 1993, hier S. 520. 6 Keyserling, »Über die Liebe« (Anm. 4), S. 131. 3
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Das Ich drängt über die Beschränkung seiner Einzelheit hinaus, der Kampf gegen die Einzelheit ist der Hauptinhalt seines Lebens und Besitz, Macht, Wissenschaft, Kunst sind die Waffen in diesem Kampf. Die entscheidende Waffe aber ist die Liebe, denn, was wir durch sie ergreifen, erhält Körper und Wesenheit. 7
In diese Idee der Liebe, die ein ›mehr an Leben‹ erlangen kann, fügt Keyserling nun unterschiedliche Konzepte ein, so schlägt der christliche Heilige seine Umgebung seinem eigenen Ich dazu – und zwar durch die Liebe. Er hat einen Bruder Wind, eine Schwester Schwalbe; indem er die Schöpfung Gottes liebt, hat er an diesem Leben Anteil. Keyserling schreibt: So ist der Heilige nie allein und nie verlassen, seine Wirklichkeit grüßt brüderlich die Wirklichkeit, die ihn umgibt, denn er und nur er besitzt die wirklichste der Welten. Der Schöpfer aber dieser wirklichsten der Welten ist wieder Eros. 8
Das ist eine fundamentale Uminterpretation des Religiösen bzw. des nun Nicht-mehr-Religiösen. Der Heilige, der dem Gebot der Liebe folgt, folgt dabei auch dem Drang, sein eigenes Ich zu erweitern oder besser gesagt, am Leben mehr Anteil zu gewinnen. Für den Heiligen besteht die Religiosität weiterhin – und Keyserling will sie überhaupt nicht in Abrede stellen –, doch aus dieser Außenperspektive ist von Religiosität kaum mehr zu reden. Wozu braucht Keyserling nun in diesem Zusammenhang Kierkegaard? Er bezieht sich vor allem auf Kierkegaards Don Juan, auf seine Überlegungen zu Sinnlichkeit und Liebe. Don Juan will am Leben Anteil haben, seine Eroberungen sind die Jagd nach Leben in verschiedener Form: Die Frau als solche wolle Don Juan besitzen, meinte Kierkegaard. Keyserling korrigiert: Er wolle gerade jede unterschiedliche Individualität, jede Form des Lebens sich in der Liebe aneignen, die Nonne wie das Dorfmädchen. 9 Kierkegaards Religiosität, das wird deutlich, spielt bei solch einer Rezeption kaum eine Rolle. Auch für die literarischen Texte Keyserlings lässt sich hieran anschließen, dort, wo Kierkegaards Texte ins Spiel kommen, sind es die Verführer und Ästheten, die Eduard von Keyserling interessieren, nicht eine ernste Religiosität. Ebd., S. 140. Ebd. 9 Vgl. ebd., S. 136; und vgl. EO1, v. a. S. 90 ff. Ob Keyserling es sich an dieser Stelle mit Kierkegaards Auffassung vielleicht etwas zu leicht macht, wäre zu prüfen. 7 8
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2) adaptiert: Zahlreiche Beispiele ließen sich nun anführen, in denen Kierkegaards Idee des religiösen Schriftstellers adaptiert wird. Ich nehme nun nicht das literarisch beste, es ließe sich zum Beispiel an Franz Kafka denken, sondern dasjenige, das am Genauesten in die vorgeschlagene Klassifikation passt: Carl Dallago. Dallago ist vor allem als Autor der Zeitschrift Der Brenner bekannt. Über einen längeren Zeitraum kann er als ein wichtiger, oder gar als Hauptautor, des Brenners gelten. Anders als die literaturgeschichtliche Bedeutung Carl Dallagos ist die des Brenners unumstritten. Der Brenner war die wichtigste expressionistische Zeitschrift Österreichs. Dallago kommt durch Theodor Haecker – auf den weiter unten eingegangen wird – mit Kierkegaard in Berührung. Seine Begeisterung ist groß und die überaus wohlwollende Rezension zu Haeckers Kierkegaard-Buch, die sich über drei Ausgaben hinzieht, wurde von der Forschung zur Kenntnis genommen. 10 Diese Schrift soll nun nicht im Zentrum der Untersuchung stehen, sondern Dallagos Der Christ Kierkegaards, der aufgrund des Krieges erst 1922 erscheint, 1914 geschrieben wurde. 11 Dallago beginnt den Text: »Ich hatte geglaubt, das Christentum hinter mir zu haben; nun sehe ich, daß ich es vor mir habe, von Kierkegaard mir in den Weg gestellt.« 12 Dallago, der sich selbst als ein religiöser Schriftsteller begreift, aber eben nicht, oder nicht mehr als Christen, sieht sich durch Kierkegaard herausgefordert, sich erneut, durch Kierkegaard vermittelt, mit dem Christentum auseinanderzusetzen. Die Blickrichtung ist eindeutig: Dallago sieht seine eigene Position als problematisch an, da er Kierkegaards Schriften kennengelernt hat. Nun will er sich Klarheit verschaffen. Er will gar nicht zuerst Kierke-
Zu Carl Dallago vgl. bes. Maurizo Pirro, »Die Natur als zivilisationskritische Projektionsfläche im essayistischen Werk Carl Dallagos«, in: ders./Marina Marzia Brambilla (Hg.), Wege des essayistischen Schreibens im deutschsprachigen Raum (1900– 1920), Amsterdam/New York 2010, S. 71–91; vgl. ferner Michele Nicoletti, »Dallago und die Politik«, in: Karin Dalla Torre u. a. (Hg.), Carl Dallago. Der große Unwissende, Innsbruck 2007, S. 125–136; Luca Cristellon, »Dallago und Kierkegaard«, in: Karin Dalla Torre u. a. (Hg.), Carl Dallago, op. cit., S. 207–220. Cristellon wirft Dallago in Bezug auf Kierkegaard eine ›Plünderaktion‹ vor. Dem muss von der vorliegenden Untersuchung her widersprochen werden. ›Plündern‹ trifft nicht den Sachverhalt der subjektiven Aneignung, den Dallago immer wieder selbst reflektiert, wobei er eben seine Quellen nennt. 11 Carl Dallago, Der Christ Kierkegaards (1914), Innsbruck 1922. 12 Ebd., S. 5 (Hervorhebung im Original). 10
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gaard vorstellen, dessen Position, sondern zielt immer schon auf sein eigenes Verständnis von Religiosität und Christentum. Er geht nun in seinem Essay sehr redlich mit seinen Quellen um, viel gewissenhafter als das für einen Essay der 1910er Jahre zu erwarten ist. Er nennt die Schriften, die er von Kierkegaard kennt und welche er noch nicht zur Kenntnis genommen hat, auch eine Biographie, auf die er sich beruft, ist genannt. 13 Mit dem Titel der Schrift Der Christ Kierkegaards ist bereits die Nähe zur Idee des religiösen Schriftstellers angedeutet. Dallago bringt sein Verständnis der Schriften Kierkegaards in dieser Hinsicht auf den Punkt: Denn in der Darlegung und Durchleuchtung des Begriffes »der Christ« erreicht wohl Kierkegaards ganze Produktion, die er selber als eine zusammenhängend religiöse betrachtet wissen will, ihren Höhepunkt und zugleich ihre größte Tiefe. 14
Die Selbstdeutung Kierkegaards, die Dallago hier wiedergibt, und seine eigene Deutung fallen zusammen. Kierkegaard ist der religiöse Schriftsteller und gerade hier entspringt das größte Interesse an ihm. In seinem Text zeichnet Dallago nun verschiedene Aspekte des ›Christen‹ bei Kierkegaard nach, und er versucht immer wieder seine eigene Übereinstimmung oder seinen eigenen Abstand zu diesen Überlegungen zu bestimmen. Es ist somit ein ganz subjektiver Versuch der Aneignung, aber als solcher eben ganz deutlich gekennzeichnet. Der zentrale Unterschied zwischen seiner eigenen Auffassung des religiösen Schriftstellers und Kierkegaards ist, Dallago zufolge, der: Kierkegaard greift in seinen späten Schriften die dänische Landeskirche an, das Christentum sei dort nicht zu finden. 15 Es gibt eine Differenz zwischen rechtem Glauben und verfälschtem Glauben, der dann eigentlich Nicht-Glaube ist. Diese Differenz aufzuzeigen und auf das ›wahrhaft Religiöse‹ hinzudeuten, sei, so Dallago, die große Leistung des Schriftstellers Kierkegaard. Dallago geht dieser Angriff nicht weit genug, zielt nicht grundsätzlich genug: Es ersteht nun die Frage: Warum vermeidet es ein Geist wie Kierkegaard, der das Religiöse in so außerordentlicher Weise lebendig zu machen ver-
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Vgl. ebd., S. 7 f. Ebd., S. 6. Hierzu und zum Folgenden vgl. ebd., bes. S. 55 ff.
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stand, seinen Angriff direkt gegen die Kirche zu richten, gegen jede Kirche, gegen die Kirche als solche. 16
Für Carl Dallago steht der religiöse Schriftsteller per se außerhalb der Kirche, denn Kirchenchristentum könne als Institution überhaupt nicht auf das wahrhafte Religiöse aufmerksam werden, das sich immer außerhalb von Institutionen zeige. Dallago adaptiert Kierkegaards Verständnis hier, um seinen eigenen Ansatz des religiösen Schriftstellers noch deutlicher werden zu lassen; die Differenzen zu Kierkegaard dürfen ruhig stehen bleiben. 3) transformiert: Bei der Transformation ist nun der entscheidende Unterschied zur Adaption, dass diese auf Kierkegaard selbst zielt. Zwei Namen, die sich um 1910 in großem Maße um die Verbreitung der Ideen Kierkegaards verdient gemacht haben, sind hier schnell bei der Hand: Christoph Schrempf und Theodor Haecker. Für beide gilt: Sie haben Kierkegaard auf vielfältige Weise einem Publikum überhaupt erst vorgestellt, sie haben wichtige Texte über den Dänen verfasst, sie haben Übersetzungen angefertigt – aber sie haben auch Kierkegaards Ideen – und oft sehr gezielt – den eigenen Überlegungen angepasst. Christoph Schrempf scheint nun durch die Forschungen, die diesen Umstand klar herausstellen, immer mehr ins Abseits der Kierkegaard-Rezeption zu rücken. Vor allem auch, weil seine Übersetzungen teilweise mitbetroffen sind. 17 Doch auch für Theodor Haecker gilt, dass er seine Kierkegaard-Rezeption immer wieder in den Dienst seiner kulturkritischen Absichten nimmt. 18 Auch seine Übersetzungen sind, wenngleich oft präzise und von großer literarischer Qualität, immer wieder sehr forciert in bestimmte Zusammenhänge gebracht, bei Haecker sind dies kulturkritische Zusammenhänge. Das beste Beispiel ist vielleicht seine Übersetzung der En literair
Ebd., S. 61 (Hervorhebungen im Original). Vgl. Gerhard Schreiber, »Christoph Schrempf: The ›Swabian Socrates‹ as Translator of Kierkegaard«, in: Jon Stewart (Hg.), Kierkegaard’s Influence on Theology, Tome 1: German Protestant Theology, Farnham/Burlington 2012, S. 275–319; Gerhard Thonhauser, »Christoph Schrempfs Tätigkeit als Übersetzer und Interpret Søren Kierkegaards«, in: Kierkegaard Studies. Yearbook 2011, S. 435–463. 18 Einen Überblick bietet Markus Kleinert, »Theodor Haecker. The Mobilization of a Total Author«, in: Jon Stewart (Hg.), Kierkegaard’s Influence on Literature, Criticism and Art, Tome 1: The Germanophone World, Farnham 2013, S. 91–114. 16 17
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Anmeldelse als Kritik der Gegenwart. 19 Dieser neue Titel aktualisiert den mehr als 60 Jahre alten Text. Es ist eine Kritik der Gegenwart. Und er stellt die Kritik ins Zentrum. Aktualität und Bezug auf diese Aktualität durch Kritik. Beides ist nicht aus der Luft gegriffen, aber der Text wird von vornherein für eigene Zwecke in Anspruch genommen, für eine Kulturkritik. Dies wird geradezu zur Idee des religiösen Schriftstellers bei Haecker: Kulturkritik aus christlicher Perspektive – und Kierkegaard wird zu einem Vorbild, der diese Kritik auf einzigartige Weise geübt habe, und er wird zu einem Kampfargument, das sich gegen den Gegner schleudern lässt. Nur wenige Beispiele seien zitiert, um dieses Vorgehen in den Blick zu bekommen. Haecker geht in einem Vorwort zu einer Kierkegaard-Übersetzung, die im Brenner erscheint, zu einer Kritik der Kunst und der gängigen Kunstkritik über. Scharf wird Haeckers Kritik, als er auf den Tod in Venedig zu sprechen kommt. Thomas Mann selbst wird nicht namentlich erwähnt, was nicht nötig ist, da er als bekannt vorausgesetzt werden kann: Die ganze Tragikomik der ästhetischen Verwirrungen wurde uns durch die dankenswert naive Beichte eines gelesenen Schriftstellers enthüllt. Es war an sich gewiß uninteressant, daß einer den Tod in Venedig herausgab, denn solche Stilübungen werden in der Literatur zu allen Zeiten fabriziert, und es ist doch nur, bürgerlich gesprochen, nett und erbaulich, daß einer all das, zu dessen Erlernung er einst im Gymnasium zu genial war, in seinen vierziger Jahren durch zähen Fleiß glatt und akkurat so wie ein Gymnasiast wieder einholen kann. Von besagtem Autor galt auch immer, was der junge Kierkegaard von ähnlichen Epikern seiner Zeit sagte: ihre Bücher sind nicht Produktionen, sondern Amputationen. 20
Haecker lässt Kierkegaard das vernichtende Urteil über Thomas Manns Tod in Venedig sprechen. Das ist möglich, weil Haecker sich Kierkegaards Auffassungen ganz zu Eigen gemacht hat und so auch umgekehrt seine eigenen Auffassungen zu Kierkegaards werden müssen. Differenzen der Ideen gibt es nun kaum noch, weil eben Kierkegaards Idee der eigenen angepasst wird.
19 Sören Kierkegaard, Kritik der Gegenwart, übers. v. Theodor Haecker, in: Der Brenner 4 (1914), Nr. 19 u. 20, S. 815–849. 20 Theodor Haecker, »Vorbemerkung des Übersetzers«, in: Der Brenner 4 (1914), Nr. 14/15, S. 666–670, hier S. 669 f.
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Damit ist das Vorgehen Theodor Haeckers umrissen. Doch worauf zielt seine Kulturkritik? Wofür braucht er die Position Kierkegaards? An einem einzigen Zitat soll dies beispielhaft veranschaulicht werden: Alle sind Betrüger, ob sie nun sich selber, oder was die Regel der Gemeinheit ist, zunächst andere betrügen, alle, die behaupten, das wirksame Böse dieser Welt sei heute in Staat oder Kirche verkörpert, die doch innerlich so kraftlos sind, wie nie zuvor, so ohne irgendwelchen Glauben an irgendwelche Idee, daß sie als geistige Größen gar nimmer zählen. Das aktive Böse dieser Welt ist heute in Westeuropa in der Form der Formlosigkeit in Presse und Publikum zu Hause, in Parlamentarismus, Wählerschaft, Bank- und Geldwirtschaft, lauter anonymen, vollkommen verantwortungslosen, nicht faßbaren Massenmächten. Ich werde aber von dem Glauben nicht lassen, daß der blutrünstigste Tyrann noch leichter zu jenem geistigen Verantwortungsgefühl gelangen kann, ohne das keiner herrschen darf, leichter, sage ich, als die von Verleger, Abonnenten und Inserenten abhängigen Redaktionskollegien in Massenauflagen erscheinender sozialdemokratischer Zeitungen und Zeitschriften […], leichter auch als Bankiers und Mitglieder anonymer Aktien-Gesellschaften, die für hohe Dividenden Werte der Kultur ohne ein Achselzucken hingeben. 21
Haecker greift den Parlamentarismus, die Presse, die Banken scharf an. Sein Angriff richtet sich gegen die Anonymität dieser Institutionen. Es sind immer wieder Dichotomien, die im Brenner beschrieben werden, um die Phänomene voneinander deutlich abzugrenzen: Auf der einen Seite steht die anonyme Masse und auf der anderen Seite der Einzelne. Es ist an Kierkegaards Einzelnen zu denken, und an seinen Begriff der Innerlichkeit. Diese Begriffe verweisen auf ein Gegenmodell, das Haecker besonders auszeichnet. Seine eigene Kulturkritik gründet auf diesen Begriffen, doch dabei wird Kierkegaards Idee des religiösen Schriftstellers stark eingeengt. 4) korrumpiert: Ich verfolge nun weiter den Faden der Kulturkritik im Anschluss an Kierkegaard und gebe nun einem noch heftigerem Rhetoriker das Wort. Seine Texte werden kaum einmal mit Kierkegaard in Verbindung gebracht, die Kierkegaard-Rezeption ist, so mein Versuch einer Definition, korrumpiert. Ich wähle als Beispiel für diesen Typus Ludwig Derleth.
Theodor Haecker, »Vorwort des Übersetzers«, in: Der Brenner 4 (1914), Nr. 16, S. 691–705.
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Ludwig Derleths Text Die Proklamationen erschien 1904 im Insel-Verlag. 22 Insbesondere die Position des Erzählers, aus der heraus er seine scharfe Kritik formuliert, und zahlreiche Details im Text lassen sich direkt auf Kierkegaard beziehen. 23 Sowohl Kierkegaard als auch Derleth vertreten ihre Position allein, als Einzelne, Derleth eröffnet den Text mit dem gewaltigen Satz: »Ich, Ludwig Derleth, bin allein und habe alle verbündet gegen mich und erkläre im Namen Jesus von Nazareth den Krieg.« 24 Diese Positionierung erinnert an Kierkegaard, der die Kategorie des Einzelnen in seinen Texten so stark macht und im Streit mit der Kirche ebenfalls ein Einzelner ist, der unbedingt allein gegen eine Übermacht steht. Kierkegaard, und nach ihm Dallago und Derleth, beziehen ihre Position als religiöse Schriftsteller außerhalb einer Kirche. Die Stellung als Einzelner gegen eine Übermacht – die als solche mit sprachlicher Kraft geäußert wird – ist auch rhetorisch als eine heroische zu verstehen. Sowohl Kierkegaard als auch Derleth fordern zur Nachfolge, zur ›imitatio Christi‹ auf, aber eben außerhalb des bestehenden Christentums. Für Kierkegaard wird dies eine der entscheidenden Thesen: Das Christentum sei in der Christenheit gar nicht vorhanden. Ganz ähnlich erklärt Derleth: »Wir verkünden das Christentum in der Christenheit.« 25 Vor allem Derleths Position kann als die eines Propheten verstanden werden – und so wurde sie auch verstanden. Er verkündet die wahre Religiosität. Die Positionen Derleths und Kierkegaards, ihre Bezüge zum Christentum, sind durchaus ähnlich. Doch bei diesen Gemeinsamkeiten sollten die großen Unterschiede zwischen Derleths Proklamationen und Kierkegaards späten Schriften nicht vergessen werden: So führt die deutlich brutale und militaristische Sprache bei Derleth zu
22 Ludwig Derleth, Die Proklamationen, Leipzig 1904. Vgl. zu den Proklamationen vor allem die Darstellung von Maurizio Pirro, »Ludwig Derleths ›Proklamationen‹ als Ausdruck von kulturkritischer Übernahme mystischen Gedankenguts im Schatten Stefan Georges«, in: Olaf Berwald/Gregor Thuswaldner, Der untote Gott. Religion und Ästhetik in der deutschen und österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts, Köln u. a. 2007, S. 39–56. 23 Zur Kierkegaard-Rezeption Ludwig Derleths und zu den folgenden Überlegungen vgl. Verf., Der witzige, tiefe, leidenschaftliche Kierkegaard (Anm. 3), S. 103 ff. 24 Derleth, Die Proklamationen (Anm. 22), S. 1. 25 Ebd., S. 3.
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ganz anderen Konnotationen. Ein Satz wie dieser, mit dem die Proklamationen schließen, ist in Kierkegaards Streit mit der dänischen Landeskirche ganz undenkbar: »Soldaten, ich gebe Euch zur Plünderung die Welt.« 26 Zwar finden sich in Kierkegaards Texten etliche drastische Bilder, die zum Teil aus militärischen Zusammenhängen stammen, doch bleibt dabei stets deutlich, dass es sich um Vergleiche, um Bilder handelt. Dort ist die Grenze bei Kierkegaard leicht zu ziehen, er fordert keinesfalls zu Gewalttaten auf, es findet sich aber beispielsweise die Forderung, dem öffentlichen Gottesdienst fernzubleiben. Ludwig Derleth radikalisiert dies, wenn sogar die militärische Sprache zweideutig wird und hier nicht deutlich zwischen Bild- und Sachebene unterschieden werden kann: Die Zeiten der Auslegung sind vorüber. Wer heute noch das Kommando erklären will und nicht selbst handelt, verfällt dem Kriegsgericht. Von allen Kanzeln flattern die blutroten Standarten der Divisionen. Die christliche Strategie ist gegeben. Von nun an wird der Krieg in Permanenz erklärt. Die Kirchen werden geschlossen. Man schieße die ökumenische Synagoge in Brand. Alle christlichen Glocken in Kanonenmetall umgegossen. Sie grüßen die triumphierende Wiederkehr Unseres Herrn. 27
Fordert Kierkegaard nur dazu auf, der Kirche fernzubleiben, sieht der Proklamierende hier die geschlossenen Kirchen und wie aus den Glocken der christlichen Kirchen Kanonen werden. Doch bleibt unklar, ob es sich um eine Vision handelt, um Forderungen, um Bilder und Vergleiche oder ein literarisches Spiel. Das ›Handeln‹ fällt im Zitat auf, das allein das Kommando legitimiere, denn die Zeiten der Auslegung seien vorüber. Damit ist die Differenz zwischen literarischer Fiktion und dem Handeln in der Wirklichkeit greifbar, denn der, der hier proklamiert, müsste selbst handeln. Diese Differenz ist zugleich die Herausforderung des gesamten Textes, der eben weder einfach befolgt sein will noch als ›bloße Rhetorik‹ abgetan werden darf: »Diese Schrift bedeutet Herausforderung.« 28 So kann seine Idee des religiösen Schriftstellers verstanden werden: Zwar ruft er zur militärischen Aktion auf, doch ohne selbst diesem Aufruf zu folgen. Weiter wagt sich der religiöse Schriftsteller auch bei Derleth nicht vor als bis
Ebd., S. 83. Ebd., S. 64. 28 Ebd., S. 3; vgl. dazu Barbara Beßlich, Wege in den »Kulturkrieg«. Zivilisationskritik in Deutschland 1890–1914, Darmstadt 2000, S. 137. 26 27
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zu dieser Grenze des Aufrufs, der konkret wird, aber der dennoch vor allem Literatur bleibt. Auf diese Weise – es sei Literatur – löst Thomas Mann die Schwierigkeit auf, mit Ludwig Derleths Position fertigzuwerden. Im Doktor Faustus tritt der Dichter Daniel zur Höhe auf, der nach dem Vorbild Derleths gestaltet ist. Der Kommentar dieses Dichters auf die drängenden Fragen der Zeit sei ein »O freilich doch, so übel nicht, jawohl, jawohl, man kann es sagen«. 29 Dieser Kommentar, der immer wieder fällt, zielt auf die ethische Indifferenz des Gesagten. Daniel zur Höhe verweigert eine Stellungnahme, sondern stellt die ›Sagbarkeit‹ heraus und damit letztlich die Ästhetik des Gesagten. Das Gesagte fällt nicht unter ein ethisches Urteil, es hat sein Recht als nun einmal Ausgesagtes. Das lässt sich leicht als eine ästhetizistische Position lesen. Das Urteil des Erzählers fällt entsprechend scharf aus: »der steilste ästhetische Unfug, der mir vorgekommen.« 30 Doch bleibt die Behauptung der Proklamationen selbst, es gehe darin um eine außerliterarische Wirklichkeit. 31 Schluss: Am Ende dieses Durchgangs bleibt die Frage: Was ist durch diese Klassifikation der Beispiele gewonnen? Die Aufmerksamkeit richtet sich auf die Verfahrensweisen. Wie gelangen die Schriftsteller zu ihren Ideen eines religiösen Schriftstellers bzw. zu ihren Selbstverständnissen? Hier können nun drei verschiedene Arten des Umgangs (das ›Ignorieren‹ wird nun weggelassen) unterschieden werden. Die Ideen eines Denkers können dazu genutzt werden, die eigene Position zu überdenken, indem Ideen adaptiert werden. So habe ich es versucht für Carl Dallago zu zeigen, es ließe sich – mit weniger Material – auf Franz Kafka übertragen, auch auf Rainer Maria Rilke beispielsweise. Bezeichnenderweise allerdings gerade dort, wo die Schriftsteller nicht vor allem ihre eigene Position überdenken wollen, sondern viel eher Kierkegaards Auffassung darstellen, kommt es vermehrt zu Transfor-
29 Thomas Mann, Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde, hg. v. Ruprecht Wimmer, in: Thomas Mann, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, hg. v. Heinrich Detering u. a., Bd. 10.1, Frankfurt am Main 2007, S. 528. Vgl. auch den Kommentar von Ruprecht Wimmer in Bd. 10.2 derselben Ausgabe, hier S. 717. 30 Ebd. 31 Vgl. Beßlich, Wege in den »Kulturkrieg« (Anm. 28), S. 137.
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mationsprozessen. Das wäre nicht unbedingt zu erwarten gewesen. Gerade der subjektive Zugriff, so hätte es nahegelegen, transformiere Kierkegaard, doch – zumindest bei meinen Beispielen – verhält es sich gerade andersherum. Dallago lässt Kierkegaard in seinem subjektiven Aneignungsprozess stehen, Haecker gelingt das kaum. Er bindet seine eigene Position so stark an diejenige Kierkegaards, das dann offenbar dessen Idee transformiert werden muss. – Bei Haecker ließe sich dies nun auch weiterverfolgen, denn er nimmt immer mehr Abstand von Kierkegaard, tritt der katholischen Kirche bei, übersetzt Schriften von Kardinal Newman. Die späten Schriften ließen sich nun nach der Klassifikation durchsehen; der Abstand zu Kierkegaard, so die These, äußere sich dann dahingehend, dass die Transformationsprozesse zurückgehen und eher Ideen adaptiert werden. Doch auch der Blick von den Rezipienten auf Kierkegaard zurück ist aufschlussreich, zeigen sich doch so Deutungspotenziale der Texte Kierkegaards. Ludwig Derleths Radikalisierung der Kirchenkritik Kierkegaards lässt mit aller Deutlichkeit die Frage auftreten, wie denn Kierkegaards späte Position als religiöser Schriftsteller aufzufassen sei. Oder anders: Wie weit darf der religiöse Schriftsteller gehen? Das Modell des Propheten, das in der Literatur um 1900 von Derleth genutzt wird, lässt sich auf Kierkegaard übertragen. Dann wäre zu fragen: Was bedeutet das für die Auffassung des religiösen Schriftstellers? Die hier vorgeschlagene Minimal-Definition des religiösen Schriftstellers stößt dabei an ihre Grenzen. Die Ortlosigkeit wäre nun genauer zu erfassen. Theodor Haecker, so ließe sich folgern, beziehe eine Position des religiösen Schriftstellers, die immer von Kierkegaards Auffassung gedeckt ist. Es ist gerade keine Ortlosigkeit, sondern der Versuch, den eigenen Ort von Kierkegaard her zu denken. Und auch Kierkegaards Position wird von Haecker eindeutig festgeschrieben. Es ist vor allem der späte Kierkegaard, der eindeutig zum Christentum und der dänischen Landeskirche Stellung bezieht; andere Positionen, die den Ort des religiösen Schriftstellers problematisieren könnten, fallen weg. Nur so, indem Kierkegaards Position feststeht, kann Haecker hierauf immer wieder Bezug nehmen. Carl Dallago dagegen steht nach seinem subjektiven Aneignungsprozess durchaus alleine da, wenngleich er ebenfalls Kierkegaards religiöse Schriftstellerei nicht von der Ortlosigkeit her erfasst. Vor allem Ludwig Derleths Position kann in dieser Hinsicht mit Kierkegaards Ortlosigkeit verglichen werden. Seine Auffassung des religiösen Schriftstellers kann kaum zu276 https://doi.org/10.5771/9783495820506 .
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rückgebunden werden. Indem Derleth direkte Kierkegaard-Referenzen verweigert, bleibt seine eigene Schrift stets interpretationsbedürftig. Thomas Manns Darstellung, die Derleth als radikalen Ästhetizisten ausweist, wäre dann nur eine mögliche Auflösung dieser – spezifischen – Ortlosigkeit.
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From the Mountain to the Swamp: Kierkegaard in the Weimar Republic Charles Cahill
In January of 1932, Hannah Arendt wrote an article in the Frankfurter Zeitung describing the popularity of Sören Kierkegaard in Germany. In this piece she claimed that whereas 25 years ago Kierkegaard was »hardly known in Germany,« in the past 15 years he had »become contemporary, he had become the voice of an entire generation, who read him not out of historical interest but rather for intensely personal reasons: mea res agitur.« 1 In the very same month, Wilhelm Kütemeyer (1904–1972) finally succeeded in publishing the first edition of his Kierkegaard-inspired journal. Tapping into Kierkegaard’s pessimism about contemporary society, Kütemeyer named his organ Der Sumpf (»the Swamp«) and adorned the first page of every issue with the following quote from Kierkegaard (Der Augenblick, nr. 6): »Die Schwierigkeit, mit der ich zu kämpfen habe, gleicht der Schwierigkeit, ein aufgefahrenes Schiff wieder loszubringen, wenn der Grund ringsum so lockerer Boden ist, daß jeder eingetriebene Pfahl haltlos nachgibt.« Kierkegaard’s complaints about 1830s Denmark certainly had a contemporary feel when applied to Germany less than a year away from the advent of the Third Reich. In this paper I’m interested in the mechanics of making a historical figure contemporary. Variations of this question originally drew me to the topic of Kierkegaard’s reception in the Weimar Republic. Again and again I came across Germans in the 1920s and 1930s talking in the present tense about the 19th century Dane. Yet 20th century Germans did not simply find Kierkegaard as King Josiah discovered the book of the law. Specific individuals and institutions mediated the image of Kierkegaard, which was then seized upon as contemporary. Der Sumpf is especially interesting as the first German journal putatively founded on Kierkegaardian principles. What were these principles and how were they translated into 1930s Ger1
Hannah Arendt, »Sören Kierkegaard,« in: Frankfurter Zeitung, 29 January 1932.
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many? Also, why exactly did Der Sumpf decide to fashion itself as a Kierkegaardian organ? But before reaching Der Sumpf I will consider its predecessor Der Brenner and in so doing pick up, to some extent, where Christian Wiebe’s paper in this volume left off. In beginning with Der Brenner we will learn two things necessary before examining Der Sumpf. First, we will gain valuable insight into the image of Kierkegaard painted by Der Brenner. As Christian Wiebe and others have argued, Der Brenner was the single most important organ for Kierkegaard’s reception in early twentieth-century Germany. Thus Der Sumpf’s Kierkegaard was, in many ways, built on the foundation offered by Der Brenner. Secondly, we will thus be able to consider the relationship between the two journals. Der Sumpf postured itself as Der Brenner’s successor and also counted the founding author of Der Brenner, Carl Dallago, as one of its five contributors. Finally, the figures involved in these journals adhered to quite disparate and often incompatible worldviews. We will encounter a Catholic proselytizer, a Laotse enthusiast, a communist supporter and a Nazi educator. Considering what it was about Kierkegaard that attracted this cross-section of the Weimar republic can give us more of a foothold from which to consider his larger appeal at the time. Although readers of the Frankfurter Zeitung would have likely known Kierkegaard’s name and perhaps a bit about his person, Hannah Arendt’s claim that the Danish philosopher had become the »voice of an entire generation« would have most likely been news to most of them. In a survey of Kierkegaard in German periodicals, Helen Mustard identified the centennial of Kierkegaard’s birth in 1913 as somewhat of a watershed moment. »Any German writer who read a newspaper« concluded Mustard, »must have at least known his name.« 2 However, outside of a few exceptions like Kafka and Rilke, the centennial commemorations did not result in any noticeable uptick in Kierkegaard’s popularity in Germany. At least not judging from broad public barometers such as newspapers and periodicals, in which Mustard found only twelve articles concerning Kierkegaard between 1920 and 1930. However, the most important vehicle for Kierkegaard’s reception at the time, Der Brenner, was an Austrian journal and thus outside of Helen M. Mustard, »Søren Kierkegaard in German Literary Periodicals, 1860– 1930«, in: Germanic Review, 26 (1951), p. 96.
2
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Mustard’s survey. From 1913 until 1926, nearly every issue contained either excerpts of Kierkegaard’s work (often for the first time in the German language) or articles about him. As the Berlin journal Marsyas claimed in a 1919 issue of Der Brenner, »Der strenge Christ Kierkegaard leuchtet der ganzen Brennerbewegung voran.« 3 As early as 1919, the Frankfurter Zeitung referred to »die Beschäftigung des ›Brenner‹ in Innsbruck mit Kierkegaard,« as an example of a »Verlangung nach einer religiösen Macht« prevalent throughout the German speaking world. 4 Named after the »Brenner Pass,« the most important Alpine pass on the Austro-Italian border, Der Brenner was a fortnightly avantgarde literary and philosophical journal directed at the Germanspeaking world. Ludwig Ficker founded the journal in 1910 primarily as a vehicle for the writings of Carl Dallago, a south Tyrolian author with an eastern-oriented religious bent. After reading Theodor Haecker’s 1913 work Sören Kierkegaard und die Philosophie der Innerlichkeit Dallago asked Haecker to join the Brenner, which he did that same year. With Dallago and Haecker at the helm, Der Brenner emerged as a key player in the 1920s German intellectual scene. As Heiko Schulz explained, this was »not only because of the high artistic and/or intellectual rank of its prominent or soon to be prominent authors (Georg Trakl, Hermann Broch, etc.), but also because of numerous illustrious recipients, including, among others, Martin Heidegger and the Mann brothers.« 5 Ficker kept the journal running until financial problems forced him to shut down in 1928. Der Brenner opened again for two years between 1932 and 1934. After World War II Der Brenner published three final issues in 1946, 1948 and 1956. Considering the seminal importance of Der Brenner in transmitting knowledge of Kierkegaard to the German world, it is worthwhile Quoted in: Der Brenner, VI. Folge, Heft 1, October 1919, p. 81. Quoted in: Der Brenner, VI. Folge, Heft 2, December 1919, back cover. 5 Heiko Schulz, »A Modest Head Start: The German Reception of Kierkegaard,« in: Kierkegaard’s International Reception: Northern and Western Europe (Kierkegaard Research: Sources, Reception and Resources, vol. 8/1), ed. by Jon Stewart, Aldershot 2009, p. 328. Another major supporter, I might add, was Ludwig Wittgenstein, who provided Ficker with substantial sums of money as support for the Brenner authors. Wittgenstein’s largess, however, could not buy him a spot in the Brenner: apparently unconvinced by Wittgenstein’s claim to have solved all of philosophy’s problems, Ficker refused to publish his Tractatus with Der Brenner. 3 4
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to survey the content that readers encountered in its pages. Into what existing intellectual constellation did the Brenner project Kierkegaard? What earned him praise and, to the degree that he was, for what was he critiqued? Additionally, following Haecker’s conversion to Catholicism in 1921, an intellectual disagreement broke out between Haecker and Dallago that had their respective interpretations of Kierkegaard at the center. Sensing that Der Brenner, as a whole, was siding with Haecker, Dallago left the journal in 1926. How then did this split affect the image of Kierkegaard offered to readers of Der Brenner? And how did it affect the image of Kierkegaard offered by Dallago when he joined Der Sumpf?
I.
Kierkegaard in Der Brenner
Initially, readers of Der Brenner encountered a relatively cohesive Kierkegaard, regardless of the author. Very little differentiated the Kierkegaard of Dallago from that of Haecker, Ficker or Ferdinand Ebner—the three primary authors of pieces about Kierkegaard. These authors situated Kierkegaard alongside Nietzsche, Tolstoy and Dostoevsky in prophesying the imminent collapse of European civilization. But unlike Nietzsche, Kierkegaard sought the antidote in a purified Christianity. Unlike Tolstoy and Dostoevsky, Kierkegaard was thoroughly western. Moreover, outside of the translation acknowledgements, Der Brenner presented Kierkegaard as more or less a German thinker. At one point Haecker even claimed that »Der deutsche Geist hat ein Recht auf Kierkegaard, denn dessen Bildung war durch und durch deutsch.« 6 A German thinker, however, who rescued the individual from the suffocating grip of overweening totalities, whether philosophical, religious, political or national. Yet starting around 1920 fissures began to emerge in Der Brenner’s presentation of Kierkegaard. Primarily this resulted from Haecker’s growing affinities for the Catholic Church. Dallago later claimed that he knew Haecker was converting as soon as he read his 1920 Brenner article on John Henry Newman, the 19th Century Catholic Cardinal. After Haecker confirmed these suspicions and announced his conversion in 1921, the fall-out with Dallago was im6 Theodor Haecker, »Nachwort [›Kritik der Gegenwart‹]«, in: Der Brenner, IV. Jahr, Heft 20, July 1914, p. 887.
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mediate. Haecker’s conversion, and Dallago’s frustration with it, had immense implications for the image of Kierkegaard offered by Der Brenner. Dallago and Haecker consistently projected their ›Streit‹ onto their interpretations of Kierkegaard. Before 1920, Dallago had made little distinction between Protestantism and Catholicism. He clearly interpreted the Christendom Kierkegaard attacked as comprising all official Christianity; Kierkegaard’s focus on Danish Protestantism was simply a historical contingency. But beginning in 1920 Dallago became more explicit about this assumption. For example, after quoting a series of vitriolic lines from Kierkegaard’s Der Augenblick, Dallago concluded that his argument »behält jedoch seine volle Gültigkeit auch für das Christentum als Kirche überhaupt; für den offiziellen Protestantismus wie für den offiziellen Katholizismus, für die protestantische wie für die katholische Geistlichkeit.« 7 As he emphasized Kierkegaard’s distance from official Christianity, Dallago increasingly aligned Kierkegaard with his own concept of »das Religöse und Geistliche von jeher.« This concept, with which Dallago peppered his writings of the 1920s, referred to the kernel of religious truth from which all religion sprang. It was closely associated with his idea of »der reine Mensch,« men like Jesus and Laotse who pointed us toward »das Religiöse und Geistliche von jeher.« Ultimately, Dallago realized that there were several aspects of Kierkegaard’s thought that resisted his interpretation and he admitted that Kierkegaard still had too much of the »Kirchenchristlichkeit« about him and thus fell short of grasping the »Religiöse und Geistliche von jeher.« 8 In many ways, Dallago’s increasing critique of Kierkegaard must be seen in light of his growing feud with Haecker. For at the same time as Dallago was attempting to denude Kierkegaard of the specifically Christian, Haecker was attempting to bring the Dane back into the fold. Haecker had always been more comfortable with the Christian focus of Kierkegaard than had Dallago, who had an Eastern orientation. Haecker found in Kierkegaard not an expression of the »Religiöse und Geistliche von jeher« but rather a purified ChristianCarl Dallago, »Eröffnungen«, in: Der Brenner, VI. Folge, Heft 3, February 1920, p. 181. 8 Carl Dallago, »Die Gefangennahme der Liebe,« in: Der Brenner, VI. Folge, Heft 8, January 1921, p. 714. 7
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ity. To Haecker, any attempt to deny the essentially Christian in Kierkegaard could only lead to distortion. »Wer in Kierkegaard einen Mann sieht,« argued Haecker in a 1920 Brenner article, »der über das Christentum hinaus zu so etwas wie Freidenkertum führen kann, der sagt notwendig und hoffnungslos die falschesten Dinge.« 9 Initially, Haecker had turned to Kierkegaard primarily for his anti-institutional fire-power. And even while directing most of his ire at the German Protestant church, Haecker allowed that Kierkegaard’s attacks applied to the Catholic church as well. 10 Thus could Haecker refer to Carl Hilty, the famous Swiss writer who hoped for a new Christianity beyond dogma and politics, as »wie Abraham ein Freund Gottes … einer der weisesten Männer aller Zeiten.« 11 In this, at least, Haecker and Dallago could wholeheartedly agree. Indeed it was this type of Kierkegaardian frustration with official Christianity that had convinced Dallago to lobby for a position for Haecker with Der Brenner. The discrepancy between Dallago and Haecker’s view of Kierkegaard, however, was evident from the outset. For Dallago, Kierkegaard was a brilliant thinker who excised the inessential from Christianity thus bringing it (almost) in line with the »Religiöse und Geistliche von jeher.« Haecker, on the other hand, looked to Kierkegaard as one who excised the inessential from Christianity thus restoring it to its original pristine state. To put it in other words, Dallago’s Kierkegaard helped him to see the truth that united Christianity with all true spirituality. Haecker’s Kierkegaard helped him to see the truth that set Christianity apart from all other spirituality (and from distorted Christianity). Following his conversion, Haecker exchanged the ecumenical, almost universalist, passion of Hilty for the Catholic proselytizing force of Cardinal Newman who had famously converted from Anglicanism to Catholicism in 1845. The most tangible effects of this for Haecker’s Kierkegaard interpretation was his call for more attention to Kierkegaard’s religious writings; most of which had been left out of the recently completed twelve-volume Kierkegaard’s Gesammelte 9 Theodor Haecker, »Wandel der Tragik,« in: Der Brenner, VI. Folge, Heft 4, April 1920, p. 279. 10 See Theodor Haecker, »F. Blei und Kierkegaard,« in: Der Brenner, IV. Jahr, Heft 10, February 1914, p. 459. 11 Theodor Haecker, »Übersicht,« in: Der Brenner, VI. Folge, Heft 5, June 1920, p. 357.
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Werke. In his 1922 article »Kierkegaard am Fuße des Altars,« Haecker bemoaned Kierkegaard’s imbalanced German reception with its focus on his philosophical-poetic and ignorance of his religious works. Although much of the former has entered into the German ›Gemeingut,‹ declared Haecker that »von [den ›Reden‹] noch nicht der fünfte Teil übersetzt ist.« 12 Haecker acknowledged that some might consider Kierkegaard’s aesthetic writings to be the unmediated, true Kierkegaard while the religious writings are simply a show. Yet Haecker dismissed this view as simply »eine oberflächliche Ansicht« and argued that the exact opposite is closer to the truth. It is in Kierkegaard’s Reden that we find »das Zentrum der Person.« 13 Haecker actually came close to dismissing all of Kierkegaard’s philosophic-poetic works in favor of his simple religious writings. »Im Grunde sind seine großen philosophisch-dichterischen Werke«, wrote Haecker of Kierkegaard, »doch noch unter einer Wolke der Schwermut geschrieben.« 14 Moreover, Haecker claimed that this »Schwermut« both distanced Kierkegaard from his »Erlöser« and even served as a »Selbstfluch« for Kierkegaard himself. This was thus one more reason to value Kierkegaard’s Reden, where there is none of his »einseitig,« »irrig« understanding of faith. Rather we see that »Die Liebe hat Kierkegaard zu tieferen, wertvolleren, bleibenderen Erkenntnissen geführt, als der Glaube.« 15 By historicizing Kierkegaard’s philosophical-poetic works and essentializing his religious works Haecker presented Kierkegaard as a disciple of love instead of a prophet of angst. Haecker’s focus on Kierkegaard’s religious writings over his other texts made clear what Dallago described as his »infidelity« to Kierkegaard. 16 Far from offering support for a return to Rome, Kierkegaard’s Reden offered proof that one can be deeply religious without being a part of an official church. Moreover, declared Dallago in a later article, anything that Kierkegaard critiqued about the official protestant church could be laid even more severely at the door of the Catholic Church. Religiously speaking, concluded Dallago, the essenTheodor Haecker, »Kierkegaard am Fuße des Altars,« in: Der Brenner, VII. Folge, Spätherbst 1922, p. 74. 13 Ibid., p. 75. 14 Ibid., p. 84. 15 Ibid. 16 Carl Dallago, »Die Menschwerdung des Menschen«, in: Der Brenner, VIII. Folge, Herbst 1923, p. 139. 12
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tial in Kierkegaard is that »daß er als Protestant das ursprünglich Christliche gegen den offiziellen Protestantismus, also gegen die Kirche, zu urgieren hatte.« 17 Catholics who would follow Kierkegaard should do the same vis-à-vis their church. »Der berufene Anwalt und Ausdeuter Kierkegaard’schen Schaffens,« bemoaned Dallago regarding Haecker, can no longer hear the central message of Kierkegaard: »die Kirche soll weg!« 18 In his final articles for Der Brenner, Dallago became ever more militant in his insistence that Kierkegaard’s faith and any version of official Christianity were simply incompatible. »Zwischen Kierkegaards Gottesglauben und der herkömmlichen Kirchengläubigkeit« declared Dallago, »ist immerhin ein qualitativer Unterschied.« 19 Dallago argued that Kierkegaard always emphasized the Wie of faith and not the Was, how a person related to the eternal and not precisely to what a person thought they were relating. 20 While Haecker was frustrated with Dallago’s attempt to denude Kierkegaard of his Christianity, it was Dallago’s attacks on the church as a whole that most riled Haecker. When Dallago went so far as to call the church a »murderer of the eternal spiritual,« 21 Haecker demanded that Ficker write an official editorial distancing the Brenner from Dallago’s views. 22 Ficker’s response spoke to the esteem with which he held Dallago, »without whom the Brenner would have never come into being.« 23 But he also reasserted his loyalty to Haecker and the new direction of Der Brenner. Although confessing to the »torturous ambivalence« that he felt, Ficker included a »Note from the Editor,« in the following issue in which he reasserted Der Brenner’s new direction. 24 In light of Haecker’s Catholicism and Ficker’s increasing support of his position, Dallago no longer felt comfortable at the journal originally intended as a vehicle for his views and writ-
Ibid., p. 142. Ibid., p. 155. 19 Ibid., p. 125. 20 Ibid., p. 126. 21 Carl Dallago, »Augustinus, Pascal und Kierkegaard«, in: Der Brenner, VI. Folge, Heft 9, April 1921, pp. 701–702. 22 Haecker to Ficker, 23 April 1921, in: Ludwig von Ficker: Briefwechsel, 1914–1925, ed. Ignaz Zangerle et al., Innsbruck 1988, pp. 296–297. 23 Ficker to Haecker, 5 May 1921, in: Briefwechsel (note 22), p. 299. 24 Ficker, »Mitteilung der Herausgebers,«, in: Der Brenner, VI. Folge, Heft 10, June 1921, pp. 812–821. 17 18
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ings. In 1926, Dallago lent action to his increasingly frustrated words and parted ways with Der Brenner. Following Dallago’s departure, Der Brenner moved away from its former Kierkegaardian focus. In the five editions before being forced to close by the ›Anschluss‹ in 1934, no works by or about Kierkegaard appeared in Der Brenner. Instead, Der Brenner offered a half-hearted attempt to include Kierkegaard in their new postDallago direction, comparing him to Karl Kraus 25 in one article and hinting at his under-realized importance for Catholicism 26 in another. Kierkegaard clearly no longer »leuchtet der ganzen Brennerbewegung voran.« Even before closing in 1928 Der Brenner had begun to slim down its operations due to financial difficulties. One tabled project was the first German translation of Kierkegaard’s dissertation Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates. In May of 1927, Wilhelm Kütemeyer had sent Ficker the first thirty pages of his translation and inquired as to Der Brenner’s interest in publication. Aware of Der Brenner’s financial difficulties Kütemeyer offered to forego the customary honorarium if it would ensure his work’s publication. 27 Three days later Ficker wrote back that he had started reading the translation and assured him that so long as he didn’t require an honorarium, Der Brenner would gladly publish it. 28
II.
From Der Brenner to Der Sumpf: Wilhelm Kütemeyer
Wilhelm Kütemeyer (1904–1972), born in the German state of Westphalia, had studied philosophy and math in Marburg, Munich, Cologne and Freiburg. During this time, from 1922 to 1928, Kütemeyer worked with both Max Scheler and Martin Heidegger. After Scheler’s death in 1928 Kütemeyer struggled to find a new ›Doktorvater‹ for his dissertation on »Die Affektenlehre bei Spinoza und Freud.« ScheWilhelm Weindler, »Die Traumwelt von Chorónoz«, in: Der Brenner, XIII. Folge, Herbst 1932, p. 145. 26 Ignaz Zangerle, »Zur Situation der Kirche«, in: Der Brenner, XIV. Folge, Weihnachten 1933, p. 54. 27 Kütemeyer to Ficker, 2 May 1927, in: Ludwig von Ficker Korrespondenz, Schriftleitung der Brenner, University of Innsbruck, Brenner Archiv. 28 Ficker to Kütemeyer, 7 May 1927, in: Ludwig von Ficker Korrespondenz, Schriftleitung der Brenner, University of Innsbruck, Brenner Archiv. 25
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ler’s successor, Nicolai Hartmann, reportedly replied that the topic contained »zwei Juden zu viel.« 29 Giving up on the academy, Kütemeyer then struggled to support himself as a ›freier Schriftsteller‹ in Munich. Kütemeyer’s financial altruism in abstaining from an honorarium certainly did not emerge from a lack of need. Among other avenues, Kütemeyer had attempted to make ends meet by translating Kierkegaard. He had first contacted Der Brenner in 1926, declaring in a letter to Ficker that »neben der ›Fackel‹« Der Brenner was the only contemporary journal that he recognized as a »Bundesgenosse … im Kampfe mit den geistigen Widerwärtigkeiten unserer Zeit.« 30 It is understandable, then, that Kütemeyer’s first choice when looking for a publisher for his translation of Begriff der Ironie would be Der Brenner. Yet in 1929 Kütemeyer learned that, due to their financial difficulties, Der Brenner wouldn’t be able to publish his translation. 31 Nonetheless Kütemeyer soon had a new contract with the Christian Kaiser Verlag in Munich and by the fall of 1929 had sent his final proofs in for publication. With a flair for ruffling feathers that would only increase in the coming years, Kütemeyer added a »Nachwort« to his translation that gave Chr. Kaiser pause about fulfilling the contract. In late fall 1929, Kütemeyer wrote to Ficker to ask for advice. As Ficker explained in a letter to Haecker, Kütemeyer included a copy of the »Nachwort«, explained the situation and requested that Ficker let him know »ob er nicht recht habe, dem Verlag Kaiser gegenüber auf Vertragserfüllung zu bestehen.« Ficker read Kütemeyer’s »Nachwort« and »war perplex.« He responded to Kütemeyer that he should thank God that the Kaiser Verlag had hesitated to publish such an embarrassing piece. 32 Kütemeyer never replied and instead succeeded in convincing Chr. Kaiser to go ahead with the publication of his translation, »Nachwort« included. Anton Unterkircher, »Briefe um die Berliner Widerstandszeitschrift ›Der Sumpf‹ (1932)«, in: Briefe in politischer Kommunikation vom Alten Orient bis ins 20. Jahrhundert, ed. by Christina Antenhofer/Mario Müller, Göttingen 2008, p. 253. 30 Quoted in: ibid., p. 254. 31 In a letter to their mutual friend Hans Jaeger, Ficker explained that Der Brenner would soon be closing its doors. He also asked that Jaeger pass on the news to Kütemeyer so that he could look elsewhere for a publisher for Begriff der Ironie. Ficker to Jaeger, 11 February 1929, in: Ludwig von Ficker Korrespondenz, Schriftleitung der Brenner, University of Innsbruck, Brenner Archiv. 32 Ficker to Haecker, 5 November 1929, in: Briefwechsel (note 22), pp. 144–145. 29
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What exactly was so controversial about Kütemeyer’s »Nachwort«? It began with an established line of argument. Just like Haecker in his ›Streit‹ with Dallago, Kütemeyer claimed that one should grant more weight to works Kierkegaard published in his own name than those published behind a veil of pseudonymity. Yet while Haecker used this in order to favor Kierkegaard’s more orthodox religious writings and journals, Kütemeyer did so as a means of favoring Kierkegaard’s dissertation on irony and his radical attack on the Church in Der Augenblick. Kierkegaard’s dissertation, moreover, was written before he had entered into his aesthetic authorship. To Kütemeyer this granted it a sort of ›Ursprung‹ purity, »einen Ruhe- und Ausgangspunkt« from which to understand everything that came after. 33 Yet Kütemeyer devoted little space to exploring the text he had just praised (and translated), turning instead to bigger questions of Kierkegaard’s legacy. Namely, Kütemeyer focused on the connection between Kierkegaard’s pseudonyms and Kierkegaard himself and the distortions in contemporary views of Kierkegaard resulting from misunderstanding this connection. The controversy of Kütemeyer’s »Nachwort« comes from his, quite forceful, attempt to shape Kierkegaard’s legacy for Germany. Kütemeyer devoted many pages to an epidemic he saw in Kierkegaard studies, equating it to a slap in Kierkegaard’s face. 34 Even though Kierkegaard had clearly delineated between his own views and those of his pseudonyms and asked posterity to do the same, leading German scholars seemed content with ignoring this. Kütemeyer condemned those who would extract theses from »Mund einer unwirklichen, gedichteten Person« and then analyze and speculate on them as if they represented Kierkegaard’s own view. 35 These people fish around in Kierkegaard’s works and construct a piecemeal prophet who will support their »geistlich oder weltlich apologetische Tendenz.« 36 He who does so, declared Kütemeyer, is at the very least »ein Falschmünzer raffiniertester Art,« and should not be surprised »wenn er öffentlich als solcher bezeichnet wird, mit allem Nachdruck, und gebe sich selbst die Schuld, wenn er als solcher behandelt wird.« 37 Wilhelm Kütemeyer, »Nachwort«, in: Sören Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates, Munich 1929, p. 342. 34 Kütemeyer, »Nachwort«, p. 351. 35 Ibid. 36 Ibid. 37 Ibid., p. 348. 33
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Donning his own prophetic mantle, Kütemeyer declared that those guilty of such sins »werden ihrem Schicksal nicht entgehen!« 38 Although never naming him, Kütemeyer clearly had Haecker directly in his cross-hairs. After tearing through his litany of complaints Kütemeyer bemoaned the worst fact of all; that one who commits all of these crimes can be viewed as »einen berufenen Interpreten Kierkegaards.« 39 Although not denying the intelligence or competence of this unnamed culprit, Kütemeyer attacked his attempt to domesticate Kierkegaard and fit him into our traditional way of thinking, feeling a need to make sense of him through comparisons with the likes of Pascal, Newman and Tertullian. 40 »Diese beredten, glänzenden, berufenen Interpreten Kierkegaards,« concluded Kütemeyer, »sind die gefährlichsten unter seinen Lesern.« 41 In many ways Kütemeyer’s »Nachwort« offers a snapshot of the state of Kierkegaard reception at the end of the 1920s. In pre-WW I Germany Kierkegaard enthusiasts could still view Kierkegaard as a largely unexplored source, leading many like Rilke, Kassner and even Haecker to study Danish so as to tap the source itself. By the beginning of the 1920s, Der Brenner had committed itself to injecting Kierkegaard into the German-speaking cultural psyche and had largely established itself as the mediator of Kierkegaard in German society. Moreover, alongside the selections in Der Brenner, Kierkegaard enthusiasts had access to the twelve-volume Kierkegaard’s Gesammelte Werke, completed by the Eugen Diederich’s press in 1922. Yet Kütemeyer clearly felt that the German Kierkegaard industry had largely calcified by the end of the 1920s, forcing the once great scourge of official Christianity to fall in line as one more pious voice in the Christian tradition. In his response Haecker certainly did little to dispel Kütemeyer’s image of him as a curmudgeonly custodian of Kierkegaard’s image. In a twelve-page diatribe to Ficker—which he hoped to have published in Der Brenner—Haecker shared his thoughts on Kütemeyer’s »Nachwort«. Haecker pilloried Kütemeyer as a »furor protestantismus« whose »Nachwort« belonged in the trash. Kütemeyer »ist kaum ein substantieller Denker« and simply fails to grasp »Sinn und 38 39 40 41
Ibid. Ibid., p. 354. Ibid., p. 355. Ibid., p. 356.
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Wesen von Satire und Polemik.« Haecker was astonished that the Chr. Kaiser Verlag would risk so much by associating with »diese verlorene Stimme.« Instead of being published, suggested Haecker, Kütemeyer »gehört eingesperrt und in die Zwangsjacke gesteckt.« 42 Haecker traced Kütemeyer’s radical, and in his view radically false, depiction of Kierkegaard back to two sources: Kütemeyer’s youth and his obsession with Kierkegaard’s Augenblick. »Der ganze Jammer,« explained Haecker, »kommt daher, daß er mit dem ›Augenblick‹ angefangen hat.« Haecker had warned against youth starting with Kierkegaard’s Augenblick and now pointed to Kütemeyer as an example of the dangers of ignoring his warning. Haecker constantly referenced Kütemeyer’s young age, peppering his jeremiad with references to »dieser junge Mann,« always adding in hyphens, »ich hoffe, daß er noch jung ist.« Kütemeyer is a »junger Kirchenstürmer« who Haecker hopes will grow out of his »jugendlicher Überschwang.« Towards the end of the letter, Haecker finds some comfort in his own journey »vom Irrtum zur Wahrheit« and hopes that Kütemeyer will do the same as he matures. 43 It was during this time that Kütemeyer, of all people, devoted himself to establishing a successor to Der Brenner. The original idea came from a meeting between Dallago and the soon-to-be-infamous philosophy professor Alfred Baeumler. Following Dallago’s suggestion of Kütemeyer as a possible editor, Baeumler met with Kütemeyer in Munich and offered him the position. Two years after Kütemeyer accepted Baeumler’s offer, the first issue of Der Sumpf appeared in Berlin. Der Sumpf, however, was not the journal that Baeumler had in mind when he approached Kütemeyer in 1929. Baeumler had initially hoped that the journal, originally to be called Abgrenzungen, would focus on Nietzsche and Kierkegaard, serving as a vehicle for transmitting his proto-Nazi ideas to the German youth. Der Sumpf, by contrast, sought to combine Kierkegaard and Marx. It became openly critical of the Nazi party and was shut down when the Nazis came to power. In fact, outside of an association with Kierkegaard and a selfposturing as a successor to Der Brenner, the end result shared almost nothing with Baeumler’s original idea. This radical shift in plans followed a bitter dispute between 42 43
Haecker to Ficker, 22 October 1929, in: Briefwechsel (note 22), pp. 145–150. Ibid.
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Kütemeyer and his new patron. We have only epistolary records of this ›Streit‹ : a »Rundbrief« initiated by Baeumler, followed by Kütemeyer’s response. As might be expected from letters written to explain a splenetic parting of ways, two rather different accounts emerge. Even though the »Rundbriefe« offer little hope for reconstructing the precise course of events, they do offer some insight into the founding of Germany’s most Kierkegaardian-inspired journal. Baeumler explained in the opening lines of his 1932 letter that after so strongly supporting Kütemeyer—providing him with lodging, loans and employment opportunities—the previous year, he felt the need to clarify »warum ich ihm jetzt mein Vertrauen entzogen habe.« According to Baeumler, Kütemeyer repayed his generosity with an act of »Salon-Kommunismus,« feeling no compunction about refusing to repay loans to »der ›reiche‹ Professor.« Concluding that Kütemeyer was a lost cause, Baeumler had decided to sue him for the owed money as well as write the »Rundbrief« clarifying the matter. Oddly enough, there is not a single mention of the supposed grounds for their relationship: the founding of the Kierkegaardian journal. 44 It is only in turning to Kütemeyer’s response that we find an account of the failed journal. Kütemeyer recounted how Baeumler approached him with the idea for the new journal and assured him that he had a publisher lined up for it in Munich. After this fell through, Baeumler decided to publish it himself and thus asked Kütemeyer to come to Dresden where they could work on the first couple of issues. After several weeks in Dresden Baeumler sent Kütemeyer to Berlin as a more congenial location than Munich. Soon after moving to Berlin, Kütemeyer realized that Baeumler had largely moved on to other, more explicitly political projects, and had little time for the journal. 45 Following the Nazi electoral gains of September 1930 Baeumler, who would soon become the director of the Center for Political Pedagogy within the Nazi state, became ever more obsessed with preparing Germany’s youth for the coming revolution. He began sharing his many plans with Kütemeyer. At one point he described how he hoped to build »ein Männerhaus im Erzgebirge … zur Sammlung Baeumler, »Rundschreiben«, 18 April 1931, in: Carl Dallago Papers, box 313, file 207, University of Innsbruck, Brenner Archiv. 45 Kütemeyer, »Rundschreiben«, 6 May 1931, in: Carl Dallago Papers, box 313, file 207, University of Innsbruck, Brenner Archiv. 44
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und Schulung seiner jungen Leute.« Later, while working on his Nietzsche book, Baeumler shared his plans to build a »Wachstube zur fröhlichen Wissenschaft … die als Dynamit in den größten Städten Deutschlands den Bau der Republik sprengen sollten.« It was after Baeumler’s attempt to recruit him (and the incipient journal) to the cause, that Kütemeyer finally confronted the »existenzielle Probleme« between them. 46 In many ways Kierkegaard stood at the center of these existential problems. Kütemeyer informed Baeumler that »seine ›Position‹ sich in keiner Weise mit der Kierkegaards vertrüge.« He expressed confusion as to why Baeumler had recruited him in the first place and was especially astounded to read Baeumler’s accusation that he did not live up to the »wahre Christentum Kierkegaards.« Baeumler had made it abundantly clear in his book on Nietzsche, argued Kütemeyer, that he hoped to destroy Christianity in order to save Germany. It was baffling to Kütemeyer that Baeumler could then turn around and find him lacking in Kierkegaard’s »wahre[m] Christentum.« 47 What exactly was it that had drawn Baeumler to Kierkegaard? How did Kierkegaard fit into Baeumler’s ›Volk‹ oriented proto-Nazi worldview? Baeumler offered some clues in this direction when talking about what drew him to Kütemeyer. »Ich habe mich für Kütemeyer stärker eingesetzt als für irgend einen andern jungen Mann in meiner Umgebung,« clarified Baeumler in the final paragraph of his »Rundbrief«, »weil ich in ihm eine ungewöhnliche dialektische Begabung vorfand.« 48 While it seems reasonable to suggest that Baeumler was thus also attracted to Kierkegaard as a dialectician, it’s hard to gather much more than this from the »Rundbrief«. But there is one more hint embedded in Baeumler’s attack on Kütemeyer when Baeumler accuses his former ward of a utilitarian approach to Kierkegaard’s dialectics. For Kütemeyer, claimed Baeumler, »Kierkegaards Begriffe [sind] nur ein Mittel …, um eine ›kommunistische‹ Gesinnung zeitgemäß auszudrücken.« 49 Baeumler essentially accused Kütemeyer of wrapping a communist message in a Kierkegaardian package in order to make it more 46 47 48 49
Ibid. Ibid. Baeumler, »Rundschreiben« (note 44). Ibid.
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contemporary. Regardless of the veracity of this depiction, the fact that Baeumler found it to be a reasonable explanation deserves attention. For it seems that Baeumler had much the same intentions, if to a different end, in his original plans for the journal. In his obsessive focus on reaching the German youth, Baeumler apparently found in Kierkegaard a relevant voice for this task. Haecker’s attempt to catholicize Kierkegaard does not seem to have convinced him nor concerned him with regard to Kierkegaard’s relevance. Baeumler’s relationship to Kierkegaard’s Christianity presents a slightly more complex issue. As Kütemeyer pointed out, Baeumler had made it abundantly clear that he viewed Christianity as a poison in the German ›Volk‹. As a long-time subscriber to Der Brenner, and regular correspondent with Ficker since 1923, Baeumler would have been aware of the Kierkegaard Streit between Haecker and Dallago. And in a letter from 1924 Baeumler complained to Ficker about »wie weit [Haecker] schon von Kierkegaard entfernt ist.« In the same letter Baeumler praised Dallago and exclaimed that he had read Dallago’s massive 1924 work Der große Unwissende—wherein Dallago laid out his theory both of the »Geistliche und Religiöse von jeher« and the »reine Mensch« who represents it—with »großer Erregung.« 50 Seen in this light, Baeumler’s recruitment of Dallago for his new Kierkegaard journal suggests that his idea of Kierkegaard’s »wahrem Christentum« drew more from Dallago’s »reinem Menschen« than from, say, Haecker’s more orthodox perspective. Moreover, Dallago’s »reiner Mensch« Kierkegaard offers substantially more overlap with Nietzsche, especially in Dallago’s focus on Kierkegaard as the scourge of all official Christianity. In these pre-Sumpf negotiations we have seen Kierkegaard mediated in several different ways. Baeumler appears to have been attracted to the radical critical and dialectical Kierkegaard presented by Dallago and Kütemeyer, sensing an affinity to what drew him to Nietzsche. For Dallago, the new journal offered an opportunity to continue his Kierkegaardian-inspired, Haecker-catalyzed attacks on the Catholic Church. Finally, we see Kütemeyer pushing back against Baeumler on specifically Kierkegaardian principles. He could find no common ground between Baeumler’s rabid recruitment for the Nazi cause and what he viewed as Kierkegaard’s philosophy. Baeumler to Ficker, 20 December 1924, in: Ludwig von Ficker Korrespondenz, Schriftleitung der Brenner, University of Innsbruck, Brenner Archiv.
50
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III. Der Sumpf Even without his patron’s support Kütemeyer eventually succeeded in bringing out his new journal. He changed the title from Abgrenzungen to Der Sumpf and also replaced Nietzsche with Marx. The first edition appeared in January 1932 and featured contributions from Kütemeyer and Dallago as well as Kütemeyer’s friends Friedrich Punt and Werner von Trott. Joseph Leitgeb contributed to the subsequent three editions before Der Sumpf shut down in 1932. A planned fifth issue for March 1933 never made it to the press. In addition to the Kierkegaard-inspired title and motto, Kütemeyer also used a quote from Kierkegaard to open up the first article of the journal, »Der Einzelne und die Kirche:« »Es gilt weder mehr noch weniger als eine Revision des Christentums, es gilt die 1800 Jahre wegzuschaffen, als hätte es sie garnicht gegeben.« 51 In Kütemeyer’s account, Kierkegaard’s declension narrative takes on a decidedly Marxist hue, identifying the spread of official Christianity with the spread of capitalism. In a sort of Weberian fever-dream, Kütemeyer claimed »je mehr [Christentum] sich ausbreitete, um so geschäftstüchtiger wurde die Welt …« 52 The true downfall of Christianity, then, was its connection to money and the big business of official Christendom. After establishing Kierkegaard’s credentials as a proto-Marxist in this first article, Kütemeyer rarely returned to Der Sumpf’s putative inspiration. The only time any of Kierkegaard’s own works were translated was in the second edition where Kütemeyer offered his own rendition of »Die Zwei Zeitalter,« which first translation had been in Der Brenner in 1914. In the final two editions of Der Sumpf Kütemeyer offered continuations of his article, »Der Einzelne und die Kirche,« but mentions Kierkegaard only in passing in the first one and not at all in the final one. Although taking its title from Kierkegaard and emblazoning his words on the front of every edition, Der Sumpf showed little interest in letting him dictate the content. Granted, Kütemeyer shows titular devotion to Kierkegaard in his »Der Einzelne und die Kirche« contributions, but Kütemeyer’s proletariat and Kierkegaard’s ›Einzelne‹ have precious little in common. Punt and von Trott showed even less Wilhelm Kütemeyer, »Der Einzelne und die Kirche,« in: Der Sumpf, Heft 1, January 1932, p. 3 (cf. NB5:69, SKS 20, 401 / DSKE 4, 458 f.). 52 Ibid., p. 4. 51
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interest in Kierkegaard with their intense focus on the economics and promise of »das russische Beispiel.« 53 It was surely their contributions—titles included »Der ökonomische Nihilismus,« »Das ökonomische Zeitalter,« »Von Nietzsche zum Marxismus«—that led Ficker to joke that Der Sumpf »wird bald reif für eine Subvention aus Moskau werden.« 54 I argue that it was only Dallago who truly picked up the Kierkegaardian mantle of Der Sumpf. Although mentioning Kierkegaard only once in all of his articles, Dallago attacked the Catholic Church with all of the zeal (if not quite all the wit) of Kierkegaard’s Augenblick. Dallago’s first article, »Die katholische Aktion,« bore the subtitle »als Ausfluß der geistigen Verlorenheit einer Kirche, die fälschlich als Kirche Christi auftritt.« 55 Pope Pius XI provided Dallago with more than enough grist for his Kierkegaardian mill. Pius’ support of Mussolini drew the harshest of Dallago’s attacks. »Die römischkatholische Kirche,« summarized Dallago, »die als Kirche Christi auftritt, ist fascistisch. Das sagt alles.« 56 It is perhaps only in this sense that Der Sumpf can be viewed as a successor to Der Brenner. For here we see Dallago continuing in the direction he had taken in his final years at Der Brenner and carrying out what he saw as Kierkegaard’s final message: »die Kirche soll weg!«
IV. Conclusion So, in conclusion, why Kierkegaard? Why did Kierkegaard become the »light« for Der Brenner (at least for a period) and then the inspiration for Der Sumpf? What was it about him that appealed to the disparate actors involved; the newly converted Haecker, the easternoriented Dallago, the Nazi pedagogue Baeumler, and the communist Kütemeyer? In order to understand Kierkegaard’s relevance for these men I find it helpful to posit a division in how it was that they used him. Additionally, in considering these questions for Der Brenner and Friedrich Punt, »Das russische Beispiel,« in: Der Sumpf, Heft 2, April 1932, pp. 109–125. 54 Ficker to Haecker, 10 July 1932, in: Ludwig von Ficker Korrespondenz, Schriftleitung der Brenner, University of Innsbruck, Brenner Archiv. 55 Carl Dallago, »Die katholische Aktion,« in: Der Sumpf, Heft 1, January 1932, pp. 32–49; Heft 2, April 1932, pp. 85–101. 56 Carl Dallago, »Abfertigung,« in: Der Sumpf, Heft 3, June 1932, p. 185. 53
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Der Sumpf we also gain access to Kierkegaard’s broader appeal to Germans in the Weimar Republic; helping us understand how he spoke »with the voice of our generation.« All of the actors involved used Kierkegaard, in a sense, as a solvent. Kierkegaard sought to strip everything away from the individual so as to bring him to the place where he could »stand naked before his God.« As a result of this self-described life goal, Kierkegaard left for posterity a storehouse of anti-institutional ammunition. It was this aspect of Kierkegaard that appealed to all of our actors, though in different ways and for different reasons. Der Brenner used it to pillory the press, Dallago to attack official Christendom, Kütemeyer to fight the capitalist system and Baeumler to prepare the individual for the Nazi revolution. Even Haecker, before his conversion, referred to Kierkegaard’s works as »geistige[r] Sprengstoff.« 57 Regardless of the make-up of the patina, Kierkegaard offered the promise of stripping it away and leaving only the pristine individual. The real distinction came with the next step; what was done with this newly unencumbered individual. Interestingly the divide I see cuts across the typical divisions used to discuss Weimar society. The distinction was simply whether or not purifying the ›Einzelne‹ was an end in itself. For Haecker, Kütemeyer, Ebner and Baeumler, the ›Einzelne‹ must be set free for something. For Haecker and Ebner it allowed the ›Einzelne‹ to return to the apostolic church, for Kütemeyer the ›Einzelne‹ could now leave behind the nation-state and join the revolution, and finally, Baeumler’s individual could leave behind the encumbrances of modernity and help restore German greatness. It is only Dallago, with his focus on eastern spirituality and »die Menschwerdung des Menschen,« who remained content with the ›Einzelne‹ as an end in itself. In many ways, the Weimar Republic was the first TIME that Kierkegaard found a PLACE in a society. He was no longer ›atopos,‹ instead, Germans who could perhaps agree about nothing else agreed that Kierkegaard was relevant and contemporary in the Weimar Republic. In Der Brenner and Der Sumpf we gain access to some of the mechanics of how this came to be so.
57 Theodor Haecker, Sören Kierkegaard und die Philosophie der Innerlichkeit, Munich 1913, p. 68.
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Kierkegaard als (nicht nur) religiöser Schriftsteller in der skandinavistischen Literaturwissenschaft Joachim Grage
Wie nur wenige andere Disziplinen hadert die Literaturwissenschaft mit ihrem Gegenstand. Die Frage, was denn Literatur überhaupt sei, die häufig und berechtigterweise bereits in literaturwissenschaftlichen Einführungsveranstaltungen aufgeworfen wird, lässt sich kaum eindeutig und zur Zufriedenheit der Studienanfänger beantworten, die schließlich wissen wollen, womit sie sich in den nächsten Jahren beschäftigen sollen. Zwar ist alles Geschriebene Literatur – aber damit ist es noch nicht Gegenstand der Literaturwissenschaft, die häufig vom engeren Literaturbegriff der Belletristik ausgeht und sich von dort aus gelegentlich auch in die Randbereiche bewegt. Ein Autor wie Kierkegaard, der sich selbst als religiöser Schriftsteller (»religieus Forfatter«) 1 verstanden hat, ist daher nicht prädestiniert, von Literaturwissenschaftlern behandelt zu werden. Er selbst hat auf die Problematik dieser Existenz verwiesen, die in einem Land wie Dänemark zunächst einmal in pekuniärer Hinsicht prekär ist: Ist ein Land klein, so sind selbstverständlich in allen Verhältnissen die Maßstäbe klein in so einem kleinen Lande. So auch im Literarischen; das Honorar und alles, was dazu gehört, wird nur unbedeutend sein; Schriftsteller sein – wenn man denn nicht Dichter ist, und dann wiederum dramatischer, oder Lehrbücher schreibt oder auf sonst eine Weise Schriftsteller ist in Beziehung auf eine amtliche Stellung – so ungefähr die am schlechtesten ausgestattete, die am wenigsten gesicherte, insofern die undankbarste Bestallung. 2
Z. B. in Om min Forfatter-Virksomhed (1851), SKS 13, 23. Søren Kierkegaard, »Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller«, WS, 3. Original: »Naar et Land er lille, er selvfølgeligt i alle Forhold Proportionerne smaae i det lille Land. Saaledes literairt; Honoraret og Alt, hvad dertil hører vil kun være ubetydeligt; det at være Forfatter – naar man da ikke er Digter, og saa igjen dramatisk, eller man skriver Lærebøger eller paa anden Maade er Forfatter i Forhold til en Embedsstilling – omtrent den daarligst aflagte, den mindst betryggede, forsaavidt den utaknemmeligste Ansættelse.« Om min Forfatter-Virksomhed, SKS 13, 11.
1 2
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Joachim Grage
Mögen auch Dichter, und selbst die Dramatiker unter ihnen, darüber klagen, dass das symbolische Kapital, das sie anhäufen, sich nicht ohne weiteres in monetäres umwandeln lässt, so ist bei ihnen doch zumindest die akademische Zuständigkeit geklärt. Kierkegaards Wirksamkeit dagegen erweist sich selbst noch im wissenschaftlichen Diskurs als undankbar, weil sie sich wie wenige andere im Grenzbereich theologischen, philosophischen und literarischen Schreibens bewegt und von den Interpreten interdisziplinäre Kompetenzen verlangt. Im Folgenden soll an einigen prominenten Beispielen untersucht werden, wie Kierkegaards Werk zu einem Gegenstand der skandinavistischen Literaturwissenschaft geworden ist, d. h. zum Objekt literaturwissenschaftlicher Forschung, die sich mit den in den skandinavischen Sprachen verfassten literarischen Texten beschäftigt. Die Skandinavistik als literaturwissenschaftliche Disziplin ist vor allem außerhalb Skandinaviens verbreitet und dort mit einer Perspektive verbunden, aus der heraus Skandinavien als einheitlicher Kulturraum oder zumindest als eine Gruppe von eng benachbarten Kulturen betrachtet wird, was insbesondere für das 19. Jahrhundert zweifellos gelten kann. Die gesamtskandinavische Perspektive sei hier aber nicht als notwendige Bedingung betrachtet. Vielmehr sollen auch die einzelnen skandinavischen Nationalphilologien, wie sie in den jeweiligen skandinavischen Ländern betrieben werden, unter der Sammelbezeichnung »Skandinavistik« verstanden werden. Ich werde daher im Folgenden den Blick auf Kierkegaard sowohl von außen, nämlich von deutschen Skandinavisten, wie auch von innen, also von dänischen Literaturwissenschaftlern untersuchen. Dabei soll der Blick vor allem auf Kierkegaard als religiösen Schriftsteller und auf die jeweilige Bewertung dieses Status gerichtet werden, und zwar bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, als man von einer literaturwissenschaftlichen Entdeckung Kierkegaards sprechen kann. Im Hintergrund steht auch die Frage, was denn die literaturwissenschaftliche Perspektive jeweils für die Kierkegaardforschung insgesamt zu leisten vermochte bzw. welche Relevanz sie hatte.
I.
Kierkegaard als Literaturwissenschaftler?
Die Unsicherheit der Literaturwissenschaft gegenüber Kierkegaard steht in einem merkwürdigen Kontrast zu den literarischen Interes298 https://doi.org/10.5771/9783495820506 .
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sen und meta-literarischen Aktivitäten des Autors selbst. Betrachtet man die ersten Buchpublikationen Kierkegaards, so könnte man meinen, hier werde der Grundstein für eine Laufbahn als einflussreicher Kritiker und Proto-Vertreter der sich erst später formierenden Disziplin der Literaturwissenschaft gelegt. Die Auseinandersetzung mit Hans Christian Andersens Roman Kun en Spillemand (1835; Nur ein Spielmann) in Kierkegaards erstem Buch Af en endnu Levendes Papirer (1837; Aus den Papieren eines noch Lebenden) ist bei aller scharfzüngigen Polemik eine ebenso scharfsinnige Gattungsanalyse des Bildungsromans und des ihm zugrunde liegenden Weltbildes. Seine Dissertation Om Begrebet Ironi (1841, Über den Begriff der Ironie) ist zwar in erster Linie eine philosophische Analyse der Sokratischen Ironie, aber eben auch eine Auseinandersetzung mit der Literatur (und eben nicht nur der Philosophie) der deutschen Romantik. Nun tauchen diese beiden Werke in Kierkegaards nachgetragenem Gesamtplan seiner Tätigkeit als Schriftsteller allerdings gar nicht auf, werden also einer anderen Schriftsteller-Persona zugeschrieben als derjenigen des religiösen Schriftstellers, mit der sich Kierkegaard spätestens ab Mitte der 1840er Jahre identifiziert und als die er sich in seinen Selbstkommentaren inszeniert. 3 Gibt man sich dem Gedankenspiel hin, dass dieser Entwicklung keine historische Notwendigkeit zugrunde lag und dass Kierkegaard auch als Criticus und als Schriftsteller des Literarischen (und nicht auch als literarischer Schriftsteller) hätte weitermachen können, so wäre es durchaus möglich gewesen, dass er den um eine Generation älteren Johan Ludvig Heiberg in jener inoffiziellen Position des dänischen Großliteraten hätte beerben können, die ehemals Knud Lyhne Rahbek und später Georg Brandes innehatten. Mit anderen Worten: An Kierkegaard ist ein Vorläufer einer dänischen Literaturwissenschaft verloren gegangen. Literaturwissenschaft im 19. und frühen 20. Jahrhundert war in erster Linie Literaturgeschichte; auch Georg Brandes folgt beispielsweise diesem Paradigma in seinen Hovedstrømninger i det 19. Aarhundredes Literatur (1872–1890; Hauptströmungen in der Literatur des 19. Jahrhunderts), während man Kierkegaards fragmentarisches literaturwissenschaftliches Œuvre, zu dem ich auch die GyllemVgl. dazu Joachim Grage, »Selbst-Lektüre als Selbst-Gestaltung. Strategien der Offenheit in ›Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller‹«, in: Kierkegaard Studies. Yearbook 2010: Kierkegaard’s Late Writings, S. 289–303.
3
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bourg-Rezension En literair Anmeldelse zählen würde, eher in den Bereich der gelehrten Literaturkritik, der Gattungsanalyse, der Ideengeschichte und der Hermeneutik stellen würde. Vielleicht war das ein Grund dafür, dass es von der sich später formierenden akademischen Literaturwissenschaft zunächst nicht oder nur am Rande zur Kenntnis genommen wurde. Wenn über sein Erstlingswerk immer wieder kolportiert wird, nur er selbst und Andersen hätten es ganz gelesen, so wirft das auch ein bezeichnendes Licht auf die wissenschaftliche Rezeption seines Frühwerks Jahrzehnte später. Während ich weder in der dänischen Literaturwissenschaft noch in der deutschen Skandinavistik Traditionsspuren erkennen kann, die an den Frühschriften Kierkegaards im Sinne wissenschaftlicher Forschung ansetzen, ist eine Rezeption als Theoretiker der Literaturwissenschaft natürlich auch auf anderer Ebene in Erwägung zu ziehen, im Rahmen einer ästhetischen oder auch allgemeineren philosophischen Theorie, die dann die Grundlage des literaturwissenschaftlichen Umgangs mit Texten bilden. Dieser mögliche Einfluss müsste an Einzelfällen genauer herausgearbeitet werden, etwa am Werk Peter Szondis. 4 Häufig dürfte dieser Einfluss auch vermittelt sein, d. h. Kierkegaard wurde in der literaturwissenschaftlichen Theorie über andere Philosophen wie Heidegger, Levinas oder Derrida oder über Psychologen wie Lacan rezipiert, deren Kierkegaard-Bezüge wiederum manifest sind. Sicher ist ihm auch eine Rolle in einer vom Existenzialismus geprägten Literaturwissenschaft der 1950er und 1960er Jahre zuzuschreiben, doch auch dies ist wohl in den meisten Fällen diffus. Auf die Ausnahme beim Germanisten Walther Rehm werde ich noch zu sprechen kommen. Bei all dieser möglichen literaturtheoretischen Kierkegaard-Rezeption scheint mir allerdings die Idee des religiösen Schriftstellers entweder nicht im Zentrum zu stehen oder überhaupt keine Rolle zu spielen.
II.
Kierkegaards Texte als philologisches Problem
Um Kierkegaards Bedeutung für die Geschichte der Literaturwissenschaft zu beleuchten, müsste man schließlich noch die Frage stellen, wie die Beschäftigung mit Kierkegaards unveröffentlichtem Nachlass 4 Z. B. in Versuch über das Tragische (1961) oder in »Friedrich Schlegel und die romantische Ironie« (1954).
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und die daraus resultierende editorische Praxis die Entwicklung der dänischen Philologie beeinflusst hat, d. h. ob die konkrete Arbeit mit den Journalen und Aufzeichnungen zu generellen Erkenntnissen über den philologischen Umgang mit den Nachlässen von Autoren geführt hat. Denn während die Edition der gedruckten Schriften kaum philologische Probleme barg, stellte der handschriftliche Nachlass die Herausgeber vor Schwierigkeiten, wie man sie in der dänischen Philologie bis dato nicht kannte, da es schlicht keinen anderen bedeutenden Autor gegeben hatte, der ein derart umfassendes und systematisch angelegtes, das publizierte Werk kommentierendes und ergänzendes handschriftliches Œuvre hinterlassen hatte. Die Editionsgeschichte des Nachlasses wurde im Zusammenhang mit der Ausgabe Søren Kierkegaards Skrifter aufgearbeitet. 5 Während mit der Ausgabe der gedruckten Schriften in Samlede Værker Spezialisten mit editorischem Fachwissen (wenn auch nicht Skandinavisten) betraut waren – die klassischen Philologen Johan Ludvig Heiberg und A. B. Drachmann sowie der Ägyptologe Hans Ostenfeld Lange –, fiel der Nachlass in die Hände von philologischen Laien, wobei vor allem der erste Herausgeber, der Jurist H. P. Barfod, in den Augen späterer Editoren einigen Schaden angerichtet hat. Barfods Hauptverdienst sei das vollständige Verzeichnis über die Manuskripte, während seine sonstige editorische Arbeit »im Wesentlichen planlos und durchweg geprägt von einer alles andere als genialen Willkür« 6 gewesen sei, urteilte sein Nachfolger Peter Andreas Heiberg, der wiederum als Mediziner auch nicht vom Fach war, sich aber im Umgang mit Kierkegaards Manuskripten eine umfassende philologische Expertise erarbeitete und mit seiner eigenen, gemeinsam mit Victor Kuhr besorgten Ausgabe eine einzigartige philologische Leistung vollbrachte, die auch im Ausland großen Respekt fand, wie Steen Tullberg schreibt. 7 Ob sich die gewählten Lösungen für die philologischen Probleme im Zusammenhang mit Kierkegaards Texten aber auch in der Editionspraxis in Dänemark allgemein niedergeschlagen haben, ließe sich
5 Vgl. dazu Hermann Deuser und Richard Purkarthofer, »Einleitung«, in: DSKE 1, xi–xvii, bes. xii–xiv. 6 »væsentlig planløs og overalt præget af en alt andet end genial Vilkaarlighed«, P. A. Heiberg, Bidrag til et psykologisk Billede af Søren Kierkegaard i Barndom og Ungdom, Kopenhagen 1895, S. 130. 7 Vgl. Steen Tullberg, Søren Kierkegaard i Danmark. En receptionshistorie, Kopenhagen 2006, S. 37.
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wiederum nur an wenigen Beispielen prüfen, etwa anhand der Ausgabe der Tagebücher Hans Christian Andersens.
III. Kierkegaard als Gegenstand der Literaturwissenschaft Bereits mit der Frage nach den Impulsen, die aus der Beschäftigung mit Kierkegaards Texten für die philologische Theorie und Editionspraxis erwuchsen, ist Kierkegaard nicht als Theoretiker, sondern als Gegenstand der Forschung in den Blick genommen worden. Wie aber hat sich die Literaturwissenschaft überhaupt mit Kierkegaard auseinandergesetzt und unter welchen Fragestellungen hat sie welche Texte behandelt? Ausgangspunkt für meine Überlegungen ist eine nicht nur von Steen Tullberg bezüglich der neueren dänischen Kierkegaard-Rezeption konstatierte »Verschiebung der Aufmerksamkeit vom Epistemologischen zum Rhetorischen oder, wenn man so will, vom Kategorialen zum Diskursiven (vom Was zum Wie)«, 8 ein Wandel, der seit Mitte der 1990er Jahre zu beobachten sei. Auch Klaus Müller-Wille hält die Kierkegaard-Forschung der letzten Jahre für »massgeblich literaturwissenschaftlich inspirier[t]«, indem vermehrt versucht werde, den spezifischen rhetorischen und narrativen Strategien gerecht zu werden, mit denen Kierkegaard laboriert. Immer wieder wird dabei auf die grundlegende Lektüreerfahrung verwiesen, dass sich der theoretische Gehalt seiner Schriften nicht von deren spezifisch sprachlichen Gestaltung abheben lasse. Auf diese Weise distanziert man sich zunehmend von der immer noch dominanten existenzphilosophischen Interpretation seiner Schriften und widmet sich mehr und mehr den komplexen sprach- und medientheoretischen Beobachtungen, die in seinen Texten zum Ausdruck kommen. 9
Dass hier eine literaturwissenschaftliche Wende in der KierkegaardForschung generell diagnostiziert wird, ist insofern erstaunlich, als die Literaturwissenschaft unter den Disziplinen, die sich mit Kierkegaard beschäftigt haben, eher eine untergeordnete, wenn nicht marEbd., S. 110. »Det seneste tiår er Kierkegaard […] blevet udsat for litterære læsninger, en foskydning af opmærksonheden fra det epistemologiske til det retoriske, eller, om man vil, fra det kategoriale til det diskursive (fra hvad til hvorledes).« Sofern keine andere Quelle angegeben ist, stammen im Folgenden alle Übersetzungen vom Vf. 9 Klaus Müller-Wille, »Schattenspiele. Zum Verhältnis von Theorie und Theatralität in Søren Kierkegaards Enten-Eller«, in: Die Literatur der Literaturtheorie (Sammlung Variations, Bd. 10), hg. v. Boris Previšić, Bern u. a. 2010, S. 117–131, hier S. 117. 8
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Kierkegaard als (nicht nur) religiöser Schriftsteller
ginale Bedeutung hatte. Meine These ist, dass sich die Literaturwissenschaft auch deshalb mit Kierkegaard schwergetan hat, weil sie lange Zeit keinen eigenständigen Zugang zu den Texten entwickelt hat, der es ermöglicht hätte, auch den philosophischen, theologischen und psychologischen Diskursen, die die Forschung dominierten, Impulse zu geben. Ich will das an einigen Fallbeispielen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts erläutern, jeweils auch in Hinblick auf Kierkegaards selbst proklamierten Status als religiöser Schriftsteller.
IV. Kierkegaard als »Digter« Wie sehr die Literaturwissenschaft noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit Kierkegaard fremdelte, wird deutlich an dem Urteil, das Hans Brix in seinem Buch Danmarks Digtere (1925) über ihn fällt. Die Sammlung literarischer Portraits von Saxo Grammaticus bis Henrik Pontoppidan will allgemeinverständlich einen Überblick über die Geschichte der dänischen Dichtkunst geben. Ob Kierkegaard darin aber überhaupt einzuordnen sei, hält Brix für äußerst fraglich, denn »eine vollständige Dichtergabe war ihm nicht beschert«. 10 Zunächst scheint es, als folge er Kierkegaards Selbsteinschätzung als religiöser Schriftsteller: In seinem Zentrum sei Kierkegaard Theologe gewesen, doch auch dies habe sich nicht etwa in religiösen Dichtungen niedergeschlagen. Die Religion Kierkegaards sei der Inhalt seines Ichs gewesen, insofern sei »sein ganzes Werk [zwar] ein unendliches Stück Poesie – doch voll und ganz nur für ihn selbst«. 11 In einigen Texten seien durchaus »poetische Kräfte« zu spüren, dann hätten auch Teile des Ganzen »den Charakter dichterischer Werke, wenn nämlich Bildproduktion, Figurenhervorbringung, Stoffverdichtung und Stilkunst zur Anwendung kommen«. 12 Selbst wenn einmal dichterische Züge vorhanden seien, merke man doch schnell, »dass es bloß Kulissen sind, die er aufstellt«. 13 Hans Brix, »Søren Kierkegaard«, in: ders., Danmarks Digtere. Fyrretyve Kapitler af dansk Digtekunsts Historie med Billeder, Kopenhagen 1925, S. 305–312, hier S. 305: »en hel Digtergave var ham ikke beskaaret«. 11 Ebd., S. 306: »For saa vidt er hele hans Forfatterskab eet uendeligt Stykke Poesi; men fuldt ud kun for ham selv.« 12 Ebd.: »poetiske Kræfter«, »Karakter af Digterværker, nemlig naar der bringes Billeddannelse, Figurfremførelse, Stoffortætning og Stilkunst til anvendelse«. 13 Ebd.: »at det blot er Kulisser, som han stiller op«. 10
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Dabei ist bereits die Textgruppe, auf die sich Brix bezieht, äußerst schmal. Das ausschlaggebende Auswahlkriterium ist für ihn die »dichterische Form«, 14 und dieses erfüllten aus Enten – Eller (Entweder – Oder) lediglich die »Diapsalmata« und »die Novelle ›Forførerens Dagbog‹« 15 (Tagebuch des Verführers), die zwar »alle äußeren Kennzeichen eines Dichterwerks« habe, der es aber an »poetischer Ehrlichkeit« mangle, 16 außerdem Gjentagelsen (Die Wiederholung) und aus den Stadier paa Livets Vej (Stadien auf dem Lebensweg) die Teile »›Skyldig?‹ – ›Ikke-Skyldig?‹« (Schuldig? – Nicht schuldig?) und »In vino veritas«. Gnade vor Brix’ Augen findet allein die Sprache Kierkegaards, die er denn auch bildreich würdigt: Doch an den entscheidenden Stellen strömt und schäumt seine Rede wie ein Wasserfall über ein jedes Hindernis dahin. Sie braust von leidenschaftlichem Gedanken, sie brodelt von überlegenem Spott. Die Bilder, die sie formt, sind einleuchtend und algebraisch richtig. Und sie kann, wenn auch selten, eine große Zartheit und Innerlichkeit in sich einschließen. 17
Dennoch zähle aber Søren Kierkegaards Werk nicht zur »Dichtkunst«, sondern zur »philosophischen Theologie«, 18 die Brix wiederum für hermetisch und unerbittlich hält. Es ist bei Brix also der Literaturbegriff, der einer literaturwissenschaftlichen Perspektivierung im Wege steht. Er sucht nach absoluter, autonomer, reiner Poesie, die ihren Wert aus sich selbst heraus empfängt und nicht im Dienste anderer Diskurse steht. Das Konzept eines religiösen Schriftstellers im Sinne eines religiösen Dichters muss ihm als Paradox erscheinen. Dieses recht doktrinäre Literaturverständnis und die negative Bewertung Kierkegaards als Dichter stehen in deutlichem Kontrast zu dem Bild desjenigen Literaten und Literaturhistorikers, der einen wesentlichen Anteil an der Popularisierung Kierkegaards im späten 19. Jahrhundert hatte: Georg Brandes. Dessen Kierkegaard-Monographie, entstanden aus einem Vorlesungszyklus an der Kopen-
Ebd., S. 311: »digterisk Form«. Ebd., S. 308: »Novellen ›Forførerens Dagbog‹«. 16 Ebd.: »alle ydre Kendetegn af et Digterværk«, »poetisk Ærlighed«. 17 Ebd., S. 311: »Men paa de afgørende Steder strømmer og skummer hans Tale som et Vandfald hen over enhver Hindring. Den bruser af lidenskabelig Tanke, den syder af overlegen Spot. De Billeder, som den danner, er indlysende og algebraisk rigtige. Og den kan, men hvor sjældent, i sig indeslutte en stor Ømhed og Inderlighed.« 18 Ebd., S. 312: »Men iøvrigt hører Søren Kierkegaards Værk ikke ind under Digtekunsten, men under den filosofiske Theologi.« 14 15
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hagener Universität, würdigt Kierkegaard nämlich gerade als Schriftsteller, wenn auch kritisch als religiöser Schriftsteller. Brandes’ Äußerung gegenüber Nietzsche, er habe das Buch »geschrieben um seinen Einfluss zu hemmen«, 19 bezieht sich vor allem auf Kierkegaards Theologie, die er als antimodern ablehnt. Lediglich seinen Kampf gegen die Staatskirche betrachtet er als heroische Tat, weil er mit ihm die herbeigesehnte Säkularisation von Staat und Gesellschaft heraufziehen sieht. Literarisch dagegen fällt das Urteil über Kierkegaard sehr positiv aus. Im Gegensatz zu Brix attestiert ihm Brandes »außerordentlich[e] poetisch[e] Gaben«,»Forførerens Dagbog« und »In vino veritas« hält er für »unzweifelhaft das in literarischer Hinsicht Vorzüglichste, was Kierkegaard geschaffen hat«. 20 Er hält fest, daß kein Schriftsteller in unserer Literatur tiefer in die Abgründe des Menschenherzens hinabgetaucht ist, daß keiner inniger gefühlt, schärfer gedacht oder einen höheren Schwung in seiner Begeisterung für die Ideale der Reinheit und Festigkeit genommen hat. 21
Sein Lob bezieht sich auch auf diejenigen Texte, von denen man vermuten würde, dass Brandes sie inhaltlich am geringsten schätzt: die geistlichen Reden. Obwohl er sie abtut als »psychologische Untersuchungen, auf einer mangelhaften und konventionellen Psychologie begründet«, zollt er ihnen dennoch ausdrücklich »Respekt«: Es waltet ein edler, maßvoll beherrschter Geist darin. Es macht einen ergreifenden Eindruck, denselben Mann, der sich zum Dolmetsch der wildesten Leidenschaften machen konnte, so schlicht, so gemessen, so bekümmert zu
Correspondance de Georg Brandes. Lettres choisies et annotées par Paul Krüger, Bd. 3: L’Allemagne, Kopenhagen 1966, S. 448. Zum Briefwechsel mit Nietzsche vgl. Joachim Grage, »Aristokratische Restauration und schöpferische Radikalität. Der Briefwechsel zwischen Georg Brandes und Friedrich Nietzsche«, in: ›Schöpferische Restauration‹. Traditionsverhalten in der Literatur der Klassischen Moderne (Klassische Moderne, Bd. 21), hg. v. Barbara Beßlich und Dieter Martin, Würzburg 2014, S. 33–43. 20 Georg Brandes, Sören Kierkegaard. Ein literarisches Charakterbild. Autorisierte deutsche Ausgabe, Leipzig 1879, S. 139 f. Original: »overordentlige Digterevner«, »sikkert det i literær Henseende Ypperste, Kierkegaard har skrevet«, ders., »Søren Kierkegaard. En kritisk Fremstilling i Grundrids (1877)«, in: ders., Samlede Skrifter, Bd. 2, Kopenhagen 1899, S. 249–418, hier S. 338 f. 21 Brandes, Sören Kierkegaard (1879), S. 240. Original: »at ingen Forfatter i vor Literatur er gaaet dybere tilbunds i Menneskehjertets Afgrunde, at ingen har følt mere inderligt, tænkt mere skarpt eller har taget en højere Flugt i sin Begejstring for Renhedens og Fasthedens Idealer.« Brandes, »Søren Kierkegaard« (1899), S. 404. 19
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seinen Mitmenschen reden und ihnen den besten Trost, der ihm zu Gebote steht, auf die Reise durchs Leben mitgeben zu hören. 22
Deutlich wird an dem Zitat, dass Brandes eher von dem Sprechakt der erbaulichen Rede und dessen Performativität beeindruckt ist, weniger vom Inhalt des Gesagten. Dem Konzept des religiösen Schriftstellers bescheinigt Brandes eine grundlegende Ambiguität, die auch in der Gattung der erbaulichen Rede sichtbar werde. Diese nämlich dürfe, so Brandes, »als erbaulich, niemals dichterisch, niemals Poesie werden. Sie darf alle Seelenzustände schildern, aber niemals individuell, niemals mit der fesselnden Lebendigkeit der Realität.« 23 Ihr bleibe nur »eine Bastardart der Darstellung: die halb allgemeine, halb individuelle«. 24 Unter umgekehrten Vorzeichen hindert auch hier der Literaturbegriff eine Anerkennung des Status als religiöser Schriftsteller. Anders als Brix sieht Brandes das Poetische nicht in der dichterischen Formung des eigenen Ichs zu etwas Allgemeingültigem, sondern in der Ausrichtung an der subjektbezogenen Realität in ihrer Individualität. Dass ausgerechnet der bekennende Atheist Brandes normative Regeln für das Reden über Religiöses aufstellt, ist natürlich grotesk. Es ist offensichtlich, dass Brandes sich auf Kierkegaards Konzept des religiösen Schriftstellers nicht einlassen will, sondern ihn stattdessen als Schriftsteller der Moderne bzw. als Märtyrer der Moderne 25 und somit als Vorläufer seiner selbst inszenieren will.
22 Brandes, Sören Kierkegaard (1879), S. 194. Original: »sjælelige Ransagelser byggede paa en mangelfuld og vedtagen Sjælelære«, »Ærbødighed«, »Der er en ædel, en behersket Sjæl i disse Taler. Det gør et gribende Indtryk at høre den samme Mand, der formaaede til at gøre sig til en vild Lidenskabeligheds Tolk, tale saa jævnt, saa afmaalt, saa bekymret til sine Medmennesker og give dem den bedste Trøst, han formaar, med paa Rejsen gennem Livet.« Brandes, »Søren Kierkegaard« (1899), S. 374. 23 Brandes, Sören Kierkegaard (1879), S. 195. Original: »som opbyggelig aldrig blive digterisk, aldrig Poesi. Den tør skildre alle Sjælstilstande, men aldrig for et enkelt Menneskes Vedkommende, aldrig med Virkelighedens fængslende Liv.« Brandes, »Søren Kierkegaard« (1899), S. 375. 24 Brandes, Sören Kierkegaard (1879), S. 195. Original: »en Bastardart af Fremstilling […], den halvt almene, halvt individuelle.« Brandes, »Søren Kierkegaard« (1899), S. 375. 25 Vgl. Joachim Grage, »Der Märtyrer der Moderne. Rolle und Funktion der Biographik in Georg Brandes’ Kierkegaard-Rezeption«, in: Anekdote – Biographie – Kanon. Zur Geschichtsschreibung in den schönen Künsten (Biographik. Geschichte – Kritik – Praxis, Bd. 1), hg. v. Melanie Unseld und Christian von Zimmermann, Köln u. a. 2013, S. 161–176.
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V.
Kierkegaard in der deutschen Literaturwissenschaft: Die Anfänge
Trotz der intensiven literarischen Rezeption Kierkegaards im frühen 20. Jahrhundert 26 und trotz (oder vielleicht sogar wegen) der intensiven Rezeption in der deutschen Theologie und der Philosophie 27 ist Kierkegaard von der deutschen Literaturwissenschaft erst spät entdeckt worden. Das liegt nicht zuletzt an der akademischen Landschaft, denn bis 1968 gab es keinen einzigen Lehrstuhl für neuere skandinavische Literaturen in Deutschland. Da Literaturwissenschaft bis dato im nationalphilologischen Rahmen betrieben wurde, waren es in erster Linie Germanisten, die die skandinavischen Literaturen mit einbezogen, so wie auch die Altnordistik als Unterabteilung der Germanistik betrachtet wurde. Entsprechend waren es fast ausschließlich die ›großen‹ nordischen Autoren, die hierzulande wissenschaftlich untersucht wurden, und zwar ausschließlich jene, die auch ins Deutsche übersetzt waren und hier intensiv rezipiert wurden – von den Autoren des 19. Jahrhunderts vor allem Ibsen. Eine der frühesten literaturwissenschaftlichen Abhandlungen über Kierkegaard erschien denn auch im Rahmen der deutschen Ibsen-Forschung, Werner Möhrings Berliner Dissertationsschrift Ibsen und Kierkegaard von 1928, die allerdings wiederum Kierkegaard in erster Linie als Ideengeber Ibsens in den Blick nahm und daher seine Texte in erster Linie auf ihren ›Gehalt‹ hin las. Gerade aber weil Ibsen Kierkegaard sehr wohl als Schriftsteller des Religiösen wahrgenommen und sich als solcher mit ihm auseinandergesetzt hat – in diesem Zusammenhang wird vor allem sein Drama Brand um den von kompromisslosem Glaubenseifer besessenen Pfarrer als zentrales Werk angesehen –, beleuchtet Möhring auch das Verhältnis von Religion und Literatur, jedoch in erster Linie in Hinblick auf Ibsen, und nicht auf Kierkegaard. 28 Wiederum wird Kierkegaard nicht als ›literarischer‹ Autor wahrgenommen, was seine literaturwissenschaftliche Rezeption beeinträchtigt. Die erste Monographie eines deutschen Literaturwissenschaftlers, die ausschließlich Kierkegaard gewidmet war, erschien 1949 un26 Vgl. Christian Wiebe, Der witzige, tiefe, leidenschaftliche Kierkegaard. Zur Kierkegaard-Rezeption in der deutschsprachigen Literatur bis 1920 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Bd. 311), Heidelberg 2012. 27 Vgl. Heiko Schulz, Aneignung und Reflexion, Bd. 1: Studien zur Rezeption Søren Kierkegaards (Kierkegaard Studies. Monograph Series, Bd. 24), Berlin 2011. 28 Vgl. Werner Möhring, Ibsen und Kierkegaard (Palaestra, Bd. 160), Leipzig 1928.
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ter dem Titel Kierkegaard und der Verführer, eine 620 Seiten lange Studie des Freiburger Germanisten Walther Rehm. Auf seine Sonderstellung in der deutschen Kierkegaard-Forschung weist der Autor im Vorwort explizit hin, wenn er fast apologetisch schreibt: »Die vorliegende Arbeit ist nicht von einem Theologen oder Psychologen oder Philosophen geschrieben worden, sondern von einem Literarhistoriker« 29 – so als sei dies ein exotischer Zugang zu Kierkegaard. An gleicher Stelle beruft er sich auf die theologischen Studien Emanuel Hirschs, »in denen eigentlich zum ersten Mal das spannungsreiche, quälende Verhältnis zwischen Dichterischem und Religiösem an der Gestalt Kierkegaards in scharfsinnigen Analysen dargestellt worden ist.« 30 Rehm interessiert sich allerdings nun weniger für die literarische Form und für die Sprache Kierkegaards (er zitiert ihn meist aus der deutschen Übersetzung Christoph Schrempfs) als für sein Verhältnis zur Romantik und damit zum Literarischen, denn Kierkegaards Verständnis von Dichtung sei durch und durch romantisch geprägt und damit zumindest ambivalent, wenn nicht gar als dämonisch und das Subjekt gefährdend besetzt: Auch der Dichter ist ein Verführer, auch er ist ein ›unredlicher Mensch‹. Kierkegaard hat das mit fortschreitenden Jahren in merkwürdig unerbittlicher Einseitigkeit entwickelt, die in dieser Form nur im protestantischen Raum möglich ist und sich bei ihm fast bis zum fanatischen Kunsthaß steigert. 31
Wichtig sei nun die Umwertung im Zusammenhang mit der Tätigkeit als Schriftsteller des Religiösen, ohne dass dabei jedoch die grundlegende Ambivalenz des verführenden Dichters ganz getilgt werden kann: Kierkegaard möchte »in planmäßiger, sukzessiver Betörung, in einer ›höheren Art von Verführung‹, nicht als Dichter, sondern als religiöser Schriftsteller seine Mitmenschen zum Religiösen, zum wahren Christentum führen, verführen«. 32 Letztlich plädiert Rehm also dafür, den von Kierkegaard gewählten Skopus des religiösen Schriftstellers durch den des Verführers bzw. des verführenden Dichters zu ersetzen, womit eine Verschiebung von der inhaltlichen Ebene der Texte auf ihre Wirkungsabsicht einhergeht.
29 30 31 32
Walther Rehm, Kierkegaard und der Verführer, München 1949, S. 8. Ebd. Ebd., S. 324. Ebd., S. 347.
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Was aber ist an der Argumentation literaturwissenschaftlich? Die Fokussierung auf die Rolle des Dichters? Die Textbehandlung jedenfalls ist es nicht unbedingt, sie unterscheidet sich kaum von der Praxis in anderen Diskursen, lediglich die Textnähe Rehms fällt auf. Immer wieder lässt Rehm Kierkegaard ausführlich zu Wort kommen, und ein großer Verdienst seiner Untersuchung liegt darin, Querbezüge zwischen den einzelnen Texten, zwischen publizierten Werken und den Journalen und Aufzeichungen herzustellen. Tatsächlich ist sich Rehm aber offenbar sicher, einen authentischen Kierkegaard zu lesen, ihn hinter den Masken der Pseudonyme und hinter der Ironie immer wieder deutlich zu erkennen. Das Buch liest sich wie eine typische Werkmonographie, die eine durchgängige Lesart für das gesamte Schaffen anbieten will.
VI. Die literarische Wende In Dänemark hat die Literaturwissenschaft ebenfalls erst spät an die durch Brandes eingeleitete literarische Würdigung Kierkegaards wieder angeschlossen, und zwar kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Hier leitet der Kopenhagener Literaturprofessor F. J. Billeskov Jansen diesen ersten ›literary turn‹ im Jahr 1951 ein, dem dann – glaubt man Tullberg und Müller-Wille – zum Ende des Jahrhunderts ein zweiter folgen sollte. In seiner kleinen Kierkegaard-Studie konstatiert Billeskov Jansen, dass man sich mit der literarischen Kunst Kierkegaards noch nicht wirklich beschäftigt habe. Doch wo gegenwärtige Literaturwissenschaftler auf die Integration von Mitteilungsform, Mitteilungsmethode und Mitteilungsinhalt bestehen, sieht Billeskov Jansen die Beschäftigung mit dem Literaten und dem Philosophen Kierkegaard als zwei getrennte, wenngleich komplementäre Prozesse an und gibt damit zugleich eine Begründung für die Verspätung, mit der die literaturwissenschaftliche Erforschung des Autors einsetzt: Einige Generationen hatten genug damit zu tun, die Gedanken bei Søren Kierkegaard herauszuarbeiten. Diese Arbeit ist noch keineswegs abgeschlossen, aber wir sind nun so weit, dass die großen Linien in Kierkegaards Gedankengebäude deutlich hervortreten, und wir können anfangen zu studieren, nicht nur was Kierkegaard dachte, sondern auch wie er seine Gedanken ausdrückte. Und dies ist immer der Weg, den der Wissenschaftler gehen muss. Es kann nicht weiterhelfen, bei Kierkegaards Werk von den stilistischen Details auszugehen, sich sofort auf seinen Gebrauch von Figuren und
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Metaphern, von Ironie und Humor im Stil usw. zu stürzen. Im Gegenteil: Die philosophische Aneignung muss vorangehen, ist eine unumgängliche Voraussetzung für die literarische. Man muss den Platz jedes Werkes in der langen Reihe des Gesamtwerks kennen, und danach muss man sich genau mit dem geistigen Inhalt des Einzelwerks auseinandersetzen, bevor man über den ästhetischen Zusammenhang spricht. Wenn wir auf diese Weise ein Werk Kierkegaards als Gedankengebäude behandelt haben, können wir anfangen, seine literarische Konstruktion zu erforschen. Wir müssen die Architektur der Gedanken begreifen, um die des Ausdrucks zu beschreiben, wir müssen den inneren Zusammenhang, den Gedankengang verstehen, bevor wir darauf hoffen können, etwas Gültiges über die äußere Struktur, die Komposition und den Stil zu sagen. 33
Forschungsgeschichte und aktuelle Forschungspraxis stehen demnach zu einander wie Phylogenese und Ontogenese: Die notwendige Abfolge von philosophischer und anschließender literarischer Aneignung vollzieht sich sowohl historisch wie auch im einzelnen Lektüreakt. Es gibt zwei wesentliche Voraussetzungen für diese Sichtweise: Zum einen übernimmt Billeskov Jansen die Kierkegaardsche Selbsteinschätzung eines einheitlichen, geschlossenen Gesamtwerkes, aus dem heraus kein einzelnes Werk isoliert betrachtet werden darf, zum anderen misst er der formalen und stilistischen Gestaltung, der Gattungsfrage und der Rolle des Narrativen lediglich eine akzidentelle Bedeutung bei – man kann die Werke offenbar auch verstehen, ohne ihren Bauplan zu kennen. Der Philosoph und der Theologe bedarf des Literaturwissenschaftlers nicht, umgekehrt dagegen sehr wohl. Diese Sichtweise relativiert sich dann in der analytischen Arbeit »Nogle Generationer har haft nok at gøre med at udrede Tankerne hos Søren Kierkegaard. Arbejdet er ingenlunde til Ende, men vi er da nun saa langt, at de store Linjer i Kierkegaards Tankebygning træder tydeligt frem, og vi kan begynde at studere, ikke blot hvad Kierkegaard tænkte, men hvorledes han udtrykte sine Tanker. Og det er stadig denne Vej, Forskeren maa gaa. Det kan over for Kierkegaards Forfatterskab ikke nytte at begynde med Stilens Mindstedele, straks at styrte sig ud i hans Brug af Figurer og Metaforer, af Ironi og Humor i Stilen, osv. Tværtimod, den filosofiske Tilegnelse maa gaa forud, er en uomgængelig Betingelse for den litterære. Man maa kende hvert Værks Plads i Forfatterskabets lange Række, og dernæst maa man have nøje Rede paa det enkelte Værks Aandsindhold, før man taler med om den æstetiske Sammenhæng. Har vi saaledes behandlet et kierkegaardsk Værk som en Tankebygning, kan vi begynde at udforske dets litterære Konstruktion. Vi maa fatte Tankens Arkitektur for at kunne beskrive Udtrykkets, vi maa forstaa den indre Sammenhæng, Tankegangen, før vi kan haabe at sige noget gyldigt om den ydre Struktur, Kompositionen og Stilen.« F. J. Billeskov Jansen, Studier i Søren Kierkegaards litterære Kunst, Kopenhagen 1951.
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an den Texten. Billeskov Jansen nimmt nämlich eine Werkgruppierung vor, die einerseits der bis dato etablierten Einteilung in ästhetische, erbauliche und philosophische Schriften entspricht, nennt die erste Gruppe aber »Die großen Romanwerke«, 34 ein Begriff, den man nur verwenden kann, wenn man den Bauplan der Texte zu kennen meint. Er zielt mit dieser Bezeichnung auf Enten – Eller und die Stadier paa Livets Vej ab, deren formale, strukturelle und inhaltliche Ähnlichkeit er offenlegt und die er überzeugend in der Tradition des Bildungsromans und der deutschen Romantik verortet. Wenn er »›Skyldig?‹ – ›Ikke-Skyldig?‹« schließlich als »Höhepunkt und Schlusspunkt für [Kierkegaards] rein dichterisches Wirken« 35 bezeichnet, wird damit Kierkegaards Selbsteinschätzung als religiöser Schriftsteller indirekt konterkariert, denn reines Dichten kann es in diesem Konzept nicht geben – jegliches Schreiben stünde schließlich im Dienste der Religion. Hinsichtlich anderer Werke nimmt er Differenzierungen vor: Gjentagelsen und Frygt og Bæven (Furcht und Zittern) sind für ihn »die am meisten dichterischen« Texte unter den »philosophischen und theologischen Schriften«, 36 und dabei rückt er deren literarische bzw. dichterische Qualitäten so sehr in den Vordergrund, dass man sich fragen muss, ob man hier wirklich jeden Teil des Gesamtwerks kennen muss, um sie literarisch würdigen zu können. Die »Lovtale over Abraham« (Lobrede auf Abraham) wird da zu »wirklicher Lyrik, einem Prosagedicht über den Glauben, kunstvoll aufgebaut, stilistisch moduliert«, und im Falle der vier Abrahamerzählungen scheut sich Billeskov Jansen nicht, zum Superlativ zu greifen: »Ich kenne in der Literatur kein Seitenstück zu diesen variierenden Paraphrasen.« 37 Der Begriff des Dichters, den Brandes prinzipiell vermied und den Brix nicht auf Kierkegaard anwenden mochte, wird von Billeskov Jansen nunmehr durchweg unhinterfragt und geradezu emphatisch verwendet, um die literarische Qualität des Kierkegaardschen Schreibens herauszustellen. Allerdings stellt sich die Frage, was diese literarische Umwertung Kierkegaards letztlich austrägt. Was erfährt man Neues über Kierkegaards Texte, außer dass sie etwas anders gruppiert, einer de»De store Romanværker«, ebd., S. 21. »Højdepunktet og Slutpunktet for sin rent digteriske Virksomhed«, ebd., S. 43. 36 »de mest digteriske«, »filosofiske og teologiske Skrifter«, ebd., S. 46. 37 »virkelig Lyrik, et Prosadigt om Troen, kunstfuldt opbygget, stilistisk moduleret«, »Jeg kender i Litteraturen ikke noget Sidestykke til disse varierende Parafraser.« Ebd., S. 47. 34 35
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skriptiven stilistischen Analyse unterzogen und anschließend literaturkritisch gewertet werden? Die Reichweite der an sich einlässlichen Analysen wird durch den theoretischen Ansatz, dass Inhalt und Gesamtbau verstanden sein müssen, bevor man die sprachliche Gestaltung in den Blick nimmt, dass Inhalt und Form eines Gedankens unabhängig voneinander betrachtet werden können, von vornherein eingegrenzt, zumal die stilistischen und gattungstheoretischen Analysen nicht in einem hermeneutischen Zirkel an die inhaltliche Interpretation zurückgebunden werden. Hier zeigt sich, dass sowohl Brix als auch Billeskov Jansen nach nichts anderem als nach der literarischen Qualität fragen, insofern also eher literaturkritisch als literaturwissenschaftlich vorgehen und letztlich Allgemeinplätze der übrigen Kierkegaard-Forschung perpetuieren. Dieser ernüchternde Befund kann abschließend ansatzweise relativiert werden, indem Aage Henriksens Disputationsschrift Kierkegaards Romaner von 1954 in den Blick genommen wird. Der Titel seiner Arbeit macht bereits deutlich, dass hier nicht das Gesamtwerk, sondern lediglich ein Teil daraus untersucht wird und dass dieser Teil wiederum als literarischer Text verstanden wird. Anders als Billeskov Jansen, der Enten – Eller und die Stadier insgesamt als Romane bezeichnet hat, verwendet Henriksen diesen Begriff nur für Teile daraus und einen weiteren Text: »Forførerens Dagbog«, »›Skyldig?‹ – ›IkkeSkyldig?‹« und Gjentagelsen. Diese Texte nähmen »eine Sonderstellung unter SK.s pseudonymen Werken [ein] durch ihre epische Form«, es seien »Romane im traditionellen Sinne«. 38 Ziel seiner Analysen sei eine »Interpretation der Werke als ästhetisches Ganzes und [eine] Bestimmung ihres Verhältnisses zu den pseudonymen Autoren, die als ihre Herausgeber zeichnen«. 39 Damit verortet sich Henriksen explizit im New Criticism, der immer wieder »die Einheit und Selbständigkeit des dichterischen Werkes« 40 postuliert habe. Nach dem damaligen Verständnis von Literatur behandelt er die Texte also als rein literarische Werke, die nur werkimmanent zu interpretieren
»en særstilling blandt SK.s pseudonyme værker ved deres poetiske Form«, »romaner i traditionel forstand«, Aage Henriksen, Kierkegaards Romaner, Kopenhagen 1954, S. 8. 39 »tolkning af værkerne som æstetiske helheder og bestemmelse af deres forhold til de pseudonyme forfattere, som står som deres udgivere«, ebd., S. 9. 40 »den nyere kritik, som […] har hævdet digterværkets enhed og selvstændighed«, ebd. 38
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seien. Gleichzeitig erkennt er aber auch das Problem einer historischen Semantik und rückt dies in das Zentrum seiner Analysen: Es geht ihm um Begriffe wie den der Reflexion, die die Pseudonyme unterschiedlich und abweichend von deren gängiger Bedeutung verwenden. Henriksen ist äußerst kritisch hinsichtlich jeglicher Gleichsetzung von fiktivem und realem Autor, er erlaubt sich aber Rückgriffe auf andere Texte Kierkegaards im Sinne einer seiner Ansicht nach zulässigen »besonderen Orientierung im Wörtervorrat einer vergangenen Zeit«. 41 Auch wenn die werkimmanente Lesart, wie Henriksen sie betreibt, heute nicht mehr als literaturwissenschaftliches Paradigma zu überzeugen vermag, und auch wenn die Begründung für seine Textauswahl sehr konstruiert ist, so muss man doch sagen, dass seine Lesart gegenüber den theologischen, philosophischen und psychologischen Interpretationen Kierkegaards ein eigenes literaturwissenschaftliches Profil zeigt. Es gelingt ihm dabei viel überzeugender und methodisch kontrollierter als seinen Vorgängern, die literarischen Verfahren der Texte zu durchleuchten und sie wie Romane zu interpretieren, ohne dabei eine Aussageabsicht des realen Autors zu konstruieren.
VII. Resümee und Ausblick Wie sich gezeigt hat, war es nicht zuletzt häufig der Literaturbegriff der Literaturwissenschaft, der den literaturwissenschaftlichen Blick auf Kierkegaards Werk verstellt hat. In der besten Absicht, dem Autor literarische Ehren angedeihen zu lassen, wurde ein literarisches Werk Kierkegaards konstruiert, das sich von einem nicht literarischen unterscheiden ließ. Anders als bei Henriksen blieben die Kriterien der Literarizität dabei oft entweder verborgen oder ließen sich allenfalls implizit ableiten. Im Kern wurde das Literarische mit dem Dichterischen gleichgesetzt, wobei Kierkegaards eigene Überlegungen zum Begriff des Dichters und seine Auffassung des Literarischen nicht für die eigene Begriffsbildung reflektiert wurden. 42 »speciel orientering i en svunden tids ordforråd«, ebd., S. 13. Vgl. dazu die Essays »Søren Kierkegaards øjeblik« und »Søren Kierkegaards litteraturopfattelse og hans egen littære praksis« in Jørgen Bonde Jensen, Jeg er kun en Digter. Om Søren Kierkegaard som skribent, Kopenhagen 1996, S. 7–54 und 90–121.
41 42
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Zwar haben sich Literaturwissenschaftler auch später besonders für diejenigen Texte interessiert, die Verfahren des Fingierens und Inszenierens und des Narrativen aufweisen, also insbesondere die pseudonym publizierten Werke (und hier vor allem die Schriften von 1843 und die Stadier paa Livets Vej), aber zugleich hat sich das Bild Kierkegaards als eines durch und durch literarischen Autors, dessen Werk in verschiedene diskursive Kontexte zu stellen ist und das unterschiedliche diskursive Praktiken aufweist, auch außerhalb der Literaturwissenschaft durchgesetzt. Gerade für eine kulturwissenschaftlich orientierte Literaturwissenschaft, die sich für die Verschränkung von Diskursen interessiert, ist Kierkegaard daher ein attraktiver Autor. 43 Nach der innerdisziplinären Dethronisation des Autors und seiner Autorität seit den späten 1960er Jahren, in deren Folge die Frage danach, was ›uns‹ ›der Autor‹ mit dem ›Werk‹ ›sagen‹ will, obsolet geworden ist, stehen viele Literaturwissenschaftler den Selbstdeutungen Kierkegaards kritisch gegenüber. Das betrifft nicht zuletzt seine Selbstinterpretation als religiöser Schriftsteller. Die Skepsis mag auch daher rühren, dass man in der Vielstimmigkeit des Kierkegaardschen Œuvres eine Spur der Moderne sieht, die mit der Religiosität der Texte und Kierkegaards offensiver Positionierung als Christ scheinbar schwer in Einklang zu bringen ist. Doch angesichts eines auch in der skandinavistischen Literaturwissenschaft zu beobachtenden neuen Interesses an den Beziehungen zwischen Religion und Literatur in der Moderne ist auch hier mit Revisionen zu rechnen.
Als ein paradigmatisches Beispiel unter vielen sei hier zu nennen: Sophie Wennerscheid, Das Begehren nach der Wunde. Religion und Erotik im Schreiben Kierkegaards, Berlin 2008.
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IV. Religiöse Rede nach Kierkegaard
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Post-Kierkegaardsche religiöse Rede Komparative Schattierungen in Religionsphilosophie, Literaturkritik und Künsten Peter Tschuggnall
Kunst und Leben sind nicht eins, aber sie müssen in mir einheitlich werden, in der Einheit meiner Verantwortung. Michail M. Bachtin 1 Was meinen wir, wir Europäer, wenn wir heute auf solch geläufige, gemeinverständliche und verwirrte Weise von einer »Rückkehr des Religiösen« sprechen? Was rufen wir beim Namen, worauf beziehen wir uns? Ist die Religion das »Religiöse«, die Religiosität, die man undeutlich mit der Erfahrung der Göttlichkeit des Göttlichen, des Heiligen, des Heilen und Geborgenen (holy) verbindet? Jacques Derrida 2 Reale-Gegenwart-Lektüren. George Steiner 3
Für ästhetische Betrachtungen, die sich an transliterarischen Fortschreibungen einer religiösen Rede in Anlehnung an Kierkegaard orientieren, scheint der angloamerikanische Begriff der ›Comparative Humanities‹ ein möglicher Ausgangspunkt. Beginnend mit Stichworten zu Kierkegaard, seiner Zielgerichtetheit als Schriftsteller und seiner persönlichen Verfasstheit (I), zuzüglichen Betrachtungen über das Spannungsgewinde zwischen Glaube und Zweifel und Sprache und Schweigen (II) wollen abrundende Betrachtungen SchattierunMichail M. Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, hg. v. R. Grübel, Frankfurt am Main 1979, S. 94. 2 Jacques Derrida/Gianni Vattimo, Die Religion, Frankfurt am Main 2001, S. 55. 3 Referenz auf Buchtitel von George Steiner, Von realer Gegenwart, München 1990; ders., Im Raum der Stille: Lektüren, Frankfurt am Main 2011. 1
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gen einer post-kierkegaardschen religiösen Rede umkreisen (III). Leitmotivisch möge abzulesen sein, dass die ›Marke Kierkegaard‹, die Denkbewegungen von der Antike an aufsaugt und modernen wie postmodernen Geisteshaltungen und Textzugängen gangbare Wege ebnet(e), Aktualität in Theorie wie Praxis ›lebt‹. 4
I. Für eine kreative Lesbarkeit von Literatur und Künsten, besonders auch in ihrem Spannungsgewinde zu den Wissenschaften, im Besonderen der Philosophie und Theologie, war Kierkegaard, wie in vielen Belangen, ein Impulsgeber. 5 Eines seiner Bücher nannte er Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller, sich selbst bezeichnete er ausdrücklich als einen ›religiösen Schriftsteller‹. »Eine Einführung in das Denken Kierkegaards zu schreiben stellt vor Schwierigkeiten ganz besonderer Art«, schreibt Boris Groys. 6 »It is difficult to write about Sören Kierkegaard (1813–55),« kennzeichnet George Steiner die verzweigte Suche nach Lösungen, die zu einer Durchdringung von Kierkegaards Denkhaltungen führen könnten:
4 Daphne Hampson, Kierkegaard. Exposition and Critique, Oxford 2003, S. 297–320, bes. S. 319 f.: »As maybe the case with every great thinker, each generation finds its concerns mirrored in his. No one can truly open up Kierkegaard for others, for each brings her or his own questions to the authorship. […] Kierkegaard should be read not out of reference to a memory but as a living presence enabling us each to consider where we stand. It was precisely for such a reader that he wrote.« George Steiner, »Introduction«, in: Sören Kierkegaard, Fear and Trembling and The Book on Adler, London 1994, S. xv: »In a technique which anticipates the semiotic games of Umberto Eco and of today’s deconstructionists, S. K. sketches a set of variants on the parable of Abraham and Isaac.« (Hervorhebung P. T.). 5 George Pattison, »Art in an age of reflection«, in: The Cambridge Companion to Kierkegaard, hg. v. A. Hannay and G. D. Marino, Cambridge 1998, S. 76–100, hier S. 77: »[…] three ways in which Kierkegaard contextualizes art: first, in purely aesthetic, formalistic terms; second, in the perspective of psychology; and third, within the wider orbit of history and society.« Jon Stewart, Kierkegaards Influence on Literature, Criticism and Art, 5 Bde., New York 2013. 6 Boris Groys, Einführung in die Anti-Philosophie, München 2009, S. 17. Heiko Schulz, »Sören Kierkegaard (1813–1855)«, in: Klassiker der Theologie, Zweiter Band: Von Richard Simon bis Karl Rahner, hg. v. F. W. Graf, München 2005, S. 105–122; Patrick Gardiner, Kierkegaard, Freiburg im Breisgau 2001; Joakim Garff, Kierkegaard. Biographie, München 2000.
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Post-Kierkegaardsche religiöse Rede
He has written about himself with a mixture of immediacy and indirection, of confessional urgency and ironizing distance so vivid, so diverse as to beggar commentary from outside. Famously, Kierkegaard’s pseudonyms, the dramatis personae he alleges to be the begetters of some of his exemplary works (while assuming that the reader will detect the figure beneath the mask), enact a system of self-mirroring. But the aim is in no straightforward sense autobiographical. […] Pseudonyms, the division of the self into contradictory voices (the ›dialectic‹), […] keep on (in Kierkegaard’s memorable phrase) ›the wound of possibility‹. They prevent the frozen certitudes of the dogmatic, the inertia of the canonic. If music, notably that of Mozart, was to Sören Kierkegaard a touchstone of the pulse of meaning, the reason is clear: he sought in his reflexes of argument and sensibility, in his prose, to translate out of music its capacities for counterpoint, for plurality of simultaneous moods and movements, for self-subversion. Like no other thinker, perhaps, Kierkegaard is polyphonic. 7
Facetten moderner wie postmoderner Denkmuster weisen in Richtungen, wo sich theologisch wie religions- bzw. kirchenkritisch pointierte Einwürfe in ästhetisch dominierten Ausdrucksformen ein öffentliches Sprachrohr suchen. »Welch ein Glück, dass wir nicht alle Pfarrer sind«, dieser »in lange Kleider gehüllte Inbegriff des Nonsens«, urteilte Kierkegaard in seiner polemischen Flugschriftenreihe Der Augenblick, als er seinen Konflikt mit der protestantischen dänischen Staatskirche medienwirksam auf die Spitze trieb. 8 Der Augenblick markiert den Endpunkt von Kierkegaards schriftstellerischer Tätigkeit, am Beginn finden wir eine Definition der Berufung zum Dichter: »Was ist ein Dichter? Ein unglücklicher Mensch, der tiefe Qualen in seinem Herzen birgt, dessen Lippen aber so geformt sind, dass, indem der Seufzer und der Schrei über sie ausströmen, sie klingen wie eine schöne Musik.« 9 Wie das Alpha und das Omega so zeigt auch das Dazwischen in Kierkegaards direkten wie indirekten Mitteilungen an seine Leserschaft: Er machte es sich selbst wie den andern nicht gerade einfach. Eine entsprechende Verfasstheit beschreibt der Dichter W. H. Auden: Steiner, »Introduction« (Anm. 4), S. xi. Søren Kierkegaard, Der Augenblick. Eine Zeitschrift, Nördlingen 1988, S. 51, 101. In österreichischer Lesart bekrittelt Thomas Bernhard, die katholische Kirche habe »den zerstörten Menschen auf dem Gewissen, den chaotisierten, den letzten Endes durch und durch unglücklichen«, sie mache aus Menschen »stumpfsinnige Kreaturen, die das selbständige Denken vergessen und für die katholische Religion verraten haben« (Auslöschung. Ein Zerfall, Frankfurt am Main 1988, S. 141 f.). 9 Søren Kierkegaard, Entweder – Oder, Bd. 1, München 1988, S. 27. 7 8
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Though his writings are often brilliantly poetic and often deeply philosophic, Kierkegaard was neither a poet nor a philosopher, but a preacher, an expounder and defender of Christian doctrine and Christian conduct. The near contemporary with whom he may properly be compared is not someone like Dostoevsky or Hegel, but that other great preacher of the nineteenth century, John Henry, later Cardinal, Newman: both men were faced with the problem of preaching to a secularized society which was still officially Christian, and neither was a naive believer that in each case one is conscious when reading their work that they are preaching to two congregations, one outside and one inside the pulpit. Both were tempted by intellectual ambition. Perhaps Newman resisted the temptation more successfully (occasionally, it must be confessed, Kierkegaard carried on like a spiritual prima donna), but then Newman was spared the exceptional situation in which Kierkegaard found himself, the situation of unique tribulation. 10
II. Kierkegaards Beschreibung von ›Krisen‹ – eine seiner Abhandlungen nennt sich Die Krise und eine Krise im Leben einer Schauspielerin (1847) –, direkt wie indirekt mitgeteilten, persönlich erlebten wie gesellschaftlich relevanten, nimmt Situationen vorweg, mit denen sich der postmoderne Mensch in einer fortgeschrittenen post-christlichen (westlichen) Welt konfrontiert sieht. Krisen äußern sich oftmals in Sprachkrisen, die mit einer Krise des Glaubens einherzugehen scheinen. Ein verbindender ›Code‹ wird nicht mehr wahrgenommen. Galt Wystan H. Auden (Hg.), The living thoughts of Kierkegaard. Introduction, New York 1999, S. iii f. Heiko Schulz, »›Gott selbst ist ja dies: welcherart man sich mit ihm einlässt.‹ Subjektivität und Objektivität dogmatischer Reflexion bei Sören Kierkegaard«, in: Dialektik der Freiheit, hg. v. H. Deuser u. S. Wendel, Tübingen 2012, S. 67: »Kierkegaard ist entweder Philosoph oder es gibt kein philosophisches Monopol auf hermetische Diktion.« Es schiene lohnenswert, die Auffassung von Heiko Schulz und Audens Meinung, Kierkegaard sei nicht Philosoph und Poet, sondern Verkünder des Christentums, zu diskutieren und Ludwig Wittgensteins Definition der Philosophie gegenüberzustellen (Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung, Frankfurt am Main 1963, S. 115 [6.53]): »Die richtige Methode der Philosophie wäre eigentlich die: Nichts zu sagen, als was sich sagen lässt, also Sätze der Naturwissenschaft – also etwas, was mit Philosophie nichts zu tun hat – und immer dann, wenn ein anderer etwas Metaphysisches sagen wollte, ihm nachzuweisen, dass er gewissen Zeichen in seinen Sätzen keine Bedeutung gegeben hat. Diese Methode wäre für den anderen unbefriedigend – er hätte nicht das Gefühl, dass wir ihn Philosophie lehrten – aber sie wäre die einzig streng richtige.«
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Martin Heidegger die Sprache als das »Haus des Seins« 11, so musste Arnold Schönberg bei der Vertonung seines Moses und Aron resignieren: »O Wort! Du Wort, das mir fehlt!« Im Anfang das Wort, der Logos: Der Kontext des religiösen Satzes Joh 1,1 – nach der Neuen Zürcher Bibel als »Im Anfang war das Wort, der Logos, und von Gottes Wesen war der Logos« wiedergegeben –, als ein Satz, der Zusammenhänge und Rückbindungen offenkundig macht, scheint zunehmend in Beliebigkeit zu versanden und kaum noch zu verorten. Jacques Lacan sinnierte in seiner Schrift Triumph der Religion: »›Im Anfang war das Wort‹, ich bin ganz einverstanden. Doch vor dem Anfang, wo war es da? Das ist wahrlich unergründlich.« 12 Sprache stößt an Grenzen. 13 In dem visionär anmutenden poetischen Brief des Lord Chandos an Francis Bacon schildert Hugo von Hofmannsthal eine moderne Sprachkrise am Beispiel eines konkreten Lebensgefühls. Sein »Fall« sei »in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgendetwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen« 14, bekennt Lord Chandos. Die Ursache seiner Verwirrung sieht er darin, dass sich seinen Gedanken sowohl »religiöse Auffassungen« als auch »irdische Begriffe« entziehen. Der Dichter schreibt: Es möchte […] als der wohlangelegte Plan einer göttlichen Vorsehung erscheinen, dass mein Geist aus einer so aufgeschwollenen Anmaßung in dieses Äußerste von Kleinmut und Kraftlosigkeit zurücksinken musste, welches nun die bleibende Verfassung meines Innern ist. Aber dergleichen religiöse Auffassungen haben keine Kraft über mich; sie gehören zu den Spinnennetzen, durch welche meine Gedanken hindurch schießen, hinaus ins Leere. […] Mir haben sich die Geheimnisse des Glaubens zu einer erhabenen Allegorie verdichtet, die über den Feldern meines Lebens steht wie ein leuchtender Regenbogen, in einer stetigen Ferne, immer bereit, zurückzuweichen, wenn ich mir einfallen ließe hinzueilen und mich in den Saum seines Mantels hüllen zu wollen. – Aber, mein verehrter Freund, auch die irdischen Begriffe entziehen sich mir in der gleichen Weise. Wie soll ich es versuchen, Ihnen diese seltsamen geistigen Qualen zu schildern, dies EmMartin Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit. Mit einem Brief über den »Humanismus«, Bern 1973, S. 53. 12 Jacques Lacan, Der Triumph der Religion, Wien 2006, S. 78. 13 Anna Mitgutsch, Die Grenzen der Sprache. An den Rändern des Schweigens, St. Pölten 2013. 14 Hugo von Hofmannsthal, Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, Bd. 7: Erzählungen, erfundene Gespräche und Briefe, Reisen, hg. v. B. Schoeller, Frankfurt am Main 1979, S. 465. 11
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porschnellen der Fruchtzweige über meinen ausgereckten Händen, dies Zurückweichen des murmelnden Wassers vor meinen dürstenden Lippen? 15
Der 1902 publizierte und gewissermaßen ›indirekt mitgeteilte‹ Brief, für den Hofmannsthal das Jahr 1603 notiert, sei »der Brief, den Philipp Lord Chandos […] schrieb, um sich bei diesem Freunde wegen des gänzlichen Verzichtes auf literarische Betätigung zu entschuldigen« 16; ein Ausweis dichterischer Explikation des Scheiterns der Sprache und an der Sprache, eines Verstummens auch vor religiösen Einstellungen und Empfindungen? Zweifel werden artikuliert: an der Kraft des Wortes, an der Gewissheit des Glaubens. Um ein Bild aus dem Sport-Jargon zu verwenden: Die Sprache und der Glaube spielen im Einzel, jeweils für sich, ihren Part; darüber hinaus sind sie verwiesen aufeinander und finden sich gefordert, als ›Mixed Doppel‹ gemeinsam zu agieren, v. a. in Situationen, in denen es gewissermaßen nicht so ›läuft‹, als Sprachkrise und Glaubenszweifel. Die Soziologen Peter L. Berger und Anton Zijderveld nennen – unter Bezugnahme auf Kierkegaard – den Zweifel einen »Zwilling des Glaubens«; die Methode eines Sokrates, Descartes oder Bacon habe einer grundlegenden Art des kognitiven Zweifels die Möglichkeit geboten, an die Karl Popper mittels der Vorstellung der Falsifikation anknüpfen konnte, die ein andauerndes Fortschreiten des Wissens durch permanenten Zweifel begleitet sieht. 17 Eine Zersplitterung des Wissens wie einen Zusammenbruch des philosophischen Absoluten, das Wiederaufkommen des Nihilismus und den Schwund an Einfluss einer religiösen Haltung ortet Paul Poupard, Kardinal und ehemals päpstlicher Kulturminister, der »in dieser kulturellen Lage immer stärker die Frage nach dem Sinn in den Vordergrund gerückt« sieht; die »Krise der Postmoderne« habe eine religiöse und metaphysische Frage hervorgebracht, auf welche die christliche Kultur tiefgreifende und überzeugende Antworten anbieten könne und müsse. 18 In dieser Situation mache die Kunst aufmerksam auf die »›Darstellung des Undarstellbaren‹ im Leben, des Ebd., S. 464 f. Ebd., S. 461. 17 Peter L. Berger/Anton Zeijderveld, Lob des Zweifels. Was ein überzeugender Glaube braucht, Freiburg im Breisgau 2010, S. 124; Karl Popper, Alles Leben ist Problemlösen. Über Erkenntnis, Geschichte und Politik, München 2002, S. 15–45; kritisch dazu: Alfred J. Ayer, Die Hauptfragen der Philosophie, München 1976, S. 34–43, bes. S. 41–43. 18 Paul Poupard, »Vorwort«, in: Religion – Literatur – Künste III. Aspekte und Per15 16
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eigentlich unaussprechbaren Substrats der sprachlich und konventionell präfigurierten Dinge unserer Welt« 19: »The crisis of art and the crisis of religion in an age of reflection coincide in such a way that the impossibility of the aesthetic provokes and intensifies the question of the religious as never before.« 20 In Art. 62 eines Dokuments des Zweiten Vatikanischen Konzils, Gaudium et spes, werden dringliche Aufgaben der Christen im Bereich der Kultur genannt; auf ihre je eigene Weise seien Literatur und Kunst für das Leben der Kirche von großer Bedeutung, indem sie sich um das Verständnis des eigentümlichen Wesens des Menschen bemühten, seiner Probleme und seiner Erfahrungen bei dem Versuch, sich selbst und die Welt zu erkennen und zu vollenden. 21 Die Einführung von Kennzeichnungen wie Theopoetik 22, Theopoesie 23 und TheoArt 24 wollen auf Vernetzungen zwischen Kultur, Kunst und Religion hinweisen. Gedankengänge in diese Richtung stieß der von Kierkegaard beeinflusste Romano Guardini in seinem Büchlein Über das Wesen des Kunstwerks an: Jedes echte Kunstwerk sei seinem Wesen nach »eschatologisch« und beziehe die Welt über sie hinaus auf ein »Kommendes«. 25 Dass eine Begegnung zwischen Kunst und christlicher Religion auch eine »Geschichte des Konflikts« sein kann, liegt auf der Hand: Beschäftigt Kunst sich mit religiösen Themen in christlichem Umfeld, so muss eben »damit gerechnet werden, dass sie Wege beschreitet, die mitunter zu fremdartigen Deutungen christlicher Inhalte führen. Eine solche Spannung ist produktiv für beide Seiten. Kirche und Kunst sind trotz unterschiedlicher Ausgangssituaspektiven einer Begegnung am Beginn eines neuen Millenniums, hg. v. P. Tschuggnall, Anif/Salzburg 2001, S. 5. 19 Peter Strasser, Journal der letzten Dinge, Frankfurt am Main 1998, S. 178 f. 20 Pattison, »Art in an age of reflection« (Anm. 5), S. 97. 21 Suso Brechter (Hg.), Lexikon für Theologie und Kirche. Das Zweite Vatikanische Konzil. Dokumente und Kommentare. Teil III, Freiburg im Breisgau 1968, S. 481. Johannes Paul II. spricht von der »besonderen Berufung« der Kunstschaffenden, speziell auch »jenseits religiöser Ausdrucksformen« (»Brief an die Künstler«, in: Religion – Literatur – Künste III (Anm. 17), S. 11–28). 22 Karl-Josef Kuschel, Im Spiegel der Dichter. Mensch, Gott und Jesus in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Düsseldorf 1987. 23 Dorothee Sölle, Das Eis der Seele spalten. Theologie und Literatur in sprachloser Zeit, Mainz 1996. 24 Peter Tschuggnall, TheoArt. Betrachtungen zu Literatur, Musik und Religion im Spannungsfeld von Ästhetik und Theologie, Anif/Salzburg 2004. 25 Romano Guardini, Über das Wesen des Kunstwerks, Mainz 2005, S. 30.
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tion Fragende und Suchende gegenüber einer Wahrheit, die offen ist und nicht durch Antwortsysteme verstellt werden sollte. Auf dingfest zu machende Inhalte ist das große Kunstwerk nicht angewiesen: Seine Sprachlosigkeit ist ein Mehr.« 26 Sprachlosigkeit als ein »Mehr« findet sich in einer über die Jahrzehnte hin sich durchziehenden Rezeptionslinie Kierkegaards in der Philosophie von Ludwig Wittgenstein an. 27 In einer eindrücklichen Kontemplation über das biblische Abraham-Opfer (Gen 22) rückt Jacques Derrida das Motiv des Schweigens mittels der Gestalt Abrahams ins Blickfeld: »Among all those who, in infinite number throughout history, have kept an absolute secret, a terrible secret, I think of Abraham, at the origin of all the abrahamic religions.« 28 Derrida meditiert dieses Schweigen speziell anhand von Kafkas Brief an den Vater 29 und der »four silent orchestrations of the secret«, wie Derrida die einstimmenden Variationen in Kierkegaards »dialektischer Lyrik« Furcht und Zittern nennt. 30 Mögen Deutungen von Kierkegaards Abhandlung schwerpunktmäßig von Begriffen wie ›paradox‹, ›anstößig‹ und ›Glaubenssprung‹ geleitet sein 31, so bietet 26 Horst Schwebel, Die Kunst und das Christentum. Geschichte eines Konflikts, München 2002, S. 181. George Steiner, Sprache und Schweigen. Essays über Sprache, Literatur und das Unmenschliche, Frankfurt am Main 1969. 27 Charles L. Creegan, Wittgenstein and Kierkegaard: Religion, individuality, and philosophical method, London 1989; Mariele Nientied, Kierkegaard und Wittgenstein: »Hineintäuschen in das Wahre.«, Berlin 2003; Genia Schönbaumsfeld, A Confusion of the Spheres. Kierkegaard and Wittgenstein on Philosophy and Religion, Oxford 2007. 28 Jacques Derrida, The Gift of Death, Chicago 1995. James K. A. Smith, Jacques Derrida: Live Theory, New York 2005; Sarah Gendron, Repetition, Difference, and Knowledge in the Work of Samuel Beckett, Jacques Derrida, and Gilles Deleuze, New York 2008; Hermann Deuser, »›… and moreover, lo, here is a ram.‹ Genesis 22 in Religious-Philosophical Metacriticism: Comments on S. Kierkegaard’s ›Fear and Trembling‹ and J. Derrida’s ›Donner la mort‹«, in: Revista Portuguesa de Filosofia 64 (2008), S. 1163–1180. 29 Franz Kafka, Brief an den Vater. Faksimile, hg. v. J. Unseld, Frankfurt am Main 1994. Harold Bloom, The Western Canon: The Books and School of the Ages, New York 1994, S. 418: »Despite his dread of his own family romance, Kafka resolved to write as ›if nothing has yet happened‹. To the Jews, the primary happening was the Covenant of Abraham, and for Kafka Abraham is the figure to be distrusted. Perhaps Abraham’s role as the hero of Kierkegaard’s ›Fear and Trembling‹ provoked Kafka to his negative reflections.« 30 Sören Kierkegaard, Furcht und Zittern, hg. v. L. Richter, Frankfurt am Main 1984. 31 Peter Tschuggnall, Das Abraham-Opfer als Glaubensparadox. Bibeltheologische Rezeption – Literarische Variation – Kierkegaards Deutung, Frankfurt am Main
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der italienische Philosoph der Postmoderne Gianni Vattimo ein alternatives Deutungsmuster an: Ich weiß sehr wohl, dass der christliche Glaube häufig als im Kern ›anstößig‹ und paradox dargestellt worden ist, und dies aus gewichtigen, durch den Text beglaubigten Gründen […], so anstößig und paradox, dass ein ›Sprung‹ erforderlich ist. Ich habe jedoch den […] Verdacht, dass diese ganze Rhetorik zutiefst an eine immer noch metaphysisch-naturalistische Gottesvorstellung gebunden ist. […] Das einzig große Paradox, das einzige Skandalon der christlichen Offenbarung ist eben die Menschwerdung Gottes, die kenosis, und d. h. die Aussetzung aller transzendenten, unverständlichen, geheimnisvollen und auch, wie ich meine, bizarren Züge, die freilich den Theoretikern des Glaubenssprunges so sehr am Herzen liegen. […] Aber versuche ich da nicht, ein allzu einfaches Christentum an die Stelle des strengen und paradoxen Christentums, wie es die Verteidiger des ›Sprunges‹ vertreten, zu setzen? Ich würde sagen, ich versuche nur, mich treuer als sie an jene paradoxe Aussage Jesu zu halten, nach der wir uns nicht mehr als Knechte Gottes, sondern als seine Freunde betrachten sollen. Also nicht ein einfaches Christentum, sondern allenfalls eines der Freundschaft, genau so, wie Christus es uns gepredigt hat. 32
1990; ders., »Abrahams Opfer – eine anstößige Erzählung über den Glauben?«, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 46 (1994) S. 289–318. Joseph Cohen/Raphael Zagury-Orly, »Abraham, the Settling Foreigner«, in: The Trace of God. Derrida and Religion, hg. v. Edward Baring/Peter E. Gordon, New York 2015, S. 132– 150, hier S. 143: »For Kierkegaard, unlike Hegel, the figure of Abraham marks a positive and sublime stance. This positivity and sublimity of the figure of Abraham is not simply that he announces Christianity but, more profoundly, that he is radically exposed to the truth of Christianity. In this sense, for Kierkegaard, the figure of Abraham announces the absolute Law of sacrifice. […] What remains important is the absolute paradoxicality that is both lived and existentially remarked in the figure of Abraham. This paradoxicality is the paradox between ethics and faith.« 32 Gianni Vattimo, Glauben – Philosophieren, Stuttgart 2007, S. 55 f. Derrida/Vattimo, Die Religion (Anm. 2). Bemerkenswert scheint in diesem Zusammenhang die sehr persönliche Deutung des deutsch-iranischen Schriftstellers Navid Kermani: »Erst Caravaggio brachte mich dazu, auch den Abgrund anzunehmen, der sich zwischen dem zweiten und dem dritten Vers [Gen 22] auftut. Sein Abraham ist ein Verwalter, nichts anderes, ein intellektuell immer schon beschränkter, im Alter erst recht verstockter Hausmeister Gottes […]. Meine Deutung, ich weiß es, findet weder in der Bibel noch im Koran hinreichend Grund. Ich gründe sie auf die Liebe, die Gott in den gleichen Schriften und erst recht in seiner Schöpfung offenbart. […] Deshalb mögen die Gelehrten noch so viele Verse auflisten, die direkt oder indirekt den Gehorsam des Stammvaters rühmen, ich behaupte weiter, dass die Geschichte von der Abschaffung des Menschenopfers erzählt, die für den Glauben an nur einen Gott unabdingbar war. Nicht, dass er es getan hätte – dass er es nicht tun durfte, ist ihr Kern. Es ist mein eigenes Christentum, wie ich davor schon zu meinem eigenen Islam gekommen bin.
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Die in der Praxis realisierte Verkündigung eines Christentums der Freundschaft müsse zur Folge haben, dass möglich sei, von der Christenheit als einer Religion zu reden, wo Menschen sich angstfrei miteinander verständigen können. Gerade Kierkegaards Begriff Angst gab als philosophisch-psychologische Vorlage pädagogische wie literarische Impulse. Eine poetische Lesart bietet die englischsprachige Literatur mittels W. H. Auden und seinem »barocken Hirtengedicht« Das Zeitalter der Angst, worin sich auch eventuelle Parallelen zu Kierkegaards »Wechselwirtschaft« vermuten ließen: Denn Lange-Her War Immer-Danach, seit Urvater Mit seinem ersten Gähnen allen Dingen Gestalt gab und den Witz dieser Welt schuf. 33
»Ich erzähle hier die Geschichte einer missglückten Berufung. Ich brauchte Gott, man gab ihn mir, ich empfing ihn, ohne zu begreifen, dass ich ihn suchte« 34: Dieses Zitat, von einem Schriftsteller, der eng mit Kierkegaards Existenz-Gedanken verknüpft scheint und bei dem eine verzweifelte und von Angst erzählende Rede über Gott einen tiefschürfenden Ausdruck erlangt, finden wir bei Jean-Paul Sartre. Der Autor erinnert sich als Erwachsener an ein Schlüsselerlebnis aus seiner Kindheit: Ein einziges Mal hatte ich das Gefühl, es gäbe ihn. Ich hatte mit Streichhölzern gespielt und einen kleinen Teppich versengt; ich war im Begriff, meine Untat zu vertuschen, als plötzlich Gott mich sah. Ich fühlte seinen Blick im Innern meines Kopfes und auf meinen Händen; ich drehte mich im Badezimmer bald hierhin, bald dorthin, grauenhaft sichtbar, eine lebende Zielscheibe. Mich rettete meine Wut: Ich wurde furchtbar böse wegen dieser dreisten Taktlosigkeit, ich fluchte, ich gebrauchte alle Flüche meines Großvaters. Gott sah mich seitdem nie wieder an. 35
Ich gründe es auf den Sohn, weil er mich anschaut.« (Ungläubiges Staunen. Über das Christentum, München 2015, S. 202 f.). 33 Wystan H. Auden, Das Zeitalter der Angst. Ein barockes Hirtengedicht, eingeleitet von Gottfried Benn, Wiesbaden 1951, S. 48. Kierkegaard, Entweder – Oder, Bd. 1 (Anm. 9), S. 323: »Die Götter langweilten sich, darum schufen sie den Menschen. Adam langweilte sich, weil er allein war, darum wurde Eva erschaffen. Von dem Augenblick an kam die Langeweile in die Welt und wuchs an Größe in genauem Verhältnis zu dem Wachstum der Volksmenge.« 34 Jean-Paul Sartre, Die Wörter, Reinbek bei Hamburg 1987, S. 59. 35 Ebd.
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Der genannte literarische Ausweis findet sich in der autobiographischen Schrift Die Wörter. Sartre kommentiert selbst: Gott hätte mich aus der Klemme gezogen: Ich wäre ein signiertes Meisterwerk geworden; in der Gewissheit, meinen Part im Weltkonzert zu spielen, hätte ich geduldig gewartet, dass Er mir seine Absichten und meine Notwendigkeiten enthülle. Ich ahnte die Religion voraus, ich erhoffte sie, da sie die Rettung war. Hätte man sie mir verweigert, ich hätte sie selbst erfunden. Man verweigerte sie mir nicht: Im katholischen Glauben erzogen, erfuhr ich, der Allmächtige habe mich zu seinem Ruhm erschaffen. Das war mehr, als ich zu träumen gewagt hatte. In der Folge aber erkannte ich in dem gesellschaftsfähigen Gott, den man mir beibrachte, nicht denjenigen, den meine Seele erwartete. Ich brauchte einen Weltschöpfer, man gab mir einen Obersten Chef; die beiden bildeten eine Einheit, aber das wusste ich nicht; lustlos diente ich dem pharisäischen Idol, und die offizielle Lehre nahm mir die Lust, meinen eigenen Glauben zu suchen. Welches Glück! Vertrauen und Trostlosigkeit hatten aus meiner Seele ein Musterland gemacht für die Himmelssaat: Ohne dieses Missverständnis wäre ich Mönch geworden. 36
Abraham habe ›kraft des Absurden‹ geglaubt, stellt Kierkegaards Pseudonym Johannes de silentio in Furcht und Zittern zur Diskussion. Wie Sartre, der wie Kierkegaard das Problem eines »Seinsmangels« anzustoßen scheint 37, so setzt sich auch der Denker des Absurden des 20. Jahrhunderts, Albert Camus, mit Fragen des Seins und der Religion auseinander; eine mögliche Einübung in das Religiöse erahnt Camus über den Weg der Kunst: Er vertieft sich in Mozart und den Don Giovanni. 38 Camus glaubt nicht, dass KommandeurStatuen sich in Bewegung setzen; aber er bekennt: »deshalb leugne ich doch die Grenzen des Mysteriums nicht«, er spüre sie »wie jedermann«, wenn auch die bewusste Lüge unserer intellektuellen Gesellschaft darin bestehe, zu reden, als gäbe es sie nicht. Mozart habe nicht gelogen und sei den ganzen Weg des Menschen wieder gegangen, von seinen instinktiven Ursprüngen bis zum Kampf mit dem Rätsel. Für diesen »Fight« um das Rätsel – passender vielleicht »Geheimnis« – könnte das Finale des Don Giovanni bildhafter Ausdruck sein.
Ebd., S. 56. Wolfgang Palaver, René Girards mimetische Theorie: im Kontext kulturtheoretischer und gesellschaftspolitischer Fragen, Wien/Münster 2003, S. 117–123 (Überschrift: »Nicht Sartre, sondern Kierkegaard erhellt Girards Begriff des Seinsmangels«). 38 Albert Camus, »Dank an Mozart. Ein Gedenkblatt zu seinem Geburtstag«, in: Süddeutsche Zeitung, 27./28. Jan. 1996, S. 16 (daraus die Zitate). 36 37
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Wer sich vom Herzen und von der Vernunft her öffne, auf das u. a. von Kierkegaard geadelte Musikdrama zu »hören«, der habe die Welt und ihre Geschöpfe kennen gelernt. Camus sieht in Mozart einen Kulturvermittler, der tröstet und vereint in einem »wahnsinnigen Europa« und es verstanden habe, »mit sichtlicher, ungezwungener Leichtigkeit der Sinnlichkeit wieder Zärtlichkeit, der unschuldigen Freude wie dem Geheimnis des Todes eine Stimme zu verleihen.« Mozart tröste, er erobere und vereine in einem Europa, das ins Wanken gerät und das gerade im Werk Mozarts, worin die Sprache aller, eine nie vorher und nachher vernommene Universal-Sprache, sich niederschlage, nicht angefochten werden könne. Wir befinden uns inmitten der Gegenwart: mit Mozart als einem modernen »zeitgenössischen Helden«, der nicht als ein kurzlebiger »Star« oberflächlich auftrumpfe. Europa sei »im Größten, wozu es fähig ist und das im Werk Mozarts erstrahlt, nie angefochten oder erreicht worden.« (Vielleicht sollte, Camus’ Gedanken weiterspinnend, Mozart ein Friedenspreis für europäische integrative Bemühungen zugesprochen werden.)
III. »Europa«: ein Gedanke, den Camus im Zusammenhang mit Mozart und seinem staunenden Verharren vor dem Mysterium anschlägt. In Briefe eines jungen faustischen Zweiflers (1837) schreibt Kierkegaard, man sei im Augenblick vor nichts mehr bange als vor dem totalen Bankrott, welchem das gesamte Europa entgegenzugehen scheine; darüber vergesse man »den weit gefährlicheren, wie es scheint unvermeidlichen Zusammenbruch in geistiger Hinsicht, welcher vor der Tür steht – ich meine eine Sprachverwirrung, die weit gefährlicher ist als jene alte babylonische […], einen Aufruhr der Worte nämlich; diese stürzen, von der Herrschaft des Menschen losgerissen, gleichsam verzweifelt aufeinander los, und aus diesem Chaos greift der Mensch wie ein Glückssäckel das erste beste Wort heraus, um seine vermeintlichen Gedanken auszudrücken.« 39 Mehr als 150 Jahre später veröffentlicht der österreichische Rockpoet Falco eine CD unter dem Titel Verdammt wir leben noch, auf der ein Lied »Europa« lautet und das die ferne Kierkegaard-Vision gewisser39
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Post-Kierkegaardsche religiöse Rede
maßen zeitnah ›wiederholt‹ : »Ich seh euch / allesamt Revue passieren / […] wer garantiert, / dass wir uns morgen / noch gegenüberstehn / um irgendwohin zu gehen.« Gleichfalls einen Zeit-Sprung weiter scheint die Feststellung zu zielen: »Jetzt ist Griechenland verwüstet und zerstört – welch kultureller Verlust uns daraus erwachsen wird, wisst ihr alle, da euch ja bekannt ist, dass die gesamte Bildung der lateinischen Welt aus griechischen Wurzeln stammt.« 40 Das Statement stammt nicht aus der Falco-CD, auch nicht aus moderner Literatur, Times oder FAZ; das Zitat aus dem 15. Jahrhundert hat den Humanisten Enio Silvio Piccolomini zum Urheber, den späteren Papst Pius II., der in einer Zeit, als Kirche, Reich und Christenheit Leitideen waren, den Europagedanken aussprach. Sein Vertrauter und zweiter Mann im Vatikan war der Universalgelehrte Nikolaus Cusanus, Gottsucher und Fürsprecher einer ›negativen Theologie‹ : Von Gott könne nur in menschlichen Begriffen gesprochen werden, wir vermögen nur zu sagen, was Gott nicht ist, und nicht, was Gott ist. Nicht wenig aktuell erscheinen seine erschütternden Worte an den befreundeten Papst: »Wenn du die Wahrheit hören kannst: Nichts von dem, was hier in der Kurie geschieht, gefällt mir. Alles ist korrumpiert.« 41 Findet sich hier Kierkegaards ›Revolution‹ im Augenblick vorausgedacht, ein ausgedehntes intertextuelles Gedankenspiel eröffnet? In einer von Beliebig- und Gleichgültigkeit, von wirtschaftlich diktierter All- und politischer Ohnmacht, von Isolation und medialem Online-Wahn ge(kenn)zeichneten Gegenwart sieht sich das von Kierkegaard angestoßene Interessensgebiet einer dialektischen Verflechtung von Religion, Philosophie und Poesie vor große Herausforderungen gestellt. Eine neue Sichtweise des dialektischen Gewindes zwischen ästhetischen Funken und religiöser Rede gilt es anzudenken. 42 Gerade die Bibel als »großer Code« 43 und »Grundtext des Wes40 Norbert Winkler, Nikolaus von Kues zur Einführung, Hamburg 2001, S. 8. George Steiner, The Idea of Europe. Introductory essay by Rob Riemen, New York 2015. 41 Kurt Flasch, Nikolaus von Kues in seiner Zeit. Ein Essay, Stuttgart 2012, S. 80. 42 Peter Tschuggnall & Guests, Collage Ästhetik/Religion. Perspektiven einer intermedialen Spiegelung, Anif/Salzburg 2014, S. 15–38. 43 Northrop Frye, The Great Code. The Bible and Literature, San Diego 1982 (dt. Der große Code. Die Bibel und Literatur, Anif/Salzburg 2007); ders., Words with Power. Being a second study of the Bible and Literature, San Diego 1990 (dt. Machtvolle Worte. Eine zweite Studie über Bibel und Literatur, hg. v. P. Tschuggnall, Anif/Salzburg 2013). George Pattison, »Poor Paris!« Kierkegaard’s Critique of the Spectacular City, New York 1999, S. 137 f.: »The value of typology in understanding the literary tradition has been powerfully argued by Northrop Frye.« Zu Fryes Kierkegaard-Re-
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tens« 44 nimmt hier einen wichtigen Platz als Kulturträger ein: für Gläubige ebenso wie für Glaubensskeptiker. 45 Den Blick für die Anderen zu schärfen, ist ein Grundprinzip für Religion wie Humanismus (Mt 7,12, wie in Texten aller großen Religionen: die sog. ›Goldene Regel‹); es findet sich pointiert formuliert in Worten, die Mozart in seinem Singspiel-Fragment Zaide vertonte: Ihr Mächtigen seht ungerührt Auf eure Sklaven nieder; Und weil euch Glück und Ansehn ziert, Verkennt ihr eure Brüder. Nur der kennt Mitleid, Huld und Gnad, Der, eh man ihn zum Rang erhoben, Des wandelbaren Schicksals Proben Im niedern Staub gesammelt hat. 46
Ein literarisches Bild solcher Gesinnung zeichnet eine Geschichte, die Martin Buber erzählt, der schon als junger Mensch durch die Lektüre Kierkegaards angeregt wurde, über die Begriffe des Ethischen und Religiösen nachzudenken. In den Erzählungen der Chassidim nennt sich ein entsprechender Text »Ohne Gast«: Als Rabbi Pinchas bekannt geworden war und immer mehr und mehr Chassidim mit ihren Anliegen zu ihm gefahren kamen, erschrak er darüber, wie sehr er durch sie von dem Dienste Gottes und der Erforschung seiner Lehre abgezogen werde. Er sah sich keinen anderen Ausweg, als dass die Leute aufhörten, ihn zu bedrängen. Darum betete er zu Gott, er möge ihn allen verhasst machen, und es wurde ihm gewährt. Fortan hielt er mit den Menschen keine Gemeinschaft mehr, es sei denn beim Gebet der Gemeinde, sondern lebte abgeschieden, einzig zum Umgange mit seinem Herrn bereit. Als das Hüttenfest nahte, musste er sich die Laubhütte von einem Nichtjuden machen lassen; denn die Juden wollten ihm nicht helfen. Da es ihm an Werkzeug fehlte, sandte er sein Weib zu den Nachbarn, sie darum zu bitten; aber nur mit großer Mühe gelang es ihr, welches geliehen zu bekommen. Am Festabend nach dem Gebet im Lehrhaus forderte er wie alljährlich eizeption: Robert D. Denham, Northrop Frye and Others. Twelve Writers Who Helped Shape his Thinking, Ottawa 2015, S. 147–178. 44 Vilém Flusser, Die Schrift, Frankfurt am Main 1992, S. 38. 45 Richard Dawkins, Der Gotteswahn, Berlin 2013, S. 478: »Mit meinen Ausführungen habe ich vermutlich zumindest meine älteren Leser davon überzeugt, dass eine atheistische Weltanschauung keine Rechtfertigung ist, um die Bibel und andere heilige Bücher aus unserem Bildungswesen zu verbannen.« 46 Wolfgang Amadeus Mozart, Sämtliche Opernlibretti, hg. v. R. Angermüller, Stuttgart 1990, S. 472.
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nige der Wanderleute auf, bei ihm zu speisen; aber da war keiner, der mitkommen wollte, so verhasst war er allen weit und breit, und er musste allein heimgehn. Als er nun den Spruch des Herrn gesprochen hatte, die heiligen Gäste dieses Abends, die Erzväter, in die Hütte zu laden, sah er unsern Vater Abraham draußen stehn wie einer, der an ein Haus gekommen ist, das er zu besuchen pflegte und auch jetzt besuchen wollte, nun aber merkt er: Es ist gar nicht das Haus, das er meinte, und befremdet hält er den Fuß ein. »Wodurch habe ich mich vergangen?«, rief Rabbi Pinchas. »Es ist nicht meine Sitte«, antwortete Abraham, »ein Haus zu betreten, in dem kein Wanderer zu Gast ist«. Von da an betete Rabbi Pinchas, er möge wieder Gunst in den Augen der Leute finden. Und er wurde abermals erhört. 47
Die Erzählung zeigt im Sinne einer existentiellen Denkweise Kierkegaards eine Rückbesinnung auf das Dasein und nach Sinn an, wie der Einzelne als Individuum sich gemeinschaftlich in einer ›Anderwelt‹ bewegen könne; auch mag die Erzählung anregen, die ›primären‹ Interessen in den variantenreichen Begegnungen des Alltags nicht aus den Augen zu verlieren. 48 Eine singuläre kulturgeschichtliche Dimension einer post-kierkegaardschen religiösen Rede offenbart die von Rolf Liebermann in Auftrag gegebene und 1983 in Paris uraufgeführte Oper des religiös inspirierten Komponisten Olivier Messiaen über den heiligen Franz von Assisi: Musik und Literatur brachte bei den Salzburger Festspielen 1992 die szenische Interpretation des amerikanischen Regisseurs Peter Sellars mit tiefem religiösen Empfinden in Einklang, als ein der Komposition Messiaens entsprechendes Zeichen von Freiheit und Furchtlosigkeit: Herr, Herr! Musik und Poesie haben mich in deine Nähe geführt; Durch das Abbild, durch das Symbol, durch das Fehlen von Wahrheit. Herr, Herr! Herr, erleuchte mich durch deine Anwesenheit! Erlöse mich, mache mich trunken, blende mich für immerdar durch deine Überfülle an Wahrheit. Martin Buber, Die Erzählungen der Chassidim, Zürich 1987, S. 221 f. (Hervorhebungen P. T.). 48 Peter Stöger, Lichtkind, Anif/Salzburg 2014, S. 18 f.: »Bildung hat primär nichts mit Administrierung zu tun, sondern mit Solidarität, hat primär nichts mit Management und Controlling (die Sprache für sich ist schon verräterisch) zu tun, sondern damit, wieder das Staunen zu lernen, so wie es kleine Kinder tun, wenn sie erstmals einen Christbaum sehen und die Sternspritzer darauf.« 47
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Der Regisseur, der mit dem Komponisten in regem künstlerischen Austausch stand 49, äußerte, es gefalle ihm, »dass Messiaen nichts daran lag, einen Dokumentarstreifen zu machen, dass ihm daran lag, zu zeigen, was das Leben des heiligen Franziskus bedeutet. […] Der Weg, den man also wählt, mit Hilfe der Metapher; weil es hier um religiöse Themen geht. Und von religiösen Themen kann man nicht mit menschlichen Begriffen sprechen.« 50 Mit Blick auf das ›ganz Andere‹ übersetzt Messiaen die Handlung aus dem 13. Jahrhundert in Realitäten der Gegenwart. Erinnerungen an Lessings ›garstigen Graben‹ und Kierkegaards Idee(n) der ›Gleichzeitigkeit‹ und des ›Augenblicks‹ werden wachgerufen. Postmoderne Textzugänge wollen Anregungen zur Hand geben, wie die Gegenwart durch die ›Erinnerung‹ besser gedeutet werden könne. 51 Zu der Idee einer ›Wiederholung‹, an der sich Kierkegaard bzw. sein Pseudonym Constantin Constantius in der »experimentierenden Psychologie« versucht 52, vermerkt Harold Bloom: »Kierkegaardian repetition never happens, but breaks forth or steps forth, since it ›is recollected forwards,‹ like God’s Creation of the universe.« 53 Northrop Frye deutete Kierkegaards Intention in der Wiederholung nicht als die bloße »Wiederholung einer Erfahrung«, sondern darüber hinaus als ein »Wieder-Holen« und eine Neuschöpfung, die »zum Leben erlöst oder erweckt«; das Ende dieses Vorgangs sei das apokalyptische Versprechen des »Siehe, ich mache alles neu«; »die Kultur der Vergangenheit sei nicht nur die Erinnerung der MenschPeter Sellars, »Anmerkungen zu Messiaens Oper ›Saint Francois d’Assise‹«, in: Europäische Mythen der Neuzeit. Gesammelte Vorträge des Salzburger Symposions 1992, hg. v. P. Csobádi [u. a.], Anif/Salzburg 1993, S. 25–30. 50 Tschuggnall, TheoArt (Anm. 24), S. 264 f. 51 Peter Tschuggnall, »›Das Wort ist kein Ding.‹ Eine theologische Einführung in den literaturwissenschaftlichen Begriff der Intertextualität«, in: Zeitschrift für Katholische Theologie 116 (1994), S. 160–178. 52 Sören Kierkegaard, Die Wiederholung. Die Krise und eine Krise im Leben einer Schauspielerin, hg. v. L. Richter, Frankfurt am Main 1984. 53 Harold Bloom, The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry, Oxford 1997, S. 82. »The life which has been now becomes. Kierkegaard says that the dialectic of repetition is ›easy,‹ but this is one of his genial jokes. […] Joking at Plato’s expense, the theorist of repetition proposes a possible but not a perfect love, that is, the only love that will not make one unhappy, love of repetition. […] The strong poet survives because he lives the discontinuity of an ›undoing‹ and an ›isolating‹ repetition, but he would cease to be a poet unless he kept living the continuity of ›recollecting forwards,‹ of breaking forth into a freshening that yet repeats his precursors’ achievements.« (ebd., S. 82 f.). 49
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heit, sondern unser eigenes begrabenes Leben, und ihr Studium führe zu einer Wiedererkennungsszene, einer Entdeckung, die uns nicht Einblick in unsere vergangenen Leben, sondern in die gesamte kulturelle Form unseres gegenwärtigen Lebens gewährt« – nicht nur der Dichter, auch seine Leserin und sein Leser seien dazu verpflichtet, »es neu zu machen«. 54 The Double Vision: In seiner letzten Schrift verdichtete Frye nochmals seine Gedanken über die genuine Verknüpfung von Sprache und Religion. Das testamentarische Vermächtnis schließt mit kontemplativen Gedanken zu einer nicht zeitgebundenen religiösen Rede: Einer der Gewinne des Kommens des geistigen Reiches, so sagen uns die Propheten, ist die Wiederherstellung der ›reinen Sprache‹ (Jes 3,9). Von der expliziten Bedeutung her beginnt diese Sprache sich auszudehnen bis in die fernsten Geheimnisse dessen, was sie ausdrückt und erläutert, aber nicht ›sagt‹. Die reine Sprache existiert nicht nur in der Bibel: Nach T. S. Eliot und Mallarmé besteht die soziale Aufgabe des Dichters darin, die Sprache […] der Gesellschaft zu reinigen. Eine solche Sprach-Reinheit ist nicht nur ein schöpferisches Element des Geistes, sondern eine Kraft, die den Geist neu erschafft oder ihn vielleicht tatsächlich ursprünglich geschaffen hat, als ob sie eine autonome Kraft wäre, die einer authentischen Schöpfung entstammt, als ob es wirklich einen den Geist und die Natur vereinigenden Logos gäbe, der eigentlich nicht WORT bedeutet. […] – Unsere ganze gesellschaftliche Entwicklung […] ist verwurzelt mit unserem zeitlichen Dasein und unserer Angst, die in der Gegenwart als fortschreitende Zeit erscheint und in der Zukunft als Tod. Wenn der Tod der letzte Feind ist, der laut Paulus zerstört werden muss, dann ist die letzte Metapher, die es zu überschreiten gilt, die Zukunft oder Gott in Form von Becketts Godot, der nie eintrifft, aber vielleicht morgen kommt. Die Allgegenwärtigkeit von Zeit schafft manch seltsame Verzerrungen in unserer doppelten Vision. Wir werden an einem gewissen Tag geboren und leben als eine kontinuierliche Identität bis zum Tod an einem anderen Tag. Dann begeben wir uns in ein Leben ›nach dem Tod‹ oder in eine ›nächste‹ Welt, wo etwas wie ein Ich unbegrenzt in etwas wie einer Zeit und einem Raum überlebt. […]. In der doppelten Vision einer gleichzeitig gegenwärtigen spirituellen und physischen Welt sind wir aus jedem Moment, den wir durchlebt haben, auch in eine andere Ordnung hinübergewechselt. Unser Leben in der Auferstehung ist folglich jetzt schon da und wartet darauf, erkannt zu werden. 55 Northrop Frye, Analyse der Literaturkritik, Stuttgart 1964, S. 344 f. (engl. Anatomy of Criticism, Princeton 1957). 55 Northrop Frye, Die doppelte Vision. Sprache und Bedeutung in der Religion, hg. v. P. Tschuggnall, Anif/Salzburg 2013 (engl. The Double Vision. Language and Meaning in Religion, Toronto 1991). 54
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Writing Christianity in a Post-Christian Age George Pattison
The use of the word ›writing‹ in my title might suggest that I am going to offer a 1980s or ’90s-style Derridian reading of Kierkegaard that presents him as a proto-postmodernist deconstructionist avant la lettre, a practitioner of écriture, and master of free-floating signifiers. I am not unsympathetic to many of the readings of Kierkegaard that emerged from that milieu and the so-called postmodernist vogues of the 1980s and 1990s played a large part in bringing Kierkegaard back into the centre of philosophical and theological discussion in the Anglo-American world. However, we do not need to think of deconstruction or grammatology every time we hear the word ›writing‹. But whilst I therefore want to resist some of the connotations that the word ›writing‹ carries with it, it remains a word we cannot do without in considering Kierkegaard’s contemporary heritage. Why? Because whatever else we may know about him, Kierkegaard was a writer. Writing was what he did, and writing, as he testified, was one of the most constant and profound sources of joy in his short life. It was also, as he further emphasized, the way in which he acted out his particular Christian calling: gifted and guided by providence to be, quite simply, a writer, that is, a religious and even Christian writer. To which I would only add the further qualification that he was, qua writer, a writer of prose. I shall return later to the importance of this. This opening statement may seem to say very little about either Kierkegaard or about his writing itself, its style, its content, its place in history. Given the extraordinary range of historical material transmitted in the form of ›writing‹ by ›writers‹ we may feel the need immediately to specify more closely what kind of writer he was and what kind of writing he produced. However, when we are dealing with a textual heritage as complex, multi-faceted, polyphonic, and even downright paradoxical as Kierkegaard’s, it is sometimes worth going back to what is indeed simple. 334 https://doi.org/10.5771/9783495820506 .
Writing Christianity in a Post-Christian Age
Librarians, publishers, and university teachers may need to agonize about whether to place Kierkegaard (or books or courses, about Kierkegaard) in philosophy, theology, or Scandinavian literature, but however we answer such questions and whatever else he was, Kierkegaard was a writer. But what did he write? At the most elementary level we can say that he wrote books, reviews, polemical articles, and journals—obviously? And even if (in good postmodernist style) we want to interject that it was not Kierkegaard but one or other pseudonym who wrote the best-known of these works, it is nevertheless the case that alongside the pseudonymous works he also wrote other works that he did indeed publish under his own name and also that he did, after all, write the pseudonymous works themselves in the most basic sense of the word ›write‹, that is, write them with quill pen in hand. But what was—or, should we say, what is—the matter of these writings? I’m trying to avoid formulating this question as if it was a question concerning the subject-matter or content of Kierkegaard’s writing. It is not the question: what did Kierkegaard write about? That is a perfectly legitimate question and it is perfectly possible to produce a long list of answers that would be entirely correct: he wrote about aesthetics, Socrates, speculative philosophy, the existence of God, eternal blessedness, Jesus Christ, and ageing actresses. Yet precisely because the relationship between form and content is not only another of the topics that Kierkegaard did indeed write about but also a relationship internalized and problematized in the matter of his writing itself, to ask only what that writing was about would be to foreclose on many of the possibilities hinted at by the more basic question as to the matter of this writing. Focussing on the content, we might forget that, in this case, the content is only with difficulty separable from the form. My title forewarns you of my preliminary answer to this question: Christianity. However, I should immediately gloss this in several ways. Firstly, as the entire debate with speculative philosophy and theology makes clear, Kierkegaard did not treat Christianity primarily in terms of doctrine—at least, not when doctrine is understood as a compilation of propositions that are valid in themselves apart from human attempts to reduplicate them in the actuality of existence. What Kierkegaard writes is not Christian doctrine. Nor, secondly, as further aspects of that debate—as well as his polemic against the
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Scandinavian nationalist N. F. S. Grundtvig 1—show, did he understand Christianity in terms of its institutional history. What Kierkegaard writes is not a vindication of the Church. But nor, thirdly, is it simply a matter of how to live the Christian life or how to be Christian, a point that gestures to the several passages where Kierkegaard tells us that the task to which his writing is dedicated is not being Christian, but becoming Christian. Consequently, what Kierkegaard writes is not pastoral theology. Is it, then, a kind of apologetics? This is not implausible, except that if it is, then it is a very unusual kind of apologetics since his intended readership is, at least nominally, Christian and, fourthly, he makes great efforts to point out to readers who believe themselves to be Christian that maybe they are not, i. e., not in the most radical, original, and true sense of the word. There may be further ways of writing Christianity that are not covered by doctrine, Church, pastoral care, and apologetics, but this brief survey puts us on alert that if we take ›Christianity‹ to be the matter of Kierkegaard’s writing, then we are going to need to pay considerable and careful attention to just how this ›Christianity‹ shows up in what he wrote and be hesitant before bringing it under one or more of the rubrics with which we are accustomed to categorize various kinds of Christian writings. 2 The question is, of course, considerably complicated by the fact that Kierkegaard set himself a whole series of writing tasks, producing works that he differentiated as aesthetic, ethical, religious, and Christian, and in a range of genres—from novella-like works, through more or less conventional reviews and polemical or satirical articles, to idiosyncratic discussions of major intellectual debates of the day. To all of this, the secondary literature might add ›early‹ and ›late‹ Kierkegaard or further subdivide the authorship into pre-1848, 1848–51, and 1851–55, not to mention the writings prior to the ›the authorship‹ proper, which Kierkegaard regarded as starting only with Either/Or. How, then, can we bring this manifold under the single and simple rubric of ›Christianity‹ ? This, however, is precisely my claim, namely, that Christianity is the unifying—if never finally uni-
See the discussion below. The comments in this paragraph do not exclude the possibility that Kierkegaard may offer considerable resources to, e. g., reflecting on Christian doctrine or pastoral practice, merely that the approaches considered are not determinative for the overall trajectory of his approach.
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fied—theme of these manifold ›writings‹. However, as should be clear, I do not regard Kierkegaard’s Christianity as a matter of coming to accept certain propositions relating to the natural and supernatural life of Jesus Christ and the God whom he knew as his eternal Father, but is first and foremost a matter of life: the life, namely, of those who, being Christian, experience their lives as lived in and by the power of the life of Christ. In this sense, Kierkegaard’s writing is life-writing, bio-graphy, by which I mean not just writing about life or about a particular form of life nor even writing as an expression of life, but writing as a way of living a life—in this case, writing as the form that Christianity takes in the life of the writer Søren Kierkegaard. But this immediately begs the question as to what we make of all those elements in Kierkegaard’s writings that don’t seem to have to do directly with Christianity. What has the Christian form of life to do with articles about ageing actresses? How does celebrating the theatrical art of Mme Heiberg—or the demonic genius of Don Giovanni or the tragic fate of Antigone—manifest Christian life? Or, more subtly, how does the task of edification, to which another strand of Kierkegaard’s authorship is committed, manifest the Christian life, if, as Johannes Climacus at least claimed, it falls short of embracing the decisive Christian categories? But if that is the case then we have to strip out the larger part of Kierkegaard’s writings—all the aesthetic, ethical, philosophical, and upbuilding writings that lie outside the sphere of Christianity proper? Here, however, I invoke a further element in my title: that Kierkegaard’s writing is writing in and for a post-Christian age. Now if the claim that the matter of Kierkegaard’s writing is Christianity is controversial in ways that are familiar to Kierkegaard scholars, the claim that we are living in a post-Christian age is controversial for yet other reasons, as is the further implicit claim that Kierkegaard too understood himself as living in a post-Christian age. Even today we still hear claims by leading figures in public life that our Western society is still basically Christian in orientation and values, despite the continuing weakening of ecclesiastical commitment. Fifty years ago, such claims were, of course, still more common—and more plausible. As for the nineteenth century, who can doubt that it was one of the great ages of faith? But even if Kierkegaard himself might be cited as one who, in the final attack on the Church, was amongst the first to say ›No! We are not living in a truly Christian 337 https://doi.org/10.5771/9783495820506 .
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world‹, it is plausible to claim that it was only at the very end of his career that he came to see the project of a public, officially recognized form of ecclesiastical Christianity as intrinsically flawed. There is certainly evidence that he opposed those, such as some Grundtvigians, who argued for a significant weakening of Church-state ties and consistently wanted to distinguish his criticism of the establishment from theirs. But all of this, I fear, is to miss the matter at issue with regard to Christianity in Kierkegaard’s writing. Let us go back a couple of steps. Clearly, Kierkegaard is by no means distinctive in his opinion that true Christianity cannot be decided by statistics relating to Church attendance or membership. Renewal movements throughout history and across all Christian denominations have implicitly distinguished between mere external adherence and true, saving conviction and commitment. The state of Christianity in the world cannot be decided by outward observance. That said, the question as to Church attendance and membership would seem to give some indication as to the existential as well as intellectual persuasiveness of Christian life and teaching in any given age. As we know, even before the start of the nineteenth century Schleiermacher had already recognized that those Allen Ginsberg would call ›the best minds of my generation‹ were no longer self-identifying as Christian believers. In this regard it is also thought-provoking that one of the early reviews of Either/ Or sparked off an exchange with Bishop Mynster on just this question, namely, whether the more progressive elements of Danish society still had any significant ecclesiastical commitment. A decline in Church-going, whether local and temporary or civilizational and long-term may indicate a transition to a post-Christian age, but still this is not the decisive point. Closer to the mark is the event named by Nietzsche as ›the death of God‹, an event connected with (although not identical to) such other phenomena of modernity as the flight of the gods, the disenchantment of the world, and, more broadly, secularization. Yet perhaps the mere assertion of the death of God doesn’t quite get to the heart of the matter either. Even after the death of God, many continue to affirm their belief in God, and many do so with arguments supporting the compatibility of such belief with the theoretical deliverances of natural science and the social and political requirements of a secular society. Despite the ›theology of the death of God‹ of the 1960s, it would seem that God is not yet (quite) dead and, if absent, 338 https://doi.org/10.5771/9783495820506 .
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is constantly rumoured to be about to return. In some significant ways, it would therefore seem that God does remain a possible object of existential and even theoretical striving. But ›the death of God‹ is not an entirely idle formulation. What it dramatically articulates is what we might more guardedly call the end of the theistic consensus. As theologians will know, the history of Christianity has been accompanied by a succession of arguments for the existence of God—ontological, cosmological, and moral. However, theologians being mostly less foolish than their critics like to think, those who advanced such arguments were mostly aware that although they might be persuasive to a certain degree, they could not finally or absolutely prove God’s existence. Consequently, they often concluded their demonstrations with one final and really decisive argument, namely, the argument based on the consensus gentium, the consent of the peoples. This argument was extremely simple, involving little more than the assertion—self-evident to those who made it—that all people everywhere had always believed in some God. Belief, in other words, was an anthropological constant. A rhetorically powerful variation of this argument was offered by none other than J. P. Mynster in 1810, when serving the congregation of the Church of Our Lady (to which the Kierkegaard family belonged), and attempting to raise funds for rebuilding the bombed out Church. Wherever you go in the world, he argued, to whatever town or city, amongst whatever people, the most significant public building is invariably the temple. So Copenhagen too must not neglect its ruined chief Church, but should strive to restore it to its rightful glory and pre-eminence. Honouring their God is what all humans everywhere do. Belief in God is, in other words, an anthropological constant. I have encountered the argument ex consensu gentium in English theological writing from the 1940s, although I cannot imagine that it would by then have persuaded many readers. And it is, I suggest, a sense for the collapse of this argument that is definitive for Kierkegaard’s relation to Christendom. As I have suggested, we might argue a similar case in relation to Schleiermacher’s Speeches, but with regard to Kierkegaard it is, I think, almost undeniable. For what is the outcome of this collapse? It is, quite simply, that God is no longer available as a self-evident point of reference in public discourse. It is still possible to speak of God and of faith in God—but those who do so can no longer presume upon the acceptance of their claims or even the intelligibility of these claims to non-believers. And it is this cultural 339 https://doi.org/10.5771/9783495820506 .
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shift, away from a basic theistic consensus towards a situation of irreversible and irreconcilable diversity that I wish to indicate by the term ›post-Christian‹. 3 Nor do I think that this would change in any essential respect if the established Churches of Western Europe were to be so re-invigorated as to compel the kind of ecclesiastical adhesion typical of the early modern period, since (if this was not the result of coercion from above) it would, from our point of view, be the kind of accumulation of individual choices that we see in, e. g., the United States, where despite the existence of a church-going population there is no longer an underlying theistic consensus in the public sphere. Kierkegaard’s intuitive grasp of this situation is, I suggest, not just a feature of the polemical writings of the last years but underpins the whole movement of the authorship from at least Either/Or onwards, a movement from the aesthetic to the religious and on towards the Christian. In this regard, and even if The Point of View over-simplifies, it seems likely that the initial impulse for Either/Or and the other early pseudonymous works involved a recognition that the presuppositions of conventional Christian literature had been substantially eroded and that if the world was to be won back for Christianity a radically new approach was going to be needed. Indeed, such an approach could not even make the assumptions as to shared theistic belief that early Christian apologists such as Justin Martyr were able to make in relation to both Jews and pagans. But there is a further, related feature of this situation that I want briefly to discuss before focussing more exclusively on Kierkegaard, and it is a feature that indicates why I am giving a particular weight to the theme of writing and what the specific import of that theme actually is in this context. This is the theme of ›the end of art‹, a theme associated with Hegel’s aesthetics and, as such, not only known to Kierkegaard but also internalized into the body of his writings. It is probably best known in the Hegelian version by reference to the lines from the introductory lecture on how thought and reflection have spread their wings above fine art and how the production of works of beauty no longer fulfils our highest need—›we no longer bow the This diversity now usually does but need not include the presence of other, nonChristian religious communities, but it may equally be reflected in forms of cultural Christianity in which moral or aesthetic resources and values inherited from Christian faith are appropriated but without the ›baggage‹ of theistic belief. In the 1950s and 1960s this found expression in the so-called ›secular Christianity‹ thinkers and movements, generally reflecting a certain reading of Bonhoeffer.
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knee‹. Raphael painted a Madonna, but we see a Raphael. The antiRomantic implications of this theme are pervasive also in Kierkegaard. ›The aesthetic‹ is not just a stage of life to be rejected because it is morally flawed; it is also a stage of life relativized by the exigencies of the present age—›the age of poetry is past‹, as Frater Taciturnus puts it. However, it is not only at the start of his lectures that Hegel flags up the ›end of art‹. The theme reappears in a slightly different guise at the end of the course, as Hegel considers the transformation of tragedy and comedy in the modern period. In terms that will be effectively repeated in Kierkegaard’s essay on Antigone, Hegel argues that modern drama no longer represents the conflict between great substantial powers, between divine and human law, but is no more than the interaction of more or less accidental, contingent subjectivities. As in the history of drama in the ancient world itself, the content of the work is emptied out until we reach the point at which spectators are no longer confronted with a drama of gods and heroes but see only themselves. In this way art moves from ›the poetry of imagination to the prose of thought‹. Now, strikingly, Hegel never developed a fully-formed theory of the novel, although we might argue that two of the major twentieth century theorists of novelistic literature, George Lukacs and M. M. Bakhtin, were effectively thinking through the implications of Hegel’s aesthetics for this newly dominant art-form. Of course, Hegel himself died just at the point at which the modern prose novel was entering into a sudden and extraordinary flowering (from the 1830s onwards), but his (and Kierkegaard’s) expectation that the art produced under the conditions of modernity would be an art that was about as well as for ›we moderns‹ seems to have been wellfounded. 4 In this regard I believe that Bakhtin was correct (or at least very Hegelian) in drawing the conclusion that such art would not have the self-sufficient perfection of classical beauty (which Hegel describes as circle-like) but would be open-ended, multi-voiced, unfinalizable, and prosaic—just like life itself. If a world that is or is far advanced towards becoming ›postChristian‹ is also an age in which poetry and art have abandoned Parnassus and entered into the motley forum of modern life, then Cf. Baudelaire’s remark apropos Constantin Guys that ›The pleasure we derive from the portrayal of the present comes not only from the beauty in which it may be clothed but also from its essential quality of being present‹.
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George Pattison
the writing of such an age will be writing that is open-ended, multivoiced, unfinalizable, and prosaic—just like life itself. And Kierkegaard, I suggest is amongst the first Christian writers to grasp this and to do so not just in the way we grasp a theoretical truth but as a practical exigency. In other words, he didn’t just tell us that this is how it is; he produced a body of writing that showed how Christianity must or might now be written. The task is no longer—as for idealist aesthetics—finding a commensurate sensuous form in which to express the truth of the idea, but to display the idea as it is contested, obscured, and maybe even discarded in existence. This is not simply writing that reveals or points to Christian truths or values but writing that performs what Christianity is or could be in this modern, postChristian world. It is this decisiveness in literary practice that, throughout the modern period, has made Kierkegaard accessible to those who by no means share his religious commitments—although I would also add that I think that the ultimate spur to just such a ›secularization‹ of art is precisely the Christian narrative of the God who became a poor, suffering human being devoid of all visible divine attributes. In this regard, Christianity is plausibly depicted as the remote, if often unwitting and unwilling, cause and destiny of modernity. In writing Christianity for a post-Christian world, Kierkegaard is bringing writing home. These comments admittedly gloss over a number of stress points in Kierkegaard’s writings themselves. In published and unpublished works alike, Kierkegaard could refer to himself as a poet of the religious or of the Christian, and this self-designation has been taken up (often brilliantly) in the secondary literature. But isn’t this self-description offered by way of opposition to the prosaic reality of the modern bourgeois world? And doesn’t it therefore count against the position I am attempting to propose? The matter is complex. Yet, in the end, it seems to me that the poetic element in even Kierkegaard’s most Christian writing (as in some of the late communion discourses or the 1849 discourses on the lily and the bird) is, finally, a subordinate element to an essentially prosaic argument and not vice versa. The poetry does not stand alone but is worked into and serves the purposes of mundane persuasion. It is telling in this regard that, however suspicious we may be of the self-accounting of The Point of View, Kierkegaard here presents himself under the more general rubric of ›author‹ rather than ›poet‹ and if we had to give the work an alternative title it would less likely be Poetry and Truth than Writing and 342 https://doi.org/10.5771/9783495820506 .
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Truth. Indeed it is precisely the ›poetic‹ rendering of Goethe’s autobiography that Kierkegaard finds fatally suspect. Closely related to these remarks is another claim we can trace back to Kierkegaard himself, namely, that he has never had any pretensions to be the ideal Christian, but what he can and does do is, precisely, to understand and to present the Christian ideal. We have already implicitly touched on the connection that both Hegel and Kierkegaard make between the ideal and the poetic, and if we see Kierkegaard’s task as presenting the Christian ideal or the ideal of Christ, then we may also be close to seeing him, again, as the poet rather than the prosaist, the writer, of the Christian life. And, in any case, to the extent that we allow such claims (to present the Christian ideal) to determine our approach to Kierkegaard’s writing, we miss the modernity of that writing itself. It would be as if, having glimpsed the coming crisis of modernity, Kierkegaard reached back to some earlier pre-modern response. And here we may remark on an anxiety that Kierkegaard himself seems to have experienced and to which many of his more critical commentators have also drawn attention, namely, the anxiety that there is, in the end, something Quixotic about the Kierkegaardian enterprise. As one of the first great works of modern prose literature, Don Quixote invites being read precisely as a critique of Quixotism and knight-errancy, including perhaps the errancy of knights of faith. In an age that has left ideals behind, the defence of ideals can only ever be, precisely, Quixotic. Kierkegaard too could see that precisely to the extent that he elevated the Christian ideal above the prose of everyday market-town life in Copenhagen he would expose himself to a martyrdom of laughter at the hands of the mob or the pens of the mob’s more scurrilous mouthpieces. But that is also just what is so writerly about Kierkegaard: that with the same gesture by which he elevates the ideal above everyday life, he also shows us the incongruity between this ideal and the world—like the Christian Passion narrative, yes, but also like Don Quixote. Indeed, we could say that Kierkegaard is, in his way, Thomas à Kempis and Cervantes. The prosaic modernism of his writing covers Christian and comic points of view because it is writing that is open-ended, multi-voiced, unfinalizable, and prosaic—just like modern life itself. We are now in a position to make a further and important point. If the characterization of Kierkegaard’s writing that I am developing is correct, then it is not only the case that the open-ended prose of his 343 https://doi.org/10.5771/9783495820506 .
George Pattison
writing encompasses, absorbs, and mediates the poetic and idealistic elements of the authorship, but it also encompasses, absorbs, and mediates the ›aesthetic‹ dimension of Either/Or Part 1 and other works. Everything, from Don Giovanni, through the Seducer and on to the crises of ageing actresses belongs integrally to the stuff of Kierkegaard’s mongrel prosaic universe. Let us then extend our list: Kierkegaard is à Kempis, Cervantes, and Baudelaire, whose albatross might count alongside the adventures of Don Quixote as, in some respects, a variant on the Christian Passion narrative. But if we affirm that Kierkegaard’s writing is as open-ended, multi-voiced, unfinalizable, and prosaic as modern life itself, then, despite the proviso as to its prosaic nature, isn’t this to turn Kierkegaard back into an aesthetic—perhaps even a ›merely‹ aesthetic—writer? There are two points to make in response to this. The first is that if, as I think Kierkegaard’s existential orientation requires, we see Christianity not as a set of propositions but as a life- and self-commitment on the part of an existing individual; if, that is, Christianity is not a set of truth-claims but a lived life, then all that belongs to that lived life is part of what it is for that living person to be Christian. For the person whose path to Christianity has been through the aesthetic, then the aesthetic too belongs to the overall narrative of what it means for that person to be Christian and the integration of the aesthetic into the religious will be an abiding feature of their Christian travail. This, I suggest, is essentially akin to what Assessor Vilhelm means by ›repentance‹, that is, choosing ourselves as we are in the totality of our lives ›from the hand of God‹. But (my second point), the literary values that enable us to draw Cervantes and Baudelaire into conversation with Kierkegaard are not just a record of a path that has been trodden. The point—as they too also testify—is that writing, living as a writer, is precisely one way and arguably even an eminent way of living the peculiar destiny of modernity. For to write is to set in motion and to perform a form of life in which it is our words (rather than, say, our class, our valour, or our genealogy) that define our social identity and it is our words that we are required to stand or to explain if, being challenged, we wish to retain or promote that social identity. In other words, writing and the emergence of ›the writer‹ in the modern sense provides an exemplary instance of the transition from the aristocratic to the bourgeois world.
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Kierkegaard’s way is not the way of the monastery in any simple sense, even if he was already in the cloister when he wrote Either/Or. Of course, the person who has become or is serious about becoming a Christian will not persist in the habits of a Seducer or aesthetic prankster. But if Søren Kierkegaard the Christian has become a Christian by being reborn, the reborn Søren Kierkegaard is, nevertheless, the reborn Søren Kierkegaard and neither Peter Christian Kierkegaard nor P. L. Møller. In being Christian we are who we are even if we now see and know who we are in a transfiguring light, accepting the unacceptable, whilst seeing—perhaps more acutely than ever—just why it is or was unacceptable. Being Christian is neither self-forgetfulness nor self-deception but living the tension of an open-ended and, in this life, unfinalizable relationship between past, present, and what is to come. If we are to speak what this means, the poetic word— at least as construed by Romantic idealism—will probably fail us. Perhaps prose will not succeed either. But prose doesn’t have to succeed. It is not the aim of prose to produce a well-rounded whole, but merely to speak our world and our life in the world as and how they are, a living running commentary on and questioning of existence. I have made my main point, but in conclusion—quite a long conclusion—I want to draw out three or arguably four further features of what this means in the case of Kierkegaard’s attempt to write Christianity in a post-Christian world. If turning to the prose of everyday life as the medium of writing being Christian means renouncing the poetic and the ideal in the sense discussed above, it also involves further, closely connected acts of renunciation: the renunciation of metaphysics; the renunciation of history; and the renunciation of community, which we may sub-divide into the twofold renunciation of nation and Church as measures of human identity. In a much quoted but undeveloped comment in the journals, Kierkegaard remarks that the error of modern dogmatics is to have laid its foundations in metaphysics. Better than metaphysics, he suggests, is rhetoric. Under the rubric ›towards a rhetorical theology‹ I have elsewhere taken this comment as a key to the strategy of indirect communication, arguing that, for Kierkegaard, this is not just a means of bringing readers to the point at which they can begin to ›do‹ theology but that the ›how‹ of communication is itself the matter of Kierkegaardian theology. Furthermore, this is a ›how‹ that requires the suspension of metaphysics precisely because, on a Kierkegaardian view, metaphysics will ›always already‹ have inscribed all the open345 https://doi.org/10.5771/9783495820506 .
George Pattison
ended possibilities of existence within the ›what‹ of Being qua ousia, interpreted in the Latin West as essence. In many respects my argument repeats that claim. However, it does so (I hope) in such a way as to be even less open to the interpretation that I am understanding Kierkegaard’s way of writing as a ›strategy‹ of communication serving a purpose that lies on some other, higher (e. g. metaphysical) level. Fairly obviously, living the Christian life, for Kierkegaard and for us, must involve more than just writing books (and reading them). Yet if Heidegger, following Aristotle, is right that logos, Rede, is intrinsic to and inseparable from our human way of being such that to be human is to be the living being having logos, then how we speak about ourselves, our life, and our faith is intrinsic to and inseparable from whatever meaning we, our lives, and our faith might have. When Viktor Frankl developed his logotherapy for those traumatized by experiences of extreme terror, he was not playing with words, but recognizing just this: that how we are and how we speak about how we are are not, finally, two different things. How we are is how we reveal ourselves—intentionally or otherwise—in what we say. Loquere ut videam. In this sense, then, Kierkegaard’s writing is not just ›about‹ Christianity but is a disclosure of the meaning that Christianity had in the entire context of his life. If this pre-eminence of the word acquires a peculiar salience and force in modernity (as I have already suggested), then, in this regard modernity itself is bringing to the fore a more universal human possibility. Arguably, this is a possibility that is itself rooted in Christianity, in which not only is the bearer of divine truth, Jesus Christ, defined as ›the Word‹ but bearing witness through verbal testimony has from the beginning been regarded as a primary form of faithful living. The second and at first glance very different renunciation is that of history. In a theological perspective this is particularly salient with regard to the way in which Kierkegaard distinguished his own interpretation of the life of Christ from the historical reconstruction (or, in the case of Strauß, the historical destruction) of the life of Jesus. If we think of the life of Jesus movement in terms of positivistic historicism, it might seem to represent something very different from the poetic and the ideal. Yet apart from the fact that a great many of the nineteenth century lives of Jesus were indeed idealism and often highly poetic constructions, the restriction of what counts as historically authentic to what can be empirically proven is, in Kierkegaar346 https://doi.org/10.5771/9783495820506 .
Writing Christianity in a Post-Christian Age
dian terms, a reduction of the fullness of life lived in the tension of actuality and possibility to just one set of possibilities. Such a reduction is precisely an instance of what Heidegger would call Gestell, felicitously if not entirely accurately translated into English as ›enframing‹, which is to say that it allows only what appears within the frame that we ourselves apply to the world to count as reality. It is not really Kierkegaard’s question, but it is maybe relevant to seeing the consistency of his writing, that Heidegger would also see in the Gestell of modern positivistic science and technology the ultimate outworking of what the (idealist) metaphysics of Plato had first set in motion and that found its theoretical summation in the philosophies of German Idealism and of Nietzsche. Less well-known than his critique of the Hegelian version of historicism, is Kierkegaard’s assault on the Danish Church-leader N. F. S. Grundtvig’s ›matchless discovery‹ of the baptismal recitation of the creed as providing a historically reliable criterion of Christian faith and the continuity between the Church of the apostles and the Church as it is today. Here it is not the facts of history that are taken as demonstrating or undergirding the truth of Christian claims, but the continuity of the Church’s own liturgical life. As such, and for all the peculiarities of Grundtvig’s own version of it, it is an argument that has had much resonance in twentieth century, especially Catholic theology. Yet if tradition is in many ways a more flexible and open category than that of hard historical fact, Kierkegaard remains suspicious that here too the urgent exigency of Christian life is being weakened and reduced in favour of a view that has, so to speak, always already arrived at its conclusion. The rejection of Grundtvig’s version of the historical point of view makes clear how the renunciation of history also involves a certain renunciation of community and, again especially clearly in the case of Grundtvig, how this relates both to community as nation and community as Church. In fact, as we look at the writings of Kierkegaard’s last years we cannot but be struck by the way in which the attack on Christendom, i. e., on established Christianity, is also an attack on post-1848 Denmark (often, even more particularly, on the ›market-town‹ of Copenhagen, its capital and cultural centre). Although these are distinct and separable strands, they criss-cross in complex ways—and this is just the point: that what goes wrong when we define ourselves in terms of nationality is when (perhaps inevitably) the nation makes claims that, ultimately, only God can make, 347 https://doi.org/10.5771/9783495820506 .
George Pattison
asking not only for our taxes but also for our consciences. And the same is true if or to the extent that we define ourselves in terms of membership of an ecclesiastical community. For although an ecclesiastical community professes to be a community founded exclusively on conscience (and not on nationhood, ethnicity, or political expediency), the implicit claim that a visible and historically continuous community can also be a community of conscience is precisely what enables it to be the supreme instrument for confusing relations between individuals and nations. In unpicking the claims of ecclesiastical Christianity ›as it now exists in Denmark‹ Kierkegaard is also challenging his readers to rethink what it might mean to be Danish (or German or English or American) and what it might mean to be Lutheran (or Catholic or Anglican or Baptist). If he remained conscious of the positive heritage of Danish life and language celebrated by the pseudonym Frater Taciturnus, he is also increasingly explicitly clear that these positive values can survive only to the extent that they are not contaminated by nationalism or collectivism. Now, of course, these last points—Kierkegaard’s renunciation of metaphysics, of history, and of both national and ecclesiastical community—have been amongst the chief points at which he has been attacked by wave after wave of critics for his irrationalism, his flight from history, his individualism, and even his solipsism. However, by analogy with what I earlier argued in relation to the poetic and the Christian ideal, seeing Kierkegaard as a prose writer of being Christian in a post-Christian age means allowing for the essentially multivoiced and unfinalizable nature of his authorship—which in turns means realizing that he does not simply renounce or reject, e. g., metaphysics, history, or community. Instead, renouncing and rejecting the absolutizing tendencies of these and other proposed criteria of truths and values, he draws them into a prosaic world in which their grander claims are brought down to the proportions of average everyday human discourse and exposed not only to counter-arguments, but to ridicule, misrepresentation, and all the misfortunes that can assail just about any human claim to anything. The writing of Christianity in a post-Christian age does not straightforwardly deny metaphysics, history, or community as possibilities of human existence, but it does deny their claims to define those possibilities in advance of the actual decisions of existing human beings. Even where Kierkegaard is at his most unworldly extreme, his medium of modern prose writing means that his world and his perspectives are by no means closed off from 348 https://doi.org/10.5771/9783495820506 .
Writing Christianity in a Post-Christian Age
our own; within the Victorian age of faith he is already writing, as Christian today must also try to write, Christianity in a post-Christian age. Perhaps these last remarks have over-emphasized the negative elements of this undertaking by drawing attention to the renunciation of previously accepted criteria of validation that it involves. However, it should be at least implicit in the expression ›writing Christianity in a post-Christian age‹ that Kierkegaard is also setting out an account of what Christianity is as well as what it is not. It is not the aim of this paper to give more than a formal frame of reference for approaching this, and I shall not now begin to expound further how Kierkegaard goes about his self-appointed (or, if he is right, providentially appointed) task. There is much in it that is controversial and there are undeniable tensions between Kierkegaard’s Christian vision and what we might call classical Christian doctrine. But, if his authorship has the character I have described, then he, of course, would never have imagined that he could have won his readers without entering into what, in the sub-title of a satirical play on Hegelianism that he wrote as a student, he called ›the all-encompassing debate of everything against everything‹.
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Kurzbiographien
Charles Cahill arbeitet an der University of Madison-Wisconsin an einer Dissertation mit dem Arbeitstitel: »Mea Res Agitur: The Kierkegaard Renaissance in Weimar Germany«. Seine Forschungsschwerpunkte sind europäische Ideen- und Religionsgeschichte sowie die Weimarer Republik. Niels Jørgen Cappelørn ist emeritierter Professor für KierkegaardStudien und war vormals Direktor des Søren Kierkegaard Forschungszentrums der Universität Kopenhagen. Ausgewählte Editionen: Søren Kierkegaards Skrifter, Bde. 1–55 (Kopenhagen 1997– 2012), darin Verfasser von ca. 41500 Realkommentaren; Søren Kierkegaards Værker, Bde. 1–15 (Taschenbuchausgabe mit sprachlichen Kommentaren, Kopenhagen 2016–2019); zus. mit Hermann Deuser Herausgeber von Kierkegaard Studies: Yearbook, Bde. 1–15 (Berlin/ New York 1996–2010) und Kierkegaard Studies: Monograph Series, Bde. 1–26 (Berlin/New York 1997–2012); zahlreiche Aufsätze und Artikel in Sammelwerken zur Theologie, Ethik und besonders zur Kierkegaard-Forschung. Hermann Deuser ist emeritierter Professor für Systematische Theologie und Religionsphilosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und assoziierter Fellow am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt. Neuere Veröffentlichungen: Religionsphilosophie (De Gruyter Lehrbuch, 2009); Religion: Kosmologie und Evolution (Tübingen 2014); hg. zus. mit Markus Kleinert und Magnus Schlette: Metamorphosen des Heiligen. Struktur und Dynamik von Sakralisierung am Beispiel der Kunstreligion (Tübingen 2015); Natur, Religion, Wissenschaft. Beiträge zur Religionsphilosophie Hermann Deusers, hg. von Markus Kleinert und Heiko Schulz (Tübingen 2017).
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Kurzbiographien
Joachim Grage ist Professor für Nordgermanische Philologie (Neuere Literatur- und Kulturwissenschaft) an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind die skandinavischen Literaturen des 19. Jahrhunderts, der skandinavisch-deutsche Kulturtransfer, die Intermedialität von Literatur und Musik sowie die skandinavische Kinder- und Jugendliteratur. Er ist Mitherausgeber der Deutschen Søren Kierkegaard Edition. Heinz Hiebler ist Leiter des Medienzentrums der Fachbereiche Sprache, Literatur, Medien I + II und lehrt am Institut für Medien und Kommunikation an der Universität Hamburg. Studium der Germanistik und Kunstgeschichte an der Universität Graz. 1994–2001 wissenschaftlicher Mitarbeiter am FWF-Projekt Literatur und Medien. 2001 Promotion mit einer Arbeit über Hugo von Hofmannsthal und die Medienkultur der Moderne. 2008 Studienbriefe für die FernUni Hagen zu den Themen Medien und Kultur sowie Wissen im digitalen Zeitalter. 2011 Habilitation an der Universität Hamburg mit einer Arbeit zu den Themenfeldern Kultur, Medien, Geschichte. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Medientechnikgeschichte, Medienkulturgeschichte, Medienkulturtheorie, Medienästhetik, Mediensemiotik, Medien und Realität. Angelika Jacobs ist Privatdozentin für Deutsche Sprache und Literatur an der Universität Hamburg und Gymnasiallehrerin. Studium der Germanistik und Romanistik sowie Promotion an der Universität Konstanz mit einer Arbeit über Goethe und die Renaissance. Studien zum Konnex von historischem Bewusstsein und ästhetischer Identitätskonstruktion, Habilitation in Hamburg zum Thema Stimmungskunst von Novalis bis Hofmannsthal. Forschungsgebiete sind der ästhetische Historismus um 1800, literarischer Exotismus und Ethnopoesie sowie der deutsch-französische Symbolismus. Markus Kleinert ist seit 2008 Leiter der Kierkegaard-Forschungsstelle am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt. Studium der Germanistik und Philosophie in München, Pisa und Kopenhagen. 2004 Promotion in München mit einer Arbeit über Skeptizismus bei Hegel und Kierkegaard. 2003–2008 Assistent für Philosophie/Kunsttheorie an der Akademie der Bildenden Künste München. 2019 Habilitation (Neuere deutsche Literatur) in Göttingen mit der Arbeit »Andere Klarheit. Versuch über die Verklärung im Spannungsfeld von Kunst, 352 https://doi.org/10.5771/9783495820506 .
Kurzbiographien
Religion und Philosophie«. Mitherausgeber der Deutschen Søren Kierkegaard Edition. Forschungsschwerpunkte: Kierkegaard, Nietzsche, Ästhetik, Verhältnis von Literatur und Religion, Begriffsgeschichte. Mathias Mayer ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Augsburg und Sprecher des Master-Studiengangs »Ethik der Textkulturen« im Elitenetzwerk Bayern. Studium der Germanistik, Philosophie und Anglistik in Freiburg und Wien. Dissertation über Goethes Wilhelm Meister-Romane (erschienen Heidelberg 1989: Selbstbewusste Illusion), Habilitation über Dialektik der Blindheit und Poetik des Todes. Über literarische Strategien der Erkenntnis, erschienen Freiburg 1994). 1995–2002 Professur an der Universität Regensburg. Weitere Publikationen: Natur und Reflexion. Studien zu Goethes Lyrik, Frankfurt am Main 2009; Stillstand. Entrückte Perspektive. Zur Praxis literarischer Entschleunigung, Göttingen 2014; Franz Kafkas Litotes. Logik und Rhetorik der doppelten Verneinung, München 2015. George Pattison, an Anglican priest, is Professor of Theology and Modern European Thought at the University of Glasgow. Prior to coming to Glasgow in 2013 he held posts in the universities of Cambridge, Aarhus, and Oxford and is a visiting professor at the University of Copenhagen. He has published a number of books on Kierkegaard, including Kierkegaard: the Aesthetic and the Religious (1992), Kierkegaard’s Upbuilding Discourses (2002), and Kierkegaard and the Quest for Unambiguous Life (2013), as well as co-editing the Oxford Handbook of Kierkegaard (2013). He has also written on the philosophy of religion and is currently working on a three-part Philosophy of Christian Life. Part 1, A Phenomenology of the Devout Life, was published in 2018 and Part 2, A Rhetorics of the Word in 2019. Magnus Schlette, Studium der Philosophie und Soziologie in Berlin, Kiel und Frankfurt am Main. Promotion 2003 in Philosophie in Frankfurt am Main mit einer historisch-systematischen Arbeit zu Entstehungsbedingungen und Struktur narrativer Selbstverhältnisse. Habilitation 2010 am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt mit einer Arbeit zur Idee der Selbstverwirklichung. 2012/2013 Professurvertretung für Philosophische Anthropologie an der Humboldt-Uni353 https://doi.org/10.5771/9783495820506 .
Kurzbiographien
versität zu Berlin, 2013/2014 Fellow für Religionsphilosophie am Käte-Hamburger-Kolleg »Dynamics in the History of Religions« der Ruhr-Universität Bochum, 2014/2015 Fellow am Marsilius-Kolleg der Universität Heidelberg. Magnus Schlette ist Referent für Philosophie und Leiter des Arbeitsbereichs »Theologie und Naturwissenschaften« an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Heidelberg und Privatdozent für Philosophie an der dortigen Universität. Forschungsschwerpunkte: Philosophische Anthropologie und Sozialphilosophie, Hermeneutik und Ästhetik, Kultur- und Religionsphilosophie. Neuere Publikationen: Die Idee der Selbstverwirklichung. Zur Grammatik des modernen Individualismus, Frankfurt am Main 2013; zus. m. Gerald Hartung (Hg.), Religiosität und intellektuelle Redlichkeit, Tübingen 2012; zus. m. Hermann Deuser und Markus Kleinert (Hg.), Metamorphosen des Heiligen. Struktur und Dynamik von Sakralisierung am Beispiel der Kunstreligion, Tübingen 2015; zus. m. Hermann Deuser, Hans Joas und Matthias Jung (Hg.), The Varieties of Transcendence. Pragmatism and the Philosophy of Religion, New York 2016. Heiko Schulz ist seit 2009 Professor für Systematische Theologie und Religionsphilosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Lehramtsstudium in den Fächern Philosophie, Ev. Theologie und Erziehungswissenschaften an der BUGH-Wuppertal sowie der RuhrUniversität Bochum; 1. Staatsexamen 1984, 2. Staatsexamen 1991. 1993 Promotion zum Dr. phil. an der BUGHW, 1999 Habilitation an der Goethe-Universität. 2002 Professor für Ev. Theologie und ihre Didaktik/Systematische Theologie an der Universität Duisburg-Essen/Campus Essen. Wichtige Veröffentlichungen: Eschatologische Identität. Eine Untersuchung über das Verhältnis von Vorsehung, Schicksal und Zufall bei Søren Kierkegaard, Berlin/New York 1994; Theorie des Glaubens, Tübingen 2001; Aneignung und Reflexion, 2 Bde., Berlin/Boston 2011 u. 2014; Kierkegaard Studies: Yearbook 2011ff. Berlin/Boston 2011ff. (Mithg.); Kritische Theologie. Paul Tillich in Frankfurt (1929–1933), Berlin/Boston 2015 (Mithg.); Evangelische Theologie. Eine Selbstverständigung in enzyklopädischer Absicht, Leipzig 2016 (Hg.). Rasmus Sevelsted (PhD in classics, University of Copenhagen 2016) specialises in classical Greek poetics and aesthetics, especially Plato’s. He has published on Plato and translated and co-translated several of 354 https://doi.org/10.5771/9783495820506 .
Kurzbiographien
Plato’s dialogues into Danish. From 2011 through 2012 employed at the Søren Kierkegaard Research Centre as a philologist on Søren Kierkegaards Skrifter. Most recently he has provided the translations of Greek quotations in Kierkegaard’s Om Begrebet Ironi (On the Concept of Irony) for the paperback edition of Søren Kierkegaards Værker, vol. 1, ed. by Niels Jørgen Cappelørn (Copenhagen 2016). Wolfgang Spickermann ist Professor für Alte Geschichte am Institut für Alte Geschichte und Altertumskunde der Universität Graz. 1991 Promotion über die Götterverehrung von Frauen im römischen Gallien, Germanien und Rätien, 2002 Habilitation über die Religionsgeschichte der germanischen Provinzen Roms. Assistentur und Oberassistentur an der Universität Osnabrück, Lehrstuhlvertretung für Alte Geschichte an der Universität Trier 2007/2008, 2009–2013 Professur für Religionsgeschichte des Mittelmeerraumes in der römischen Antike am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt. 2011–2013 Interimsleiter, seit 2013 assoziierter Fellow des Max-Weber-Kollegs. Wichtige Veröffentlichungen: Germania Superior. Religionsgeschichte des römischen Germanien I, Tübingen 2003; Germania Inferior. Religionsgeschichte des römischen Germanien II, Tübingen 2008; Zentralität und Religion. Zur Formierung urbaner Zentren im Imperium Romanum, Tübingen 2006; »Lukian von Samosata und die fremden Götter«, in: Archiv für Religionsgeschichte 11 (2009), S. 229–261. Peter Tschuggnall ist Professor für Humanwissenschaften und Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Tirol in Innsbruck. An der Universität Innsbruck Promotion in Theologie (1989) und Vergleichender Literaturwissenschaft (1992), Habilitation für das Fach »Vergleichende Literaturwissenschaft, unter besonderer Berücksichtigung fundamentaltheologischer Aspekte der Theologischen Ästhetik« (2005). Herausgeber der Buchreihe »Im Kontext. Beiträge zu Religion, Philosophie und Kultur« (Anif/Salzburg 1994–2015). Jüngere Publikationen: Mozart und die Religion (2010) sowie Collage Ästhetik/Religion (2014). In Anlehnung an postmoderne Impulse ist ein interkulturelles, kooperativ ausgerichtetes Projekt in Arbeit: Literatur, Religion und Humanismus. Diskurs über die Nützlichkeit des scheinbar Unnützen jenseits vermeintlicher Exzellenz, oder: Komparative Blitzlichter auf den bildungswissenschaftlichen Lebensraum einer »unbedingten Universität« (Jacques Derrida). 355 https://doi.org/10.5771/9783495820506 .
Kurzbiographien
Christian Wiebe ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der TU Braunschweig in der Abteilung Neuere deutsche Literatur. Studium der Allgemeinen und vergleichenden Literaturwissenschaft, Psychologie und Linguistik an der Universität Bielefeld. Dort 2012 Promotion mit der Arbeit: Der witzige, tiefe, leidenschaftliche Kierkegaard. Zur Kierkegaard-Rezeption in der deutschsprachigen Literatur bis 1920, Heidelberg 2012. Dozententätigkeiten an der Universität Bielefeld, der Hamburger Fern-Hochschule und der TU Braunschweig. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Religion, Literatur und Philosophie, Literatur des 17. Jahrhunderts.
356 https://doi.org/10.5771/9783495820506 .
Personenregister
Adler, Adolph Peter 105, 116 Adorno, Theodor W. 15, 218–221, 255–257 Agamben, Giorgio 204 Aichinger, Ilse 258 Alexander von Abonuteichos 155 f., 174 Anderson, Graham 162 Apelles 159 Arendt, Hannah 278 f. Aristipp 152, 173 Aristophanes 126 (Fn. 6), 128, 135, 167, 171, 178 Aristoteles 108–111, 113, 167, 173, 346 Arndt, Johann 83 Bachmann, Ingeborg 258 Baeumler, Alfred 290–293, 295 f. Bakhtin, Michail Michailowitsch 317, 341 Baldwin, Barry 161 Barfod, Hans Peter 301 Baudelaire, Charles 341 Baur, Ferdinand C. 126–128, 147 Beckmann, Max 255 Benjamin, Walter 219 Bernhard, Thomas 256, 319 (Fn. 8) Billeskov Jansen, Frederik Julius 18, 309–312 Bompaire, Jacques 162 Botticelli, Sandro 159 Brandes, Georg 18, 218, 299, 304– 306, 309, 311 Brix, Hans 303–306, 311 f.
Broch, Hermann 255–257, 280 Buber, Martin 253 f., 330 Celan, Paul 258 Cervantes, Miguel de 343 f. Chamberlain, Housten Stewart 255 Christus 12, 14, 210, 213, 247, 249 f., 254, 325, 335, 337, 346 Chrysippos 173 Dallago, Carl 268–270, 273, 275 f., 279–286, 288, 290, 293–296 Dannhauer, Johann Conrad 85 Dauthendey, Max 218 Defoe, Daniel 193 Delz, Josef 161 Demonax von Kypros 176 f. Derleth, Ludwig 272–277 Derrida, Jacques 184, 238 (Fn. 51), 300, 317, 324 Descartes, René 193 f., 198 f., 322 Dionysos von Halicarnassus 251 Drachmann, Anders Bjørn 301 Dürer, Albrecht 158 Ebner, Ferdinand 281, 296 Ehrenstein, Albert 160 Eich, Günter 257–259 El Greco 255 Empedokles 173 Ennius 165 Erasmus von Rotterdam 157, 175 Ermantinger, Emil 160 Eumolpos von Thrakien 177 Eupolis 167, 171
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Personenregister Fahrenbach, Helmut 253 Favorinus von Arelate 170 Feuerbach, Ludwig 237 Ficker, Ludwig 280 f., 283, 286 f., 289, 293, 295 Fielding, Henry 193 Fischer, Theodor 159 Flacius, Matthias 85 Francke, Hermann August 16, 82–84, 88 f., 94 Frankl, Viktor 146 Galen 164 Ginsberg, Allen 338 Goethe, Johann Wolfgang von 158, 223 f., 233, 343 Grillparzer, Franz 175 Grundtvig, Nikolai F. S. 336, 338, 347 Haecker, Theodor 253, 268, 270–272, 276, 280–285, 287–290, 293, 295 f. Hall, Jennifer 162 Handke, Peter 254 Hegel, Georg W. F. 14, 28, 43, 100, 130, 137–139, 143, 183 f., 192 f., 196–198, 202, 216, 222–225, 232, 236, 238, 320, 325, 340 f., 343 Heiberg, Johan Ludvig 30, 35–39, 141, 299, 301 Heiberg, Peter Andreas 301 Heidegger, Martin 15, 184, 218, 280, 286, 300, 321, 346 f. Hellingrath, Norbert von 252 Helm, Rudolf 160 Henriksen, Aage 312 f. Herodot 155 f. Highet, Gilbert 162 Hilty, Carl 283 Hirsch, Emanuel 308 Hofmannsthal, Hugo von 218, 321 f. Hölderlin, Friedrich 252 f. Homer 150, 174 Horaz 158 f., 165 Hutten, Ulrich von 158 Jean Paul 236 Jens, Walter 175
Johannes Stobaios 176 John (Johannes) (Evangelist) 126 f. Justin der Märtyrer (Justin Martyr) 340 Juvenal 158, 165 Kafka, Franz 218, 257, 268, 275, 279, 324 Kant, Immanuel 83 f., 93, 186, 193– 198, 202 f., 209, 224–226, 255 Kaschnitz, Marie Luise 258 Kassner, Rudolf 218, 289 Kraus, Karl 190, 256 f., 286 Kuhr, Viktor 301 Kütemeyer, Wilhelm 278, 286–296 Lacan, Jacques 300, 321 Lange, Hans Ostenfeld 301 Lehmann, Günther K. 16 Leitgeb, Joseph 294 Lessing, Gotthold Ephraim 206 f. Levinas, Emmanuel 245, 300 Lucilius 165 Lucius Verus 155 Lukács, Georg 218, 222 f., 341 Lukian von Samosata 17, 154–179 Lunding, Erik 16 Macleod, Matthew D. 162 Mann, Thomas 271, 275, 280 Marc Aurel 155 Marcuse, Ludwig 221 f. Marx, Karl 219, 290, 294 f. Mauthner, Fritz 175 Meister Eckhart 254 Melanchthon, Philipp 85 Menippos von Gadara 166 f., 171, 173, 175 f., 178 Mersch, Dieter 183 f. Möhring, Werner 307 Mommsen, Theodor 166 Morus, Thomas 157 Mozart, Wolfgang Amadeus 180, 207–209, 212, 215, 233 f., 319, 327 f., 330 Mras, Karl 161 Müller, Robert 218
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Personenregister Müller-Wille, Klaus 302, 309 Musil, Robert 254, 260 Mustard, Helen M. 279 f. Mynster, Jakob Peter 108, 338 f. Napoleon 106, 227 f. Nestroy, Johann 256 Nietzsche, Friedrich 221, 249, 281, 290, 292–295, 305, 338, 347 Oliver, James H. 161 Paulus 150, 247, 333 Pauly, August Friedrich von 159 f., 172 Peregrinos 155 f. Persius 158, 165 Philostrat 164 Pindar 150, 251 f. Pirckheimer, Willibald 157 f. Platon 14 f., 17, 109, 123–153, 167, 173, 332 (Fn. 53), 347 Pontoppidan, Henrik 303 Punt, Friedrich 294 Pythagoras 173, 175
Thomas von Kempen [Thomas à Kempis] 343 f. Thuswaldner, Werner 159 Trakl, Georg 252–254, 280 Trott, Werner von 294 Tucholsky, Kurt 160, 179 Tullberg, Steen 301 f., 309 Varro, Marcus Terentius 165 f. Vischer, Friedrich Theodor 236
Quintilian 165 Rahbek, Knud Lyhne 299 Raphael 341 Rehm, Walther 18, 300, 308 f. Richardson, Samuel 193 Rilke, Rainer Maria 218, 254, 275, 279, 289 Sachs, Hans 158 Saxo Grammaticus 303
Schelling, Friedrich W. J. 28 Schiller, Friedrich 158 Schlegel, Friedrich 150 Schleiermacher, Friedrich 134, 137, 146 Schmidt, Hartmut 159 Schnitzler, Arthur 218 Schrempf, Christoph 251, 270, 308 Schulz, Heiko 16, 280 Seneca 165 Shakespeare, William 94, 150 f. Smith, Adam 158 Sokrates 12–15, 17, 76, 123–153, 167 f., 173, 177 f., 227 f., 250, 322, 335 Strauß, David Friedrich 346 Szondi, Peter 300
Waser, Johann Heinrich 159, 175 Whitmarsh, Tim 163 Wieland, Christoph Martin 152, 157– 159, 161 Wittgenstein, Ludwig 253, 324 Xenophon 126, 128 f., 147
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Sachregister
Absolutes 196, 197 (Fn. 37), 219, 322 Abstraktes 37, 102–104, 181, 186– 188, 207, 210, 220 f., 225 f. Absurdes 148 (Fn. 65), 167, 176, 215, 235, 249, 259, 327 Ähnlichkeit 202 Anamnesis 228 f. Aneignung 35, 63, 88 f., 113, 117 f., 230 f., 237–244, 310 Anschauung 195–198, 202, 208, 225 f. Aporie 168, 185, 191, 216 Apostel 56, 247, 347 Aristokratisches 344 Ästhetisches 16 f., 29, 31, 35 f., 43–45, 52 f., 56, 65 f., 71 f., 75–78, 93, 96, 98, 102, 107, 112, 115–119, 180– 221, 224–226, 232, 235–253, 257 f., 275, 277, 300, 310–312 Athen 128, 130, 141, 153, 155, 163, 171, 176 f., 179 Atopie 14–16, 216, 224 f., 234, 244 Auditives 180, 183, 185 f., 199, 202– 212 Augenblick / Moment 45, 52, 66 f., 70, 87 f., 92 f., 115, 147, 207, 210, 221, 228 (Fn. 26), 229, 278, 282, 288, 290, 295, 319, 332 Autobiographisches 14, 16, 68, 74, 84–95, 156, 222, 227, 319, 343 Autonomie 17, 219, 223–225, 229 f., 238, 242, 304, 333 Autor 17, 27, 34–37, 57 f., 61, 64, 68 f., 73 f., 76, 79, 86 f., 90 f., 94, 96,
114, 116, 119, 162 f., 186 f., 190– 193, 200 f., 214, 243, 250, 254–257, 263, 297, 299, 302, 307–309, 312– 314 Bewährung 84, 88 f., 92 f., 95 Bibel 48 (Fn. 64), 214, 237–243, 321, 324, 325 (Fn. 32), 328, 330 (Fn. 45), 333 Bilderverbot 225 Bourgeois 342, 344 Brenner, Der (Zeitschrift) 18, 253, 255, 268, 271 f., 279–296 Buchdruck 185–189, 197, 203, 215, 217 Charon 158, 176–178 Dadaismus 255 Dekonstruktivismus 69, 195 Dialektik 14, 26–28, 44–46, 62, 68 f., 71–73, 77, 79 f., 102, 107, 109 f., 115, 190, 193, 213, 222 f., 225, 255, 324, 329 Dialog 123–125, 130–143, 146, 156, 163, 167 f., 171–176, 185, 189, 223, 226, 242, 246 Dogmatik, christliche 17, 97 f., 112– 115, 230 Don Juan / Don Giovanni 38, 180 f., 207–210, 212, 215, 233 f., 267, 327, 337, 344 Dualismus 194, 208, 226 Einbildungskraft 17, 186, 221, 223, 237, 241
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Sachregister Empirisches, Empirismus 100 (Fn. 8), 103 (Fn. 20), 106, 230, 346 Erbauung 46, 60, 94 Ereignis 83, 180, 184, 197, 205, 212 f., 240 Erhabenes 17, 224 f., 229, 236, 242 f., 321 Erkenntnis 104, 106, 110–112, 191, 194–200, 203, 210, 225 f., 229, 246, 248, 256 Ethik 17, 44, 77, 200–202, 241, 245– 260 Ewigkeit 214, 221, 229, 237 existentia 100 (Fn. 9) Existenz 13, 16, 43–45, 48, 63, 72, 82, 87, 90, 99–107, 115, 128 f., 139, 148–150, 152, 210 f., 248, 250, 326, 335, 342, 346, 348 Existenzwissenschaft 96–99, 104– 107, 112, 114 Expressionismus 252–255, 268 Faust 207 (Fn. 53), 208 Fiktion 155, 218, 274 Freiheit 142 Genie 56, 69 (Fn. 124), 156 f., 186, 337 Geschichte / history 68, 137, 156, 219, 226 (Fn. 19) Gewissheit 99 Glaube / faith 66, 110, 259, 264, 284 f., 317, 322, 324 f. (Fn. 31), 337, 339, 340 (Fn. 3), 343, 346 f., 349 Gott 40 f., 58, 61, 111, 118, 194, 197, 210–216, 225, 229, 237, 239 f., 242, 247–249, 258 f., 325 (Fn. 32), 326 f., 329 f., 333 Herakles 155, 158, 169 f. Heteronomie 224 f., 237 f., 241, 244 Historizismus 346 f. Hören 186, 189, 202 f., 205, 211 f., 215, 228, 306, 328 f. Humor 37, 236, 256, 310
Idealismus 183 f., 197, 216, 219, 221 f., 244, 342, 344–347 Identität – logische 100 (Fn. 9), 103, 196 f., 200 – menschliche 67, 201, 257, 333, 344 f. Individualisierung 83, 86 Individualismus 186, 193 Internet 183, 189 Ironie 14, 17, 34, 37, 125–128, 132, 133 (Fn. 20), 134 f., 137 f., 140, 147, 150, 164, 167 f., 171, 174 f., 192, 198, 200, 208, 220, 222–232, 235–237, 241, 243 f., 246, 299 Irrationalismus 219–221, 243, 248 Katholizismus 276, 281–286, 293, 295, 319 (Fn. 8), 327, 347 f. Kirche 18, 87, 107–109, 158, 248 f., 269 f., 272–274, 276, 281–285, 293– 296, 305, 319, 323, 329, 336–340, 345, 347 Kommunikation 113, 163, 182–185, 197, 199, 203 f., 210, 213–216, 223 f., 241, 345 f. – direkte / indirekte 136, 144–146, 150, 345 Komödie 163, 167, 171 f., 193, 232, 234, 236, 258 Konstruktivismus 195 Kulturkritik 18, 270–272 Kunst 19, 113, 115, 183 f., 206, 215, 219, 230, 255, 257, 263, 267, 271, 309, 317, 322 f., 327 Lebensanschauung 48, 58, 65, 116 f. Leser 13, 27, 35–38, 46, 48, 61, 73, 78 f., 86–90, 94, 96 f., 114, 118, 162, 186 f., 193, 201, 204, 211 f., 215 f., 224, 231, 238–243, 333 Liebe 29 f., 66, 83, 169, 208 (Fn. 54), 210, 229, 235, 237, 266 f., 284, 325 (Fn. 32)
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Sachregister Literatur 15, 17 f., 73, 118, 123, 193, 224, 232 f., 245–260, 297, 299, 307, 312, 318, 323, 340 f. Literaturwissenschaft 15 f., 18, 245, 192, 297–314 logos 321, 333, 346 Mäeutik / Maieutik 17, 78 f., 133, 141–150, 228, 231, 251 Marsyas (Zeitschrift) 280 Massenmedien 188 Materialität 183 f. Mathematik 99, 102 f., 104 (Fn. 21) Medialität 183 f. Mediation 223 Medium 17, 84, 92, 102, 104, 108, 115, 181, 183 f., 192, 205, 207–209, 212, 216, 224 f., 345, 348 Metaphysik 15, 17, 98, 106 f., 114, 126, 230, 234, 320 (Fn. 30), 322, 325, 345–348 Moderne 15–18, 30, 82, 99, 119, 175, 188 f., 191, 193, 204, 216–224, 234, 244, 246, 254 f., 258, 260, 296, 305 f., 314, 318–321, 328, 333, 340– 348 Moral 17, 167, 245, 250, 256, 260, 339, 340 (Fn. 3), 341 Musik 181, 185, 192, 202–212, 215, 232, 234, 239, 241, 243, 255, 319, 328, 331 Mystik 128, 247, 254 f. Mythos, Mythisches 133 (Fn. 20), 136, 146, 162, 167, 208, 219, 221, 235, 237, 239, 243 Natur 67, 194, 197, 202, 219, 224 f., 228, 333 Naturwissenschaft 102, 198 f., 202, 208, 320 (Fn. 10), 338 Negativität 126–128, 145 f., 138 Nihilismus 65 f., 91 f., 222, 295, 322 Offenbarung 106, 198 f., 210–212, 214, 226 (Fn. 19), 237 f., 242, 325 Ontologie 99, 101–105, 107, 110 f., 206 f., 219, 339
Oralität 106, 188, 205 Ortlosigkeit 14, 99, 120, 162, 168, 178, 276 f. ousia 346 Paideia 161, 164, 174, 178 Paradoxon 17, 110 f., 181 f., 184, 193, 205, 210, 215 f., 239 f., 243, 245– 260, 325 Parodie 160, 166, 193, 263 Phantasie 44 f., 160, 221, 239, 242 f. Philosophie 14, 98, 106, 108, 125– 132, 137, 139 f., 146 f., 166, 172 f., 185, 190 f., 193 f., 196–198, 202, 216, 222, 226, 244, 307, 317 f., 324, 329, 335 Phronesis 174 Poetik 123–153, 190, 224, 225 (Fn. 21), 231, 258 f., 284, 304 f., 306, 320 f., 323, 328, 332 (Fn. 53), 341– 346, 348 Poetologie 126, 181, 206, 244 Pluralismus 99, 119 Positivismus 346 f. Prosa 123, 125, 139, 143, 165 f., 243, 319, 334, 341, 343, 345, 348 Protestantismus 231, 258, 282–285, 308, 319 Pseudonym 33–35, 38 f., 46–48, 57, 60, 62 f., 72–74, 76, 91, 146, 150, 192 f., 314, 327, 332, 335 Rationalität 197 f., 214, 216, 219, 224 Reales 181, 193, 199 Realismus 193, 195 Redekunst, christliche 17, 97 f., 107– 109, 113–115, 242 Religion 107, 108 (Fn. 28), 146, 152, 156, 164, 174, 183, 282, 303, 307, 311, 314, 317, 319, 321, 323–330, 333 Rhetorik 108 f., 112, 129, 163, 167, 171, 173, 212, 225, 229 – christliche 98, 113 f., 345
363 https://doi.org/10.5771/9783495820506 .
Sachregister Roman 193, 222, 224, 254, 299 Romantik 14, 150, 186, 192, 221 f., 224 f., 226 (Fn. 21), 232, 235–237, 243, 299, 308, 341, 345 Säkularität 16 f., 54, 64, 75, 99, 119, 193, 305 Satire 17, 137, 154, 157–159, 161– 167, 175 f., 255–257, 336, 349 Schattenriss 31, 175, 232 f., 236, 243 Schreibtisch 194, 200, 202 Schriftsteller, religiöser 13–19, 53 f., 58, 70, 72–76, 78, 84, 88 f., 91–93, 97–99, 107, 114–120, 180 f., 185, 190, 203 f., 209, 214–216, 223, 264– 276, 297–314 Schriftstellerei, religiöse 16, 90, 98, 212 f. Schönes 169, 224 f. Scopus 85 Selbstverhältnis 84, 234 Serialität 232, 238, 243 Skandinavistik 18, 297 f., 300, 314 Sophisten 14, 127, 129 Sophistik, zweite 162–165 Spekulation 17, 43 f., 77, 106, 108, 126, 136, 138–140, 147–149, 210, 335 Sprache 18, 66, 185, 203–218, 225, 230, 235, 253, 257 f., 304, 317, 321 f., 328, 333 Stimmung 230 f., 233, 237–244 Sturm und Drang 193 Subjekt 88, 219, 223 (Fn. 19), 225, 234, 308 Subjektivierung 219, 222 Subjektivität 99 f., 104–107, 320 (Fn. 10), 341 Sumpf, Der (Zeitschrift) 18, 278 f., 281, 290, 294–296 Sünde 230 f., 240, 258 f. Symparanekromenoi 175
Technologie 347 Theologie 13, 98, 108, 215, 221, 247, 255, 258, 304 f., 307, 318, 329, 335 f., 338, 345, 347 Tod-Gottes-Theologie 338 Totengespräche 167, 175 Tradition 17, 88, 347 Tragisches 235 f. Tragödie 234, 236 Transzendentallogik 194 Unmittelbarkeit 17, 27, 79, 102 (Fn. 15), 106, 115, 181, 185, 196, 197 (Fn. 37), 205, 207, 209–212, 215 f., 219, 225 Unterbrechung 17, 184, 222–226, 228, 231, 241 Utopie 16, 97, 167, 181, 219, 223– 225, 254, 257, 260 Vaudeville 232–236, 241, 243 Verführung 30, 118, 220, 233 f., 308 Vermittlung 17, 85, 115, 181 f., 185, 210, 215 f., 251 Vernunft 17, 184, 194, 216, 223–225, 236, 328 Visualität 183, 185, 199, 212 Wahrhaftigkeit 16, 82–95, 249, 255 Wahrheit 14 f., 27, 44–46, 67, 76, 84, 88, 90, 94, 106, 110, 117–119, 134, 189, 193, 196, 215, 222, 224, 226 (Fn. 19), 230 f., 246–251, 260, 324, 331 Wahrnehmung 120, 140–143, 193– 198, 202, 214 f., 224 Wiederholung 18, 207, 220, 235 (Fn. 44), 332 Wissen 107, 110 f., 174, 191 Wissenschaft 13, 105 f., 113, 138, 196 f., 230, 347 Wunder 210, 229 Zeit 66–68, 101, 221 f., 229 f., 333
364 https://doi.org/10.5771/9783495820506 .