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German Pages 503 [504] Year 2009
Die Erfindung des Schriftstellers Thomas Mann
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Die Erfindung des Schriftstellers Thomas Mann Herausgegeben von
Michael Ansel, Hans-Edwin Friedrich und Gerhard Lauer
Walter de Gruyter · Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-020136-9 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Laufen Abbildung auf dem Einband: Der deutsche Schriftsteller Thomas Mann auf einem Portraitbild, aufgenommen in Kilchberg im Jahr 1954. 쑖 KEYSTONE/Thomas Mann Archiv/Str
Vorwort
Thomas Mann gilt heute als der repräsentative Großschriftsteller der modernen deutschen Literatur. Das hat Beifall und Kritik schon zu Lebzeiten provoziert. Aber nur selten hat man die Frage gestellt, wie es zu seiner exponierten Stellung im literarischen Leben und darüber hinaus kommen konnte. Die Frage nach den Voraussetzungen und Bedingungen der Repräsentanz jenes Thomas Mann stand im Mittelpunkt einer Tagung, die vom 17. bis 19. November 2005 im Münchener Literaturhaus stattgefunden hat. Referiert und diskutiert wurde über die Semantik dieser Repräsentanz, Thomas Manns Stellung im literarischen Feld und den Apparat seines Ruhms. Die Referate wurden zu Beiträgen ausgearbeitet, die wohl Lichter aufsetzen, wenn man genauer wissen will, warum Thomas Mann zu dem geworden ist, der er für uns bis heute ist. Die Herausgeber haben allen Grund, Danke zu sagen: zuerst den Beiträgern für ihre Aufsätze, den Mitarbeiterinnen während der Tagung Mechtild Barth, Ursula Bergenthal, Franziska Dehne und Sofia Glasl für ihre Betreuung, dem Literaturhaus München und seinem Leiter Reinhard Wittmann für Unterstützung und Gastfreundschaft, Armin Schneider für die Redaktion und das Register des Bandes, schließlich Susanne Rade und Angelika Hermann für ihre verlegerische Betreuung. Herbst 2009
Michael Ansel /Hans-Edwin Friedrich /Gerhard Lauer
Inhalt
MICHAEL ANSEL / HANS-EDWIN FRIEDRICH / GERHARD LAUER Hybride Repräsentanz. Zu den Bedingungen einer Erfindung ................... 1 I. Strategien THOMAS SPRECHER Strategien der Ruhmesverwaltung. Skizzen zu Thesen ............................... 37 STEFFEN MARTUS Die Geistesgeschichte der Gegenwartsliteratur. Wissenschaftliche Aufmerksamkeit für Thomas Mann zwischen 1900 und 1933 .................. 47 FRIEDHELM MARX »Lauter Professoren und Docenten«. Thomas Manns Verhältnis zur Literaturwissenschaft ................................. 85 SABINA BECKER Zwischen Klassizität und Moderne. Die Romanpoetik Thomas Manns ................................................................. 97 WILHELM HAEFS Geist, Geld und Buch. Thomas Manns Aufstieg zum Erfolgsautor im S. Fischer Verlag in der Weimarer Republik ......................................... 123 II. Autorschaft VOLKER MERGENTHALER Der »eigentliche« »Einsatz dieser mächtigen Schriftstellerschaft«. Überlegungen zur autor-genetischen Entwertung von Thomas Manns ›unreifem Früchtchen‹ Gefallen ................................. 163
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Inhalt
HEINRICH DETERING Der Litterat. Inszenierung stigmatisierter Autorschaft im Frühwerk Thomas Manns ........................................................................ 191 HANS R. VAGET Auf dem Weg zum Nationalschriftsteller. Thomas Mann und Schiller 1905 .................................................................. 207 OLIVER JAHRAUS Die Geburt des Klassikers aus dem Tod der Figur. Autorschaft diesseits und jenseits des Textes Der Tod in Venedig von Thomas Mann ......................................................................................... 219 CLAUS-MICHAEL ORT Körper, Stimme, Schrift. Semiotischer Betrug und ›heilige‹ Wahrheit in der literarischen Selbstreflexion Thomas Manns .................................. 237 III. Repräsentanz BERND AUEROCHS Drei Stilisierungsweisen: Charisma bei Buber, George, Mann ................ 275 HANS WISSKIRCHEN Sein und Meinen. Zur stabilisierenden Funktion eines Gegensatzpaares in den Jahren 1922 und 1933 ............................... 299 JOCHEN STROBEL »Gut deutsch sein heisst sich entdeutschen«. Thomas Mann zwischen aporetischer Repräsentation und glückender Repräsentanz ....................................................................... 317 LUTZ HAGESTEDT Sinn für Überholtes. Aspekte der Repräsentationssemantik in Thomas Manns ›Deutschlandreden‹ ............................................................ 351 SVEN HANUSCHEK »Ich ließ alles bei gesunder Vernunft über mich ergehen«. ›Ethnologische‹ Literaturwissenschaft anhand von Thomas Manns Deutschlandreise im Goethe-Jahr 1949 ...................................................... 371
Inhalt
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IV. Inszenierung TODD KONTJE Der verheiratete Künstler und die ›Judenfrage‹. Wälsungenblut und Königliche Hoheit als symbolische Autobiographie ............................... 387 HERMANN KURZKE Immer auf dem Balkon? Thomas Manns Selbstinszenierung in den Betrachtungen eines Unpolitischen ............................................................ 411 MANFRED ENGEL Der Dichter als Zeit(krisen)deuter. Thomas Manns Roman Der Zauberberg ........................................................ 421 DIETER BORCHMEYER Thomas Mann und Schiller – oder die Geburt des Naiven aus dem Geiste des Sentimentalischen ........................................................ 435 RALF KLAUSNITZER Jenseits der Schulen und Generationen? Zur literarischen Beziehungspolitik eines Solitärs ..................................... 453 Register ............................................................................................................. 489
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Hybride Repräsentanz Zu den Bedingungen einer Erfindung
Der Großschriftsteller ist der Nachfolger des Geistesfürsten und entspricht in der geistigen Welt dem Ersatz der Fürsten durch die reichen Leute, der sich in der politischen Welt vollzogen hat. So wie der Geistesfürst zur Zeit der Fürsten, gehört der Großschriftsteller zur Zeit des Großkampftages und des Großkaufhauses. Er ist eine besondere Form der Verbindung des Geistes mit großen Dingen. Das mindeste, was man von einem Großschriftsteller verlangt, ist darum, daß er einen Kraftwagen besitzt. Er muß viel reisen, von Ministern empfangen werden, Vorträge halten; den Chefs der öffentlichen Meinung den Eindruck machen, daß er eine nicht zu unterschätzende Gewissensmacht darstelle; er ist chargé d’affaires des Geistes der Nation, wenn es gilt, im Ausland Humanität zu beweisen; empfängt, wenn er zu Hause ist, notable Gäste und hat bei alledem noch an sein Geschäft zu denken, das er mit der Geschmeidigkeit eines Zirkuskünstlers machen muß, dem man diese Anstrengung nicht merken darf. Denn der Großschriftsteller ist keineswegs einfach das gleiche wie ein Schriftsteller, der viel Geld verdient. Das »gelesenste Buch« des Jahres oder Monats braucht er niemals selbst zu schreiben, es genügt, daß er gegen diese Art der Bewertung nichts einzuwenden hat. Denn er sitzt in allen Preisgerichten, unterzeichnet alle Aufrufe, schreibt alle Vorworte, hält alle Geburtstagsreden, äußert sich zu allen wichtigen Ereignissen und wird überall gerufen, wo es zu zeigen gilt, wie weit man es gebracht hat.1
In seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften beschreibt Robert Musil anhand der Figur des Paul Arnheim einen spezifischen Typus des Schriftstellers im frühen 20. Jahrhundert: den Großschriftsteller. In Thomas Mann – »dem ich oft Unrecht getan habe«,2 wie eine spätere Tagebuchnotiz konzediert – sah Musil einen solchen Großschriftsteller. Und der schien sich um 1930 nicht zuletzt durch den Nobelpreis als ein solcher Großschriftsteller zu präsentieren, nicht nur für Musil. Die Umtriebigkeit des Großschriftstellers zu Lebzeiten ist postum den Ritualen einer geden_____________ 1 Musil: Der Mann, S. 429; Vorbild für diese Figur ist Walther Rathenau. 2 Musil: Tagebücher, S. 1003.
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kend feiernden Nachwelt gewichen. Zum 100. Geburtstag vermerkt Hans Egon Holthusen nicht ohne kritischen Ton: Wir schreiben Mitte November 1975. Zu Ende geht ein Gedenkjahr, das Thomas Mann mit Rilke und Mörike teilen mußte; aber sein Anteil an der anhaltenden Feierei war so überwiegend, daß alles andere daneben verblaßte. Die Masse der Veranstaltungen zu seinen Ehren, vor allem in den deutschsprachigen Ländern und hier in den Vereinigten Staaten hat alle Erwartungen, um nicht zu sagen Befürchtungen übertroffen, die Überschwemmung mit TM-Publizistik erreichte einen Pegelstand, der monströs genannt werden muß. Die Stadt München, die während eines TMSymposions in der Zeit vom 25. bis zum 30. Mai ein Massenaufgebot von an die fünfzig Experten und Koryphäen, darunter viele Namen ersten Ranges, hatte auftreten lassen, um zu zeigen, daß sie wußte, was sie der großen Gelegenheit schuldig war, denn in München hatte er ja beinah die Hälfte seines Lebens verbracht, jedenfalls längere Zeit gelebt als an irgendeinem anderen Ort der Welt […], München also beging den 6. Juni, Thomas Manns 100. Geburtstag, mit beinah amtlichem Nachdruck als den »mannstollen Tag«. Dem genau entsprechend schrieb die New York Times am 7. Juni von »Mannomania«.3
Der Großschriftsteller ist ein Muster der Wahrnehmung, Bewertung und aber immer auch des Selbstentwurfs dieses Thomas Mann. Seine Bewunderer sehen in ihm den »deutsche[n] Schriftsteller des Jahrhunderts«,4 dessen »Weltruhm [...] beispiellos in der Geschichte der geistigen Emigration, beispiellos in der Geschichte unserer Zeit«5 sei. Das ist mehr als ein Tenor im Umgang mit dem Schriftsteller Thomas Mann. Es ist ein Muster, das Kritik nur selten zugelassen hat.6 Selbst der Umstand, dass Thomas Mann keineswegs stets unangefochten auf die Sympathien seiner Landsleute rechnen konnte, wurde noch in das Bild des repräsentativen Schriftsteller verrechnet. Er sei – so Eike Midell – »ungeachtet seiner Repräsentantenrolle« ein »Einsamer, ein Alleinstehender« gewesen, »in seinem Wollen oft unverstanden, der Bürgerwelt suspekt durch die intellektuelle Schärfe und Gründlichkeit seiner Gesellschaftsanalysen, als scheinbar zeitferner Klassiker ein Autor ohne Nachfolgeschaft«. Wie dieser zugleich repräsentative und allein für sich stehende Autor trotzdem zum »Lehrer und Führer«7 hatte werden können, war nur mehr geschichtsphilosophisch-dialektisch zu erklären. Das konnte dann auch poetisch verklärende Züge annehmen, wie in den Versen des in laudativen Sonetten erfahrenen Ministers Johannes R. Becher:
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Holthusen: Mann, S. 169. Harpprecht: Mann, S. 17. Rilla: Literatur, S. 62. Vgl. den erstmals 1956 gedruckten Aufsatz von Blume: Perspektiven. Middell: Mann, S. 10.
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Thomas Mann Als Du aus Deiner Heimat warst verbannt, War sie Dir in die Fremde nachgezogen. In Deiner Sprache hochgewölbtem Bogen Wie über die Jahrhunderte gespannt, Hat sich die Heimat in Dir heimgefunden Und hat Dir ihr Geheimnis anvertraut. Du warst ihr Wiegenlied und Glockenlaut Und warst ihr Trost in allerschwersten Stunden. Du hast bewahrt der Sprache Heiligtum, Sie liebend so, wie nur der lieben kann, Der sie durchlitt, die heimatlosen Zeiten. Du, Deutschlands Ehre und Du, Deutschlands Ruhm. Willkommen in der Heimat, der befreiten, Du Deutschlands Ruhm und Ehre: Thomas Mann.8
»Deutschlands Ruhm und Ehre« – pathetischer lässt sich der Ausnahmerang des Schriftstellers Thomas Mann nicht benennen, der auch noch die Ausgrenzung als Teil der Repräsentantenrolle zu integrieren vermocht hat. Wie aber konnte Thomas Mann eine so überragende Stellung im literarischen und politischen Leben erlangen, wie konnte er sie behaupten und noch postum vermehren,9 dass auch noch der 50. Todestag im Jahr 2005 zu einem Staatsakt geriet? I. Der repräsentativste deutsche Schriftsteller seiner Zeit Schon ein erster Blick auf das Phänomen des Großschriftstellers Thomas Mann zeigt, wie früh diese »erstaunliche«, von ihm selbst »am wenigsten […] vorausgesehene Laufbahn« begonnen hat (E III, S. 193). Bereits um 1914 war Mann ein angesehener Autor, fühlte sich aber noch ganz der Sphäre der Kunst zugehörig. Die mit der Selbstbezeichnung als Unpolitischer etikettierte und aus heutiger Sicht eher als korrumpierend wahrgenommene Kriegs-Essayistik hat für seine Karriere eine erste entscheidende Rolle gespielt. Die konservative Kritik sah darin einen »künstlerischen, weil politisch oder national fundierten Aufstieg«;10 aus liberaler Sicht bedeutete sie Stagnation, die aber spätestens mit der Wendung zur _____________ 8 Becher: Mann, S. 9. Vgl. auch die Hommage de la Françe. 9 Vgl. die Rekonstruktion von Goll: Die Deutschen. 10 Goll: Die Deutschen, S. 144.
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Republik aufgelöst wurde. Wenn auch mit divergierenden Begründungen, so war damit Thomas Mann für unterschiedliche politische Lager beglaubigt. »Thomas Manns Werk und seine politische Wendung zur Republik wurden fast durchgängig erklärt aus der Persönlichkeit des Dichters, die sich aus Pflichtgefühl gegen das Chaos stemme und auf Ausgleich bedacht und damit deutsch sei. […] Thomas Mann sei damit der repräsentative ›National-Schriftsteller‹ beziehungsweise sogar der ›Pater patriae‹«.11 Dies schien keine kalkulierte Rolle zu sein, sondern galt als authentischer Ausdruck der Persönlichkeit. Das ist eine der Bedingungen für den andauernden Ruhm. Dieses Bild wurde auch nach 1945 fortgeführt. Obwohl dem »Kaiser aller deutschen Emigranten«12 vor 1933 von marxistischer Seite starke Vorbehalte entgegengebracht wurden, galt er nach dem Krieg auch in der SBZ als »einer der großen Aktivposten des deutschen Wiederaufbaus«,13 der trotz kleiner ›Mängel‹ ins Pantheon der DDR aufgenommen wurde.14 »Er brauchte kein Kommunist zu sein, es genügte ihm das Grunderlebnis seiner reifen Mannesjahre, um als Humanist streitbar zu werden und die Notwendigkeit einer echten und reinigenden Volksrevolution in Deutschland zu erkennen«.15 Authentizität und eine politische informierte Humanität des Schriftstellers sind auch hier die Argumente. Trotz allen Kontroversen hatte man dann auch im Gründungsjahr der Bundesrepublik am Rang Thomas Manns keinerlei Zweifel; in beiden Teilstaaten war er 1949 der preisgekrönte Gast der Goethe-Ehrungen und -Feiern.16 In seiner im Abstand weniger Tage in Frankfurt am Main und Weimar gehaltenen Rede reklamierte Mann diese überparteiliche Stellung explizit für sich. »Ich kenne keine Zonen. Mein Besuch gilt Deutschland selbst, Deutschland als Ganzem, und keinem Besatzungsgebiet. Wer sollte die Einheit Deutschlands gewährleisten und darstellen, wenn nicht ein unabhängiger Schriftsteller, dessen wahre Heimat […] die freie, von Besatzungen unberührte deutsche Sprache ist?« (GW XI, S. 488) Das Selbstverständnis Thomas Manns wie seine Beurteilung von außen stimmten zusammen. Zwischen 1914 und 1949 konnte Thomas Mann trotz der extrem wechselhaften Rahmenbedingungen sein symbolisches Kapital nahezu ohne Abstriche vermehren. Schon im Kaiserreich wollte er zum ikonischen Repräsentanten der Literatur werden; er war es dann in der Weimarer Repu_____________ 11 12 13 14 15 16
Goll: Die Deutschen, S. 171. Marcuse: Jahrhundert, S. 289. H. Mayer: Manns Tagebücher, S. 32. Vgl. M. Jäger: Manns Werk. Abusch: Mann, S. 206. Vgl. Hay / Rambaldo / Storck (Hg.): »Als der Krieg«, S. 488ff.; Pochadt: Zwischen den Stühlen.
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blik und dann auch im Exil. Obwohl bisher eine Studie zur Rezeption Thomas Manns im Dritten Reich fehlt, ist es wohl nicht allzu gewagt, ihm auch für die nicht nationalsozialistischen, bildungsbürgerlichen Kreise im damaligen Deutschland eine vergleichbare Rolle zuzuschreiben. Nach dem Krieg buhlten dann beide Teile Deutschlands um seine Gunst. Er gewährte sie beiden und blieb doch am Ende in Kilchberg, scheinbar am Rand und doch repräsentativ. Zwei Weltkriege und tiefgreifende sozialökonomische Verwerfungen haben seinen Aufstieg nicht aufhalten können. Thomas Mann etablierte sich als repräsentative künstlerisch-intellektuelle Größe; er konnte sich behaupten und vermochte noch seinen Nachruhm zu steuern. Es ist dieses Phänomen, das einen Betrachter nach Erklärungen suchen lässt. Schon einem nur oberflächlichen Blick zeigt sich dann, dass hier ein komplexes rückgekoppeltes Ineinander von Selbstcharakteristik und Fremdbeschreibung vorliegt, dass Thomas Mann erfolgreich die feldstrategisch machtvollste Stellung erreichte und verteidigte, dass er eigene Etiketten in der gebildeten Öffentlichkeit nachhaltig zu lancieren vermochte und den dramatischen Wechsel in der deutschen Gesellschaft für sich zu nutzen verstand. Eines, wenn nicht das zentrale Stichwort einer Erklärung ist Repräsentanz. Als Thomas Mann 1929 den künstlerisch mit dem »Stigma der Mittelmäßigkeit«17 behafteten, ökonomisch und sozial jedoch höchst prestigeträchtigen Nobelpreis für Literatur zugesprochen bekam, feierte Max Rychner diese Entscheidung, weil »der für das allgemeine Werturteil repräsentativste und bekannteste deutsche Dichter seiner Zeit ausgezeichnet« worden sei, in dem »das geistige Deutschland in Europa eine würdige und werbende Vertretung findet«.18 Es ist wohl richtiger zu sagen, dass Thomas Mann hier den Preis nobilitiert hat. Die Anerkennung seiner Repräsentanz war fortan annähernd unumstritten. »Thomas Mann gilt mit Recht allgemein als der repräsentative deutsche Schriftsteller der Gegenwart«,19 ließ sich Georg Lukács vernehmen. Die inhaltliche Füllung jedoch blieb vielfältig, ob er von den einen zum »vollendeten Repräsentanten des geistigen Menschen«20 erhoben oder ob postuliert wurde, dass »die tiefste Krise seines Wesens […] zugleich die Krise seines Zeitalters war«,21 – das _____________ 17 18 19 20 21
Schmidt: Herz, S. 128. Rychner: Nobelpreis, S. 170f. Vgl. Bucheli: Rychner und Mann. Lukacs: Mann, S. 10. Vgl. Mayer: Manns Tagebücher, S. 28. Kahler: Verantwortung, S. 119. Bauer: Krise, S. 46. Aus der Fülle der Belege seien nur einige weitere Beispiele angeführt: Thomas Mann sei der »Vertreter einer sich auf ihre eigentliche weltbürgerliche Aufgabe besinnenden deutschen Kultur« (ebd., S. 107); »europäische Gestalt des größten deutschen Schriftstellers« (Rilla: Literatur, S. 57); aber auch »Repräsentant deutscher kultureller Weltgeltung« und »der führende Opponent des deutschen Gewissens, ja allmählich des WeltHumanismus gegen Hitler« (Alker: Geschichte, S. 341f.).
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blieb austauschbar. Wie konnte es zu einer solchen Engführung von Person und Zeitalter kommen? Das wichtigste Element seiner Strategie war die 1914 nicht ohne Bedenken gefällte Entscheidung für die politische Einmischung, die er ironisch und ernsthaft als »bodenlos Journalistisches« und »Produkt der Korruption« (GKFA 22, S. 44 [T. M. an Annette Kolb, 28.10.1914]) bezeichnet hat. Das entsprach der antiintellektualistischen Bewertung des Politischen in diesen Jahren nicht nur bei Thomas Mann. Erst damit erfüllte er eine der Bedingungen, um mehr als nur ein Schriftsteller zu sein. Die Qualität seiner politischen Einsichten ist umstritten. Und auch das mag ein Indiz für die inhaltlich nur schwache Füllung des Selbstentwurfs sein, der damit zugleich flexibel blieb. Für Walter A. Berendsohn blieb er »im Grunde […] zeitlebens ein unpolitisch denkender Geist«.22 Der unter den Verehrern vehementeste Kritiker Joachim Fest würdigte beide Brüder Mann als »Repräsentanten«, allerdings »jener tief apolitischen intellektuellen Tradition«23 der deutschen Geistesgeschichte. Im Gegenzug ist Thomas von politologischer Seite durchaus politische Kompetenz bescheinigt worden.24 Die Einschätzung der politischen Einsichten Thomas Manns ist eher sekundär im Vergleich zur Symbolkraft der Entscheidung, sich als Dichter überhaupt politisch vernehmen zu lassen. Durch sie ergab sich eine Entwicklung »von einem unpolitischen, allein seiner Idee von Kunst und Literatur verpflichteten Schriftsteller zu einem politischen Schriftsteller, der es für notwendig hielt, in gewissen Abständen sein öffentliches Wort zu den politischen Grundfragen des Zeitalters zu sagen«,25 so beurteilt die Forschung den Weg in die Repräsentanz. Das alles ermöglichte dann beispielsweise einen Nekrolog, wie den Alfred Anderschs: Er erschöpft sich nicht in allgemeinen Wendungen, sondern er spricht von der Weltkriegsblockade, den Fehlern des Versailler Vertrags, dem Finanzreformplan der Luther-Regierung, dem Ausgang der Reichstagswahlen, dem Münchner Abkommen, dem »New Deal« Roosevelts, der Abberufung Litwinows, den Folgen des Hitler-Krieges, der Politik von Mendès-France. Er ist unterrichtet. Er ist vorzüglich unterrichtet, er kann mitreden, und er redet mit. Es tut seinem Dichtertum nicht den geringsten Abbruch; Bewußtsein und schöpferische Anschauung fallen in ihm nicht auseinander. Das Phänomen ist in Deutschland neu: ein Nobelpreisträger, Doyen der preußischen Akademie, später Mitglied der »Academy of Science and Letters«, man prägt sogar das Wort vom »dean of world-literature«, ein Dichter
_____________ 22 Berendsohn: Mann, S. 142. 23 Fest: Magier, S. 8. 24 Vgl. Sontheimer: Mann als Schriftsteller; ders.: Mann und die Deutschen; Fechner: Mann; Kraus: Vom »Unpolitischen«; Klugkist: Verteidigung; Herrmann: Verräter. 25 Sontheimer: Emanzipation, S. 52.
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also, der souverän das politische Metier betreibt – sogar die Politiker müssen davon Kenntnis nehmen.26
Dieser Schritt, »den man in Deutschland einem Dichter noch niemals leicht verzieh«,27 war eine hochgradig riskante Operation,28 mit der Thomas Mann sein künstlerisches Renommee aufs Spiel gesetzt hat. Aus der Perspektive des Literatursystems konnte die politische Betätigung eines Dichters als Beschädigung seiner ästhetischen Integrität bewertet werden. Der Ausgang dieses Normbruchs, den er, in rivalisierender Konkurrenz mit seinem Bruder Heinrich, für geboten hielt, war nicht sicher abzuschätzen. Thomas Mann warf sein als Künstler erworbenes kulturelles Kapital in die Waagschale.29 Weit besser als seinem Bruder Heinrich gelang ihm – um mit Bourdieu zu sprechen –, die Konvertierung der Kapitalsorten, mit der er die Spielregeln des literarischen Feldes selbst zu seinen Gunsten zu verändern vermochte.30 Die politische Intervention wurde zum Element einer nichtavantgardistischen Autorschaft, und das wurde dann zum Vorbild für andere deutsche Autoren nach ihm. Repräsentanz war bereits früh eine Zielvorstellung Thomas Manns. Repräsentanz wird auch zu einem wiederkehrenden Thema der Selbstdeutungen seiner Biographie: »Seit ich ins geistige Leben eintrat, habe ich mich in glücklichem Einvernehmen mit den seelischen Anlagen meiner Nation, in ihren geistigen Traditionen sicher geborgen gefühlt. Ich bin weit eher zum Repräsentanten geboren als zum Märtyrer« (GW XII, S. 787). Formulierungen wie diese hat die Forschung ihrerseits oftmals unkritisch aufgegriffen und damit das Bild vom Autor als Repräsentanten verstärkt. Schon während der Arbeit an den Buddenbrooks habe sich Thomas Mann »als Repräsentanten verstehen gelernt«.31 Die Selbstdeutung leitet das biographische Erzählmuster eines sich sukzessiv erfüllenden »Verlangen nach Repräsentanz«32 an. Repräsentanz wird so zu einer Konstante der Selbst- wie der Fremdbeschreibung; sie scheint sich für die Verehrer fast naturwüchsig eingestellt zu haben. Der »Dichter, der nur von sich selbst zu sprechen meinte, erfährt zu seiner eigenen Überraschung, daß er der Allgemeinheit, der Zeit die Zunge löste«.33 Die Repräsentanz wurde damit auch zu einer hochflexiblen Deutungskategorie, die _____________ 26 27 28 29 30 31 32 33
Andersch: Mit den Augen, S. 92. Bisdorff: Mann, S. 6. Vgl. Plessner: Identifikation, S. 813. Bourdieu: Praktische Vernunft, S. 159ff.; ders.: Ökonomisches Kapital; ders.: Die drei Formen. Vgl. exemplarisch die Analyse von Ansel: Solitär. Vgl. Kieserling: Wirtschaft, S. 135ff.; Fuchs-Heinritz / König: Bourdieu, S. 143ff. Keller: Anmerkungen, S. 127. Vgl. Vaget: Auf dem Weg. Bauer: Mann, S. 9. Blöcker: Wirklichkeiten, S. 344.
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Ärgernisse wie die Betrachtungen eines Unpolitischen – eines der »Bücher, in welchen die öffentlichsten Angelegenheiten der Epoche sich als das intimste Drama eines einzelnen Geistes darstellen«34 – mit dem noblen Wert der Repräsentanz zu überspielen half. Krisen der Repräsentanz blieben Zwischenspiele. Das Exil schien eine solche Krise zu bedeuten, sorgt sich Thomas Mann in seinen Tagebüchern.35 Doch fällte er nach zeitweiligem Zögern die Entscheidung für die Emigration, die ihn »teils mit, teils wider Willen« zum geistigen Oberhaupt der Emigranten in den USA avancieren ließ.36 Repräsentanz wurde auch hier Teil einer symbolischen Politik, wie die Verleihung der Ehrendoktorwürde in Harvard zeigt. Das wurde im Völkischen Beobachter argwöhnisch registriert und kommentiert. Wir gönnen Thomas Mann seinen Doktorhut [von Harvard], wenn er selbst Spaß daran hat. Aber daß er ihn ausgerechnet als der einzig echte Wächter deutscher Kulturüberlieferung bekommen hat, das können wir nicht schweigend hinnehmen. Was deutsche Kultur ist und was nicht – darüber entscheidet letzten Endes das zeitlose Urteil des deutschen Volkes selbst. Für unsere heutige Zeit ist dieses Urteil einmütig gefallt. Daran ändert die Einstellung bestimmter ausländischer Kreise nichts, die sich nun auch noch zum Richter über deutsche Kultur aufwerfen wollen. Das ist ein politisches Spiel, für das uns unsere deutsche Kultur zu schade ist.37
Repräsentanz war Gegenstand eines bewussten symbolpolitischen Kalküls, wie Thomas Mann gegenüber René Schickele betont hat: »Sie und ich und mein Bruder […] müssen unsere Sache sehr gut machen, damit man einmal sagt, wir seien in dieser Zeit das eigentliche Deutschland gewesen« (Br. I, S. 360 [T. M. an René Schickele, 16.5.1934]). Die Selbsteinschätzung wurde schnell auch zu einer Einschätzung von außen. Als Repräsentanten des anderen, besseren Deutschland war er schon unmittelbar nach 1945 Schulstoff.38 War die Zuschreibung der Repräsentanz – sicherer Bestandteil einer ihrem Gegenstand zugeneigten Forschung – nicht weiter umstritten, war es zugleich schwierig auszumachen, welche inhaltliche Füllung ihr entsprechen sollte.39 Jean Améry hat mit der Lizenz des Essayisten die äußerliche Erscheinung Thomas Manns als eine der Bedingungen für die Repräsentanz gesehen: »Er war dazu geboren, in der Tat: das geheimrätlich-noble Auftreten, die wohltönende, aber von pathetischem _____________ 34 35 36 37 38
Heller: Mann, S. 130. Vgl. Meyer: Tagebuch, S. 198ff.; Sprecher: Schweizer Exil; ders.: Mann in Zürich. Vgl. Radkau: Emigration, S. 107ff.; Abel: Mann im Exil. Schwarz: Mann, S. 258. So erinnert sich Kurt Batt an seinen Unterricht 1945 in einer mecklenburgischen Schule, vgl. W. Mertz: Mann, S. 7; vgl. Goll: Die Deutschen, S. 268. 39 Vgl. Plessner: Identifikation; Mendelssohn: Repräsentanz; Gollnick: Mann; Kurzke: ThomasMann-Forschung, S. 93ff.; Satonski: Mann; Konzentration auf den Aspekt der nationalen Repräsentanz: Strobel: Entzauberung.
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Vibrato freie Stimme, Gang und Haltung, ja sogar eine Neigung zu erlesener Kleidung hatten ihn – ganz jenseits der ungeheuren geistig-literarischen Leistung – zum Repräsentanten vorbestimmt. Und doch war er niemals Repräsentant der Deutschen gewesen. Sie haben ihn gelesen, aber nicht eigentlich geliebt und verehrt«.40 Und in der Tat hat Thomas Mann »Repräsentanz als Metier«41 betrieben. Der Begriff der Repräsentanz mag zwar nur eine Leerformel sein; er ist aber ein soziales und politisches Faktum. Er gehört zum Habitus des Großschriftstellers42 und bringt als regulativer Wert ein Höchstmaß an kulturellem und symbolischem Kapital zur Geltung. Die Position des Repräsentanten markiert eine herausragende Position des literarischen Feldes, jenes »besondere[n] Universum[s mit seinen ...] Kräfteverhältnissen und [seinen] Kämpfen zu deren Veränderung«. Sie »bildet die Grundlage der Strategien der Produzenten, der Kunstform, die sie verteidigen, der Verbindungen, die sie knüpfen, der Schulen, die sie gründen, kurz ihrer spezifischen Interessen«.43 Mit Hilfe eines Bündels an Strategien erreichte Thomas Mann diese Position, ohne dass diese Strategien in ihrer Summe die singuläre Position des Großschriftstellers hinreichend klären können. Ästhetische Strategien kamen hinzu. Als Romancier zeigt Thomas Mann einen permanenten Drang nach Innovation im Rahmen einer sich selbst als klassisch verstehenden Moderne. Seine ästhetischen Konzeptionen beruhen auf einer von Nietzsche und damit erkenntniskritisch fundierten wie ästhetizistisch neu interpretierten Autonomieästhetik. Mit den Buddenbrooks griff er zunächst die Form des repräsentativen realistischen Gesellschaftsromans in der Tradition des 19. Jahrhunderts auf. Seine späteren Erzähltexte sind jedoch nicht mehr mimetisch, sondern spätestens seit dem werkpolitisch revolutionären Tod in Venedig im Sinne eines kulturkritischen Ästhetizismus als autonome, auf Symbolik hin angelegte Textwelten konzipiert. Den zeitgenössischen Avantgarden schloss sich Thomas Mann nicht an, auch wenn er einige der Avantgardismen seiner Zeit in seine Texte integriert hat. Er blieb der Autor der bürgerlichen Lesekultur, die letztlich seinen Erfolg wesentlich getragen hat. Seine großen Romane sind formal völlig unterschiedlich; keiner verwendet die Form seines Vorgängers, ja die letzten großen Projekte zeigen eine eminente »Kühnheit der Stoffwahl«.44 Damit konnte Thomas Mann jeden seiner Romane als Neuerfindung seiner Au_____________ 40 Améry: Möglichkeiten, S. 38. 41 Honold: Großschriftsteller, S. 354. 42 Bourdieu: Entwurf, S. 139ff.; ders.: Genese; im Anschluss an Bourdieu vgl. Schwingel: Analytik, S. 60ff.; ders.: Bourdieu, S. 53ff.; Herz: Disposition, S. 94ff.; Krais / Gebauer: Habitus; Fuchs-Heinritz / König: Bourdieu, S. 113ff. 43 Bourdieu: Einführung, S. 136. 44 Kunz: Mann, S. 222.
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torschaft präsentieren. Ein hohes Maß an Selbstreflexivität steigerte sowohl die innere Komplexität wie die äußere Anschlussfähigkeit seiner Texte. Immer wieder sind Künstler die Zentralfiguren; nicht nur die fiktionalen Texte, auch und gerade die Essays enthalten eine autobiographisch entschlüsselbare Schicht. Sie können entlang dem in der deutschsprachigen Literatur repräsentativsten aller Muster folgend als Bruchstücke einer großen Konfession verstanden werden und wurden das auch. Thomas Mann war damit nicht nur repräsentativ, er war es mit so unterschiedlichen inhaltlichen Bestimmungen, dass er jedem etwas anderes war, aber allen dabei immer auch repräsentativ schien, ein hybrider Autor, zusammengesetzt aus Praktiken, Selbstdeutungen und Fremddeutungen, die kein anderes, gemeinsames Bild ergeben als das der hybriden Repräsentanz. II. Konkurrenzlose Repräsentanz Der junge Thomas Mann gerierte sich als Bohemien und experimentierte mit sozialer Stigmatisierung als Bestandteil seiner Selbstbeschreibung. Zum Erfolg der Repräsentanz dürfte jedoch eher das dezidierte Bekenntnis des Künstlers, der als solcher problematische Elemente vereinen konnte, zur Bürgerlichkeit45 gehört haben. Damit gelang ihm die Verbindung von Ethik und Ästhetik,46 die erst seine Autorschaft für die Öffentlichkeit plausibel gesellschaftlich zu verankern vermocht hat. Vermieden war damit die Sackgasse einer ästhetizistischen Poetik des l’art pour l’art. »Die literarisch repräsentativste Gestalt, die das Bürgertum der Epoche zwischen 1900 und 1933 hervorgebracht hat, war Thomas Mann«, formuliert in dieser Linie Ernst Niekisch typisierend über Thomas Mann. »Nach Herkunft, Substanz, Instinkten, Horizonten, Blickpunkten und Wertmaßstäben war er Bürger dieser Zeit; in ihm gelangte dieses Bürgertum zum Bewußtsein seiner selbst«.47 Auch dieser Begriff der Bürgerlichkeit changiert zwischen einer schichtsoziologisch präzisen, auf die Herkunft aus dem Lübecker Patriziat bezogenen, und einer symbolisch vagen, auf Repräsentanz angelegten Bedeutung, die eher auf die reichhaltige semantische Erbschaft des Begriffsfeldes von Bürgertum und Bürgerlichkeit48 bezogen ist. _____________ 45 Koopmann: Konstanten, S. 82ff.; Hollweck: Durchbruch; Koopmann: Bürgerlichkeit; Kurzke: Epoche, S. 44ff. 46 Vgl. Storim: Ästhetik. 47 Niekisch: Reich, S. 60. 48 Vgl. Riedel: Bürger.
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Thomas Mann erweiterte die Semantik seiner Individualität durch gleichzeitig ebenso dezidierte Distanzierungen zu einer paradoxen Holistik. Der Begriff des ›Bürgers‹ wurde schnell zu einer Totalformel entgrenzt, unter die vieles Widersprüchliche subsumiert werden konnte. Vom »verirrten«49 bis zum »bürgerlichsten der Bürger«,50 der gerade aufgrund seiner gleichzeitig zentralen wie peripheren Lage den »Prozeß der Entbürgerlichung«51 habe gestalten können, reicht der semantische Raum. Thomas Mann verkörpere die »überlieferte nationale deutsche Bürgerlichkeit«52 ebenso wie den »citoyen du monde«,53 formuliert dann der Blick von außen. Freilich bestand damit für die Gemeinde die Gefahr, ihn als »einer anderen Epoche zugehörig«54 verabschieden zu können. Aus marxistischer Sicht etwa ließen sich Nähe und Distanz fixieren, indem er »als sichtbares Sinnbild des Besten im deutschen Bürgertum«55 und doch auch als historisch überständig angesehen wurde, als »bürgerlicher Schriftsteller in der bürgerlichen Endzeit […], ein Kritiker der Dekadenz, ohne selbst ein Dichter der Dekadenz zu werden«.56 Die Verwendung dieses Konzepts von Bürgerlichkeit in der Forschung hat sich lange Zeit eng an Thomas Manns eigene semantische Vorgaben gehalten. Das blieb auch noch so, nachdem erstmals Joseph Kunz programmatisch von Thomas Manns einschlägigen Sprachregelungen absah.57 Thomas Mann trat öffentlichkeitswirksam als Großschriftsteller in Erscheinung, der bei Kollegen, Literaturkritikern und der gebildeten Öffentlichkeit um breite Resonanz bemüht war. Die Wahrnehmung als »one of those rare gifted men whose significance looms beyond the confines of their art«58 spricht deutlich aus, dass er als über das literarische Feld hinausragend wahrgenommen werden wollte und so auch wahrgenommen wurde. Mit der politischen Einmischung im Ersten Weltkrieg platzierte sich Thomas Mann nach dem Vorbild Zolas als Intellektueller, »der unter Berufung auf genuine Normen des literarischen Feldes in das politische Feld eingreift und sich auf diese Weise zum Intellektuellen konstituiert«.59 _____________ 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59
Bauer: Krise, S. 20. Lion: Mann, S. 22. Blöcker: Wirklichkeiten, S. 340. Bauer: Krise, S. 45. Hommage de la Françe, S. 7. Lehnert: Thomas-Mann-Forschung, S. 84. Lukacs: Mann, S. 12. Middell: Mann, S. 17. Kunz: Mann, S. 208. Neider: Preface, S. 11. Bourdieu: Die Regeln, S. 210; vgl. S. 209ff.; vgl. Schwingel: Bourdieu, S. 121ff. Reiches Material verzeichnet Potempa: Mann. Vgl. Siefken: »Dienst an der Zeit«; Marquardt: Zur sozialen Logik.
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Im Rahmen der zeittypischen Semantik bedeutete das, dass er sich als Vertreter des Geistes zu Fragen der Macht äußerte und damit die Grenze der Kunstsphäre von seinen ästhetischen Vorgaben her gesehen erweitert hat.60 Ein zu emphatischer Begriff des Intellektuellen wurde dabei vermieden, nicht nur aus Konkurrenz zum Bruder, sondern aus Gründen der (deutschen) Repräsentanz, die den Intellektuellen von der Repräsentanz ausschloss. Bezeichnungen wie ›geistiger Mensch‹ waren daher dominierend. In diesem Sinn deutete ihn beispielsweise Erich Kahler als einen Autor, »dem die Erkenntnis und Gestaltung der Welt und des Menschen im wörtlichsten Sinne am Herzen liegt, der sich, kurz gesagt, für den Zustand der Welt und des Menschen verantwortlich fühlt«.61 Kahler setzt diesen Typus positiv von der riskanten Zuschreibung ›Intellektueller‹ ab. Ähnliche Formulierungen findet man etwa bei Urs Bitterli, für den Thomas Mann »die geistige Opposition gegen Hitler am reinsten verkörpert«, und hinzufügt: Vom Schriftsteller zu fordern, er möge aus seiner Mittlerstellung heraustreten und sich durch sein Werk parteipolitisch engagieren, widerspräche geradezu seiner literarisch-zivilisatorischen Sendung; ebenso unsinnig aber wäre, seinen geistigen Standort außerhalb der Sozietät anzusetzen, in den lebensfernen Sphären einer künstlerisch versponnenen Innerlichkeit. In diesem Sinne sollte der Schriftsteller, nach der Überzeugung Thomas Manns, Mittler und Repräsentant zugleich sein. Vermittelt und ausgleichend sollte er sich zwischen und über die radikalen Zeitströmungen stellen.62
Die Engstellung von Repräsentant und geistiger Mensch ist die signifikante Option und musste wiederholt abgesichert werden. Wie Thomas Mann das im literarischen Feld erarbeitete kulturelle Kapital als Intellektueller verzinst hat, lässt sich an der Abfolge der Kontroversen, die sich trotz seines diplomatischen Geschicks nicht vermeiden ließen, ermessen. Die früheste Teilnahme an einer Intellektuellendebatte ist wohl die Auseinandersetzung mit Romain Rolland, der sich zunächst in einem offenen Brief an den anderen Großschriftsteller, an Gerhart Hauptmann gewandt hatte.63 In dem Maß, in dem Mann in der Folgezeit seine politischen Eingriffe verstärkt hat, häuften sich auch die Kontroversen. Symbolpolitik par excellence war Arnolt Bronnens Randale gegen die »Kabarettveranstaltung des Nobelpreisträgers«,64 – gemeint ist die Deutsche Ansprache vom 17. Oktober 1930 im Beethoven-Saal zu Berlin. Manns Sonderstellung innerhalb der Konservativen zeigt deutlich auch die Auseinander_____________ 60 61 62 63 64
Vgl. G. Jäger: Der Schriftsteller, S. 14ff. Kahler: Verantwortung, S. 119. Bitterli: Manns Schriften, S. 11, 20. Vgl. Cheval: Mann. Bronnen: Wie es war, S. 36. Vgl. F. D. Wagner: Appell.
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setzung um Leiden und Größe Richard Wagners im Jahr 1933.65 Das reichhaltigste Material bietet dann die so genannte »Große Kontroverse« um die innere Emigration 1945.66 Die Reihe ließe sich fortsetzen. Bislang noch kaum ausgewertet ist das Material, das sich aus der Analyse der Konkurrenzverhältnisse gewinnen ließe. Aus der Fülle feldspezifisch relevanter Konstellationen sind nur wenige eingehender und dann bevorzugt biographisch oder komparatistisch untersucht worden. Großes Interesse hat natürlich das Verhältnis zum Bruder Heinrich Mann auf sich gezogen, dem ersten und naheliegenden Konkurrenten im Streben nach Repräsentanz.67 Diese Konstellation bot Thomas Mann darüber hinaus die Möglichkeit, sich gemeinsam mit dem Bruder Heinrich als Totum zu inszenieren68 und auf diese Weise den Anspruch auf Repräsentanz gewissermaßen symbolisch zu verdoppeln. Wie Thomas Mann Kämpfe um Repräsentanz geführt hat und zumeist für sich entscheiden konnte, zeigt auch die Auseinandersetzung mit dem »heimlichen Kaiser« (Samuel Fischer), wenigstens aber doch »König der Republik«69 (Thomas Mann) Gerhart Hauptmann.70 Unter den weiteren Kandidaten um die symbolische Macht im Feld71 war Alfred Döblin aufgrund seiner literarischen Bedeutsamkeit ein ernsthafter Konkurrent. »Es war offenbar eine Zeitlang (vor dem Jahre 1933) Mode, gegen den angeblich altmodischen Thomas Döblin als stilistischen Neuerer auszuspielen«.72 Döblin griff Thomas Mann unter Verwendung einer von dessen zentralen Selbstbeschreibungsvokabeln als »Musterbeispiel einer großbürgerlichen Degeneration« an und schmähte _____________ 65 Dokumentiert in: Borchmeyer: Mann. 66 Vgl. die Dokumentation von Grosser (Hg.): Kontroverse – Vgl. Hay / Rambaldo / Storck (Hg.): »Als der Krieg zu Ende war«, S. 258ff.; P. Mertz: Nicht ihr Staat, S. 121ff.; Koopmann: Die Aufnahme; Grunenberg: »Und was tatest du?«; Hajdu: »Du hast einen anderen Geist als wir!«; H.-U. Wagner: Briefe; Weninger: Literaten, S. 14ff.; Gut: »Ein Geruch von Blut und Schande«. – Vgl. auch die Auswertung der Umfrage der amerikanischen Militärbehörden im Juni und Juli 1947 in München, die den eher kritischen Blick auf Thomas Mann nach der »großen Kontroverse« dokumentiert: Hermand / Lange: »Wollt ihr Thomas Mann wiederhaben?«. 67 Vgl. aus der reichhaltigen Literatur Plessner: Identifikation; Banuls: Mann; Hamilton: Brothers Man; Fest: Magier; Dierks: »Objektiv sind wir politisch«; Wysling: Die Brüder; Joch: Bruderkämpfe, S. 145ff.; Wißkirchen: Zerwürfnis; Koopmann: Die ungleichen Brüder. 68 Hinweise bei: Kantorowicz: Mann. 69 Die beiden Zitate stammen aus dem Geburtstagsheft der Neuen Rundschau für Gerhart Hauptmann: Neue Rundschau 33, 2 (1922), S. 1057, 1073. 70 Vgl. Tschörtner: Hauptmann; Mendelssohn: Repräsentanz; Wysling: Briefwechsel; Eder: Mann. 71 Die Literatur ist eher spärlich. Bisher liegen wenige Arbeiten vor zu: Bertolt Brecht (Hartung: Brecht; Gisselbrecht: Brecht; Koopmann: Brecht; Fischer: Ironie), Robert Musil (Corino: Musil), Johannes R. Becher (Wenzel: Becher), Franz Werfel (Reffet: Mann), Hermann Hesse (Michels: »Spitzbübischer Spötter«). 72 Lehnert: Thomas-Mann-Forschung, S. 108. Vgl. Riley: Professing; Bernhardt: Döblin.
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dessen Stil als »Bügelfaltenprosa«.73 Die Auseinandersetzung ist besonders aufschlussreich, weil hier zwei ästhetische Nietzscheaner völlig divergierende Folgerungen aus einer vergleichbaren ästhetischen Lage zogen und vollkommen heterogene Konzepte ästhetischer Modernität realisierten. III. Zum Beispiel: Thomas Mann und Gottfried Benn Ein weiterer Konkurrent im Feld ist Gottfried Benn, auch er ein Nietzscheaner, der sich seinerseits hinsichtlich der Konsequenzen seiner Nietzsche-Lektüre74 sowohl von Thomas Mann als auch von Döblin stark unterscheidet. Benn war entgegen seiner stets ostentativ zur Schau getragenen Gegenwartsverachtung spätestens seit Mitte der 1920er Jahre ein aufmerksamer Beobachter der aktuellen literarischen Szene. Obwohl Thomas Mann seit dem Erfolg seines Todes in Venedig (1912) schon zum Zeitpunkt des expressionistischen Debüts von Gottfried Benn ein anerkannter Autor und seit dem Erhalt des Nobelpreises 1929 der zweifellos renommiertere von beiden war, hat Benn ihn erst zu Beginn der 1930er Jahre wahrgenommen.75 Als avantgardistischer Autor, der in den offiziell zunächst als Produkte einer als Subkultur angesehenen expressionistischen Zeitschriften publiziert und auch mit seiner späteren Lyrik der 1920er Jahre nur einen elitären Kreis literarischer Kenner wie etwa Carl Einstein anzusprechen vermocht hat, konnte Benn kein Interesse daran haben, sich selbst in die Nähe Thomas Manns zu rücken. Der arrivierte, Bürgerlichkeit, Klassizität und Repräsentanz offensiv für sich reklamierende Dichter war kein geeigneter Mentor für einen Autor, der wie der jüngere Benn konsequent als dezidierter Verächter des literarischen Establishments aufzutreten liebte. Das änderte sich, je mehr Benn seinerseits in die Position der anerkannten, die feldspezifische Doxa maßgeblich mitgestaltenden Figur der Kunst aufstieg. Jetzt wurde es für ihn notwendig und einträglich, sich auf Thomas Mann zu berufen. Jetzt schien es angebracht, öffentlich die kollegiale Kooperationsbereitschaft gegenüber dem wichtigsten Repräsentanten des literarischen Lebens zu bekunden, was dadurch erleichtert wurde, dass Thomas Mann seinerseits als wohlwollender Förderer der dichterischen Arbeiten Benns aufgetreten war. Solche Signale fielen Benn daher _____________ 73 Döblin: Kritik, S. 421, 425. 74 Vgl. Keith: Nietzsche-Rezeption; Berwald: Übernahme. 75 Die folgenden Ausführungen werten alle derzeit zugänglichen Stellungnahmen Benns über Thomas Mann sowohl im veröffentlichten Werk als auch in den Briefen sowie im Nachlass aus, sind aber aus Raumgründen stark summarisch gehalten und müssen auf die Wiedergabe von Belegstellen weitestgehend verzichten.
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leichter, weil er nun in Thomas Manns Werk Bezugs- und Anknüpfungspunkte für das eigene Kunstverständnis finden und dessen Urheber daher als Verbündeten in literaturgeschichtlichen sowie produktionsästhetischen Fragen erblicken zu können glaubte. In der ebenso berühmten wie kontrovers diskutierten Rede auf Heinrich Mann (1931) porträtierte Benn (Heinrich und) Thomas Mann als artistische Überwinder des Naturalismus und als Vertreter autonomer, moralisch indifferenter und formbetonter Kunst. In Goethe und die Naturwissenschaften und in der Akademie-Rede (beide 1932) rekurriert Benn ausdrücklich auf Thomas Manns Essay Goethe und Tolstoi. Er zitiert die Passage, die von Goethes dämonischer, durch einen weisen Selbstbändigungsinstinkt intakt gehaltener Persönlichkeit handelt, und führt jene lapidaren Sätze an, die dort im Zusammenhang mit Goethes wetterempfindlicher Sensitivität für das Erdbeben in Messina fallen: »Alles Transzendente ist tierisch, alles Tierische transzendiert«.76 Beide Bezugnahmen sind von der Absicht geprägt, Goethes holistisches, sich einseitigen rationalistischen Vereinnahmungen entziehendes und deshalb künstlerisch produktives Weltgefühl zur Stützung der eigenen physiologisch fundierten Produktionstheorie heranzuziehen und sich hinsichtlich der Legitimität eines solchen Unterfangens auf Thomas Mann zu berufen. Man redete auf Augenhöhe miteinander, und beide zugleich auf der Höhe Goethes. Alle weiteren Modifikationen von Benns öffentlich kommunizierter Thomas Mann-Rezeption lassen sich ebenfalls auf Veränderungen der Feldposition Benns oder Thomas Manns zurückführen. Die im Jahr 1933 vollzogene Abschaffung der Feldautonomie war für beide Autoren mit weitreichenden Konsequenzen verbunden. Nachdem Benn schon im Juni 1934 von seinen Anbiederungskurs an das NS-Regime abgerückt77 und in die innere Emigration gegangen war, begann er sich wieder substanziell mit Thomas Mann zu beschäftigen. Folge war ein deutlicher Meinungsumschwung in seinen Äußerungen über den Kollegen, der mit Thomas Manns Kurswechsel gegenüber dem NS-Regime erklärt werden kann. Solange Thomas Mann vorrangig am Erhalt der Absatzmöglichkeiten seiner Bücher in Deutschland interessiert war, verschaffte sich Benn brieflich mit der Artikulation seiner Vorbehalte gegen den wachsweichen, den notwendigen Entscheidungen opportunistisch ausweichenden Großbürger Luft. Nachdem Thomas Mann zur offenen Konfrontation mit dem Nationalsozialismus übergegangen war, konnte er als geistiger Verbündeter gewürdigt werden, der stellvertretend für Benn seine Verachtung der moralischen Niedertracht und intellektuellen wie künstlerischen Niveaulosig_____________ 76 Benn: Essays, S. 432 (formbetonte Kunst), 180 (Goethes Persönlichkeit) u. 453 (Tierisches transzendiert). 77 Vgl. Ansel: Anpassung, S. 56f., 69.
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keit der Nationalsozialisten wortgewandt zum Ausdruck brachte. In den Prosaarbeiten, die später in den Essayband Ausdruckswelt und in den Roman des Phänotyp (beide 1949) eingegangen sind, polemisiert Benn gegen die Dümmlichkeit, mit der NS-Chargen Thomas Mann aus dem geistigen Lebens Deutschlands auszugrenzen versuchten, und integriert dessen Werk in die Verfallsgeschichte des europäischen Romans. Thomas Mann und sein Bruder Heinrich erscheinen bei Benn einmal mehr als der Décadence entstammende Stilisten und Artisten. Ihre Maxime, »lieber ein Werk verderben und weltunbrauchbar machen, als nicht an jeder Stelle bis zum Äußersten gehen«,78 bezeuge das Wissen um den Primat der Form und die Notwendigkeit der bedingungslosen schöpferischen Hingabe an das zu schaffende Werk. Die zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Wiedereintritt ins literarische Leben geschriebenen Briefe Benns dokumentieren seine Verärgerung über Thomas Manns wachsende Rolle in den großen Kontroversen der Zeit und seine Frustration über dessen erneute Präsenz in den Medien. Benn war allerdings zu klug, sein eigenes ›Come-back‹ durch die Veröffentlichung solcher Stimmungen zu belasten. Stattdessen rühmte er in Doppelleben (1950) »den von mir mein Leben lang gefeierten und hochverehrten Thomas Mann«79 und versuchte Kapital aus den Analogien zu schlagen, die sich zwischen den durch den Ersten Weltkriegs veranlassten Verfehlungen des mittlerweile unbescholtenen Thomas Mann und dem eigenen Fehltritt von 1933 konstruieren ließen. Sämtliche weiteren Erwähnungen des Kollegen in Doppelleben kreisen um die Problematik des Verhältnisses zwischen Künstler und Totalitarismus80 und sind von der Absicht motiviert, die politischen Vorbehalte gegen die eigene Person zugunsten einer Konsolidierung der noch nicht allzu stabilen Position im literarischen Leben auszuräumen. Der Büchner-Preis von 1951 konsolidierte Benns Feldposition so stark, dass er künftig selbstlegitimierende Bezugnahmen auf Thomas Mann vermeiden konnte. Abgesehen von dem in Altern als Problem für Künstler (1954) nochmals vorgenommenen Rekurs auf den Artisten Thomas Mann, der das Ringen um die Form der Kunst bis auf die Gefahr ihrer Weltunbrauchbarkeit hin favorisiert wissen wolle, findet man keine weiteren substanziellen Verweise mehr auf den Großschriftsteller in Benns Spätwerk. Anders sieht es in den Briefen aus, in denen Benn seine Verärgerung über den rasch wachsenden Nachkriegsruhm seines übermächtigen Konkurrenten abreagieren musste. Ihren Höhepunkt erreichte diese Ver_____________ 78 Benn: Essays, S. 340. 79 Benn: Prosa, S. 406. 80 Vgl. Arndt: Ungeheure Größen.
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ärgerung im Jahr 1955, in dem Thomas Mann zum gesamtdeutschen Festredner des Schiller-Jahres avancierte und obendrein huldvoll die Feierlichkeiten zu seinem 80. Geburtstag entgegennehmen durfte. Da Benn im Gegensatz zu Alfred Döblin zu klug war, sich durch seine Aversionen in einen Konfrontationskurs gegenüber Thomas Mann hineintreiben zu lassen, erwies er diesem nach dessen mit großer Erleichterung empfundenen Tod mit einer nicht überlieferten Gedenksendung des NWDR scheinbar seine ungebrochene Reverenz. Da das Verhältnis der zwei Autoren durch die Relation ihrer sich mehrmals wandelnden Feldpositionen bedingt ist, hat Benn kein homogenes, über die Jahrzehnte vom Kaiserreich bis zum westlichen Nachkriegsdeutschland stabiles Bild von Thomas Mann kommuniziert. Benn befand sich im Verlauf seiner künstlerischen Entwicklung viel zu sehr im Einflussbereich unterschiedlicher personeller, institutioneller, ideeller und literarischer Faktoren. Davon unberührt bleiben allerdings zwei durch den hohen Autonomiegrad des literarischen Feldes seit dem späten 19. Jahrhundert ermöglichte, in einem spannungsgeladenen Verhältnis zueinander stehende Konstanten: Einerseits musste sich Benn wegen seines avantgardistischen Literaturkonzepts und der diesem korrespondierenden Schriftstellerrolle stets am distinguiert-großbürgerlichen, Wohlstand und Saturiertheit ausstrahlenden Habitus Thomas Manns reiben, der immer mehr in die Rolle des Großschriftstellers hineinwuchs und schließlich sogar als Nobelpreisträger und unbescholtenes Gewissen des anderen, besseren Deutschland auftreten konnte.81 Andererseits hat Benn seit den frühen 1930er Jahren, wo immer möglich, den Artisten und Formbewunderer Thomas Mann gefeiert, weil dies den eigenen Ambitionen der Selbstrepräsentation als bedingungsloser Verfechter absoluter Kunst am meisten Genüge zu tun versprach. Aber auch umgekehrt hat Thomas Mann, der die gesellschaftliche und politische Verantwortung des Schriftstellers im Gegensatz zu Benn und zu seiner öffentlichen Präsentation durch Benn keineswegs außer Acht lassen wollte, den rigorosen kunstapologetischen _____________ 81 Interessant ist hier übrigens ein Seitenblick auf Benns Briefpartner Oelze, der wie Thomas Mann in der unterkühlt-vornehmen Atmosphäre norddeutscher Kaufmannschaft sozialisiert wurde und über eine ähnliche Ausstrahlung wie der Schriftsteller verfügte. Was hinsichtlich Thomas Manns jedoch immer wieder heftige Abwehrreaktionen hervorrief, führte im anderen Fall zu bewundernden, sich aus sozialen Unterlegenheitsgefühlen speisenden Projektionen. Dieser Wahrnehmungsunterschied eines nahezu identischen Habitus ist jedoch gerade aus feldtheoretischer Perspektive gut erklärbar: Während das Konkurrenzverhältnis im literarischen Feld unausweichlich zur Selbst- und Fremdpositionierung und allen damit verbundenen Wertungen führen musste, war der gesellschaftliche und ökonomische Rangunterschied gegenüber Oelze für Benn leicht erträglich, weil er dieses Defizit mit seiner Stellung als verehrter, mit einem immensen Vorsprung an kulturellem und symbolischem Kapital ausgestatteter Dichter gut zu kompensieren vermochte.
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Kurs seines Kollegen nicht ohne Sympathie betrachtet, so lange er in ihm einen legitimen Lobbyisten der Feldautonomie erblicken konnte. Diese Dominanz der wechselseitigen Wahrnehmung aus spezifisch ästhetischer Perspektive kann erst dann in ihrer vollen Tragweite erfasst werden, wenn man die erwähnten, beträchtliches Konfliktpotenzial enthaltenden habituellen Unterschiede der von Benn und Thomas Mann eingenommenen Schriftstellerrollen bedenkt. Benns öffentliche Referenzbekundungen gegenüber Thomas Mann zeigen exemplarisch, dass ein Autor Repräsentanz zwar anstreben und deren konkrete Ausprägung beeinflussen, aber nicht kontrollieren kann. Thomas Manns raffinierte Selbstdarstellungsstrategie war entgegen dem arg strapazierten Topos seiner Rezeptionslenkungskompetenz immer nur bedingt von ihm allein durchsetzbar: So hat Benn Thomas Mann generell nicht deshalb gelobt, weil er sich uneigennützig für ihn einsetzen und der Öffentlichkeit ein unverfälschtes Bild dieses Autors präsentieren wollte, sondern weil er sich eigene strategische Vorteile davon versprach: Was hier aus der Perspektive Benns dargelegt wurde, gilt natürlich auch für Thomas Mann, der sich ebenfalls gemäß eigenen Präferenzen und Interessenlagen öffentlich über Benn geäußert hat, und kann allgemein für jede Art der kommunizierten Fremdwahrnehmung durch andere Autoren gelten. Zusätzliches Gewicht erhält diese Feststellung durch den Umstand, dass eine solche Fremdwahrnehmung oftmals nicht wie im hier analysierten Fall im Prinzip konsensuell, sondern auf Konfrontation und damit explizit auf die Leugnung der von einem Autor betriebenen Selbststilisierungen ausgerichtet ist. Repräsentanz war also auch für den umtriebigen und erfolgreichen Ruhmesverwalter Thomas Mann keine ›Ein-Mann-Veranstaltung‹, sondern hatte viele Koautoren. Ihre Genese und jeweilige Gestalt kann man mittels einer Analyse von Funktionsmechanismen befriedigender erklären, als dies autorzentrierte Ansätze können. Das hier beispielhaft nachgezeichnete Verhältnis Thomas Mann und Gottfried Benn weitet den Blick auf die Erörterung eines allgemeineren Fragekatalogs: Wenn eine relational zu definierende, im Einflussbereich unterschiedlicher Determinanten stehende Feldposition maßgeblichen Einfluss auf Benns öffentlich kommuniziertes Thomas Mann-Bild hat und zugleich diesem Bild die Funktion einer Koautorschaft bei der Modellierung der hybriden Repräsentanz des Großschriftstellers zugesprochen werden kann, dann weist die Analyse der zunächst zweipoligen Relation von Gottfried Benn und Thomas Mann über sich hinaus auf die Notwendigkeit der Verwendung von Erklärungsmodellen höherer Komplexität multipolarer Feldrelationen. Erst die auf unterschiedliche Weise an der Etablierung dieser hybriden Repräsentanz beteiligten Koautoren machen
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Thomas Manns jeweilige Stellung im literarischen Feldes aus, und das sowohl symbolisch-kulturell als auch sozialen und institutionell. IV. Die personifizierte deutsche Kultur und ihre Eideshelfer Die New York Times veröffentlichte am 22. Februar 1938 ein Interview, das Thomas Manns Selbstverständnis der amerikanischen Öffentlichkeit vermitteln sollte: He was asked whether he found his exile a difficult burden. »It is hard to bear«, he admitted. »but what makes it easier is the realization of the poisoned atmosphere in Germany. That makes it easier because it’s actually no loss. Where I am, there is Germany. I carry my German culture in me. I have contact with the world and do not consider myself fallen.«
Heinrich Mann griff diese Formel zur Charakterisierung des Bruders mit seiner Formulierung »Wo ich bin, ist die deutsche Kultur«82 auf. Daraus wurde ein Aperçu, das den Kontext bald vergessen gemacht hat. So wurde aus einer eher unspektakulären Selbstcharakterisierung eine literaturpolitische Repräsentanzbehauptung. Darin ist sie charakteristisch für die Multiplikationsprozesse der Repräsentanz, die nicht nur von Thomas Mann selbst dirigiert wurden. Als publizistisches Klischee blieb die Formel populär »und diese Übernahme zeigt, wie sehr den Zeitgenossen Manns dieses Selbstverständnis eingeleuchtet hat«.83 Nimmt man die gesamte Selbsterklärung in den Blick, erscheint hier ein Charakterisierungsmerkmal von höchster Bedeutung, das Thomas Mann als »living sum of German culture«84 erscheinen ließ und auf seine »starke gesicherte Stellung […] in der Weltliteratur«85 hinzuweisen schien. Die Konstruktion einer kulturellen Tradition, die in einem seinerseits auf den Schultern von Riesen stehenden Autor gipfelt, legitimiert dessen Position im literarischen Feld einmal mehr.86 Je bedeutender die Referenznamen aus dem Kanon der Weltliteratur, desto bedeutender er selbst, wie drei fast beliebig herausgegriffene Beispiele illustrieren: Die großen epischen Bücher des 20. Jahrhunderts, die wesentlichen Bücher sind insgesamt Endbücher, Variationen einer Apotheose der epischen Kunstform. Sie sind [wie Doktor Faustus] alle – Prousts À la recherche du temps perdu, Gides Faux monnayeurs, Joyces Ulysses, Kafkas große Parabeln, Musils Mann ohne Eigenschaften,
_____________ 82 H. Mann: Zeitalter, S. 236. – Vgl. Renner: Repräsentanz; Koopmann: Lotte in Amerika. 83 Hansen: »Where I am, there is Germany«, S. 184. – Hier auch das Faksimile des Interviews in der NYT. 84 Reed: Mann, S. 1. 85 Berendsohn: Mann, S. 12. 86 Vgl. Jarchow / Winter: Bourdieus Kultursoziologie, S. 98f.
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Brochs Tod des Vergil, Sartres Nausée, Camus’ Étranger – sie alle sind in ihren Themen abschließende Bestandsaufnahmen unseres seelischen Besitztums, moralische, ästhetische, metaphysische Abrechnungen mit unserem menschlichen Stande, und manche von ihnen sind auch formal bis zu einem Grade artistischer Abstraktion vorgetrieben, über den hinaus keine Entwicklung mehr denkbar scheint.87 Thomas Manns erster Roman Buddenbrooks gehört durchaus der Tradition des europäischen Realismus an und ist doch ein philosophischer Roman […]. Wie Dantes Göttliche Komödie die Dichtung eines Universums ist, welches seine theologische Gestalt von Thomas von Aquino erhielt, oder wie Lukrez in De rerum natura der Lehre des Epikur gemäß von der Natur der Dinge dichtet, so erzählt Thomas Mann die Geschichte vom Menschen, ansässig in einer von Schopenhauer gedeuteten Welt (eine Welt, die dann auf derselben metaphysischen Grundlage von Nietzsche umgedeutet wurde.88 European literature was a continuous tradition from Homer through Goethe, and became something else afterwards. Thomas Mann is part of that something else, which begins with Wordsworth and has not yet ended.89
Auch hier zeigt sich, dass Thomas Mann vor allem in seiner Essayistik eine kulturelle Konstruktion seiner selbst schuf, die dieser Einschätzung Vorschub leistete und die er im literarischen Feld so plausibel vermitteln konnte, dass sie in Essays anderer teilweise wortgleich wiederholt wurde. Gottfried Benns auf den ersten Blick befremdliche Bemerkung, er »persönlich halte übrigens den Essayisten M[ann] für interessanter und bedeutender als den Romancier«90, wird aus diesem Blickwinkel verständlicher. »Wenn man Thomas Manns Laufbahn als Schriftsteller überschaut, so könnte man sie bezeichnen als eine Wendung von Dostojewskij zu Tolstoi, von Schiller zu Goethe, vom romantischen Mythos Richard Wagners zum realen und praktischen Humanismus Goethes und Sigmund Freuds«.91 Mayer übernahm nicht nur die durch die Essays vorgegebenen Traditionszusammenhänge für seine Charakterisierung; er drückte es auch noch in den Formeln und Worten Thomas Manns aus. Diese Überblendung von Selbst- und Fremdcharakterisierung findet sich allenthalben. Die zitierten großen Namen aus Philosophie und Literatur ergeben einen Deutungsraum mit dem Ziel der Legitimation, Positionierung und – bezogen auf fehlende Namen – Distanzierung als deutscher Schriftsteller innerhalb einer reichhaltigen abendländischen Tradition. Der wichtigste Name in diesem Zusammenhang ist der Goethes. Immer wieder und mittels aller ihm verfügbaren Textsorten bezog sich Thomas Mann auf ihn92 und erreichte damit schließlich, dass seine Autorschaft mit Goethe-For_____________ 87 88 89 90 91 92
Kahler: Säkularisierung, S. 143. Heller: Mann, S. 9. Bloom: Introduction, S. 1. Benn: Hans Paeschke, S. 23. Mayer: Manns Studien, S. 36. Vgl. Blume: Mann.
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meln gedeutet wurde und seine Werke als »fragments of a single ›great confession‹«;93 man müsse »Thomas Manns unio mystica mit Goethe zugleich ernst nehmen und nicht ernst nehmen«94 – offenbar ein sehr ernster Scherz. Erst spät begann sich die Forschung von der Suggestion zu lösen, die vom hieros gamos Manns mit Goethe ausging, und zu fragen, »wie Thomas Manns Beschäftigung mit Goethe gesteuert ist von seinen jeweiligen persönlichen geistigen und polemischen Bedürfnissen und von der politischen Zeitsituation, in der er arbeitet«.95 In den Stellungnahmen wird deutlich, dass Thomas Mann sein strategisches Ziel erreicht hat, mit Goethe direkt verglichen zu werden und das schon früh. So heißt es schon vor 1914: »Dabei schnitt er gegenüber Goethe in der Regel nicht gut ab, aber allein schon die Goethe-Verweise spiegeln die Anerkennung«.96 In der chronologischen Abfolge des Werks ergibt sich eine fein abgestimmte artifizielle Synthese von Traditionsbildung und Neuorientierung. Die Gesamtzahl seiner Eideshelfer verändert sich im Lauf seiner Werkbiographie nur geringfügig. Darunter sind fast ausnahmslos hoch valorisierte Namen; allerdings lassen sich Ausschlüsse von Namen, Neuintegrationen und auch Verschiebungen beobachten, die als Indizien für veränderte Problemlagen interpretierbar sind. Veränderungen ergeben sich auch in der Bedeutungszuweisung, die je nach Applikation modifiziert wird. Die Namen fungieren über die konkrete Referenz auf ein Individuum hinaus auch als symbolische oder mythische Repräsentanten mit spezifischer Semantik: Dostojewski ist eben auch der Schiller Russlands. Die Eideshelfer gehören in dieser Eigenschaft als Sinnbilder für einen komplexen kulturellen Sachverhalt zum zeittypischen lebensphilosophischen Kategorienapparat, der einerseits individuell modelliert wird, zugleich aber semantisch hinreichend repräsentativ ist, um von den Zeitgenossen geteilt zu werden. Er wird als Inventar zur Selbst-, Fremd- und Zeitdeutung vornehmlich über die Essayistik entfaltet,97 die ihrerseits als »Erkenntnismittel zur kritischen Durchdringung von Selbst und Welt« fungiert.98 Der Kategorienapparat besteht aus einer Reihe von Polaritäten – Kultur/Zivilisation, Künstler/Bürger, Deutschland/Frankreich, Nord/Süd, Mann/Frau, apollinisch/dionysisch usw. –, die als solche Ganzheiten zu ergeben scheinen. Thomas Mann setzt eine vergleichsweise geringe und _____________ 93 94 95 96 97
Lindsay: Mann, S. 2. Lehnert: Thomas-Mann-Forschung, S. 101. Siefken: Mann, S. 9; vgl. Wysling: Goethe-Nachfolge; Held: »imitatio Goethe’s«. Goll: Die Deutschen, S. 114. Vgl. Maître: Mann; Mörchen: Schriftsteller, S. 29ff.; Keller: Anmerkungen; Rinner / Schlüter: Alles; Siefken: Der Essayist; Bollenbeck: Politik. 98 Keller: Anmerkungen, S. 117.
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dabei konstante Zahl von Variablen als Deutungsinstrumentarium ein. Sie werden jeweils mit Bezug auf die sich verändernden historisch-politischen und ideengeschichtlichen Rahmenbedingungen verändert und angewandt. Aufgrund dieses Verfahrens stellt sich der Eindruck her, dass er »auf der Basis einiger weniger Grundgedanken seine politische Konzeption [bildete], an der er bis zu seinem Lebensende festhielt«,99 wie Kurt Sontheimer exemplarisch feststellt hat. Die weltanschauliche Basis für dieses Kategoriensystem der Selbstinterpretation geht überwiegend auf die Philosophie Nietzsches aus der Phase der Geburt der Tragödie zurück. Die Kategorien sind, wie aus Nietzsches Begriffskritik folgt, nicht Begriffe, sondern Bilder. Daraus ergibt sich eine hohe Flexibilität der Umdeutung, Modifizierung und Applikation, damit die Hybridität Thomas Manns. Die Bilder sind die Bausteine eines weltanschaulichen Ästhetizismus, der zugleich den Erkenntnischarakter von Kunst begründet, da sie das originäre Feld der Bildlichkeit darstellt. Zugleich stiftet die Sinnschicht des Kategoriensystems einen ›organischen‹ Werkzusammenhang zwischen fiktionalen und essayistischen Texten. Das Material für die weitere Ausgestaltung seiner Argumentationen bezog Thomas Mann dabei häufig aus sekundärer Quelle oder auch aus persönlichem Kontakt, darunter die noch kaum systematisch untersuchten Informanten wie etwa Ernst Bertram und Hans Pfitzner; bekannter ist, dass Adorno ihn über moderne Musik orientiert hat.100 Mit Hilfe seines Kategoriensystems eroberte Thomas Mann Deutungshoheit, weil er alle »Einsätze ernst n[ahm], die, aus der Logik des Spiels selbst hervorgegangen, dessen Ernst begründen«.101 V. Literaturpolitik Thomas Mann bemühte sich intensiv um die verschiedenen Legitimationsinstanzen des literarischen Feldes.102 Noch wenig beleuchtet sind dabei die ökonomische Basis seiner Arbeit103 und die institutionelle der Publikationsbedingungen. Schon die Verbindung mit dem Haus Pringsheim eröffnete ihm die »[e]rsten Häuser«104 und strahlte über seine privaten Lebensverhältnisse hinaus. »Thomas Manns wohlhäbiger Hausstand wird _____________ 99 100 101 102 103 104
Sontheimer: Emanzipation, S. 60. Vgl. Eder: »Allerlei Allotria«; weitere Einzelstudien fehlen bislang. Bourdieu: Meditationen, S. 20. Vgl. Jurt: Die Theorie, S. 462ff.; ders.: Das literarische Feld; Gerhards / Anheier: Kräftefeld; Göhler / Speth: Symbolische Macht. Vgl. Schröter: Mann. Bauer: Krise, S. 29.
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nun [nach der Heirat] zur repräsentativen Folie seiner schriftstellerischen Produktion«.105 Diese Komponente verlieh der Bürgerlichkeit soziale Verankerung und Glaubwürdigkeit. Auf der anderen Seite löste die Semantik der Bürgerlichkeit das aus der Sicht des literarischen Feldes und der Ethik der Kunst prekäre Problem der Verbindung von Kunstanspruch und kommerziellem Erfolg.106 Sein Durchbruch mit den Buddenbrooks war eng mit kaufmännischen Erwägungen verknüpft; erst die preiswerte einbändige Fünf-Mark-Ausgabe setzte den Roman auf dem Markt durch.107 Bereits an wenigen, schon analysierten Einzelfällen ist zu erkennen, wie sich Thomas Mann durch Leser- und Rezensentenpflege, eigene Empfehlungen und Herausgebertätigkeiten, Koalitionen und Zweckbündnisse ein tragfähiges Netzwerk schuf.108 Otto Grautoff etwa wurde als »willfährige[r] Helfer bei der Promotion seines Werks«109 eingesetzt. Thomas Mann versuchte oftmals erfolgreich den Rezeptionsprozess seiner Texte110 zu steuern. Schon mit der Übersetzung des Zauberbergs 1927 beginnt die planmäßige Editionspolitik für die amerikanische Karriere, die er im Exil erfolgreich weiterverfolgt hat. »Er erschien der amerikanischen Öffentlichkeit als literarischer Klassiker (Autor des Romans Buddenbrooks), großer Novellist und Stilist (vor allem wegen der Novelle Death in Venice) und Verteidiger der deutschen Tradition gegen ihre ideologische Vergewaltigung durch den Nationalsozialismus, kurz: als würdiger Repräsentant eines Humanismus von deutscher Prägung«.111 Seine Essaypublikationen folgten dem Kalkül, Konfliktlinien und politische Problemzonen zu verdecken; nicht zuletzt deswegen unterblieb die Übersetzung der Betrachtungen eines Unpolitischen bis 1983. Seine Offenheit gegenüber linken Positionen brachte ihm jedoch auch Schwierigkeiten ein; er wurde von ›Hoover’s men‹ beobachtet.112 Thomas Mann nahm zudem regen Anteil an der wissenschaftlichen Erforschung seines Werks113 und zeigte sich den medialen Verbreitungsmöglichkeiten gegenüber aufgeschlossen. Nicht erst mit den Reden Deutsche _____________ 105 106 107 108 109 110 111 112 113
Ebd.: Mann, S. 23. Vgl. Bourdieu: Die Regeln, S. 198ff. Vgl. Bauer: Mann, S. 27; Kleiß: Autor-Verleger-Beziehungen; Zeller (Hg.): S. Fischer, S. 115ff.; Mendelssohn: S. Fischer, S. 276ff. Vgl. etwa das reichhaltige Material bei Heine / Schommer (Hg.): Widmungen. Vgl. zur Herausgabe von »Maß und Wert« Stahlberger: Emil Oprecht, S. 234ff. Sauermann: Mann, S. 56. Vgl. Schlutt: Außenseiter. Adolphs: Einflussnahme, S. 565. Vgl. Berlin: Making; Lubich: Probleme. Vgl. Vaget: Antifaschismus; Frey: Elfenbeinturm; Vaget: Hoover’s Mann. Vgl. Hübinger: Mann; Bender: Herausgeber; Conrady: Germanistik; Lehnert: Vorwort. Vgl. Nethersole: Wirkungsgeschichte; Hinck: Mann.
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Hörer! nutzte er den Rundfunk für seine Zwecke.114 Der Presse gegenüber erteilte er immer bereitwillig und geduldig Auskunft; er war einer der meistinterviewten Schriftsteller der ersten Jahrhunderthälfte115 und nutzte konsequent Photographien zur Selbstinszenierung.116 Er war in einer Reihe von Institutionen und berufsständischen Vereinigungen literaturpolitisch tätig.117 Als Repräsentant des demokratischen Deutschland war er für den PEN-Club in Europa als kultureller Diplomat unterwegs.118 »In den Presseberichten und Interviews, die Thomas Mann bei diesen Gelegenheiten freigebig gewährte, drückte er nicht nur wie ein professioneller Diplomat jeweils die eigenen besonderen Beziehungen und Bindungen zur Kultur und Literatur des betreffenden Landes aus, sondern warb ebenso für Ausgleich, Verständigung, Demokratie und Frieden«.119 Er erhielt eine Vielzahl von Preisen bis hin zu beiden Goethe-Preisen des symbolträchtigen Goethe-Jahres 1949, dem der Stadt Frankfurt am Main und dem Goethe-Nationalpreis in Weimar.120 Das ging nicht ohne Komplikationen ab. »Die Lage ist überhaupt zu kompliziert. Neulich sollte ich ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Künste, literarische Abteilung, werden. […] Gleich darauf wollte man in Sowjet-Leipzig eine Universitäts-Stiftung nach mir benennen. Ich habe auf beides ausweichend geantwortet. Welcher Bessere, wo er auch sei, säße denn heute nicht zwischen den Stühlen« (Br. III, S. 64 [T. M. an Hans Reisiger, 19.12.1948]). Wo viel Licht, da ist auch viel Schatten: Sein unmittelbarer Einfluss auf Kollegen und spätere Autoren blieb beschränkt.121 Umfragen unter Kollegen zum 100. Geburtstag ergaben neben einigen positiven nicht wenige Stimmen, die in Thomas Mann ihren bestgehassten Kollegen sahen.122 Thomas Mann also der Großschriftsteller? Ja und nein, sind die Antwort dieses Bandes. Ja, weil hier Strategien moderner Autorschaft entfaltet worden sind, und das mit einem Erfolg, der in der deutschen Literaturgeschichte seinesgleichen sucht. Nein, weil alle Strategien nicht verdecken können, wie riskant die getroffenen Entscheidungen waren, wie viel an _____________ 114 115 116 117 118 119 120 121 122
Vgl. Wirth: Bekenntnisse; Karthaus: Reden; Geißler: Zusammenbruch; Halder: Exilrufe; Hoffschulte: »Deutsche Hörer!«. Zu Thomas Manns Verhältnis zur BBC vgl. Slattery: Mann. Vgl. Hansen / Heine: Interview. Vgl. Turck: Mann. Vgl. Jens: Dichter; Hahn: Gelegenheit. Vgl. Hansen: »Where I am, there is Germany«, S. 184. Lauer: Kritik, S. 234. Meier: Goethe, S. 117ff., 237ff. Vgl. Körber: Mann. Die Umfrage ist dokumentiert in: Deutsche Schriftsteller über Thomas Mann; vgl. Pütz: Manns Wirkung; Schulte: Mann; Heftrich: Kollege; Reich-Ranicki (Hg.): Mann.
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dem Tun anderer lag und wie viel Glück auch ein Thomas Mann gebraucht hat, um dieser einzigartige Schriftsteller zu werden. Literaturverzeichnis Mann, Thomas: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 22. Briefe II 1914–1923. Hg. von Thomas Sprecher / Hans R. Vaget / Cornelia Bernini. Frankfurt/M. 2004. Mann, Thomas: Brief an Annette Kolb, 28.10.1914. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 22. Briefe II 1914–1923. Hg. von Thomas Sprecher / Hans R. Vaget / Cornelia Bernini. Frankfurt/M. 2004, S. 44. Mann, Thomas: Ansprache im Goethejahr 1949. In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. XI. Frankfurt/M. 1990, S. 481–497. Mann, Thomas: Briefwechsel mit Bonn. In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. XII. Frankfurt/M. 1990, S. 785–792. Mann, Thomas: Lebensabriß. In: T. M.: Essays [E]. Bd. III. Ein Appell an die Vernunft 1926–1933. Hg. von Hermann Kurzke / Stephan Stachorski. Frankfurt/M. 1994, S. 177–222. Mann, Thomas: Brief an René Schickele, 16.5.1934. In: T. M.: Briefe [Br.]. Bd. I. 1889– 1936. Hg. von Erika Mann. Frankfurt/M. 1961, S. 360. Mann, Thomas: Brief an Hans Reisiger, 19.12.1948. In: T. M.: Briefe [Br.]. Bd. III. 1948– 1955 und Nachlese. Hg. von Erika Mann. Frankfurt/M. 1965, S. 64. Abel, Angelika: Thomas Mann im Exil. Zum zeitgeschichtlichen Hintergrund der Emigration. München 2003. Abusch, Alexander: Thomas Mann und das »Freie Deutschland« (1965). In: A. A.: Ansichten über einige Klassiker. Berlin, Weimar 1982, S. 202–217. Adolphs, Dieter W.: Thomas Manns Einflußnahme auf die Rezeption seiner Werke in Amerika. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 64 (1990), S. 560–582. Alker, Ernst: Geschichte der deutschen Literatur von Goethes Tod bis zur Gegenwart. Bd. 2. Stuttgart 1950. Améry, Jean: Von den Möglichkeiten geistiger Repräsentanz. In: Neue Rundschau 86 (1975), S. 38–49. Andersch, Alfred: Mit den Augen des Westens (Thomas Mann als Politiker). In: Texte und Zeichen 1 (1955), S. 85–100. Ansel, Michael: Der verfemte und der unbehelligte Solitär. Gottfried Benns und Ernst Jüngers literarische Karrieren vor und nach 1933. In: Lutz Hagestedt (Hg.): Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst. Berlin, New York 2004, S. 1–23. Ansel, Michael: Zwischen Anpassung und künstlerischer Selbstbehauptung. Gottfried Benns Publikationsverhalten in den Jahren 1933 bis 1936. In: Matias Martinez (Hg.): Gottfried Benn – Wechselspiele zwischen Biographie und Werk. Göttingen 2007, S. 35–70. Arndt, Astrid: Ungeheure Größen: Malaparte – Céline – Benn. Wertungsprobleme in der deutschen, französischen und italienischen Literaturkritik, Tübingen 2005.
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I. Strategien
THOMAS SPRECHER
Strategien der Ruhmesverwaltung Skizzen zu Thesen
Gerhart Hauptmann, Bert Brecht und Thomas Mann diskutierten einmal darüber, wer der größte Dichter sei. »Nun ja, meine Herren«, meinte Hauptmann, »allerdings, es ist doch wohl klar, dass ich es bin!« »Moment!« ereiferte sich Brecht. »Moment! Gestern ist mir im Traum der liebe Gott erschienen, hat auf mich gedeutet und laut gerufen: Du bist der größte Dichter aller Zeiten!« Da räusperte sich Thomas Mann und sagte: »Bitte î was soll ich gesagt haben?«
Mein in fünfzehn lockere Thesen gekleidetes Referat nimmt einige Elemente auf, die aus anderen Titeln der Tagung hervorgehen. Auf unterstützende Zitate wird weitgehend verzichtet; sie könnten aber querdurch leichthin beigebracht werden. I. Thomas Manns Äußerungen über sich selbst sind kritisch zu lesen Thomas Mann hat ein Leben lang über sich selbst gesprochen. Die meisten seiner öffentlichen, halböffentlichen, überprivaten Aussagen î zu denen nach Buddenbrooks auch viele Briefe gehören î dienten auch der Selbstprofilierung, der Selbststilisierung und der Rezeptionssteuerung. Thomas Mann wollte vielleicht nicht einmal unbedingt so sein, wie er sich beschrieb. Es genügte, wenn die Leute glaubten, er sei so. Zum Beispiel schrieb er regelmäßig, er rühre keinen Finger, um sich und seinem Werk zum Durchbruch zu verhelfen. Er sei der fatalistischste Mensch von der Welt; seine einzige Aufgabe sei es, Bücher zu schreiben î für ihren Erfolg müßten sie dann bitte selbst besorgt sein. Das wird immer noch geglaubt.
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Problematisch ist es auch, seinen Aussagen über die eigenen Werke zu nahe zu folgen. Thomas Mann sprach und schrieb oft über sie und gab der aufnehmenden und kritisierenden Welt, den Journalisten und Literaturwissenschaftlern, unendlich viele fabelhafte Formulierungen an die Hand, denen bis heute sehr viele, ich inbegriffen, fallweise erliegen. Glanz blendet, Prägnanz lenkt. Zu sich kommen kann, wer diese Selbstaussagen vergleicht: wie sie sich gegeneinander stellen, einander widersprechen, nuancieren, einfärben und zum Stellenwert relativieren. II. Es gibt keine ›Buddenbrooks-Naivität‹ Naiv war Thomas Mann beim Schreiben von Buddenbrooks lediglich insofern, als er noch keine Erfahrung darin hatte, einen so großen Roman zu schreiben. Diese Art von Naivität geht beim Künstler nie ganz verloren. Noch beim späten Felix Krull tastete Thomas Mann sich mühsam vor ins Blaue. Buddenbrooks ist Thomas Mann nicht passiert. Er hat nicht unter der Hand Weltliteratur geschaffen. Er hat vielmehr einen Roman großen Stils angestrebt und über Jahre hinweg erarbeitet. Der Wille zur Größe war nicht Folge, sondern Ursache von Buddenbrooks. Der Traum von der Lorbeerkrone ging voraus. Kalkül wäre nicht das richtige Wort. Es wäre zu schwach und zu flach. Es ist ein großartiger Lebensplan, der sich da mit dem Segen der Begabung ins Fleisch des Wirklichen setzt, eine Ambition, deren Entfaltung wohl ebenso als Geschehen wie als Tun angesprochen werden muss. Entwickelt man denn willentlich Ehrgeiz? Oder ist man nicht das Objekt seines Ehrgeizes, auch mangelnden Ehrgeizes? (Das sollen die Psychologen oder die Neurologen entscheiden.) III. Wer sich mit den Größten vergleicht, ist selber groß Thomas Mann hat sich stets mit den Größten verglichen. Wer mit der Größe spielen will, muß selber groß sein. Wer mit der Größe spielen kann, ist selber groß. Wer groß ist, muß sich mit den Größten vergleichen. Wer in Deutschland Nationalschriftsteller sein will, kommt an Goethe, Schiller, Nietzsche, Wagner, Fontane nicht vorbei. Der Repräsentative muss das Repräsentative erfassen. Der Große steht auf Augenhöhe der Größten; oder umgekehrt: Wer auf der Augenhöhe mit den Größten steht, ist selber groß. Das will gezeigt sein.
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Es gibt nur wenige Größte. Thomas Mann hat sich daher nur mit wenigen vergleichen können. Nicht dazu gehörte Heinrich Mann. Er war weder ein Größter noch würde er es je werden. Thomas Mann hat sich mit seinem Bruder in erster Linie deshalb beschäftigt, weil er sein Bruder, nicht weil er Schriftsteller war. Das gilt erst recht für seinen Sohn Klaus. IV. Thomas Mann war außerordentlich vital Er kam als Schulversager. An der Universität duldete man ihn nur als Gasthörer. Beruf hatte er keinen. In München war Thomas Mann ein Ankömmling, ein Provinzler, nicht einmal ein Außenseiter, sondern ein vollkommener Nobody. Er war niemand, und niemand hatte auf ihn gewartet. Dies verwies ihn auf sich: Auf den Glauben an sich selbst war alles gestellt î jetzt und immer. Die Literatur war nicht der Tod, sie war das Leben. Sie war der Weg nach oben, der Schlüssel zum sozialen und finanziellen Aufstieg. Sie war seine einzige Chance; wie später der Fußball für die Kumpel im Ruhrgebiet. Ohne Buddenbrooks und ihren Erfolg hätte ihn die reichste Familie der Stadt nicht auf- und ihre Prinzessin nicht angenommen, Lübecker Senatorensohn hin oder her. Das zählte ja nicht einmal in Lübeck selbst noch. Das Spiel in München begann bei Null. Die intellektuellen und ästhetischen Vorzüge der Krankheit in Ehren î ohne Vitalität, Ehrgeiz, Zähigkeit, Entschlossenheit, Geduld, Robustheit hätte sich Thomas Mann in München nicht durchgesetzt. Der Erfolg kommt nicht von selbst, er muss bewirkt, erzwungen sein. Den Erfolg ›inszenieren‹, das wäre zu ästhetisch gesagt. Die Umsetzung des großen Plans ist entschieden mehr als »Konzilianz gegen gewisse Lebensnotwendigkeiten« (Regesten I, 26/94 [T. M. an Friedrich von der Leyen, 12.6.1926]); es ist Knochenarbeit, Mühe, unendlicher Fleiß. Zur Aufstiegsstrategie gehörten und reputationsmehrend waren: die Heirat einer reichen, schönen Frau aus vornehmer Familie; gleichzeitig die Abwehr homosexueller Neigungen; die Etablierung als vielfacher Familienvater; der materielle Wohlstand; der bürgerliche Habitus: ein mehr als stattliches Haus; bürgerliche Kleidung, bürgerliche Respektabilität; die Teilnahme an der Gesellschaft und ihren Bräuchen, an kulturellen Anlässen, Vereinsmitgliedschaften; die partielle Verbürgerlichung des Schriftstellertums: hohe Bedeutung der Arbeit und der Leistung, Regelmäßigkeit (jeden Vormittag), Stetigkeit (über Jahre hinweg), Disziplin;
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die patriotische Zuverlässigkeit: starke Deutschlandfreundlichkeit; ein erstklassiger Verlag. Alle diese Eigenschaften und Merkmale sind allerdings schlechthin wertlos, wenn die Leistung fehlt, wenn sie nicht von einer literarisch-essayistischen Produktion hoher Qualität getragen werden. Die künstlerische Leistung sitzt im Zentrum; die Ruhmesverwaltung ist sekundär, denn: keine Ruhmesverwaltung ohne Ruhm; kein Schriftsteller ohne Schrift. (Es gibt zwar Schriftsteller, die das Nichtschreiben kultivieren, in Cafés sitzen und in Kellern, eine enorme Medienpräsenz genießen und irgendwann als Gerücht versterben. Sie bringen es dann auf zahllose Seminararbeiten, weil die Germanisten seitenschwache Werke schätzen.) Im Grunde hätte jedermann denselben Versuch machen können und wäre mangels Leistung doch namenlos am Boden geblieben. V. Thomas Mann verfügte über eine effiziente familiäre Logistik Was heute Verleger bieten: Marketingfachleute, Agenten und Referenten, das tat Thomas Mann mit Hilfe seiner Familie selbst. Die Familie stellte die Logistik sicher. Katia vor allem sorgte für optimale Arbeitsumstände, sie erledigte im Wesentlichen den Verkehr mit dem Verlag. Dann und wann schrieb sie auch vorzügliche Thomas-Mann-Briefe. Sie deckte den Bereich der Fremdsprachen glanzvoll ab. Später kam Erika hinzu. Beide coachten Thomas Mann, halfen ihm, sich im literarischen Betrieb behende zu bewegen, Erika insbesondere auch im amerikanischen Exil. Sie sagte ihm zum Beispiel, dass es vorteilhaft sei, seine Ansprachen mit einem Witz zu eröffnen. VI. Thomas Mann arbeitete an der Marke Mann Heute spräche man von einer Marke. Hans Magnus Enzensberger wehrte sich dagegen. Ich bin keine Marke, sagte er, und meinte damit wohl, dass er frei sein wolle, zu tun, was ihm behage, und nicht durch die Erwartungen der Markenbenützer gebunden sei. Wer eine Marke wählt, glaubt zu wissen, was er bekommt. Coca-Cola ist Coca-Cola, Microsoft ist Microsoft. Ein Schriftsteller ist eine Marke, wenn man weiß, was man von ihm bekommt. Man kauft seine Bücher, weil man erwartet, dass sie einen zufriedenstellen werden, weil und wie schon die vorherigen einen zufriedengestellt haben. Natürlich gibt es verschiedene Marken. Es gibt das ›Enfant terrible‹, das von Provokationen lebt und in der Regel nicht lange lebt, weil die Provokation als solche verstimmt. Der kalkulierte Tabubruch ist nicht eine schö-
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ne Ungeheuerlichkeit, sondern eine langweilige. Es gibt den ›Oberlehrer‹, Typus Solschenizyn oder Grass, der den Großverantwortlichen spielt, politische Ratschläge erteilt, die niemand braucht, sich unter der Fahne des Engagements in jedweden Diskurs einmischt, ein multimedialer Gesinnungsclown mit dem Nachteil, nicht lustig zu sein. Wenn er am Bildschirm erscheint, ist er das Signal zum Wechseln des Senders. Thomas Mann arbeitete an der Marke ›Nationalschriftsteller‹. Das ist der bedeutendste Schriftsteller der Nation. Bedeutung ist ein schwer messbares Gut. Bedeutung hat, von dem laut und oft gesagt wird, er habe Bedeutung. Zwar müssen einerseits Konkurrenten aus dem Weg geräumt und muss anderseits über eine gewisse Seniorität verfügt werden können, sagen wir fünfzig Lebensjahre. Aber wie Präsidentschaftskandidaten sich so zu benehmen haben, als seien sie schon Präsident, presidential like, présidentiel, müssen auch Schriftsteller früh schon auftreten, als seien sie Nationalschriftsteller, damit sie es einmal werden. Nach Thomas Manns Tod schulterte Erika Mann die Last und war einige Jahre lang ein nicht nur bleicher, sondern auch effizienter Nachlassschatten. Die Familie Mann sorgte im übrigen dafür, dass auch nach Thomas Manns Tod an der Marke Mann weitergearbeitet werden konnte, indem sie das Thomas-Mann-Archiv an der ETH Zürich ermöglichte. VII. Thomas Mann pflegte die Multiplikatoren Multiplikatoren sind opinion leaders. Heute sind opinion leaders jene, die sich in die Fernsehsendungen drängen. Was sie sagen, wird millionenfach gehört. Ob es richtig ist, ist weniger wichtig. Reichweite ersetzt Substanz. Zu Thomas Manns Zeiten waren die opinion leaders vor allem die Feuilletonredaktoren, die Kulturgewalthaber, die Verleger, die akademischen Germanisten. Thomas Mann pflegte sie sorgfältig. Sie waren auch sein Zugang zu den Zeitungen. Solange sie persönlich gut zu ihm standen, schrieben sie auch gut über ihn. Ein sprechendes Beispiel ist Richard von Schaukal, der sich mit zuverlässiger Begeisterung zu Thomas Manns frühen Werke äußerte, ihm aber mit seinen eigenen Hervorbringungen so lange zusetzte, bis er den gegenseitigen Verkehr für »dringend ruhebedürftig« (GKFA 21, S. 326 [T. M. an Richard von Schaukal, 14.10.1905]) erklärte. Von da an waren Schaukals Äußerungen über Thomas Mann weniger enthusiastisch. Ähnlich im Fall Käte Hamburgers, die mit dem Doktor Faustus nicht warm wurde, was Thomas Mann damit erklärte, dass er ihr auf seiner Europareise 1947 zu wenig Beachtung gezeigt hatte. Oder der NZZ-Feuilletonchef Eduard Korrodi, in dessen Junggesellenwohnung Thomas Mann sogar einmal, Stuhl an Stuhl mit Korrodis greiser Mutter,
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ein Essen absaß, um ihn gewogen zu halten. In Briefen an potenzielle Rezensenten, zum Beispiel an Otto Grautoff, gab Thomas Mann manchmal wörtlich vor, was sie Schönes schreiben sollten. Später gewann seine Lenkung an Dezenz. Zu den Multiplikatoren gehörten nolens volens auch die Kinder. Auch sie trugen den Ruhm des Vaters fort und ins Weite, selbst wo sie das nicht einmal wollten. VIII. Thomas Mann pflegte die Kunden Jeder konnte ein Leser sein. Jeder konnte einen zu einer Lesung einladen. Jeder konnte über einen schreiben. Jeder konnte einen bewundern. Thomas Mann war korrekt, er war höflich. Liest man seine Briefe an all die Unhöflichen, so staunt man immer wieder über seine Geduld, Menschlichkeit, Höflichkeit. Jeder, der ihm schrieb, jeder, der ihm ein Manuskript schickte, jeder, der hoffte, irgendwie zur Fußnotenexistenz aufzusteigen, bekam Antwort. Die Image-Pflege, die Steigerung der Reputation gehört zu den Motivationen des Briefschreibens. Die Briefadressaten erhielten nicht nur eine sachliche Auskunft, sondern einen Thomas-Mann-Brief. Sie bildeten eine still wachsende Gemeinde. IX. Thomas Mann nutzte die Chance des Exils Eine Zäsur bedeutete das Exil. Seit spätestens 1930 musste man mit ihm rechnen; geplant war es nicht. Hier spielte das weltpolitische Schicksal dem privaten Lebensentwurf scheinbar einen Streich. Wie verwaltet man seinen Ruhm, wenn man sein Land verliert? In welches Verhältnis setzt man sich zu der so brutal veränderten Welt? Nach 1933 kämpfte Thomas Mann zuerst um seine Leser und um seinen Markt. Er reiste und las weiter in Wien, Prag und Budapest. Seine Leser in Nazi-Deutschland gab er erst nach Jahren verloren; und dies mit dem Wort ›vorläufig‹ im Herzen. Familienintern schwieg er sich bis 1936 beinahe um den Hals. Thomas Manns öffentliches Schweigen zu den Vorgängen in Nazi-Deutschland muss in erster Linie damit erklärt werden, dass er diese Zeit brauchte, um zur sicheren Erkenntnis zu gelangen, dass das Exil politisch irreversibel, persönlich unter diesen Umständen aber kein Verlust, sondern eine Chance war, eine lebensgeschichtlich einmalige Opportunität des Wachstums, dass gerade durch das Exil das Gespenst der künstlerischen Stagnation zu bannen und vielmehr eine weitere Steigerung der Existenz zu be-
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wirken waren. Dass das Exil nicht den Verlust, sondern die Rettung der Repräsentanz bedeutete. Größe durch Exil, dafür gab es kulturhistorische und politische Beispiele. Gewiss nicht zufällig hat Thomas Mann seine Tagebücher ab 1933 vor dem Feuer bewahrt. Er hat auch diese Chance gepackt. Die Übersiedlung in die USA war strategisch vollkommen richtig. Diese Bewegung hin zur neuen Welt erst schuf die allerdings schon in den 1920er Jahren vorbereitete globale Dimension. X. Thomas Mann pflegte die neuen Medien Thomas Mann stellte sich sofort auf neue Medien ein, etwa den Film. Er war nicht nur selbst ein begeisterter Kinogänger, er war auch stets bereit, Hand zu bieten für Verfilmungen seiner Werke. Einmal hat er sogar ein Filmskript geschrieben. Die Verfilmungen, die er selbst noch sah, waren künstlerisch dürftig, doch das focht ihn wenig an. Ironisch merkte er an, froh zu sein, wenn doch immerhin neben dem Film das Buch noch fortbestünde. Auch die multiplikatorischen Möglichkeiten des Rundfunks hat er schnell erkannt, und er hat sie insbesondere im Zweiten Weltkrieg î wenn auch für wenig künstlerische Zwecke î erfolgreich benutzt. Thomas Mann war für die elektronischen Medien nicht gemacht, meinte er. Tatsächlich gab er Radiointerviews oder nahm an Radiodiskussionen teil, bei denen er vorbereitete Texte möglichst lebhaft vom Papier ablas. Dennoch denke ich, dass er sich für das Fernsehen hätte präparieren, dass er, später geboren, auch dort bella figura hätte machen können. XI. Thomas Mann unternahm politische Taten Der Nationalschriftsteller verlässt seine Kunst nicht, aber er übersteigt sie. Auch deshalb wird er ins Politische gewiesen. Politische Reden sind politische Taten. Manns Biographie kennt sie, wie sie auch nicht sprachgebundene Taten kennt, Demonstrationen, politische Pantomime. Die Besuche zum Beispiel in der ostdeutschen Zone nach dem Zweiten Weltkrieg haben Aspekte des Trotzes. Sich über die politischen Konventionen hinwegzusetzen, markiert einen Akt der Souveränität. Der Geist folgt nicht den – im übrigen zeitgebundenen î Regeln politischer Machthaber. Geist ist Macht nur, wenn er Gegenmacht ist, und damit Gegner der Macht.
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XII. Thomas Mann hat sein Revier Schritt für Schritt erweitert Für sein Werk hat Thomas Mann wiederholt einen Dreischritt behauptet: Buddenbrooks als deutscher Roman, Der Zauberberg als europäischer, der Joseph dann als menschheitlicher Roman. Diesem Dreischritt (dem noch das »Werk letzter Konsequenz« (Tb. 6.7.1953), der Doktor Faustus, folgt, die übrigen Werke werden unter »Nachspiele«1 subsumiert) entsprechen Thomas Manns Ambitionen und Schritte auch im Praktischen. Sein Wirkungskreis weitete sich mit und nach Buddenbrooks auf ganz Deutschland aus; darüber hinaus ging es bis Ende des Ersten Weltkriegs nicht. Eine entschlossene Europäisierung war dann aber nicht erst die Folge des Exils, sie wurde vielmehr schon in den 20er Jahren verwirklicht. Thomas Mann weitete den Radius seiner Reisen bewusst aus. Paradigmatisch war die Wallfahrt von 1926 nach Paris. Aber auch die Kontakte mit den Vereinigten Staaten begannen und intensivierten sich in diesem Jahrzehnt. Von Globalisierung darf man nicht sprechen. Thomas Mann war nie in Südamerika, nie in Afrika, nie in Asien. Aber er erkannte Europa und die USA als Bühne und Markt. Dazu bei trugen Übersetzungen. Thomas Mann wollte unbedingt, dass seine Bücher in möglichst vielen Sprachen möglichst gut übersetzt waren. Die Übersetzungen bildeten Brückenköpfe für den Ausgriff in neue Territorien. XIII. Thomas Mann verfolgte eine Laufbahn als Schriftsteller Das Leben ist kurz, die Schaffenszeit bemessen. Man kann nur wenig tun; das befiehlt das Richtige. Die Kette von Richtigkeiten fügt sich zur Laufbahn. Laufbahn wird zur unabweisbaren Pflicht. Wer den Zauberberg hinter sich hat, ist nicht nur reif für das ›Weltgedicht‹, sondern gezwungen dazu. Thomas Mann hat sein literarisches Leben bewusst gelebt. Sein innerer Werdegang, der verschiedenen Mustern und Bildern folgte, ist ein SichEntfalten und Amplifizieren von früh vorhandenen Kernen. Der Versuch, stets Neues zu machen, konnte nicht immer gelingen. Vor der repetitio schützte die variatio. Benchmarks waren Goethe und Wagner. Thomas Mann hat Goethes Laufbahn als Schriftsteller nicht nur studiert, sondern auch beschrieben. Es gibt eine Werkbiografie, die sich an jener Goethes misst und so ins Kanonische aufrückt. _____________ 1 T. M. an Gottfried Bermann Fischer, 5.6.1954 (Mann: Briefwechsel S. 618f.).
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Nach 1933 verglich sich Thomas Mann mit Joyce und Proust. Er wollte kein langweiliger Philosoph sein, auch kein flauer Traditionalist, sondern offen für das künstlerisch Kühne. Der Letzte zu sein, der große Vollender, eine Kultur mit trauriger Grandezza zu Grabe zu tragen, das hätte ihm nicht genügt. Sein Anspruch war janusköpfig auch in die Zukunft gerichtet: ins Neue, das Residenzen hielt auch in kommenden Zeiten. XIV. Thomas Mann besaß einen großen Riecher Die Karikaturisten schätzten sehr bei Thomas Mann, dass er eine große Nase besaß; an ihr hielt sich ihr Strich fest. Aber Thomas Mann hatte, hierin Schiller verwandt, auch einen großen Riecher für das, was in der Luft lag, das Publikumswirksame. Seine doppelte Optik hat massenfähige Werke geschaffen, Werke, die sehr viele gelesen haben, die anderen Kunstformen sich anpassen, die insbesondere verfilmt werden können. Werke, die verschiedene Strömungen aufnahmen. Um es wohl genauer negativ zu formulieren: Thomas Mann wählte keine Stoffe, bei denen von vornherein Massenwirksamkeit ausgeschlossen werden musste. Dass Felix Krull noch einmal ein Renner werden konnte und die Leute nach ihm verlangten, trug viel dazu bei, dass Thomas Mann das frühe Fragment in den 50er Jahren doch noch weiterführte. Thomas Mann war im vielfachen Sinn ein Unternehmer, nicht nur wirtschaftlich, sondern auch geistig. Er hatte ein hervorragendes Gespür für das, was ankam, was zählte, was der Markt erwartete, was er ihm abnahm. Das ist nicht ein einmaliger Akt, das ist eine Dauerleistung. Vorschub leistete dabei seine Neugier. Thomas Mann las außerordentlich viel, er hielt Austausch mit unzähligen Leuten, er war gut informiert, mit der Zeit auch durch seine Kinder, er ging direkt auf Personen zu, von denen er Auskünfte erwartete. Auf seinen Lesereisen konnte er nicht nur die laufende Produktion in kleinem Rahmen testen, bevor sie weltgerecht als Buch auftrat, sondern auch Informationen aus dem Publikum aufnehmen. XV. Die essayistischen Schriften dienen auch der Selbststilisierung Thomas Mann spricht in den essayistischen Schriften immer auch von sich selbst. Auch die politischen Reden dienen der Selbststilisierung. Noch die politischste Rede Thomas Manns ist Künstlerwerk, Darstellung eines Selbst in Glanz und Not. Die Person ist immer ein starker Teil und Träger der Botschaft. Nicht was ich sage allein, ist wichtig, sondern dass ich es
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bin, der es sagt. Nichts kommt auf das Meinen an, alles aufs Sein. Das macht auch bei offenen und direkten Zitaten den Unterschied aus: Wenn sich Thomas Mann die Schiller-Sekundärliteratur vornimmt, um daraus eine Schiller-Rede zu komponieren, so darf sich die Sekundärliteratur in der Tat nicht geplündert, sondern soll sich geadelt fühlen. Die Entnahme ist ein Akt der Anerkennung, das ›Plagiat‹ ein Ritterschlag. Ich meine das nur wenig ironisch. Es ist ein Akt der Identifizierung, auf die der ›Beraubte‹ stolz sein kann. Denn das Zitat ist immer auch Auswahl und als solche eben Auszeichnung. Und im Übrigen hat Thomas Mann aus seinen Quellen ausnahmslos anderes und mehr gemacht, als die Quelle war, also einen Wert geschaffen, der die Anwendung des Plagiatbegriffs geistig verbietet. Essayistik ist zum einen Kampf um Stimme, um Gehör. Der politische Kampf war auch ein Kampf des Geistes gegen die Politik, jedenfalls die geistlose Politik. Politische Essayistik ist wesentlich Trotz. Sie ist Selbstbehauptung, aber auch Rückeroberung oder Inbesitznahme eines Terrains, das verloren zu gehen droht. Hier geht der Kampf um die Macht in die Ausübung von Macht über. In der Essayistik muss das Richtige und Wichtige gesagt werden. Was nicht gesagt wird, ist, da nicht gesagt, das Unwichtige. Das Richtige und Wichtige aber war am richtigen Ort und zur richtigen Zeit zu sagen, nicht zu spät, nicht zu früh, manchmal als erster, manchmal gerade nicht. Dazu gehört (oder: dies bedingt), dass es am besten gesagt wird, nämlich plastisch, zitierfähig, einprägsam, beeindruckend. Es muss so gesagt werden, dass danach keiner mehr kommen kann, weltniederwerfend, magistral, ein für allemal. Wer das letzte Wort haben will, muss richterlich auftreten. Der Richter beendet den Diskurs, fällt das Urteil. Sein Wort ist kein Beitrag, sondern Entscheid. Roma locuta; Amen. Literaturverzeichnis Mann, Thomas: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 21. Briefe I 1889–1913. Hg. von Thomas Sprecher / Hans R. Vaget / Cornelia Bernini. Frankfurt/M. 2002. Mann, Thomas: Tagebücher [Tb.]. Bd. 1. 1918–1921; Bd. 2. 1933–1934; Bd. 3. 1935–1936; Bd. 5. 1940–1943; Bd. 6. 1944–1.4.1946; Bd. 7. 28.5.1946–31.12.1948; Bd. 10. 1953– 1955. Hg. von Peter de Mendelssohn / Inge Jens. Frankfurt/M. 1977–1995. Mann, Thomas: Die Briefe Thomas Manns. Regesten und Register [Regesten]. Bearb. und hg. unter Mitwirkung des Thomas-Mann-Archivs der ETH Zürich von H. Bürgin / H.O. Mayer. Bd. I–V. Frankfurt/M. 1976–1987. Mann, Thomas: Briefwechsel mit seinem Verleger Gottfried Bermann Fischer 1932–1955. Hg. von Peter de Mendelssohn. Frankfurt/M. 1973.
STEFFEN MARTUS
Die Geistesgeschichte der Gegenwartsliteratur Wissenschaftliche Aufmerksamkeit für Thomas Mann zwischen 1900 und 1933
I. Einleitung Am 3. August 1919, dem Tag der »Jahrhundertfeier«, erhält Thomas Mann den Ehrendoktortitel der Bonner Universität. Mit der Verleihung dieses Titels honoris causa würdigen Universitäten Männer und Frauen, die nicht an ihren Fakultäten promoviert wurden, dies aber offensichtlich verdient haben, und sie würdigen damit zugleich immer auch sich selbst. Entsprechend erkennt die Bonner Universität dem Schriftsteller »die Würde und die Rechte eines Ehrendoktors der Philosophie« wieder ab, als ihr dessen akademischer Titel in der Nazizeit nicht mehr opportun erschien.1 Die Philosophische Fakultät in Bonn zeichnet demnach 1919 eine Person aus, deren Universitätstauglichkeit belegt werden musste. Im Falle Thomas Manns handelt es sich dabei um zweierlei, wie das Promotionsdiplom festhält: Zum einen lobt die Urkunde eine vollbrachte Leistung, nämlich dass Mann »aus innerstem Erleben das Bild unserer Zeit für Mitund Nachwelt zum Kunstwerk gestaltet« habe. Zum anderen legt sie besonderen Wert auf den Habitus von Thomas Mann, darauf also, dass er ein »Dichter von großen Gaben« sei, der »in strenger Selbstzucht und beseelt von einem starken Verantwortungsgefühl« seine künstlerischen Tätigkeiten vollbringe. Die Laudatio fügt dem noch hinzu, dass Thomas Mann an die »vornehmen Überlieferungen der Vergangenheit, wie sie vor allem Goethes Wesen und Wirken verkörpert, als Leitbild« anknüpfe, und dass er vor allem in seinem Roman Buddenbrooks ein Werk geschaffen hat, das nach seinem kulturgeschichtlichen Gehalt wie nach seiner dichterischen Form in Anschauung, Aufbau und Sprache von den besten Kräften deutscher Art und Kunst, die um die
_____________ 1 Zitate hier und im Folgenden nach der Dokumentation in: Hübinger: Mann, S. 370.
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Wende des 19. und 20. Jahrhunderts lebendig waren, den kommenden Geschlechtern Kunde gibt.
Die Laudatio bestimmt das dem Autor konzedierte »Erleben« genauer als Erleben »deutschen Wesens unserer Zeit«.2 Es ist bezeichnend, dass die Lobrede in den Mitteilungen der Literarhistorischen Gesellschaft Bonn abgedruckt wurde und dass darin nachdrücklicher als auf dem Diplom vom »deutschen Wesen« die Rede war: Im Einverständnis mit seinem Lehrer, dem Ordinarius für Neudeutsche Philologie Berthold Litzmann, hatte Ernst Bertram sich mit besonderem Nachdruck für die Auszeichnung seines Briefpartners Thomas Mann engagiert. Paul Egon Hübinger hat gezeigt, dass Litzmann, Teil des rechts-konservativen Lagers der Bonner Professorenschaft, der sich selbst gern als »Soldat des Geistes« verstand, in Thomas Mann vor allem einen politischen Gesinnungsgenossen promovieren wollte.3 Als Thomas Mann in den 1920er Jahren seine Position verschiebt, ist Litzmann zunächst konsterniert, mäßigt dann aber nach der Emeritierung selbst die eigenen politischen Neigungen und lebt in friedlichem Einverständnis in der Nähe Thomas Manns in München.4 Im Folgenden sind diese politischen Motivationen zunächst zweitrangig. Ich will stattdessen nach der Funktion Thomas Manns als epistemisches Objekt5 der Literaturwissenschaft in den Jahren bis 1933 fragen. Welche Erfolg versprechenden Anschlussmöglichkeiten boten sein Werk und seine Person (verstanden als Verkehrssymbol der Kommunikation) für die geistesgeschichtliche Literaturwissenschaft? Mit anderen Worten: Mir geht es um den wissenschaftsgeschichtlichen Status des Autor-Labels6 ›Thomas Mann‹ in dieser Zeit. Dafür sind die Urkunde und die Laudatio zur Ehrenpromotion signifikant, und zwar eben in der Beobachtung von Habitus und Leistung zugleich.7 Ich möchte zeigen, dass ›Thomas Mann‹ für die umstrittenen Positionen auf dem wissenschaftlichen Feld deswe_____________ 2 Hübinger: Mann, S. 370. 3 Ebd., S. 38ff., 83ff. 4 Litzmann bricht schon zuvor den Kontakt zu den Deutschnationalen wegen deren Antisemitismus ab – Litzmanns Ehefrau war Jüdin (Hübinger: Mann, S. 42) – und an seiner Gegnerschaft zu Hitler kann ebenfalls kein Zweifel bestehen (ebd., S. 94). 5 Diesen Begriff verwende ich in Anlehnung an das Konzept des »epistemischen Dings« bei Rheinberger: Experimentalsysteme, S. 18ff.: »Epistemische Dinge sind Dinge, denen die Anstrengung des Wissens gilt« (S. 24). 6 Vgl. dazu Niefanger: Autor, S. 539: »Das Analysieren des Aktantennetzes im Umfeld des empirischen Autors […] ist […] für das Verständnis der Autorfunktion und der Texte unerlässlich. Hierfür sind Begriffe wie Label oder Logo hilfreich […]. Das Autor-Label steht für die Platzierung des Autors im kulturellen Feld […]«. 7 An anderer Stelle habe ich am Beispiel Martin Kessels einen exemplarischen Fall ausführlich untersucht: Martus: Kessel. Die im Folgenden präsentierten Materialien sind als Ergänzung und Fortführung dieser Darstellung zu verstehen.
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gen als Gegenstand geeignet war, weil er eine doppelte Orientierung ermöglichte: Die Wissenschaftsaffinität seines Werks sicherte zum einen neuen Strömungen der Literaturwissenschaft ihre Verbundenheit mit der etablierten Disziplin; die Wissenschaftsdistanz seines Werks sicherte zum anderen umgekehrt ein ausreichendes Maß an Alterität für eine neue Generation von Germanisten.8 II. Thomas Mann als Beobachter der Literaturwissenschaft Wie andere Vorbild-Autoren vor ihm wird Thomas Mann sich selbst schon zu Lebzeiten historisch und verfolgt die literaturwissenschaftliche Aufarbeitung seines Werks mit. Im Vorwort zu der von Klaus W. Jonas herausgegebenen Bibliographie Fifty Years of Thomas Mann Studies von 1955 bemerkt er: »[…] warum sollten wir uns […] nicht der Philologie zuvorkommend erweisen«, wenn man »ins Nachher hinein dauer[t]«, wenn also ein »verwunderlich beharrliches Dasein schon viel vom ›Nachher‹, dem eigentlichen Spielraum der Philologie, angenommen hat […]«.9 Dies fällt den Beobachtern schon früh auf: Der Thomas-Mann-Biograph Arthur Eloesser bemerkt, dass Thomas Mann nicht allein immer schon sein eigener Biograph gewesen sei, sondern dass der Autor darüber hinaus »dem Kritiker, dem Literarhistoriker vieles vorweggenommen« habe, »weil er wie wenige geneigt und geübt ist, sich selbst historisch zu nehmen und seine Ursprünge zu ergründen, die ihm Ziel und Wirkung gaben«.10 Das Besondere an Autoren wie Thomas Mann ist indes, dass sie der ersten Generation angehören, die unter Bedingungen einer institutionalisierten neueren deutschen Philologie und Literaturwissenschaft zu arbeiten beginnen. Wenn Mann deswegen schon relativ früh (1904/05) schreibt, er sei »noch [!] nicht so weit […], daß bessere Psychologen genötigt wären, sich mit mir zu beschäftigen […]« (GKFA 14/1, S. 73), oder er sich für einen Dichterkandidaten hält, »der in die Literaturgeschichte kommt« (ebd., S. 91), dann kann man daran die Relevanz einer neuen Umwelt für das literarische Feld erkennen. Bezeichnenderweise nehmen bereits in den 1910er und 20er Jahren die Briefwechsel Manns mit Germanisten auffällig zu. Dies gehört, wie man es gut »Aschenbachisch« formuliert hat, zur »Ruhmesverwaltung«, der sich Thomas Mann »mit Umsicht, Geschick und Erfolg widmete« (GKFA 22, _____________ 8 Vgl. zur »doppelten Optik« in Bezug auf das Verhältnis von literarischem und pädagogischem Feld: Kämper-van den Boogaart: Kanonizität – hier insbesondere zur Leserausbildung, von der auch der literaturwissenschaftliche Habitus zehrt: ebd., S. 329. 9 Jonas: Fifty Years, S. XIII. 10 Eloesser: Mann, S. 18f.
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S. 12f.). Mit einem anderen Wort Thomas Manns: Die Vermittlung des eigenen Werks an die Literaturwissenschaft gehört zur »Selbstkanonisierung« des Autors (so über Tolstoi [GKFA 15/1, S. 827]). Tatsächlich korrespondiert und bespricht sich Thomas Mann mehr oder weniger ausführlich nicht nur mit Ernst Bertram oder Berthold Litzmann, sondern auch mit akademischen Qualifikanten: Er lässt ihnen »Zeichen der Aufmunterung […] schriftlich zukommen«, wie etwa Martin Kessel bemerkt;11 er unterstützt sie mit Materialien, korrigiert ihre Interpretationen, bestimmt die Forschungslage12 und die Qualität der vorliegenden Sekundärliteratur zu seinem Werk und seiner Person;13 und er gibt Auskünfte – Hans A. Peter kann so zum Beispiel in seiner Dissertation Thomas Mann und seine epische Charakterisierungskunst aus Briefen des Autors zitieren, um die Intentio Auctoris zu klären.14 Zu seinen Briefpartnern gehören aber nicht nur Studierende, sondern auch die Elite der damaligen Literaturwissenschaft, Harry Maync etwa, Julius Petersen oder Fritz Strich. Mit den Großordinarien der Münchner Universität geht Thomas Mann wie selbstverständlich persönlich um – Franz Muncker hält eine der Laudationes auf der Feier zum 50. Geburtstag des Schriftstellers, und Munckers Nachfolge wird geregelt unter massiver Einflussnahme unter anderem von Thomas Mann, den etwa Julius Petersen oder Rudolf Borchardt als Strippenzieher im Visier haben.15 Von Thomas Mann aus gesehen hängen diese Verbindungen zwischen dem literarischen und dem literaturwissenschaftlichen Feld meines Erachtens damit zusammen, dass – kurz gefasst – die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit Werk und Person zu einer schon früh zunehmend relevanten Umwelt für die literarische Produktion wird. Spätestens seit 1906 taucht Thomas Manns Name in Literaturgeschichten auf, seit 1909 in literaturgeschichtlichen Lexika und Nachschlagewerken.16 Gleichzeitig erscheinen Studien in wissenschaftlichen Zeitschriften.17 Dissertationen _____________ 11 Kessel: Studien, S. 3. 12 Thomas Mann schreibt Kessel 1923 »freundlich« und bemerkt, seines Wissens nach sei »nicht über Novellistik ›speziell‹ gearbeitet worden« (so in einem nicht genau datierbaren Schreiben an Richard Gabel, vermutlich von 1923, das im Deutschen Literaturarchiv in Marbach aufbewahrt wird mit der Signatur: DLA, Nachlass Martin Kessel, 73.431/2; vgl. Martus: Kessel, S. 79). 13 Auf Bertrams Nietzsche weist er immer wieder hin, wohingegen ihm beispielsweise die Studien von Wilhelm Alberts (Thomas Mann und sein Beruf. Leipzig 1913) oder Franz Leppmann (Thomas Mann. Berlin [1916]) als »inferior« gelten (GKFA 22, S. 365). 14 So im Blick auf die Bedeutung der Vignette auf den Gesammelten Werken (Peter: Mann, S. 31, auch S. 37). 15 Osterkamp: »Verschmelzung«, S. 351f. 16 Matter: Die Literatur, S. 110ff., 127ff. 17 Den Anfang macht Schmitt: ›Leben als Form‹ (1906).
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über das Werk stammen allerdings erst aus den 20er Jahren. Von 192118 an folgen in dem von mir untersuchten Zeitraum bis 1933 beinahe in jedem Jahr eine oder mehrere Qualifikationsschriften zu Thomas Mann und seinem Werk,19 betreut von renommierten Literaturwissenschaftlern wie Walther Brecht, Emil Ermatinger, Franz Muncker, Harry Maync, Josef Nadler, Hans Naumann, Franz Schultz oder Oskar Walzel.20 Dass die Promotionskandidaten ihnen immer wieder für Hinweise oder für die Themenstellung danken, gehört sicherlich zum guten Ton in den Lebensläufen, die im Rahmen des Prüfungsverfahrens geschrieben werden. Bisweilen aber ist dahinter mehr als nur eine Reverenz an den Doktorvater zu vermuten. So etwa im Fall Hanne Backs, die 1922 in Wien mit einer Studie über Verfall und Überwindung im Werke Thomas Manns promoviert und dabei Walther Brecht für »vielerlei Anregungen zu meiner Dissertation« dankt,21 oder im Fall Oskar Janckes, der 1921 in München über Das analytischkritische Schaffenselement im Werke Thomas Manns promoviert und sich Franz Muncker für »manche Belehrung für meine Arbeit« verpflichtet weiß.22 Bei aller literaturwissenschaftlichen Prominenz, die sich auf diese Weise um Manns Werk gruppieren lässt, wird man indes nicht übersehen dürfen, dass eine Promotion über diesen Autor zu dieser Zeit keine Karriere im wissenschaftlichen Feld befördert hat. Zu dieser offensichtlichen Relevanz der Literaturwissenschaft als Umwelt von Literatur kommt ein weiteres Moment hinzu, das die Verbindungen zwischen dem literarischen und dem literaturwissenschaftlichen Feld verstärkt: die Wissenschaftsgeschichte der Gegenwartsliteratur – ich werde darauf später zurückkommen. Die Geschichte der literarischen Gegenwart beginnt ›um 1900‹ und ebnet – unter Einfluss der geistesgeschichtlichen Abwendung vom Schreckbild des Positivismus und einer bloß philologischen Literaturpflege – einer ganzen Reihe von Autorinnen und Autoren den Aufstieg (oder je nach Perspektive: Abstieg) von der Gegenwartsliteratur zur Literaturgeschichte. In diesem Zusammenhang ist hier beispielsweise zu erinnern an Oskar Walzels Bezugnahmen auf Georg Trakl, _____________ 18 Jancke: Schaffenselement (1921); Kollmann: Manns Wesen (1921); Back: Mann (1922). 19 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Helbling: Mann (Diss. 1922); Kessel: Studien (Diss. 1923); Wolffhardt: Das Symbolische (Diss. 1923); Kast: Kritische Kunst (Diss. 1926); Jacob: Mann (Diss. 1926); Laxy: Kaufmannsroman (Diss. 1927); Hoeller: Studien (Diss. 1928); Peter: Mann (Diss. 1929); Untermann: Das Groteske (Diss. 1929); Erlacher: Untersuchungen (Diss. 1932); Kasdorff: Todesgedanke (1932); Biltz: Problem (Diss. 1932); Hamburger: Mann (1932); Meyer: Novellen (Diss. 1933). Meine Auflistung in Martus: Kessel, S. 65–108, S. 82f., ist folglich unvollständig, was allerdings die dort entfaltete Argumentation nicht berührt. 20 Vgl. für die folgende Zeit exemplarisch Jonas: Mann, S. 97–147, 217–232. 21 Ms. in den Rigorosumakten des Archivs der Universität Wien (Nr. 5246). 22 Ms. in den Rigorosumakten des Universitätsarchivs der Ludwig-Maximilians-Universität München (Signatur: O – II – 9p [Jancke]).
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Ricarda Huch, Fritz von Unruh oder Theodor Däubler, an Rudolf Ungers Interesse an Isolde Kurz, an Georg Lukács’ und Paul Kluckhohns Affinität zu Paul Ernst, an Walther Brechts und Josef Nadlers Engagement für Hugo von Hofmannsthal oder an Robert Petschs Beschäftigung mit Wilhelm Schäfer und Agnes Miegel.23 Thomas Mann selbst hat diese Verschiebungen auf dem literaturwissenschaftlichen Feld genau beobachtet. Neben den kulturtheoretischen Arbeiten von Spengler, Keyserling oder Pannwitz gelten ihm auch die Werke aus der jüngeren Germanistengeneration wie Friedrich Gundolfs Goethe oder Ernst Bertrams Nietzsche als Symptome einer neuen Aufmerksamkeitskultur. Deren Textumgangsformen bringen kritische Urteile zum »verstummen«, wie es anlässlich der Anzeige von Conrad Wandreys Fontane-Studie heißt (GKFA 15/1, S. 267).24 Diese Arbeit hält Thomas Mann im übrigen, »rein als Faktum«, für »erfreulich«, indem sie »bekundet, daß einem strengerzogenen Kunstbetrachter und Angehörigen der jüngsten Literaturgelehrten-Generation das Leben und Werk des Alten als ein würdiger, ein lebensunmittelbarer, kulturwichtiger Gegenstand erschien« (ebd., S. 263). Für Mann zeigen Bertrams Nietzsche und Gundolfs Goethe, »auf welcher Stufe hoher Kultur, Intuition und Geistigkeit unserer Literarhistorie doch angekommen ist«.25 Schließlich sieht Thomas Mann sehr genau, wie sich in einer Germanistik, die auf ›Intuition‹ basiert und die sich für den ›Lebenswert‹ von Kultur interessiert, die Sphären von Kunst und Wissenschaft einander annähern: Die »Wissenschaftskünstler« – gemeint ist Harry Maync – der neuen Generation zeigen die »Verschmelzung der kritischen und der dichterischen Sphäre« an; sie stehen exemplarisch für den »Prozeß« ein, »der die Grenzen der Wissenschaft und Kunst verwischt, den Gedanken erlebnishaft durchblutet, die Gestalt vergeistigt« – so Thomas Mann im ersten seiner Briefe aus Deutschland (ebd., S. 568).26 Wenn Thomas Mann daher 1925 das »unbefangen moderne Gewand, die philologiefreie Art der Darreichung« einer Edition von Goethes Wahlverwandtschaften lobt, dann ist die für ihn dadurch geschaffene »Möglichkeit«, den Roman »jugendlich unmittelbaren und unhistorischen Auges zu betrachten […]« (ebd., S. 964), keine Negation des literaturwissenschaft_____________ 23 Beispiele bei Müller-Seidel: Literaturwissenschaft, S. 141; König: »Verbündung«, S. 157ff., 162; Schmitz: Walzel, S. 117. 24 Das bedeutet nicht, dass die – ja gerade auf Wertung abstellende – geistesgeschichtliche Germanistik auf Kritik von Autoren und Werken verzichten würde. Thomas Mann selbst kritisiert seinerseits Wandreys kritische Bemerkungen zu Fontane (z.B. GKFA 15/1, S. 269, 273). Aber sie hat eine Reihe von Möglichkeiten, Tadel in Bestätigung zu verwandeln (s.u.). 25 Brief an Bertram, 21.9.1918 (Mann: Mann an Bertram, S. 78). 26 Vgl. dazu Osterkamp: »Verschmelzung«, S. 361.
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lichen Umgangs mit Literatur an sich. Vielmehr stimmt seine Absicht aufs Überhistorische und auf den ›Lebenswert‹ von Literatur überein mit der literaturwissenschaftlichen Selbstkritik, die sich in der Ablehnung eines zum Popanz aufgebauten Positivismus ausdrückt. Das Beobachtungsprogramm von Thomas Manns Nachworts klingt wie eine Vorwegnahme der Anmutungsästhetik Emil Staigers: »[…] diese Zeilen […] wollen […] dem Erfüllten, der von der Lektüre kommt, kameradschaftlich ein wenig Ausdruck an die Hand geben, der seiner Ergriffenheit allenfalls etwas helfen kann, zu sich selber zu kommen«. Zu dieser Art der Philologie, eben zu einer Art von »Liebesdienst« am Wort, sieht Thomas Mann den »Schriftsteller unter den Menschen ganz wesentlich berufen« (ebd., S. 966). Freilich: Bei aller Annäherung oder gar »Verschmelzung« von Wissenschaft und Kunst müssen Äußerungen im Rahmen von Philologie und Literaturwissenschaft sich auf wissenschaftsfähige Objekte beziehen und entsprechende Darstellungsverfahren zur Anwendung bringen. Der Gegenstand wissenschaftlicher Aufmerksamkeit muss so beschaffen sein, dass sich eine Komplexität der Beobachtungsleistung behaupten lässt, die den akademisch instruierten Blick vom Blick der Normalleser und der Literaturkritiker unterscheidet. Dies wird umso wichtiger, als spätestens seit Wilhelm Scherers Renovierung der Literaturwissenschaft die Wissenschaftlichkeit nicht mehr durch den Gegenstand gesichert werden kann, durch dessen Fremdartigkeit oder Unzugänglichkeit. Das Spezifische der literaturwissenschaftlichen Kompetenzen muss durch einen methodischen Zugriff gewährleistet werden. Wichtig ist dabei, dass Scherer genau zum Zeitpunkt ihrer Autonomisierung die deutsche Literaturwissenschaft zum literarischen und zum politischen Feld hin öffnet. Er widmet seine Idee der Philologie der Ausbildung einer nationalen Ethik und fordert von der literaturwissenschaftlichen Darstellung Kunstwerkcharakter.27 Thomas Mann bietet sich in dieser Situation – so meine These – einer neuen Generation von Literaturwissenschaftlern als ein idealer Gegenstand an – ich ordne sie vorläufig der so genannten ›Geistesgeschichte‹ zu. Es geht dabei einerseits um die Markierung der Wissenschaftstauglichkeit des Objekts und damit um die Anschlussfähigkeit des eigenen geistesgeschichtlichen Vorgehens im wissenschaftlichen Feld. Andererseits soll das Innovationspotential des neuen ›Gegenstandes‹ verhindern, mit der etablierten Form von Wissenschaft verwechselt zu werden. In einer doppelten Bewegung der Annäherung an das ›Leben‹ und der Distanzierung vom ›Leben‹ sollen also die Gewichte im wissenschaftlichen Feld verschoben werden. _____________ 27 Vgl. dazu Martus: »Philolog«.
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III. ›Thomas Mann‹ als epistemisches Objekt An der oben zitierten Begründung für die Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Universität Bonn lassen sich idealtypisch Merkmale eines epistemischen Objekts in der Literaturwissenschaft ablesen. Vier Momente sind dabei im Blick auf Thomas Mann von besonderer Bedeutung: 1. die Legitimation wissenschaftlicher Arbeit durch die Arbeitsleistung auf Seiten des ›Gegenstands‹; 2. die Stimulation wissenschaftlicher Handlungsweisen im Verkehr mit dem ›Gegenstand‹; 3. die psychische und materielle Eignung des ›Gegenstands‹ für wissenschaftliche Textumgangsformen; 4. die Historisierbarkeit und damit ›Objektivierbarkeit‹ des ›Gegenstands‹. Ich halte lediglich einige wenige Beobachtungen zu diesen Merkmalen fest, die einen ›Gegenstand‹ zum ›Gegenstand‹ der Literaturwissenschaft prädestinieren. Dabei soll deren funktionaler Wert für einige symptomatische Einblicke in die frühe Thomas-Mann-Forschung deutlich werden: 1. Zu einem epistemischen Objekt der Literaturwissenschaft zählt die Investition von Arbeit in ein Werk, dem dann legitimerweise die Arbeitsleistung von Interpreten korrespondieren kann (Thomas Mann, so die bereits zitierte Begründung zur Verleihung der Ehrendoktorwürde, sei ein »Dichter von großen Gaben«, der »in strenger Selbstzucht und beseelt von einem starken Verantwortungsgefühl« seine künstlerische Tätigkeiten vollbringt)28: Demnach findet Thomas Manns Diagnose einer wechselseitigen Annäherung von Kunst und Wissenschaft in der Literaturwissenschaft Resonanz. Die dem Stil ablesbare Absicht auf die detaillierte und genaue Charakterisierung der Figuren steht daher immer wieder im Zentrum der Arbeiten zu Thomas Mann, die man dem wissenschaftlichen Feld zurechnen kann. Dies liegt nicht zuletzt an der »Studienhaltung« des Autors, einer »der Wissenschaft« im Gefolge des Naturalismus »verpflichtete[n]« Genauigkeit der Darstellung.29 Einen der ersten Texte, der diese Arbeitsethik literarischer Produktion biographisch ausformuliert, verfasst Thomas Mann auf Wunsch der Mitteilungen des Literarhistorischen Vereins Bonn. Darin begründet er die »Langsamkeit« seiner Werkherstellung auf zweifache Weise: zum einen mit der Komplexität des musikalischen Netzwerkes von Leitmotiven, zum anderen mit einem »außerordentlich lebhafte[n] Verantwortlichkeitsgefühl bei der Wahl jedes Wortes, der Prägung jeder Phrase, ein Verantwortlichkeitsgefühl, das nach vollkommener Frische verlangt und mit dem man nach der zweiten Arbeitsstunde lieber keinen irgend wichtigen Satz mehr un_____________ 28 Hübinger: Mann, S. 370. 29 Kessel: Studien, S. 13.
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ternimmt« (GKFA 14/1, S. 172). Bezeichnenderweise wird dieser Passus in den frühen Thomas-Mann-Studien immer wieder zitiert.30 Wo dies nicht der Fall ist, dient die Arbeitsethik der Sache dazu, Thomas Mann als einen ›bemerkenswerten‹ Gegenstand aufzuwerten.31 In diesen Zusammenhang gehört dann auch die spezifische Visibilisierung der Arbeitsleistung über die Verzeitlichung des Kunstwerks: Georg Simmel entwickelt ›um 1900‹ eine »Philosophie der Arbeit«, die die quantitative Bestimmung von Leistung auch im Fall »geistiger Arbeit« darüber gewährleistet, dass die Vorgeschichte eines Werks in die Berechnung einbezogen wird.32 Für die Analyse von dichterischer Arbeit ist das auf vielfältige Weise von Bedeutung, insbesondere bei Werken, denen – anders als etwa den Romanen Thomas Manns – nicht schon am bloßen Umfang die Energieinvestition abgelesen werden kann.33 Gleichwohl werden auch auf ihn immer wieder verzeitlichende Visibilisierungsverfahren angewendet. Dazu zählt insbesondere die Gedankenfigur, Novellen als »Vorstudien« zu großen Romanen zu verbuchen34 und damit in das Werk jene Varianten einzutragen, die es selbst nicht hat und die zur Entfaltung historisch-kritischer Kompetenzen wichtig sind.35 Thomas Mann selbst hatte diese Perspektive angemahnt. In seinem Aufsatz über Gabriele Reuter (1904) heißt es dazu beispielsweise: »Es gibt ein trauriges Künstlerschicksal, vor dem jeder sich fürchten muss, dem es auch nur von weitem droht: nämlich bis zum Tode und in die Unsterblichkeit hinein der Autor eines erfolgreichen Erstlingswerkes zu bleiben« (GKFA 14/1, S. 61). Und in Bilse und Ich fordert er die Einbeziehung »frühere[r] Arbeiten«, um einen »Dichter« zu sehen, »der an sich arbeitet« und eine »Leistung« vollbringt (ebd., S. 105). Dies dient Mann zur Visibilisierung von »Selbstzucht«, mithin zur Markierung jener »Studienhaltung« des Autors und seiner Arbeitsethik, der – wiederum in den Worten Martin Kessels – neben der »Liebe z[ur] Nuance« das Verfahren des »Typisie-
_____________ 30 Z.B. Leppmann: Mann, S. 87; Havenstein: Mann, S. 88; Biltz: Problem, S. 48. 31 Z.B. bei Meyer: Deutsche Literatur (1921), S. 613; Leppmann: Mann, S. 9; Back: Mann, S. 7; Leyen: Dichtung (1922), S. 281; Strich: Mann, S. 162–178 (zuerst in der Neuen Rundschau, 1925); Erlacher: Untersuchungen, S. 18ff. Vgl. ausführlich zum wissenschaftshistorischen Status der Beobachtung der »Technik« Thomas Manns Martus: Kessel, S. 71ff.; insbes. zu Königliche Hoheit vgl. Schütz: »Ende«, S. 60f. 32 Simmel: Philosophie, S. 427. 33 Vgl. zu Stefan George Martus: Georges Poetik (im Druck). 34 So Bertram: Mann, S. 206. 35 Vgl. zu Kessel Martus: Kessel, S. 86; vgl. auch Bertram: Mann, S. 206; Back: Mann, S. 30; Havenstein: Mann, S. 119 (sich auf ein Thomas-Mann-Diktum berufend); Franz Munckers Laudatio zum 50. Geburtstag des Dichters (Schröter: Mann, S. 134).
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ren[s]« korrespondiert.36 Auch damit bietet sich Thomas Mann den Vorgehensweisen der geistesgeschichtlichen Literaturwissenschaft an. 2. Zu einem epistemischen Objekt der Literaturwissenschaft zählt die hinreichende Markierung formaler und inhaltlicher Eigenheiten, an denen geistesgeschichtliche und stilanalytische Instrumentarien zum Einsatz gebracht werden können (Thomas Mann habe ein »Werk geschaffen […], das nach seinem kulturgeschichtlichen Gehalt wie nach seiner dichterischen Form in Anschauung, Aufbau und Sprache von den besten Kräften deutscher Art und Kunst, die um die Wende des 19. und 20. Jahrhunderts lebendig waren, den kommenden Geschlechtern Kunde gibt«)37: Immer wieder betonen Studien zu Thomas Mann die »überscharfen Umrisse« seiner Schreibweise,38 insbesondere seiner Charakterisierungskunst. Wie er selbst in Mein Verhältnis zur Psychoanalyse (1926) richtig bemerkt, zählt dabei die Arbeit an der Erkenntnis des Künstlertums zu den Umständen, denen er »es zweifellos zu danken ha[t], daß [s]einen Schriften von jeher eine gewisse charakteristische Aufmerksamkeit und kritische Vorliebe von seiten der analytischen Gelehrtenschule zuteil wurde« (GKFA 15/1, S. 990). Von besonderer Bedeutung dürfte dafür das Verfahren der Typisierung und der Antinomisierung sein, etwa die starke Markierung von Leitmotiven, die dann in literaturwissenschaftlichen Studien abgeholt werden – ›um 1930‹ erfreut sich beispielsweise das Todesmotiv in der Germanistik einer gewissen Beliebtheit (z.B. ebd., S. 556ff., 758, 761, 988, 1001).39 Zu diesem Verfahren der Selbstzurichtung gehört aber vor allem auch das Netz von Gegensätzen, das Thomas Mann über sein Werk wirft (zwischen Künstler und Bürger, zwischen Kultur und Zivilisation [z.B. GKFA 14/1, S. 213f.] oder Naivem und Sentimentalischem [z.B. GKFA 15/1, S. 288]40). Die Dualismen und Antinomien Thomas Manns dienen den Analysen seines Werks als verhältnismäßig leicht erkennbares Raster, an dem sich die wissenschaftliche Aufmerksamkeit festsetzen kann. Zudem bildet Thomas Mann auch die Konstellation seines Gesamtwerks über solche antinomischen Gedankenfiguren, wenn ein Werk als »Gegenstück« zu einem anderen figuriert (so z.B. in Bezug auf das Verhältnis von Königliche Hoheit zum Felix Krull-Projekt [GKFA 14/1, S. 275]). Thomas Mann jedenfalls fügt der Essayfassung von Goethe und Tolstoi (1925) nicht umsonst die Rubrik »Problematik« hinzu (GKFA 15/1, S. 870). Und mit gutem Grund nennt umgekehrt Ernst Bertram seinen _____________ 36 37 38 39 40
Kessel: Studien, S. 13. Hübinger: Mann, S. 370. Bertram: Mann, S. 203. Z.B. Kasdorff: Todesgedanke; Hamburger: Mann, S. 9; Nolte: Todesbegriff. Zum Schillerschen Gegensatzpaar vgl. z.B. Havenstein: Mann, S. 1f.; Peter: Mann, S. 1.
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späteren Briefpartner schon früh einen »Problemkünstler«, und dies »im extremsten Sinn«. Für die Wesensschau der geistesgeschichtlichen Germanistik bedeutet dies: Manns literarische Verfahren leisten selbst schon jene »Typisierung«, auf die die Literaturwissenschaft zielt; und seine Werke lassen sich, mit welchem Recht auch immer, leicht auf einen Nenner bringen – für Bertram sind »alle Schöpfungen« Thomas Manns nur »Masken« oder »Paraphrasen« des »einen Themas«, nämlich des ausgestoßenen, stigmatisierten »erkennenden und darstellenden Menschen«.41 Dies ist freilich nicht unumstritten: Emil Ermatinger findet beispielsweise, dass es bei Thomas Mann zwar viele Probleme, aber keine echte »Problemdichtung« mehr gäbe.42 Dieser Mängelbefund ist indes vielleicht weniger bedeutend als die Tatsache, dass man sich überhaupt so engagiert mit den ›Problemen‹ oder der ›Problemgeschichte‹ von Dichtung beschäftigt hat. Wie wichtig Thomas Manns Selbstpräparierung als Problemdichtung war, sieht man nicht nur an Käte Hamburgers Studie über Thomas Mann und die Romantik43, sondern vor allem an der in dieser Hinsicht besonders kuriosen Untersuchung von Max Kapp über Thomas Manns novellistische Kunst bzw. – wie der Untertitel lautet – über Ideen und Probleme, Atmosphäre und Symbolik seiner Erzählungen (1928): Auch Kapp geht von der Beobachtung der »geradezu fanatisch selbstquälerische[n] Zucht und Strenge des Ausdrucks« bei Thomas Mann aus und sieht darin den Grund für »jenen überwältigenden Eindruck unerhörter Geschlossenheit, Klarheit, Durchsichtigkeit und Prägnanz«, den das »Gesamtwerk Thomas Manns« vermittle:44 Hinter dem organisierenden Gegensatz von Künstler und Bürger stehe nämlich auch der »Gegensatz des Apollinischen und Dionysischen, also zweier Weltsysteme, deren Polarität gleichbedeutend ist mit dem Gegensatz alles Geistes und alles Lebens«.45 Man sieht also, wie Thomas Mann mit seiner Vorliebe für Dualismen die Sehnsucht nach ordnenden Grundproblemen bedient, die ›hinter‹ den vielen Äußerungen stehen und sich letztlich auf ein universales Menschheitsproblem zurückführen lassen: »Denn wo immer unter Menschen zwei Daseinsgegensätze begegnen, stets handelt es sich letzten Endes einzig und allein um diesen Gegensatz« von »Künstlerische[m] und Bürger_____________ 41 Bertram: Mann, S. 205. 42 Ermatinger: Krisen, S. 70f., 73. 43 Hamburger: Mann. Hier geht es methodisch vor allem – als Novum – um die Trennung von »Problemerlebnis und Problemsymbol« (S. 2) sowie nachfolgend darum, dass »diese Grundprobleme [romantischer Dichtung, S. M.], die das Werk Thomas Manns gestalten, in eine romantische Sphäre des Denkens führen […]« (S. 5). 44 Kapp: Kunst, S. 5, auch S. 77. 45 Ebd., S. 10.
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liche[m]«.46 Daraus entwickelt Kapp dann eine wahre Ideen- und Problem-Orgie: Er identifiziert eine »Grundidee« und davon abgeleitete »Tochterideen«; er findet ein zentrales »Problem«, dann nachfolgend eine Reihe von »Hauptproblemen« (»1. Das Problem des Verfalls, 2. das Problem des Künstlertums, 3. das Problem der Erkenntnis« sowie ein »Grundproblem«, nämlich das »Problem der Schönheit«). Schließlich erklärt er alle Werke zu »Fragmente[n] zum Problem der Humanität«.47 In einem Brief, der 1928 im Obelisk-Almanach auf das Jahr 1929 veröffentlicht wird, bemerkt Thomas Mann dazu: »Die Arbeit ist mit so viel warmer und eindringlicher Teilnahme an meiner geistigen Existenz geschrieben, daß es mir eine wahre Freude war, sie zu lesen« [Regesten I, 28/132]. 3. Zu einem epistemischen Objekt der Literaturwissenschaft zählt die überlieferungswerte Verbundenheit des Schriftstellers mit seiner Zeit, die in den Begriffen des ›Erlebens‹ und der ›Gestaltung‹ kondensiert (Thomas Mann habe »aus innerstem Erleben das Bild unserer Zeit für Mit- und Nachwelt zum Kunstwerk gestaltet«)48: Durch seine Problemorientierung erfüllt das epistemische Objekt ›Thomas Mann‹ eine doppelte Funktion für die geistesgeschichtliche Literaturwissenschaft. Zum einen bedient es das transhistorische Interesse am ›Leben‹ – die »vielbesprochene und völlig persönliche Technik Manns«, so Ernst Bertram, ziele immer auf »Sinnbild und Blickvertiefung«; seine Werke gelten dem Literaturwissenschaftler nicht zuletzt deswegen als »hohe Zeugnisse der bleibenden deutschen Dichtung«.49 Aber neben der Typisierung und damit Enthistorisierung des epistemischen Objekts steht dessen Historisierung: Das Ineins von Vergeschichtlichung und überzeitlicher Geltung dient der geistesgeschichtlichen Literaturwissenschaft dazu, ihre spezialistischen Textkompetenzen durch historische Denkformen auszustellen, ohne sich dadurch dem Verdacht des bloßen ›positivistischen‹ Historismus auszusetzen. Sie beweist genug disziplinäre Affinität, um zur Wissenschaft zu gehören; und sie zeigt ausreichend disziplinäre Innovationsfähigkeit, um die Gewichte auf dem wissenschaftlichen Feld zu verschieben. Hans R. Vaget hat für Thomas Manns Selbstdarstellung die treffende Formel von der »einzelgängerischen Repräsentativität« gefunden.50 In der Tat ist beides für Thomas Mann wie für die geistesgeschichtliche Vorgehensweise gleichermaßen wichtig: Das »Ich« wird für Thomas Mann zu einer »kulturelle[n] Aufgabe«, wie es in Goethe und Tolstoi heißt; »Selbst- und Menschenbildung« sollen in eins fallen (GKFA 15/1, S. 394, vgl. auch _____________ 46 47 48 49 50
Kapp: Kunst, S. 8. Ebd., S. 44ff., 77. Hübinger: Mann, S. 370. Bertram: Mann, S. 209, 211. Vaget: Mann, S. 432.
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S. 484f.) und damit jene Repräsentativität erzeugen, an der Thomas Mann schon früh gearbeitet hat (z.B. GKFA 14/1, S. 114). Eben diese bewusste Imagebildung verbucht die geistesgeschichtliche Germanistik nicht als strategische Handlung, sondern – wie im Fall der dichterischen ›Arbeit‹ – als Pendant und Spiegelbild ihrer eigenen kognitiven Investitionen: Manns Gestaltungskraft gilt als Beleg der ›Bewusstheit‹ einerseits, der ›Beseelung‹ andererseits und damit als Zeichen der ›Geistigkeit‹, die ihn zum Objekt der Geisteswissenschaft prädestiniert (z.B. GKFA 14/1, S. 100 oder GKFA 15/1, S. 279).51 Es wirkt geradezu wie eine Einladung an die Geisteswissenschaften, wenn Thomas Mann immer wieder mit jenem Konzept des ›Erlebnisses‹ hantiert (z.B. GKFA 14/1, S. 18, 101 oder GKFA 15/1, S. 362), das ihm schon früh von der Literaturkritik angepasst worden ist.52 In der geistesgeschichtlichen Fassung fügt sich aus diesem Zusammenhang von schöpferischer Vitalität und gestalterischer Zielstrebigkeit ein stimmiges Bild: Mann ist Teil einer Geschichte romantischer Autorschaft, die – wie er selbst sagt – im Kern aus dem »Wissen vom Dichterischen« erwächst (GKFA 14/1, S. 228) und einer »ausgemacht intellektualistische[n] Kunst- und Geistesschule« zugehört (GKFA 15/1, S. 544, vgl. auch S. 773). Wenn in einer Variation dieses Modells beispielsweise Käte Hamburger beweist, dass Thomas Manns »Grundproblem« zutiefst romantisch, mithin »reflektorisch-intellektualistisch« angelegt sei, dann will sie zwar gegen den Autor und dessen Selbstfiliation über das Dreigestirn Schopenhauer – Wagner – Nietzsche angehen;53 sie übersieht dabei aber geflissentlich, dass sie nicht weniger den Vorgaben ihres Gegenstandes folgt. Erneut könnte sich die philologische Wiederholung von Thomas Manns Selbsterklärungen sagen lassen: »[…] es ist eigentlich […] unnötig, da man es auf keinen Fall besser, richtiger und vor allen Dingen schöner sagen kann als er«.54 Entscheidend und symptomatisch ist gleichwohl, wie eng sich bei Hamburger die literaturwissenschaftliche Beobachtung mit dem literarischen Gegenstand verbindet, ohne dass das eigene Vorgehen dadurch irritiert würde: Zunächst geht es ihr um die »Grundstruktur des Denkens von Thomas Mann als eine im echten Sinne romantische« – auf diese Weise will sie den »modernen Dichter in einen geistesgeschichtlichen Zusam_____________ 51 Wiederum aus der bipolaren Spannung ist es zu verstehen, wenn Thomas Mann »Geist« nicht intellektualistisch, sondern als »Affekt, der zugleich Gefühl und Gedanken ist«, bestimmt (GKFA 15/1, S. 47 – so in Gute Feldpost von 1914). 52 Vgl. Kurt Martens’ Rezension der Buddenbrooks (Schröter: Mann, S. 19) – hier auch entsprechende Hinweise auf die auffälligen Merkmale des Personalstils sowie auf die Arbeitsleistung von Mann (auch ebd., S. 22, sowie das frühe Porträt Thomas Manns von Otto Grauthoff: ebd., S. 25). 53 Hamburger: Mann, S. 5, 7, 8, 10. 54 Kast: Kunst, S. 11.
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menhang einordnen, um ihn aus diesem heraus selbst zu verstehen«, und weist entsprechend die Anforderungen der »philologischen Akribie« ab.55 Den Zuordnungsstandards könne man im Normalfall deswegen nicht gerecht werden, weil Dichter sich selbst gemeinhin nicht historisch sehen. Aber auch dies verhält sich bei Thomas Mann anders: Wenn wir nach diesem Vorbehalt, den wir auf Grund unserer Voraussetzungen machen zu dürfen glauben, nun dennoch auch philologischer Genauigkeit bis zu einem gewissen Grade gerecht werden können, so ist das darum möglich, weil Thomas Mann selbst ein eminent geistesgeschichtlich eingestellter Mensch und als solcher eifrig bemüht ist, die geistigen Mächte zu erkennen und zu benennen, die sein Wesen bestimmt haben, die geistige Situation der Epoche zu durchleuchten, aus der heraus er sich selbst versteht und verstanden wissen will.56
Nur nebenbei: Diese Ableitung der methodischen Orientierung von der Eigenart des Gegenstands kann auch antiphilologische Konsequenzen haben. So bemerkt Walther Brecht in seinem Gutachten zur Dissertation von Erich Kollmann, die 1926 an der Universität Wien eingereicht wird, dass die Arbeit insofern nicht den üblichen Maßstäben des wissenschaftlichen Arbeitens folge, »als vom Verfasser des Gesamtwerks, nicht vom Werke und seiner Interpretation ausgegangen wird. Dieser Weg ist indessen hier zulässig und nahe liegend, da der Verfasser, Th. Mann, nicht nur in seiner Eigenart sehr bekannt ist, sondern sich auch selbst über sein Leben und Schaffen oft und ausführlich geäußert hat«.57 Für Hamburger ist bemerkenswert: Wie andere Germanisten ihrer Zeit entdeckt sie den literaturgeschichtlichen Vorlauf der eigenen Wissenschaftsgeschichte.58 Bei der genannten »subjektivistisch-historischen Ein_____________ 55 Hamburger: Mann, S. 4. 56 Ebd., S. 6. Thomas Mann schreibt ihr in seinem Brief vom 10.9.1932, in dem er sich für Hamburgers Studie bedankt: »Besonders merkwürdig und erfreulich war mir Ihre Beobachtung meiner eigenen geistesgeschichtlichen Interessiertheit. Dies hängt mit einem gewissen aristokratischen Instinkt zusammen, den Goethe kennzeichnet und fordert, wenn er sagt: ›Ein Künstler muß wissen, woher er kommt.‹ Goethe – Sie notieren gewiß mit Recht meine Zugehörigkeit zum ›sentimentalischen‹ Gegentyp. Und doch – lassen Sie es mich dem kritischen Freundesgeist unter vier Augen gestehen: Das Verwandtschaftsgefühl, das Bewußtsein ähnlicher Prägung, einer gewissen mythischen Nachfolge und Spurengängerei ist sehr lebhaft und hat in den Reden dieses Goethejahres innig-versteckten Ausdruck gefunden« (Mann / Hamburger: Briefwechsel, S. 21). 57 Rigorosumakten des Archivs der Universität Wien; Nr. 9404. Allerdings bemerkt Kast (Kunst, S. 1) zur Beschäftigung mit »Dichtern, die noch leben und also schaffen und sich wandeln«: »Es ist auch gefährlich, weil man von ihnen selbst erfahren kann, daß man sich täuscht. Außerdem fehlt zu einem solchen Ueberblick uns Heutigen der Abstand […]«. 58 Bei Schultz: Literaturwissenschaft, heißt es beispielsweise: »[Es] besteht kein Zweifel, daß die deutsche Literaturgeschichte ein Teil der Literatur selbst ist, daß die Begründer der Literaturwissenschaft höherer Form zu unseren Klassikern gehören, daß die Art, wie Lessing, Herder, Goethe, Schiller, Wilhelm von Humboldt, die Romantik literarische Dinge betrachteten, ›ihr großes Vorbild einer auf ästhetische Probleme gerichteten historischen und
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stellung«, so Hamburger, haben wir es mit »einem typischen Wesenszug des Romantikers zu tun«.59 Die Werke Schlegels, Jean Pauls, Novalis’ oder auch Goethes, so Hamburger, zeugen von dieser »historisch-kritische[n] Einstellung« sich selbst gegenüber – »eine Tätigkeit von ähnlich geistigem Habitus ist auch aus dem Gesamtwerk Thomas Manns nicht wegzudenken und verleiht ihm den reflektorisch-intellektualistischen, den wenn man will philosophischen Charakter, die innere Form einer romantischen Geisteshaltung –, so wie sie kaum noch das Werk eines anderen Zeitgenossen bezeichnet«.60 Dies führt zum letzten der Merkmale eines epistemischen Objekts für die geistesgeschichtliche Literaturwissenschaft. 4. Zu einem epistemischen Objekt der Literaturwissenschaft zählt die unter Klassizitätsverdacht stehende historische Rubrizierbarkeit und Auswertbarkeit eines Werks (Thomas Mann knüpft an die »vornehmen Überlieferungen der Vergangenheit, wie sie vor allem Goethes Wesen und Wirken verkörpert, als Leitbild« an)61: Im Gutachten zu Gerhard Jacobs Dissertation, die 1926 in Leipzig eingereicht wird, schreibt der Zweitgutachter Friedrich Naumann: »Es ist an sich nicht unbedenklich als Historiker über einen lebenden Dichter zu schreiben. Diese Arbeit zeigt, wie viel in Thomas Mann ist, das ihn zu einem Dichter der Vergangenheit macht«. Gerade hier hat die literaturgeschichtliche Erhellung der Bezüge die Chance, sich der Arbeitsleistung des Gegenstandes gegenüber als angemessene Reinvestition von Aufmerksamkeit zu erweisen – oder eben nicht: »Eine sehr gute Arbeit«, so Naumann weiter in seinem Gutachten, »muß einen reicheren literarischen Hintergrund und mehr Eigenart zeigen«.62 Zu Manns Selbsthistorisierung gehört natürlich vor allem die Selbstdarstellung als »Sohn des 19. Jahrhunderts« (GKFA 15/1, S. 340), die – wie gezeigt – wahlweise über die Romantik, über die Linie von Schopenhauer über Wagner bis Nietzsche oder auch über Bezüge zu Goethe, Tolstoi und anderen Geistesverwandten hergeleitet werden kann. Dazu gehört aber auch der Epochenbezug, den Thomas Mann immer wieder herstellt. So erklärt er etwa gegenüber Carl Helbling am 22. April 1922 mit einem _____________
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systematischen Untersuchung‹ gab. Hier wurde nicht ›Literatur‹, sondern ›Dichtung‹ der Gegenstand historischen und philosophischen Verstehens. Dichtung war hier nicht mehr ein durch Wissen und handwerkliches Können hergestelltes Aggregat, sondern eine als Leben und Kraft empfundene Totalität mit einem auf ihrem Grunde verbleibenden Rest, der einer bloßen Ratio niemals ganz zugänglich ist« (S. 7). Hamburger: Mann, S. 6. Ebd., S. 7. Ebd., S. 370. Universitätsarchiv Leipzig, UAL, Phil. Fak. Prom. 2280. Vgl. zur Historizität des Gegenstands auch Franz Schultz’ Gutachten zu Martin Kessels Dissertation bei Martus: Kessel, S. 88.
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unmarkierten Zitat aus Samuel Lublinskis Die Bilanz der Moderne, die Buddenbrooks seien der erste und einzige naturalistische Roman,63 und auch dafür zeigt sich die Germanistik mehr als dankbar.64 Wie Peter in seiner Dissertation 1929 feststellt, gilt für Thomas Mann insgesamt: »[…] als sentimentalischer Dichter, der Gedankenerlebnis und Weltanschauung zugleich symbolisch und begrifflich gestaltet und außerdem in seinen kritischen Schriften eingehend analysiert, erleichtert er die Deutung erheblich«.65 Bemerkenswert scheinen mir zwei Momente: Zum einen, dass Thomas Mann durch Anfragen von Zeitschriften oder Zeitungen immer wieder die Gelegenheit erhält, solche Filiationen zu behaupten (z.B. GKFA 14/1, S. 200), oder sogar erst dazu gedrängt wird, sich einzuordnen. Um als beliebiges Beispiel die Frage nach dem »französische[n] Einfluß« für die »Wiener Wochenschrift« Die Zeit (1904) heranzuziehen: Hier muss er gleichsam gegen die Insinuation, die in der Anfrage von Otto Julius Bierbaum steckt, auf einen ihm wichtigeren Prätext verweisen: auf Richard Wagner, mit dessen Einfluss er das Publikum in »Erstaunen« zu versetzen meint (ebd., S. 73). Zum anderen fällt die Bereitschaft auf, mit der Thomas Mann diese Anfragen bedient: So kann er wiederum auf eine redaktionelle Anfrage hin zum Historiker des eigenen Werks werden und beispielsweise die Buddenbrooks epochal, einflussphilologisch, generisch und kulturell einordnen (GKFA 15/1, S. 510f.). Damit aber soll – in den Worten Ernst Bertrams – »selbstverständlich kein ›System literarischer Einflüsse‹ und kein ›Abhängigkeitsverhältnis‹« bezeichnet werden66 – ähnlich wie bei Käte Hamburger merkt man auch hier die Zwei-Seiten-Verteidigung gegen die für ›positivistisch‹ erklärte Kausalerklärung und zugleich gegen eine historisch nicht informierte, auf bloße Aktualität bedachte, gleichsam journalistische Textbehandlung. Der rettende Weg führt über die Komplizierung der _____________ 63 Regesten I, S. 335; GFKA 22, S. 435. Zu Lublinski vgl. Schröter: Thomas Mann, S. 30. 64 Wolffhardt beispielsweise beobachtet den Verlagskontext und rechnet die Publikation bei S. Fischer als Zeichen für die »äußere Zugehörigkeit zum Naturalismus«, der eine »innere« entspreche (Das Symbolische, unpag.); vgl. weiterhin: Helbling: Mann; Kessel: Studien, S. 15, 20f.; Laxy: Kaufmannsroman, S. 53f.; Peter: Mann, S. 71. 65 Peter: Mann, S. 1. Dies gilt insbesondere z.B. für die Bezüge zu Vorbildern und Prätexten wie Schopenhauer, Wagner, Nietzsche und Goethe (ebd., S. 27). Vgl. hierzu auch Erlacher: Untersuchungen, S. 5: »Um einen Künstler in seinem Wesentlichen zu erfassen, ist es […] notwendig, die wichtigsten Strömungen der Zeit zu erkennen, die bewusst oder unbewusst auf ihn eingewirkt haben können. / Thomas Mann leistet uns in diesem Bestreben selbst die besten Dienste. Es gibt kaum einen zweiten Künstler, der sich derart und so oft mit dem Problem des eigenen Künstlertums abgegeben hat; keinen, der in theoretisierenden Schriften so offen die Wurzeln dieses Künstlertums aufgedeckt und trotz nachfolgendem elenden Gefühl sich innerlich festgelegt und blossgestellt hat«. 66 Bertram: Mann, S. 204.
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Bezüge, und auch hierfür hat Thomas Mann die entsprechenden Anschlussstellen bereit gestellt. Nicht zuletzt in seinem großen Essay über Friedrich II. demonstriert Thomas Mann, dass man historisch denken und zugleich kausalgenetische Zurechnung abweisen kann: Ob Friedrich II. Offensiv- oder Verteidigungskriege geführt hat, lässt sich demnach so wenig entscheiden (GKFA 15/1, S. 95f., 115) wie die Frage nach dessen Akteurs- oder Opferrolle (ebd,, S. 121).67 Die Historiker mögen sich noch so sehr bemühen: »doch liegen die Dinge zu verschränkt, als daß eine schlicht entscheidende Antwort am Platze wäre« (ebd., S. 115). IV. Der »Lebenswert« von Literatur und die Konkurrenzen der Wissenschaft Die genannten Punkte öffnen – um ein Wort Ernst Bertrams zu variieren – nicht den Weg zum »rein Persönliche[n]« oder zu den »Einzelvoraussetzungen des Lebens«.68 Vielmehr wird Thomas Mann als Vertreter der ›Generation‹ nach Nietzsche erkennbar. Folgt man Carola Groppe, dann gehört Thomas Mann (geb. 1875) zu jener Generation, die den bildungsbürgerlichen Habitus über den engeren Kreis der akademisch Gebildeten hinaus normalisiert – dies verbindet ihn mit vielen der bislang genannten Germanisten, etwa mit Ermatinger (geb. 1873), Maync (geb. 1874), Brecht (geb. 1876), Schultz (geb. 1877), Petersen (geb. 1878), Strich (geb. 1882), Nadler (geb. 1884), Naumann (geb. 1886) oder Bertram (geb. 1884). Dabei gerät die Bildungsemphase auf dreierlei Weise unter Legitimationsdruck: durch die Erfolge der Naturwissenschaften, durch die rasante Industrialisierung sowie durch die akademische Arbeitslosigkeit. Unter diesen Bedingungen versucht man verschiedentlich, Bildung auf ein neues Niveau zu heben und die (Geistes-)Wissenschaften mit Nachdruck gegen die Naturwissenschaften zu positionieren. Diese Bildungsrenovierungen stützen zugleich bestimmte avancierte Formen der Dichtung, die nachdrücklich das Eigenrecht der Dichtung betonten, und sie werden ihrerseits von autonomistischen Dichtungskonzepten stabilisiert. Dabei nähern sich Kunst und Wissenschaft einander an, etwa über die Privilegierung von Formen dichterisch-intuitiver Erkenntniskonzeptionen.69 _____________ 67 Diese Komplizierung der Perspektive kann man in literaturwissenschaftlicher Umsetzung in den Werken Gundolfs oder Bertrams finden – nicht umsonst greift Bertram auf Goethes Maximen und Reflexionen als Motto-Reservoir zurück: »Alles ist gleich, alles ungleich, alles nützlich und schädlich, sprechend und stumm, vernünftig und unvernünftig. Und was man von einzelnen Dingen bekennt, widerspricht sich öfters« (Bertram: Nietzsche, unpag.). 68 Bertram: Mann, S. 204. 69 Groppe: Macht, S. 33f., 61ff., 115f.
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Die Rede vom Verfall des Bürgertums und von einer entsprechenden Krise der Kultur, wie sie Thomas Mann immer wieder in seinen Werken, allen voran in den Buddenbrooks heraufbeschwört, bedeutet nicht, dass die bürgerliche Kultur tatsächlich infrage gestellt würde. Vielmehr wird diese Diagnose zum programmatischen Aushängeschild derjenigen, die sich unterscheiden wollen, weil sie durch die Konkurrenz auf dem Bildungsmarkt und die Abwertung von Bildungspatenten durch den Ausbau des Schulsystems unter Druck gesetzt werden. Anders gesagt: Wenn sich immer mehr Leser für Kunst insofern empfänglich zeigen, als sie auch leseaufwändige Bücher kaufen und vielleicht sogar konsumieren, dann hilft erst die Behauptung einer spezifischen Beschaffenheit von Kunst und einer entsprechend spezifischen Empfänglichkeit für Kunst bei der Selbstauszeichnung weiter. In diesem Kontext spielt das Pathos des Erlebnisses eine bedeutende Rolle, die bestimmte Stimmungswerte korrelieren soll. Erlebnispathos und Stimmungsqualität verleiht neuen Wissenschaftlergenerationen in den zyklisch auftretenden Karriereblockaden im Bildungssystem, etwa in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, ein Profil.70 Es ist vermutlich Teil dieser Konkurrenzsituation, dass man in besonderem Maß auf Haltungsfragen geachtet hat, und zwar gerade bei der Behandlung von Gegenwartsliteratur: Denn dieser Gegenstand ist ebenso ideal wie gefährlich für die doppelte Frontstellung, die die Verschiebung auf dem wissenschaftlichen Feld durch die ›antipositivistische‹ neue Generation von Literaturwissenschaftlern erzeugt. So sieht Berthold Litzmann beispielsweise, dass er mit seinem Projekt einer literaturwissenschaftlichen Analyse von Gegenwartsliteratur zu »einer Anzahl von Fachgenossen in einen gewissen Gegensatz« geraten sei. Er sieht aber auch, dass die Etablierung der Gegenwart zum Gegenstand einer historisch interessierten Wissenschaft normalisiert wird. Bezeichnenderweise führt er dies auf die Kulturkrise ›um 1900‹ zurück, die er beispielsweise belegt mit dem statistisch zu belegenden Rückgang von aktiver, selbständiger und interessierter Goethe-Lektüre in den heranwachsenden Generationen.71 Zwar könnte es bereits irritieren, dass eine Kulturkrise in Denkformen belegt wird, die eigentlich als Krisenphänomen zu gelten hätten, also hier in Form der Statistik, die die Individuen zum Teil einer Masse nivelliert. Entscheidend ist an dieser Stelle indes, dass Litzmann den »Lebenswert« von Literatur herausstellen und damit alle »Lebensäusserungen« durchformen will, um ihnen einen »Stil« einzuprägen, eine »dauernde Federkraft und damit die Kraft vorbildlich zu wirken«.72 »Arbeit« und »Pflicht« stehen _____________ 70 Ebd., S. 129, 157f., 409. 71 Litzmann: Einführung, S. 9ff. 72 Litzmann: Einführung, S. 11.
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im Zentrum des entsprechenden Habitus-Programms,73 das darauf zielt, Literatur als »Lebenswert in die Daseinsbedingungen jedes Einzelnen einzufügen«, sie in einen »Grundton« zu verwandeln, »auf den der ganze Mensch gestimmt ist« – dies kann den Autoren auf den literarischen Feld nur recht sein.74 Um diese Intentionen gegen Unwissenschaftlichkeit zu versichern, gibt Litzmann einige methodische Handreichungen, auf die ich noch zurückkommen werde.75 Vor allem aber formuliert er eine Leseethik, die auf »drei Eigenschaften« beruht: auf »tiefste[m] sachliche[m] Ernst, höchste[r] sachliche[r] Freudigkeit und eine[r] vor keiner Missdeutung zurückschreckende[n] Beharrlichkeit«.76 Generell aber stellt sich die Frage: Woran sieht man Texten an, dass ihre Produzenten diesem Habitusprogramm gefolgt sind? Bei dieser Visibilisierungsleistung unterstützt ›Thomas Mann‹ als epistemisches Objekt die bewusst an der Grenze zum ›Unwissenschaftlichen‹ operierende Geistesgeschichte. Es passt ins Bild, dass Litzmann ein besonderes Faible für die »künstlerische Gestaltung des Stoffes« hat und die Kombination von »vornehme[r] Sachlichkeit und künstlerische[m] Geschmack« bei der Präsentation von »Forschungsergebnissen« befördern will.77 Denn zum Distinktionsprogramm der professionellen Leser gehören – um noch einmal ein Dissertationsgutachten von Walther Brecht zu zitieren – »Takt«, »Zartheit u. Behutsamkeit«78 oder mit den Worten Emil Ermatigers »große[r] Fleiß« und »feine[s] Verständnis«.79 Dass damit eine weitere Front eröffnet wird, sieht man exemplarisch an Manns Verhältnis zu Ernst Bertram. _____________ 73 Zur militärischen Anlage vgl. folgenden Passus: »Es schwebt so etwas vor, wie der Gedanke einer allgemeinen geistigen Wehrpflicht, eines Volksheers, in dem jeder seine Waffe tragen und mitkämpfen soll. […] Auch auf geistigem Gebiet ist im Ernstfall mit der Masse eines durch ›Anregung‹ begeisterten Milizheeres nichts anzufangen. Auch hier kommt es auf eine wohldisziplinierte Armee kriegstüchtiger Feldsoldaten an […]«, eine »geistige Armee«, gebildet durch »dauernde Arbeitsgemeinschaften« (Litzmann: Einführung, S. 14). 74 Litzmann: Einführung, S. 14. 75 Litzmann: Arbeitsprogramm, S. 18: In den Sitzungen soll vornehmlich neuere deutsche Literatur »kritisch analysiert« werden, und das heißt für Litzmann, diese »sowohl nach dem aus der Eigenart des Schaffenden und aus der Eigenart der von ihm gewählten Form sich ergebenden inneren Gesetzen, wie den aus den historischen Zusammenhängen im weitesten Sinne sich ergebenden äusseren Einflüssen« zu würdigen. Litzmann zielt damit »nicht auf die Gewinnung von Werturteilen, sondern in erster Linie auf eine strenge Schulung des Auffassungsvermögens«, mithin auf die Einprägung bestimmter Aufmerksamkeitsformen. 76 Litzmann: Einführung, S. 15. 77 Ebd., S. 19. 78 Gutachten zu: Back: Mann. (Ms. in den Rigorosumakten des Archivs der Universität Wien; Nr. 5246). Back selbst charakterisiert die angemessene Haltung der Philologin als »sacht und selbstlos, vorsichtig und einfühlend« (Back: Mann, S. 6). 79 So im Dissertationsgutachten zu Carl Helblings Studie (1921), das sich im Staatsarchiv des Kantons Zürich befindet (U 109e, 20).
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In Thomas Manns erstem Brief an Bertram vom 28. Januar 1910, in dem er auf die Übersendung von Bertrams Studie zu Königliche Hoheit in den Mitteilungsheften der Bonner Literarhistorischen Gesellschaft reagiert, heißt es: Nehmen Sie herzlichen, aufrichtig empfundenen Dank! Ihr ›Referat‹ – ein häßliches Wort für eine schöne Sache – zeigt wieder einmal, wo heute der Geist wahrer und hoher Kritik zu finden ist. Kaum je unter den Produzierenden, begreiflicher Weise; sie haben keine Zeit für Andere. Auch nicht unter den Fach-Rezensenten; sie sind inferior oder wollen gelegentlich eines Kunstwerks nur sichselber [sic!] aufspielen oder sind voller Ohnmachtsressentiment. Nein, in der jungen Gelehrten-Generation, welche die besten Traditionen von Forscher- und Erkenner-Leidenschaft, eben Akribie und sachliche Hingebung in die neue Geisteswelt mitbringt. Nach der Fülle von Dummheit und falschem Scharfsinn, die ich in Betreff meines letzten Buches über mich habe ergehen lassen müssen, war ich von Ihrer Analyse so ergriffen, daß die Thränen momentweise nicht mehr fest saßen. Sie sind, unter anderem, neben Hofmannsthal der Einzige, der bisher des konstruktiven Elementes innewurde, das doch gerade die Ambition des Romans ist.80
Dem fügt Mann dann noch den Hinweis auf Prätexte hinzu (er habe »während der Arbeit öfters zu den ›Meistersingern‹ empor[ge]blinzelt«) sowie den Hinweis auf die biographische Grundierung des Romans (»Und warum sollte ich nicht einmal ein Märchen erzählen, wenn ich autobiographisch dazu berechtigt war?«) und warnt zugleich vor dem Kurzschluss von Autor- und Figurenperspektive (»Ihr Korreferent hat Recht, wenn er sagt, dass ›man‹ in diesem Falle an die Synthese von Hoheit und Glück ernsthaft glauben soll; aber damit ist noch nicht bewiesen, dass ich im Grund daran glaube«). Zudem verweist er auf interpretationsrelevante Werkkontexte (auf den »unverschämte[n] Plan, einmal den Lebensroman Friedrichs des Großen zu schreiben«, vor dessen Hintergrund die »Synthese« von »Hoheit und Glück« an Plausibilität verliere) sowie auf die Vermitteltheit und Komplexität des wirkungsästhetischen Programms (»die Didaktik des Buches ist ja ebenso hinterhältig wie aufdringlich«).81 Thomas Mann eröffnet somit drei Felder: die Autoren, die Literaturkritik sowie die Literaturwissenschaft. Die ersten beiden Felder besetzen ihre Positionen im Verhältnis zu Autoren durch Konkurrenz und Distinktionswillen. Nur im dritten, dem wissenschaftlichen Feld finden sich Aufmerksamkeitsformen, die Detailgenauigkeit und ein entsprechendes Zeitbudget zu bieten haben: Sie interessieren sich für Kontexte unterschiedlicher Art, stellen zugleich Beobachtungsergebnisse immer unter Irrtumsvorbehalt und verbinden dies mit einem emotionalen Engagement, _____________ 80 Mann an Bertram, S. 7f. 81 Ebd.
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das rückwirkend wiederum auf Seiten des literarischen Feldes empfindsame Reaktionen hervorruft. Thomas Mann beschreibt damit erstaunlich genau zentrale konzeptionelle Innovationen, die eine neue Generation auf dem literaturwissenschaftlichen Feld nach 1900 durchsetzen will und bietet sich dieser Forschergeneration als Gegenstand an. Freilich wird man das Avancement der geistesgeschichtlich orientierten Germanistik nicht überbewerten dürfen, und auch Thomas Mann weist auf längere Traditionen zurück. Zum Einen bleibt selbst für erklärte Geistesgeschichtler die philologische Textethik verbindlich;82 zum anderen besetzen sie nur eine verhältnismäßig geringe Zahl der vorhandenen Stellen an den Hochschulen (nach den Berechnungen Rainer Kolks ungefähr 20 %, darunter allerdings eine Reihe renommierter Ordinariate).83 Im äußersten Fall führt die unter Konkurrenzdruck entwickelte Feldposition der Geistesgeschichte zu jener Priesterattitüde, die antipositivistische Stellungnahmen variantenreich ausgeprägt haben: »Wem der Beruf der Ergründung und Deutung dichterischer Werke geworden ist«, so erklärt Emil Ermatinger, »soll sich dessen bewußt sein, daß er zum Hüter der herrlichsten Schätze seines Volkes bestellt und sein Amt nicht ein Handwerk, sondern ein Tempeldienst ist, den er mit Hingabe seiner ganzen Person an das Heilige auszuüben hat«.84 Im Normalfall stimmt sich diese Sakralisierung auf das säkulare Maß von Konzepten der »Teilnahme«, des »Vertrauen[s]« oder der »Sympathie« herab, wie Thomas Mann dies in den frühen Briefen bei Bertram immer wieder hervorhebt.85 Dabei darf man nicht übersehen, dass Thomas Manns Hinweise in die Tradition der Werkpolitik gehören, die unter Eindruck der Gewaltsamkeit und Willkürlichkeit der Literaturkritik protophilologische, philologische und literaturwissenschaftliche Textumgangsformen adressiert.86 Deshalb würde Thomas Mann auch gern einige ihm brieflich zugekommene »Seiten voller Geist und Teilnahme« von Bertram »in den Süddeutschen, in der Frankfurter« sehen – dies wäre ihm »eine wirkliche Freude und Genugthuung«. Daher bittet er Bertram gleich anschließend, gegen Kritiken von Kerr und »Kerr-Schüler[n]« vorzugehen.87 In einem Brief an seinen Bruder Heinrich nennt Thomas Mann den neuen philologischen Waffenträger nicht umsonst »gescheidt« und »sanft« (GKFA 21, S. 440): Die Geschichte der autorhermeneutischen Tugend _____________ 82 83 84 85 86 87
Barner: Gravitation. Kolk: »Theorie«, S. 84f. Ermatinger: Krisen, S. 30. Z.B. Mann an Bertram, S. 12f., 15. Ausführlich dazu in meiner Studie: Werkpolitik. Mann: Mann an Bertram, S. 13f., 15.
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der ›Behutsamkeit‹ wird hier fortgesetzt – schon früh hat es Thomas Mann in seiner Stellungnahme zum Zusammenhang von Kritik und Schaffen (1896) für gesichert gehalten, dass die Relativität der Kunstgesetze den Kunstrichter zum »Erklärer« mache (GKA 14/1, S. 48). Die Aufgabe der gewissermaßen verwissenschaftlichten Kritik bestehe folglich in einer Reflexion der »dunklen Instinkte und Ahnungen«, aus der die Kunstwerke entstehen: »ihre innere Logik wird uns klar, wir sehen, wie ihr Wesen sich entwickelte, ihre letzten, verstecktesten Triebe treten ans Tageslicht, wir erkennen, welche von ihnen schwächer wirken, welche überwiegen und wie grade aus diesem Verhältnis dies Werk entstehen mußte« (ebd., S. 49). V. Freundschaftliche Verhältnisse – Aufmerksamkeit und Feldposition Angesichts der geforderten Aufmerksamkeitsleistung ist in der Laudatio zur Verleihung der Ehrendoktorwürde zu Recht auf Manns Verbindung zu Goethe hingewiesen worden. Denn Goethe hatte sein Werk unter anderem in einer Weise profiliert, das es zum herausragenden Gegenstand der neueren deutschen Philologie und Literaturwissenschaft geworden ist. Ich kann diese Konstellation hier nicht angemessen entfalten88 und will nur wenige Punkte festhalten, weil sie für das Interesse der Literaturwissenschaft an Thomas Mann relevant sind und eine weiter reichende Verschiebung der Aufmerksamkeitskultur markieren: Goethe hat mit besonderem Erfolg ein freundschaftliches Verhältnis der Leser zu seinem Werk gefordert und ausgebildet. ›Freundschaftliche‹ oder – wie Goethe auch sagt – ›teilnehmende‹ Leser sind darauf abonniert, vermittelte, diffuse, nur schwer und unter Investition von Zeit visible Zusammenhänge und Bezüge in einem Werk zu vermuten. Sie wollen das Werk im ›Ganzen‹ kennen lernen. Der Autor hat sich bei diesem Lesertypus jenen Kredit erworben, jenen Vertrauensvorschuss gesichert, der sich mit der Zeit in die Schuldigkeit des Lesers zur Aufmerksamkeitsinvestition verwandelt. Nach diesem Umschuldungsprozess lassen sich weiterhin Fehler und Mängel an einem Werk entdecken. Aber zum einen kann man sich dabei stets irren. Zum anderen sind Fehler und Mängel interessant und beobachtenswert, selbst wenn sie als Defizite verbucht werden sollten, weil sie die Individualität des sich in der Zeit entfaltenden Autors bezeichnen. Als Experten für solche zeitintensiven und unwahrscheinlichen Formen der selektionslosen Beobachtung von Werken werden im Verlauf des 19. Jahrhunderts Neuphilologen abgestellt. Sie sind dazu bereit, Schwierigkeiten zu sehen, wo _____________ 88 Einen Grundriss des Folgenden in Martus: Dichtung, S. 61–92.
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die Literaturkritik Fehler bemängelt, und sie neigen dazu, diese Schwierigkeiten als Herausforderung anzunehmen, weil sich darüber professionelle Lektürekompetenzen begründen lassen. Wenig überraschend, dass Thomas Mann immer wieder auch in dieser Hinsicht auf Goethes Begriffe und Konzepte zurückkommt:89 In einem als Vorwort zu Erich von Mendelssohns Nacht und Tag entstandenen Text von 1913 beispielsweise kombiniert er den »Trieb eines Menschen, sein Leben zu fixieren, sein Werden aufzuzeigen«, mit dem Anspruch auf »Teilnahme der Mit- und Nachwelt« (GKFA 14/1, S. 387). Es liegt auf dieser Linie, um ein weiteres beliebiges Beispiel anzuführen, dass Thomas Mann 1922 den Brief an den Dekan der philosophischen Fakultät zu Bonn zum Dank für die Verleihung der Ehrendoktorwürde an den Anfang seines Essay-Bands Rede und Antwort und damit zugleich an den Beginn seiner ersten Gesamtausgabe stellt und dass erst dann der große programmatische Essay Bilse und ich folgt. Und ebenso symptomatisch ist das gesamte Paratext-Zeremoniell: Die Widmung gilt »Der philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn«;90 das Motto stammt von Goethe (»Wir haben das unabweichliche, täglich zu erneuernde, grundernstliche Bestreben, das Wort mit dem Empfundenen, Geschauten, Gedachten, Erfahrenen, Imaginierten, Vernünftigen möglichst unmittelbar zusammentreffend zu erfassen«);91 und das Vorwort greift diese Fäden, den akademischen und den literarischen, wieder auf, wenn es – einem Topos folgend – das »freundschaftlich dringliche Anraten« für die Sammlung und Herausgabe der Essays verantwortlich macht und dazu bemerkt: Es handelt sich um eine sozusagen interne Veranstaltung, um ein Buch für Freunde meines Lebens, welche sonst schon vertraut mit se[i]ner Ökonomie und Kultur bereit sein mögen, auch in dem Bei- und Außenwerk mit einer gewissen Genugtuung die Beziehung zum Ganzen zu entdecken.
Es ist konsequent, dass Thomas Mann an gleicher Stelle auf den Start der »Gesamtausgabe« hinweist (»Wie aber der Band nun vorliegt, ist er bestimmt, ein Glied der für einen nicht fernen Zeitpunkt geplanten Gesamtausgabe meiner Erzählungen und Schriften zu bilden«).92 Daher adressiert er mit seinen »gesammelten Aufsätzen« beispielsweise den Freiburger Literaturwissenschaftler Philipp Witkop, der gegen den Willen der Fakultät im folgenden Jahr zum Ordinarius ernannt werden _____________ 89 90 91 92
Vgl. in diesem Zusammenhang auch: Seng: »Goethe«. Mann: Rede, S. VII. Ebd., S. IX. Mann: Rede, S. XII. Vgl. zur ersten Gesamtausgabe und zu den dafür vorgenommenen Überarbeitungen Wißkirchen: Thomas-Mann-Gesamtausgaben, S. 773–798, hier S. 773ff.
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wird,93 als »Freund meines Lebens«, der damit »alles Zerstreute beisammen« hat. Im selben Zug weist er darauf hin, dass es sich bei der Essaysammlung um den »I. Band der Ges. Werke« handle, und bezeichnet im unmittelbar daran anschließenden Absatz Witkops »monographische Idee« gleichermaßen »schön und erfreulich«: Bertram wird gewiß später einmal auch dergleichen machen, vielleicht wenn ich verblichen bin. […] Aber wenn das Erscheinen der Gesammelten oder auch mein Fünfzigster von einigen freundschaftlich-zusammenfassenden Entschuldigungen aus Ihrer Feder begleitet sein könnte, so wäre das schön und gut. (GKFA 22, S. 399 [9.6.1921])94
Man sieht ansatzweise, welche Bedeutung das freundschaftliche Textumgangsverhalten der Philologie für Thomas Mann gehabt hat und welche Chancen umgekehrt die Werkfiguration Thomas Manns in den 1920er Jahren bot: Der freundschaftlich-philologische Leser interessiert sich für Zusammenhänge, die andere Leser entweder nicht interessieren oder die sie gar nicht in den Blick bekommen; die Visibilisierung von Werkganzheiten unterstützt tendenziell eine bestätigende Haltung gegenüber dem Gegenstand; und diese »freundschaftlich-zusammenfassenden Entschuldigungen« können dann in Form von ›Monographien‹ wissenschaftlich verwertbar sein (weder Witkop noch Bertram haben sich allerdings in dieser Gattung über Thomas Mann verbreitet). Thomas Mann war daher Ernst Bertram nicht allein deswegen dankbar, weil ihm dessen »liebe Worte über mein Buch […] besonders wohl gethan« haben und ihn »im Voraus gegen das, was notwendig kommen wird«, wappnen;95 und die Verteidigung der Betrachtungen eines Unpolitischen von Seiten Bertrams sind nicht allein deswegen interessant, weil sie auf bestimmte politische Dispositionen im literaturwissenschaftlichen Feld hinweisen – Thomas Mann dankt beispielsweise Harry Maync für die Zustimmung zu den Betrachtungen (Regesten I, 21/112 [19.10.1921]); und Walter Rehm gegenüber zeigt er sich erfreut darüber, dass der Literaturwissenschaftler für die Geschichte des »Renaissancebildes in der deutschen Dichtung« die Betrachtungen gebrauchen konnte (Regesten, 30/33 _____________ 93 Aurnhammer: Witkop. 94 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Thomas Manns Versuch, Witkop von einer Kritik Richard Moritz Meyers abzuhalten, sowie Manns eigene Weigerung, eine Gegenkritik zu Meyers Witkop-Kritik zu verfassen, auch wenn er dies der Sache nach für durchaus geboten hält (GKFA 21, S. 467ff.). 95 Mann: Mann an Bertram (25.12.1917), S. 54. Vgl. auch im Brief an Helbling, 4.9.1920: »Sie haben ja ›Vorläufer‹, aber sie sind schwach. Bertram, der auch sehr schön über die ›Betrachtungen‹ referiert hat, nehme ich aus. Er ist mein bester Freund und Leser. Sein Nietzsche-Buch (kennen Sie es?) liebe ich außerordentlich. Der ›Tod in Venedig‹ kommt darin einmal in einem unvergleichlich schönen und stolzen Zusammenhang vor« (GKFA 22, S. 365).
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[27.1.1930]).96 Die Konstellation ist darüber hinaus auch deswegen signifikant, weil Bertram die Betrachtungen mit den Buddenbrooks verbindet, auf diese Weise die Werkeinheit garantiert und damit die Gefahr einer politischen Verabschiedung Thomas Manns mindert: Bertram hatte für die Selbstanzeige der Betrachtungen die Formel von den »intellektuellen ›Buddenbrooks‹« gefunden und sie als »Dichtung in Form von Kritik, Konfession und Streitschrift« verkauft.97 Das ist bezeichnend für jene Form einer mit »Verständnis und Liebe« gepaarten Aufmerksamkeit, für die Bertram vorbildlich geworden ist.98 Wenn schließlich Thomas Mann im Zusammenhang mit dem Vorwurf des Renegatentums immer wieder auf Goethe zu sprechen kommt (z.B. GKFA 15/1, S. 583) und wenn er in Von deutscher Republik bemerkt, er sei »kein Goethe; aber ein wenig, irgendwie, von weither, bin ich, mit Adalbert Stifter zu reden, ›von seiner Familie‹« (ebd., S. 519), dann hat dies auch in Hinsicht auf die Werkpolitik Methode. Thomas Mann konnte davon ausgehen, dass die Verfahren, die bei der retrospektiven Visibilisierung von Zusammenhängen von der Philologie eingesetzt werden, auch prospektiv zur Geltung kommen können und dass gerade im wissenschaftlichen Feld Bereitschaft und Interesse vorhanden waren, die politischen Wendungen und Windungen Manns hin zum Repräsentanten einer republikanisch-humanistischen Gesellschaft nicht als Selbstwiderspruch zu deuten. Im Gegenteil: Gerade kontraintuitive Beobachtungsleistungen zeichnen die wissenschaftliche Aufmerksamkeit aus, die in Thomas Manns Aufmerksamkeitsinvestition ihr Spiegelbild hat. Mann widmet sich dem »Studium jener unwägbar kleinsten Elemente, die jeder Örtlichkeit ihre Farbe und Luft geben«.99 Die Betrachtungen avancieren in diesen Zusammenhängen zur Interpretationsmatrix für das Gesamtwerk. Sie geben, so Franz Muncker in einem Artikel zum 50. Geburtstag des Dichters, »über sein Denken, Wollen und Dichten die reichste und authentisch sicherste Auskunft«.100 Die Philologen zeigen, dass die Werkeinheit funktioniert. Oskar Janckes Beobachtung des ›Dichterischen‹, die unter Aufsicht von Franz Muncker geschieht, gehen von den Betrachtungen101 ebenso aus wie die Werkeinteilung, die _____________ 96 Zu einer feldtheoretischen Bestimmung Thomas Manns im Blick auf die Betrachtungen vgl. Joch: Bruderkämpfe, S. 145ff. 97 Der Text der Selbstanzeige ist abgedruckt in: Mann an Bertram, S. 234. 98 So die Bemerkung von Helbling: Mann, S. 52: »Ernst Bertram hat in den ›Mitteilungen der literarhistorischen Gesellschaft Bonn‹ das Schaffen Thomas Manns mit Verständnis und Liebe verfolgt. Seine Referate sind feine Charakteristiken der Einzelwerke«. 99 Meyer: Deutsche Literatur (1910), S. 242. 100 Schröter: Mann, S. 132. 101 Jancke: Schaffenselement, S. 1f.
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Martin Kessel durch die Betrachtungen »fest[ge]nagelt« sieht;102 Hans Armin Peter greift auf die in den Betrachtungen vorgegebenen Zentraldichotomien zurück, wenn er die »epische Charakterisierungskunst« untersucht – ihm fällt nicht umsonst auf, dass der erste Band der Gesamtausgabe, also Rede und Antwort, dieselbe Vignette mit Bogen und Leier trägt, wie die Betrachtungen, wonach er sich beim Autor brieflich erkundigt.103 Noch viel wichtiger aber ist: Selbst wenn die Beobachter kritisch bemerken, dass die Betrachtungen einen falschen Weg im Werkverlauf Thomas Manns markieren, dann suchen sie doch immerhin sorgfältig nach Gründen und »geben die Hoffnung nicht auf«, dass der Autor die »›Synthese‹, die lebendige Vereinigung der Gegensätze, die in seiner Seele streiten, der Nietzscheschen Lebensbejahung und der Schopenhauerischen Sympathie mit dem Tode«, doch noch finde werde, wie Martin Havenstein am Schluss seiner umfangreichen Recherche zum »Dichter und Schriftsteller« Thomas Mann bemerkt.104 Der Autor hatte für diese Suche nach Gründen für die Positionierung vor, während und nach den Betrachtungen die Perspektive vorgegeben (GKFA 15/1, S. 285f.). Um noch einmal Franz Munckers Geburtstagsartikel zu zitieren: Gegen manche Anschauung und Behauptung in diesen Schriften [den »kritischen Schriften Manns«, S. M.] mag auch der Bewunderer des Dichters Thomas Mann entschiedenen Widerspruch erheben; aber niemand darf den Reichtum seines Geistes bezweifeln, den Ernst und die Gewissenhaftigkeit seines Strebens über bloß künstlerische Ziele weit hinaus nach dem höchsten Ideal wahrer Kultur.105
Mit anderen Worten: Selbst eine kritische, abwertende Haltung führt in der Literaturwissenschaft nicht zu Aufmerksamkeitsentzug. Diese und vergleichbare Textumgangsformen, die unwahrscheinliche Aufmerksamkeitsleistungen erbringen und gerade kontraintuitive Zusammenhänge in den Blick nehmen, kann man auf der einen Seite den politischen Ambitionen des wissenschaftlichen Feldes zuschreiben – bekanntlich bietet sich die Geistesgeschichte als Normangebot für die Gesellschaft an. Zugleich aber werden diese politischen Ambitionen, die selbstverständlich wie im Fall Ernst Bertrams oder Conrad Wandreys106 auch zum nachhaltigen Dissens führen können, immer wieder an den Grenzen des wissenschaftlichen Felds gebrochen. Die Merkmale des epistemischen Objekts ›Thomas Mann‹, wie ich sie oben skizziert habe, spielen hier eine große Rolle, und dies nicht zuletzt im Blick auf Gegen_____________ 102 103 104 105 106
Kessel: Studien, S. 119. Peter: Mann, S. 3, 31. Havenstein: Mann, S. 296f., 357. Schröter: Mann, S. 132 Zu Wandrey vgl. dessen Kritik an Manns Umwertung der Werte in den 1920er Jahren (Schröter: Mann, S. 182ff.).
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wartsliteratur. Denn in diesem Bereich musste sich die Literaturwissenschaft von der Literaturkritik unterscheiden. Die Gefahren, die der Literaturwissenschaft im Umgang mit Gegenwartsliteratur drohen, stellt Berthold Litzmann zum bereits zitierten Auftakt des Periodikums seiner Literarhistorischen Gesellschaft dar, das sich immer wieder mit Thomas Mann beschäftigt. Die Mitteilungen sollten ein Scharnier zwischen der Universität, »Beruf« und »Leben« bilden,107 und zwar insbesondere durch das Projekt, die »literarischen Bewegungen der Gegenwart« zu einem epistemischen Objekt zu machen. Man kann daher genau sehen, welche Schwierigkeiten sich ergeben, wenn die Literaturwissenschaft zugleich alltags- und wissenschaftstauglich sein will: So sollen die »Lernenden« zwar ein »persönliches Verhältnis zur lebendigen Literatur der Zeit« erhalten, dies aber »auf Grund des Verständnisses ihrer historischen Bedingungen«; sie sollen zu einer »innerlichen planmäßigen Beschäftigung mit den Werken der Lebenden« geführt werden und diese doch (oder gerade dadurch) als »unmittelbare Lebensäusserung der Menschheit« erfahren. Immer geht es darum, die »Beschäftigung mit der modernen Literatur« vom »Odium der Spielerei« und der »Unwissenschaftlichkeit« zu befreien, in dem die »Liebe zur Sache« und der »Wille zur ernsten Arbeit« zur Geltung gebracht wird.108 Wie aber sieht man »Liebe« und »Arbeit«? Wiederum kommen die genannten Textumgangsformen ins Spiel. Sie bezeichnen gleichsam die Sozialisationsleistung der wissenschaftlichen Ausbildung, die sich in einem Habitus der aushaltefähigen und enttäuschungsresistenten Beschäftigung mit literarischen Texten niederschlägt. Es geht dabei um die »planmässige Beschäftigung mit den Problemen der Technik der einzelnen Dichtungsarten« auf Grundlage einer breiten Literaturkenntnis. Auf diese Weise soll ein »innere[s] Gesetz der zu analysierenden Dichtung in seiner Anwendung im Kunstwerk« entdeckt werden.109 Neben dem methodischen Vorgehen, dem Blick auf die »Technik«, der historischen Perspektivierung und der nomologischen Zielvorgabe unterscheiden sich dann literaturwissenschaftlicher und literaturkritischer Textumgang durch den unterschiedlichen Bezug auf Wertung: Auch die geistesgeschichtliche Behandlung von Texten bekennt sich offensiv zu einem wertenden Vorgehen, um dem Vorwurf des positivistischen Alexandrinismus zu entgehen. Aber sie ist nicht primär an Wertung interessiert beziehungsweise sie verkauft ihre Wertung als eine wertvollere Angelegenheit.110 Ähnlich verteidigt Thomas Mann das Kritische als integralen Bestandteil seines Autorenbildes, auch _____________ 107 108 109 110
Litzmann: Einführung, S. 3. Ebd., S. 5, 6, 7, 14. Ebd., S. 7f. Litzmann: Einführung, S. 9.
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wenn er selbst so gut wie ausschließlich positive Kritiken schreibt und bei der »Tageskritik vieles […] im argen« liegen sieht (GKFA 14/1, S. 87). Zwar meint Litzmann, dass die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit Gegenwartsliteratur mittlerweile zum universitären Normalbetrieb gehört. Aber die methodischen Probleme bestehen weiterhin. So sieht Friedrich von der Leyen in der ersten Auflage seiner Deutschen Dichtung in neuer Zeit (1922), die Thomas Mann kritisch wahrgenommen hat, den Vorteil der Beschäftigung mit der Vergangenheit darin, dass die Urteile hier abgeklärter gefällt werden können, wohingegen der Vorteil der Beschäftigung mit der Gegenwart in der Unmittelbarkeit des Bezugs zum Gegenstand bestehe – ganz abgesehen davon seien Missgriffe sowohl im Blick auf Gegenwart als auch im Blick auf die Vergangenheit zu beobachten.111 Um dies zu vermeiden, bestimmt von der Leyen die besondere Rolle der Wissenschaft im Spiel auf dem literarischen Feld über eine nur schwach selektierende Aufmerksamkeit: »Wir müssen auch das Abstoßendste unsrer Tage ruhig betrachten und versuchen, alles Für und Wieder gerecht und unerschrocken abzuwägen – aus der tiefen Sehnsucht heraus, Zeit und Dichtung zu verstehen und die Wege zu erahnen, die in eine bessere Zukunft führen können«.112 Er hält daher die »Gegenwart für ein Thema der Wissenschaft«113 und begründet dies kulturgeschichtlich. Denn nicht allein historisch imprägnierte Erfahrung im Umgang mit Texten sorgt für die notwendige Seriosität, sondern es ist ein neuer Typus von Dichter, der die Gegenwart immer schon ins Licht des Historischen stellt: Sie breiten ihre Dichtungen in großer Menge aus, schreiben viel über sich selbst, über ihre Kunst, über Kunst überhaupt, und lassen gern über sich schreiben. In welcher Literatur herrschte eine solche Beschreibsamkeit wie in der unseren?114
Es liegt nahe, diesen Passus direkt auf Thomas Mann zu beziehen. Und tatsächlich bemerkt von der Leyen, und zwar nicht zufällig mit Seitenblick auf den philologischen Habitus von Nietzsche: Als Philologe stellte sich Nietzsche auch erklärend, interpretierend, sich selbst enträtselnd, vor seine Werke, in immer neuen Vorreden, immer neue Rechenschaft von seinem Wollen und seiner Entwicklung ablegend. Kaum ein Autor unsrer Tage, wenn wir etwa Thomas Mann ausnehmen, hat sich so gern und so ausgiebig erklärt, hat mit so heißem Flehn für sich und sein Werk geworben.115
In der zweiten Auflage seiner Literaturgeschichte (1927), in der Thomas Mann dann ein eigenes Kapitel erhält, sieht man allerdings, dass all dies der etablierten Literaturwissenschaft dennoch suspekt bleibt. In einem _____________ 111 112 113 114 115
Leyen: Dichtung (1922), S. 3ff. Ebd., S. 9. Ebd., S. 8. Ebd., S. 6. Leyen: Dichtung (1922), S. 168.
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ausführlichen Nachwort verteidigt sich von der Leyen gegen den Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit. Interessant sind indes die Kriterien: Man bemängelt seinen Inhaltismus (er beachte zu wenig die ›Technik‹ des Kunstwerks); man wirft ihm eine zu stark wertende Darstellung vor (die er dann auch vehement und nachdrücklich verteidigt);116 und man kreidet ihm sein wirkungsästhetisches Interesse an.117 Es liegt nahe, dies als Reaktion der Arrivierten gegen den Außenseiter zu verbuchen.118 Ich komme von hier aus noch einmal auf Ernst Bertram zurück: Bertrams erster Beitrag zu Thomas Mann setzt sich im Rahmen der Bonner Literarhistorischen Gesellschaft bezeichnenderweise mit Königliche Hoheit auseinander – das Werk war in der Literaturkritik nicht gut weggekommen,119 so dass Bertram exemplarisch die ›Analyse‹-Kompetenz der von ihm so genannten »Journalrezensionen«120 bestreiten und die literaturwissenschaftliche Aufmerksamkeitsleistung zur Geltung bringen kann. Im gleichen Zug demonstriert er: Gegenwartsliteratur kann nicht allein im Feuilleton behandelt werden; sie ist wissenschaftlichen Textumgangsformen gegenüber zugänglich. Die Literaturwissenschaft musste sich also nicht aufgeben, wenn sie sich mit Gegenwartsliteratur beschäftigte. Sie konnte ihre Vorgehensweisen – scheinbar – unabhängig vom Objekt entfalten und erwies sich damit in sich gefestigter und autonomer denn je. Oder anders: Die Beschäftigung mit Thomas Mann hatte auch in diesem Fall genug Innovationspotential, um eine neue von einer älteren Philologie oder Literaturwissenschaft zu unterscheiden; und zugleich war der Umgang mit Manns Werk und Person auf eine Weise in derart vielfältigen Traditionszusammenhängen wissenschaftlicher und literarischer Art rückversichert, dass der Disziplinenzusammenhang dadurch nicht in Frage gestellt wurde. _____________ 116 »… wäre Literaturgeschichte (besser sagte man, wäre Literaturwissenschaft) nur Geschichte, so erschöpfte sich ihre Bestimmung vielleicht darin, zu sagen, wie es eigentlich gewesen ist, dann müßte sie nur versuchen, das dichterische Sein und Werdenrein und groß aufzufassen und zu verstehen, und diese Aufgabe wäre allerdings schwer und schön genug. Aber Literaturwissenschaft ist außer einer historischen eine kritische, eine philologische und ästhetische Wissenschaft. Die Größe der Philologie besteht nun nicht zum letzten in der Schärfe der Interpretation, in der Kunst, Sprache, Ausdruck, dichterisches Vermögen im Ganzen und Einzelnen zu würdigen. Die Ästhetik aber sucht nach den Gesetzen und Bedingungen der Kunst, und wo sie Verstöße dagegen oder wo sie elementare Unkenntnis sieht, muß sie es sagen. Die Behauptung, eine literaturwissenschaftliche Darstellung dürfe nicht urteilen, beruht also auf einer unvollständigen Auffassung vom Wesen der Literaturwissenschaft« (Leyen: Dichtung [1927], S. 397). 117 Leyen: Dichtung (1927), S. 396. 118 Zu Leyen vgl. Stegbauer: Leyen. 119 Zur Rezeptionsgeschichte vgl. GKFA 4/2, S. 156ff. 120 Bertram: Mann, S. 195–217, hier S. 203.
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Man kann diese doppelte Abgrenzungsbewegung der Wissenschaft gegen ihre eigene etablierte Vergangenheit und gegen die feldunspezifischen Zugangsweisen zu literarischen Texten an vielen Stellen in Bertrams Beitrag zu Königliche Hoheit bemerken: Zunächst zeigt Bertram, dass er die grundlegende Visibilisierungskompetenz der Philologie anzuwenden versteht, dass er also den Zusammenhang des Gesamtwerks sieht und den neuen Roman diesem Zusammenhang einzuordnen vermag.121 Dieses zur Schau gestellte genuin literaturwissenschaftliche Interesse, das er von den erwähnten »Journalrezensionen« abgrenzt, muss nun den metaphysischen Ballast der Literaturgeschichte aus dem Geist des George-Kreises tragen: […] was uns hier interessiert, ist Werk und Form als Ausdruck und Notwendigkeit. Als Zwang einer Natur, und als frei gewählte und schaffende Unterwerfung unter ein geistiges Geschick. Denn dies hat von Anfang an Thomas Manns Arbeit gekennzeichnet […].
Zwar signiert Thomas Mann auf diese Weise durch den erkennbar »arbeitsvolle[n] Ernst« sein Werk.122 Aber dies – so versichert Bertram gegen das kausalistische Programm der Scherer-Schule – öffne nicht den Weg zum »rein Persönliche[n]« oder zu den »Einzelvoraussetzungen des Lebens«. Vielmehr gehe es um Thomas Mann als Vertreter der »Generation« ›nach Nietzsche‹, wobei damit »selbstverständlich kein ›System literarischer Einflüsse‹ und kein ›Abhängigkeitsverhältnis‹« bezeichnet sein soll.123 Die »völlig persönliche Technik Manns« ziele immer auf »Sinnbild und Blickvertiefung« und bringe deswegen »hohe Zeugnisse der bleibenden deutschen Dichtung« hervor.124 Bereits der Analyseverzicht des Beitrags deutet in diese Richtung einer doppelten Abgrenzung der ›neuen‹ Literaturwissenschaft von einer ›alten‹ Philologie und zugleich von ›unwissenschaftlichen‹ Textumgangsformen. Nur wenn es um die »Technik des neuen Romans«, also um Ansätze einer Stilanalyse,125 geht, verändert sich das Untersuchungsverhalten. Insgesamt sieht man: Gegen die Normalleser und vor allem gegen Literaturkritik wird die Werkganzheit sichtbar gemacht; gegen die traditionelle Literaturwissenschaft wird eine auf intuitive Erfassung wesenhafter Synthesen abonnierte Geistesgeschichte in Stellung gebracht. Im Zentrum steht das Interesse, Königliche Hoheit vor der kritischen Isolierung zu bewahren, sie in die bisherige, fraglos positiv zu bewertende Werkreihe einzuordnen und damit unter das von Bertram eingangs seines Artikels ausgemachte Problem zu rubrizieren. Dies wiederum schreibt die Adressierung vor: Nur _____________ 121 122 123 124 125
Bertram: Mann, S. 202f. Ebd., S. 203. Ebd., S. 204. Ebd., S. 209, 211. Ebd., S. 214.
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denjenigen, die ein »Empfinden für die nicht gewöhnliche Gestalt« besitzen, wird die »Kunst ihrer Zeit Angelegenheit eines ernsten Gewissens«126 – hier schließt sich der Kreis. Denn auf den ersten Seiten des Beitrags verschwendet Bertram keinen Gedanken an Thomas Mann, dafür aber um so mehr Worte über das Wesen großer Kunst bzw. genauer: über den großen Künstler: Die »Menschen des Geistes und der Kunst« seien in der Gesellschaft immer »Andere«, verachtete Außenseiter also, gleichermaßen repräsentativ wie einzigartig. Daraus resultiere der »tragische Konflikt« zwischen »Mensch« und »Werk«.127 Und eben dieses »Problem«128, so Bertram, tangiert alle Werke Thomas Manns, verschmilzt sie zum Gesamtwerk und fordert einen sympathetischen Beobachter mit feinem Sensorium für die Ausnahmeerscheinung. Das Spiegelbild dieser Ausnahmeerscheinung ist dann der Interpret.129 Freilich: So wie es manchem Kritiker erscheinen mag, dass die Geschäftigkeit von Thomas Manns umfangreicher literarischer Produktivität eine sportive Note hat – »wie der Tennisspieler den Ball, serviert er dann gleichsam das Wort, die Wendung, die Periode«.130 So irritiert es die etablierten Geistesgeschichtler, dass die nachrückende Studierenden- und Promovierendengeneration mittlerweile in jungen Jahren und in großer Geschwindigkeit schon »dicke Werke« produzieren kann und dass »das Dichtwerk« bei »unsere[n] jungen Leute[n]« zu einem »Tummelplatz für einen bloßen geistigen Sport« degradiert werde.131 Hier müsste eine genauere Funktionsbestimmung von ›Thomas Mann‹ als epistemischem Objekt von Qualifikationsschriften in den 1920er Jahren ansetzen. Denn der Arbeitshabitus der Literaturwissenschaft, der auf ein »bedachtsam ruhiges Lesen« und auf einen »guten Willen« abonniert ist und »sich Zeit lassen
_____________ 126 127 128 129
Bertram: Mann, S. 215. Ebd., S. 195ff. Ebd., S. 199. Dass man diese Absicht aufs »Letzte« und »Wesenhafte« nicht teilen muss, merkt der Koreferent F. Ohmann an und bezweifelt erstens, dass die tragische Bestimmung der Kunst im Allgemeinen zutreffe, und zweitens, dass Thomas Manns Werk von dieser Tragik zeuge. Vielmehr seien die Werke Manns der Ort, wo eben diese Tragik überwunden werde; es ist der Ort der »Überwindung dieses persönlichen Erlebnisses« der »tragischen Isoliertheit […] des Dichters« (Mitteilungen der Literarhistorischen Gesellschaft Bonn 4 [1909], S. 218). Diese »Überwindung des Artistentums« deute auf eine »neue Klassizität« (ebd., S. 220). 130 Lissauer: Zum Bilde Thomas Manns. Anläßlich seines Hochstaplerromans (in: Orplid, 1924) – hier zitiert nach Schröter: Mann, S. 109. 131 Schultz: Schicksal, S. 19, 133.
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kann«,132 hat noch eine bislang ausgeblendete Rückseite. Dazu abschließend nur wenige Bemerkungen. Das ohnehin schon sachliche Ethos des Philologen, der sich auf Genauigkeit der Wahrnehmung, Zurücknahme eigener Interessen, Disziplinierung emotionaler Innenwelten und Neutralität gegenüber der Welt der Objekte abrichtet, verliert durch die Zielvorgabe der Geschwindigkeitsoptimierung, die ihm der antiphilologische Zugang der Geistesgeschichte ermöglicht, seine eigentümliche Wertebindung an zeitintensives Arbeiten. Die neuen Werte der Geistesgeschichte hingegen sind kurrente Spielmarken: »Unter uns sind ja heute so manche, die alle Probleme und Methoden spielend beherrschen, die einen leichten Kopf, eine leichte Feder, aber auch ein leichtes Herz und ein leichtes Gewissen haben«, moniert 1929 Franz Schultz.133 Die gegenwärtige »Krisis der Geisteswissenschaften« bereite den »schnellfertigen Machern« den Boden, »die in der Unentschiedenheit, die gegenwärtig in den Fragen der geisteswissenschaftlichen Methoden herrscht, und in dem Schrei nach Überwindung der Einzelforschung, nach Zusammenfassung und Zusammenschau einen Freibrief für unbekümmerte Schleuderarbeit oder kühne Kompilation erblicken«.134 In literaturwissenschaftlichen Darstellungen selbst trifft entsprechend die in den 1920er Jahren beobachtete Tendenz zur Synthese, zur impressionistischen Beschreibungssprache, zur Aktualität und Gegenwärtigkeit, zur Typisierung und Schematisierung135 in vielem auf die Dissertationen über ›Thomas Mann‹ zu. Alle diese Verfahren eignen sich dazu, die Thesenund Urteilsbildung zu beschleunigen. Nicht zuletzt in genau dieser Hinsicht »erleichtert« der Autor den Literaturwissenschaftlern die »Deutung« seines Werks »erheblich«.136 Literaturverzeichnis Mann, Thomas: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 4. Königliche Hoheit. Text u. Kommentar. Hg. von Heinrich Detering. Frankfurt/M. 2004.
_____________ 132 Franz Muncker bemerkt in seiner Laudatio zum 50. Geburtstag des Dichters: »Für ein […] bedachtsames ruhiges Lesen sind alle Werke Thomas Manns geschrieben« (Schröter: Mann, S. 131, 136). 133 Schultz: Schicksal, S. 9. 134 Ebd., S. 11f. 135 Vgl. z.B. Merker: Neue Aufgaben (dazu: Martus: Kessel, S. 94ff.). 136 Peter: Mann, S. 1. Ansätze zu einer entsprechenden Einordnung der Beobachtungshaltung der Literaturwissenschaft in die Aufmerksamkeitsform der Neuen Sachlichkeit in Martus: Kessel, S. 98ff.
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Mann, Thomas: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 14. Essays I 1893–1914. Text u. Kommentar. Hg. von Heinrich Detering. Frankfurt/M. 2002. Mann, Thomas: Bilse und ich. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 14/1. Essays I 1893–1914. Hg. von Heinrich Detering. Frankfurt/M. 2002, S. 95–111. Mann, Thomas: [Der französische Einfluß]. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 14/1. Essays I 1893–1914. Hg. von Heinrich Detering. Frankfurt/M. 2002, S. 73–75. Mann, Thomas: [Die gesellschaftliche Stellung des Schriftstellers in Deutschland]. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 14/1. Essays I 1893–1914. Hg. von Heinrich Detering. Frankfurt/M. 2002, S. 225–230. Mann, Thomas: Ein Nachwort. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 14/1. Essays I 1893–1914. Hg. von Heinrich Detering. Frankfurt/M. 2002, S. 88–92. Mann, Thomas: [Frühlingssturm!]. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 14/1. Essays I 1893–1914. Hg. von Heinrich Detering. Frankfurt/M. 2002, S. 17f. Mann, Thomas: Gabriele Reuter. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 14/1. Essays I 1893–1914. Hg. von Heinrich Detering. Frankfurt/M. 2002, S. 61–72. Mann, Thomas: Kritik und Schaffen. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 14/1. Essays I 1893–1914. Hg. von Heinrich Detering. Frankfurt/M. 2002, S. 47–50. Mann, Thomas: Mitteilung an die Literaturhistorische Gesellschaft in Bonn. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 14/1. Essays I 1893–1914. Hg. von Heinrich Detering. Frankfurt/M. 2002, S. 169–173. Mann, Thomas: Notizen (II). In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 14/1. Essays I 1893–1914. Hg. von Heinrich Detering. Frankfurt/M. 2002, S. 211–216. Mann, Thomas: [Roman und Theater in Deutschland]. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 14/1. Essays I 1893–1914. Hg. von Heinrich Detering. Frankfurt/M. 2002, S. 275f. Mann, Thomas: [Tolstoi zum 80. Geburtstag]. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 14/1. Essays I 1893–1914. Hg. von Heinrich Detering. Frankfurt/M. 2002, S. 200. Mann, Thomas: [Über die Kritik]. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 14/1. Essays I 1893–1914. Hg. von Heinrich Detering. Frankfurt/M. 2002, S. 86f. Mann, Thomas: Vorwort [zu Bilse und ich]. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 14/1. Essays I 1893–1914. Hg. von Heinrich Detering. Frankfurt/M. 2002, S. 112–114. Mann, Thomas: Vorwort zu einem Roman. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 14/1. Essays I 1893–1914. Hg. von Heinrich Detering. Frankfurt/M. 2002, S. 387–395.
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Mann, Thomas: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 15. Essays II 1914–1926. Text u. Kommentar. Hg. von Hermann Kurzke. Frankfurt/M. 2002. Mann, Thomas: Anzeige eines Fontane-Buches. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 15/1. Essays II 1914–1926. Hg. von Hermann Kurzke. Frankfurt/M. 2002, S. 261–273. Mann, Thomas: Briefe aus Deutschland (I). In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 15/1. Essays II 1914–1926. Hg. von Hermann Kurzke. Frankfurt/M. 2002, S. S. 563–575. Mann, Thomas: Ein Gutachten. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 15/1. Essays II 1914–1926. Hg. von Hermann Kurzke. Frankfurt/M. 2002, S. 360–363. Mann, Thomas: Friedrich und die große Koalition. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 15/1. Essays II 1914–1926. Hg. von Hermann Kurzke. Frankfurt/M. 2002, S. 55–122. Mann, Thomas: Goethe und Tolstoi. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 15/1. Essays II 1914–1926. Hg. von Hermann Kurzke. Frankfurt/M. 2002, S. 809–936. Mann, Thomas: Goethe und Tolstoi. Vortrag. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 15/1. Essays II 1914–1926. Hg. von Hermann Kurzke. Frankfurt/M. 2002, S. 376–420. Mann, Thomas: Gute Feldpost. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 15/1. Essays II 1914–1926. Hg. von Hermann Kurzke. Frankfurt/M. 2002, S. 47–50. Mann, Thomas: Kinder des Lebens. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 15/1. Essays II 1914–1926. Hg. von Hermann Kurzke. Frankfurt/M. 2002, S. 758f. Mann, Thomas: Klärungen. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 15/1. Essays II 1914–1926. Hg. von Hermann Kurzke. Frankfurt/M. 2002, S. 274–294. Mann, Thomas: Mein Verhältnis zur Psychoanalyse. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 15/1. Essays II 1914–1926. Hg. von Hermann Kurzke. Frankfurt/M. 2002, S. 990f. Mann, Thomas: [Nationale und internationale Kunst]. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 15/1. Essays II 1914–1926. Hg. von Hermann Kurzke. Frankfurt/M. 2002, S. 505– 512. Mann, Thomas: Russische Anthologie. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 15/1. Essays II 1914–1926. Hg. von Hermann Kurzke. Frankfurt/M. 2002, S. 333–347. Mann, Thomas: Tischrede bei der Feier des 50. Geburtstags im Alten Rathaussaal zu München. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 15/1. Essays II 1914–1926. Hg. von Hermann Kurzke. Frankfurt/M. 2002, S. 985–988. Mann, Thomas: Tischrede in Amsterdam. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 15/1. Essays II 1914–1926. Hg. von Hermann Kurzke. Frankfurt/M. 2002, S. 760–763.
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Mann, Thomas: Vom Geist der Medizin. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 15/1. Essays II 1914–1926. Hg. von Hermann Kurzke. Frankfurt/M. 2002, S. 996–1002. Mann, Thomas: Von Deutscher Republik. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 15/1. Essays II 1914–1926. Hg. von Hermann Kurzke. Frankfurt/M. 2002, S. 514–559. Mann, Thomas: Zu Goethes Wahlverwandtschaften. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 15/1. Essays II 1914–1926. Hg. von Hermann Kurzke. Frankfurt/M. 2002, S. 964–977. Mann, Thomas: Zum 60. Geburtstag Ricarda Huchs. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 15/1. Essays II 1914–1926. Hg. von Hermann Kurzke. Frankfurt/M. 2002, S. 770– 777. Mann, Thomas: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M 2001ff. Bd. 21. Briefe I 1889–1913. Hg. von Thomas Sprecher / Hans R. Vaget / Cornelia Bernini. Frankfurt/M. 2002. Mann, Thomas: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M 2001ff. Bd. 22. Briefe II 1914–1923. Hg. von Thomas Sprecher / Hans R. Vaget / Cornelia Bernini. Frankfurt/M. 2004. Mann, Thomas: Die Briefe Thomas Manns. Regesten und Register [Regesten]. Bearb. und hg. unter Mitwirkung des Thomas-Mann-Archivs der ETH Zürich von H. Bürgin / H.O. Mayer. Bd. I. Die Briefe von 1889 bis 1933. Mit einem Vorwort von Hans Wysling. Frankfurt/M. 1976. Mann, Thomas / Hamburger, Käte: Briefwechsel 1932–1955. Hg. von Hubert Brunträger. Frankfurt/M. 1999. Mann, Thomas: Rede und Antwort. Gesammelte Abhandlungen und kleine Aufsätze (= Gesammelte Werke). Berlin 1922. Mann, Thomas: Thomas Mann an Ernst Bertram. Briefe aus den Jahren 1910–1955. Hg. von Inge Jens. Pfullingen 1960. Alberts, Wilhelm: Thomas Mann und sein Beruf. Leipzig 1913. Aurnhammer, Achim: [Art.] ›Witkop, Philipp Wilhelm‹. In: Internationales Germanistenlexikon 1800–1950. Hg. von Christoph König u.a. Bd. 3. Berlin, New York 2003, S. 2047f. Back, Hanne: Thomas Mann. Verfall und Überwindung. [Diss.] Wien 1922. Barner, Wilfried: Zwischen Gravitation und Opposition. Philologie in der Epoche der Geistesgeschichte. In: Christoph König / Eberhard Lämmert (Hg.): Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte von 1910 bis 1925. Frankfurt/M. 1993, S. 201–231. Bertram, Ernst: Thomas Mann. Zum Roman Königliche Hoheit. In: Mitteilungen der Literarhistorischen Gesellschaft Bonn 4 (1909), S. 195–217. Bertram, Ernst: Nietzsche. Versuch einer Mythologie. 6., unveränd. Aufl., Berlin 1922. Biltz, Karl P.: Das Problem der Ironie in der neueren deutschen Literatur, insbesondere bei Thomas Mann. [Diss.] Frankfurt/M. 1932. Eloesser, Arthur: Thomas Mann. Sein Leben und seine Werk. Berlin 1925. Erlacher, Louis: Untersuchungen zur Romantechnik Thomas Manns. [Diss.] Basel 1932. Ermatinger, Emil: Krisen und Probleme der neueren deutschen Dichtung. Aufsätze und Reden. Zürich, Leipzig, Wien 1928.
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FRIEDHELM MARX
»Lauter Professoren und Docenten« Thomas Manns Verhältnis zur Literaturwissenschaft
Wen es nach Anerkennung dürste, schreibt Thomas Mann am 16. Februar 1904 an Eugen Kalkschmidt, der dürfe sich nicht auf anderer Leute Essays verlassen, der dürfe sich nicht damit begnügen, in Schönheit zu leben und seine Nägel zu pflegen (GKFA 21, S. 265). Mann wird sich zeitlebens nicht damit begnügen, in Schönheit zu leben und seine Nägel zu pflegen. Einflussnahme auf die Rezeption seiner Werke begreift er als natürliche Fortsetzung oder als Teil seiner Arbeit als Schriftsteller. Dazu gehören Rezeptionssteuerung und Gegensteuerung, sobald bestimmte Werklektüren sich zu vereinseitigen drohen. Seinem Freund Otto Grautoff, der eine Buddenbrooks-Rezension zu schreiben im Begriff ist, diktiert er brieflich am 26. November 1901, was an den Buddenbrooks hervorzuheben sei: die Vorbilder in der englischen und russischen Literatur, in der Musik Wagners, der epische Ton, die eminent epische Wirkung des Leitmotivs und vieles mehr. Und er macht Vorschläge, was womöglich zu kritisieren sei: »Tadle ein wenig (wenn es Dir recht ist) die Hoffnungslosigkeit und Melancholie des Ausganges« (ebd., S. 179f.), schreibt er seinem Freund, der denn auch entsprechend verfährt. Auf das Manuskript einer Buddenbrooks-Einleitung von Eugen Kalkschmidt, das ihm der Verfasser im Februar 1904 zuschickt, reagiert er, indem er einerseits lobt, andererseits gezielt Gegenfragen stellt, um einer einseitigen, womöglich oberflächlichen Lektüre des Romans vorzubeugen. Am 16. Februar 1904 schreibt Thomas Mann an Kalkschmidt: »Gewundert hat mich […], daß Sie das ›Außerordentliche‹, das ›Transcendentale‹ in dem Roman ›vergebens gesucht‹ haben. Und die Musik? Und Thomas Buddenbrooks Abenteuer mit Schopenhauer? Bin ich wirklich nur ein Schilderer guter Mittagessen?« (ebd., S. 265) Natürlich will er mehr sein, natürlich will und soll sein Roman außerordentlich und transzendental sein im Vergleich zum herkömmlichen Repertoire realistischen Erzählens.
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Friedhelm Marx
Diese wenigen Schlaglichter zeigen: Thomas Mann praktiziert von Anfang an, was Pierre Bourdieu aus soziologischer Perspektive zur Bedingung der Selbstbehauptung im literarischen Feld erklärt: Wenn ich irgendein Kulturobjekt produzieren will und nicht gleichzeitig das Universum des Glaubens produziere, das bewirkt, daß es als Kunstobjekt anerkannt wird, […], dann habe ich nichts produziert als ein Ding. Mit anderen Worten: Für ein Kulturgut ist es charakteristisch, daß es ein Produkt ist wie die anderen, mit einem Extra an Glauben, der selbst produziert werden muß.1
Ein korrespondierendes Universum des Glaubens zu produzieren ist durchaus keine leichte Aufgabe. Thomas Mann hat sich als ein solcher Glaubensstifter zu betätigen versucht. Um das symbolische Kapital seiner Werke und um die Vermehrung dieses Kapitals hat er sich in der Auseinandersetzung mit der Literaturkritik wie auch – ein wenig später – mit der Literaturwissenschaft intensiv gekümmert. Die zeitgenössische Literaturwissenschaft reagiert auf die Publikation der Buddenbrooks zunächst verhalten. Später werde einmal »die literarische Wissenschaft ihr wägendes, umfassendes Urteil«2 über die jetzt noch gegenwärtige Literatur sprechen: An Thomas Mann werde sie sicherlich nicht vorübergehen, steht in einer frühen Rezension der Buddenbrooks von 1903 zu lesen. Und so geschieht es dann auch. Spätestens ab 1904 findet Thomas Manns Roman Resonanz in der Literaturwissenschaft, und Mann selbst wirkt an der Erweiterung dieses Resonanzraums mit. Am Anfang steht ein Erlebnis im Rahmen einer Göttinger Buddenbrooks-Lesung am 21.7.1904, wo der Roman in seinem Beisein literaturwissenschaftlich verhandelt wird. Er schreibt rückblickend am 19. August 1904 an Ida BoyEd: In Göttingen war es wunderhübsch: die wohlgelungenste der Kunstreisen, die ich bis jetzt überstanden habe. Ein mäuschenstilles, überaus gutwilliges Publikum, ein Abendessen in hochgelehrtem Kreise, lauter Professoren und Docenten (von denen der Eine sogar eine Rede auf mich hielt, was gewiß ein bißchen übertrieben von ihm war; aber wenn es einem zum ersten Male passirt, so ist es ein ganz eigenthümliches Gefühl) und schließlich, in Gesellschaft von vier oder fünf Studenten, eine langausgedehnte und behagliche Sitzung bei Liebfrauenmilch, in einer altdeutschen Weinstube mit einem unvergeßlich komischen Wirt namens Mütze. (GKFA 21, S. 295)3
Damit ist eine neue Qualität der Kommunikation innerhalb des literarischen Felds erreicht: lauter Professoren, Dozenten und Studenten. In den nächsten Jahren intensivieren sich diese Kontakte. Von Seiten der _____________ 1 Bourdieu: Lesen, S. 129. 2 Bäumer: Mann, S. 36. 3 Der Vortrag fand im Rahmen der »Freien Göttinger Vortragsabende« am 21.7.1904 im Saal des Cafés Hapke statt.
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Literaturwissenschaft zeigen zunächst vor allem Außenseiter Interesse, Professoren, die nicht nur wissenschaftliche, sondern auch literarische Texte publizieren: Philipp Witkop etwa, Freiburg, Ernst Bertram, Bonn, und Heinrich Meyer-Benfey, der vermutlich die Rede in Göttingen hielt. Gut zwanzig Jahre später ist Mann, der aus der Sekunda entlaufene Libertin, durch zahlreiche Briefkontakte, Begegnungen und Freundschaften dermaßen mit der Welt der Geisteswissenschaften vertraut, dass er sich in der Novelle Unordnung und frühes Leid in einem Geschichtsprofessor spiegelt. Und dieser Professor macht durchaus keine groteske Figur, im Unterschied etwa zu Heinrich Manns Professor Unrat, im Unterschied auch zu einem frühen Werkplan, der den Titel »Der kleine Professor« führte und wohl in die Novelle Der Kleine Herr Friedemann eingegangen ist. Wie sich Thomas Manns Verhältnis zur Literaturwissenschaft ausnimmt, will ich allerdings nicht an dieser Novelle, sondern am Beispiel zweier Selbstdeutungsfiguren erläutern, die in seinem Fall die Anschlussfähigkeit an den Resonanzraum der Literaturwissenschaft und die Zugehörigkeit zum Kanon der Moderne langfristig sichern sollen. Dabei lässt sich eine Form der Interaktion zwischen Literatur und Literaturwissenschaft zu beobachten, die für die Literatur der Moderne symptomatisch ist. I. Bei der ersten Selbstdeutungsfigur handelt es sich um das Gattungsetikett ›Bildungsroman‹, mit dem Thomas Mann von 1921 an, also im fortgeschrittenen Stadium literaturwissenschaftlicher Kontakte, sein ZauberbergProjekt beschreibt. 1921 taucht es erstmals im Tagebuch auf und wird wenig später von Thomas Mann durchaus gezielt in Umlauf gesetzt. Seither begleitet diese Gattungszuschreibung die Deutungsgeschichte des Zauberbergs. Tatsächlich benutzt Thomas Mann das Wort schon 1916 – und zwar zur Beschreibung seines Krull-Romans, der so etwas wie die Parodie des deutschen Bildungs- und Entwicklungsromans sei (GKFA 15/1, S. 176). Diese Zuschreibung läuft (was den Krull-Roman betrifft) ins Leere, wird allerdings in den frühen 20er Jahren auf den immer noch nicht abgeschlossenen Zauberberg übertragen. »Er [der Zauberberg] ist, wie der Hochst[apler], auf seine parodistische Art ein humanistisch-goethischer Bildungsroman, und H[ans] C[astorp] besitzt sogar Züge von W[ilhelm] Meister, wie mein Verhältnis zu ihm dem Goethe’s zu seinem Helden ähnelt, den er mit zärtlicher Rührung einen ›armen Hund‹ nennt« (Tb. 1918–1921, S. 531), notiert Thomas
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Mann am 15. Juni 1921 in sein Tagebuch. Damit ist eine konzeptionelle Formel für den Roman gefunden, eine klassische Orientierungsgröße etabliert, an der sich parodistisch entlangschreiben lässt. Von nun an steht Hans Castorp im Schatten Wilhelm Meisters. Wenige Monate später, und das heißt: knapp drei Jahre vor der Fertigstellung des Romans, gibt Thomas Mann die Werkformel auch schon weiter: Es sind unter anderen befreundete Literaturwissenschaftler, die als erste erfahren, dass der Zauberberg als Bildungsroman zu lesen sein soll: Philipp Witkop in einem Brief vom 14. Dezember 1921, Ernst Bertram in einem Brief vom 25. Dezember 1922 (GKFA 22, S. 415 u. 461).4 An Félix Bertaux schreibt Thomas Mann am 1. März 1923, der Zauberberg sei »eine innerlich weitläufige Komposition mit politischen, philosophischen und pädagogischen Einschlägen«, ein Versuch, »den ›Bildungsroman‹ zu erneuern« (ebd., S. 474). Ein gutes Jahr später, am 23. Juli 1924, nennt er den Zauberberg in einem weiterem Brief an Félix Bertaux »ein spezifisch deutsches und grund-wunderliches Unternehmen, eine Art von Modernisierung des Bildungs- und Erziehungsromans und auch wieder etwas wie eine Parodie darauf« (DüD I, S. 478). Und mit diesem Begriff (im deutschen Original) stellt Bertaux den Zauberberg dann auch der französischen Öffentlichkeit vor.5 Die Zauberberg-Rezension von Félix Bertaux eröffnet die Erfolgsgeschichte der Deutungsformel ›Bildungsroman‹. Seither arbeitet sich die Thomas-Mann-Forschung an der Frage ab, ob und in welchem Sinn der Zauberberg ein Bildungsroman sei.6 Das hat seine Ursache nicht nur darin, dass die Formel Bildungsroman von Thomas Mann autorisiert ist. Sie markiert die Anschlussfähigkeit des Romans an die Deutungsmuster der Literaturwissenschaft, sie übersetzt den Roman in die Sprache der Wissenschaft und gibt ihr zu denken. Es liegt nahe, die Transferleistung Thomas Manns als Strategie einzustufen, als Form nachhaltiger Rezeptionssteuerung durch einen souveränen Autor, als Ausdruck auktorialer Werkherrschaft, als Versuch, ein literaturwissenschaftliches Universum des Glaubens zu produzieren. Aber damit ist das Verhältnis zwischen Literatur und Literaturwissenschaft in diesem besonderen Fall allenfalls halbwegs beschrieben. Tatsächlich verdankt sich der Begriff Bildungsroman der literaturwissenschaftlichen Diskussion, die 1906 mit Wilhelm Dilthey einsetzt, den Begriff Bildungsro-
_____________ 4 »Dieser wunderliche Bildungsroman führt doch eigentlich auch wieder aus dem ›Verfall‹ nicht heraus«, schreibt Thomas Mann an Witkop und gibt damit gleich zwei Deutungsmuster vor. 5 Vgl. Bertaux: Zauberberg, S. 508f. 6 Vgl. zuletzt Neumann: Bildungsweg, S. 133–148.
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man wissenschaftlich etabliert und zum Nobilitierungskriterium deutschsprachiger Romane macht.7 Wie und auf welchen Wegen Thomas Mann von dieser Diskussion affiziert wurde, lässt sich nicht genau sagen. Dass Thomas Mann 1921 die erneute Beschäftigung mit Goethe eine neue Perspektive auf den entstehenden Roman »bescherte«, wie Michael Neumann schreibt (GKFA 5/2, S. 39), ist jedenfalls ungenau. Um eine Bescherung, um einen unwillkürlichen Ideenanflug handelt es sich nicht. Im Tagebucheintrag vom 15. Juni 1921 weist Mann selbst auf die Lektüre der Goethe-Biographie von Bielschowsky hin, bei der ihm die Affinität seines Zauberberg-Projekts zum Bildungsroman deutlich geworden sei (Tb. 1918–1921, S. 531). In anderen Werken der Goethe-Philologie, die er im Sommer 1921 zur Vorbereitung seines Essays Goethe und Tolstoi nutzte, ist explizit vom Bildungsroman die Rede, etwa in Friedrich Gundolfs Goethe-Monographie von 1916.8 Wie auch immer Thomas Mann auf diesen wissenschaftsgeschichtlich relativ jungen Gattungsbegriff gestoßen ist: Indem er ihn dem Zauberberg und der Deutungsgeschichte des Zauberbergs einschreibt, agiert er gleichermaßen als Literat und als Literaturwissenschaftler, ebnet er die Grenzen zwischen Literatur und Literaturwissenschaft ein. Einerseits gibt er der Literaturwissenschaft eine geschmeidige Werkformel vor, andererseits verdankt er diese Formel, die von 1921 an die Konzeption des Zauberbergs prägt, der literaturwissenschaftlichen Diskussion. Welches Feld hier welches dominiert, lässt sich nicht präzise klären. II. Mein zweites Beispiel bezieht sich auf den Faustus-Roman und zeigt wiederum eine spezifische Interaktion zwischen dem Feld der Literatur und dem der Literaturwissenschaft. Den Hintergrund bildet die Deutungskategorie der Modernität, die spätestens seit dem 18. Jahrhundert, erst recht aber um 1900 zum entscheidenden Wertungskriterium der Literatur avanciert. Thomas Mann wird sie bereits 1904 zugeschrieben, und zwar besonders enthusiastisch von Samuel Lublinski in seinem Buch Die Bilanz der Moderne: Da figuriert der Verfasser der Buddenbrooks als »schlechtweg der bedeutendste Romandichter der Moderne«.9 Wie schon der Schlusssatz von Lublinskis Buddenbrooks-Rezension von 1902, dieser Roman werde »wachsen mit der Zeit und noch von vielen Generationen gelesen wer_____________ 7 Vgl. Redfield: Phantom Formations. 8 Vgl. Gundolf: Goethe, S. 341ff. 9 Lublinski: Bilanz, S. 224.
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den: eines jener Kunstwerke, die wirklich über den Tag und das Zeitalter erhaben sind […]« (GKFA 1/2, S. 224), impliziert diese Zuschreibung Zukunft. Auch deswegen sucht Thomas Mann sie zeitlebens zu verteidigen – nicht ohne Erfolg: Die Frage, ob und inwiefern Thomas Mann der literarischen Moderne zuzurechnen ist, prägt bis heute die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit seinem Werk. Zugleich bildet der Kampf um die Dauerpräsenz im Kanon der modernen Literatur für Thomas Mann einen Motor der literarischen Produktion. Dass und wie sich die Maßstäbe und Vergleichsgrößen zur Bestimmung literarischer Modernität verändern, beobachtet er jedenfalls sehr genau. Für Lublinski gilt Thomas Manns Nähe zum Naturalismus, zu Autoren wie Arno Holz, Johannes Schlaf und Gerhart Hauptmann als Ausweis seiner Modernität10: Diese Bestimmung mag 1904 noch Geltung behaupten, wenig später wird sie revidiert. In den 1920er Jahren kommen ganz andere, internationale Orientierungsmarken ins Spiel, etwa James Joyce. Wie souverän Joyce mit seinem Ulysses das Zentrum der literarischen Moderne besetzt und wie sich der spezifische Glanz des Romans verbreitet, lässt sich in Kurt Tucholskys Ulysses-Rezension von 1927 nachlesen, die sich nur vordergründig distanziert gibt: Fortschrittliche Professoren haben für den Ulysses eine Vorliebe gefaßt, und es ist nicht nur das, was mich mißtrauisch macht. Ich habe 1585 Seiten bekommen – aber eben mit Ausnahme jener zwei grandiosen Stücke [zwei Passagen im 3. Band des Romans] ist da nichts auf meinem Teller; bis jetzt kann ich das nicht essen – es ist irgend etwas Künstliches an der Sache, etwas Konstruiertes, und, nun will ich mich getrost steinigen lassen: etwas Phantasieloses.11
Tucholsky spielt nur mit der Option, den Roman zu kritisieren. Man kann die ganze Rezension als Verbeugung vor einem grandiosen Werk lesen. »Wahrscheinlich ist das mehr als Literatur – auf alle Fälle ist es die allerbeste«, schreibt er12: Literatur auf der Höhe der Gegenwart. Darin stimmen also, auch wenn es Tucholsky skeptisch stimmt, die fortschrittlichen Literaten, Literaturkritiker und Literaturprofessoren überein. Die Schlussformel der Rezension: »Liebigs Fleischextrakt. Man kann es nicht essen. Aber es werden noch viele Suppen damit zubereitet werden«13 bringt noch einmal auf den Punkt, dass dieses Buch seine Größe der Verstörung verdankt, die es auslöst. Es dauert nicht lange, bis diese Verstörung Thomas Mann erreicht; Hans R. Vaget und unlängst Eva Schmidt-Schütz haben das detailliert _____________ 10 11 12 13
Lublinski: Bilanz, S. 227. Tucholsky: Ulysses, S. 381. Ebd., S. 382. Ebd., S. 385.
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nachgezeichnet.14 Bereits 1929 äußert sich Thomas Mann in einem Brief an Max Rychner geschmeichelt, dass man sein Werk mit dem von Proust und Joyce in einem Atemzug nenne.15 Fortan bilden Proust, Joyce (neben wenig anderen wie André Gide) für ihn die Wegmarken der Moderne. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat Thomas Mann Joyce zu diesem Zeitpunkt (wenn überhaupt zu einem späteren) nicht gelesen. Aber die Wirkung seiner Bücher nimmt er sehr genau wahr, etwa 1934 bei der ersten Schiffspassage in die USA 1934. Am 26. Mai notiert er sich in sein Tagebuch: An einem Einzeltischchen (offenbar auf Verlangen) speist ein fischmäuliger Amerikaner, der es offenbar in sich hat und der übrigen Reisegesellschaft überlegen scheint. […] Er las ein Buch über Joyce und liest eines von diesem Autor selbst. Heute beim Frühstück sah ich ihn Notizen machen. Der Mann interessiert uns. Wir zweifeln nicht, daß er der geistig Höchststehende unter den Fahrgästen ist. (Tb. 1933–1934, S. 432f.)
Diese kleine Szene und ihr Kommentar spiegeln Thomas Manns prekär ambivalentes Verhältnis zu James Joyce: Da ist ein Joyce-Leser, der seine Aufmerksamkeit erregt, der Neugier und Interesse weckt, beinahe soviel Interesse, als handele es sich um einen Thomas-Mann-Leser. Der Leser erscheint als Außenseiter, als Aristokrat des Geistes, nicht nur, weil er sich von der Reisegesellschaft absondert, sondern auch, weil er genau diesen Autor liest. Thomas Mann nimmt zugleich wahr, wie und in welchem Kontext Joyce gelesen wird: Erst ein Buch über Joyce, dann eines von ihm, dann Notizen. Für diesen Joyce-Leser sind die Grenzen zwischen Literatur und Literaturwissenschaft erodiert. Womöglich handelt es sich um einen fortschrittlichen Professor, womöglich aber auch um einen spezifisch modernen Leser, dessen Einebnung der Grenzen zwischen Literatur und Kommentar, zwischen Literatur und Literaturwissenschaft diesem spezifisch modernen Roman entspricht. So jedenfalls nimmt Thomas Mann ihn wahr. Demgegenüber stellt sich bei Thomas Mann die Sorge ein, mit dem eigenen Werk flau und hausbacken zu wirken. Es handelt sich für ihn um eine brennende, eine existenzielle Frage, insofern nicht Traditionalismus, sondern nur experimentelle Kühnheit die Präsenz im Kanon der Moderne garantiert. Die nächste Begegnung mit Joyce vertieft diese Wunde: »Ulysses is a novel to end all novels«, liest Thomas Mann 1942 in der Joyce-Biographie von Harry Levin.16 Wiederum wird Joyce das Verdienst zugeschrieben, die Krise der Form, des Romans nicht kaschiert, sondern in letzter _____________ 14 Vgl. Vaget: Mann und Schmidt-Schütz: Faustus, S. 29–113. 15 Vgl. den Brief Thomas Manns an Max Rychner, 7.9.1929: Wysling: Briefwechsel, S. 14. 16 Levin: Joyce, S. 43. Thomas Mann beginnt am 17.2.1942 mit der Lektüre des Buches: vgl. Tb. 1940–1943, S. 394ff.
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Konsequenz ausgetragen und ausagiert zu haben. Dem kann Thomas Mann nur die eigene Popularität und Lesbarkeit entgegenhalten, und das tut er nach Kräften. Zugleich aber will er als Wahlverwandter von James Joyce wahrgenommen werden, um nur nicht als flauer Traditionalist in die Literaturgeschichte einzugehen oder vielmehr auf diese Weise aus der Literaturgeschichte verabschiedet zu werden. Dementsprechend sucht er mit allen Mitteln der Rezeptionssteuerung diejenigen zu ermuntern und mit Argumenten zu versorgen, die in ihm einen Bruder von James Joyce sehen. Für mich ist der Roman einfach das Gebiet literarischer Abenteuer, und er ist desto mehr Roman, je mehr er als Werk, als Unternehmen, an sich selbst romanhaft, d.h. abenteuerlich, neu und »kein Roman mehr« ist. Es ist nun einmal meine Lust und mein Schicksal, auf eine liebevolle Art die Tradition aufzulösen. »Under the cover of a conventional use of language, schrieb hier neulich jemand, he [Thomas Mann] has been perhaps as adventurous an innovator as Joyce.« Die Deutschen, besonders die deutschen Literaten, haben mich nie richtig gesehen.
Das schreibt er am 6. Oktober 1948 an W. E. Süskind (Tb. 1946–1948, S. 940). Man kann beobachten, wie intensiv er daran arbeitet, nun endlich ›richtig‹ gesehen zu werden. Die Auseinandersetzung mit Joyce strahlt auch auf Thomas Manns literarische Arbeit aus. In seinem (nach eigenem Bekenntnis) »wildesten Buch«, dem Faustus-Roman17, unternimmt Thomas Mann einen für seine Verhältnisse beispiellosen Versuch ästhetischer Radikalität. Gerade mit diesem Werk will er als Wahlverwandter von James Joyce wahrgenommen werden. Der Roman ist schon thematisch ein Wagnis: als Faust-Geschichte, die sich gegen Goethes Faust zu behaupten sucht, als Deutschlandroman, der die finsterste Epoche der deutschen Geschichte thematisiert. Ich will das nicht im Einzelnen ausführen. Dem heiklen Sujet korrespondiert eine für das Romanwerk Thomas Manns neue erzählerische Form: Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn wird aus der Perspektive einer Erzählerfigur geschildert, die ihre eigene bedrückende Gegenwart mit der Lebensvergangenheit des Freundes kreuzt. Zwei Zeit- und Handlungsebenen werden dadurch aufeinander bezogen: das Leben Adrian Leverkühns und die Situation Deutschlands im Zweiten Weltkrieg. Dem Roman sind überdies einige Sprachexperimente eingeschrieben, am evidentesten im so genannten Teufelsgespräch, von dem Leverkühn dem Freund und Erzähler in einer Sprache brieflich berichtet, die der des Faustbuchs von 1587 nachempfunden ist. Überdies unterhält das Werk enge Beziehungen zu der Musik, die dem Protagonisten zugeschrieben wird, und nimmt für sich in Anspruch, keine freie Note aufzuweisen. Mit _____________ 17 Vgl. etwa den Brief an Jacques Mercanton, 21.1.1948.
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anderen Worten: Der Faustus-Roman markiert eine Schwelle im Werk Thomas Manns, wenn man will, eine Schwelle zur Alterswildheit. Thomas Mann hat es jedenfalls so sehen wollen: es handele sich um eine ziemlich wilde Geschichte, wird er nicht müde zu behaupten. Und in der Entstehung des Doktor Faustus provoziert er geradezu den Vergleich mit dem Roman der Moderne, mit dem Ulysses. Bücher über Joyce hätten ihm, so schreibt er dort, manche unvermutete Beziehung und sogar Verwandtschaft klargemacht: »Mein Vorurteil war, daß neben Joyce’s exzentrischem Avantgardismus meine Werke wie flauer Traditionalismus wirken müssen. Daran ist wahr, daß traditionelle Gebundenheit, sei sie selbst schon parodistisch gefärbt, leichtere Zugänglichkeit bewirkt, die Möglichkeit einer gewissen Popularität in sich trägt. Doch ist sie mehr eine Sache der Haltung als des Wesens«. Das Wort Levins »Ulysses is a novel to end all novels« treffe, so Thomas Mann, nicht weniger auf den Zauberberg, auf den Joseph und den Doktor Faustus zu.18 Deutlicher noch wird er in Briefen wie dem an Jacques Mercanton vom 21. Januar 1948, der in einem Buch Thomas Mann und Joyce kontrastiert hatte.19 Da heißt es: Sie reflektieren an einer Stelle über die Tatsache der Popularität meiner doch niemals ganz geheueren Bücher im Gegensatz etwa zu denen von Joyce. Auch ich habe natürlich schon über diese Erscheinung nachgedacht. Es liegt ihr wohl viel Mißverständnis zugrunde, aber die Lesbarkeit dieser Produkte für viele mag mit einer Konzilianz und Umgänglichkeit ihrer Haltung zusammenhängen, die über manches Widersprechende hinwegtäuscht, mit einem Traditionalismus, dessen Problematik in Kauf genommen wird. Diese aber kommt mehr und mehr zu Tage, und mein jüngstes Buch, das Sie leider noch nicht in Ihre Betrachtung einbeziehen konnten, der Roman »Dr. Faustus«, eine ziemlich wilde Geschichte, wird wohl von dem schönen Wahn, ich sei eine bürgerlich-konservative Exzellenz und ein ironisch ausgeglichenes Gemüt, nicht viel übrig lassen. (DüD III, S. 127f.)
Und an André von Gronicka schreibt er am 20. November 1948: Auch widerspreche ich garnicht, wenn man sagt: »Es ist kein Roman mehr.« Das ist wohl die Situation des Romans überhaupt heute. Schon von Joyce schrieb einer: »He has enormously increased the difficulty of writing a novel.« Der Faustus ist ein End-Buch in jeder Beziehung, ein Buch des Endes und, mag sein, ein endendes Buch. (DüD III, S. 201)20
_____________ 18 Mann: Entstehung, S. 204f. 19 Mercanton: Poètes, S. 10. 20 In den Briefen an Ernst Fischer und Gertrud Lukács schwächt Thomas Mann diese Position allerdings deutlich ab (DüD III, S. 211f., 230). Am 27.5.1951 schreibt er an Ludwig Muth: »Der Faustus ist ein Roman des Endes und arbeitet Idee und Gefühl des Endes mit allen Mittel heraus. Aber gibt es denn ein Ende? Es gibt doch nur Uebergang, und außerhalb des Romans glaube ich an die Sackgasse der Welt so wenig wie an meine eigene. Das Leben geht weiter, die Kunst tut es auch.« (DüD III, S. 264).
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Diese Selbstdeutungsfigur setzt sich bei Thomas Mann fest, sie wird ihm zugleich zum Problem. Auch den Erwählten, den Folgeroman, der gewissermaßen ein musikalisches Projekt Adrian Leverkühns literarisch ausführt und sich also noch in den Spuren des Faustus-Romans bewegt, bezeichnet er als Spätwerk in jedem Sinn, nicht nur nach den Jahren seines Verfassers, sondern auch als Produkt einer Spätzeit, das mit Alt-Ehrwürdigem, einer langen Überlieferung sein Spiel treibt. [...] ich habe wenig dagegen, ein Spätgekommener und Letzter, ein Abschließender zu sein [...]. Oft will mir unsere Gegenwartsliteratur, das Höchste und Feinste davon, als ein Abschiednehmen, ein rasches Erinnern, Noch-einmalHeraufrufen und Rekapitulieren des abendländischen Mythos erscheinen, – bevor die Nacht sinkt, eine lange Nacht vielleicht und ein tiefes Vergessen. Ein Werkchen wie dieses ist Spätkultur, die vor der Barbarei kommt, mit fast fremden Augen schon angesehen von der Zeit.21
Und tatsächlich experimentiert er in diesem Roman noch einmal mit Erzählformen, die sein bisheriges Spektrum überbieten: Es erzählt kein Beobachter wie Zeitblom, es erzählt ein so genannter Geist der Erzählung, der gelegentlich in einer Mönchsfigur verschwimmt und zu Beginn des Romans sogleich alle Glocken läuten lässt. Und dieser Geist bedient sich einer Sprachvielfalt, die von mittelhochdeutschen Wendungen über Neologismen bis zu zeitgenössischen Anglizismen reicht. Ein weiteres literarisches Endspiel also – mit beiläufigem Unterhaltungswert. Wie nun aber weiterschreiben, wo schon zwei Bücher vorliegen, die als Endwerke gelesen werden wollen, als Romane, die alle Romane erledigen? Im Grunde ist es gar nicht möglich, und es bedarf einiger Selbstüberwindung, das vergleichsweise harmlose Krull-Fragment wiederaufzunehmen. Ich will das nicht auch noch nachzeichnen. Deutlich sollte geworden sein, wie sehr sich die Denkfigur, dass ein Roman nur noch ernst genommen wird, wenn er sich vornimmt, alle Romane zu erledigen, Thomas Manns literarische Entwicklung prägt. Provoziert wird diese Denkfigur durch James Joyces Ulysses, der spätestens in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts in der Literaturwissenschaft und der Literaturkritik zum Prototyp moderner Literatur avanciert, Harry Levin zufolge »a novel to end all novels«. Diese genuin literaturwissenschaftliche Zuschreibung entfaltet eine Eigendynamik, die auf die Literatur – nicht zum wenigsten auf das Werk Thomas Manns – zurückwirkt.
_____________ 21 Mann: Bemerkungen, S. 690f.
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III. Was lässt sich daraus folgern? Für die Thomas-Mann-Forschung scheint es angezeigt, die Selbstdeutungsmuster Thomas Manns genauer zu beobachten, als es bisher geschehen ist, und nicht bei der Entlarvung der Selbstdeutungsoperationen Thomas Manns stehenzubleiben. Offenbar handelt es sich bei diesem Autor nicht oder nur zum Teil um einen Fall souveräner Werkherrschaft und Rezeptionssteuerung. Die Selbstdeutungsoperationen Thomas Manns erweisen sich vielmehr als Rezeption der Rezeption, als Beobachtung der Beobachtung literarischer Werke, mithin als eine Form der Interaktion zwischen Literatur und Literaturwissenschaft, wie sie für die Literatur der Moderne symptomatisch zu sein scheint. Die Deutungsmuster und Kanonisierungsprozesse der Literaturwissenschaft wirken seit ihrer Etablierung als Disziplin auf die Literatur zurück: im Fall Thomas Manns etwa auf die Konzeption des Zauberbergund des Faustus-Romans. Literaturverzeichnis Mann, Thomas: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 1. Buddenbrooks. Text u. Kommentar. Hg. von Eckhard Heftrich / Stephan Stachorski. Frankfurt/M. 2002. Mann, Thomas: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 5. Der Zauberberg. Text u. Kommentar. Hg. von Michael Neumann. Frankfurt/M. 2002. Mann, Thomas: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 15. Essays II 1914–1926. Text u. Kommentar Hg. von Hermann Kurzke. Frankfurt/M. 2002. Mann, Thomas: Der Entwicklungsroman. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 15/1. Essays II 1914–1926. Hg. von Hermann Kurzke. Frankfurt/M. 2002, S. 173–176. Mann, Thomas: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 21. Briefe I 1889–1913. Hg. von Thomas Sprecher / Hans R. Vaget /Cornelia Bernini. Frankfurt/M. 2002. Mann, Thomas: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 22. Briefe II 1914–1923. Hg. von Thomas Sprecher / Hans R. Vaget / Cornelia Bernini. Frankfurt/M. 2004. Mann, Thomas: Die Entstehung des Doktor Faustus. In: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. XI. Frankfurt/M. 1990, S. 145–301. Mann, Thomas: Bemerkungen zu dem Roman Der Erwählte. In: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. XI. Frankfurt/M. 1990, S. 687–691. Mann, Thomas: Tagebücher [Tb.]. Bd. 1. 1918–1921; Bd. 2. 1933–1934; Bd. 5. 1940–1943; Bd. 7. 28.5.1946–31.12.1948. Hg. von Peter de Mendelssohn / Inge Jens. Frankfurt/M. 1977–1995.
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Mann, Thomas: Dichter über ihre Dichtungen [DüD]. Hg. von Hans Wysling. Bd. I u. III. München, Frankfurt/M. 1975 u. 1981. Bäumer, Gertrud: Thomas Mann, der Dichter der Buddenbrooks. In: Die Frau 11, 1 (1903), S. 32–36. Bertaux, Félix: Der Zauberberg. In: La Nouvelle Revue Francaise. Revue Mensuelle de Littérature et de Critique [Paris] 25 (1925), S. 508–510. Bourdieu, Pierre: Das Lesen: Eine kulturelle Praxis. In: Margareta Steinrücke (Hg.): Wie die Kultur zum Bauern kommt. Über Bildung, Schule und Politik. Hamburg 2001, S. 121– 141. Gundolf, Friedrich: Goethe. Berlin 1916. Levin, Harry: James Joyce. A Critical Introduction. New York 1941. Lublinski, Samuel: Die Bilanz der Moderne. Mit einem Nachwort neu hg. von Gotthart Wunberg. Tübingen 1974. Mercanton, Jacques: Poètes de l’univers. Paris 1947. Neumann, Michael: Ein Bildungsweg in der Retorte. Hans Castorp auf dem Zauberberg. In: Thomas Mann Jahrbuch 10 (1997), S. 133–148. Redfield, Marc: Phantom Formations: Aesthetic Ideology and the Bildungsroman. Ithaca 1996. Schmidt-Schütz, Eva: Doktor Faustus zwischen Tradition und Moderne. Eine quellenkritische und rezeptionsgeschichtliche Untersuchung zu Thomas Manns literarischem Umfeld. Frankfurt/M. 2003 (Thomas-Mann-Studien 28). Tucholsky, Kurt: Ulysses. In: K. T.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hg. von Mary Gerold-Tucholsky / Fritz J. Raddatz. Bd. 5. Reinbek 1995, S. 379–385. Vaget, Hans R.: Thomas Mann und Joyce: Zur Frage des Modernismus im Doktor Faustus. In: Thomas Mann Jahrbuch 2 (1989), S. 121–150. Wysling, Hans (Hg.): Briefwechsel Thomas Mann – Max Rychner. In: Blätter der ThomasMann-Gesellschaft 7 (1967), S. 5–38.
SABINA BECKER
Zwischen Klassizität und Moderne Die Romanpoetik Thomas Manns
Thomas Mann gilt als einer der wichtigen, wenn nicht sogar als der wichtigste Vertreter einer Klassischen Moderne.1 Vermutlich wird im Hinblick auf das Romanwerk dieses Autors überhaupt erst von einer solchen ›klassischen‹ Form der Moderne gesprochen: Von einer Modernität also, die im Unterschied zur avantgardistischen Moderne auf experimentelle Schreibweisen und auf eine Fragmentpoetik verzichtet – eine weit reichende Entscheidung, mit der zum einen ästhetische Festlegungen einhergehen, und die zum andern den Rekurs auf die Tradition und auf ein konventionelles realistisches Erzählen im Stil des 19. Jahrhunderts garantiert. Diese Kontinuität dürfte die Diskussion um Manns ersten Roman, um die 1901 erschienenen Buddenbrooks, im Kontext des Bürgerlichen Realismus und der Literatur des bürgerlichen Zeitalters angeregt haben. Zuallererst reklamiert die Mann-Forschung ihren Autor aber, wie erwähnt, als einen bedeutenden Repräsentanten der klassischen Moderne;2 indes ist sie selten bereit, diese zugewiesene Stellung mittels einer kontextualisierenden Untersuchung zu präzisieren. Dennoch scheint es lohnend, die Manns Romanen immanente Poetologie mit Blick auf den Modernediskurs zu präzisieren. Hierbei ist ein sehr viel weiter gefasster Modernebegriff3 zugrunde zu legen, als dies im Hinblick auf Manns Werk gemeinhin getan wird. Eine solche Konfrontation der Romanästhetik Thomas Manns mit den Möglichkeiten modernen Erzählens ist sicher perspektivenreich, kann sie doch neben der Traditionsgebundenheit die Eigenheiten und Besonderheiten des Mannschen Werks benennen. _____________ 1 Vgl. Koopmann: Roman in Deutschland; Neumann: Irritationen; außerdem: Thomas Mann. Ein Klassiker der Moderne; hier vor allem der Aufsatz von Dierks: Mann. 2 Vgl. Lehnert / Pfeiffer (Hg.): Modernität; Renner: Modernität. 3 Vgl. dazu etwa: Calinescu: Five Faces; Zima: Moderne; Graevenitz: (Hg.): Konzepte; Becker / Kiesel (Hg.): Literarische Moderne.
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Sabina Becker
Aussagen über Manns Romankunst lassen sich weniger über die verstreuten Äußerungen des Autors treffen. Es soll daher im Folgenden nicht darum gehen, diese Bemerkungen Manns zu sammeln, um aus ihnen eine Poetologie zu destillieren, die ohnehin keinen allzu großen Anspruch auf Allgemeingültigkeit für den modernen Roman oder den Roman der Moderne beziehungsweise in der Moderne hätte;4 auch ist das längst getan, vor allem die Arbeiten von Helmut Koopmann und Hartmut Steinecke widmen sich den poetologischen Stellungnahmen Thomas Manns.5 Effektiver scheint eine Diskussion seiner Romane und Romanästhetik im Kontext der literarischen Moderne; zumal Manns Romanverständnis eng mit seinem Literaturbegriff wie mit seinem Verhältnis zur kulturellen Tradition und seinen gesellschaftlichen Positionen gleichermaßen verbunden ist. Bekanntlich steht im Zentrum von Manns theoretischen und romanpoetologischen Erörterungen die positive Bestimmung der epischen Großform: Der Roman ist für ihn die »repräsentative Kunstform der Epoche« (GW X, S. 359). Seine Essays nun machen deutlich, dass Mann um diese Erkenntnis gekämpft hat, sie ist keineswegs das Ergebnis einer bestehenden Affinität und von vornherein nachzuweisenden Einsicht. So beeindruckend dieser persönliche Reifeprozess auch sein mag, so stellt sich angesichts von Manns Auseinandersetzung mit der gattungsgeschichtlichen Entwicklung die Frage nach der Relevanz seiner Erörterungen am Beginn des 20. beziehungsweise zu Ausgang des 19. Jahrhunderts. Am Ende einer Epoche also, in der das Drama nur mehr eine untergeordnete Rolle gespielt hatte: Denn weder die Romantik noch der Realismus waren der Gattung sonderlich verpflichtet, zu stark wirkten die programmatischen Affinitäten beider Bewegungen zum Roman. Angesichts der Bedeutung, die der Romangattung im gesamten 19. Jahrhundert zukam, ist die Tragweite von Manns Bekenntnis begrenzt. Es handelt sich – angesichts der Selbstverständlichkeit einer solchen Aussage auch im Jahr 1939 – wohl eher um eine Selbstbeschwörungsformel des Autors Thomas Mann als um eine epochenrelevante Erkenntnis. Die Autoren der literarischen Moderne jedenfalls reden bereits in den 10er Jahren weniger über die Repräsentativität des Romans, vielmehr ist für Alfred Döblin, Carl Einstein, Heinrich Mann, Robert Musil, Hermann Broch, Lion Feuchtwanger oder Arnold Zweig, ganz zu schweigen von den Autorinnen der Neuen Sachlichkeit der 20er Jahre (u. a. Fleißer, Baum, Seghers, Keun, Tergit) die wichtigste Gattung in der Moderne der Roman. Döblin arbeitet _____________ 4 Vgl. vor allem Manns Essays: Versuch über das Theater. I (GW X, S. 23–62); Der autobiographische Roman (GW XI, S. 700–703); Geist und Kunst; Die Kunst des Romans (GW X, S. 348–362); sowie: Der Entwicklungsroman (GKFA 14/1, S. 123–168). 5 Koopmann: Entwicklung; Steinecke: Romanpoetik.
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spätestens seit 1910 an einem »modernen Epos«6, dessen Form, Struktur, Stil und Sprache er grundsätzlich vom traditionellen realistischen Roman unterschieden wissen möchte. Man debattiert in den 10er und 20er Jahren über eine ›Krise des Romans‹, in die die Gattung in ihrer traditionellen Form geraten war; man redet darüber, wie diese Krise zu überwinden sei, arbeitet an der Modernisierung der Romanform in Analogie zur Modernisierung der Lebenswelt und angesichts einer veränderten Realität. An diesem Diskurs, der gattungspoetologische Fragen mit kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Prozessen verschränkt, beteiligt sich Mann zu keinem Zeitpunkt. Viel zu sehr scheint er damit beschäftigt, sich selbst der Romangattung zu versichern und sich als Romancier zu etablieren. Auch aufgrund der Tatsache, dass Thomas Mann den erwähnten Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher und ästhetischer Moderne nicht herstellt, kann und mag er zu dieser Debatte wenig beitragen. Sein Engagement gilt stattdessen augenscheinlich dem persönlichen Ringen um ein dauerhaftes Bekenntnis zur epischen Großform traditioneller Prägung: Den Roman des bürgerlichen Zeitalters gilt es ins 20. Jahrhundert hinüberzuretten. Und so hat Mann zwar entscheidenden Anteil an der Bedeutungssicherung des Romans über die Jahrhundertwende hinweg, sein Romanverständnis schlägt tatsächlich »eine Brücke zwischen den Auffassungen des 19. Jahrhunderts und der Moderne«.7 Ihr Fundament ist die Weiterführung, aber auch Modernisierung des Gesellschaftsromans des 19. Jahrhunderts im 20. Jahrhundert; die Romanpoetologie des Realismus wird einer behutsamen Transformation unterzogen. Ihre zentralen Komponenten, die Fokussierung des Subjekts, die, wenn auch nur mehr rudimentäre Struktur eines Bildungs- und Entwicklungsromans sowie die Zentralperspektive auf der narratologischen und inhaltlichen Ebene werden bei gleichzeitiger Modernisierung über die Momente des Selbstreflexiven, der Selbstreferenzialität sowie des Reflexiv-Essayistischen fortgeführt. Vor allem der Zauberberg steht für ein solches Modell der Neuorientierung und für eine ›klassische‹ Variante von Moderne. Mit diesem 1924 erschienenen Roman, an dem Mann allerdings bereits seit 1918 gearbeitet hatte, leistet er einen Beitrag zur literarischen Erneuerung der Gattung und des epischen Erzählens. Denn noch vor Broch und Musil realisiert Mann das Konzept einer ›klassischen‹ Moderne, in dem Elemente des traditionellen Romans, vorzugsweise des Bildungs- und Entwicklungsromans, mit einer essayistischen Reflexionsprosa verschränkt werden. Es sind in erster Linie die essayistischen Passagen und Anteile, die eine gewichtige Erweiterung und Erneuerung der Form des Romans eröffnen. _____________ 6 Döblin: Romanautoren [1912], S. 123. 7 Steinecke: Romanpoetik, S. 191.
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Das Element des Reflexiven und das Moment der Reflexivität im Roman können allerdings zugleich das Klassische an dieser Variante von Moderne deutlich machen. Denn zum einen verhindern sie sozusagen die Krise des Erzählens. Und zum andern stehen sie für jenes Manns Romanen zugrunde liegende »formalistisch-hypotaktische Bewußtsein«8 ein, das Peter V. Zima und Astradur Eysteinsson für die klassische Moderne oder den Modernismus insgesamt diagnostiziert haben.9 In Verbindung mit diesem wird, zweifelsohne ergänzt durch ein essayistisches Schreiben, sodann die Fortführung des traditionellen Realismusprinzips möglich. So kann gerade der Blick auf das Werk Thomas Manns verdeutlichen, dass sich das Verhältnis der avantgardistischen zur klassischen Moderne über die Gegenüberstellung von Konstruktion und Reflexion, von Konstruktivismus und Komposition sowie von Mimetismus und Realismus präzisieren lässt. Führt die Avantgarde Heterogenität und Fragmentstruktur als Wesensmerkmale der Moderne und der gesamten Epoche vor, die im Ästhetischen über neue, vor allem in Anlehnung an veränderte Wahrnehmungsund Kommunikationsstrukturen und an das filmische Medium entwickelte Formen der Realisation und Konkretisierung einer mimetischen Kunst umgesetzt werden, so hält die klassische Moderne an der Totalität des Weltbilds und folglich an der Geschlossenheit des Romans fest; in ihrem Umfeld werden die großen epischen Entwürfe verfasst. Kaum ein Werk verdeutlicht dies so konsequent wie dasjenige Thomas Manns. Es ist durch eine Zurückhaltung dem Prozess der ›Entliterarisierung‹ der Literatur gegenüber gekennzeichnet, jener mit der Moderne im 20. Jahrhundert einhergehenden Tendenz zur Entgrenzung und Vermischung also, den die Avantgarde – sicherlich in unterschiedlichen Formen der Aneignung und Ausprägung – praktiziert und als ihr Grundaxiom zitiert. Manns Werk bleibt weitgehend unberührt von den Modernisierungsbestrebungen und -tendenzen der Autorengeneration des expressionistischen Jahrzehnts und der Weimarer Republik: vom Wunsch also, die Erzählweise an die neuen urbanen Wahrnehmungs- und Erfahrungsbedingungen anzupassen; von dem damit einhergehenden Bemühen um eine filmische Schreibweise, da das Medium des Films die neuen Perzeptionsbedingungen weitaus adäquater zum Ausdruck bringen konnte. Weiterhin von der Einsicht, dass die Literatur glaubwürdig einen allwissenden Erzähler nicht mehr präsentieren kann angesichts der Undurchschaubarkeit gesellschaftlicher Strukturen und der Unübersichtlichkeit simultanen _____________ 8 Zima: Moderne, S. 233. 9 Ebd., S. 1–28; Eysteinsson: Concept, S. 177: »In diesem Fall ist ›Modernismus‹ sicherlich der umfassende Terminus, während sich der Avantgarde-Begriff nachweislich eines genügend großen Freiraums innerhalb des Modernismus-Konzepts erfreut. Zugleich kann sich nichts Modernistisches der Einwirkung der Avantgarde entziehen«.
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Geschehens; vom Zweifel an den mimetischen Funktionen von Literatur und an der Abbildbarkeit von Realität, zumal der großstädtischen, mittels traditioneller Erzählweisen; von der Erkenntnis, dass es keinen Sinn ergibt, sich im Zeitalter der Masse auf das Einzelschicksal zu konzentrieren; und schließlich vom Verlangen, die Literatur zu dynamisieren, das Erzähltempo zu beschleunigen in Analogie zur Elektrifizierung und der daraus folgenden Dynamisierung der Lebenswelt, Kommunikation und Erfahrungsstruktur der Menschen. Das Resultat dieser Bemühungen um der gesellschaftlichen Moderne analoge ästhetische Verfahren ist ein der Moderne eigenes Stilrepertoire: Montage- und assoziativer Simultanstil, der sodann die kaleidoskopartige Erfassung einer großstädtischen Welt ermöglicht, Montage- und Schnitttechnik, Multiperspektivität, filmischer Perspektiven- und Schauplatzwechsel, mosaikartige Szenenfolge und Parataxe, Verzicht auf syntaktische Erzählstrukturen sowie auf eine mimetische Abbildbarkeit von Realität und – als wichtige formalästhetische Konsequenz aus diesen Verfahren – die Preisgabe des ›organischen‹ Kunstwerks; ferner die daran gekoppelte Idee, die dissoziative Weltsicht und Erfahrungsweise der Moderne durch eine fragmentarische Schreibweise und durch die Entgrenzung der Erzählperspektiven zum Ausdruck zu bringen. Zusammengenommen ergeben diese ästhetischen Entscheidungen eine Poetologie der Moderne, zu der Thomas Mann ganz offensichtlich, und zwar in all seinen Lebens- und Schaffensphasen, bewusst Distanz hält. Erst mit seinem im Exil entstehenden Faustus-Roman realisiert er ein Erzählkonzept, das partiell Verfahren einer solchen Moderne integriert, vor allem sein Modell einer narrativen Polyphonie – Mann sprach von »Kontrapunktik« (GW XI, S. 611) –, das eine Perspektivierung des Erzählens leistet und dem die Verschränkung von Musik und Romanform beziehungsweise Musikalisierung der Prosa zugrunde liegt. Ein Themen- und Stoffgewebe beziehungsweise Motivgeflecht entsteht, in dem – ähnlich wie im Zauberberg – »die Ideen die Rolle musikalischer Motive spielen« (GW XI, S. 611). Doch auch in diesem sicherlich anspruchsvollsten Roman Thomas Manns handelt es sich um eine klassische Ausprägung von Moderne, um eine Romanpoetik, die die pluralistischen, auflösenden Techniken einer experimentell verfahrenden Moderne, wie sie etwa im Werk Rainer Maria Rilkes10, Döblins, Einsteins oder Musils realisiert sind, weitgehend ausschließt. Gegenüber dem für die 10er und dann vor allem für die 20er Jahre paradigmatischen filmischen Medium und Schreiben zum Beispiel bleibt Mann erstaunlich resistent – sieht man einmal von der Themati_____________ 10 Vgl. hierzu Becker: Beginn.
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sierung der epischen Zeitlosigkeit als Folge der Beschleunigung von Zeit beziehungsweise einer beschleunigten Zeit und der Erfahrung der Vergänglichkeit der Zeit im Zauberberg ab. Es wäre übertrieben, von einem Sonderweg dieses Autors innerhalb der literarischen Moderne zu sprechen; auf jeden Fall aber ist auf die Besonderheiten von Thomas Manns Moderneverständnis wie auf die damit einhergehende Spezifik seiner Romanpoetologie gleichermaßen zu verweisen. Reklamieren die Moderneund Avantgardebewegungen des Expressionismus, Dadaismus und der Neuen Sachlichkeit die Anpassung literarischen Schreibens an die Erfahrungs- und Wahrnehmungsformen in einer urbanisierten Moderne als ihr primäres Anliegen, so bleibt Manns Werk nahezu unbeeinflusst von diesen Neuerungen. Rilkes Aufzeichnungsstil, Döblins »Kinostil«11, Musils Idee, »Filmstreifen [zu] denken«12, Keuns poetologische Maxime zu »schreiben wie Film« (und nicht wie im Film) – von solchen sich um eine angemessene literarische Verarbeitung der veränderten Realität und der sich wandelnden Realitätserfahrung bemühenden Konzeptionen heben sich Manns ästhetische Vorstellungen entschieden ab. Dabei resultiert die von ihm perspektivierte klassische Variante beziehungsweise Klassizität der Moderne aus seiner distanzierten Haltung den kulturellen und politischen Modernisierungsprozessen gegenüber; sie sind letztlich die Folge seiner kritischen Distanz zu jenen Innovationsschüben, die in Verbindung mit der Urbanisierung, Technisierung und Mechanisierung der Lebenswelt, aber auch der Demokratisierung der Gesellschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – vor allem in den Jahren der Weimarer Republik – für den literarischen Bereich gefordert wurden.13 Konfrontiert man also die Romane Thomas Manns, insbesondere die in den 10er und 20er Jahren entstandenen, mit den epischen Möglichkeiten und ästhetischen Innovationen im Umfeld der Modernebewegungen, so fällt ihre traditionsbewusste Eigenwilligkeit auf. Entstehen die Werke der zuvor genannten Schriftsteller in Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Moderne und den kulturellen Prozessen in einer sich konstituierenden Massenzivilisation, so scheint Manns Schreibstil erstaunlich unbeeinflusst von solchen Entwicklungen.14 Wohl nicht zu Unrecht wurde ihm _____________ 11 Döblin: Romanautoren, S. 121. 12 Robert Musil an Bernard Guillemin., 26.1.1931, S. 497. 13 Diese Haltung begründet sodann die Nähe Thomas Manns zur ›Konservativen Revolution‹, die auch als eine Reaktion auf die Transformation der deutschen Gesellschaft von der Agrargesellschaft zu einer urbanisierten Industrienation zu beschreiben ist. Vgl. hierzu: Hübinger: Geschichtsmythen, S. 94. – Zu Thomas Manns Verhältnis zur ›Konservativen Revolution‹ vgl. auch Hübinger: Zeitwendung. 14 Mann hat erst in seinem autobiografischen Bericht Meine Zeit aus dem Jahr 1950 explizit vom Zeitalter der Masse gesprochen: »[…] die Epoche der Technik, des Fortschritts und der Massen, diese Epoche, die in unseren geängstigten Tagen, im Laufe von hundertzwanzig
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aus diesem Grund bescheinigt, er habe die »Schwelle zur Moderne«15 nie überschritten. Diese Skepsis mit dem Hinweis auf die Einzigartigkeit seines Schreibstils oder mit Verweisen auf die Singularität dieses Autors erklären zu wollen, kann – zumindest aus der Perspektive der Moderne-Forschung – kaum überzeugen. Gemessen an der für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts paradigmatischen Verbindung von zivilisatorischer und literarischästhetischer Moderne ist Manns Distanz zur zeitgenössischen historischen und gesellschaftlichen Realität, zum ›Flachland‹ der Moderne, durchaus als vor-modern zu bezeichnen, ohne dass sein Werk damit zugleich der AntiModerne zuzuschlagen wäre. Im Zauberberg etwa bleiben gesellschaftliche Milieus, die ein zeitgenössischer moderner Zeit- und Gesellschaftsroman16 zu integrieren hat, weitgehend ausgeschlossen. Stattdessen dominiert die künstliche Sphäre der Sanatoriumswelt, die sodann den von Mann favorisierten Zusammenhang von Krankheit und Künstlertum möglich macht. Konzipiert Döblin seinen vier Jahre nach Manns bürgerlicher »Epopöe« (GW X, S. 348) erschienenen Berlin Alexanderplatz als ein »modernes Epos«17, als ein Epos der Moderne eben, in dem das Geschehen im großstädtischen Raum spielt, die Großstadt gar als Paradigma der Moderne vorgeführt wird, so bevorzugt Mann den bewahrenden Raum des Sanatoriums, in dem die untergehende Welt des 19. Jahrhunderts in konservierter Form weiterlebt. Und auch mit Blick auf den Doktor Faustus, auf das stilistisch und formal gewagteste Werk, für das die Mann-Forschung unbedingt »Modernismus« diagnostiziert,18 stellt sich die Frage nach dem spezifischen Beitrag Manns zur Modernisierung des Romans im 20. Jahrhundert. Mit Blick auf die Entstehungszeit ist ohne Zweifel sein hoher Stellenwert hervorzuheben: Mit ihm liefert Mann einen der avanciertesten Texte der Exilliteratur; und das in den Jahren der Emigration, in denen sich die literarische Moderne der Vorkriegszeit nicht zuletzt deshalb verliert, weil die Mehrheit ihrer Repräsentanten sich auf den historischen Roman oder auf einen ästhetische Experimente vermeidenden Zeitroman konzentriert, um so die Situation im Exil zu erfassen oder das Bild eines ›anderen Deutschland‹ zu entwerfen. In dieser Verlängerung der Moderne in die Literatur des Exils liegt zweifelsohne ein wesentliches Verdienst Thomas Manns, _____________ 15 16 17 18
Jahren, auf ihren schwindelnden und absolut abenteuerlichen Gipfel gelangt ist« (GW XI, S. 304). Lange: Mann, S. 37. Als solchen analysiert ihn die Mehrheit der Untersuchungen. Vgl. zum Beispiel Neumann: Mann. Döblin: Romanautoren, S. 123. Vaget: Mann, S. 122ff., 149f.
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zumal der Faustus-Roman erst nach dem Exil publiziert wurde und somit auch Maßstäbe für die unmittelbare Nachkriegsliteratur setzen konnte. Mit seinem Erscheinen im Jahr 1947 kommt es zur bemerkenswerten Konstellation, dass ein Autor nach dem Exil für die Kontinuität der literarischen Moderne der Vorkriegszeit einsteht, der sich nur zögernd und zu jedem Zeitpunkt mit Einschränkungen zu dieser Moderne bekannt hatte. Derartige Vorbehalte sind auch dem Faustus-Roman abzulesen, seiner Modernität sind enge Grenzen gesetzt. Insbesondere Manns ›Wagnerismus‹ markiert sowohl »den Ursprung als auch die Grenze der Modernität seines Schreibens«.19 Mann fügt seinem Roman musikalische, an Wagners Leitmotivtechnik orientierte Strukturen ein. Wie in früheren Werken, so geht er auch in ihm von einer festen Vorstellung aus, wie ein Roman zu sein, wie die Form des Romans auszusehen habe. In einer nachgelieferten Entstehungsgeschichte gibt er zu bedenken, dass »auf dem Gebiet des Romans heute nur noch das in Betracht [käme], was kein Roman mehr sei« (GW XI, S. 205). Der Beobachtung ist abzulesen, dass Mann – ungeachtet der Offenheit dieses ambitionierten Werks – noch im Exil an der Geschlossenheit des Romans festhält und so partiell der Romanpoetik des Realismus verbunden bleibt.20 Insofern kann die Bewertung dieses Epochenromans als Kulminationspunkt der Moderne nicht ganz einleuchten.21 Zwar sind die angeführten Kriterien von Modernität beeindruckend22: Wirklichkeitsverlust und Antiillusionismus, Sprachkritik, Selbstreflexivität von Literatur und Selbstreflexion von Sprache, intertextuelle Schreibweisen, so etwa die Bezugnahme auf Vor-Texte (vornehmlich die Integration des Faust-Stoffs) – eine Ausrichtung, die den Roman in das Umfeld der Postmoderne rückt23 –, die Verschränkung von Mythos und Roman beziehungsweise von Mythos und Moderne und nicht zuletzt die Verbindung von Epik und Musik sowie eine daraus abgeleitete polyphone Romanstruktur prägen den Roman und organisieren das Geschehen. Diese Merkmale decken indes _____________ 19 Vaget: Mann, S. 148. 20 Dies nicht zuletzt in Bezug auf das Prinzip der epischen Detailgenauigkeit und Exaktheit sowie auf ein minutiöses Erzählen. Im Roman müssen, so Manns Forderung, »die präsentierten Exaktheiten richtig sein« (Mann: Selbstkommentare, S. 55). 21 Vor allem die englische Forschung zu Thomas Mann weist dem Roman einen hervorragenden Platz in der Geschichte der literarischen Moderne zu. Vgl. hierzu etwa: Dowden: Sympathy; Berman: German Novel. – Ein Blick auf die Geschichte der literarischen Moderne indes zeigt, dass dies so nicht ganz zutrifft. Dagegen spricht zum Beispiel, dass nach dem Erscheinen des Romans im Jahr 1947 die Ästhetik der Moderne innerhalb der westdeutschen Nachkriegsliteratur mit Romanen wie Wolfgang Koeppens Tauben im Gras durchaus noch wirksam ist und eine Fortführung, vermutlich auch Weiterentwicklung erfährt. 22 Vgl. Dowden: Sympathy. 23 Vgl. hierzu Roberts: Moderne.
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keineswegs das (oben genannte) gesamte Repertoire der Moderne ab: Simultanität, Dissoziation beziehungsweise Ich-Dissoziation, Fragmentarismus, Dynamik und Beschleunigung oder multiperspektivisches Erzählen etwa sind für den Doktor Faustus ebensowenig von Belang wie für andere Romane Thomas Manns; weder im Hinblick auf sein episches Erzählen noch auf die Form seiner Werke kommt ihnen Bedeutung zu. Mann selbst war sich der eigenen Traditionsverbundenheit und Traditionalität seines Schreibens stets bewusst. Gemessen und verglichen mit James Joyce zum Beispiel sprach er bekanntlich von sich selbst als von einem traditionellen Autor. Diese Traditionalität ist zweifelsohne die Folge von Manns Beharren auf einer Unterhaltungsfunktion von Literatur. Unbeirrt hielt er an einer traditionellen, aber auch traditionsreichen Aufgabe und Eigenschaft von Literatur fest, und zwar an der Verpflichtung, eine »Kunst« zu liefern, die zum »Zuhören« (GW X, S. 674) zwingt. Daraus folgerte er ein Mindestmaß an Verständlichkeit und Unterhaltsamkeit, was zugleich die Modernität seiner Werke stark einschränkt, wie Hermann Broch in einem Brief an Daniel Brody hervorhob.24 Doch solche rezeptionsästhetischen Überlegungen sind sicher nur eine mögliche Herleitung der spezifischen Traditionsverbundenheit des Mannschen Schreibens und der Konventionalität seines Romanstils. Daneben sind sie aus seinen poetologischen Vorstellungen abzuleiten. An Erich Kahler schrieb Mann am 23. Dezember 1944, er sehe sich als einen »Gegenspieler« von James Joyce: »[…] ich bin entschiedener Traditionalist, ob ich schon öfters mit den alten Formen Jux treibe und sie – mit Andacht – auflöse«.25 Und tatsächlich bleibt seine Erzählweise ungeachtet der ›Auflösung‹ in Verbindung mit den Mitteln der Parodie bewusst dem 19. Jahrhundert verpflichtet. Man muss nicht so weit gehen und sie als ein »Relikt des vorigen Jahrhunderts«26 bezeichnen; doch Mann ist »beim alten Fontane in die Schule gegangen« (ebd., S. 838), in diesem vielleicht wichtigsten Vertreter des Bürgerlichen Realismus findet er sein Vorbild, seinen, wie es in einer Stellungnahme zu einer Rundfrage der BZ am Mittag (anlässlich der Einweihung eines Fontane-Denkmals im Tiergarten) heißt, »Vater« (GW XIII, S. 817). In einer solchen Orientierung aber liegt womöglich zugleich die eigentliche Leistung dieses Autors begründet: Manns Romane und Romanästhetik sind, wie eingangs erwähnt, ein Bindeglied zwischen der Romanliteratur des 19. Jahrhunderts und der literarischen Moderne im 20. Jahrhundert. Zumal sein erster Roman Die Buddenbrooks zu einem Zeitpunkt erscheint, an dem mit den ästhetizistischen Strömungen ebenso _____________ 24 Vgl. Broch an Brody, 19.10.1934, S. 299. 25 Mann an Kahler, 23.12.1944, S. 33. 26 Lettau: Deutsche Schriftsteller, S. 185.
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wie mit einer impressionistischen Literatur die Kurzprosaformen die Literatur prägen. Um 1900 erwächst dem Roman, nach der, wenn zwar nicht unangefochtenen, so doch dominanten Stellung, die ihm innerhalb der Romantik und des Realismus zugekommen war, mit der Kurzprosa eine ernstzunehmende Konkurrenz: Die kurze Form der Prosa kennzeichnet die Literatur um die Jahrhundertwende, Genres wie das Prosagedicht und die Skizze entstehen in diesen Jahren, die ›Moment‹-Aufnahme wird wichtig, der Augenblick bestimmt die Kultur der Jahrhundertwende insgesamt und ganz konkret auch die Literatur dieser Jahre. Diese Tendenz zur Visualisierung und Verzeitlichung der Literatur in Analogie zur Dynamisierung und Ausdifferenzierung der Erfahrung schränkt aber zugleich den Stellenwert von Manns erstem Roman ein, was Mann rückblickend einräumt; »altmodisch von seinem Tempo« her sei der Roman (GW XI, S. 312), gesteht er im autobiographischen Bericht Meine Zeit. So bedeutend die Buddenbrooks für die Epochenschwelle wie für die Romanliteratur der Jahrhundertwende waren, eine Perspektive für die wietere Entwicklung und Gestaltung der Gattung vermochten sie tatsächlich nicht zu leisten. Zwar war um 1900 noch längst nicht von einer Krise des Romans die Rede. Doch das Erstarken der epischen Kurzformen und die Dominanz der Lyrik im Umfeld der Décadence wie des literarischen Impressionismus gingen mit einem Bedeutungsverlust des Romans einher. Dieser war nicht zuletzt das Resultat jener Visualisierungs- und Beschleunigungsprozesse, die sowohl die Wahrnehmungs-, Erfahrungs- und Erkenntnisformen der Menschen als auch die literarischen Schreibweisen nachhaltig veränderten. Georg Simmel hat in seinen Studien, vor allem in seinem 1903 erschienenen Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben, mit Blick auf den Zusammenhang von Urbanität und Mentalität von einer »Steigerung des Nervenlebens«27 gesprochen. Und noch Walter Benjamin diagnostizierte in den 20er Jahren einen Wechsel von der langfristigen Erfahrung im überschaubaren Lebensumfeld zum »Chockerlebnis«28 in einer verstädterten Moderne, der nicht ohne Einfluss auf die Literatur und auf das epische Erzählen geblieben sei. Mit ihm verliert sich sodann die Dominanz des Bildungs- und Entwicklungsromans – Döblin hat diesen Prozess äußerst prägnant in seinem 1929 erschienenen Berlin Alexanderplatz über die Zusammenführung von älterem Bildungsroman mit dem jüngeren Großstadtroman vorgeführt. In der literarischen Moderne des 20. Jahrhunderts muss das spätestens seit Goethes Wilhelm Meister die deutsche Literatur prägende Genre einem _____________ 27 Simmel: Großstädte, S. 192. 28 Benjamin: Baudelaire, S. 653. Benjamin: Erzähler, hier vor allem S. 439f.
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Großstadt- beziehungsweise Zeitroman weichen, in dessen Zentrum nicht mehr unangefochten das Individuum, sondern die Masse steht. Der Einzelne kommt nur mehr als sozialer Typus in ihm vor, und demzufolge ist das Subjekt auch nicht mehr das die Erzählung strukturierende Faktum. Die Konzentration auf die Geschichte einer Figur und auf den Werdegang eines Helden oder – jenseits des Mannschen thematischen und personellen Kosmos wäre dies möglich – einer Heldin ist in ihm zugunsten von Phänomenen wie Ich-Dissoziation, Zerrissenheit, Orientierungslosigkeit in einer unüberschaubar gewordenen Lebenswelt relativiert; eine existenzielle Verunsicherung des Subjekts prägt die Moderne, und zwar auch die literarische. Solche Erfahrungen bedingen neue Formen des Erzählens: In Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge und in Einsteins Bebuquin oder Die Dilettanten des Wunders werden derartige Erfahrungswerte und Prozesse erstmals registriert. Beide Autoren knüpfen an die Dissoziationserfahrung in der Moderne, an die Erfahrung des Pluralistischen, Simultanen und Fragmentarischen in einer technisierten Zivilisation die Auflösung des stringenten Erzählprozesses und letztlich auch die Entgrenzung der Romanform: »Lassen Sie sich nicht von einigen mangelhaften Philosophen täuschen, die fortwährend von der Einheit schwatzen und den Beziehungen aller Teile aufeinander, ihrem Verknüpftsein zu einem Ganzen«,29 heißt es symptomatisch in Einsteins Bebuquin. Für die ästhetische Moderne sind dementsprechend die offenen Strukturen konstitutiv, das übergeordnete Sinnzentrum verliert gegenüber dem dezentrierten Eigenleben der Textteile an Bedeutung. Die Geschlossenheit der erzählten Welt und der epischen Ordnung weicht einer Fragmentstruktur, die in der Form der Aufzeichnungen oder, so eine Formulierung Rilkes, der »ungeordneten Papiere« hergestellt wird.30 Döblins Roman Die drei Sprünge des Wang-lun (1915), an dem er seit 1912 arbeitete, benennt explizit einen Zusammenhang zwischen Erzählen und urbaner Erfahrung, wenn das Erzähler-Ich in der den Roman einleitenden »Zueignung« – die sich als eine »Zueignung« an die verstädterte Moderne und damit als ein Dokument der Erzählkrise infolge der Urbanisierung verstehen lässt – gesteht: »Ich tadle das verwirrende Vibrieren nicht. Nur ich finde mich nicht zurecht«.31 Angesichts der großstädtischen Reizvielfalt – hier der auditiven – zeigt sich dessen Erzählunfähigkeit. Die Werke Rilkes, Einsteins und Döblins werden als erste Antworten auf die diagnostizierte Roman- und Erzählkrise konzipiert. Sie dokumentieren diese Krise, doch sie erarbeiten zugleich ästhetische Lösungen zu _____________ 29 Einstein: Bebuquin, S. 99. 30 Rilke an Gräfin Manon zu Solms-Laubach, 11.4.1910, S. 95. 31 Döblin: Zueignung, S. 7.
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ihrer Bewältigung und Überwindung. An der Auseinandersetzung um diese »Krisis des Romans«32, wie Musil sie noch im Jahr 1931 diagnostiziert, und um die »Reform des Romans«33 beteiligt sich der Romancier Mann nicht. Viel zu sehr ringt er mit der Gattung Roman überhaupt, um sich in die spätestens seit 1910 geführte Diskussion um deren Modernisierung einzuschalten. Offenbar sieht Mann aber auch keinen Modernisierungsbedarf, seinen essayistischen Überlegungen jedenfalls sind keine diesbezüglichen Reflexionen zu entnehmen. Vielmehr hat Mann zu diesem Zeitpunkt die Romanpoetik längst zu einer nationalen Frage erhoben. So kommt er in dem 1908 verfassten Essay Über das Theater zu der Überzeugung, der Roman sei »eigentlich keine sehr deutsche Gattung«34, allein in der spezifisch »deutsch-bürgerlichen« Ausformung als Bildungs- und Entwicklungsroman komme ihm Bedeutung zu (GW X, S. 61, 49f.). Und noch in seinem Offenen Brief an Wassermann aus dem Jahr 1921 nennt Mann – wie bereits fast wortgleich im Versuch über das Theater – drei Typen des Romans: den »demokratisch-mondänen« unterscheidet er vom »sozialkritisch-psychologisch[en]«, »international[en]«, den er im Übrigen im Werk seines Bruders Heinrich repräsentiert sieht. Diese beiden Typen grenzt er sodann von einem »deutschen« beziehungsweise »deutschere[n] Fall« (GW XI, S. 702) des Romans ab: Der hohe deutsche Roman wird niemals vom demokratisch-mondänen Typ, also sozialkritisch-psychologisch, Instrument der Zivilisation und Angelegenheit einer abendländisch nivellierten Öffentlichkeit sein. Er ist persönliches Ethos, Bekenntnis, Protestantismus, Gewissen, Autobiographie, individualistische Moralproblematik, Religion, Metaphysik, Erziehung, Entwicklung, Bildung, was Sie wollen, aber keine Gesellschaftskritik. Europäisierende Mischungen kommen vor, […]. Aber das idealistisch-bildungshafte Element wird immer durchschlagen, und das ist kein Element der Öffentlichkeit im wesentlichen Sinn. (GW XIII, S. 464)
Mit dieser Bestimmung stellt sich Mann als Romancier in die Romantradition des 19. Jahrhunderts; hier vor allem in die Nachfolge des Bildungsund Entwicklungsromans als einer deutschen Variante des europäischen Romans, die sicherlich das verzögerte und zögerliche Aufkommen eines Gesellschaftsromans in der Art des französischen und englischen Realismus zumindest partiell erklären kann. Sein Interesse an diesem Genre liegt offensichtlich in dessen Subjektzentriertheit begründet. Über die »ursprünglich nationale Form« des »individualistische[n] deutsche[n] Bildungsroman[s]« (GW XI, S. 703) eröffnet sich Mann nämlich die Möglichkeit, das Individuum im Auge zu behalten und die für die Literatur der 1920er Jahre paradigmatische inhaltlich-thematische Demokrati_____________ 32 Musil: Krisis, S. 1409. 33 Döblin: Reform, S. 146. 34 So eine Formulierung aus dem Jahr 1916 (GW XI, S. 702).
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sierung des Schreibens und des Romans zu umgehen: Erzwingt die ästhetische Demokratisierung doch eine Ausweitung des erzählerischen Interesses auf die breite Gesellschaft, im 20. Jahrhundert zudem auf die Masse und auf eine urbanisierte Lebenswelt. Diese jedoch ist weder Manns favorisiertes Sujet, noch der Ausgangspunkt seiner poetologischen Überlegungen. Bereits in seinem Essay Der autobiographische Roman von 1916 hatte Mann bekräftigt, der Prozess der »Demokratisierung« ›zersetze‹35 das deutsche Volk und zugleich – mit Blick auf die damit verbundenen Tendenzen zur »Politisierung, Literarisierung, Intellektualisierung« – auch die Literatur (ebd., S. 702f.). Dieses Plädoyer zum Bildungs- und Entwicklungsroman, das sich auch als eine literarische Selbstbestimmung lesen lässt, nahm Mann in den 10er Jahren in Verbindung mit seiner nationalen Positionierung und seinem nationalistischen Bekenntnis zum »Deutschtum« vor. Als »deutsch, typisch deutsch« (ebd., S. 702) identifiziert er den das Gesellschaftliche und Politische vermeidenden individualistischen Bildungs- und Entwicklungsroman; und in einer solchen deutschen Tradition der »subjektive[n] Epopöe« (GW X, S. 131) sieht er sich als Romanautor. Die vor allem durch seinen Bruder Heinrich Mann geprägte Entwicklung der Gattung im 20. Jahrhundert lehnt er entsprechend ab, die literarische »Demokratisierung« wird gar als eine Form der »Enthumanisierung« (GW XI, S. 702) kritisiert. Zwar entbehrt dieser Vorwurf keineswegs einer gewissen Berechtigung, sofern mit der modernen Zivilisation ein Prozess der Entindividualisierung einhergeht. Kaum ein anderes Ereignis hat dies eindrücklicher vor Augen geführt als der Erste Weltkrieg, in dem das Individuum in den Schützengräben untergegangen ist und die Vorstellung von der ›Individualität‹ des Subjekts, die das bürgerliche Zeitalter einschließlich der Literatur dieses Jahrhunderts prägte, erstmals nachhaltig beschädigt wurde. Doch Manns Argumentation ist primär nicht das Resultat soziologischer und sozialanthropologischer Erwägungen. Weitgehend unbeeindruckt von zeitgenössischen Lebensformen und -bedingungen in einer zivilisatorischen Moderne verfolgte er – sei es in der Königlichen Hoheit, im Zauberberg, im Felix Krull, in den Josephs-Romanen, im Lotte-Roman, im Doktor Faustus oder im Erwählten – seine Konzeption eines künstlerisch ambitionierten Individuums, mit der er dem demokratischen ›Enthumanisierungsprozess‹ gegensteuern wollte. Zwar hat auch er – bezogen auf den Roman Königliche Hoheit (1909) – von einer »Krise des Individualismus« (ebd., S. 571) gesprochen. Aber diese nachträglich in einer »Selbstanzeige« vorgebrachte Erklärung seines Romans kann nicht überzeugen, ist dessen Krisenthematik doch im Unterschied zur sozialen Norm nicht im Zu_____________ 35 Mann spricht von »Zersetzung« (GW XI, S. 703).
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sammenhang mit den Massenphänomenen und Erfahrungsformen in einer modernen Zivilisation geleistet, sondern im Gegenteil mit Blick auf ein von der Gesellschaft und der gesellschaftlichen Realität enthobenes »königliche[s]« Subjekt; auf ein Individuum also, dessen Einzigartigkeit und Singularität durch Stand, Familie, Herkunft und Lebensform garantiert scheint. Die Konzentration auf das (bürgerliche) Subjekt ermöglicht ein personenfixiertes Erzählen, durch das sich Manns Werk vom dem anderer Autoren der Moderne abhebt. Döblin etwa wiederholt 1924 im Jahr des Erscheinens des Zauberbergs seine bereits im Berliner Programm von 1912 formulierte These: »Zum Epischen taugen Einzelpersonen und ihre sogenannten Schicksale nicht«.36 Hermann Broch lehnte Manns »GeschichtelErzählen«37 zugunsten eines polyhistorischen Romans ab.38 Und Musil praktiziert im Mann ohne Eigenschaften ein personenfixiertes Erzählen nur mehr als Grundierung der gesamten Romanhandlung; ansonsten lässt er mit Blick auf die »unerzählerisch geworden[e]« Realität der Moderne den »Faden der Erzählung« zugunsten einer essayistisch-reflexiven Prosa ausdünnen.39 Mann indes hält am Erzählen als Grundsubstanz des Romans fest. Solche Ambitionen prägen seine Werke; sowohl ihre formale als auch ihre narrative Struktur, Erzählerhaltung und herzustellende Erzählsituation sowie die in ihnen erzählte Welt sind durch sie beeinflusst. Mann möchte die Vorstellung einer »Prosa-Epopöe« und den »epischen Kunstgeist« (GW X, S. 348, 352) gesichert wissen. Dieses Ziel lenkt seine romanpoetologischen Vorstellungen nachhaltig, nicht zuletzt dahingehend, dass die von ihm entworfenen Romanwelten – im Unterschied zu den als Antworten auf eine Romankrise konzipierten Texte von Döblin und Musil – tatsächlich das Resultat eines »Kunstgeistes« sind; es sind hermetisch abgedichtete, geschlossene Sphären, in denen noch längst nicht jene komplexe Unordnung und Undurchschaubarkeit eingedrungen ist, die einer urbanisierten und pluralistischen Moderne eigen sind. Deshalb lassen sich die Romane und die Romanpoetik Thomas Manns auch als das Resultat einer Abwehrhaltung verstehen, die vornehmlich der Abwehr der Moderne und Moderneerfahrung gilt. In die Niederungen dieser Moderne dringt Mann selten vor, folglich bleiben ihm, zumindest als Autor, auch ihre Faszinationen verborgen. Es scheint signifikant für das Œuvre Thomas _____________ 36 Döblin: Bemerkungen, S. 352. Die literarische Beziehung zwischen Alfred Döblin und Thomas Mann ist Gegenstand der Studie Oliver Bernhardts, der den Nachweis erbringen kann, dass beide Autoren und ihre Werke in einer von der Forschung bisher unterschätzten Nähe zueinander stehen: Vgl. Bernhardt: Döblin und Mann. 37 Broch an Torberg, 10.4.1943, S. 318. 38 Steinecke: Broch. 39 Musil: Der Mann, S. 650.
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Manns, dass dieser sich in einer »entzauberten«40 Moderne auf einen nietzscheanisch inspirierten ›Zauberberg‹ zurückzieht, das Faszinosum des metropolitanen Raums aber gar nicht kennenlernt. Und so auch nicht die Erfahrungsrealität und -struktur von Millionen von Menschen (und Lesern) innerhalb einer verstädterten Zivilisation. In einer Zeit, in der das Individuum längst in und von der Massengesellschaft der Moderne bedrängt wurde, knüpft Mann an eine literarische Tradition an, die das Subjekt fokussiert und erzählt beziehungsweise noch erzählen kann; in Zeiten der »transzendentalen Obdachlosigkeit«41 und Subjektzerrissenheit betreibt Mann im Gegensatz zu den Bestrebungen der literarischen Moderne dessen Restitution. Durch diese Festlegung werden seine Romane in vielerlei Hinsicht unglaubwürdig und zeitfern. Sowohl der abgelegene, in höhere Sphären verlegte Handlungsort des Zauberbergs als auch der Weg der Joseph-Figur in den gleichnamigen Romanen verweisen auf diese Zeitunabhängigkeit und Gesellschaftsferne: Goethes Wilhelm Meister bleibt lebenslang das Vorbild Manns. Diese Distanz, wenn nicht gar Ignoranz gegenüber zeitgenössischen Milieus und Lebensformen bestimmt Manns Romanpoetik nachhaltig. Und sie erklärt sein fehlendes Interesse an der Auseinandersetzung um die von zeitgenössischen Autoren diagnostizierte Erzähl- und Romankrise. Mann kennt und erkennt keine solche Romankrise; das mag damit zu tun haben, dass seine Romanpoetik eine »sehr subjektiv[e]« und wenig abstrahierende, kaum zu verallgemeinernde ist. Auch kommt ihr im Unterschied zu Döblins, Brochs oder Musils Überlegungen ein geringer »theoretischer Reflexionsgrad«42 zu. Mann hat nie, wie etwa Rilke in seinem Malte-Roman, von der Erfahrung gesprochen, dass die Zeit des Erzählens und der grands récits vorüber sei. Rilkes Malte ist die Fähigkeit, zu erzählen, und das meint zusammenhängend zu erzählen, inmitten der Pariser Stadtwelt und angesichts der Erfahrung einer urbanisierten Moderne abhanden gekommen. Ohne jedes Pathos erinnert er nur mehr eine »Zeit, in der man noch erzählte«.43 In Manns Werk hingegen fällt die entschiedene Ambition zur Synthese und zum großen Ganzen, wenn nicht gar zu einer holistischen Prädisposition auf.44 Die so entstehende Distanz zur zeitgenössischen Moderne ist sicher die Folge seiner Bemühungen, die Erzähltraditionen des bürgerlichen oder poetischen Realismus in die Moderne hinüberzuretten. Insofern lässt sie sich zugleich als ein anachronistisches Unternehmen _____________ 40 Vgl. Weber: Ethik, S. 35, 54f.; vgl. auch Weber: Wirtschaft, S. 308: »die Vorgänge der Welt [werden] entzaubert«. 41 Lukács: Theorie, S. 32. 42 Steinecke: Romanpoesie, S. 192. 43 Rilke: Malte Laurids Brigge, S. 844. 44 Zur Nähe Thomas Manns zu Georg Lukács vgl.: Mádl: Mann und Lukács.
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deuten, als eine Weigerung und erstaunliche Unlust, sich der zivilisatorischen Moderne und industriellen Zivilisation zu stellen,45 sich also an dem Unternehmen der Moderne- und Avantgardebewegungen zu beteiligen, den älteren Individualroman durch einen gesellschaftsnahen Großstadtroman abzulösen, der statt des Individuums die Masse und statt Subjektivität primär Soziabilität exponiert. Zwar erhalten das Soziale und Politische vor allem in den Jahren der Weimarer Republik zunehmend Bedeutung im Denken Thomas Manns. Doch zu keinem Zeitpunkt gelangt er über das Individuelle und das Individuum hinaus, allenfalls ein politischer Individualismus ist nachweisbar. In diesem Punkt bleibt Mann ein Bürger und ein bürgerlicher Schriftsteller. Die Masse und die für das 20. Jahrhundert paradigmatische Erfahrung der Masse haben diesen Autor nie wirklich interessiert. Diese Abstinenz bestimmt nachdrücklich seine Romane bis hinein in ihre formale und narrative Struktur. Sicher geht es Mann auch um gesellschaftliche Fragen, doch keinesfalls um soziale Belange und das selten unabhängig vom Einzelnen. Mann selbst hat diese Fokussierung des Subjekts im Zeitalter der Masse als das Humane und Demokratische seines Schreibens verstanden. Dessen ungeachtet setzt die Kritik an seinen Werken gerade an dieser rigorosen Beschränkung an. Sind doch einer solchen Konzentration auf das bürgerliche Subjekt neben dem Humanen zugleich anti-soziale wie ›ungesellschaftliche‹ Momente immanent. Vor allem die Verachtung der Masse und die Abneigung gegen ein demokratisch organisiertes Zusammenleben lassen soziale Dimensionen in seinem Denken und auch in seinen Werken vermissen. Denn mit Ausnahme der Buddenbrooks, des ersten Romans, der am Ende des bürgerlichen Zeitalters erscheint und in thematischer wie narratologischer Hinsicht eine Bilanz der Epoche darstellt, erzählen Manns Romane ausgewählte Geschichten von ausgesuchten Menschenexemplaren. Ist Döblins Biberkopf ein Soziotypus, ein Angehöriger der Arbeiterklasse, zwar ohne Klassenbewusstsein, aber auch ohne ein spezifisches Individualschicksal, so widmet sich Mann ausschließlich den Künstlerfiguren, Kranken und Besonderen. Und dies in Verbindung mit der Vorgabe, dass Kunst nur außergesellschaftlich und als von der Norm abweichende menschliche Existenz zu praktizieren sei. Gemessen an der Einsicht des 20. Jahrhunderts, nach der sich das Soziale als das eigentlich Humane bestimmen lässt, ist Manns Haltung wohl kaum zuzustimmen. Sicher ist nicht zu bestreiten, dass der Zauberberg auch den Versuch unternimmt, den Bildungsroman des 19. Jahrhunderts in einen modernen _____________ 45 Vgl. dazu Hansen: Kritik.
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Gesellschaftsroman zu überführen;46 insofern gleicht sein Unternehmen dem Versuch Döblins, im Berlin Alexanderplatz das Modell des Bildungsromans mit dem jüngeren Genre des Großstadtromans zu verschränken. Döblin geht es aber keinesfalls um die Etablierung des traditionsreichen Bildungs- und Entwicklungsromans im Umfeld der literarischen Moderne – auch nicht in einer aktualisierten Form. Sein Anliegen ist es vielmehr, die Konstellationen in der gesellschaftlichen und zivilisatorischen Moderne aufzuzeigen. In ihr lebt und handelt der Einzelne nicht mehr als Individuum und bürgerliches Subjekt, sondern verliert gerade umgekehrt in der Massengesellschaft seine Individualität und vielfach auch die Möglichkeiten, sich als Individuum zu behaupten. In Analogie zur gesellschaftlichen Erfahrung in der Moderne wird Franz Biberkopf als Angehöriger eines gesellschaftlichen beziehungsweise städtischen Kollektivs vorgeführt: Zum einen als Teil der Masse, und zum andern, wie angesprochen, als ein sozialer Typus. Döblins Protagonist, der Antiheld Biberkopf, ist »hergerufen«47, aus der Menschenmenge am Alexanderplatz willkürlich ausgewählt. Sein Schicksal ist ein massenhaftes und massenhaft vorkommendes, nicht Biberkopf ist der Held, sondern die Stadt, und das meint das städtische Kollektiv, die paradigmatische Lebensform in der Moderne. Manns Zauberberg-Roman hingegen führt einen Protagonisten ein, der zwar ebenfalls die Züge des Durchschnittshelden aufweist, der aber von seinem Erzähler beständig und konsequent fokussiert wird, an dessen Seite demnach fortwährend der Erzähler seiner Geschichte steht. Dieser kennt den Charakter und die Psyche seines Helden, weiß um dessen Empfindungen und Gedanken, er verfügt über die Fähigkeit des introspektiven Blicks und Erzählens, kann also mit der Attitüde des souveränen Narrators agieren. Hiermit legt Mann seinem Roman, wie auch den folgenden Werken, ein Erzählkonzept zugrunde, mit dem er vor allem über die Instanz und zentrale Perspektive des allwissenden Erzählers (auch des fiktiven, wie im Faustus) das Gerüst und die Ordnung des Erzählten zu sichern vermag; besonders die Handlung bleibt auf und um einen Helden zentriert. Aus der so hergestellten Erzählsituation resultiert wohl das eigentlich Unmoderne des Mannschen Œuvres; geht mit der gesicherten Erzählinstanz und fest gefügten narrativen Ordnung doch die Weiterführung jener »Romanpsychologie« und »psychologisch[e] Manier«48 einher, die Döblin bereits Anfang der 10er Jahre als ein Hemmnis für die Reformierung des Romans kritisiert hatte. _____________ 46 Vgl. Scharfschwerdt: Mann. 47 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S. 37. 48 Döblin: Romanautoren, S. 120f.
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In diesem Punkt ist der Autor Thomas Mann indes kaum zu Konzessionen bereit: Auf die traditionelle auktoriale Erzählinstanz will er nicht verzichten und damit auch nicht auf konventionelle Erzählstrategien, die zugleich die geschlossene Form des Romans und die Geschlossenheit der erzählten Welt garantieren. An diesem Befund vermag der Hinweis auf Manns Technik der Parodie wenig zu ändern. Zwar leistet diese eine Ironisierung und Infragestellung des Erzählten, einschließlich der erzählten Figur, und lässt eindeutige Festlegungen auf vermeintlich nicht zu hinterfragende Wahrheiten kaum zu. Ob damit allerdings eine Multiperspektivität des Erzählten und eine der Komplexität, Pluralität und Ausdifferenzierung in der gesellschaftlichen Moderne adäquate ästhetische Moderne eingelöst ist, bleibt zumindest fraglich. Auch wendet sich Mann mit einer Ordnung und Überschaubarkeit garantierenden Erzählstruktur letztlich gegen jene narrativen Verfahren der ästhetischen Moderne, die gerade umgekehrt die Auflösung einer zentralen Erzählperspektive betreiben, und zwar nicht zuletzt mit Blick auf den Bedeutungsverlust des Einzelnen und die Relativierung des Subjekts in einer modernen Zivilisationsgesellschaft. Die jedoch bleibt – ungeachtet der personellen Anwesenheit des Typus des Zivilisationsliteraten – im Zauberberg weitgehend ausgeschlossen,49 erst am Ende des Romans steigt sein Protagonist in die gesellschaftliche und politische Realität dieser Moderne, und das heißt im Jahr 1918 in die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs hinab. So endet der Roman mit dem Hinweis auf jenes politische und historische Ereignis, das zu Anfang der 20er Jahre viele Autoren zu der Erkenntnis brachte, dass »die Tage des Romanhelden vielleicht überhaupt gezählt sind«, weil »der Einzelne nicht [interessiert], seitdem man ihn millionenfach vermehrt in Feldgrau gesehen hat«.50 Diese Einsicht in die Beschädigung des bürgerlichen Subjekts, in die Beeinträchtigung der Idee unangreifbarer Individualität steht im Zauberberg am Ende der erzählten Geschichte über die Gesellschaft der Vorkriegszeit; weiterverfolgt hat Mann sie in den folgenden Jahren und Werken nicht, die JosephsRomane schreiben die Geschichte der im Krieg und in der Nachkriegszeit ankommenden Gesellschaft nicht fort. Die Arbeit am ersten Teil der Joseph-Tetralogie, aber auch den darauf folgenden Teilen basiert vielmehr _____________ 49 Die Thomas Mann-Forschung geht allerdings – im Anschluss an die Selbstanalysen des Autors – vom Zauberberg als von einem »Zeitroman« aus (vgl. vor allem Neumann: Mann, S. 54–88). Zum einen aufgrund der Thematisierung des Sujets ›Zeit‹ unter existenziellen Gesichtspunkten – die »Zeit« sei »Gegenstand« des Romans, heißt es bei Mann; zum andern werde im Zauberberg die historische Zeit von 1907 bis 1914, die Vorkriegszeit und Vorkriegsgesellschaft also, mit Blick auf politische Umbrüche sowie soziokulturelle und philosophische Strömungen thematisiert, der Roman gäbe, so hat Mann bekräftigt, »ein inneres Bild einer Epoche der europäischen Vorkriegszeit« (GW XI, S. 611). 50 Schirokauer: Garde-Ulanen, S. 1f.
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auf dem Vertrauen in die Erzählbarkeit eines Einzelschicksals und in die Plausibilität der fokussierten Individualität. Zwar arbeitet Mann auch mit den Stilmitteln der Moderne, zu nennen wären: Versachlichung, Berichtstil (älterer Chroniken), Integration von Quellen und Dokumentarmaterial (biblische und außerbiblische Quellen, Kommentare), Musikalisierung der Erzählweise beziehungsweise Annäherung an das Opernlibretto, Experimentieren mit Assonanzen, Alliterationen und Polyperspektivität, hergestellt über eine enge Beziehung zwischen Autor, Erzähler, Leser und Figuren. Doch die leitende Idee bleibt die Verbindung von »›Mythos‹ und ›Psychologie‹«51, mit der Mann letztlich die Romankunst des 19. Jahrhunderts in die Moderne verlängert. Zwar sind in die Diskussion der Figuren, in die Debatten zwischen Naphta, Settembrini und Peeperkorn die Diskurse über philosophisches, kulturelles und politisches Wissen integriert. Sie weisen den Zauberberg ohne Zweifel als einen Diskursroman aus. In Verbindung mit der parodistischen Dimension des Romans, auf die sowohl Mann als auch die Mann-Forschung hingewiesen haben, macht diese Tendenz zur Diskursivierung die Modernität des Romans und der Mannschen Romanpoetik aus. Sie sind Manns wichtigster Beitrag zum modernen Roman und zum Roman in der Moderne. Der Überlegung der Moderne, dass nicht der Einzelne, sondern die gesellschaftlichen, politischen und kulturphilosophischen Systeme von Diskursen, in die das Subjekt verstrickt ist, zu beschreiben sind, folgt er indes nicht. Manns erzählerisches Interesse bleibt auf den Einzelnen gerichtet, die Handlung wird vielfach zugunsten der Diskurse aufgelöst, die erzählte Geschichte des Subjekts aber keineswegs – wie etwa bei Musil – in die Diskurse überführt: Es gibt in Manns Romanen nicht die Ohnmacht des Einzelnen angesichts diskursiver Strukturen. Und so bleiben die Idee vom Ganzen und die Vorstellung vom Totalen die leitenden gattungspoetolgischen Vorgaben Thomas Manns. Der Roman wolle nicht den »Ausschnitt, die Episode«, sondern das »Ganze« (GW X, S. 352, 354) und somit Geschlossenheit. Das erzählerische Prinzip des organischen Kunstwerks bestimmt die Romankunst Manns, denn – und das ist die Basis und die Zielsetzung seiner Romane – sogar eine »alberne Ordnung ist immer noch besser als gar keine«.52 Der Roman – für Mann ist er ein »in sich ruhendes Gebilde« einer »traditionellen Kunst« (GW VI, S. 318). Dementsprechend kommt es im Faustus-Roman, der unbestreitbar in vielem die Moderne der Vorkriegszeit weiterführt, gleichfalls nicht zur Auflösung der geschlossenen Romanstruktur, Manns Werkbegriff wider_____________ 51 Vgl. Dierks: Studien, S. 11. 52 Vgl. Kaiser: Manns Doktor Faustus, S. 176.
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spricht einer solchen Fragmentästhetik: Auch hier verzichtet Mann nicht auf einen Ordnung stiftenden Erzähler und demzufolge auch nicht auf die erzählerische Ordnung. Immerhin »fühlte [er] sich von seiner ganzen Herkunft her – im gesellschaftlichen wie im ästhetischen Sinn – gehalten, Ordnung zu stiften, wo Unordnung herrschte, und eine Einheit zu postulieren, wo keine mehr bestand«.53 Der Roman integriert bekanntlich Adornos Ästhetik- und Musik-Konzeption und nimmt so eine Verschränkung von musikalischer und literarästhetischer Komposition vor. Damit realisiert Mann in Ansätzen eine Montagetechnik, die allerdings bei Weitem nicht alle Möglichkeiten dieses für die Ästhetik der Moderne paradigmatischen Verfahrens ausschöpft. Vielmehr bleibt das Verfahren auf die Integration von Fremdtexten in den eigenen, fiktionalen Text konzentriert, es handelt sich also zuallererst um ein intertextuelles Verfahren beziehungsweise Verweisen, um ein System intertextueller Beziehungen also.54 Hier wird Wissen montiert, etwa über die Integration von Lexikonartikeln über deutsche Städte oder über die Konstruktion von Identitäten unter Rückgriff auf historische Figuren und Bekannte, über eine nicht erkennbare Form von Montage. Diese Vorgehensweise hat mit jenem montierend-dokumentarischen Schreiben der avantgardistischen Moderne, das seit dem Dadaismus und spätestens seit Döblin praktiziert wird, wenig gemeinsam. Vor allem die Ausschließlichkeit, mit der die Technik auf die Tradition konzentriert bleibt, lässt die Differenzen zum montierenden Verfahren des Berlin Alexanderplatz erkennen. Mann dient die Montage vorzugsweise als eine Möglichkeit, den Rekurs auf die Tradition, vor allem auf die Tradition der Antike zu leisten – eine Dimension, die seinen Roman mit dem Ulysseus von Joyce verbindet. Auch Mann geht es um einen spezifischen Umgang mit der Tradition, um die Positionierung zur literarischen und kulturellen Tradition ebenso wie um ein Fortschreiben des Diskurses. Ziel ist daher nicht die Auflösung der erzählerisch hergestellten, fest gefügten Form und der geschlossenen fiktiven Welt wie im Berlin Alexanderplatz. Dessen Montagetechnik, die eng mit einem dokumentarischen Schreiben verschränkt ist, dient Döblin der Annäherung von Fiktion und Realität, wenn nicht gar der Aufhebung der Grenzen zwischen Fiktionalität und Authentizität. Die Handhabung der Montagetechnik im Faustus hingegen spiegelt Manns persönliche Aversion gegen die Zwölftonmusik – für ihn war »die Dreiklangtechnik des ›Ringes‹ […] letztlich im Grunde [s]eine musikalische Heimat« (GW XI, S. 208). Die Schönbergsche Technik stellt zwar eine wichtige musikalische Leistung Adrian Leverkühns dar, _____________ 53 Vaget: Mann, S. 127. 54 Vgl. etwa: Bergsten: Mann; Voss: Entstehung.
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die Romanstruktur jedoch bestimmt sie nicht. Zumindest wird die Textorganisation durch das in Zusammenhang mit Leverkühns musikalischem Spätwerk präsente ›dekonstruktivistische‹ Modell Arnold Schönbergs (und Adornos) kaum berührt. Die Auseinandersetzung mit jener musikalischen Ästhetik, die mit der Tradition des 19. Jahrhunderts ebenso radikal bricht wie die montierend-dokumentarische Schreibweise im literarischen Bereich, ist Thema der Gespräche zwischen Leverkühn und Zeitblom und somit ein im Roman verhandeltes Sujet; sie ist Gegenstand des musiktheoretischen Diskurses, zu einer Verlängerung des Themas auf der ästhetischen und kompositorischen Ebene des Romans kommt es aber nur partiell. Der Aufbau eines intertextuellen Motivgeflechts und Verweisungszusammenhangs ist kein montierendes Verfahren, eine leitmotivische Erzählkunst ist keine Montage, zumal ohnehin alle »Spuren der Montage« getilgt sind; entscheidend ist das deshalb, weil Mann darüber den »Schein des in sich geschlossenen, stimmigen Kunstwerks«55 wahren kann. Weder die Textorganisation noch die Romankonzeption werden im Anschluss an die auf dem Gedanken einer Grundreihe und mehrerer Permutationen basierenden Schönbergsche Reihentechnik vorgenommen. Diese wird thematisiert und verbalisiert, sie bestimmt jedoch nicht die Struktur des Romans. Nachhaltiger wirkt dagegen die Zusammenfügung von vier Romangenres auf der strukturellen und stilistischen Ebene. So ergibt sich eine Verschachtelung der Erzähl- und Zeitebenen und eine Verkomplizierung der Erzählstrukturen, die sowohl im Umfeld der Exilals auch der westdeutschen Nachkriegsliteratur Maßstäbe setzen konnte. Dennoch markieren die aufgezeigten Differenzen Manns Verhältnis zur Moderne und seine Skepsis der modernen Romanpoetik gegenüber. Deren Tendenzen zu Fragmentarismus, Offenheit, Nicht-Abgeschlossenheit und Inkongruenz bleiben ihm fremd, auch bei der Arbeit am Faustus-Roman. Mit diesem Spätwerk stellt sich Mann wiederum in die Tradition des deutschen Bildungs- und Entwicklungsromans und mithin in eine Poetik der narrativen Ordnung, die Geschlossenheit und Zusammenhalt begründet. Und wiederum ist es vor allem die Verfestigung einer fiktiven Erzählerfigur, mithin die Absicherung des Erzählers mit Wissen und der Fähigkeit zu ordnen und ein ausgefeiltes Beziehungs- beziehungsweise Motivgeflecht zu garantieren, die die Modernität des Romans doch erheblich einschränkt.56 Vaget spricht gar von einer »herkömmliche[n] Praxis des im weitesten Sinne biographischen Erzählens«: »Linearität, Wiederholung, Variation und Abschluß«, das »vertraute Muster des Wagner_____________ 55 Vaget: Mann, S. 147. 56 Vgl. dazu den Beitrag von Hage: Einsatz.
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ischen Motivgeflechts«,57 und das heißt eine dem Musikdrama Wagners verpflichtete Motivtechnik dominieren und organisieren neben der »Einschaltung des Narrators« (GW XI, S. 164) die erzählte Welt des Adrian Leverkühn, deren Teil der Erzähler Zeitblom ist. Auch die Tatsache, dass die beschriebene Epoche wiederum als eine Zeit gefasst wird, in der dem Einzelnen als Genie und Faustus-Figur sowie als »allwissend, selbstsicher, kommentierend« agierende Erzähler-Figur58 Bedeutung garantiert wird, verbindet Manns Werk mit dem Individualismus des bürgerlicher Zeitalters. Literaturverzeichnis Mann, Thomas: Große Kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 14. Essays I 1893–1914. Text u. Kommentar. Hg. von Heinrich Detering. Frankfurt/M. 2002. Mann, Thomas: Der Entwicklungsroman (1916). In: Große Kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 14/1. Essays I 1893–1914. Hg. von Heinrich Detering. Frankfurt/M. 2002, S. 123–168. Mann, Thomas: Der französische Einfluss (1904). In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. X. Frankfurt/M. 1974, S. 837–839. Mann, Thomas: Die Kunst des Romans (1939). In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. X. Frankfurt/M. 1974, S. 348–362. Mann, Thomas: [Romane der Welt; Geleitwort, (1927)]. In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. X. Frankfurt/M. 1974, S. 673–677. Mann, Thomas: Versuch über das Theater. I (1908). In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. X. Frankfurt/M. 1974, S. 23–62. Mann, Thomas: Der autobiographische Roman (1916). In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. XI. Frankfurt/M. 1974, S. 700–703. Mann, Thomas: Die Entstehung des Doktor Faustus. Roman eines Romans [1949]. In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. XI. Frankfurt/M. 1974, S. 145–301. Mann, Thomas: Einführung in den Zauberberg. Für Studenten der Universität Princeton (1939). In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. XI. Frankfurt/M. 1974, S. 602–616. Mann, Thomas: Meine Zeit. In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. XI. Frankfurt/M. 1974, S. 302–324. Mann, Thomas: Über Königliche Hoheit. In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. XI. Frankfurt/M. 1974, S. 567–571. Mann, Thomas: An Jakob Wassermann über Mein Weg als Deutscher und Jude (1921). In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. XIII. Frankfurt/M. 1974, S. 463–465. Mann, Thomas: [Über das Verhältnis zu Fontane, 1910]. In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. XIII. Frankfurt/M. 1974, S. 817.
_____________ 57 Vgl. Vaget: Mann, S. 134. 58 Vaget: Mann, S. 149.
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Geist, Geld und Buch Thomas Manns Aufstieg zum Erfolgsautor im S. Fischer Verlag in der Weimarer Republik
I. Autorinszenierungen Im Sommer 2005 erschien anlässlich der Ausstellung »Das zweite Leben. Thomas Mann 1955–2005« im Lübecker Buddenbrookhaus ein Hochglanzmagazin, das der Öffentlichkeit ein neues Bild des Autors zeichnete.1 Die Message zu Thomas Mann lautete: Der große Schriftsteller war ein Mensch wie jeder andere, lief nicht immer gestriegelt und gescheitelt, in Anzug und mit Schlips und Kragen durch die Gegend, zeigte sich gelegentlich sogar unausgeschlafen. Das Magazin mit eingestreuten, der PopÄsthetik entlehnten Comic-Elementen (rosageränderte Sprechblasen!) präsentiert schon auf dem Umschlag den alternden Dichter im Strandkorb sitzend mit Bademantel, Zigarette im Mund, unrasiert, die Arme verschränkt; auf der Rückseite bringt es ein Altersporträt (offenes weißes Hemd, fragender Blick zur Seite): das Bild Thomas Manns, der Mythos des selbstbewussten, stets kontrollierten Selbstinszenierers, scheint hier mit Absicht zerstört worden zu sein. Medien konstruieren natürlich auch schon im frühen 20. Jahrhundert öffentlichkeitswirksame Autor-Bilder, begründen Autorenruhm und Autor-Mythen. Solche in Einzelfällen geschaffenen ikonischen (Werbe-)Figuren sind fast immer, wenn auch nicht zwangsläufig, wichtige Einflussfaktoren für Erfolg und Misserfolg, Akzeptanz und Ablehnung. Dem freien Autor sind diese Prozesse im Allgemeinen durchaus geläufig, viele Schriftsteller versuchen, selbst auf sie einzuwirken, an der Entwicklung von Werbestrategien mitzuwirken – andernfalls wären Positionsnahmen wie die einer ›nationalen‹ Repräsentanz wie Falle Thomas Manns gar nicht _____________ 1 Vgl. Wißkirchen: Leben.
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möglich. Das Bewusstsein einer spezifischen Autor-Rolle scheint Thomas Mann im Übrigen schon früh ausgebildet zu haben: In seinem Gedicht Monolog, noch vor 1900 entstanden, hat er bereits die für ihn ›bestimmte‹ Lorbeerkrone imaginiert – in Terzinen-Versen: Ich bin ein kindischer und schwacher Fant, Und irrend schweift mein Geist in alle Runde, Und schwankend fass’ ich jede starke Hand. Und dennoch regt die Hoffnung sich im Grunde, Daß etwas, was ich dachte und empfand, Mit Ruhm einst gehen wird von Mund zu Munde. Schon klingt mein Name leise in das Land, Schon nennt ihn mancher in des Beifalls Tone: Und Leute sind’s von Urteil und Verstand. Ein Traum von einer schmalen Lorbeerkrone Scheucht oft den Schlaf mir unruhvoll zur Nacht, Die meine Stirn einst zieren wird zum Lohne Für dies und jenes, das ich gut gemacht.2
Thomas Mann hat in der Tat – Marcel Reich-Ranicki wies in seiner Festansprache in Lübeck 2005 noch einmal mit Nachdruck auf diesen Aspekt seiner Persönlichkeit hin und nannte ihn gar einen »Meister der Selbststilisierung und Selbstinszenierung«3 – früh begonnen, sich selbst zu inszenieren und auf späteren Ruhm hinzuarbeiten: Eine Reihe literarischer Texte reflektiert das bekanntlich (von Bilse und ich aus dem Jahr 1906 bis zu Tod in Venedig). In dieser Hinsicht zeigte Mann sich einem Autor wie Friedrich Schiller, mit dem er sich mehrfach intensiv befasst hat, vergleichbar: Schon im Schüleralter, in den 1770er Jahren, war Schiller dem »gar süßen Wahn der Autorschaft«, wie es sein Freund Scharffenstein formuliert hat,4 verfallen – einem »Wahn«, der für Schiller mit den Räubern 1781/82, für Thomas Mann mit dem Erscheinen der Novellensammlung Der kleine Herr Friedemann 1898, so richtig aber erst mit dem Erscheinen der Buddenbrooks 1901 Wirklichkeit geworden war. Konstitutiv für das Selbstbild ist freilich nicht nur ein hohes Maß an Selbstbewusstsein und Durchsetzungsvermögen (exemplarisch dokumentiert im erfolgreichen Widerstand des jungen _____________ 2 Zitiert nach Leppmann: Mann, S. 81 (Erstdruck 1899 in: Die Gesellschaft). 3 Reich-Ranicki: Gedenken (Festvortrag zum 50. Todestag Thomas Manns. Festakt der Kulturstiftung Hansestadt Lübeck am 13.8.2005 in der Marienkirche zu Lübeck); vgl. auch Reich-Ranicki: Mann. 4 Schiller: Gespräche, S. 29 (Nr. 17).
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Autors gegen die rigorosen Kürzungsvorschläge des Buddenbrooks-Manuskripts durch den S. Fischer-Lektor Moritz Heimann5), sondern auch die Fähigkeit zum strategischen, zielorientierten Denken. Thomas Mann war ein Autor, dem Verlagsbilanzen, Verträge und Honorarabrechnungen, Soll und Haben, nicht fremd waren (auch wenn die ökonomischen Angelegenheiten zumeist von Katia Mann geregelt wurden, womit er gelegentlich kokettierte), der darüber hinaus immer wieder rezeptionssteuernd aktiv wurde – von der Aufmerksamkeit für Klappen- und sonstige Werbetexte über die Auswahl und Adressierung (gelegentlich auch Instrumentalisierung) potenzieller Rezensenten bis zu Fragen der Ausstattung –, und der schließlich, überzeugt von seinem (Selbst-)Wert, fast immer fordernd über Manuskripte, Honorare, Verträge verhandelte, als sei dies selbstverständlich: seine Briefe im Zusammenhang der Entstehungs- und Druckgeschichte der Buddenbrooks sind da bezeichnend genug.6 Er war einer jener wenigen Autoren, die sich schon früh mit standespolitischen Fragen beschäftigten, etwa mit der (Honorar-)Frage des Vorschusses,7 und die sich dann in den 1920er Jahren, und nicht nur im Kontext der Aktivitäten des »Schutzverbands deutscher Schriftsteller«8, für Autorenrechte stark gemacht haben. Thomas Mann war also durchaus ein Kenner der »Ökonomie der Selbstwertschätzung« (nach jener Formel von Georg Franck9), ein zielstrebiger Pragmatiker, wenn es sein musste, der stets im Bewusstsein der eigenen ›Größe‹ handelte. Basis seines Agierens war dabei fraglos die jahrelange, vertrauensvolle und sehr erfolgreiche Verlagskooperation mit Samuel Fischer (später, nicht mehr ganz so vertrauensvoll, mit Gottfried Bermann Fischer). Wenn also 1911 der Redakteur und Übersetzer W. Fred (d.i. Alfred Wechsler) im Auftrag des »Schutzverbands deutscher Schriftsteller« eine Abhandlung mit dem Titel Literatur als Ware veröffentlichte10 und darin, vermutlich erstmals in der deutschen Literaturgeschichte, einen radikal ökonomischen Standpunkt vertrat, indem er dem Zusammenhang von Marktwertschätzung und literarischer Qualität nachging, so durfte sich ein Autor wie Thomas Mann _____________ 5 Mendelssohn: S. Fischer, S. 294ff. 6 Vgl. zur Entstehungsgeschichte der Buddenbrooks die kommentierte Edition: GKFA, Bd. 1/2, besonders S. 118–228 zur Rezeptionsgeschichte. 7 Vgl. GFKA 15/1, S. 135 (Der Vorschuss – Die Schriftstellerbank: Zur Diskussion über eine »Vorschußkasse« beziehungsweise »Darlehenskasse«, von Juni 1915); vgl. auch die Umfrage der Zeitschrift Der Schriftsteller, der Mitgliederzeitschrift des SDS, und den Text Manns Der Taugenichts von September 1916 (GFKA 15/1, S. 151–170). 8 Vgl. dazu die immer noch grundlegende Arbeit von Fischer: Schutzverband. 9 Franck: Ökonomie, S. 132. 10 Vgl. Fred: Literatur. Anzustreben sei, meinte Fred, die vertraglich fixierte »Entlohnung nach dem Umfange der Wirkung« (S. 21).
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kaum mehr angesprochen fühlen – de facto hatte er dieses Denken längst verinnerlicht. Umfangreiches Material zum Thema – einem lohnenden, noch nicht profilierten Forschungsfeld – liegt schon seit längerem bereit: Die monumentale Darstellung des S. Fischer Verlags aus der Feder von Peter de Mendelssohn, diverse Briefwechsel, die Autobiographie Gottfried Bermann Fischers sowie der Marbacher Katalog zur Ausstellung über den S. Fischer Verlag aus dem Jahr 198611 –, und doch existiert noch kein Versuch einer systematischen Analyse, die über die konventionelle Rekonstruktion jener ›Autor-Verleger-Beziehung‹ aus Briefen und Tagebuchaufzeichnungen hinausgelangt wäre.12 Das viel zitierte Autor-Verleger-Verhältnis ist ja eine unzureichende reduktionistische Formel für komplexere Beziehungen überwiegend personaler Art, die nur punktuell mit dem Buch als Ware zu tun haben; dazu zählen vielmehr weitere Akteure im Entstehungs- und Distributionsprozess, vom »unsichtbaren Zweiten«, dem Lektor,13 der zu Zeiten Thomas Manns noch eine ganz andere, einflussreichere Position als heute hatte, bis zum Hersteller von Büchern. Es geht also um einen Problemzusammenhang, zu dem Entstehung und Annahme eines Manuskripts ebenso gehören wie Verlegererwartungen und programmpolitische Erwägungen, wie Lektoratsbegutachtungen sowie eventuelle Überarbeitungen und Korrekturen, wie Kalkulationen, wie Satz und Druck und die Ausstattung allgemein, schließlich alle Aspekte des Vertriebs und der Werbung – kurz: um den gesamten ideellen und materiellen Prozess der Entstehung, Herstellung, Distribution, Werbung und Rezeption sowie um die diesem Prozess zugrunde liegenden Steuerungsmechanismen. Die Ökonomie spielt dabei eine tragende Rolle, auch wenn nicht nur der ambitionierte Autor der Hochkultur, sondern auch der so genannte ›Kulturverleger‹ dies gerne zu verschleiern und das Verhältnis
_____________ 11 Mendelssohn: S. Fischer; Pfäfflin / Kussmaul: S. Fischer; Rodewald: Briefwechsel (1989). 12 Vgl. dazu den Überblick von Koopmann: Mann und Fischer. Die zentrale Überlegung Koopmanns lautet: »Kann man sich Thomas Mann ohne den Fischer Verlag, den Fischer Verlag ohne Thomas Mann vorstellen? Letzteres geht noch eher, mit ersterem hätte man seine Schwierigkeiten« (S. 109). Koopmann hält zwar zu Recht fest, »Thomas Manns Werkgeschichte hingegen ist die Geschichte eines Verlages, dem er durch alle wechselnden Zeitläufe hindurch die Treue hielt, und diese Treue war eine wechselseitige« (ebd.). Auf welche Weise allerdings kulturelles und ökonomisches Kapital in dieser Relation eine zentrale Rolle spielen, kommt nicht systematisch zur Sprache, obwohl Koopmann auch die verfügbaren ökonomisch-empirischen Daten zu Vorschüssen, Honoraren und Auflagenzahlen resümiert. 13 Vgl. zur Figur des Lektors und ihrer Funktion und Bedeutung Schneider: Der unsichtbare Zweite.
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zwischen Geist/Kultur und Ökonomie zu idealisieren suchen, indem sie der Ökonomie gerne eine nachrangige Bedeutung zuschreiben.14 Der Blick ist zu richten auf und zu schärfen für die ökonomischen Aspekte der spezifischen Positionierung Thomas Manns im literarischen Feld, in dem man es nicht mit definierten, rationalen Nachfrage- und Angebotsverhältnissen zu tun hat, in dem vielmehr gerade die Asymmetrien hervorstechen und erklärungsbedürftig sind.15 Zu untersuchen ist der Aufstieg des Lübecker Kaufmannssohn zum gleichermaßen ökonomisch erfolgreichen wie deutsche Kultur zeitweise omnipotent repräsentierenden Schriftsteller. Wie vollzog sich dieser Aufstieg, auf welche Weise hängen Selbstinszenierung und ökonomischer Erfolg zusammen, wie erfolgte die Akkumulation von symbolischem Kapital und dessen Konversion in ökonomisches. Verlags- und Berufsgeschichte von Schriftstellern ist also nicht zu schreiben ohne die systematische Einbeziehung der materiellen Dimension, vor dem Hintergrund jener von Verlegern wie Siegfried Unseld, von Autoren wie Adolf Muschg und schließlich von Literatur- und Buchwissenschaftlern wie Georg Jäger viel beschworenen »doppelten Referenz« des Buchs auf »Kultur und Wirtschaft«.16 Kein Geringerer als Robert Musil hatte diese ›doppelte Referenz‹ bereits 1913 mit den folgenden Worten, formuliert als Antwort auf eine Umfrage des Georg Müller Verlags, treffend umschrieben: »Ein vom Publikum favorisierter Schriftsteller hat heute durchschnittlich das Einkommen eines Hoteldirektors, in ganz seltenen Fällen das eines nicht sehr gutgestellten Bankdirektors. Ein vom Publikum nicht favorisierter Schriftsteller hat das Einkommen eines Liftboys […] Schuld an diesen Zuständen will niemand haben, nicht der Schriftsteller, nicht der Verleger und nicht das Publikum. Wie alle weitgreifenden wirtschaftlichen Konstellationen sind sie unpersönlich oder überpersönlich. Daß sie von größtem Einfluß auf das künstlerische Schaffen sind, ist sicher. Daß sie geändert werden müssen, ist sicher«.17 _____________ 14 Zum Typus des Kulturverlegers in der Zwischenkriegszeit vgl. auch die exemplarische Studie von Fischer: Verlegen. 15 Zum literarischen Feld und seiner Struktur sowie allgemein zum Konzept der Literatursoziologie Bourdieus vgl. insbesondere Jurt: Feld; Schwingel: Bourdieu; Joch / Wolf: Text, dort besonders die Einleitung der Herausgeber: Feldtheorie als Provokation der Literaturwissenschaft, S. 1–24. 16 Methodisch konzeptionalisiert und vor dem Hintergrund der Systemtheorie ausgearbeitet wurde ein Theoriekonzept des (Kultur-)Verlags von Jäger: Kulturtheorie, das Zitierte ebd. S. 70. Vgl., aus Verlegerperspektive, die exemplarischen Untersuchungen (Robert Walser, Rilke u.a.) von Siegfried Unseld in: Autor; auch der Schriftsteller Adolf Muschg weist in einem Festschriftbeitrag für Unseld auf jene »doppelte Referenz« (»die berüchtigte Doppelrolle des Buchs – Kunstwerk und Ware«) hin: Muschg: Verleger, S. 129. – Grundlegend für die Verlags- und Buchhandelsgeschichte der 1920er Jahre ist: Fischer / Füssel: Geschichte, Bd. 2. 17 Schriftsteller, S. 95f.
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An unterschiedlichen und unterschiedlich gewichtigen Beispielen soll die traditionelle, zweipolige Relation Autor-Verleger erweitert und der Blick gerichtet werden auf jenen komplexen Prozess, an dessen Ende der Welterfolg eines sich selbst als repräsentativ verstehenden deutschen Autors stand, dem in der Öffentlichkeit diese Repräsentanz nicht nur zugeschrieben, sondern zeitweise auch zugestanden wurde. In den Fokus gerückt werden Auflagenzahlen und Auflagenentwicklungen, die Veröffentlichungs- und Editionspolitik des S. Fischer Verlags,18 dessen autorspezifische Werbung und Werbestrategie, rücken all jene Aktivitäten, die Verlag und Autor zur Begründung von Ruhm und Repräsentanz und für den ökonomischem Erfolg entfaltet haben und deren Wirkungen in der Öffentlichkeit mit möglichen Rückkopplungseffekten. Auch das Rollenverständnis und Rollenhandeln des Autors in der Öffentlichkeit, Konstruktionen von Fremd-, Feind- und Selbstbildern muss Gegenstand einer Untersuchung der Erfolgsgeschichte sein; in diesem Zusammenhang ist vor allem die zeitweilige feldinterne Konkurrenz mit Gerhart Hauptmann zu berücksichtigen. – Wie also hat sich das Werk Thomas Manns im S. Fischer Verlag entwickelt, wie wurde der Autor zum Erfolgsautor der Hochliteratur schon in der Weimarer Republik; wie sieht die Verlaufskurve des Erfolgs aus? Auf welche Weise wurde Thomas Mann der auflagenstärkste deutschsprachige Autor der Hochliteratur schon in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts? Konzentrieren werde ich mich im Folgenden auf die Jahre 1922 bis 1930, die die eigentliche Phase des Aufstiegs zum erfolgreichen deutschen Repräsentationsschriftsteller markieren. Aus meiner Sicht vollzogen sich der Aufstieg Thomas Manns und der öffentliche Reputationsgewinn, vollzog sich der Durchbruch zum repräsentativen und ökonomisch erfolgreichen Autor trotz der frühen positiven Rezeption der Buddenbrooks und der nachfolgenden Werke (Tristan, Königliche Hoheit und Tod in Venedig) bis Anfang der 20er Jahre relativ gleichmäßig auf einem stabilen Niveau ohne wesentliche Ausschläge – die Auflagenzahlen (und mit ihr die Leserschaft) stiegen langsam und stetig. Ein Quantensprung erfolgte erst in den 20er Jahren, eingeleitet durch den Beginn der Gesammelten Werke in Einzelausgaben ab 1922 und einer verlegerischen Offensive der Ausgabendiversifizierung des S. Fischer Verlags, durch das Erscheinen des Zauberberg 1924 mit einer breiten, überwiegend begeisterten Rezeption, durch die öffentlichkeitswirksame Feier des fünfzigsten Geburtstags von Thomas Mann 1925 und die Ausgabe eines Autorenprospekts durch den S. Fischer Verlag. Der Autor gelangte mit diesen Schritten auf den Höhepunkt seiner literarischen Repräsentanz. _____________ 18 Vgl. dazu die akribische Gesamtbibliographie, in der alle Auflagen der Bücher Thomas Manns, soweit zu eruieren, notiert sind: Beck: S. Fischer.
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Geist, Geld und Buch: Das fiel schließlich, am Ende der 20er Jahre, auf geradezu exemplarische Weise in der Person des von Musil ironisch als ›Großschriftsteller‹ charakterisierten Thomas Mann zusammen, als 1929 die ›Volksausgabe‹ der Buddenbrooks herausgebracht wurde. II. Gerhart Hauptmann – kein Konkurrent im literarischen Feld? Die oft erwähnte Konkurrenz mit Gerhart Hauptmann, die durch den Briefwechsel zwischen beiden Autoren vordergründig bestätigt zu werden scheint, nach außen allerdings nur ›versteckt‹ kommuniziert wurde, wird in ihrer tatsächlichen Bedeutung ein wenig überschätzt. Thomas Manns Perspektive auf die Diskrepanz zwischen einer in seinen Augen angemaßten Repräsentation von Goetheschem Format und der realen Wirkung beziehungsweise der Wahrnehmung Gerhart Hauptmanns ist vielmehr für die Bewertung dieses angeblichen Konkurrenzverhältnisses ausschlaggebend. Dagegen spricht keineswegs, dass Hauptmann noch Mitte der 20er Jahre neben Thomas Mann als ›repräsentativer‹ Schriftsteller Deutschlands angeführt wird, nicht selten allerdings in einer Trias gemeinsam mit Heinrich Mann, gelegentlich sogar in einem Quartett mit Stefan George als dem Vierten im Bunde.19 Gerhart Hauptmann war der Repräsentant einer älteren Autorengeneration, der ersten literarischen Moderne in den 90er Jahren, des Naturalismus. Er war Teil einer Autorengruppe, die sich innovationsstrategisch im literarischen Feld rasch durchzusetzen vermochte,20 während Thomas Mann mit seinen Buddenbrooks kurz nach der Jahrhundertwende gleichsam als Solitär an die Öffentlichkeit trat und als solcher vom Verlag auch beworben und propagiert wurde – als ein junger Autor, der keiner Gruppe zuzurechnen sei und seinen ganz eigenen, souveränen Stil im Roman verwirklicht habe. Gerhart Hauptmann dagegen war zu diesem Zeitpunkt schon, aufgrund der Weber und einer Reihe weiterer sozialer Dramen, als richtungweisender Führer einer neuen literarischen Tendenz akzeptiert, galt als der repräsentative Autor im literarischen Feld der Jahrhundertwende. Für rund zwei Jahrzehnte war er der wichtigste und renommierteste deutsche Autor im führenden Verlag der literarischen Moderne in Deutschland, welcher diese Moderne gleichsam ›monopolisiert‹ hatte, _____________ 19 Vgl. etwa einen Artikel in der Wiener Allgemeinen Zeitung vom 3.6.1925, in dem Thomas Mann als »nebst Hauptmann und seinem Bruder Heinrich Mann der große repräsentative Schriftsteller der deutschen Gegenwart« firmiert (Interviews, S. 69). Vgl. ferner Grützmacher: Hauptmann. 20 Vgl. zur literatursoziologischen Verortung Gerhart Hauptmanns und der Naturalisten Magerski: Konstituierung.
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S. Fischer.21 Er favorisierte andere Genres als Thomas Mann: Er blieb lange dem Drama treu, das an Reputation im literarischen Feld sukzessive verlor, während der Roman kontinuierlich hinzugewann; Gustav Frenssens Jörn Uhl, wie die Buddenbrooks im Jahr 1901 erschienen, allerdings sofort ein auflagenstarker Bestseller geworden, markierte die erfolgversprechende ›heimatliterarische‹ Richtung. Der S. Fischer Verlag geriet aber mehr und mehr in eine Zwickmühle, weil die Diskrepanz zwischen der Reputation Gerhart Hauptmanns und den sinkenden Auflagenzahlen im Laufe der Jahre immer größer wurde. Während die frühen sozialen Dramen bereits als Schullektüre kanonisiert waren, fanden von den neuen literarischen Werken nur noch wenige den Weg zu einem breiteren Publikum. Hauptmann ignorierte allerdings diese Entwicklung noch in den 1920er Jahren und versuchte gegenzusteuern, indem er sich häufiger im Romangenre versuchte. Seinen letzten großen Publikumserfolg hatte er dann 1924 mit dem utopischen Roman Die Insel der großen Mutter oder Das Wunder von Ile des Dames; danach schwand das Leser- und Käuferinteresse schlagartig. Hauptmann neigte freilich zur Selbstüberschätzung, er ließ sich von seinem Rang als Bühnenautor und von der schulischen, materiell einträglichen Kanonisierung der frühen naturalistischen Dramen blenden. Noch für sein 1928 erschienenes Epos in Hexametern Des großen Kampffliegers, Landfahrers, Gauklers und Magiers Till Eulenspiegel Abenteuer, Streiche, Gaukeleien, Gesichte und Träume forderte er eine völlig überzogene, eine vernünftige Kalkulation des Buches konterkarierende Vorauszahlung von 100.000 Mark – der Verlag kam ihm sehr weit entgegen. Er war dadurch allerdings gezwungen, für den großformatigen, schwergewichtigen Band eine Erstauflage von 20.000 anzusetzen und einen hohen Preis zu verlangen. Das Buch, Hauptmanns Versuch über die Nachkriegszeit mit einem »Epos vom Ewigen Deutschen« (so die Verlagswerbung), fand dann beim Publikum nur wenig Resonanz, im Oktober 1928 waren ganze 6.893 Exemplare verkauft!22 Thomas Mann dürfte schon in den Jahren zuvor kaum verborgen geblieben sein, dass Hauptmann dabei war, sein über die Jahre erworbenes symbolisches Kapital aufs Spiel zu setzen. Er selbst behauptete sich hingegen mit der Gattung Roman, mit dem Zauberberg, durch die Transformation politisch-sozialer Fragen in die Romanfiktion und durch die Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit als ein nach vielen Seiten hin und für viele Themen offener und kommunikabler Republikaner und Kulturpolitiker gegenüber dem politisch nicht so aktiven Hauptmann; er löste so _____________ 21 Vgl. zu Hauptmann im S. Fischer Verlag Pfäfflin / Kussmaul: S. Fischer, S. 85ff., ferner Mendelssohn: S. Fischer, besonders S. 1064–1088 (»Der erste Dichter des Verlags«). Zur Rolle des S. Fischer Verlags um 1900 vgl. Sprengel / Streim: Moderne. 22 Mendelssohn: S. Fischer, S. 1074.
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Hauptmann als ersten literarischen Repräsentanten der Nation (nicht nur der Res Publica Litteraria) ab. Als Schlüsselereignis kann hier Thomas Manns zunächst in der Neuen Rundschau publizierte Rede anlässlich von Hauptmanns sechzigstem Geburtstag im Jahr 1922 angesehen werden, mit der er sich erstmals als pragmatisch-prononcierter Apologet der neuen Demokratie ausgewiesen hatte (Von deutscher Republik). Die Rede war auch ein Plädoyer in eigener Sache und eine kaum verhüllte Selbstermächtigung gegenüber der überlebten Tradition – jedenfalls lassen sich die folgenden Worte, aus einem kurzen Statement zum Geburtstag Hauptmanns, kaum anders deuten: »Sein außerordentlicher Ruhm, die Ehren, die ihm so reichlich zugefallen, das nationale Vertrauen, das er genießt, die fürstlichrepräsentative Stellung, die der Sechzigjährige einnimmt, dies alles erscheint mir wohl verdient, erfüllt mich mit Genugtuung. Er steht für uns alle, ein deutscher Meister und nachgerade etwa wie ein Vater des Volks. Auch sein Format ist wohl nicht das einer weggestorbenen großen Generation Europas« (GKFA 15/1, S. 513 [Hervorh. W. H.]). Das dann in der »Republik« Hauptmann zugeschriebene »Deutschtum« und dessen »echte Popularität« (ebd., S. 516) waren Attribute, die der Redner als Ziel sich selbst vor Augen stellte. III. Gesammelte Werke in Einzelausgaben (1922–1937) Im Gegensatz zu anderen renommierten Verlagen konnte S. Fischer die ökonomische Krise Anfang der 20er Jahre, die im deutschen Buchhandel zu einem massiven Rückgang der Buchproduktion und der Umsatzzahlen geführt hatte,23 einigermaßen bewältigen und seine Position im literarischen Feld zumindest behaupten. Die in dem Jahrzehnt zuvor etablierten literarischen Verlage, vor allem Ernst Rowohlt und Kurt Wolff, um nur zwei der wichtigsten zu nennen, konnten auch deshalb nicht zu wirklichen Konkurrenten werden, weil sie eine andere Verlagsphilosophie propagierten. Sie brachten vornehmlich junge, gruppenzentrierte neue Autoren heraus, insbesondere Expressionisten und politische Aktivisten, denen Samuel Fischer reserviert gegenüberstand – von wenigen Ausnahmen wie Alfred Döblin und Otto Flake abgesehen.24 Nicht eine literarische Gruppenbildung oder Generationenrevolte interessierte Fischer, _____________ 23 Vgl. zur ökonomischen Entwicklung des Verlagswesens in der Weimarer Republik Barbara Kastner: Statistik und Topographie des Verlagswesens, in: Fischer / Füssel: Geschichte, S. 341–378; vgl. ferner Fischer: Marktorganisation, in: Fischer / Füssel: Geschichte, S. 265– 304. 24 Zu S. Fischers Verhältnis zur Avantgarde und speziell zum Expressionismus siehe Pfäfflin / Kussmaul: S. Fischer, S. 270–296 (»Der Verlag im expressionistischen Jahrzehnt«).
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sondern das einzelne, herausragende literarische Werk. Er verstand sich als der wichtigste Verleger individualistischer Autoren. Die enge, bisweilen geradezu familiäre Bindung der Autoren an den Verlag war ein Markenzeichen dieser Verlagspolitik, diese war nicht auf kurzfristige Effekte und Erfolge berechnet. Fischer präferierte vielmehr eine perspektivenreiche, auf Exklusivität, Dauer und Konstanz angelegte Zusammenarbeit mit Autoren, wenn er denn von ihrer Qualität und zugleich von der Möglichkeit ihrer Durchsetzung am literarischen Markt überzeugt war. Charakteristisch dafür ist der berühmte frühe Brief Samuel Fischers an Thomas Mann vom 29. Mai 1897, in dem der Verleger den jungen Autor zur Abfassung eines größeren Prosawerks aufforderte und hinzufügte: »Ich will für Ihre Production gern wirken, natürlich unter der Voraussetzung, dass Sie mir alle Ihre Produkte zum Verlag übergeben«.25 Der erste Schritt zur Inthronisierung Thomas Manns als kulturellen Repräsentanten der neuen deutschen Republik war der Beginn der Herausgabe einer Edition der Werke – parallel zum Erscheinen der erwähnten, den Beginn des Anspruchs auf Repräsentanz markierenden Rede Von deutscher Republik in der Neuen Rundschau sowie als Einzelausgabe. Die Ausgabe setzte sich punktuell ab von der etablierten Reihe »Gesamtausgaben moderner Dichter«, von Richard Dehmel über Theodor Fontane, Gerhart Hauptmann und Hugo von Hofmannsthal bis zu Henrik Ibsen und Arthur Schnitzler,26 zu der sie denn auch nicht gezählt wurde. Sie ist ein Meilenstein im Prozess der Erschaffung der »Marke« Thomas Mann,27 ein herausragendes Kapitel Symbolpolitik im literarischen Feld. Flankierend wirkten in diesem Prozess mit der fast jährlich erscheinende Almanach des S. Fischer Verlags mit Vorab- und Nachdrucken sowie Autorenfotos und einer Verlagsbibliographie im Anhang; ferner die von Rudolf Kayser betreute Zeitschrift Neue Rundschau, ein sich zwar unabhängig gebendes, jedoch zahlreiche S. Fischer Autoren druckendes Kulturjournal, das als mediales Aushängeschild des Verlags fungierte und Thomas Mann gut zu positionieren wusste, als Multiplikator seiner 1922 einsetzenden Bemühungen um die Erringung des ersten Rangs im Kampf um Repräsentanz im Reich. Beide Medien verstärkten die imagebildenden Effekte und hatten ebenfalls Anteil an der Bildung der ›Marke‹ Thomas Mann; an _____________ 25 Mann: Briefwechsel (1988), S. 394. 26 Vgl. den Verlagsprospekt »Gesamtausgaben moderner Dichter« von 1924 (Berlin, S. Fischer, September 1924. Gr. 8°). Thomas Mann ist allerdings nicht aufgeführt, da dessen Werkausgabe noch nicht abgeschlossen war; 10 Werkausgaben werden im Prospekt vorgestellt, die von Dehmel, Fontane, Hauptmann, Heimann, Hofmannsthal, Ibsen, Kerr, Schnitzler, Shaw, Whitman. Vgl. auch das Kapitel »Gesamtausgaben moderner Dichter« in: Pfäfflin / Kussmaul: S. Fischer, S. 151–180. 27 Vgl. allgemein zum Phänomen von Markenpolitik Herbst: Mensch.
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ihnen lassen sich auch der sukzessiv erfolgende Wechsel des Verlagsfokus von Gerhart Hauptmann auf Thomas Mann und die Intensivierung kulturpolitischer Präsenz und werblicher Aktivitäten für den BuddenbrooksAutor deutlich ablesen. Der Autor selbst profitierte auch ökonomisch von dieser Strategie und der diversifizierten, wohldurchdachten Ausgaben-Politik des Verlags – wenn auch nicht unmittelbar. Denn zu diesem Zeitpunkt wurde, ausgelöst durch die Wirtschaftskrise Anfang der 20er Jahre, die »Not der geistigen Arbeiter« Gegenstand umfassender sozialhistorischer und empirischer Erhebungen sowie soziologischer Analysen.28 Thomas Mann hatte in diesem Zusammenhang als Autor der Hochliteratur eine Art Sonderstatus. Noch im März 1921 gestand er in einer Rundfrage der Vossischen Zeitung zum Thema der »Not der Geistigen« ein, von der monatlichen Unterstützung durch seine Mutter seinen Lebensunterhalt gut bestreiten zu können; deshalb sei er auch, wie er meinte, »persönlich der kapitalistischen Weltordnung von früher her zu Dank verpflichtet, weshalb es mir niemals anstehen wird, so recht à la mode auf sie spucken« (GFKA 15/1, S. 351). Doch schon 1923 vernichtete die Inflation nach seinen eigenen Angaben diese Einnahmequelle, weshalb die Verkaufszahlen seiner Bücher seit jener Zeit umso wichtiger wurden. Im Jahr 1922 wurde zwar keine Nachauflage der Buddenbrooks gedruckt und auch andere Titel Thomas Manns waren aufgrund der ökonomischen Krise vorübergehend nicht mehr so leicht verkäuflich. Doch Thomas Manns Verlag zeigte sich erstaunlich wagemutig, erfindungsreich und innovativ: Mit Konzeption, Ausstattung und Präsentation der ersten Werkausgabe schuf er – innerhalb von nur wenigen Jahren – einen Pol der Invarianz mit hohem Wiedererkennungswert. Damit sorgte er für Kontinuität und Stetigkeit in der Öffentlichkeit; dass dies unter Verzicht auf spektakuläres Beiwerk, auch auf Farbe und einen werbenden, womöglich farbigen Schutzumschlag, dem im Verlagswesen und Buchhandel der Wiemarer Republik eine immer größere Bedeutung zukam,29 erfolgte, war noch erstaunlicher. Das Werk des ebenso solitären wie repräsentablen Autors (der ja auch als ein solcher inszeniert wurde) sollte für sich sprechen und bedurfte daher – so wohl das Verlagskalkül – keiner plakativen, in den Formen und Farben wechselnden Präsentation in der Öffentlichkeit. Die Strategie zielte unübersehbar auf die Präsentation eines »Klassikers der Moderne«, die Ausgabe sollte Klassikerausgabe sein. Sie ist ein wichtiger Baustein im Konzept der fortlaufenden, parallelen Akkumula_____________ 28 Vgl. Die geistigen Arbeiter (1922); das Zitat ist angelehnt an den Titel einer Studie von Alfred Weber (Berlin, Leipzig 1923). 29 Vgl. zur Funktion der Gestaltung des Gebrauchsbuchs und des Schutzumschlags in der Wiemarer Republik Haefs: Aspekte; Holstein: Blickfang.
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tion von symbolischem und ökonomischem Kapital, die für den Autor Thomas Mann so charakteristisch ist. Als erster Band der Gesammelten Werke in Einzelausgaben erschien im November 1921 im Impressum vordatiert auf 1922, die Sammlung Rede und Antwort (Untertitel: Abhandlungen und Aufsätze), 1922 der Roman Königliche Hoheit (mit Gesamtauflagenvermerk, wie auch bei den anderen älteren Veröffentlichungen [hier: 71.–77. Aufl.]), die Buddenbrooks in zwei Bänden und die Novellen (ebenfalls zwei Bände) sowie die stellenweise überarbeiteten Betrachtungen eines Unpolitischen, 1924 die Erstausgabe des Zauberberg, 1933 bis 1936 die Joseph-Romane, die Essaybände Bemühungen 1925, Die Forderung des Tages 1929 und Leiden und Größe der Meister 1935; insgesamt 15 Bände.30 Der Verlag behielt sich dabei – ein kluger Schachzug – die Möglichkeit vor, die Ausgabe immer wieder zu ergänzen, indem er die (bei Spamer oder im Bibliographischen Institut in Leipzig gedruckten) Bände nicht durchnummerierte und nicht als zu einer abgeschlossenen Gesamtausgabe gehörend deklarierte. Zwischenzeitlich wurde die Symbolik der Werkausgabe vom Verlag selbst kommentiert und exponiert mit dem Goethes Gedicht Gott und Kunst entlehnten Vers, der als Zweizeiler das Vortitelblatt zusätzlich zierte: »Nie geschlossen, / oft geründet«,31 auf das der Verlag später aber wieder verzichtete. Damit konterkarierte diese Ausgabe die eigene, wenig erfolgreiche und vor allem sehr kostspielige Strategie im Falle Gerhart Hauptmanns, der alle paar Jahre eine neue Werkausgabe mit Ergänzungsbänden erhalten hatte. Wohl begründet war auch die Entscheidung, alle Bände in einheitlicher Ausstattung und Typographie auf den Markt zu bringen: So ließen sich die Rohbögen beliebig, je nach Bedarf, mit neuer Titelei aufbinden für weitere Einzelausgaben; die Bände enthalten jeweils vor dem Titelblatt den Reihentitel »Gesammelte Werke« mit dem hinzugefügten Verlagssignet, das Impressum auf der Titelrückseite verzeichnet die jeweilige Gesamtauflage. Die Gestalt der Gesammelten Werke erlaubte also immer auch Mitdrucke von einzelnen Auflagen, was die Kalkulation erheblich erleichterte. Die Ausstattung der Reihe verdient noch einen genaueren Blick und eine detaillierte Beschreibung. Die Bände wurden in vier Einbandvarianten vorgelegt (wovon der Verlag jedoch schon bald wieder abgerückt sein dürfte), ein Stück bemerkenswert ausdifferenzierter Preis- und Markenpolitik in einem ökonomisch schwierigen Umfeld: neben der Leinenausgabe, die den größten Teil der Auflage ausgemacht haben dürfte, wurden eine _____________ 30 Vgl. Mendelssohn: S. Fischer, S. 909ff. Siehe auch den Überblick bei Wißkirchen: ThomasMann-Gesamtausgaben, S. 773–777 (allerdings ohne Beschreibung der Verlagsstrategie und ohne Hinweise auf die Ausstattungsmerkmale). 31 Hier zitiert nach der Auflage der Buddenbrooks von 1925 in den Gesammelten Werken (146.–151. Auflage).
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ästhetisch wenig gelungene Halbleinenausgabe (mit lindgrünem Einbanddeckel, der Leinenrücken ist identisch mit dem der Leinenausgabe, ebenso die dekorativ-historisierende Rückenmusterung), eine broschierte Ausgabe (»Geheftet«) für den schmaleren Geldbeutel sowie eine in nur kleiner Auflage erschienene Halblederausgabe vorgelegt. Darüber hinaus wurden von den Gesammelten Werken »150 Exemplare auf Hadern-Velin-Papier abgezogen, numeriert und vom Verfasser signiert«. »Diese Exemplare«, wie es in einem zweiten Impressum am Ende der ersten erschienenen Bände heißt, »werden nur in Subskription auf das Gesamtwerk abgegeben«. Was manchem Verlag die Kalkulation erleichtert hätte: Für S. Fischer wird vor allem der Aspekt, Bedürfnisse der gewachsenen Zahl bibliophiler Sammler zu befriedigen und auch über diese Schiene ›Markenbildung‹ zu betreiben, ausschlaggebend gewesen sein. Bibliophile oder gar »Luxusausgaben« der renommierten Autoren hatte Fischer im Übrigen schon vor dem Ersten Weltkrieg herausgebracht (so wurde die 50. Auflage der Buddenbrooks 1910 in bibliophiler [Vorzugs-]Ausstattung vorgelegt) und als eigenes Segment im Katalog geführt;32 an diese Tradition knüpfte man an, wobei Thomas Mann in den Mittelpunkt der Aktivitäten um Luxus-, Vorzugs- und Liebhaberausgaben gerückt wurde. Jubiläumsauflagen der großen Romane und Novellen wurden in aller Regel von einer nummerierten und signierten bibliophilen Ausgabe der Vorzugsausgabe begleitet: So erschienen 1919 von der 100. Auflage der Buddenbrooks 200 Exemplare im Handel auf Zanders-Büttenpapier und vom Dichter signiert. Vom Tod in Venedig (58. Auflage 1924) zum Beispiel bot der Verlag in den 20er Jahren eine »Liebhaberausgabe im Großquart-Format« in 2.000 Exemplaren in den Einbandvarianten ›Künstlerpappband‹ sowie Halbpergament an (nachdem von der ersten Ausgabe 1913 bereits 60 nummerierte und signierte Exemplare als Vorzugsausgabe gedruckt worden waren). Die gleichsam serielle Ausstattung der Gesammelten Werke, die bis 1937, bis zu den letzten in Wien unter der Angabe »Bermann-Fischer Verlag« gedruckten Auflagen nicht mehr verändert wurde (sieht man von unterschiedlichen Papierqualitäten und der zeitweilig die Fadenheftung ersetzenden Klammerheftung ab), stammt nicht von dem renommierten und erfahrenen, schon lange Jahre für den S. Fischer Verlag arbeitenden Emil Rudolf Weiß, sondern von einem seiner Schüler, dem kaum bekannten [Karl] Erich Mende (1886–?), der im Impressum nicht einmal genannt wird.33 Mende hatte zuvor im S. Fischer Verlag unter anderem die Ein_____________ 32 Vgl. zum Beispiel die Rubrik »Luxusausgaben« in: Jahrbuch 1914–1915, S. 316. 33 Zum Buchgestalter Mende, über dessen Biographie bis heute kaum etwas bekannt ist, vgl. Stark: Erich Mende. Mendelssohn: S. Fischer, S. 910, sprach irrtümlich von einem »H. E. Mende« und wusste zu diesem Buchkünstler überhaupt nichts mitzuteilen.
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bände von Büchern Alfred Döblins, Alfred Wolfensteins (das expressionistische Jahrbuch Die Erhebung) und Hermann Hesses (Demian, Klingsors letzter Sommer) sowie die bis dahin letzte erschienene Werkausgabe Gerhart Hauptmanns gestaltet. Das Ergebnis im Falle Thomas Manns, ästhetisch zwar durchaus fragwürdig (während de Mendelssohn konzediert, es handle sich herstellerisch um »ein überaus gelungenes Werk«34) und keineswegs innovativ (da vermochte Emil Rudolf Weiß mit den signalfarbigen blauen Einbänden der Gesammelten Werke von Hermann Hesse – ebenfalls in Einzelausgaben – wenig später eher zu gefallen), dürfte mit seiner unspektakulären, unaufdringlich-diskreten und zugleich symbolbehafteten Ästhetik dem Wunsch von Verleger und Autor entsprochen und einen konservativen Publikumsgeschmack getroffen haben: Die Farbe des gerippten Einbandleinens (»Ripsleinen«) war beige beziehungsweise hellgrau (Antiquare beschreiben sie gelegentlich als »eierschalenfarben«), mit goldgeprägter Vignette auf dem Vorderdeckel und ornamentaler Rückenvergoldung, die aus dem immer wieder (auch und gerade von E. R. Weiß) für Einbände des S. Fischer Verlags benutzten reichen Fundus klassizistischer Motive des 18. Jahrhunderts schöpft. Seit 1925 steht – bei allen Bänden einheitlich – der goldgeprägte Rückentitel in einem schwarzgeprägten Rechteck, das reiche, teils florale Rückenornament ist ebenfalls goldgeprägt; in den zuvor erschienenen Bänden ist das Rechteck braun, die geometrischen Formen des Rückenornaments sind schwarz und die floralen braun geprägt; auch die Deckelvignette wechselt von schwarz zu edler Goldprägung. Für den Namen des Autors wählte der Gestalter eine schwungvolle Schreibschrift als Markenzeichen der Individualisierung; korrespondierend bringt die Deckelvignette ein Thomas-Mann-Erkennungslogo, das fortan das Gesicht vieler Bucheinbände prägen sollte: Das Signet ist illustrativ und zugleich literarisches Markenzeichen des Autors, Motiv nämlich in einigen seiner wichtigen literarischen Texte.35 Verschiedene formale Elemente sind hier zusammengefügt:36 Über der Leier sind quer liegend Bogen und Pfeil gesetzt (auffallend rechtsgeneigt), beides aufruhend auf einer Raute, wie sie auch auf der Rückenprägung zu finden ist und links und rechts eingerahmt wird von den Initialen T M in Schreibschrift. Die Umschlaglösung ist eine rein typographische; die Schrift in allen Bänden, anknüpfend an die meisten zuvor publizierten Werke Manns (zum Beispiel schon in der Jubiläumsausgabe der Buddenbrooks von 1909), einheitlich in der klassischen Unger-Fraktur des ausgehenden 18. _____________ 34 Mendelssohn: S. Fischer, S. 910. 35 Zur Symbolgeschichte von »Bogen und Leier« vgl., v. a. mit Blick auf das literarische Werk Manns, Potempa: Bogen. 36 Eine exakte Beschreibung bietet Stark: Mende, S. 163.
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Jahrhunderts gesetzt, die im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts wieder entdeckt worden war und in den 20er Jahre eine Renaissance erlebte.37 Diese Deckelillustration blieb mehr als vier Jahrzehnte in Gebrauch, sowohl die Stockholmer, im Exil begonnene Ausgabe der Werke in Einzelbänden verwenden sie als auch die Briefausgabe der 1950er und 1960er Jahre, beide in dunkelbraunem Leinen gehalten und damit die Blässe der ersten Werkausgabe korrigierend. IV. Die konsolidierte Republik und die Reputation des Großschriftstellers Im November 1924 brachte der S. Fischer Verlag einen kleinen Prospekt heraus,38 um für den gerade erschienenen Zauberberg (zweibändig, 1208 Seiten, auf holzfreies Papier gedruckt, 1.–20. Aufl.) zu werben. Auf der Vorderseite ist eines der typischen, auf Repräsentativität in Gestik und Kleidung abzielenden Fotos reproduziert, das den Habitus eines Professors ebenso gut abbilden könnte wie den eines Kaufmanns. Der Verlag akzentuierte immer noch jenes konservative Prinzip des ›aristokratisch‹individualistischen Dichtertums, auf das der Autor selbst in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen als Gegenbild zum Zivilisationsliteraten abgezielt hatte. Angeboten wurde der Roman, der in der Reihe der Gesammelten Werke als Originalausgabe erschien, wieder in vier verschiedenen Einbandvarianten: Geheftet, Halbleinen, Leinen, Halbleder. Der Werbetext über den Roman lautet: »Der langerhoffte Roman Thomas Manns liegt vor. So Großes die Gemeinde des Dichters erwartet haben mag, sie wird überrascht sein von dem kühnen Wagnis des Plans und der Meisterschaft seiner Verwirklichung«. Der Verlag ging also weiterhin davon aus, dass die Leserschaft Thomas Manns in gut zwanzig Jahren zwar kontinuierlich gewachsen, aber immer noch überschaubar war. Darüber hinaus blieb er der vorsichtigen, offenbar erfolgreichen politischen Distanzierungsstrategie treu. Und der Autor, der immer auch einen wachen Blick für die Waschzettel und Prospekte seiner Bücher gehabt hat, gelegentlich Freunde zur Abfassung solcher Texte motiviert, manchmal sogar genötigt hat, wenn es einmal nicht die literarisch versierten Lektoren taten (wie Moritz Heimann oder Oskar Loerke), hat diese Strategie mitge_____________ 37 Vgl. Unger-Fraktur. 38 Prospekt für den Zauberberg von 1924: »Thomas Mann. Soeben erscheint Der Zauberberg. Roman« […] (4 bedruckte Seiten. Kleinoktav); der Prospekt lag Bänden der Werkausgabe sowie Zeitschriftenheften, insbesondere der Neuen Rundschau, bei. Die nicht nachgewiesenen Zitate im Folgenden stammen aus diesem unpaginierten Prospekt (der Werbetext auf der zweiten Seite).
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tragen. Auch der den Zauberberg annoncierende und bewerbende Text weise, wie ausdrücklich hervorgehoben wird, nur allgemein menschliche Bezüge auf, behandle nicht die soziale Problematik und klammere Politik aus – dennoch, so heißt es über den Zauberberg, erlebe man in dem Roman »alle Probleme, welche in geistigem und seelischem Sinne den Inhalt unseres Daseins ausmachen«. Die in der Verlagswerbung für den Autor verfolgte Innovationsstrategie, die emphatisch auf die Synthese ›Geist und Leben‹ setzte, war erfolgreich, die Rechnung ging im wahrsten Sinne des Wortes auf, weit stärker und erheblich schneller als im Falle der Buddenbrooks. Schon am 4. Februar 1925 konnte Thomas Mann, nachdem die optimistisch anmutende Erstauflage von 20.000 Exemplaren verkauft war und weitere 8.000 Exemplare im Rahmen der Gesammelten Werke in Einzelausgaben gedruckt worden waren,39 süffisant an Ernst Bertram vermelden: »Ich habe […] an Eintrittsgeldern in mein mystisch-humoristisches Aquarium schon einige siebzigtausend Mark verdient, und so habe ich mir denn ein Auto angeschafft, einen hübschen sechssitzigen Fiat-Wagen«.40 Der Verlag trug zum weiteren Erfolg des Romans wesentlich bei, indem er Ende 1926 die 61.–80. Auflage als handliche einbändige Dünndruckausgabe vorlegte.
Abb. 1: Höhe der Gesamtauflage des Zauberberges und der Buddenbrooks in Tausend von 1900 bis 1932.
_____________ 39 Die genannten Auflagenzahlen basieren im Allgemeinen auf den Angaben in der FischerBibliographie und wurden in vielen Fällen durch Autopsie überprüft. Vgl. Beck: S. Fischer Verlag. 40 Zitiert nach Mendelssohn: S. Fischer, S. 969.
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Abb. 2: Höhe der jährlichen Auflage des Zauberberges und der Buddenbrooks in Tausend von 1900 bis 1932.
Das Jahr 1925 bedeutete in Öffentlichkeitspräsenz, im Maß zugeschriebener und anerkannter Repräsentanz sowie in der Selbstwertschätzung des ehrgeizigen Autors einen ersten Höhepunkt. Er resultierte auch aus jenen fortwährenden Aufmerksamkeitsgewinnen, die der Verlag mit der Art der Präsentation und Bewerbung von Werk und Autor erzielte. Insofern kam der große Absatz des Zauberberg schon bis Anfang 1925 und die anhaltende Nachfrage nicht eigentlich überraschend. Anlässlich des 50. Geburtstags und der großen positiven Resonanz auf den Zauberberg, die den Repräsentanzanspruch des Autors im Reich noch einmal nachdrücklich bestätigte, riskierte Fischer den Druck einer ersten geschlossenen, in Leinen gebundenen Werkausgabe in 10 Bänden (die Bände sind hier durchnummeriert, Preis: RM 96.-), wenn auch – als Mitdrucke der Einzelausgaben und von Bänden der Gesammelten Werke in Einzelausgaben – in einer bescheidenen Auflage von nur 1.000 Exemplaren. Aufsehen erregte die Ausgabe vor allem deshalb, weil der renommierte Max Liebermann ein Porträt von Thomas Mann radierte, das dem ersten Band beigebunden wurde. Damit avancierte diese Ausgabe zu einem herausragenden Sammelobjekt, das die Distinktionsbedürfnisse einer gewachsenen, an Bibliophilie interessierten Leserschaft befriedigte. Darüber hinaus befand sich Thomas Mann jetzt auch werkstrategisch bereits auf Augenhöhe mit sei-
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nem verlagsinternen Konkurrenten um die Aufmerksamkeit im literarischen Feld, Gerhart Hauptmann: In der öffentlichen Zuschreibung von Repräsentativität war er bereits im Begriff, ihn zu überholen. Im 40 Jahre Jubiläums-Almanach des Verlags, im Herbst 1926 erschienen, wird das Porträt Thomas Manns – eine für den S. Fischer Verlag ziemlich einmalige Aktion – sogar separat angeboten, womit der Verlag dem Autor weitere Exklusivität zuschrieb: 55 Exemplare wurden »auf echtem Japan gedruckt, auf der Handpresse abgezogen, numeriert und sowohl von Professor Max Liebermann wie vom Dichter signiert«.41 Im Mai 1925 brachte der Verlag, in dem 1909 erstmals ein umfangreicher Thomas Mann-Prospekt zur 50. Auflage der Buddenbrooks erschienen war, anlässlich des runden Geburtstags des Autors eine neue 16-seitige Werbebroschüre heraus. Er reagierte damit auf den rasch sichtbaren Erfolg des Zauberberg, präsentierte das neue literarische Werk als herausragenden Gegenwartsroman und seinen Verfasser gleichsam als außerordentlichen Markenartikel. Das lässt sich auch an jenem Habitus ablesen, den der Autor auf einem Foto »zum 50. Geburtstag am 6. Juni 1925« zeigt, das einen sorgfältig hergerichteten (Stehkragen, Krawatte und Krawattentuch, von der Seite in die Kamera blickend) im Lehnsessel sitzenden, zigaretterauchenden Thomas Mann ausstellt – das Foto verrät auch die für Thomas Mann nicht untypische Lust an der Selbstinszenierung.42 S. Fischer konnte es sich nun aufgrund des erreichten Status von Thomas Mann in der Öffentlichkeit sogar leisten, das Werk des Autors für die Semantik des politischen Diskurses zu öffnen: laut Berliner Börsencourier ging es hier auch um »Weltanschauungsschlachten«, der Hamburgische Korrespondent sprach gar von einem »Weltanschauungsroman up to date«. Der Zauberberg im »Spiegel der europäischen Kritik«: auch das hatte schon lange kein deutscher Autor geschafft, wenngleich der Verlag, angesichts von zwei Stimmen aus der Schweiz und vier weiteren ausländischen, ein wenig übertrieb, denn der Siegeszug Thomas Manns im Ausland stand erst noch bevor: Alfred A. Knopf startete in den USA gerade erst seinen verlegerischen Feldzug für den deutschen Autor.43 Im Prospekt fielen lauter werbewirksame, einprägsame Worte und Sätze wie: der Roman sei mit Goethes Wilhelm Meister »in einem Atem« zu nennen (so der Berliner Börsencourier), oder: »Genialität« zeichne ihn aus und »Universalität«. Im Times Literary Supplement fand der Roman als bedeutendes Dokument des »Central European Life and Thought« Anerkennung, der holländische Telegraaf meinte, der Zauberberg könne »mit geen enkel werk uit de moderne _____________ 41 Das Vierzigste Jahr [Teil 2, mit separater Paginierung:], »Verzeichnis der Neuerscheinungen 1926 und der lieferbaren Werke«, S. 84. 42 Vgl. auch: Almanach 1926, Tafel 2 zwischen Inhaltsverzeichnis und Textteil, unpaginiert. 43 Vgl. dazu ausführlich unten Anm. 72.
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litteratur vergleken werden« – das Attribut der goetheschen Inkommensurabilität dürfte Thomas Mann besonders gefreut haben. Auf die Auflistung der lieferbaren Werke im Prospekt folgen das Faksimile der letzten, auch Streichungen und Korrekturen enthaltenden Manuskriptseite des Zauberberg sowie Illustrationsbeispiele zu Büchern von Thomas Mann. Auch sie brachten den Hang des Verlags zu einer risikolosen Dekorativität zum Ausdruck und entsprachen einer konservativen Ausstattungsstrategie. Der Prospekt widmete zudem der repräsentativen, mit 21 Abbildungen aus dem Familienbesitz angereicherten Biographie über Thomas Mann von Arthur Eloesser eine Seite mit den Worten: »Deutschlands repräsentativer Erzähler, dessen Werk ein stolzer Besitz der deutschen Dichtung ist, dessen Ruhm die Weltgeltung des geistigen Deutschlands vermehrt hat«.44 Als Bildprobe bringt der Prospekt das Porträt des Urgroßvaters des Dichters, mit dem Zusatz »in den Buddenbrooks Johann Buddenbrook«, um den schlüsselliterarischen Charakter des ersten Romans zu unterstreichen und lebensgeschichtlich zu beglaubigen, dass die Lektüre der Biographie wesentliche Aufschlüsse über die Buddenbrooks gebe. Auch die Reaktionen der literarischen Öffentlichkeit auf den 50. Geburtstag von Thomas Mann spiegeln den Grad der kulturellen Repräsentanz wieder; das Spektrum der zum Beispiel im Berliner Tageblatt vom 6. und 7. Juni 1925 vertretenen Autorenkollegen ist außerordentlich breit,45 reicht auch politisch von rechts bis links, von Rudolf G. Binding, Waldemar Bonsels, Walter von Molo und Wilhelm Schäfer bis zu Jakob Wassermann, Arthur Schnitzler, Melchior Vischer, Ernst Weiss. Selbst der zeitlebens in großer innerer Distanz zu dem Jubilar stehende Robert Musil konzedierte Thomas Mann »die Liebe einer Nation« und versuchte, dem »schöpferische[n] Geheimnis« seiner Kunst nachzuspüren.46 Umgekehrt bemühte sich der Jubilar, trotz aller ›Jubelarien‹ anlässlich seines Geburtstags und seines Status in der literarischen Öffentlichkeit, pragmatisch zu bleiben und seine Position im literarischen Feld kritisch zu reflektieren: Das allerdings, die Selbstdistanzierung, gehört notwendigerweise immer auch zur Rolle desjenigen, der sich als ›Intellektueller‹ und ›nationaler Repräsentant‹ verstehen will. So äußerte Thomas Mann anlässlich der Geburtstagsfeier zu seinen Ehren im alten Rathaus in München: »Der Ruhm zu Lebzeiten ist eine fragwürdige Sache, man tut gut, sich nicht davon blenden, sich kaum davon erregen zu lassen«. Und er versprach, auch in Zukunft »nicht allzusehr zum Lebensbürger zu werden, sich von Sympa_____________ 44 Vgl. Eloesser: Mann. 45 Vgl. Schröter: Mann, S. 121–129. 46 Ebd., S. 126.
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thie, Vertrauen und Ehrung nicht zum Bonzen, zum ethischen Magister machen zu lassen, sondern ein Moralist zu bleiben, […] ein Künstler«.47 Der Blick auf den Verlagsalltag jener Jahre verdeutlicht, wie die Erfolgsgemeinschaft von Autor und Verlag funktionierte, wie die WerbeBotschaft vom repräsentativen Dichter der Deutschen bis in die hintersten Winkel getragen wurde, wie die ›Marke‹ Thomas Mann beworben, die auf fortwährende Aufmerksamkeitserregung berechnete Verlags- und Selbstdarstellung betrieben wurde und wie glänzend sie funktionierte. Ein kaum spektakuläres, aber besonders bezeichnendes (im Übrigen wenig bekanntes) und exemplarisches Beispiel dafür ist das folgende: Nachdem Thomas Mann am 6. Juni 1926 seine Rede anlässlich der Feiern der Hansestadt Lübeck gehalten hatte und Richtung München abgereist war, schob er einen Zwischenaufenthalt in Altona ein und las dort am 8. Juni im »Kaiserhof« aus der neuen Erzählung Unordnung und frühes Leid. Eingeladen hatte die Zeitung Altonaer Nachrichten, eines von zahlreichen gewichtigen regionalen Blättern der Weimarer Republik mit einem eigenen Kulturteil. Die Zeitung gab aus diesem Anlass ein Programmheft von 28 Seiten im Oktavformat heraus (Titel: Thomas Mann. Zur Erinnerung an seinen Vortragsabend in Altona am 8. Juni 1926). Die Hälfte ist mit Werbung einheimischer Firmen angefüllt; es enthält weiterhin ein Fotoporträt des Autors auf dem Vorderumschlag, der Haupttitel führt neben Termin und Ort der Lesung, ganz modern, einen Sponsor aus der Möbelbranche an (Möbel Carl A. Lübkert).48 Ein Vorwort umreißt den Stellenwert der Lesung, eine Kurzcharakteristik Thomas Manns führt in das Werk ein, der S. Fischer Verlag wirbt für die Gesammelten Werke. Es folgt dann ein Lehrstück zur Selbstinszenierungspraxis: Zunächst ein ausführlicher Text Thomas Manns, Auszug aus Im Spiegel von 1907, aus jener selbstironischen Absage an die bohèmehaften Anfänge in München im Umkreis des Simplicissimus mit dem augenzwinkernden Hinweis auf die längst erreichte Saturiertheit, danach ein Auszug aus Oswald Brülls 1923 erschienener kleiner Monographie über Thomas Mann49 (sinnigerweise das Kapitel »Thomas Mann und der Ruhm«), schließlich ein Auszug aus Eloessers Biographie.50 Eine als Werbung eingeschaltete Selbstdarstellung der Altonaer Nachrichten zeigt deutlich, dass die langjährige politisch defensive, oder anders formuliert: semantisch offene Strategie des Verlags auch mittelbar Früchte trug: Die Zeitung lobt sich selbst dafür, dass »an dem politisch und wirt_____________ 47 48 49 50
Mann: Tischrede, S. 19. Vgl. Mann: Erinnerung. Vgl. Brüll: Mann (der Abschnitt hier S. 57–67). Robert Warnecke: Gruß! (S. 4f.); Thomas Mann über sich selbst (S. 7–13); Oswald Brüll: Thomas Mann und der Ruhm; Thomas Mann, der Deutsche und Europäer (aus Eloesser: Mann).
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schaftlich unabhängigen Blatt die anständige Gesinnung geschätzt« werde, »die den Leser mit Partei- und Interessenpolitik verschont«.51 Obschon Thomas Mann zur gleichen Zeit begonnen hatte, für die Demokratie zu plädieren und für die Weimarer Republik zu werben, ohne sich – zunächst – parteipolitisch festzulegen, zeichnete und propagierte diese Selbstdarstellung nach außen unverändert das Bild des unpolitischen Dichters,52 das offenbar je nach Bedarf aktualisiert und auf unterschiedliche Leserschichten berechnet wurde. Auch deshalb erweist sich 1928 der vermeintliche Widerspruch der Neuauflage der Betrachtungen eines Unpolitischen als ein nur scheinbarer. Der Vorgang spiegelt sehr genau die konsequente, immer auch zielgruppen- und milieuorientierte, strategische Ausrichtung von Verlag und Autor im Kampf um die Aufmerksamkeit des Publikums. Es gibt keinen Zweifel: Thomas Mann steuerte auf den Zenit seiner öffentlichen Wirkung in der Weimarer Republik zu, und es war dies das Ergebnis eines komplexen Miteinanders und Wechselspiels von breit angelegter Buch- und Autorenwerbung des Verlags in einer Phase der Medienverstärkung durch Presse, Rundfunk und Film, von Selbstdarstellungs- und Inszenierungsgesten des Autors im Kontext der spezifischen politischen und ökonomischen Entwicklung in der Republik von Weimar und einer intellektuellen Gemengelage,53 die die Inthronisierung eines neuen literarischen Repräsentanten von Weltgeltung erst ermöglichte. Thomas Mann war nun außerordentlich gefragt, reiste zu Lesungen, Vorträgen, Festakten, hielt zahlreiche kulturpolitische Reden mit großem Wirkungsgrad; er wusste, dass die Akzeptanz des Repräsentationsanspruchs die Omnipräsenz im literarischen Feld voraussetzte.54 Ein wichtiger Bestandteil dieser Omnipräsenz – Basis der außerordentlichen Akkumulation symbolischen Kapitals in den 20er Jahren – war die Übernahme institutioneller Aufgaben und Funktionen (an erster Stelle zu nennen ist die Mitgliedschaft in der Sektion Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste seit 1926, Max Liebermann war zu diesem Zeitpunkt Akademiepräsident), zählt die Haltung des bisweilen generös auftretenden literarischen und kulturellen Förderers und Mäzens, der sich immer wieder auch für Not leidende Schriftsteller und für die Publikation von Manuskripten kaum bekannter und wenig erfolgreicher Autoren einsetzte. Er schrieb darüber hinaus unterstützende Gutachten _____________ 51 Mann: Erinnerung, S. 14 (Hervorh. W. H.). 52 Vgl. zum Bild des »unpolitischen« Dichters und seinem Wandel in den 1920er Jahren aus der Fülle der Untersuchungen zuletzt die politikwissenschaftliche Studie von Görtemaker: Mann. Aufschlussreich in literaturwissenschaftlicher Perspektive ist Strobel: Entzauberung. 53 Vgl. Gangl / Raulet: Intellektuellendiskurse. 54 Vgl. die Fülle kleiner, kleinerer und kleinster Texte, Stellungnahmen, Antworten, Statements etc. In: Mann: Aufsätze. Bd. 3 1919–1925; jetzt: GKFA 15/1 u. 15/2.
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für zensierte, verfolgte und drangsalierte Autoren wie Kurt Kläber (Barrikaden an der Ruhr) und Bruno Vogel (Es lebe der Krieg), protestierte gegen die Beschlagnahme der politischen Broschüre Hamburg auf den Barrikaden von Larissa Reissner und verurteilte die »Verunglimpfung« von Alexander Moritz Freys Spuk des Alltags.55 Er verteidigte vehement die Freiheit der Kunst gegen institutionelle und öffentliche Repression und kritisierte scharf die Verabschiedung des berüchtigten ›Schund-und-Schmutz‹-Gesetzes (Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften) im Reichstag im Dezember 1926.56 Kaum eine der zahlreichen literarischen Umfragen in Zeitungen und Zeitschriften erschien ohne eine Antwort von ihm, die Zahl der Interviews nahm ständig zu. Er schrieb reihenweise wohlwollende, in Verlagsprospekten oder auf Buchumschlagklappen abgedruckte Statements über Veröffentlichungen anderer Autoren (genannt seien nur Josef Ponten, John Galsworthy, Harry Domela und Joseph Conrad) sowie Vor- und Nachworte zu Klassikern (etwa zu Goethes Wahlverwandtschaften) und ins Deutsche übersetzter Literatur (etwa Tolstoi) für verschiedene Verlage und auch für die Deutsche Buchgemeinschaft. Selbst für einen Posten wie den des Ersten Vorsitzenden des Gaus Bayern des »Schutzverbands deutscher Schriftsteller« (SDS), verbunden mit mühevoller institutioneller Alltagsarbeit zum Wohle der Autorenkollegen, war er sich Ende der 20er Jahre nicht zu schade.57 Im Rahmen der Gesamtstrategie konnten so Synergieeffekte entstehen, konnten Verlag und Autor auch dem Eindruck entgegentreten, es gehe vornehmlich um Macht, Markt und Kapital oder, wenn man so will, um die bloße Kapitalisierung geistigen Eigentums. V. Vom Ruhm zur Popularität Das Jahr 1928 brachte drei herausragende Ereignisse in der Ruhmesverwaltung durch Verlag und Autor. Aufgrund der ökonomischen Konsolidierung in Deutschland wagte es der S. Fischer Verlag, die hundertste Auflage des Zauberberg als hochpreisig-bibliophile und damit Exklusivität garantierende Ausgabe in 1.000, vom Autor signierten Exemplaren in Halbpergament, sowie eine Vorzugsausgabe in 100 Exemplaren in Leder in zwei Bänden herauszubringen, mit einem Geleitwort des Mann-Freundes Hans Reisiger. Diese Ausgabe für die wachsende Sammlergemeinde _____________ 55 Vgl. GKFA 15/1, S. 1024 (Gutachten zu Kläber), S. 1068 (Gutachten zu Bruno Vogel), S. 1067 (Missbilligung der Beschlagnahme der Schrift von Reissner), S. 374 (Stellungnahme für A. M. Frey). 56 Zur Zensur in der Weimarer Republik vgl. Petersen: Zensur. 57 Vgl. Fischer: Schutzverband, Spalte 284ff., zu Mann 285.
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enthält im ersten Band ein Porträtfrontispiz in Röteldruck nach einer Zeichnung von Olaf Gulbransson, dem renommierten SimplicissimusZeichner. Daneben erschien eine Ausgabe unter dem Titel Die Erzählenden Schriften. Gesammelt in drei Bände. Der Verlag legitimierte diese neue Edition folgendermaßen: »Der ungewöhnliche geistige und buchhändlerische Erfolg des ›Zauberberg‹ veranlasst uns, das gesamte erzählerische Werk Thomas Manns auf Dünndruckpapier zu konzentrieren. Wir zweifeln nicht, dass diese neue, vollständige Ausgabe wegen ihrer Handlichkeit überall freudig bewillkommt werden wird, um so mehr, als wir für eine besonders schöne und gediegene Ausstattung gesorgt haben. Einbände und Titel der Bände zeichnete Professor E. R. Weiß; sie sind flexibel in lichtechtes blaues Ballonleinen gebunden, haben Goldaufdruck und liegen in einer künstlerisch ausgestatteten mehrfarbigen Kassette. Die Ausgabe ist somit ein wahrhaft repräsentatives Geschenk, und wir glauben, auch eine kulturelle Notwendigkeit«.58 Mit dieser Ausgabe, die in Anzeigen auch als »Wohlfeile Dünndruckausgabe« firmierte (1.–10. Auflage = 1.–10. Tausend), reagierte der S. Fischer Verlag auf gestiegene buchästhetische Ansprüche eines Teils der Öffentlichkeit, auf die in vielen Verlagen verstärkt betriebene pragmatisch-funktionale Ästhetisierung des literarischen Gebrauchsbuchs.59 Dazu musste er in diesem Fall den Mut aufbringen, die konventionelle Fraktur-Typographie der Mann-Publikationen zu verabschieden und zu einer – klassizistisch anmutenden – Antiqua zu greifen, die sich langsam auf dem Buchmarkt, nicht zuletzt unter dem Einfluss der ›neuen‹ sachlichen Typographie, auszubreiten begann. Wichtiger noch als solche Gaben für die engere ›Gemeinde‹ des Dichters sowie für den Kreis der Bibliophilen war der Auftritt Thomas Manns in der Öffentlichkeit anlässlich der Festveranstaltung in Leipzig zum 100jährigen Bestehen des Reclam-Verlags und seiner Wirkung. Jener Autor, der in jungen Jahren schon vom Ruhm geträumt, der, gemeinsam mit dem S. Fischer Verlag, Popularität in der Öffentlichkeit angestrebt und dieses Ziel, unabhängig von seiner habituellen Erscheinung als Großbürger, bis zu einem gewissen Grad auch erreicht hatte, konnte sich nun einen alten Traum erfüllen. Mit der kleinen Ausgabe der Novelle Tristan zuvor schon zum Reclam-Autor und zum Autor in der ›Volksreihe‹ der UniversalBibliothek geworden, durfte er die Festrede am 1. Oktober 1928 für jenen Verlag halten, der das Synonym für Popularität und größtmögliche Verbreitung von Literatur schlechthin war, für die 1867 gegründete Universal-Bibliothek; in ihr erschienen bis 1941 angeblich 273 Millionen Rec_____________ 58 Almanach 1929, S. 106 (Hervorh. W. H.). Dieser Werbetext wurde auch in Verlagsanzeigen abgedruckt. 59 Vgl. Haefs: Gebrauchsbuch, mit zahlreichen Hinweisen zum S. Fischer Verlag.
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lambändchen, durchschnittlich 10.000 am Tag, den Äquator einmal umspannend, wenn man die Heftchen nebeneinander stapelt, wie die erste Verlagshistorikerin Reclams ausgerechnet hat.60 Die Rede erschien denn auch in der Universal-Bibliothek, zusammen mit dem autobiographischen Text Lübeck als geistige Lebensform, darüber hinaus separat als bibliophiler und repräsentativer Druck im Folioformat in 2000 nummerierten Exemplare, von denen die ersten Tausend signiert waren; Eugen Spiro hat 26 Steinzeichnungen zu dem Band beigesteuert, darunter eine ganzseitige Lithographie, die Thomas Mann am Rednerpult während seines Vortrags zeigt.61 Die eigentliche Symbolik liegt aber in einer auf dem Vorderdeckel aufgedruckten Medaille mit einer figürlichen Darstellung und dem Text nach Moses 2 (Exodus 17,6) in Versalien: »UT BIBAT POPULUS«. Dieses Motto gab sich an seinem ersten großen Festtag nicht nur der Verlag, auch Thomas Mann durfte sich im Glanz der Vorstellung sonnen, gar nicht so weit von maximaler Popularität und größtmöglicher Repräsentanz entfernt zu sein; die Formel beschreibt das Begehren und das Selbstverständnis des Autors. Die Reclam-Veranstaltung hatte einen unvergleichlichen Multiplikationseffekt, keine ernstzunehmende deutschsprachige Tageszeitung mit Feuilleton, die nicht darüber berichtet, kaum eine, die nicht auch ein Porträt Thomas Manns gebracht hätte. VI. Die Buddenbrooks als Massenerfolg 1929/1930 Die Geschichte der ›Volksausgabe‹ der Buddenbrooks ist in der Thomas Mann-Forschung viel zu bekannt, ausführlich von Gottfried Bermann Fischer und von Peter de Mendelssohn geschildert worden, als dass sie hier noch einmal en detail nachgezeichnet werden müsste.62 Allerdings sind _____________ 60 Diese Angabe nach der ersten Geschichte von Reclams UB von Meiner: Reclam, S. 208. 61 Hundert Jahre Reclam. Festrede von Thomas Mann, gehalten bei dem Festakt anlässlich der Hundert-Jahr-Feier des Verlages Philipp Reclam jun. am 1.10.1928. (Umfang: 33 S. Quartformat; 2.000 nummerierte Exemplare, davon Nr. 1–200 von Mann u. Spiro signiert, in Pergament gebunden, Nr. 201–1.000 signiert, in Pp. gebunden). Die Rede erschien parallel auch in der Universal-Bibliothek als Nr. 6931, ergänzt um Lübeck als geistige Lebensform, unter dem Titel Zwei Festreden (neben der kartonierten erschien auch eine in Pappe gebundene bessere Ausgabe, die auf dem zusätzlichen Umschlag die Wiedergabe der Lithographie von Eugen Spiro enthält). 62 Zur einzigartigen Erfolgsgeschichte der Buddenbrooks vgl. Mendelssohn: S. Fischer, S. 1182– 1189; Pfäfflin / Kussmaul: S. Fischer, S. 368–373; Bermann Fischer: Bedroht, S. 65–73; vgl. auch die Hinweise bei Koopmann: Mann und Fischer, S. 119f. – Die neue kritische Ausgabe des Romans enthält im Kommentarteil (GKFA 1/2) keine Hinweise auf die Editions- und Auflagengeschichte der Ausgaben der 1920er Jahre und speziell der Volksausgabe, S. 118– 228: Rezeptionsgeschichte.
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einige Problemzusammenhänge unklar geblieben, und undeutlich blieben letztlich auch die Funktion und die Relevanz des Vorgangs für Verlag, Autor (als End- und Höhepunkt der Aufstiegsentwicklung in den 1920er Jahren) und das Verlagswesen und die Buchkultur der Weimarer Republik insgesamt. – Ausgangspunkt war ein im August 1929 unterbreitetes Angebot des erfolgreichen Verlegers unterhaltender Romane Adalbert Droemer, Leiter des Th. Knaur Verlags, an Thomas Mann: Ein seinerzeit horrendes Voraushonorar von 100.000 Reichsmark für eine einbändige Großauflage der Buddenbrooks bis zu 1 Million Exemplaren zu einem Niedrigverkaufspreis.63 Ein derart attraktives, verlockendes Angebot konnte der Autor kaum ausschlagen. Er fühlte sich geschmeichelt und sah die Chance auf noch mehr Popularität und Breitenwirkung durch diese Präsentation seines ersten Romans, der aufgrund des Umfangs und der Preiskalkulation über mehr als zwei Jahrzehnte jährlich konstant zumeist rund 6.000–7.000 Käufer (Ausnahmen: Auflage 1918: 89.–99. Tausend, Auflage 1922 in den Gesammelten Werken: 119.–128. Tausend) gefunden hatte; bis zur ›Volksausgabe‹ Ende 1929 waren 185.000 Exemplare gedruckt worden (laut den entsprechenden Auflagenvermerken), die Verbreitungsmöglichkeiten des Romans waren in Thomas Manns Augen aber keineswegs ausgeschöpft worden. Hintergrund der Aktion war die äußerst erfolgreiche Reihe Romane der Welt (mit dem Nebentitel: Gegenwarts-Werke der besten Autoren), die Adalbert Droemer seit April 1927 herausbrachte und mit der er die verlegerische Kalkulation von Gegenwartsromanen revolutionierte:64 Wöchentlich erschien ein Band zum Preis von 2,85 Mark (parallel erschien eine Reihe von 1 Mark-Bänden unter dem Label Knaur 1 Mk Bücher. Romane im Tempo unserer Zeit. Die unerreichte Reise- und Wochenendlektüre), zumeist übersetzte Titel aus dem angelsächsischen Raum. Als Herausgeber firmierte neben dem Initiator, dem Deutschamerikaner und Übersetzer Hermann Georg Scheffauer, kein Geringerer als Thomas Mann. Der gab dem ersten Band der Reihe, Bildnis einer Rothaarigen von Hugh Walpole (erschienen am 1. April 1927), ein werbendes Vorwort für Unterhaltungsliteratur mit auf den Weg und präsentierte sich darin als Literaturpädagoge, der dem »Elfenbeinturm« programmatisch entsagte: »Könnte das Massenhafte«, fragte Thomas Mann, allerdings ein wenig vorsichtig, »das Massengerechte nicht einmal gut sein?«65 Während Scheffauer bereits im Oktober 1927 starb, _____________ 63 So u.a. Pfäfflin / Kussmaul: S. Fischer, S. 368. 64 Vgl. zu den folgenden Angaben insbesondere Mendelssohn: S. Fischer, S. 1179–1182; in späteren verlagsgeschichtlichen Publikationen von Droemer finden sich leider keine genaueren Informationen über die Reihe, entsprechende Archivalien scheinen nicht überliefert zu sein. 65 Zitiert nach Mendelssohn: S. Fischer, S. 1180.
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fungierte Mann – auf dem jeweiligen Vortitelblatt war dies auch eine Zeitlang zu lesen – als Reihenherausgeber bis April 1928, dann zog er sich aus diesem Buchgeschäft zurück. Es ist wahrscheinlich, dass dies auch auf Druck seines Verlags geschah; dem dürfte das eigenwillige Engagement seines Hauptautors für ein kommerzielles Projekt in einem anderen Verlag suspekt gewesen und auf Dauer auch geschäftsschädigend erschienen sein. Dass auch ein Teil der ambitionierten Literaturkritik sich darüber mokierte, anstatt die Mannschen Prätentionen einer vorgeblichen Demokratisierung des Lesens zu loben, und dass in dieser Reihe fast keine deutschen Autoren verlegt wurden (eine der wenigen Ausnahmen: Walter Mehrings Paris in Brand), wird Thomas Mann nachdenklich gestimmt haben. Schließlich dürfte er selbst erkannt haben, dass er seiner eigenen Sache mit diesem Engagement schadete, zumal die ›Volksausgabe‹ der Buddenbrooks am Ende doch nicht in der von ihm beworbenen Droemer-Reihe herauskam.66 Die knapper gewordene Ressource symbolisches Kapital konnte er damit jedenfalls kaum vermehren, der Spagat zwischen E- und U-Kultur erwies sich mit Blick auf die Logik der Vergabe symbolischen Kapitals im literarischen Feld als problematisch. Nachdem Thomas Mann im August 1929 das lukrative Angebot von Droemer (für eine Ausgabe der so umfangreichen Buddenbrooks in der Reihe »Klassische Werke der Weltliteratur«) erhalten hatte, setzte er S. Fischer unter Druck und verlangte schließlich eine preiswerte Ausgabe in seinem Verlag. Die Verhandlungen zwischen ihm und Samuel Fischer über die Billigausgabe der Buddenbrooks gestalteten sich allerdings schwierig, verliefen äußerst zäh. Der Verleger schien überhaupt nicht zum Einlenken bereit, wollte diese Billigausgabe um keinen Preis genehmigen. Das Projekt schien dem Selbstverständnis des elitären, auf Distinktion abzielenden Kulturverlegers grundsätzlich zu widersprechen. Schließlich war es Fischers Schwiegersohn Gottfried Bermann, der den alten Fischer nach hartem Ringen zwar keineswegs überzeugen, aber doch das Zugeständnis, eine Billigausgabe im eigenen Verlag könnte erfolgversprechend sein, abringen konnte. Gottfried Bermann Fischer hatte in der Tat die Entwicklungen auf dem Buchmarkt, die Absatzprobleme insbesondere auf dem Gebiet der Literatur, richtig analysiert und seine Schlüsse gezogen. Dem Druck des Marktes musste seiner Meinung nach auch der Kulturverleger punktuell nachgeben – ohne freilich seine Identität aufgeben zu dürfen. In einem Vortrag vor dem »Schutzverband Deutscher Schriftsteller« am 8. _____________ 66 Er selbst hat dies, sehr zurückhaltend, folgendermaßen formuliert: »Einwände grundsätzlicher Art, die von Wohlmeinenden gegen das zweifellos etwas wilde Unternehmen [sic!] erhoben wurden, waren nicht ohne Eindruck auf mich geblieben« (Mendelssohn, S. 1182).
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Oktober 1930 mit dem Titel Über die billigen Sonderausgaben moderner Autoren hat er seine Überlegungen und seine Position entsprechend ausgeführt.67 Dennoch blieb Samuel Fischer das Projekt, das die eigene, jahrelang praktizierte Verlagspolitik zu unterlaufen schien und in seinen Augen den literarischen Verlagen und dem Buchhandel schadete, ein Gräuel. Er blieb seinem Konservativismus treu, den er noch 1926 in seinen Bemerkungen zur Bücherkrise dargelegt hatte: Er sah das Hauptproblem der literarischen Verlage vor dem Hintergrund der anhaltenden ökonomischen Krise in der angeblich schwindenden Schicht der Kulturträger (»der metaphysisch gerichtete deutsche Mensch«68), und er glaubte eine Wertkrise zu entdecken, die sich ebenso negativ auf den Absatz anspruchsvoller Literatur auswirke wie die neue Medienkonkurrenz von Film und Rundfunk. Gravierender allerdings, was Samuel Fischer nicht ansprach, wirkte sich, bei zunehmender Kaufkraftschwächung der Bevölkerung, die zunehmende Konkurrenz von Autoren und Verlagen aus, gerade von Kultur- beziehungsweise Literaturverlagen (für S. Fischer als potenzielle Konkurrenten relevant waren unter anderen Kiepenheuer und Zsolnay, die den Verdrängungswettbewerb um die Aufmerksamkeit für das literarische Buch verstärkten). Der Zeitpunkt für das Erscheinen der Ausgabe hätte dann, kurz vor Beginn der Weltwirtschaftskrise, in einer ökonomisch konsolidierten Republik, kaum günstiger liegen können. Die Höhe der ersten Auflage betrug 100.000 Exemplare, ausnahmslos in beigefarbenes Leinen gebunden, mit einem in der Gestaltung leicht veränderten, gleichsam ›harmonisierten‹, ›idyllisierenden‹ Umschlag des klassischen Entwurfs von Wilhelm Schulz zu der Auflage von 1903; der Verlag legte den Verkaufspreis auf jene 2,85 Reichsmark fest, die die Bände der Romanreihe des DroemerVerlags kosteten; nach Berechnungen von Buchmarktexperten lag dieser Preis unterhalb der Schallgrenze, bis zu der umfangreiche Romane gut verkauft werden konnten. Zum Vergleich: Der Preis betrug nur noch 1/6 des Preises der weiterhin angebotenen zweibändigen Ausgabe (sie kostete 17 RM in Leinen) und etwa 1/3 bis 1/4 des Preises des einbändigen Zauberberg (12 RM, 2 Bde. 21 RM); auf heute übertragen hieße dies, das Buch kostete statt 30 nur noch 5 Euro. Der Durchschnittspreis umfangreicherer Romane ab 400 Seiten betrug zu dieser Zeit 6 bis 9,50 Reichsmark (9,50 zum Beispiel Berlin Alexanderplatz von Döblin), der Durchschnittspreis _____________ 67 Pfäfflin / Kussmaul: Katalog, S. 383–386. 68 Im Folgenden zitiert nach dem Abdruck bei Pfäfflin / Kussmaul: S. Fischer, S. 357–360, hier 360 (Erstdruck im Almanach: Das 40. Jahr, S. 80–85); auch in dem wichtigen Band mit Texten von und über S. Fischer: In Memoriam, S. 30–33, hier 33.
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aller im Handel erhältlichen Bücher lag 1929 bei 6,19 Reichsmark.69 Die Kalkulation des S. Fischer Verlags dürfte allerdings kaum kostendeckend gewesen sein (die Betriebskosten wären bei einem Verlag für Massenliteratur wie Th. Knaur erheblich niedriger gewesen). Trotz der enormen Auflage hat der Verlag mit dem Band wohl nur wenig Geld verdient, und das, obwohl die Auflage vom Erstauslieferungstag, dem 7. November 1929, innerhalb von 7 Wochen auf 700.000 ›ausgelieferte‹ Exemplare schnellte: das waren knapp viermal so viele Exemplare wie in 28 Jahren zuvor, alle paar Tage wurden 50.000 Exemplare neu gedruckt, bis Ende 1930 waren es 900.000 Exemplare; die letzte Auflage, das 950. Tausend, kam dann 1932 heraus; sie war bis 1935 lieferbar, danach wurde der Roman bis Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr gedruckt – Es war ein logistisches Meisterstück, das zu bewältigen war, denn weder die Druckerei- noch die Transportkapazitäten reichten eigentlich für solche Mengen aus; ein kalkulatorisches Vabanquespiel, das die gesamte Buchbranche erschütterte und das viele literarische Verlage in der Folge veranlasste, ihre Kalkulationen neu zu justieren. Thomas Mann erhielt von seinem Verlag zunächst keineswegs jenes hohe Pauschalhonorar von 100.000 Reichsmark, das ihm Droemer in Aussicht gestellt und mit dem er objektiv seinen eigenen Verlag unter massiven Druck gesetzt hatte. Ursprünglich versprach er sich wohl mehr als 10% vom Ladenpreis, was angesichts des Dumpingpreises im Verhältnis zu den Herstellungs-, Transport-, Vertriebs- und Werbungskosten illusorisch war. In einem Brief an Hermann Graf Keyserling vom 28. Dezember 1931 nannte Thomas Mann später die entsprechenden Zahlen und meinte: »Was die billigen Volksausgaben betrifft, so ist selbstverständlich auch bei mir die prozentuale Beteiligung bedeutend geringer. Für die 2,85 Mark-Ausgabe von Buddenbrooks zum Beispiel bekomme ich 10 Pfennig pro Exemplar, das sind also etwa 3,5 % vom Ladenpreis«, fügte allerdings hinzu: »Daß Fischer grundsätzlich zur Verrechnung vom Verkaufserlös übergegangen wäre, trifft nicht zu. Was er in Zukunft zu tun gezwungen sein wird, kann ich nicht sagen«.70 Immerhin dürfte er so im Laufe von knapp drei Jahren doch noch auf knapp 100.000 Reichsmark Honorareinnahmen aus dem Verkauf der Sonderausgabe gekommen sein. Letztlich dürfte der sensationelle Erfolg und das damit verbundene Prestige, das mit nichts sonst zu erkaufen war, das dem Autor nicht angemessen erscheinende Honorar mehr als aufgewogen haben. Objektiv handelte es sich um eine Dumpingaktion zur Erzielung größtmöglichen Absatzes und maximaler Werbeeffekte – die erste erfolgreiche Aktion mit _____________ 69 Die letzte Angabe nach Fischer; Schutzverband, Sp. 441; die anderen Zahlen nach zeitgenössischen Anzeigen in Zeitschriften und Büchern. 70 Mann: Briefwechsel, S. 251.
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einer literarischen Nicht-Neuerscheinung der Hochliteratur. Man kann davon ausgehen, dass es Autor und Verlag gelang, das Leserpotenzial nahezu vollständig abzuschöpfen: denn neben die preiswerte Ausgabe von S. Fischer traten noch Sonderausgaben für die Mitglieder der Deutschen Buchgemeinschaft, ebenfalls 1929 erschienen, und des Volksverbands der Bücherfreunde, für die sich wiederum der Autor mit Nachdruck bei seinem Verlag, der aus ökonomischen Gründen an einer Lizenzerteilung nicht interessiert sein konnte, eingesetzt hat. Als weiterer Multiplikator fungierte der wenige Tage nach Auslieferung der ersten Auflage durch das Komitee der Schwedischen Akademie am 12. November an Thomas Mann verliehene Nobelpreis für Literatur, den der Autor, der Begründung des Komitees zufolge, nicht für den Zauberberg, sondern für die Buddenbrooks erhalten hat.71 Allerdings verzichtete der S. Fischer Verlag, im Unterschied etwa zu Alfred A. Knopf, der die Gelegenheit werbemäßig nutzen wollte,72 darauf, zu diesem Anlass neue Veröffentlichungen oder zumindest gezielte neue Werbung vorzulegen; die aktuelle und durch die _____________ 71 Vgl. zur Nobelpreisverleihung Mendelssohn: S. Fischer, S. 1189ff. 72 Nachdem bereits 1916 die erste Übersetzung in den USA erschienen war, Königliche Hoheit, später noch einige andere Titel folgten, arbeitete Alfred A. Knopf mit seinem ›Imprint Borzoi Books‹ seit 1921 zielstrebig daran, Thomas Manns Werk in den USA bekannt zu machen. Als, zwei Jahre nach der deutschen, 1926 Der Zauberberg in den USA erschien (1924 waren die Buddenbrooks bei Alfred A. Knopf herausgekommen), war sein Autor in Intellektuellenzirkeln schon bekannt. Einen entscheidenden Schub erhielten die Rezeption und die Verbreitung des Werks aber erst durch die Verleihung des Literaturnobelpreises. Knopf brachte einige Monate später, im Frühjahr 1930, einen sechzehnseitigen kleinen Prospekt heraus mit dem Titel Thomas Mann Nobel Prize Winner of 1929. A Critical Estimate. Er enthält einige Photographien des Autors, zumeist im familiären Kreis, dann das Faksimile jener Seite aus dem Zauberberg, die bereits den S. Fischer Prospekt 1924 geziert hatte. Im Mittelpunkt steht aber, demonstrativer Ausweis der Seriosität von Autor und Verlag, eine sachlich-kritische Würdigung, die mit den Initialen M. E. S. gezeichnet ist. Der Autor konzentriert sich, Bezug nehmend vor allem auf eine 1927 in den USA erschienene Studie von Kuno Francke mit dem Titel German After War Problems, auf die Buddenbrooks und den Zauberberg. Am Ende werden allerdings, nachdem eingangs Thomas Manns zweiter großer Roman noch vorgestellt wird, alle Register der Kanonisierung und innovatorischen Hochwertung gezogen: der Roman gelte als europäisches Pendant zur »Forsyte Saga« (andere Namen sind Wells, Rolland und Butler), zum Vergleich werden die Größen der Weltliteratur Dante, Goethe, Balzac, Shakespeare genannt, und mit Blick auf Goethe wird behauptet: »This is a modern Wilhelm Meister. This is another second part of Faust, but the symbols are of the present world’s strivings« (S. 24). Der Prospekt schließt mit einer Auflistung »The Principal Works of Thomas Mann American editions, published in translation by Alfred A. Knopf« (S. 25), neun Werke bis 1930, zwei erst für Herbst 1930 angekündigt, sowie einer »Selective List of Books about Thomas Mann« und einem Bestellzettel, dem zu entnehmen ist, dass die spezielle amerikanische Nobelprize edition der Buddenbrooks in einem Band just jenen Betrag von 2.85, wenn auch in Dollar, kostete wie auch die deutsche einbändige Volksausgabe. Der zusätzliche Erfolg jenseits des Atlantiks dürfte wiederum Rückkopplungseffekte gehabt haben; er ebnete insbesondere den Weg, den Thomas Mann später im Exil in den USA gehen konnte.
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herausragende internationale Ehrung noch verstärkte Medienpräsenz und die vervielfachten Aufmerksamkeitswerte reichten offenbar vollkommen aus, so dass der Verlag keine zusätzlichen Werbemittel benötigte. Die Koinzidenz von Herausgabe der billigen Volksausgabe, mit der der Autor bis in die Warenhäuser gelangte, und der Nobelpreisverleihung, die das symbolische Kapital ins Unermessliche steigerte, führte zu dem seltenen Umstand seiner unmittelbar folgenden Konvertierung in ökonomisches Kapital. Wenn Oskar Loerke daraufhin in seinen Aufzeichnungen festhielt, alles stehe »kopf wegen Thomas Manns Nobelpreis und Erfolg der Buddenbrooks« und, anscheinend konsterniert, hinzufügte, das alles habe »mit Wirkungen der Kunst nichts mehr zu tun«73, so verfehlte er den Kern des Geschehens: Vielmehr zeigten sich an diesem Erfolg geradezu exemplarisch im literarischen Feld die Synergieeffekte von hoher Literatur, von effektiver und zielorientierter Verlagswerbung, von Selbstinszenierung und Selbststilisierung und von erheischter und zugeschriebener Repräsentanz des Autors. Die Vertriebsaktion Fischers war, gemessen am engen Zeitrahmen von knapp zwei Jahren und mit Blick auf das Buchmarkt-Segment ›Schöne Literatur‹ in der deutschen Buch- und Verlagsgeschichte, die zweitgrößte überhaupt – übertroffen wurde sie nur durch die Originalausgabe von Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues ein Jahr zuvor und wohl erst neuerdings durch den sensationellen Erfolg von Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt von 2005 (lässt man die Harry-Potter-Romane außer Acht). Der Vorgang zeigt, dass Thomas Mann auf dem Höhepunkt der Akkumulation symbolischen Kapitals stand; der Kulminationspunkt einer Aufwärtsentwicklung seit Anfang der 1920er Jahre war erreicht. Aus der vom Verlag jahrelang beschworenen Dichtergemeinde war im Laufe weniger Jahre, bedingt durch verschiedene günstige Umstände, eine Massenleserschaft geworden, der Name des Autors deutschland- und weltweit bekannt. Sogar der Blick in Leihbibliothekskataloge jener Jahre bestätigt dieses Ergebnis: Nicht nur Buddenbrooks, Königliche Hoheit und die großen Erzählungen, sondern auch der Zauberberg sind dort meist vertreten.74 Der _____________ 73 Zitiert nach Mendelssohn: S. Fischer, S. 1189. 74 Nur ein Beispiel sei zitiert: Hauptmanns symbolisches Kapital reichte allerdings noch aus, in größeren und anspruchsvolleren Leihbibliotheken gut vertreten zu sein: Nahezu vollständig firmiert sein Werk zum Beispiel um 1926 im Katalog der Wiener »Modernen Leihbibliothek in der Burg (Burgpassage 14)«; Thomas Mann ist darin mit immerhin 14 Titeln, darunter schon Der Zauberberg, vertreten, die jüngere Avantgarde dagegen (genannt sei Musil, der ganz fehlt, oder Döblin mit nur einem expressionistischen Titel) fehlt weitgehend. Von Heinrich Mann führt die Leihbücherei sogar 22 Titel! Dass diese Verteilung für großstädtische Verhältnisse repräsentativ sein könnte, deutet ein Blick in einen Münchner Leihbibliothekskatalog an, der um 1917 herauskam: Verzeichnis der erzählenden, volkstümlich wissenschaftlichen und dramatischen Werke, nebst Lyrik in deutscher Sprache der Leih-Bibliothek von H.
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Ruhm des Autors hatte sich also verfestigt, Popularität war erreicht, auch wenn die Auflagenkurve der Buddenbrooks für die Jahre 1929–1930 nur einen einmaligen, aber umso heftigeren Ausschlag zeigte. – »Wenn nun niemand das Buch haben will?«, hatte Thomas Mann einst über die Buddenbrooks an seinen Bruder geschrieben, und geantwortet: »Ich glaube, ich würde Bankbeamter. Ich habe manchmal solche Anwandlungen«.75 Dieses Schicksal ist ihm und zum Glück auch dem Leser erspart geblieben. Dass dies so kam, hatte allerdings auch mit Thomas Manns Einsichten in den Zusammenhang von symbolischem und ökonomischem Kapital und damit in die (Markt-)Gesetze jener »Ökonomie der Aufmerksamkeit« zu tun, die auch im literarischen Feld von erheblicher Bedeutung sind. Vor dem Hintergrund solcher Einsichten gelang es ihm relativ mühelos, den Apparat des Ruhmes einige Jahre adäquat zu verwalten. VII. Asymmetrien Am Ende soll die Perspektive auf mögliche Gründe für Thomas Manns Erfolg in den 20er Jahren um einen anderen Aspekt ergänzt werden, um den der Öffentlichkeit. Thomas Manns Aufstieg in den 1920er Jahren zum erfolgreichen Schriftsteller und zum repräsentativen deutschen Dichter der Weimarer Republik verdankt sich der Einsicht von Verlag und Autor in die spezifische politisch-soziale und kulturelle Situation der Weimarer Republik und in die Logik von Wirkungsmechanismen in der Öffentlichkeit, der Aufmerksamkeitserregung im literarischen Feld: Sein Bekenntnis zur Republik und zur Demokratie seit 1922 gewinnt vor diesem Hintergrund noch eine zusätzliche Dimension: Der Einsicht folgend, dass Symbole auch über Produkt- und Imagewerbung »Interpretations-, Erinnerungs- und Überzeugungsgemeinschaften« herstellen76 – sie gilt für die Felder ›Macht‹ und ›Wirtschaft‹ ebenso sehr wie für das literarische Feld –, haben Verlag und Autor in den 1920er Jahren eine konsequente ImagePolitik symbolischer Repräsentation entwickelt: Thomas Mann wurde zu dem Autor der »fragmentierten Öffentlichkeit der Weimarer Republik«,77 er war der Autor, der am tiefsten in die Diskurse der diversen Teilöffentlichkeiten einzudringen vermochte. Er schaffte es, seine ihm selbstver_____________ Hermann (München, Neuturmstr. 4). G. Hauptmann: 30 Titel (ähnlich stark von den Autoren der literarischen Moderne ist Schnitzler vertreten), Heinrich Mann: 16 (Romantrilogie einfach gezählt), Thomas Mann: 9 (bis auf Bilse und Ich alle bis dahin erschienenen Buchveröffentlichungen). 75 Briefwechsel mit Heinrich Mann, S. 16. 76 Vgl. Mergel: Kultur, S. 25, zum folgenden ebd., insb. S. 25ff., 335ff. 77 Vgl. zum Konzept der »fragmentierten Öffentlichkeit« Mergel: Kultur.
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ständlich gewordene Rolle als ›Praeceptor Germaniae‹ aktiv zu betreiben und auszufüllen und Dauerpräsenz nicht nur in den literarischen und kulturpolitischen Zeitschriften des ›Kulturbürgertums‹, sondern auch in den Medien der verschiedenen Weltanschauungsmilieus zu erreichen. Thomas Mann konnte aufgrund der breit gestreuten literarischen, kulturellen und politischen Themen, zu denen er sich geäußert hat, fast alle Medien bedienen beziehungsweise in all diesen Medien rezipiert werden. Anders formuliert: Aufgrund der jahrelangen und überzeugenden Dauerpräsenz in zwei verschiedenen Feldern, dem literarischen und dem politischen, vermochte er mehr symbolisches Kapital anzuhäufen als jeder andere Autor der Weimarer Republik. Darüber hinaus gehörte er zu den wenigen Autoren, bei denen die Akkumulation ökonomischen Kapitals zeitgleich mit dem des symbolischen Kapitals erfolgte; die feldinterne Wahrnehmung von Position und Renommee ist hier nicht nachrangig, sondern für die Akzeptanz des Autors als Nationalschriftsteller von Bedeutung. Als erfolgreich erwies sich die Verlagsstrategie (die als Gegenstrategie in einer extrem politisierten literarisch-kulturellen Öffentlichkeit erscheint), sein Zugpferd als einen Autor auszugeben, der über den Parteien und jenseits der politischen Tageskämpfe stand, der sich in den politischen Reden und in den Essays offen zeigte, um anschlussfähig zu bleiben. Erwähnt sei hier nur die Kritik am Versailler Vertrag mit der Propagierung revisionistischer politischer Positionen noch Anfang der 30er Jahre zum Beispiel in der großen Ansprache an die Deutschen 1930, die ihm, quer durch fast alle politischen Lager, große Zustimmung eingebracht hat.78 Diese Offenheit wurde gegen Ende der Weimarer Republik allerdings immer prekärer. Je mehr die Medien der diversen Milieus zu reinen Reflexionsorganen mutierten und Fremdbeobachtung betrieben, die der eigenen Standortbestimmung und Selbstverständigung diente, und je mehr sich Thomas Mann in der sich zuspitzenden Krisensituation gegen Ende der Weimarer Republik mit der politischen Realität in einer erodierten bürgerlichen Öffentlichkeit, von der er profitiert hatte, kritisch auseinandersetzte, ergaben sich Asymmetrien. Mann musste sich zunehmend dysfunktional verhalten in einer »Gesellschaft des Nichtverstehens« bei einem Höchstmaß an Medienkommunikation.79 In den Jahren 1930/32, als Thomas Manns Rhetorik sich durch einen Zugewinn an politischer Dezidiertheit und Moralisierung auszuzeichnen begann (Stichwort: Antifaschismus) und er sich gelegentlich gezwungen sah, auch parteipolitisch – für die Sozialdemokratie – Stellung zu nehmen, wurde seine Repräsentanz _____________ 78 Vgl. hierzu und zum folgenden auch Haefs: »Verhunzter Geist…«, insb. S. 286f. und 292ff. 79 Mergel: Kultur, S. 27.
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von immer mehr Teil-Öffentlichkeiten nicht mehr widerspruchslos hingenommen, die Gegnerschaft wuchs, schließlich wurde diese Repräsentanz von vielen Seiten bekämpft; die Absatzkurven seiner erfolgreichsten Romane, Buddenbrooks und Der Zauberberg, flachten auch deshalb (siehe obige Graphiken) und keineswegs allein wegen der neuerlichen, durch die Weltwirtschaftskrise noch verschärften ökonomischen Krise in Deutschland ab. Konnte der zeitweilig wenig umstrittene Praeceptor der Kultur-Demokratie einige Jahre von dem Neben- und Gegeneinander der politischen Kulturen profitieren, so musste er nun zwangsläufig, als ein Mann der Vermittlung, des demokratischen Ausgleichs und als erklärter Gegner des politischen Radikalismus, in die Defensive gegenüber allen radikalen Gruppierungen, insbesondere gegenüber den braunen Bataillonen, geraten. Literaturverzeichnis Mann, Thomas: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 1. Buddenbrooks. Text u. Kommentar. Hg. von Eckhard Heftrich. Frankfurt/M. 2002. Mann, Thomas: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 15. Essays II 1914–1926. Text u. Kommentar. Hg. von Hermann Kurzke. Frankfurt/M. 2002. Mann, Thomas: Der Taugenichts. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 15/1. Essays II 1914–1926. Hg. von Hermann Kurzke. Frankfurt/M. 2002, S. 151–170. Mann, Thomas: [Der Vorschuß – Die Schriftstellerbank]. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 15/1. Essays II 1914–1926. Hg. von Hermann Kurzke. Frankfurt/M. 2002, S. 135. Mann, Thomas: [Gegen die Beschlagnahme von Larissa Reißners Hamburg auf den Barrikaden]. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 15/1. Essays II 1914–1926. Hg. von Hermann Kurzke. Frankfurt/M. 2002, S. 1067. Mann, Thomas: [Gegen die Verunglimpfung von Alexander Moritz Freys Spuk des Alltags]. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 15/1. Essays II 1914–1926. Hg. von Hermann Kurzke. Frankfurt/M. 2002, S. 374. Mann, Thomas: [Geist und Geld]. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 15/1. Essays II 1914–1926. Hg. von Hermann Kurzke. Frankfurt/M. 2002, S. 351. Mann, Thomas: [Gutachten über Kurt Kläbers Barrikaden an der Ruhr]. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 15/1. Essays II 1914–1926. Hg. von Hermann Kurzke. Frankfurt/M. 2002, S. 1024. Mann, Thomas: [Gutachten zu Bruno Vogels Es lebe der Krieg]. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M.
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II. Autorschaft
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Der »eigentliche« »Einsatz dieser mächtigen Schriftstellerschaft« Überlegungen zur autor-genetischen Entwertung von Thomas Manns ›unreifem Früchtchen‹ Gefallen1
Es lohnt sich, einen Moment bei Gefallen zu verweilen.2 I. Gefallen gefällt nicht – Bericht über Mängelberichte 1894, so liest man in Inge Diersens Mann-Monographie, »entschied sich Thomas Mann für die Literatur«.3 1894 ist seine erste umfangreichere und prominent platzierte Veröffentlichung, die »Novelle« Gefallen, erschienen und ebenso breit wie wohlwollend rezipiert worden.4 Es liegt daher nahe, nicht zuletzt im Rahmen einer Tagung, die sich mit der ›Erfindung des Schriftstellers Thomas Mann‹ befasst, die besagte Erzählung, den durch sie markierten »Zeitpunkt«5 und ihren Stellenwert für das literarische Label ›Thomas Mann‹ einer Untersuchung zu unterziehen. Allerdings gäbe es da, zumindest dann, wenn man der Einschätzung der voluminösen Biographie von Peter de Mendelssohn vertraut, kaum noch Neuland _____________ 1 Für Unterstützung danke ich Sebastian Wogenstein, für Anregungen und Hinweise Heinz Drügh, Hermann Kurzke, Steffen Martus, Friedhelm Marx, Claus-Michael Ort und Hans R. Vaget. 2 Winston: Mann, S. 81. 3 Diersen: Mann, S. 11. Analog: Mayer: Mann, S. 31 (»Zwar hat er später diese erste gedruckte Erzählung – Gefallen war ihr Titel – nicht in das gesammelte Werk aufgenommen; allein sie hat, da sie nun einmal gedruckt erschien, und zwar in Conrads anspruchsvoller ›Revue‹, die eigentliche Berufswahl des Schriftstellers Thomas Mann veranlaßt«). 4 Das wichtigste zeitgenössische Rezeptionszeugnis ist fraglos: Dehmel an Mann, S. 184f. 5 Diersen: Mann, S. 11. Analog: Mayer: Mann, S. 31.
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zu erschließen. »An dieser Erstlingsnovelle ist« nämlich bereits, so Peter de Mendelssohn, »viel heruminterpretiert worden«.6 Ein wenig überraschend nimmt sich vor dem Hintergrund des von de Mendelssohn erhobenen Befundes indes ein Blick in die von Klaus Jonas begründete Bibliographie Die Thomas-Mann-Literatur aus. Von den zwischen 1896 und 1994, also in einem Zeitraum von fast 100 Jahren erschienenen Veröffentlichungen beschäftigen sich dem Werkverzeichnis zufolge lediglich sieben7 dezidiert mit der frühen »Novelle« Gefallen. Zum Kleinen Herrn Friedemann sind immerhin 27, zum Doktor Faustus nicht weniger als 915 Beiträge verzeichnet.8 Dass »an dieser Erstlingsnovelle […] viel heruminterpretiert worden« sei, lässt sich daher nur schwerlich halten, und schon gar nicht, wenn man die intensive Textlektüre als Merkmal von Interpretation bestimmt. Die – im Gegenteil – geradezu stiefmütterliche Behandlung, die Literaturwissenschaft und Kritik der »Novelle« haben zuteil werden lassen, verliert ihr Überraschendes, sobald man ins Auge fasst, wie Gefallen beurteilt worden ist. Man stößt zumeist auf Mängelberichte – nicht so sehr in den wenigen, von Jonas’ Bibliographie verzeichneten Aufsätzen, sondern vor allem in den werkumspannenden Abhandlungen, die den Text in der Regel mit einer kurzen Inhaltsangabe würdigen und unter den »Präludien«9 rubrizieren: »Schwächen«10 moniert bereits die erste bibliographisch erfasste, von Erich Ebermayer 1924/1925 publizierte Kritik. Und nur kurz danach erscheinen Arthur Eloessers Biographie, nach deren Einschätzung Gefallen »noch Studie«11 sei, und Walther Heinsius’ Vorspiel zu Thomas Mann’s 50. Geburtstag, der die Novelle »unbeholfen« nennt und der »Pubescentenliteratur« zuschlägt.12 Man habe es, so schreibt 30 Jahre später Rolf Schneider, mit einer Erzählung zu tun, deren »Sprache« noch von einer »abstandslosen Nervosität« durchdrungen sei,13 mit einer, so 1963 Hermann Stresau, »noch etwas unselbständige[n] Arbeit«,14 die – nun Berendsohn 1965 – noch »nicht zu dem künstlerischen Gleichge_____________ 6 Mendelssohn: Zauberer, Bd. 1, S. 274. 7 Ebermayer: Jugendnovelle; Mazzucchetti: O.T.; Mazzucchetti: »Perduta«; Murata: Seite; Siebenschein: Juvenilien; Lindsay: Story; Vaget: Anfänge. Ferner: Reed: Mann; Kamla: »Gefallen«. 8 Jonas: Bibliographie, Bd. 1, S. 420–426, Bd. 2, S. 647–657 und Bd. 3, S. 578–581. 9 Stresau: Mann, S. 47. 10 Ebermayer: Jugendnovelle, S. 461. 11 Eloesser: Mann, S. 51. 12 So z.B. Heinsius: Vorspiel, S. 21. 13 Schneider: Erzählungen, S. 796. 14 Stresau: Mann, S. 47.
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wicht gereift«15 sei, das die Mannsche Epik später auszeichne. Auch Richard Winston glaubt 1981 in Gefallen »eine gewisse Unreife erkennen«16 zu können. Dieter Wolfgang Adolphs bemängelt 1985 die »platte Symbolik«17 und klagt darüber, »daß die Intention der Erzählung verfehlt wird«.18 De Mendelssohns 1996 überarbeitet und in zweiter Auflage erschienener Biographie zufolge sei »die Novelle […], selbst für die Begriffe der Jahrhundertwende […] von einer erstaunlich konventionellen, geradezu spießbürgerlichen Moralität«.19 Und noch jüngst finden sich Variationen dieser Werturteile: »Eher konventionell«20 findet sie Peter Sprengel, und Jochen Bertheau bescheinigt der »Novelle« in einer 2002 veröffentlichten Abhandlung über Thomas Mann und die französische Literatur »Abhängigkeit von Mustern«21 und »gedankliche Unreife«22 und findet sie »in ihrer Misogynie geradezu abstoßend«.23 Man wundert sich daher zunächst nicht, dass es (zumindest nach der durchaus orthodoxen Maßgabe Hellmut Haugs) nicht etwa Gefallen, sondern »die Bajazzo-Novelle« ist, »die zusammen mit Der kleine Herr Friedemann die Eröffnung des erzählenden Werks bildet«.24 II. Dem Autor »abhanden gekommen«25 oder: Thomas Manns »eigentlicher Eintritt in die Literatur« Und wie es scheint, steht die nicht eben enthusiastische Rezeption der »Novelle« Gefallen auf einem philologisch soliden Fundament, denn sie findet sich in harmonischer Übereinstimmung mit einer ganzen Reihe von überaus selbstkritischen Urteilen Thomas Manns. Noch ehe nämlich 1925 mit Ebermayers Kurzvorstellung der »Jugendnovelle«26 die erste bibliographisch erfasste Kritik des Textes erscheint, äußert sich Thomas Mann – mittlerweile im Rang einer kulturellen, soeben in Meyers Konversa_____________ 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26
Berendsohn: Mann, S. 39. Winston: Mann, S. 80. Adolphs: Erfahrungshorizont, S. 170. Ebd. Mendelssohn: Zauberer, Bd. 1, S. 274f. Der Spießbürgerthese schließt sich an, vgl. Adolphs: Erfahrungshorizont, S. 172. Sprengel: Geschichte, S. 399. Bertheau: Bewandtnis, S. 49. Ebd. Ebd. Haug: Erkenntnisekel, S. 6. So Mann an Leibrich (DüD I, S. 18). Vgl. Ebermayer: Jugendnovelle, S. 459–461.
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tions-Lexikon aufgenommenen27 Autorität – selbst zu seinem Text, und zwar zunächst 1907 in der Zeitschrift Das literarische Echo: »Statt aber«, so Mann über seine Tätigkeit in der Münchener Feuerversicherungsgesellschaft, »bestrebt zu sein, mich in die Geschäfte einzuarbeiten, hielt ich es für gut, auf meinem Drehsessel verstohlenerweise an einer erdichteten Erzählung zu schreiben, einer mit Versen untermischten Liebesgeschichte, die ich dann in einer umstürzlerisch gesinnten Monatsschrift zum Abdruck gelangen ließ und auf die ich mir«, so beschließt er mit unverhohlen ironischer Distanz seine Retrospektive, »wohl gar noch etwas zugute tat«.28 Wenig später, in dem 1913 von Wilhelm Zils herausgegebenen Bändchen Geistiges und künstlerisches München in Selbstbiographien,29 erklärt Mann, Gefallen sei »eine etwas zynische und etwas sentimentale Liebesgeschichte, die« aber immerhin (das bleibt nicht unerwähnt) »den Beifall des jüngsten literarischen München fand«.30 Schwerer als die durch die einschränkende Partikel »etwas« auch hier erneut zum Ausdruck gebrachte Distanz wiegt allerdings der anschließend gegebene Einblick in die Dichter-Genese: »Mein eigentlicher Eintritt in die Literatur«, so Mann, »erfolgte mit der Novelle Der kleine Herr Friedemann«.31 Und 1923, noch immer vor Erscheinen der Ebermayerschen Kritik, wird es allen Interessierten möglich, Einblick in den ermutigenden Brief zu nehmen, den Richard Dehmel, veranlasst durch die Lektüre der Novelle, an Thomas Mann gerichtet hatte. Dehmel nennt Gefallen zwar eine »wundervolle Erzählung« und teilt sein »Entzücken« und seine »Ergriffenheit« darüber mit, fügt dem Brief aber in unverhohlen schulmeisterlicher Manier eine ganze Reihe von »technische[n] Einwendungen« an: Er nennt einen Absatz »völlig überflüssig« und »seine lehrhaft psychologische Absichtlichkeit höchst störend«, spricht vom »manchmal etwas schleppenden, buchsprachigen Satzbau« und »endlich« scheint ihm noch »der Titel zu belanglos«.32 In diesen von mindestens zwei literarischen Autoritäten determinierten Horizont nun stellt (der mit den Manns übrigens freundschaftlich verbundene Jurist und Publizist) Ebermayer33 seine Würdigung der frühen »Novelle«. Er zitiert mehrfach aus der Selbstcharakteristik von 1907, darunter auch den Passus von eben, und er folgt der nur sechs Jahre spä_____________ 27 28 29 30 31 32 33
Vgl. [Anonymus]: Art. ›Mann, Thomas‹, S. 230. Mann: Spiegel, Sp. 395. Mann: Mann, S. 231–233. Ebd., S. 231f. Ebd., S. 232. Dehmel an Mann, S. 184f. Vgl. Mendelssohn: Zauberer, Bd. 2, S. 1577.
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ter von Thomas Mann gegebenen Darstellung der eigenen literarischen Initiation, ja selbst Spuren des Dehmelschen Briefes lassen sich erkennen, wenn man die Charakterisierung der sprachlichen Un-Fertigkeiten ins Auge fasst: Es ist etwas Eigenes um die ersten Dichtversuche hervorragender Künstler. Sie selbst wollen in späteren Jahren nicht mehr viel davon wissen und lachen, wenn sie daran erinnert werden. Für den Betrachtenden sind aber gerade die Arbeiten vor dem 20. Lebensjahr aufschlußreich, denn hier zeigen sich alle eigentlichen, alle Urqualitäten des Künstlers so klar und lebensunbeschwert, wie später niemals wieder. […] Bei Thomas Mann lockt dieses Nachspüren zu ersten Anfängen mehr noch als anderswo. Er trat ja als stilistisch Fertiger mit den Novellen Der kleine Herr Friedemann in die literarische Arena […]. Um so schöner, ja um so menschlicher muß uns das Bild des Dichters erscheinen, wenn wir erfahren, daß auch Thomas Mann einmal angefangen hat, jung war, stark, täppisch, ungeschult, suchend nach dem Wort, ringend mit dem Ausdruck … […] Diese verstohlen geschriebene Erzählung ist die Novelle Gefallen, die in der von M.G. Conrad herausgegebenen Zeitschrift Die Gesellschaft im November 1894 […] erschien. Sie ist seither gänzlich verschollen. Nur in wenigen großen Bibliotheken mag sich irgendwo, verstaubt, ein Band noch finden, der Gefallen enthält. Ein Neudruck hat bisher noch nicht stattgefunden.34
Dabei ist es im Übrigen geblieben, denn Gefallen ist erst postum, 1958 im Rahmen der Stockholmer Ausgabe erneut abgedruckt und auf diese Weise einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden – kein Zufall, sondern Kalkül des Autors, meint zumindest Terence J. Reed in der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe: »Einen Kommentar stellte schon Thomas Manns Entscheidung dar, Gefallen in keinen der zu seinen Lebzeiten erschienenen Sammelbände aufzunehmen«.35 Stattdessen hat er in den folgenden Jahrzehnten mehrfach Bezug genommen auf die Veröffentlichung von 1894. Noch bevor in den 50er Jahren die zaghafte literaturkritische und philologische Auseinandersetzung mit der frühen »Novelle« fortgeführt wird, 1930 nämlich, erscheint in der Neuen Rundschau ein Lebensabriss, worin es heißt: Unter schnupfenden Beamten kopierte ich Bordereaus und schrieb zugleich heimlich an meinem Schrägpult meine erste Erzählung, eine Liebesnovelle mit dem Titel Gefallen, die mir den ersten literarischen Erfolg brachte. Nicht nur daß sie in derselben sozialistisch-naturalistischen Kampfzeitschrift, M.G. Conrads Gesellschaft, die schon während meiner Schülerzeit ein Gedicht von mir gedruckt hatte, veröffentlicht wurde und jungen Leuten gefiel; sie trug mir auch einen warmherzigen und ermutigenden Brief Richard Dehmels ein, ja wenig später sogar den Besuch des bewunderten Dichters, dessen enthusiastische Menschlichkeit in
_____________ 34 Ebermayer: Jugendnovelle, S. 459f. 35 Reed: Kommentar, S. 19.
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meinem schreiend unreifen, aber vielleicht nicht unmelodiösen Produkt Spuren von Begabung erfühlt hatte […].36
– eine Formulierung übrigens, auf die Mann gerne zurückgegriffen hat: 1930 in der Gedenkschrift für Michael Georg Conrad,37 1940 im Vortrag On Myself,38 1954 in einem bereits im September 1955 abgedruckten Brief an Ida Herz.39 Und nicht nur Mann greift gerne auf das Motiv der Unreife zurück, sondern auch das Gros der Forschung: In den Augen Winstons »läßt« Gefallen »eine gewisse Unreife erkennen«,40 und auch Bertheau attestiert ihr diesen Mangel.41 »Gewiß ist sie unreif«,42 meint de Mendelssohn, und Berendsohn schließlich ist der Auffassung, dass Gefallen, »nicht zu dem künstlerischen Gleichgewicht gereift« sei, »das ihm [Thomas Mann] früh wesentlich wird«.43 Thomas Manns dichterische ›Stunde Null‹, »der Einsatz dieser mächtigen Schriftstellerschaft«44 wäre, folgte man diesen Einschätzungen, als Zeugnis dichterischer Unreife anzusprechen, das es durch gelungenere Texte schamhaft zu verdecken gilt? Den Vorwurf der Unreife hat die »Novelle« Gefallen sich vor allem aufgrund ihrer mutmaßlichen Epigonalität zugezogen, aufgrund ihrer »Abhängigkeit von Mustern«,45 die in der Textur leider allzu deutlich zu erkennen seien. Diese »Muster« sind allerdings in beträchtlicher Zahl zu haben. Im Gespräch sind Schnitzler, Storm, Ibsen,46 »Wagner, Schopenhauer, Tolstoi, Nietzsche«,47 Hamsun, Mayer,48 Goethe, Turgenjew,49 Jacobsen, Bourget50 und Bahr.51 »Es wäre naheliegend«, so gab bereits vor 30 Jahren Hans R. Vaget zu bedenken, »aufgrund der Widersprüchlichkeit dieser Erhellungsversuche über alle diese Ansätze den Stab zu brechen und Thomas Manns literarische An_____________ 36 Mann: Lebensabriss, S. 734f. 37 Mann: Andenken, S. 316. Von einer »unreifen Gabe« ist die Rede. 38 Mann: Myself, S. 12. Hier ist ebenfalls vom »schreiend unreifen, aber vielleicht nicht unmelodiösen Produkt« die Rede. 39 Mann an Herz, S. 5. Dort schreibt Mann, dass Gefallen »ein echter Jungenstreich ist, ein Fruechtchen, das einem den Mund zusammenzieht vor Unreife«. 40 Winston: Mann, S. 80. 41 Vgl. Bertheau: Bewandtnis, S. 49. 42 Mendelssohn: Zauberer, Bd. 1, S. 270. Analog dazu: Vaget: Anfänge, S. 244. 43 Berendsohn: Mann, S. 39. 44 Vaget: Anfänge, S. 236. 45 Bertheau: Bewandtnis, S. 49. 46 So z.B. Heinsius: Vorspiel, S. 20f. 47 So Schumann: Storm, S. 66. 48 So z.B. Ebermayer: Jugendnovelle, S. 460, sowie Mayer: Mann, S. 33. 49 Hansen: Mann, S. 52. 50 So z.B. Schröter: Mann, S. 35. 51 So z.B. Kamla: Gefallen.
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fänge im Dunkel eines mehr oder weniger geheimnisvollen frühen Entwicklungsstadiums auf sich beruhen zu lassen«.52 Vaget hat es nicht getan, sondern einen etwas überraschenden Außenseiter ins Feld geführt: die 1893 in der Freien Bühne erschienene Erzählung Gefallen! von Hans Schliepmann.53 Und auch ich möchte es nicht tun, sondern – wenn auch unter etwas anderen literaturtheoretischen Voraussetzungen – nach den ›Mustern‹ fragen, unter deren ›Einfluss‹ Thomas Manns erste Novelle entstanden und rezipiert worden sein mag. Vor diesem Hintergrund lässt sich, wie ich meine, erhellen, weshalb nicht Gefallen, sondern »Thomas Manns erster Novellenband« Der kleine Herr Friedemann als »sein eigentliches Debut« gehandelt wird.54 III. Marienbilder oder: Was das Begehren des Studenten hervorbringt Den Ausgangspunkt meiner Lektüre bildet die erste unmittelbare Begegnung zwischen dem Protagonisten der Binnenerzählung und der Schauspielerin Irma Weltner am Goethe-Theater in P. Er gab ihr [dem ›Mädchen‹] seine Karte, und während sie dieselbe forttrug, ging er mit einem übermütigen Lachen im Herzen einfach gleich hinterher. Als das Mädchen ihrer Herrin die Karte überreichte, stand er auch schon im Zimmer, aufrecht, den Hut in der Hand. Es war ein mäßig großer Raum mit einfachem, dunklem Ameublement. Die junge Dame hatte sich von ihrem Platz am Fenster erhoben; ein Buch auf dem Tischchen neben ihr schien eben beiseite gelegt. Er hatte sie niemals so reizend gesehen, in keiner Rolle, wie in der Wirklichkeit. Das graue Kleid mit dunklem Brusteinsatz, das ihre feine Gestalt umschloß, war von schlichter Eleganz. In dem blonden Gekraus über ihrer Stirn zitterte die Maisonne. Sein Blut quirlte und rauschte vor Entzücken […].55
Unmittelbar scheint diese Begegnung nicht nur heißen zu dürfen, weil sie anders als alle vorigen nicht einseitig verläuft, sondern auf Wechselseitigkeit beruht. Unmittelbar scheint diese Begegnung auch deshalb heißen zu dürfen, weil sie (ebenfalls im Unterschied zu allen vorigen) »außerhalb des Theaters« (S. 1441), in der Privatwohnung und -sphäre Irma Weltners angesiedelt ist. _____________ 52 53 54 55
Vgl. Vaget: Anfänge, S. 238. Schliepmann: Gefallen! Vaget: Erzählungen, S. 546. Mann: Gefallen, S. 1440. Weitere Nachweise erfolgen im Text.
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In der Perspektive des Protagonisten ist diese Begegnung allerdings stark vorstrukturiert. Sie verfügt bereits über eine Geschichte: Kaum war er vierzehn Tage in P., als er sich natürlich verliebte. Nicht in eine Kellnerin, wie es das gewöhnliche ist, sondern in eine junge Schauspielerin, ein Fräulein Weltner, naive Liebhaberin am Goethe-Theater. […] Das Mädchen war wirklich hübsch. Kindlich zarte Gestalt, mattblondes Haar, fromme, lustige graublaue Augen, feines Näschen, unschuldig-süßer Mund und weiches, rundes Kinn. Er verliebte sich zuerst in ihr Gesicht, dann in ihre Hände, dann in ihre Arme, welche er gelegentlich einer antiken Rolle entblößt sah, – und eines Tages liebte er sie ganz und gar. Auch ihre Seele, welche er noch nicht kannte. (S. 1436)
Im Gespräch mit seinem älteren Kommilitonen Rölling kommen die Absichten des Protagonisten zum Vorschein oder besser: sie gewinnen ein wenig Kontur. Rölling nennt Irma ein »gräßlich anständiges Mädel«, bei dem »durchaus nichts zu machen« (S. 1437) sei. Was genau unter »zu machen« zu verstehen ist, wird durch mehrmals eingesetzte Auslassungspunkte und Gedankenstriche suggeriert, nicht aber ausgesprochen.56 Der Protagonist strebt allerdings, so stellt Rölling ebenso überrascht wie süffisant fest, nicht nach sexueller Vereinigung mit Irma, sein Anliegen ist vielmehr »sentimentalisch« grundiert. Daher lässt er Irma einen »rührend naive[n] Brief nebst einem wunderschönen Bouquet« zukommen, ehe er sie zu Hause aufsucht. Aber als er dann eines Morgens aus tiefem Schlaf erwachte, nachdem er sie im Traum gesehen, und sein Fenster öffnete, da war es Frühling […]. Und dann küßte er stumm ihr Bild und zog ein reines Hemd an und seinen guten Anzug und rasierte sich die Stoppeln am Kinn und ging in die Heustraße. (S. 1439)
Vor diesem Hintergrund nun steht sein ›Antrittsbesuch‹ bei Fräulein Weltner, deren Anblick ihn so sehr einnimmt, dass sein Blut in Wallung gerät. Um die Unmittelbarkeit dieses Eindrucks ist es indes nicht gut bestellt – wofür der Erzähler im Übrigen durchaus ein Gespür zeigt. Kenntlich wird das immer dann, wenn er sich ihres Metiers erinnert – sie gibt die »naive Liebhaberin am Goethe-Theater« (S. 1436) – und »in ihrem lustigen Lachen immer eine kleine Theater-Note« mitklingen hört oder ihrer »betrübten Verwunderung« zugesteht, dass diese, »wenn sie gespielt war, jedenfalls realistischer und überzeugender wirkte, als jemals auf der Bühne« (S. 1442). Die Sensibilität des Erzählers für das Authentische dieser Liaison und ihrer Begründung bleibt allerdings darauf beschränkt, die von Irma gezeigten Affekte mit der eingedenk ihrer Profes_____________ 56 Zu den historischen Bedingungen, zur Konjunktur und Funktionsweise dieses Verfahrens vgl. Mergenthaler: Völkerschau, S. 69–84.
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sion gebotenen Skepsis zu beurteilen. Anders gesagt, seine Vorsicht gilt einem Element der Diegese: der vorgestellten Figur Irma. Die Differenz zwischen vorgestelltem und ›wahrem‹ Ich ist auch der ersten Begegnung »außerhalb des Theaters« (S. 1441) unterlegt. Unterschieden wird nämlich ausdrücklich zwischen »Rolle« und »Wirklichkeit« (S. 1440). Ich möchte meinen Blick zuvörderst allerdings nicht auf das Problem der Theatralität richten, sondern auf die Ikonographie, der diese erste Begegnung folgt, für die der Erzähler aber kein Bewusstsein zu haben scheint: In einem ihre »feine Gestalt« verratenden »graue[n] Kleid mit dunklem Brusteinsatz« steht Irma an »ihrem Platz am Fenster«, im Haar spielt »die Maisonne«. Neben ihr liegt ein »Buch« – es »schien eben weggelegt«. Unmittelbar vor der Unterbrechung der Lektüre durch den Protagonisten – diese Vorstellung wird evoziert –, hat Irma offenbar am Fenster sitzend gelesen. Eine zunächst kaum bemerkenswert erscheinende Beobachtung. Zieht man allerdings in Betracht, unter welchen Vorzeichen diese Begegnung erfolgt, so gewinnt sie durchaus an Bedeutung: Als notorischer Theatergänger kennt er sie aus ihren Auftritten als Liebhaberin, ergötzt sich an »ihrem Bilde, das er sich längst gekauft« (S. 1437), und sucht sie schließlich auf, »nachdem er sie im Traum gesehen« (S. 1439). »Als er einmal nachts erwachte, stellte er sich vor«, so heißt es, »wie sie nun wohl daläge. Das liebe Haupt in den weißen Kissen, den süßen Mund ein wenig geöffnet, und die Hände, diese unbeschreiblichen Hände mit dem zartblauen Geäder auf der Decke gefaltet« (S. 1437). Im Erfahrungshorizont des Protagonisten wird Irma – der Gegenstand seines bereits entzündeten Begehrens – als Bricolage-Produkt, als komplexe Bildvorstellung kenntlich. Es liegt daher durchaus nahe, an dieser Qualität der ›Bildlichkeit‹ auch Irmas ersten Auftritt »außerhalb des Theaters«, »in der Wirklichkeit«, zu messen. Der Eindruck, den dieser beim Protagonisten hinterlässt, gemahnt an eine den Zeitgenossen aus der modernen, aber auch aus der populären Genremalerei, aus dem Postkartengewerbe oder aus den einschlägigen illustrierten Zeitschriften bestens vertraute Bildtradition: die der lesenden, vorzugsweise am Fenster lesenden Frau (Abb. 1–17).57 _____________ 57 Nies: Bahn, S. 18, zufolge ist die Bildpostkarte gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein »Medium, das die Vorstellungen breitester Massen auch vom Lesen mitprägt«. Als »›Goldene[s] Zeitalter‹ der Bildpostkarte« gelten die Jahre »kurz vor und nach der Jahrhundertwende«. Prominentestes Motiv der Zeit waren »Buch- und Frauenlektüren (drei Viertel der Karten zeigen Leserinnen […])« (S. 19), ja in der »zweite[n] Hälfte des 19. Jahrhunderts« sind »zum ersten und einzigen Mal in der Geschichte der Leserikonographie […] Frauen öfter lesend abgebildet als Männer« (S. 69).
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Von links nach rechts: Abb. 1: Titelseite der Gartenlaube 1893; Abb. 2: Titelseite der Gartenlaube 1893, Ausschnitt; Abb. 3: E. Stuchlick: Die schöne Geschichte, 1884, in der Gartenlaube 1893 veröffentlicht; Abb. 4: Fritz von Uhde: Lesendes Mädchen, um 1885; Abb. 5: Teodor Axentowicz: Reading, 1899; Abb. 6: Charles E. Perugini: Girl Reading (In the Orangerie), 1878; Abb. 7: Alfred Broge: Interieur II (Postkarte, o.J.); Abb. 8: [Ambrose] McEvoy: Girl Reading, 1901; Abb. 9: Ozias Leduc: La Liseuse, 1894.
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Von links nach rechts: Abb. 10: Pierre-Auguste Renoir: La Liseuse, 1877; Abb. 11: Vincent van Gogh: Lesendes Mädchen, 1888; Abb. 12: Paul W. Ehrhardt: Bei der Lektüre (Postkarte o.J.); Abb. 13: [Franz] Doubek: Sonntag (Postkarte, o.J.); Abb. 14: Rob[ert] Panitzsch: Die Hausorgel (Postkarte, o.J.); Abb. 15: Stone: Der neue Roman (Postkarte, o.J.); Abb. 16: C[arl] Murdfield: Lauschiger Winkel (Postkarte, o.J.); Abb. 17: M[ax] Dutzauer: O.T. (Postkarte, o.J.).
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Diese ›Lesenden‹58 sind alle im letzten Drittel des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden und (vorwiegend auf Bildpostkarten) verbreitet worden. Sie zeigen hochgeschlossen bekleidete junge Frauen in zumeist kontrollierter Haltung und auf das jeweilige Buch oder Journal konzentriert. Kaum etwas könnte den Typus der dargestellten Leserinnen trefflicher charakterisieren als das Attribut, das Rölling für Irma parat hat, obschon sie in einer »scheußlich billige[n] Gegend« lebt: »die Tugend« (S. 1438). Entsprechend »keusch und ehrfurchtsvoll« (S. 1438) soll daher auch das an Irma gerichtete erste Schreiben ausfallen. Ikonographisch beerben diese Darstellungen eine ebenso alte wie wirkungsmächtige Tradition. Eine Vielzahl von Marienbildnissen, vorzugsweise Darstellungen der Verkündigungsszene (Abb. 18), zeigen die Mutter Gottes, den bis heute wirksamen »Prototyp der intensiv lesenden frommen und tugendhaften Frau«59, bei der Lektüre.60
Abb. 18: Lorenzo Costa d. Ä.: Mariae Verkündigung, 1. Drittel 16. Jhd.
Wenn man also den ersten Auftritt Irmas »außerhalb des Theaters« mit den Augen des Protagonisten der Binnengeschichte und vor dem Hintergrund der gegen Ende des 19. Jahrhunderts geradezu ubiquitären, auf die Marien-Topik und -Ikonographie hin transparenten Bildnisse lesender Frauen sieht, so untermauert dieser Rekurs die Tugendhaftigkeit Irmas, ja er kennzeichnet »die naive Liebhaberin« geradezu als virgo intacta. Die vorgeschlagene Anreicherung des von Irma gegebenen ›Bildes‹ mit den ikonographisch verbürgten Gehalten dieses Motivs gewinnt an Plausibilität, wenn man nicht nur die Thematisierung des Authentizitäts_____________ 58 Die Postkartenmotive sind Bruno Kaisers Postkartenalbum (S. 21, 41, 68, 100, 123, 152, 175) entnommen. 59 Assel / Jäger: Ikonographie, S. 647. 60 Jesaja 7, 14: »Darum so wird euch der Herr selbst ein Zeichen geben: Siehe, eine Jungfrau ist schwanger, und wird einen Sohn gebären, den wird sie heißen Immanuel«.
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problems durch den Erzähler und die Vorliebe des Protagonisten für käuflich erworbene, imaginierte und erträumte Bilder der begehrten Frau, sondern zudem die Bildlichkeit in Betracht zieht, auf die die Binnenerzählung zur Darbietung der Geschichte dieser Liaison zurückgreift. Im Spiel sind u.a. der schmachtende Liebende, der zur Feder greift (Abb. 19 / vgl. S. 1436f.), der Liebende, der der Verehrten zu Füßen liegt (Abb. 20 / vgl. S. 1437) oder der die Geschichte dieser Liaison grundierende Frühling (Abb. 21 / passim).
Von links nach rechts: Abb. 19: Die Gartenlaube 1893, S. 605; Abb. 20: Die Gartenlaube 1894, S. 297; Abb. 21: Die Gartenlaube 1892, S. 304.
Dem Frühling möchte ich etwas mehr Aufmerksamkeit schenken, ehe ich noch einmal auf das Motiv der lesenden Frau eingehe. So aufdringlich, wie er in der Welt des Protagonisten seinen Geruch verbreitet, so aufdringlich ist er nämlich auch in der Binnenerzählung als, wie es scheint, Katalysator und reizvolle Kulisse der Liebesgeschichte eingesetzt. »Als er […] eines Morgens aus tiefem Schlaf erwachte«, so wird der Tag der ersten Begegnung eingeleitet, nachdem er sie im Traum gesehen, und sein Fenster öffnete, da war es Frühling. Der Himmel war licht – ganz lichtblau, wie in einem milden Lächeln, und die Luft hatte ein so süßes Gewürz. Er fühlte, roch, schmeckte, sah und hörte den Frühling. Alle Sinne waren ganz Frühling. Und es war ihm, wie wenn der breite Sonnenstreif, der drüben über dem Hause lag, in zitternden Schwingungen bis in sein Herz flösse, klärend und stärkend. (S. 1439)
Der Frühling und Irma gehen in der Darstellung des Erzählers und im synästhetischen Wahrnehmungshorizont des Protagonisten ein Bündnis ein: Die »Maisonne« zittert in ihrem Haar und von ihrer Hand geht ein »süße[r] Duft« (S. 1142) aus, der das »so süße Gewürz« aufgreift, mit dem »die Luft« (S. 1439) des Frühlingstages erfüllt ist. Das durch den ›Antrittsbesuch‹ freilich nicht gestillte, sondern weiter angefachte Begehren des Protagonisten wird im Anschluss an die erste Begegnung in einer metonymischen Verschiebung ausgelebt: Er taumelt nämlich »wie betrunken
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die Treppe hinunter, seitwärts auf das Geländer gebeugt, welches sie so oft berührt haben mußte, und welches er küßte, mit jubelnden Küssen, – von oben bis unten – –« (S. 1443). Während hier die Verbindung zum begehrten Objekt noch benannt wird: Sie mußte das Geländer berührt haben, wird der unmittelbar sich anschließenden Geste des Verliebten keine solche Transparenz verliehen: »Unten«, also nachdem das Geländer der Treppe als Fetisch nicht mehr zur Verfügung steht, vor dem […] Hause, war ein kleiner Hof- oder gartenartiger Vorplatz, an dessen linker Seite ein Fliederbusch die ersten Blüten trieb. Da blieb er stehen und barg sein glühendes Gesicht in dem kühlen Gesträuch und trank lange, während sein Herz pochte, den jungen zarten Duft. Oh – o wie er sie liebte! – – – (S. 1443)
Vom »süßen Gewürz« der Frühlingsluft (S. 1439) hat er sich über den »süßen Duft dieser [ihrer] Hand« (S. 1442) zum »jungen zarten Duft« der Fliederblüten (man möchte sagen) durchgerochen. Und auch diese Geste wird als erotisch grundierte Ersatzhandlung kenntlich, und zwar nicht allein durch die Duftspur und die zwischen Frühling und Irma hergestellte Verbindung. Und auch dieser Nexus bezieht seine Evidenz aus der Rückbindung an die Bilddiskurse des ausgehenden 19. Jahrhunderts (Abb. 22–25).
Von links nach rechts: :Abb. 22: Sophie Anderson: Girl with lilacs, um 1890; Abb. 23: PierreAuguste Renoir: Frau mit Flieder, 1877; Abb. 24: Marie Bashkirtseff: Jeune femme au bouquet de lilas, um 1881; Abb. 25: James Tissot: Bunch of violets, 1875.
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Dass man es nicht unbedingt nur mit Darstellungen von Frauen zu tun hat, die Fliederblüten in der Hand halten, sondern mit einer Amalgamierung von Flieder und Frau zur Allegorie, gibt das Syringa – latinisiert-griechisch für Flieder – betitelte Gemälde des Münchner Malers und Akademieprofessors Gabriel Max61 zu erkennen (Abb. 26), das im Mai 1893 (und zwar von der Münchner Firma Hanffstaengl) auf der Titelseite der Leipziger Illustrirten Zeitung reproduziert worden ist:
Abb. 26: Gabriel Max: Syringa, Titelseite der Leipziger Illustrirten Zeitung, Mai 1893.
Die dargestellte Frau ist tief in den Fliederstrauch eingelassen, sie entwächst ihm geradezu, ihr Haar geht nahtlos in das dunkle Blattwerk über, sie hält Fliederblüten in ihrem geschürzten Kleid, auf das die Blätter des Strauches ihre Schatten werfen, womit die zwischen Person und Pflanze bestehende Trennung malerisch aufgehoben wird. Wenn Flieder und Frau – wie Gemälde und Binnenerzählung es wollen – eine so enge Verbindung eingehen, ja in eins fallen,62 dann wird das Eintauchen in den Fliederstrauch (vor allem vor dem Hintergrund der eben vollzogenen _____________ 61 Erwähnung findet Gabriel Max in Heinrich Mann: Familie, S. 55: »So war nach einem kurzen Rundgang durch die verschiedenen Räume Wellkamp an den Eingang des Hauptsaales zurückgekehrt, wo er sich in ein Gemälde Gabriel Max’ vertiefte, dessen vergeistigte und doch so sinnlich wirksame Art in der blassen und zarten Ausführung des Pastells in erhöhtem Maße zur Geltung gelangte.« Zum Stellenwert der bildenden Künste in der Wahrnehmung Thomas Manns vgl. Bedenig Stein: »Ohrenmensch«. 62 Syrinx heißt in den Ovidischen »Metamorphosen« (I, 689–712) eine von Pan begehrte Najade, die vor den Nachstellungen des Gottes flieht und sich in Schilfrohr verwandelt. Aus diesem fertigt Pan seine Flöte: die Syrinx. Und »lat. Syringa, nebenform von syrinx […] ›röhre, pfeife‹« heißt so, »dieweil man die ästlein zu pfeiffen brauchen kann«. Der Fliederstrauch wird daher auch als »pfeiffenbaum« geführt; ›Syringe‹, Sp. 1432.
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fetischhaften Ersatzhandlung)63 als Deflorationsphantasie des Protagonisten entzifferbar. An Plausibilität gewinnt diese Lesart dadurch, dass der Fliederduft geradezu leitmotivisch wiederkehrt, und zwar zunächst, als es zum offenbar wechselseitigen Liebesgeständnis kommt und zum »ersten, langen Kuß«. In diesen nämlich »flutete durch das offene Fenster der Duft des Flieders hinein, der nun schwül und begehrlich geworden war« (S. 1448). Und wieder sind es Auslassungspunkte, die (diesmal im Verbund mit einem in seiner Ambivalenz beredten Naturgeschehen) zu erkennen geben, was den Küssen folgt: Und dann machte es ihn seltsam erschauern, wie sie […] unter seinen Küssen zu wanken begann … –––––––––––––––––––– Einmal in der Nacht erwachte er. […] Das Mondlicht spielte in ihrem Haar, und ihre Hand ruhte auf seiner Brust. –––––––––––––––––––– Ein stürmischer Gewitterregen war über Nacht niedergegangen. Die Natur war aus ihrem dumpfen Fieber erlöst. Die ganze Welt atmete einen erfrischten Duft. (S. 1448)
Die Deflorationsphantasie des Protagonisten ist damit (wie er annimmt) im Reich der »Wirklichkeit« angekommen. Spätestens an diesem Punkt aber wird deutlich, dass die Vermutung Röllings, worauf die Anstrengungen des Protagonisten zielten, so verkehrt nicht war. Und spätestens an diesem Punkt steht das Motiv der am Fenster lesenden tugendhaften Frau zur Debatte. Und zwar nicht nur, weil die seit dem 17. Jahrhundert verbreitete Sprache der Blumen den Flieder nach der Treue fragen lässt.64 _____________ 63 Sigmund Freud erkennt wenige Jahre später in den Trauminhalten »Stiegen, Leitern, Treppen, respektive« im »Steigen auf ihnen, und zwar sowohl aufwärts als abwärts, […] symbolische Darstellungen des Geschlechtsaktes«; Freud: Traumdeutung, S. 360. 64 Wimmer: Blumensprache, S. 24, führt unter dem Lemma »Flieder« auf: »Mein liebes Herz, ich frage dich / Liebst du auch treu und redlich mich?« Zur Geschichte der Verbreitung dieses Codes vgl. ebd., S. 15–25. Ebhardt: Ton, S. 184–186, verliert »ein Wort über die Blumen und deren Bedeutung […]; denn ist auch jede Blume dem Auge mehr oder minder wohlgefällig, so ist doch die Bedeutung, welche man ihr giebt, nicht gleichgültig und eine Wahl daher notwendig. Von jeher hat die Welt der Blumen sinnigen Menschen als Symbol für den Ausdruck ihrer Gefühle und Gedanken gedient, und in der That dürfte für das, was in unserm Herzen lebt und unausgesprochen darin verschlossen bleiben soll, kaum ein treffenderes, sinnigeres äußeres Zeichen gefunden werden können, als es die stille Welt der Blumen bietet. Es hat sich daraus bekanntlich eine förmliche Wissenschaft gebildet, welche man die ›Blumensprache‹ zu nennen pflegt, eine Wissenschaft, welche vielen lächerlich erscheint. Und doch ist daran im Grunde nichts Lächerliches, denn es ist unzweifelhaft nicht gleichgültig, was für Farben, was für Blumen z.B. ein junges Mädchen für ihren
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Man braucht nicht lange in den gegen Ende des 19. Jahrhunderts hoch im Kurs stehenden Benimmbüchern nachzulesen, um herauszufinden, dass die dem wechselseitigen Liebesgeständnis unmittelbar folgende Kohabitation die gesellschaftlichen Normen verletzt, die den »Verkehr zwischen Herren und Damen«65 regulieren. Die Begehrensökonomie des Protagonisten weist damit – so könnte man meinen – eine vor dem ikonographischen Hintergrund seiner IrmaImagines irritierende Doppelcodierung auf: Sein Begehren ist ambivalent, es zielt auf »Heilige« (S. 1456) und Hure zugleich.66 Irritierend bleibt dieses ›zugleich‹ aber nur, solange man die Ikonographie der lesenden Frau verkürzt wahrnimmt. Auf der einen, sittlichen Seite baut sie auf die Marien-Topik. Nicht nur zur sittlichen Norm der Mutter Gottes aber führen die Spuren des Motivs der lesenden Frau, sondern auch zur (wenngleich reuigen) Sünderin Maria Magdalena. Auch zu ihren Attributen gehört das Buch:
_____________ Schmuck verwendet. […] Wer […] Blumen verschenkt oder sich mit Blumen schmückt, der mag immer voraussetzen, daß der Empfänger oder derjenige, welchem wir mit einem Blumenschmucke entgegentreten, die Bedeutung der sinnigen Blumenwelt kennt und daraus seine Schlüsse zieht. […] So großer Willkür nun auch solche Bedeutungen ausgesetzt sind, so ist es doch gewiß, daß sie uns Anleitung geben, bei gewissen Blumen und Farben etwas Bestimmtes zu denken oder zu fühlen. Andererseits aber kann eine unangemessene, aus Unkenntnis dieser Pflanzensymbolik entsprungene Wahl eines Blumengeschenkes oder Blumenschmuckes zu argen Mißdeutungen Veranlassung geben und die Quelle unangenehmer Erfahrungen werden«. Und noch 1913 steht im selben Wegweiser zu lesen: »Die ›Blumensprache‹, diese einst so hoch erhobene Wissenschaft, hat auch heute noch ihre Bedeutung, und die Jugend vorzüglich bedient sich ihrer nach wie vor, besonders da, wo es ihr versagt ist, ›unverblümt‹ das auszusprechen, was das Herz zum Überfließen füllt« (Ebhardt: Handbuch, S. 153). 65 So lautet eine Kapitelüberschrift in Ebhardt: Ton, S. 262. 66 Im ›zugleich‹ liegt das Irritationspotenzial, denn »Frauendarstellungen lassen sich tendenziell in eine Doppelmatrix einpassen: die Frau erscheint im Spiegel männlicher Imagination entweder als Madonna oder Mätresse« (Liebrand: Frau, S. 391). Hier geht es allerdings nicht um ›entweder‹ / ›oder‹, sondern um ›zugleich‹.
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Von links nach rechts: Abb. 27: Rogier van der Weyden: Die lesende Magdalena, vor 1438; Abb. 28: William Etty: Büßende Magdalena, 1835.
Freilich: nach der Darstellung einer Hure sieht Rogier van der Weydens Magdalenen-Interpretation (Abb. 27) auch im Wahrnehmungshorizont des ausgehenden 19. Jahrhunderts nicht eben aus. Spätere Darstellungen, hier William Ettys Büßende Magdalena aus dem Jahr 1835 (Abb. 28), drücken die Sünderin durch das Attribut der zunächst nicht erotisch konnotierten Nacktheit aus. Im 18. und 19. Jahrhundert wird das Motiv allerdings nicht nur erotisch aufgewertet – hierfür steht Pompeo Batonis Büßende Magdalena von 1760 (Abb. 30) –, die erotische Komponente verselbständigt sich vielmehr. Der Titel der 1880 entstandenen Gouache von Jean Jacques Henner lautet zwar La Liseuse (Abb. 29) und der bei Batoni noch auf die büßende Magdalena verweisende Totenschädel fehlt, die Haltung der dargestellten Frau und die Komposition des Bildes lassen aber eine Ahnherrschaft unschwer erkennen.
Von links nach rechts: Abb. 29: Jean Jacques Henner: La Liseuse, 1880; Abb. 30: Pompeo Batoni: Büßende Magdalena, 1760.
Die Darstellungen von Wiertz, Martens, Fenner-Behmer und Roussell (Abb. 31–34), alle aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, sind gar nicht oder nicht mehr distinkt auf die Magdalenen-Ikonographie bezogen.
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Von links nach rechts: Abb. 31: Antoine Wiertz: La lilseuse de romans, 1853; Abb. 32: Ernest Martens: La dernière page du roman, 1890; Abb. 33: Hermann Fenner-Behmer: Der Bücherwurm, 1906; Abb. 34: Theodore Roussel: Reading Girl, 1887.
Im Zentrum steht hier das entgrenzende Potenzial literarischer Texte – von Romanen in der Regel –, ein mindestens ebenso ubiquitäres Motiv (Abb. 35–41) wie das der sittlichen Leserin.67
_____________ 67 Sämtliche Postkartenmotive sind Kaiser: Postkartenalbum (S. 26, 27, 36, 102, 103, 130, 154) entnommen.
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Von links nach rechts: Abb. 35: Jodolfi: Wie lieb er schreibt (Postkarte, o.J.); Abb. 36: F[ranz] Doubek: Ernstes Studium (Postkarte, o.J.); Abb. 37: [Anonymus]: O.T. (Postkarte, o.J.); Abb. 38: Leopold Schmutzler: Verschlafen (Postkarte, o.J.); Abb. 39: Leopold Schmutzler: Interessante Lektüre (Postkarte, o.J.); Abb. 40: O[skar] Michaelis: Träumerei (Postkarte, o.J.); Abb. 41: V[ictor] Marais-Milton: Oisivité (Postkarte, o.J.).
IV. Analytische Leistung der »Novelle« Gefallen Zum Vorschein kommt vor diesem Hintergrund, wie das Begehren des Protagonisten der Binnenerzählung organisiert ist, unter welchen sozialen Bedingungen und in welchen Bildsystemen es funktioniert und welche Auswirkungen es zeitigt. Irma entspricht exakt dem ambivalenten Bild, das ihr durch den Protagonisten und durch seine nicht legalisierte Vereinigung mit ihr zugewiesen worden ist. »Ich hab’ die Heilige satt«, lautet
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am Ende, nachdem der Student auf die von ihrem Freier zurückgelassenen Banknoten aufmerksam geworden ist (S. 1455), ihre Rechtfertigung, »Es wußten ja doch alle, daß ich sowieso …!« (S. 1456). Während der Protagonist, wie es heißt, »Einkehr« hält, »eine gewissenhafte Prüfung seines Inneren« vornimmt, dessen, »was er gethan, und ob er nicht etwa bei allem Glück ein Lump sei«, und zu dem Ergebnis kommt, dass »es […] gut und schön« war (S. 1449), weiß Irma, dass ihr die Verbindung mit dem Studenten einen sozialen Makel eingetragen hat, dass in der öffentlichen Wahrnehmung das Bild von der »Heiligen« einem anderen gewichen ist. Die analytische Leistung der Erzählung besteht nun darin, dass sie die Wissenshorizonte der Figuren und Erzählinstanzen durch ihre diskursive Organisation transzendiert, dass sie die Mechanismen des Fallens zeigt: Irma wird (ohne es zu wissen) auf entlarvende Weise zum lebensweltlichen Spiegelbild männlichen Begehrens, da sie die ambivalenten Imagines des Protagonisten in soziale Realität überführt. Von einer Einsicht in diese Strukturen ist die Herrenrunde, in der die Erzählung zum Besten gegeben wird, weit entfernt – Doktor Selten, ihren Protagonisten und zunächst noch verkappten Erzähler, eingeschlossen. An ihm, der sich am Ende als der gehörnte Student zu erkennen gibt, wird umso deutlicher, welchen Einschränkungen seine Wahrnehmung (noch immer) unterliegt. Erzählt haben will er diese Geschichte, um eine auf lebensweltliche Erfahrung gegründete Anschauung seiner moralischen Auffassungen zu geben: »Wenn eine Frau«, so heißt sein Lehrsatz am Ende, »heute aus Liebe fällt, so fällt sie morgen um Geld. Das hab’ ich […] erzählen wollen. Weiter garnichts« (S. 1458). Was die Novelle aber jenseits der beteiligten Personen erzählt hat, ist etwas anderes: eine am Motiv des Fallens vorgenommene subtile Analyse der Strukturen männlichen Begehrens und ihrer sozialen Bedingungen. Ein, wie ich meine, guter Grund, die Erzählung Gefallen zu nennen und nicht »Der Cyniker«,68 wie Dehmel (die Bedeutung Seltens überbetonend) vorgeschlagen hatte. V. »Und wenn wir wissen, daß die Sache von Thomas Mann ist, werden wir vordeutende Züge seiner Handschrift schon erkennen« Auf diese Weise lesbar wird Gefallen allerdings nur dann, wenn man den Text mit einem spezifischen kulturellen Milieu kurzschließt, mit einem _____________ 68 Dehmel an Mann, S. 185.
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Milieu, auf dessen offenbar »bemerkenswerte«69 Spuren Hans R. Vaget in Gestalt der dem »drittklassigen Naturalismus«70 zugeordneten Erzählung Schliepmanns vor mittlerweile 30 Jahren gestoßen war.71 Weiter verfolgt worden – in die Zeitschriften-, Unterhaltungs- und Bilddiskurse des ausgehenden 19. Jahrhunderts etwa – sind die Spuren indes nicht.72 Erkenntnisleitend ist in der Auseinandersetzung mit Gefallen vielmehr von den ersten Äußerungen Mitte der 20er Jahre an ein Lektüremuster, das ich mit dem etwas spröden Terminus ›retrospektiver Teleologisierung von Autorschaft‹ zu fassen suche.73 »So sehr auch noch Studie«, meint 1925 Eloesser über die »Novelle«, »es ist Seele darin, und wenn wir wissen, daß die Sache von Thomas Mann ist, werden wir vordeutende Züge seiner Handschrift schon erkennen an der Behutsamkeit und Geschliffenheit einiger Worte, an einigen ironischen Lichtern, die eine zweite Spiegelung bewirken, an einer rhythmischen Fähigkeit, die Periode in der Schwebe zu halten und dann leise zu senken«.74 Und im selben Jahr glaubt Ebermayer, in Gefallen »die Wurzel jener in die Kunst verirrten Bürgerlichkeit erblicken« zu können, »die später immer neu variiertes Problem wurde«,75 und Heinsius klagt, dass »nur vom geformten Bild des Mannes aus rückwärts gesehen, betrachtet mit dem durch das reife Werk wissend gemachten Sinn«, die »Vorbedeutsamkeiten« des Textes sich enthüllen ließen.76 Diesem Wahrnehmungsmuster offenbar treu verpflichtet hat _____________ 69 70 71 72
73
74 75 76
Vaget: Erzählungen, S. 554. Vgl. Vaget: Anfänge, 248. Vgl. ebd., S. 240. Dass dies so ist, mag vielleicht daran liegen, wie Vaget den Stellenwert seiner Entdeckung beziffert: »Etwas konkreter ist ein Hinweis Arthur Eloessers in seiner auf persönlichen Auskünften Thomas Manns beruhenden Biographie von 1925. Thomas Manns erste Erzählung, die ja in M. G. Conrads Gesellschaft erschien, sei ›aus der literarischen Atmosphäre dieser Zeitschrift hervorgegangen‹. […] Eloessers Hinweis ist aber insofern unrichtig, als der eigentliche Anknüpfungspunkt Thomas Manns nicht in dieser, sondern in der anderen repräsentativen Zeitschrift der ›Literarischen Moderne‹ zu suchen ist, nämlich in der ›Freien Bühne‹. Aus ihr hat Thomas Mann die Anregung zu seiner ersten Erzählung gewonnen« (Vaget: Anfänge, S. 239f.). Man mag darüber rätseln, woher Vaget seine Gewissheit nimmt – produktiver scheint mir dagegen eine Einschätzung zu sein, die nicht nach der »eigentlichen« Anregung sucht, sondern nach Diskursen und kulturellen Milieus fragt. Als Problem bereits erkannt von Vaget: Anfänge, S. 236, 251: »Es fragt sich nur, ob man dabei der rechten Spur gefolgt ist und ob der Einsatz dieser mächtigen Schriftstellerschaft sich letztlich aus solchen ›rückwärtigen‹ Bezugnahmen herleiten läßt«. »Der Verdacht, daß hier gewisse Erzählelemente überinterpretiert und aus der Sicht von Thomas Manns späterer Entwicklung überbewertet werden, liegt nahe«. Eloesser: Mann, S. 51. Ebermayer: Jugendnovelle, S. 461. Heinsius: Vorspiel, S. 20.
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Hans Wolff »im Stil der Erzählung […] so manche Züge« gefunden, »die Manns späteres Schaffen charakterisieren«,77 Winston entdeckt »in der ersten längeren Erzählung einen Erzähler«, eine »in späteren Werken [Thomas Manns] so häufig«78 zu findende ›Besonderheit‹, und Hermann Wiegmann macht »sprachlich gesehen […] schon typische Momente späteren Erzählens« darin aus, »in der Betonung von Gestik und Mimik bei der Beschreibung, in dem behutsamen Erzählerkommentar […], in den motivischen Verbindungen, im psychologisierenden Verständlichmachen des Verhaltens der Protagonisten«.79 Leitend für die interpretatorische Auseinandersetzung ist ein am etablierten Autor geschulter Blick, ein Blick, dessen Fokus Thomas Mann selbst in maßgeblicher Weise eingestellt hat, und zwar durch die ostentative Preisgabe »der Geschichte [s]eines Künstlertums«, seiner »Wurzel[n]« und »Vorbilder«,80 und durch die aus dem Bereich des Teleologisch-Organischen sich speisende Rede über Gefallen. Schon 1913, in den Selbstbiographien des Geistigen und Künstlerischen München, wird künftigen Interpreten ein Anhaltspunkt gegeben: Die ersten Texte, so Mann, habe er »belehrt und angeregt […] von skandinavischen und russischen Meistern«81 verfasst. 1930 gesellen sich weitere Auskünfte über sein »Verhältnis zur Tradition«82 hinzu. Genannt werden »Andersens Märchen«,83 vor allem aber »das Erlebnis Nietzsches und Schopenhauers«.84 1940, im Vortrag On Myself wird die Reihe erheblich erweitert – namentlich um Homer, Vergil, Goethe, Keller, Schiller, Heine, Storm, Bahr, Hamsun, »Grimms […] Märchen«, Reuter, Zola, Tolstoi, Turgenjew, Kielland, Lie, Maupassant, Tschechow, Wagner, Platon und Freud.85 Sie lässt sich nahezu lückenlos mit dem (eingangs genannten) und heute _____________ 77 Wolff: Mann, S. 12; z.B. »finden wir hier [in der Konfrontation Laube/Selten] den Gegensatz Naphta – Settembrini in rudimentärer Form vorweggenommen«. Bereits zwei Jahre zuvor findet sich das Muster bei Mazzucchetti: »Perduta«, S. 196: »Però ci sembra eccessivo voler scorgere in essa, come volle fare qualcuno, lo stigma del gelido intellettualismo e la nostalgia di morte di creazioni successive«. 78 Winston: Mann, S. 80. 79 Wiegmann: Erzählungen, S. 22. 80 Mann: Myself S. 8, 8, 13. Umfassend hierzu: Vaget: »Abschreiben«. 81 Mann: Mann, S. 232. 82 Mann: Lebensabriss, S. 752. 83 Ebd., S. 740. 84 Ebd., S. 741. 85 Nachweise: Mann: Myself: »Homer und Vergil«, »Goethe«, »Keller« (S. 9), »Schiller«, »Heine«, »Storm« (S. 10), »Bahr«, »Hamsun«, »Grimms und Andersens Märchen«, »Fritz Reuters ›Stromtid‹«, »Zola, Tolstoi, Turgenjew«, »Kielland und Lie« (S. 11), »Maupassant«, »Tschechow« (S. 13), »Wagner« (S. 15), »Schopenhauer«, »Nietzsche« (S. 16), »Platon« (S. 20), »Freud« (S. 28).
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in der Forschung zirkulierenden Spektrum der Impulsgeber, Muster und Exempla86 zur Deckung bringen. Diese Übereinstimmungen finden sich insbesondere dann, wenn man den von Thomas Mann lancierten Orientierungshilfen folgt und seine frühe »Novelle« als ›unreifes Früchtchen‹ verbucht, als Ausgangspunkt eines, so Mann, »organischen Reifungsprozesses«,87 an dessen 1940 noch vorläufigem Ende freilich der, so noch einmal Mann, »Durchbruch in die Weltliteratur«88 steht. Die Forschung nun ist den Spuren der genannten »Vorbilder« (im Horizont dieser teleologischen Werkbegründungsmetapher) gefolgt, und hat die darin zutage getretene »Widersprüchlichkeit dieser Erhellungsversuche«89 dem untersuchten Gegenstand angelastet. Ihre erzählerische Raffinesse entfaltet die frühe »Novelle« allerdings, wie ich meine, nicht im Horizont des europäischen Literaturkanons, sondern in enger Tuchfühlung mit den Bilddiskursen und der Unterhaltungskultur des Fin de Siècle, mit einem kulturellen Milieu also, auf dessen Spuren weder die »Götter« »Zola, Tolstoi, Turgenjew«90 noch »das Erlebnis Nietzsches und Schopenhauers«,91 sondern eine dem »drittklassigen Naturalismus«92 zuzurechende Erzählung führt, mit einem kulturellen Milieu mithin, das für den »organischen Reifungsprozeß«93 Manns nach eigenem Bekunden bedeutungslos gewesen sei: Für »Indianergeschichten« habe Thomas Mann sich »nie […] erwärmt […]. Mein Schaukelpferd«, so schreibt er in On Myself, »hieß ›Achill‹, ich selbst taufte es«.94 _____________ 86 87 88 89 90 91 92 93 94
Vgl. hierzu die Anmerkungen 44–49. Mann: Myself, S. 8. Ebd., S. 15. Vgl. Vaget: Anfänge, S. 238. Mann: Myself, S. 11. Mann: Lebensabriss, S. 741. Vaget: Anfänge, 248. Mann: Myself, S. 8. Ebd., S. 9. On Myself enthält allerdings auch einen Hinweis auf einen für Thomas Mann offenbar charakteristischen Wahrnehmungsmodus, über dessen Aufnahmeleistung der Anschluss an dieses Milieu sich herstellen ließe: »Geplant war ein Roman von 200 bis 250 Seiten nach dem Muster nordischer Familienromane. Aber dann erwies sich, daß das Buch seinen eigenen Willen hatte, der über meine Absichten weit hinausging« (S. 13) und: Und doch »so wenig, wie ich nach Stoffen suche, jage ich auch nicht nach Eindrücken. Ich ›erlebe‹ keine Sensationen; im Gegenteil möchte ich sagen: mein Verhältnis zu den Eindrücken des Lebens ist wesentlich passiv, ein unbewußtes Aufnehmen, – irgendwie sickern die optischen und akustischen Wahrnehmungen in mich ein, bildet sich in mir ein Fundus menschlicher Züge und Besonderheiten, aus dem ich, wenn die produktive Gelegenheit kommt, schöpfen kann« (S. 22). Dass in der Selbstvermarktung Thomas Manns »offenbar nicht der Eindruck entstehen [sollte], er [Thomas Mann] sei der Welt des Auges zugetan«, gehört zu den Ergebnissen der Untersuchung von Bedenig Stein: »Ohrenmensch«, S. 316.
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HEINRICH DETERING
Der Litterat Inszenierung stigmatisierter Autorschaft im Frühwerk Thomas Manns
I. Gleichzeitig mit dem biographischen Einschnitt der Verlobung und Eheschließung erfindet Thomas Mann ein öffentliches Selbstbild, das dem bis dahin von ihm selbst etablierten in mehrfacher Hinsicht zuwiderläuft. Erst jetzt entwickelt er jenes Image des Schriftstellers Thomas Mann, das bis heute ins Gedächtnis, auch ins kollektive Bildgedächtnis eingegangen ist.1 Das vorangegangene Selbst-Image zeigte einen Bohemien, der sich nach bürgerlicher Solidität und Sicherheit sehnt, sie aber doch nicht erlangen kann oder womöglich will. Im resümierenden Rückblick für die Rubrik im Spiegel der Zeitschrift Das literarische Echo vom Dezember 1907 sieht das so aus: Was ich, geehrte Redaktion, in Ihrem Spiegel erblicke, ist überraschend und anstößig […] Ich habe eine dunkle und schimpfliche Vergangenheit, so daß es mir außerordentlich peinlich ist, vor Ihrem Publikum davon zu sprechen. Erstens bin ich ein verkommener Gymnasiast. Nicht daß ich durchs Abiturientenexamen gefallen wäre, – es wäre Aufschneiderei, wollte ich das behaupten. Sondern ich bin überhaupt nicht bis Prima gelangt; ich war schon in Sekunda so alt wie der Westerwald. Faul, verstockt und voll liederlichen Hohns über das Ganze […]: so saß ich die Jahre ab […] Ich verließ das Bureau, bevor man mich hinauswarf, gab an, Journalist werden zu wollen und hörte ein paar Semester lang an den Münchener Hochschulen in buntem und unersprießlichem Durcheinander historische, volkswirtschaftliche und schönwissenschaftliche Vorlesungen. Plötzlich jedoch, wie ein rechter Vagabund, ließ ich alles liegen und ging ins Ausland, nach Rom, woselbst ich mich ein Jahr lang plan- und beschäftigungslos umhertrieb. Ich verbrachte
_____________ 1 Da der Vortrag Grundgedanken von Detering 2005 resümiert und die Vortragsform nicht verändert werden sollte, verzichte ich hier auf Forschungsdiskussionen und beschränke mich in den Literaturangaben auf Nachweise der zitierten Thomas-Mann-Texte.
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meine Tage mit Schreiben und der Vertilgung jenes Lesestoffes, den man den belletristischen nennt und dem ein anständiger Mensch höchstens zur Zerstreuung in seinen Mußestunden sich zuwendet, – und meine Abende bei Punsch und Dominospiel. Ich besaß genau die Mittel, zu leben und unmäßig viele jener süßen Soldo-Zigaretten zu rauchen, die der italienische Staat verschleißt und denen ich damals bis zur Völlerei ergeben war. […] Und nun? Und heute? Ich hocke verglasten Blicks und einen wollenen Schal um den Hals mit anderen verlorenen Gesellen in einer Anarchistenkneipe? Ich liege in der Gosse, wie mir’s gebührte? Nein. Glanz umgibt mich. Nichts gleicht meinem Glücke.2 Ich bin vermählt […]. (GKFA 14/1, S. 81–184)
Ein Blick beispielsweise ins Collegheft der beiden Münchner Gastsemester, aber auch in andere Gelegenheitsarbeiten dieser frühen Jahre zeigt, wie glaubhaft diese in nicht unangestrengt spielerisch-ironischem Ton vorgebrachten Behauptungen tatsächlich sind. Nicht nur besucht der Münchner Gasthörer ausschließlich solche Vorlesungen, die frühesten mittags um zwölf Uhr beginnen (und thematisiert das auch mit Vergnügen) – er betont auch bei jeder Gelegenheit seine Distanz zu »den Professoren«3 und ihren veraltet-klassizistischen Vorstellungen von Ästhetik; er stellt sich, mit demselben Vergnügen, auch bei Gelegenheit einer Geburtstagsglosse für den mannhaften und militärischen Dichter Detlev von Liliencron als ebenso unmännlichen wie unmilitärischen Autor aus (ebd., S. 76f.) und präsentiert sich in einer autobiographischen Notiz für die Zeitschrift Nord und Süd 1904 ganz ohne ironische Distanzierungen als eben den bürgerlich scheiternden und eben deshalb literarisch reüssierenden Literaten, als den er sich dann Im Spiegel rückblickend noch einmal sehen wird (ebd., S. 78 u. 181–184). Der frühe Thomas Mann zeigt sich, trotzig und offensiv, als zugleich antibürgerlicher und stigmatisierter Außenseiter. Während der in Paul Ehrenberg Verliebte in seinen Entwürfen zum Romanprojekt Maja / Die Geliebten4 zwischen den Namen und Pronomina »Paul« und »ich«, »Rudolf« und »Adelaide«, ja sogar von einem Satz zum anderen zwischen »ich« und »sie« hin- und herwechselt, publiziert er in der Münchner Zeitschrift Freistatt einen Essay, den ich für eines der aufschlussreichsten Selbstkommentare dieser frühen Werkphase halte. Vordergründig handelt es sich lediglich um eine Besprechung von Toni Schwabes Romandebüt Die Hochzeit der Esther Franzenius. Die etwas rätselhafte Bemerkung des Schriftstellers Tonio Kröger, er ziehe es neuerdings manchmal vor, nicht Geschichten zu erzählen, sondern »auf gute Art etwas Allgemeines zu sagen«: _____________ 2 Das kryptische Zitat aus Wagners Rheingold unterstreicht diskret die mythologische Selbststilisierung (und ironisiert sie wie zuvor die aus den Grimmschen Märchen entlehnte Wendung vom Westerwald). 3 Mann: Collegheft, S. 135; vgl. ebd., S. 74, 91. 4 Vgl. Wysling: Manns Maja-Projekt, S. 23–47.
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sie verweist über die Erzählung hinaus auf, wie mir scheint, genau diesen Essay; ihr antwortet gewissermaßen die bei dessen Veröffentlichung vorsichtshalber hinzugefügte Anmerkung Thomas Manns, man solle als Künstler doch lieber nichts Allgemeines schreiben: »Das Allgemeine kompromittiert immer« (GKFA 14/1, S. 60). Für den Essay Das Ewig-Weibliche jedenfalls gilt das sicher (ebd., S. 54– 59). Denn er verbindet die Proklamation eines abweichenden GenderKonzepts so autobiographisch explizit und so offensiv mit ästhetischen Konzepten wie nirgends sonst im Frühwerk. Was hier gepriesen und der italienische »Blasebalgpoesie« (ebd., S. 55) des ungenannten Heinrich entgegengesetzt wird, das ist – schon die pathetische Überschrift des Essays hat das angekündigt – die Erzählung einer Schriftstellerin über eine einsame und leidende Frau: Ihre »Kenntnis des Leidens« und der »leidenden Liebe«, ihre »überschwengliche Zartheit, die aus der tiefsten Inbrunst stammt, und freilich ohne Keuschheit, die ganze Spannung der Keuschheit nicht möglich ist« und bis dahin reicht, »wo das Gefühl sich ins Transcendentale erhebt und steigert«, deuten auf das »Ewig-Weibliche« hin (ebd., S. 58f.). Hier, am Beispiel der Esther Franzenius, werden sie erhoben zu Tugenden; im scharfen Gegensatz zu jener in maliziöse Gänsefüßchen gesetzten ›Schönheit‹, die von »steife[n] und kalte[n] Heiden« wie seinem Bruder und dessen sexualisiertem »Renaissance«-Kult verehrt wird. »Genug! . . . Was ich sagen wollte, ist dies: Uns armen Plebejern und Tschandalas, die wir unter dem Hohnlächeln der Renaissance-Männer ein weibliches Kultur- und Kunstideal verehren, die wir als Künstler an den Schmerz, das Erlebnis, die Tiefe, die leidende Liebe glauben und der schönen Oberflächlichkeit ein wenig ironisch gegenüberstehen: uns muß es wahrscheinlich sein, daß von der Frau als Künstlerin das Merkwürdigste und Interessanteste zu erwarten ist, ja, daß sie irgendwann einmal zur Führer- und Meisterschaft unter uns gelangen kann« (ebd., S. 59). In den gesperrt ans Ende gesetzten Schlussworten aus Goethes Faust wird der Schreiber dann gültig, endgültig formuliert finden, was die Musik Wagners und die Dichtungen Storms und jetzt der unbekannten Toni Schwabe umkreisen. Als ein so von höchster Stelle legitimiertes GenderKonzept der Kunst und Kultur also stellt Thomas Mann dem »Hohnlächeln der Renaissance-Männer« das doppelt, künstlerisch wie religiös überhöhte Bild eines »Ewig-Weiblichen« entgegen. Und nun endlich kann er in einer so überraschenden wie kühnen Schlusswendung sich selbst mit diesem »weiblichen Kultur- und Kunstideal« identifizieren: Es ist nichts mit dem, was steife und kalte Heiden ›die Schönheit‹ nennen. Das Endwort des ›Faust‹ und das, was am Schlusse der ›Götterdämmerung‹ die Geigen singen, es ist Eins, und es ist die Wahrheit. D a s E w i g - W e i b l i c h e z i e h t u n s h i n a n. (Ebd., S. 59)
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Dass es Thomas Mann hier eigentlich schon von den ersten Zeilen an um ein Gender-Konzept ging, das mit den biologischen Geschlechtern keineswegs zur Deckung kommt, das wird andeutend schon bemerkbar, wenn man die schwebend-mehrdeutige Verwendung des Titel- und Schlüsselwortes verfolgt und die Begriffsverbindungen im Auge behält, die es eingeht. Nicht von Frauen in einem aufs Biologische und Anatomische begrenzten Sinne ist hier die Rede, sondern von einer »weiblichen« Kunst und Kultur. Diese aber ist Angehörigen beider biologischen Geschlechter zugänglich (oder eben verschlossen). Nicht um das ewige Weib geht es, sondern um das Ewige selbst als das Weibliche. Es verdiente eine ausführlichere Darstellung, als sie hier möglich und nötig ist, dass Thomas Mann diese Sätze anhand nicht irgendeines austauschbaren Frauen-Romans entwickelt, sondern anhand des literarischen Debüts der meines Wissens ersten bekannten und bekennenden lesbischen Schriftstellerin der deutschen Literatur – eines Debüts überdies, das überhaupt nur dank der entschiedenen Fürsprache des damaligen Lektors Thomas Mann veröffentlicht worden ist. Tatsächlich geht das Erscheinen des Romans selbst auf Thomas Manns Intervention zurück; bereits als Lektor bei Albert Langen hat er (wie ein neues, noch unpubliziertes Fundstück zeigt) mit der Verfasserin korrespondiert, und ihr hat er auch (wie ihre nachgelassenen Aufzeichnungen zweifelsfrei erkennen lassen) schon vorab seinen Essay zukommen lassen. Eingeweihten war das (wie aus auch Thomas Mann leicht zugänglichen Rezensionen hervorgeht) bereits bei Erscheinen des hier besprochenen Romans bekannt; dass sie es zum Gegenstand unverhüllter öffentlicher Bekenntnisse und emanzipationspolitischer Aktivitäten machte, geschah auch dank der literarischen Ermutigung Thomas Manns wenig später, in Magnus Hirschfelds Wissenschaftlich-humanitärem Komitee. Zu denjenigen, die hier subsumiert werden ins »Wir« der Verehrer eines »weiblichen Kultur- und Kunstideals«, gehören also – nur das will ich hier festhalten – an erster Stelle der junge Thomas Mann selbst und die von diesem jahrelang geförderte lesbische Dichterin Toni Schwabe. Wenn der Thomas Mann der Jahre 1902/03, also der Ehrenberg- und Tonio Kröger-Zeit, dieses identifikatorische Bekenntnis am Beispiel Toni Schwabes entwickelt, dann gibt der Begriff des »Weiblichen« hier eine spezifischere Qualität zu erkennen als im allgemeinen Sprachgebrauch. Dies erst macht auch verständlich, warum der Essay »uns« Verehrer eines »weiblichen Kultur- und Kunstideals« mit einem überraschend drastischen, von Nietzsche in Umlauf gebrachten Ausdruck als »Tschandalas« bezeichnet, als Angehörige also der durch das entsprechende Zeichen auf der Stirn stigmatisierten niedrigsten indischen Kaste. Tonio Krögers Wendung vom »Zeichen an Ihrer Stirne« (GKFA 2/1, S. 272), liest sich in
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diesem Kontext vielleicht nicht nur als allgemeine Redensart, sowenig wie seine Frage danach, ob der Künstler »überhaupt ein Mann« sei (ebd., S. 271, sowie 2/2, S. 162). Soweit ich sehe, gibt es nur eine Passage in Thomas Manns Frühwerk, in der noch einmal in demselben Sinne von »Tschandalas« die Rede ist, und sie findet sich in seinem Essay Die Lösung der Judenfrage (GKFA, 14/1, S. 174–178, hier S. 177). Das ist nicht nur ein Zufall. Denn wie er 1903 (und dann erneut in einem weiteren Weiblichkeits-Essay 1904) das eigene Literatentum gegen die Renaissance-Männlichkeit des Bruders als ein im Sinne Toni Schwabes ›weibliches‹ markiert, so bringt er dieses Schreiben schon von Beginn an auch in eine identifikatorische Beziehung zum Außenseitertum von Juden. Bereits in Thomas Manns erstem vollständig erhaltenen Essay, dem in der von ihm herausgegebenen Schülerzeitung Frühlingssturm erschienenen Polemik Heinrich Heine, der »Gute« von 1893 – bereits hier sind Literatentum und Judentum eng aufeinander bezogen (ebd., S. 21–23). Und bereits hier verbindet sich diese Verknüpfung mit einer entschieden anti-bürgerlichen Wendung, einem gewollten und gemeinsamen Außenseitertum. Heftig widerspricht der Achtzehnjährige dem apologetisch gemeinten Nachweis eines kulturprotestantischen Kritikers, »wir« hätten in Heine »einen Deutschen, der sein Vaterland heiß geliebt hat, und einen Protestanten«. Diesem Bild Heinrich Heines setzt der junge Thomas Mann sein Bild »Harry Heines« entgegen. Schon die Namensform »Harry« markiert hier, im Gegensatz zum treudeutschen »Heinrich«, zunächst die jüdische Herkunft Heines. Und sie bestimmt auch sein Literatentum, in der doppelten Opposition zu Protestantismus und Patriotismus, als ein jüdisches (»Künstlerjude« wird er Heine später mit einem bemerkenswerten Kompositum nennen [ebd., S. 187]). Dieser jüdische Literat »Harry Heine« erst ist es, den Thomas Mann nun emphatisch »meinen Heine« nennt. Das Thema bleibt auch an unerwarteten Publikationsorten virulent. Ausgerechnet in der von seinem Bruder herausgegebenen völkisch-antisemitischen Zeitschrift Das XX. Jahrhundert – in der er selbst eben noch einen antisemitischen Weckruf des Ostmark-Dichters Theodor Hutter zumindest ohne Anzeichen einer Distanzierung zitiert hat – bekennt sich Thomas Mann 1896 zu »des Kritikers Kunst, fremde Persönlichkeiten in sich aufzunehmen, in fremden Persönlichkeiten zu verschwinden, durch sie die Welt zu sehen« (ebd., S. 47–50). In dem Gegensatz, der hier zwischen ›Kritiker‹ und ›Künstler‹ etabliert wird, bereiten sich die späteren Begriffspaare von ›Literat‹ und ›Künstler‹, ›Geist und Kunst‹ schon vor. »Der Künstler«, erklärt der einundzwanzigjährige Thomas Mann 1896, »ist einseitig, wie jede starke Persönlichkeit; der Kritiker ist vielseitig, eben weil er keine Persönlichkeit ist« (ebd., S. 48). Für ihn selbst ist es keine
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Frage, auf welche Seite der Dichotomie er sich schlägt: auf die des Kritikers. Um aber keinen Zweifel daran zu lassen, dass dies – gelesen in den Kategorien des Blattes, in dem Thomas Mann das schrieb – die ›jüdische‹ Seite war, führt er als Beispiel den angesehensten zeitgenössischen jüdischen Kritiker dieser Jahre an, Georg Brandes (alias Morris Cohen), der es »vermag, unter Umständen, sich selbst auszulöschen und Heine oder Mérimée oder Tieck oder ein anderer zu sein – oder ihn zu spielen« (ebd.). Was er hier über Brandes bemerkt (und ganz ähnlich über sich selbst hätte bemerken können), nimmt das Modernitäts-Konzept aus Nietzsches Wagner-Kritik wieder auf. Und es übersetzt diesen Gedanken ins Literaturkritische und – unter Zuhilfenahme von Stereotypen, wie Wagner sie in Das Judentum in der Musik resümiert hatte – ins Klischee ›jüdischen‹ Wesens: Der ›Kritiker‹ ist parasitär, weil wesenlos; nicht schöpferisch, sondern imitierend; nicht aufbauend, sondern zersetzend und so fort. Im engeren Kontext des Essays dürfte außer Frage stehen, dass Thomas Mann hier im Bild des jüdischen Literaten auch sich selbst, dass er den Literaten als ›Juden‹ zeigt – und zwar, das antisemitische Stereotyp provokativ umkehrend, in affirmativer und identifikatorischer Perspektive. Das gilt noch in Wälsungenblut, wo ja – Hans R. Vaget und andere haben das gezeigt – beide antagonistischen männlichen Protagonisten Züge ihres Autors tragen, der düpierte und tölpelhafte Beckerath und der jüdische Wagnerianer, der Ästhetizist und décadent Siegmund: der hintergangene bürgerliche Bräutigam und der unbürgerliche Künstler, der ihn »beganeft« hat, »den Goy« (GKFA 2/1, S. 463). Und wie Thomas Mann den einst demonstrativ »unter die Damen geratenen« Literaten Tonio Kröger vom »Zeichen an Ihrer Stirne« reden lässt (ebd., S. 272 u. 259), so wird er auch diesem ins Jüdische transformierten Alter Ego den Gedanken an »das Brandmal seiner seltsamen Herkunft« denken lassen, das ihn »immer gezeichnet« habe. Denn: »Seine Sprache sei nicht die der anderen gewesen und ihre nicht die seine […] Verachtung und Haß und Schmähung seien ihm im Nacken gewesen, weil er von fremder, von hoffnungslos anderer Art, als die anderen« sei (ebd., S. 451). »Tschandalas« sind sie gleichermaßen, diese »künstlerischen Frauen« ebenso wie diese jüdischen Literaten, und nur auf sie wird der Begriff »Tschandalas« angewandt. II. Thomas Manns (literarisch artikulierte) Selbstwahrnehmung und öffentliche Selbstinszenierung stellen jene Ambivalenz der Stigmatisierungserfahrung aus, die seit Erving Goffmans klassischen Studien von der
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Sozialpsychologie immer wieder beschrieben worden ist.5 Seine bis zur Identifikation gehende Beschreibung der eigenen Literaten-Rolle als einer genuin mann-weiblichen und – vermittelt durch komplexere Analogisierungen – auch jüdischen artikuliert hier wie dort aber immer von neuem beide Seiten der Stigmatisierungserfahrung: trotzige Selbstbehauptung und hasserfüllten Selbstekel als internalisierte Aggression der Anderen, der verabscheuten und beneideten Dazugehörigen. Die Um-Schreibung dieses Selbstbildes zwischen 1903 und 1905 folgt, so scheint es, einer kalkulierten Strategie, die sich als response auf die challenges der neuen gesellschaftlichen Rolle verstehen lässt. (Wie lebenswichtig das womöglich war, zeigt beispielsweise der öffentliche Spott des vieles ahnenden Theodor Lessing über die Ehe zwischen »Tomi, dem Weibchen« und »Katia, seinem Mann«.6) Diese Strategie wird nicht nur literarisch verfolgt, sondern auch fotografisch. In den von ihm kontrollierten Fotoporträts lässt sich geradezu die Entstehung einer ThomasMann-Ikonographie beobachten. Zunächst hatte sich Thomas Mann in den Posen des Fotoateliers mit Vorliebe als zwar stets tadellos gekleideter und frisierter, aber vor allem als weicher, träumerischer Müßiggänger gezeigt – rauchend und traumverloren im Sessel oder mit der Tonio-Krögerschen (und dem alten Storm abgeschauten) Feldblume im Knopfloch (vgl. die Bemerkung über Tonios Vater, GKFA 2/1, S. 247). Die Bilder ab 1903, scheint mir, beginnen diesen Schriftsteller als bürgerlichen Repräsentanten zu re-inszenieren – von der Körperhaltung (die in der Verlobungszeit unfreiwillig das Bemühen verraten kann, die zarte Gestalt größer und breiter erscheinen zu lassen, sich in die Brust zu werfen) über die Haar- und Barttracht (der weiche Schnurrbart nimmt mit den Hochzeitsvorbereitungen vorübergehend sogar wilhelminische Strenge an) bis zur Funktionalisierung des bürgerlichen Habits. Denn jetzt und fortan arbeitet der nach wie vor tadellos Gekleidete nicht mehr träumend im Sessel vor sich hin, sondern am zwar dekorierten, im übrigen aber tadellos aufgeräumten Schreibtisch; die elegante Kostümierung des Ästheten ist von nun an die Arbeitskleidung eines Pflichtethikers.
_____________ 5 Goffman: Stigma. Vgl. grundlegend die Kapitel II, III, V u. VII bei Kurzke: Mann. 6 Vgl. GKFA 14/2, S. 313–327.
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Von links nach rechts: Abb. 1: Thomas Mann, um 1900; Abb. 2: Ausschnitt Thomas Mann, um 1900; Abb. 3: Thomas Mann zur Zeit seiner Verlobung, um 1904; Abb. 4: Thomas Mann an seinem Schreibtisch in München, um 1903; Abb. 5: Thomas Mann, um 1905.7
III. In manchen der expliziten literarischen Selbstporträts wird die Ablösung der einen Existenzform durch die andere, des einen Selbstbildes durch das andere als Prozess vorgeführt. Im Spiegel ist der wohl meistgelesene und elaborierteste dieser Texte. Was darin autobiographisch beschrieben wird, wird in anderen Essays über die Bande eines literarischen Porträts gespielt – programmatisch etwa in Chamisso (wo die autor-biographische Selbstreflexivität zugleich mit der deutlichen Maxime markiert wird: »Schriftsteller, die sich selbst geben, wollen im Grunde, daß man sie erkenne« [GKFA 14/1, S. 326]). Gerade am unmittelbaren Schreib- und Publikationskon_____________ 7 Alle Bilder nach Wysling / Schmidlin: Mann, S. 115, S. 137, S. 166, S. 126, S. 158.
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text dieser beiden Essays aber (›die hier stellvertretend für ein größeres Textcorpus stehen sollen‹) lässt sich auch ablesen, wie konsequent Thomas Mann das neue Selbst-Image, noch indem er es etabliert, selbst wieder unterläuft, wie er es subvertiert, dementiert, ja schließlich denunziert. Für sich gelesen, mündet das Selbstporträt Im Spiegel in die Gegenwart als ein Happy End von buchstäblich märchenhafter Wunscherfüllung: Er gebiete, versichert der Schreiber seinen Lesern, über ein prächtiges Haus, über Dienstboten und einen Haushund und speise, man höre und staune, schon zum Frühstück Zuckerbrötchen – vor allem aber sei er vermählt mit »einer Prinzessin von einer Frau« (ebd., S. 183); ein dann doch wieder gestrichenen Anfangssatz hatte den gesamten Text sogar unter dieses Vorzeichen gestellt: »Niemand sage, daß sich keine Märchen mehr begeben. Ich lache in mich hinein und weiß es besser« (GKFA 14/2, S. 245). (Das Märchen aber ist schon hier im Essay so zweideutig und gebrochen wie wenig später im Märchen von der Königlichen Hoheit, zu dessen Vorstudien es gehört.) Nahezu gleichzeitig mit diesem Text lässt Thomas Mann ein zweites Selbstporträt erscheinen, weniger auffällig und weniger explizit, aber doch ganz unmissverständlich. An entlegener Stelle, in einem Essay für den Berliner Morgen, hat Thomas Mann im Juni 1907 eine Poetik des Stigmas formuliert. Das Theater als Tempel war der Essay überschrieben (GKFA 14/1, S. 117–122), der dann zu Beginn des folgenden Jahres in den umfangreichen Versuch über das Theater einging. Von Wagners post-christlicher Kunstreligion und dem »Symbolismus des Theaters« ist da die Rede (ebd., S. 119), von seinen notwendigerweise plump effektversessenen Wirkungsmitteln und von der ästhetischen Überlegenheit des in der gebildeten Öffentlichkeit leider noch immer unterschätzten Romans. Das Beispiel aber, an dem diese These demonstriert werden soll, verselbständigt sich unversehens zu einem in sich geschlossenen Passus, der (unter Einbeziehung unmarkierter Passagen aus Thomas Mann eigenen Brautbriefen an Katia Pringsheim) das Thema scheinbar vorübergehend ganz aus den Augen verliert und sich einer nicht nur ästhetischen, sondern zugleich existenziellen Frage zuwendet: dem Verhältnis von Außenseitertum und Literatur. Dieser Abschnitt ist für Thomas Manns Werk von so – im doppelten Sinn des Wortes – grundlegender Bedeutung, dass er hier vollständig zitiert werden soll: Aber der Symbolismus des Theaters reicht ja viel weiter und höher. Jede rechte Bühnen- und Schaugestalt großen Stils ist ein Sinnbild. Man denke sich den folgenden dichterischen Charakter. Ein Mann, edel und leidenschaftlich, aber auf irgend eine Weise gezeichnet und in seinem Gemüt eine dunkle Ausnahme unter den Regelrechten, unter »des Volkes reichen, lockigen Lieblingen«; vornehm als Ausnahme, aber unvornehm als Leidender, einsam, ausgeschlossen vom Glücke, von der Bummelei des Glücks und ganz und gar auf die Leistung gestellt. Gute
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Bedingungen, das alles, um die »Lieblinge« zu überflügeln, welche die Leistung nicht nötig haben; gute Bedingungen zur Größe. Und in einem harten, strengen und schweren Leben wird er groß, verrichtet öffentlich ruhmvolle Dinge, wird mit Ehren geschmückt für seine Verdienste, – bleibt aber in seinem Gemüt eine dunkle Ausnahme, sehr stolz als ein Mann der Leistung, aber voller Mißtrauen in sein menschliches Teil und ohne Glauben daran, daß man ihn lieben könne. Da tritt ein junges Weib in sein Leben, ein lichtes, süßes, vornehmes Geschöpf. Sie liebt ihn um deswillen, was er tat und litt, sie verschmäht alle lockigen Lieblinge und erwählt ihn. Sein ungläubiges Entzücken lernt den Glauben. Sie wird seine Frau, und er ist in der Ehe fern von Eifersucht. »Sie hatte Augen ja und wählte mich.« Sie ist seine Versöhnung mit der Welt, seine Rechtfertigung, seine Vollendung, sie ist sein menschlicher Adel in Person. Und nun wird durch eine teuflische Ohrenbläserei dieser Mann langsam mit dem Verdacht vergiftet, daß sein Weib ihn mit irgend einem glatten und gewöhnlichen Burschen hintergehe. Langsam, unter Qualen zerfrißt der Zweifel seinen Stolz, seinen jungen Glauben an das Glück. Er ist dem Zweifel nicht gewachsen, er ist nicht sicher, die bittere Erkenntnis stellt sich ein, daß seinesgleichen nie sicher sein kann, daß er sein Leben niemals auf Glück und Liebe hätte gründen dürfen und daß mit dem Glauben an dieses Liebesglück nun auch sein Leben vernichtet ist. »Warum vermählt’ ich mich?!« Er bricht zusammen; und der Rest ist das Chaos, ist Mord und Selbstmord. – Man denke sich diesen Mann und Gatten als Helden einer erzählenden Dichtung. Der Romandichter wird sich nicht unbedingt genötigt fühlen, der Figur die Abzeichen ihrer Wesensart mit pittoresken Strichen ins Gesicht zu malen. Im Gegenteil wird er vielleicht einen besonderen Reiz darin finden, das Äußere des Mannes in einen betonten ironischen Gegensatz zu seiner seelischen Verfassung zu bringen, – so wird es ihn vielleicht lebenswahrscheinlicher dünken. Auf der Bühne aber, als Schaugestalt, ist dieser psychologische Typus ein – Mohr: er ist schwarz, seine besondere Art ist auf der höchsten Galerie als Schwärze sichtbar, er ist kein Typus mehr, er ist ein Sinnbild, ein Symbol, – der erhöhte Statthalter all derer, welche in irgend einem Sinne »schwarz« sind und darum nicht klug tun, sich zu vermählen […]. (GKFA 14/1, S. 119f.)
All jenen Lesern, die dem Schreiber dieser Sätze privat begegnet waren, ja auch all denen, die ihn nur als öffentliche Person kannten, kann der autobiographisch-bekenntnishafte Unterton dieser Passage schwerlich verborgen geblieben sein. Indem ein Autor, der längst zur öffentlichen Person geworden ist, von den heiklen Voraussetzungen und Folgen einer womöglich unklugen Eheschließung erzählt, lässt er an eine Münchner Hochzeit denken, die zeitweise zum Stadtgespräch geworden ist. Diese Othello-Paraphrase, die mir als ein Schlüsseltext des Frühwerks erscheint, zeigt den schreibenden »Mann und Gatten« als »in irgendeinem Sinne schwarz«, zeigt aber auch am Beispiel Shakespeares das eigene Camouflage-Verfahren, appelliert also an den Leser, in Thomas Manns stigmatisierten Figuren, denen die Besonderheit ihrer Wesensart drastisch und mit groben Pinselstrichen ins Gesicht geschrieben ist, auch ein Selbstbild des Autors zu sehen.
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Der Gegensatz zwischen der (in der Vermählung mit der Prinzessin gipfelnden) Aufstiegs- und Erfolgsgeschichte von Im Spiegel und der Stigmatisierungs-Parabel vom schwarzen Mann, der besser daran getan hätte, niemals zu heiraten – er könnte drastischer nicht sein. Und er ist kein Einzelfall. Im Gegenteil. So wie das explizite Selbstporträt Im Spiegel fast gleichzeitig durch die Othello-Paraphrase dementiert wird, so auch das verdeckte Selbstporträt im Gewande Adelbert von Chamissos durch die unmittelbar im Anschluss daran begonnene Novelle vom Tod in Venedig. Eine Selbstrechtfertigung war es, die Thomas Mann auf dem Umweg über das Porträt des Schlemihl-Dichters formulierte. Ausgerechnet der Erfinder des auf ewig zur Einsamkeit verfluchten Peter Schlemihl nämlich, des rastlos wandernden Mannes ohne Schatten, sei – das ist Thomas Manns Pointe – mit seiner Eheschließung zum sesshaften Bürger geworden: Es ist die alte, gute Geschichte. Werther erschoß sich, aber Goethe blieb am Leben. Schlemihl stiefelt ohne Schatten, […] grotesk und stolz über Berg und Tal. Aber Chamisso, nachdem er aus seinem Leiden ein Buch gemacht, beeilt sich, dem problematischen Puppenstande zu entwachsen, wird seßhaft, Familienvater, Akademiker, wird als Meister verehrt. Nur ewige Bohèmiens finden das langweilig. (GKFA 14/1, S. 330)
Der Südtiroler Dichter, Essayist und zeitweilige Brenner-Mitarbeiter Carl Dallago, ein seinerzeit nicht ganz unbekannter Autor, höhnte 1912 dagegen, er sei einer von ebendiesen ewigen Bohemiens und gedenke es zu bleiben. Thomas Mann aber sei nun leider endgültig langweilig geworden, ein »Philister« (GKFA 14/2, S. 435). Und in derselben Polemik stellt Dallago Thomas Mann noch einmal öffentlich vor ebenjene Alternative, die dieser seit 1905 entschieden zu haben behauptete: »Der Gesellschaft opfern und Philister werden, oder sein Leben leben und vielleicht ein Meister werden oder zugrundegehen«. Verrat, so lautete der Vorwurf, habe Thomas Mann an den gemeinsamen Idealen der Kunst und der Lebensformen begangen (ebd.). 1912 bringt Dallago diese Vorwürfe zum Druck – ausgerechnet in jenem Jahr also, in dem Der Tod in Venedig erscheint. Ein (mittlerweile verwitweter) Familienvater, ein sesshafter Akademiker und ein Meister ist der Held, der beim Versuch, die Sesshaftigkeit aufzugeben und irgendwie doch noch sein Leben zu leben, schauerlich zugrunde geht (und ja übrigens seinerseits ausdrücklich die »Merkmale fremder Rasse« unübersehbar im Gesicht trägt). Einen Bezug zum Chamisso-Essay hat Thomas Mann so subtil in diese Novelle eingewoben, als sei er ein Fingerzeig für alle Dallagos. Seine Verbürgerlichung als Überwindung des »problematischen Puppenstandes« hatte Thomas Mann dem Ex-Bohemien Chamisso untergeschoben (GKFA 14/1, S. 330). Das markante Bild aber wird im Verlauf dieser Erzählung restlos zerstört: »Nur ewiges Zigeunertum findet es langweilig […], wenn ein großes Talent dem liberti-
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nistischen Puppenstande entwächst« (GKFA 2/1, S. 514). Und nicht nur das Bürger-Bild Chamissos wird durch die venezianische Novelle dementiert, sondern auch der angestrengteste essayistische Versuch, sich als neuen Klassizisten zu inszenieren. Bekanntlich spielt die Schilderung des letzten Schriftstücks, das Aschenbach noch zu vollenden imstande ist, auf Thomas Manns eigenen Essay Auseinandersetzung mit Wagner an, diese ja tatsächlich mit den Worten »Lido – Venedig« unterzeichneten Blätter (GKFA 14/1, S. 304). Deren Proklamation einer »neuen Klassizität«, die nun kommen müsse, wird durch den gesucht-feierlichen Duktus gleichsam in corpore illustriert: »eine neue Klassizität, dünkt mich, muß kommen«. Wagnersche Musik wird hier nicht einfach ›gehört‹ – sie »trifft mein Ohr«, und so fort (ebd.). Dieser Auftritt des Großschriftstellers als eines meisterlichen Klassizisten bildet – so scheint mir – thematisch, aber auch bis in die stilistischen Nuancen hinein eine literarische Entsprechung zur fotografischen Selbstinszenierung. Doch eben weil hier so nachdrücklich und angestrengt von einer »repräsentativen« Kunst die Rede ist, die »das Meisterwerk des zwanzigsten Jahrhunderts« hervorbringen könnte (ebd.), von Formvollendung und Willensspannung – eben deshalb wird dieses Programm in der Novelle, die zum Kunstprogramm den Künstler zeigt, so rücksichtslos wieder dekonstruiert, beginnend mit der stilistischen Selbstparodie, wie sie den berühmten Eingangssatz des zweiten Kapitels bestimmt, bis zu jenem Ende, das auch hier wie im Othello Zusammenbruch und Chaos heißt. IV. Bei genauerem Hinsehen bieten also die Selbstinszenierungen des gerade erst erfundenen Großschriftstellers Thomas Mann einen überraschend paradoxen Anblick: In gleichzeitig veröffentlichten Texten, ja sogar innerhalb ein- und desselben Textes porträtiert sich der empirische Autor Thomas Mann – unter der Voraussetzung öffentlichen Wissens über sich selbst als öffentliche Figur – als einen bürgerlichen Repräsentanten und als einen entschieden nicht-bürgerlichen Außenseiter. Nicht nur seine vielfältig aufeinander bezogenen, ineinander verwobenen Essays und Erzähltexte zeigen diese widersprüchliche Strategie, sondern auch seine Praxis in der literarischen Öffentlichkeit. Einerseits etwa erklärt sich der bürgerliche Repräsentant bereit, in der staatlichen Münchner Zensurbehörde mitzuwirken – andererseits hat er selbst in einem aggressiven Essay jeder staatlichen Zensur die Legitimation streitig gemacht und gebraucht seine neue Stellung nun ausschließlich dazu, die Zensur etwa gegen die Schauspiele Frank Wedekinds zu verhindern (wie sein
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Zensurgutachten über Lulu glaubhaft macht); noch 1914 wird er gerade den Bohemien und Antibürger Wedekind in einem großartigen PorträtEssay als Bruder im Geiste porträtieren (GKFA 14/1, S. 372ff. u. 400– 406). Der einerseits im steifen Kragen am Schreibtisch posierende Großbürger unterzeichnet – und nichts und niemand hat ihn dazu gezwungen – andererseits Petitionen für die Freilassung des anarchistischen Dichters Erich Mühsam und verteidigt gemeinsam mit Heinrich die expressionistische Aktion gegen staatliche Übergriffe, als »tapferes [...] Organ der literarischen Linken« (GKFA 14/2, S. 595). Die beiden antagonistischen, einander ausschließenden, unterlaufenden und ins Wort fallenden Selbstinszenierungen des jungen Schriftstellers Thomas Mann lassen sich lesen als Umsetzungen einer Ambivalenz, die ich versuchsweise ›stigmatisierte Autorschaft‹ nennen möchte: einer Autorschaft, die sich in ihrer spezifischen Ausprägung der biographischen Grunderfahrung des Stigmas verdankt und die sich selbst als Ergebnis und fortdauernde Aktualisierung dieser Grunderfahrung darstellt. Es ist dieses Konzept einer stigmatisierten Autorschaft, das über die frühen Essays und Erzählungen hinaus für Thomas Manns Werk konstitutiv wird. Diese paradoxe Selbst-Inszenierung (als bürgerlicher Repräsentant und stigmatisierter Außenseiter zugleich) wird nur sichtbar, wenn wir über die kanonisierten Texte hinaus das gesamte Frühwerk in den Blick nehmen. V. Dafür ein letztes und mir besonders wichtig erscheinendes Beispiel. In einem in der GKFA erstmals veröffentlichten Entwurf über den Litteraten aus der Zeit zwischen 1910 und 1912 hat Thomas Mann die Ambivalenz der Stigmatisierungs-Erfahrung programmatisch für die eigene Autorschaft geltend gemacht. Und er hat sie dabei in überraschender Pointierung zugleich auf jene beiden im wilhelminischen Deutschland gesellschaftlich marginalisierte Gruppen bezogen, in deren Nähe er die eigene Position schon von Beginn an immer wieder gebracht hat. Von einer buchstäblichen Stigmatisierung des ›Literaten‹ ist 1910 die Rede, gleichzeitig mit dem Beitrag zur ›Judenfrage‹: im Essay Zur gesellschaftlichen Situation des Schriftstellers und dann in den Entwürfen zum großen, ausdrücklich als kleiner Ersatz für das gescheiterte Geist und KunstVorhaben veröffentlichten Essay Der Literat. »Das Wort ›Litterat‹«, schreibt er, sei »heute […] zu einem Schimpfwort geworden […], gefürchteter, brandmarkender, als ›Stümper‹, ›Hohlkopf‹ und ›Langfinger‹« (GKFA 14/1, S. 226). Das Bild von der Brandmarkung wird im ersten Entwurf zum 1913 in Hermann Hesses Zeitschrift März veröffentlichten,
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später in den Betrachtungen eines Unpolitischen dann selbstkritisch widerrufenen Essay Der Literat aufgenommen und erweitert. Und es wird dabei um eine entscheidende Passage erweitert. »Welches«, fragt Thomas Mann, »ist das tötlichste Schimpfwort, heute gefürchteter und eine ärgere Brandmarkung, als Stümper, Hohlkopf und Langfinger? – ›Litterat!‹ – Wer hat es erfunden? – Wir Litteraten. – Wen nennen wir so? – Unsselbst, uns, unter einander« (GKFA 14/2, S. 502). Diese »Unsitte« der Literaten, »sich überall die Miene zu geben, als gehörten sie keineswegs dazu«, hat nun zwei Analogien: Die Litteraten handeln »völlig nach Art jener antisemitischen Juden, die zwar ebenfalls Juden, aber doch irgendwie nicht in dem Sinn, wie die anderen, sind – oder nach der unserer antifeministischen Weiber […] … Seltsame Untreue! Seltsame Unsicherheit des Ichs – dieser Ekel vor dem, was man ist! Er allein ist schuld, daß zur Schmähung entarten konnte, was ursprünglich ein neutrales Kennwort nicht nur, nein, ein Ehrentitel und Ordenszeichen war und für Viele heute noch ist« (ebd.; Hervorh. H. D.). Dass sie unter dem Zeichen des Stigmas tatsächlich eine Trias bilden, das hat er in einem Satz formuliert, den er aus der gerade zitierten Passage dann doch lieber wieder gestrichen hat und der in der GKFA erstmals publiziert ist: »Ja, der Ekel vor dem, was man ist, diese Untreue und seltsame Unsicherheit des Ichs scheint in der That die gemeinsame Eigenschaft der Juden, Frauen und Litteraten zu sein« (ebd.). Schmähung und Ehrentitel, Ordenszeichen der Auserwählten und Ekel: was »Juden, Frauen und Litteraten« für Thomas Mann – und, so will ich nun hinzusetzen, in Thomas Mann – verbindet, das ist diese konstitutive Ambivalenz einer Stigmatisierungserfahrung, die durch keine Erfolgsgeschichte von Meisterschaft und Verbürgerlichung ganz zu tilgen ist. »Juden, Frauen und Literaten« – die triadische Formel aus der unveröffentlichten Version des Literaten-Essays resümiert die drei Bereiche, in denen Thomas Mann seine Autorschaft in seinem Frühwerk als eine stigmatisierte darstellt. Wo immer er einen dieser Begriffe verwendet, ist deshalb mit autobiographischen Unter- und Obertönen zu rechnen und mit den Ambivalenzen der Selbstwahrnehmung. Thomas Manns öffentliche Inszenierungen stigmatisierter Autorschaft versuchen in allen drei Bereichen aus der Not eine Tugend zu machen, und sie unterliegen doch immer derselben Ambivalenz von Selbstbehauptung und »Ekel vor dem, was man ist«. Es ist diese Grundspannung, aus der sein Lebenswerk erwächst.
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Mann, Thomas: [Selbstbiographie I]. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Bd. 14/1. Essays I 1893–1914. Frankfurt/M. 2002, S. 78. Mann, Thomas: Über Frank Wedekind. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Bd. 14/1. Essays I 1893–1914. Frankfurt/M. 2002, S. 400–406. Mann, Thomas: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 14/2. Essays I 1893–1914. Kommentar. Hg. von Heinrich Detering. Frankfurt/M. 2002. Mann, Thomas: Chamisso. In T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Bd. 14/2. Essays I 1893–1914. Kommentar.. Frankfurt/M. 2002, S. 430–452. Mann, Thomas: Der Doktor Lessing. In T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Bd. 14/2. Essays I 1893–1914. Kommentar. Frankfurt/M. 2002, S. 313–327. Mann, Thomas: Der Literat. In T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Bd. 14/2. Essays I 1893–1914. Kommentar. Frankfurt/M. 2002, S. 488–515. Mann, Thomas: Im Spiegel. In T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Bd. 14/2. Essays I 1893–1914. Kommentar. Frankfurt/M. 2002, S. 240–249. Mann, Thomas: Collegheft 1894–1895. Hg. von Yvonne Schmidlin / Thomas Sprecher (Thomas-Mann-Studien 24). Frankfurt/M. 2001. Mann, Thomas: Ein Leben in Bildern. Hg. von Hans Wysling / Yvonne Schmidlin. 2. Aufl., Zürich 1994. Detering, Heinrich: »Frauen, Juden und Litteraten«: Zu einer Denkfigur beim jungen Thomas Mann. Frankfurt/M. 2005. Goffman, Erving: Stigma. Notes on the Management of Spoiled Identity. Prentice-Hall 1963 (deutsch 1967). Kurzke, Hermann: Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk. Eine Biographie. München 2000. Wysling, Hans: Zu Thomas Manns Maja-Projekt. In: Thomas-Mann-Studien 1 (1967), S. 23–47.
HANS R. VAGET
Auf dem Weg zum Nationalschriftsteller Thomas Mann und Schiller 1905
»Zur Psychologie des deutschen Nationalschriftstellers« – so lautet der Titel eines Aufsatzes von Peter von Matt, der vor gut einem Vierteljahrhundert erschienen ist.1 Es handelt sich dabei um einen Versuch, bestimmte literarhistorische Konstellationen im Rückgriff auf das ödipale Konfliktschema der Freudschen Psychoanalyse zu erhellen. Ich fasse von Matts Argumentation in der gebotenen Kürze zusammen. Jeder deutsche Autor, der nach Größe, Repräsentanz und damit nach dem Nimbus des inoffiziellen, imaginären Nationalschriftstellers strebe, müsse sich unausweichlich mit der übermächtigen Vater-Imago Goethes ins Verhältnis setzen. Bevor ein Autor den Platz Goethes beanspruchen könne, müsse er ihn symbolisch töten. Zum Beleg dieser These präsentiert von Matt das Beispiel Thomas Mann in seinem Verhältnis zu Goethe.2 Er erinnert daran, dass Der Tod in Venedig nach des Autors eigener Auskunft aus einem »Goethe in Marienbad« benannten Projekt hervorgegangen ist – einem Projekt, an dessen Ursprung der Wunsch stand, den in einen Teenager verliebten dreiundsiebzigjährigen Dichter in einer Situation der Entwürdigung und Erniedrigung vorzuführen. Unter der Camouflage einer modernen Dichter-Vita gehe es in der großen Venedig-Novelle um nichts Geringeres als um Goethes »Tod vor seinem wirklichen Tod«. Erst diese »Hinrichtung« Goethes habe dessen spätere »Verklärung« und Manns verschlagene unio mystica mit dem Faust-Dichter ermöglicht. Merkwürdigerweise hat der Essay von Matts nicht die Beachtung gefunden, die er auf Grund seiner Thematisierung der ebenso zentralen wie problematischen Kategorie des Nationalschriftstellers verdient. Dies mag _____________ 1 Matt: Psychologie. 2 Zu Thomas Manns Verhältnis zu Goethe vgl. besonders die Arbeiten von Wysling: Goethenachfolge; Siefken: Mann; Lehnert: Manns Verhältnis.
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Hans R. Vaget
daran liegen, dass das Freudsche Erklärungsmodell inzwischen viel von seiner einstigen Plausibilität eingebüßt hat und dass uns der Begriff des Nationalschriftstellers in vieler Hinsicht suspekt geworden ist. Schwerer wiegt aber wohl die Unzulänglichkeit des Belegmaterials, das von Matt zur Verfügung stand. In dieser Hinsicht sind wir heute nach Veröffentlichung der Notizbücher besser befähigt, Zusammenhänge zu erkennen und die für Manns Schriftstellerehrgeiz Ausschlag gebende Motivation zu erhellen. Gleichwohl ist zu konstatieren, dass mit der Vorstellung vom Nationalschriftsteller eine für die in Frage stehende Epoche fruchtbare Kategorie literarhistorischer Erkenntnis benannt ist. In einer von der Kunstidolatrie geprägten Kultur wie der deutschen, in einer vom Großmachtstreben dynamisierten Epoche wie der Wilhelminischen, standen die großen kreativen Gestalten innerhalb der eigenen Kultur in einem mit nichts zu vergleichenden Ansehen, während nach außen die Gipfelleistungen auf kulturellem Gebiet zur Legitimierung des politischen Hegemoniestrebens ins Feld geführt wurden. Unter diesen Vorzeichen ist das Phantasma des Nationalschriftstellers nicht nur von psychologischem, sondern auch von historischem und politischem Interesse. Dass Thomas Mann den Nimbus des Nationalschriftstellers schon früh und zielbewusst angestrebt hat, geht zwingend aus einer Reihe von Indizien hervor. Den wohl frühesten Beleg liefert eine Aufzeichnung in seinem Notizbuch vom Frühsommer 1905. Es ist eine selbstkritische Reflexion über die »Beeinflussungen durch den Erfolg,« der dem noch jungen Autor immer unübersehbarer zuteil wurde, und zwar nicht nur auf kommerzieller, sondern auch auf kritischer Ebene. Die Verkaufszahlen für Buddenbrooks hatten inzwischen alle Erwartungen weit übertroffen, und in den meist überschwänglichen Rezensionen des zweiten Novellenbandes, der Tonio Kröger enthielt, war einmal sogar von »klassisch« die Rede.3 Diese beiden dem Selbstwertgefühl schmeichelnden Faktoren veranlassten ihn zu der folgenden Beobachtung, aus der nicht nur stiller Stolz spricht, sondern auch psychologische Neugier und kritische Wachsamkeit: »der erhöhte Respect vor sich selbst, das gesteigerte sich Ernstnehmen, die vergroßartigte Optik […], die Neigung, sich als nationaler Faktor, sich überhaupt national zu nehmen, der Blick auf die Litteraturgeschichte, etc.« (Nb. II, S. 120). _____________ 3 Vgl. dazu Heinrich Meyer-Benfey: »Man könnte daher seine Dichtung wohl als ›klassisch‹ bezeichnen, wenn man darunter eine Kunst versteht, worin sich die Tendenz auf Natur und die Tendenz auf Stil das Gleichgewicht halten«. Zur Rezeption des Novellen-Bandes insgesamt vgl. Vaget: Kaffeehausliterat oder Klassizist? In: Vaget.: Kommentar, S. 73–79.
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Die Fortsetzung dieses Notats lässt erkennen,4 dass wir es hier mit einer Keimzelle des Tod in Venedig zu tun haben, denn Gustav Aschenbach ist genau dieser von Thomas Mann beschriebene Schriftsteller, der zum »nationalen Faktor« geworden ist. Noch ist der Nationalschriftsteller, um den Manns Gedanken hier unverkennbar kreisen, als eine Gefährdung gedacht, denn er fragt sich, ob er den damit verbundenen Ansprüchen auch gewachsen sei. Andererseits mag bei dieser grüblerischen Selbstbesinnung auch ein wenig Aberglaube im Spiel sein in der Hoffnung, dass die Beschwörung der Gefahren ihn dagegen immunisieren werde. In seiner Monographie über die Venedig-Novelle beschreibt T. J. Reed das künstlerpsychologische Geschehen dieser Erzählung als »Making and Unmaking a Master«.5 Man könnte sie auch – und dies scheint mir präziser – als »making and unmaking« eines Nationalschriftstellers bezeichnen. Nach allem, was wir heute darüber wissen, haben wir uns den Thomas Mann von 1905 als einen Autor vorzustellen, dessen innerstes Trachten auf Größe und Repräsentanz zielte und der umsichtig alle notwendigen Maßnahmen traf, um sich als aussichtsreichster Kandidat für den von allen anerkannte Rang des Nationalschriftstellers zu positionieren. Dazu gehört zuvörderst seine Verehelichung mit Katia Pringsheim im Februar 1905, durch die er sich die in allem Repräsentanzstreben unabdingbare bürgerliche Verfassung gab (GKFA 21, S. 340 [T. M. an Heinrich Mann, 17.1.1906]). Den Bruder ließ er wissen: »Ich bin nun dreißig. Es ist Zeit auf ein Meisterstück zu sinnen« (ebd., S. 337). Sein literarischer Ehrgeiz musste sich somit auf besonders prestigeträchtige Projekte richten. Der erste von diesem Gedanken inspirierte Versuch war wohl das Drama Fiorenza, das ihm jedoch schon bald als ein Fehlschlag erschien. Es sollte sein einziger Versuch auf dem in Deutschland besonders ruhmträchtigen Terrain des Theaters bleiben. Mehr durfte er sich von einem »historischen Roman namens Friedrich« (ebd., S. 336) versprechen, denn damit bewegte er sich auf dem ihm angestammten Feld des Romans, auf dem er seinen ersten großen Erfolg erzielt hatte. Doch auch mit diesem Projekt kam er nicht zu Rande, so dass er es seinem fiktiven alter ego Gustav Aschenbach abtrat. Aschenbach erntet mit seiner »mächtigen Prosa-Epopöe vom Leben Friedrichs von Preußen« (GKFA 2/1, S. 507) den Ruhm, den sein Schöpfer selbst anstrebte. Er bekommt den persönlichen Adel verliehen, und die Unterrichtsbehörde übernimmt »ausgewählte Seiten von ihm« in _____________ 4 »Das ist darzustellen, damit es nichts Gemeinsames und nur typisches bleibe. (Ich will keine Figur sein). Das Leid und die tragische Verirrung eines Künstlers ist zu zeigen, der [genug] Phantasie und ›Ernst im Spiel‹ genug hat, um an den ehrgeizigen Ansprüchen, zu denen der Erfolg ihn verleitet und denen er zuletzt nicht gewachsen ist, zu Grunde geht« (Nb. II, S. 120). 5 Reed: Making, S. 59–71.
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die Schulbücher. Gustav von Aschenbach ist, auch ohne dass das Wort fällt, der deutsche Nationalschriftsteller. Thomas Manns Nachdenken über den Nationalschriftsteller, über die Gefährdungen einer derart exponierten Existenz, aber auch über die historischen Implikationen, die jedwede Verkörperung dieses Phantasmas mit sich bringt, erhielt einen mächtigen Schub, als er sich Anfang 1905 bereit fand, einen novellistischen Beitrag zum anstehenden Schiller-Jubiläum zu liefern. Schwere Stunde war die erste Arbeit des Neuvermählten. Merkwürdigerweise erschien sie in der satirischen Wochenschrift Simplicissimus, die sich diesen Beitrag von ihrem vormaligen Mitarbeiter für ihre luxuriös ausgestattete Schiller-Nummer erbeten hatte. Schwere Stunde gehört ohne Zweifel zu Manns eindrücklichsten Leistungen auf dem Gebiet der short fiction. Unter konsequenter Verwendung der erlebten Rede und des inneren Monologs versetzt der Erzähler uns in die Gedanken des mit seinem Wallenstein ringenden Dichters. Wir erleben mit, wie er sich – seine Selbstzweifel und seine körperlichen Leiden überwindend – zu einer neuen Perspektive auf sein Werk durchringt und damit zu einer Klärung seines Dichtertums. Selbstredend schreibt der Autor der Schweren Stunde auch in eigener Sache, denn auch er stand vor der Notwendigkeit, sich darüber klar zu werden, was für ein Schriftsteller er werden wollte und welche Stellung er in der deutschen Literaturlandschaft einzunehmen gedachte. Die Thematik des Nationalschriftstellers ist in dieser novellistischen Studie in mehrfacher Gestalt greifbar. Da ist zunächst die Schiller zugeschriebene Vorstellung von Größe und Ruhm: »Größe! Außerordentlichkeit! Welteroberung und Unsterblichkeit des Namens! Was galt alles Glück der ewig Unbekannten gegen dies Ziel des Ungewöhnlichen? Gekannt sein, – gekannt und geliebt von den Völkern der Erde! Schwatzet von Ichsucht, die ihr nichts wißt von der Süßigkeit dieses Traumes und Dranges!« (GKFA 2/1, S. 425) Es ist, als werbe der Autor in der Maske des Wallenstein-Dichters um Verständnis für die ungeheure Verführung, die von dem Gedanken der Größe ausgeht. Gleichzeitig werden wir jedoch gewahr, dass es eine anders geartete Größe gibt, verkörpert in Goethe, Schillers Rivalen und Freund, »den er mit einer sehnsüchtigen Feindschaft liebte« (ebd., S. 421). Wenn Mann hier in die Gestalt Schillers schlüpft, so impliziert dies also keineswegs eine Abwertung Goethes. Dass die Hochachtung für den Anderen dort in Weimar keineswegs nur durch die Schillersche Erzählperspektive vorgegeben ist, geht aus einem wenig später entstandenen Text hervor, einer Stellungnahme zu dem so genannten Bilse-Prozess vom Oktober 1905. In diesem in Lübeck geführten Prozess war sein Erstling Buddenbrooks mit einem Roman des literarisch dilettierenden Leutnants Fritz Oswald Bilse,
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einem kolportagehaften Schlüsselroman, in einen Topf geworfen worden. Thomas Mann verwahrte sich energisch gegen dieses Missverständnis, bezeichnenderweise unter Berufung auf Goethes Werther: »Und wenn Ihr mich fragt, mit wem der beiden ich mich eher verwandt fühle, mit Goethe oder mit Bilse, so antworte ich ganz ohne Größenwahn: mit Goethe.« (GKFA 14/1, S. 90) In diesem die eigensten Belange berührenden Punkt taugte der Romanautor Goethe besser zum Kronzeugen als der Dramatiker Schiller. Gleichwohl ist es der Wallenstein-Autor, der ihm in Schwere Stunde als der weit wirkungsvollere Katalysator dient zur Klärung bestimmter Aspekte der literarischen Moderne. Dazu gehört nicht zuletzt die Frage des aus moderner Sicht geeignetsten Nationaldichters. Schwere Stunde ist aus einem ganz bestimmten literarhistorischen Kontext hervorgegangen und ist als Antwort darauf konzipiert. Daher konnte Mann gar nicht umhin, auf die Thematik des Nationalschriftstellers zu reflektieren, denn diese stand schon vor 1905 im Brennpunkt der SchillerRezeption. Nichts lässt den Stand der Diskussion am Vorabend des Schiller-Jubiläums von 1905 klarer erkennen als der Beitrag, den der Schweizer Dichter Carl Spitteler im August 1903 gleichsam als Steilvorlage für die Protagonisten der bevorstehenden Schiller-Feiern lieferte. Spittelers Artikel trägt die Überschrift Der degradierte Schiller6 und ist ein einziger Protest gegen die durch den Goethe-Kult des Wilhelminischen Reiches propagierte Erhöhung Goethes auf Kosten Schillers. Spitteler weist alle Behauptungen, dass Goethe »unstreitig der erste deutsche Dichter« sei, als unberechtigt zurück. Es sei für Deutschland schlicht unrühmlich, »dass es sich, ohne zu mucken, seinen Schiller hat in den zweiten Rang hinunterdrücken lassen«. Wer es an »Ehrfurcht und Bewunderung« für Schiller fehlen lasse, beweise damit nur seine eigene literarische Unbedarftheit, denn »an dem Grade der Bewunderung, mit welcher einer Schillers Namen nennt«, könne man erkennen, »ob er selber etwas kann oder nicht«.7 Der Umstand, dass Carl Spitteler der Autor von Olympischer Frühling war, einem an Schillers Die Götter Griechenlands gemahnenden Versepos, für das ihm 1919 der Nobelpreis verliehen wurde, trug zweifellos zu dem großen Echo bei, das seiner beherzten Intervention beschieden war. Der degradierte Schiller wurde von zahllosen Zeitungen und Zeitschriften übernommen. Norbert Oellers bemerkt dazu, Spitteler habe »mit seinem zornigen Auftritt gegen Goethe-Lobhudler und Schiller-Verächter mehr Wirkung erzielt als mancher Schiller-Philologe mit gründlichen Abhandlungen«.8 _____________ 6 Erstdruck in Neue Zürcher Zeitung, 19.8.1903. 7 Spitteler: Schiller, S. 123. 8 Oellers, ebd., S. 531.
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Die bedeutendste dieser Wirkungen, die jedoch weder von Oellers noch von der Thomas-Mann-Forschung bisher erkannt wurde, war die auf den Autor von Schwere Stunde. Es ist davon auszugehen, dass Thomas Mann Spittelers Aufruf zur Rehabilitierung Schillers kannte, denn er wurde in der Münchner Zeitschrift Freistatt, in der er selbst auch publizierte, nachgedruckt und in einem Artikel von Leo Feld ausführlich kommentiert.9 Dies ist umso wahrscheinlicher, als Leo Feld offenbar auf Mann anspielt, wenn er bemerkt, dass bei der jungen Generation der politische Idealismus des Marquis von Posa heute auf Gleichgültigkeit stoße und sich das Interesse auf Schillers problematische Figuren richte. Dies war offenbar auf Tonio Kröger gemünzt, den die Tränen des einsamen Tyrannen Philipp eher rühren als alle Weltverbesserungsprojekte Posas. Mit Schwere Stunde setzte sich Thomas Mann also an die Spitze der von Carl Spitteler ausgelösten Welle, die den weithin degradierten Schiller auf gleiche Höhe mit Goethe tragen sollte. Wie sehr er sich darin im Einklang befand mit einer Zeitstimmung, die Gerechtigkeit für Schiller forderte, will sagen: Ranggleichheit mit Goethe, bezeugt seine Stilisierung des Wallenstein-Dichters zu einer heldenhaften Gestalt. Nicht nur Spitteler, auch Richard Weltrich, der große Schiller-Biograph, warb für eine Aufwertung des Dichters und damit Rehabilitierung als Nationalschriftsteller, der er 1859 gewesen war. Dazu richtete er den Scheinwerfer auf Schillers Charakterstärke, seinen Mut und seine heldenhafte Leidensfähigkeit, also auf betont männliche Qualitäten, in denen Goethe, wie jedermann wusste, dem Dichter des Wallenstein nicht das Wasser reichen konnte. In diesem Sinne lässt denn auch Mann seinen Schiller reflektieren. »Soll das Leiden umsonst gewesen sein? Groß muß es mich machen!« Der Erzähler ergänzt: »Und dies war seine Eifersucht: daß niemand größer werde als er, der nicht auch tiefer als er […] gelitten« (GKFA 2/1, S. 425). Ein aphoristischer Zweizeiler, den Mann als weiteren Beitrag zum Schillerjahr verfasste, bringt die Sache auf den Punkt: Die Hemmung ist des Willens bester Freund. Den Helden grüß ich, der Friedrich Schiller heißt. (GKFA 14/1, S. 83)
Über die heroische Leistungsethik hinaus sind es vor allem intellektuelle Qualitäten, die Mann zur Untermauerung von Schillers Anspruch auf Gleichrangigkeit ins Feld führt. Mochte es Goethe gegeben sein, in unreflektierter Selbstverständlichkeit und göttlicher Tastseligkeit Gebilde um Gebilde hervorzubringen, so war es Schiller, dessen intellektuelle und analytische Potenz ihn in den Stand setzte, seiner eigenen Schaffensweise bis auf den orphischen, will sagen musikalischen Grund zu kommen und sich über den Unterschied zwischen seiner Künstlerschaft und der des Ande_____________ 9 Feld: Schiller.
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ren dort in Weimar mit »ordnende[r] Kraft und antithetische[r] Beredsamkeit« (GKFA 2/1, S. 508) Rechenschaft abzulegen. Wer es sich mit einem philosophischen Essay schwerer macht als mit einer rasch hingeworfenen dramatischen Szene, der durfte sich überzeugt halten, dass er nach etwas Höherem strebt, das Schaffen und Erkenntnis in sich vereint. Mit tiefem Recht durfte ein solcher Künstler dafür halten, dass es leichter sei, ein »Gott zu sein als ein Held!« Denn »war Schaffen göttlich, so war Erkenntnis Heldentum, und beides war der, ein Gott und ein Held, welcher erkennend schuf!« (ebd., S. 426) Genau betrachtet wird hier nicht nur auf Gleichrangigkeit gepocht, sondern auf Überlegenheit, die in einem höheren Grad von Selbstbewusstheit beschlossen liegt. Während der Andere dort in Weimar »mit weiser und glücklicher Hand Erkennen und Schaffen« von einander geschieden hielt, drang Schiller zu einer Höhe der Selbsterkenntnis vor, die dem Anderen versagt war – der Erkenntnis, dass seine Werke im Grunde »Wunder der Sehnsucht« waren, »der Sehnsucht hinüber in die klare Welt des Anderen, der unmittelbar und mit göttlichem Mund die besonnten Dinge bei Namen nannte« (ebd., S. 426). Unverkennbar rekurriert Mann mit dieser Charakterisierung Goethes und Schillers auf dessen Essay Über naive und sentimentalische Dichtung, über den er stets mit größter Bewunderung sprach. Er erklärte diese »unsterbliche Abhandlung« (GW XIII, S. 171) zum »klassischen« Essay der Deutschen, »welcher eigentlich alle übrigen in sich enthält und überflüssig macht« (GKFA 15/1, S. 812). Er kann jedoch nicht immer dieser Meinung gewesen sein, denn wenige Jahre nach Schwere Stunde begann er Bausteine zu sammeln für eine ähnlich weitläufige, mit Schillers klassischem Essay konkurrierende Abhandlung über Geist und Kunst. Sie blieb schließlich ungeschrieben und landete in Aschenbachs Werkverzeichnis. Mehr noch als in Schwere Stunde bekundet sich darin ein Bekenntnis zu Schiller, dem philosophisch beschlagenen Intellektuellen und kritischen Zeitzeugen. Betrachten wir nun noch einmal Peter von Matts These zu Thomas Mann, dem Nationalschriftsteller, so ist als Erstes zu konstatieren, dass mit der Venedig-Novelle der Einstieg in diese Thematik zu spät angesetzt ist. Manns Nachdenken über sich selbst begann schon weit früher, spätestens aber 1905, von der Reflexion auf Schiller und Goethe gesteuert zu werden. Spuren davon sind in der nach der Schiller-Studie geschriebenen Antwort auf eine Umfrage zum Thema Literaturkritik von 1905 zu erkennen. Dort statuiert er in aller Klarheit: »ich glaube, daß kein moderner schaffender Künstler das Kritische als etwas seinem eigenen Wesen Entgegengesetztes empfinden kann« (GKFA 14/1, S. 86). Genauer betrachtet lassen sich diese Spuren bis zu einem ganz frühen Essay des Einundzwanzigjährigen: Kritik und Schaffen, zurückverfolgen, in dem er die »›Supre-
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matie‹ des Künstlers über den Kritiker« (ebd., S. 48) entschieden bestreitet. Der Weg des jungen Thomas Mann zielte also von früh an auf einen an Nietzsche geschulten Typus des Schriftstellers und Intellektuellen. Etwas Entscheidendes kommt hinzu: Ausschlag gebend für die Bewusstseinsbildung als Nationalschriftsteller war weniger die Rivalität mit toten als die mit lebenden Autoren. Was Mann dazu bewog, der Nationalschriftsteller werden zu wollen, das verdankt sich gewiss zu einem Teil der Reflexion auf Schiller und Goethe; in weit höherem Maß jedoch verdankt es sich der Konkurrenz zu den lebenden Autoren. Die Goethesche Unmutsregung, die er im Alter gern zitierte: »Lebt man denn, wenn andre leben«,10 gilt im Grunde schon für den Thomas Mann von 1905. Eine leitmotivisch verwendete Geste, die in mehreren Texten jener Epoche auftaucht – die geballte Faust – darf als Indiz für den unbedingten Willen zur Größe gewertet werden. Diese Geste signalisiert die Entschlossenheit, sich hervorzutun, den Willen zur Größe und damit zur Macht. Bezeichnenderweise assoziierte Mann die geballte Faust mit Beethoven und Napoleon. Zur größten Entfaltung gelangte dieses Motiv im Tod in Venedig, doch vorgeprägt ist es schon in Schwere Stunde, in Schillers zur Faust geballten Linken bei dem Gedanken an Goethe.11 Die Vorstellung, dass auch Manns Linke sich zur Faust ballte bei dem Gedanken an seine Konkurrenten, drängt sich geradezu auf. Dem Thomas Mann von 1905 mussten sich mindestens drei seiner Kollegen als Anwärter auf den Rang und Nimbus des Nationalschriftstellers darstellen: sein Bruder Heinrich, der sich mit seiner Romantrilogie Die Göttinnen von 1902 an die Spitze des modernen deutschen Romans gesetzt hatte; sodann Stefan George, der durch seine formstrengen Dichtungen und über seinen Kreis von Anhängern einen gesamtkulturellen Führungsanspruch anmeldete, und schließlich Gerhart Hauptmann, der aller Welt als der größte lebende Dichter der Deutschen galt. Von diesen drei Rivalitäten war die Konkurrenz mit Hauptmann zweifellos die folgenreichste. Thomas Manns Verhältnis zu dem großen Dramatiker war tief ambivalent und doppelbödig.12 Er trat als eloquenter Festredner zu Hauptmanns sechzigstem und siebzigstem Geburtstag auf, und nach dessen Tod 1946 widmete er dem Verewigten in der Entstehung des Doktor Faustus einen großartigen, bewegenden Nachruf (GW XI, S. 275–279). Dort schreibt er, dass sie »so etwas wie Freunde« waren, die es bis an die Schwelle der Duz_____________ 10 Vgl. z.B. den Brief an Agnes E. Meyer, 8.3.1944 (Mann / Meyer: Briefwechsel, S. 543). Das Goethe-Zitat stammt aus dem West-östlichen Divan, Buch des Unmuths: »Wenn wir andern Ehre geben/ Müssen wir uns selbst entadeln./ Lebt man denn wenn andre leben?«. 11 Die Belege: GKFA 2/1, S. 425, 509; GKFA 14/1, S. 208; GKFA 21, S. 359. 12 Vgl. Wysling: Mann und Hauptmann, S. 171f.
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brüderschaft brachten. Hier ist jedoch zu betonen, dass diese Sympathie lediglich für die menschliche Seite ihrer Beziehung galt. Auf der Ebene der literarischen Konkurrenz mussten ihre Ansprüche auf Repräsentanz der deutschen Literatur früher oder später kollidieren. Hauptmanns Ruhm verdankt sich seinen Triumphen auf dem Theater, also gerade in der Arena, in der Manns Versagen gleichsam aktenkundig geworden war. Und da in Deutschland nach wie vor der Dramatiker mehr galt als der Romanschriftsteller, musste die Entthronung dieses Königs der deutschen Literatur ebenso drastisch wie effektvoll ins Werk gesetzt werden. Dies geschah im Zauberberg in der Figur des Mynheer Peeperkorn, einem nur notdürftig verkleideten Porträt Hauptmanns. Thomas Mann wiegelt ab, wenn er in seinem Nachruf dieses Porträt lediglich als »Persiflage« des Typs der großen Persönlichkeit darstellt.13 Auf der tieferen, symbolischen Ebene jedoch, die hier vor allem zählt, wird Hauptmann in seiner ganzen »majestätischen Unzulänglichkeit« bloßgestellt, die ihn, der sich anstößigerweise in Aussehen und Gebaren als einen zweiten Goethe stilisierte, ein für alle Mal als Nationalschriftsteller disqualifizieren sollte. Es handelt sich hier um nichts weniger als eine Entmannung und Tötung – einen mit Schiller’schem Elan vollzogenen Königsmord. Die Bedeutung der Mann-Hauptmann-Rivalität reicht nun aber über das Niveau einer süffigen Klatschgeschichte aus dem Fundus der deutschen Literaturgeschichte weit hinaus, denn sie erhellt einen allmählichen Klimawechsel in der deutschen Literatur und Kultur insgesamt, der, sehr verkürzt gesagt, die Verdrängung des »Dichters« im emphatischen Sinn aus seiner einstmals unumstrittenen Vorrangstellung zur Folge hatte und dem »Schriftsteller« zur intellektuellen Herrschaft verhalf. Dieser Klimawechsel, den manche Verehrer Thomas Manns, wie etwa Josef Ponten,14 aufhalten wollten, beförderte das Absterben des grosso modo »naiven«, das Vorbild Goethes beschwörenden Dichters vom Schlage Hauptmanns und das Hervortreten des an Schiller orientierten, »sentimentalischen« Schriftsteller-Intellekuellen vom Schlage Thomas Manns. Damit war ein großer Schritt zur Modernisierung der deutschen Literatur getan. Die ersten unmissverständlichen Vorboten dieses Klimawechsels im Werk Manns sind, wie gezeigt, in Schwere Stunde auszumachen; ihre Nachwirkungen haben seine ganze Schriftstellerschaft nachhaltig geprägt. In der Identifikation mit dem 1905 noch als degradiert geltenden Schiller schlug er mitten in einer Phase der Unsicherheit und des Experimentierens die Richtung ein, die ihn auf den Weg zum Tod in Venedig und zum _____________ 13 Ebd., 278. 14 Vgl. dazu passim: Thomas Mann und Josef Ponten.
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Zauberberg führte und damit zu der mit Schillerscher Glut erstrebten Größe. Und indem er in dem Wallenstein-Dichter die intellektuelle Potenz hervorkehrte, die ihn beflügelte, Goethe gegenüber seinen Mann zu stehen, wappnete er sich selbst für die unvermeidliche Auseinandersetzung mit Hauptmann und den anderen Rivalen. Er wappnete sich dabei auch für die nach den Betrachtungen eines Unpolitischen übernommene Rolle des Intellektuellen und Schriftstellers, der Verantwortung übernimmt für das politische Wohlergehen seines Landes. Nicht zuletzt, so darf man vermuten, war es die Erinnerung an den »Helden« Schiller, die ihn in den politischen Fährnissen des Zwanzigsten Jahrhunderts in seiner Rolle des standhaften Zinnsoldaten den Rücken stärkten15 – so etwa 1922 in seinem Bekenntnis zur Weimarer Republik, das den Mut zur Selbstkorrektur erforderte, oder 1930 in seinem Appell an die Vernunft, der ihm ein hohes Maß republikanischer Zivilcourage im Geiste Schillers abverlangte. Es sind diese Langzeitwirkungen der frühen Identifikation mit Schiller, die die Unzulänglichkeit des Begriffs des Nationalschriftstellers nach dem Untergang des Kaiserreichs, aus dem er stammt, offenbar werden lassen. Dieser Begriff, der auf den Thomas Mann von 1905 bis etwa 1918 durchaus zutrifft, ist der eigentlichen Bedeutung nach, die diesem Schriftsteller im kulturellen Gedächtnis der Deutschen im 20. Jahrhundert zuwachsen sollte, letztlich unangemessen. Die gilt auch für den Ehrentitel Praeceptor Germaniae, der ihm zuerst 1919 im Gefolge der Betrachtungen und unter wechselnden ideologischen Vorzeichen später immer wieder zugeschrieben wurde.16 Was Thomas Mann uns heute ist, schreibt sich zu einem beträchtlicheren Teil als noch beim letzten Gedenkjahr 1975 von seiner Zeitzeugenschaft in dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte her. Diesem Sachverhalt ist wohl am ehesten Adorno nahe gekommen, als er 1952 den Faustus-Autor für seine Frankfurter Studenten als den »Repräsentant[en] der großen deutschen Tradition« bezeichnete, der in der Nachfolge Nietzsches diese Tradition der Kritik unterzog. So ruhe auf Thomas Manns Namen, »als dem einzigen eines heute lebenden deutschen Dichters […] aller Glanz der Authentizität«.17 Es ist eine Authentizität, die er sich vornehmlich durch seine Deutschlandkritik erworben hat und die am _____________ 15 Hans Christian Andersens Märchen Der standhafte Zinnsoldat galt ihm im Rückblick des Alters als das »Symbol meines Lebens«. Brief an Agnes E. Meyer, 9.2.1955 (Mann / Meyer: Briefwechsel, S. 797). Dazu ausführlich Vaget: Tin Soldier. 16 Elster, S. 62; vgl. dazu GKFA 22, S. 14, 781f. 17 Adorno: Imaginäre Begrüßung, S. 469. Adorno hat diesen Text für Max Horkheimer, den damaligen Rektor der Universität, geschrieben, der jedoch aus unbekannten Gründen keinen Gebrauch davon machte; gleichwohl ist diese imaginäre Begrüßung als ein unveräußerliches Zeugnis der problematischen Mann-Adorno-Beziehung zu werten.
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Werk ablesbar ist. Es ist ein Werk, das wie kein anderes die mentalitätsgeschichtliche Inkubationszeit der deutschen Katastrophe zu erhellen vermag. Literaturverzeichnis Mann, Thomas: Große Kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 2. Frühe Erzählungen 1893–1912. Text u. Kommentar. Hg. von Terence J. Reed. Frankfurt/M. 2004. Mann, Thomas: Der Tod in Venedig. In: T. M.: Große Kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 2/1. Frühe Erzählungen 1893–1912. Hg. von Terence J. Reed. Frankfurt/M. 2004, S. 501–592. Mann, Thomas: Schwere Stunde. In: T. M.: Große Kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 2/1. Frühe Erzählungen 1893–1912. Hg. von Terence J. Reed. Frankfurt/M. 2004, S. 419–428. Mann, Thomas: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. 2001ff. Bd. 14. Essays I 1893–1914. Text u. Kommentar. Hg. von Heinrich Detering. Frankfurt/M. 2002. Mann, Thomas: Ein Nachwort. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. 2001ff. Bd. 14/1. Essays I 1893–1914. Hg. von Heinrich Detering. Frankfurt/M. 2002, S. 88–92. Mann, Thomas: Kritik und Schaffen. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. 2001ff. Bd. 14/1. Essays I 1893–1914. Hg. von Heinrich Detering. Frankfurt/M. 2002, S. 47–50. Mann, Thomas: Süßer Schlaf. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. 2001ff. Bd. 14/1. Essays I 1893–1914. Hg. von Heinrich Detering. Frankfurt/M. 2002, S. 202–209. Mann, Thomas: [Über die Kritik]. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. 2001ff. Bd. 14/1. Essays I 1893–1914. Hg. von Heinrich Detering. Frankfurt/M. 2002, S. 86f. Mann, Thomas: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 15. Essays II 1914–1926. Text u. Kommentar. Hg. von Hermann Kurzke. Frankfurt/M. 2002 Mann, Thomas: Goethe und Tolstoi. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 15/1. Essays II 1914–1926. Hg. von Hermann Kurzke. Frankfurt/M. 2002, S. 809–936. Mann, Thomas: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 21. Briefe I 1889–1913. Hg. von Thomas Sprecher. Frankfurt/M. 2002. Mann, Thomas: Fiorenza. In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. VIII. Frankfurt/M. 1990, S. 961–1067. Mann, Thomas: Die Entstehung des Doktor Faustus. In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. XI. Frankfurt/M. 1990, S. 145–301. Mann, Thomas: Vorwort zu Order of the Day. In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. XIII. Frankfurt/M. 1990, S. 169–180.
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Hans R. Vaget
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OLIVER JAHRAUS
Die Geburt des Klassikers aus dem Tod der Figur Autorschaft diesseits und jenseits des Textes Der Tod in Venedig von Thomas Mann
I. Hybride Repräsentanz Was immer man sich unter dem Begriff der hybriden Repräsentanz bei Thomas Mann vorstellen mag, sie findet eine ganz eigentümliche Konkretisierung in den Umständen, die zur Niederschrift der Novelle Der Tod in Venedig im Jahre 1911 geführt haben1 und dann auch strukturbildend, signifikant und konzeptionell in diesen Text mit eingeflossen sind. Es geht dabei um die schriftstellerischen und persönlichen Probleme, mit denen Thomas Mann sich bei der Idee, der Konzeption und der Niederschrift des Textes konfrontiert sah und die er mit einem neuen Werk, eben mit dieser Novelle, nicht nur in den Griff bekommen, sondern auch überwinden wollte. Eine Problemkonstellation, die sein Schreiben bislang und immer deutlicher beherrschte, sollte so bearbeitet und schließlich aufgelöst werden, dass sich daraus zudem die Grundlage für ein neues schriftstellerisches Selbstverständnis ergeben sollte. Und dies wiederum sollte die Grundlage für eine neue Form der schriftstellerischen Selbstrepräsentation in der Person des Autors durch die Person des Autors werden. Insofern gehen auch diese Ausführungen der generellen Fragestellung nach, weshalb Thomas Mann eine solch repräsentative Stellung im literarischen Leben und im Literatursystem nicht nur seiner Zeit erlangen konnte. Diese Umstände, von denen die folgenden Überlegungen ihren Ausgang nehmen, sind weitgehend bekannt,2 und wohl nirgendwo schöner zum Ausdruck gebracht worden als im Kommentar zu dieser Erzählung von Hans R. Vaget: _____________ 1 Zur Entstehungsgeschichte siehe GKFA 2/2, S. 360–372. 2 Zum biographischen und werkgeschichtlichen Kontext siehe z.B. Kurzke: Leben als Kunstwerk, S. 193ff.; Mendelssohn: Zauberer. Bd. 2, S. 1478ff.; Harpprecht: Mann, S. 339ff.
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Oliver Jahraus
Es gehört zu den frappantsten Ironien dieser an Ironien reichen Schriftstellerschaft, daß Thomas Mann – einem Märchenhelden vergleichbar, der nach vollbrachter Tat die Attribute des Riesen erwirbt, den er erschlagen- erst selbst noch Aschenbach werden mußte, nachdem er den Aschenbach in sich selbst diagnostiziert und ›respektvoll erschüttert‹ zu Tode gebracht hatte.3
Mit dem Begriff der Repräsentation allein wird man sicherlich einige zentrale Aspekte dieser Ausgangslage beschreiben können, man wird aber dort an Grenzen stoßen, wo es darum geht, diese Form der Repräsentanz auf den Text selbst zurückzuführen, weil diese Idee der Repräsentation Modelle strikter Zweiwertigkeit, zwischen Leben und Werk, Autor und Figur vorgibt, deren unterschiedene Sphären nicht ineinander übersetzbar sind.4 Es ist gerade ein Kennzeichen einer in vielfacher Hinsicht überholten und wenig ertragreichen biographischen Lesart, Leben und Werk so in Beziehung zu setzen, dass das Leben zugleich als Interpretament des Textes dient. Und es ist auch aus systematischen Gründen im eigentlichen Wortsinne sinnlos, weil Sinn gerade die Überbrückung unüberbrückbarer Grenzen zwischen den Sphären voraussetzt. So unbestritten dies in der Literaturtheorie ist, so verlockend ist es doch zumal bei den biographischen Ansätzen zu einer Person und Persönlichkeit wie der Thomas Manns. Ein solcher Begriff von Repräsentanz würde zum Beispiel die Frage nach dem Verhältnis von Autor und Figur aufwerfen, dabei durchaus die vielfältigen Formen der Verschriftlichung bei gleichzeitiger Camouflage5 eruieren, ohne aber die produktiven Rekonstellierungen wahrnehmen zu können. Der Begriff der Repräsentanz verbleibt so immer in einem Rahmen, dessen Struktur durch die Wendung von Leben und Werk vorgegeben wird, ohne dass die textuelle Signifikanz kontextueller Faktoren literaturanalytisch in den Blick genommen werden könnte. Aus dieser Sackgasse findet man heraus, wenn man den Begriff der Repräsentanz mit dem Moment des Hybriden verknüpft. Dazu ist es in einem ersten Schritt notwendig, die Repräsentanz der Figur auf der einen Seite und die Repräsentanz des Autors auf der anderen Seite ins Verhältnis zu setzen, um deutlich zu machen, inwiefern diese Repräsentanzen zwar funktional voneinander abhängen, aber doch tendenziell gegenläufig sind. Walter H. Sokel hat zum Beispiel für die Figur Aschenbachs den Begriff der repressiven Repräsentanz geprägt und dabei auf den Zusammenhang von Haltungsethik und Faschismus abgehoben, der sich an dieser Figur ablesen lasse.6 Setzt man nun die Repräsentanz der Figur und die Repräsentanz des Autors, wie sie nicht zuletzt auch von dieser Figur abhängt, _____________ 3 4 5 6
Vaget: Erzählungen, S. 580. Siehe hierzu Heller: Autobiographie, S. 83–100. Im Sinne von Detering: Geheimnis. Sokel: Demaskierung, S. 387–412. Siehe auch Häfele / Stammel: Mann, S. 76f.
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selbst wiederum in ein Verhältnis der Repräsentanz, so könnte man diese Repräsentanz hybrid nennen. Hybrid würde in dem Fall eine produktive Verschränkung und wechselseitige Durchdringung zweier und zweiwertig getrennter Ebenen bedeuten. Mit der repressiven Repräsentanz der Figur gelingt es dem Autor nicht nur, die eigene Form der Repression zu diagnostizieren und darüber hinaus die gesamte schriftstellerische Problemkonstellation zu durchschauen, sondern mehr noch, diese Problemkonstellation in der Diagnose auch schon zu überwinden. Hybride Repräsentanz meint also genau jenen komplexen Prozess, in der eine Figur geschaffen wird, die ihren Autor so repräsentieren kann, dass auch dieser wiederum seine Repräsentanz aus dem literarischen Leben heraus in der Gesellschaft wahrnehmen kann, aber die gleichzeitig doch auch so destruiert wird, dass aus dieser Destruktion eben auch eine Form der schriftstellerischen Selbstverständigung und die Vermittlung an die Gesellschaft resultiert. Will man es schlagwortartig auf die Figur reduzieren, derzufolge die Figur Gustav von Aschenbach Thomas Mann repräsentiert, so wie dieser sich selbst der Gesellschaft gegenüber repräsentiert, so muss man auch die zweite Figur hinzufügen, dass die eigentliche Repräsentanz nicht aus der Figur allein, sondern aus ihrer Destruktion, aus ihrem Tod am Ende der Novelle resultiert. Projektion auf die Figur und Absetzung von der Figur im selben Gestus – das ist das Geheimnis und die Kernidee der hybriden Repräsentanz. Dass eine »respektvoll erschütterte« Welt die Nachricht vom Tode Gustav von Aschenbachs empfängt (GW VII, S. 525 bzw. GKFA 2/1, S. 592), ist – bei einer oberflächlichen Betrachtung der erzählten Geschichte – darauf zurückzuführen, dass die Welt nichts weiß von der Art, wie dieser Gustav von Aschenbach seinen Grundsätzen in Venedig untreu geworden ist und wie er sich in dieser Obsession zu dem Knaben Tadzio lächerlich gemacht hat. Der Grund, warum man der Figur textintern immer noch mit Respekt begegnet, liegt – verlässt man diese Textebene – an der hybriden Repräsentanz. Am Ende, nach dem vollzogenen Prozess, der Repräsentanz hybride werden lässt, gilt der Respekt dem Autor, der aber auch ein anderer geworden ist im Laufe seines Textes. Hybridität meint damit eine Dreierkonstellation, die an die Definition dreiwertig zeichenhafter Strukturen erinnert. In dem Maße, wie Thomas Mann sich produktiv in Gustav von Aschenbach entwirft und gleichzeitig von der Figur absetzt, in dem Maße gewinnt er selbst eine Bedeutung in der schriftstellerischen Projektion seiner Bedeutung, mithin seiner Repräsentanz. Noch einmal Hans R. Vaget: »Mit dem Tod in Venedig erwarb sich
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Thomas Mann den Nimbus des Klassikers, den er auf seinen Helden projiziert hatte«.7 Wenn man diese Makrostruktur genauer in den Blick nehmen wollte, würde es sich anbieten, hier diese Zeichenstrukturen zu rekonstruieren. Im Zentrum des Interesses der folgenden Überlegungen steht jedoch diese Gleichzeitigkeit von Konstruktion und Destruktion. Diese Dichotomien vom Leben des Autors und dem Tod der Figur, Untergang und Überleben, von Respekt und Lächerlichkeit sind es, die die Gegenüberstellung von Leben und Werk dynamisieren und ihre signifikative Funktion deutlich werden lassen. Es geht in der Tat darum, das Verhältnis zwischen Leben und Werk aufzuklären, aber nicht im Sinne eines Biographismus, sondern in der Art und Weise, die beide Sphären – durchaus im Sinne einer Konzeption von Lebens-Werk, wie sie Rolf Günter Renner entworfen und untersucht hat8 – als wechselseitig bedeutungsstiftend miteinander in Beziehung setzen kann. Aus diesem Grund soll auf der Basis einer avancierten Kommunikationstheorie eine biographische Problemkonstellation rekonstruiert werden, auf die dann der Tod in Venedig auf so verblüffend durchschlagende Art und Weise antwortet und dabei einen nicht unwesentlichen Beitrag zur Selbsterfindung des Großschriftstellers Thomas Mann leistet. Die Wahl dieses methodischen Zugangs hat folgenden Grund: Nur entsprechende Kommunikationstheorien können helfen, das Verhältnis von Leben und Werk, die völlig unterschiedlichen, nicht aufeinander rückführbaren und ineinander nicht übersetzbaren Sphären angehören, in ein Verhältnis von Text und Kontext, die geradezu konstitutiv textuell miteinander interagieren, zu überführen. Es geht vor allem darum, an den Strukturen des Textes, aber vor allem auch an den Strukturen, die den Text transzendieren und Text und Kontext, System und Umwelt, textimmanente Kommunikation und texttranszendente Kommunikation miteinander verbinden, nachzuvollziehen, inwiefern es Mann gelingen konnte, nicht nur die schriftstellerischen Probleme, die ihn im Vorfeld des Tod in Venedig beschäftigten, zu lösen, sondern mit dieser Lösung darüber hinaus auch noch so etwas wie die eigene Repräsentanz zu untermauern, ja, auf eine neue Grundlage zu stellen. Um aber überhaupt so etwas wie eine textuelle Reaktion auf eine kontextuelle Situation konzeptualisieren zu können, ist eine Theorie vonnöten, die beides miteinander verbindet, die beides differenziert und doch aufeinander beziehbar macht.
_____________ 7 Vaget: Erzählungen, S. 580. 8 Vgl. Renner: Lebens-Werk.
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II. Kompaktkommunikation Im Folgenden soll eine Problemkonstellation skizziert werden, die man das Vorfeld des Tod in Venedig nennen könnte: ein Konglomerat aus strategischen Überlegungen und Rücksichtnahmen, die Thomas Mann anstellte und von denen er umfangreich Rechenschaft ablegte, in Notiz- und Tagebüchern ebenso wie in Briefen, wie er sich spätestens im Jahre 1911 den Fortgang seines Werkes und damit die Fortsetzung seiner Schriftstellerexistenz vorstellte.9 Dabei stellt sich eine zentrale Frage: Wie reagiert der Text Der Tod in Venedig auf eine von Thomas Mann selbst vielfältig diagnostizierte Problemkonstellation aus dem Vorfeld des Tod in Venedig? Wenn man diese Frage beantworten kann, so die hier verfolgte Hypothese, lassen sich dadurch viele andere Fragen klären, zum Beispiel die nach dem eigentlichen Thema des Tod in Venedig, nach der Bedeutung schriftstellerischer Repräsentanz, aber auch nach der Bedeutung des Motivs der Knabenliebe.10 Insbesondere wird vor diesem Hintergrund die geradezu strategisch eingesetzte Funktion dieses Motivs der Knabenliebe deutlich, was in konsequenter Weiterführung noch einmal die Idee der hybriden Repräsentanz unterstreicht. Das Motiv der Knabenliebe ist ein biographisch relevantes Element, aber es ist gleichzeitig – wie zu zeigen sein wird – eine gerade notwendige textuelle Funktion. Hybride Repräsentanz würde vor diesem Hintergrund bedeuten, dass der Text eben nicht nur die Verschriftlichung einer persönlichen Problematik darstellt, wie sie sich in der Frage bündeln ließe, wie man repräsentativer Schriftsteller sein und als solcher sich selbst Rechenschaft über die eigene Homosexualität ablegt. Vielmehr würde geradezu in entgegengesetzter Blickrichtung deutlich werden, wie diese hybride Form der Repräsentanz überhaupt erst auf der Basis der Funktion, die das Motiv der Knabenliebe erfüllt, entstehen kann. Geht man also von Text und Kontext und ihren Interaktionsformen aus, so lässt sich dieses Zusammenspiel nicht mehr in bloßen und zweidimensionalen Repräsentationen beschreiben. Erst dort, wo es nicht mehr darum geht, in Gustav von Aschenbach nur eine fiktionale Repräsentanz des Autors Thomas Mann zu sehen, kann man aufzeigen, inwiefern die selbstvermittelte Vorstellung von Thomas Mann in die Funktion und Position eines bedeutungsstiftenden Kontextes für die textuelle Figur Aschenbach rückt, so wie gleichzeitig Gustav von Aschenbach wiederum diese Vorstellung ihres Autors mit konstituiert. Es geht gerade darum, die Differenz zwischen Thomas Mann und Aschenbach, oder deutlicher, sys_____________ 9 Siehe hierzu auch Reed: Mann, sowie Bahr: Mann. 10 Vgl. hierzu Härle: Männerweiblichkeit, S. 158ff.; Schmidt: Künstler, S. 437–446 und Häfele / Stammel: Mann, S. 83ff. Zum Motivzusammenhang generell siehe Nicklas: Manns Novelle.
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temtheoretisch gesprochen, die Einheit in dieser Differenz von Mann und Aschenbach zu sehen. Aber diese Einheit der Differenz ist bestenfalls das Produkt eines komplexen Prozesses, der lediglich im Text Tod in Venedig eine gewisse Verdichtung und Kristallisation erfährt, der aber sich über Thomas Manns gesamte schriftstellerische Existenz hinzieht. Die Interaktion von Text und Kontext macht kontextuelle Strukturen textuell nachvollziehbar. Man könnte diese Überlegungen in der Hypothese zuspitzen, wonach die Interaktion zwischen Text und Kontext, zwischen Figur und Autor ein Prozess ist, der wiederum als hybride Repräsentanz beschreibbar ist, und dass das, was man die Selbsterfindung des Autors Thomas Mann nennen könnte, nichts anderes als eben dieser Prozess ist. So ist von einem doppelten Kommunikationsprozess auf der Ebene des Autors und auf der Ebene des Textes auszugehen, wobei der Text selbst die Grenze und damit auch das verbindende Moment beider Kommunikationsdimensionen ist. Das bedeutet für eine solche Konzeption, dass es erstens darauf ankommt, sowohl die Ebenendifferenz zwischen der Ebene des Autors und der Ebene des Textes so voneinander zu differenzieren, dass sie gerade dadurch eben wieder aufeinander bezogen werden können, denn auf diesen beiden Ebenen bzw. auf dem Zusammenspiel dieser beiden Ebenen beruht die Selbsterfindung Thomas Manns im Kontext des Tod in Venedig. Zweitens kommt es darauf, dass man den Prozesscharakter dieser Selbsterfindung ernst nimmt. Differenz und Prozessualität sind die theoretischen Leitbegriffe, die die hier vorgestellte Textanalyse grundieren. So soll erfasst werden, was Dorrit Cohn zum Beispiel den »second author of Der Tod in Venedig«11 oder was Bernhard Böschenstein »das System komplexer Signalisierungen als Kommunikationsform«12 nennt. Und hierzu dient – wie schon angeklungen – im Folgenden die Systemtheorie mit ihrem Kommunikationsbegriff. Dabei soll nur ein einziges Stichwort herausgegriffen werden, das ganz zentral die hier angesprochene Problematik auf den Punkt bringt und Text und Kontext in ein interpretatorisch operationables Verhältnis setzt: das der Kompaktkommunikation. Luhmann hat diesen Begriff für die Form der Kommunikation, wie sie im Kunstsystem spezifisch ist, geprägt. Luhmann geht davon aus, dass Kunst – und man kann hier problemlos anfügen – selbstverständlich auch Literatur – so wie jedes andere soziale System aus nichts anderem als aus Kommunikationen besteht. Ja, Luhmann schreibt sogar in diesem Zusammenhang: »In der Kunst wird Kommunikation – fast könnte man mit _____________ 11 Cohn: Second Author, S. 223–245. 12 Böschenstein: Der Tod in Venedig, S. 117.
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einem fragwürdigen Begriffe sagen: Selbstzweck«. Ein Kunstwerk ebenso wie ein literarischer Text ist »Kompaktkommunikation« und somit auch ein »Programm für zahllose Kommunikationen über Kunst«.13 Der Begriff der Kompaktkommunikation bringt somit den Sachverhalt kommunikativer Ebenenüberlagerung auf den Begriff. Er zielt genau darauf ab, dass schriftliche, aber vor allem literarische Texte sowohl Kommunikation enthalten, vorführen und darüber hinaus auch selbst (intern) vollziehen als auch Bestandteil und Ereignis von Kommunikation (extern) über diese interne Kommunikation und anlässlich dieser internen Kommunikation sind: Kompaktkommunikation meint genau diese Gleichzeitigkeit, Verschränkung und wechselseitige Konturierung von Kommunikation im Text (oder des Textes) und Kommunikation über den Text bzw. über den Text hinaus. Der Begriff der Kompaktkommunikation bezeichnet die Verhältnisbestimmung von Text und Kontext gerade auch auf textueller Basis. Kompaktkommunikation bedeutet demnach das Switching des Textes zwischen der Ebene der Textualität und der der Kommunikation. Die Kommunikation im Text macht also dasjenige aus, was man als Text bezeichnet, die Kommunikation, in der der Text selbst steht, macht dasjenige aus, was man als Kontext bezeichnet. Bei Luhmann findet sich die Formulierung, wonach das System die Differenz zwischen System und Umwelt sei.14 Diese Struktur kann man daher auch auf den Text übertragen.15 Den Text selbst kann man als Grenzmarkierung und als Differenz zwischen Text und Kontext betrachten, als Grenze unterschiedlicher, aber aufeinander bezogener Kommunikationsprozesse: der Text also als Einheit der Differenz von Text und Kontext. Entscheidend ist nun aber, dass die Kommunikation im Text und der Text in der Kommunikation nicht unabhängig voneinander sind, aber sich auch nicht vollständig in direkter Repräsentation aufeinander abbilden lassen. Man könnte, wollte man diesen Gedanken weitertreiben, dem Verhältnis zwischen literarischer Kommunikation und ihrer Umwelt eine Form hybrider Repräsentanz unterstellen. Luhmann selbst hat eine Vorstellung vom Kommunikationsprozess entwickelt, der in sich selbst permanent zwischen Information und Mitteilung unterscheidet und solche Unterscheidungen, Verstehen genannt, für weitere Unterscheidungen zur Verfügung stellt.16 Man könnte aber genauso gut Signifikation oder Bedeutungserzeugung dazu sagen. Verstehensprozesse oder Bedeutungen auf der Ebene der _____________ 13 14 15 16
Luhmann: Kunstwerk, S. 627. Z.B. hier: Luhmann: Gesellschaft, S. 63ff. Jahraus: Literatur, Kap. 6, 8. Luhmann: Soziale Systeme, S. 196ff.
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Kontext-Kommunikation sind nicht unabhängig von den Verstehensprozessen und Bedeutungen auf der Ebene des Textes selbst, aber sie determinieren diese auch nicht. Nun liegt zwischen Nicht-Determination und Abhängigkeit eine breite Spanne, die aber im Begriff der Kompaktkommunikation überbrückt wird, indem nämlich die Differenz zwischen den Ebenen in der Figur der Einheit der Differenz gefasst wird. Und genau dieser Umstand lässt sich sehr schön am Beispiel des Tod in Venedig nachverfolgen. Dabei kann gezeigt werden, wie sich Text und Kontext so spannungsreich und doch notwendig aufeinander beziehen, wie Thomas Mann seine eigene Repräsentation entwirft und konturiert, indem er sich produktiv und textkonstitutiv mit der Repräsentation des Gustav von Aschenbach auseinandersetzt. Das Verhältnis dieser beiden Repräsentanzen ist aber nun selbst wiederum nicht, jedenfalls nicht vollständig als Repräsentation zu modellieren: es ist eben hybride Repräsentanz. III. Im Vorfeld Und spannungsreich war dieses Vorfeld des Tod in Venedig allemal: Aus heutiger Sicht muss dieser Text, gemessen an der Problemkonstellation, auf die er reagiert und antwortet, in der Tat als Meisterwerk gelten, wenn man nicht von vornherein annimmt, dass er eigentlich ein unmöglicher Text ist. Um sich dies zu verdeutlichen, darf man nicht von der heutigen, nachträglichen Sicht ausgehen, sondern muss sich vielmehr in die Situation Thomas Manns im Jahre 1911 versetzen, als der Tod in Venedig noch nicht einmal begonnen worden war. Die Ausgangslage war geradezu prekär, wie man das bei Hans R. Vaget17 oder aber mittlerweile noch detailreicher und stärker auf diese Problematik zugespitzt im Kommentarband der Frühen Erzählungen in der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe nachlesen kann (GKFA 2/2, S. 360ff.). Man kann diese Ausgangssituation durchaus als Schaffenskrise verbunden mit einer tiefgreifenden Krise des schriftstellerischen Selbstverständnisses und zudem verbunden mit einer Krise in Thomas Manns eigenen schriftstellerischen Problemlösungskapazitäten einschätzen. In der Perspektive des Vorfelds war Thomas Mann zwar das Problem klar, aber es war ihm noch nicht einmal klar, welche schriftstellerischen Mittel er mobilisieren konnte, um diesem Problem überhaupt begegnen zu können. Diese Problemlage kann auf vier Ebenen mit vier zentralen Fragestellungen situiert werden: (1) Auf der Ebene der Werkentwicklung: Wie sollte das bisherige Werk fortgesetzt werden? (2) Auf der Ebene des _____________ 17 Vaget: Erzählungen, S. 580ff.
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schriftstellerischen Selbstverständnisses: Welche Konzeption der Vorstellung der eigenen Schriftsteller-Existenz sollte mit dieser Fortsetzung regelrecht ins Werk gesetzt werden? (3) Auf der Ebene der schriftstellerischen Auseinandersetzung Manns mit sich selbst: Wie kann das zukünftige Werk genutzt werden, um sich mit den eigenen Lebensproblemen produktiv auseinanderzusetzen? Und (4) auf der Ebene der eigenen Repräsentanz – und hier war die Frage nicht: Wie kann man verhindern, dass diese Auseinandersetzung die eigene repräsentative Stellung gefährdet? Sondern genau umgekehrt: Wie kann diese Auseinandersetzung selbst dazu genutzt werden, die eigene repräsentative Stellung noch mehr zu untermauern und auszubauen, ja auf ein neues Niveau der intendierten Meisterschaft zu heben? Um diese Entwicklung in markanten Stationen nachzuverfolgen: Thomas Mann war nach den Buddenbrooks aus dem Jahre 1901 zwar in die erste Reihe deutscher Schriftsteller aufgerückt, aber weder der Roman Königliche Hoheit noch die kleineren Erzählungen wie zum Beispiel Der kleine Herr Friedemann, Tonio Kröger oder der Novellenband Tristan waren dazu angetan, diese Stellung weiter auszubauen. Thomas Mann fürchtete sogar, nachdem die Kritik dem Roman Königliche Hoheit nicht das Gewicht wie den Buddenbrooks zuerkannt hatte – zu Recht wohl –, dass der einmal erreichte Ruhm als Autor nicht zu halten wäre. Also musste ein neues Werk geschrieben werden, das diesen Ruhm nicht nur erhalten, sondern sogar festigen und womöglich ausbauen konnte. IV. Die Pläne Auf dieser – zugegeben einfachen – Ebene der Problemrekonstruktion kann man nun die Pläne für ein neues Werk ins Feld führen, die Thomas Mann wohl zu dieser Zeit hegte, die nicht verwirklicht wurden, die aber statt dessen als verwirklichte Werke des Gustav von Aschenbach in die Fiktion der Novelle einflossen. Zu nennen sind hier der Großstadtroman Maja, der Essay Geist und Kunst, der in seiner Bedeutung, Funktion und thematischen Ausrichtung nicht weniger leisten sollte, als die Tradition von Schillers Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung fortzuschreiben, und schließlich ein Roman über Friedrich den Großen.18 Und hier kann man mit der Frage einhaken, warum denn nun all diese Werke nicht entstanden sind, warum ihre Verwirklichung statt dessen in die Fiktion des dann entstandenen Werkes Tod in Venedig gewandert ist _____________ 18 Siehe hierzu z.B. Mendelssohn: Zauberer. Bd. 2, S. 1481f. und Wysling: Aschenbachs Werke, S. 272–314.
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und warum die Fiktionalisierung dieser Werke »den Charakter des Abschiednehmens von diesen Plänen«19 hat. Anscheinend waren diese Werke in welcher Form auch immer nicht dazu geeignet, die Krisensituation zu lösen, sie waren aber sehr wohl dazu geeignet, in ihrer fiktionalen Realisierung die Schriftstellerfigur des Gustav von Aschenbach zu charakterisieren und zu profilieren und Gustav von Aschenbach als Figur und mithin als artifizielles Instrument zum Medium der Diagnose der eigenen Problemkonstellation als Schriftsteller einzusetzen. Wenn man nun die nicht entstandenen Werke auf der Autorebene und die fiktional entstandenen Werke auf der Textebene als zwei kommunikative Ereignisse versteht, die in der Kompaktkommunikation des Textes aufeinander bezogen werden, dann lässt sich daraus eine Antwort ableiten, warum diese Texte tatsächlich nicht entstanden sind, soll heißen, warum diese Werke keine Problemlösungskapazität für Thomas Mann in der besagten Krisensituation seines Schaffens hatten. Was diese Fiktionalisierung eigener schriftstellerischer Pläne mit sich brachte, war eine besondere Autoreflexivierung. In dem Moment, in dem sie einer fiktionalen Schriftstellerfigur zugesprochen wurden, mussten sie gar nicht mehr geschrieben werden, weil sie ihre Funktion auch so erfüllten. Man(n) musste diese Werke nicht selber schreiben, es reichte aus, sie Gustav von Aschenbach schreiben zu lassen, um ihre Bedeutung – und zwar für Thomas Mann selbst – in Funktion treten zu lassen. Was diese Werke als verwirklichte nicht zu leisten imstande gewesen wären, das leisteten sie als fiktionalisierte. Sie schufen die Möglichkeit einer schriftstellerischen Selbstverständigung, sogar, wie Rolf Günter Renner sagt, einer ästhetischen Konstruktion20 im autoreflexiven Medium einer Schriftstellerfigur. So wenig diese Werke helfen, Gustav von Aschenbach aus seiner Krisensituation zu befreien, ja mehr noch, ihn überhaupt erst davor zu bewahren, so wenig hätten sie Thomas Mann geholfen. Es war also nicht nur notwendig, diese Werke nur auf der fiktionalen Textebene zu verwirklichen, es war gleichermaßen notwendig, sie auf der realen Autorebene eben gerade nicht zu verwirklichen – und auch das meint hybride Repräsentatanz. Man kann hier ein markantes Beispiel für das Zusammenspiel der Ebenen in der Kompaktkommunikation erkennen. Das heißt nun aber: Ein Werk, das auf die dargestellte Problemkonstellation antworten kann, muss ein Werk sein, das in der Lage ist, sich reflexiv eben jener Problematik anzunehmen, aus der heraus es überhaupt erst entsteht. Dieses Problem war nicht auf der Ebene herkömmlicher Themenstellungen zu lösen, sei es nun die Großstadt, die deutsche Ge_____________ 19 Kurzke: Epoche, S. 120. 20 Renner: Das Ich.
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schichte oder selbst eine Kulturtheorie eigener Art, nein, es musste vielmehr das Thema schlechthin sein, das mit seiner Thematisierung unweigerlich verflochten ist, es musste das Thema der Autorschaft sein. Autorschaft ist ein autoreflexives Thema der Literatur schlechthin. Und Autorschaft ist damit jenes Thema, das den Brückenschlag über die Textgrenze hinweg herstellt. Ein Text kann gar nicht Autorschaft verhandeln, ohne gleichzeitig zumindest implizit auf die Autorschaft seines Autors zu verwiesen. Autorschaft diesseits und jenseits der Textgrenze schafft jene Einheit in der Differenz, in der nicht nur Repräsentation verhandelt werden kann, sondern zum Beispiel auch die ironische Desavouierung des Erzählers jener Repräsentationsgeschichte möglich ist. Die Problemlösungskapazität, die von dem Text verlangt wurde, wie er im Vorfeld des Tod in Venedig konzipiert wurde, musste sich demnach konstitutiv auf Autorschaft beziehen lassen. Hier liegt die konzeptionelle Geburtsstunde des Schriftstellers Gustav von Aschenbach. Die Figur Gustav von Aschenbach ist für Thomas Mann ein textuelles Reflexionsmedium jener schriftstellerischen Probleme, der sich Aschenbach und der Tod in Venedig selbst verdanken: eine self-fulfilling prophecy im positiven Sinn, allerdings im negativen Gestus. Oder, technisch ausgedrückt: Gerade die Betrachtung von Autor- und Textebene verweist auf ein Zusammenspiel, das thematisch als Autorschaft gefasst werden kann. Hans R. Vaget hat durchaus Recht, wenn er in der »Verführung durch den Erfolg«, in der »tragische[n] Verirrung eines Künstlers«, den »Kern der AschenbachThematik«21 sieht, so eine Folgerung aus der Ausgangshypothese, dieser Kern könne sich überhaupt erst auf der Grundlage der Autorschaftsthematik entfalten. V. Der Klassiker Natürlich repräsentiert Gustav von Aschenbach seinen Autor – und zwar in zweifacher Hinsicht: zum einen ist er ein Klassiker mit dem Anspruch auf Meisterschaft, zum anderen entdeckt er eine homoerotische Dimension seines eigenen Lebens und Erlebens, die zudem keineswegs als unabhängig von seiner eigenen schriftstellerischen Selbstverständigung gesehen werden darf. So sehr diese beiden Dimensionen miteinander verknüpft sind, sollen sie dennoch aus analytischen Gründen zunächst getrennt behandelt werden. Zunächst zur Dimension des Klassikers: Thomas Mann musste demnach eine Figur schaffen, die das schon war, wohin er erst mit Hilfe dieser _____________ 21 Vaget: Erzählungen, S. 585.
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Figur endgültig kommen wollte, nämlich in den Status und Rang eines Klassikers. Auch hier sei der Hinweis angebracht, wie schwer es heutigen Lesern fallen mag, aus der Perspektive des unhinterfragbaren Klassikers der Moderne zurückzublicken in die Phase, in der sich Thomas Mann erst noch als dieser Klassiker erfinden musste. Auch hier die Struktur einer selffulfilling prophecy: mittels der Figur dahinzukommen, wo die Figur schon ist, und zudem sich dort zu behaupten, wo die Figur scheitert. Doch so, wie es nicht ausreicht, eine Schriftstellerfigur zu installieren, um sich selbst mit sich selbst schriftstellerisch zu verständigen, so wenig reicht es aus, diese Figur als Klassiker zu charakterisieren, um selbst Klassiker zu werden. Die Repräsentation kann sich nicht in sich selbst erschöpfen. Hätte Thomas Mann nur eine Repräsentanz seiner selbst im Text erschaffen, wäre diese Repräsentanz in sich zusammengebrochen, sie hätte ihre Funktion nicht erfüllen können; hätte Thomas Mann nur einen Klassiker vorgeführt, er wäre selbst kaum damit jemals selbst zum Klassiker avanciert. Fragt man nach den Gründen für diesen Umstand, so gelangt man unweigerlich zu der Frage: Wie konnte diese Selbsterfindung überhaupt funktionieren? Offensichtlich ist hier eine Dynamik im Spiel, die sich nicht auf die bloße Repräsentanz festschreiben lässt – und auch hier hilft die Vorstellung einer Kompaktkommunikation weiter. Denn es geht vor allem um einen autoperformativen Prozess der Selbsterfindung, die sich Vorgaben schafft, sich aber auch gleichzeitig von diesen Vorgaben absetzen muss, um überhaupt voranzukommen. Dass Thomas Mann seine Figur sterben lassen musste, um selbst als Autor neu geboren zu werden, liest man allenthalben,22 aber wie und warum es funktioniert, dazu müssen mehrere kontextuelle Faktoren berücksichtigt und in ihrem textuellen Niederschlag aufgespürt werden. Was diese Klassizität angeht, so wird deutlich – und auch hier trage ich nur bekannte Daten zusammen und ordne sie in meine Rekonstruktion ein –, dass sie an sich schon ein hochproblematisches Konstrukt darstellt. Auch wenn man die späteren, sehr zahlreichen und vielfach widersprüchlichen Selbstkommentare nur sehr bedingt heranziehen kann, so ist doch bemerkenswert, dass Mann den Typus des Gustav von Aschenbach, dessen soldatischen Geist er noch während des Ersten Weltkrieges hervorgehoben hat, später, zu Exilzeiten beziehungsweise im Essay Bruder Hitler, auch als Exponenten eines vom Totalitarismus ansprechbaren und verführbaren Künstlers gesehen hat. Ohne diesen Zusammenhang zu vertiefen, kann man doch festhalten, dass gerade dort, wo diese Figur eine solche Tendenz in sich trägt, sie Thomas Mann schlechterdings auch dazu dienen musste, sich über solche _____________ 22 Ebd., S. 580.
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Tendenzen geradezu kathartisch hinwegzuheben. Diese Tendenz zum Totalitarismus mag jedoch nur als ein Beispiel dienen, um zu zeigen, dass es Thomas Mann nicht nur um den Entwurf einer Autorschaft in Klassizität gehen konnte, sondern gleichermaßen um eine Zurücknahme oder besser gesagt: um eine Überwindung dieses Konzepts. Der Entwurf diente also dazu, die entworfene Autorschaft auch gleichzeitig schon wieder zu kritisieren und zu überwinden. Auch dieser Umstand lässt sich an Werken festmachen: Dieses Konzept von Klassizität, um überhaupt als Repräsentation fungieren zu können, ist in sich defizitär; es musste zum Beispiel all jene ironischen Elemente, die Thomas Mann charakterisieren, ausschließen. Als Autor der von Thomas Mann ungeschriebenen, repräsentativen Werke kam Gustav von Aschenbach wohl in Betracht; »als Autor beispielsweise des Tristan«, wie Hans R. Vaget schreibt, »ist Aschenbach nicht denkbar«.23 VI. Knabenliebe Die ästhetische Konstruktion des Klassikers Gustav von Aschenbach ist nun aber untrennbar verbunden mit seiner homoerotischen Erfahrung mit dem Knaben Tadzio in Venedig. Das lässt sich leicht textanalytisch zeigen, insbesondere dort, wo in der ästhetischen Wahrnehmung des Knaben – schon ablesbar an der Zweideutigkeit des Wortes – sowohl die erotische als auch die ästhetische Komponente mit ins Spiel gebracht werden. So unzweideutig es ist, dass Thomas Mann hier durchaus eigenes homoerotisches Begehren verschriftet hat, so wenig kann das Motiv der Knabenliebe – auch das versteht sich von selbst – als Autobiographismus allein abgetan werden. Im Gegenteil, auch das Motiv der Knabenliebe ist in der Prozess der Selbsterfindung mitverwoben, mehr noch: Das Motiv der Knabenliebe ist eine notwendige funktionale Komponente der vorliegenden Inszenierung von Autorschaft. Hans R. Vaget konstatiert, dass der besagte Kern der Novelle in einer Notiz aus dem Jahre 1905 schon vorhanden war, als »von Venedig und Tadzio und Homoerotik noch keine Spur« zu sehen war.24 Dennoch, als Tadzio Teil der Konzeption wurde, wurde er auch integraler und notwendiger Teil. Immerhin kann ja auch das Interesse Thomas Manns am Friedrich-Stoff nicht allein auf die damit implizierte preußische Repräsen-
_____________ 23 Vaget: Erzählungen, S. 588. 24 Ebd., S. 585.
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tanz zurückgeführt werden, ein Teil des Interesses speist sich auch aus der Homosexualität des alten Königs.25 Um diese Argumentationskette noch einmal deutlich zu machen: Die Problemlösungskapazität des Tod in Venedig war also auf eine prozessuale Inszenierung von Autorschaft abgehoben, die ihrerseits wiederum auf die Knabenliebe als charakteristisches Merkmal abgehoben hatte. Dass es Thomas Mann hier nur um eine, wenn auch sehr kunstvolle Form der Selbstentäußerung, des literarischen Outings gegangen wäre, ist schon durch die Problematik dieses Motivs, die Thomas Mann vor allen seinen Kritikern in dieser Sache sehr wohl bewusst war, im zeitgenössischen Kontext ausgeschlossen. Vielmehr liegt hier eine Funktionalisierung des Motivs für diese Form der Selbstinszenierung vor. Das lässt sich an zwei Aspekten ablesen, die die Konzeption dieses Sujets, mithin die Form der Selbsterfindung selbst in Thomas Manns eigener Einschätzung bestimmt hatten. Einerseits wird das Motiv der Knabenliebe in epischer Form abgehandelt, andererseits wird damit, gerade weil es nicht zur Erfüllung, sondern zum Tod des Verliebten führt, eine moralische Inkriminierung verbunden. Das lässt sich sehr gut durch die Entwicklung jener Form erhellen, wie sie Thomas Mann in der Idylle Gesang vom Kindchen 1919 selbst reflektiert; es heißt dort: »Siehe, es ward dir das trunkene Lied zur sittlichen Fabel« (GW VII, S. 1069). Die Entwicklung läuft also vom Lied zur Fabel, mithin von der Lyrik zur Epik beziehungsweise Prosa und vom Trunkenen zum Sittlichen, also von der Feier der Sinnlichkeit zu deren ästhetischer Selbstüberwindung. Dass nicht nur der sittliche Anspruch, sondern auch die Gattung, Lyrik oder Epik, in der sich ein Autor äußert, unmittelbar mit dem schriftstellerischen Selbstverständnis und mit der Selbsteinschätzung des Autors zu tun hat, kann man nur wenige Verse früher, zu Beginn des Gesangs vom Kindchen nachlesen, wo genau mit Blick auf Frankreich zwischen dem (lyrischen) Dichter und dem (epischen oder gar prosaischen) Schriftsteller unterschieden wird. Gattungsform und sittlicher Anspruch bezeichnen daher fast so etwas wie die formale und materiale Grundlage dieses schriftstellerischen Selbstverständnisses. Genau diese Entwicklung vom Trunkenen zum Nüchternen und von der Lyrik zur Epik ist allerdings nicht unidirektional und nicht unidimensional. Es ist nicht die Entwicklung vom Dichter zum Schriftsteller, insofern damit ein reduzierter Anspruch, beispielsweise auf Meisterschaft und Klassizität verbunden wäre. Im Gegenteil: Im Transformationsprozess wird das trunkene Lied in der sittlichen Fabel aufgehoben, denn dem Text der Novelle sind einzelne lyrische, also gebundene Passagen im wahrsten _____________ 25 Kurzke: Leben als Kunstwerk, S. 181, S. 244–247.
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Sinne des Wortes noch eingeschrieben. Doch so, wie die Fabel das Lied aufnimmt, so nimmt der Schriftsteller den Dichter auf. Diese Entwicklung ist demnach nichts anderes als der Prozess der Inszenierung von Autorschaft, die von der späteren Warte des Gesangs vom Kindchen aus – und zwar lyrisch – rekapituliert wird und die im Tod in Venedig in die Figur des Gustav von Aschenbach regelrecht inkorporiert wird. Diese Entwicklung ist mithin nichts anderes als der damit ausgetragene Prozess der Selbsterfindung des Autors Thomas Mann in der Kompaktkommunikation der Novelle. Es bedarf also gerade dieser sittlichen Problematik, mit der sich der Text, wäre er anders angelegt gewesen, hätte auseinandersetzen müssen, damit er sich, so wie er angelegt ist, darüber erheben kann. Dieser Umschlagmechanismus von der Lyrik zur Epik, von Sinnlichen zum Sittlichen in einem Text ist Effekt von Kompaktkommunikation. VII. Durchstreichung All dies zusammengenommen, erlaubt es, die gesamte Struktur zu rekapitulieren: Der Text bedarf des Motivs der Knabenliebe, um die damit verbundene sittliche Problematik ausspielen und gleichzeitig überwinden zu können. Und die Überwindung dieser Problematik wiederum ist notwendig, um einerseits die Autorschaft des Klassikers zu inszenieren und sich gleichzeitig darüber kritisch, selbstkritisch und produktiv hinwegsetzen zu können. Was Thomas Mann hier macht, könnte man mit einer Entschuldigung für eine Beleidigung vergleichen, die darauf besteht, das beleidigende Wort noch einmal zu nennen. Oder aber man könnte es durchaus als dekonstruktives Verfahren der Durchstreichung betiteln: Das Motiv der Knabenliebe wird zwar aufgerufen, aber gleichzeitig durchgestrichen, ja so negativierend behandelt, als wäre die Knabenliebe mit der Cholera selbst äquivalent.26 Die Knabenliebe charakterisiert den Klassiker Gustav von Aschenbach. Seine dadurch inkriminierte Autorschaft als Klassiker wird dabei gleichermaßen inszeniert und zurückgenommen. Homoerotik wird auf der Textebene evoziert und auf der Autorebene revoziert – Effekte der Kompaktkommunikation. Nur dieses Motiv der Knabenliebe – und deswegen ist es notwendig – erlaubt eine solche komplexe Handhabung als Charakteristikum der Autorschaft. Gerade hier wird die Kompaktkommunikation, die eine solche Evokation und Revokation miteinander verknüpft, zum Feld hybrider Repräsentanz. _____________ 26 Bahr: Mann, S. 149.
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Und darin scheint die eigentliche Leistung zu liegen: Thomas Mann ist Gustav von Aschenbach und ist es doch eben gleichzeitig auch nicht. Er entwirft sich als Klassiker in der Figur des Gustav von Aschenbach, aber doch so, dass er sich gleichzeitig von dem aporetischen Konzept dieser ›klassischen‹ Schriftstellerfigur produktiv abheben und distanzieren und eben gerade dadurch selbst den Status als Klassiker reklamieren kann. Mit Gustav von Aschenbach hat sich Thomas Mann als Klassiker, aber auch als problematischer Klassiker entworfen, aber mehr noch, er hat sich so als problematischer Klassiker entworfen, dass er in seinem Entwurf die Problematik dieser Klassizität auch schon wieder überwinden konnte. Gustav von Aschenbach ist ein Figur gewordenes Übergangsstadium in der Kompaktkommunikation einer Novelle im Prozess der Selbsterfindung des Autors Thomas Mann. Literaturverzeichnis Mann, Thomas: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 2. Frühe Erzählungen 1893–1912. Text u. Kommentar. Hg. von Terence J. Reed. Frankfurt/M. 2004. Mann, Thomas: Der Tod in Venedig. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 2/1. Frühe Erzählungen 1893–1912. Hg. von Terence J. Reed. Frankfurt/M. 2004, S. 501–592. Mann, Thomas: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Band VII. Frankfurt/M. 1990, 265–661. Bahr, Erhard: Thomas Mann. Der Tod in Venedig. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart 1991. Böschenstein, Bernhard: Der Tod in Venedig. In: Volkmar Hansen (Hg.): Interpretationen. Thomas Mann. Romane und Erzählungen. Stuttgart 1993, S. 89–120. Cohn, Dorrit: The Second Author of Der Tod in Venedig. In: Benjamin Bennett /Anton Kaes / William J. Lillyman (Hg.): Probleme der Moderne. Festschrift für Walter Sokel. Tübingen 1983, S. 223–245. Detering, Heinrich: Das offene Geheimnis. Zur literarischen Produktivität eines Tabus von Winckelmann bis zu Thomas Mann. Göttingen 1994. Häfele, Josef / Stammel, Hans: Thomas Mann. Der Tod in Venedig. Frankfurt/M. 1992. Härle, Gerhard: Männerweiblichkeit. Zur Homosexualität bei Klaus und Thomas Mann. Frankfurt/M. 1988. Harpprecht, Klaus: Thomas Mann. Eine Biographie. Reinbek 1995. Heller, Erich: Autobiographie und Literatur. Über Thomas Manns Tod in Venedig. In: Peter U. Hohendahl / Herbert Lindenberger / Egon Schwarz (Hg.): Essays on European Literature in Honor of Liselotte Dieckmann. St. Louis 1972, S. 83–100. Jahraus, Oliver: Literatur als Medium. Sinnkonstitution und Subjekterfahrung zwischen Bewußtsein und Kommunikation. Weilerswist 2003. Kurzke, Hermann: Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk. Eine Biographie. München 1999.
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Körper, Stimme, Schrift Semiotischer Betrug und ›heilige‹ Wahrheit in der literarischen Selbstreflexion Thomas Manns
I. Selbstreferenz im literarischen Feld: Thomas Mann als ›Analytiker‹ von Thomas Mann? Die ›Erfindung des Schriftstellers Thomas Mann‹, den nachhaltigen Erfolg seiner impliziten Selbststilisierung und expliziten Selbstrepräsentation zu rekonstruieren, erfordert es, eine werkbezogene Untersuchungsperspektive, die die Selbstdeutung Manns in seinen literarischen Werken beleuchtet, mit einer literatur- und mediensoziologischen Perspektive zu verbinden, die Texte auf ihre Funktion im sozialen Handlungskontext zu beziehen erlaubt. Rückgriffe auf die feld- und habitustheoretische Soziologie von Pierre Bourdieu liegen nahe – nicht zuletzt auch deshalb, weil es zumindest zeitweise kaum einem Autor des 20. Jahrhunderts gelungen ist, sich, um mit Bourdieu zu sprechen, derart erfolgreich im ›literarischen Feld‹ zu positionieren und knappes symbolisches ›Kapital‹ zu akkumulieren, wie Thomas Mann. Wer sich unter den Voraussetzungen von Bourdieus Theorie literarischen Texten zu nähern versucht, sieht sich beim derzeitigen Stand fächerübergreifende Theoriebildung allerdings mit Problemen konfrontiert, die schon die Applikationen der Systemtheorie Niklas Luhmanns auf literaturwissenschaftliche Objektbereiche nicht befriedigend zu lösen vermochte. Und dass literatursoziologische Textlektüren beider Provenienzen die Selbstreferentialität von Literatur gerade dann für sich zu entdecken scheinen, wenn sie gefordert sind, die zwischen der statischen Dimension von Literatur als Zeichensystem und ihrer dynamischen Dimension als Sozialsystem klaffende, theoretische und empirische Lücke zu
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schließen, mag als Indiz hierfür gelten.1 Einerseits leidet die Überbrückung dieses Hiatus – eine Erblast spätmarxistischer Literatursoziologie und Sozialgeschichte mit ihren postulierten Homologien zwischen Gesellschafts-, Gattungs- und Textstrukturen – unter einer ›kulturwissenschaftlichen‹ Generalisierung der Erkenntnisinteressen: Wo Literatur und Gesellschaft in Konzepten von ›Kultur als Text‹ oder in einer ›Poetik des Wissens‹ a priori vermittelt werden, wird das Problem der Zurechnung von literarisch konstruiertem ›Wissen‹ auf gesellschaftliches Handeln marginal und droht in einer semiotischen Metaphorisierung der sozialen Dimension von Kultur und Literatur aufzugehen. Dass andererseits literatursoziologische Gegenreaktionen nur allzu oft literarische Semantik soziologisch metaphorisieren, also etwa dargestellte Figurenkommunikation und dargestellte Selbst- und Fremdbeobachtung mit Prozessen in Sozialsystemen oder mit Positionen im literarischen Feld verwechseln und den Selbstaussagen der Literatur die Aufgabe ihrer soziologischen ›Zurechnung‹ überlassen, mag vor diesem Hintergrund kaum mehr überraschen. Begünstigt wird dies zweifellos von der Luhmannschen Systemtheorie, die der Literaturwissenschaft ›Kommunikations‹-, ›Beobachtungs‹- oder ›Medien‹- und ›Form‹-Begriffe anbietet, aber kaum mehr nicht-triviale und soziologische Fragestellungen im Rahmen einer (auch) textbezogenen Literatursoziologie.2 Auch Bourdieus soziologische Textlektüre nimmt bei der Selbstreferenzialität der Literatur Zuflucht: Anlässlich des 1869 publizierten Romans L’Éducation sentimentale von Gustave Flaubert behauptet Bourdieu, der Roman liefere alle erforderlichen Instrumente zu seiner eigenen soziologischen Analyse: Die Struktur des Werkes, die eine strikt immanente Lektüre offenlegt, das heißt die Struktur des sozialen Raums, in dem sich die Abenteuer Fréderics abspielen, erweist sich auch als die Struktur des sozialen Raums, in dem der Autor des Werkes selbst situiert war.3
_____________ 1 Komplexe Bezugswege zwischen Literatur als ›Symbolsystem‹ und als ›Sozialsystem‹ eröffnet hingegen Schönert: Mentalitäten. – Zu den langfristigen und interdisziplinären Problemen der Literatursoziologie zwischen semiotischer und sozialer Systemreferenz von Literatur vgl. im Überblick Ort: Sozialwissenschaften. 2 So begegnet z.B. Niels Werber der Kritik am mangelnden Textbezug systemtheoretischer Analysen (Werber: Selbstbeobachtungen, S. 229) mit der Hermeneutik einer ›systemtheoretischen Relektüre‹ von Ludwig Tiecks Vittoria Accorombona (1840), die dem Roman implizite Selbstreferentialität und einen wirkungsästhetischen Subtext nachweist und diesen als ›Selbstbeobachtung‹ der Literatur interpretiert. Die poetologische ›Selbstbeobachtung‹ des Romans kopiere die Umweltbezüge einer sich als autonom verstehenden Literatur in den Text hinein, die Differenz von ›Innen‹ und ›Außen‹ werde also am Roman selbst ablesbar (ebd., S. 229–240) – und die Beantwortung der soziologischen Frage nach der Funktion solcher Selbstbeobachtung bleibt der Literatur selbst überlassen. 3 Bourdieu: Regeln, S. 19 [Hervorh. i. O.].
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Dabei handelt es sich laut Bourdieu jedoch nicht um ein plattes soziologisches Mimesis-Postulat, sondern um die Folge der Konstitution eines sich nach 1848 verstärkt autonomisierenden literarischen Produktionsfeldes, in dem sich kommerzielle Literatur und das ›l’art pour l’art‹ der Pariser Bohème gegenüberstehen, in dem sich ferner nicht nur die Beziehungen zwischen den sozialen und ökonomischen Positionen der literarischen Akteure homolog zu den Beziehungen dieser Positionen innerhalb der Werke verhalten, sondern beide Analyseebenen – nach Art des generativen Strukturalismus – zirkulär verschränkt werden: Nur eine Analyse der Entstehung des literarischen Feldes, in dem sich das Flaubertsche Projekt ausgebildet hat, kann zu einem […] Verständnis sowohl der Erzeugungsformel, die dem Werk zugrunde liegt, als auch der Arbeit führen, mit der Flaubert sie ins Werk zu setzen vermochte, wobei er in ein und derselben Bewegung diese generative Struktur und die gesellschaftliche Struktur, deren Produkt sie ist, objektivierte.4
Flaubert selbst »als Analytiker Flauberts« und als »Sozialanalytiker« zu deuten,5 oder gar, wie Christine Magerski in ihrer Studie zur Konstituierung des literarischen Feldes in Deutschland nach 1871, die Genese der Literatursoziologie um 1900 und letztlich auch die Feldtheorie selbst als Produkt eben dieses Feldes zu interpretieren, geht von der Annahme einer sukzessiv erhöhten Selbstreflexivität des literarischen Feldes aus.6 Sie begleitet nicht nur seine Formierung, sondern jede Autonomiesteigerung der kulturellen Produktion und stimuliert laut Bourdieu jede der ›Gattungen‹ zu einer kritischen Besinnung auf sich selbst, ihre eigene Grundlage, ihre eigenen Voraussetzungen […]. In dem Maße, in dem das Feld sich auf sich selbst zurückzieht, wird die […] Beherrschung der von der ganzen Geschichte der Gattungen zusammengetragenen spezifischen Errungenschaften […] zum Bestandteil der Zulassungsvoraussetzungen zum Feld […].7
Wenn die Genese eines genuin literarischen Handlungsfeldes und seiner spezifischen Praxis- und Kommunikationsformen im Verlauf gesellschaftlicher Differenzierung spätestens seit dem 18. Jahrhundert ebenso wie die Autonomisierung von Literatur als Sozialsystem auf der Seite der Symbolstrukturen zu steigender Selbstreferenzialität führt, dann steigern sich auch Autonomie und Umweltresistenz des literarischen Feldes und die Selbstreflexivität seiner Literatur wechselseitig. Letztere lässt sich, so Bourdieu, _____________ 4 Ebd., S. 83. 5 Ebd., S. 19, 20; vgl. ähnlich Wolf: Musil zu Robert Musil als Analytiker Robert Musils. 6 Magerski: Konstituierung; Wolfgang Bunzel weist zu Recht auf die mangelnde historische Signifikanz von ›Selbstreflexivität‹ als Kriterium der Feld-Konstitution hin, wenn er kritisiert, dass »Magerskis Untersuchungsfokus […] sich […] auf die falsche Phase der künstlerischen Entwicklung« richte, da die Herausbildung des literarischen Feldes in Deutschland bereits im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts anzusiedeln sei (Bunzel: Rezension, S. 112). 7 Bourdieu: Regeln, S. 384.
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dann kaum mehr auf soziale Strukturen außerhalb des literarischen Feldes zurechnen: Die relative Autonomie des Feldes tritt […] immer stärker in Werken hervor, die ihre […] Eigenschaften und ihren Wert ausschließlich der Struktur und also der Geschichte des Feldes verdanken, welches die Möglichkeit, von dem, was sich in der sozialen Welt ereignet, unmittelbar auf das ›kurzzuschließen‹, was innerhalb des Feldes geschieht, immer nachdrücklicher untersagt.8
Der poetologische (implizit und explizit wirkungs-, rezeptions- und produktionsästhetische) Reflexionsdiskurs im literarischen Œuvre von Thomas Mann verdankte sich demnach der langfristigen Autonomisierung des literarischen Feldes, die er zugleich tautologisch und mit schwindender gesellschaftlicher Außenreferenz abbildete. Die historisch spezifische, symbolische Position des Werkes und die soziale Position seines Autors innerhalb und außerhalb des literarischen Handlungsfeldes werden von einem derart selbstbezüglich leeren, feldinternen Mimesispostulat schwerlich erhellt. Zu diesem Zweck wäre vielmehr der spezifische ›Habitus‹ Thomas Manns auf mehreren Ebenen herauszuarbeiten, womit Bourdieu das praxisgenerierende Prinzip, die ›Dispositionen‹ des Handelns und Kommunizierens bezeichnet, die individuelle Sprach- und Verhaltensstile, also auch den je spezifischen modus operandi literarischer Produktion und Rezeption prägen.9 Selbstreflexive Strukturen, die Semantik literarischer Selbstrepräsentanz in Thomas Manns Werken zu untersuchen, ermöglicht zunächst allerdings nur die Bestimmung eines semantischen ›Habitus‹, der die Position der Werke im intertextuellen Feld definiert, ohne damit zugleich den autorspezifischen sozialen Habitus im literarischen Feld zu bezeichnen. Und wenn sich die literatursoziologische Aussagekraft semantischer Analysen nicht von selbst mit Hilfe von Homologien erschließen lässt, also nicht jede der fiktionalen Darstellungen literarischer Produktion und Rezeption im Werk Manns als Epiphanie eines sich widersprüchlich selbst präsentierenden Autors zu deuten ist, dann erscheint es umso mehr geboten, zunächst das semantische Feld indirekter Selbstreferenzialität, in
_____________ 8 Ebd., S. 393. 9 Der seit der Soziologie symbolischer Formen (Bourdieu: Soziologie) extensional flexible, intensional aber konstant bleibende ›Habitus‹-Begriff vermittelt zwischen Realität und Repräsentation, Individuum und Gesellschaft, Handeln und Struktur; er koppelt soziale und semiotische Systemreferenzen von Kunst und Literatur aneinander, indem er soziale Positionen auf ein ›Feld‹ ökonomischen und symbolischen ›Kapitals‹ bezieht, das sich der Praxis konkreter Lebens-, Verhaltens-, Wahrnehmungs- und Geschmacks-Stile mittels eines Systems von Handlungsdispositionen aufprägt; vgl. im einzelnen die Rekonstruktion bei Barlösius: Bourdieu, S. 45–89, zum Verhältnis von Habitus (modus operandi) und sozialer Praxis (opus operatum) v.a. S. 59, 64.
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dem sich Thomas Manns Œuvre von Anfang an ansiedelt, zu rekonstruieren.10 Diese – hier sehr verkürzt skizzierten – feldtheoretischen Prämissen soziologisch (und über Bourdieu hinaus) ebenso ernst zu nehmen wie Thomas Mann als literarischen ›Erfinder‹ des symbolischen Kapitals ›Thomas Mann‹, bedeutet somit weder, eine biographische Forschung fortzuschreiben, die Manns Werke von vornherein als permanente Reflexion des Autors auf sich selbst, als Subtext seiner intellektuellen Biographie primär im philosophischen Diskurs von Schopenhauer, Wagner und Nietzsche interpretiert, noch Bourdieus zirkulärer soziologischer Hermeneutik zu folgen und sich mit Homologien zwischen Werkstrukturen (›Stellungnahmen‹) und sozialen Positionen im literarischen Feld zufrieden zu geben.11 Solange es noch keine elaborierte Struktur- und Funktionsgeschichte literarischer Selbst- und Fremdreferentialität gibt, die deren gattungsspezifische und gattungsübergreifende Ausdrucksformen, Erzählstrategien, Dramaturgien und Wirkungsästhetiken langfristig zu rekonstruieren unternimmt, also über motivgeschichtliche Bestandsaufnahmen (z.B. zu Künstlerroman und Künstlerdrama oder zum Bühnen-Brief auf dem Theater) hinausgeht,12 können die nachfolgenden, abgesehen von vereinzelten Seitenblicken auf die Romane vor allem von den Erzählungen Thomas Manns ausgehenden Beobachtungen ihren spekulativ vorläufigen Charakter nicht verleugnen. II. Körper und Stimme als Präsenzmedien Die literarische Selbstrepräsentation von Autorschaft im Œuvre von Thomas Mann konstituiert sich in seinen Erzählungen und Romanen mit _____________ 10 Diese ist ohne Fixierung auf die ›Künstler‹-›Bürger‹-Thematik und jenseits einzelwerkbezogener Studien noch kaum systematisch und auf breiter Textbasis rekonstruiert worden, vgl. aber neben Diersen: Untersuchungen (zur Künstlerdarstellung bei Mann), immerhin schon Reiss: Allegorisierung; Cölln: Gerichtstag; sowie neuerdings Lorenzen-Peth: Erzählperspektive, die die ›Allegorien des Schreibens‹ und ›Lesens‹ in Manns Erzählungen herausarbeitet und ihrer rezeptionsästhetischen Deutungsperspektive konsequent dekonstruierende Dimensionen im Sinne von Paul de Mans Allegorien des Lesens abgewinnt. 11 Noch Ansel (Erweiterungen, S. 78f.) geht, Bourdieu folgend, von »einer Homologie zwischen Feldpositionen und Stellungnahmen« aus, die »Korrelationen zwischen der Literatur bzw. Kunst als Symbolsystem und als Sozialsystem« herzustellen erlaube (ebd., S. 79). Verhalten kritisch zu den soziologischen Ähnlichkeits- und Abbildungs-Postulaten Bourdieus äußert sich aber Rehbein: Soziologie, S. 117–124, v.a. S. 122. 12 Vgl. jüngst monographisch Peters: Briefe, sowie Japp: Künstlerdrama; auch die Studie zu Wieland, Jean Paul und Brentano von Michel: Ordnungen. Den theoretischen und historischen Horizont erweitern dagegen Hauthal / Nadj / Nünning u.a.: Metaisierung.
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Hilfe von variantenreich dargestellten, gelingenden oder scheiternden, alltäglichen oder künstlerischen Rezeptions- und Produktionsprozessen, seien sie visueller oder auditiver, non-verbaler oder sprachlicher, mündlicher oder schriftlicher Qualität. Insbesondere die narrativ und – im Falle des Bühnenstücks Fiorenza (1905) – szenisch realisierten Akte mündlichen Erzählens, aber auch erzählte Akte der Verschriftung und der theatralen Verkörperung setzen sich mehrfach entweder der Gefahr der Fehldeutung aus oder sind selbst erfolgreiche Medien des semiotischen ›Betrugs‹, der Täuschung und einer daraus resultierenden, ontologischen ›Ent-Täuschung‹. Die Rekonstruktion der literarischen Selbstreflexion von ›Wahrheit‹ und ›Täuschung‹ unterscheidet im Folgenden innerhalb der dargestellten Welten der Erzählungen Manns zum einen drei semiotische Bezugsgrößen, die sich um das je produzierte, rezipierte und interpretierte Zeichen gruppieren, nämlich Produzenten, Rezipienten und den jeweiligen Referenten, an dessen Präsenz oder Absenz sich das textintern definierte Verhältnis von ›Realität‹ und ›Zeichen‹ selbst ablesen lässt – eine bei Thomas Mann meist prekäre Beziehung, die das Problem der mangelnden ›Wahrheit‹ von Zeichen, der defizitären ›Realitätsdeckung‹ fiktionaler – ›trügerischer‹ – Repräsentationen mise en abyme aufwirft. Unterschieden werden darüber hinaus zum anderen zwei divergierende Medien- und Kommunikationsfunktionen von Zeichen, die in Manns Texten synergetische oder aber destruktive Beziehungen unterhalten, nämlich einerseits rituelle und theatral-szenische Repräsentationen mit zumindest temporärer sozialer Bindungskraft und andererseits Medien wie Schrift, die auch situationsabstrakt funktionsfähig sind, insofern sie das Verhältnis von Äußerungsproduzent und Rezipient potentiell zu temporalisieren und auf die Ko-Präsenz beider zu verzichten erlauben. So können Körper und Verkörperungen ebenso wie Sprech- und Gesangsstimmen – also theatral-szenische, dramatische oder musikalische Performanz, aber auch mündliche Rede, insoweit sie erfolgreiche Kommunikation anstreben – als Präsenzmedien gelten, weil sie eine zumindest vorübergehende gleichzeitige Anwesenheit von Produzent und Rezipient erfordern: »Das Theater ist […] Gegenwart« und »Sinnlichkeit«, der »letzte Ehrgeiz alles Theaters [ist] der Ritus« (GKFA 14/1, S. 118, 121): Die ›Wirklichkeit‹ des Theaters, seine direkte Wirkung auf eine konkrete Versammlung, zusammen mit seiner unter allen Künsten außerordentlichen Wirkungssucht, war der Grund, warum es sich von jeher nur zu gern, nur zu skrupellos außerkünstlerischer Wirkungen bedient […]. (Ebd., S. 122)13
_____________ 13 Im Versuch über das Theater (1908) fragt Mann explizit, ob das ›Drama‹ als »Kunst, die Gegenwärtigkeit vorgäbe, überhaupt noch Kunst und nicht vielmehr Gaukelei« wäre (ebd., S. 131). Er schlägt den Bogen von »Symbolik« und »Zeremoniell« über den rituellen »Weiheakt« bis zu Richard Wagners ›kunstreligiösem‹ Parsifal (GKFA 14/1, S. 157) und
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Mit Absenzmedien operiert dagegen eine Literalkultur, deren dauerhafte Schrift-Zeichen solche Ko-Präsenz nicht verlangen, deren sozial situativer, kommunikativer Erfolg allerdings auch unsicher erscheint.14 Beiden Unterscheidungen werden in den Texten Thomas Manns weitere semantische Kodierungen zugeordnet, die unter anderem die Opposition von ›heilig‹ und ›profan‹ bearbeiten und mit verschiedenen Definitionen von ›Literat‹, ›Dichter‹, ›Künstler‹ verknüpft sind. Innerhalb des semantischen Netzes, das sich zwischen der schlichten ›heiligen Wahrheit‹ der Schrift auf der einen Seite und dem ›profan‹ erfolgreichen, aber trügerischen Schein einer verbildlichenden oder verkörpernden Präsenzkunst im rhetorischen ornatus auf der anderen Seite aufspannt, inszeniert Thomas Mann sowohl destruktive als auch kreative Beziehungen künstlicher und natürlicher Medien, die sich synästhetisch zu ergänzen, aber auch fatal zu unterbrechen vermögen, ineinander konvertierbar, aber auch variabel hierarchisierbar scheinen und das Problem der Metalepse, also der paradoxen Selbstinklusion zunächst eher ›realistisch‹ ausblenden, denn aus ihm ästhetischen Nutzen ziehen.15 In diesem Zusammenhang wird das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, ferner von Verschriftung und ›Einschreibung‹ zu künstlicher statuarischer oder auch theatralritueller Bildlichkeit, also zur plastischen Modellierung individueller und kollektiver Körper und überhaupt zur ästhetischen Form-Gebung als sittliche und politische ›Gesetz‹-Gebung ebenso exemplarisch zu untersuchen sein, wie Prozesse natürlicher Verkörperung und Stigmatisierung, in denen Zeichen-Produzent und Rezipient zusammenfallen. II. 1. Körper und Stimme: Fiktion oder Wahrheit? Im Bühnenstück Fiorenza (1905) konkurrieren der todkranke Lorenzo de Medici und der uneigentlich ›tote‹, lebensfeindliche Bußprediger Savonarola um Macht und Herrschaft: Sie repräsentieren laut Lorenzo zwei konträre Künstler-Typen, variieren also das – wie Thomas Mann noch 1955 formuliert – dialektische »Einander-Entgegentreten des ästhetischen und des religiösen Willensimpulses, der Ideen des ewigen Festes und der _____________ unterscheidet ›Theater‹ prinzipiell von ›Dichtung‹ einschließlich der dramatischen‚ die »dort nicht eigentlich zu Hause« sei (ebd., S. 123). 14 Zur Unterscheidung von ›Präsenz‹ und ›Absenz‹ in diesem Sinne siehe Seel: Inszenieren, sowie Gumbrecht: Präsenz. Zur medientheoretischen Vertiefung vgl. Niklas Luhmanns Theorie der – Absenz kompensierenden und kommunikativen ›Erfolg‹ sichernden – ›symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien‹ (dazu u.a. Luhmann: Gesellschaft, S. 316–396) sowie für das 18. Jahrhundert die historische Skizze von Rothe: Lesen. 15 Metalepse im Sinne von Genette: Erzählung, S. 167–169.
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heiligenden Vergeistigung des Lebens« (GW XI, S. 565).16 Auf der einen Seite steht der auf »Augenlust« (GWE 4, S. 484) und vermeintlich ›lügenhafte‹ aisthesis zielende Lorenzo, der Künstler-Herrscher über das ›schöne‹ Florenz und Liebhaber der schönen Fiorenza, genannt Fiore – die ›Blume‹, die ›Blüte‹.17 Diese, so berichtet Pico von Mirandola in seiner von den Zuhörern selbst als ›Kunststück‹ genossenen Binnen-Erzählung (GWE 4, S. 398), wird von Savonarola als Inkarnation der als ›buhlerisches Weib‹ kritisierten Stadt Florenz, als »die große Babylon« (ebd., S. 403) stigmatisiert, nachdem ihr glanzvoll theatralischer Auftritt (»Schauspiel«, ebd., S. 398) seine Predigt gestört hat und er »in seherischer Wut« (ebd., S. 403) zugleich seinen Satz unterbricht, um die »göttliche Fiore« (ebd., S. 402) als vermeintlich reale Verkörperung des zuvor mündlich und nur metaphorisch Beschworenen zu präsentieren: »›Seht!‹ […], ›[…] sie ist da, dort ist sie‹« (ebd., S. 403). Die bloß sprachliche, bildliche Vergegenwärtigung der als »apokalyptische[s] Weib, die große Babel« (ebd.) personifizierten Stadt Florenz mündet so in die plötzliche körperliche Präsenz des von der Predigt Perhorreszierten und weist Fiorenzas Auftritt zugleich eine Rolle zu, die sie – sich weniger als Rezipientin Savonarolas, denn als konkurrierende Akteurin gerierend – dem Bildbereich von Savonarolas Rede beglaubigend unterordnet.18 Der ›Sieg‹ von Lorenzos Antagonisten, der dem scheiternden Bilderprediger in Gladius dei (1902) ähnelt (GKFA 2/1, S. 241–242), erweist sich allerdings als verkappte Niederlage: Der Wort-›Künstler‹ (GWE 4, S. 484), der als am Selbstwiderspruch zerbrechender »Prophet« (ebd.) und als »Künstler, der zugleich ein Heiliger ist« (ebd.), erscheint und den erbitterten Kampf des ›Geistes‹ und der mündlich vermittelten »Erkenntnis« (ebd.) gegen das ›Leben‹ und die ›Kunst‹ des sichtbaren ›Schönen‹ ausficht, bedarf in Fiorenza nämlich gerade des konkurrierenden und verkörpernden ›Bildes‹, das seine Anklage sichtbar belegt – und zugleich bereits seinen Sturz vorbereitet. Die Macht der mündlichen Rede ist auf vergegenwärtigende Referenzialisierung angewiesen, deren Bildlichkeit und Unwahrheit in Kauf genommen wird, ›Wahrheit‹ schlägt um in trügerischen Schein: »[…] alles, was er sieht, [wird] zur Wahrheit und Gegenwart […], indem er es ausspricht« (ebd., S. 403). Nach dem Disput zwischen Savonarola und Lorenzo und nach Lorenzos Tod kehrt sich die Szene um: Fiorenza behält als ranghöchste, weil titelgebende Figur des Bühnenstücks das ›vorletzte Wort‹ und ›pre_____________ 16 Im Offenen Brief an den Weser-Kurier vom 8.7.1955 anlässlich einer Bremer Inszenierung von Fiorenza, publiziert am 23.7.1955, erste Buchveröffentlichung 1956 (GW XI, S. 564–567). 17 Vgl. Gladius Dei (1902): »Die Kunst blüht« (GKFA 2/1, S. 225). 18 Versuch über das Theater (1908): »Das Wesen des Theaters ist die Sinnlichkeit. Aber von der Sinnlichkeit, der Sinnfälligkeit bis zur Sinnbildlichkeit ist nur ein Schritt« (GKFA 14/1, S. 154).
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digt‹ nun ihrerseits, ruft Savonarola zu mönchischer Zurückhaltung auf und warnt ihn vor dem von ihm entfachten ›Feuer‹. Savonarolas letzter, hellsichtig replizierender Sprechakt, der Fiorenza beendet (»Ich liebe das Feuer« [ebd., S. 492]), inauguriert das drohende – und öffentlich inszenierte – Ende dessen, der schon jetzt laut Nebentext im »Fackelschein« in »sein Schicksal« schreitet (ebd.).19 Schon in der Erzählung Luischen (1900) zeichnet sich eine semiotisch komplexe Komplementarität zwischen trügerischer und in diesem Falle letaler Fiktion einerseits und der von ihr gleichwohl vermittelten Wahrheit andererseits ab: Der überraschend ›geniale‹ Tonartwechsel anstatt nach Fis-Dur zu einem F-Dur-Akkord, der die harmonische Auflösung auf der zweiten Silbe des Wortes ›Luischen‹ im gleichnamigen Couplet verweigert (GKFA 2/1, S. 179), das der devote dicke Rechtsanwalt Christian Jacoby zur Belustigung seiner Gäste und auf Wunsch seiner ›grausam lüsternen‹ Ehefrau Amra (ebd., S. 170) – im »rotseidenen Babykleide« (ebd.) tanzend – zur Klaviermusik seines erotischen Konkurrenten Alfred Läutner zu Gehör bringt‚ unterbricht nämlich nicht nur die skandalös desavouierende Darbietung, sondern erweist sich zugleich als »verblüffende Überrumpelung«, »Wunder« und »Enthüllung«, als »grausame Entschleierung« (ebd., S. 179) einer peinlichen Wahrheit, deren Einsicht und musikalische ›Offenbarung‹ den Tod Jacobys auf offener Bühne bewirkt. Vom Akteur und uneigentlich scherzhaften Referenten des Couplets (»›Ich bin Luischen aus dem Volke‹«, ebd., S. 178) wird Jacoby am Ende zum Wahrheitsgaranten einer Szene, als deren letzte Referenten nun er selbst und sein Tod fungieren.20 Während in Fiorenza also der theatralische und pompöse Auftritt der Rezipientin Fiorenza Savonarolas Predigt unterbricht und der vermeintlich ›Wahrheit‹ enthüllende Redner Fiorenza ad hoc zum Gegenstand seiner Rede referenzialisiert und zugleich zur ›Hure Babylon‹ fiktionalisiert, verweigert in Luischen der Pianist Läutner die harmonische Auflösung der begleitenden Musik und unterbricht damit zugleich die trügerisch scherzhafte Selbstparodie Jacobys, dessen Singen und Tanzen ebenso abrupt endet - »während fast gleichzeitig auch die Klavierbegleitung sich scharf unterbrach« (ebd., S. 179) – wie wenige Augenblicke später sein Leben. Was »in dieser kleinen furchtbaren und komplizierten Zeitspanne eigentlich vor sich ging« (ebd., S. 178) und was die »Gewalt des Augenblicks« (GWE 4, S. 403) in der Erzählung Picos in Fiorenza ausmacht, verdankt sich in beiden Fällen dem Umstand, dass Selbstinszenierung überraschend _____________ 19 Ex post wird Thomas Mann den »sozial-religiösen Fanatismus des Mönchs« auf den feindlichen Bruder Hitler (1939) projizieren (GWE 18, S. 253–260, hier S. 258). 20 Zu Luischen und zum Problem der zweifelhaften Geschlechtsidentität siehe Detering: Juden, S. 25–32, 68–71.
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zum Medium von ›Wahrheit‹ werden: Während die Szene in Fiorenza Savonarolas moralische Botschaft nur vordergründig beglaubigt und eigentlich als in Wahrheit fiktionsgestützte demaskiert und Lügen straft – Fiorenza ist nicht die ›Hure Babylon‹ –, treibt der plötzliche Umschlag in Disharmonie und Tod aus dem Rollenspiel Jacobys – er ist nicht ›Luischen‹ – gleichwohl die skandalöse Wahrheit seiner ambivalent reduzierten Männlichkeit hervor. Auch die tödliche Rache des manipulierten und getäuschten Zuschauers Mario, die dieser in Mario und der Zauberer (1930) am (homo-)erotisch ›verzaubernden‹ Gaukler Cipolla nimmt, gehorcht solchem semantischen Kalkül und lässt die Grenzen zwischen Referenten, Produzenten und Rezipienten von Zeichen einmal mehr verschwimmen. Und wieder inszeniert die Erzählung den »Augenblick von Mario’s Seligkeit« (GWE 6, S. 239) als eine »arge Zeitspanne« (ebd.), die »grotesk, ungeheuerlich und spannend« war (ebd.) und in der semiotischer Betrug in Wahrheit umschlägt: Stützt sich das Wort Savonarolas in Fiorenza auf das konkurrierende, vom Prediger bekämpfte trügerische Bild – als Metapher und als präsente Verkörperung in Fiore –, so inszenieren die beiden Erzählungen umgekehrt und jeweils kurz vor oder kurz nach dem Ende der erzählten theatralen Inszenierungen Akte tödlicher Erlösung, in denen Spiel in Wahrheit mündet: Während Luischen mit dem Tod des Opfers, also des betrogenen und sich selbst prostituierenden Akteurs endet, der in seiner Rolle als Luischen verstirbt, endet Mario und der Zauberer mit dem Mord am ›betrügenden‹ Akteur, am Hypnotiseur Cipolla also, der seinen Rezipienten Mario zum willenlosen Mit-Akteur macht, der Lächerlichkeit preisgibt und nach dem Ende der Szene – auch dies ein »befreiendes« (ebd., S. 240) – von Mario erschossen wird. Zu fragen wird sein, ob und wie sich diese Koppelung von Fiktion und Wahrheit später verändert, wie etwa die mit Fiorenza durchaus vergleichbare Ausgangslage in der Erzählung Das Gesetz (1943) umakzentuiert wird – statt des ritualisierten buhlerischen Auftritts der Fiore nun der Tanz um das ›Goldene Kalb‹ – »ewige[s] Fest«! (GWE 4, S. 490) –, statt des asketischen Priors nun der spirituelle und sinnliche, mit einer »Mohrin« (GWE 6, S. 385–388) liierte ›Künstler‹ und Volkserzieher Moses, statt Lorenzo das kommunikative Medium Aaron als Moses’ alter ego, statt mündlicher Predigt der schriftlich fixierte Dekalog, der am Ende seine dauerhafte Wirkung doch wieder mündlicher Rede und öffentlichem Agieren verdankt. Angesichts derart enger, relativierender Koppelung von Wahrheit an Fiktion und semiotischen (Selbst-)Betrug mit seinen negativen, gar tödlichen Konsequenzen verwundert es nicht, dass sich Thomas Mann früh um die Vermittlung des Gegensatzes von Wahrheit und Fiktion bemüht
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und damit auch zwei divergierende Autorenrollen zu versöhnen versucht – einerseits der ›betrügende‹, aber erfolgreiche ›Schauspieler‹ und ›Gaukler‹, der Erzähler von Fiktionen, andererseits der ästhetisch asketische, ›Wahrheit‹ offenbarende priesterliche ›Seher‹. So koexistieren unterschiedlich wertende Unterscheidungen des ›Literaten‹ vom ›Dichter‹ (in Tonio Kröger [1903]), des ›Künstlers‹ vom ›Literaten‹ (im Essay Der Literat [1913]) oder des ›Dichters‹ und ›Poeten‹ vom ›Prosaerzähler‹, ›Autor‹ und ›Schriftsteller‹ (in der Versidylle Gesang vom Kindchen [1919], GWE 6, S. 101: »Bin ich ein Dichter!«; S. 102: »Schriftsteller bliebst du und Prosaerzähler?«).21 Der »verirrte Bürger« Tonio (GKFA 2/1, S. 281) folgt am Ende nicht Lisawetas Verständnis des »Litterat[en] als vollkommener Mensch, als Heiliger« (ebd., S. 275), sondern präferiert die Entwicklung vom ›Literaten‹ zum ›Dichter‹, der sich durch »Bürgerliebe zum Menschlichen, Lebendigen und Gewöhnlichen« (ebd., S. 318) auszeichne, weist also kunstreligiöse Wirkungsansprüche zurück. Auch im Essay Der Literat (1913) kontrastiert Mann den ›Literaten‹ als kämpferisch moralisierenden und zugleich artistischen »Heiligen« (GKFA 14/1, S. 359), der als »Wissender und Richtender den Propheten des alten Bundes« ähnele (ebd., S. 362), mit dem »aufgeräumten und harmlosen Wesen« (ebd., S. 359) des kindlich spielerischen ›Künstlers‹, – »sittlich indifferent, unverantwortlich und unschuldig wie die Natur« (ebd., S. 359–360), zugleich ein »Mann der Wirkung und des Erfolges« (ebd., S. 360). Und schon in seinem Kommentar Zu Fiorenza (1912) inthronisiert Mann den ›Dichter‹ als die »Synthese selbst« (GKFA 14/1, S. 349), die den, wie Fiorenza vor Augen führt, gefährlichen Gegensatz von »Geist und Kunst, Erkenntnis und Schöpfertum, Intellektualismus und Einfalt, Vernunft und Dämonie, Askese und Schönheit« (ebd.) versöhnt und damit zugleich auch Friedrich Schillers Unterscheidung von idealistisch ›sentimentalisch‹ und realistisch ›naiv‹ in einem »dritten Reich« (ebd.) aufzuheben beansprucht.22
_____________ 21 »Gewissen schien immer mir Sinn und Sache der Prosa« (GWE 6, S. 102); gleichwohl wird die Rede des Geistlichen von der vitalen Lebensäußerung des Täuflings unterbrochen (ebd., S. 134), der zusammen mit der Mutter das »ewige Sinnbild« (ebd., S. 136) verkörpert, in dem sich der szenische Ritus des Tauf-Aktes zum Tableau verdichtet, bevor er sich in ›festlicher‹ Geselligkeit auflöst. 22 In Über naive und sentimentalische Dichtung (1795) kontrastiert Schiller den sinnlichen, am gegenwärtigen Individuellen orientierten »Realism« und ein nach dem vernünftigen Ganzen, Allgemeinen und Ewigen strebender »Idealism« (Schiller: Dichtung, S. 805) als unpoetische Extremwerte des »Naiven« und des »Sentimentalischen« (ebd. S. 798). Ihre ästhetische Vermittlung gelinge nur in einer Beschränkung des ›Realisten‹ durch »moralischen Wert« und des ›Idealisten‹ durch »Erfahrungsgehalt« (ebd. S. 808).
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II. 2. Trügerische Verkörperungen und Selbstrezeption Vor diesem Hintergrund gewinnt die Parabel Die vertauschten Köpfe (1940) programmatische Signifikanz. Der zunächst verführerisch ›freundliche‹ Verlauf dieser ›Legende‹ entlarvt sich nämlich, so die ausdrückliche Warnung der sich als mündlicher Erzähler inszenierenden Erzählinstanz (GWE 6, S. 241: »Zuhörer«, S. 272: »die Lauschenden«), als »Täuschung« (ebd.), – ›verkörpert‹ sie doch die Antithetik von Natur und Geist insofern, als sie zugleich deren körperliche, aber trügerische Aufhebung erprobt – und am Ende als Produkt des »Liebesverlangen[s]« (ebd., S. 319) verwirft, in dem sich »das Lebens-Grundgesetz des Wahns, des Truges, der Einbildung […], stärker und foppender hervor[tut]« (ebd., S. 318f.). Nachdem sich die brüderlichen Freunde, der »gute und kunstreiche Erzähler« Schridaman (ebd., S. 311) und der körperlich starke Nanda im Tempel der Muttergottheit Kali nacheinander selbst enthauptet haben, um ihre erotische Konkurrenz um Schridamans Ehefrau Sita zu beenden, gestattet Kali Sita die Wiederbelebung beider Geopferten, wobei Sita jedoch versehentlich das »edle und wissende Haupt« (ebd., S. 243) des zur ›Verstandeserkenntnis‹ neigenden Schridaman mit dem schönen und starken Körper Nandas und den Kopf des, nach Meinung Schridamans gefühlvoll ›poetischen‹, ›naiven‹ Nanda mit dem sexuell insuffizienten Körper Schridamans verbindet. Körperliche und geistige Vorzüge vereinigen sich in Schridaman laut eigener Aussage zu einem ›glücklichen‹ Menschen, dessen geistige »Neigungen« (ebd., S. 299) nun mit »seiner Körperbeschaffenheit in Einklang stehen« (ebd.), dessen ›Fremdes‹ sein eigen geworden ist, so dass es »kein Gegenstand des Verlangens und der Bewunderung mehr ist, außer daß ich mich selbst bewundere« (ebd.). Anders als in der Legende in Johann Wolfgang von Goethes Paria-Trilogie, die den Kopf des Brahmanen auf den Leib der Paria-Frau setzt, ist hier aus lustvoller Beobachtung des anderen Selbstbeobachtung und aus Fremdbezug Selbstbezug geworden. Die durch die Manipulation der Körper erreichten ›reineren‹ und ›vollkommeneren‹ »Verhältnisse« (ebd., S. 302) erweisen sich jedoch als ›falsche‹ – nicht nur, weil Nanda als Einsiedler inzwischen das »Leben eines Betrübten und Enttäuschten« (ebd., S. 327) führt, sondern auch deshalb, weil Schridaman den Verlust seines Verlangens nach dem Fremden betrauert, das nun als einverleibtes kein Objekt seiner Bewunderung mehr ist, da er »nun selber war, wonach ihm verlangt hatte« (ebd., S. 323). Die jeweils um ihre identitätsstiftenden »Ichund Mein-Gefühle« (ebd., S. 242, 322), um Haupt und Leib, den eigenen Geist und eigenen Körper ›Betrogenen‹ (ebd., S. 332f.) beschließen, sich nach »doppelseitiger Selbsttötung« (ebd., S. 335) mit der als »Doppelwitwe« (ebd.) verbrannten Sita zu vereinen, um dem von Schridaman ge-
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zeugten Sohm Sitas, Samadhi, ein ehrenvolles Weiterleben zu ermöglichen.23 Dieser zeichnet sich zwar durch körperliche Schönheit, aber auch durch »Blindlingstum« (ebd., S. 336) aus und wird genau dadurch erst zum ›Geistigen‹ angehalten – sein Haupt bezeichnet also nicht mehr Verstand oder Gefühl, sondern lediglich einen produktiven körperlichen Mangel, der ihn davor »behütete […], allzu sehr im Körper zu leben, und […] seinen Kopf zum Geistigen an[hielt]« (ebd., S. 336) – einem »Geistigen« (ebd.) allerdings, das, so der Kompromiss am Ende der ›Legende‹, auf physische Vermittlung und sinnliche – visuelle – Wahrnehmung im ›Vorlesen‹ angewiesen bleibt, »wobei er das Buch sehr dicht vor seine schimmernden Augen hielt« (ebd., S. 336). Wie später in Die Betrogenen erweisen sich also zeichenhafte ›Verkörperungen‹ als ›trügerisch‹, sind doch die Personifikationen des geistig und körperlich Starken, aber nicht mehr Begehrenden und des Gefühlvoll-Naiven, an Körper und Verstand Schwachen nur eingeschränkt oder gar nicht lebensfähig. Und die bereits in der ›Studie‹ Die Hungernden (1903) beklagte, am Ende aber als unhintergehbarer »Irrthum« akzeptierte »Sehnsucht« (GKFA 2/1, S. 380) der »Betrogenen, der Hungernden« (ebd., S. 379), die das begehren, was sie entbehren, wird als ein Lebensprinzip anerkannt, das auch die »Kunst« (ebd., S. 380) als »bildende Sehnsucht« (ebd., S. 379) überhaupt erst ermöglicht. In Die Betrogene (1953) erliegt dagegen die verliebte, vermeintlich verjüngte Witwe Rosalie von Tümmler als getäuschte Rezipientin ihrer selbst der Fehldeutung von Symptomen tödlicher Krankheit: Auch die Natur ›gaukelt‹, fingiert Saras biblisches »Fruchtbarkeitswunder« (GWE 6, S. 422) und suggeriert Rosalie zugleich ein neutestamentliches »Ostern ihrer Weiblichkeit« (ebd., S. 461) – der Tod »[lieh] die Gestalt von Auferstehung und Liebeslust« (ebd., S. 481). Was der anonyme Sonderling, der »jedes große Wort als eine Lüge« (GKFA 2/1, S. 83) empfindet und den Tod als letzte »Enttäuschung« erwartet (ebd., S. 86), in der kurzen Erzählung Enttäuschung 1896, sechs Jahre vor dem Brief des Lord Chandos in Hugo von Hofmannsthals Der Brief (1902), über seine von lügenhafter Dichtung genährten und enttäuschten Erwartungen, also über den Zusammenhang von semiotischem ›Betrug‹ und ontologischer Enttäuschung äußert, gilt in Thomas Manns letzter Erzählung für die Rezeption der trügerischen Körperzeichen durch Rosalie allerdings nicht mehr. Die Betrogene bewertet damit zugleich auch den Befund der Vertauschten Köpfe anders: zwar bleibt der ›Betrug‹ zu beklagen, aber die finale ›Enttäuschung‹ Rosalies weicht versöhnlicher ›Erlösung‹: »das [war] nicht Lug, sondern Güte und Gnade« (GWE 6, S. 481). Der die Realität verfehlende ›Lug‹ _____________ 23 Siehe im einzelnen u.a. Koopmann: Köpfe.
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fiktional irreführender Zeichen – und damit auch implizit ein Merkmal von Literatur selbst – scheint zumindest als Illusion und Selbstbetrug, der das Leben der Todkranken verschönert, rehabilitiert. Jedenfalls wird die vom Text beinahe ›therapeutisch‹ angebotene und kontrovers diskutierte, ebenfalls non-verbale aber nicht-mimetische Alternative der bildenden Kunst, nämlich die abstrakte Malkunst der durch einen Klumpfuß von Geburt an körperlich defizitären Tochter Anna (»wer ist denn die Künstlerin von uns beiden, – ich oder du?«, ebd., S. 457), offenkundig genau deshalb nicht präferiert, – obwohl sie Geist und sinnlichen Reiz versöhne und sich in ihr das »Dekorative dem Tiefsinnigen, ein sehr verfeinerter Sinn für Farbenkombinationen dem Asketischen der Gestaltung vereinte« (ebd., S. 409) und sie eine »höchst geistige, die bloße Naturnachahmung verschmähende, den Sinneseindruck ins streng Gedankliche, abstrakt Symbolische, […], transfigurierende Richtung« (ebd.) repräsentiere. Sowohl die trügerischen Natur-Zeichen und der damit geförderte semiotische Selbstbetrug, der Krankheitssymptome als Zeichen zurückkehrender jugendlicher Fertilität deutet, als auch die sublimierende Kunst der moralisch ›vernünftigen‹ Tochter resultieren aus körperlichen Ursachen – das »Schöne«, das die »Natur« an der moralisch freizügig gewordenen Rosalie getan hat (ebd., S. 457), erweist sich als Illusion und büßt seinen vorübergehenden lebenspraktischen Wert dennoch nicht ein.24 Ähnliches propagiert auch schon der Erzähler im ersten Roman Die Geschichten Jaakobs (1933) der Tetralogie Joseph und seine Brüder, wenn er im vierten Hauptstück im Kapitel »Der große Jokus« (GWE 9, S. 199–212) den ›Betrug‹ Jaakobs, der sich als sein älterer Bruder verkleidet und sich so den unanfechtbar gültigen, Esau zustehenden und das Erbe sichernden Segen des blinden Vaters erschleicht‚ als bloß spielerischen Scherz rechtfertigt: »In Wahrheit, niemand wurde betrogen, auch Esau nicht« (ebd., S. 199). In der Begründung des Erzählers zeichnet sich ab, wie das sowohl poetologische als auch moralische Dilemma von Trug und Wahrheit zumindest in Joseph und seine Brüder durch Rekurs auf den Mythos aufgehoben wird, der das Handeln der Figuren, »die nicht immer ganz genau wussten, wer sie waren« (ebd.), bestimme: alles Geschehen [ist] ein Sicherfüllen […], nach geprägtem Urbild: Das heißt, es war nicht zum ersten Male, es war zeremoniellerweise und nach dem Muster geschehen es hatte Gegenwart gewonnen gleichwie im Fest und war wiedergekehrt, wie Feste wiederkehren. (Ebd.)
_____________ 24 Zu den biblischen und literarischen Bezügen (zum Lachen Saras [Gen. 18] und zu Theodor Storms Ein Bekenntnis) in Die Betrogene als Manns »ideologischem Vermächtnis« vgl. Elsaghe: Nostalgie, u.a. S. 156ff., 169f., zur semantischen Feinanalyse u.a. Baumgart: Betrüger, Heydenreich: Eros, sowie Schößler: Frau.
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Als vorgegebene ›Rituale‹, als sich wiederholende ›Urszenen‹ erhalten auch Illusionen und Täuschungen (und, so ist poetologisch zu extrapolieren: auch fiktionale Erzählungen) höhere, überindividuelle und ›ewige‹ Wahrheit – »mythischer und typischerweise« (ebd.).25 III. Körper und Schrift: Produktion und Rezeption und das Verhältnis von Präsenz und Absenz Der in Zu Fiorenza (1912) von Thomas Mann propagierte ›dritte Weg‹ ist – gerade wo er dem Versuch geschuldet ist, Positionen des l’art-pour-l’art zu überwinden und etwa ›Erkenntnis und Schöpfertum‹, also Rezeption und Produktion zu harmonisieren – literaturgeschichtlich und poetologisch nicht nur Schillers Versuchen, den idealtypischen Gegensatz von ›naiv‹ und ›sentimentalisch‹ zu vermitteln, sondern gleichermaßen dem ab der Mitte des 19. Jahrhunderts locker daran anknüpfenden Erzählkalkül des selbstreflexiven ›poetischen Realismus‹ verpflichtet. Dieser umspielt variantenreich die Produktions- und Rezeptions-Anomalien einer ›Diätetik‹ des Erzählens, die das Verhältnis von Rezeption und Produktion, Aufnehmen und Abgeben, Eindruck und Ausdruck in dynamischer Balance zu regulieren versucht – erinnert sei nur an die Rahmen- und Binnen-Erzählsituation in Wilhelm Raabes Stopfkuchen (1890) oder an Friedrich Spielhagens 1883 erschienene Beiträge zur Theorie und Technik des Romans, die eine ausgewogene Beziehung von ›Finden‹ und ›Erfinden‹ propagieren.26 Der kranke Schiller verpflichtet sich bei Thomas Mann emphatisch diesem Ideal in Schwere Stunde (1905), wenn er Rezeption und Produktion, »Erkennen und Schaffen« nur unterscheidet, um beide Ziele zugleich anzustreben: »war Schaffen göttlich, so war Erkenntnis Heldentum, und
_____________ 25 Peter von Matt weist darauf in seiner Interpretation des Mannschen Esau-›Jokus‹ hin, vgl. Matt: Intrige, S. 108–117, v.a. S. 110 (»›Der große Jokus‹ ist eine entschieden andere Sache als beispielsweise ›Der große Betrug‹ oder ›Der überlistete Bruder‹« [ebd.]). 26 Vgl. in diesem Sinne Ort: Stoffwechsel (zu Raabe), sowie Spielhagen: Beiträge, S. 1–34: »So erscheint uns also die Thätigkeit des Künstlers, des Dichters stets in der zwiefachen Qualität des Findens und Erfindens, und zwar dergestalt, daß […] sie fortwährend ineinander spielen; sich beständig eines in das andere umsetzen. […] er [der Künstler] [kann] nichts verwenden […], wie es gegeben; jedes Atom des Erfahrungsstoffes [muß] erst durch die Phantasie befruchtet werden […]« (ebd., S. 34). Die Rezeption von ›Vorgefundenem‹ suggeriert innerhalb der dargestellten Welten minimale mimetische (›realistische‹) ›Referenz‹ ikonischer oder narrativer Produktionsakte, und die (dadurch gleichwohl eingeschränkte) Autonomie der Zeichenproduktion sichert umgekehrt deren intrinsischen Kunstwert; wie die Zeichenund Realitätskonzeption der erzählende Literatur des ›Realismus‹ diesen Zielkonflikt bearbeitet, untersucht z.B. Ort: Zeichen, vgl. v.a. S. 95–148.
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beides war der, ein Gott und ein Held, welcher erkennend schuf!« (GKFA 2/1, S. 426).27 Vielfach kontrastieren die frühen Erzählungen Thomas Manns den narrativen ›Normalfall‹ einer als vergangenes Erleben einer Binnen-Erzählerfigur ontologisch abgesicherten, mündlichen Rede, die in Gefallen (1894) »fix und fertig in Novellenform« (GKFA 2/1, S. 17) präsentiert wird, mit Gegenbeispielen sowohl einsamer subjektgefährdender Rezeption ohne Rückbindung an Kommunikation als auch übersteigerter solitärer Phantasie-Produktion ohne Bezug auf beobachtete, erfahrene Wirklichkeit. Während noch in Vision (1893) die visuell ›empfangende‹, »einsaugende« Imagination des Ich (ebd., S. 11) – »wiedergeschaffen, geformt, gemalt von der Phantasie« (ebd., S. 12) – zur synekdochischen Erinnerung an ein verlorenes Ganzes (»kein Ganzes eigentlich, aber doch vollendet wie damals«, ebd.) domestiziert wird, und die Tagebucheinträge des von Todesahnungen geplagten Ich in Der Tod (1897) umgekehrt den Status einer zukünftig realisierten, selbsterfüllenden Prophezeiung erhalten (ebd., S. 71–78), misslingt in Der Bajazzo (1897) die selbsttherapeutische Verschriftung des gescheiterten Lebens eines gelangweilten Pseudo-Künstlers, dem es nach eigener Einschätzung nicht gelingt, seine Kunstrezeptionen – die »Wirkung eines großen Kunstwerkes« (ebd., S. 141) – in eigene kreative Produktion zu überführen und das »Bedürfnis« (ebd.) zu befriedigen, die ausgelösten ›Stimmungen‹ »zu äußern, sie mitzuteilen, sie zu zeigen, ›etwas daraus zu machen‹« (ebd.). Die Erzählinstanz erkennt jedenfalls den Kunstcharakter der 1897 veröffentlichten Erzählung nicht, bricht die Niederschrift ab, ohne sie, im Unterschied zu Thomas Mann, zu publizieren: Aus »Ich habe mir dies reinliche Heft bereitet, um meine ›Geschichte‹ darin zu erzählen« (ebd., S. 120) wird am Ende: »Ich höre auf zu schreiben, ich werfe die Feder fort, – voll Ekel, voll Ekel! – Ein Ende machen« (ebd., S. 158).28 In Tristan (1903) erweist sich der erfolglose und narzisstisch in seinem eigenen und einzigen Roman lesende Schriftsteller und Selbstrezipient Detlev Spinell zwar durchaus als erkenntnisfähig, aber dafür umso mehr als handlungsunfähig, was sich bereits anlässlich der krankheitssteigernden, für Gabriele Eckhof am Ende letalen Wagner-Rezeption abzeichnet, in der die den Klavierauszug von Richard Wagners Tristan und Isolde spielende Gabriele den aktiveren Part übernimmt: »›Wie kommt es nur, _____________ 27 Vgl. nochmals ähnlich Der Literat: »Der Literat drückt aus, indem er erlebt, er erlebt, indem er ausdrückt, und er erlebt, um auszudrücken« (GKFA 14/1, S. 357). 28 Womit sich indirekt das semantische Muster der exklusiven Selbststigmatisierung ankündigt, welches sich bei Thomas Mann früh und rekurrent beobachten lässt und auch den Selbstekel von ›Juden‹, ›Frauen‹ und ›Literaten‹ betrifft, vgl. dazu eingehend Detering: Juden, S. 94ff. und S. 96–101 zu Wälsungenblut und Luischen.
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daß Sie, der Sie es so gut verstehen, es nicht auch spielen können?‹« (GKFA 2/1, S. 352): »Das trifft selten zusammen« antwortet Spinell »gequält« (ebd., S. 353). Der unproduktive Schriftsteller, der das im EmpireStile gestaltete Sanatorium ›Einfried‹ nur »des Stiles wegen« (ebd., S. 332), also als Rezipient, bewohnt und wie die Patienten »zu schwach [ist], sich selbst Gesetze zu geben« (ebd., S. 319), vermag es seinerseits nicht, beim Leser seines Briefes, Gabrieles Ehemann Klöterjahn, nachhaltig Wirkung zu hinterlassen, versagt also als Produzent. In Das Gesetz (1943) wird sich anlässlich des Gesetzgebers, Schrifterfinders und ›Autors‹ Moses diese Problematik auf andere Weise wiederholen. Übrigens gelangt schon in der ›Studie‹ Die Hungernden (1903) der einsame, wie Spinell indirekt jüdisch stilisierte Künstler Detleff, der sich auf die Position des »vom Leben […] ausgeschlossen[en]« Beobachters zurückzieht (ebd., S. 375), nach der Begegnung mit einem Bettler zu der Einsicht, dass sich die exklusive Selbststilisierung zum »Betrogenen«, zum vergeblich nach Wirklichkeit und Leben »Hungernden«, zugleich »Anklagenden und Verneinenden« (ebd., jeweils S. 379), dass sich der Grundsatz: »Du darfst nicht sein, Du sollst schauen; Du darfst nicht leben, Du sollst schaffen; Du darfst nicht lieben, Du sollst wissen!« (ebd., S. 376) als ein »Irrthum« (ebd., S. 379) erweisen könnte, den es zu revidieren gilt. Zwar bleibt eine unaufhebbare Distanz des Beobachters und Erzählers zum Beobachteten und Erzählten bestehen, ist aber nicht mehr zu beklagen, da die »Sehnsucht«, die »dem einfach und triebhaft Lebendigem gilt, dem stummen Leben, das die Verklärung durch Geist und Kunst, die Erlösung durch das Wort nicht kennt« (ebd., S. 380), auf einer Illusion beruht, die auch die Semantik sozialer Selbstausgrenzung betrifft. So erweist sich schon das in der Imagination des todkranken Albrecht van der Qualen in Der Kleiderschrank (1899) postulierte Exklusionsverhältnis zwischen mündlichem Erzählen und Wirklichkeit, also zwischen dem passiven Zuhörer und der nackten Erzählerin einerseits und den Erzählen unterbrechenden und seine Wiederaufnahme nachhaltig behindernden Versuchen des Rezipienten andererseits, sein körperliches Begehren handgreiflich an der Erzählinstanz zu stillen (ebd., S. 203), als bloße Phantasmagorie und poetologische Allegorie. Gleichwohl bleiben ein dem KunstRezipienten drohender Wirklichkeitsverlust, das Dilemma aus Wirkungseinbuße und irreführender, trügerischer Wirkung fiktionaler, – ›verfälschender‹ – Zeichen ebenso dauerhaft Themen Thomas Manns, wie die potenziell tödliche Selbstgefährdung der Kunstproduzenten. Letzteres illustriert nicht zuletzt die Erzählung Serenus Zeitbloms über Krankheit, Teufelspakt und Liebesverzicht des Tonsetzers Adrian Leverkühn (Doktor Faustus, 1947), dessen Fiktionalität wiederum von Thomas Mann in sei-
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nem ›Schöpfungsbericht‹ Die Entstehung des Doktor Faustus (1949) reflektiert wird. Dichtung und Kunst müssen Wirklichkeit also notwendig verfehlen, ohne deshalb allerdings den Bezug auf diese gänzlich aufzugeben. Und, wie Lotte in Weimar (1939) vor Augen führt, wird es immer wieder innerliterarisch auszuhandeln sein, wo eine sich fiktional abschließende Selbstbezüglichkeit ihre Grenzen in der Differenz zum Außerliterarischen findet. So nähern sich die Rollen von Autor, Figur und späterem Selbst-Leser in einer reflexiven Engführung einander an, die der Roman zwischen Goethe und der – zunächst in die Die Leiden des jungen Werthers hineingeschriebenen, später aus ihnen wieder in die Wirklichkeit hinaustretenden – Charlotte Buff inszeniert.29 Charlotte will sich bei Goethe »nach dem Möglichen umsehen, dessen Nachteile gegen das Wirkliche so sehr auf der Hand liegen, und das doch […] immer neben ihm in der Welt bleibt« (GKFA 9/1, S. 443), obwohl »all Wirklichkeit und Werk […] eben nur das verkümmerte Mögliche ist« (ebd.), und attestiert Goethe immerhin die Erfüllung des Möglichen im Wirklichen. Das Abgleichen von Fiktion (Möglichkeit) und Wirklichkeit, von ›Kunst‹ und vergangenem und gegenwärtigen ›Leben‹, stabilisiert beide aus Goethes Sicht jedenfalls in einer mittleren zeitlichen Distanz: nicht umsonst war mir kürzlich erst, […] unser Büchlein, der ›Werther‹, wieder in die Hände gefallen, daß Ihr Freund untertauchen mochte im Frühen-Alten, da er sich durchaus in eine Epoche der Erneuerung und der Wiederkehr eingetreten wußte, über welcher dann freilich nicht unbeträchtlich höhere Möglichkeiten walteten, das Leidenschaftliche in Geist aufgehen zu lassen. Wo aber das Gegenwärtige als die Verjüngung des Vergangenen sich geistreich zu erkennen gibt, kann es nicht wundernehmen, daß im bedeutungsvollen Wallen der Erscheinungen auch das unverjüngt Vergangene mit zu Besuche kommt, […]. (Ebd., S. 438)
IV. Körper, Stimme, Schrift: ›Erfolg‹ oder ›Wahrheit‹? Besonders gut ablesbar wird das prekäre Verhältnis von Zeichen und Wirklichkeit an denjenigen Texten Thomas Manns, die Schriftrezeption und -Produktion an prägende oder ihrerseits zu modellierende, individuelle oder kollektive Körperlichkeit koppeln und damit zugleich sowohl die Relation semiotischer Substitutionen zu ihren körperlich präsenten oder _____________ 29 Der letzte Satz des Romans Lotte in Weimar und Sprechakt des Beobachters Mager, des ›gebildeten‹ Kellners im Weimarer ›Elefanten‹, gewinnt vor diesem Hintergrund unverhohlen allegorische Zeichenhaftigkeit, bildet er doch den Austritt Lottes aus Goethes WertherRoman räumlich ab: »›Werthers Lotte aus Goethe’s Wagen zu helfen, das ist ein Erlebnis – wie soll ich es nennen? Es ist buchenswert‹« (GKFA 9/1, S. 446).
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absenten Referenten als auch die asymmetrische Opposition von ›Erfolg‹ und ›Wahrheit‹ bearbeiten. So provoziert das rhetorisch elaborierte Bekenntnis- und Rache-Schriftstück Spinells in Tristan, mit dem er Gabrieles Ehemann Klöterjahn als Leser »betroffen zu machen« (GKFA 2/1, S. 362), seinen »robusten Gleichmut einen Augenblick ins Wanken zu bringen« (ebd., S. 363) versucht, zwar eine alles andere als ›gleichmütige‹, vielmehr aggressive mündliche Antwort (ebd., S. 363–368), verfehlt aber seine beabsichtigte, Selbsterkenntnis fördernde Wirkung beim Adressaten – als Brief an einen räumlich anwesenden Adressaten ist der Text kommunikativ dysfunktional (ebd., S. 364), als mit großer Kraftanstrengung produzierte ›Literatur‹ erfolglos. Die potente Mündlichkeit des körperlich vitalen Adressaten trägt den Sieg davon, dem Autor bleibt am Ende nur – erneut auf bloße Selbstrezeption zurückgeworfen –, die Abweichungen von Klöterjahns Briefzitaten mit dem Original zu korrigieren (»unaussprechlich« statt »unauslöschlich« [ebd., S. 364f.]; »unausbleiblich« statt »unausweichlich« [ebd., S. 365, 369]).30 Woran der Roman- und Brief-Autor Spinell scheitert – durch Schrift den körperlich dominanten Klöterjahn zu bändigen, durch ›Kunst‹ das ›Leben‹ zu prägen, was Spinell als Rezipient wiederum von seiner architektonischen Umgebung zu erhalten hofft, nämlich ›Gesetz‹ und ›Stil‹ –, das gelingt umgekehrt dem erfolgreichen Schriftsteller Gustav Aschenbach in Der Tod in Venedig (1912) auch nur einmal und erscheint nicht nur moralisch als ›gefährlich‹, sondern auch als lebensreduzierend. Schreiben nähert sich der Produktion eines »Standbildes« (ebd., S. 553), der »Form als Gottesgedanken« (ebd.), an die sich in der körperlichen und stimmlichen Gegenwart des, zum »göttliche[n] Bildwerk« (ebd.) stilisierten, Modells Tadzio vollzieht und in der – »Glück des« gottgleichen »Schriftstellers« (ebd., S. 555) – der »Gedanke […] ganz Gefühl, […] das Gefühl […] ganz Gedanke zu werden vermag« (ebd.): Sein Verlangen [ging] dahin, in Tadzios Gegenwart zu arbeiten, beim Schreiben den Wuchs des Knaben zum Muster zu nehmen, seinen Stil den Linien dieses Körpers folgen zu lassen, der ihm göttlich schien, und seine Schönheit ins Geistige zu tragen […]. Nie hatte er die Lust des Wortes süßer empfunden, nie so gewußt, daß Eros im Worte sei, wie während der gefährlich köstlichen Stunden, in denen er, […] im Angesicht des Idols und die Musik seiner Stimme im Ohr, nach Tadzios Schönheit seine kleine Abhandlung, – jene anderthalb Seiten erlesener Prosa formte, deren Lauterkeit, Adel und schwingende Gefühlsspannung binnen kurzem die Bewunderung vieler erregen sollte. (Ebd., S. 556)
_____________ 30 Zum Verhältnis von ›Judentum‹ und ›Schrift‹, zur mikrosemantischen Analyse von ›Schrift‹ und ›Malerei‹ (›Schriftbild‹) in Tristan und zur ›gemalten‹ Handschrift des verlogenen Spinell, die die »›Wahrheit‹ des Körpers« vergebens zu kaschieren versuche, siehe eingehend Elsaghe: Judentum, S. 70 sowie S. 63–71.
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Ein beinahe utopisch gelingender Medienwechsel von der Körperform zum Sprachstil setzt Schreiben mit Malen oder Skulpieren gleich – »seltsam zeugender Verkehr des Geistes mit einem Körper« (ebd.) – und bringt ein in kurzem ›bewundertes‹ und erfolgreiches, »schöne[s] Werk« (ebd.) hervor, dessen abschreckende und ›ausschweifende‹ »Entstehungsbedingungen« und »Quellen« (ebd.) – würden sie dem Publikum bekannt – die »Wirkungen des Vortrefflichen« (ebd.) gleichwohl aufzuheben drohten. Der Produktionsprozess hinterlässt Aschenbach von »entnervender Mühe […] erschöpft, ja zerrüttet« (ebd.) und scheint schwerlich gefahrlos wiederholbar. »Entnervt, zerrüttet und kraftlos dem Dämon verfallen« (ebd., S. 584) erwacht Aschenbach später auch aus dem »furchtbaren Traum« (ebd., S. 582), der ihn in ein dionysisches »körperhaft-geistiges Erlebnis« (ebd.) involviert: In einem Akt kultischer Opferung und Anbetung des ›fremden Gottes‹, der in kollektive Raserei und Unzucht mündet, wird das »öbszöne Symbol, riesig, aus Holz« (ebd., S. 583) enthüllt, dessen Betrachtung von der physischen Stimulation der sich in seiner Nähe Aufhaltenden nicht mehr zu trennen ist. Solche alptraumhaft und hyperbolisch ›erfolgreiche‹ Rezeption eines Bildwerkes fällt also mit seiner temporär körperlich, beinahe magisch bindenden Wirkung zusammen. Und vor solch körperlich auszehrenden, ikonischen und rituellen Präsenzmedien muss auch die im Falle des Schriftstellers Aschenbach ambivalent selbsttherapeutische Funktion des Schreibens und der literarischen Verschriftung des imaginär Gesehenen versagen. Vor diesem Hintergrund kann die im Jahre 1943 publizierte, für den Sammelband The ten commandments. Ten short Novels of Hitler’s War against the Moral Code entstandene, biblische Erzählung Das Gesetz in der Tat als spätes Gegenstück zu Der Tod in Venedig gelten. Mose, der erfolglose Redner, der »öfters die Worte nicht [fand]« (GWE 6, S. 340) und, anders als sein Bruder Aaron, »nicht zusammenhängend zu sprechen vermochte« (ebd., S. 350), strebt nach dem »Geistigen, Reinen und Heiligen, dem Unsichtbaren, denn dieses schien ihm geistig, heilig und rein« (ebd., S. 337), und versucht, das ›auserwählte‹ Volk zu »Diener[n] des Unsichtbaren« (ebd., S. 339) zu erziehen. Mit diesem unsichtbaren Gott Jahwe steht er in einer Art von ›zeugendem Verkehr des Geistes mit einem Körper‹, der, noch deutlicher als im Falle Aschenbachs, des vom ›göttlichen‹ Tadzio »Enthusiasmierte[n]« (GKFA 2/1, S. 554), alle Merkmale imaginären Selbst-Verkehrs trägt. In diesem Rapport wird ›Gott‹ zur visionären Außenprojektion von Moses Innerem, erscheint also in »Eingebungen und Offenbarungen, die in einem gewissen Fall sogar sein Inneres verließen und als flammendes Außen-Gesicht […] seine Seele heimsuchten« (GWE 6, S. 338), und Gott »antwortete ihm aus seinem Inneren mit so deutlicher Stimme, daß er’s mit Ohren hörte und aufs Angesicht fiel« (ebd., S. 384).
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Der Gestaltungswille von Mose richtet sich jedoch zunächst nicht auf den Bereich semiotischer, geschweige denn künstlerischer Produktion: Seine »Bildnerlust« (ebd., S. 349), »Bildungslust« (ebd., S. 359) und »Gotteslust« (ebd., S. 353), die von der ›Lust‹ Gottes »zu dem Volke und seiner Gestaltung […] gar nicht zu unterscheiden« ist (ebd.), beansprucht, einen »fleischlichen Gegenstand […], dies formlose Menschentum« (ebd., S. 359) seines Volkes wie ein Bildhauer zu bearbeiten – »wie der Steinmetz Lust hat zu dem ungestalten Block« (ebd., S. 339), so versucht Mose aus der »heillosen Masse, die er liebte, eine heilige Gottesgestalt zu metzen« (ebd., S. 365) und aus dem ›Blut seines Vaters‹ (ebd.), dem ihm anvertrauten Volk, »ein reines Werk, dem Unsichtbaren geweiht« (ebd.), zu schaffen. Die rekurrent über den Text verteilte Volkskörper- und BildhauerMetaphorik (z.B. ebd. S. 339, 370, 380, 384) beschreibt, religiös gewendet, eine volkserzieherische ›Werk‹-Utopie, die durchaus an eugenische beziehungsweise ›rassenhygienische‹ ›Reinigungs‹- und ›Gestaltungs‹-Phantasien erinnert (»blutige Reinigung« [ebd., S. 402]), im Verlauf der Erzählung allerdings dementiert wird.31 Die kunst-analoge, moralische Zurichtung eines widerspenstigen »ungestalten Volksleib[es]« (ebd., S. 376) und seines »vergeßlich-rückfälligen« (ebd., S. 384) »Fleisches, in dem er arbeitete« (ebd.), entpuppt sich als eine Produktion, die ohne medialen Umweg über dauerhafte künstliche Zeichen einen Kollektiv-Körper zu ›bilden‹ versucht, die Adressaten des ›Künstler‹-Erziehers dabei einem Bilderverbot unterwirft und sie stattdessen selbst zum ›Kunstwerk‹ des ›Priesters‹ erhebt. Solches Schaffen mündet in einem tyrannischen und grausamen Regiment des Volksführers Mose, woran die Steinmetz-Bildlichkeit keinen Zweifel aufkommen lässt: Er sprengte mit dem Meißel an ihnen herum, daß die Stücke flogen, und das war sehr wörtlich zu nehmen, denn mit den Ahndungen, die er auf die schlimmsten Überschreitungen […] setzte, war es kein Spaß. (Ebd., S. 380)
Das »Werk der Reinigung und Gestaltung im Zeichen des Unsichtbaren, des Bohrens, Wegsprengens und Formens in Fleisch und Blut« (ebd., S. 370), das an Moses körperliche Präsenz gebunden bleibt, kann dem schlechten Redner und grausamen Anführer in einer auf Mündlichkeit basierenden Kultur auf Dauer nicht gelingen. Es bedarf eines zeichenhaften, sowohl sichtbaren als auch künstlichen Umweges, der den ›Volkskörper‹ durch unbelebten Stein ersetzt, in den es nun realiter zu meißeln gilt. Mose beruft sich selbst zunächst zum (selbst-)rezeptiven, reproduzierenden Verschrifter (»Gott befahl ihm laut aus seiner Brust, zwei Tafeln zu _____________ 31 Ausgehend vom Sozialdarwinismus des späten 19. Jahrhundert (Francis Galton, Alfred Ploetz) realisieren sich diese pseudowissenschaftlichen ›Phantasien‹ bekanntlich in der ›Rassenpolitik‹ des NS-Staates mit massenmörderischer Konsequenz; zur Geschichte von Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland siehe Weingart: Rasse.
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hauen aus dem Berg und das Diktat hineinzuschreiben« [ebd., S. 393]). Der »Text der Tafeln, [der] bündig-bindende« (ebd., S. 395), vermag als Artefakt das »Ewig-Kurzgefaßte« (ebd., S. 393) des Dekalogs dauerhaft zu speichern und vor Augen zu halten. Über der Erfüllung dieser Aufgabe wird Mose jedoch selbst zum genial kreativen und stolzen ›Künstler‹, der eine alphabetische Laut-Schrift erfindet. Dieser dem »Unsichtbaren und Geistigen« geschuldete »Gotteseinfall« (ebd., S. 395) des gottgleichen Schrifterfinders und Schrift-›Künstlers‹ abstrahiert von der ägyptischen Bilderschrift und orientiert sich am konsonantischen Lautstand der eigenen, von den zukünftigen, das Lesen erst lernenden Rezipienten des Textes gesprochenen Sprache (ebd., S. 393–397). Der körperlich anstrengende Produktionsakt, der Schreiben an bildkünstlerisches Skulpieren annähert, umfasst auch das Ausmalen der Buchstaben mit dem eigenen Blut: Nicht die Körper der Adressaten des ›Werkes‹ werden also metaphorisch bearbeitet, sondern der Körper des Künstlers selbst (»so stach er sich mit dem Stichel in den Arm« [ebd., S. 397]), durch den stellvertretend das ›Blut der Väter‹ und des ganzen Volkes in das Werk ›einfließt‹ (»und schrieb […] mit meinem Blut, mit dem Blut meines Vaters, mit eurem Blute«, ebd., S. 401). Hatte Mose zuvor vergeblich wie ein Bildhauer und Schöpfer-Gott agiert, der sein Volk zu formen versucht, das sich selbst jedoch kein Bild machen darf, so scheint er nun seine Wirkungsansprüche auf diejenigen eines Schriftkünstlers zu reduzieren, der sich mit der Verschriftung des zuvor mündlich Gepredigten zufrieden gibt. Er scheitert allerdings erneut und sieht sich nach seiner Rückkehr mit einem überdies misslungenen (»mißgegossen«, »lächerlich gestaltet« [ebd., S. 399]; »unähnlich« [ebd., S. 401]) Konkurrenzbildwerk des ob seiner Kleinheit ›Kalb‹ genannten goldenen Stiers und »Götzenunfug[s]« (ebd., S. 399) konfrontiert. Diese Plastik und ihre kollektiv bindende, orgiastische Wirkung kompensieren die lange Absenz des Schriftkünstlers Mose und strafen zugleich den Inhalt seiner Gesetzestafeln Lügen. Ihre einzige Funktion, der Mose sie sofort opfert, ist die Zerstörung des Bildwerkes. Als Werkzeuge, mit denen er dieses im Zorn zu einer »formlose[n] Masse« (ebd., S. 400) zermalmt, zerbrechen beide, die zweite wird gar mutwillig von Mose an dessen Sockel zerschmettert (ebd., S. 399f.).32 _____________ 32 Dies mutet wie ein später Kommentar zum Konkurrenzverhältnis an, das der deutschsprachige Realismus des 19. Jahrhunderts beinahe zwanghaft und mit Vorliebe zwischen mimetisch trügerischen Bildern und dem einzigen visuellen Medium, das deren ›gefährliche‹ Wirkung auf Rezipienten wie Referenten zu bändigen vermag, nämlich Schrift und Literatur, erzählerisch in Szene setzt (vgl. dazu eingehend Ort: Zeichen). Die Problematik hat, so ist zu folgern, bei Thomas Mann noch Bestand, die Lösungen sind jedoch andere geworden, der Sieg der Schrift ist nicht mehr a priori gesichert: Mose zerschlägt zwar das goldene Bildwerk mit Hilfe seiner Schrifttafeln, zerstört diese dabei aber
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Dass Das Gesetz nach einem letzten, grausamen Strafgericht und Moses zweitem Verschriftungsversuch, der die Qualität seiner Schriftzeichen steigert (ebd., S. 402ff.), in einer Ansprache von Mose endet, die das Volk mit der Formel »Amen« bekräftigt – zugleich das letzte Wort der Erzählung (»Und alles Volk sagte Amen.« [ebd., S. 406]) –, erscheint in diesem Zusammenhang als signifikant. Nur als vom Autor mündlich, in öffentlich agierter Rede kommentierter Text, dessen Inhalt, Wirkungsabsicht ebenso erläutert werden wie die medientechnische Innovation seines literalen Zeichensystems als Verbreitungsmedium der Zukunft, vermag der schriftliche Dekalog bescheidene soziale Wirkung jetzt und in Zukunft zu entfalten.33 Seine am Schluss der Erzählung inaugurierte Wirkung trägt allerdings dem zu erwartenden relativen Misserfolg seiner Inhalte bereits Rechnung, gesteht Mose doch ein, dass das materiell zerstörte ›Kalb‹ nicht besiegt ist und die Gebote auch in Zukunft übertreten werden: »›Doch eiskalt ums Herz soll es wenigsten jedem werden, der eines bricht‹« (ebd., S. 405). Schlechtes Gewissen als minimaler Wirkungsanspruch des moralisierenden Schriftkünstlers ist die Errungenschaft, die der von Mose geschaffenen und seine körperliche Existenz und Präsenz überdauernden Schriftkultur entspricht. Geltung des Inhalts und soziale Wirkung werden dabei von Mose explizit unterschieden: Wer die nomothetische Funktion des Dekalogs leugnet oder das ›Kalb‹ (ebd.) absichtlich wiedereinzusetzen trachtet, wird zwar von Mose verflucht, nicht aber die illusionslos eingeräumte, praktische Übertretung der Gebote. Die von Mose auch jetzt noch gebrauchte Metaphorik der »in den Stein des Berges« ›gemetzten‹ und in »Fleisch und Blut geschriebenen« Gebote (ebd., S. 405) als »ABC des Menschenbenehmens« (ebd.) verweist am Ende nur mehr auf den Nexus von Schrift und Gewissen und verleiht der Hoffnung auf anhaltende Schrift-Lektüre und Internalisierung des Inhalts rhetorischen Ausdruck.34 _____________ ebenfalls – beide Medien erweisen sich somit als äquivalent, im utopisch geglückten Austausch und ›zeugenden Verkehr‹ ebenso wie im zerstörerischen Nexus. Zum Vergleich mit der Ästhetik literarisch inszenierter Medienwechsel in der Romantik siehe Caduff: Literarisierung. 33 »Sein ist das ABC, und seine Rede, möge sie auch an dich gerichtet sein, Israel, ist ganz unwillkürlich eine Rede für alle«, da seine »Sigeln […] notfalls alle Sprachen der Völker schreiben« können (GWE 6, S. 404). 34 »Auch in dein Fleisch und Blut soll es gemetzt sein, Israel, so daß jeder, der ein Wort bricht von den zehn Geboten, heimlich erschrecken soll vor sich selbst und vor Gott« (ebd., S. 405). – Kristiansen, der die Bedeutung der während der schrift- und gewissenlosen Zeit aber auch nach der Erfindung der Schrift vom Erzähler und von Mose gebrauchten Bildhauer-Metaphorik vernachlässigt, erkennt in der pessimistischen Anthropologie von Das Gesetz dagegen Züge einer »totalitären Humanität« wieder, die die Mythos-Konzeption von Joseph und seine Brüder dementiere und an die »Sympathien für Form und Struktur des Totalitarismus« der politischen Essayistik Manns in den 1920er und 30er Jahren anknüpfe
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Weder Präsenzmedien – Bildkunst und ihre rituell-szenischen, kollektiv erfolgreichen Wirkungs- und Vergesellschaftungsformen – noch das asketische Absenzmedium der Schrift allein können also das früh erkannte Dilemma aus trügerischem, temporärem Erfolg und nachhaltig – schriftlich – zu speichernder und zu vermittelnder, sittlicher Botschaft überwinden. Der implizite poetologische Reflexionsdiskurs Manns vertritt in Das Gesetz vielmehr einen semiotischen und moralischen Kompromiss und umreißt die Rolle eines am Ende resignativen, vom grausamen Rigoristen ohne rhetorische Kompetenz zum endlich auch ›reden‹ könnenden ›Künstler‹ geläuterten beharrlichen Schrifterfinders, der göttliche als innere Eingebungen verschriftet und am politisch-moralischen Ethos des Lehrers, Erziehers und Priesters festhält, es aber in den wirkungsästhetischen Anspruch des ›Künstlers‹ ummünzt.35 Letzterer verzichtet – anders als Mose noch vor seinem zweiten, erfolgreicheren Verschriftungsversuch – auf die körperliche Gewalt tödlicher Strafexekutionen und vertraut auf die Wirkung von Schriftlichkeit. Bedingung für Literatur, so wäre ex negativo daraus ebenfalls zu schließen, ist aber gerade, dass Mose allein ein nachhaltiger Erfolg als singulärer ›Autor‹ der zehn Gebote verwehrt bleibt. Deren dauerhafter kathartischer Erfolg stellt sich gerade nicht in der bloßen Re-Lektüre des Dekalogs ein, sondern bedarf, wie die Erzählung andeutet, nach zweimaliger Verschriftung sowohl mündlicher Absicherung durch den Autor, als auch, so ist mit Blick auf Thomas Manns Erzählung selbst zu konstatieren, schriftlicher Anschlusskommunikation, literarischer Neu-Erzählung. _____________ (Kristiansen: Freiheit, S. 66f.), will aber gleichwohl divergierende Interpretationen nur ›ergänzen‹ (ebd., S. 70, Anm. 12). 35 »Die Novelle trägt den Sieg der Kunst über die Kunst davon, indem sie das Kunstwerk mit dem Götzenbild vergleicht« (Strohm: Selbstreflexion, S. 351). – Auf die kontroverse Rezeptions- und Deutungsgeschichte der Erzählung, die sich früh Antisemitismusvorwürfen ausgesetzt sah (vgl. Darmaun: Mann, S. 212–226; zu den vermeintlichen Parallelen von Mose mit Hitler, sowie darüber hinaus Hamburger: Werk; Neuland: Gesetz; Brenner: Befreiung oder Frühwald: Moses-Phantasie) ist hier ebenso wenig näher einzugehen wie auf die Bezüge zu Michelangelo, Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud und Richard Wagner. Ohne den manifesten Nexus der ›Fleischwerdung‹ des Wortes mit ›Bildwerdung‹, ›Nachahmung‹ und Verkörperung (etwa im Sinne von Didi-Huberman: Bild, S. 146–234, v.a. S. 191–198) zu verkennen, erscheint es gleichwohl als Überinterpretation, dass Mann im Gesetz insofern »auf die Christologie zu[arbeite]« (Strohm: Selbstreflexion, S. 345), als »Dichtung […] ebenbildlich der Menschwerdung Gottes« entspreche, »indem sie die Konkretion des ewigen Logos als ihr Stilgesetz« (ebd., S. 344f.) vollziehe. Auch die mit Hilfe von Wagners Siegfried konstruierte Parallele zwischen Mose, Siegfried und Nietzsche (ebd., S. 348ff.) erweist sich für eine, zweifellos naheliegende, poetologische Interpretation von Das Gesetz als entbehrlich. – Zur »Identität von Künstler und Gott im Schöpfungsakt« anlässlich von Das Gesetz als ›KünstlerNovelle‹ und ›politische Parabel‹ siehe Makoschey: Untersuchungen, S. 82–121, hier S. 113 sowie S. 115–121; zur Parallele zwischen Moses und Michelangelo äußert sich Thomas Mann schon in Die Entstehung des Doktor Faustus (1949) (GWE 16, S. 139f.).
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Die 1943 im amerikanischen Exil moralisch und politisch adressierte Erzählung Das Gesetz und der Sammelband The ten commandments (New York 1943) selbst rücken in die Serie der biblischen Verschriftungen ein und werden darüber hinaus vom Autor selbst, wie der Dekalog in Manns Erzählung durch Mose, mündlich rezeptionssteuernd kommentiert. durch den Autor selbst. Unter dem Titel Die zehn Gebote wendet sich Thomas Mann am 6. Mai 1943 über den Rundfunk an Deutsche Hörer! (Erstdruck 1944; E V, S. 211ff., hier S. 211), um von dem »Buch [The ten commandments] zu erzählen« (ebd.). Der »hier spricht, hat das erste Stück dieses Buchs geschrieben« (ebd.), zitiert am Ende des Beitrages den Schluss seiner Erzählung, also Moses mündliche Rede, fast vollständig und simuliert zugleich in der schriftanalog asymmetrischen Kommunikationssituation des Rundfunks deren rhetorischen Appell: Da das Publikum dem vom Sprecher-Autor zitierten Aufruf von Mose »›Sagt alle Amen dazu!‹« (ebd., S. 213) nicht unmittelbar Folge zu leisten vermag, zitiert der Redner stattdessen die Erzählinstanz der eigenen Erzählung (»Und alles Volk sagte Amen!«, ebd.), womit auch die eigene Rundfunkrede mit »Amen« schließt.36 V. Das Verhältnis von Fiktion und ›Wahrheit‹ und die Mythisierung von Autorschaft Damit folgt Thomas Manns öffentlicher Auftritt der in seiner RomanTetralogie Joseph und seine Brüder propagierten Poetologie des ›Mythos‹, mit der er den Konflikt aufzuheben versucht, den er zwischen den situativ erfolgreichen, aber verführerisch illusionistischen Präsenzmedien, die auf Wiederholung ihrer Rezeption und Produktion koppelnden Aufführungssituationen angewiesen sind, und literarischem als schriftlichem Erzählen erblickt. Letzteres entkoppelt den unwiederholbaren Produktionsakt von der je individuellen Rezeption, distanziert beide temporal und läuft dabei _____________ 36 Ein Vergleich mit Arnold Schönbergs 1928 verfasster dreiaktiger Operndichtung Moses und Aron (Uraufführung der beiden komponierten Akte 1954) bietet sich an. Schönberg radikalisiert den Konflikt zwischen Moses und Aron, ›Gedanken‹ und ›Zeichen‹ zur unaufhebbaren Paradoxie: Moses zerschlägt seine Tafeln erst, als er dank Arons semiotischer Argumentation erkennt (Schönberg: Moses, S. 26–29), dass das gesprochene oder geschriebene Wort die Wahrheit des »unaussprechlichen Gedankens« (ebd., S. 29) ebenso verfehlen muss wie die von Moses kritisierten Bilder. Die nicht mehr auskomponierte ›Lösung‹ des Konfliktes zu Lasten Arons und der Bilder im dritten Akt kann deshalb nicht befriedigen (vgl. ebd., S. 31: »Hier beherrschen die Bilder bereits den Gedanken, statt ihn auszudrücken.«); vgl. dazu und zur Problematik sakraler und autonomer Kunst LacoueLabarthe: Zäsur (im kritischen Anschluss an Adorno: Fragment). Zu den Moses-Bildern Freuds, Thomas Manns und Schönbergs mit Blick auf die Mythos-Konzeption der JosephsRomane siehe auch Assmann: Ägypten, S. 188–217.
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Gefahr, in einmaliger und folgenloser Lektüre zu enden. Wie Jan Assmann treffend beobachtet, beruhen die Josephs-Romane auf einer »impliziten Theorie der Fiktion, die […] die (wiederum ironische) Form einer Theologie der Fiktion annimmt«, und erzählen dabei vom Leben biblischer Protagonisten, die ›mythische Schemata‹ erfüllen und dabei zugleich Gott ›hervordenken‹, um sich in diesem Gott zu spiegeln und in solcher Spiegelung zu immer höheren Graden der moralischen und zivilisatorischen Verfeinerung emporzusteigen. So gesehen ist Gott eine Fiktion, die dem Menschen zu seiner Selbstverwirklichung verhilft.37
Die von Assmann konstatierten »Analogien zwischen Theologie und Literatur, zwischen dem ›Hervordenken‹ Gottes und dem ›Hervordenken‹ literarischer Fiktionen« betreffen also das wiederholt mündlich tradierende und sozial bindende mythische Erzählen einerseits und literarische, im Medium der Schrift verfasste Fiktionen andererseits, die wiederum, wie die Josephs-Tetralogie selbst, Gott ›hervordenkende‹ Mythen zu erzählen, literarische Theogonie und Autorschaft also zu parallelisieren in der Lage sind.38 Der ›Mythus‹ implementiert damit zugleich seine rituell wiederkehrende ›Festlichkeit‹ in das – in der Josephs-Tetralogie in der Tat auch zyklisch prolongierte – Wieder- und Neu-Erzählen der literarisch fiktionalisierten, biblischen Ur-Schrift und lässt es zum »Fest der Erzählung« werden: Denn es ist, ist immer, möge des Volkes Redeweise auch lauten: Es war. So spricht der Mythus, der nun das Kleid des Geheimnisses ist; aber des Geheimnisses Feierkleid ist das Fest; das wiederkehrende, das die Zeitfälle überspannt und das Gewesene und Zukünftige seiend macht für die Sinne des Volks. Was Wunder, daß im Feste immer das Menschliche aufgärte und […] unzüchtig ausartete, da darin Tod und Leben einander erkennen? – Fest der Erzählung, du bist des Lebensgeheimnisses Feierkleid, denn du stellst Zeitlosigkeit her für des Volkes Sinne und beschwörst den Mythus, dass er sich abspiele in genauer Gegenwart! (GWE 9, S. 52).
Bestimmt sich das Verhältnis von erzählter Zeit und Erzählzeit in einer ›Gegenwart‹ des zum ›Fest‹ ritualisierten Erzählens, dann – auch daran lässt das »Vorspiel: Höllenfahrt« zum Josephs-Zyklus keinen Zweifel – ar-
_____________ 37 Assmann: Ägypten, S. 34; vgl. ebd., S. 32–36 zu »Fiktion und Fest«. 38 Ebd., S. 36. Das »Vorspiel: Höllenfahrt« in Die Geschichten Jaakobs (1933) entfaltet die Gleichursprünglichkeit von Kosmogonie und Theogonie (GWE 9, S. 37–43) im »narzisstischen Bilde« der Selbstbespiegelung des »urmenschliche[n] Gottessohn[es]« im Materiellen (ebd., S. 38), welches das »Vorspiel in Oberen Rängen« zum letzten Josephsroman Joseph, der Ernährer (1943) aufnimmt: »Demnach war der Mensch das Produkt von Gottes Neugier nach Sich selbst« (Mann: Joseph, der Ernährer, S. 14f.) und ein »Instrument zur Selbsterkenntnis Gottes« (ebd., S. 22, auch S. 14).
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beitet das Erzählen im »mythische[n] Romanwerk«39 an der »Aufhebung« der Zeit »im Geheimnis der Vertauschung von Überlieferung und Prophezeiung«, in dem auch die »Idee der Wiederverkörperung ihre Wurzeln hat« (GWE 9, S. 30); auch das »Wesen des Lebens ist Gegenwart und nur in mythischer Weise stellt sein Geheimnis sich in den Zeitformen der Vergangenheit und Zukunft dar« (ebd., S. 51). Dass die Annäherung mythischen Erzählens an die literarische (Selbst-) Beobachtung solchen Erzählens einer paradoxen Zuspitzung gleichkommt, in der Figuren aus ihrer fingierten Welt heraustreten, deutet sich ebenfalls im letzten Josephs-Roman Joseph der Ernährer (1943) an, wo Erzählung und erzähltes, Autor und Figur, Gott und Geschöpf tendenziell verschmelzen.40 Joseph reflektiert am Ende seine Rolle in seiner und für seine Geschichte, er ist, wie Thomas Mann 1942 in seinem Josephs-Essay ausführt, »nicht nur der Held seiner Geschichten, sondern ihr Regisseur, ja ihr Dichter« (E V, S. 197). Das Ich mündet hier zwar, so Thomas Mann weiter, aus übermütiger Absolutheit zurück ins Kollektive, Gemeinsame und der Gegensatz von Künstlertum und Bürgerlichkeit, von Vereinzelung und Gemeinschaft, Individuum und Kollektiv hebt sich im Märchen auf. (Ebd.)
Gleichwohl wird die im vierten Roman im »Vorspiel in Oberen Rängen« skizzierte Utopie des »Fleischwerden[s] des Höchsten, seine[r] Verleiblichung« im »göttlichen Volksleib« des erwählten Stammes mit dem Austritt des Helden aus der Geschichte konterkariert: Romaninterne erzähltheoretische Reflexion wird zur Analogie der Einsicht des Menschen in »des Schöpfers Außerweltlichkeit«, also der Erkenntnis, dass Gott »der Raum der Welt war, aber die Welt nicht sein Raum (ganz ähnlich wie der Erzähler der Raum der Geschichte ist, die Geschichte aber nicht seiner, was für ihn die Möglichkeit bedeutet, sie zu erörtern)«.41 Die Differenz beider Ebenen bleibt also in der Reflexion und am Rande der Paradoxie erhalten, was am Ende der Tetralogie Josephs Gespräch mit seinen Brüdern verdeutlicht. Die mythische ›Fleischwerdung‹ _____________ 39 So Mann 1942 in seinem kommentierenden Essay Joseph und seine Brüder (E V, S. 185–200, hier S. 189). 40 Woran Hans Wißkirchen nachdrücklich erinnert (Wißkirchen: Unterhaltung, S. 46–50). Die zirkuläre Beziehung von Gott und Mensch, von Erzähler und Figur enthüllt zugleich die reziproke Selbstinklusion von Erzählen und Erzähltem: Erzählen inkludiert das Erzählte und das Erzählte inkludiert das Erzählen; vgl. dazu Schwanitz: Wettlauf, der am Beispiel von Laurence Sternes The Life and Opinions of Tristram Shandy Gentleman (1759–1767) die Logik eines Erzählens rekonstruiert, das die Zirkularität zwischen der Erzählsituation als Voraussetzung der dargestellten Welt einerseits und dem späteren Erzählakt als zeitliche Folge des Erzählten andererseits lustvoll zelebriert. Neben Goethes Faust bildet Sternes Roman übrigens Thomas Manns »Stärkungslektüre während der Josephjahre« (E V, S. 195). 41 Mann: Joseph, der Ernährer, S. 19, 20, 22.
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des Geistes erweist sich als bloße Erzählung, als »Spiel Gottes«42 und zugleich als literarisches ›Spiel‹, dessen Nicht-Verstehen einerseits die Voraussetzung für das Handeln in ihm bildet, dessen nachträgliche Selbstreflexion dieses Handeln aber auch nicht mehr zu behindern vermag: Geht ihr mich um Vergebung an, so scheint’s, daß ihr die ganze Geschichte nicht recht verstanden habt, in der wir sind. Ich schelte Euch nicht darum. Man kann sehr wohl in einer Geschichte sein, ohne sie zu verstehen. Vielleicht soll es so sein und es war sträflich, daß ich immer viel zu gut wußte, was da gespielt wurde. […] ihr mußtet die Bösen spielen, damit alles so käme.43
Wie Thomas Mann selbst kommentierend anmerkt, weiß das ›Buch‹ um die Funktion der immanenten Selbstbeobachtung und spricht es aus, indem es auch noch den Kommentar kommentiert. Es sagt von sich selbst, daß die oft erzählte und durch viele Medien gegangene Geschichte hier durch eines gehe, worin sie gleichsam Selbstbesinnung gewinne und sich erörtere, indem sie sich abspiele. Die Erörterung gehört hier zum Spiel, sie ist eigentlich nicht die Rede des Autors, sondern die des Werkes selbst […]. (E V, S. 186f.)
Der letzte Satz der Josephs-Romane in Joseph, der Ernährer komprimiert dies zu einer prägnanten Schlussformel für die Selbstmythisierung von Erzählen und Autorschaft: »Und so endigt die schöne Geschichte und Gotteserfindung von ›Joseph und seinen Brüdern‹«44. Die poetologischen Implikationen des Kompositums »Gotteserfindung« ermöglichen zugleich und hypothetisch eine zweifellos verlockende, aber kurzschlüssig analogisierende, literatursoziologische Lesbarkeit, lässt sich die ›Erfindung Gottes‹ doch sowohl als genitivus subjectivus – Gott erfindet die Geschichte – als auch als genitivus objectivus – die Figuren der Geschichte erfinden Gott – lesen. Das Erzählen fiktionaler Sujets schafft sich in der Mythisierung des gottgleichen Autors, der sich außerhalb seiner Geschichten situiert und sich zugleich auch mittels Selbstreflexionen mise en abyme innerhalb seiner Geschichten zur Erscheinung bringt, eine pragmatisch – ›festlich‹ – perpetuierbare Erfolgsgarantie. Diese mindert den mythologischen Wahrheitsanspruch fiktionalen Erzählens nicht, sondern stützt ihn durch zyklische Wiederholung und stellt Selbstreferenzialität in den Dienst zirkulärer Letztbegründung und Selbstmystifikation – der ›Autor‹ erfindet die Geschichte(n), die Geschichte(n) erfindet den ›Autor‹.
_____________ 42 Ebd., S. 540. 43 Ebd. S. 540f. 44 Ebd., S. 541.
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VI. Thomas Mann als Analytiker Thomas Manns? Die werkinterne Selbstreflexion Thomas Manns steckt innerliterarisch ein semantisches Feld von Medienkonkurrenz ab, auf dem die Literatur fiktionale Selbst- und Fremdbilder schriftlicher und mündlicher, theatralszenischer und bildlicher Zeichen entwirft und bewertet. Bei Thomas Mann kreuzt sich dabei die Differenz zwischen den zunächst abgewerteten Präsenzmedien einerseits und der Schriftlichkeit von Dichtung andererseits mit dem impliziten Dilemma zwischen dem semiotischen ›Betrug‹, der die erfolgreiche Kunst des Fiktionalen bedrohe, und dem moralischen und kunstreligiösen Wahrheits- und Wirkungsanspruch von Literatur. Die frühen Versuche, beide Probleme zu lösen und die Gegensätze zu vermitteln, laufen im Mythos-Konzept und in den Verkörperungsphantasien der Joseph-Tetralogie zusammen. Der kairos eines »zeugenden Verkehrs des Geistes mit einem Körper« gelingt aber nur ausnahmsweise oder bleibt Postulat: Die einmalig gelingende Modellierung der geschriebenen Sprache nach Bild und Körper in Der Tod in Venedig bezeichnet ebenso einen ästhetischen und amoralischen Extremfall von Literaturproduktion, wie die mäßig erfolgreiche Modellierung individueller und kollektiver Adressaten durch die Schrift in Das Gesetz den umgekehrten, moralischen und kunstlosen Extremfall von Literalität repräsentiert – letzterer bedarf außerdem nach wie vor ritueller Kontextualisierung und mündlicher Kommunikation. Dass das Spiel mit ›Verkörperungen‹ und Verschmelzungen von ›Geist‹ und ›Körper‹ seine auch innerliterarisch zu markierenden Grenzen da findet, wo solche Inkorporationen Kunst und Literatur als entbehrlich erscheinen lassen, sie gleichsam von ihrem eigenen ›Erfolg‹ eingeholt würden, der die Unterscheidung von Literatur und ›Wirklichkeit‹ einzuebnen drohte, führen die Texte Thomas Manns auf unterschiedliche Weise vor Augen. Die genannten Gegensätze literarisch und poetologisch immer wieder von neuem – wie Thomas Mann – vermitteln zu wollen, setzt deren semantische Stabilität und Persistenz umso mehr voraus. Nur dann lassen sich auch die politischen und religiösen Grenzen des ›literarischen Feldes‹ innerhalb dieses Feldes selbstreflexiv ausloten, ohne seine Autonomie zu gefährden. Dass die Texte Manns ihre besonders in Joseph und seine Brüder potenzierte Selbstreferenzialität zusehends für die ›Mythisierung‹ von Autorschaft nutzen, mag vor diesem Hintergrund auch für die posthume soziale Position Thomas Manns im ›literarischen Feld‹ verantwortlich sein. Nicht nur aber vor allem das Frühwerk Thomas Manns zeichnet sich darüber hinaus – auch das zeigt eine Rekonstruktion seiner literarischen Selbstbeobachtung – durch einen ›realistischen‹ Habitus aus, der immer wieder an semantische Feldpositionen des literarischen Realismus des 19.
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Jahrhunderts anknüpft. Nicht zuletzt lässt sich dies auch an der Rekurrenz idealistischer Argumentationsfiguren ablesen, die Thomas Manns poetologische Selbstreflexion ebenso bestimmen wie die des ›poetischen Realismus‹ seit der Mitte des 19. Jahrhunderts.45 Erst eine – zunächst noch unabhängig von feldtheoretischen Erkenntnisinteressen, aber auch mit Blick auf solche – unternommene, langfristige Struktur- und Funktionsgeschichte literarischer Selbstrepräsentation wird es erlauben, Thomas Manns Beitrag zur Modernisierung, aber auch zur Re-Mythisierung und Sakralisierung des literarischen Feldes im 20. Jahrhundert zu beurteilen. Erst dann wird also auch die Frage zu beantworten sein, inwieweit Manns literarische Selbstreflexion auf seinen frühen Erfolg als Schriftsteller ex post reagiert oder ihn katalysiert – was zweifellos nicht ohne, aber auch nicht allein durch Textbeobachtung zu klären sein wird. Literaturverzeichnis Mann, Thomas: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 2. Frühe Erzählungen 1893–1912. Text u. Kommentar. Hg. von Terence J. Reed. Frankfurt/M. 2004. Mann, Thomas: Der Bajazzo. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 2/1. Frühe Erzählungen 1893–1912. Hg. von Terence J. Reed. Frankfurt/M. 2004, S. 120–159. Mann, Thomas: Der Kleiderschrank. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 2/1. Frühe Erzählungen 1893–1912. Hg. von Terence J. Reed. Frankfurt/M. 2004, S. 193–203. Mann, Thomas: Der Tod. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 2/1. Frühe Erzählungen 1893–1912. Hg. von Terence J. Reed. Frankfurt/M. 2004, S. 71–78. Mann, Thomas: Der Tod in Venedig. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 2/1. Frühe Erzählungen 1893–1912. Hg. von Terence J. Reed. Frankfurt/M. 2004, S. 501–592. Mann, Thomas: Die Hungernden. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 2/1. Frühe Erzählungen 1893–1912. Hg. von Terence J. Reed. Frankfurt/M. 2004, S. 372–380. Mann, Thomas: Enttäuschung. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 2/1. Frühe Erzählungen 1893–1912. Hg. von Terence J. Reed. Frankfurt/M. 2004, S. 79–86. Mann, Thomas: Gefallen. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 2/1. Frühe Erzählungen 1893–1912. Hg. von Terence J. Reed. Frankfurt/M. 2004, S. 14–49.
_____________ 45 Vgl. zuletzt Versuch über Schiller (1955) (E VI, S. 290–371, bes. S. 361ff). Die Persistenz ›dialektischer‹ Vermittlungsversuche zwischen ›Idealismus‹, ›Realismus‹ und ›Naturalismus‹ im ›poetischen Realismus‹ und ›idealistische‹ Diskursreste in der Programmatik des deutschen literarischen Naturalismus rekonstruiert eingehend Schneider: Literaturpolitik.
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Mann, Thomas: Gladius Dei. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 2/1. Frühe Erzählungen 1893–1912. Hg. von Terence J. Reed. Frankfurt/M. 2004, S. 222–242. Mann, Thomas: Luischen. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 2/1. Frühe Erzählungen 1893–1912. Hg. von Terence J. Reed. Frankfurt/M. 2004, S. 160–180. Mann, Thomas: Schwere Stunde. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 2/1. Frühe Erzählungen 1893–1912. Hg. von Terence J. Reed. Frankfurt/M. 2004, S. 419–428. Mann, Thomas: Tonio Kröger. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 2/1. Frühe Erzählungen 1893–1912. Hg. von Terence J. Reed. Frankfurt/M. 2004, S. 243–318. Mann, Thomas: Tristan. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 2/1. Frühe Erzählungen 1893–1912. Hg. von Terence J. Reed. Frankfurt/M. 2004, S. 319–371. Mann, Thomas: Vision. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 2/1. Frühe Erzählungen 1893– 1912. Hg. von Terence J. Reed. Frankfurt/M. 2004, S. 11–13. Mann, Thomas: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 9/1. Lotte in Weimar. Hg. von Werner Frizen. Frankfurt/M. 2003. Mann, Thomas: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 14. Essays I 1893–1914. Text u. Kommentar. Hg. von Heinrich Detering. Frankfurt/M. 2002 Mann, Thomas: Das Theater als Tempel. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 14/1. Essays I 1893–1914. Hg. von Heinrich Detering. Frankfurt/M. 2002, S. 117–122. Mann, Thomas: Der Literat. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 14/1. Essays I 1893–1914. Hg. von Heinrich Detering. Frankfurt/M. 2002, S. 354–362. Mann, Thomas: Versuch über das Theater. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 14/1. Essays I 1893–1914. Hg. von Heinrich Detering. Frankfurt/M. 2002, S. 123–168. Mann, Thomas: Zu Fiorenza. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 14/1. Essays I 1893–1914. Hg. von Heinrich Detering. Frankfurt/M. 2002, S. 348f. Mann, Thomas: Offener Brief an den Weser-Kurier. In: T. M.: Gesammelte Werke in 12 Bänden [GW]. Bd. XI. Frankfurt/M. 1960, S. 564–567. Mann, Thomas: Gesammelte Werke in Einzelbänden [GWE]. Frankfurter Ausgabe. Bd. 1. Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde. Hg. von Peter de Mendelssohn. Frankfurt/M. 1980. Mann, Thomas: Fiorenza. In: T. M.: Gesammelte Werke in Einzelbänden [GWE]. Frankfurter Ausgabe. Bd. 4. Frühe Erzählungen. Hg. von Peter de Mendelssohn. Frankfurt/M. 1981, S. 385–492. Mann, Thomas: Das Gesetz. In: T. M.: Gesammelte Werke in Einzelbänden [GWE]. Frankfurter Ausgabe. Bd. 6. Späte Erzählungen. Hg. von Peter de Mendelssohn. Frankfurt/M. 1981, S. 337–406.
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III. Repräsentanz
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Drei Stilisierungsweisen: Charisma bei Buber, George, Mann
Lange vor den Diktatoren hat unsere Zeit die geistige Diktatorenverehrung hervorgebracht. Siehe George. Dann auch Kraus und Freud, Adler und Jung. Nimm noch Klages und Heidegger hinzu. Das Gemeinsame ist wohl ein Bedürfnis nach Herrschaft und Führerschaft, nach dem Wesen des Heilands. Robert Musil
I. Heidegger, Kundera und Dickens heißt einer der Aufsätze von Richard Rorty. In ihm kann man knapp und verdichtet das lebenslange und für einen Philosophen gewiss herkulische Projekt Rortys, die Anstrengungen der Philosophie durch die Entspanntheiten der Literatur zu korrigieren, beobachten. In Rortys Szenario steht Heidegger, an eine lange Tradition philosophischer Wahrheitssuche anknüpfend, für den Typus des »asketischen Priesters«, der sich von der Welt abkehrt, um zu Weisheit, kontemplativer Schau und Gleichmut zu gelangen. Seine privaten fixen Ideen, seine privaten Träumereien von Reinheit, Neuheit und Autonomie möchte er zu etwas in Beziehung setzen, »was größer ist als wir selbst, zu etwas, was kausale Kräfte besitzt, zu etwas Verborgenem und Zugrundeliegendem, das insgeheim den Lauf der menschlichen Angelegenheiten bestimmt«,1 das (von Rorty ironisierend großgeschriebene) »GANZ ANDERE«.2 Milan Kundera hingegen – mit seinem Essay Die Kunst des Romans – wie auch Dickens mit seiner Romanpraxis stehen für die Absage an _____________ 1 Rorty: Heidegger, S. 88. 2 Ebd., S. 80f.
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den Gedanken eines privilegierten Zugangs zu einem verborgenen, alles umfassenden Sinnzentrum. Die Weisheit des Romans lautet: »Niemand ist der Stellvertreter irgendeiner ANDEREN oder HÖHEREN Instanz. Wir alle stehen bloß für uns selbst und sind gleichberechtigte Bewohner eines Paradieses von Individuen, in dem jeder das Recht auf Verständnis, aber keiner das Recht auf Herrschaftsgewalt hat«.3 Den »asketischen Priester« hat sich Rorty von einem philosophischen Autor geborgt, den er oftmals und mit viel Gewinn für seine eigenen Anliegen gelesen hat: Nietzsche. In der dritten Abhandlung der Genealogie der Moral, Was bedeuten asketische Ideale?, wird die Phänomenologie des asketischen Priesters ausgiebig entfaltet. In ihr hat die Abkehr von der gegenwärtigen Welt, die zugleich beansprucht, eine Fühlungnahme mit einer ganz anderen Welt zu sein, eine zentrale Stelle: Der Gedanke, um den hier gekämpft wird, ist die Wertung unsres Lebens seitens der asketischen Priester: dasselbe wird (samt dem, wozu es gehört, ›Natur‹, ›Welt‹, die gesamte Sphäre des Werdens und der Vergänglichkeit) von ihnen in Beziehung gesetzt zu einem ganz andersartigen Dasein, zu dem es sich gegensätzlich und ausschließend verhält, es sei denn, daß es sich etwa gegen sich selber wende, sich selbst verneine: in diesem Falle, dem Falle eines asketischen Lebens, gilt das Leben als eine Brücke für jenes andre Dasein.4
Für Nietzsche war es der entscheidende Gedanke, dass alle angebliche Weltabgewandtheit des asketischen Priesters letztlich doch ihren Ursprung in einem Willen zur Macht habe, im Willen zur Macht eines Lebens, das sich anders nicht mehr zu helfen weiß: »das asketische Ideal entspringt dem Schutz- und Heil-Instinkte eines degenerierenden Lebens«.5 Der asketische Priester war für Nietzsche eine unbezwinglich ubiquitäre Erscheinung, der keiner einzelnen Rasse angehörte, überall gedieh und aus allen Ständen herauswuchs.6 Zwar lag der Schwerpunkt seiner Erscheinungsformen in der Herrschaftsgeschichte der Religionen, insbesondere des Christentums, der Philosophie und der Wissenschaft, aber Nietzsche erwog doch auch die Möglichkeit, dass sich die »machtdurstigen Einsiedler« als Künstler verkleiden könnten.7 »Künstler-Dienstbarkeit im Dienste des asketischen Ideals« hielt er für »die eigentlichste Künstler-Korruption«,8 und mit Reflexionen zum Parsifal Richard Wagners, einem Beispiel für solche Korruption, setzt denn auch die Abhandlung Was bedeuten asketische Ideale? ein. _____________ 3 4 5 6 7 8
Ebd., S. 91. Nietzsche: Genealogie (III, 11), S. 858. Ebd., S. 861. Vgl. ebd., S. 859. Ebd., S. 856. Ebd., S. 892.
Drei Stilisierungsweisen
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Statt an Wagner hätte Nietzsche auch an Flaubert denken können – wäre ihm dieser nicht vornehmlich als »der brave Bürger von Rouen« erschienen.9 Als aus der Gesellschaft emigrierter, Abstand haltender Asket stilisierte sich Flaubert selbst und wurde auch von außen so gesehen: mit dem Schlafrock als Kutte, dreißig Jahre auf dem Lande sitzend, oft monatelang ohne Menschen, sechs Bücher schreibend, glich Flaubert – in den Worten Heinrich Manns – »den Wüstenheiligen, die von Begierde brennen und doch ihr Fleisch und ihr Herz dem eifersüchtigen Gott von Tabor opfern: dem Gott der Kunst«.10 Immerhin hatte sich bei Flaubert der Geist der Askese so sehr mit dem Geist der Kritik und der Negativität gepaart, dass eine nietzscheanische Interpretation Flauberts – hinter der Kritik und Negativität der Wille zum literarischen Ruhm – zwar durchaus plausibel gewesen wäre, die eigentlich Nietzschesche Figur des machtbewussten asketischen Priesters aber nicht recht auf den Franzosen passt. Einige Jahrzehnte später hingegen werden wir in dieser Hinsicht reichlich fündig. Es ist ein auffälliges Phänomen der Jahrhundertwende, dass in einem wesentlich mit vom L’art pour l’art bestimmten Zeitklima auch Funktionszuweisungen an Künstler und Intellektuelle gedeihen, die sie als ›Führer‹, ›Erzieher‹, ›Lehrer‹ – dies mit Abstand die beliebtesten Vokabeln – in Anspruch nehmen. So oft diese weltzugewandten Funktionen als Alternative zum Ästhetizismus erscheinen, so oft knüpfen sie sich doch auch gerade an diejenigen, die zuvor den Abstand zur Zeitgenossenschaft gesucht haben – so als könne das mandarinmäßig gewonnene Charisma im heiligen Bezirk der Kunst gleichsam nicht eingedämmt werden, als müsse es nach außen brechen. Für diesen Zusammenhang – die Umsetzung des Kontakts mit dem »GANZ ANDEREN« in charismatische Führerschaft in der Gegenwart – möchte ich zunächst zwei unterschiedlich signifikante Beispiele (Martin Buber und Stefan George) vorstellen, bevor ich mich Thomas Manns delikatem Verhältnis zu der hier verborgenen Problematik zuwende. Ich mache gleich vorweg darauf aufmerksam, dass die öffentliche Rolle, die ich behandle, mit dem Öffentlichkeitsverständnis demokratisch-republikanischer Gesellschaften nicht gut vereinbar ist, und dass diese Unvereinbarkeit gleichsam der geheime Angelpunkt meiner Ausführungen sein wird.
_____________ 9 Nietzsche: Gut und Böse (Nr. 218), S. 683. 10 H. Mann: Flaubert, S. 92. – Vgl. T. M.: der »Mönchsästhetizismus Flauberts« (GW XII, S. 103).
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II. Martin Buber gewann in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg allgemeine Anerkennung als Führer der deutschsprachigen bürgerlich jüdischen Jugend; in den beiden Großstädten Berlin und Prag war die Anhängerschaft besonders stark. Gesteigerte Aufmerksamkeit der jüdischen Öffentlichkeit war Buber durch die Herausgabe seiner ersten beiden chassidischen Bücher (Die Geschichten des Rabbi Nachman [1906]; Die Legende des Baalschem, [1907]), vor allem aber durch seine 1909 in Prag gehaltenen Drei Reden über das Judentum zuteil geworden. »Buber war damals nur 31 Jahre alt, aber seinen Hörern erschien er als der große Weise«, schrieb der damals anwesende Robert Weltsch später im Rückblick.11 Bereits vom jungen Buber aber haben wir Zeugnisse, die in ihm den charismatischen Führer erkennen lassen. Eines von ihnen stammt von Judah Magnes, dem Generationsgenossen Bubers und Kanzler und Präsidenten der Hebräischen Universität in Jerusalem; kurz vor seinem Tod, in seinem Gratulationsschreiben zu Bubers siebzigstem Geburtstag im Februar 1948, hat er folgende Erinnerung an seine Studienzeit niedergelegt: Ich sah Sie zum erstenmal im Semester 1900/01, als ich die Vorlesungen von Prof. Simmel an der Universität Berlin belegt hatte. Die Zahl der Hörer war so groß, daß man die Vorlesungen in einen der größten Hörsäle verlegen mußte. Obwohl der Saal bis auf den letzten Platz voll war, kamen Sie an der Spitze einer Gruppe von Jugendlichen – Burschen und besonders auch Mädchen – durch eine Nebentür herein, und Sie setzten sich in die erste Reihe, die offenbar für Sie reserviert war. Ihr schwarzer Bart, Ihr gemessener Schritt, Ihre Art, an der Spitze der Gruppe wie ein Zaddik vor seinen Chassidim zu gehen, veranlaßten mich, den neben mir sitzenden Studenten – einen blonden Arier – zu fragen, wer Sie seien, und seine Antwort lautete, dieser Jude sei der Stifter einer neuen religiösen Sekte.12
Ähnliches hören wir von einer anderen, durch Liebe leider sehr voreingenommenen Zeugin, Paula Winkler-Buber, der Ehefrau Martin Bubers, über die Zeit ihres Kennenlernens: Um jene Zeit trat mir der Zionismus zum erstenmal anders als episodisch näher. Es tagte der dritte Kongress in Basel […]. Da geschah mir, daß ein Menschenmund mit wunderbarer Gewalt zu mir sprach. Es war zuweilen, wie wenn ein Kind schüchtern redete, stockend, zart, bange, ob es Widerhall fände. Und dann und wann überzog die scheue Röte einer unberührten Seele das Antlitz dieses Menschen. Es war so, daß mir das Herz stille stand, rührend und heilig. Und dann war es wieder, als spräche er mit ehernen Zungen, als brausten alle Glocken der Welt über mich hin. Es war kein einzelner Mensch mehr, urgewaltig zogen die unge-
_____________ 11 Buber: Der Jude und sein Judentum, S. XXIII. 12 Judah L. Magnes an Martin Buber, Februar 1948 (Buber: Briefwechsel. Bd. 3, S. 165).
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heure Sehnsucht, Wunsch und Wille eines ganzen Volkes wie mit Stromesgewalt daher.13
Das persönliche Charisma Bubers, das aus diesen Zeugnissen spricht, wird man hinnehmen müssen. Die Gründe aber, weshalb es unter seinen jüdischen Zeitgenossen in der Gestalt, in der es auftrat, so viel Anklang fand, lassen sich genauer benennen. Buber stammte aus wohlhabender assimilierter Familie und durchlief die üblichen Stationen eines gutsituierten Bürgerkindes: Gymnasium bis zur Matura in Wien, danach Studium mehrerer Fächer an mehreren Universitäten; Abschluss des Studiums durch Promotion in Philosophie bei Friedrich Jodl, dem Wiener Philosophen, der auch der Doktorvater Weiningers war. Wie aus seinen Jugendschriften hinreichend hervorgeht, war Buber die Liebe zum Ästhetischen alles andere als fremd. Noch nach der mehr als mäßigen Promotion – die Dissertation wurde mit rite bewertet und liegt bis heute ungedruckt im Archiv in Jerusalem14 – erwog er eine Habilitation in Kunstgeschichte mit einem Thema aus der italienischen Renaissance. Zugleich aber hatte Buber längere Phasen seiner Kindheit und Jugend bei seinen Großeltern im galizischen Lemberg verbracht. In deren selbst schon von der jüdischen Aufklärung geprägtem Haushalt – Salomon Buber, der Großvater, war ein Pionier der Erforschung des Midrasch – waren jüdische Traditionen noch ganz anders präsent als im weitgehend säkularisierten Wien; Buber hatte dort zudem ausgezeichnete passive Kenntnisse des Hebräischen erworben und war in Kontakt mit lebendiger chassidischer Frömmigkeit gekommen. So hatte er eine ›doppelte Bildung‹ erhalten – die normale westliche Gymnasial- und Universitätsbildung und die Einführung in die jüdische Tradition. Dass er in beidem zu Hause war, erleichterte ihm die Rolle des Mittlers und prädestinierte ihn dafür, eine »jüdische Renaissance«15 mit anzustoßen. Bubers doppelte Bildung finden wir in seinen Reden über das Judentum wieder, in ihrer sprachlichen Gestalt wie auch in dem, was Buber zu sagen hat. In Vokabular und Ausdrucksweise wie in der Gesamtanlage der Reden sind genug Reminiszenzen an das geläufige akademische Bildungsgut zu erkennen; die Reden sind populäre Vorträge für ein bildungsbürgerliches Publikum. Zugleich jedoch sehen wir eine homiletische Rhetorik an der Arbeit und einen Duktus des Sprechens, der einzelne Thesen des Vortrags wie Offenbarungen aus dem Munde Bubers präsentiert. Ähnlich auf der inhaltlichen Ebene. Buber gibt einerseits zu verstehen, dass die Distanz der assimilierten Judenheit gegenüber der eigenen Religion (und _____________ 13 München ehrt Martin Buber, S. 15f. 14 Ein Auszug (über Jakob Böhme) wurde von Franz Rosenzweig veröffentlicht in: Aus unbekannten Schriften, S. 240–243. 15 Vgl. Buber: Renaissance und Bewegung, S. 265.
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mit ihr die traditionelle Einschätzung des Judentums durch Christen) ein gewisses Recht hat. Andererseits verweist er sein Publikum auf ihm neue, noch unverbrauchte Möglichkeiten der Reidentifikation mit dem Judentum. Beides zusammen leistet die Unterscheidung von »offiziellem« und »unterirdischem« Judentum, die für die Reden insgesamt als grundlegend gelten kann.16 Das »offizielle« Judentum entspricht dem christlichen Bild einer rigiden, erstarrten, im Grunde längst abgestorbenen Gesetzesreligion; das »unterirdische« Judentum ist eine lebendige Gegenbewegung hierzu, die immer wieder im Lauf der Geschichte gegen das »offizielle« Judentum revoltiert und in der sich die eigentliche Produktivität des jüdischen Geistes äußert. »Offizielles« Judentum wird etwa repräsentiert durch die Priesterschaft am Tempel in Jerusalem und ihre detaillierten Ritualvorschriften sowie durch den Rabbinismus und seine Toragelehrsamkeit. »Unterirdisches« Judentum gibt es bei den Propheten, bei Jesus und im Urchristentum und im Chassidismus. Dass eine solche Lehre bei jungen Westjuden nach 1900 Anklang finden konnte, liegt auf der Hand. Denn sie bekamen ja autoritativ durch Buber gesagt, dass ihre eigene mangelnde Toragelehrsamkeit und ihre mangelnde Befolgung der Tora nicht entscheidend seien und dass sie sich trotzdem als Juden fühlen konnten, weil es auf etwas ganz anderes ankam. »Nicht die Materie der Handlung, nur ihre Weihung entscheidet«.17 – »Denn einer großen Religiosität ist letztlich nicht daran gelegen, was getan wird, sondern daran, ob es in menschlicher Bedingtheit oder in göttlicher Unbedingtheit getan wird«.18 Solche Lebensführung in göttlicher Unbedingtheit sollte nun freilich etwas Jüdisches sein – trotz ihres Abstands zum Beugen unters Joch der Tora und zum als flach angesehenen zeitgenössischen Reformjudentum. Hier kommt das Charisma des Führers Buber und sein Kontakt zum »GANZ ANDEREN« ins Spiel. Buber versichert seinen Hörern, dass es möglich sei, einen unmittelbaren Zugang zum verschütteten unterirdischen Judentum im eigenen Innern zu finden. »Das tut uns Juden not zu wissen: […] daß in uns lebt die Art der Propheten, der Sänger und der Könige Judas«,19 heißt es in der ersten Rede. Und später: »Alle religiöse Stiftung, alle echte persönliche Religion ist Entdeckung und Hebung eines uralten Schatzes, Enthüllung und Befreiung der unterirdisch gewachsenen Volksreligion«.20 Der »tiefe Brunnen« muss entsiegelt werden,21 die _____________ 16 17 18 19 20 21
Vgl. Buber: Das Judentum und die Menschheit, S. 24 u.ö. Buber: Die Erneuerung des Judentums, S. 38. Ebd., S. 37. Buber: Das Judentum und die Juden, S. 14f. Buber: Cheruth. Eine Rede über Jugend und Religion, S. 124. Ebd.
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»Wiedergeburt« wird kommen, »wenn der Geist die in den Gebilden eingeschlossenen Urkräfte beschwört und zu neuer Schöpfung beruft«22 – und dann wird gelten: »zu uns […] redet er aus dem brennenden Dornbusch der Gegenwart und aus den Urim und Thumim unsres innersten Herzens«.23 All dies hat Wirkung offenkundig deshalb, weil Buber glaubhaft zu machen versteht, dass er selbst aus diesem intimen und unmittelbaren Kontakt zur großen jüdischen Vergangenheit lebt und Bürge dafür sein kann, dass auch andere solchen Kontakt in sich herzustellen vermögen. Das große Ziel, das Buber seinem Publikum an den geschichtlichen Horizont malt, ist das Werden einer »gottunmittelbaren Gemeinde«.24 Mit den Augen des boshaften Nachgeborenen kann man Buber, den Führer einer verschworenen Gemeinschaft, die sich die göttliche Unbedingtheit aufs Panier geschrieben hat, hier durchaus auf dem Weg des Nietzscheschen asketischen Priesters erblicken. Indes ist er davor bewahrt geblieben, wirklich in diese Kutte schlüpfen zu müssen – dank seines Judentums und dank der geschichtlichen Entwicklung. Üblicherweise vollziehen sich um die Jahrhundertwende die religiösen Stilisierungen intellektueller, literarischer oder künstlerischer Bemühungen vor dem Hintergrund des Verblassens der großen traditionellen Offenbarungsreligionen. Man stellt sich nicht mehr selbst in deren Tradition, sondern übernimmt, was man aus der Überlieferung benötigt, als religiöses Material zur Selbststilisierung. Eine gewisse Beliebigkeit ist die natürliche Folge. Ob man als Prediger, Prophet, Messias, Priester, Tempeldiener, Mönch auftritt, und ob man eine dieser Rollen konsequent ausbaut oder zwischen ihnen wechselt, ist weniger wichtig, als dass überhaupt metaphorisch sakrale Intensität gewonnen wird. Anders bei Buber. Der Gedanke einer jüdischen Renaissance impliziert, dass man tatsächlich an eine überlieferte Offenbarungsreligion anschließt und sie wiederzuerwecken trachtet. Und die Unterscheidung zwischen offiziellem und unterirdischem Judentum impliziert, dass dieser Anschluss sich an bestimmte Elemente der Tradition heften muss und andere verabschieden darf. Insbesondere bedeutet das für Buber, dass das prophetische Element der jüdischen Tradition stark gemacht und ihr priesterliches und rituelles abgewertet wird. In diesem Sinne findet sich bereits in der Grabrede für Gustav Landauer 1919 ein Abschnitt, der die »große Haltung der Propheten« als herrschaftskritische preist: »Durch Pein und Schmach unaufhaltsam braust ihr Wort über die Reichen, die Machthaber, die Fürsten hin. Sie haben kein Haus in der Welt und haben auch keine Herberge in der Wüste: unerbittlich hat sie _____________ 22 Ebd., S. 134. 23 Buber: Der heilige Weg, S. 110. 24 Ebd., S. 93.
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die Hand des Herrn an ihr aussichtsloses Werk gestellt«.25 Umgekehrt spricht Buber von der »Epoche der falschen Theokratie« in der jüdischen Geschichte, die er an die »karikaturhafte Gestalt des hellenistischen Hohenpriesters« bindet.26 Die Verstetigung des Charismas und seine Bindung an konkrete Institutionen und damit an Herrschaft erregt Bubers Misstrauen. Im Rahmen seiner an die Übersetzungsarbeit mit Rosenzweig anknüpfenden bibelwissenschaftlichen Studien entwickelt Buber in den 20er Jahren dann das Konzept einer alleinigen Führerschaft Gottes im Judentum. Während in der Hierokratie (der »falschen Theokratie«) konkrete irdische Herrschaft vergöttlicht und dadurch unangreifbar gemacht wird, begründet die wahre Theokratie gerade Distanz gegenüber aller wie auch immer ausgestalteten Herrschaft von Menschen über Menschen.27 »JHWH führt uns«28 heißt, dass an der in diesem Satz implizit enthaltenen Norm alle irdische Herrschaft sich messen lassen muss. Das »GANZ ANDERE« kann nicht von einer konkreten Institution oder einer charismatischen Person in Besitz genommen werden; wohl aber können in seinem Namen alle Herrschaftsgestalten geprüft werden. In unserem Zusammenhang ist gewiss vorrangig von Interesse, dass damit auch die »Künstler-Korruption« der Kunstreligion, sofern sie als Sakralisierung des Künstlers auftritt, auf die verächtliche, jüdisch gesprochen: die »andere Seite« zu stehen käme. Bubers deutsch-jüdischen Lesern der Weimarer Republik und der ersten Jahre der Naziherrschaft dürften jedoch auch die aktuellen politischen Implikationen der Unterscheidung von Hierokratie und Theokratie nicht entgangen sein. Buber hat seine Konzeption der alleinigen Gottesherrschaft in seinem ersten ernsthaft wissenschaftlichen Buch (und einem seiner besten Bücher überhaupt), der bibelwissenschaftlichen Studie Königtum Gottes, niedergelegt.29 Königtum Gottes erschien in erster Auflage 1932 im Schocken Verlag in Berlin; die zweite Auflage _____________ 25 Ebd., S. 95. 26 Ebd., S. 96f. 27 Vgl. Buber: Königtum Gottes, S. 3f. – Buber ist sich darüber im Klaren, dass das etablierte Verständnis von »Theokratie« gerade auf Herrschaftsformen weist, für die er in letztlich pejorativ gemeinter Weise den Begriff »Hierokratie« reservieren möchte. Bubers Sprachgebrauch hat sich denn auch nicht durchgesetzt. Was nichts daran ändert, dass der Hinweis auf die Möglichkeit einer latent anarchistischen Tendenz im Konzept der Gottesherrschaft wertvoll ist und die Argumente dafür bedenkenswert, dass in der Geschichte Altisraels solche Gottesherrschaft zwar nur tendenziell, etwa in der Richterzeit, realisiert, immer wieder aber als zentrales Ziel des Stammesverbandes präsent gehalten wurde. 28 Ebd., S. XXI (Vorwort zur 2. Aufl.). – Zum »Führergott« JHWH – der Melekh-Eigenschaft JHWHs – vgl. das fünfte Kapitel von Königtum Gottes: JHWH der Melekh, Königtum Gottes, S. 61ff. JHWH ist »mehr führerischer als herrscherlicher Melekh« (ebd., S. 102). 29 Vgl. Anm. 27. – Für die Epoche der Propheten wird das Konzept der alleinigen Gottesherrschaft ausbuchstabiert in Buber: Der Glaube der Propheten.
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wurde 1936 im gleichen Verlag ausgeliefert; den Satz der ersten Hälfte der Fortsetzung des Buches, die den Titel Der Gesalbte tragen sollte, konfiszierten 1938 die deutschen Behörden. III. Zwei Bescheidenheiten kennzeichnen Bubers charismatische Führerschaft im Verhältnis zum deutschen Judentum und zur jüdischen Jugendbewegung. Zum einen beansprucht er nicht, über die Quelle des Charismas selbst verfügen zu können; zum anderen ist er sich auch für die Vermittlung seiner Botschaft ins Publikum hinein nicht zu schade. Buber spricht zwar von mystischer Erfahrung mit dem Anspruch des Kundigen, der ihrer selbst teilhaftig geworden ist.30 Zugleich agiert er aber auch als Herausgeber mystischen Schrifttums aus verschiedenen Kulturkreisen;31 hier legt er nicht nur auf seinen unmittelbaren Zugang zu mystischer Erfahrung und Weisheit Wert, sondern übernimmt auch die Rolle des zumindest halbakademischen Kenners.32 Indem Buber so zugleich als moderner Zeitgenosse und als alter Weiser auftritt, verschafft er dem Zwitter seiner halbakademischen Mystik im deutsch-jüdischen Publikum Popularität.33 Sowohl das Verhältnis zur Quelle des Charismas wie das zu einem breiteren Publikum ist im Falle Stefan Georges signifikant anders. Das _____________ 30 So vor allem in Daniel. Gespräche von der Verwirklichung (1913). Beispiele für mystische Erlebnisse Daniels in dieser Schrift sind etwa: der »Querbalken«, der »kleine, von Schrofen eingefaßte See« im Gebirge, das (in Ich und Du wiederaufgenommene) »Stück Glimmer« (Buber: Daniel, S. 184, 238f., 243). 31 Vgl. Ekstatische Konfessionen, Jena 1909; Reden und Gleichnisse des Tschuang-Tse, Leipzig 1910. 32 Als Beleg für den Kontakt des frühen Buber zur akademischen Welt kann auch das soziologische Sammelwerk Die Gesellschaft dienen, das Buber als Lektor bei der Literarischen Anstalt Rütten & Loening inaugurierte und betreute. Zwischen 1906 und 1912 erschienen bei Rütten & Loening vierzig schmale Bändchen, die als Ganzes den Anspruch erheben konnten, eine populäre Gesamtdarstellung des soziologischen Wissens ihrer Zeit zu geben. Buber konnte großteils namhafte Autoren für dieses Projekt gewinnen. So schrieb Georg Simmel über Die Religion, Fritz Mauthner über Die Sprache, Werner Sombart über Das Proletariat, Lou Andreas-Salomé über Die Erotik, Gustav Landauer über Die Revolution usw. Vgl. Wiehn: Bubers Sammlung (Ich danke Ralph Sichler für den Hinweis auf diesen Text) . 33 Gelegentlich freilich auch Gegnerschaft. Der bedeutendste Gegner Bubers in der jüdischen Jugendbewegung war der junge Gerhard Scholem. Scholem warf Buber die Ersetzung der Tora durch das Erlebnis vor; als Pathetiker des Erlebnisses war Buber für Scholem auch mehr Moderner als Jude: »Achad Haam schaut, Buber erlebt, Achad Haam ist, wie modern er auch ist, ein Jude, Buber ist, wie jüdisch er auch ist, ein Moderner«. Immerhin, auch Scholem glaubte, Buber »für an den Quellen trinkend« halten zu dürfen. Vgl. Gerhard Scholem an Siegfried Lehmann, 9.10.1916 (Scholem: Briefe, S. 46ff. [Zitate S. 49, 47]).
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›Kontaktcharisma‹ Bubers finden wir hier zum ›Präsenzcharisma‹ gesteigert. Und der formale Kern dieses Präsenzcharismas, die unzugängliche Schroffheit einer herrscherlichen Haltung, lässt gegenüber dem Publikum nur die Abgrenzung zu; was freilich nicht das Aus für Vermittlung überhaupt bedeutet, sondern lediglich heißt, dass die Aufgabe der Vermittlung nicht von der charismatischen Person selbst, sondern von ihrer Jüngerschaft übernommen wird. Man denke an die Wirkung auf das akademische Leben, die von Figuren wie Gundolf, Bertram, Wolters und anderen ausging. Die beiden maßgeblichen Hagiographien aus dem George-Kreis – Gundolfs George und Friedrich Wolters’ Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890 – bestätigen dieses Bild. Eine Dichtung, die stets gemessen einherschreitet und im »Dauerton« (Gundolf) einer gehobenen Festlichkeit verfasst ist; eine stilisierte und in jedem Detail kontrollierte Lebensführung, die bis dahin reicht, »daß nie ein gemeines Wort über die Lippen Georges kam, daß keiner je eine häßliche oder obszöne Rede von ihm hörte«;34 die ausdrucksstarke Physiognomie des Dichters und die die in ihr liegende Kraft betonenden Bilder von ihr, die in Umlauf gesetzt wurden – all dies versammelt das Charisma in der Person selbst und umgibt sie mit einer unantastbaren Aura von Reinheit, Strenge, Zucht und Ferne.35 Gegenüber der eigenen Zeit bedeutet eine solche Gestalt eine neue Welt; die große Vergangenheit aber steht nicht nur in Kontakt mit der charismatischen Person, sie ist selbst auf geheimnisvolle Weise in sie eingegangen. Wolters beschrieb bereits den jungen George als einen solchen imposanten Fremdkörper in der Gegenwart, der alle frühere Größe in sich aufgenommen habe. Anlass ist der schmale Gedichtband Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte der Sagen und Sänge und der hängenden Gärten (1895) mit seiner Anknüpfung an antikes, mittelalterliches und orientalisches Überlieferungsgut. »Es bleibt uns nur die Erklärung,« schreibt Wolters, »daß nicht nur das erworbene Bildungserbe des letzten Jahrhunderts wie es die Künste und Wissenschaften aufgehäuft hatten, in George lebendig gegenwärtig war: daß vielmehr darüber _____________ 34 Wolters: George, S. 96. 35 Die Ferne wird gern in Schilderungen der Person Georges betont. »Sein Blick war nur schwer aufzufangen, er war nach innen gewandt und schien beständig etwas Weitentlegenes zu schauen.« So der Schwede Gustav Uddgren nach Wolters: George, S. 53. – Die »innere Ferne« ist später auch die notwendige Eigenschaft des Zeitdichters, die sein Urteil über die eigene Zeit Bestand haben lässt. »Denn der Zeitdichter, soll sein Wort nicht schon nach Monaten veralten oder verlacht werden, muß durch eine innere Ferne die Ferne der Zeit ersetzen, welche dem später Lebenden Wichtiges und Unwichtiges in den richtigen Verhältnissen zeigt.« (Kommerell: Dichter, S. 58) – Kommerells Bemerkung findet sich im Kontext einer kritischen Betrachtung von Klopstocks Dichtung zur Französischen Revolution, die diesem Maßstab eben nicht genügt.
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hinaus sein Wissen rätselhaft in jene Zeiten selbst zurückreichte und in seinem Blute […] die Erinnerung von Jahrtausenden schlummerte«.36 Das ist ein staunenerregendes Wunder. »Daß ein solcher Ton, der eine gerundete Götter- und Menschenwelt voraussetzt, in einem einzelnen Menschen in gottloser Einsamkeit wieder erklingen konnte, ist ein Rätsel, das sich der begrifflichen Erklärung entzieht und nur das Geständnis erlaubt: in diesem Menschen lebt und beginnt eine neue Welt«.37 Anders als Wolters, der vor Erklärungen kapitulierte, hat man für die priesterliche Gesamterscheinung Georges jüngst seinen katholischen Hintergrund verantwortlich gemacht – ich meine vor allem Wolfgang Braungart mit seiner umfänglichen Studie Ästhetischer Katholizismus. Daran ist richtig, dass die Scheu davor, Präsenzcharisma in Anspruch zu nehmen und in sinnfälligen Ritualen zu zelebrieren, im Katholizismus gewiss geringer ausgeprägt ist als etwa im Judentum oder im Protestantismus. Generell lässt sich sagen, dass das christliche Angebot an rituellen Schemata und Denkfiguren von George selbst und im George-Kreis durchaus dazu benutzt wird, der Vergöttlichung der Person Georges Vorschub zu leisten. Ein sehr bezeichnendes Beispiel ist das (etwa an Johannes dem Täufer und Jesus exemplifizierbare) Schema von Vorläufer und eigentlichem Erfüller der göttlichen Sendung, das im George-Kreis auf das Verhältnis von Nietzsche und George angewandt wird. Biographische Zufälle werden in diesem Zusammenhang einer hochsymbolischen Konstruktion unterworfen: Im Februar 1889 ging er [George] nach Mailand und Turin, das er zur selben Zeit betrat, zu der der erkrankte Nietzsche es verließ. Die beiden Gestirne, das eine niederstürzend, das andere noch verhüllt aufsteigend, kreuzten so ihre Lebensbahnen schicksalhaft am dunklen Himmel des deutschen Geistes, ohne voneinander zu wissen.38
Vor allem aber wird Nietzsche als derjenige stilisiert, der die Erlösung durch das Neue herbeisehnt und herbeischreiben möchte, eben damit aber auch kundtut, dass er dieses Neue noch nicht selbst ist. George hingegen erfüllt das brennendste Verlangen Nietzsches.39 Besitzer von Präsenzcha_____________ 36 37 38 39
Wolters: George, S. 92. Ebd., S. 95. Wolters: George, S. 18. »An der Wüste wuchs die Stimme des Predigers. Nietzsche ist nicht mehr ein stilles Opfer, sondern der rasende Kampf des Einsamen gegen das Milliardensame – […] George konnte schon in freierer Luft atmen, in einem vom neuen Wort geschwängerten Klima. Er ist nicht mehr Kämpfer und Rufer, sondern wesentlich Bildner (auch wo er Kämpfer scheint) Bildner im weitesten Sinn. Sein Dienst am ewigen Menschen ist die keimartige Neubildung eines allmählich mitten in den Fortschritt rundum vordringenden Eigen- und Gegenreichs« (Gundolf: George, S. 30).
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risma, allem Diskursiven abhold, führt er, richtet, straft und kündet. Das »GANZ ANDERE« ist George selbst. Auch der Kult um Maximin ändert daran nichts, eher verschärft er nochmals das Präsenzcharisma Georges. Der junge Münchner Maximilian Kronberger, der George begegnet, einige Gedichte verfasst und früh stirbt, dient als Beweisstück dafür, dass das »schöne Leben«40 auch im Hier und Jetzt noch, in der verbrauchten, abgewirtschafteten modernen Gesellschaft hervorkeimen kann. Dass in diesem ansehnlichen Jüngling eine göttliche Erscheinung vorliegt, ist die Interpretation Georges, die er ohne sein Charisma auch in seinem engsten Kreis nicht hätte durchsetzen können und die ihn rückwirkend mit einer neuen Aura umgibt, der Aura des Exponenten einer platonischen Religion und eines aus dieser Religion hervorgehenden mannmännlichen Erziehungswerks.41 Die gewaltige Erschütterung, die George durch die Offenbarung Maximins zuteil geworden war, mag durchaus echt empfunden gewesen sein. Trotzdem war sich der Dichter wohl auch des Ineinanders von plötzlicher Offenbarung von außen und Inszenierung in seinem Maximin-Erlebnis bewusst: der Vers »Ich geschöpf nun eignen sohnes«42 verrät es gerade in der Paradoxie, mit der er die beiden Pole der Vater-Sohn-Beziehung doppelt – und zwar gegensätzlich – besetzt. Der private Auftritt des Gottes nur für George, der bei Außenstehenden äußerstes Misstrauen erwecken muss,43 erfüllt im Kreis eine präzise angebbare Funktion: er schraubt den Anspruch des charismatischen Führers, als einziger das »schöne Leben« in der Gegenwart zu repräsentieren und die Kraft zu seiner Wiedererweckung zu haben, nochmals eine Windung höher. Kann es denn Zufall sein, dass _____________ 40 Vgl. George: Vorspiel zum Teppich des Lebens, I, V.11 (George: Werke. Bd. 1, S. 174). 41 Zum Rückgriff auf Platon bei George und im George-Kreis nach dem Maximin-Erlebnis vgl. Wolters: George, S. 427–432. – Dieser Rückgriff hat gewiss legitimierende Funktion für die neue Religion Georges. Dennoch unterscheidet er sich signifikant von der Weise, in der Angehörige einer Offenbarungsreligion auf ihre große Vergangenheit zurückblicken. Diese nämlich finden dort das für sie Maßgebliche: die Gesetzgebung für ihr Leben, Tod und Auferstehung ihres Erlösers etc. Platon aber ist für George nicht maßgeblich. Er veranschaulicht lediglich, dass die Göttlichkeit des Leibes in der großen Vergangenheit bereits einmal eingesehen und die Erziehung der Jugend für einen kleinen Kreis schon einmal nach ihr eingerichtet worden war. »Am Wunder Platons orientierte sich das Schauern und Erstaunen seiner Gefährten vor dem neuen Wunder, als das was durch die Gedichte langsam in ihnen wuchs plötzlich mit der Unbedingtheit eines Götterspruches vor ihnen stand: ›Der leib ist der gott‹« (Wolters: George, S. 428). 42 Einverleibung, V.4 (George: Werke. Bd. 2, S. 71). – Die der Eucharistie entliehene Bildlichkeit in diesem Gedicht verweist wieder auf die Benutzung christlicher Schemata und Denkfiguren – für nichtchristliche Zwecke. 43 Worauf Max Weber aufmerksam machte: »So ist die Art und Weise des Maximin-Kultus schlechthin ›absurd‹, weil sich von dieser Erlöser-Inkarnation mit aller Gewalt nichts aussagen läßt, was seine Göttlichkeit für andere als diejenigen, die ihn persönlich kannten, irgendwie glaubhaft machen könnte« (Brief an Dora Jellinek, 9.5.1910. In: Weber: Max Weber, S. 466).
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Maximin sich gerade George aussuchte, um ihm zu erscheinen? »Das Entscheidende ist nicht Maximin, sondern die Stilisierung der eigenen Person zur religiösen persona«,44 urteilte Max Kommerell nüchtern aus der Distanz nach der Loslösung vom Kreis. Im Kreis aber hat, in beachtlichem Maße, das Präsenzcharisma Georges immer wieder funktioniert. »Warum soll ich mich heute scheuen zu wiederholen«, schrieb Edith Landmann, »dass ich im Anblick Georges erfahren habe, was das ist, das Göttliche«.45 IV. Thomas Mann war ein Erbe der Desillusionierungstendenzen in der europäischen Romanliteratur und der Philosophie des 19. Jahrhunderts, und er hat sich selbst dazu bekannt. Vor diesem Hintergrund sollte man erwarten, dass er auf die Inanspruchnahme von Charisma mit Distanz und Ironie reagiert, und ein Blick auf die Vorkriegsproduktion Manns scheint diese Erwartung zunächst zu bestätigen. Bekanntlich hat Mann in seiner Münchner Zeit durchaus auf (respektvollen) Abstand zu George und zum Georgekreis geachtet. Die kurze Erzählung Beim Propheten von 1904, die sich vom Treiben des militanten Münchner Katholiken Ludwig Derleth inspirieren ließ,46 ironisiert die aus großer Höhe und Ferne und aus einem Stellvertretermund stammenden Verlautbarungen des »Propheten« Daniel allein schon dadurch, dass man in diese Höhe nur über das Treppenhaus eines Vorstadtmietshauses gelangt, das erst mühsam erstiegen werden muss. Der Tod in Venedig wirft ein zweideutiges Licht auf den dionysischen Kontakt zu den Tiefen und führt zum Zusammenbruch einer stilisierten Geisteshaltung – was Mann den harschen Tadel Georges einbrachte, hier »sei das Höchste in die Sphäre des Verfalls hinabgezogen« (GKFA 22, S. 352 [T. M. an Carl Maria Weber, 4.7.1920.])47 Freilich gibt es auch andere Töne im frühen Werk Thomas Manns, die darauf schließen lassen, dass ihm eine religiöse Selbststilisierung vor dem Ersten Weltkrieg zumindest nicht ganz fremd war. Der aus dem großen _____________ 44 Kommerell: Essays, S. 231. 45 Landmann: Gespräche, S. 18. 46 Derleth hatte in der Karwoche 1904 zu einer Lesung seiner Proklamationen geladen. Noch im gleichen Jahr erschienen sie in Buchform im Inselverlag. Vgl. Derleth: Die Proklamationen. – Zu Beim Propheten vgl. Marx: »Ich aber sage ihnen…«, S. 28–35. 47 Bereits über die Buddenbrooks soll George geurteilt haben: »Das ist nichts für mich. Das ist noch Musik und Verfall« (von Mann nach »mündlicher Überlieferung« zitiert in: GW XII, S. 106). – Einen schriftlichen Beleg für die Äußerung Georges über den Tod in Venedig gibt es nicht, wie der Kommentar der Frankfurter Ausgabe zutreffend mitteilt. Die Behauptung von Jan Steinhaußen (Aristokraten, S. 93), Georges Äußerung über den Tod in Venedig stehe in einem Brief an Gundolf, ist falsch.
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abgebrochenen Essayprojekt Geist und Kunst gerettete Aufsatz Der Literat nennt den Literaten geradezu einen Heiligen: Der Literat ist anständig bis zur Absurdität, er ist ehrenhaft bis zur Heiligkeit, ja als Wissender und Richtender den Propheten des alten Bundes verwandt, stellt er in der Tat auf seiner vornehmsten Entwicklungsstufe den Typus des Heiligen vollkommener dar, als irgendein Anachoret einfacherer Zeiten. Sein Schönheitssinn, seine Sensibilität gegen das Gemeine, Lächerliche und Unwürdige führt zur Vernichtung aller niederen Leidenschaften, der Bosheit, des Neides, der Herrschsucht, der Rachgier, der Eifersucht; seine Kunst zu zergliedern und zu bezeichnen, die kühlende, erledigende Wirkung des literarischen Wortes führt zur Auflösung und Beilegung der Leidenschaft überhaupt, zur Sanftmut, zur Stille. (GKFA 14/1, S. 362)
Indes muss man hier genau lesen, und es wäre fahrlässig, diesen Ausführungen zur Heiligkeit des Literaten und zu seiner Verwandtschaft mit den biblischen Propheten eine Nähe zu George zu entnehmen. Die Rede von der »kühlenden, erledigenden Wirkung des literarischen Wortes« zeigt an, dass es um eine Kunst mit einer starken Emphase auf kritischer Erkenntnis geht, für die man auf das Vorbild Nietzsche und – im Hinblick auf die entsprechende literarische Praxis – auf Flaubert verweisen könnte.48 Und sie mündet in eine Schopenhauerische Regungslosigkeit der Leidenschaften, Sanftmut und Stille. Die entscheidende Differenz zu George liegt hier darin, dass die Werke, die aus einer solchen dichterischen Haltung hervorgehen, selbst keinen Gebrauch vom Offenbarungston machen. Während Ludwig Derleth sich in »Proklamationen« ergeht und George in seiner Poesie reden darf »wie herab vom äther«,49 sind Texte wie Buddenbrooks und Bouvard und Pécuchet gänzlich ungeeignet, eine Religion zu stiften oder eine religiöse Aura um sich herum zu verbreiten. Sakralisiert ist hier lediglich die innere Einstellung, die in das Schreiben der Texte mündet, und die dazugehörige Arbeitsethik.50 Der »Heilige« und der »Prophet« sind Meta_____________ 48 »In der Schule von Geistern, die Nietzsche in Europa geschaffen, hat man sich längst gewöhnt, den Begriff des Künstlers mit dem Erkennenden zu identifizieren.« (GKFA 14/1, S. 86) – Aber den Vater dieser Schule gab es mit Flaubert bereits eine Generation vor Nietzsche. Thomas Mann hat, wenn auch leicht gönnerhaft, diesen Einfluss bereits früh anerkannt (ebd., S. 74). Und noch Der Zauberberg ist auch – ein deutscher Bouvard und Pécuchet. – Zu Flaubert und Mann vgl. die wichtige Studie von Neumann: Objektivität, Ironie und Sympathie (zum Zauberberg und zu Bouvard und Pécuchet dort S. 28ff.), die allerdings die Gegensätzlichkeit der künstlerischen Haltung bei Flaubert und Mann wohl eher zu stark betont. 49 George: Vorspiel zum Teppich des Lebens, XVII, V.1 (George: Werke. Bd. 1, S. 184). 50 Flaubert ist derjenige, der auf den Roman mehr Sorgfalt wendet als mancher Dichter auf seine Poesie. Angesichts dieses Autors ist die traditionelle Geringschätzung des Romans, mit der sich Mann im Versuch über das Theater auseinandersetzt, besonders absurd. »Ich hätte mögen den Vater Flaubert mit diesen Grenzwächtern sich auseinandersetzen hören. ›Ich habe‹, schreibt er, ›gestern sechzehn Stunden gearbeitet, heute den ganzen Tag, und heute
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phern für den Ernst des Schreibens und des Erkennens, und mehr nicht. Dem entspricht es, wenn der Gedanke einer zu beanspruchenden charismatischen Autorität bei Mann (wie bei Flaubert) nur mehr in entsubstanzialisierter Gestalt begegnet. Das »GANZ ANDERE« ist immanent, verschwiegen und negativ, unbestechlich, beweglich und frei: ortlos. Es heißt »Geist«. Von ihm gilt: »Kritik ist Geist«.51 Ein Künstler, der in diesem »Geist« arbeitet, bedient sich der »berühmten ›indirekten Charakteristik‹« mit ihrer »ironischen Unverbindlichkeit« (GKFA 14/1, S. 132f.).52 Die Wahrheit, der er dient, kann gar nicht positiviert werden. »Wahrheit ist drei- bis vierdimensional und kann höchstens gestaltet, aber niemals gesagt werden« (GKFA 22, S. 59 [T. M. an Ernst Bertram, 17.2.1915]). Dieser geistigen Strenge gegenüber hat die priesterliche Attitüde etwas unzweideutig Theatrales, etwas vom abgefeimten Zauber; es ist der große Theatraliker unter den Ahnherren Thomas Manns, von dem es heißt: »ein Künstler, der, wie Richard Wagner, gewohnt war, mit Symbolen zu hantieren und Monstranzen emporzuheben, mußte sich schließlich als Bruder des Priesters, ja, selbst als Priester fühlen« (GKFA 14/1, S. 158). Und dennoch können kritischer »Geist« und Prophetie und Priestertum zusammenkommen, wenn nur der »Geist« etwas von seinen Forderungen nachlässt. Löst er sich von der Schönheit und von der Ironie und wendet er seine Strenge nicht länger auch gegen sich selbst, sondern nur noch nach außen, so nähern wir uns dem Modell des asketischen Priesters, der das, was er in kalter Klarsicht erkannt hat, der Welt aufzuzwingen gesonnen ist. Im Vorkriegswerk Manns gibt es eine repräsentative Gestalt, die ganz nach diesem Modell entworfen ist: Savonarola in Fiorenza. Hier hat Thomas Mann, wie Friedhelm Marx treffend beobachtete, »das ganze von Friedrich Nietzsche bereitgestellte Register psychologischer Entlarvungsstrategien« genutzt.53 Lorenzo di Medici hält Savonarola vor, dass hinter dem Wunsch, Florenz »für den König, der am Kreuze starb«, zu gewinnen, sein Wunsch stehe, die Stadt für sich haben zu wollen (GW VIII, S. 1066). Mit dem Hinweis auf das »Wunder der wiedergeborenen Unbe_____________ abend habe ich endlich die erste Seite beendet.‹ Sonderbarer Schwärmer! Nur das Drama wäre deiner Qualen würdig gewesen!« (GKFA 14/1, S. 133). 51 »Kritik ist Geist. Der Geist aber ist das Letzte und Höchste. Und wenn, was freilich besser nicht geschähe, Geist und Kunst einander in die Haare geraten, so bin ich imstande und nehme Partei für den Geist. Ich bin, um es ganz schlicht zu sagen, für Freiheit. Das Wort, der Geist sei frei« (GKFA 14/1, S. 86f.). 52 Auch in diesem Zusammenhang führt Mann – naheliegend anlässlich der »indirekten Charakteristik« – wieder Flaubert an (ebd., S. 132). 53 Marx: »Ich aber sage ihnen…«, S. 37.
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fangenheit« (ebd., S. 1064),54 das er zur Selbstdeutung gegenüber Lorenzo anführt, rechtfertigt Savonarola das bewusste und gewollte Vergessen jenes analytischen Wissens um die eigenen verborgenen Motive, das er als Vertreter des »Geistes« haben könnte, ja: haben müsste. »Ich bin erkoren. Ich darf wissen und dennoch wollen«, sagt Savonarola (ebd., S. 1064). In Fiorenza treten damit unter dem Blick des modernen Ironikers zwei Hauptzüge des Charismatikers, der unter modernen Bedingungen agiert, hervor: Regression und Vereinseitigung. Er unterdrückt sein besseres Wissen um die eigenen psychischen Antriebe, und er gibt die Doppelnatur des Künstlers, zugleich die Unbestechlichkeit der radikalen Kritik und das Alles-Verstehen-Können zu verkörpern, zugunsten der Liaison von Geist und Macht auf. Savonarola weist darum sowohl die These Lorenzos, dass Künstler und asketischer Mönch eigentlich »feindliche Brüder« seien, wie dessen Schlussappell »Laß von der Macht! Entsage! Sei ein Mönch!« zurück (GW VIII, S. 1063, 1067). Die Aufforderung an Savonarola, die Künstlernatur in sich (wieder) wahrzunehmen und zum reinen, machtfreien Mönchtum – in der Sprache der Literatur gesprochen: zum Ethos Flauberts – zurückzukehren, verhallt. Stattdessen treten mit dem letzten Satz des Dramas die Verheerungen, die der Charismatiker an der Welt und an sich selbst anrichten wird, hervor: »Ich liebe das Feuer« (ebd., S. 1067). Das Vorkriegswerk Manns legt demnach zwar Zeugnis ab von gewissen Versuchungen des Autors zu religiöser Selbststilisierung; das ideologiekritische Modell des asketischen Priesters scheint jedoch wie ein Warnschild vor Thomas Mann zu stehen, hier eine bestimmte Grenze nicht zu überschreiten. Das ändert sich auch nicht mit den Betrachtungen eines Unpolitischen. Man sollte meinen, dass eine Schrift, die sich die Verteidigung des deutschen Dichters gegen den Typus des prosaischen, von demokratischen Idealen inspirierten und in der Art eines Volkstribuns agierenden Schriftstellers angelegen sein lässt, auch für die religiöse Stilisierung eines hohen, charismatischen Dichtertums etwas übrig haben müsste. Indes, so ist es eben gerade nicht. Unzweifelhaft sind die Betrachtungen eine Solidaritätserklärung mit dem »unliterarischen Land« Deutschland und seiner Poesie und Dichtung, unzweifelhaft ist auch, dass Mann einen Stachel im eigenen Fleische artikuliert, wenn er den Satz niederschreibt, eine literarische Produktion wie die seine könne in Deutschland (noch) nicht repräsentativen Status erlangen: »Vorderhand ist es nicht vorstellbar, daß hierzulande – im ›unliterarischen Lande‹ – ein Schriftsteller, ein Prosaist und Romanschreiber im Bewußtsein der Nation zu repräsentativer Stellung aufsteige, wie der Poet, der reine Synthetiker, der Lyriker oder Dra_____________ 54 Das »Wunder der wiedergeborenen Unbefangenheit« erbt bekanntlich der Schriftsteller Gustav von Aschenbach von Savonarola. Vgl. GW VIII, S. 455.
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matiker es vermag« (GW XII, S. 70). Doch ist der Assoziationsraum von »Poet« hier, wenn man es knapp fassen möchte, der von Musik, Taugenichts und Bürgerlichkeit, nicht der von charismatischer Führerschaft.55 Diese kommt umgekehrt immer dann ins Spiel, wenn es um die gegnerische Seite in den Betrachtungen, den Zivilisationsliteraten geht. Konkret vom asketischen Priester spricht Mann im Kapitel »Einkehr«, anlässlich eben des Savonarola-Dramas Fiorenza. Er bekennt offen ein, dass es ihm hinter den historischen Verkleidungen des Renaissance-Florenz um Aktuelles ging. Der asketische Priester Nietzsche’s, er, der lieber das Nichts wollen, als nicht wollen will, dieser nihilistische Cäsar, wurde mir – keineswegs unversehens – zum radikalen Literaten modernster Observanz. […] Mein eigentliches Interesse, meine geheime intellektuelle Parteilichkeit und Neugier [galt] doch dem Vertreter des literarischen Geistes und seinem Kunststück, sich vermittelst »wiedergeborener Unbefangenheit« zum theokratischen Demagogen tüchtig zu machen… (GW XII, S. 97ff.)
Im »Geist« Savonarolas beziehungsweise im »literarischen Geist« des radikalen Literaten erkennen wir leicht jene entrückte absolute Quelle des Charismas, das »GANZ ANDERE« wieder, so wie in der Ummünzung in theokratische Demagogie den machtbewussten Führeranspruch des asketischen Priesters. »Geist« und »Tat« in Heinrich Manns Worten, in boshafter Interpretation durch den Bruder. In diesem Licht erscheint der »Zivilisationsliterat« leicht etwas weniger westlich als wir ihn sonst zu sehen gewohnt sind. Aber schließlich wird der Gegner in den Betrachtungen nicht nur, wie man gezählt hat, hundertzweiundsiebzigmal als »Zivilisationsliterat« tituliert, sondern auch einige Male als »politischer Prophet« (ebd., S. 315, 347).56 So haben wir in den Betrachtungen das merkwürdige Phänomen, dass Thomas Mann eine literarische Rolle – den deutschen Dichter – verteidigt, die er selbst nicht für sich in Anspruch nehmen kann und will und an deren Zukunft er nicht so recht zu glauben wagt. Andererseits bekämpft er einen Gegner, an dessen Versicherungen, er sei Aufklärer, er nicht _____________ 55 »Nein, zugegeben,« schreibt Mann in der (bekanntlich zuletzt niedergeschriebenen) Vorrede der Betrachtungen, »ich bin kein Ritter der Zeit, bin auch kein ›Führer‹ und will es nicht sein. Ich liebe nicht ›Führer‹, und auch ›Lehrer‹ liebe ich nicht, zum Beispiel ›Lehrer der Demokratie‹« (GW XII, S. 20f.). »Lehrer der Demokratie« wurde Zola von Heinrich Mann in dessen Zola-Aufsatz von 1915 genannt (H. Mann: Zola, S. 199); dort auch die Kennzeichnung Zolas durch die »Sendung einer Führerschaft« und die Einordnung des französischen Schriftstellers in den »Typus jener Menschenführer, die vom Mittelmeer herkommen, Cäsar, Napoleon, Garibaldi«, die »Eroberer, und dann Zivilisatoren« sind und »zum Glück führen« (ebd., S. 127). 56 Vgl. auch die religiösen Untertöne auf S. 326 (»unbedingte Apotheose des sozialen Lebens«) und S. 331 (»sein [des Zivilisationsliteraten, B.A.] Unterfangen also, Geist und Kunst auf eine demokratische Heilslehre zu verpflichten«).
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glaubt und den er eigentlich für einen – vorgeblich geistinspirierten – theokratischen Demagogen hält. Sein eigenes Projekt in den Betrachtungen bezeichnet er als »Rechenschaftsbericht«, »Revision aller Grundlagen« seines »Künstlertums« und »Selbsterforschung« (ebd., S. 18, 12) und nimmt dafür die Nietzschesche Tugend der intellektuellen Redlichkeit in Anspruch. Der Duktus der Nachforschung, des unaufhörlichen Argumentierens mit dem Gegner und mit sich selbst, prägt den gesamten Text; dass dieser immer wieder – uferlos, wie Thomas Mann selbst eingestand – um das Gleiche kreist und doch nicht enden zu können scheint, zeigt das Unabgeschlossene der Sache, um die es geht, und das Unabschließbare des Redens darüber. Mit den Betrachtungen, so scheint mir, erobert Thomas Mann erstmals wirklich die Diskursivität für sich, die für sein weiteres schriftstellerisches Werk und auch für sein öffentliches Engagement so bedeutsam sein wird; und er beginnt eine neue schriftstellerische Rolle für sich zu entdecken, die der Alternative zwischen dem unpolitischen Dichter und dem theokratischen Demagogen entgeht; es ist die des reflektierenden Intellektuellen. Terence J. Reed hat in seiner klassisch gewordenen, bis heute sehr lesenswerten Thomas Mann-Studie The Uses of Tradition unter anderem die These vorgelegt, dass die Betrachtungen eines Unpolitischen sich nicht nur diskontinuierlich zur späteren Entwicklung Manns in den 20er Jahren verhalten, sondern auch einen klaren Bruch mit Manns Vorkriegspositionen bedeuten, insbesondere mit den Materialien zum Essay-Projekt Geist und Kunst. Reed hat aber auch dafür plädiert, dass diese zweimalige Wende weder 1914 noch um 1922 als politischer Opportunismus interpretiert werden sollte, und versucht, die konkreten Motive zu benennen, die Mann jeweils bewogen.57 Ich würde sogar noch weiter gehen als Reed und in der Eroberung der Diskursivität in den Betrachtungen eine untergründige Linie der Kontinuität zwischen der Ironie und Desillusionierung des Vorkriegswerks und dem späteren Werk Manns und seiner öffentlichen Rolle in Weimarer Republik und Exil sehen. Hinter dem offen zu Tage liegenden politischen Konservativismus und dem Engagement für das der Demokratie nicht bedürftige Deutschtum entwickelt sich leise und unmerklich und einstweilen nur im formalen Duktus der Betrachtungen gegründet ein anderes Konzept eines repräsentativen Schrifttums, das erst unter den Bedingungen einer zumindest liberal sein wollenden Demokratie sich _____________ 57 Diese Motive sind für 1914 die Chance, den bislang im Werk zwar thematisierten, aber im Leben unerfüllt gebliebenen Wunsch nach Eintauchen in die bürgerliche Normalität und das Volksleben im emphatischen Einheitsgefühl des Kriegserlebnisses zu realisieren; für 1922 der Abscheu vor dem zunehmenden Radikalismus der Rechten, die, wie das Attentat auf Walther Rathenau zeigt, auch vor politischem Mord nicht zurückschreckt. Vgl. Reed: Mann, S. 179ff., 275ff.
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auswirken kann. Nicht die Dichtung beglaubigt charismatische Führerschaft; das literarische Werk verleiht seinem Autor einen Rang, der seine Stimme und seine Reflexion im Konzert der Stimmen einer diskutierenden Öffentlichkeit gehört werden lässt. Obwohl er nicht führt und nicht dichtet, ist der Autor repräsentativ. In diesem Sinne attestiert Mann in der Rede Von deutscher Republik von 1922 der Demokratie, »daß sie des Landes geistige Spitzen, nach Wegfall der dynastisch-feudalen, der Nation sichtbarer macht« (GKFA 15/1, S. 516), und revoziert damit die skeptische Einschätzung der Betrachtungen, ein »Schriftsteller« könne nicht wie ein Dichter im Bewusstsein der Nation zu repräsentativer Stellung aufsteigen. »Das unmittelbare Ansehen des Schriftstellers steigt im republikanischen Staat« (ebd.); das Ansehen des Schriftstellers – nicht des Dichters. Im literarischen Nachkriegswerk Thomas Manns ist das Figurenarsenal des Zauberbergs für diese Wende relevant. Settembrini tritt zwar unverkennbar das Erbe des Zivilisationsliteraten an; zur Aufwertung seiner Position trägt jedoch entschieden bei, dass sowohl der Radikalismus des Zivilisationsliteraten wie auch dessen theokratische Züge von Settembrini ferngehalten werden und auf seinen Widersacher Naphta übergehen. Vielleicht noch aufschlussreicher sind die drei Figuren des Zauberbergs, für die das Modell des asketischen Priesters nochmals Pate gestanden hat und die von Thomas Mann nun mit den Stilmitteln des satirisch-grotesken Registers behandelt werden.58 Der Verkünder einer medizinisch-weltlichen Heilslehre und Seelenzergliederer Krokowski endet mit Tischrücken und Totenbeschwörung, der die Askese und die kirchliche Hierarchie liebende Jesuit Naphta mit wütendem Selbstmord. Bei Mynheer Peeperkorn schließlich handelt es sich um die bemerkenswerte Darstellung eines reinen Charismatikers, einer ungeheuren Persönlichkeitswirkung, der kein Inhalt zugrundeliegt. Dass er nichts zu sagen hat, die Artikulationsunfähigkeit dieser Figur ist die komische Kehrseite des Charismas Peeperkorns. Der Roman als Ganzes wählt eine andere Option als seine drei charismatischen Figuren. Eloquent begibt er sich auf das Feld der intellektuellen Auseinandersetzung und zeigt Sinn für das Faszinierende an gegenläufigen, einander relativierenden Argumenten. Die schweigsame Flaubertsche Ironie nach allen Seiten hat bei Mann schließlich sprechen und diskutieren gelernt.
_____________ 58 Vgl. hierzu auch Marx: »Ich aber sage ihnen…«, S. 126–128.
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V. Ein Zeitgeist, der über lange Jahre hinweg – von der Vorkriegszeit über den Ersten Weltkrieg in die Weimarer Republik und den Nationalsozialismus hinein – dem Konzept der charismatischen Führerschaft ausgesprochen wohlwollend und erwartungsvoll gegenüberstand; drei einer Generation angehörige öffentlich wirksame Personen, für die Charisma offensichtlich eine sehr lebendige Faszination darstellte – und doch ist unter diesen dreien letztlich nur einer, der forciert charismatische Führerschaft auszuspielen und in seiner Person zu realisieren versuchte: Stefan George. Man wird angesichts dieser Diskrepanzen im Umgang mit Charisma sowohl auf Erklärungen neugierig sein dürfen wie – angesichts der Vielzahl von Faktoren, die hier eine Rolle spielen könnten – mit ihnen vorsichtig sein müssen. Ich beschränke mich darauf, abschließend auf zwei Dimensionen hinzuweisen, die für die bislang skizzierten Einstellungen möglicherweise prägend gewesen sind: der religiöse Hintergrund unserer Autoren und der jeweilige Habitus des literarischen Werks, der ja für einzelne Texte und Äußerungen durchaus auch die Funktion eines das Feld des Möglichen eingrenzenden Rahmens darstellen kann. Martin Buber wuchs in eine Tradition hinein, in der dem charismatischen Weisen immer ein hoher Rang zugewiesen worden war, zugleich aber ein solcher Weiser immer als einer unter mehreren und als Glied der Tradition verstanden wurde. Dazu kommt eine überaus deutlich ausgeprägte Scheu vor der Inanspruchnahme des Göttlichen; so manches, was anderswo als menschenmöglich gilt, hat das Judentum für Gott reserviert. Präsenz und Göttliches sind in jüdischer Tradition eben nicht sehr gut miteinander vereinbar, und es ist vielleicht kein Zufall, dass gerade in der jüdischen Tradition der Satz ausgebildet wurde: »Wir hören nicht auf eine Stimme vom Himmel«.59 Was die Gestalt seines literarischen Werks angeht, so hat Buber vorrangig das Medium der Weisheitsliteratur für sich genutzt. Dieses Schrifttum ist bereits in seinen Ursprüngen in den antiken Hochkulturen der Welt ein Reflexionsinstrument, in der jüdischen Tradition speziell auch ein Instrument dialogischer Reflexion. Die Spannung, in der die Figur des Weisen zu den sozialen und kognitiven Gegebenheiten der Moderne steht, führt nicht per se zum Zwang zu einer Regression ins Archaische; sie kann im Gegenteil – neben Buber mögen Agnon, Kafka _____________ 59 bChullin 44a (R. Jehoschua). Höher steht der, der nicht die Wahrheit kündet, sondern mitberücksichtigt, was die anderen sagen. Im gleichen Diskussionszusammenhang, dem der oben zitierte Satz entnommen ist, findet sich das Lob der Schule Hillels, die der Schule Schammais vorgezogen wurde, weil sie freundlich und bescheiden war und sowohl die eigenen Lehren wie die der Schule Schammais studierte (bErubin 13b).
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und Brecht als Beispiele dienen – gerade als Ort einer Reflexion über die Moderne produktiv gemacht werden. Stefan Georges katholischer Hintergrund war noch so kräftig, dass er ihm Modelle für eigene Ritualisierungen und Mythisierungen bereitstellte; und zugleich bereits so verblasst, dass George sich frei fühlte, in Religionsdingen umzuschmieden, zu experimentieren und neuzubegründen. Die literarische Gattung, die Georges Ruhm begründete und in der er auch fortfuhr zu produzieren, als das Schwergewicht seines Lebenswerks sich bereits auf das pädagogische Gebiet verlagerte, war die lyrische Dichtung, also diejenige Gattung, in der (etwa mit Pindar, Hölderlin und Baudelaire), die Tradition, Dichter als Propheten und Seher aufzufassen, so gut wie ausschließlich ihre Beispiele gefunden hatte. Für Thomas Mann sollte man, so klischeehaft das in manchen Ohren klingen mag, den Fonds an (kultur)protestantischer Nüchternheit, der ihm von seiner Herkunft her mitgegeben war, in Rechnung stellen. Wenn im bisher Dargelegten gern das Charisma im Blickwinkel Manns als das Sinistre, Abseitige und auch als das Todverfallene erschien, so scheint darin auch das exotische Faszinosum durch, das man als aufgeklärter Protestant von vornherein nur begrenzt an sich heranlassen kann, das jedenfalls keine Chance hat, die Eigenschaft des Exotischen jemals abzulegen. Die vielberufene »Sympathie mit dem Tode« ist ein Motiv unter anderen im Werk, keinesfalls dessen Kern. Die literarische Tradition, in der Mann gearbeitet und seine bedeutendsten Leistungen erbracht hat, ist die Tradition des europäischen Romans, der Polyphonie, Ironie und Distanz so tief eingeschrieben sind, dass man sich fragen könnte, wie sich charismatische Führerschaft denn überhaupt in ihr artikulieren können sollte, ohne gleich wieder relativiert zu werden. Rorty, der uns in diese Überlegungen hineingeholfen hat, hat nicht umsonst in dem eingangs von mir zitierten Text darauf hingewiesen, dass der Spielraum von Heideggers Vorstellungsvermögen, so groß er auch sei, doch »auf Philosophie und Lyrik beschränkt ist, also auf die Schriften derjenigen, denen er den Titel ›Denker‹ oder ›Dichter‹ verleiht«.60 Und er hat gegen den asketischen Priester Heidegger, gewiss nicht zufällig, ausgerechnet einen Romancier gestellt. Immerhin: Trotz dieser eher günstigen Rahmenbedingungen aus religiöser Herkunft und literarischer Tradition musste Thomas Mann beträchtliche intellektuelle und moralische Energie aufwenden, um das verführerische Konglomerat von Inspiration, Geist, Macht und Führerschaft von sich wegzuschieben – und sich schließlich dem publizistischen Kampf gegen eine besonders perfide Art von charismatischer Führerschaft vorbehaltlos zu verschreiben. Die Nähe zum und die Verwandtschaft mit dem Eigenen _____________ 60 Rorty: Heidegger, S. 75.
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hat er auch darüber nicht vergessen. Jenen üblen Charismatiker, der über zwölf Jahre hinweg an der Spitze Deutschlands stand, sich Führer nennen ließ und auch das Feuer liebte, nannte er, im selben Atemzug, in dem er seiner verächtlichen Empörung über ihn Luft machte, Bruder Hitler.61 Literaturverzeichnis Mann, Thomas: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 14. Essays I 1893–1914. Text u. Kommentar. Hg. von Heinrich Detering. Frankfurt/M. 2002. Mann, Thomas: [Der französische Einfluß]. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 14/1. Essays I 1893–1914. Hg. von Heinrich Detering. Frankfurt/M. 2002, S. 73–75. Mann, Thomas: [Über die Kritik]. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 14/1. Essays I 1893–1914. Hg. von Heinrich Detering. Frankfurt/M. 2002, S. 86f. Mann, Thomas: Versuch über das Theater. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 14/1. Essays I 1893–1914. Hg. von Heinrich Detering. Frankfurt/M. 2002, S. 123–168. Mann, Thomas: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 15. Essays II 1914–1926. Text u. Kommentar Hg. von Hermann Kurzke, Frankfurt/M. 2002. Mann, Thomas: Von deutscher Republik. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 15/1. Essays II 1914–1926. Hg. von Hermann Kurzke, Frankfurt/M. 2002, S. 514–559. Mann, Thomas: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 22. Briefe II 1914–1923. Hg. von Thomas Sprecher / Hans R. Vaget / Cornelia Bernini. Frankfurt/M. 2004. Mann, Thomas: Der Tod in Venedig. In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. VIII. Frankfurt/M. 1974, S. 444–525. Mann, Thomas: Fiorenza (1905). In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. VIII. Frankfurt/M. 1974, S. 961–1067. Mann, Thomas: Betrachtungen eines Unpolitischen (1918). In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. XII. Frankfurt/M. 1974, S. 8–589.
_____________ 61 Vgl. T. M.: Bruder Hitler (GW XII, S. 845–852). Dort auch wieder der Verweis auf das »Wunder der wiedergeborenen Unbefangenheit« in Fiorenza und Der Tod in Venedig sowie das Eingeständnis: »Ich war nicht ohne Kontakt mit den Hängen und Ambitionen der Zeit, mit dem, was kommen wollte und sollte.« Und schließlich sogar die Behauptung, Freud als Vertreter von »Erkenntnis« und »Analyse« sei der eigentliche Gegner gewesen, gegen den sich Hitlers »Marsch« auf Wien gerichtet habe: »Aber was ist dieser Haß gegen denjenigen, den der Exzedent des Unbewußten dem Geist und der Erkenntnis entgegenbringt! Wie muß ein Mensch wie dieser die Analyse hassen! Ich habe den stillen Verdacht, daß die Wut, mit der er den Marsch auf eine gewisse Hauptstadt betrieb, im Grunde dem alten Analytiker galt, der dort seinen Sitz hatte, seinem wahren und eigentlichen Feinde, – dem Philosophen und Entlarver der Neurose, dem großen Ernüchterer, dem Bescheidwisser und Bescheidgeber selbst über das ›Genie‹« (ebd., S. 850f.).
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HANS WISSKIRCHEN
Sein und Meinen Zur stabilisierenden Funktion eines Gegensatzpaares in den Jahren 1922 und 1933
I. Zur Frage der Repräsentanz Als Thomas Mann 1955 starb, gab es nur ganz vereinzelt negative Stimmen. Alfred Döblin etwa gab sich äußerst rigoros und stellte fest: »Es gab diesen Thomas Mann, welcher die Bügelfalte zum Kunstprinzip erhob, erleben wollte, und mehr brauchte man von ihm nicht zu wissen«.1 Einige äußerten sich anerkennend-ironisch, so wie Gottfried Benn: »Nun ist der große Thomas tot, er schwebte ja seit Jahrzehnten als großer alter Erzengel über uns allen, die wir ja zum größten Teil Putten u. Amoretten geblieben sind«.2 Der überwältigende Teil der Reaktionen war jedoch positiv und der Tenor eindeutig. Im Augenblick des Todes stand Thomas Mann in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit dort, wo er auch heute zu finden ist: Er war und ist der unumstrittene Repräsentant deutscher Kultur. Die folgende Meinungsäußerung eines Journalisten ist dabei nur ein Beispiel von vielen: »Mit Thomas Mann ist der letzte Repräsentant deutschen Geistes und deutscher Kultur von internationalem Rang dahingegangen. Etwas Ähnliches an Bedeutung ist im Augenblick, soweit man die nachrückende Generation übersieht, nicht zu erkennen«.3 Und noch etwas war bemerkenswert. Die Zuweisung von Repräsentativität zog sich durch alle Schichten und umfasste auch beide deutsche Staaten: Es ist eigentümlich mit deutschen Dichtern. Selten haben sie das Ohr der ganzen Nation. Unsere innere Zerrissenheit kommt auch hier zum Ausdruck. Sogar bei
_____________ 1 Döblin: Verschwinden, S. 575. 2 Gottfried Benn an Erna Pinner, 25.8.1955 (Benn: Briefe, S. 292f.). 3 Belzner: Mann [Nachruf], 15.8.1955.
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der Wiederkehr von Schillers hundertfünfzigsten Todestag in diesem Jahre konnte man nicht eigentlich von einer Volksbewegung sprechen. Können wir es bei Thomas Mann, der achtzigjährig am 10. August starb? Wenn wir einen Blick in die Zeitungen werfen, so stellen wir eine seltene Übereinstimmung fest. Irgendwie ist bei allen das Gefühl, hier ist einer von uns gegangen, dessen Name auf lange mit dem Begriff der deutschen Kunst verbunden ist. Keine Darstellung der deutschen Dichtung, der deutschen Sprache wird an ihm und seinem Werk vorbeigehen können.4
Trotz aller Volten und Wendungen in der Rezeptionsgeschichte der vergangenen fünfzig Jahre – wie etwa 1975, als die Kritik fundamentaler und massiver wurde – kann man festhalten: Thomas Mann hat einen nahezu unangreifbaren Status als repräsentativer deutscher Schriftsteller des 20. Jahrhunderts erreicht. Als ein vorläufiger Endpunkt sei die Rede von Marcel Reich-Ranicki bei dem Festakt anlässlich des 50. Todestages Thomas Manns im August 2005 in der Lübecker Marienkirche genannt, in der er unter anderem sagte: Wer bin ich, daß ich das Wort führen soll zu seinem Preis, in wessen Namen tue ich es hier? Die Antwort ist einfach: Ich spreche als einer jener Leser, die in seinen Büchern ihre Not, ihr Elend und auch ihr Glück wiedergefunden haben. Seit ich als Halbwüchsiger Tonio Kröger gelesen habe, bewundere ich Thomas Mann, seit ich sah und erkannte, daß er mit seiner Existenz, wie einst Goethe, den Begriff ›Deutschtum‹ neu definierte, verehre ich ihn wie keinen anderen Autor des zwanzigsten Jahrhunderts, ja vielleicht wie keinen anderen seit 1832.5
Nach den Gründen für diese repräsentative Stellung im gegenwärtigen literarischen Feld ist oft gefragt worden und es wird sicher eine der zukünftigen Aufgaben der Thomas Mann-Forschung sein, hier zu neuen Antworten zu kommen. Wenn man die Thomas Mann-Leser der letzten 50 Jahre in generationsspezifische Gruppierungen unterteilt, dann gehört Marcel Reich-Ranicki zu der ältesten Lesergruppe. Er steht für eine Generation, die durch die Erfahrung des Faschismus und des Zweiten Weltkrieges geprägt wurde, und darauf basiert entscheidend ihr Thomas Mann-Bild. Thomas Mann als Vertreter des anderen, des besseren Deutschland, das ist für Marcel Reich-Ranicki die Basis des Ruhmes, die Garantie für den Nachruhm. Thomas Manns politische Haltung bildet fraglos eine der Grundlagen für seine ungebrochene Repräsentativität und auch Aktualität. Hinzu kommen noch andere Gründe. So wird man selbstverständlich das literarische Werk anführen müssen, man wird besonders auf sein Schreibprinzip der »doppelten Optik« hinweisen, eben seine Bemühungen, in jedem Text die Wenigen und die Vielen, die literarisch Versierten und _____________ 4 Anonymus: Mann zum Gedächtnis [Nachruf]. 5 Reich-Ranicki: Deutschlands Glück.
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die ganz naiven Leser anzusprechen. Kein Schriftsteller im 20. Jahrhundert hat im Bereich der Leseransprache eine solche Meisterschaft entwickelt wie Thomas Mann. Aber auch die literarische Qualität alleine ist keine ausreichende Erklärung für die Bedeutung dieses Autors in der öffentlichen Wahrnehmung. Ich verzichte an dieser Stelle dennoch auf die Nennung von weiteren Gründen, sondern beschränke mich im Folgenden auf die Repräsentanz Thomas Manns im politisch-gesellschaftlichen Kontext. Dabei drängt sich eine Frage zentral in den Blick. Wie ist es Thomas Mann gelungen, zwischen 1875 und 1955 – also in einem Zeitraum, der beiden Weltkriege, vier unterschiedliche deutsche Staatsformen und eine historische und mentalitätsgeschichtliche Beschleunigung ohnegleichen umfasst – alle diese Veränderungen nicht nur mitzumachen, sondern seine repräsentative Bedeutung in den jeweils unterschiedlichen historischen Formationen erst zu entwickeln und dann auch erfolgreich beizubehalten? Wie hat er die Basis dafür gelegt, dass er seit seinem Tod in dieser Hinsicht als eine unumstößliche Größe dasteht? Die Geschichte seines stetigen Kampfes um einen repräsentativen politischen Ort in der deutschen Erinnerungs-Geschichte ist noch nicht geschrieben worden. Es wäre eine spannende Geschichte, die weit über Thomas Mann hinausweisen würde. Sie kann an dieser Stelle nicht erzählt werden, ich möchte stattdessen eine ganz konkrete ›Tiefenbohrung‹ vornehmen, um an einem eng umrissenen Beispiel zu zeigen, wie Thomas Manns Strategie zur Wiedergewinnung einer verlorenen Repräsentanz aussieht. II. 1922: Homosexueller Männerbund und Demokratie Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges, der Revolution von 1918/19 und der Errichtung der ersten Republik auf deutschem Boden stand Thomas Mann vor einem zentralen Problem. Er hatte sich bisher um Politik wenig gekümmert, sondern sich in einem bürgerlich-kulturellen Freiraum bewegt, den der wilhelminische Obrigkeitsstaat gleichsam seiner kulturellen Elite zur Verfügung gestellt hatte. Er hatte, vollkommen zu Recht, von der »machtgeschützten Innerlichkeit« im Sinne Wagners gesprochen, die als Grundlage seines Lebens und Schreibens gedient hatte. In den Jahren vor 1914 hatte eine unreflektierte und nicht hinterfragte Einigkeit zwischen dem Schriftsteller Thomas Mann und dem Staat, in dem er lebte, geherrscht. Er stand damit gewissermaßen als eine öffentliche und als eine zunehmend berühmter werdende Person für diesen
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Staat ein. So erklärt sich denn auch seine politische Parteinahme bei Beginn des Ersten Weltkrieges. Es ist die Einheit von Ich und Geschichte, die durch den Schock dieses Krieges mit einem Schlag in ihren Grundfesten erschüttert wird und Thomas Mann dazu zwingt, die Betrachtungen eines Unpolitischen zu schreiben. Der Titel ist glänzend gewählt, denn er trifft es genau: Einer, der sich nie um Politik gekümmert hat, nicht darum kümmern musste, tut dies nun gezwungenermaßen, und er tut dies auf eine höchst problematische Art und Weise. Er schlägt sich auf die Seite des deutschen Staates, verteidigt den Ersten Weltkrieg und schwelgt in einem üblen Chauvinismus. Daran ist nichts zu deuteln oder zu beschönigen. Thomas Mann hat dies in späteren Jahren ebenso gesehen. Und daher ist unbestreitbares Faktum: Am Ende des Ersten Weltkrieges, als die deutsche Niederlage feststand, befindet sich Thomas Mann in einer gesellschaftlichen Außenseiterposition. Dies wird besonders dann deutlich, wenn man seine Position mit der seines Bruders Heinrich Mann vergleicht, der in jenen Jahren nach dem Erfolg seines Romans Der Untertan als der Repräsentant der Weimarer Republik galt, während Thomas Mann als Repräsentant des untergegangen Wilhelminischen Kaiserreiches ins geschichtliche Abseits zu geraten drohte. Die Tagebücher von 1918 bis 1921 sind von Eintragungen durchzogen, die diese sehr spezielle Form der Verlustangst dokumentieren. Der drohenden öffentlichen Marginalisierung begegnet Thomas Mann mit einer spektakulären öffentlichen Aktion. Am 15. Oktober 1922 hält er in Berlin die Rede Von deutscher Republik. Anwesend ist die gesamte politische und intellektuelle Prominenz der jungen Weimarer Demokratie – an der Spitze Reichspräsident Friedrich Ebert und Gerhart Hauptmann, dessen 60. Geburtstag Anlass des Festaktes war. Die Rede machte vor allem deshalb Furore, weil hier einer, der seit den Betrachtungen eines Unpolitischen zu den herausragenden Vertretern eines konservativen Deutschlands, ja gar zu den geistigen Wegbereitern der »Konservativen Revolution«6 gezählt wurde, einen radikalen Schwenk vollzog, sich zur gehassten Republik von Weimar bekannte. Die Reaktion in der Presse war dementsprechend heftig. Thomas Mann wurde immer wieder des Renegatentums bezichtigt.7 Das alles wäre wohl für ihn noch hinnehmbar gewesen, nicht aber der Vorwurf, es habe ein »›Bruch‹ mit meiner geistig-politischen Vergangenheit notwendig« vorgelegen (GW XI, S. 809). _____________ 6 Thomas Mann ist einer der ersten, der den Begriff der »Konservativen Revolution« verwendet. Vgl. Russische Anthologie (GW X, S. 598). 7 Vgl. etwa Stapel: Warum.
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Hier bestand die Gefahr, dass ein politisches Bekenntnis und eine daraus resultierende ideologische Auseinandersetzung auf Thomas Manns grundlegende Persönlichkeitsstruktur durchzuschlagen begann. In der gedruckten Fassung der Rede geht er auf diese Vorwürfe ein und begegnet ihr mit einer für die Wiederherstellung von Repräsentanz grundlegenden Argumentationsfigur: Ich weiß von keiner Sinnesänderung. Ich habe vielleicht meine Gedanken geändert, – nicht meinen Sinn. Aber Gedanken, möge das auch sophistisch klingen, sind immer nur Mittel zum Zweck, Werkzeug im Dienst eines Sinnes, und gar dem Künstler wird es viel leichter, als unbewegliche Meinungswächter wissen können, sich anders denken, anders sprechen zu lassen als vordem, wenn es gilt einen bleibenden Sinn in veränderter Zeit zu behaupten. (GW XI, S. 809)
Thomas Mann unterscheidet zwischen einem unveränderten Sinn, der auch unabhängig von den historischen Zeitläuften gesehen wird, und den veränderbaren, weil zeitgebundenen Gedanken. Der Sinn, so kann man wohl interpretieren, organisiert die stabile Persönlichkeitsstruktur bei Thomas Mann, die unabhängig von den sich ändernden historischen Formationen zu sehen ist. Die aktuellen Formen, in denen sich dieser Persönlichkeitssinn ausspricht, sind aber auch in den Augen Thomas Manns zeitgebunden und unterliegen daher dem Wandel. Begründet wird diese Unterscheidung nicht etwa mit einer denkbaren idealistischen Philosophie, sondern mit einem ästhetischen Grundprinzip. Der Schriftsteller kann den bleibenden Sinn in den unterschiedlichsten Figurationen und Formen von Figurenrede in seinen Werken und Essays zum Ausdruck bringen. Seine Gedanken folgen keinem logisch-rationalen Argumentationsmuster wie etwa in der wissenschaftlichen Rede, sondern ihnen ist der Widerspruch inhärent. Sie können nicht an der Elle eines unbeweglichen und der Zeit enthobenen Rasters gemessen werden, sondern ihnen ist die Bewegung, der Wandel, mithin das Historische inhärent. In diesem Sinne fährt Thomas Mann in seiner Redeeinleitung fort: Wenn der Verfasser also auf diesen Blättern teilweise andere Gedanken verficht als in dem Buche des ›Unpolitischen‹, so liegt darin eben nur ein Widerspruch von Gedanken untereinander, nicht ein solcher des Verfassers gegen sich selbst. […] Dieser republikanische Zuspruch setzt die Linie der ›Betrachtungen‹ genau und ohne Bruch ins Heutige fort, und seine Gesinnung ist unverwechselt, unverleugnet die jenes Buches: diejenige deutscher Menschlichkeit. (Ebd., S. 810)
Die formalen Argumentationsmuster sind eindeutig. Die zeitabhängigen Gedanken der Kriegsschrift Betrachtungen eines Unpolitischen stehen natürlich im diametralen Gegensatz zu seiner Rede von 1922, die eine Hinwendung zur Republik von Weimar fordert. Das heißt aber nicht, dass sich in beiden für das politische Selbstverständnis Thomas Manns grundlegenden Texten nicht ein und derselbe persönlichkeitsgründende Sinn finden lassen würde. Aber Thomas Mann bleibt nicht bei dieser formalen Argu-
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mentationsstruktur stehen, sondern geht noch einen Schritt darüber hinaus, indem er den Sinn benennt, der ungebrochen vom Ersten Weltkrieg über die Deutsche Revolution hin zur ersten Demokratie auf deutschem Boden führt. Er nennt ihn »deutsche Menschlichkeit«. Was aber, so gilt es nun zu fragen, ist darunter zu verstehen? Ist das eine Begrifflichkeit, die mit ihrer Abstraktheit eine sinnvolle Funktion für die Erhaltung von Repräsentanz haben kann? Beginnen wir mit der ›Tiefenbohrung‹ und fragen: Was versteht Thomas Mann unter »deutscher Menschlichkeit«? Eines muss dabei gesagt werden: Es spielen viele wichtige Aspekte in die Definitionsgeschichte dieses Begriffs mit hinein und im Folgenden wird nur auf einen wesentlichen Aspekt verwiesen. Damit soll nicht der Boden für eine monokausale Erklärung bereitet werden – das widerspräche Leben und Werk von Thomas Mann vollkommen –, sondern es soll ein Aspekt betont und in seiner Bedeutung deutlich gemacht werden, der bisher vernachlässigt worden ist. Auf die Spur bringt uns ein Blick in das Tagebuch. Am 14. September 1919 ist dort die Lektüre des zweiten Bandes von Hans Blühers Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft verzeichnet. Drei Tage später schließt die Tagebucheintragung vom 17. September mit dem folgenden Passus: Las abends Blüher. Einseitig, aber wahr. Es unterliegt für mich selbst keinem Zweifel, daß ›auch‹ die ›Betrachtungen‹ ein Ausdruck meiner sexuellen Invertiertheit sind. (Tb. 1918–1921, S. 303)
Wie ist das zu verstehen? Hans Blüher gehörte früh dem ›Wandervogel‹, der deutschen Jugendbewegung an, deren Legende er entscheidend mitschuf.8 Zwischen 1914 und 1925 war er ein berühmter Mann. Neben seiner Wandervogel-Geschichte war es besonders seine Schrift Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft (1917/1919), für die er Berühmtheit erlangte. Er unternahm viele Vortragsreisen, und auch Thomas Mann hörte ihn im Februar 1919. »Ein ausgezeichneter Vortrag, mir fast Wort für Wort aus der Seele geredet«, heißt es im Tagebuch (ebd., S. 148). Blühers zentraler Gedanke in diesen Jahren ist die doppelte Sicht des männlichen Eros. Da ist zum einen das Heterosexuelle, die Liebe zur Ehefrau etwa, die in der Familie zu ihrem eigentlichen Ausdruck kommt. Daneben aber existiere etwas, das Blüher den »Mann-männlichen Eros« nennt. Dieser greift über den privaten Familienrahmen hinaus und verwirklicht sich in den Männerbünden. Der umfassendste Bund dieser Art ist für Blüher der ideale Staat. Vorbilder eines solchen Männerbundes sind _____________ 8 Hans Blüher war der erste, der die historische Bedeutung der Jugendbewegung im frühen 20. Jahrhundert wahrnahm und in einer Geschichte würdigte. Wandervogel. Geschichte einer Jugendbewegung sind die beiden ersten Bände überschrieben, die 1912 erschienen. Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen ist der Titel eines dritten, 1913 erschienenen Bandes.
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für ihn etwa der Kreis um Stefan George und die Soldatenkameradschaft im Krieg. Allen diesen Männerbünden haftet etwas Geheimnisvoll-Tiefes an, das nicht in der bürgerlichen Alltagswelt aufgeht. So schreibt Thomas Mann in den Betrachtungen eines Unpolitischen: Der Mensch empfindet Zivilisation, Fortschritt und Sicherheit nicht als unbedingtes Ideal; es lebt ohne Zweifel unsterblich in ihm ein primitiv-heroisches Element, ein tiefes Verlangen nach dem Furchtbaren, wofür alle gewollten und aufgesuchten Strapazen und Abenteuer einzelner im Frieden: Hochgebirgstaten, Polarexpeditionen, Raubtierjagden, Fliegerwagnisse nur Auskunftsmittel sind. Auf Menschlichkeit dringt der ›Geist‹; aber was wäre eine Menschlichkeit, der die männliche Komponente abhanden gekommen wäre? (GW XII, S. 463)
Thomas Manns Hinweis darauf, dass sich die Betrachtungen auch der homoerotischen Gründung seiner Persönlichkeit verdanken, muss vor diesem Hintergrund verstanden werden. Ein wesentliches Kennzeichen deutscher Menschlichkeit ist für ihn die Homoerotik im Sinne Blühers. Von diesem Sinn ist dann auch die Gedankenwelt der Betrachtungen geprägt. Die männliche Tiefe der deutschen Gemeinschaft steht etwa den oberflächlichen westlichen Demokratien entgegen. Den vermenschlichten Staat, die literarisierte, erotisch animierte Politik mit ›psychologischer Denkweise‹ und formaler Eleganz, die Politik mit Damenbedienung, – wir werden sie haben! Man versteht sich kaum auf die Demokratie, wenn man sich auf ihren femininen Einschlag nicht versteht. »Die Freiheit und eine Hure sind die kosmopolitischsten Dinge unter der Sonne.« Welche Internationale war es, die selbst im Weltkriege hielt? Die waagerechte. (ebd., S. 307)
Die Weiblichkeit der Demokratie wird konnotiert mit ihrer Hurenhaftigkeit – mit einem Georg Büchner-Zitat, das schlaglichtartig die Kompositionsweise der Betrachtungen deutlich macht. Der Besuch in Büchners Dantons Tod fließt am nächsten Tag schon in das entstehende Werk ein. Daraus folgt: Die Demokratie von Weimar kann nicht mit Weiblichkeit zusammengebracht werden, weil dies auf die Sinnwelt der anderen Staaten des westlichen Europas verweist, sondern nur mit dem deutschen Wesen, eben auch mit der Homosexualität. Es ist daher kein unverständliches Appendix an die Rede Von deutscher Republik, wenn nach der Verknüpfung von Romantik und Republik am Schluss die Verschränkung von Homosexualität und Demokratie steht, sondern es ist für Thomas Mann eine existenziell notwendige Verbindung. Wenn er auch unter den gewandelten historischen Umständen weiterhin repräsentativ bleiben wollte, dann war die reine Zustimmung zur Weimarer Republik nicht genug. Es musste ihm vielmehr darum zu tun sein, auch seine geistigen Grundlagen, das Sein, im konkreten Beispiel die »sexuelle Invertiertheit«, mit der neuen Meinung, eben der Republik, in Übereinstimmung zu bringen.
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So verweist er in seiner Rede Von deutscher Republik auf das Muster »gewisser antiker Freund-Liebschaften«, um dann fortzufahren: Nun, Harmodios und Aristogeiton waren Demokraten; und von einer tieferen Gesetzmäßigkeit dessen, was heute Regel scheint, kann nicht die Rede sein. […] Eros als Staatsmann, als Staatsschöpfer sogar ist seine seit alters vertraute Vorstellung, die noch in unseren Tagen aufs neue geistreich propagiert worden ist; aber zu seiner Sache und Parteiangelegenheit durchaus die monarchische Restauration machen zu wollen, ist im Grunde ein Unfug. Die Republik vielmehr ist seine Sache. (GW XI, S. 848)
Was ist hier geschehen? Thomas Mann ändert seine Gedanken und bricht die Gleichung ›Homosexueller Männerbund = konservativ-monarchistische Weltanschauung‹ auf. Für ihn ist der Männerbund nun nicht mehr notwendig soldatisch, sondern er spricht von Eros als Staatsmann, das meint den demokratischen Männerbund. Dessen historisches Fundament ist die attische Demokratie, die fraglos eines ihrer kulturellen Fundamente in der Knabenliebe hatte. Wo aber ist der in »unseren Tagen« – also um 1922 – »aufs neue geistreich propagiert worden«? Es ist der amerikanische Dichter Walt Whitman, der bei Thomas Mann dafür steht, dass Männerbund und Demokratie durchaus gleichgesetzt werden können. Die quellenkritischen Fakten sind schnell gegeben: In der Nachlassbibliothek Thomas Manns im Zürcher Archiv findet sich Walt Whitmans Werk in zwei Bänden. Ausgewählt, eingeleitet und übersetzt von Hans Reisiger. Die Ausgabe war im Frühjahr 1922 im Fischer Verlag erschienen.9 Thomas Mann las sie aufmerksam und versah sein Exemplar mit vielen Anstreichungen. Dabei wusste er um Whitmans Homosexualität, die in Deutschland schon Thema öffentlicher Debatten geworden war.10 Whitmans Äußerungen gipfeln in einem grandios-pathetischen Bekenntnis. Er entwirft am Ende der Demokratischen Ausblicke die Utopie einer idealen Demokratie, die entscheidende homoerotische Züge trägt: In der Entwicklung, dem Bewußtwerden und der allgemeinen Geltung dieser feurigen Kameradschaft […] erhoffe ich das ausschlaggebende Gegengewicht und die Vergeistigung unserer materialistischen und vulgären amerikanischen Demokratie. Manche werden sagen, das sei nur ein Traum, und werden meinen Schlußfolgerungen nicht beistimmen: ich aber erwarte zuversichtlich eine Zeit, wo durch Myriaden hörbarer und sichtbarer weltlicher Interessen die Fäden männlicher Freundschaft […] durchschimmern werden, warm und zärtlich, rein und süß, stark und lebenslang, in bisher unbekanntem Maße – eine Kameradschaft, die nicht nur den individuellen Charakter bestimmen und ihn gefühlsreich, muskulös, heroisch und innig machen, sondern auch auf die allgemeine Politik den nachhaltigsten
_____________ 9 Vgl. dazu den Offenen Brief an Hans Reisiger, der am 16.4.1922 in der Frankfurter Zeitung erschien. Thomas Mann nennt die Ausgabe hier »ein wahres Gottesgeschenk« (GW X, S. 627). 10 Zu den Einzelheiten der Lektüre vgl. Wißkirchen: Eros, S. 33ff.
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Einfluß ausüben wird. Ich behaupte, die Demokratie bedingt eine solche liebende Kameradschaft als ihr unentbehrlichstes Zwillingsgegenspiel, ohne welches sie unvollständig und unnütz ist und unfähig zu dauern.11
Das ist nun wirklich Eros als Staatsmann. Und es ist noch mehr: Es ist die Ineinssetzung von homosexuellem Männerbund und Demokratie. Das Heroische etwa, das bei Blüher nur in den soldatischen oder jesuitischen Männerbünden seinen Ort hatte, wird hier zur Stütze der Demokratie. Whitman weist sich damit als die Quelle aus, die es Thomas Mann erlaubt, auch auf dem Gebiet des Sexus den unveränderlichen »Sinn« mit der aktuellen Welt der »Gedanken« in Einklang zu bringen. Der durch Blühers Erotik-Buch gegründete Sinn, dass das politische Handeln im »Mannmännlichen Eros« seinen Grund hat, bleibt bestehen, ja findet seine Bestätigung auch bei Whitman. Die Gedanken haben sich freilich geändert. Während bei Blüher und beim Thomas Mann der Betrachtungen eines Unpolitischen das daraus resultierende Staatsmodell eindeutig konservativ-reaktionäre Züge trägt, dominiert bei Whitman und beim Thomas Mann der Republik-Rede die auf dem Eros basierende Republik. Das bedeutet: Der persönlich-erotische Sinn-Kern bleibt unverändert, die konservativen Blüher-Gedanken werden aber 1922 durch die demokratischen Gedanken Whitmans ersetzt. Damit gelingt Thomas Mann im Bereich der Erotik die Verwirklichung der Verschränkung von Kontinuität und Wandel. Er kann an seiner Kunst, Politik und Wirklichkeitserfahrung steuernden sexuellen Grunddisposition festhalten, ohne damit weiter an die Ideologie der konservativen, demokratiefeindlichen Männerbünde gebunden zu sein. Die Homosexualität war damit für das »Neue«, die demokratische Lebensfreundlichkeit, gerettet worden. III. 1933: Hitler als falscher Blüher-Nachfolger Wie dünn die zivilisatorische Schale war, die nach 1922 die deutsche Menschlichkeit in demokratische Gedanken gefasst hatte, wurde deutlich, als die Republik an ihr Ende gelangte. Thomas Mann hatte bis zuletzt gegen die Machtübernahme der Nationalsozialisten gekämpft, über deren Folgen er sich, im Gegensatz zu vielen anderen Intellektuellen aus dem gemäßigten bürgerlichen Lager, keine Illusionen machte. Als Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt wurde und die Ereignisse sich bis zum Reichstagsbrand am 27. Februar zuspitzten, befand sich Thomas Mann im Ausland, auf einer Vortragsreise anlässlich Wagners 50. Todestages. _____________ 11 Reisiger: Whitmans Werk, S. 73.
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Seine Reaktion auf die Vorgänge ist nur auf den ersten Blick überraschend, denn sie fügt sich vollkommen in sein Sinn- und GedankenModell. Die Beurteilung des Faschismus hat ihre weltanschauliche Basis nicht in einer wie auch immer gearteten demokratischen Position, einem republikanischen Standpunkt – zur Erinnerung: das ist und bleibt die sekundäre Welt der Meinungen und Gedanken –, sondern seine Kritik an der Machtübernahme macht sich an der seit den Betrachtungen eines Unpolitischen den Sinn steuernden deutschen Menschlichkeit fest. Und die Gedanken sind dabei sehr frei, denn es sind wieder die 1914 in die politische Argumentation eingebrachten Prämissen, die jetzt den Diskurs steuern. Auf eine prägnante Formel gebracht: Es ist Hans Blüher, der den Blick auf Hitler bestimmt, und nicht Walt Whitman. Es ist die Tatsache, dass ein Kennzeichen des Deutschen für Thomas Mann das männerbündische Ideal war. Das war im Ersten Weltkrieg so gewesen und hatte, über Blüher vermittelt, die Betrachtungen eines Unpolitischen entscheidend mitbestimmt. Das war in der Weimarer Republik so gewesen und hatte dazu geführt, dass ein »Ja« zu der für die Deutschen so neuen Staatsform erst möglich wurde, als es mit Walt Whitman einen Kronzeugen gab, der den Männerbund und die Demokratie zusammen denken konnte. Und das war nach 1933 auch so, als für Thomas Mann wieder die Blüher-Variante des Männerbundes an der Tagesordnung war. Denn es stand für ihn außer Frage, dass die Nationalsozialisten sich in diese Tradition stellten. Es ist dieser Blick, der dazu führt, dass in den ersten achtzehn Monaten nach der Machtübernahme Hitlers Thomas Manns Haltung von einer eigentümlichen Ambivalenz bestimmt ist. Da stehen auf der einen Seite radikale Angriffe gegen die neuen Machthaber und sehr kluge Analysen des frühen faschistischen Systems, die äußerst hellsichtig waren. So schreibt Thomas Mann etwa am 7. September 1933 über das Deutschland der Nazis: Soll an der verdreckten Mystik, der verhunzten Lebensphilosophie, die es in die Bewegung mischt, die Welt genesen? Weil die im Gange befindlichen Veränderungen in der politischen Technik und Führung dort die Gestalt einer totschlagesüchtigen Bluts- und Kriegsreligion annehmen, deren moralisches und geistiges Niveau das elendeste seiner Geschichte ist? Ressentiment und Größenwahn vereinigen sich zu einer Weltgefahr, im Vergleich mit welcher der Vorkriegs-Imperialismus die Unschuld selbst war. (Tb. 1933–1934, S. 171)
Und da steht auf der anderen Seite die Kontinuität zu 1914, die ihn eine vollkommene Ablehnung in der ersten Zeit nicht vornehmen lässt, da er immer noch Anknüpfungspunkte an das spezifische »deutsche Sein« sucht. So erklären sich Tagebucheinträge wie der vom 12. Mai 1933: Aber man muß sich klar darüber sein, daß, staatlich-historisch genommen, die deutschen Vorgänge positiv zu werten sind, obgleich sie mit deutscher Geistigkeit und Kultur so wenig zu tun haben wie Bismarcks Werk. (ebd., S. 83)
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Dass Thomas Mann überhaupt zweifeln konnte, liegt aber nicht nur an dem bisher Gesagten, sondern auch an den geschichtlichen Ereignissen zwischen Hitlers Machtübername und dem 30. Juni 1934. Erst von diesem Tage an kann nämlich von der eigentlichen Machtübernahme Hitlers und der NSDAP gesprochen werden. Denn erst an diesem und den beiden folgenden Tagen schaltete Hitler seine Gegner innerhalb der eigenen Bewegung endgültig aus. Hitler beherrschte nach dem 30. Januar 1933 die Szenerie keineswegs unangefochten. Wirtschaftliche Schwierigkeiten im Winter 1933/34 führten im Frühjahr 1934 sogar zu einer Krise, die von Hitler und seinen engsten Vertrauten sehr ernst eingeschätzt wurde. Es galt, die eigene Macht zu stabilisieren, um den Führermythos und damit vor allem die Bindung der murrenden kleinbürgerlichen Massen an die Nazis durchzusetzen. Dies geschah am 30. Juni mit der blutigen Ausschaltung der zwei entscheidenden Oppositionsgruppen innerhalb der Bewegung. Zum einen der Altkonservativen um den Vizereichskanzler von Papen. Sie hatten Hitler unterstützt, weil sie mit seinen antidemokratischen Zielsetzungen übereinstimmten. Was ihnen vorschwebte, war eine Rückkehr zu den Zuständen vor 1914 – freilich nicht mehr mit einem Kaiser, sondern mit einer starken Führungspersönlichkeit an der Spitze des Staates. Man hoffte dafür den Reichspräsidenten Hindenburg gewinnen zu können. Speziell die terroristischen Ausschreitungen der SA und SS gegen alle Andersdenkenden, das Blutige und Berserkerhafte dieser Horden, war diesen Konservativen ein Dorn im Auge. Die andere Richtung, die Hitler vernichtete, waren die Reste eines Nationalsozialismus, der die Dynamik der Bewegung noch nicht für abgeschlossen hielt, sondern noch eine »zweite« Revolution forderte, die auf einem diffusen, romantischen Antikapitalismus beruhte. Diese Kräfte hatten sich in der SA und vor allem im engeren Umkreis ihres Führers Ernst Röhm gesammelt. Damit rückte aufgrund der historischen Ereignisse wieder eine der wesentlichen Lebensfragen Thomas Manns in den Mittelpunkt: Die Verbindung von Sexualität und Politik, genauer: die von Homosexualität und deutscher Politik. Für ihn brachten die Ereignisse eine Antwort auf die Frage, die ihn untergründig die vergangenen Monate seit der Machtübernahme Adolf Hitlers beschäftigt hatte, auf die Frage nämlich, ob Hitler nicht doch auf eine sehr problematische, aber nicht zu leugnende Art und Weise mit der spezifischen Art und Weise des ›Deutschtums‹ verbunden gewesen sei. Das Ereignis vom 30. Juni machte das Dilemma deutlich, brachte aber auch die Lösung des Problems. In einer landesweiten Aktion hatte Hitler die Führer der SA und der altkonservativen Opposition verhaften und größtenteils ermorden lassen. Die Öffentlichkeit wurde mit dem völlig aus der Luft gegriffenen Hinweis
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auf einen von Röhm geplanten Putsch gegen Hitler von den wahren Zielen abgelenkt. Bei der Rechtfertigungskampagne in den ersten Juli-Tagen spielte die Homosexualität hoher SA-Führer, Röhm an ihrer Spitze, eine wesentliche Rolle. Thomas Manns erste Reaktion auf die Ereignisse ist – Erleichterung. Weil sich seine Vorstellung von Deutschland und der Nationalsozialismus nun ganz klar scheiden lassen. K[atia] bekannte ich heute das Gefühl der Befriedigung, Hoffnung, Erleichterung, Genugtuung, das mich angesichts der deutschen Vorgänge erfüllt. Man stand all die Zeit unter dem Druck des begeisterten Glaubens der Thoren. Man konnte innerlich zuweilen wanken. Nun, immerhin, nach wenig mehr als einem Jahr, beginnt sich der Hitlerismus als das zu erweisen, als was man ihn von jeher sah, erkannte, durchdringend empfand: als das Letzte an Niedrigkeit, entarteter Dummheit und blutiger Schmach. (Tb. 1933–1934, S. 463)
Die Erleichterung Thomas Manns resultiert aus seiner ichbezogenen Sicht der Ereignisse, aus dem Movens heraus, dass auch jetzt wieder die eigene Repräsentanz zu bewahren, neu herzustellen war – wie schon 1914 und auch 1922. Hatte Thomas in den ersten Monaten nach der Machtübernahme noch die Entschlossenheit Hitlers, Staat und Kultur zu versöhnen, zumindest mit Ambivalenz betrachtet und die gescheiterten Versuche der Weimarer Republik sogar negativ von der Idee einer Volksgemeinschaft abgegrenzt, so zeigt sich nun für ihn, dass er dabei einer Propagandalüge aufgesessen ist. So heißt es am 2. Juli im Tagebuch: Vor allem ist die Fiktion der ›Totalität‹ und der einigen Volksgemeinschaft in die Brüche gegangen, das Regime vom Blute des Bürgerkriegs bespritzt: Morde, Selbstmorde und Hinrichtungen in großer Zahl, gröbste Enthüllungen über Korruption und Unzucht […] Das Maß an dummer Schamlosigkeit ist unerträumbar, es hat nie so etwas gegeben. (ebd., S. 456)
Wenn Thomas Mann von »Schamlosigkeit« spricht, dann bedient er sich einer sexuellen Metaphorik bei der Beurteilung politischer Vorgänge. Es findet sich kein moralischer Unterton – im Gegenteil: Die Versuche der Nationalsozialisten, das Ganze als »moralische Säuberungsaktion« zu definieren, treffen auf Thomas Manns schärfsten Widerspruch. Die Gründe für seine Ablehnung nennt er wenige Tage später, als die Propagandaschlacht der Nazis einen neuen Höhepunkt erreicht hat: Die Anständigkeits-, Schlichtheits-, Tugend-Propaganda für die kleinen Leute. Man wirft ihnen die Homosexualität als moralischen Köder hin – alsob sie nicht wesentlich zur Bewegung, zum Kriegertum, ja zum Deutschtum gehörte. Eine besondere Niedrigkeit. (ebd., S. 470)
Hier wird auf der Sinnebene argumentiert, die jenseits der jeweils aktuellen historischen Veränderungen in einem ahistorischen Kontinuum gründet.
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Im Kontinuum einer speziellen Gründung des Deutschtums oder der deutschen Menschlichkeit. Auf den Punkt gebracht: Thomas Mann wirft Hitler beim RöhmPutsch Verrat am besseren, am eigentlichen, am homosexuellen Deutschland vor. In einer anderen Tagebuchformulierung jener Tage wirft er dem Nationalsozialismus das »Verleugnen einer anderen seiner Wesentlichkeiten, der Homosexualität« vor (ebd., S. 497). Es ist, überspitzt formuliert, nicht der Verlust der Demokratie, sondern Hitlers Zerschlagung des großen Männerbundes, der ihn mit an die Macht gebracht hat, und es ist ganz besonders die Homosexualität der Bundesführer als Begründung, die Thomas Mann jetzt das KleinbürgerlichMachtversessene Hitlers erkennen lässt. Die Homosexualität als Köder für die kleinen Leute, das hat nichts mehr gemein mit dem innigen Zusammenhang von Eros und Staat bei Hans Blüher. Dass damit nicht ein Nebengleis betreten wird, sondern dass dies ein entscheidendes Argument zur Abkehr vom Dritten Reich und dem Beginn einer neuen Repräsentativität im Exil war, macht eine Bemerkung aus Leiden an Deutschland deutlich. Thomas Mann hat hier 1946 seine politischen Tagebucheintragungen von 1933 bis 1934 überarbeitet und mit Kommentaren versehen. Das Folgende firmiert unter dem 1. Juli 1934, ist aber im Tagebuch nicht zu finden. Bekanntwerden des Massakers nach rechts und links. Das elende Hinausspielen auf die längst bekannten ›sittlichen‹ Verfehlungen der Röhm-Heines’schen Sphäre. Als ob die Homosexualität nicht wesentlich dazu gehörte! Sie ist ja nicht immer Effeminiertheit, sondern oft auch Übermännlichkeit und gehört zur militärischheroischen und Kriegsmanns-Haltung (Röhm in Bolivien). Sie gehört zum Kriege, stammt aus ihm und ist bei militärischen Völkern zu Hause, zum Beispiel beim deutschen, das, im Gegensatz zu den weib-liebenden und galanten Franzosen, ein homoerotisches Volk ist. Siegfried und Jeanne d’Arc. Die Erotik Stefan George’s. – Das will man verleugnen? (GW XII, S. 734)
Es sind die weltanschaulichen Grundlinien und Formulierungen aus den Betrachtungen eines Unpolitischen, die wir hier unverändert finden. Zwar ohne die ganz steilen Überspitzungen aus der Zeit des Ersten Weltkrieges, am Sinn hat sich jedoch nichts geändert. Das Homoerotische wird weiterhin mit Blüher als Kern der »deutschen Menschlichkeit« verstanden. Es ist die Verhunzung dieser Konstante deutscher Identität, die Thomas Mann den Nazis vorhält. Und es ist der Verrat am Männerbund, den Hitler begeht. Auch das sprechen die Notizen von 1946 noch ganz unverblümt aus: Es gibt gläubige Jugend, die ihren Lebensstil, ihre Lebenshoffnung in der ›Bewegung‹ wiedererkennt; kollektivistisch Blut, das zusammen leben, marschieren, abkochen und sterben will für irgend etwas […] und deren Führer der Landsknecht Röhm weit eher war als der tückische Kombinations- und Verratspolitiker, der ihn umbrachte […]. (GW XII, S. 694)
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IV. Resümee Politik, so die Meinung Thomas Manns, gehört immer, egal welcher Couleur sie ist, auf die Seite der Gedanken. Das hat er 1922 gelernt, als er merkte, dass Deutschland eben nicht, wie er ab 1914 dachte, im Wilhelminischen Konservativismus zum Ausdruck gelangte. Und das lernt er auch 1934, als er schließlich merkt, dass der Nationalsozialismus mit dem Sinn des Deutschen nichts gemein hatte. Wie tragfähig das Modell war, zeigt sich gerade daran, dass es auch in dieser extremen Situation funktionierte. Dabei spielt es keine Rolle, ob Thomas Mann mit seiner doch sehr subjektiven Einschätzung eine angemessene Bewertung der frühen faschistischen Ideologie vorgenommen hatte. Man kann vom heutigen Forschungsstand sogar eindeutig feststellen, dass er einem Stereotyp aufgesessen war, dass nämlich Homosexualität und Faschismus ursächlich zusammenhingen.12 Das war allerdings damals über Jahre hinweg in der Exilpresse ein wiederkehrendes Argument. Gerade die kommunistischen Hitler-Gegner verwandten es immer wieder. So sah sich etwa Klaus Mann veranlasst, in einem unter dem Titel Die Linke und das Laster erschienenen Aufsatz in der Exilzeitung Europäische Hefte dagegen zu argumentieren. Er beanstandete, dass man auch in linken Kreisen gegen die Homosexuellen sei, weil man die Homosexualität, speziell am Beispiel des Hauptmanns Röhm, mit den Nazis in einen ganz engen Konnex gebracht habe. »Wogegen wir uns wenden ist ja grade, daß man von einem Mann, der das eigne Geschlecht dem weiblichen vorzieht, sagt: Er ist veranlagt wie der Hauptmann Röhm«.13 Und dann geschieht in Klaus Manns Text etwas Erstaunliches. Er macht eine Versuchsanordnung, die auf den Argumenten Thomas Manns beruht. Er konstatiert, dass das Bündische immer homoerotisch und die Grundlage des Faschismus sei. Aber, so fährt er fort, zentral sei der Geist, der den Bund konstituiere, und »nicht der erotische Kitt, durch den er zusammenhält«.14 Und schließlich verweist er auf den demokratischen Männerbund von Whitman. Den eigentlichen Problemen weicht er jedoch aus. Denn die Frage, wie auf den demokratischen Männerbund der Weimarer Republik der faschistische Bund folgen konnte, stellt er nicht. Das aber war genau die Frage Thomas Manns, und die Antwort des Sohnes konnte ihn daher, obwohl sie den eigenen Gedanken sehr nahe kam, nicht befriedigen: »Las im Ma_____________ 12 Zur aktuellen Forschungsdiskussion siehe Nieden: Homosexualität. Außerdem: Herzog: Politisierung. 13 Klaus Mann: Zahnärzte, S. 239. 14 Ebd., S. 241.
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nuskript einen Artikel von Klaus gegen die Identifizierung von Homosexualität und Fascismus. Problematisch« (Tb. 1933–1934, S. 592). Was Thomas Mann am Artikel von Klaus Mann störte, war das, was ihn auch an den anderen Exilgruppen störte: Zu vorschnell wurden in seinen Augen die Grenzen zwischen Gut und Böse, den Nazis und den Deutschen gezogen. Zu wenig wurde in seinen Augen auf die Kontinuitäten geachtet, die dazu geführt hatten, dass es in Deutschland zu einem totalen Staat gekommen war. Gerade weil er diese Kontinuitäten auch auf dem Gebiet des Sexuellen in den Blick genommen hatte, war er ab Mitte 1934 zu einer Analyse in der Lage, die die Politik der Nazis als eine Umdeutung der großen deutschen Ideen kritisierte, in der er den Nazis vorwarf, die deutsche Menschlichkeit, die immer Fundament seiner Idee von Sein und Meinen gewesen war, korrumpiert zu haben. Dies war die zentrale Lehre des Röhm-Putsches, die dann ganz entscheidend zu seiner Analyse des Faschismus beitrug. Nun war er in der Lage, die »Lehren« von 1914 und 1922 zu ziehen und auf das Jahr 1933 anzuwenden. Was er am 29. Juli 1934 ins Tagebuch schrieb, ist im Kern seine Theorie des Dritten Reiches, die bis in den Doktor Faustus hinein für ihn gültig bleiben sollte: Das Ausgehen des Geschichtsrausches von 1933 in einem schlimmeren Katzenjammer, als der war, in den der von 1914 ausging. Das Deutschtum wollte die Republik nicht, weil ihr ideologischer Gehalt, die Einordnung in die Civilisation, ihm zu dünn war. Das Deutsche, das Protestantische, das Ewig-Volkhafte wurde eingesetzt zu neuer erhebender Geschichtsschöpfung, aber eingesetzt als etwas Heruntergekommenes, Verhunztes, mit Mitteln der Lüge, der Brutalität und roher, hysterischer Besoffenheit, und die Geschichtsschöpfung ist im Begriffe sich als der miserabelste Fehlschlag zu erweisen, in den je das Unternehmen eines Hauptvolkes ausging. Welch ein Bankerott! (ebd., S. 486)
Dieses Zitat fasst in aller Deutlichkeit eine der Grundmeinungen Thomas Manns über Hitler und seine faschistische Ideologe zusammen. Die immer wieder zitierten Berufungen Hitlers auf das Deutschtum, kulminierend in der Vergötterung Richard Wagners, waren für ihn eine »Verhunzung«, eben eine Verfälschung – eine Lüge, die sich eine Repräsentativität und Bedeutung auszuborgen versuchte, die ihr in keiner Weise zukam. Das hatte er 1934 verstanden. Und das hatte Konsequenzen. Diese Repräsentativität konnte von nun an Thomas Mann wieder für sich beanspruchen. Und in dieser Linie ist dann auch seine Äußerung zu verstehen, die er 1938 tat, als er als Exilant amerikanischen Boden in New York betrat. Als er dort sagte »Wo ich bin, ist Deutschland. Ich trage meine deutsche Kultur in mir«,15 dann war damit, versteckt, auch eine _____________ 15 Zitiert nach einem Bericht der New York Times (22.2.1938) über Thomas Manns Ankunft in Amerika. Im Originaltext: »He was asked whether he found his exile a difficult burden. ›It is hard to bear‹, he admitted, ›but what makes it easier is the realization of the poisoned
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andere Botschaft verborgen mitgesagt: Die, die in Deutschland jetzt herrschen und sich auf diese Kultur berufen, können mir diese deutsche Kultur nicht nehmen. Literaturverzeichnis Mann, Thomas: Offener Brief an Hans Reisiger [Frankfurter Zeitung, 16.4.1922]. In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. X. Frankfurt/M. 1974, S. 626f. Mann, Thomas: Russische Anthologie. In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. X. Frankfurt/M. 1974, S. 590–603. Mann, Thomas: Von deutscher Republik. In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. XI. Frankfurt/M. 1974, S. 809–852. Mann, Thomas: Betrachtungen eines Unpolitischen. In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. XII. Frankfurt/M. 1974, S. 9–589. Mann, Thomas: Leiden an Deutschland. In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. XII. Frankfurt/M. 1974, S. 684–765. Mann, Thomas: Tagebücher [Tb.]. Bd. 1. 1918–1921; Bd. 2. 1933–1934. Hg. von Peter de Mendelssohn / Inge Jens. Frankfurt/M. 1979 u. 1977. [Anonymus]: [Bericht über die Ankunft Thomas Manns in den USA]. In: New York Times (22.2.1938). [Anonymus]: Thomas Mann zum Gedächtnis [Nachruf]. In: Frau und Friede 9 (1955). Belzner, Emil: Thomas Mann [Nachruf]. In: Rhein-Neckar-Zeitung (15.8.1955). Benn, Gottfried: Ausgewählte Briefe. Hg. von Max Rychner. Wiesbaden 1957. Döblin, Alfred: Zum Verschwinden Thomas Manns. In: A. D.: Ausgewählte Werke in Einzelbänden. Autobiographische Schriften und letzte Aufzeichnungen. Hg. von Edgar Pässler. Olten, Freiburg/Br. 1980, S. 575ff. Herzog, Dagmar: Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. München 2005. Mann, Klaus: Zahnärzte und Künstler. Aufsätze, Reden Kritiken 1933–1936. Hg. von Uwe Naumann / Michael Töteberg. Reinbek 1993. Nieden, Susanne (Hg.): Homosexualität und Staatsräson. Männlichkeit, Homophobie und Politik in Deutschland 1900–1945. Frankfurt/M., New York 2005. Reich-Ranicki, Marcel: Deutschlands Glück in Deutschlands Unglück. Was Thomas Mann mir bedeutet: Die Lübecker Festrede zum Gedenken an den Schriftsteller. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 188 (15.8.2005), S. 29, 31. Reisiger, Hans (Hg.): Walt Whitmans Werk in zwei Bänden. Berlin 1922. Stapel, Wilhelm: Warum uns Thomas Mann nicht überredet. In: Deutsches Volkstum 7, 1 (1923), S. 35–37.
_____________ atmosphere in Germany. That makes it easier because it's actually no loss. Where I am, there is Germany. I carry my German culture in me. I have contact with the world and I do not consider myself fallen.‹«.
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Wißkirchen, Hans: Republikanischer Eros. Zu Walt Whitmans und Hans Blühers Rolle in der politischen Publizistik Thomas Manns. In: Gerhard Härle (Hg.): Heimsuchung und süßes Gift. Erotik und Poetik bei Thomas Mann. Frankfurt/M. 2001, S. 17–40.
JOCHEN STROBEL
»Gut deutsch sein heisst sich entdeutschen« Thomas Mann zwischen aporetischer Repräsentation und glückender Repräsentanz
I. Aporien der Repräsentation1 Im Jahr der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 kehrte mit einem neuerlichen Schub der Patriotismus in Deutschland ein, dessen sichtbarster Ausdruck ein nie gesehener Kultus der Nationalflagge war und der sich publizistisch etwa in dem Buch des Spiegel-Redakteurs Matthias Matussek Wir Deutschen niederschlug, einem Buch, das alte und neue Mythen der deutschen Nation versammelte. Volker Ullrich berichtet in der Zeit vom 21. September 2006 von einer Patriotismus-Debatte,2 deren Vorkämpfer Udo di Fabio oder Arnulf Baring heißen und in der die Zeit des Nationalsozialismus neokonservativ als Unfall, als Entgleisung, temporäre Verirrung des Deutschen gewertet wird; di Fabios These lautet, der Nationalsozialismus sei eine »heimtückische Krankheit« gewesen, Hitler »kein Deutscher«, sondern »nur ein verkleideter Deutscher, ein entwurzelter Gaukler aus der Gosse«.3 Plötzlich gibt es wieder, wie in der Deutschland-Debatte vor und nach 1945, zwei Deutschlands, das ›gute‹, kulturell und politisch anschlussfähige, und das ›böse‹, eine einmalige Sonderentwicklung, ein Unfall, der sich aus der ›Geschichte‹ des nationalen mythischen Kontinuums leicht abspalten lässt.4 Diese Abspaltung hat apologetische Funktion, das ist durchsichtig. Methodisch ist sie ein Lehrstück dafür, wie das Weitertradie_____________ 1 Zahlreiche der folgenden Thesen bauen auf meiner Monographie zu Manns DeutschlandBildern auf (Strobel: Entzauberung). Das Titelzitat stammt aus Nietzsche: Menschliches, S. 511. 2 Vgl. Ullrich: Entgleist, S. 59. 3 Zitiert nach ebd. 4 Vgl. Fröschle: Deutschland.
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ren problematischer, aber für eine kollektive Identität attraktiver Mythen auch funktionieren kann, nämlich indem einflussreiche Akteure Handlungen der Integration oder auch der Ausgrenzung vollziehen und dabei sich selbst, wenn diese Akte denn weithin an Akzeptanz gewinnen, einen repräsentativen Status mittels ihrer Rede über die Nation erkämpfen. Matussek redet nicht nur über, sondern auch für Deutschland? Thomas Mann besitzt jene Autorität, die unseren Zeitgenossen (noch) verwehrt ist. Er dürfte heute auf dem Höhepunkt seines Ruhmes angelangt sein, denn er gilt nach zwei Thomas-Mann-Jahren, die dem 125. Geburtstag und dem 50. Todestag galten, nicht nur als »Übervater der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts«,5 sondern auch als repräsentativer Deutscher dieses Säkulums überhaupt. So trägt Donald Praters umfängliche Biographie den Untertitel Deutscher und Weltbürger,6 ist der »Weltdeutsche« zum Topos der Forschung geworden.7 Die Person Thomas Mann ist längst und wird immer mehr zur mythischen Personificatio wertvoller, aber rettungsbedürftiger Traditionen: »Deutscher, Europäer, Weltbürger: In diesem Bezugsrahmen steht Thomas Mann als Zeitzeuge des 20. Jahrhunderts einzigartig da. […] Er verkörperte geradezu das Gewissen der humanistischen Tradition Europas«.8 Thomas Manns lebenslanges Bemühen, dies ist hier ansatzweise zu zeigen, galt einer romantisierenden Einheit von ›Leben‹ und ›Werk‹. Die Formel dieser Einheit ist das Repräsentative, die im Text verborgene Einheit von Vertreten und Darstellen. Das zentrale Objekt dieses Repräsentierens ist ›Deutschland‹, nicht ein Staatsgebilde, nicht ausschließlich ›die‹ deutsche Kultur, sondern Deutschland als mythische Größe, als die modern-antimoderne Mythologie schlechthin, wie sie im 19. Jahrhundert vor allem aus romantischen Anfängen konzipiert wurde.9 Manns ›gelebtes‹, vor allem aber in Texten ausagiertes Rollenbild des Nationalautors geht erkennbar aus vom Mythos eines ewigen Deutschland und der Existenz eines deutschen Nationalcharakters, der repräsentiert sei in den ›großen Männern‹ der Nation. Diese nationale Mythologie muss sinnfällig repräsentiert werden, aus dem Ungreifbaren ins Sichtbare gehoben werden, um im Wortsinn glaubwürdig sein zu können. Doch während ein breitenwirksames Repräsentament wie das Nationaldenkmal leicht die erfolgreiche Versinnbildlichung der sonst abstrakt bleibenden, in Deutschland ja bis 1871 noch nicht einmal staatlich realisierten Nation gewähr_____________ 5 6 7 8 9
Wißkirchen: Editorial. In: Leben, S. 3. Vgl. Prater: Mann. Goll: Deutschen, S. 58. Braun / Lermen: Vorwort, S. 7, 9. Vgl. dazu Wülfing / Bruns / Parr: Mythologie. Eine systematische Monografie zum Thema fehlt.
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leistet,10 laufen fiktionale Texte in ihrer zur Gegenwart hin immer notorischeren Vieldeutigkeit geradezu Gefahr, das Geschäft der Repräsentation durch die Problematisierung des Repräsentierens überhaupt zu ersetzen. Damit sei nicht bestritten, dass der literarische Text eine dankbare Fundgrube für die Suche nach nationalen (rassistischen, etc.) Stereotypen sei; indessen bleibt bei komplex organisierten Texten die Frage, wie sie mit diesem aus Schlagworten und Zitaten übernommenen Material umgehen. Wenngleich die Protagonisten von Manns Erzähltexten offen oder versteckt als Repräsentanten Deutschlands ausgewiesen sind, so ist über das Glücken solcher Repräsentation sowenig ausgesagt wie es wahrscheinlich ist, dass die Hauptfigur eines modernen Romans ein ›Held‹ auf einem erfolgversprechenden Bildungsweg sei. Für Thomas Mann heißt dies: Während die zahllosen Ego-Texte aus immer wieder neuen, oft situationsgerechten Anfängen und Ansätzen heraus das Glücken von Repräsentanz erproben, dementieren die weitaus komplexer angelegten Erzähltexte mit ihren Repräsentantenfiguren jene Option und bestätigen damit eine für die Moderne bereits seit dem späten 18. Jahrhundert epistemologisch bestimmende Krise der Repräsentation, die Sprache, Staat, Herrschaft, Mythen oder soziale Systeme betrifft.11 Der Begriff ›Repräsentation‹, darauf verweist der Jurist Hasso Hofmann in einer kürzlich neu verfassten Einleitung zu einer Nachauflage seines Standardwerks, hat seit Jahrzehnten in den unterschiedlichsten Disziplinen Konjunktur.12 Dazu gehört aber unabdingbar mittlerweile das Bewusstsein einer Krise der Repräsentation, die durch Vertreter der poststrukturalistischen Philosophie ausgerufen wurde, womit unter anderem auch eine Kritik an einem romantisch-politischen, organizistischen Repräsentationsdenken gemeint ist, etwa in der Metapher des Staatskörpers, die in mythenbildender Absicht politische Repräsentation nicht als rationale Teilhabe und Stellvertretung denkt, sondern als quasi-natürliches, leiblichseelisches Verwachsensein der ›Teile‹ im ›Ganzen‹.13 Von Thomas Hobbes bis Carl Schmitt ist die politische Bedeutung von ›Repräsentation‹ nicht demokratischem Mandatsdenken verpflichtet, sondern der Sichtbarmachung höheren Seins.14 Voraussetzung funktionierender Repräsentation ist auf pragmatischer Ebene die Akzeptanz der jeweiligen Verweisrelation, _____________ 10 Vgl. nach wie vor den klassischen Beitrag von Nipperdey: Nationalidee; beispielhaft für die jüngere Forschung ist Schmoll: Nation. 11 Zu Definitionsmöglichkeiten und Begriffsgeschichte vgl. Scheerer u.a.: Repräsentation, zur ›Krise‹ vgl. ebd., Sp. 846ff. Die prominenteste Ausarbeitung des erkenntnistheoretisch grundlegenden Wandels um 1800 lieferte bekanntlich Foucault: Ordnung. 12 Vgl. Hofmann: Repräsentation, S. 1–8. 13 Vgl. dazu Matala de Mazza: Körper. 14 Vgl. ebd., S. 17ff.
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auf der ›Vertreten‹ und ›Darstellen‹ beruht, der Glaube an das damit verbundene Präsenzversprechen, ungeachtet ihres Aufschubcharakters. Freilich: Vertreter und Ganzes sind a priori nicht identisch; der Evidenzcharakter der Repräsentationsrelation ließe sich also stets anzweifeln und muss stets beglaubigt werden. Fiktionale und essayistische Texte arbeiten bei Mann dergestalt nicht mit-, sondern gegeneinander, wie schon im 18. Jahrhundert zusammen mit der besagten Krise der Repräsentation der moderne freie Autor mit seiner (autobiographischen) Leben-WerkKonstruktion, vielleicht prototypisch in Gestalt Rousseaus, erst auftritt.15 Auktoriale Ich-Konstruktionen treten seit damals wider besseres Wissen mit dem Anspruch der Selbst- und mitunter der Fremd-Repräsentation an, beanspruchen also sich selbst und zudem oft ein außerhalb von Leben und Werk liegendes ›Ganzes‹ – Kunst, Kultur, Nation – zu vertreten und darzustellen. Die gegenwärtige Thomas-Mann-Rezeption, auch die wissenschaftliche, beruht nach wie vor fast durchgängig auf der Vorannahme glückender Repräsentanz, sie ignoriert weitgehend aporetische und missglückende Strukturen der Repräsentation und vertraut, seltsam genug, auf Textoberflächen und auktoriale Deutungsvorgaben. Von dieser Diagnose sind vor allem jüngere Doktor Faustus-Lektüren auszunehmen, auf die hier nur verwiesen werden kann.16 Thomas Manns fiktionale Texte (und auch manche seiner ambitionierteren Essays) befinden sich auf der Höhe der Zeit: Ihnen ist der literarische und epistemologische Anachronismus von Repräsentation in der Moderne nicht fremd, sie stehen insgesamt für das Ende der Illusion von ›Deutschland‹, denn sie transportieren nicht mehr den ungebrochenen Glauben an die ewige Nation, deren Bann durchaus ein Ausgangspunkt für sie ist. Von den Betrachtungen eines Unpolitischen bis zu Doktor Faustus sind es vielmehr Auflösung oder gar Apokalypse, die der Nation bevorzustehen scheinen. Zudem wiederholen Manns Erzähltexte nicht einfach die Topik nationaler Selbstbilder, zitieren nicht einfach Deutschland-Repräsentanten wie Goethe oder Faust, Wilhelm II. oder Hitler, sondern verhandeln geradezu die Repräsentierbarkeit Deutschlands in selbstreflexiver Weise neu. Der ›große‹ Mann, dessen erste wichtige Figuration in einem allegorisierenden Handlungsgeflecht der auffallend an den deutschen Kaiser erinnernde Prinz Klaus Heinrich in Königliche Hoheit ist, Abkömmling aus einer populären Version des Historismus, ist seines monumentalen Charakters entkleidet: eine idealiter harmonische, synekdochische oder gar symbol-identische Beziehung zu seinem Pendant ›Volk‹, dem personal und _____________ 15 Vgl. Paulin: Goethe, S. 149. – Zu einem konstruktivistischen Begriff von Nation vgl. die klassische Studie von Anderson: Communites, sowie Kiss: Staatsrepräsentation. 16 Vgl. Kaiser: Ordnung; Bollenbeck: Faustus; zuletzt Börnchen: Kryptenhall.
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zu jener Zeit bereits rassisch codierten Synonym der Nation, ist illusorisch geworden. Die Illusion des ›Ganzen‹ ist in Thomas Manns Œuvre nicht mehr probat; es bleiben Hauptfiguren von zweifelhaftem PersonificatioWert, Erzähler von geringer Verlässlichkeit und – die Statur der Protagonisten nochmals durchkreuzend – fragmentierte Zitate aus dem Symbolund Allegorienarsenal deutscher Mythenbildungen wie das Lied vom Lindenbaum im Zauberberg als Verweis auf die Romantik und Romantikbilder, Faust in vornationaler und nationaler (also Goethischer) Ausprägung, oder auch die von dem völkischen Autor Hans Grimm entlehnte ›deutsche‹ Glockenmotivik im Erwählten. Vielfach wird die Legitimität der Stiftung allegorischer Verweiszusammenhänge thematisch. Das allegorische Konstrukt wird nicht nur in seiner Künstlichkeit transparent, sondern das Verhältnis von Bildbedeutung und ›eigentlicher‹ Bedeutung kann sich umkehren oder zweifelhaft bleiben. Prinz Klaus Heinrich zweifelt selbst an dem, was er darstellen soll, und an der eigenen Fähigkeit, seiner Aufgabe gerecht zu werden. Er repräsentiert beziehungsweise allegorisiert dann weniger sein ›Volk‹ oder (liest man den Roman als Künstlerallegorie) ›den modernen Künstler‹ oder (liest man das Buch als Deutschlandallegorie) ›die Nation‹, sondern verweist darauf, dass eindeutige Repräsentationen der genannten ›mythischen‹ Objekte unmöglich geworden sind. An Allegoriesignalen, die auf alle jene Bedeutungsebenen verweisen, fehlt es nicht, doch die Überdeterminierung der Hauptfigur Klaus Heinrich erzeugt keine eindeutige Allegorie mehr, sondern eine Polysemie auf Textebene und eine Depression auf Figurenebene. Die der Figur eigentümliche Schwäche wird sichtbar als Identitätsschwäche des Aktanten bei gleichzeitiger ›Rollen-Überlastung‹. Das wohl am eindeutigsten auszumachende Ziel einer romaninternen Kritik der Repräsentation ist Wilhelm II. und dessen Repräsentationspraxis während der Entstehungszeit des Romans. Damit ist Königliche Hoheit kein Schlüsselroman; seine spezifische Polysemie erzeugt nur eine ganze Reihe gleichzeitiger Konnotationen (oder erzeugte sie beim Leser vor 100 Jahren). Einer analogen Lektüre lassen sich zahlreiche Erzähltexte Thomas Manns unterziehen: Gustav von Aschenbachs Zusammenbruch in Venedig ist auch eine Geschichte des Kollabierens des Konzeptes vom deutschen Nationalautor. Hans Castorp, der durchschnittliche Deutsche, der seinen nationalen Charakterzügen (wie später Adrian Leverkühn) mit aller Macht und letztlich erfolglos zu entgehen sucht, begegnet im Zauberberg von Davos den personifizierten, mit allen denkbaren Widersprüchen behafteten mythischen und politischen Potentialitäten der deutschen Nation vor und nach der Epochenwende 1914/18. Lotte in Weimar nimmt die fortschreitende Objektivierung des Mythos vom großen Deutschen in der Klassikerrezeption unter anderem dadurch zurück, dass der Roman
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historisch markant und entlarvungspsychologisch wirksam im Zeitraum nationaler Mythengenese situiert ist, sowie nicht zuletzt durch die interne Fokalisierung, die durch den ausgiebigen inneren Monolog der GoetheFigur ein Nationaldenkmal in the making beleuchtet. Am evidentesten arbeitet sich Doktor Faustus, schon mit seinem hinsichtlich des jeweiligen narratologischen Status widersprüchlichen Doppelhelden aus Künstlerfigur und Erzähler, an der bloßen erzählerischen Möglichkeit einer Deutschlandallegorie im 20. Jahrhundert ab, und dies angesichts der Tatsache, dass Adrian Leverkühn die »Zweideutigkeit […] als System« (GW VI, S. 66) verkörpert. Im Roman aber mischen sich mehrere, je zeitspezifische Ebenen der Einarbeitung nationaler ›Materialien‹, die vom deutschen Mittelalter, dem frühneuzeitlich-reformatorischen Faust-Stoff, der Biographie des sich entdeutschenden Deutschen Nietzsche bis hin zur nationalen Selbstzuschreibung durch den Nationalsozialismus reichen.17 Eine mögliche, aber paradoxal bleibende Umsetzung der ›Krise der Repräsentation‹ ist in dem titelgebenden Nietzsche-Zitat ausgesprochen: Möglicherweise ist der ›beste‹, der repräsentativste Deutsche derjenige, der seine Zugehörigkeit zur deutschen Nation überhaupt in Abrede stellt. Eine stimmige Auslegung dieses Satzes wäre eine Aussage zugunsten des Repräsentanten im Exil, ob in Sils Maria oder in Pacific Palisades. Zweifellos sind nicht nur die Protagonisten dieser Erzähltexte mit dem Problem der Repräsentation beladen; gern unterstellt man dem Autor selbst, dass er im Vollzug seines Lebens, den er wiederum mit kommentierenden, selbstbezüglichen Texten begleitet hat, ähnlich wie seine Romanfigur Klaus Heinrich nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere oder für ein anderes stand, kurz: dass Thomas Manns Lebensvollzug Repräsentanz einschloss. Es ließen sich nun zahlreiche Rezeptionsbelege für einen Konsens darüber beibringen, dass es sich um gelingende Repräsentanz handelte und, bezogen auf das heutige Thomas-Mann-Bild, noch handelt. Dieses Bild beruht auf Strategien des Autors, die dieser schon frühzeitig in seiner Rede über sich selbst, in seiner Lebenspraxis und in der vielfachen Verschränkung von Leben und ›Werk‹, von fiktionalen und autobiographischen Texten, vorbereitete. Dabei gilt: Trotz wechselnder Lebensumstände, Arbeitsbedingungen und Widerstände von außen hat Thomas Mann ein Selbstbild veröffentlicht, das relativ konstant von der Zeit nach Erscheinen von Buddenbrooks bis zum Tod einen Autor zeigte, der als einzelner ›das Ganze‹ vertreten und darstellen konnte. So ist etwa Doktor Faustus bei genauer, sezierender Lektüre aufgrund seiner Erzählsituation und der unzuverlässigen Erzählerfigur, aufgrund einer Mythen_____________ 17 Ausführliche Textanalysen mit den hier angedeuteten Schwerpunkten finden sich in meiner Monografie; ich verzichte hier auf umfängliche Selbstzitate.
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und Materialienmixtur und der suggestiven, dabei Widersprüche erzeugenden Allegorisierungen ein Roman über die Unmöglichkeit, Deutschland zu repräsentieren, jedoch ist er ›als Ganzes‹ ein repräsentativer Deutschlandroman des repräsentativen ›großen‹ Nationalautors seiner Zeit. Indem die Texte zu Büchern werden, der Autor zur mythischen Gestalt wird, gelingt Repräsentanz und wird, wie es Mythen zukommt, überzeitlich. Und so ist Thomas Mann heute noch oder gerade erst recht jener Dichterfürst, dessen Imitator und Inszenator der lebende, um sein Selbstbild besorgte Schriftsteller Thomas Mann stets war. Repräsentanz im Lebensvollzug speist sich aus hierarchisch zu inszenierenden Auftritten, in deren Zentrum rhetorisch aufgeladene Texte stehen, die auch klare politische Botschaften gut zu transportieren vermögen: obenan die Festrede und auch die im engeren Sinn (partei-) politische Rede, der (offene) Brief, die Rezension und das Vorwort, als Grenzfall der Essay. Manns gelingende Repräsentanz, die ja stets Entindividualisierung zu sein hat, scheint mir vor allem an zwei einander stützende Strategien gebunden zu sein: an das Selbstbild seiner Autorschaft (Kap. II) sowie an Konzepte von Familie und Genealogie (Kap. III). Von den oft prekären Autorschaften und Familienverhältnissen der Erzähltexte heben sich diese Selbstbilder affirmativ ab und lassen sich in der Rezeption affirmativ weitertragen bis zur Gegenwart; diese Rezeptionsgeschichten werden abschließend (Kap. IV) als Konsequenz jener Strategien kurz entfaltet. II. Strategien 1: Konzeptionen von Autorschaft und Autobiographik Thomas Mann hat frühzeitig in seiner literarischen Praxis, in Interviews, Reden und in seiner Publizistik, aber auch etwa im Lancieren von Rezensionen an seinem Bild in der Öffentlichkeit gearbeitet, er hat sich von vornherein um den Status eines repräsentativen Autors bemüht. Zu diesem Vertreten und nach außen hin Darstellen gehört das Phantasma der ›Größe‹, gehört es, Aufmerksamkeit zu erregen. Thomas Mann wollte ein Klassiker zu Lebzeiten werden: Zu den Strategien seiner Autorschaft zählte unabdingbar die Selbstkanonisierung, ein »kaum verhohlener Hang zur kanonischen Selbstrepräsentanz und immer wieder eingestreute Überlegungen zu Ruhm und Rangordnung«.18 Er war immer ein sich dem Leser aufdrängender Autor; schon den Leser von Buddenbrooks wird es nach Informationen über den Autor, über seine Verstrickung in die im Roman erzählte Geschichte verlangen, und Thomas Mann gab diesem Verlangen bereitwillig nach. Berühmt geworden ist eine Briefstelle an _____________ 18 Thielking: Kanon, S. 198.
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seinen Freund Otto Grautoff, in der er diesem die Eckpunkte einer Buddenbrooks-Rezension vorgab: Grautoff solle mit Musik und Philosophie »zwei echt deutsche Ingredienzen [sic!]« des Romans hervorkehren.19 Er setzte damit frühzeitig eine Maschinerie von instanzenhaft abgestuften Modi der Selbstdeutung von Werk und Person in Bewegung. Er war jederzeit ein in der Öffentlichkeit präsenter Autor, der sich auf Wunsch in Interviews (vgl. Interviews), immer wieder auch in Reden und Essays über seine Texte äußerte, auch gegenüber ihm völlig unbekannten Briefschreibern, die sich mit Fragen an ihn wandten. Eine ganze Reihe seiner fiktionalen Texte wie etwa Tonio Kröger, Der Tod in Venedig oder Lotte in Weimar handelt von fiktiven oder halbfiktiven Autoren, deren poetologische Eigenheiten sich sicherlich gewollt mit den an anderer Stelle verlautbarten Äußerungen ihres Erfinders überschneiden, sich in ihnen spiegeln lassen. Thomas Manns Lebenswerk war, vielleicht ähnlich wie das Kafkas, von immer wieder erneuerten Versuchen bestimmt, im Lebensvollzug wie in den Texten die Grenzen von Leben und Werk noch einmal zu unterlaufen und zu überschreiten oder gar sie aufzuheben, ohne dass er doch die Naivität besaß, an eine Restitution dessen zu glauben, was schon die Romantiker gleichermaßen überhöht wie dementiert hatten und woran nur eine gegen die Moderne resistente Literatur glauben könnte, nämlich dass Kunst und Leben zur Deckung zu bringen seien. Von Kafka unterscheidet sich Mann dadurch, dass jene Versuche zumindest nach außen hin glückten, dass es ihm gelang, sich die Maske des Repräsentanten auch durch mächtige Gegner nicht vom Gesicht reißen zu lassen. Eine frühe Erprobung des Verfahrens geschieht in dem 1907 verfassten Text Im Spiegel: Bereits die Titelmetapher verweist auf die Kreation eines Doppelgängers, eines zweiten Thomas Mann, den das Ich des Essays beschreibt. Indem es beide gegeneinander ausspielt, etabliert es Autorschaft als Doppelrolle: Da ist (oder: da war in der Vergangenheit) der Schulversager, der Arbeitsscheue, der Bohemien, der mit Lesen und Schreiben, mit allerhand Stimulanzien und Spielen seine Zeit verschwendete – und da ist der Thomas Mann der Gegenwart, der sich als Autor durch seine Leistung und seinen Erfolg legitimiert sieht und der sich ausdrücklich als bürgerlicher oder gar aristokratischer Familienmensch beschreibt, ohne dass er sich freilich gebessert hätte: Und nun? Und heute? Ich hocke verglasten Blicks und einen wollenen Schal um den Hals mit anderen verlorenen Gesellen in einer Anarchistenkneipe? Ich liege in der Gosse, wie mir’s gebührte? Nein. Glanz umgibt mich. Nichts gleicht meinem Glücke. Ich bin vermählt, ich habe eine außerordentlich schöne junge Frau, – eine Prinzessin von einer Frau, wenn man mir glauben will, deren Vater königlicher
_____________ 19 T. M. an Otto Grautoff, 26.11.1901 (Mann: Grautoff, S. 139). Vgl. dazu Vaget: Repräsentanz, sowie Sauermann: Deutschnationalen.
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Universitätsprofessor ist und die ihrerseits das Abiturientenexamen gemacht hat, ohne deshalb auf mich herabzusehen, – sowie zwei blühende, zu den höchsten Hoffnungen berechtigende Kinder. […] Ich unternehme Triumphreisen. Ich fahre in die Städte, eingeladen von schöngeistigen Gesellschaften, ich erscheine im Frack, und die Leute klatschen in die Hände, wenn ich nur auftrete. […] Und wieso das alles? Wodurch? Wofür? Ich habe mich nicht geändert, nicht gebessert. Ich habe nur immer fortgefahren, zu treiben, was ich schon als Ultimus trieb, nämlich zu träumen, Dichterbücher zu lesen und selbst dergleichen herzustellen. Dafür sitze ich nun in der Herrlichkeit. (E I, S. 100)
Die Verdoppelung der Optik hat Mann, wie er es fast zeitgleich in seinem Versuch über das Theater zugibt, Wagner entlehnt, oder vielmehr: Thomas Mann wendet Nietzsches Kritik an Wagners Liebäugeln mit einer »Kunst für die Menge« (ebd., S. 59) in ein poetologisch produktives Rezept, das eine Verdoppelung der Zielgruppe einschließt: ›das Volk‹ soll ebenso angesprochen werden wie eine kleine Gruppe von Lesern, die es mit der Avantgarde hält.20 Problematisch bleibt ein Autorschaftskonzept, das Intellekt mit Volkstümlichkeit zu verbinden sucht; nach Nietzscheanischer Psychologie wäre der alles durchschauende Künstler, der Naivität (und Irrationalität) nur vorschützen kann, ein Scharlatan. Doch ›doppelte Optik‹ versus Exklusivität von Autor- und Leserschaft ist Bedingung für Repräsentanz im Sinn von Mehrheitsfähigkeit, Popularität oder Ruhm. Darum ist es schon dem jungen, gern öffentlich auftretenden Thomas Mann zu tun. Das Skandalon der in provokant-ironischem Ton gehaltenen Stellungnahme mit dem Titel Im Spiegel steckt in der Demonstration weitgehender gesellschaftlicher Akzeptanz, die einem Autor jener ›Moderne‹ gelungen ist, die angetreten war, die offiziöse Repräsentationskunst des frühen Deutschen Reiches durch eine oppositionelle, eigene Nationalliteratur zu ersetzen, und deren wichtigster Gründerfigur nun internationale Anerkennung zuteil wird: Nur vier Jahre später wird Gerhart Hauptmann, ehemaliges enfant terrible der deutschen Literatur, dessen Schreibpraxis sich mittlerweile ins Neuklassische gewandelt hat, den Nobelpreis erhalten und damit weiter in jenen Rang des Dichterfürsten einrücken, den Thomas Mann ihm bald streitig machen wird.21 Manns Erfolg aber bedeutet die Repräsentanz des Ästhetizismus und vielleicht sogar eines Nietzscheanischen Immoralismus inmitten des doch rückständigen deutschen Gemeinwesens: Tatsache aber ist, daß die Gesellschaft diesem Menschenschlage die Möglichkeit gewährt, es in ihrer Mitte zu Ansehn und höchstem Wohlleben zu bringen. Mir
_____________ 20 Vgl. die immer noch ausgezeichnete Einführung von Kurzke: Epoche, S. 86ff. 21 Vgl. Lämmert: Dichterfürst. Ob Lämmert zu Recht einen »Beiklang gutmütiger Ironie« am Familienboom der Manns um 2005 wahrnimmt, wage ich zu bezweifeln (ebd., S. 177).
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kann es recht sein; ich habe den Nutzen davon. Aber es ist nicht in der Ordnung. Es muß das Laster ermutigen und der Tugend ein Ärger sein. (Ebd., S. 101)
In einem weiteren poetologischen Essay namens Bilse und ich hatte Mann ein Jahr vorher, also ebenfalls bereits in der Phase seiner Etablierung als Autor von Rang, die Interferenzen von Leben und Werk teils dementiert, teils präzisiert. Er bestreitet vehement, mit Buddenbrooks einen Schlüsselroman verfasst zu haben, Persönlichkeitsrechte wirklicher Menschen verletzt zu haben, indem er sie porträtiert habe. Doch räumt er ein, er finde lieber, als dass er erfinde: Die Wirklichkeit, die ein Dichter seinen Zwecken dienstbar macht, mag seine tägliche Welt, mag als Person sein Nächstes und Liebstes sein; er mag dem durch die Wirklichkeit gegebenen Detail noch so untertan sich zeigen, mag ihr letztes Merkmal begierig und folgsam für sein Werk verwenden: dennoch wird für ihn – und sollte für alle Welt! – ein abgründiger Unterschied zwischen der Wirklichkeit und seinem Gebilde bestehen bleiben – der Wesensunterschied nämlich, welcher die Welt der Realität von derjenigen der Kunst auf immer scheidet. (E I, S. 41f.)
Thomas Mann reklamiert für sich also eine autonome Kunst, die das ›Leben‹ mit all seinen Zwecken zum Spielmaterial macht. Eine ›höhere Identität‹ des Dichters sei in allen Texten präsent. Mit solchen und ähnlichen Äußerungen versucht er einerseits, eine Lektüre seiner Texte zu untergraben, die sie auf Figuren- und Handlungsebene zu bloßen Abbildern der Wirklichkeit macht, eröffnet aber gleichzeitig jeglicher Spekulation über eine ›höhere‹ Präsenz der Persönlichkeit des Autors Tür und Tor. Dies geschieht umso mehr dann, wenn er etwa nach dem Doktor Faustus einen umfangreichen, aus den Tagebüchern zusammengestellten Text zur Entstehung des Doktor Faustus publiziert, der den Leser auf einige Spuren in Manns Leben bringt und also eine auch biographisch motivierte Leseanleitung liefert: Dem an Deutschland und der Kunst leidenden Schmerzensmann Adrian Leverkühn korrespondiert der lebensbedrohlich erkrankte Romancier, der seinen Text dem Tod abringt. Wenngleich auch nicht einfach die erlebte Wirklichkeit des empirischen Autors in verschlüsselter Form im Text präsent sei, so lehnt Thomas Mann hingegen das andere Extrem, das Bild vom allein aus sich selbst schaffenden Genie für sich ab, will jedoch den Blick der Leser von biographischen Äußerlichkeiten wegund auf das Innenleben des Autors hinlenken, wie er es später in Lotte in Weimar in der gewaltigen Kraftanstrengung eines langen inneren Monologes seiner Goethe-Figur poetisch auf den Leser hin öffnet. In Bilse und ich hatte die Leseanweisung gelautet: »Nicht von Euch ist die Rede, gar niemals, seid des nun getröstet, sondern von mir, von mir…« (ebd., S. 50). Dem Leser wird damit eine mysteriöse Omnipräsenz des empirischen Autors in seinen Texten suggeriert, der über sein biographisches Rohma-
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terial souverän verfügt und der, hochgradig selbstreferenziell arbeitend, ein moderner Literat auch dort ist, wo er scheinbar traditionell erzählt. Manns poetologische Essays sind auch autobiographische und umgekehrt; wer über den Autor Thomas Mann nachdenkt, entkommt der empirischen Person (und seinen Lebensumständen) nicht. Die Metapher des Spiegels verpflichtet den Leser geradezu, literarische Doppelgänger des Autors zu suchen, dabei aber an der simplen Abbildstruktur der Spiegelung zu (ver-)zweifeln, denn ›Ich‹ und Spiegelbild sind nicht identisch. In seinem Essay Das unendliche Sprechen gebraucht Michel Foucault die Spiegelmetapher zur Veranschaulichung jener »Grenzlinie des Todes«, an der das (literarische) Sprechen beginnt, selbstreflexiv zu werden, Spiegelbilder von sich selbst zu erdichten, deren Verschachtelung bis ins Unendliche reicht. An besagter Grenzlinie »reflektiert sich das Sprechen: es trifft auf so etwas wie einen Spiegel; und um den Tod aufzuhalten, der es aufhalten wird, hat es nur eine Möglichkeit: in sich, in einem Spiel mit Spiegeln, das selbst keine Grenzen hat, sein eigenes Bild entstehen zu lassen«.22 Die sich verewigende Rede der Literatur kann aber die Selbstrepräsentation von Autorbildern mit umfassen. Der zwischen dem Ich und seinem Spiegelbild begonnene selbstreflexive Dialog, diese Verdoppelung des Autors, war hinreichender Anstoß für eine bis heute fortdauernde und derzeit anschwellende Neigung der Leser von Manns Texten, immer neue Spiegelbilder des Autors zu entdecken. Manns Manier, in stets erneuerter Form und in wechselnden Textsorten Leben und Schreiben zu spiegeln – »Wiederholte Spiegelungen« von Erlebtem als Steigerung ist bekanntlich ein Motiv des späten Goethe23 –, wurde von der Literatur über Thomas Mann gerne aufgegriffen.24 Die jahrzehntelang nicht zuletzt biographisch und durch Manns Selbstdeutungen mitbestimmte literaturkritische und wissenschaftliche Mann-Literatur setzte die Reihe der Spiegelungen fort, bis zu der wohl endgültigen Verwirrung der biographischen und der fiktionalen Netzwerke. Und das beginnt bereits bei der frühen Kritik zu Thomas Mann, die den Autor zu einem zweiten Herrn Friedemann, Thomas oder Hanno Buddenbrook, Tonio Kröger oder Gustav von Aschenbach machte.25 Wo immer man das Spiel des _____________ 22 Foucault: Sprechen, S. 91. 23 Goethe: Spiegelungen, S. 569: »Bedenkt man nun, daß wiederholte sittliche Spiegelungen das Vergangene nicht allein lebendig erhalten, so wird man zu einem höheren Leben empor steigern, so wird man der entoptischen Erscheinungen gedenken, welche gleichfalls von Spiegel zu Spiegel nicht etwa verbleichen, sondern sich erst recht entzünden, und man wird ein Symbol gewinnen, dessen was in der Geschichte der Künste und Wissenschaften, der Kirche, auch wohl der politischen Welt, sich mehrmals wiederholt hat und noch täglich wiederholt«. 24 Vgl. Siefken: Mann – der ›Klassiker‹ zur Goethe-Rezeption bei Mann. 25 Vgl. Schlutt: Außenseiter.
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Autors mit seinen Selbstbespiegelungen unterschätzt (wo man etwa auch poetische Spielereien mit unverlässlichen Erzählern, einmontierten Quellenfragmenten, der Lust am ungedeckten Rollenspiel eines Felix Krull etwa, unterschätzt), bleibt für den Leser jenseits aller Fiktion nur die Wahrheit – womit dieser Leser hinter die Modernität der Mannschen Erzähltexte zurückfällt. Unterstützt durch kommentierende Begleittexte und sonstige Öffentlichkeitsarbeit werden Thomas Manns große fiktionale Texte schon bei Erscheinen auch zu Objekten der Selbstrepräsentation, die dem Nimbus des Autors zugute kommen. Spätestens in den USA beherrscht der Star Thomas Mann die Gesetze der Selbstvermarktung, was wiederum seine Übergröße bis heute mitbedingt: Er war und ist präsent in Wochenschauaufnahmen, Zeitungsinterviews, Rundfunkreden, Schallplattenaufnahmen, lecture tours; er stützt und fördert Verfilmungen der eigenen Werke und führt neben der privaten eine ausgedehnte geschäftliche Korrespondenz – oder lässt sie vielmehr führen. Das vermutlich wirksamste Vorurteil bezüglich der stilistisch-syntaktisch spröden, oft stichwortartigen, dabei aber durchaus nicht nur sachlich-resümierenden Tagebücher dürfte darin bestanden haben, mit ihnen endlich den ›wahren‹, den ›authentischen‹ Thomas Mann gleichsam packen zu können. Marcel Reich-Ranicki konstruiert, um diesem Irrtum anhängen zu können, ein Zwei-Stufen-Modell, eine Ursprungsmythe, wonach sich der Tagebuchschreiber zunächst ›naiv‹ ans Werk machte, um irgendwann später einen Publikationsplan zu fassen.26 Doch kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass der ja sehr regelmäßige Tagesablauf des schreibenden Thomas Mann zwar allerlei Geschäfte einschloss, die aber eben sämtlich auch jener Einheitlichkeit und geradezu hermetischen Abgeschlossenheit einer Autor-Existenz folgten, welche immer wieder Gegenstand von Bewunderung wie von Herablassung ist: die Arbeit am Roman, das Verfassen von Reden und Artikeln, die Fron der Briefe, das Resümee im Tagebuch – all dieses Schreiben folgt, freilich je zielgruppenorientiert, dem Interesse an der Formung einer repräsentativen Autorschaft, ist ein potenziell immer öffentliches oder dereinst zu veröffentlichendes Schreiben. Die Lückenlosigkeit einer Lebens- und Schreibhaltung, in die sich _____________ 26 »Ursprünglich war sein Tagebuch ein Monolog ohne Zuhörer, ein Schlupfwinkel, in dem er ohne Zeugen sein konnte. Und weil diese Aufzeichnungen lediglich für ihn selber bestimmt waren, ist hier von der Diktion seiner Epik, von seiner stilistischen Bravour und Virtuosität nichts zu merken. In seinem ganzen Leben hat Thomas Mann keinen einzigen Brief so nachlässig geschrieben wie diese Tagebücher. Einen hier notierten Satz oder gar Absatz zu überprüfen, dazu fehlte ihm die Zeit und die Lust. Irgendwann in seinen späteren Jahren hat er beschlossen, die Tagebücher unredigiert und unkorrigiert zu belassen. […] Es kann kein Zweifel sein, Thomas Mann wollte, daß diese Tagebücher gedruckt werden. […] Die Nachgeborenen sollten wissen, wie er wirklich war« (Reich-Ranicki: Glück, S. 31).
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auch Rückschläge und Niederlagen wie die Schreibkrise nach den Buddenbrooks, der nationale Katzenjammer gegen Ende des Ersten Weltkrieges oder gar die Unwägbarkeiten des Exils ›einbauen‹ lassen, und der auch mächtige Kritiker wie Alfred Kerr oder Bertolt Brecht nichts anhaben konnten, ließ das Kalkül aufgehen: Ex post werden Leben und Werk zu einem Kunstwerk, in dem es ›keine freie Note‹ mehr gibt. Meike Schlutt, die die Zeugnisse der frühen Thomas-Mann-Rezeption untersucht hat, weist darauf hin, dass der Autor schon frühzeitig in die Literaturgeschichten eingeht und bald schon als, freilich im Leben einsamer, Klassiker zu Lebzeiten geehrt und gelesen wird.27 Etwa von seiner 1922 gehaltenen Rede Von deutscher Republik an, deren dezidiert staatstragender Impetus nicht zu leugnen ist, lässt sich Thomas Manns Repräsentanzgebaren nicht nur auf ein überzeitlich-mythisches Deutschland, sondern gleichsam nebenbei auch auf den gegenwärtigen Staat, die augenblickliche Staatsform münzen. Ein revidiertes Selbstbild als (repräsentativer) Autor wird mit dem Exil 1933 sukzessive notwendig. Bekanntlich dauert es Jahre, bis Mann sich mit den neuen Lebens- und Schreibbedingungen angefreundet hat, wenngleich die Textproduktion unvermindert voranschreitet. Die Objekte der Repräsentanz erweitern sich im Laufe der Werkbiographie; die selbst genannten Schlagworte verbinden Buddenbrooks, den Zauberberg und die Josephs-Tetralogie mit der deutschen, der europäischen, der Weltliteratur: »Bei mir steht am Anfang der Roman deutschen Bürgertums, in der Mitte der Roman europäischer Problematik und Dialektik und am Ende – soweit ich sehen kann – der Menschheitsmythos von Joseph und seinen Brüdern« (GW XIII, S. 152). Für den Autor bedeutet dies einen Zugewinn an Rollen: vom Nationalautor über die aristokratische Figur des Europäers28 – nachzulesen in Pariser Rechenschaft, einem Dokument deutschfranzösischer Aussöhnung nach dem Ersten Weltkrieg – zum Weltbürger. Der Protest der Richard-Wagner-Stadt München, eine Antwort auf Manns Wagner-Rede vom Februar 1933, entzieht dem inzwischen im Ausland weilenden Thomas Mann halboffiziell seinen Repräsentantenstatus: Da er seine »nationale Gesinnung« längst »mit einer kosmopolitisch-demokratischen Auffassung« vertauscht habe, hätte er mittlerweile »die Nutzanwendung einer schamhaften Zurückhaltung« ziehen sollen, mache jedoch »im Ausland als Vertreter des deutschen Geistes von sich reden.«29 Die wechselseitige Rückkopplung von Repräsentant und Repräsentierten ist damit unterbrochen; dazu gehörte nicht nur die jeweilige Anerkennung, _____________ 27 Vgl. erneut Schlutt: Außenseiter, passim. 28 Vgl. dazu die materialreiche, begriffsgeschichtlich sich aber nur begrenzt profilierende Studie von Bollacher: Aristokratentum. 29 Amann u.a.: Protest, S. 342.
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auch die Übersetzung dieser Beziehung in diejenige von Autor und Lesern. Manns Bücher wenden sich vor allem an ein deutsches Publikum, an Leser mit einer spezifisch deutschen, bildungsbürgerlichen Lesekompetenz. Zunehmend ist der Kontakt zur deutschen Leserschaft gefährdet, immer mehr wird Thomas Mann genötigt, zu seinem Exil Stellung zu beziehen und sich damit zur ›Partei‹ der Exilanten zu schlagen, eine Zweiteilung der deutschen Kultur anzuerkennen: Ist die wahre deutsche Kultur also die des Exils? Wäre eine Entscheidung zu treffen zwischen zwei Deutschlands und seinen Vertretungen? Diese Problematik durchzieht jahrelang Manns veröffentlichte und seine privaten Texte, beginnend vielleicht mit den 1946 publizierten Tagebuchauszügen Leiden an Deutschland, ursprünglich von 1933/34 datierend. Bekanntlich lässt sich Mann erst 1936 zu einem Bekenntnis gegen das deutsche Regime herbei und verliert dadurch die deutsche Staatsbürgerschaft.30 Die Ausbürgerung führt geradezu zur Bestätigung von Manns Repräsentanz. In einem auf die Aberkennung seiner Bonner Ehrendoktorwürde reagierenden Schreiben, das viel tausendfach gedruckt wurde und »zum bekanntesten Manifest der literarischen Emigration«31 wurde, erklärt Mann mit aristokratischem Gestus: »Seit ich ins geistige Leben eintrat, habe ich mich in glücklichem Einvernehmen mit den seelischen Anlagen meiner Nation, in ihren geistigen Traditionen sicher geborgen gefühlt. Ich bin weit eher zum Repräsentanten geboren als zum Märtyrer« (E IV, S. 185). Zunehmend lehnt Mann aber ein ›zweifaches‹ Deutschland ab, reklamiert also die Repräsentanz der einen, problematischen mythischen Kulturnation, am deutlichsten gegen Kriegsende in der in den USA gehaltenen Rede Deutschland und die Deutschen.32 Überblickt man die zahlreichen Verlautbarungen, die sein Verhältnis zu Deutschland umreißen, dann liegt es nahe, dass Mann je nach politischer Lage immer wieder neu reagierte. Das berühmt gewordene, zuerst in einem Interview in New York Anfang 1938 überlieferte Diktum »Where I am, there is Germany«33 hätte er 1933 schon aus taktischen Gründen nicht ausgesprochen, es hätte ihm allem Anschein nach auch das notwendige Selbstbewusstsein gefehlt. Doch 1938 betritt er die USA als willkommener, finanziell abgesicherter Gast, als gern gelesener Autor und bald auch als Anwärter auf die amerikanische Staatsbürgerschaft – und in den USA wird er auch ganz selbstverständlich als Repräsentant der deutschen Kultur aufgenommen.34 _____________ 30 31 32 33 34
Vgl. Mann: Brief, sowie den Kommentar der Herausgeber. Mann: Brief, S. 397. – Zur Vor- und Nachgeschichte vgl. Hübinger: Mann. Vgl. zu diesem Komplex Strobel: Entzauberung, S. 177ff., 287ff. Vgl. den Kommentar in Mann: Tagebuchblätter, S. 445. Vgl. Vaget: Wetter.
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Die essayistischen Texte Manns zeugen davon, dass ihm Repräsentanz eher Inklusion oder gar Vereinnahmung denn Ausgrenzung war – mit der bedeutenden Ausnahme des nationalsozialistischen Deutschland, an dessen ›Deutschheit‹ sich auch manche Tagebuchpassagen reiben. Schließlich ist der Essay Bruder Hitler, der die gemeinsamen Anfänge von Nationalautor und Diktator in der Münchner Bohème ausleuchtet, eine Probe aufs Exempel der Unterscheidung zwischen echtem und falschem, betrügerischem Repräsentanten, die mehr zur Engführung als zur tatsächlichen Grenzziehung gerät. Dokument des Übergangs ist der Reiseessay Meerfahrt mit Don Quijote, der die erste Schiffspassage nach Amerika 1934 nacherzählt.35 Cervantes’ Roman ist keineswegs eine Gelegenheitslektüre, vielmehr ein Stück Weltliteratur mit identifikatorischem Kern: Der später in den Band Adel des Geistes aufgenommene Text berichtet im Grunde von zwei irrenden Rittern auf der Suche nach neuer Orientierung. Wie Don Quijote seine von der Verblendung des Poeten, des Phantasten geprägten Aventiuren, so unternimmt Mann eine »Columbusfahrt ins Überwestliche« (E IV, S. 93), er stellt sich – eben mit einem gehörigen Stück europäischer Weltliteratur gleichsam als Waffe in der Hand – einer Öffnung über die Grenzen Europas hinaus. Gemeinsam ist beiden Protagonisten die »provinzielle Gabe der Phantasie« (E IV, S. 93), die sie nun zu aristokratischen Weltmännern à la Castiglione machen soll: Für Thomas Mann ist die »Weltreise« mit dem »Weltbuch« (E IV, S. 95) der passende Weg; die »Schläfrigkeit« (E IV, S. 97)36 erzeugende Fahrt auf dem ort- und zeitlosen Meer ist, ähnlich wie der Aufenthalt im Zauberberg, Rite de passage, vielleicht sogar Hadesfahrt und Wiedergeburt an einem Ort, wo man aufmerksam die »redend bewegten Schatten« (E IV, S. 120) – gemeint ist hier vordergründig das Bordkino – betrachtet. Fragt das Ich zu Beginn noch gemäß alter Gewohnheit »Was ist deutsch?« (E IV, S. 90), so sind bald, unter dem Einfluss Cervantes’, übernationale, europäische Adelstugenden gefragt, die Don Quijote als Spanier ja tatsächlich verkörpert: »Grandezza, Idealismus, schlecht angepasster Hochsinn, unlukrative Ritterlichkeit« (E IV, S. 101). Definiert wird schließlich eine abendländische Gemeinkultur, die auf der Antike, dem Judentum und dem Christentum aufruht, wobei das gegenwärtige Deutschland gänzlich unerwähnt bleibt. Im mythisch personifizierten New York (»eine getürmte Gigantenstadt« [E IV, S. 139]) empfängt den Reisenden keine mystisch-romantische Aurora, sondern »Morgennebel« (E IV, S. 139), Chiffre zögerlichen Neubeginns. Dieser Text spielt mit dem Ruhm des Autors Thomas Mann, mit der Lust und Last _____________ 35 Vgl. dazu generell die kenntnisreiche Paraphrase in Lehnert: Chaos; sowie Hage: Quijote. 36 Man erinnere sich an Gustav von Aschenbachs Gondelpassage nach Venedig.
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der Repräsentanz, der Passage und der kommenden Eroberung eines neuen Weltteils; es ist ein Text, der Deutschland einmal hinter sich lässt. III. Strategien 2: Genealogisches Immer wieder erzählt Thomas Mann entlang genealogischer Konstruktionen und Fehlkonstruktionen; es handelt sich wiederholt um Erzähltexte, deren erzählte Zeit durch den oft misslingenden Versuch der ordnungsgemäßen Fortzeugung von Familien bestimmt ist. Vor allem der Familienroman Buddenbrooks sticht hier ins Auge, auch die genealogische Erzählung von den Anfängen des Volkes Israel in Joseph und seine Brüder, und hanseatische Familienstrukturen begegnen ebenfalls im Zauberberg.37 In Königliche Hoheit stellt sich die in der Moderne durchaus aktuelle Aufgabe eines Kompromisses zwischen ›alter‹ und ›neuer‹ Elite, Der Erwählte verhandelt eine sich über mehrere Generationen erstreckende, inzestuös fehlgesteuerte Genealogie. Die Künstlergeschichten im engeren Sinn erörtern und dementieren die Vererbbarkeit des Genies: Vater-Sohn-Beziehungen sind vor allem in Lotte in Weimar problematisiert, im Tod in Venedig und in Doktor Faustus aber wenigstens angelegt – und sie scheitern. Zu überlegen ist, inwiefern schon Buddenbrooks gelebte und nach außen hin repräsentierte familiale Strukturen des Autors (zum Beispiel die Familienbilanz, die jede Generation neu ziehen muss) nicht nur postfiguriert, sondern auch präfiguriert, da, wie Manfred Eickhölter festhält, der Romanerstling »Teil einer ›Familienunterhaltung‹« war,38 eine bilanzierende wie mutmaßlich auch prospektive Funktion im Selbstrepräsentationsdiskurs der Familie Mann hatte. Die jederzeit für den Leser anregende Parallele zwischen Buddenbrooks und Manns findet ihre Grenze bei der Differenz zwischen einer mit dem ›Tod‹ der Familie endenden, linearen Geschichte im Roman39 und der zumindest vorläufigen Unabschließbarkeit der Familiensaga der Manns: Insbesondere als Künstlerfamilie, so das kollektive Selbstbild zu Thomas Manns Lebzeiten und darüber hinaus, ist man längst nicht am Ende. Familie bezeichnet hier nicht die moderne Kernfamilie, die Lebensund Erwerbsgemeinschaft aus Vater, Mutter und Kindern, sondern eine bürgerliche Dynastie, eine durch Zusammenhalt begründete genealogische Großformation, wie sie der Kultur und dem Selbstverständnis des Adels entspringt. In Thomas Manns Lebenspraxis sind tatsächlich Ritualisie_____________ 37 Fischer zeigt Parallelen in den Familienkonstruktionen von Buddenbrooks und im Josephsroman auf (Fischer: Handbuch, S. 199ff.). 38 Vgl. Eickhölter: Mann, S. 106. 39 Vgl. Robles: Wirklichkeit, S. 164ff.
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rungen zu beobachten, die dem Zeremoniellen nahe kommen: nicht nur seine repräsentative Gedächtnisrhetorik, wenn es um Goethe oder Schiller ging, sondern auch Distanzierungsgesten wie der Kult um das unberührbare Arbeitszimmer, die Abstufung der Gnade im Umgang mit den Kindern, die ebenso hierarchisch abgestufte Tafelgesellschaft.40 Hierher gehört auch die Fama, trotz des relativ kurzen Aufenthalts der Familie Mann in Lübeck aus dem lübischen Patriziat abzustammen. Auffallend ist sodann der intensive Zusammenhalt der räumlich oft weit getrennten Familienmitglieder in Notzeiten, ein bei fast allen spürbares, künstlerisch bedingtes, aber familial beglaubigtes Selbstbewusstsein, generell eben ein Familienbewusstsein innerhalb der und zwischen den Generationen, das aber auch dazu führte, dass Thomas Mann trotz aller Rivalität ein gewisses Verantwortungsbewusstsein gegenüber seinem im Alter verarmenden Bruder Heinrich nie gänzlich aufgab. Der berüchtigte »Bruderzwist« mag als Kampf »um Reputation und Repräsentation«41 durchgehen, aus einiger Distanz ist es das Geplänkel zweier Dioskuren, die abwechselnd als Anwärter auf die deutsche Präsidentschaft gehandelt wurden, Heinrich zu Weimarer Zeiten, Thomas als »Schattenpräsident« im amerikanischen Exil.42 Die Mann-Familie als deutscher Erinnerungsort sei, so Irmela von der Lühe, bereits durch die Familie selbst initiiert worden: alle Familienmitglieder hätten »das Bewusstsein für die familiäre Repräsentationsfunktion« geteilt.43 Diese These mag eine Verklärung ex post sein; die Ausbruchsversuche Klaus oder Monika Manns ignoriert sie jedenfalls. Thomas Manns Familiengründung war ein von aristokratenhaftem Standesdenken und von Aufstiegswillen eher als von passionierter Liebe bestimmter politischer Akt; man erinnere sich an das berühmte Zitat aus einem Brief an seinen Bruder: »Du bist absolut. Ich dagegen habe geruht, mir eine Verfassung zu geben«.44 Ob die Einheirat des Kaufmannssohns ausgerechnet in eine deutsch-jüdische Gelehrtenfamilie als politisches Kalkül zu lesen sei, ist hier keine Frage; die Rezeptionsgeschichte hat sie längst schon beantwortet, denn natürlich wurde Mann von den Antisemiten unter seinen Kritikern (etwa von Adolf Bartels) deswegen angefeindet und natürlich besitzt die Familie Mann eben als bürgerliche, deutsch-jüdische Familie ein Höchstmaß an Repräsentanz für das 20. Jahrhundert und als Emigranten-Familie für das bessere Deutschland, auch wenn Thomas Mann genau diese Unterscheidung ablehnte. _____________ 40 41 42 43 44
Vgl. Reinhardt: Manns, S. 108f. Lühe: Familie, S. 259. Vgl. Flügg: Mann, S. 246ff; sowie Kurzke: Mann, S. 484f. Lühe: Mann, S. 269. T. M. an Heinrich Mann, 17.1.1906 (Mann / Mann: Briefwechsel, S. 114).
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Heinrich Detering hat die für Thomas Mann attraktive Ambivalenz des kulturellen Konzepts ›intellektueller Jude‹ und seine Übersetzbarkeit in ein ambivalentes Gender-Konzept (›intellektuelle Frau‹) sowie ein ambivalentes Konzept von Autorschaft (›Litterat‹ – im Gegensatz zu ›Dichter‹) schlüssig dargestellt und damit für ein Bündel von Mannschen Leitkonzepten die Grenzen der Repräsentation aufgezeigt.45 Die semantischen Extreme bilden geradezu die Voraussetzung für eine Denkbewegung, die in romantischer Manier immer wieder nach ›Mischungen‹46 (wie der deutsch-brasilianischen ›Blutmischung‹ des Autors) sucht oder auch nach der ›Mitte‹, mit der im Zauberberg das Deutsche qualifiziert wird; doch sind die damit angezielten Gleichgewichte labil bis unerreichbar.47 Entgegen einer grobschlächtigeren Lesart, die aus der Präsenz antisemitischer Stereotype auf eine antisemitische Gesamthaltung des empirischen Autors Rückschlüsse zieht48, ist in puncto Repräsentanz also mit Ambivalenzen zu rechnen, die der Skepsis gegen das Deutsche eine nach außen getragene und von Fall zu Fall auch pointiert vorgetragene Darstellung und Vertretung dieses Deutschen entgegensetzen. Die strukturelle Analogie zwischen ›Deutschtum‹ und ›Judentum‹ in den Texten Thomas Manns beruht auf der Unentscheidbarkeit zwischen Zuschreibungen von ›Identität‹ und Rücknahmen unter der Rubrik ›Ambivalenz‹.49 Akzidens von Identitätszuschreibungen zu Konzepten des Außenseitertums, des ›Fremden‹ (also: _____________ 45 Vgl. Detering: Juden. 46 Vgl. Kapitza: Theorie. 47 Detering beschreibt für das Frühwerk Manns anthropologischen Entwurf, der das Männliche und das Weibliche »zugleich integriert und übersteigt« (ebd., S. 60f.) Angezielt sind also genauer Ambivalenz, Synthese und Überbietung. Das Thema Repräsentanz ist damit nicht vom Tisch: Rechtsanwalt Jacoby, der ›Held‹ aus Luischen, ist trotz oder wegen seines lächerlichen Auftritts jenseits der Geschlechterordnung Repräsentant einer Gesellschaft, der eindeutige Geschlechtergrenzen abhanden zu kommen beginnen. Deterings Lektüre von Thomas Manns Rezension eines Romans der lesbischen Autorin Toni Schwabe macht diesen Stellenwert Jacobys plausibel (vgl. Detering: Juden, S. 70, S. 32ff.). 48 Vgl. Elsaghe: Nation, dazu Strobel: [Rez.] Elsaghe; sodann Elsaghe: Unterschiede. Der Autor vermerkt in seiner Einleitung selbstkritisch, dass die Gefahr systematischer Studien darin liege, den »Totalitätsphantasmen […], die im Kompositum ›Gesamtwerk‹ immer schon bereitliegen«, aufzusitzen (S. 7). Abwägend ist hingegen das Urteil von Jacques Darmaun, der durchaus die in den Texten verborgenen antisemitischen Vorurteile des Autors diagnostiziert, jedoch auch Manns zweideutige Haltung gegen Fragen der ›Rassen‹ und der Vererbung nicht in Abrede stellt: »Das sowohl ästhetisch als auch wissenschaftlich bestimmte Interesse an Fragen der Herkunft und Thomas Manns Hang, den eigenen Wesensgrund in der Geschlechterkette und der Heimaterde ausfindig machen zu wollen, kommt uns heute bedenklich vor. Doch hierin ist er ganz Sohn seiner Zeit und Zeuge des Zeitgeistes. Durch das Spielerisch-Ironische, die Lust am Selbstexperiment, am eigenen zwitterhaften Wesen, löst sich Thomas Mann aber auch wieder aus diesem Zeitzusammenhang und nimmt Abstand« (Darmaun: Juden, S. 7). 49 ›Identität‹ und ›Ambivalenz‹ sind semantisch nicht zur Deckung zu bringen; vgl. etwa Dierks / Wimmer: Vorwort, S. 8.
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Nicht-Deutschen, Nicht-Dichters, Nicht-Mannes) ist immer das Schwanken der Bewertung zwischen Stigmatisierung und Auszeichnung.50 Das ›Ich‹ des sich öffentlich machenden Autors kann sich also zum Deutschtum bekennen, wie es sich zur Literatur und zum Judentum bekennen kann, denn es handelt sich jeweils auf den zweiten Blick um problematische Repräsentationsbeziehungen: den synekdochischen Beziehungen des Teils zum ›Ganzen‹ widerspricht stets ein Stück Selbstkritik, Nichtzugehörigkeitsgefühl oder auch Paradoxie nach dem Motto, dass ›gut‹ deutsch, gut jüdisch oder gut ›litterarisch‹ sein das Gegenteil, die Leugnung und Selbstverleugnung, geradezu einschließe. Dabei fällt dem heutigen kritischen Thomas-Mann-Leser der frühen Essayistik bis hin zu den Betrachtungen eines Unpolitischen vorwiegend die Kritik am Literaten auf, nicht so sehr die Identifikation, die aber zum Beispiel in dem 1912 publizierten Fragment Der Künstler und der Literat einmal überdeutlich ausgesprochen ist.51 Erst seit kurzer Zeit werden antijüdische Stereotypenbildungen in der wissenschaftlichen Mann-Rezeption wahrgenommen, nicht so sehr hingegen die Identifikation Thomas Manns mit der Modernität des jüdischen Intellektuellen, des »Künstlerjuden«, wie ihn Detering zuletzt aus Manns Texten rekonstruierte.52 Auf biographischer Ebene ist Thomas Manns Ehe symbolpolitischer Ausdruck dieser Identifikation mit deutschjüdischer Modernität; dies schließt das Faktum ein, dass Katia Pringsheim als sehr ›männlich‹-emanzipierte Tochter aus jüdischer Familie im Gegensatz zu ihrem Bräutigam das Abitur vorweisen konnte – in bürgerlichen Kreisen um 1900 gewiss ein singulärer Kasus! Wenngleich Thomas Mann auffallenderweise umfassende autobiographische Texte nicht geschrieben hat, seine Leser also auf die Spuren in seinen Erzähltexten verweist, findet die Kontextualisierung seiner Person durch die Mitglieder seiner Familie in zahlreichen essayistischen Texten statt, und seien es oft nur Gelegenheitsmiszellen. Das Mustergültige des bürgerlich-artistischen Lebenslaufes, wie ihn die Tischrede bei der Feier des fünfzigsten Geburtstags resümiert, schließt das Familiale in gut goethischer Manier ein: »Man soll ein Mensch sein, soll sich dem Leben nicht ›entziehen‹, sondern es mitmachen in allem, was es mit sich bringt. So soll _____________ 50 »Der Ausdruck von Selbsthass eines Stigmatisierten wird umgedeutet zum Zeichen heimlicher Erwählung – und zugleich bleiben doch die ›Ausgezeichneten‹, noch im Modus dieser Umdeutung, fixiert auf die Erfahrung des ›Gezeichneten‹.« (Detering: Juden, S. 69.) Dies gilt selbstverständlich auch für zwei wichtige späte Texte: Doktor Faustus und Der Erwählte. 51 Darin heißt es: »Der Literat ist anständig bis zur Absurdität, er ist ehrenhaft bis zur Heiligkeit, ja, als Wissender und Richtender den Propheten des alten Bundes verwandt, stellt er in der Tat auf seiner vornehmsten Entwicklungsstufe den Typus des Heiligen vollkommener dar, als irgendein Anachoret einfacherer Zeiten.« (Mann: Künstler, S. 165). 52 Vgl. Detering: Juden, S. 65ff.
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man heiraten und Kinder haben« (GW XI, S. 365). Es mögen manchmal Distanzierungsgesten gegenüber seinen Familienmitgliedern sein, die das Thomas-Mann-Bild bestimmen – etwa die Verweigerung der Mitwirkung an Klaus Manns Exilzeitschrift Die Sammlung; daneben gibt es doch auch Signale der Unterstützung und der (späten) Würdigung: eine Künstlerfamilie wird veröffentlicht.53 In der schon erwähnten Entstehung des Doktor Faustus überlagern sich Bilder eines Lese- und Schreibprozesses, unterbrochen durch schwere Krankheit, mit autobiographischen Familienbildern – auch hier hält gleichsam die Familie den Lebens-Text des Autors zusammen: Schon 1949 darf der Faustus-Leser wissen, dass Adrian Leverkühns letzte Liebe Nepomuk – als Neffe durchaus Familienmitglied –, dem Mann-Enkel Frido nachgebildet ist: Während in der Fiktion die ersehnte Vater-SohnBeziehung mit Nepos Tod scheitert, erfreut sich der stolze Großvater seines Enkels als Garanten der Fortzeugung der Familie auch auf amerikanischem Boden (GW XI, S. 153). Fridolins und Nepomuks Zauber entspringt nicht nur dem Anschein des spiegelbildlichen Gegenüber in neuer, späterer und doch immergleicher Inkarnation, sondern auch der Hoffnung auf die Vererbbarkeit des Künstlertums: Die reine Schönheit des Kindes verspricht, in der metaphysisch überhöhenden Version des Künstlertums in Doktor Faustus jedenfalls, mühelose Erlösung dort, wo sich der ›Vorgänger‹ Leverkühn als schuldbeladener Schmerzensmann abmüht. Frido darf leben, Nepomuk muss sterben: damit sind die beiden Möglichkeiten der Generationenfolge als Exempel nicht abreißender genealogischer Ordnung nebeneinander gestellt. Im autobiographischen Text (und in der empirischen Wirklichkeit) darf die Familie Mann weiterleben, weil, so darf man annehmen, sie dem Patriarchen nicht gefährlich werden kann, weil keines der Familienmitglieder über eine dienende Funktion hinauskommt, keines sich verselbstständigt, sondern sich alle aus der Relation zum Oberhaupt definieren. Die Genealogie des Autors tritt metonymisch an die Stelle einer Romanfamilie, deren Genealogie abgeschnitten ist: die Buddenbrooks, die Castorps und die Leverkühns mögen in manchem den Manns gleichen – doch nur die Manns haben Zukunft. Die Struktur der Entstehung des Doktor Faustus gehorcht parallel drei Zeit- und Redeebenen (und bildet damit nochmals eine Parallele zur Erzählsituation des Romans, nur diesmal unter Benutzung authentischer Daten auf allen drei Ebenen!): politische Ereignisse, textgenetische Notizen zum Roman und Erlebtes, darunter zahlreiche Familienszenen, stehen nebeneinander und überkreuz, verbinden sich damit zu einer Ge_____________ 53 Beispiele sind die Werbung für Erika Manns Kabarett Die Pfeffermühle, die Bevorwortung eines Gedächtnisbuches für Klaus Mann oder eine bald schon publizierte Rede zu Katia Manns 70. Geburtstag 1953 (Vgl. GW XI, S. 456ff., S. 510ff., S. 521ff.).
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schichte, der die Romanhandlung, die Geschichte der Familie Mann und die weltpolitische (oder weltgeschichtliche) Entwicklung gleichermaßen angehören.54 Nicht zufällig entstand der Text auf der Materialbasis des Tagebuchs, das diese drei Ebenen grundsätzlich verschränkt, in den Kriegsjahren inniger als zuvor oder danach. Manns lebensgefährliche Krankheit kann noch rechtzeitig besiegt werden, unter tätigem Beistand der Familie und Anteilnahme der Öffentlichkeit wiederum; an beidem mangelt es der Romanfigur: Adrian Leverkühn geht einsam zugrunde und muss sich damit begnügen, Erzählobjekt seines Freundes Zeitblom zu sein. IV. Rezeptionswege: Thomas Mann um 2000 Thomas Manns Saat geht heute mehr auf denn je zuvor; von den Aporien der Repräsentation dürfte kaum eine im Bewusstsein seiner Leser verankert sein. Ein hier nur anzudeutender Perspektivenwechsel von den Selbst- und Familienbildern des Produzenten zu den Wegen der Rezeption zeigt, wie zunehmend unabhängig von der Kanonisierung der Erzähltexte die Person und Instanz des Autors in Deutschland als Repräsentant anerkannt wurde und wie gerade in den letzten Jahren eine Verbreiterung dieser Repräsentanz auf die Familie Mann hin erfolgt ist. Patriarch und Familie werden als öffentliche Personen der deutschen Geschichte wahrgenommen, als Politikum, wenngleich umstritten bleibt, ob Thomas Mann nun politisch genug war oder nicht. Und abgesehen von mancher Familienstammtafel in Mann-Biographien hat sich auch die professionelle genealogische Forschung der Familie angenommen und dabei gleich die aus Familienpapieren zusammengestellte Stammtafel durch Auszüge aus Buddenbrooks auf zweifelhafte Weise ergänzt.55 Die 2005 erschienene Monographie Thomas Mann und die Politik von Manfred Görtemaker ist in ihrer Tendenz nicht neu: Sie tadelt den unpo_____________ 54 Ein Beispiel zum Jahreswechsel 1946/47 verrät, dass Mann zu dieser Zeit bereits die Auswirkungen des Kalten Krieges zu spüren begann, was dem Romanleser, der mit den Jahren 1943-45 als Schreibzeitraum der Erzählers konfrontiert ist, weniger plausibel ist: »Ich las Nietzsche’s ›Ecce homo‹ wieder in diesen Tagen, offenbar zur Vorbereitung auf die Schlußabschnitte, las auch, nachdem das Buch mir viele Jahre verloren gewesen, in Joëls ›Nietzsche und die Romantik‹, aus dem ich als Jüngling viel gelernt und das ich antiquarisch wieder erworben hatte. […] Der Weihnachtsabend entbehrte der Enkelkinder diesmal; wir telephonierten mit Erika und Klaus in New York, mit den Kindern in Mill Valley, mit Frido. […] Das Treiben des ›Committee of Un-American Activities‹, das sich eben gegen die offenbar kommunistisch verseuchte Library of Congress wandte, bedrückte und empörte mich« (GW XI, S. 295). 55 Vgl. Stübbe: Manns.
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litischen Autor seiner politischen Äußerungen wegen. Einigermaßen neu ist hingegen die Argumentation in einer Rezensionen des Buches, die Thomas Mann ebenjenen Freiraum des Unpolitischen zugesteht, ja: der Literatur keineswegs eine Verpflichtung zu politischem Engagement zuweist, wie dies über weite Strecken des 20. Jahrhunderts üblich war. Andreas Kuhlmann, Rezensent der Zeit, schreibt: Wer würde denn bestreiten, dass Mann von Hause aus Künstler war und dass ihm deshalb die öffentlichen Kundgaben mit ihren Darstellungszwängen bei Gelegenheit als Last, ja als Selbstentfremdung erscheinen mussten? Erstaunlich ist doch vielmehr, mit welcher Ausdauer, Vehemenz und Geistesgegenwart Mann dennoch über Jahrzehnte hinweg als jener ›Rhetor‹ in der politischen Arena agiert, dem noch die Verachtung des Autors der Betrachtungen eines Unpolitischen gegolten hatte.56
Zu mutmaßen ist, dass sich in den vergangenen Jahrzehnten ein Verständnis von Politik eingebürgert hat, das weit unter der Schwelle des um 1968 eingeklagten politischen Engagements liegt, das ein Selbstverständnis des ›Unpolitischen‹ als Distanz gegenüber dem Staat (oder noch spezieller, wie beim jungen Thomas Mann, gegenüber der Demokratie), durch eine öffentliche Person öffentlich geäußert, bereits als Politikum anzuerkennen vermag und im übrigen dem Autor sein Kämmerchen im Elfenbeinturm gern überlässt. Begriffsgeschichtlich hieße dies, dass der traditionelle deutsche, staatszentrierte Politikbegriff einem eher pragmatischen, gesellschaftszentrierten angloamerikanischer Herkunft Platz gemacht hat.57 Manns strategisch stimmiges Selbstbild des undemokratisch ›Unpolitischen‹ war im wilhelminischen Deutschland zweifellos ein Schachzug, dessen publicityträchtiger Charakter offenbar erst wieder in unserer gegenwärtigen Medienlandschaft breitenwirksam wird. So kann im Jahr 2006 Thomas Mann einer der Kronzeugen in Wolf Lepenies’ Entwurf einer ›deutschen‹ Verschränkung von Kultur und Politik werden, die das Politische auch dort (er)findet, wo der Protagonist nicht tätig ins Zeitgeschehen eingreift.58 Dies aber heißt, dass Politik heute ›romantischer‹ sein darf als vor dreißig Jahren, denn Carl Schmitts Verdikt gegen eine im Grunde apolitische ›Politische Romantik‹ richtete sich gegen einen Primat des Ästhetischen, dem das Politische nur von Fall zu Fall zur billigen Occasio wird,59 damit aber gegen etwas, was man heute symbolische Politik nennen könnte und was einem mit Fiktionen arbeitenden Autor wohl grundsätzlich näher steht als der Kommentar zu Tagesereignissen. Es _____________ 56 Kuhlmann: Bühne. 57 Zu den differenten Politikbegriffen vgl. Dörner / Rohe: Politikbegriffe; weiterhin Schmidt: Politik; historisch und vom Standpunkt ›politischer Kultur‹ aus argumentiert Barudio: Politik. Vgl. die glückliche Begriffsbildung ›politischer Mythos‹ bei Dörner: Mythos. 58 Vgl. Lepenies: Kultur. 59 Vgl. Schmitt: Romantik; sowie Bohrer: Kritik, S. 284ff.
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steht sogar zu vermuten, dass ausgerechnet das Selbstbild vom unpolitisch-schwankenden Autor Manns heutige Repräsentanz mitbegründet. Hieran zeigt sich, dass sich die Konjunktur Thomas Manns nicht zuletzt wandelnden Standards der kulturellen Praxis verdankt. Wohl erst lange nach 1968 war eine Äußerung wie die zitierte möglich, nachdem zuletzt der Politologe Kurt Sontheimer im Jahr 1961 in seinem Buch Thomas Mann und die Deutschen eine Lanze für den eben doch nicht ganz unpolitischen Thomas Mann zu brechen versucht hatte. Das in Westdeutschland seit der verweigerten Rückkehr aus dem amerikanischen und dann wieder Schweizer Exil längst schon bekundete Misstrauen vor allem gegen den politisch Handelnden (oder auch nicht Handelnden) verstärkte sich im Gefolge der Politisierung der 60er Jahre. Insbesondere zum 100. Geburtstag 1975 wurden schwerste Geschütze aufgefahren. Der Kritiker Hanjo Kesting verortet den Verfasser der Betrachtungen eines Unpolitischen in der »Vorgeschichte des deutschen Faschismus«: »Als politischer Mensch war Thomas Mann ein Erbe des deutschen Irrationalismus. Er hat ihn nie wirklich überwunden. Politik war für ihn eine Funktion des Überbaus, der Kunst, er analysierte sie nicht mit politischen, sondern mit ästhetischen Kategorien.«60 »Ästhetisierung der Politik« – es klingt hier nicht mehr und nicht weniger als Walter Benjamins Schlagwort zur politischen Praxis des Nationalsozialismus an.61 1975 musste der Schriftsteller also auch Politiker sein. Der Mann-Verteidiger Reich-Ranicki befand sich vor drei Jahrzehnten in einer Minderheitenposition: 1973 hielt ich es sogar für richtig, öffentlich und mit Nachdruck die Renaissance seines Werks zu rühmen. Unter Brüdern und ganz vertraulich: Ich habe stark übertrieben. Was ich als Befund ausgegeben hatte, war nur mein Wunsch und meine Hoffnung. Doch schien mir dies in den frühen siebziger Jahren dringend nötig: Von der älteren Generation der damals lebenden Schriftsteller wurde Thomas Mann bekämpft, von der mittleren verworfen und von der jüngeren ignoriert. […] Als man 1975 Thomas Manns hundertsten Geburtstag ungern beging, fanden alle seine Gegner zueinander, die alten Nazis nicht ausgeschlossen: Schon zu Lebzeiten von vielen seiner Kollegen als ein nicht zu ertragendes Ärgernis empfunden, wurde er nun zum Gegenstand einer Gegenoffensive.62
Es ist vielleicht um so erstaunlicher, dass man in den 70er und 80er Jahren mit ›Repräsentanz‹ eher den bürgerlichen Dichterfürsten und Leistungsethiker verband, hingegen bei Erscheinen der Tagebücher verstört reagierte auf einen »bis in die Nervenenden zitternden, psychosomatisch unterhöhlten, sexuell gefährdeten und ständig aus der Balance geratenden, bis in die Wolle gefärbten Konservativen, der eine repräsentative Existenz _____________ 60 Kesting: Mann, S. 145. 61 Benjamin: Kunstwerk, S. 347. 62 Reich-Ranicki: Glück, S. 29.
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nur mit Mühe und aus schlechtem Gewissen aufrechterhielt«63 – erstaunlich genug, ist mit diesen Worten doch geradezu der moderne Europäer in nuce porträtiert, der nebenbei noch einem fiktiven Repräsentanten wie Gustav von Aschenbach frappierend ähnelt. Wieso hätte ausgerechnet Thomas Mann anders, gewissermaßen ein Repräsentant als Vorbild, sein sollen? 1995 ist es nicht der unpolitische Thomas Mann, den der Spiegel geißelt, sondern: »ein bisexueller Egomane, geldgierig und feige, selbstgerecht und mürrisch, schmachtend nach jungen Kellnern, während Ehefrau, Kinder und Freunde seinem Ruhm zu dienen hatten. Kurz: ein Ekel, meistens«.64 Und spätestens von nun an ist man der Ehefrau, den Kindern, den Freunden und am besten der gesamten lieben Verwandtschaft auf der Spur. Hans Wißkirchen hat 2005 das Problem der medial erzeugten, fast unliterarischen Popularität benannt, die Thomas Mann heute umgibt, die ja auch eine Gefahr für jedes Literaturmuseum ist: »Man braucht das Werk nicht mehr, um die Familie bedeutend zu finden«.65 Eine Thomas-MannRezeption unter genealogischen Vorzeichen kann aber erst zu einer Zeit einsetzen, in der Familien- und Generationsgeschichten boomen,66 in der parallel demographisch und gentechnologisch motivierte Debatten um Zeugung und Vererbung, um Elternschaft und Familie eingesetzt haben. Das Augenmerk gilt also in den letzten Jahren zunehmend der ›Familie Mann‹. Und so werden heute die Manns wahlweise als die deutschen Kennedys oder die deutschen Windsors gehandelt,67 wobei doch auch Unterschiede bestehen, wie etwa die Dominanz einer Person und der offenkundige Mangel an charismatischen Nachrückern. Eine Funktion der ursprünglich adeligen Großfamilie ist dabei besonders bedeutsam, und der Historiker Volker Reinhardt hat sie in einem Sammelband zu deutschen Familien von den Bismarcks bis zu den Weizsäckers expliziert: Sie ist eine Maschine zur Erzeugung homogener Funktionseliten, deren Zugangsmerkmal nicht vorwiegend Leistung ist, sondern traditionell Erziehung und Beziehungen, wobei Erziehung im weitesten Sinn die Vermittlung _____________ 63 Marcel Reich-Ranicki in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (11.3.1978). Zitiert nach Leben, S. 45. 64 Der Spiegel (16/1995). Zitiert nach Leben, S. 45f. 65 Hans Wißkirchen auf der Lübecker Thomas-Mann-Tagung 2005. Zitiert nach Reents: Goldschmiede. 66 Vgl. Weigel: Familienbande, S. 87ff., zur »Wiederentdeckung der Familienbande in der Gegenwartsliteratur«. – Siehe auch das fiktive, parodistische ›Gutachten‹ Dieckmann: Familie. 67 Erstmals offenbar in einer Homestory der Illustrierten Bunte (28.4.1994), deren Schlagzeile lautet: »Die Manns. Eine deutsche Familie. Vier Selbstmörder, ein Nobelpreis, zwei inzestuöse Neigungen, homoerotische Väter und Söhne. Genial und reich. Und so ziemlich das Verzweifeltste, was man sich vorstellen kann« (zitiert nach Leben, S. 55).
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von Vorbildern des Verhaltens und des Lebensstils meint, die im Elternhaus ausgeprägt sind und weitertradiert werden.68 Dieses Erbe hat der Soziologe Pierre Bourdieu, der sich für quasi-aristokratische Eliten wie den von ihm so genannten ›Staatsadel‹ in Frankreich besonders interessierte, als »kulturelles Kapital« bezeichnet, als die Chancen, soziale Anerkennung und soziales Prestige zu gewinnen.69 In der Familie Mann fügt es sich zum vorhandenen ökonomischen Kapital, überschneidet sich mit dem sozialen und dem symbolischen Kapital. Schon im Elternhaus werden Beziehungen, werden soziale Netzwerke geknüpft, schon dort sind Lebensstile vorgeprägt, erfährt man, was zur Bildung und zur Ausbildung des Künstlers hinzugehört, was über zu vermittelndes lebenspraktisches Wissen hinausgeht. In einem solchen, etwas strengeren Sinn wäre die Geschichte der Familie Mann noch zu schreiben. Wenngleich bis heute Elitenbildung auch auf der Basis dieses familialen kulturellen Kapitals, also auf genealogischer, habitueller Grundlage, erfolgt,70 so steht doch die Jahreszahl 1918 für die Diskreditierung der Erblichkeit von Rang als selbstverständliches Element der Elitenbildung. Die Geschichte der Familie Mann wäre eliten- und familiensoziologisch als Probe aufs Exempel der (in Thomas Manns fiktionalen Texten immer wieder bestrittenen!) QuasiVererblichkeit von Genie und Talent (und: Beziehungen und was sonst noch dazugehört) zu lesen, eine Geschichte vom Erfolg, von der Konkurrenz und auch vom Scheitern. Nach einer Lesart haben bis auf den Nobelpreisträger selbst alle Mitglieder gleichermaßen als Verlierer zu gelten, am meisten noch der verlorene Sohn Klaus Mann, den der Vater im Tagebuch noch wegen seines Selbstmordes tadelt, dessen Schriftstellertum er nie wirklich anerkannt hatte. Eine kaum verhohlene Anspielung auf das eigene Verhältnis zu Klaus ist es, wenn in Lotte in Weimar Goethe über den Sohn August abwertend sagt, dieser sei nur ein »Nachspiel« der Natur.71 Dahinter steckt nicht nur die spannende Frage nach der Vererbbarkeit nichtmaterieller Güter, sondern auch die, wiederum von der Adelskultur herrührende, nach dem Zusammenhalt des Erbes der Familie überhaupt: Wer tritt das Erbe der Familie an, wer hält es zusammen; wie nutzt er die vererbten Güter, wie tauscht er sie gegen derzeit nützliche aus? Schließlich: inwiefern wird überhaupt ein einzelner tätig, inwiefern ist die Familie kollektiv um ihren Selbsterhalt bemüht? Ist demnach also die Familie Mann längst am Ende, da sie schon in der Enkelgeneration mit Frido Mann auf der reduktiven Stufe eines gewöhnlichen Professors und Gele_____________ 68 69 70 71
Vgl. Reinhardt: Einleitung, S. 20f. Bourdieu: Staatsadel, S. 25. Vgl. die Arbeiten des Soziologen Michael Hartmann. »Mein Sohn, Frucht lockeren Behelfs, mißbilligt libertinischer Bettgenossenschaft, – er ist ein Drüberhinaus, ein Nachspiel, weiß ich das nicht?« (GKFA 9/1, S. 323).
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genheits-Romanciers angekommen ist? Alternativ etabliert Heinrich Breloers Film Die Manns eine symbolische Vater-Kind-Beziehung zwischen dem Thomas Mann des Films und dem Zuschauer, in dem sich das Auge der Kamera identifikatorisch in die Perspektive der gealterten Elisabeth Mann-Borgese begibt und zusammen mit ihr Erinnerungsarbeit betreibt. Die durch Thomas Mann vielfach selbst angestoßene Familiengeschichtsschreibung steht im Spannungsfeld zwischen Vererbbarkeit auch künstlerischer und intellektueller Qualitäten und der modernen Einsicht, dass Charisma nicht erblich sei. Die Ausnahmestellung des Patriarchen lässt sich eben doch nicht anfechten; ohne Thomas keine Familie, das ist die oft unausgesprochene Kehrseite des Familienbooms. Ohnehin ist das familiale Paradigma aus der Sicht des sozialen Aufsteigers Thomas Mann noch am interessantesten; und dies entspricht der eigenen Sichtweise, indem er sich selbst als einmaliges ›Mischprodukt‹ aus nordischer Nüchternheit und südlichem Kunstverstand empfand, als Kreuzungspunkt der Einflüsse seiner Vorfahren. Ist also die Familie, ist die Abstammung der entscheidende Faktor, der zumindest die absolute Ausnahmestellung eines Künstlers erklärbar macht und vielleicht auch noch die gemäßigte Ausnahmestellung einiger weiterer Familienmitglieder im Schlepptau? In der Rezeptionsgeschichte wird die Instanz der Familie zur in Generationen diachron verfassten Institution, in der sich kollektive Geschicke mikrokosmisch abbilden. Denn die Versuchung ist in den letzten Jahren zumindest bezüglich der Familie Mann immer größer geworden, einigen wenigen, genealogisch verknüpften Personen Repräsentanz zuzuerkennen. So sieht Reinhardt eine »archetypische Bandbreite von Lebensentwürfen«72 bei Thomas Manns Kindern, als seien hier Möglichkeiten des 20. Jahrhunderts ausgeprägt, doch repräsentativer noch werden die Biographien durch die säkulare Unstetigkeit, die, sei es durch äußere, sei es durch individuelle innere Zwänge bedingt, aus Lebensentwürfen doch recht gewundene Lebenswege macht. Hingegen entdeckt Reinhardt im Interesse an der Familie Mann »den Nerv einer Gegenwart, die in den Mustern von Generationen denkt, das heißt Individualität in Schicksalsgemeinschaften aufgehoben wissen möchte«.73 Diese Familiengeschichte ist als Teil einer deutschen als deutsch-jüdische Geschichte zu lesen, auch sie ist heute nur von der NS-Zeit her zu denken. Alterität und Vertrautheit durchdringen einander, wie in den um 2005 häufig gewordenen Geschichten der Vatersuche generell: Einerseits sind wir, so der Gestus von Heinrich Breloers Film Die Manns ebenso wie _____________ 72 Reinhardt: Manns, S. 97. 73 Ebd., S. 95.
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derjenige von Wibke Bruhns’ Bestseller Meines Vaters Land, alle Kinder von Vätern, andererseits ist keine familiale Instanz so rätselhaft (und so notorisch abwesend) wie der Vater. Der Vater als deus absconditus muss nun nicht nur befragt und verstanden werden; er wird dann auch gerichtet und verurteilt oder, wie in Bruhns’ Buch, letztendlich freigesprochen, jenseits der Täter-Opfer-Schemata. Bruhns’ norddeutsche Familiengeschichte kommt übrigens kaum 20 Seiten lang ohne den Vergleich mit Buddenbrooks aus.74 Allemal geht es, das sieht auch Marcel Reich-Ranicki so75, um das Heimholen eines lange Verpönten, zur Abwechslung also nicht um einen verlorenen Sohn, sondern um den verlorenen Vater, den lange vermissten Patriarchen, auch den hinter seiner Maske und hinter seinen Fiktionen verborgenen Zauberer und Repräsentanten. Indem sich offenbar zahlreiche Leser heute darum bemühen, die Wahrheit hinter Thomas Mann und seiner Familie zu finden, machen sie sie zur eigenen Familie und wird die Familiensuche zur Selbstsuche und schließlich zur Suche nach dem Vater-Land. Doch ist die Familie Mann, die die Leser heute entdecken, nicht eindeutig eine Opfer-Familie, bedroht nach 1933 durch Ausbürgerung und durch die Nürnberger Rassegesetze? In der Tat dürfte die Attraktivität dieser Familie auch darin liegen, dass sie, wie Breloer behauptet, eher dem Guten als dem Bösen zuzurechnen ist. Er vereinseitigt aber massiv, wenn er feststellt: »Durch diese Familie sind alle deutschen Geschichten hindurch gegangen. Thomas Mann ist der moralische Gegenspieler Hitlers gewesen, der weiße Magier, der die Deutschen mit Gesittung versehen wollte. Der böse und der gute Zauberer – das ist nicht besser zu haben«.76 Hier sind also die beiden dämonischen Varianten Deutschlands, die in der Gegenwart, erstmals seit sechzig Jahren, wiederum attraktiv zu werden beginnen. Doch wer Thomas Mann genauer gelesen hat, wer den gewagten Vergleich mit dem Bruder Hitler verstanden hat, wer seine Abgründe an Kriegsbegeisterung und Nationalismus kennt und wer, wie in den letzten Jahren parallel zum Boom der Familie ermittelt, antisemitische Stereotype in seinem Werk wahrnimmt,77 der wird daran zweifeln und vermuten, dass gerade die Untauglichkeit zum strahlenden Helden das gegenwärtige Interesse mit hervorruft. _____________ 74 Vgl. Bruhns: Land, S. 26. Zu denken wäre auch an Uwe Timms Buch der Erinnerung an den Bruder oder Ute Scheubs Vatersuche. 75 Reich-Ranicki: Ereignis, S. 43. 76 Heinrich Breloer, zitiert nach Görl: Haus. 77 Vgl. zunächst Thiede: Stereotypen, daneben Darmaun: Juden, Elsaghe: Nation, sowie den Sammelband von Dierks / Wimmer: Mann und das Judentum.
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Dieses Interesse an Thomas Mann und auch an den genealogischen Kontexten folgt äußerlich dem Anlass der Tagebuchedition. Es folgt aber auch einem mehrfach sich wandelnden Selbstverständnis der deutschen Leser. Thomas Mann erwies und erweist sich als tauglich für eine seit 1989 erneuerte Suche nach Deutschland. Einer solchen Suche entsprangen gewiss nicht nur die Biographien, die über Mann bald nach 1989 erschienen, auch die literaturwissenschaftliche Forschung ließ sich davon anregen.78 Näher an der Gegenwart als Goethe, ist Thomas Mann ein Autor, der in seinem gelebten und erschriebenen, dann auch im Werk hinterfragten Anspruch auf eine Repräsentanz Deutschlands heute noch ernst genommen werden kann. Er, der letzte gesamtdeutsche Dichterfürst, musste geradezu zusammen mit seiner Familie im wiedervereinigten Deutschland zum Erinnerungsort79 eines Leidens an Deutschland, einer schmerzlichen Identifikation mit der deutschen Kultur werden. Mehr als der indifferente Goethe, mehr als der jüdische Deutsche Heine bietet Thomas Mann in den zahlreichen verschrifteten Akten der Selbstdarstellung nicht nur ein breites Spektrum an Rollen des repräsentativen deutschen Autors, er offeriert auch die passende familiale Konfiguration, die es erlaubt, nicht vom Individuum auf das Kollektiv, nämlich Deutschland, schließen zu dürfen, sondern vom Kollektiv der Familie auf das Kollektiv der Nation. Mindestens drei heikle Themen der politischen Gegenwart sind dabei angesprochen, drei alte Normierungen des Thomas-Mann-Bildes werden heute relativiert: Der Thomas Mann der Nachkriegszeit musste Demokrat sein, er musste (unausgesprochen) heterosexuell und ein guter Familienvater sein, er musste sowohl ein guter Deutscher als auch Philosemit sein.80 Dies alles steht heute in Frage; der Beliebtheit Manns ist das aber nicht abträglich, eher im Gegenteil: Thomas Mann darf heute wieder der unpolitische Dichter sein – und ist dennoch ein Politikum, er darf ein Repräsentant des Verlustes sexueller Normierungen sein, er darf in seinem ›Leiden an Deutschland‹ eine eher prekäre nationale Identität an den Tag legen und es dürfen in seinem Werk (aber auch in den Tagebüchern) antisemitische Stereotype dechiffriert werden, ohne dass Mann zur Unperson wird. Die Unsicherheiten von Biographie und Persönlichkeit, das NichtVorbildliche wird deutlicher denn je beim Namen genannt – und dennoch oder gerade deshalb hat der Mann-Darsteller Armin Mueller-Stahl Recht behalten, als er schon ein Jahr vor der Ausstrahlung von Heinrich Breloers _____________ 78 Vgl. Bollenbeck: Politik. 79 Vgl. Lühe: Familie. 80 Vgl. Heftrich: Bergwerk, S. 11.
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Film Die Manns prophezeite: »Wir werden Breloer eine Thomas-MannRenaissance verdanken«.81 Literaturverzeichnis Mann, Thomas: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 9. Lotte in Weimar. Text u. Kommentar. Hg. von Werner Frizen. Frankfurt/M. 2003. Mann, Thomas: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde. In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. VI. Frankfurt/M. 1990. Mann, Thomas: Die Entstehung des Doktor Faustus. Roman eines Romans. In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. XI. Frankfurt/M. 1990, S. 145–301. Mann, Thomas: Reden und Aufsätze 3. In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. XI. Frankfurt/M. 1990. Mann, Thomas: Tischrede bei der Feier des fünfzigsten Geburtstags. In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden. Bd. XI. Frankfurt/M. 1990, S. 365–368. Mann, Thomas: [On Myself]. In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. XIII. Frankfurt/M. 1990, S. 127–169. Mann, Thomas: Bilse und ich. In: T. M.: Essays [E]. Bd. I. Frühlingssturm 1893–1918. Hg. von Hermann Kurzke / Stephan Stachorski. Frankfurt/M. 1993, S. 36–50. Mann, Thomas: Im Spiegel. In: T. M.: Essays [E]. Bd. I. Frühlingssturm 1893–1918. Hg. von Hermann Kurzke / Stephan Stachorski. Frankfurt/M. 1993, S. 98–101. Mann, Thomas: Der Künstler und der Literat. In: T. M.: Essays [E]. Bd. I. Frühlingssturm 1893–1918. Hg. von Hermann Kurzke / Stephan Stachorski. Frankfurt/M. 1993, S. 158–165. Mann, Thomas: Versuch über das Theater. In: T. M.: Essays [E]. Bd. I. Frühlingssturm 1893–1918. Hg. von Hermann Kurzke / Stephan Stachorski. Frankfurt/M. 1993, S. 53–93. Mann, Thomas: Meerfahrt mit Don Quijote. In: T. M.: Essays [E]. Bd. IV. Achtung Europa! 1933-1938. Hg. von Hermann Kurzke / Stephan Stachorski. Frankfurt/M. 1995, S. 90–139. Mann, Thomas: Ein Brief von Thomas Mann [An Eduard Korrodi]. In: T. M.: Essays [E]. Bd. IV. Achtung Europa! 1933-1938. Hg. von Hermann Kurzke / Stephan Stachorski. Frankfurt/M. 1995, S. 169–174 und S. 385–390. Mann, Thomas: Tagebuchblätter. In: T. M.: Essays [E]. Bd. IV. Achtung Europa! 1933– 1938. Hg. von Hermann Kurzke / Stephan Stachorski. Frankfurt/M. 1995, S. 439–446. Mann, Thomas: Frage und Antwort. Interviews mit Thomas Mann 1909–1955 [Interviews]. Hg. von Volkmar Hansen / Gert Heine. Hamburg 1983. Mann, Thomas: Briefe an Otto Grautoff 1894–1901 und Ida Boy-Ed 1903–1928. Hg. von Peter de Mendelssohn. Frankfurt/M. 1972. Mann, Thomas / Mann, Heinrich: Briefwechsel 1900–1949. Hg. von Hans Wysling. 2. Aufl., Frankfurt/M. 1995.
_____________ 81 Die Zeit (27.12.2001). Zitiert nach Leben, S. 57.
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LUTZ HAGESTEDT
Sinn für Überholtes Aspekte der Repräsentationssemantik in Thomas Manns ›Deutschlandreden‹
Für Harald Weinrich zum 80. Geburtstag
Dolf Sternberger, der sowohl Studien über Repräsentation (1971) als auch Studien über Thomas Mann publizierte, thematisiert in seiner Essaysammlung Gang zwischen Meistern (1987) den »patriotische[n] Zwiespalt«, den Serenus Zeitblom und mit ihm Thomas Mann in sich austragen müssen – als jene, die den deutschen Sieg »mehr fürchten als die deutsche Niederlage«.1 Sternberger hat Zeitblom ebenso wie Leverkühn als »Projektionen« oder »Selbstbildnisse des Autors« gelesen und gleichermaßen als »Personifikationen Deutschlands«, und sein Buch repräsentiert eine schöne Spannweite derer, die für Deutschland stehen könnten: Thomas Mann und Marlene Dietrich.2 Beide Künstler, international schon früh für ihr Engagement gegen das NS-Regime gewürdigt, fanden nach 1945 geteilte Aufnahme und ein zwiespältiges Echo in ihrer Heimat. Das letzte Wort der Ansprache im Goethejahr des ›Deutschlandredners‹ Thomas Mann lautet »Deutschland«, das letzte Wort seines Romans Doktor Faustus gebetsformelhaft »Vaterland« – und der dies sagt, Serenus Zeitblom, gilt Sternberger als »literarischer Stellvertreter und Statthalter« Thomas Manns.3 So kann Sternberger in Manns Roman eine »unbeirrbare patriotische Loyalität« erkennen und sie mit dessen politischer Publizistik _____________ 1 Sternberger: Deutschland, S. 418f. Der Erstdruck des Vortrags aus dem Jahre 1975 erschien in Bludau, Beatrix / Heftrich, Eckhard / Koopmann, Helmut (Hg.): Thomas Mann 1875– 1975, S. 155–172. 2 Sternberger: Deutschland, S. 422f. – Bei Marlene Dietrich, so Sternberger, »fängt die Kunst an«, liegt »das Geheimnis des Schönen«, Sternberger: Dietrich, S. 447, 449. 3 Vgl. Sternberger: Deutschland, S. 417f.
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korrelieren, in der sich der Autor »gegen die bequeme Besatzungstheorie von den guten und den bösen Deutschen« zur Wehr setze.4 Identifizierung, nicht Distanzierung scheint demnach das Verhältnis Thomas Manns zu den Deutschen zu bestimmen, auch während des Krieges und nach seinem Ende. Und da das deutsche Volk nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg keinen Legitimitätsgrund hat, sich eine Verfassung zu geben und sich Repräsentanten zu wählen, sondern sich der Autorität der Alliierten in die Hände geben muss, spricht er als Amerikaner, »sogar als amtlich Zugehöriger eines amerikanischen Staatsinstituts«,5 um für seine deutschen Landsleute (»ein ehemaliges Vaterland gibt es nicht«6) – nicht als Nation, sondern als künftiger Partner und Teil einer »völkergesellschaftlichen« Welt- und Friedensordnung – Glücks- und »Bewährungsmöglichkeiten« zu fordern.7 Er tut dies vor der Library of Congress in Washington, sich implizit auf jene Spielart von »Liberalismus« und »Aufklärungsgesinnung«8 berufend, die das nationalsozialistische Deutschland als »flach«, schwach und »abgetakelt« verhöhnt hatte – und die nun immerhin den Krieg gewonnen hat. Nun steht der nächste Schritt in die Zukunft an. Mann spricht als Amerikaner zwar vor Amerikanern, doch zugleich »als Deutscher heute«. Und er spricht als Repräsentant – ein »waghalsiges Unternehmen«, da er sich nicht als Instanz nur des ›guten Deutschland‹ empfehlen darf, sondern, »als Deutscher geboren«, selbst auch mit »deutscher Schuld« zu tun hat.9 Als Repräsentant der Zukunft, als »Weltbürger«, gliedert Mann – wie oben schon erwähnt – auch den Deutschen, »von Natur« aus, in diese Definition mit ein.10 Auf diesen zentralen Wert steuert auch die Schiller-Rede von 1955 zu. Mit seinem Versuch über Schiller war Thomas Mann, wie schon sechs Jahre zuvor anlässlich der Feierlichkeiten zum Goethe-Jahr 1949, »hüben wie drüben« aufgetreten und hatte denselben Text verlesen.11 Die SchillerRede ist, wie schon die Goethe-Rede, als politische Reifeprüfung der Nachkriegsdeutschen lesbar; sie ist darüber hinaus ein weiterer Ausschnitt aus einem grenzüberschreitenden Dialog, dem es darum geht, das Ver_____________ 4 5 6 7 8 9 10 11
Sternberger: Deutschland, S. 433. Mann: Deutschland und die Deutschen, S. 177. Mann: Guilt, S. 118. Mann: Deutschland und die Deutschen, S. 177. Sternberger: Deutschland, S. 435. Mann: Deutschland und die Deutschen, S. 163. Ebd., S. 162. Ich beziehe mich auf den gesprochenen Text: Am 8.5.1955 trat Thomas Mann »an das Podium im Großen Haus der Württembergischen Staatstheater« (Koopmann: Wiedergelesen, S. 118) und sprach vor circa 1.400 Gästen, am 14. Mai wiederholte er sie in Weimar. Daneben existiert eine umfangreichere Fassung, die 1955 in Buchform veröffentlicht wurde. Vgl. dazu die Sprechplatte der deutschen Grammophon Gesellschaft von 1956.
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hältnis der Deutschen zu ihrem kulturellen und moralischen Erbe zu bestimmen – und zwar angesichts eines Klassikers, dessen politisch-holistisches Menschheitsbild »ganzen Generationen als verblaßtes Ideal, als überholt, abgeschmackt, veraltet erschienen« ist.12 Dieses Ideal als Gedanken »vitalster Zeitgemäßheit«13 zu propagieren, ist rhetorisch nicht schwer zu bewerkstelligen; heikel bleibt dabei die aktuelle politische Bezugnahme. Wie könnten, wie werden die Deutschen in Ost und West Manns Rede aufnehmen? Dass es zum Eklat kommt, muss er nach den Erfahrungen mit der Goethe-Rede befürchten, dass es nicht dazu kommt, darf er hoffen: Denn die Trennung Deutschlands in zwei deutsche Staaten ist vollzogen, und beide Teilstaaten arbeiten an ihrer Identität, die zwar in Abgrenzung gegen das je andere politische System erfolgt, aber nach Reintegration tradierter Werte strebt – und dazu gehören hier wie dort die Klassiker. Im Übrigen haben beide Nachfolgestaaten des Deutschen Reiches aus den Goethe-Feierlichkeiten gelernt, dass Thomas Mann sich schwerlich vereinnahmen lässt, und beide können auf seine Diplomatie zählen, die Brüskierungen ausschließt. Sie müssen freilich gewärtigen, dass Manns Auftritte in Stuttgart und Weimar politisch interpretiert werden – und dass Schillers Werk genug Anlass bietet, sich politisch zu exponieren. Sie dürfen vermuten, dass auch Thomas Mann dies berücksichtigt, und dieses Vorauswissen, dieses gute Einschätzenkönnen des je anderen, ist es vielleicht, was die ganze Kommunikationssituation 1955 entspannt und sie vergleichsweise berechenbar erscheinen lässt – egal, was der Gast aus der Schweiz sagen wird. Zudem ist das Woraufhin seiner Rede, wenn auch nicht sonnenklar, so doch kalkulierbarer als noch 1949. Manns Festrede ist zunächst Feier und Beschwörung eines Genies, das mit seinem »theatralischen Urtemperament« sowohl hochriskant die »falsche Gesellschaft« herausforderte als auch »das Seltenste: klassische Popularität« erreichte.14 Ein Künstlerbild, das einerseits dominant den gesellschaftlichen Bezug seiner Produktion (und Rezeption) herausstellt, angefangen mit Zensur und Bücherverbrennung. Ein Künstlerbild, bei dem zweitens – als biographisch-legendarische Erzählung – Schillers Produktion durch Widrigkeiten, Schwäche und Leiden hindurch mindestens ebenso als ›moralische Leistung‹ denn als künstlerische zu würdigen sei. Die Rede bietet auch ein Modell der Initiation in die und durch die Kunst, in Einsprengseln aus eigenem Lebensbericht – wie der Redner ein Schiller-Eleve geworden sei durch den Don Karlos im Alter von 15 Jahren, als an dessen Sprachgewalt »erste Sprachbegeisterung« sich »entzündete«; _____________ 12 Mann: Versuch, S. 213. 13 Ebd., S. 214. 14 Ebd., S. 204f., 208.
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durch die Begegnung mit der »revolutionären« Wirkung von Kabale und Liebe vor einem »äußerst bürgerlichen, äußerst rückschlägig-konservativ gestimmten Publikum« im nach Krieg und Räterevolution desorientierten München, schließlich durch die Gestaltung des Heros Schiller im Jahr des 100. Todestages in Manns Novelle Schwere Stunde.15 Entsprechend lässt sich der Rede auch eine Selbstcharakteristik des Autors im Anschluss an Schiller, eine explizite und implizite Poetologie Manns entnehmen. Die Captatio Benevolentiae des Redners (»Wer bin ich, daß ich das Wort führen soll zu seinem Preis«) mündet sofort in die selbstbewusste Zuständigkeit des »Künstlers« Thomas Mann, denn Schillers Geist »war und ist die Apotheose der Kunst«, er formulierte »die Erfahrung jeder artistischen Existenz«.16 Eingangs evoziert Mann, den Anlass des Todestages nutzend, Schillers Begräbnis; die Rede endet mit der Wiedergeburt von Schillers Idee der »Humanität«, deren Vermittlung – beim »Fest seiner Grablegung und Auferstehung« – zur Kommunion stilisiert wird.17 Der erste Gegenstand der Rede, Schillers »Gestalt«, wird zu einer Sache der »vertraulichen Liebe« seines Volks und der »Rührung der Menschheit«.18 Der Referent hingegen baut vermutlich nicht auf die Liebe seines Volks; immerhin – und darauf wird seine Rede hinauslaufen – verkörpert er die kosmopolitische Dimension der Klassik.19 Manns Entscheidung, sich öffentlich von Nazi-Deutschland zu distanzieren, seine Ausbürgerung im Dezember 1936 und sein Scheidebrief vom Januar 1937 an den Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn zur Aberkennung der Ehrendoktorwürde bewirkten, »daß die Stellung des Dichters im Exil mit einem Schlag eine repräsentative wurde«, natürlich in einem symbolischen Sinn.20 Ludwig Marcuse sprach vom »Kaiser aller deutschen Emigranten«;21 der marxistische Literaturkritiker Ernst Ottwalt, Mitarbeiter der Neuen Deutschen Blätter, der Die Geschichten Jaakobs (den ersten Band der Josephs-Tetralogie) 1933 noch als wirklichkeitsfremd verrissen hatte, reklamierte 1936, trotz ideologischer Divergenzen, den Dichter für das übergeordnete gemeinsame Anliegen des Antifaschismus: »Der Mann, der nicht nur in weiten Teilen der Welt als _____________ 15 16 17 18 19
Ebd., S. 207. Ebd., S. 202f. Ebd., S. 215. Ebd., S. 202. Gunilla Bergsten hat darauf hingewiesen, dass für Mann die »repräsentativen« Deutschen, allen voran Goethe und Nietzsche, das Merkmal des Kosmopolitismus tragen, mit dem er auch seine Figur Adrian Leverkühn ausgestattet hat. Vgl. Bergsten: Doktor Faustus, S. 205. 20 Goll: Die Deutschen, S. 265. 21 Zit. nach Goll: Die Deutschen, S. 265. Goll wiederum zitiert nach Hübinger: Mann, S. 250.
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einer der reinsten Repräsentanten deutschen Geistes gilt, steht uns als Charakter und Dichter zu hoch, als daß wir in lahmer Courtoisie etwa bestehende Meinungsverschiedenheiten durch Stillschweigen aus der Welt lügen wollten«.22 Gegen den ›Ungeist‹ des Nationalsozialismus ließen sich freilich viele als Repräsentanten des »deutschen Geistes« etikettieren; die Konkurrenz der Kriterien bleibt dabei (implizit) problematisch. Und selbst dann stellt sich, unter anderer Konstellation, die Frage nach der Stellvertretung. Wenn Thomas Mann in der Wir-Form formuliert, ist spätestens an diesem Punkt, der Thematisierung des Sozialen und Politischen, die Frage unausweichlich, für welche – und wie charakterisierte – Gruppe er spricht. So verordnet er, der Nicht-Repräsentant des einen wie des anderen deutschen Staates, als Diagnostiker, dem kränkelnden »Organismus unserer Gesellschaft« das »unentbehrliche« Vitamin Schiller.23 Welche der konkurrierenden Gesellschaftsformen damit charakterisiert sein könnte, etwa die der Deutschen Demokratischen Republik oder die der Bundesrepublik Deutschland (beide Gastgeber des Gastredners), die der eidgenössischen Demokratie (wo Thomas Mann inzwischen residiert) oder die der transatlantischen, antikommunistischen Wertegemeinschaft mit den USA beziehungsweise das spezifische System dieser Union (deren Staatsangehörigkeit Mann angenommen hat), bleibt zunächst Nullposition. Stattdessen wird die Antwort durch implizite wie explizit gemachte Neutralisierung von Gegensätzen und Unterschieden auf den einen gemeinsamen Nenner verschoben. Denn Manns Rezept gilt »jedem Leidenden«, so aktualisiert und universalisiert er Schillers Botschaft: Gegen »das beschränkte Interesse der Gegenwart«, das die Menschen »unterjoche«, richte sich Schillers Programm (der Horen) auf »ein allgemeines und höheres Interesse an dem, was rein menschlich [sic] und über alle Zeiten erhaben ist«.24 In Übertragung von Schillers Ideal gilt also in Manns Gegenwart, dass es weiterhin Aufgabe bleibe, die Menschen »wieder in Freiheit zu setzen und die politisch geteilte Welt unter der Fahne der Wahrheit und Schönheit wieder zu vereinigen«.25 Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus und in Zeiten des Kalten Krieges herrscht also Unfreiheit. Wo? Überall? Und auch wenn Mann keine Staatsflaggen schwenkt, wird ein problematischer Begriff eingespielt: Wiedervereinigung. Mann verzichtet zunächst auf das Adjektiv ›deutsch‹, wenn er die »Arbeit am Geist der Nation« als Aufgabe im Geiste _____________ 22 Vgl. Goll: Die Deutschen, S. 250. Ernst Ottwalds Beitrag, ebd. (S. 266) zitiert, erschien zuerst in ›Internationale Literatur – Deutsche Blätter‹, 7, 5 (1936). 23 Mann: Versuch, S. 212 (Hervorh. L. H.). 24 Ebd. 25 Ebd., S. 212f.
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Schillers definiert: Sie soll bewirken »zu gewahren, daß andere, unter verschiedenen historischen Voraussetzungen, einem anderen sozialen Regiment Lebende, auch Menschen sind«.26 Denn es ist eine universelle Werte vermittelnde »Arbeit am Geist der Menschheit, der man Anstand und Ordnung, Gerechtigkeit und Friede wünscht«, statt – aktuell zu konstatierender? – »gegenseitiger Anschwärzung, verwilderter Lüge und speiendem Haß«.27 Mann stellt sich so wiederum über Staaten und Parteien, beruft sich auf eine höhere beziehungsweise tiefenstrukturelle Einheit. Nach der »Regression des Menschlichen« in den letzten fünfzig Jahren droht der dritte Weltkrieg, mit kosmischen Strategien und atomaren »Vernichtungswaffen«.28 Schillers Ideal sei nur scheinbar verblasst, vielmehr »die Epoche des Nationalismus« nun am Ende.29 Umso eindringlicher muss der Mahner das letzte Register ziehen: Denn einerseits hat der Freiheitsideologe Schiller nun gesiegt, andererseits muss mit ihm erst in den entscheidenden Kampf gezogen werden. Sein Gedanke erweise sich für die Gegenwart nicht nur als von brennendster Aktualität, sondern vielmehr von »Notwendigkeit auf Leben und Tod«.30 So agiert der politische Redner und Künstler als Repräsentant zusätzlich und zuletzt in einer ebenso traditionellen wie prekären Rolle: als Prophet. Weltdeutschtum und Weltbürgertum Von der »feindseligen Voreingenommenheit« im Westen gegen Mann berichtet 1949 Ernst Penzoldt in seiner (virtuellen) Reise mit Thomas Mann, einer Reise mit »seinem Schatten – oder Zerrbild«, das Penzoldt in Entgegnungen zurechtzurücken sucht.31 Und der Göttinger Student Hans_____________ 26 27 28 29 30 31
Ebd., S. 213. Ebd. Ebd., S. 214. Ebd. Ebd. Penzoldt: Reise, S. 352f., 351. Penzoldts (fiktive) Reise mit Thomas Mann erschien zuerst 1949 in den Deutschen Beiträgen und reflektiert die »verschiedenen Vorbehalte« (Goll: Die Deutschen, S. 324) gegen Mann im Westen. Wie Thomas Goll ausführt, gab es diese Vorbehalte im konservativen Lager schon länger, während die freiheitlichen Kräfte ihn zeitweilig neben Gerhart Hauptmann stellten: »Insgesamt galt der Dichter jedoch an seinem 50. Geburtstag bei den Liberalen […] als der repräsentative Schriftsteller der Nation.« (Goll: Die Deutschen, S. 389). Noch im Oktober 1945 wird in der Neuen Zeit (Ost-Berlin) bedauernd »Abschied von Thomas Mann« genommen: Er sei unter den Emigranten »unstreitig die bedeutendste Gestalt und [die] vor allem für das geistige Deutschland repräsentativste Figur«. (Vgl. Anonymus: Abschied von Thomas Mann. In: Neue Zeit (12.10.1945). Zitiert nach Goll: Die Deutschen, S. 280).
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Geert Falkenberg macht Thomas Mann klar, dass »von einem ›jubelnden Empfang‹ in Deutschland nicht die Rede sein könne […]. Die öffentliche Meinung in Deutschland sei fast nur von seinen kritischen Äußerungen unterrichtet«.32 Während die einen die Deutschlandreise des Dichters als Brückenschlag werten und Aussöhnung mit dem je anderen Deutschland fordern, verlangen die anderen, die SBZ zu meiden oder dort die politischen Zustände anzuprangern.33 1949, im Goethe-Jahr, macht der Dichter erstmals von einem symbolträchtigen Auftrittsprogramm Gebrauch – er hält seine Goethe-»Ansprache« erst in der Frankfurter Paulskirche und kurz darauf im Weimarer Nationaltheater. Noch vor der Gründung der beiden deutschen Staaten spricht er in beiden Teilen des Landes im exakt gleichen Wortlaut über Emigration und Rückkehr in dieses Deutschland, das sich nicht ohne Vorbehalt und Widerstand zu ihm bekennen mag: »Auf die Frage, ob er sich in Deutschland bedroht fühle, und die Leibwache von vier Kriminalbeamten nötig habe, erklärte der Dichter, die Leute, die mit seiner Existenz nicht einverstanden seien, würden wohl nicht gerade Bomben werfen«.34 Sechs Jahre später, die Staatsgründungen von DDR und BRD sind vollzogen, trägt er seinen Versuch über Schiller vor, abermals zweimal hintereinander – in Stuttgart und Weimar. Beide Ansprachen werden auch als ›Selbstaussage‹ gelesen, der Versuch von 1955 sogar als ›geistiges Vermächtnis‹. Hans Mayer, ein Augenzeuge und Beteiligter 1949 wie 1955, in Frankfurt wie Stuttgart wie Weimar, spricht von einer »symbolischen Reise« und erwähnt die »genaue[n] Vorstellungen vom Protokoll« – bei der Familie Mann ebenso wie bei den westlichen und östlichen Organisatoren der Feierlichkeiten. Ein »nationales Fest«, so Mayer polemisch, sei es jedoch weder 1949 noch 1955 gewesen – und weder hüben noch drüben. Nur in Weimar hätte man »Freude über diesen ungewöhnlichen Besucher« empfunden: »Hier wurde Thomas Manns Wunsch ernstgenommen und erfüllt: als ›Repräsentant‹ verstanden zu werden«.35 Mayers Formulierung steht in der Einleitung der erweiterten Neuausgabe seines Thomas-Mann-Buches von 1950 und wurde 1980 publiziert. Aus heutiger Sicht wirkt sie vielleicht etwas angestaubt, so als spräche hier einer pro domo für die sozialistische DDR, die ihm Arbeitgeber und ideologische Heimat ist. Mayer hatte seine Professur für Literaturwissenschaft in Leipzig aber schon 1963 aufgegeben und war in den Westen gegangen. Was also kann er meinen – wen _____________ 32 Falkenberg: Gespräch, S. 284. Falkenbergs Feuilleton erschien zuerst in der Göttinger Universitäts-Zeitung (24.10.1947) und wird hier zitiert nach Interviews, S. 283–286. 33 Vgl. Goll: Die Deutschen, S. 324f.; Interviews, S. 308f. 34 Mayer: Mann (1980), S. 15. 35 Ebd., S. 14, 16f.
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oder was hätte Mann damals repräsentieren können? In seiner GoetheRede von 1949 bringt Mann in Frankfurt und Weimar den Zusatz: Ich kenne keine Zonen. Mein Bekenntnis gilt Deutschland selbst, Deutschland als Ganzem, und keinem Besatzungsgebiet. Wer sollte die Einheit Deutschlands gewährleisten und darstellen, wenn nicht ein unabhängiger Schriftsteller, dessen wahre Heimat die freie, von Besatzungen unberührte Sprache ist.36
Im Interview mit der Tageszeitung Die Welt ersetzt er die Zwillingsformel »gewährleisten und darstellen« durch »gewährleisten und repräsentieren« (Interviews, S. 308)37, und damit tritt er an die Seite Goethes, den er knapp zuvor gewürdigt hat: Er sei der »letzte Repräsentant und geistige Gebieter Europas« (GW XI, S. 765). »Die repräsentative Figur des ›Praeceptor Germaniae‹ eignete sich hervorragend als Objekt von Projektionen unterschiedlichster Art«.38 Der Begriff der Repräsentation kennt drei Grundbedeutungen: »für andere bindend sprechen zu können«, »etwas nicht Anwesendes vertreten zu können« und »etwas Nichtsichtbares darstellen zu können«.39 Er setzt freilich das Vertrauen in »das Bestehen einer Verbundenheit zwischen dem Repräsentanten und dem oder den Repräsentierten« voraus, »kraft derer die Imputatio für möglich gehalten« wird.40 Diesen Glauben in seine Vertretungswirkung jedoch kann Thomas Mann – zumal als amerikanischer Staatsbürger und ›Exilant‹ – kaum allgemein voraussetzen. Andere Mächte haben das Mandat, ›Deutschland als Ganzes‹ zu repräsentieren, doch ist das Land inzwischen zerschlagen, und was vom ›Dritten Reich‹ übrig blieb, geht in einer Zweistaatenlösung auf. Eigentlich die ideale Voraussetzung, um zwei der drei Bedeutungen von Repräsentation – etwas nicht Anwesendes vertreten und etwas Nichtsichtbares darstellen – anschaulich demonstrieren zu können. Thomas Manns Sinn für Überholtes ist kein außergewöhnlicher Anachronismus. Denn wenn es dem Dichterberuf zukommen sollte, Deutschland und die Deutschen zu repräsentieren, dann war es oft genug so gewesen: Die Schillerfeiern zum 100. Geburtstag des Dichters lagen weit vor der Reichsgründung, die Goethefeiern zum 100. Todestag fielen in die Auflösungsphase der Weimarer Republik, in eine Epoche von Anarchie und Straßenkampf, und wenn es in solchen Fällen gelingen sollte, Goethe und Schiller als nationale Repräsentanten zu denken und zu feiern, dann, weil man sie – trotz der noch nicht vollzogenen oder wieder verlorenen nationalen Einheit, und ungeachtet des nur gedanklich existierenden _____________ 36 37 38 39 40
Vgl. Bürgin / Mayer: Mann, S. 220. Zit. nach Hermand / Lange: Mann, S. 46. Mann: »Ich bin optimistisch« (Erstdruck in: Die Welt [30.7.1959]). Wagner: Briefe, S. 286. Luhmann: Politik, S. 329. Wolff: Repräsentation, S. 141.
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deutschen Volks oder entgegen der fehlenden staatlichen Ordnung – für die imaginierte staatliche Einheit, die kommende Nation, die erträumte Ordnung als Berufungsgrößen vereinnahmte. Wodurch der Anspruch auf Repräsentanz bestreitbar wurde oder blieb. Die vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges hatten die Partialinteressen ihres Landes und ihrer Ordnung – der westlichen, der östlichen – im Sinn, nicht die deutsche Einheit, und auch die beiden deutschen Regierungen, die sich anschickten, souveräne Staatsregierungen zu werden, verstanden ihren Regierungsauftrag pragmatisch: Die Väter des Grundgesetzes hielten an der deutschen Einheit fest und postulierten sie in der Präambel als relevante ideologische Kontinuität, während die Regierung Adenauer Tatsachen (Stichwort ›Westintegration‹) schuf, die das Ziel einer deutschen Einheit in weite Ferne rücken ließen. Die Deutschlandpolitik der SED hingegen orientierte sich am politischen Kurs der Sowjetunion und wurde seit Gründung des Warschauer Paktes eng mit den Interessen der Bündnispartner abgestimmt. In diese Vakanz nationaler Repräsentanz nun stieß 1949 und 1955 Thomas Mann und trat für etwas ein, das in den Augen vieler seine Existenzberechtigung verspielt hatte: die deutsche Nation, deren Revalorisierung auf Jahre und Jahrzehnte hinaus weder passend noch möglich schien.41 Doch in »ruhiger Bereitwilligkeit« nahmen Manns amerikanische Hörer und seine deutschen Leser auf, in welcher Weise Mann für sein Deutschtum warb: das »böse« Deutschland als »das fehlgegangene gute, das gute im Unglück, in Schuld und Untergang« deklarierend.42 Die »Geschichte der deutschen ›Innerlichkeit‹«, die Mann hier erläutert, zeige nur die Kehrseite – den Provinzialismus, die völkisch-antieuropäische deutsche Freiheitsidee, die »Teufelsverschreibung« – der Medaille, auf der Mann auch Goethes »Weltdeutschtum« und seine eigene kosmopolitische »Art von Deutschtum« eingraviert.43 Eine als »Selbstprüfung« deklarierte, völkerverbindende Definition und waghalsige Solidaritätserklärung: »Als Amerikaner bin ich Weltbürger, – was von Natur der Deutsche ist«.44 Mann definiert sich also prinzipiell als Weltbürger, der Freiheit und Gleichheit auszutarieren, also West und Ost zu vereinen sucht; und der im _____________ 41 Die Nation und ihre Patrioten hatten ihre Würde verloren, die Germanen als Repräsentanten ursprünglichen Deutschtums hatten sich als Barbaren erwiesen. Vgl. Titzmann: Konzept, S. 120. 42 Mann: Deutschland und die Deutschen, S. 176. Die Formulierung wiederholt Mann im offenen Brief an Walter von Molo, »Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe« (September 1948), vgl. Mann: Warum, S. 960. 43 Mann: Rundfunkbotschaft, S. 7. Der Autor bekunde hier, so Gerhard Kurz, »die unzerreißbaren Bande, die ihn mit dem Land verknüpfen, das ihn ausbürgerte«, Kurz: Emigration, S. 223. 44 Mann: Deutschland und die Deutschen, S. 162, 165, 170, 163.
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Deutschen die entsprechende Anlage auch natur- respektive kulturgegeben sieht. Dass hier jetzt einer aufsteht, Vorschläge für ein künftiges Deutschland zu unterbreiten, als könne er für es einstehen, klingt ungewohnt, denn gegen eine Repräsentation Deutschlands, mehr noch des Deutschen (als der übergeordneten Berufungsgröße) oder der Deutschen durch Mann spricht vieles, nicht zuletzt, dass dieser nicht volkstümlich ist und es nie war, kein deutscher Staatsbürger mehr ist und auch keinen nationalen Auftrag vorweisen kann. Immerhin hat Walter von Molo ihn um Rückkehr »zu Rat und Tat« gebeten, und das russische Berliner Radio bittet ihn gar, »ein historisches Werk zu leisten«.45 Denn selbst wenn Mann keine offizielle Mission zu übernehmen gedenkt, insofern er ›Partizipation‹ am Deutschen für sich ausschließt, so hat er doch Teil an der sogenannten ›Kulturnation‹. Wie anders hat Thomas Mann zwanzig Jahre zuvor gesprochen, wenn auch nicht öffentlich, als er – ab 1935 etwa – von seinem Verleger forderte, er möge einen Schnitt vollziehen und »außer Landes gehen«.46 Die Propaganda gegen sein Werk und seine Person hat auch ihn mürbe gemacht: »Mein Ekel ist so groß, daß mein Wunsch nun doch endlich alle Beziehungen zu diesem Lande zu lösen, sich mehr und mehr durchsetzt«.47 Von dem Lande sich lösen, hieß aber nicht, sich von seiner Kultur zu lösen – oder von der Vorstellung, dass es nicht doch Deutsche und ein Deutschtum gäbe, an die oder das man sich weiter halten und künftig appellieren könne. Ja, exemplarisch übernimmt er für sich selbst sogar die Position »deutscher Selbstkritik« – »kerndeutsch« nennt er diese Traditionslinie48 – und natürlich äußert er sich in Exil-Veröffentlichungen zum deutschen Volk, zu Deutschland, zum anti-demokratischen deutschen Geist und zum nationalsozialistischen Staats-System, hochinteressant etwa in Germany’s Guilt and Mission 1941.49 Identifikationsfigur und Integrationsfigur Manns Programm für Deutschlands Zukunft ordnet sich ein in den Rahmen seines – in den 1940er Jahren propagierten – Projekts einer »Welt-
_____________ 45 Molo: Streitgespräch, S. 2. Sowie Goll: Die Deutschen, S. 178. 46 Zit. nach Mayer: Mann [1980], S. 465. »Es ist zu hoffen und zu erwarten, daß auch mit Bermann bald Schluß sein wird […]« (Tb. 1935–1936, S. 63 [23.3.1935]). 47 Ebd. 48 Mann: Deutschland und die Deutschen, S. 177. 49 Auf Deutsch erschienen 1949 in Ost und West.
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Zivilisation«.50 Ziel dieser Reform ist der »über die bürgerliche Demokratie hinausgehende soziale Humanismus«; es gälte, »das Völker- und Staatenleben in einen Sozialismus überzuführen, der die Rechte des Individuums, den Wert des Ungleichen zu ehren weiß«.51 Dabei bräuchten die »Nationalkulturen, denen der liberale Humanismus so viel Liebe zuwandte«, in der neuen, größeren Einheit nicht unterzugehen.52 Das Kesseltreiben der Westmedien gegen Thomas Manns Besuch in Weimar 1949 wiederholt sich 1955 nicht, Störfeuer bleiben die Ausnahme, sachlich berichten die Zeitungen oder begrüßen den Besuch sogar, weil dadurch vermieden worden sei, dass ein Repräsentant der DDR, nämlich Johannes R. Becher, den Hauptakzent bekommen habe.53 Die Frankfurter Allgemeine hebt hervor: Daß er hüben wie drüben wörtlich das gleiche sagte, ohne es zu betonen oder überhaupt mit einem einzigen Wort darauf zu sprechen zu kommen, nahm seinem Auftreten jeden demonstrativen und bekennerischen Charakter. Es wäre in Deutschland niemand gewesen, der nur durch seine Persönlichkeit soviel an bindender Kraft besessen hätte.54
Zweifel, ob Thomas Mann zur »repräsentativen Würdigung« Schillers legitimiert sei, sind verschwunden oder werden nicht laut.55 Doch sieht sich, wie bereits erwähnt, der Redner selbst genötigt, sich eingangs seiner Festansprache zu Ehren Schillers zu legitimieren: Wer bin ich, daß ich das Wort führen soll zu einem Preis, vor meinen Augen die Gebirge kundiger Erörterungen seines Lebens und Bildens, welche in anderthalb Jahrhunderten die gelehrte Forschung aufgetürmt hat? Es ist wahr: ganz scheu und verlegen, ganz unwürdig, sich solchem Geist festlich zu gesellen, darf kein Künstler sich fühlen, denn dieser Geist war und ist die Apotheose der Kunst.56
Indem sich Mann aber auf seine Legitimation hin befragt, gibt er zu erkennen, dass er um das mittelalterliche »Zwillingsproblem der Repräsentation und der Legitimation« weiß, das sich einst nur kosmologisch, also mit Rekurs auf das Prinzip der Emanation lösen ließ, unter den Bedingungen der Moderne aber unlösbar ist, weil moderne Gesellschaften mit Setzungen arbeiten, die sie dann institutionalisieren – um sich Letzt_____________ 50 Etwa im Vorwort für die deutschsprachige Lagerzeitung in Papagos-Park vom Dezember 1945, in Buchform 1949 in Kantorowicz’ Anthologie: Suchende Jugend. 51 Mann: Deutschland und die Deutschen, S. 177. 52 Mann: Welt-Zivilisation, S. 297. 53 Vgl. Goll: Die Deutschen, S. 364f., sowie Tb. 1953–55, S. 759. 54 Wagner, Friedrich A.: »Diese vom Genie geadelte Stadt«. Die Feierlichkeiten des Deutschen Schiller-Komitees mit Thomas Mann. In: Frankfurter Allgemeine, 18.5.1955. Zit. nach Goll: Die Deutschen, S. 366. 55 Strenger, Hermann: Dauernder Nachklang. Zu Thomas Manns »Versuch über Schiller«. In: Stuttgarter Zeitung, 25.6.1955. Zit. nach Goll: Die Deutschen, S. 366. 56 Mann: Versuch, S. 202.
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begründungen zu ersparen.57 Demnach wäre jeder Künstler legitimiert über Schiller zu sprechen, dessen Kunst Apotheose ist, weil künstlerisches Sprechen über Schiller intensionsgleich ist mit Verherrlichung, Vergöttlichung. Dies ist zweifellos ein anderer Zugang als der der Wissenschaft, ein kindlicher[er] und naiver, nur dass diese »Einfalt« von »geadelter« Natur ist, hindurchgegangen durch die »Mühsal der Spekulation«.58 Auch darin fühlt sich Mann durch Schiller legitimiert, der einst »Theorie und Kritik«59 hinter sich ließ. Thomas Mann muss sich diese ›zweite Unschuld‹ erarbeiten, indem er Schiller würdigt, als hätte es noch niemand vor ihm getan, und indem er seine Rolle findet, als hätte es die Goethe-Querelen von 1949 nicht gegeben. Repräsentanz im erwähnten Sinne produziert notwendigerweise einen Problemaufriss oder ein Spannungsverhältnis von »Selbstverleugnung« (GKFA 15/2, S. 261)60 und Selbsterhöhung. Selbstverleugnung, insofern die eigene Person als Richtschnur des Absoluten nicht in Frage kommt, Selbsterhöhung, insofern man den Glanz, der auf einen Klassiker fällt, auf sich selber umlenkt. Eine Pendelbewegung zwischen »unreligiöse[r] Selbstgewißheit« und profaner »Bigotterie« (ebd., S. 262). Den Maßstab gibt wiederum ein Klassiker vor: Goethe hat sich sein Leben lang gegen die Prüderie gewendet, die das Gefallen an sich selbst verpönen möchte. Er gab zu verstehen, daß sie Sache derer sei, denen zum Gefallen an sich selbst auch nicht der mindeste Grund gegeben ist. (GKFA 15/1, S. 386)
Mann fordert das Selbstbekenntnis von denen, die es sich leisten können, als liebenden Akt sozialer Weltzugewandtheit, in welchem »Altruismus« und »Egoismus« restlos »aufgehoben« (ebd., S. 386) sind. Er dokumentiert damit indirekt, dass er um die Brisanz der synekdochischen Figur der Repräsentanz weiß. Denn der Begriff ›Repräsentation‹ hat im Mittelalter Sinn, wo er die Lehns- und Erbfolge bezeichnet oder die Stellvertretung eines Potentaten; in einer stratifikatorischen Welt jedoch gilt er nicht mehr viel, und in der Moderne tendiert er zur Leerformel.61 Gleichwohl wird er bemüht, teils weil die »Semantik«62 einen anderen Zeitrhythmus hat als der soziale oder mentale Wandel, teils weil eine Art »Evidenzerlebnis« verbrauchte Metaphern vor der Ablösung schützt.63 Das wird etwa deutlich, wenn Thomas Mann über Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters _____________ 57 58 59 60 61 62 63
Luhmann: Gesellschaftsstruktur, S. 140. Mann: Versuch, S. 204. Ebd. Zitiert aus den Notizen zu Manns Vortrag. Nach Luhmann: Gesellschaftsstruktur, S. 140. Gemeint ist der Bereich der »sinnhaft-referentiellen Kommunikationsstrukturen«. Ebd., S. 7. Vgl. Weinrich: Semantik, S. 327.
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(1932) spricht und zugleich die eigene »Legitimität« erörtert, Goethe zu würdigen: Vor die Aufgabe gestellt, vor Ihnen von Goethe zu sprechen, nehme ich meine Zuflucht zu einer Erinnerung, einem Erlebnis, das mich dazu ermutigen und meinem Unterfangen die Legitimität verleihen soll, die in allen Dingen das Beste, das Entscheidende ist.64
Mit der »Legitimation« und der »Repräsentation« hat sich Thomas Mann ein »Zwillingsproblem«65 eingehandelt, denn »vor die Aufgabe gestellt», über Goethe zu sprechen, hätte er eigentlich ablehnen müssen – wären andere nicht noch weniger legitimiert als er: Von seinen Gipfeln zu künden, überlasse ich bescheidentlich historisch-kommentatorischen Geistern und Bildungsnaturen, die sich dem Höchsten rein erkenntnismäßig gewachsen fühlen – was etwas ganz anderes ist, als teilzuhaben an seiner Substanz und nur hierin, nicht im Geistigen also, sondern im Menschlichen, Natürlichen eine Art von Recht, eine Art von Möglichkeit des Mitredens zu finden.66
Substanz – eine mystisch-ontologische Größe wird hier bemüht, um die eigene Rede zu legitimieren. Substanz aber hat nur der Dichter, nicht der Literarhistoriker, nicht der Bildungshuber. Solche mystischen Entitäten haben keinen geringen Stellenwert in der deutschen Geistesgeschichte – erinnert sei nur an den Geniebegriff, an Hufelands »Lebenskraft« oder an Hegels »Weltgeist« –, denn sie helfen den Repräsentanten über das Prekäre ihrer Rolle hinweg. So kann auch Thomas Mann seine Berufungsund Hierarchisierungsoperationen unverdrossen betreiben – etwa innerhalb von Begriffsserien wie Politik, Geist, Moral und Menschheit. Dem Anlass entsprechend dient dem politischen Autor das Künstlertum als Berufungsinstanz. Die Erzählung tritt dabei an die Stelle legitimierender Formeln: In der Schiller-Rede ist es die Imagination der Begräbniszeremonie, in der Goethe-Rede der Besuch des Frankfurter Geburtshauses, die Beschwörung der »Ursprungssphäre des Genius«, durch die sich auch Thomas Mann Haus- und Heimatrecht erwirbt.67 Das ist ›naiv‹ genug und zeigt einen Künstler, der als Kind des deutschen Bürgertums sprechen möchte, der sich jedoch gerade nicht als ein Vertreter einer politischen Kaste oder als ›Klassenmensch‹ ausgibt, sondern als jemand, der quasi aus dem ›Hefen des Volkes‹ stammt und sich jenseits der Parteiungen zu stellen gedenkt. Wenn Thomas Mann sich den Äußerungen des »Freiheitsideologen« Schiller »zur Politik und zum sozialen Problem« zuwendet, spielt er mit dem Problem der ideologischen Rechthaberei, die beide politische Systeme praktizieren: »Das ist ja sozialistischer Materialismus, Gott _____________ 64 65 66 67
Mann: Goethe, S. 216. Luhmann: Gesellschaftsstruktur, S. 140 Mann: Goethe, S. 216. Ebd.
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behüte!«.68 Was auf jeden Fall als Punkt gegen die Schönredner der Bundesrepublik verbucht werden könnte. Doch Mann nennt, diplomatisch gegenüber beiden Seiten, nicht Ross und Reiter, sondern legt nur die übergeordnete, alle verpflichtende Idee aus. Bereits in der Deutschen Ansprache von 1930 versteht Mann sich nicht als »Parteigänger«, auch wenn er sich für Stresemann begeistert, nicht als Vertreter »politisch-wirtschaftliche[r]« Partikularinteressen, sondern beruft sich auf eine Tradition »breiter deutscher bürgerlicher Gesittung«.69 Um die »Exzentrizität« seines Schrittes an die Öffentlichkeit, »an das deutsche Bürgertum«, zu dämpfen, deklariert er ihn zugleich als »Selbstgespräch« und damit als lautes Nachdenken; hier spricht einer, der eingeladen ist, aber sich nicht aufdrängen will, und der um die Zumutung weiß, seinem Publikum statt Zerstreuung eine Gewissensrede zu halten und mit ihr an »Rechtlichkeit«, »Mäßigkeit« und »Biederkeit« zu appellieren.70 Er erhebt damit Einspruch gegen den »Fanatismus« der Straße und gegen die »nationalsozialistische« Bewegung,71 die – so Mann wörtlich – »heute deutsch und allein deutsch heißen will«.72 Er macht deutlich, dass er sich nicht zum Volkstribun berufen fühlt wie jener »cäsarisch[e] Abenteurer«,73 der durch die Septemberwahlen so enorm Auftrieb bekommen hat. Denn in dieser »sensationelle[n] Wahlkundgebung« für Hitler und die NSDAP sieht er eine Ideendämmerung jener Prinzipien der »bürgerlichen Epoche« auf die Gegenwart kommen, die sich bereits um 1900 angezeigt hat, als »Freiheit, Gerechtigkeit, Bildung, Optimismus, Fortschrittsglaube« in die Krise geraten sind und ein neuer Irrationalismus um sich greift.74 Mann gibt sich nur als Mahner, der sich »um Verstehen und Einsicht in den Zusammenhang« von radikalem Neo-Nationalismus, »verschwärmter Bildungsbarbarei« und »politische[r] Romantik« zur Bannung der »Weltgefahr« bemüht: Entlaufen scheint die Menschheit wie eine Bande losgelassener Schuljungen aus der humanistisch-idealistischen Schule des neunzehnten Jahrhunderts, gegen dessen Moralität, wenn denn überhaupt von Moral die Rede sein soll, unsere Zeit einen weiten und wilden Rückschlag darstellt.75
Nicht aus »persönlichen Gründen«, so Mann, werbe er für den »friedlichen Aufbau Europas«, sondern weil sein »deutsches Gefühl« es ihm _____________ 68 69 70 71 72 73 74 75
Mann: Versuch, S. 204. Mann: Deutsche Ansprache, S. 111. Ebd., S. 117. Ebd., S. 115. Ebd., S. 117. Ebd., S. 114. Ebd., S. 114f. Ebd., S. 115, 112, 116.
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eingebe; dafür dürfe er nicht nur seine Feder, sondern müsse er auch seine Person einsetzen.76 Aus dieser Deutschen Ansprache und ihrem frühen Datum – 1930 – wird dem Redner, allerdings erst in den späten 1930er und frühen 1940er Jahren, die Genugtuung erwachsen, seinem Gewissen »zu tieferer Beruhigung« (GW XI, S. 1020) gedient zu haben. Diese Rede ist ihm – mehr noch als die Betrachtungen eines Unpolitischen – die Geburtsurkunde einer Stimme aus dem Bürgertum, die erkannt hat, »daß es zuweilen um härtere, dringlichere, selbst größere Dinge geht als um die Hervorbringung und den Genuß des Schönen und daß in solchen Epochen die Musen sich zu bescheiden haben« (GW XII, S. 814). Im November 1941 sagt Mann, Gestus und Haltung seiner Deutschen Ansprache reinterpretierend, dass er mit ihr mehr erreicht habe, als er »mit glücklicherem Gelingen als Künstler ausrichten konnte« (GW XI, S. 1019f.). Tagtäglich, nämlich so sein Wort an seine »Deutschen Hörer«, wachse seine Überzeugung, »daß die Zeit kommen wird und schon näher kommt, wo ihr es mir danken und es mir höher anrechnen werdet als meine Geschichtenbücher: das ist, daß ich euch warnte, als es noch nicht zu spät war, vor den verworfenen Mächten« (ebd., S. 10219f.). Nicht nur dem Dichter, sondern mit ihm dem Volk schlug früh die Stunde des Gewissens, frühzeitig genug jedenfalls, daß es noch nicht zu spät war, sich auf eine »nationale Haltung« zu besinnen, die den »Gemeinsinn«77 fördert und den Deutschen – wie einst Stresemann – »das Vertrauen, die menschliche Sympathie, die Bewunderung der Welt«78 hätte zutragen können. Über die Ausgrenzungsbemühungen und Vereinnahmungsversuche, die Thomas Mann nach 1945 galten, sind wir durch Jost Hermands und Wigand Langes Buch Wollt ihr Thomas Mann wiederhaben? (1999) und Thomas Golls Die Deutschen und Thomas Mann (2000) vergleichsweise gut orientiert. Berühmt die Kontroverse mit Walter von Molo und Frank Thieß, die uns heute zeigt, dass Thomas Mann weniger als »Vertriebener« wahrgenommen wurde, denn als Emigrant, der Deutschland in schwerer Stunde den Rücken gekehrt und den Kriegsgegner USA als Zeitbild wahrer Humanität gepriesen habe, während jede Zeile deutscher Prosa, die unter dem Nationalsozialismus geschrieben wurde, seiner Verdammung anheimfiel.79 Das ist die Seite, die nach erfolgloser Werbung um Thomas Mann zur plakativen Mann-Kritik greift – und im Dichter den Eindruck vom Fortbestand eines deutschen Faschismus evoziert, während ihm die »Denazifizierungen« als »Komödie« (Tb. 1946–1948, S. 163 [28.9.1947]) erscheinen. _____________ 76 77 78 79
Mann: Deutsche Ansprache, S. 124. Ebd., S. 120. Ebd., S. 122. Zum genauen Wortlaut vgl. Hermand / Lange: Mann, S. 25.
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Die andere Seite sieht in ihm den Vertreter eines »wahren Deutschland» in der »geistig-sittlichen Tradition Goethes«, und diese Fraktion ist es auch, die den Dichter 1949 einlädt, aus Anlass des Goethe-Jahrs nach Deutschland zu kommen.80 Dabei sehen ostdeutsche Intellektuelle wie Alexander Abusch, damals Bundessekretär des ›Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands‹, in ihm einen der »wesentlichsten Aktivposten des deutschen Geistes in der Welt«.81 Während Lotte in Weimar (1946 bei Suhrkamp in innerdeutscher Lizenz verlegt) und Doktor Faustus (1949) in den Westzonen kontrovers diskutiert werden, kommt von Stimmen wie Georg Lukács oder Wolfgang Harich und Heinz Kamnitzer überwiegend Wohlwollendes.82 Die Wohlmeinenden auf beiden Seiten der Sektorengrenzen konnten Lotte in Weimar als Bekenntnis zu einem »goethezeitlichen Humanismus« lesen, und die Figur des Serenus Zeitblom als verständnisvolle Auseinandersetzung mit der »Inneren Emigration«,83 wobei Hans R. Vagets Einwand, dem zufolge Zeitblom mehr »an einen Emigranten erinnert, der sich vorzustellen versucht, wie ein sogenannter innerer Emigrant empfinden und sprechen würde«84, Berücksichtigung finden sollte. Dasselbe Bild bietet sich, als Thomas Mann 1949 nicht nur Frankfurt besucht, sondern auch Weimar: Eine gemischte Stimmungslage am Main, weithin Zustimmung an der Ilm, der jedoch ein Streit über die Verleihung der Ehrendoktorwürde vorausgegangen war. Thomas Mann hat seinen Anspruch auf nationale Repräsentanz in der Spätphase der Weimarer Republik (neu) ›entdeckt‹ und seit circa 1930 stetig und strategisch ausgeweitet.85 1949 dann wirkt dieser Anspruch mindestens verwegen: Seine Haltung ist durch seine deutschsprachigen Publikationen bei Berman Fischer und auch im Nachkriegsdeutschland zumindest den Interessierten bekannt, als er aus Anlass der Goethe- und der Schillerfeiern deutschen Boden betritt. Seinen Gastauftritten kommt dabei ideenpolitische Bedeutung zu, wobei es dem Autor wichtig ist, dass er nicht nur ›historisch‹ gesehen, sondern eben auch ›mit deutscher Zukunft in Beziehung‹ gebracht wird. Illusionen macht er sich nicht: »Das Verhalten der Deutschen zu mir«, äußert er sich besorgt unmittelbar vor _____________ 80 81 82 83
Zit. nach Goll: Die Deutschen, S. 268. Abusch: Begegnung, S. 226. Zit. nach Goll: Die Deutschen, S. 288. Vgl. Goll: Die Deutschen, S. 290–316. Vgl. Hermand / Lange: Mann, S. 20 u. 45. – Mann scheint es, Arnold Bauer zufolge, für möglich gehalten zu haben, »daß die verschüttete geistige Tradition des goldenen GoetheZeitalters […] wieder erweckt werden könnte« (Interviews, S. 298). 84 Vaget: Germany, S. 269. 85 Birger Solheim hingegen sieht in Mann einen Autor, »der immer auf ›Repräsentanz‹ eingestellt war«. Solheim: Geschichtsdenken, S. 279. Hans R. Vaget findet die Wendung: »Ausschlaggebend war [...] der ererbte Ehrgeiz zur Repräsentanz«, Vaget, Thomas-MannKommentar, S. 29 (Hervorh. L. H.).
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seiner ersten Deutschlandreise gegenüber Dolf Sternberger, »ist durchaus hysterisch. Schmähgedichte und -artikel wechseln mit Schreien des Verlangens. Es ist unheimlich. Von meinem Besuch verspreche ich mir hauptsächlich Ernüchterung«.86 Mit Goethe als »Identifikationsfigur« beruft er sich 1949 auf einen »Versöhner der Gegensätze«;87 er »entwickelt vielleicht letztmalig halbwegs erfolgreich den Ehrgeiz, zur nationalen Integrationsfigur jenseits des politischen Diskurses zu werden«.88 Im Schillerjahr 1955 muss er mit dem Unbehagen der Repräsentierten rechnen, die sich ungern ihm allein »ausgeliefert« sehen.89 Doch wer ihn dann hört, in Stuttgart oder Weimar, kann sich diesem »Meister großer Gedankenreden« kaum entziehen: »Am Ende war es in diesem Gedenkjahr, wie Thomas Mann selbst nicht ohne Genugtuung vermeldet, ›die offizielle Gedenkrede‹, ›für ganz Deutschland‹«.90 War in den Betrachtungen eines Unpolitischen der Versuch unternommen, deutsche Kultur gegen undeutsche Zivilisation auszuspielen, unpolitische Bürgerlichkeit gegen politisierte Bourgeoisie, geistiges und konservatives nationales Leben gegen die republikanische und demokratische »WeltEntente« – und zwar ohne größeres Repräsentanzgebaren –, so ist der Autor bald schon, noch in der Zwischenkriegszeit, bereit, die »Weimarer Staatsschöpfung« gegen ihre »nationale Opposition« im eigenen Land zu verteidigen,91 und schließlich sogar – nach dem Zweiten Weltkrieg und ganz im Sinne Schillers – mit der »Begeisterung des Dichters« auf die Weltgesellschaft zu zielen, hinter der »das vaterländische Interesse« zurückstehen müsse beziehungsweise nur soweit Geltung haben dürfe, soweit es, mit Schiller, »als Bedingung für den Fortschritt der Gattung [Mensch] wichtig« sei.92 Für alle drei Positionen bedarf es jemandes, der sie demonstrativ bezieht und ›repräsentativ‹ für sie eintritt, und es ist jedes Mal Thomas Mann. _____________ 86 Zit. nach Sternberger: Deutschland, S. 465f. Der Brief datiert vom 26.6.1949. 87 Rolf Günter Renner vertritt die These, dass Mann mit Goethe als Berufungsinstanz an seiner »Ein-Deutschland-These« festhalten könne. Vgl. Renner: Lebens-Werk, S. 376, 480. 88 Strobel: Entzauberung, S. 336. 89 Die Formulierung erfolgt in Anlehnung an den Roman Doktor Faustus beziehungsweise Zeitbloms Vorbehalte gegen Saul Fitelberg, in dessen Visitenkarte (»Représentant de nombreux artistes prominents«) sich Anmaßung ausdrückt. Vgl. Mann: Doktor Faustus, S. 528. – Eva Schmidt-Schütz merkt dazu an, dass das Bild, das Fitelberg als »Vorkämpfer avantgardistischer Kultur« von sich entwirft, »die Klischees ›leichtlebigen‹ Lebensstils und elitärer Pseudokunst« bedient. Schmidt-Schütz: Doktor Faustus, S. 178f. 90 Pathetisch merkt Helmut Koopmann an: »Damit, mit dieser Rede, war Thomas Mann eigentlich erst richtig nach Deutschland zurückgekehrt, hatte sein Exil wirklich beendet«, Koopmann: Wiedergelesen, S. 126, 134. 91 Vgl. Sontheimer: Mann, S. 46, 74. 92 Mann: Versuch, S. 213f.
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SVEN HANUSCHEK
»Ich ließ alles bei gesunder Vernunft über mich ergehen« ›Ethnologische‹ Literaturwissenschaft anhand von Thomas Manns Deutschlandreise im Goethe-Jahr 1949
Das Leben wird vorwärts gelebt, aber rückwärts verstanden. Kierkegaard
I. Thomas Mann ist 1949, mitten im Kalten Krieg und kurz vor der offiziösen Gründung der beiden deutschen Teilstaaten, aus Anlass des GoetheJahrs nach sechzehn Jahren zum ersten Mal wieder nach Deutschland gereist, in den westlichen und in den östlichen Teil. Die erste Einladung kam aus der sowjetischen Besatzungszone, von Johannes R. Becher, damals noch Präsident des kommunistischen ›Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands‹. Mann verzeichnete in seinem Tagebuch: »Brief von Becher wegen eines Goethe-Vortrags in Weimar u. Verleihung des dortigen Goethe-Preises. Mißlich« (Tb. 1946–1948, S. 345 [27.12.1948]). Als auch noch eine Einladung aus Frankfurt am Main kam, den dortigen Goethe-Preis entgegenzunehmen, entschloss Mann sich im Mai 1949 endgültig zu dieser Reise, und er wollte von Anfang an beide Einladungen annehmen. Am 24. Juli 1949 brach er auf, mit einem »Gefühl, alsob es in den Krieg ginge« (Tb. 1949–1950, S. 82 [23.7.1949]), das Tagebuch setzt einige Tage aus, fortgeschrieben wird es erst im Rückblick und aus der Entfernung. Mann ist am 4. August 1949 in Amsterdam, sozusagen im sicheren Port außerhalb Deutschlands, angekommen. In Frankfurt wie in Weimar hatte Mann dieselbe Ansprache gehalten, ohne
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Abänderung für Ostdeutschland, aber mit einer kleinen zusätzlichen Einleitung. Diese Reise ist mehrfach dokumentiert, besonders intensiv und umstritten der Ausflug nach Weimar; deshalb ist der ostdeutsche Teil der Reise der interessantere, spektakulärere, das schlägt sich auch in allen Darstellungen nieder. Manns Ansprache im Goethejahr und sein eigener Reisebericht sind natürlich in den Gesammelten Werken veröffentlicht, es gibt die Tagebuchnotizen, gesammelte Interviews (1983) und seit 1999 eine Kompilation aller, auch der brieflichen Äußerungen Manns in dem Sammelband Fragile Republik. Dazu kommen zwei ausführliche Zeitzeugenberichte, von dem jungen Schweizer Georges Motschan, der die Ehre hatte, Thomas und Katja Mann in seinem Buick durch Deutschland zu chauffieren, und von Heinz Winfried Sabais, der als Weimarer Kultursekretär den Ost-Event organisierte und zu der Delegation gehörte, die Mann im Hessischen abholte und auch im Ostteil Deutschlands begleitete. Weniger detailliert sind die Erinnerungen Hans Mayers, der bei den Feierlichkeiten in Weimar dabei war und immer wieder darauf zurückkam, wenige Jahre später in seinem Nachruf auf Thomas Mann, aus großer Distanz dann in seiner Autobiographie Ein Deutscher auf Widerruf (1984). Von den Sekundärquellen sind hier besonders die zahlreichen Biographien zu nennen, keine noch so kurze hat sich diese Reise entgehen lassen. Es geht mir in diesem Rahmen keineswegs darum, diesen zahlreichen Darstellungen noch eine weitere folgen zu lassen. Vielmehr sollten sich ja die Kollegen, die sich in diesem Rahmen nicht zu den Thomas MannKennern oder aficionados zählen, außer an der Frage nach der Repräsentanz und deren Zustandekommen eher methodologisch abarbeiten, und daher geht es mir um die Frage der Zuschreibung von Repräsentativität (II.); um die Frage, inwieweit die Abfolge der Beschreibungen über die Jahrzehnte im ethnologisch-semiotischen Paradigma von Clifford Geertz beschreibbar sind und mit welchen Ergebnissen; dabei werden sich im Idealfall die Positionen der Beschreiber selbst, ihre je unterschiedlichen zeitgeschichtlichen Positionen als unablösbar von ihrer jeweiligen Beschreibung erweisen, das kann hier in der gebotenen Kürze nur an einer kleinen Auswahl der vorhandenen Darstellungen erfolgen (III.); und das hätte natürlich wiederum Folgen für die Frage nach der hybriden oder doch mindestens vielstimmig konstruierten Repräsentanz, die ich am Schluss ein weiteres Mal stellen will (IV.).
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II. Dass sich die Repräsentativität Thomas Manns an dieser biographischen Episode besonders aufdringlich zeigt, liegt auf der Hand. Der selbst ernannte Statthalter der deutschen Sprache ist zu diesem Zeitpunkt ja längst installiert und etabliert, er hat diesen Status im Exil erhalten können bzw. in den USA neu aufgebaut. Er wird kraft dieses schon vorhandenen Bildes eingeladen, über den kanonischsten und damit wiederum repräsentativsten deutschen Dichter Reden zu halten, als sozusagen Aufwandsentschädigung bekommt er den Goethe-Preis in Ost wie in West. Er ist sogar repräsentativ genug, die Preisgelder zu spenden, im Westen an notleidende Künstler, die Künstlersozialkasse ist noch nicht gegründet; im Osten gibt es per definitionem solche Künstler nicht, also stiftet er hier das Geld zur Restaurierung der Weimarer Kirche, in der Johann Gottfried Herder gepredigt hat, beides sind symbolische Stiftungen an Institutionen, die es in der jeweiligen Besatzungszone nicht leicht haben. Mann lässt also noch in dieser Frage die Äquilibristik, die Balance nicht außer acht, situationsbedingte Koalitionen pflegt er nachgeradezu pedantisch im Versuch, von keiner Seite eingemeindet zu werden, seinen Status als externer Repräsentant zu erhalten, er sucht dazu auch nach Partnern, auch publizistischen Stützen. Das Ärgernis für die Westzonen, dass er überhaupt in die Ostzone gefahren ist, wird leicht ausgebremst durch diese Spende an die Kirche, die Mann auf die Angriffe im Westen hin als Zeichen seines Nonkonformismus im Reisebericht von 1949 auch ausdrücklich hervorhebt, »ein Entschluß«, schreibt er, »der vielleicht nicht ganz nach dem Sinn der Kommunisten war« (GW XI, S. 503f.). Aus dem Bericht von Sabais wissen wir, dass er Mann zu diesem Verwendungszweck überredet, die Idee überhaupt gehabt hat (oder gehabt haben will, ich komme darauf zurück). Auch die Notabeln des Ostens konnten umgekehrt ihre Kulturpolitik durch die Spende im Westen bestätigt finden, sie selbst, attestierte Mann ihnen, sorgten ja für geistige Arbeiter, »wenn sie nicht geradezu stören«, der »russische Kommunismus« wisse »die Macht des Geistes wohl zu schätzen« (ebd., S. 504). In den Stimmen der Zweitliteratur wird Mann diese Repräsentativität im Zusammenhang mit seiner Goethe-Reise ohne weiteres zuerkannt, und er hat das auch selbst schon getan. In seinem Reisebericht heißt es: »In der Paulskirche schon hatte ich, unter Beifall, erklärt, dass mein Besuch dem alten Vaterlande als Ganzem gelte, dass es für mich keine Zonen gebe, und hatte die Frage gestellt, wer denn die Einheit Deutschlands gewährleisten und repräsentieren solle, wenn nicht ein unabhängiger Schriftsteller, dessen wahre Heimat die freie, von Besatzungszonen unberührte deutsche Sprache sei« (ebd., S. 501f.). Das hat er auch in einem Interview
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wiederholt, seine »wahre Heimat sei die deutsche Sprache« (Interviews, S. 305 [26.7.1949]). In der Goethe-Rede selbst zitiert Mann einen jungen Deutschen, der in Zürich studierte; der billigte Thomas Mann beinahe messianische Qualitäten zu in der Bekämpfung von engem Nationalismus und krankhafter Selbstbemitleidung. Mann zitiert aus diesem Brief: Der Weg der Deutschen »zu einem echten Europäertum ist mit der Gerechtigkeit und dem Verständnis, das man einmal in Deutschland Ihrer Person und Ihrem Werk widerfahren lässt, aufs engste verknüpft«, kein Thomas Mann-Verständnis, kein Europäertum, heißt das (GW XI, S. 487). Schließlich behauptet Mann seine Repräsentativität auch für sein Werk, über den Faustus-Roman, in der Antwort auf Walter Boehlichs Rezension des Romans im Merkur (1948) betont er in der Ansprache zum Goethejahr seine Zugehörigkeit und sein Mit-Leiden mit Deutschland auch im Exil, sein Symbolhandeln über das Kunstwerk: »Wie einer das Schmerzensbuch vom Doktor Faustus gelesen haben und dann noch sagen kann, ich sei nicht dabei gewesen, Ferne und persönliche Sicherheit hätten mich gehindert, stärker und tiefer dabei zu sein, als so mancher, der physisch dabei war, das verstehe, wer mag und kann. Emigrantenliteratur. Aber das Werk eines Emigranten, der mit allem, was ihm an Erlebnisfähigkeit gegeben war, die deutsche Not geteilt hat« (ebd., S. 485). Das soll als erste Blütenlese genügen, anscheinend sind sich hier alle einig; ein repräsentatives Ereignis, Mann als Repräsentant gar nicht nur von eigenen Gnaden, sondern als aus diesem Grund in West und Ost geladener Festredner, Ehrenbürger, Preisträger. III. Der methodische Ansatz, mit dem ich hier dennoch über das Ereignis und seine Bewertungen nachdenken will, ist das ethnologisch-semiotische Paradigma von Clifford Geertz. Es scheint mir legitim, ihn auf eine Reise anzuwenden und auf Beschreibungen, die in der Germanistik literatursoziologisch heißen würden; und es geht mir in diesem Beitrag gar nicht primär um das Ereignis selbst, sondern um seine sich wandelnden Beschreibungen. Das ist natürlich auch eine Versuchsanordnung: Lässt sich die Rolle eines Literaturwissenschaftlers (nicht nur, im engeren Sinne, eines Biographen) mit der des Ethnologen vergleichen? Warum unternimmt er eine intensive Beschreibung eines Schriftstellers? Er wechselt damit den Horizont, überschreitet seine eigenen Grenzen, wird die Differenz wohl auch festzuhalten trachten; aber er wird uns immer auch davon überzeugen wollen, dass er verstanden hat, dass er ›dort gewesen‹ ist. Er hat die paradoxe Rolle zu erfüllen, uns von seiner intimen Kenntnis seines
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Gegenstands ebenso zu überzeugen wie von seiner kühlen, distanzierten Einschätzung, er soll gleichzeitig, wie Geertz den Sachverhalt in seinem Buch Die künstlichen Wilden (1988) auf den Punkt bringt, Kartograph und Pilger sein.1 Geertz sagt in seinem bekanntesten Werk Dichte Beschreibung (dt. 1983), dass der Ethnologe von einer fremden Kultur viele Fakten sammeln könne, das macht ihn aber längst nicht zum Wissenschaftler. Was er aufschreibt, was er aus dem macht, was er gesehen hat, ist eine Bedeutungszuweisung im Medium der Sprache, Geertz folgt hier einem semiotischen Begriff von Kultur: Der Mensch bewegt sich in einem selbstgesponnenen Bedeutungsgewebe, der Wissenschaftler sucht dieses Gewebe möglichst detailliert, möglichst adäquat komplex zu interpretieren. Was er dann aufschreibt, ist damit also weniger eine Sache der Beobachtung als eine Sache der Interpretation; auch die ›Fakten‹ sind schon interpretiert, indem sie notiert werden. Bei der Deutung eines literatursoziologischen Ereignisses ›lesen‹ wir gewissermaßen ein Manuskript, das fremdartig, verblasst, unvollständig, voller Widersprüche, fragwürdiger Verbesserungen und tendenziöser Kommentare ist.2 Wir interpretieren zuerst, was unsere Informanten – das sind im Beispiel ›Manns Reise im Goethejahr‹ die vorliegenden Texte aller Beteiligten, aller Zeitzeugen – meinen, und systematisieren anschließend diese Interpretationen. Jede Interpretation ist selbst damit schon eine Interpretation zweiter oder dritter Ordnung, in unserem Fall ist Mann ja sein erster Interpret, ich erinnere daran, dass er alle Darstellungen der Reise erst nach dem Ende der Reise niedergeschrieben hat. Die literaturwissenschaftlichen / biographischen / literatursoziologischen Darstellungen sind damit selbst Fiktionen, fictio, etwas Gemachtes, nach eigenen Interessen und auch ästhetischen Verfahren Hergestelltes – das heißt nicht, dass sie falsch wären oder Als-ob-Gedankenexperimente. Clifford Geertz hat danach gefragt, wie der Ethnologe, seine individuellen Umstände, seine Sozialisation usw. in seiner Darstellung des ›Anderen‹ anwesend seien; sie sind es in den Bedeutungen, die er den beschriebenen Vorgängen gibt, diese Bedeutungen bestimmen auch schon die Auswahl der Fakten. Ich tue jetzt einmal so, als seien die Beschreiber der Goethe-Reise von 1949 Ethnologen und suche nach solchen Voreinstellungen. Für die unmittelbaren Zeitzeugen sind sie ganz offensichtlich, ihnen will ich mich zuerst (notgedrungen sehr selektiv) zuwenden. Hans Mayer würdigt Thomas Mann in seinem Nachruf von 1955 als Repräsentanten, das Wort kommt mehrfach vor, er fragt nach den Gründen von Manns Weltgeltung, vergleicht ihn dazu mit deutschen Schriftstellern des _____________ 1 Vgl. Geertz: Die Wilden, S. 19. 2 Vgl. die Einleitung in Geertz: Beschreibung, S. 7–43.
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19. Jahrhunderts ebenso wie mit Kollegen der Frühen Moderne. Er kommt zu dem Schluss, Mann sei ein Bürger auf der Suche nach dem Bürger. Seit Goethe habe kein deutscher Dichter ähnliche Repräsentanz erlangt wegen seiner unlösbaren Verbindung autobiographischer, nationaler und übernationaler Gestaltungsart,3 zu der die Befreiung von den Traditionen Nietzsches, Schopenhauers, Wagners gehört habe. Das versucht Mayer zu konkretisieren mit dem Zauberberg-Satz, dass der Mensch »um der Güte und Liebe willen dem Tod keine Herrschaft einräumen soll über seine Gedanken« (GKFA 5/1, S. 748). Diesem Konzept von Humanität sei Mann treu geblieben als »streitbarer Humanist, der sehr genau in den Bereichen, die er überschauen wollte, zwischen Alt und Neu, Ende und Anfang, Humanität und Barbarei zu unterscheiden wußte«. Wenn er von Demokratie sprach und ihrem kommenden Sieg, habe er »eine Form der Humanität« gemeint, »eine Verbindung demokratischer Struktur mit gesellschaftlicher, nicht-mehr-bürgerlicher Neugestaltung«.4 Die Rede ist an der Karl Marx-Universität in Leipzig gehalten worden, und Mayer unterstellt Mann hier in der DDR-Terminologie der Zeit einen kaum verhüllten marxistischen Begriff von Humanismus. In Mayers Erinnerungen Ein Deutscher auf Widerruf ist diese Terminologie natürlich abgeschwächt, er lehrte seit 1965 in Westdeutschland und ging, wie er schreibt, mit der Vokabel »bürgerlich« etwas haushälterischer um;5 aber die Erzählung der 1949er-Reise bleibt der damaligen Kalten Kriegs-Optik in den Valeurs schon noch sehr treu: die westdeutschen Begegnungen seien verstörend für Mann abgelaufen,6 der »amerikanische Reisebegleiter und Fahrer hatte kein Wort gesprochen«7 – hier suggeriert Mayer, der Schweizer Motschan sei im Grunde ein begleitender amerikanischer Geheimpolizist gewesen –, die jubelnden Volksmassen in Weimar seien nicht bestellt gewesen, das Bankett nach den öffentlichen Reden in Weimar habe klar gemacht, dass er aus Achtung für sein Werk eingeladen worden sei, während es sich im Westen nur um ein zudem ärgerliches Familientreffen gehandelt habe (die Honoratioren im Gästeheim, in dem die Manns untergebracht waren, hätten sich vollgefressen und Nazilieder gegrölt, nachdem Mann sich zur Nachtruhe zurückgezogen hatte). Die unterschiedlichen Polaritäten zur Weimar-Reise lagern sich am ehesten in der Einschätzung des von den sowjetischen Besatzern weitergeführten Konzentrationslagers Buchenwald an, das Thomas Mann nicht besuchen wollte trotz der Aufforderung von Eugen Kogon und anderen; _____________ 3 4 5 6 7
Mayer: In memoriam, S. 122. Ebd., S. 123. Mayer: Deutscher, S. 79. Ebd., S. 74. Ebd.
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dafür ist er im Westen sehr angegriffen worden. Hans Mayer war der Ansicht – nun in einem Rundfunkinterview 1992 –, Mann habe damals »wie wir alle« der Meinung sein müssen, »daß nun die Mörder von Auschwitz in ein Lager gekommen seien, das ein Mörderlager des Dritten Reiches war. Wenn Thomas Mann dies Lager besucht, so ist das doch eine Gleichsetzung –: so mußten wir es sehen, und so hat es wohl auch Thomas Mann gesehen,– eine Gleichsetzung dieses Lagers der Siegermächte mit dem, was in Auschwitz und Majdanek zugrundegegangen war«.8 Hier zeigt sich sehr schön, wie eine Mayersche Rechtfertigung für seinen historischen Standpunkt vor 1956 gewissermaßen Thomas Mann übergestülpt wird, »Mann wie wir alle«. Heinz-Winfried Sabais, den ich als zweiten Zeitzeugen nennen will, hat seinen Bericht zuerst 1950 veröffentlicht, nach seiner Flucht in den Westen. Er hat den Weimar-Teil der Reise als Kultursekretär der Stadt organisiert und war Mitglied der dreiköpfigen ostdeutschen Delegation, die Mann in Frankfurt eingeladen und dann auch weiterhin begleitet hat. Sein bemerkenswert detaillierter Bericht verschweigt nichts, auch Sabais war aber nicht immer dabei, auch sein Bericht ist ein nachträglicher, und er ist in manchem Detail ebenso auf Mutmaßungen angewiesen. Auch er kommentiert die KZ-Frage: Er habe »insgeheim« gehofft, »daß Thomas Mann die Parzival-Frage nach dem KZ Buchenwald stellen würde, wie es ihm in zahlreichen Artikeln, Botschaften und Briefen in West-Deutschland nahegelegt worden war. Und ich hatte vor, diese Frage unter Umständen selbst auszulösen. Ein streitbarer Humanist wie Thomas Mann konnte nicht gleichgültig gegenüber der Tatsache bleiben, daß auf dem Ettersberg bei Weimar […] die verhaßten SS-Büttel nur durch nicht minder verhaßte NKWD-Posten abgelöst worden waren, daß dort wiederum eine Unmenschlichkeit herrschte, die sich in der Öffentlichkeit aber in unübertroffener Heuchelei auf die Ahnenschaft der Klassik berufen wollte«.9 Mit ihm habe die ganze intellektuelle Résistance der Ostzone auf Thomas Mann gehofft. Am Morgen des 1. August 1949, vor der Festrede, hatte Sabais den Eindruck, Mann habe »sich aber wohl bereits jetzt vorgenommen, die von ihm so vielfach geforderte Frage nach den Insassen des KZ Buchenwald bei Gelegenheit zu stellen«;10 und er habe sie dann tatsächlich gestellt, im engsten Kreis beim Essen mit dem russischen Generalmajor Tulpanow, dem diplomatischen Berater der sowjetischen Militäradministration. Damit habe Mann alles getan, was man von ihm (im Westen) erwarten konnte: er hatte die Sowjets und ihre deutschen »clerks« als Be_____________ 8 Hans Mayer zit. nach Harpprecht: Mann, S. 1758. 9 Sabais: Mann, S. 104. 10 Ebd., S. 107f.
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hörde nicht zur Kenntnis genommen, der Preis wurde ihm von einem aus vielen, auch bürgerlichen Institutionen zusammengesetzten Gremium verliehen; er hatte seine Zugehörigkeit zur westlichen Kultur durch eine Anstecknadel der amerikanischen Akademie der Künste demonstriert, während die Kommunisten ihre Parteiabzeichen zuhause gelassen hätten – nicht wenig für einen Ironiker, meint Sabais; und er hatte nach Buchenwald gefragt.11 Sabais war nicht dabei, er hat die Frage selbst nicht gehört, sondern das von Motschan erzählt bekommen; und Sabais war selbst ein Politiker, dem es – unter anderem mit diesem Bericht über Thomas Mann in Weimar – 1950 darum zu tun war, nach der Flucht in den Westen seine oppositionelle Rolle in der sowjetischen Zone öffentlich und plausibel zu machen. Er musste ein Interesse daran haben, möglichst bruchlos seine Karriere im Westen fortsetzen zu können, er wertet sich sozusagen mit Thomas Mann auf, so wie Mayer festgestellt hat, Mann habe die Ostzone mit seinem Besuch aufgewertet, Manns Meinungen und Haltungen hätten, stark vergröbert gesagt, den Meinungen und Haltungen Mayers entsprochen oder doch stark geähnelt. Deshalb hat Sabais seine eigene Rolle in dem Bericht sehr stark gemacht, das war den wenigen Auszügen schon anzumerken – er will den Weimarer Stadtrat überzeugt haben, die Reise initiiert haben, er habe auf der KZ-Frage bestanden, sich die Kirchenspende ausgedacht und so weiter und so fort. Nur als Fußnote: Sabais’ Strategie hatte Erfolg, er war ein bedeutender Regionalpolitiker im Westen, zeitweise Oberbürgermeister von Darmstadt, und weil er Gedichte geschrieben hat, wurde er in den P.E.N.-Club gewählt. Das hat er zu dem Versuch genutzt, den Radikalenerlass dort einzuführen, damit ist er dann aber gescheitert.12 Mann selbst hat die Buchenwald-Frage im Reisebericht angesprochen, er habe sich unter der Hand »über die Zustände dort informieren lassen« (GW XI, S. 507), damit übernahm er die diplomatischen Gepflogenheiten des Internationalen P.E.N.-Clubs. Die Clubrepräsentanten haben stets versucht, das Gespräch über die Grenzen hinweg aufrecht zu erhalten, sie haben stets ›unter der Hand‹ protestiert und sich in öffentlichen Protesten gemäßigt, um ihre Gesprächspartner vor deren eigenen Regierungen nicht zu desavouieren und die Gesprächs- und Reisemöglichkeiten der Kollegen überhaupt zu erhalten. Thomas Mann hörte auf seine Erkundigungen nach dem Lager Buchenwald, »die Belegschaft bestehe zu einem Drittel aus schlechthin asozialen Elementen und verwilderten Landfahrern, zum zweiten Drittel aus Übeltätern der Nazi-Zeit und nur zum dritten aus Personen, die sich manifester Quertreibereien gegen den
_____________ 11 Ebd., S. 112. – Mann erwähnt seine »kleine Kokarde der ›American Academy of Arts and Sciences‹ im Knopfloch« sogar ausdrücklich (GW XI, S. 502). 12 Vgl. Hanuschek: Geschichte, S. 335f.
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neuen Staat schuldig gemacht und notwendig hatten isoliert werden müssen. Folter, Prügel, Vergasung, die sadistische Erniedrigung des Menschen wie in den Nazi-Lagern gebe es dort nicht. Aber die Sterbeziffer sei hoch infolge von Unterernährung und Tuberkulose. Wo man überhaupt nicht viel zu essen habe, seien diese Ausgeschiedenen eben die letzten, die etwas bekämen. – Das Bild ist traurig genug. Wir wollen hoffen, daß es nicht auch noch zu schöngefärbt ist« (GW XI, S. 507f.).
Aus dem Manuskript geht hervor, dass der Informant Johannes R. Becher war; es ist in Teilen wohl auch dessen Vokabular, das aus Manns durch die Schlusssätze skeptisch gefärbter Darstellung spricht. Was bedeuten die gesammelten Fakten und ihre hypostasierte oder übernommene ›Bedeutung‹ nun in einiger historischer Distanz (die ja bei Mayers verschiedenen Zeugnissen schon eingebaut war)? Der Ethnologe hat das Problem, dass sich die Gesellschaften, die er einmal beschrieben hat, verändern. Geertz hat ein schönes Buch zu diesem Thema verfasst, im Original heißt es After the Fact: Two Countries, Four Decades, One Anthropologist (1995). After the Fact heißt zum einen, wörtlich gemeint, man ist hinter den Fakten her, man sucht nach ihnen, mit jedem neu geöffneten Archiv könnten über Manns Reise neue Details herauskommen. Es heißt zudem, wir interpretieren diese Fakten immer erst hinterher, ex post, auch die Zeitzeugen inklusive Thomas Mann haben ihre Berichte hinterher geschrieben, sie haben die Reise zwar vorwärts erlebt, aber nur rückwärts verstanden, dazu zum Teil funktionalisiert. Und After the fact spricht auch von einer Kritik des empirischen Realismus, Geertz zweifelt an »einfachen Entsprechungstheorien der Wahrheit und der Erkenntnis«, schon der Begriff »Faktum« wird ihm zur heiklen Angelegenheit.13 Im Deutschen heißt das Buch ganz simplistisch Spurenlesen, das originale Wortspiel ließ sich nicht übertragen. Ich möchte anhand einiger Thomas Mann-Biographien danach fragen, ob und wie sich die Deutung der immergleichen Fakten von Manns Reise über die Jahrzehnte verändert hat, ich kann das in diesem engen Rahmen nicht ausführlich belegen und fasse deshalb stark zusammen. Klaus Schröter (1964) setzt Mann als repräsentativ über die Debatten der Reise: er habe sich zum »Herrn der Lage« gemacht, mit seiner »objektivierungsfähigen Kühle«.14 Der ja in der Tat alberne Kommunismus-Vorwurf in der Diskussion von 1949 wird marginalisiert, man sei im Westen ahnungslos über die Vorgänge gewesen; ich will hier nicht so weit gehen zu sagen, Schröter habe anhand von Thomas Mann die neue Deutschlandpolitik der späten 60er Jahre eingeläutet. Zumindest geht er aber bemerkenswert unbedenklich mit dem Ereignis um, er übernimmt die lauten, gewisser_____________ 13 Geertz: Spurenlesen, S. 190. 14 Schröter: Mann, S. 145.
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maßen mit der Trompete gespielten Setzungen Manns, seine Beteuerung der eigenen repräsentativen Stellung. Donald Prater (1995) findet nach einer recht detaillierten Darstellung der Reise bemerkenswert, dass Mann die Zerstörung, die er überall in Deutschland gesehen haben muss, nicht aufzeichnete, offensichtlich gar nicht darauf reagierte. Sein Interesse habe »allein der Reaktion Deutschlands und der Deutschen auf ihn selbst« gegolten; in seiner offensichtlichen Gleichgültigkeit zeige sich »wiederum die Selbstbezogenheit, die seinen Charakter bestimmte«. Prater findet die »diplomatische Leisetreterei bei der Behandlung der (damals und noch heute) heftig kritisierten Vermeidung eines Besuches im Lager Buchenwald« auffallend. Lakonisch konstatiert er zu der zitierten Passage im Reisebericht, Mann weiche vor den üblichen Argumenten des totalitären Staates aus, »wohl nur um seine Stellung in Amerika nicht zu gefährden« und das sei damals wie heute »für manchen Bewunderer von Thomas Mann als Humanisten und Kämpfer für die Freiheit, eine bittere Enttäuschung«.15 Hermann Kurzke (1999) sieht die Reise als »Lebenswende«, die den Abschied von den USA vorbereitete, ohne in Deutschland eine neue Möglichkeit aufzuzeigen. Er fasst die Reise konzis zusammen und zeigt die Buchenwald-Frage als Konflikt; hätte Mann den Besuch des KZs gefordert, wäre das ein Affront im Osten gewesen, seine Ablehnung aber nach all den westlichen Aufforderungen, der Weimar-Besuch ohne Ansprechen Buchenwalds konnte als »Billigung russischer Verbrechen gegen die Menschlichkeit« erscheinen. Mann sei beeindruckt gewesen und habe sich zu einigen Sätzen hinreißen lassen, die er später bereute (hier geht es um den Olberg-Brief, Mann schrieb hier, der autoritäre Volksstaat habe zwar seine schaurigen Seiten, er bringe aber die Wohltat mit sich, dass Dummheit und Frechheit endlich einmal das Maul zu halten hätten). Diese Erklärung geriet mit anderen in Manns FBI-Dossier, viele Freunde hätten sich von ihm zurückgezogen.16 Besonders Kurzke, nur in Andeutung auch Prater sind bemüht, die veränderten Zeitumstände zum Zeitpunkt ihrer eigenen Darstellungen – sprich den Zusammenbruch des Ostblocks, die deutsche Einheit – nicht überzubewerten. Sie verstehen Mann im damaligen historischen Kontext, liefern also durchaus eine ›dichte‹ Beschreibung, indem sie Manns Einschätzungen der Weimarer Verhältnisse zwar als Irrtum sehen, ihn aber nicht verurteilen. Anders die Biographie von Klaus Harpprecht (1995), der der Reise die ausführlichste Darstellung widmet, aber deshalb noch nicht unbedingt die ›dichteste‹ Beschreibung. Er zitiert breit die westlichen Auf_____________ 15 Alle Zitate in Prater: Mann, S. 573f. 16 Alle Zitate in Kurzke: Mann, S. 541–543.
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forderungen an Thomas Mann, glaubt nicht, dass die Frage nach Buchenwald gestellt worden sei, und er schließt sich den harschen Urteilen über Manns Reise an; seine Quellenkompilation ist stark von seinen eigenen politischen Auffassungen und den veränderten Zeitumständen bestimmt. Kogon und andere haben sozusagen historisch recht bekommen, mit 1989, und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Harpprecht aus diesem Grund Manns diplomatische Bedenklichkeiten, auch die historischen Kontexte in keiner Weise respektiert. Er nähert sich Joachim Fests (1985) Einschätzung von den ›unwissenden Magiern‹ Heinrich und Thomas Mann und stellt die Frage, was Mann denn schon riskiert hätte, äußerstenfalls wäre es zu einer harschen Zurechtweisung gekommen, dafür wäre er im Westen gefeiert worden »wie kein anderer«, er hätte »vielleicht« das Los der Opfer leichter gemacht und an Glaubwürdigkeit (vielleicht auch an Repräsentanz?) gewonnen. Er sei nicht bereit gewesen, Gewalt, Terror und Unrecht unter dem Vorzeichen der kommunistischen Utopie mit der gleichen Kompromisslosigkeit zu verwerfen, wie er nazistischen Verbrechen entgegengetreten war; und Harpprecht zitiert abschließend noch Arthur Koestler, zu diesem Zeitpunkt einer der schärfsten intellektuellen und antikommunistischen Kalten Krieger, Mann habe eine »Weltanschauung in verdünnter Luft«.17 IV. Es sollte klar geworden sein, dass sich, jedenfalls was die unterschiedlichen zugewiesenen Bedeutungen angeht, allemal mit Geertz vom »Entgleiten der Fakten« sprechen ließe (so der Untertitel der deutschen Ausgabe seines Buches); die Interpreten können ihre eigenen Positionen ohne weiteres mit Manns Positionen überblenden, in der Regel ohne dass sie das thematisieren würden. Die Pointe ist nun, dass Thomas Mann das »Entgleiten der Fakten« offenbar bewusst gewesen zu sein scheint. Der Zweifel an der Berechtigung der eigenen Darstellung, der vor allem Mayer und Harpprecht fehlt, wird bei Mann rund um diese Reise herum geradezu habituell. Schon die erste Einladung in den Osten durch Becher, ich habe es erwähnt, findet er »mißlich«. Es gibt eine Fülle fatalistischer, achselzuckender Zwischenbemerkungen, Halbsätze, wie das Titelzitat dieses Vortrags, er habe alles über sich ergehen lassen, bei gesunder Vernunft;18 oder: »Bin gesund geblieben. Habe schlecht und recht standgehalten« (Tb. 1949–1950, S. 84 _____________ 17 Alle Zitate in Harpprecht: Mann, S. 1764f. 18 Titelzitat (GW XI, S. 509).
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Sven Hanuschek
[4.8.1949]). Das Gefühl, ausgesetzt sein, nicht dazuzugehören, eigentlich keine eigene Meinung zu den politischen Sachverhalten zu haben. Endlich wieder zuhause, in Pacific Palisades, dann der abschließende Eintrag, nach der Lektüre der Zeitungsartikel mit »Schimpf’ und Ehr’«, »Glück des Zuhause, des Gerettet- und vor der Welt Geborgenseins, die draußen schreien mag« (Tb. 1949–1950, S. 87f. [19.8.1949]): Ein Amerikaner, der auf »my home is my castle« macht. Das Bild von Repräsentation, das vor allem Heinrich Detering in seinem Beitrag entworfen hat, bestätigt sich hier: Bei Thomas Mann ist immer beides da, der Anspruch auf Repräsentation und der Zweifel daran, ja die Verweigerung von Repräsentation; der wilhelminische Bart und zur Deutschlandreise die wilhelminische Formulierung »Ich kenne keine Zonen. Mein Besuch gilt Deutschland selbst« (GW XI, S. 488) – und das Gefühl von Unzuständigkeit, Außenseitertum, Einigeln, Verstummen sogar. Der Wissenschaftler ist in seinen Interpretationen auf bestimmte Argumentationsstrukturen angewiesen: Eine Sache soll zu einer anderen führen, »diese zu einer dritten und diese zu wer weiß was. […] Wie schwierig es auch sein mag, mit einem derartigen Diskurs zu beginnen, es ist noch schwerer, damit aufzuhören«.19 Thomas Mann ist kein Wissenschaftler, er kann sich dispensieren; er kann den Aufbau von Repräsentationsstrukturen und Diskurssystemen verweigern und sie – für sich – vorübergehend aufgeben, der Zweifel an der eigenen Repräsentativität ist erlaubt. Literaturverzeichnis Mann, Thomas: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 5. Der Zauberberg. Text u. Kommentar. Hg. von Michael Neumann. Frankfurt/M. 2002. Mann, Thomas: Ansprache im Goethejahr 1949 [1949]. In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Band XI. Frankfurt/M. 1990, S. 481–497. Mann, Thomas: Reisebericht (1949). In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Band XI. Frankfurt/M. 1990, S. 498–510. Mann, Thomas: Tagebücher [Tb.]. Bd. 7. 28.5.1946–31.12.1948; Bd. 8. 1949–1950. Hg. von Inge Jens. Frankfurt/M. 1989 u. 1991. Mann, Thomas: Thomas Mann: Meine Heimat ist die deutsche Sprache. In: T. M.: Frage und Antwort. Interviews mit Thomas Mann 1909–1955 [Interviews]. Hg. von Volkmar Hansen / Gert Heine. Hamburg 1983, S. 305–307. Mann, Thomas: Fragile Republik. Thomas Mann und Nachkriegsdeutschland. Hg. von Stephan Stachorski. Überarb. Ausg., Frankfurt/M. 2005.
_____________ 19 Geertz: Spurenlesen, S. 28f.
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Fest, Joachim: Die unwissenden Magier. Über Thomas und Heinrich Mann. Berlin 1985. Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Übersetzt von Brigitte Luchesi / Rolf Bindemann. 5. Aufl., Frankfurt/M. 1997. Geertz, Clifford: Die künstlichen Wilden. Anthropologen als Schriftsteller. Aus dem Amerikanischen von Martin Pfeiffer. München, Wien 1990. Geertz, Clifford: Spurenlesen. Der Ethnologe und das Entgleiten der Fakten. Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer. München 1997. Hanuschek, Sven: Geschichte des bundesdeutschen PEN-Zentrums von 1951 bis 1990. Tübingen 2004. Harpprecht, Klaus: Thomas Mann. Eine Biographie. Reinbek 1995. Kurzke, Hermann: Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk. Eine Biographie. München 1999. Mayer, Hans: Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen (II). Frankfurt/M. 1984. Mayer, Hans: In memoriam Thomas Mann (Leipzig, 1955). In: H. M.: Nach Jahr und Tag. Reden 1945–1977. Frankfurt/M. 1978, S. 107–124. Motschan, Georges: Thomas Mann – von nahem erlebt. Nettetal 1988. Prater, Donald: Thomas Mann. Deutscher und Weltbürger. Eine Biographie. Aus dem Englischen von Fred Wagner. München, Wien 1995. Sabais, Heinz W.: Thomas Mann in Weimar. Ein Bericht. In: H. W. S.: Fazit. Gedichte und Prosa. Ausgewählt von Karl Krolow / Ekkehard Born. Darmstadt 1982, S. 94–120. Schröter, Klaus: Thomas Mann mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt. Reinbek 1964.
IV. Inszenierung
TODD KONTJE
Der verheiratete Künstler und die ›Judenfrage‹ Wälsungenblut und Königliche Hoheit als symbolische Autobiographie
Wälsungenblut ist wohl Thomas Manns berüchtigtste Novelle. Schon bevor sie veröffentlicht werden sollte, hat Mann auf Wunsch seines Herausgebers das jiddische Schlusswort entfernen müssen, in dem die inzestuösen Zwillinge sich über den betrogenen »Goy« lustig machen.1 Bald danach zog er die Geschichte ganz zurück, um seinen empörten Schwiegervater zu beschwichtigen und einen Skandal zu vermeiden.2 Noch heute, hundert Jahre nach ihrer Entstehung und Nicht-Veröffentlichung, bleibt die Novelle eine fesselnde Lektüre: glänzend geschrieben, komplex strukturiert und äußerst problematisch. Mann schildert eine reiche Familie assimilierter Juden im Tiergarten-Viertel des damaligen Berlins. Die fiktive Familie ist nicht genau identisch mit Manns neuen Verwandten, aber ähnlich genug, um Aufmerksamkeit zu erregen: Die osteuropäische, jüdische Herkunft, der zur Schau getragene Reichtum, die hoch intellektuelle Atmosphäre, die Wagner-Begeisterung und die Zwillinge als Hauptfiguren machen Vergleiche zwischen der fiktiven Aarenhold-Familie und den Pringsheims schwer vermeidlich.3 Zwar hat sich Mann eifrig gegen autobiographische Deutungen seiner Geschichte gewehrt. In dem Aufsatz Bilse und Ich, geschrieben in den Wochen, gleich nachdem er die Novelle zurückgezogen hatte, verteidigte er sein Verfahren in den Buddenbrooks – und zwischen den Zeilen wohl auch in Wälsungenblut. Seine Familiengeschichte habe nichts mit »Nestbeschmutzung« zu tun, sondern sei eine neue »Beseelung« einer alten Geschichte, genau so, wie es Shakespeare _____________ 1 »Beganeft [betrogen] haben wir ihn, – den Goy« (GKFA 2/1, S. 463). 2 Über die Entstehungsgeschichte, Veröffentlichung und Rezeption der Novelle vgl. Pringsheim: Nachtrag; Vaget: Thomas Mann-Kommentar 155–169, sowie ders.: Sang réservé; außerdem GKFA 2/2, S. 314–329. 3 Darmaun: Mann, S. 40–53: Harpprecht: Mann, S. 261.
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gemacht habe.4 Die Betroffenen hatten weniger Verständnis dafür: Manns Onkel Friedel war entsetzt, als er sich in Christian Buddenbrook zu erkennen meinte; auch Alfred Pringsheim war nicht weniger wütend, als er glaubte, sein Schwiegersohn habe eine bösartige Karikatur der Familie Pringsheim geschrieben. Die Zeit vergeht und langsam verwandeln sich bittere persönliche Feindschaften in sachliche Fußnoten zu kritischen Gesamtausgaben. Als Viktor Mann im Jahre 1917 Lübeck besuchte, fand er, dass der Roman, der einst Entrüstung ausgelöst hatte, längst zum Stolz der Stadt geworden war.5 Wälsungenblut bleibt jedoch eine heikle Geschichte, eine »hot potato«, wie Klaus Pringsheim sie einmal nannte,6 weil sie direkt und kontrovers auf die so genannte ›Judenfrage‹ eingeht: Sollten die deutschen Juden ihre eigene Religion und Kultur behalten und als erkennbare Minderheit neben den christlichen Deutschen leben? Sollten sie sich taufen lassen und in der christlichen Leitkultur verschwinden? Oder sollten sie in eine neue zionistische Heimat auswandern? Es gibt zwar viele Gestalten in Manns Werk, die entweder explizit als Juden identifiziert werden – Leo Naphta im Zauberberg, Saul Fitelberg in Doktor Faustus – oder ziemlich deutlich als Juden erkennbar sind – zum Beispiel die Hagenströms in den Buddenbrooks –, aber sie sind mehr oder weniger Nebenfiguren.7 Hauptrollen haben dagegen die Patriarchen in den Josephs-Romanen, aber sie leben weit weg in grauer Vergangenheit, während Wälsungenblut im Berliner Tiergarten-Milieu des damaligen Kaiserreichs spielt. Auch hier treten Juden in den Vordergrund, während der christliche Beckerath den kläglichen Außenseiter darstellt. Das heißt aber nicht, dass die Mitglieder der Aarenhold-Familie positiv gezeichnet sind. Im Gegenteil: Der Vater, ein »Ostjude«, der sich durch fragwürdige »Machenschaften« emporgearbeitet hat, nennt sich selber »einen Wurm … eine Laus, jawohl« (GKFA 2/1, S. 434); die aufgetakelte, »unmögliche« Mutter trägt schwere Juwelen und einen extravaganten Haarputz, was in einem lächerlichen Kontrast zu ihrem »kleinen, häßlichen, früh gealterten« Körper steht (ebd., S. 429); der ältere Bruder, mit seiner smarten Uniform und tiefen Schmissen, wirkt wie eine Karikatur eines wilhelminischen Untertans; die ältere Schwester dagegen – »ein strenges Mädchen … mit Hakennase, grauen Raubvogelaugen und einem bittern Munde« (ebd., S. 430) – wie ein ausgedorrter Blaustrumpf. Vor allem die Zwillinge, _____________ 4 »Ein trauriger Vogel, der sein eigenes Nest beschmutzt!« (GKFA 21, S. 260); »Beseelung« (GKFA 14/1, S. 100). 5 Viktor Mann: Wir waren fünf, S. 326. 6 Pringsheim: Nachtrag, S. 268. 7 Vgl. Elsaghe: Mann, S. 171f., 194 über die Aussparung des Wortes ›Jude‹ oder ›jüdisch‹ für Figuren in Manns Werken, die deutlich als Juden markiert sind.
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Siegmund und Sieglinde Aarenhold, werden negativ dargestellt als egoistische, sarkastische und liederliche Bestien.8 Kauzige Figuren in Manns Frühwerk gibt es zwar jede Menge: den kleinen Herrn Friedemann, Tobias Mindernickel, Raoul Überbein, Lobgott Piepsam usw. Was aber Wälsungenblut anders und gefährlicher macht, ist nicht, dass die Figuren unangenehm und nebenbei jüdisch sind, sondern dass sie widerlich sind, weil sie Juden sind. Es handelt sich nämlich um zwei Generationen mehr oder weniger assimilierter Juden, und die negativen Charakterzüge entsprechen entweder antisemitischen Stereotypen – der reiche Vater mit seinem schmutzigen Geld, die mauschelnde Mutter – oder Zeichen der Überkompensation, zum Beispiel Militär- und Wagnerbegeisterung. Noch schlimmer: Sie können nichts dafür. Ihr Judentum liegt im Blut. So oft Siegmund sich auch badet oder rasiert, es kommen dennoch die physischen, rassischen Merkmale seines Judentums zurück. Die Geschichte, die oft als eine Auseinandersetzung mit der Frage der jüdischen Assimilation interpretiert wird, enthält also einen finsteren Anteil biologischen Rassismus und dadurch die Implikation, dass die Assimilation letztendlich unmöglich ist. Wälsungenblut wirft also heikle Fragen über den deutschen Nobelpreisträger auf. Kann es sein, dass die antisemitischen Stereotype, die ab und zu in Manns Werken auftreten, keine Ausrutscher sind, sondern Zeichen eines tief sitzenden Vorurteils?9 Kein Wunder, dass Literaturwissenschaftler der Nachkriegszeit, die das Positive an der deutschen Kultur aus den Trümmern des Dritten Reiches zu retten versuchten, die Geschichte eher vermieden,10 während ehrfurchtslosere Kritiker in jüngster Zeit gern die »thoroughly unsavory corners of Thomas Mann’s mind« ausloten.11 Andere dagegen haben Mann verteidigt, indem sie argumentierten, die Ge_____________ 8 Vgl. Anderson über die Verknüpfung von Assimilation und »animal mimicry« und die »figurative bestialisation of the Jewish protagonists« in Wälsungenblut (Jewish Mimesis, S. 195, 201; vgl. Elsaghe: Nation, S. 143f.). 9 Debatten über Mann und die Juden begannen, als er noch lebte, und haben seitdem nicht aufgehört. Im Jahre 1948 wunderte sich zum Beispiel Alfred Werner, warum Mann manche seiner unangenehmsten Figuren als Juden darstellte. Er meinte bissig, dass »the late Goebbels would have enjoyed« Manns Darstellung von Saul Fitelberg (Tb. 1946–1948, S. 854), aber Mann wies den Angriff als »dumm und harmlos« ab (Tb. 31.12.1948). Stern liefert eine gute Übersicht über »Thomas Mann und die jüdische Welt« mit vielen weiterführenden Literaturhinweisen. Beachtenswert unter älteren Arbeiten ist Loewensteins sachlicher Essay (Mann). Ähnlich sachgerecht und gründlich ist Darmauns neuere Monographie (Mann). 10 Vaget: Sang réservé, S. 375. 11 Angress-Klüger: Jewish Characters, S. 169. Dieser Satz fehlt in der deutschen Fassung dieses Aufsatzes in Klüger: Katastrophen, S. 39–58. Ähnlich kritisch sind Brenner: Beyond Naphta; Elsaghe: Nation, sowie Ders.: Unterschiede; Harpprecht: Mann; und Roggenkamp: Erika Mann.
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schichte richte sich eigentlich gegen den deutschen Wagner-Kult oder sogar gegen den Antisemitismus,12 oder aber sie entschuldigten die Novelle als einen wunden Punkt in einem sonst bewunderungswürdigen Werk.13 In diesem Aufsatz bespreche ich Wälsungenblut zusammen mit Manns zweitem, oft vernachlässigtem Roman Königliche Hoheit als Reaktionen auf eine kritische Periode in seinem Leben, in der er versuchte, mit der Verdrängung seiner homosexuellen Neigungen und seiner Ehe mit einer Tochter assimilierter Juden zurechtzukommen. Manns Gedanken über sexuelle und ethnische Identitäten in dieser Zeit sind nicht nur mit seiner Frau und ihrer Familie verbunden, sondern auch mit seiner eigenen Herkunft als Kind eines deutschen Vaters und einer halb portugiesisch-kreolischen Mutter aus Brasilien. Demzufolge berührt Manns Antwort auf die innereuropäische ›Judenfrage‹ auch Fragen über ethnische oder, wie er sagen würde, rassische Unterschiede in den Kolonien. Ich interpretiere Wälsungenblut zuerst als eine alptraumhafte Vision von Manns neuem Leben als verheirateter Künstler. Er projiziert antisemitische Stereotypen auf entstellte Bilder seiner neuen Familie. Gleichzeitig identifiziert er sich aber wenigstens teilweise mit Siegmund Aarenhold. In Königliche Hoheit bearbeitet Mann nochmals seine Brautwerbung und neue Ehe, aber diesmal verwandelt er die erschreckend fremde Figur von Sieglinde Aarenhold in eine angenehm exotische Partnerin, deren brasilianisch-kreolische Herkunft der seiner Mutter ähnelt. Zum Schluss bespreche ich kurz das Thema von Manns möglichem Antisemitismus in seiner späteren Karriere. Meine Argumentation läuft weder auf Verteidigung noch Verurteilung Manns hinaus, sondern auf das Verständnis seines Verhaltens in seiner ganzen Komplexität und Widersprüchlichkeit. Manns Verhältnis zu Juden und zum Judentum sind durch das charakterisiert, was Heinrich Detering als eine »konstitutive Ambivalenz« gekennzeichnet hat,14 eine Ambivalenz, die sich auf seine Beziehungen zu Frauen und Künstlern erstreckt und deren Quelle in Manns zweideutiger Haltung zu sich selber liegt. Ich verstehe Manns Behandlung der ›Judenfrage‹ als Teil seines lebenslangen Projektes der literarischen Selbst-Erfindung, »self-fashioning« oder »identity management«.15 Als junger Schriftsteller beklagte sich Mann oft darüber, dass das Publikum die realen Personen hinter den fiktiven Fi_____________ 12 Levesque: Sword, S. 15f.; Vaget: Art, S. 47, 49, 55. 13 Selbst Kurzke, der zusammen mit Vaget zu den stärksten Verteidigern Manns gegen den Vorwurf des Antisemitismus zählt, gibt zu, dass Manns Darstellung der inzestuösen Zwillinge in Wälsungenblut »einer antisemitischen Deutung nur wenig Widerstand entgegen[setzt]«. (Kurzke: Mann, S. 206). 14 Detering: Juden, S. 95. 15 Dierks und Wimmer: Vorwort S. 8; Vaget: Mann.
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guren in den Buddenbrooks suchte, oder Königliche Hoheit als politische Satire interpretierte »– gerade als ob ich es je mit einem andern ›Stoff‹ zu tun gehabt hätte, als mit meinem eigenen Leben. Wer ist ein Dichter? Der, dessen Leben symbolisch ist« (GKFA 14/1, S. 242). Wenn er aber über sein eigenes Leben schrieb, war Mann davon überzeugt, dass er auch die Fragen seiner Umwelt behandelte: »In mir lebt der Glaube, dass ich nur von mir zu erzählen brauche, um auch der Zeit, der Allgemeinheit die Zunge zu lösen« (ebd.). Symbolische Autobiographie erhebt das bloß Persönliche ins Repräsentative und verleiht dem Zeitalter dadurch eine Stimme. Anderswo benutzte Mann die Metapher eines Seismographen, um sich als einen Schriftsteller zu beschreiben, der Fragen der Öffentlichkeit intuitiv begreift. Im Gegensatz zu Heinrich Manns offenkundig satirischer und politisch engagierter Fiktion schrieb Thomas Mann scheinbar apolitische oder »unpolitische« Werke, die sich doch mit den dringenden Fragen des Tages beschäftigten: Fragen über sexuelle Abweichungen von traditionellen Geschlechterrollen, über ethnische und rassische Unterschiede im Zeitalter des Imperialismus und auch über die ›Judenfrage‹ . Manns Begriff der symbolischen Autobiographie oder des Dichters als Seismograph deutet auf ein Verständnis des Ichs als sowohl öffentlich wie auch privat hin, und auf literarische Werke, die zwischen romantischem Bekenntnis und moderner Distanzierung schweben. Die beiden Aspekte von Manns literarischer Produktion und öffentlicher Persönlichkeit sind von einer dialektischen Spannung zwischen Entfremdung und Identifikation, Verbergung und Offenbarung gekennzeichnet. Mann baute vorsichtig sein öffentliches Ich auf, aber er erlaubte auch wiederholt Blicke hinter die Kulissen, als ob er sein Publikum daran erinnern wollte, dass seine Rolle als aufrichtiger Bürger, preisgekrönter Autor und das Gewissen der Nation eben eine Rolle war, eine mit zäher Disziplin durchgehaltene Performance – gerade so wie Felix Krull schockiert ist, wenn er die ekelhaften Geschwüre auf dem Rücken des Schauspielers sieht, der das Publikum eben entzückt hat. Mann zog klare Trennungslinien, nur um sie gleich zu verwischen; er distanzierte sich von etwas, nur um es als einen verdrängten Aspekt seines Selbst bloßzulegen. In Falle seiner sexuellen Orientierung hat Anthony Heilbut das treffende Wort vom »poet of the half-open closet« geprägt, der verheiratete Künstler und pater familias, der wiederholt andeutete, dass seine sexuellen Neigungen weniger traditionell waren, als sie schienen.16 Er selber bestätigte die Vermutung, indem er für die postume Veröffentlichung seiner Tagebücher sorgte. Nachdem er zuerst zögerte, wurde Mann später zu einem der stärksten Gegner des deutschen Nationalsozialismus, _____________ 16 Heilbut: Mann, S. 251.
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aber er schrieb auch den Aufsatz Bruder Hitler, worin er seine unbequeme Affinität zu seinem schlimmsten Feind thematisierte. Seine Beziehungen zu Juden sind durch ein ähnliches Hin und Her zwischen Identifikation und Ablehnung gekennzeichnet, eine Ambivalenz, die die spätere Publikationsgeschichte von Wälsungenblut bezeugt. Mann veröffentlichte die Novelle in einer teuren Luxusausgabe auf dem Höhepunkt der Inflation in den frühen 20er Jahren und erlaubte verschiedene Übersetzungen, aber das Werk wurde dem breiteren deutschen Publikum erst 1958 zugänglich, als ob er nie genau gewusst hätte, ob er die Novelle veröffentlichen oder verbergen sollte.17 Zu seinen Lebzeiten blieb das Werk genau das, was es schon war, als ein aufmerksamer Angestellter in einem Münchener Buchladen die Makulaturblätter des zurückgezogenen Textes 1905 gefunden hatte: ein öffentliches Geheimnis, wie Edgar Allan Poes entwendeter Brief, verborgen und doch in aller Öffentlichkeit. Schauen wir nun diesen merkwürdigen Text in seinem biographischen Kontext etwas genauer an. I. Die ersten Jahre nach der Veröffentlichung von Buddenbrooks hätten eigentlich triumphal sein sollen, waren aber oft von künstlerischer Verzweiflung und persönlichen Krisen getrübt. Gerade der Erfolg der Buddenbrooks könnte als Hemmnis fungiert haben, denn, wie Hermann Hesse in seiner höflichen, aber doch lauwarmen Rezension von Königliche Hoheit schrieb, »solche Bücher wie die Buddenbrooks schreibt auch ein Meister nicht alle Jahre, und auch nicht alle zehn Jahre«.18 Erst mit Der Zauberberg gelang Mann ein würdiger Nachfolger seines genialen Erstlingsromans. Weitere Sorgen verursachte ein neuer Ausbruch von Manns verbotenen homosexuellen Neigungen, in diesem Falle für Paul Ehrenberg.19 Ein coming out war für den erfolgreichen Schriftsteller und den stolzen Sohn eines Lübecker Senators undenkbar, besonders zu einer Zeit, als selbst der Verdacht der Homosexualität Karriere und Ruf zerstören konnte. Mann wohnte zwar in der Boheme von Schwabing, wo die mehr oder weniger bekannten Homosexuellen des George-Kreises sich trafen, aber er selbst war kein »Zigeuner im grünen Wagen« (GKFA 2/1, S. 252). Er war aber auch kein Hans Hansen, der wunschlos glücklich in einer einfachen bürgerlichen Ehe mit seiner blonden Ingeborg leben konnte. _____________ 17 Vaget (Sang réservé) bespricht die französische Übersetzung. Die amerikanische Ausgabe erschien 1936 bei Knopf (Tb. 4.3.1935) und 1954 bei Vintage (Tb. 7.7.1954); die ungarische 1936 (Tb. 10.9.1936). 18 T. M. an Hermann Hesse (Mann: Briefwechsel, S. 46). 19 Böhm: Selbstzucht, S. 197–233; Kurzke: Mann, S. 133–150.
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Irgendwie musste Mann anständig aussehen und dennoch ein bisschen schräge bleiben, das Leben lieben und doch von »Unzucht und Raserei des Unterganges« wissen (GKFA 2/1, S. 584), von außen her »glatt und geleckt« erscheinen, »aber innerlich […] schwarz« sein (GKFA 1/1, S. 18).20 »Die entscheidende Erwägung und Sicherheit bleibt mir,« schrieb Mann fast zwei Jahrzehnte später, »dass ich mich meiner Natur nach im Bürgerlichen bergen darf, ohne eigentlich zu verbürgerlichen« (Tb. 22.5.1919). Die Lösung zu seinem Dilemma lag auf der Hand: er musste heiraten, und in Katia Pringsheim fand er eine Frau, die attraktiv, intelligent, aus bester Familie und steinreich war. Mit dieser Ehe konnte Mann reicher und angesehener als sein Vater werden und der Welt gleichzeitig beweisen, dass es um seine Männlichkeit doch richtig bestellt war. Aber genauso wie im Falle seines Vaters war seine Partnerwahl ein bisschen gewagt: Senator Heinrich Mann heiratete eine etwas fremde Schönheit, die in den Dschungeln von Brasilien geboren wurde, und Thomas Mann wählte eine Jüdin. Aber war sie überhaupt jüdisch? In den Augen der Nationalsozialisten allerdings. In ihren eigenen Augen aber keineswegs. Katia und ihr Zwillingsbruder Klaus wurden evangelisch getauft und hatten als Kinder keine Ahnung, dass sie jüdischer Herkunft waren. Die junge Katia sagte ihrer berühmten Großmutter Hedwig Dohm, dass sie zwar nichts gegen so genannte »Mischehen« zwischen Christen und Juden hatte, aber die Frage gehe sie persönlich nichts an: »dass ich keine Jüdin bin, das weiß ich einmal ganz gewiss«.21 Thomas Manns Mutter Julia hatte jedoch ihre Bedenken und wurde sehr misstrauisch, als sie erfuhr, dass keine kirchliche Trauung geplant war: »Ich finde, wenn Pringsheims Protestanten sind, sollten sie bei einem solchen Wendepunkt in Katias Leben es auch beweisen.«22 Mann wusste ziemlich genau, um wen es sich handelte, als er zum ersten Mal den glänzenden Salon der Pringsheims besuchte: »Kein Gedanke an Judenthum kommt auf, diesen Leuten gegenüber«, schrieb er begeistert an Heinrich, »man spürt nichts als Kultur« (GFKA 21, S. 271). Im Klartext: Thomas Mann dachte sehr wohl an das Judentum der Familie Pringsheim. Zugespitzt lautet die Frage: Heiratete Thomas Mann Katia Pringsheim trotz ihrer jüdischen Herkunft oder gerade deswegen? Die Antwort _____________ 20 Vgl. Izenberg: Modernism, S. 97–159 für eine subtile Besprechung von Manns verdrängter Homosexualität als Symptom einer weit verbreiteten Krise moderner Männlichkeit. 21 Jens: Frau Thomas Mann, S. 33. Ähnliche Informationen über die Herkunft der Pringsheims findet man in Jüngling / Rossbeck: Katia Mann. Wie Roggenkamp wiederholt betont, haben Katia und Erika Mann ihr vermeintliches Judentum vehement bestritten (Roggenkamp: Erika Mann). 22 Jens: Frau Thomas Mann, S. 63.
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scheint ein bisschen von beidem zu sein. Einerseits konnte er die Familie Pringsheim als Musterbeispiel einer gelungenen Assimilation preisen, wie er sie 1907 in dem Aufsatz Die Lösung der Judenfrage beschrieb und wie er die positive Figur von Dr. Sammet in Königliche Hoheit darstellte. Katias Vater Alfred Pringsheim war Professor der Mathematik an der Universität München, ein Kunstsammler und ein leidenschaftlicher Wagnerianer – fast das einzige mit seinem zukünftigen Schwiegersohn gemeinsame Interesse, wie sich herausstellen würde. Vielleicht um zu beweisen, dass er nicht wegen Geld oder Status heiratete, behauptete Mann stolz, dass er sich seiner Herkunft keineswegs schämen müsste: »Ich bin Christ, aus guter Familie, habe Verdienste, die gerade diese Leute zu würdigen wissen« (GFKA 21, S. 272). »Ich bin Christ«, das heißt, in meiner Familie gibt es kein Stigma des Judentums, egal wie sehr die Pringsheims assimiliert sein mögen, und ich habe Geld, was »gerade diese Leute« verstehen. Der Stolz, die Selbstverteidigung und mehr als ein Hauch Antisemitismus in diesen Bemerkungen deuten darauf hin, dass Mann eine in so vielen Hinsichten passende Partnerin gefunden hatte, dass er bereit war, ihre jüdische Herkunft zu übersehen oder zu leugnen. Andererseits scheint Mann gerade das Exotische an seiner Braut zu gefallen. In dem autobiographischen Gesang vom Kindchen beschreibt er sie als »Prinzessin des Orients«, und seine Kinder scheinen eine ähnliche Wirkung auf seine Einbildungskraft gehabt zu haben. »Heimat und phantastische Ferne treffen sich in dir, Kindchen«, schreibt er von seiner neuen Tochter Elisabeth, als sie in ihrem »Moses-Körbchen« schlummert. Elisabeths Augen sind blau »wie nordisch Eis« und ihre Haare so blond wie die ihrer »hansischen Väter[n]«, aber es gibt etwas in der Form ihres Gesichtes und »das arabische Näschen«, was ihn an »gelbe Wüste« im »östlich tiefere[n] Süden« denken lässt (GW VIII, S. 1086f.). Früher freute er sich über das Aussehen seiner ersten Tochter Erika: »Momentweise glaube ich, ein klein bischen Judenthum durchblicken zu sehen, was mich jedes mal sehr heiter stimmt« (GKFA 21, S. 333). Ein paar Jahre später bemerkt Mann, dass das neue Baby Golo ihn an Erika erinnert: »schlank und etwas chinesenhaft« (ebd., S. 412). Die schnellen Sprünge vom Jüdischen zum Arabischen oder Chinesischen zeigen, wie leicht religiöse, ethnische und geographische Unterschiede in einer einfachen Unterscheidung zwischen dem Deutschen und dem Exotischen zusammenfallen. Gerade dieses Überschneiden von Kategorien erinnert an Edward Saids Behauptung, dass der Orientalismus und der Antisemitismus eng miteinander verwandt seien.23 Die deutschen _____________ 23 Said: Orientalism, S. 27f. Vgl. auch Elsaghe: Nation, S. 27–60. Wichtige theoretische Werke über die aufeinander bezogenen Themen von Geschlechterrollen, ›Rasse‹ und Antisemitismus im deutschen Kontext sind Gilman: Pathology, sowie Theweleit: Männerfantasien.
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Juden werden assoziativ mit den außereuropäischen Fremden in Verbindung gebracht. Diese Beziehungen sind bei Thomas Mann aber etwas komplizierter, denn seine jüdische Frau und seine Kinder, die er einmal »eine europäische Mischrasse« genannt hat, erinnern ihn an die eigene Mutter und die Tatsache, dass auch sein »Blut mit lateinamerikanischem gemischt« ist (GW XI, S. 420).24 Seine eigene »Blutmischung« wird in seiner Imagination mit dem mütterlichen, weiblichen Reich des Rausches, der Inspiration und der verbotenen homosexuellen Begierden in Verbindung gebracht – gefährliche Bereiche, vor denen ihn die Ehe schützen sollte, die er aber für seine Kunst in kontrollierter Form brauchte. Die Heirat mit einer »Prinzessin des Orients« war also zugleich Heilmittel und Gift im Sinne von Jacques Derridas Deutung von Platons pharmakon:25 Sie schützte Mann vor einem totalen Zusammenbruch, vor »dem heulenden Triumph der unterdrückten Triebwelt« (GW XIII, S. 136), aber er behielt zugleich einen Bruchteil von dieser gefährlichen Welt, damit er als Bürger leben, aber immer noch als Künstler schaffen konnte. Die ersten Monate seiner Ehe scheinen allerdings eher giftig als heilsam gewesen zu sein, wenigstens aus seiner Sicht. Mann hatte die Ehe mit Katia intensiv, ja fast verzweifelt verfolgt, und jetzt entdeckte er das ambivalente Vergnügen, das zu besitzen, wonach er sich gesehnt hatte. Seine Mutter Julia Mann fand sich mit der Ehe allmählich ab, aber die Beziehungen zu dem neuen Schwiegervater blieben gespannt. »Die Verlobung – auch kein Spaß, Du wirst das glauben«, schrieb Thomas an Heinrich, aber er versuchte, sich »in die neue Familie einzuleben, einzupassen (soweit es geht)« (GKFA 21, S. 312). Es ging aber offenbar nicht immer sehr weit, denn nach einem Jahr klagte er, dass die Familie seiner Frau »wieder einmal fremd, gräßlich, demütigend, entnervend, entkräftend« auf ihn wirkte (ebd., S. 367). Schon während der Flitterwochen gab Mann zu, dass er gerne »ein bißchen mehr Klosterfrieden« hätte (ebd., S. 315), und mehr als ein Jahr später quälte ihn »der Gedanke, daß ich mich nicht hätte menschlich attachiren und binden dürfen« (ebd., S. 365). Mann äußerte diese Zweifel über seine Ehe und machte die vernichtenden Bemerkungen über die Familie Pringsheim zur selben Zeit, als er Wälsungenblut schrieb. Es ist also durchaus plausibel, die Geschichte – auf einer Ebene mindestens – als eine Auseinandersetzung mit seinem neuen Leben als verheirateter Künstler zu lesen, was für den Nietzsche-Verehrer und Erfinder von solch aggressiv-keuschen Künstlern wie Tonio Kröger, Savonarola und dem fanatischen Mönch Hieronymus in Gladius Dei als _____________ 24 »Gestern mußte ich mich unterbrechen. Es war 6 Uhr geworden, die Kinder kamen herein, es wurde dunkel gemacht, und aus den Kehlen der europäischen Mischrasse erklangen die alten Lieder« (Mann: Mann an Bertram, S. 53). 25 Derrida: Dissémination, S. 108–113.
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contradictio in adjecto wirken musste.26 Das heißt nicht, dass er sich bewusst an der neuen Familie rächen wollte – sonst hätte er die Novelle Katia, Klaus und Hedwig Pringsheim nicht vorgelesen und deren Beifall gesucht und gefunden. Es heißt auch nicht, dass man Wälsungenblut als ein realistisches Bild der Familie Pringsheim oder deren Berliner Verwandten lesen darf, denn trotz aller Ähnlichkeiten sind die Unterschiede doch zu auffällig. Wälsungenblut wirkt eher als Schreckbild, als ein Alptraum von Manns neuem Leben, entstellt durch Ängste und Ärger, und verdichtet in geschliffener Prosa. Und hier kehren wir zur Frage von Manns Antisemitismus zurück, denn je »fremder, grässlicher, demütigender, entnervender und entkräftender« die fiktive Familie wirkt, desto ›jüdischer‹ scheint sie. ›Jüdischsein‹ bedeutet für Thomas Mann also sowohl ein unveränderbares biologisches Faktum, das im Blut liegt, als auch eine Verhaltensweise, die durch den kulturellen Kontext bestimmt ist und damit auch verändert werden könnte. Wie Yahya Elsaghe bemerkt hat, wirken die Mitglieder der Hagenström-Familie dann besonders ›jüdisch‹, wenn die Buddenbrooks sich bedroht fühlen.27 Am anderen Ende der Skala liegt Manns Sicht der Pringsheims, als er um Katia wirbt: ganz Kultur und kein Tropfen Judentum. Der scheinbare Widerspruch passt eigentlich zur Logik der Assimilation, die Mann in seiner Replik auf die ›Judenfrage‹ verteidigt: er hat nichts gegen Juden an sich, bloß gegen Juden, die sich ›jüdisch‹ verhalten. So verwerflich diese Einstellung heute klingen mag, war sie damals nicht ungewöhnlich, auch unter assimilierten Juden wie der Familie Pringsheim.28 Katia Manns abschätzige Bemerkung über eine neue Welle von Besuchern im Schweizer Exil ist in dieser Hinsicht typisch: »Tenni [Richard Tennenbaum], [Ferdinand] Lion und Therese [Giehse], das ist zuviel, und, offen gesagt, auch zu jüdisch«.29 Eine solche Haltung den Juden gegenüber ist kaum ›politisch korrekt‹ im heutigen Sinne, aber auch nicht das, was Daniel Goldhagen »eliminationist anti-Semitism« genannt hat, nämlich der krankhafte Wunsch, alle Juden zu vernichten, ob assimiliert oder nicht.30 Thomas Manns zugegebenermaßen dubiose Unterscheidung zwischen Jüdischsein und jüdischem Verhalten erlaubte ihm, _____________ 26 »Ein verheirateter Philosoph gehört in die Komödie« (Nietzsche: Werke. Bd. 3, S. 295). 27 Elsaghe: Unterschiede, S. 189. Er bemerkt in einem anderen Zusammenhang, dass der antisemitische Diskurs um 1900 dazu tendierte, »zwischen Kultur und Natur« zu oszillieren (Elsaghe: Nation, S. 101). Manns Verhältnis zur ›Judenfrage‹ war also in dieser Hinsicht eher typisch. 28 Für eine allgemeine Übersicht über jüdische Assimilation vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert vgl. Elon: Pity. Über die Assimilation im Verhältnis zu »Ostjuden« vgl. Aschheim: Brothers; als eine Art von »colonial mimicry« vgl. Boyarin: Unheroic Conduct; und in seiner Beziehung zur jüdischen Selbsthass vgl. Gilman: Jewish Self-Hatred. 29 Zitiert bei Jens: Frau Thomas Mann, S. 198. 30 Goldhagen: Executioners, S. 81–128.
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sich mit assimilierten Juden anzufreunden und sie zu verteidigen, indem er ihren ›rassischen‹ Unterschied ignorierte, und dennoch seine negativen fiktionalen Figuren und echten Feinde nicht nur als ›typisch jüdisch‹ darzustellen beziehungsweise anzugreifen, sondern auch biologisch abzuwerten und damit zu verdammen: die Aarenhold-Zwillinge sind »von fremder, von hoffnungslos anderer Art« (GKFA 2/1, S. 451). Das war aber Thomas Mann auch, wenigstens seinem Selbstverständnis nach, und aus dieser Sicht handelt Wälsungenblut überhaupt nicht von den Juden, sondern von dem modernen, homosexuell veranlagten Künstler mit einer lateinamerikanischen »Blutmischung«. Wenn wir die Geschichte als ein verzerrtes Bild der Familie Pringsheim lesen, so ist anzunehmen, dass Mann sich mit Beckerath identifiziert, das heißt, mit dem christlichen Außenseiter im jüdischen Milieu. Wie aber einige Leser schon bemerkt haben, ist Siegmund die viel interessantere Figur.31 Der Erzähler beobachtet Siegmund mit voyeuristischem Interesse, während dieser sich langsam und stutzerhaft für die Oper ankleidet. Er steht auf einem Eisbärenfell in seinem Haus neben dem Tiergarten und hat selber dunkles, zottiges Körperhaar. Solche Details deuten auf etwas Primitives, Leidenschaftliches hin, das sich durch die ganze Geschichte hindurch zieht: vom »erzenen Lärm« des Gonges – »wild, kannibalisch« – der die Familie zu Tisch ruft (ebd., S. 429), zum »wilden Akzent« von Wagners Musik (ebd., S. 448), bis zur frevelhaften Umarmung der beiden Geschwister auf dem gerade erwähnten Eisbärenfell. Die Mutter sieht aus, als wäre sie »unter einer fremden, heißeren Sonne verdorrt« (ebd., S. 429); Sieglinde und Beckerath wollen ihre Flitterwochen in Spanien verbringen; der Diener Wendelin erscheint wie »ein ragender Sklave« über »den beiden zierlichen und warm vermummten, dunklen, seltsamen Geschöpfen« (ebd., S. 457). Selbst die Namen der beiden Pferde, Baal und Zampa, die das Zwillingspaar zur Oper ziehen, deuten einerseits auf eine primitive Religion – Baal war ja ein alter Fruchtbarkeitsgott im Nahen Osten, der mit orgiastischen Zeremonien gefeiert wurde – und andererseits auf Rassenunterschiede, denn Zamba, allerdings mit ›b‹ statt ›p‹, ist eine alte Bezeichnung für das Kind eines Schwarzen und eines Einheimischen in Brasilien. Da Mann beim Schreiben von Königlicher Hoheit sich genau über die Unterschiede zwischen rassischen Termini wie Mestize, Kreole, Quaterones und Quinterones informierte (GKFA 4/2, S. 466f.), ist auch anzunehmen, dass er den Namen Zampa nicht zufällig gewählt hat. Durch diese vielen kleinen, aber auffälligen Einzelheiten wird das jüdische Milieu der »Tiergartennovelle« (GKFA 21, S. 329 [T. M. an Heinrich Mann, 17.10.05]) immer wie_____________ 31 Anderson: Novellas, S. 94; Roggenkamp: Erika Mann, S. 103.
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der mit der Welt des antiken Mythos sowie der exotischen Welt der modernen Koloniallandschaft in Verbindung gebracht. Die in Wälsungenblut angedeutete Homoerotik und Exotik unterstreichen den imaginierten Unterschied zwischen Christen und Juden in Manns Gesellschaft, und zur gleichen Zeit verstärken sie die Identifikation zwischen Mann und seinem jüdischen Protagonisten. Die assoziative Verbindung zwischen Juden, Frauen und Schwarzen gehörte zum festen Bestandteil des antisemitischen Diskurses um 1900.32 Aber Mann hatte auch einen Tropfen fremden Blutes in seinen Adern, wie er immer selber betonte, sowie homosexuelle Neigungen, die ihn von den »normalen« Bürgern fern hielten, und die er aber doch für seine Kunst brauchte. Wie Thomas Mann ist auch Siegmund Künstler, oder zumindest Dilettant und Ästhet. Er lässt sich von einem berühmten Künstler unterrichten, obwohl er weiß, dass er kein Talent hat; er kauft sich die neuesten Bücher, aber sie liegen höchstens angelesen in seinem Zimmer herum; die Oper scheint ihn aufzuregen, aber er spricht während der Vorstellung und tadelt sie nachher in der Pause. Selbst die scheinbar spontane Leidenschaft für seine Schwester ist bloß eine Nachahmung von Wagners Walküre. Als Dilettant ist Siegmund mit anderen Figuren aus Thomas Manns Frühwerk verwandt: mit dem Bajazzo, Paolo Hoffmann in Der Wille zum Glück, Detlev Spinell in Tristan und dem Wunderkind. Wie Siegmund neigen diese Figuren auch zur Androgynie, Weiblichkeit oder Homosexualität, und fast alle sehen exotisch aus: Paolo hat die gelbe Haut und die dunklen Locken seiner südamerikanischen Mutter; das Wunderkind ist ein dunkelhäutiger Grieche, der mit einem orientalischen Impresario reist; und Detlev Spinell ist Jude. Die positiven Gegenfiguren zu diesen Dilettanten sind Schiller in Schwere Stunde, Tonio Kröger und Gustav von Aschenbach. Ihnen fehlt zwar die robuste Heterosexualität eines Anton Klöterjahns in Tristan oder des muskulösen Jappe in Wie Jappe und Do Escobar sich prügelten, und Tonio Kröger und Gustav von Aschenbach haben auch »die Merkmale fremder Rasse« (GKFA 2/1, S. 508), die sie von anderen Deutschen absetzt. Diese drei Figuren können jedoch ihre Schwächen überwinden und hochkarätige Literatur schreiben. Man kann also folgendes Fazit ziehen: Der große Künstler braucht ein bisschen Krankheit, eine Neigung zur Homosexualität, einen Hauch Exotik, aber nicht zu viel. Ohne jedwedes Stigma bleibt man normal und langweilig; zu viel macht künstlerisch impotent oder treibt den Künstler in einen Abgrund zerstörerischer Leidenschaft. Echtes Schreiben ist immer eine Gratwanderung für Thomas Mann, wo das Gefährliche, Verlockende zwar angezapft, aber doch camoufliert und gebändigt werden muss. Der _____________ 32 Vgl. Boyarin: Conduct, S. 208f., 262; Gilman: Kafka, S. 107–110; Mosse: Nationalism S. 133.
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Musterfall dafür ist Gustav von Aschenbach, der klassische Prosa verfasst, während er dem jungen Tadzio am Strand schöne Augen macht. Es besteht aber immer die Gefahr, dass der Künstler zu einem Scharlatan wird, dessen Werke die Massen beglücken mögen, dem aber echte Genialität abgeht – wie im Falle Wagners, in der für Mann so wichtigen Kritik Nietzsches.33 Aus dieser Sicht spiegelt Wälsungenblut nicht nur Manns lebenslange Ambivalenz gegen Wagners Musik und den Wagner-Kult wider,34 sondern auch die gelegentlichen Zweifel an seinem eigenen Werk. Er konfrontiert Wagners superdeutsche Helden mit ihren dekadenten jüdischen Nachahmern, um die Unterscheidung zwischen dem Genius und dem Dilettanten und damit auch seine eigene Kunst in Frage zu stellen. II. »›Mit der Mutter schläft jeder – weißt du das nicht?‹« Mut-em-enet zu Joseph in Joseph in Ägypten (GW V, S. 1175)
Königliche Hoheit dient als komisches Pendant zu der doppelt alptraumhaften Welt von Wälsungenblut: alptraumhaft in dem entstellten Bild seiner angeheirateten Familie als monströse antisemitische Karikaturen, und alptraumhaft in dem entstellten Bild von Mann selbst als ausschweifender Dilettant. Wie Wälsungenblut ist auch Königliche Hoheit zur Zeit der Brautwerbung um und Hochzeit mit Katia Pringsheim konzipiert.35 Auch dieser Roman enthält leicht erkennbare Portraits von Manns Bekannten und Familienmitgliedern, von dem Hund Percival (Manns schottischem Collie »Motz«) bis hin zum Bruder des Protagonisten Albrecht (Heinrich Mann) und dem Schwiegervater Samuel N. Spoelmann (Alfred Pringsheim).36 Am auffallendsten und wichtigsten sind Manns Darstellung von Katia Pringsheim als seine feurige, knabenhafte Algebra-liebende Prinzessin und sein Selbstportrait als Prinz; er hat sogar aus seinen eigenen Liebesbriefen für den Roman abgeschrieben. Königliche Hoheit handelt also ebenso von Thomas Manns Ehe wie Wälsungenblut, aber der Kontrast zwischen den beiden Werken könnte nicht stärker sein: dort eine fremde Welt des In_____________ 33 Lämmert: Doppelte Optik; Kurzke: Epoche, S. 87–92. 34 Levesque: Sword, S. 15f. 35 Mann begann schon 1903 Materialien für eine kurze Fürstennovelle zu sammeln. Aus der geplanten Novelle ist ein Roman geworden, der aber erst 1909 vollendet wurde (GKFA 4/2, S. 9–81). 36 »Für alle Hauptfiguren des Romans lassen sich biographische Modelle ausmachen« (GKFA 4/2, S. 96). Vgl. auch Mendelssohn: Zauberer, Bd. 2, S. 1155–1253 und Weigand: Gehalt.
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zests mit der dunklen Untermalung von Wagners Ring, hier Hochzeitsglocken in Einklang mit dem triumphalen Schluss der Meistersinger.37 Was ist geschehen? Wie verwandelt Mann das bitterböse Zerrbild seiner Ehe in eine strahlende Komödie, und was sagt diese ganz andere Behandlung des Themas von dem verheirateten Künstler über seine Einstellung zur ›Judenfrage‹ aus? Wenig oder nichts, könnte man auf den ersten Blick meinen: Imma Spoelmann hat eine bunte Mischung von europäischen und amerikanischen Vorfahren, die zu ihrer »schillernde[n] Blutzusammensetzung« beitragen (GKFA 4/1, S. 324), von denen aber keiner explizit als jüdisch identifiziert wird. Ihr Großvater väterlicherseits, auch Spoelmann genannt, war ein Deutscher, der nach Amerika auswanderte, ein erfolgreicher Goldgräber wurde und durch kluge Investitionen Millionär geworden war. Zuerst heißt es, er habe eine Frau aus dem Süden geheiratet mit »kreolische[m] Blut, eine Person mit deutschem Vater und eingeborener Mutter« (ebd., S. 168). Die Beschreibung ist etwas verwirrend, denn ›Kreole‹ bezeichnet normalerweise den Nachkommen europäischer Kolonisten in Südamerika (weißer Kreole) oder einen in Südamerika geborenen Schwarzen (schwarzer Kreole), aber nicht einen Eingeborenen. Imma erklärt später, dass ihr Großvater »eine Dame mit indianischem Blut« in Bolivien geheiratet hatte, und dass sie selber »eine Quinterone« oder einfach »eine Farbige« sei (ebd., S. 291f.). Noch später spricht Herr von Knobelsdorff von »der vierfachen Blutzusammensetzung Imma Spoelmanns – denn außer dem deutschen, portugiesischen und englischen fließe ja, wie man vernähme, auch ein wenig von dem uradligen Blut der Indianer in ihren Adern« (ebd., S. 374). Diese Stelle stiftet neue Verwirrung, denn Thomas Mann hätte wissen müssen, dass Bolivien eine spanische und keine portugiesische Kolonie war. Imma Spoelmanns Vater ist also das Kind eines Deutschen und einer Frau mit einer unbestimmten und nicht ganz logischen Mischung von kreolisch-eingeborener, portugiesisch-bolivianischer Herkunft. Samuel N. Spoelmann seinerseits heiratet »eine DeutschAmerikanerin mit halbenglischem Blut, und deren Tochter ist nun Miß Spoelmann« (ebd., S. 168). Manns Notizen aus der Entstehungsgeschichte von Königliche Hoheit helfen, diese Verwirrungen aufzuklären. Klaus Heinrichs Mutter sollte ursprünglich die portugiesische Prinzessin Maria da Gloria sein, was sich eindeutig auf Manns Mutter Julia da Silva Bruhns bezieht (GKFA 4/2, S. 96).38 Der ältere Spoelmann sollte ursprünglich Davis oder Davidsohn heißen, und wäre dadurch deutlich als Jude gekennzeichnet. Er hätte seine _____________ 37 »Ich erinnere mich wohl, dass ich während der Arbeit öfters zu den ›Meistersingern‹ emporblinzelte« (GKFA 21, S. 441). 38 Vgl. auch Mendelssohn: Zauberer, Bd. 2, S. 1158.
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Frau in San Francisco treffen sollen und nicht in Bolivien, und sie hätte aus Brasilien stammen sollen (ebd., S. 431).39 In der endgültigen Fassung des Romans vermied Mann einen deutlichen Hinweis auf Spoelmanns jüdische Herkunft, obwohl der Vorname Samuel immer noch eine gewisse Zweideutigkeit beibehält. Reste von der ursprünglichen Identität der Spoelmanns bleiben auch in den orientalistischen Motiven im Roman: Samuel Spoelmann wird mehrmals »Vogel Roch« genannt (GKFA 4/1, S. 166, 214, 306), nach dem mythischen Vogel aus Tausend und eine Nacht; Immas arabisches Pferd heißt Fatme; und Imma selber wird die Königin von Saba genannt (ebd., S. 363). Immas exotischer Reiz stammt aber in erster Linie aus ihrer portugiesisch-kreolischen, brasilianisch-indianischen »Blutmischung«. Mann hat also das Schreckbild der Aarenhold-Familie in eine vertraute Reinkarnation seiner Mutter verwandelt. Die ›typisch jüdische‹ Verhaltensweise der einen Familie erscheint hier abgeschwächt und verharmlost zu einem märchenhaften Orientalismus. Der Vergleich zwischen Manns Mutter und Imma Spoelmann geht aber nicht restlos auf, denn Julia da Silvas Familie hatte keinen Anteil an britischer oder indianischer Herkunft. Wie sollen wir diese Abweichungen vom bloß Autobiographischen und ihre Funktion in der symbolischen Autobiographie verstehen? In Wir waren fünf beschreibt Thomas Manns jüngerer Bruder Viktor die da Silvas als »eine alte Kolonialfamilie […] streng katholisch und allesamt ›Weiße‹ und ›Freie‹«.40 Maria da Silvas Vater soll ihr sogar zwei Sklaven zur Hochzeit geschenkt haben, als sie den Lübecker Johann Bruhns in Brasilien heiratete.41 Aus der Sicht der zu Hause gebliebenen Lübecker Verwandten sahen jedoch Julia da Silva Bruhns und ihre Geschwister fast so fremd aus wie die afrikanische Amme, die sie in die Heimat begleitete: »Wann kamen denn nu Ludwig sin lütten Swatten [und seine kleinen Schwarzen]?«, soll eine ungeduldige Verwandte gefragt haben, und das Erscheinen der in der Fremde geborenen Kinder erregte dementsprechend großes Aufsehen: »[D]er Anblick der bunt gekleideten Negerin mit den fünf tiefbraun gebrannten Kindern in gelbem Nanking und weißen Panamahüten [brachte] die ganze Straßenjugend auf die Beine«.42 Innerhalb der Kolonien unterscheidet man genau zwischen Europäern und Eingeborenen, freien Weißen und dunkelhäutigen Sklaven; in Lübeck jedoch, werden alle »lütten Swatten« von »drüben« einander immer ähnlicher. _____________ 39 Immas zum Teil portugiesische Herkunft wäre also in der Urfassung sinnvoll gewesen. Die Verwirrung zwischen Bolivien und Portugal in dem vollendeten Roman scheint einfach ein Fehler gewesen zu sein. 40 Viktor Mann: Wir waren fünf, S. 16. 41 Sene: Bruhns, S. 105. 42 Julia Mann: Erinnerungen, S. 17, 19.
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Julia da Silva Bruhns Verwandlung von der Tochter einer weißen, Sklaven besitzenden aristokratischen Familie in Brasilien zu einer dunkelhäutigen Portugiesin aus Südamerika in der Hansestadt Lübeck prägte Thomas Manns Selbstverständnis nachhaltig. Sein Großvater war in die Neue Welt gesegelt als der Inbegriff eines europäischen Entdeckers und Kolonialherrn: er zeichnete Landkarten vom Urwald, öffnete neue Handelswege, gründete eine Firma und gewann eine Braut aus einer reichen und sozial angesehenen Familie.43 Dagegen hatte die Entscheidung von Thomas Manns Vater, Julia da Silva Bruhns zu heiraten, etwas Verdächtiges in den Augen der Lübecker Mitbürger. »Ein Lübecker Patrizier, der wirklich zur Gänze comme il faut ist, sucht sich seine Lebensgefährtin unter den Töchtern der Stadt und wählt nicht eine junge Dame aus dem fernen Brasilien, wie der Senator es tat«, berichtet Klaus Mann.44 Nach der Heirat blieb die fremde Schönheit den Lübeckern immer noch etwas unheimlich. »Man fand sie nur ein bißchen zu ›originell‹«, vermutet Klaus, »Es lag wohl an der exotischen Herkunft«.45 Während die Erlebnisse ihres Vaters im Ausland seine Männlichkeit hervorhoben, schien Julia einen entgegengesetzten Einfluss auf die Kinder ihrer ›gemischten Ehe‹ auszuüben: »Die beiden Söhne, Heinrich und Thomas, wären gewiß viel lustiger und strammer geworden, hätten sie eine Mama von gutem nordischem Schlage gehabt an Stelle der übertriebenen pikanten Brasilianerin«.46 Die Kolonisten »drüben« bleiben zuversichtlich in der Unterscheidung zwischen sich und den anderen; sie wissen, dass sie »allesamt ›Weiße‹ und ›Freie‹« sind. Dagegen fühlen sich die Kinder des hanseatischen Senators und seiner brasilianisch-kreolischen Frau wie unmännliche Männer, die »zwischen den Rassen« schweben.47 Wenn die Tropfen indianischen Blutes Imma Spoelmann zu einer ›Farbigen‹ in den Augen ihrer amerikanischen Mitbürger machten, unterstreicht die halbenglische Herkunft ihrer Mutter ihre Identität als eine »Weiße« von europäischer Herkunft – zumindest auf der Oberfläche. Als imperialistische Macht par excellence spielte Großbritannien um die Jahrhundertwende die Rolle des großen Rivalen zu der aufstrebenden Weltmacht Deutschland.48 In Manns Frühwerk wird England oft mit Tüchtigkeit und Männlichkeit assoziiert: Christian Buddenbrooks Vater, zum Beispiel, schickt seinen Sohn nach London, in der Hoffnung, dass sein _____________ 43 44 45 46 47
Sene: Bruhns, S. 101–105. Klaus Mann: Wendepunkt, S. 10. Ebd., S. 11. Ebd., S. 11f. Vgl. Heinrich Manns Roman Zwischen den Rassen (1907), dessen erster Teil auf Julia Manns Memoiren basiert. 48 Sombart: Männer, S. 249, 296.
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alter Bekannter Mr. Richardson in Threadneedle Street einen positiven Einfluss auf dessen ausschweifenden Lebenswandel ausüben wird. Andere Engländer oder Anglophile zeichnen sich durch ihre Tüchtigkeit oder rohe Vitalität aus. Der vor Männlichkeit strotzende Anton Klöterjahn ist ein norddeutscher Geschäftsmann, der englische Kleider trägt, englische Sprachbrocken in seine Rede einmischt und sich mit den englischen Patienten im Sanatorium anfreundet. Gustav von Aschenbach kann in Venedig keine Informationen über das Ausmaß der Seuche bekommen, bis er in ein englisches Reisebüro geht, wo ein adretter Angestellter ihm prompt die Wahrheit sagt. Hans Castorp schließlich fährt in ein englisches Plaid eingewickelt mit einer Ausgabe von Ocean Steamships auf seinem Schoß in die Schweiz. Allerdings liest Castorp das Buch nicht und vergisst bald seine Karriere als angehender Schiffsingenieur im Flachland; der britische Angestellte, der Aschenbach aus Venedig vertreiben will, überzeugt ihn stattdessen zu bleiben; und Klöterjahn ist ein Schürzenjäger, der mit den Krankenschwestern flirtet, während seine Frau im Sterben liegt. Schon in den Buddenbrooks deutet Mann darauf hin, dass das britische Weltreich im Innern verfault ist. Von Bendix Grünlich, Tonys erstem Mann, wird berichtet, »er lebe gentleman like« (GKFA 1/1, S. 123), und er trägt in der Tat englische Koteletten, liest aus Scotts Waverly-Romanen mit perfekter englischer Aussprache vor und »verspeiste nach englischer Sitte ein leicht gebratenes Kotelett« zum Frühstück (ebd., S. 215). In Wirklichkeit ist Bendix aber kein britischer Gentleman, sondern ein gemeiner Schwindler, äußerlich proper, aber »innerlich schwarz« (ebd., S. 373). Tonys Tochter Erika hat auch Pech mit ihrem Ehepartner: Hugo Weinschenk trägt eine »Hose aus durablem und elegantem englischen Stoff« (ebd., S. 486), wird aber trotzdem als Betrüger verhaftet. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis verlässt er seine Familie und zieht nach London. Vor allem Christian Buddenbrook, dessen »ganze Erscheinung etwas Englisches angenommen hatte« (ebd., S. 285) und der sich in Südamerika mit dem berüchtigten Johnny Thunderstorm befreundet hat – »eine[n] jungen Londoner […], den er, ›Gott verdamm’ mich, niemals hatte arbeiten sehen‹« (ebd., S. 299) –, wird durch seinen Kontakt mit England und den Engländern immer zügelloser. Diese Beispiele zeigen zweierlei: erstens, wie schnell der Begriff des Fremden ausufert in verwandte, wenn nicht identische Kategorien: von Juden zu Schwarzen, Einheimischen, Portugiesen und anderen Menschen, die »von ganz unten auf der Landkarte« kommen (GKFA 2/1, S. 247). Zweitens, wie instabil solche Unterscheidungen zwischen dem Fremden und dem Eigenen sind, wie schnell das Feindbild ins Selbstbild umkippt, Distanzierung sich in Identifikation verwandelt. Imma Spoelmanns »schil-
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lernde Blutzusammensetzung« (GKFA 4/1, S. 324) macht sie zu einer überdeterminierten Figur, die zugleich eine Farbige und eine Weiße ist, eine Europäerin und eine Eingeborene, Kolonistin und Kolonisierte, Jüdin und Christin. Gerade diese Ausdehnung der Kategorien des Fremden von der innereuropäischen ›Judenfrage‹ zur außereuropäischen Koloniallandschaft, und die Labilität der Unterscheidungen zwischen Selbst und Anderem kennzeichnen auch die schillernde Komplexität von Wälsungenblut in seinem Verhältnis zu Manns Projekt der Selbst-Erfindung einer symbolischen Autobiographie als verheirateter Schriftsteller. III. Kehren wir zum Schluss zu der heiklen Frage zurück: War Thomas Mann Antisemit? Wenn man ihn direkt fragte, hat Mann immer behauptet, er sei philosemitisch, wofür es tatsächlich viele Belege gibt: Mann hatte einen jüdischen Verleger, jüdische Freunde, Bekannte, Kritiker und Leser. Er sprach sich öffentlich und privat gegen die Judenverfolgung der Nazis aus, bekam dankbare Briefe von jüdischen Leser der Josephs-Romane, sprach oft bei jüdischen Gemeinden, unterstützte die Gründung des Staates Israel und verurteilte den Antisemitismus.49 Auf der anderen Seite erzählt uns Mann, dass er als Kind seinen jüdischen Schulkameraden nicht besuchen durfte (E II, S. 87), und wir wissen, dass Mann zusammen mit seinem Bruder für eine Zeitschrift gearbeitet hat, die zum rechten Flügel der antisemitischen Bewegung gehörte.50 Man könnte diese Tatsache als einen jugendlichen Fehler entschuldigen, gäbe es nicht eine lange Reihe von negativen Bemerkungen über Juden in seinen Aufsätzen und Tagebüchern, die häufig negativen jüdischen Stereotypen entsprechen. Fast scheint es, dass Thomas Mann von sich selber sprach, als er behauptete, Theodor Storms »nordstämmiges Heidentum [mache] ihn natürlich auch ein bißchen zum Antisemiten«, denn der »seelische Zusammenhang […] von nordblonder Heimatlichkeit und Antisemitismus ist unverbrüchlich« (E III, S. 238). Man kann die Spannungen in Thomas Manns Verhältnis zur ›Judenfrage‹ erklären – wenn auch nicht immer verzeihen –, wenn man seine geistige Entwicklung im historischen Zusammenhang betrachtet. Wie Golo Mann bemerkte, war sein Vater von der »Herkunft provinziell […] _____________ 49 Vgl. Mann: A Living (GW XIII, S. 476f.); Mann: Zum Problem (ebd., S. 479–90); Mann: The Dangers (ebd., 491f.); Mann: The Fall (ebd., S. 494–498): Mann: Enduring People (ebd., S. 502–507) und Mann: Die deutschen KZ (E VI, S. 11–13). Über die dankbare Reaktion eines jüdischen Lesers auf die Josephs-Romane vgl. Tb. 24.1.1945 und Kommentar. 50 Breuer: Brüder Mann; Flügge: Heinrich Mann, S. 52–57.
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Daher stammt auch sein Antisemitismus, von dem der nie völlig wegkam (sein Bruder auch nicht)«.51 Mann behielt die salonfähigen Vorurteile seiner Jugend, selbst wenn er zum lautstarken Kritiker des völkischen Antisemitismus der Nazis wurde. Demzufolge konnte er tagsüber Reden gegen den völkischen Antisemitismus halten und dennoch am Abend seine Kinder unterhalten, indem er »bei Tisch einen Juden nachmachte« (Tb. 25.12.1933); er konnte die deutsche Schuld an der Vernichtung der europäischen Juden anprangern und sich zur gleichen Zeit über einen »allzu ausschließlich jüdische[n] Kreis« beklagen (Tb. 22.1.1943).52 Er fand offenbar keinen Widerspruch in seinem Verhalten und wollte nicht glauben, dass es eine Verbindung zwischen antisemitischen Bemerkungen und antisemitischer Gewalt geben könnte. Auf der anderen Seite und zu seinem bleibenden Verdienst protestierte Mann öffentlich und mutig gegen die Judenverfolgung zu einer Zeit, als es leichter und sicherer gewesen wäre, mitzumachen oder zu schweigen, wie so viele andere es getan haben. Ein zweiter Grund für Manns ambivalentes Verhältnis zur ›Judenfrage‹ liegt in seiner ambivalenten Haltung sich selbst gegenüber. Wie Heinrich Detering treffend bemerkt, fühlte sich Thomas Mann mehrfach stigmatisiert: als Künstler in der bürgerlichen Gesellschaft, als Kind einer gemischten Ehe im norddeutschen Milieu und als ein Mann mit starken homosexuellen Neigungen in einer streng heterosexuellen Gesellschaft. Zusammen mit allen, die durch physische Abnormitäten, ethnisches Anderssein oder sexuelle Zweideutigkeit ausgezeichnet waren, funktionieren auch die Juden für Mann als Fremde, aber auch als Identifikationsfiguren. Genauso wie Thomas Manns Verhältnis zu sich selbst zwischen Liebe und Hass schwankt, schwankt auch sein Verhältnis zu den Juden: »Als Philooder Antisemit also präsentiert sich der Schriftsteller Thomas Mann in seinem Frühwerk […] genau so weit, wie er sich brüstet oder schämt, wie er sich selbst liebt oder verachtet«.53 Sich als »Jude« zu verachten, ist natürlich selbst eine Form des Antisemitismus,54 aber die Dynamik zwischen Selbsthass und Selbstliebe lässt uns mindestens die sonst verwirrende Spannung zwischen Antisemitismus und Philosemitismus in seinem Werk und seinem Leben verstehen. Es geht aber um mehr als die Beleuchtung von einigen »unsavory corners of Thomas Mann’s mind«, denn die Dynamik von Manns privater Psyche wird auch von öffentlichen Debatten beeinflusst und greift auch aktiv in _____________ 51 52 53 54
Zit. nach Roggenkamp: Erika Mann, S. 102. »Jüdische Buffet Dinner Party bei Singers, grässlich« (Tb. 15.11.1947). Detering: Juden, S. 100. Vgl. Angress-Klüger: Jewish Characters: »projected fears are precisely what makes for the scapegoat function of the Jew« (S. 169; leicht variiert in Klüger: Katastrophen, S. 51); und Lehnert: Naphta, S. 63–65.
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solche Debatten ein. Wie ich in diesem Aufsatz hervorgehoben habe, war Manns Verhältnis zur ›Judenfrage‹ dadurch gekennzeichnet, dass er stets in rassischen Kategorien dachte.55 Gleich nach dem Holocaust setzte sich Mann mit einem Buch von Elmer Berger über The Jewish Dilemma auseinander, weil der Autor sich weigerte, von den Juden als ›Volk‹ oder ›Rasse‹ zu schreiben. »Was soll man sie nennen?«, fragt Mann, deutlich irritiert. »Denn irgend etwas anderes ist es mit ihnen und nicht nur Mediterranes. Ist dies Erlebnis Anti-Semitimus? […] es ist doch ein Geblüt« (Tb. 27.10.1945). Juden sind anders. Andererseits sind auch andere Völker oder Rassen anders, so wie auch Thomas Mann. In seinen Tagebüchern notiert Mann stets den ethnischen Hintergrund, nationale Identität und auch die vermeintliche sexuelle Orientierung von Individuen, denen er begegnet war, und er verpasst keine Gelegenheit, seine eigenen Talente als Schriftsteller auf seine Blutmischung zurückzuführen. Manns Beschäftigung mit seinen eigenen homosexuellen Neigungen und der Geburt seiner Mutter im Dschungel von Brasilien verbinden seine Replik auf die ›Judenfrage‹ mit einer Reihe von anderen Fragen, die seine Mitbürger auch beschäftigten: Fragen über sich verändernde Geschlechterrollen und neue sexuelle Identitäten, über Umwälzungen der alten sozialen Sichten und über rassische und ethnische Unterscheidungen, bei den Juden, aber auch in den Kolonien. Deswegen war der in sich selbst vertiefte und selbsternannte unpolitische Thomas Mann in der Tat eine Art Seismograph. Seine Entscheidung, eine assimilierte Jüdin zu heiraten, inspirierte literarische Werke, die die Erschütterungen der Moderne im Inland und Ausland registrierten. Literaturverzeichnis Mann, Thomas: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 1. Buddenbrooks. Text u. Kommentar. Hg. von Eckhard Heftrich. Frankfurt/M. 2002. Mann, Thomas: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. 2001ff. Bd. 2. Frühe Erzählungen 1893–1912. Text u. Kommentar. Hg. von Terence J. Reed. Frankfurt/M. 2004.
_____________ 55 Darmaun betont wiederholt Manns unveränderlichen Glauben an das Prinzip Rasse (Darmaun: Mann, S. 5–8; 85; 128; 180; 300). Elsaghe schreibt auch ausführlich über Fragen von Rasse, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Frauenfeindlichkeit in Manns Werken (Elsaghe: Nation; Elsaghe: Mann). Elsaghe unterstellt aber Mann den Wunsch nach einer rassisch ›reinen‹ deutschen Nation, während Darmaun richtig feststellt, dass Mann entschieden für Rassenmischung eintrat, was ihn deutlich von völkischem Denken unterscheidet (Darmaun: Mann, S. 128; 207; 300).
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Immer auf dem Balkon? Thomas Manns Selbstinszenierung in den Betrachtungen eines Unpolitischen
»Alle ihre Werke aber tun sie, daß sie von den Leuten gesehen werden«, sagt Jesus über die Pharisäer (Mt 23,5). Die Pharisäerkritik wird normalerweise moralisch gelesen, hat aber auch eine ästhetische Seite. Gesehen werden wollen verändert nicht nur die moralische, sondern auch die ästhetische Wertigkeit einer Handlung, denn es kommt ein Publikum hinzu, auf das man in irgendeiner Weise Rücksicht nimmt. »So fühlt man Absicht und man ist verstimmt«, sagt Goethes Tasso (II, 1, V. 969). Was uns hier interessiert, lässt sich fassen unter den Begriff des ästhetischen Pharisäismus. »Der Massen-Erfolg ist nicht mehr auf Seite der Echten, – man muss Schauspieler sein, ihn zu haben!«1 Das hat Thomas Mann in Nietzsches Fall Wagner gelesen (11. Abschnitt). Nietzsches Wagner ist ein Pharisäer, der sein Werk um des Beifalls willen schafft. Er schafft Artefakte, um gesehen zu werden, nicht das Echte, das ohne Publikum aus sich heraus wahrhaftig ist. Er ist ein Moderner, der germanischen Mythos spielt (Der Ring des Nibelungen), ein Ungläubiger, der Christlichkeit spielt (Parsifal ) und die Effekte des Glaubens zu inszenieren weiß. Das Tagungsthema lautet: Hybride Repräsentanz. Der Begriff der Hybridisierung stammt ursprünglich aus der Biologie und kennzeichnet das Ergebnis der Kreuzung verschiedener Zuchtlinien, die einander von Natur aus nicht gekreuzt hätten. Mit Hybridität verbinden sich deshalb Vorstellungen von Künstlichkeit, von Exotik, aber auch von Unfruchtbarkeit. Hybride sind weniger vital oder überhaupt nicht fortpflanzungsfähig. Der Begriff wurde dann auf die Soziologie übertragen und bezeichnet dort Phänomene der Überlagerung von Kulturen – etwa wenn _____________ 1 Nietzsche: Wagner, S. 37.
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›Amerikanisierung‹ zur Folklorisierung der unterlegenen traditionalen Kulturen führt. Auch Religionen, die in säkularisierten Umwelten überleben, können hybridisiert werden. Das Kopftuch ist in einer geschlossenen islamischen Gesellschaft etwas anderes als in einer säkularisierten, wo es als ostentatives Zeichen der Abgrenzung von ihr getragen wird. Christliche Traditionen können in entchristlichten Umwelten einen hybriden Ästhetizismus entwickeln, so wenn Großstadtintellektuelle für Marienlieder, Votivtafeln oder Kirchenlatein schwärmen. Wenden wir das auf Thomas Mann an, so ist ›hybride Repräsentanz‹ eine nicht natürliche Repräsentanz – eine solche wäre einfaches Dastehen, wie man eben ist –, sondern eine reflexiv gebrochene, gewissermaßen gezüchtete, inszenierte, artistische, gespielte Repräsentanz. Dieser liegt keine selbstverständlich in sich ruhende Identität zugrunde, sondern eine Identitätsstörung, die psychologisch und soziologisch auf einander widersprechenden Rollenmustern, auf der Überlagerung alter und neuer Identitäten beruht. Die Identitätsstörung beruht in Thomas Manns Fall biographisch auf dem Bruch zwischen der traditionsgesättigten Herkunft aus dem lübeckischen Patriziat und der freischwebenden Existenz eines aus dem bürgerlichen Nest gefallenen Schriftstellers, vereinfacht gesagt aus dem Widerspruch zwischen Künstler und Bürger. Die Hybridisierung verändert beide Pole. Weil weder das Künstlertum noch die Bürgerlichkeit unschuldig, natürlich und unwillkürlich bei sich sind, werden sie stets thematisiert, reflektiert, rhetorisch demonstriert. Nie sind sie das wortlos selbstverständliche Fundament, sondern stets eine Fassade, etwas Vorgezeigtes, Poliertes, Reklamehaftes. Wer nicht bei sich zu Hause ist, muss sich immer verteidigen. Wer sich aber verteidigt, ist unsicher und klagt sich an. Auf Identitätsstörung reagiert der intelligente Mensch erst mit Innenwahrnehmung der Außenwahrnehmung und dann mit Identitätsplanung. Als was will ich erscheinen? Was erwartet das Publikum von mir? Der Verunsicherte will sicher, der Schuldige unschuldig, der Schwache stark, der Zerrissene heil erscheinen. In den Betrachtungen begegnen diese Rollenkonflikte in vielfachen Brechungen. Thomas Mann inszeniert sich in der Bürger-Rolle als deutscher Dichter und Konservativer, in der Künstler-Rolle aber als europäischer Literat und Fortschrittler. Weil er in der deutschen konservativen Kultur, die er beschwört, nicht wirklich geborgen und zu Hause ist, hat ihre Beschwörung etwas Ostentatives und Manieriertes, etwas Künstliches, Gewolltes und Gespieltes. Mit anderen Worten: Das forcierte Deutschtum in den Betrachtungen ist hybrid.
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Hybridität und ästhetischer Pharisäismus liegen nahe beieinander. Der Hybride ist eine Zuchtrose, deren Daseinszweck es ist, zu glänzen und aufzufallen. In Einsamkeit und Dunkelheit gedeiht sie nicht. Sie muss sich zeigen. Aber wer sich zeigen muss, braucht Publikum. Wenn es nicht da ist, imaginiert er es, stellt sich auf einen imaginären Balkon und hält Reden an ein imaginäres Volk. Oder er schreibt Offene Briefe – jene pharisäische Gattung, wo die Intimität des Privatbriefes vor einem voyeuristischen Publikum ausgestellt wird. Nur wenn er wirklich allein ist, fällt die Maske ab. Denn eine Maske ist es. Wer sich zeigen muss, zeigt ja nicht sich, sondern das Bild, wie er gesehen werden möchte. Er geht nicht seines Weges wie ein Mann, sondern zeigt auf sich, wie er seines Weges geht wie ein Mann. Darum redet er auch meistens nicht vom Weg, sondern von sich. Das Wörtchen ›ich‹ kommt in den Betrachtungen ungefähr 1.600 mal vor. Thomas Mann ist viel zu klug, um das alles nicht zu wissen. Er kennt den Typus des Hybridkünstlers und stellt ihn uns in mehreren Varianten vor. Da ist zum Beispiel Gabriele d’Annunzio, der Décadence-Ästhet, der im Ersten Weltkrieg als leidenschaftlicher italienischer Nationalist auftrat. Thomas Mann spricht diesem Auftreten die Echtheit und Wahrhaftigkeit ab. Er brandmarkt d’Annunzio als ästhetischen Pharisäer, indem er rhetorisch fragt: »Ist so ein Rhetor-Demagog denn niemals allein? Immer auf dem ›Balkon‹? Kennt er keine Einsamkeit, keine Selbstbezweiflung, keine Sorge und Qual um seine Seele und um sein Werk, keine Ironie gegen den Ruhm, keine Scham vor der ›Verehrung‹?« (GW XII, S. 577) Der wahre Künstler, so scheint es, dürfte demnach kein Rhetor sein. Er müsste allein schreiben, im Verborgenen, nicht auf dem Balkon, ohne Blinzeln nach den Leuten, in Sorge und Qual um seine Seele, ironisch gegen Ruhm, beschämt von Verehrung. Der einsame, nicht pharisäisch auf Wirkung schielende Künstler erscheint implizit als Wunsch-Identität Thomas Manns. Die »Seele« – ein altertümlicher Ausdruck für Identität – ist nicht ein bloßer Kreuzungspunkt gesellschaftlicher Erwartungen, sondern wie in der christlichen Tradition eine metaphysische, gesellschaftsfreie Gegebenheit. Wird diese Art Seele zum Maßstab, dann gilt, dass der Mensch nur und immer dann wahrhaftig ist, wenn er aus der Rolle fällt. Thomas Manns Praxis als Schriftsteller weicht freilich, wie leicht ersichtlich ist, von diesem Ideal ab. Er steht durchaus selber auf dem Balkon und zeigt etwas vor, was er nicht ist. »Ich will alles sagen« (ebd., S. 425) behauptet er, das sei der Sinn seines Buches. Aber so hemmungslos das Opus ist, als Ausschüttung gesehen, so viel an glänzenden Formulierungen und an geistiger Erkenntnis es enthält, so wenig sagt es doch alles. Es klammert vielmehr mit strikter Konsequenz das Private aus. Es ist nicht bekenntnishaft in Einsamkeit vor Gott, sondern rhetorisch und forensisch; es ist in jedem Augenblick auf der Bühne. Auch und gerade
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sein Kampf gegen die Rhetorik des Zivilisationsliteraten ist rhetorischer Natur. Das Buch ist rhetorisch noch, wenn es seine Theatralik zugibt. »Ein Rest von Rolle, Advokatentum, Spiel, Artisterei, Über-der-SacheStehen, ein Rest von Überzeugungslosigkeit und jener dichterischen Sophistik, welche den Recht haben läßt, der eben redet, und der in diesem Falle ich selbst war« (GW XII, S. 11f.), ein solcher Rest sei zweifellos überall geblieben und habe auch kaum aufgehört, halb bewusst zu sein. So steht es in der nachträglich geschriebenen Vorrede. Das »Alles sagen« bedeutet insofern nicht Selbstentblößung, sondern Selbstverteidigung. Nicht die Gewissenserforschung nach innen, sondern die Behauptung nach außen ist die Aufgabe der Betrachtungen. Wenn sie von Intimität reden, meinen sie nicht die Homoerotik, sondern den Konflikt mit dem Bruder Heinrich. Gerade dieser aber wird nicht bekennend erwogen, sondern theatralisch inszeniert. Der Name des Bruders fällt nicht, und was sich wirklich zwischen den Brüdern abgespielt hat vom Herbst 1914 an, kann man allenfalls indirekt erschließen. Ein wahrhaftiges Porträt Heinrich Manns finden wir in den Betrachtungen nicht. Dass der rhetorische Gestus der Betrachtungen dennoch der des Bekenntnisses ist, davon darf man sich nicht irritieren lassen; es ist eben nur der rhetorische Gestus. Selbstkritik ist nicht die Stärke dieses Buches, und wenn sie vorkommt, ist sie ihrerseits rhetorisch und pharisäisch, um noch mit ihr zu renommieren. Seine Schrift habe die Hemmungslosigkeit privatbrieflicher Mitteilung, schreibt Mann.2 »Was wahr ist, komme an den hellen Tag.« Und er zitiert August von Platen: »Es kenne mich die Welt, auf daß sie mir verzeihe!« Das Zitat ist verräterisch. Platens Lebensgeheimnis war die Homosexualität. Das »Es kenne mich die Welt« gehört zu Thomas Manns Geheimzitaten. »Es kenne mich die Welt, aber erst, wenn alles tot ist«, schreibt der Fünfundsiebzigjährige ins Tagebuch (13.10.1950). »Heitere Entdeckungen dann, in Gottes Namen«. Die Tagebücher erst sagen »alles«. Die Betrachtungen zelebrieren nur den Gestus des Alles-Sagens. Die Tagebücher sind im Stil antirhetorisch, antipharisäisch, authentisch und wahrhaftig. Die Betrachtungen aber sind hybrid. Nicht nur an Gabriele d’Annunzio, sondern vor allem an seinem Bruder glaubt Thomas Mann den Typus des Hybridkünstlers festgemacht zu haben, der seine Repräsentanz inszeniert. Der Zivilisationsliterat wird als Ästhetizist kritisiert, der die Rolle und Geste des Genussmenschen nur zelebriert ohne Fähigkeit zu ihr. Ästhetizismus, so heißt es, sei »die gestenreich-hochbegabte Ohnmacht zum Leben und zur Liebe«. Ästhetizismus sei die »rhetorisch entschlossene ›Menschenliebe‹«, diese aber sei nur periphere Erotik, »wo sie verkündet wird, wo man sich mit ihr brüstet, da _____________ 2 Die folgenden Zitate Mann: Vorrede (GW XII, S. 18f.).
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pflegt es im Zentrum zu hapern« (GW XII, S. 544). Die Liebe als Ideologie steht gegen die Liebe als Praxis. Heinrich wird zum Ideologen erklärt, bei dem es im Zentrum hapert. Das Fatale ist aber, dass jener Ästhetizismus, die Ohnmacht zum Leben und zur Liebe und die periphere Erotik, dass das alles Vorwürfe sind, die in mindestens gleichem Maße auf Thomas passen. Ob überhaupt auf Heinrich, das steht hier nicht zur Debatte, obgleich dessen Erotik aller Wahrscheinlichkeit nach weniger peripher war als die seines jüngeren Bruders. Unter der Chiffre ›Bruder‹ bekämpft Thomas Mann Strebungen, die er an sich selber studiert hat. Der »Zivilisationsliterat«, den er so lebhaft attackiert, ist er selbst, und er weiß das; »wir sind unter uns« (ebd., S. 453), notiert er doppelsinnig. Die Betrachtungen sind ein kunstvolles Schattenboxen. Hinter der Maske des Bruders verstecken sie alles Widrige, Feindselige und quälend Unverstandene der eigenen Existenz. Man kann aus Heinrich Manns Zola-Essay und den Betrachtungen ganze Gespräche zusammensetzen, und es zeigt sich dabei, dass die Brüder einander gegenseitig das vorwerfen, das selber zu sein sie Angst haben. Nutznießer! lautet einer dieser Vorwürfe. Heinrich hatte, gemünzt auf die Wortführer und Anwälte des Krieges, geschrieben, sie zögen Nutzen daraus, »daß wir andern schweigen und verbannt sind; man hört nur sie, es ist ihr günstigster Augenblick«.3 Thomas antwortet, ein Zwiegespräch rhetorisch inszenierend: »Mein günstigster Augenblick! Tor, siehst du denn nicht, daß es dein günstigster Augenblick ist, der deine vielmehr?!« (ebd., S. 217) Beide glauben, der andere hätte es leichter. Die durch Streberei Nationaldichter geworden waren, stichelt Heinrich, »waren sie etwa Kämpfer?« Nein, sie waren nur unterhaltsame Schmarotzer. Thomas retourniert mit einer lustvollen rhetorischen Kaskade, die das Kämpfertum des Bruders als opernhafte Geste verhöhnt. Ein Schmarotzer. Denn: »Waren sie etwa Kämpfer?« O nein, nie war ich ein Kämpfer, nie etwas Ähnliches! Ich stand nicht da, eine Hand auf dem Herzen, die andere in der Lust, und rezitierte den Contrat social. Ich sang nicht, daß man irgendwelche ›Herren‹ an die Laterne hängen müsse, und plädierte nicht auf Abschaffung der großen Männer, weil sie das Niveau drücken. Ich behauptete nicht, daß die Republik das Ideal der Wahrheit sei, verhöhnte auch nicht die ewig mit Leid beladene Menschheit, indem ich tremolierend versicherte, ihr Weg führe »zu etwas sehr Schönem, durchaus Heiterem«, nannte ferner nicht jeden einen Idioten oder Schurken, der das nicht glauben konnte, und schrie nicht: »Man achte auf mich, der liebt!« Ich erinnere mich, ich nahm Abstand von all dem. Und folglich war ich kein Kämpfer. Folglich war ich ein Schmarotzer. (Ebd., S. 219)
_____________ 3 Heinrich Mann: Zola, S. 112; dort S. 112ff. auch die übrigen Zola-Zitate, fast alle verwendet in Gegen Recht und Wahrheit (GW XII, S. 193f.).
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Das ist große, gekonnte Rhetorik, die dem Bruder unterstellt, sein politischer Kampf sei nur Theater, nur Tremolo, nur der Wirkung aufs Publikum verpflichtet und ohne wirklichen Ernst. Aber die effektvolle Passage ist ja selber Theater! »Es ist, meiner Einsicht nach, die Begierde nach Wirkung, die dich corrumpirt«, hatte Thomas am 5. Dezember 1903 an Heinrich geschrieben. Aber er hat ja selber diese Begierde! Heinrich Mann schlägt deshalb nicht ohne Grund im Zola-Essay zurück: »Aber ihr seid nicht zu dienen da, sondern zu glänzen und aufzufallen.« Thomas wiederum kontert in den Betrachtungen: Die Lustspielszene ist zu schreiben, wie der junge Idealist zum Meister des revolutionären Tonfalls kommt und ihm vorhält, es sei an der Zeit, der Augenblick sei da, wo es hervorzutreten, zu handeln gelte. Der Meister wird versagen […] »O nein, junger Mann, Sie verlangen Falsches von mir […] Malen Sie sich aus, daß die Macht Hand an mich legte… Nein, nein, lieber Freund, leben Sie wohl! Sie unterbrachen mich in einer bewegten Seite über die Freiheit und das Glück, die ich beenden möchte, bevor ich ins Bad reise. Gehen Sie, gehen Sie, und tun Sie Ihre Pflicht! Votre devoir, jeunes hommes de vingt ans, sera le bonheur!« (GW XII, S. 580f.)
Der »Meister des revolutionären Tonfalls« ist ein Theatraliker ohne revolutionäre Praxis. Thomas Mann durchschaut ihn, weil er die Versuchungen der opernhaften Geste kennt, weil er das Rollenspiel, die Wirkungssucht, den Willen zur Größe nur allzu gut kennt. Was er als ›Bruder‹ durchschaut, ist das, was er aus Friedrich Nietzsches Demaskierung Richard Wagners gelernt hat. Wie Nietzsches Wagner ist Heinrich (aber auch Thomas) ein wirkungssüchtiger Ästhet, der nichts Echtes kennt, sondern nur als Schauspieler die Effekte des Echten zu inszenieren weiß. Vom Standpunkt der heute üblichen Mehrheitsoptik sind die Betrachtungen ein reaktionäres Buch, denn sie äußern die dazu passenden Meinungen. Die anständigste und menschenwürdigste Lebensform, so kann man zum Beispiel lesen, sei die des Gutsherrn (ebd., S. 434). Der vielverschriene Obrigkeitsstaat sei und bleibe die dem deutschen Volke angemessene, zukömmliche und im Grunde von ihm gewollte Staatsform (ebd., S. 30). »Ich will die Monarchie«, pointiert der unpolitische Betrachter, weil nur sie die Gewähr politischer Freiheit biete (ebd., S. 261). Das »Glück« sei Chimäre, nie werde die Harmonie des Indivualinteresses mit dem der Gemeinschaft sich herniedersenken, »und warum die einen immer Herren, die anderen Knechte sein müssen, das erklärst du den Menschen nicht« (ebd., S. 326). Dazu kommen nationale Überdrehtheiten. Die Ansicht, dass der deutsche Volkscharakter der vollendetste moralische Apparat sei, den die Welt je gesehen, zitiert Thomas Mann mit inniger Zustimmung (ebd., S. 470).
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Man hat die Betrachtungen immer an solchen Meinungen gemessen und dabei ausgeklammert, dass das gleiche Buch an zahlreichen Stellen unterscheidet zwischen Sein und Meinung. Das Sein ist das Ausschlaggebende, Meinungen aber sind bloßes Gerede, solange sie nicht mit dem Sein übereinstimmen. Dass in seinem Falle zwar manche Meinungen konservativ sind, das Sein und der Stil aber internationalistisch, intellektualistisch, literarisch, demokratisch, das ist die entscheidende Grunderkenntnis der Betrachtungen. »Konservativ? Natürlich bin ich es nicht; denn wollte ich es meinungsweise sein, so wäre ich es immer noch nicht meiner Natur nach, die schließlich das ist, was wirkt« (GW XII, S. 585). So gesehen, sind auch die krassesten ›Meinungen‹ des Buches: Literatur! Ihr rhetorisches Moment überwiegt ihr sachliches in aller Regel. Thomas ist, wie Heinrich, ein Zivilisationsliterat, natürlich, was denn auch sonst. Er ist doch kein deutschnationaler Bärenhäuter, wer konnte so etwas auch nur einen Augenblick lang denken. In der Tat hat er mit seinem ganzen Schaffen die dekadente Verfeinerung vorangetrieben, nicht etwa irgendeine kraftmeiernde nationale Ertüchtigung. Er weiß das, bis zur Komik genau. Gefährden seine Romane nicht die Fortpflanzungslust? Mit dem Erscheinen von Buddenbrooks setze in Deutschland ein nie dagewesener Geburtenrückgang ein. Das Buch sei »ein Merkmal nationalen Gesundheitsabstieges«, so schreibt er über das immerhin deutscheste seiner Bücher (ebd., S. 586). Warum? Weil es ein Hybridprodukt ist, antwortet unsere ästhetische Botanik. Die Literarisierung Deutschlands bedeutet Vitalitätsverfall. In Manns Schaffensjahren »hat sich die deutsche Prosa verbessert; gleichzeitig drang die Anpreisung und Kenntnis der empfängnisverhütenden Mittel bis ins letzte Dorf« (ebd., S. 586). Wenn das Sein entscheidend ist und nicht die Meinungen, was also ›ist‹ Thomas Mann? Ein Ästhet und Literat, ein Künstler ohne Zweifel. Künstler aber haben keine Standpunkte: »Was gelten im Kunstreiche Meinungen?« (ebd., S. 545) Ein Künstler ist einer, der den, der gerade redet, Recht haben lässt, und wäre es der Teufel selbst (ebd., S. 226). Das ganze aufgeregte Geschrei der Betrachtungen ist eine Rolle. Ein unfestes Ich spielt sie, um fest zu werden, um fest zu erscheinen. Aber die Unsicherheit des unbürgerlichen Ästheten bleibt. Mit den Betrachtungen versucht er, sich eine politische Verfassung zu geben. Aber diese hielt nicht vor, weil sie seinem Sein nicht entsprach. Identität und Identitätsplanung kommen nicht zur Deckung. Den Krieg hatte Thomas Mann als Chance verstanden, der literarische Repräsentant Deutschlands zu werden. In Wirklichkeit war er einsam wie nie. Er spielte den Nationalschriftsteller, saß aber allein in seiner Stube. Träger und Befürworter seiner Inszenierung waren nur sehr wenige – vom Typus Ernst Bertram zum Beispiel –, und auch die Gegner – Heinrich Mann, Wilhelm Herzog, René
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Schickele, Romain Rolland – standen in der deutschen Gesellschaft so sehr am Rande, dass auf den Gegensatz zu ihnen eine stabile Identität nicht zu bauen war. Was Thomas Mann angetrieben hatte, dieses Buch zu schreiben, waren nicht die Anhänger und nicht die Gegner, sondern es war letzten Endes sein Gewissen, seine Seele, also eine ungesellschaftliche Instanz. Er gehörte damals zu keiner Gruppe, keinem Netzwerk. Niemand erwartete von ihm ein Buch wie die Betrachtungen eines Unpolitischen. Er inszenierte sich als Deutschland und Heinrich Mann als Frankreich, aber das war hybrides Geistertheater; sie waren beide allein. Er imaginierte sich eine Schar von Gegnern, die er Zivilisationsliteraten nannte, und verbündete sich mit einer Geisterschar von Helfern – Wagner, Nietzsche, Schopenhauer, Goethe, Kleist, Dostojewski und andere mehr –, aber bevölkerte damit nur den eigenen Zwiespalt in seinem Inneren, illustrierte den Widerspruch zwischen seiner deutschnationalen Wunschidentität und seiner unausweichlichen internationalistischen Modernität. Ist dann alles Lüge? Nein. Größe hat auch dieses so fragwürdige Buch, denn es kennt sein Problem. Wenn Thomas Mann von Wagners Wirkungssucht spricht, betont er, dass es sich nicht um Lügen handle. »Ein unehrliches Künstlertum, welches Wirkungen berechnete und erzielte, die ihm selber ein Spott, denen es selbst überlegen wäre, und die nicht zuerst auch Wirkungen auf ihren Urheber wären, ein solches Künstlertum gibt es nicht« (GW XII, S. 110). Er kommt dann auf die doppelte Optik zu sprechen, jene Rücksicht auf die Bedürfnisse des gröbsten wie des feinsten Publikums, zu der auch er sich bekennt (»Mich verlangt auch nach den Dummen …«4), behauptet aber von sich selbst: »Bei der Arbeit bin ich unschuldig«. In der Tat zeigt die Rhetorik der Betrachtungen so virtuos auf sich selbst, dass sie ihre Zwecke aus den Augen verliert und zum Kunstwerk wird. Die deutschnationale Selbstinszenierung der Betrachtungen überlistet sich dadurch selbst. Hier spricht kein deutscher Parteipatriot, sondern eine einsame Seele, die sich zu verstecken gewöhnt ist und sich dieses Mal hinter dem Patriotismus verbirgt. Der Vorbehalt der ›einsamen Seele‹ ironisiert das gesamte rhetorische Theater. Der hochartistische Stil treibt die Rhetorizität bis zur Selbstparodie, bis zu dem Punkt, wo die Eitelkeit über sich selber lacht. Das Wissen um die Hybridität bricht auch immer wieder an die Textoberfläche durch. Wir werfen einen letzten Blick auf Richard Wagner als Hybridkünstler und ästhetischen Pharisäer: In der Tat ist Wagner als geistige Erscheinung so gewaltig deutsch, daß mir immer schien, man müsse unbedingt sein Werk mit Leidenschaft erlebt haben, um von
_____________ 4 T. M. an Hermann Hesse, 1.4.1910 (GKFA 21, S. 448) – dort auch das folgende Zitat.
Immer auf dem Balkon?
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der tiefen Herrlichkeit sowohl wie von der quälenden Problematik deutschen Wesens irgend etwas – wenn nicht zu verstehen, so doch zu ahnen. Aber außerdem, daß dieses Werk eine eruptive Offenbarung deutschen Wesens ist, ist es auch eine schauspielerische Darstellung davon, und zwar eine Darstellung, deren Intellektualismus und plakathafte Wirksamkeit bis zum Grotesken, bis zum Parodischen geht, – eine Darstellung, die, sehr roh gesprochen, momentweise nicht völlig über den Verdacht erhaben ist, Beziehungen zur Fremdenindustrie zu unterhalten, und die bestimmt scheint, ein neugierig schauderndes Entente-Publikum zu dem Ausrufe hinzureißen: »Ah, ça c’est bien allemand par exemple!« (GW XII, S. 77)
Hybride Repräsentanz heißt nicht Natürlichkeit, sondern Theater. Das Deutschtum Wagners ist Theater, es ist nicht naiv und selbstverständlich, sondern intellektualistisch und inszeniert, und es hat ein Publikum, für das das Deutschtum ebenso wenig etwas Natürliches und mit der Geburt Gegebenes ist, sondern etwas Fremdes, fast Exotisches, eine Sehenswürdigkeit. Auf der einen Seite gehört Wagner zu den Vorbildern und Eideshelfern des unpolitischen Betrachters. Auch Thomas Mann möchte so gesehen werden. Auf der anderen Seite schreibt man nicht so zugespitzt, wenn man sich selber meint. Thomas Mann hatte eine gewisse Distanz zu diesem Schauspieler des Deutschtums, obgleich er damals selber ein solcher war. Ja, er beherrschte die Rollen, die er zu spielen gelernt hatte, und hasste sie zugleich. Im tiefsten Inneren gab es selbstverständlich eine Sehnsucht, nur er selbst zu sein, keine Rolle zu spielen und nicht vor Publikum zu stehen. Aus dieser Sehnsucht seiner Seele heraus findet er Formulierungen wie die von der »Qual durch das unsäglich Kompromittierende und Desorganisierende alles Redens« (ebd., S. 13). Er redet und redet, redet sich um den Hals, aber eigentlich will er schweigen, will ohne Worte sein, will angenommen werden, ohne dass er ständig mit dem Zeigefinger auf sich weisen muss. Nur in der Wortlosigkeit ist die Seele frei. Etwas in Worte fassen heißt schon: Macht über es ausüben; es im Extremfall verraten, vergewaltigen, töten. »Sobald nämlich unser Denken Worte gefunden hat«, sagt Schopenhauer, »ist es schon nicht mehr innig noch im tiefsten Grunde ernst«.5 Denn es kommt das Publikum dazu, somit auch das Gesehen werden, der Pharisäismus. Die Pharisäerkritik, Grundelement einer christlichen Ästhetik, bleibt ein Maßstab Thomas Manns. Obgleich er Millionen von Worten gemacht hat, sehnte er sich sein Leben lang nach Wortlosigkeit. Sein Geschäft als Literat verlangte und erzeugte die Superbia des Erkennenden und alles Durchschauenden, der die Menschen _____________ 5 Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena, Kapitel 23: Über Schriftstellerei und Stil, § 275, zitiert in Notizen (II): »Das Tiefste, was über Schriftstellerei gesagt worden: ›Sobald nämlich unser Denken Worte gefunden hat, ist es schon nicht mehr innig, noch im tiefsten Grunde ernst.‹ (Schopenhauer.)« (GKFA 14/1, S. 211).
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erledigt, indem er sie formuliert. Er war insoweit hochmütig, aber er litt darunter. In einer christlichen Grundschicht seines Wesens wollte er demütig sein. Er brauchte den Balkon, obgleich er sich immer seiner schämte – wie wir uns alle immer schämen sollen für jeden noch so gekonnten Auftritt. Literaturverzeichnis: Mann, Thomas: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 14. Essays I 1893–1914. Text u. Kommentar. Hg. von Heinrich Detering. Frankfurt/M. 2002. Mann, Thomas: Notizen (II). In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 14/1. Essays I 1893–1914. Hg. von Heinrich Detering. Frankfurt/M. 2002, S. 211–216. Mann, Thomas: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M 2001ff. Bd. 21. Briefe I 1889–1913. Hg. von Thomas Sprecher / Hans R. Vaget / Cornelia Bernini. Frankfurt/M. 2002. Mann, Thomas: Brief an Hermann Hesse, 1.4.1910. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M 2001ff. Bd. 21. Briefe I 1889–1913. Hg. von Thomas Sprecher / Hans R. Vaget / Cornelia Bernini. Frankfurt/M. 2002, S. 448. Mann, Thomas: Ästhetizistische Politik. In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. XII. Frankfurt/M. 1990, S. 537–567. Mann, Thomas: Bürgerlichkeit. In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. XII. Frankfurt/M. 1990, S. 102–148. Mann, Thomas: Einiges über Menschlichkeit. In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. XII. Frankfurt/M. 1990, S. 428–489. Mann, Thomas: Einkehr. In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Band XII. Frankfurt/M. 1990, S. 69–101. Mann, Thomas: Gegen Recht und Wahrheit. In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. XII. Frankfurt/M. 1990, S. 149–221. Mann, Thomas: Ironie und Radikalismus. In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. XII. Frankfurt/M. 1990, S. 568–589. Mann, Thomas: Politik. In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. XII. Frankfurt/M. 1990, S. 222–374. Mann, Thomas: Von der Tugend. In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. XII. Frankfurt/M. 1990, S. 375–427. Mann, Thomas: Vorrede. In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. XII. Frankfurt/M. 1990, S. 9–41. Mann, Heinrich: Zola. In: Mann, Heinrich: Macht und Mensch. Frankfurt/M. 1989, S. 43– 128. Nietzsche, Friedrich: Der Fall Wagner, In: F. N.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. von Giorgio Colli / Mazzino Montinari. Bd. 6. München, Berlin 1980, S. 9–53.
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Der Dichter als Zeit(krisen)deuter Thomas Manns Roman Der Zauberberg
Meine erste Begegnung mit der Repräsentanz Thomas Manns liegt gut zwanzig Jahre zurück. Um meinen Verleger von der Veröffentlichkeitswürdigkeit meiner Dissertation über Rilkes Duineser Elegien zu überzeugen, erklärte ich, im Brusttone jugendlicher Unerfahrenheit, dass dieses Buch sicher auch das Interesse des nicht-wissenschaftlichen Lesers finden würde. Mein alterfahrener Gesprächpartner blickte zu Recht bedenklich und antwortete dann: »Mit Lesern außerhalb der Fachwissenschaft rechnen wir eigentlich nur, wenn es um zwei Autoren geht, nämlich um Brecht und um Thomas Mann«. Eine wahrlich exklusive Liste – die heute noch um einiges exklusiver geworden sein dürfte, da Brechts Name wohl kaum mehr auf ihr steht. Thomas Manns Popularität jedoch ist offensichtlich ungemindert – im »Kanonspiel«, das nun schon in der sechsten Runde im Internet läuft,1 belegt sein Roman Der Zauberberg unter den 100 für kanonisch erachteten Erzähltexten und Dramen der deutschsprachigen Literatur den siebten Platz. Für ein unbescheiden dickes Buch von über 1.000 Druckseiten mit, milde gesagt, wenig Handlung und viel schwieriger Reflexion ist das ein mehr als erstaunliches Ergebnis – und ein weiterer Beleg dafür, dass Thomas Mann, wie kaum ein anderer Schriftsteller deutscher Sprache, das Prädikat des ›gelesenen Kulturklassikers‹ verdient. Begründungen dafür ließen sich leicht finden; jeder Thomas-Mann-Leser kann sie geben: Das Anknüpfen an die große Tradition realistischen Erzählens, die psychologische Vertiefung der Figuren, das plastische Detail der Beschreibung, der sprachmächtige, zugleich ironisch-humorvolle wie altväterlich-behäbige Stil – diese und ähnliche Eigenschaften verleihen den Werken Thomas Manns hohe kulinarische Qualität. Allerdings wird man durch Lesevergnügen alleine sicher noch nicht zum Kulturklassiker. Im Gegenteil – was Spaß macht, ist, mindestens unter Intellektuellen, eher _____________ 1 http://www.literaturkritik.de/buch/buchh/neu/kanon/index.php (aufgerufen am 1.8.2006).
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verdächtig, schreit geradezu nach einer Kompensation durch andere, auratischere Qualitäten. Was Thomas Manns Texten, zumal den Romanen und ganz besonders dem Zauberberg, diese Aura verleiht, ist der autoritative Gestus, mit dem sie zum Leser reden: Gewichtiges wird hier verhandelt, Grundprobleme des modernen Menschen – und der, der über sie handelt, hat und beansprucht Autorität. Diese Haltung und diesen Gestus meint der Titel meines Beitrags. I. Drei Zeitdeuter Der Dichter als Zeitdeuter also – das klingt zwar ein wenig altmodisch, aber keineswegs unvertraut. Beispiele fallen uns leicht ein: Günter Grass, Martin Walser, Siegfried Lenz, Botho Strauß, Peter Handke, unlängst noch Heinrich Böll – und natürlich ließe sich diese Namensliste leicht in die Vergangenheit verlängern: bis zu Goethes Wanderjahren vielleicht oder gar bis zu Voltaires Candide. Natürlich muss kein Dichter Zeitdeuter sein wollen – er könnte ja auch, beispielsweise, eine ganz persönliche Erfahrung gestalten oder einfach eine gute Geschichte erfinden. Wenn diese persönliche oder mehr oder minder frei erfundene Geschichte Interesse findet, dann wird ihr schon irgendeine Form von Repräsentanz zukommen, eine zeitseismographische etwa, eine anthropologisch-paradigmatische oder vielleicht auch eine praktisch-moralische. Wird eine solche Repräsentanz jedoch explizit beansprucht, so verlangt dies nach einer Autorisierung, die in einer hoch arbeitsteiligen Gesellschaft nur schwer zu erlangen sein dürfte. Wer heute als Schriftsteller Zeitdeuter sein will, tritt in Konkurrenz mit dem Soziologen, dem Politologen, dem Psychologen, dem Ökonomen und Ökologen, dem Kulturkritiker, dem Philosophen und dem Journalisten. Ein sicher edler, aber ebenso sicher heikler Wettstreit, denn die einzig unbestrittene Spezialqualifikation des Dichters liegt nun einmal darin – Dichter zu sein. Das ist die differentia specifica seiner Kompetenz und damit auch das quasi naturgegebene Fundament seiner Autorität. Genuin autoritative Zeitdeutung könnte der Dichter nur als Dichter geben. Da gegenwärtig eher unemphatische Literaturkonzepte dominieren, dürfte uns ein solcher Anspruch als reichlich kühn erscheinen. Die Autoren der Moderne hatten da weniger Zweifel, nicht zuletzt weniger Selbstzweifel. Gerade Künstler (und damit eben auch Literaten) schienen ihnen dazu berufen, mit ausschließlich künstlerischen Mitteln den kulturellen Akt der Sinnstiftung zu leisten, der früher als Privileg von Philosophen und Metaphysikern gegolten hatte.
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Kein Wunder also, dass Thomas Manns Zauberberg in seinem Anspruch auf Zeitdeutung kein Ausnahmefall ist. Der Roman erschien 1924; die Arbeit an ihm war aber bereits 1913 begonnen worden.2 Seine Handlung – sie umfasst die sieben Jahre, die Hans Castorp im Davoser Sanatorium verbringt – endet 1914 mit einer Szene aus dem eben begonnenen Weltkrieg. Damit ist zugleich schon der zeitdeutende Anspruch des Werkes impliziert, den es mit mindestens zwei anderen bedeutenden Romanen der Moderne teilt: mit Hermann Brochs Romantrilogie Die Schlafwandler (erschienen 1931/32) und mit Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften (von dem Teilbände in den Jahren 1930/32 und, bereits postum, 1943 erschienen).3 In allen drei Büchern ist der Erste Weltkrieg zugleich Fluchtpunkt der Handlung wie der Zeitreflexion. Für uns Spätergeborene steht sicher der Zweite Weltkrieg im Zentrum des 20. Jahrhundert – nicht nur kalendarisch, sondern auch als das säkulare Ereignis schlechthin. In der ersten Jahrhunderthälfte sah man das anders, durchaus mit einigem Recht. Denn der Erste Weltkrieg begründete nicht nur den Zweiten, sondern markiert auch sehr viel deutlicher eine Epochenwende – nicht nur durch den neuen geopolitischen Anspruch der Vereinigten Staaten, sondern durch eine Globalerschütterung der alteuropäischen Kultur in all ihren Traditionsbeständen. Im Jargon unserer eigenen aktuellen Zeitdeutungsterminologie würden wir von einem durch und durch krisenhaften Modernisierungsschub sprechen, der den ganzen Rest des Jahrhunderts geprägt hat. Und genau als eine solche krisenhafte Zeitenwende, als eine Kultur-Krise haben Broch, Mann und Musil den Weltkrieg gesehen, knapp gesagt: als Scheitern der alteuropäischen Kultur an den Herausforderungen der Modernisierung. Die Schlafwandler, Der Zauberberg und Der Mann ohne Eigenschaften sind literarische Diagnosen dieser Kulturkrise – wobei aus den Analysen auch Konsequenzen für eine mögliche Therapie abgeleitet werden. Bei allen Unterschieden im Detail sind die Gemeinsamkeiten in Diagnostik wie Therapie frappant. Im Formalen aber gehen die drei Autoren ganz unterschiedliche Wege. Brochs Schlafwandler sind ein kühnes Erzählexperiment, was diesen Roman zu einem der ambitioniertesten Werke der Moderne macht – und vielleicht gerade darum zu einem schandbar ver_____________ 2 Zu Details der Entstehungsgeschichte vgl. die von Neumann gesammelten Informationen und Materialien (GKFA 5/2, S. 9–46). 3 Der Roman blieb bekanntlich Fragment: Ein dritter Band war 1938 zwar gesetzt, dann vom Autor aber wieder zurückgezogen worden; der (unautorisierte) Fortsetzungsband von 1943 wurde von Martha Musil als Privatdruck in kleiner Auflage herausgegeben. Eine erste Gesamtausgabe, zusammengestellt von Adolf Frisé erschien erst 1952, also zehn Jahre nach Musils Tod.
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nachlässigten Text.4 Musils Mann ohne Eigenschaften, der erzähltechnisch sehr viel konventioneller angelegt ist, hat man als »essayistischen Roman« zu beschreiben gesucht.5 Gerade darin dürfte aber auch die Problematik dieses Romanprojektes liegen. Wer sich in der historisch-kritischen Ausgabe durch die letzten vom Autor verfassten Kapitel und Fragmente hindurchgequält hat, wird vielleicht meinen Eindruck teilen, dass Musil hier in doppelter Weise scheitert: zum einen an der epischen Integration seiner Reflexionen, zum anderen daran, dass er sich nicht eine erzählerische, sondern eine begrifflich abstrakte Lösung der Zeitprobleme erschreiben will. Damit behaupte ich natürlich nicht, dass Romane nur in konventionell erzählerischer Manier verfasst werden können, wohl aber, dass Musil seinen Roman in eben dieser traditionellen Manier angelegt und sich damit selbst unter den Zugzwang konventioneller epischer Integration gesetzt hat.6 Dies gilt noch viel mehr für Thomas Manns Zauberberg, den der Autor noch viel dezidierter in die Tradition realistischen Erzählens gestellt hat. Dennoch gelingt ihm, woran Musil scheitert. Diesem Gelingen will ich im Folgenden nachgehen: Wie hat es Thomas Mann geschafft, sein Projekt einer Deutung der Moderne in einer im Kern konventionellen, die realistische Tradition des 19. Jahrhunderts fortführenden Romanform zu verwirklichen? II. Das System der Gegensätze Zunächst aber ist zu fragen, wie Thomas Manns Deutung der Kulturkrise aussieht. Das erscheint auf den ersten Blick ein einigermaßen aussichtsloses Unterfangen zu sein. Der Zauberberg ist randvoll mit den unterschiedlichen Weltanschauungen der Epoche, mit Wissen aus unterschiedlichsten Wissensformen – etwa aus Philosophie, Medizin, Psychoanalyse, Biologie, Botanik, Astrologie, Okkultismus – sowie der Beschreibung und Deutung aktueller Kulturphänomene (wie etwa dem Kino oder dem Grammophon).7 _____________ 4 Zur grundlegenden Analyse vgl. Ritzer: Broch, bes. S. 235–329. 5 Vgl. z.B. Bachmann: Essay, bes. S. 178–192. 6 Das Problem liegt also nicht im Essayismus per se – der prägt die Schlafwandler und den Zauberberg nicht weniger deutlich als den Mann ohne Eigenschaften –, sondern darin, dass Musil einerseits die konventionelle epische Integration zunehmend schwer fällt, er sich aber andererseits, trotz gelegentlicher Spekulationen darüber, nicht zu einer konsequent avantgardistischen Anlage des Textes entschließen kann. 7 Vgl. dazu jetzt den Sammelband von Engelhardt / Wißkirchen (Hg.): Zauberberg.
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Doch liegt dieser verwirrenden enzyklopädischen Vielfalt eine einfache Grundstruktur zugrunde, die auf Thomas Manns persönlicher Synthese von Schopenhauerschen und Nietzscheschen Philosophemen beruht. Das ist durchaus zeittypisch8 – wie auch dass die daraus resultierende weltanschauliche Analyse auf der Grundfigur eines Gegensatzpaares beruht. Bei Thomas Mann ist die wohl allgemeinste begriffliche Fassung dieser Opposition der Gegensatz zwischen »Geist« und »Leben«. Das klingt freilich erheblich konventioneller, als es gemeint ist. Zwar arbeitet sich Thomas Mann damit in der Tat am wohl ältesten und traditionsmächtigsten Dualismus der abendländischen Tradition ab, aber er tut es in der aktuellen Fassung, die ihm Schopenhauer und Nietzsche gegeben haben. Die wichtigsten Veränderungen hat dabei der Begriff des »Lebens« erfahren.9 Dieses Leben – nicht Gott oder der »Geist«, wie ältere Metaphysiken glaubten – ist Urgrund und Prinzip aller Wirklichkeit. Es hat kein Ziel und keinen Sinn, sondern ist pure Dynamik, reiner Trieb, Willen (wie man seit Schopenhauer sagt), der immerfort will und immer anderes will. Solche Bestimmungen bleiben abstrakt – und würden noch abstrakter klingen, wenn ihr philosophischer Hintergrund in einer zünftigen Rekonstruktion der Schopenhauerschen Metaphysik erklärt würde, wie Thomas Mann selbst es oft getan hat.10 Ich verzichte bewusst darauf, da die diesen Philosophemen zugrunde liegende Erfahrung eigentlich einfach und wohl vertraut ist: Sie besteht in nichts anderem als in der Einsicht, dass der Grund unseres Seins und der Wirklichkeit überhaupt für uns unerkennbar und unkontrollierbar, also im doppelten Sinne unverfügbar ist – und das nicht trotz, sondern wegen der Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaft. Denn diese hat zwar unser Wissen um die Gesetzmäßigkeiten des Lebens und deren technische Manipulierbarkeit vergrößert, aber zugleich alle die Versuche zu Sinngebungen und Zwecksetzungen in Frage gestellt, die die Kultur bisher hervorgebracht hatte. Nicht Schopenhauer oder Thomas Manns Schopenhauerdeutung seien also zitiert, sondern eine Zauberberg-Passage, die viel unmittelbarer zugänglich sein dürfte. Sie berichtet von den Überlegungen, die Hans Castorp beim Studium seiner neuerworbenen medizinischen Handbibliothek anstellt: _____________ 8 Schopenhauer und Nietzsche sind nun einmal die philosophischen Patres der Epoche; daher ringen die meisten Intellektuellen der Zeit um eine Synthese ihrer Denkansätze. 9 Zur immer noch differenziertesten Analyse des Lebens-Begriffs der Jahrhundertwende vgl. Rasch: Aspekte, bes. S. 17–27. 10 Etwa in seinem Vorwort zu einer Schopenhauer-Ausgabe (GW IX, S. 528–580). Zum knappen Überblick über Manns Schopenhauer- und Nietzsche-Rezeption vgl. Reed: Tradition, bes. S. 98–103.
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Was war das Leben? Man wußte es nicht. Es war sich seiner bewußt, unzweifelhaft, sobald es Leben war, aber es wußte nicht, was es sei. [...] Bewußtsein seiner selbst war also schlechthin eine Funktion der zum Leben geordneten Materie, und bei höherer Verstärkung wandte die Funktion sich gegen ihren eigenen Träger, ward zum Trachten nach Ergründung und Erklärung des Phänomens, das sie zeitigte, einem hoffnungsvoll-hoffnungslosen Trachten des Lebens nach Selbsterkenntnis, einem Sich-in-sich-Wühlen der Natur, vergeblich am Ende, da Natur in Erkenntnis nicht aufgehen, Leben im Letzten sich nicht belauschen läßt. Was war das Leben? Niemand wußte es. [...] Es war nicht materiell, und es war nicht Geist. Es war etwas zwischen beidem, getragen von Materie gleich dem Regenbogen auf dem Wasserfall und gleich der Flamme. Aber wiewohl nicht materiell, war es sinnlich bis zur Lust und zum Ekel, die Schamlosigkeit der selbstempfindlichen Materie, die unzüchtige Form des Seins. (GKFA 5/1, S. 416f. u. 418)
Diesem Leben gegenüber hat der Geist von vornherein schlechte Karten, da es sich nie wird begreifen lassen. Und dennoch hat er keine Wahl, als sich an die unlösbare Aufgabe zu machen, die sich ihm besonders nachdrücklich dort stellt, wo sich das Leben am radikalsten dem Verstehen und der Kontrolle entzieht, also in Krankheit, Liebe und Tod. Zu unerträglich und zu unbekömmlich wäre dem Menschen die fortdauernde feindselige Fremdheit von Welt wie Ich. Weltanschauungen aller Art versuchen, diesen unendlichen Mangel an Sinn zu kompensieren. Aber nicht nur Gedankengebäude verhelfen dazu, sondern alle Gestaltungen der Kultur, natürlich auch die von Literatur und Kunst. Sie bestimmen Mentalitäten, strukturieren Denken wie Handeln. Sie bieten Formen, Rituale, Denkbilder, die Schutz und Halt geben – natürlich auch Zwang und Gefängnis sind, was wir heute einseitig zu betonen neigen – auch das ist wohl Ausdruck einer Kulturkrise, vielleicht ja der immer noch gleichen, nur in aktualisierter Form. Aber damit sind wir bereits einen Schritt zu weit voraus geeilt. Fragen wir zunächst, worin, in Thomas Mann Deutung, die spezifische Kulturkrise seiner Zeit besteht: Zum einen natürlich in der Verschärfung des Sinnmangels, die der radikal entidealisierte Lebensbegriff verursacht; zum zweiten im Fragwürdigwerden der etablierten Formen und Rituale, die früheren Zeiten Halt und Schutz boten;11 zum dritten schließlich in der Ohnmacht der aktuellen weltanschaulichen Großerzählungen, diese Sinnkrise zu beheben. Für diese Ohnmacht stehen im Roman die Erzieherfiguren Settembrini und Naphta. Lodovico Settembrini ist der Repräsentant von Aufklärung und Fortschrittsglaube. Seine Zentralwerte und Leitworte sind: Vernunft, _____________ 11 Beispiele für solche fragwürdig gewordenen Kultur-Formen wären etwa die »absolute« Geltung der Arbeit für den Bürger (GKFA 5/1, S. 56), der Korpsstudenten-Zynismus, mit dem der Arzt Behrens seine Melancholie zu beherrschen sucht, oder Joachim Ziemßens verinnerlichte Uniform.
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Analyse und Kritik; Aktivität, Arbeit und soziale Pflichterfüllung; Individualismus, Revolution, Demokratie und Weltfrieden; Europa, Antike und Klassizismus. Sein Gegenspieler Leo Naphta ist der Repräsentant des Konservatismus in seiner geistradikalsten Variante. Seine Zentralwerte und Leitworte sind: Glauben und Mystik; Kontemplation, Askese, Leiden, Krankheit und Tod; Antikapitalismus, Kollektivismus, Diktatur (egal ob die vergangene des Gottesstaates oder die zukünftige des Proletariats), Terror und Krieg; Asien, Mittelalter und Romantik. Beide Positionen und die ihnen zugeordneten weltanschaulichen Systeme werden vom Roman gleichermaßen diskreditiert Immer wieder verstricken sich deren Protagonisten in argumentative Selbstwidersprüche; zudem bringen beide vertretene Ideologie und gelebte Praxis nur höchst unvollkommen zur Deckung: Der Pazifist Settembrini würde bereitwillig gegen das seine Heimat Italien unterdrückende Österreich in den Krieg ziehen – und der Asket Naphta lebt im sinnenfrohen Luxus. Was ihre Geistsysteme jedoch am nachdrücklichsten diskreditiert, ist, dass beide das »Leben« nur höchst unvollkommen integrieren können – eben nur in den Teilaspekten, die ihrer jeweiligen Weltanschauung kompatibel sind. Settembrini negiert alles am Leben, was nicht vernunftkonform ist; in ihrer vernunftfremden Form ist ihm die Natur »dumm und böse«, der Körper gar »das böse, das teuflische Prinzip« (GKFA 5/1, S. 153 u. 378f.); jede Form von Leiden will er abschaffen. Für Naphta dagegen ist das Leben nur als Leiden und Leibesschwäche wahr. Damit verfehlt er es auf gleich doppelte Weise: Er negiert alle positiven Erfahrungen von Sinnlichkeit, Schönheit und Genuss und er sieht im als Leiden bestimmten Leben keinen Wert – der liege allein in einem lebenstranszendenten Absoluten. Daher fürchtet er das Ungeformte und Amorphe des Lebens, seine Tendenz zur Selbstauflösung nicht weniger als Settembrini. Anders als dieser setzt er ihm allerdings nicht die vernunftbestimmte ›Form‹ entgegen, sondern eine überstrenge, alles Leben tötende – in der Kulturgeographie des Romans: »spanische« – »Überform« (ebd., S. 760).12 Das heißt aber nichts anderes, als dass beide Weltanschauungen ihre eigentliche Aufgabe, die Vermittlung von Geist und Leben, nicht leisten können. Ihre auf Vereinseitigungen beruhende Antithese führt so auch nicht zur Lösung des Zeitproblems, sondern zur »großen Konfusion«, zum »großen Stumpfsinn« und zur »großen Gereiztheit« – und damit zum Krieg (ebd., S. 705, 796, 1034).13 _____________ 12 Vgl. dazu auch die im Kommentarband abgedruckten handschriftliche Entwürfe: »die Sphäre des Todes als Überform, [...] als Todeszeremoniell« (GKFA 5/2, S. 415). 13 Am Romanschluss wird der Krieg bestimmt als »diese betäubende Detonation lang angesammelter Unheilsgemenge von Stumpfsinn und Gereiztheit« (GKFA 5/1, S. 1075).
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Daher verfallen beide Systeme der Ironie. Dieses Schicksal teilen die zwei Meisterdenker mit allen anderen Personen des Romans: Es gibt kein Gedankengebäude und keine zur Form gewordene Lebenshaltung, die nicht der Ironie verfallen. Damit hat Thomas Mann gezielt die Leerstelle konstruiert, die der Sinnstiftungsanspruch des Dichters auffüllen soll. III. Symbolik und Mythisierung Ein solch globaler Sinnstiftungsanspruch ist freilich mit einer realistischen Schreibweise nur schwer zu vereinen. Der Realismus – zumindest in der Form, die sich das 19. Jahrhundert erfunden hat – steht unter dem Imperativ der Verbesonderung, ist also verpflichtet auf raum-zeitliche Individualisierung und individualpsychologische Motivierung. Nicht dass die Realisten nur Geschichten ohne allgemeineren Geltungsanspruch erzählt hätten, natürlich nicht; sie haben durchaus Erzählverfahren entwickelt, die im Besonderen ein Allgemeines aufscheinen ließen – und auf eben diese greift Thomas Mann zurück. Seine Innovation liegt weniger im Prinzipiellen, als vielmehr im Graduellen: Er treibt die Pole der realistischen Partikularisierung und der quasimetaphysischen Generalisierung einerseits ins Extrem, vermittelt sie aber andererseits mit so souveräner Leichtigkeit, dass der erzählerische Kraftakt dieser Synthese vom Leser kaum bemerkt wird.14 Die zwei wichtigsten dieser Verallgemeinerungsverfahren sind das realistische Symbol und die mythopoetische Vertiefung. Beide kann ich nur an je einem Beispiel vorstellen. Mein Beispiel für Thomas Manns realistische Symbolik ist die im zweiten Romankapitel beschriebene Taufschale der Familie Castorp, die seit sieben Generationen im Familienbesitz ist. In den achtzehn Monaten, die der früh verwaiste Hans Castorp bei seinem Großvater lebt (bis auch dieser stirbt), lässt er sich die Schale immer wieder aus einem Rokoko-Glasschrank hervorholen, in dem allerlei »außer Gebrauch befindliche und eben darum fesselnde Gegenstände« (GKFA 5/1, S. 37) aufbewahrt werden. Ich zitiere aus der Beschreibung der aus zwei Teilen bestehenden Taufschale: Becken und Teller gehörten ursprünglich nicht zueinander, wie man wohl sah […]; doch seien sie, sagte der Großvater, seit rund hundert Jahren, nämlich seit der Anschaffung des Beckens, im Gebrauche vereinigt. Die Schale war schön, von einfa-
_____________ 14 Um dies an wenigstens einem Vergleich zu konkretisieren: Auch bei Theodor Fontane sind realistisch beschriebene Details mit Bedeutung aufgeladen; diese bleiben aber esoterischer Subtext, der in exoterischer Lektüre größtenteils problemlos überlesen werden kann. Bei Thomas Mann dagegen wird die dichte Semantik in essayistisch-diskursiver Erzähler- oder Figurenrede explizit, ohne dass dies den Realismus-Effekt in irgendeiner Weise vermindert.
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cher, edler Gestalt, geformt von dem strengen Geschmack der Frühzeit des letzten Jahrhunderts. Glatt und gediegen, ruhte sie auf rundem Fuße und war innen vergoldet; doch war das Gold von der Zeit schon zum gelblichen Schimmer verblichen. Als einziger Zierrat lief ein erhabener Kranz von Rosen und zackigen Blättern um ihren oberen Rand. Den Teller angehend, so war sein weit höheres Alter ihm von der Innenseite abzulesen. »Sechzehnhundertundfünfzig« stand dort in verschnörkelten Ziffern, und allerlei krause Gravierungen umrahmten die Zahl, ausgeführt in der »modernen Manier« von damals, schwülstig-willkürlich, Wappen und Arabesken, die halb Stern und halb Blume waren. Auf der Rückseite aber fanden sich in wechselnder Schriftart die Namen der Häupter einpunktiert, die im Gange der Zeit des Stückes Inhaber gewesen: Es waren ihrer schon sieben, versehen mit der Jahreszahl der Erb-Übernahme, und der Alte […] wies mit dem beringten Zeigefinger den Enkel auf jeden einzelnen hin. Der Name des Vaters war da, der des Großvaters selbst und der des Urgroßvaters, und dann verdoppelte, verdreifachte und vervierfachte sich die Vorsilbe »Ur« im Munde des Erklärers, und der Junge lauschte seitwärts geneigten Kopfes, mit nachdenklich oder auch gedankenlos-träumerisch sich festsehenden Augen und andächtig-schläfrigem Munde auf das Ur-Ur-Ur-Ur, – diesen dunklen Laut der Gruft und der Zeitverschüttung, welcher dennoch zugleich einen fromm gewahrten Zusammenhang zwischen der Gegenwart, seinem eigenen Leben und dem tief Versunkenen ausdrückte und ganz eigentümlich auf ihn einwirkte. (ebd., S. 38f.)
Alles ist hier bedeutend: Offensichtlich ist das soziale Ritual der Generationenkette, das Zusammenhang durch die Zeit herstellt; offensichtlich auch die anthropologische Verbindung von Geburt und Tod. Es ist ein bürgerliches Ritual, das hier gestiftet wird – nicht umsonst stammt die Schale vom Anfang des 19., also des bürgerlichen Jahrhunderts und ist von klarer, strenger Form. Ohne innere Verbindung ruht sie auf älterem Grund, dem aus dem 17. Jahrhundert stammenden Teller, dessen Wappenschmuck auf aristokratische Tradition, dessen Verbindung von Blume und Stern (das Becken hingegen hat bezeichnenderweise nur Blumenschmuck) auf eine religiöse Verbindung von Immanenz und Transzendenz verweist. Gegenüber einer solchen starken Form – und um geistgebildete Formen für das Leben geht es hier natürlich – ist die bürgerliche schwach gegründet, befindet sich zudem, Aufbewahrungsort und Abnutzung der Schale verweisen darauf, schon im Verfallsstadium. Doch nicht um die Semantik des Symbols15 geht es mir, sondern um seine Poetik. Thomas Manns Symbole erreichen nicht selten die Bedeutungsdichte von Allegorien. Eine gängige Definition der Allegorie ist die einer fortgesetzten Metapher (translatio continuata); man kann sie sich vorstellen als eine Kette von ›uneigentlichen‹ Bildern, der eine parallele Kette von ›eigentlichen‹ Bedeutungen so zugeordnet ist, dass jedem Glied der _____________ 15 Die im Roman durch implizite und explizite Deutungssignale des Ko-textes natürlich eine noch viel komplexere ist. Man denke etwa an die anderen Gegenstände, die in der Vitrine des Großvaters zusammen mit der Taufschale verwahrt sind (GKFA 5/1, S. 37).
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ersten eines der zweiten entspricht. In der traditionellen Allegorie dominiert der Bedeutungszusammenhang (die zweite Kette) den Sachzusammenhang der Bilder (die erste Kette) nicht nur, sondern sie schwächt ihn auch, weil sie an seiner realistischen Substanz zehrt. Der Zusammenhalt und die Substanz der Allegorie liegen eben eindeutig in der Bedeutungskette. Thomas Mann dagegen verbindet eine solche allegorische Bedeutungsverdichtung mit der für das Symbol charakteristischen Substanzialität der Bildhälfte. Es ist kein bloßer Zufall, dass es die Schale wirklich gibt – es ist die Taufschale der Familie Mann16 –, wobei natürlich nicht die reale Existenz des Objektes von Bedeutung ist, sondern seine wohl bewährte, funktions- und bedeutungsanaloge Verwendung im verallgemeinerungsfähigen (paradigmatischen) Einzelfall. Durch solche Symbole, deren dichte Semiotik metonymisch fundiert ist,17 entsteht eine ebenso dicht beschriebene wie dicht gedeutete, mit Bedeutung aufgeladene fiktionale Welt – und das Individuum Hans Castorp wird zur zeittypischen Figur. Auch die mythopoetische Vertiefung ist ein Verfahren der Bedeutungsaufladung, freilich ein besonderes. Ich will mich nicht auf die endlosen Diskussionen über eine exakte Definition des Begriffes ›Mythos‹ einlassen, sondern ausgehen von einer verblüffend simplen Begriffsbestimmung durch Thomas Mann selbst. In Freud und die Zukunft (1936) schreibt er lapidar, »dass das Typische auch schon das Mythische« sei (GW IX, S. 492f.).18 Das ist durchaus bedenkenswert. Der Mythos ist eine einfache Geschichte mit großem Sinnpotenzial, eine ›große Erzählung‹ mit umfassendem Deutungsanspruch. Woran erkennt man nun dieses ›Große‹? Eine bescheidene Antwort könnte lauten: an seiner Wirkung – »the proof of the myth is in its efficiency« –: Bedeutungspotente Geschichten verbreiten sich schnell und haben eine ›longue durée‹. Da sich dieser Effekt schwer voraussehen lässt, ist die Erfindung neuer Mythen schwierig. Deshalb greifen moderne Mythopoeten gerne auf bestehende Mythen und Mythologeme zurück, die bereits mit kulturellem Sinnpotenzial aufgeladen sind. Leichter als die Positiv- fallen die Negativbestimmungen des Mythos: Er gibt keine rational-kausale Erklärung, nichts was zur Gänze in begriff_____________ 16 Abbildung z.B. in: Sandt: Mythos, S. 46; dort auch ein, allerdings nicht sehr präziser, Interpretationsversuch (S. 43–64). Thomas Mann hat die Schale auch im Gesang vom Kindchen ausführlich (und z.T. wortidentisch mit der Zauberberg-Passage) beschrieben; vgl. GW VIII, S. 1090f. 17 Im Vergleich mit einer bloß metaphorischen (also auf Analogierelationen gegründeten) Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat erleichtert eine metonymische (also auf Kontiguitätsbeziehungen gegründete) den intuitiven Zugang zum Bedeutungskern des Symbols erheblich. 18 Thomas Manns vertiefte (und das Spätwerk prägende) Auseinandersetzung mit dem Mythos beginnt erst um 1926 (mit den Vorarbeiten zu Joseph und seine Brüder). Mit mythopoetischem Erzählen experimentiert er aber schon seit dem Tod in Venedig. Vgl. Dierks: Thomas Mann.
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liches Denken überführbar wäre: Der Mythos ist eine irreduzible Geschichte. Daher darf er auch nicht in der Kausalität einer psychologischen Erklärung aufgehen. Nun sind Thomas Manns Figuren und ihre Lebensgeschichten natürlich psychologisch durchkonstruiert und durchmotiviert. Gegenüber dieser realistischen Oberfläche fungiert der Mythos als zweite, tiefere Ebene, als Subtext im ganz wörtlichen Sinne. Mit ihm reklamiert der Autor für sein Werk eine tiefere Bedeutung, eine umfassendere Repräsentanz – und damit eine größere Autorität als sie einem realistischen Text sonst zukäme. An solch mythischen Subtexten ist im Zauberberg kein Mangel; schon die titelgebende Metapher für das Lungensanatorium Berghof ist ja ein solcher.19 Ich beschränke mich wiederum auf ein Beispiel, Hans Castorps berühmten Schnee-Traum, und zwar deswegen, weil hier der mythische Subtext unmittelbar zum Oberflächentext wird.20 Wieder muss ich den Kontext der ausgewählten Textstelle weitgehend vernachlässigen: Während eines Winterausflugs in dichtem Schneefall verirrt sich Hans Castorp hoffnungslos. Bei einem Heuschober findet er Unterschlupf und hat einen zweiteiligen Traum.21 Dessen beiden Haupt_____________ 19 Am Zentralmotiv des Zauberbergs/Berghofes lassen sich Thomas Manns Techniken der realistischen Symbolisierung und der mythopoetischen Überhöhung noch einmal exemplarisch verdeutlichen: (1) Es handelt sich um einen realistisch-plausibel beschriebenen Ort (wobei die realistische Substanzialität wieder dadurch intensiviert wird, dass Thomas Mann ihn nach einem realen Sanatorium modelliert). (2) Seine dichte Semiotik ist auf evidente Weise metonymisch begründet (die Signifikat-Qualitäten sind also tatsächliche Eigenschaften des Signifikanten, die nur noch herauspräpariert, in ihrer allgemeinen Bedeutungsdimension akzentuiert und durch leitmotivische Wiederholung als signifikant markiert werden müssen) – etwa: die Exterritorialität des Ortes, seine räumliche wie soziale Ausgrenzung aus der Alltagsexistenz; seine geographische Erhöhung gegenüber dem »Tiefland«; seine Zeitenthobenheit (die Jahreszeiten werden weder durch klimatische Eigenheiten noch durch den Vegetationswechsel angezeigt, da es keine Laubbäume gibt); seine Verbindung mit Krankheit, Tod, und Rausch (durch die »Gifte« der Krankheit und das Fieber); seine paradoxe Verschränkung von intensivierter Lebenserfahrung durch intensivierte Leiberfahrung und intensivierter Geistigkeit durch intensivierte Körperdistanz. (3) Diese Semantik wird intensiviert und erweitert durch Überlagerung mit kulturell etablierten Mythen, die Erzähler oder Romanfiguren herbeizitieren – etwa: Zauberberg (Tiecks Runenberg, Wagners Hörselberg), Unterwelt (Hadesfahrt-Motiv), Walpurgisnacht. 20 Nicht umsonst gerät Castorp im Schneetreiben in eine Welt, in der jede Besonderheit ausgelöscht ist, eine Welt des »Urschweigens« (GKFA 5/1, S. 717), der »weißlichen Transzendenz« ohne »ein irdisches Ziel« (ebd., S. 721) – in Schopenhauerscher Terminologie handelt es sich also um eine Welterfahrung jenseits der ›Vorstellung‹ und jenseits der ›Individuation‹. 21 Streng genommen, sind es natürlich drei Teile. Ich vernachlässige hier den ersten, die Vision einer idyllischen Parklandschaft, der als Rückkehr in die Heimat markiert wird (»Oh, Heimatodem, Duft und Fülle des Tieflandes, lang entbehrt« [ebd., S. 738]), während das gesteigerte Arkadien des zweiten Teils deutlich südländisch konnotiert ist. Der erste Teil bindet den Traum an Castorps Leben außerhalb der exterritorialen Zauberberg-Welt (in das er an seinem Schluss wieder münden wird, wenn die Hexen im Hamburger Dialekt fluchen),
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szenen könnten nicht gegenteiliger sein. In der ersten blickt der Träumer von einer Bergeshöhe herab auf ein südländisches Arkadien mit heiterer Sonnenlandschaft und befriedeter Sozialität (»große Freundlichkeit und gleichmäßig verteilte höfliche Rücksicht« [GKFA 5/1, S. 742]). Die schnelle Folge von Einzeltableaus gipfelt im Bild einer jungen, ihr Kind stillenden Mutter als einer Ikone kulturell geformten Lebens, der alle Vorübergehenden zeremonielle Reverenz erweisen. Die zweite Szenerie entfaltet sich in umgekehrter Richtung, also bergaufwärts.22 Der Träumer ersteigt die Stufen zu einem Tempel und blickt in die offene Tempelkammer: Zwei graue Weiber, halbnackt, zottelhaarig, mit hängenden Hexenbrüsten und fingerlangen Zitzen, hantierten dort drinnen zwischen flackernden Feuerpfannen aufs gräßlichste. Über einem Becken zerrissen sie ein kleines Kind, zerrissen es in wilder Stille mit den Händen – Hans Castorp sah zartes blondes Haar mit Blut verschmiert – und verschlangen die Stücke, daß die spröden Knöchlein ihnen im Maule knackten und das Blut von ihren wüsten Lippen troff. Grausende Eiseskälte hielt Hans Castorp in Bann. Er wollte die Hände vor Augen schlagen und konnte nicht. Er wollte fliehen und konnte nicht. Da hatten sie ihn schon gesehen bei ihrem greulichen Geschäft, sie schüttelten die blutigen Fäuste nach ihm und schimpften stimmlos, aber mit letzter Gemeinheit, unflätig, und zwar im Volksdialekt von Hans Castorps Heimat. (GKFA 5/1, S. 745)
Wer die auszugsweise zitierten Szenen im Volltext liest, wird wohl mehr als einmal ein déjà-vu-Gefühl verspüren. Thomas Mann verwendet hier zwar keinen vorgegebenen Mythos, aber er kombiniert – für Idyll wie Schreckensbild – zahlreiche Versatzstücke aus dem kulturellen Gedächtnis des Abendlandes.23 Was der Traum dem Leser vermitteln soll, ist offensichtlich: ein Gesamtbild des Lebens als komplementäres Nebeneinander von dessen jeweils ins Extrem getriebenen Polaritäten. Sie als Einheit zu denken, ist unmöglich, der Text zeigt sie aber als Teil eines Raumes und einer Geschichte. Das ist die rein poetische Syntheseleistung, zu der der Mythos _____________ der zweite und dritte Teil sind sozusagen gesteigerte Vision, in der das Leben in seiner Ambivalenz mythisch ausgedeutet wird. Diese Steigerung wird durch einen ausgedehnten Musik-Vergleich signalisiert, der vom ersten zum zweiten Teil überleitet (ebd., S. 739). 22 Der Blickwechsel des Träumers wird verursacht durch einen ihm gegenüber sitzenden Knaben, der den Träumer beim Beobachten beobachtet, dann aber hinter ihn blickt, wobei sein Gesicht plötzlich ernst wird. Die räumliche Anordnung, die Blickregie und das Zusammenfallen der Welten im Bewusstsein des Knaben – einer alter-ego-Figur des Träumers, sozusagen seinem Traum-Überbewussten – weisen die Räume als komplementär aus, etwa wie Vorder- und Rückseite der gleichen Münze. 23 Deswegen hat die Forschung auch eine Überfülle von möglichem Quellenmaterial zusammengetragen; vgl. etwa GKFA 5/2, S. 308–318. Dabei sollte man allerdings konsequent zwischen (möglichen) Anregungen und bedeutungskonstituierenden Anspielungen unterscheiden.
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fähig ist. Indem der Traum die Gegensätze des Lebens in eine einheitliche poetische Form bringt, ist er Abbild des Roman-Ganzen in verkleinertem Maßstab, der Roman als mise-en-abîme. Damit will ich natürlich nicht sagen, dass sich eine solche Lebensdeutung nicht begrifflich umschreiben ließe – Nietzsches Gegensatzpaar vom »Apollinischen« und »Dionysischen« etwa ist ein offensichtlich eng verwandtes Konzept.24 Entscheidend ist aber, dass Thomas Mann seine Gesamtdeutung des Lebens nur als ein Gesamt-Bild gibt; eine begriffliche Ausformulierung dieser Synthese hat er zwar zunächst versucht, dann aber verworfen.25 Diesem Befund widerspricht nicht, dass sich im Roman ausführliche Reflexionen Castorps anschließen, die seinen Traum fortsetzen, »nicht mehr in Bildern, sondern gedankenweise, aber darum nicht weniger gewagt und kraus« (GKFA 5/1, S. 745).26 Ihr Ergebnis ist keines der theoretischen, sondern eines der praktischen Vernunft: Der Traum vermittelt Hans Castorp keine Erkenntnis, kein Wissen über das Leben, sondern einen Handlungsimpuls, nämlich die vielzitierten Sätze: Ich will dem Tode Treue halten in meinem Herzen, doch mich hell erinnern, daß Treue zum Tode und Gewesenen nur Bosheit und finstere Wollust und Menschenfeindschaft ist, bestimmt sie unser Regieren. Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken. (ebd., S. 748)
Als diskursiver Gehalt ist das nicht mehr als der ganz formal bleibende Appell, die unsynthetisierbaren Gegensätze des Lebens möglichst gleichgewichtig zu leben, nichts auszugrenzen, aber auch nicht einseitig für nur eine Seite Partei zu ergreifen. Entscheidend ist, dass Thomas Mann diesen Appell auf eine Autorität gründet, die rein poetisch erzeugt wurde – auf der Basis von Bildern und Geschichten.
_____________ 24 Dabei wäre zweierlei zu bedenken: (1) Nietzsches ›Begriffe‹ sind ja selbst Mythologeme, bestenfalls Explikationsversuche von Mythologemen, jedenfalls aber alles andere als Bestandteile einen rationalen, ›aufgeklärten‹ Diskurses. (2) Thomas Manns Traum ist weder eine Allegorie von Nietzsches Philosophie noch deren »Fortbildung« (so Neumann in GKFA 5/2, S. 317 – was immer das heißen könnte). Zwar liegt dem Traum offensichtlich eine sehr Nietzsche-nahe Variante aus der schier endlosen Variantenzahl von Antwortversuchen auf das abendländische Dualismus-Problem zugrunde, doch verweigert Manns nur raumlogisch ausgestaltetes Nebeneinander der polaren Welten jede Antwort auf die Frage nach deren genauer Relationierung (zu der sich bei Nietzsche durchaus Aussagen finden). 25 Vgl. die im Kommentarband abgedruckten Entwurfspassagen (GKFA 5/2, S. 413–425. 26 Diese Reflexionen enthalten eine Überfülle von Leitmotiven, was die Zentralstellung des Schnee-Traums im Roman unübersehbar markiert.
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DIETER BORCHMEYER
Thomas Mann und Schiller – oder die Geburt des Naiven aus dem Geiste des Sentimentalischen
»Leben als Nachfolge, als ein In-Spuren-Gehen, als Identifikation« (GW IX, S. 492) – das ist seine geradezu archetypische, mythische Grundüberzeugung Thomas Manns spätestens seit der Arbeit an den Josephs-Romanen. Und in wessen Spuren er sich gehen sah, das hat er nie verschwiegen. Zwei Namen sind es zumal, auf die er sein Künstlertum immer wieder bezieht: Richard Wagner – zunächst – und später mehr und mehr Goethe. Seinen letzten großen Essay aber hat er nicht ihm, sondern seinem »antipodischen« Freund Schiller »in Liebe gewidmet« (ebd., S. 880, 870). Keine seiner vielen Goethe-Studien, ja überhaupt keines seiner Autorenporträts bekennt sich schon im Untertitel zur Liebe als der Grundhaltung einem anderen Künstler gegenüber.1 Und keiner seiner Essays ist eine so umfassende, alle Facetten und Gattungen ausleuchtende Werkbetrachtung wie der Versuch über Schiller aus seinem Todesjahr. So schwer ihm die Fertigstellung des Essays gefallen ist, so sehr er bei seiner Abfassung von Selbstzweifeln geplagt war, so beglückt registriert er die lebhafte Zustimmung im Familien- und Freundeskreis nach seinem Abschluß. So wie zumal Erika und Golo Mann »das hier Ausgesprochene nicht genug loben« können, ist er selber – geradezu letztwillig – überzeugt, seiner Rolle als Kulturrepräsentant gerecht geworden zu sein: »Wirklich erfülle ich damit in großem Stil und ein für allemal die Forderungen, die man beständig an mich stellt« (Tb. 1953–1955, S. 305). _____________ 1 »Liebe« hat Thomas Mann hier nicht zum erstenmal als seine Grundhaltung Schiller
gegenüber bezeichnet: »Ich liebe Schiller sehr«, notiert er in den Aufzeichnungen zu seinem Essay Geist und Kunst (1909), »seines Schönheitsglanzes und jenes Kunstzaubers wegen, den ich bei ihm, bei Wagner, bei Ibsen – und gar nicht bei Hebbel finde … Ich sage damit nicht, daß ich an Schiller und Wagner besser glaube, als an Hebbel. Aber ich liebe sie und finde es pedantisch, nicht lieben zu können, ohne zu glauben«. Zitiert nach Sandberg: Manns Schiller-Studien, S. 65.
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Ging er aber wirklich so »in den Spuren« Schillers wie in denen Wagners oder Goethes? In einer Hinsicht mit Sicherheit! Keine dichtungstheoretische Abhandlung hat Thomas Mann von jeher so bewundert wie Schillers Traktat Über naive und sentimentalische Dichtung. »Geistvoll wie nichts in der Welt« nennt er diesen Essay im Versuch über Schiller (GW IX, S. 880). Der »klassische und umfassende Essay der Deutschen, welcher eigentlich alle übrigen in sich enthält und überflüssig macht« (ebd., S. 61) ist er für ihn schon in seinem Aufsatz Goethe und Tolstoi (1925). Wer sind denn wohl »alle übrigen«? Kleists Essay Über das Marionettentheater gewiß, vor allem und in erster Linie aber Nietzsches epochemachende Erstlingsschrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. In der Tat: Ohne die von Schiller eingeführte Polarität des Naiven und Sentimentalischen ist die Duplizität des Apollinischen und Dionysischen jedenfalls kaum vorstellbar, wie Thomas Mann noch in seinem Essay Nietzsche’s Philosophie im Lichte unserer Erfahrung (1947) bemerkt (ebd., S. 686). Und da ist noch ein weiterer Essay, den Schillers Traktat im Grunde »in sich enthält und überflüssig macht«: Gustav Aschenbachs »leidenschaftliche Abhandlung über ›Geist und Kunst‹«, an der Thomas Mann selber 1909 gescheitert ist und über die es im Tod in Venedig heißt, daß ihre »ordnende Kraft und antithetische Beredsamkeit ernste Beurteiler vermochte, sie unmittelbar neben Schillers Raisonnement über naive und sentimentalische Dichtung zu stellen« (GW VIII, S. 450). Was Thomas Mann an Schillers Abhandlung zu Recht bewunderte, ist die Tatsache, daß hier zum ersten Mal eine klare Bestimmung der modernen Dichtung geboten, die Signatur ihrer Intellektualität bezeichnet wurde; »was er ›sentimentalisch‹ nannte«, heißt es in den Betrachtungen eines Unpolitischen, »ist genau der Begriff, den heute das Wort ›intellektuell‹ deckt« (GW XII, S. 599). Mit den Worten der Pariser Rechenschaft (1926): Die Kunst wird als »Leben im Licht des Gedankens« erkannt (GW XI, S. 35), des Gedankens, der sich doch nach dem Gedankenlosen, der naturgegebenen schöpferischen – naiven – Spontaneität sehnt. Das ist die sentimentalische Dichtungsart, in der Gedanke und Sehnsucht eins sind. Und dieses Sentimentalische ist der Angelpunkt von Thomas Manns Poetik, das Geheimnis seiner Ironie, die sich über das erhebt, mit dem sie gerne eins wäre, wenn es nicht das Stigma der Modernität bildete, allen ungebrochenen Einheitsgefühlen entsagen zu müssen. Diese Grunderfahrung der Moderne teilt Thomas Mann mit Schiller, der sie zum ersten Mal artikuliert hat, hier geht er ganz und gar in seinen Spuren, nicht in denen Goethes, zumindest nicht desjenigen Goethe, den der junge Thomas Mann sich nach dem Bilde seiner Schiller-Novelette Schwere Stunde aus dem Jubiläumsjahr 1905 – ein halbes Jahrhundert vor seiner letzten Schiller-Würdigung – geschaffen hatte.
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Die Identifikation mit Schiller ging derjenigen mit Goethe unleugbar voraus. Er ist das allererste Objekt jener ›Imitatio‹, die für ihn eine Grundfigur seines Lebens bilden wird.2 Goethes ›Nachfolge‹ konnte er erst antreten, in seinen Spuren vermochte er erst zu gehen, als er zu der Einsicht gelangte, daß der vermeintliche große Naive in Wirklichkeit – auf andere Weise, mit anderer Zielrichtung als Schiller – auch ein Sentimentaliker war: das große Thema des Essays Goethe und Tolstoi (1925). So weit aber ist er in seinem Goethe-Verständnis im Schiller-Jahr 1905 noch nicht. In seiner Antwort auf eine Rundfrage in diesem Jahr 1905 hat Thomas Mann die Kritik zum integrierenden Bestandteil moderner Kunst erklärt: Ich glaube, […] daß kein moderner schaffender Künstler das Kritische als etwas seinem eigenen Wesen Entgegengesetztes empfinden kann. Als Schiller seine ›sentimentalische‹ Kunstart gegen die ›naive‹ Goethes abgrenzte, empfand er die seine als die modernere […], und in der Schule von Geistern, die Nietzsche in Europa geschaffen, hat man sich längst gewöhnt, den Begriff des Künstlers mit dem des Erkennenden zu identifizieren. Kritik ist Geist. Der Geist aber ist das Letzte und Höchste. Und wenn, was freilich besser nicht geschähe, Geist und Kunst einander in die Haare geraten, so bin ich imstande und nehme Partei für den Geist. (GW XIII, S. 246)
Man möchte spekulativ ergänzen: Partei für Schiller gegen Goethe. Diese Parole entspräche zumindest dem Erkenntnisstand Thomas Manns zur Zeit der Schweren Stunde. Bleiben wir eine Weile bei der Novelette. Sie verdichtet die SchillerVerehrung Thomas Manns, die bis in seine Lübecker Schulzeit zurückreicht und zu deren wenigen positiven Eindrücken gehört, wie er noch 1955 in seiner Lübecker Ansprache bekundet (GW XI, S. 535). Sein Enthusiasmus konzentrierte sich zumal auf Don Carlos, »die erste Sprachbegeisterung meiner fünfzehn Jahre«, wie er im Versuch über Schiller bekennt (GW IX, S. 892f.). Die berühmte Don Carlos-Reminiszenz in Tonio Kröger: dessen Erschütterung durch die Tränen des Königs über Marquis Posas Abfall von ihm – »Der König hat geweint« (Szene IV/23) – gibt unzweifelhaft ein eigenes jugendliches Urerlebnis Thomas Manns wieder (GW IX, S. 893f.). Und das Desinteresse von Hans Hansen an Tonio Krögers Erschütterung signalisiert jene Fremdheit zwischen Natur und Geist, die leitmotivisch die meisten Äußerungen Thomas Manns über Schiller widerspiegelt. Nie hat er die Grundsympathie mit dem Lieblingsdichter seiner frühen Jugend verleugnet. Ja, er äußert sie um so entschiedener, oppositioneller, als er weiß, daß ausgerechnet Nietzsche, der ihm einen neuen ästhetischen Horizont eröffnet hat, der ätzendste und folgenreichste Schiller-Verächter der deutschen Geistesgeschichte gewesen ist – eine seiner unverzeih_____________ 2 Vgl. Täufel: Manns Verhältnis, Zitat S. 218.
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lichen Sünden in Thomas Manns Augen. Die Sottisen Nietzsches über den »Moral-Trompeter von Säckingen«3 hat er kopfschüttelnd beiseite geschoben (GW IX, S. 892), als ein Nichtwahrhabenwollen angesehen, daß beide, Schiller und Nietzsche, in der Überzeugung von der Suprematie des kritischen Geistes in den ästhetischen Hervorbringungen der Moderne und in ihrer von Krankheit gezeichneten artistischen Geistigkeit doch zutiefst verwandt waren. Thomas Mann hat Schwere Stunde im Auftrag der satirischen Zeitschrift Simplicissimus veröffentlicht – was zeigt, daß er zu dem offiziellen SchillerKult des wilhelminischen Reichs auf Distanz zu gehen versuchte. Er hat dieser Erzählung, dem »kleinen Stimmungsbild aus des Dichters heroischem Leben«, wie er 1955 in einem Brief an die Redaktion des Sonntag schreibt (DüD I, S. 222), bis an sein Lebensende zärtliche Anhänglichkeit bewahrt. Was er unter »heroischem Leben« verstand, war etwas wesentlich anderes als die offiziellen Fanfaren verkündeten. »Die Hemmung ist des Willens bester Freund. – Den Helden grüß’ ich, der Friedrich Schiller heißt«. Diesen Aphorismus hat Thomas Mann 1905 zum Schiller-Jahr der Wiener Zeitschrift Die Zeit geschickt.4 Die erste Zeile entstammt wörtlich dem Bekenntnis von Lorenzo de’ Medici in Fiorenza, dem unmittelbar vor der Schweren Stunde abgeschlossenen Drama: »Das Mühelose wird nicht groß. Wär’ ich schön geboren, nie hätte ich zum Herrn der Schönheit mich gemacht«, heißt es da, und nun folgt gleich der zitierte, auf Schiller bezogene Satz (GW VIII, S. 1062f.). »Heldenthum ist für mich ein ›Trotzdem‹, überwundene Schwäche, es gehört Zartheit dazu«, schreibt Thomas Mann wohl unter Anspielung auf Nietzsches Satz aus Ecce homo, »daß alles Entscheidende ›trotzdem‹ entsteht«,5 am 28. März 1906 an Kurt Martens, und er wehrt sich damit gegen die »populären Heroen« Herakles und Siegfried, denen er abstreitet, »Helden« zu sein, weil sie eben nur stark sind. Körperliches Leiden scheint mir historisch eine beinahe notwendige Begleiterscheinung der Größe zu sein und das leuchtet mir psychologisch ein. Ich glaube nicht, daß Caesar Caesar geworden wäre ohne seine Schwächlichkeit und seine fallende Sucht […]. Schließlich, liegt nicht in der zähen Repräsentation des erschöpften Thomas Buddenbrook eine ganze Menge Heldenthum? (GKFA 21, S. 359)
Das ist der »Heroismus […] der Schwäche«, der auch Gustav Aschenbach, den »Moralisten der Leistung« prägt, an dem er wie Thomas Buddenbrook _____________ 3 Nietzsche: Werke, Bd. 6, S. 111 (Götzen-Dämmerung, Streifzüge eines Unzeitgemäßen 1). 4 GKFA 14/1, S. 117. Vgl. dazu den Kommentar in GKFA 14/2, S. 117f., vor allem den
interessanten Hinweis auf die symbolische metrische ›Hemmung‹ im zweiten der beiden Blankverse vor dem Namen Friedrich Schiller: durch den Austausch des zu erwartenden Jambus gegen einen Daktylus. 5 Nietzsche: Werke. Bd. 6, S. 337.
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am Ende freilich zerbricht. »Aschenbach hatte es einmal an wenig sichtbarer Stelle unmittelbar ausgesprochen, daß beinahe alles Große, was dastehe, als ein Trotzdem dastehe, trotz Kummer und Qual […] und tausend Hemmnissen zustande gekommen sei«. Sein Sinnbild ist die Haltung des heiligen Sebastian: »Selbstbeherrschung, die bis zum letzten Augenblick eine innere Unterhöhlung, den biologischen Verfall vor den Augen der Welt verbirgt« (GW VIII, S. 452f). Das aber ist die Lebens- und Künstlerdisziplin Schillers gewesen! Ihr gehört die höchste Anteilnahme Thomas Manns, nicht der genialen, gesunder Körperlichkeit zu verdankenden – vermeintlichen – Mühelosigkeit Goethes, so sehr ihn die Sehnsucht nach ihr erfüllt – ihn selber wie den Helden seiner Schweren Stunde: »Sehnsucht hinüber in die klare Welt des anderen, der unmittelbar und mit göttlichem Mund die besonnten Dinge bei Namen nannte«. So Schiller in der Erlebten Rede der Novelette. Immerzu trägt er den »Stachel des Gedankens« an ihn im Herzen, »an ihn, den anderen, den Hellen, Tastseligen, Sinnlichen, Göttlich-Unbewußten, an den dort in Weimar, den er mit einer sehnsüchtigen Feindschaft liebte …« (ebd., S. 377). Briefäußerungen Schillers aus der Zeit vor der Freundschaft mit Goethe fließen hier zusammen mit Thomas Manns eigenen Vorstellungen von Leidensgröße, vom Heroismus des ›Trotzdem‹. »War er denn größer?« fragt Schiller im Blick auf den ungenannten Anderen. »War es ein blutendes Trotzdem, wenn er siegte? […] Ein Gott vielleicht, – ein Held war er nicht.« Und nun wird das Heldentum als »Erkenntnis« bezeichnet, das bloße unbewußte »Schaffen« hingegen als göttlich. Das Höchste aber wäre, beides zu vereinigen, erkennend zu schaffen, aus der Erkenntnis zu schaffen, also »ein Gott und ein Held« zugleich zu sein (ebd., S. 377). Das ist zweifellos Thomas Manns wie – seines – Schillers Ziel. Und deshalb brauchen beide den ›Anderen‹, Thomas Mann wie Schiller, deshalb spiegelt Thomas Mann seine große Annäherung an Goethe in der bevorstehenden Epoche seines Lebens in derjenigen Schillers zur WallensteinZeit, war es ja wirklich dessen Absicht, in und mit dem Wallenstein sich dem Naiven zu nähern. Schwere Stunde ist das erste Beispiel einer totalen Montage in Thomas Manns Werk. Angesichts des dichten Gewebes von authentischem Material aus Schillers Krisenzeit zu Beginn seiner Arbeit am Wallenstein darf man sich fragen: Wie kann daraus etwas anderes als ein dokumentarisches Zustandsbild werden. Schmeckt das nicht mehr nach Germanistenfutter als nach lebendiger Erzählkunst? Und doch ist diese knappe Studie ein Porträt von eminenter Eindringlichkeit, bei dem wirklich im Sinne Schillers »der Stoff durch die Form vertilgt«,6 die authentische Realität _____________ 6 Schiller: Werke. Bd. V, S. 639.
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durch die Fiktion aufgehoben wird. Ein anderer Schriftsinn schiebt sich zudem über den ersten; durch geringfügige Änderungen des Tons und Wortlauts der Quellenzitate scheint durch das Bild Schillers das Leidensantlitz seines Widersachers Nietzsche hindurch. Dafür zwei Beispiele: In seinem Brief an Goethe vom 8. Dezember 1797 beschreibt Schiller die Beeinträchtigung seiner Produktivität durch die Krankheit: Glücklicherweise alteriert meine Kränklichkeit nicht meine Stimmung, aber sie macht, daß ein lebhafter Antheil mich schneller erschöpft und in Unordnung bringt. Gewöhnlich muß ich daher einen Tag der glücklichen Stimmung mit fünf oder sechs Tagen des Drucks und des Leidens büßen.7
Was wird daraus bei Thomas Mann: Eine Nacht der flammenden Stimmung, da man auf einmal in einem genialisch leidenschaftlichen Lichte sah, was werden könnte, wenn man immer solcher Gnade genießen dürfte, mußte bezahlt werden mit einer Woche der Finsternis und der Lähmung. (GW VIII, S. 374)
Aus einer nüchternen Diagnose seiner gesundheitlichen Labilität, wie sie der authentische Schiller sich selbst stellt, wird bei Thomas Mann durch pathetische Steigerung des Vokabulars die krankheitsbedingte schöpferische Emphase, der Rauschmoment der inspirativen Gnade, der ›bezahlt‹ werden muß mit einer langen Phase schöpferischer Lähmung. Das ist eine im Blick auf den späten Nietzsche entwickelte Grundidee Thomas Manns – Genialisierung durch Krankheit, der Pendelschlag zwischen Manie und Depression als Bedingung der mit Melancholie gepaarten kreativen Begnadung –, die schon auf Doktor Faustus voraus weist, dessen Ursprungsidee ja bereits aus dem Jahre 1904 stammt!8 Die Kränklichkeit, vom authentischen Schiller ohne jeden Beiklang der Überhöhung diagnostiziert, erhält in Thomas Manns Schwerer Stunde den Nimbus des Genialisch-Rauschhaften. Dafür ein anderes Beispiel: Am 14. Dezember 1798 sieht Schiller sich genötigt, Goethe nur mit »einem freundlichen Gruß« abzuspeisen, »denn der Schnupfen nimmt mir den Kopf so ein, daß ich ganz bethört von der Arbeit aufstehe«9. Damit meint er wohl nichts anderes, als daß er von seinem Schnupfen einen dumpfen, keines vernünftigen Gedankens fähigen Kopf bekommen hat. Doch Thomas Mann hört in dieses »bethört« etwas ganz anderes hinein: Das war ein besonderer und unheimlicher Schnupfen, der ihn fast nie völlig verließ. Seine Augenlider waren entflammt […] davon, und in Kopf und Gliedern lag dieser Schnupfen ihm wie eine schwere, schmerzliche Trunkenheit. (Ebd., S. 371)
_____________ 7 Schiller: Nationalausgabe. Bd. XXIX, S. 165. 8 (DüD III, S. 7f.). Vgl. Borchmeyer: Musik, S. 123–167. 9 Schiller: Nationalausgabe. Bd. XXX, S. 11.
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Selbst eine peinlich-triviale Unpäßlichkeit wie der Schnupfen wird also genialisiert, ins Licht tragisch-rauschhafter Inspiration getaucht. Ja, der fiktive Schiller steigert sich im vorausgeworfenen Schatten seines späteren Antipoden Nietzsche in eine förmliche Schmerzensemphase hinein: »Der Schmerz … Wie das Wort ihm die Brust weitete! […] Glauben, an den Schmerz glauben können … […] Das Talent selbst – war es nicht Schmerz?« (GW VIII, S. 375) Das und die Dostojewskinahe, Zauberbergvorfühlende Idee, »daß die Sünde gerade, die Hingabe an das Schädliche und Verzehrende ihn moralischer dünkte als alles Weisheit und kühle Zucht«, als »milde Sittlichkeit« und »verächtliche Kunst des guten Gewissens« (GW VIII, S. 375) – Formulierungen, die nahezu wörtlich vorwegnehmen, was später Clawdia Chauchat als russische Moral ins Französische übersetzen wird (GKFA 2/2, S. 300f.) –, gehen weit über den Leidenshorizont Schillers hinaus, verleihen dem Schmerz wieder einen genialisierenden Nimbus, der ihm fremd gewesen wäre. Doch nicht nur die Züge Nietzsches scheinen durch Schillers Porträt hindurch. Noch auf ein weiteres Bild hin ist es transparent, die geistige Physiognomie eines Dritten nehmen wir im Durchblick durch die Züge Schillers und Nietzsches wahr: diejenige Thomas Manns selber. Dreifacher Schriftsinn dieser kleinen Erzählung! Der da »aus dem Freibeutertum des Geistes in einige Rechtlichkeit und bürgerliche Verbindung eingetreten war, Amt und Ehren trug, Weib und Kinder besaß« (GW VIII, S. 374), das war nicht nur Schiller, das ist zugleich der Autor der Schweren Stunde. Die ganz und gar Thomas Mannsche Wendung vom »Freibeutertum des Geistes« verbindet sich wiederum mit einem Zitat Schillers.10 Anläßlich seiner akademischen Berufung nach Jena schreibt Schiller am 25. Dezember 1788 an Körner: »Mein ganzes Absehen bey dieser Sache ist in eine gewiße Rechtlichkeit und Bürgerliche Verbindung einzutreten, wo mich eine beßere Versorgung finden kann«.11 Wiederum wird der Originalton Schillers von Thomas Mann emphatisch übertönt. Schiller geht es ganz nüchtern um »beßere Versorgung«, sein Nachbild in der Schweren Stunde hingegen will seinem bisherigen geistigen Freibeutertum entgehen, wie es Thomas Mann in der Tat durch seine Ehe, durch seinen Eintritt in eine quasi patrizische Familie erstrebte. Und so ist auch die letzte Seite der novellistischen Studie mit ihrer das Ende der »schweren Stunde« andeutenden zärtlichen Huldigung Schillers an seine schlafende Frau – Künstlerfrauen pflegen in der Literatur grundsätzlich zu schlafen, wenn ihre Künstlermänner von den Flügeln der Inspiration gestreift werden12 – _____________ 10 Darauf hat Täufel: Manns Verhältnis, S. 221 aufmerksam gemacht. 11 Schiller: Nationalausgabe. Bd. XXV, S. 168. 12 Dieses Motiv der Inspiration des Künstlers mit schlafender Frau im Hintergrund kehrt von
Goethes Römischen Elegien (in deren fünfter der Dichter der schlafenden Geliebten »des
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zugleich eine heimliche Liebeserklärung Thomas Manns an Katia Pringsheim, mit der er am 11. Februar 1905 in den Stand der Ehe getreten war – unmittelbar bevor er (im März) seine Schiller-Novelette beginnt. 13 Zwanzig Jahre nach Schwere Stunde stellt sich in Thomas Manns theoretisch ambitioniertestem Essay Goethe und Tolstoi die Beziehung Goethes und Schillers in wesentlich anderem Lichte dar als in der frühen Novelette. Unverkennbar ist Thomas Mann inzwischen aus den Spuren Schillers in diejenige Goethes hinübergetreten. Doch dieser ist nicht mehr der »Göttlich-Unbewußte«, der »die besonnten Dinge bei Namen nannte« (GW VIII, S. 377), nicht mehr der naive Dichter der Schweren Stunde, sondern auf andere Weise ebenfalls ein sentimentalischer Geist. Der Parallele ›Goethe und Tolstoi‹ wird polar die Parallele ›Schiller und Dostojewski‹ gegenübergestellt. Thomas Mann entwickelt anhand der beiden Dichterparallelen eine neue Typologie des Naiven und Sentimentalischen, wobei er sich weigert, die mit dem jeweiligen Dichtertypus verbundenen Namen hierarchisch gegeneinander auszuspielen. Entschieden grenzt er sich vom Nietzsche der Götzendämmerung ab, der Goethe »und« Schiller nicht nebeneinander sehen, von der Kopula, dem »berüchtigten ›und‹« zwischen beiden Namen, nichts mehr wissen wollte.14 Thomas Mann hat dazu in Goethe und Tolstoi mit leisem Unwillen bemerkt: Was Goethe und Schiller betrifft, so hätte Nietzsche’s äußerst subjektive Abneigung gegen den Theatraliker und Moralisten von beiden ihn nicht verleiten dürfen, eine Brüderlichkeit zu leugnen, die durch die ihr innewohnende exemplarische Gegensätzlichkeit keinerlei Einbuße erleidet und in dem angeblich beleidigten Teil ihren besten Schutzherrn fand. Es war eine Voreiligkeit und durch nichts gerechtfertigte Eigenmächtigkeit Nietzsche’s, durch seinen Spott über jenes Und eine Rangordnung auszurufen oder als selbstverständlich zu unterstellen, die höchst strittig, ja die strittigste Sache von der Welt ist und es bleiben mag. (GW IX, S. 60f.)
Die Kopula verbinde ja im übrigen nicht nur, sondern sie setze ebensowohl entgegen, betont Thomas Mann. In diesem Sinne verteidigt er »Goethe und Schiller« gegenüber der Götzendämmerung, wie es überhaupt sein Ziel ist, das von Nietzsche verzerrte _____________ Hexameters Maß leise mit fingernder Hand« auf den Rücken zählt) und Mörikes MozartNovelle (Mozarts inspiratives Pomeranzen-Erlebnis, während Constanze schläft) über Thomas Manns Schwere Stunde bis zu Ortheils Nacht des Don Juan (2000) – auch hier schläft Constanze, während Mozart die Ouvertüre zum Don Giovanni komponiert – erstaunlich oft wieder: erst der Schlaf des körperlichen Eros ermöglicht dessen ästhetische Sublimierung, den künstlerischen Schöpfungsaugenblick, vgl. dazu Bukowski: Metamorphosen, S. 188, 202, 205 u. 207. 13 Vgl. Vaget: Mann: »das kleine erotische Motiv am Ende darf als Reflex des eigenen, jungen Eheglücks angesehen werden« (S. 130). 14 Nietzsche: Werke. Bd. 6, S. 122.
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Bild Schillers gegen ihn und doch vielfach in seinem, Nietzsches, Geiste zurechtzurücken, gewissermaßen das zu beschwören, was Schiller Nietzsche hätte sein können. Im Titel des Essays Goethe und Tolstoi soll freilich, ungeachtet aller tiefgreifenden Differenzen zwischen beiden Autoren, in erster Linie das Verbindende der Kopula »und« zum Ausdruck kommen, aber dieser Titel ist unvollständig. Will man die ganze Spannweite des Goethe-Schiller-Essays – ein solcher ist Goethe und Tolstoi durchaus – erfassen, muß man ihn durch die ungeschriebene antithetische Kopula ergänzen: »und« Schiller und Dostojewski. Zwei verbindende treten unter das Vorzeichen einer entgegensetzenden Kopula. Was die beiden Autorenpaare einander entgegensetzt, sind zwei divergierende ästhetische Verfahren: Was Schiller durch die Termini des Naiven und Sentimentalischen bezeichnet, nennt Thomas Mann »Plastik und Kritik«. »Plastik ist objektive, naturverbundene und schöpferische Anschauung, Kritik dagegen die moralistisch-analytische Haltung zum Leben und zur Natur. Mit anderen Worten: Kritik ist Geist, während die plastische Gesinnung Sache der Natur- und Gotteskinder ist« (GW IX, S. 87). Das sind theoretische Unterscheidungen, wie sie Thomas Mann längst in Fleisch und Blut übergegangen sind, und obwohl er sich von seiner intellektuellen Veranlagung her mehr als ›Kritiker‹ denn als genuinen ›Plastiker‹ angesehen hat – in diesem Punkt also mehr der Schiller-Dostojewski-Linie als der Goethe-Tolstoi-Linie folgt –, läßt sich doch nicht leugnen, daß er in sich Plastik und Kritik versöhnen, zu einer Plastik aus dem Geiste der Kritik gelangen will: also zu einer sentimentalischen Plastik, welche an sich naiver Natur ist. Immer noch werden Goethe und Schiller – sowie ihre ästhetischen Partner Tolstoi respektive Dostojewski – wie in Schwere Stunde durch den mythologischen Kontrast Gott und Held auf einen typologischen Nenner gebracht. Doch die mythische Chiffre des Helden wird nun von einer anderen gänzlich überlagert: von der des Heiligen. Olympiertum kontrastiert mit Christentum. Von einer »Christlichkeit des Geistes« redet Thomas Mann, »dessen Reich, wie das Schriftwort lautet, ›nicht von dieser Welt‹ ist, […] entgegengesetzt auf ewig dem Reiche der Natur und ihrer Lieblinge, deren Wesen und Adel in der Tat ganz und gar ›von dieser Welt‹, der leiblich-heidnischen Welt ist – darin beruht ihr ›Realismus‹« (ebd., S. 103). Geist verbindet sich in Thomas Manns nietzscheanischer Vorstellung immer mit Krankheit. So stehen denn auch Schiller und Dostojewski als Kranke vor unserem geistigen Auge, im Zeichen frühen Todes. Wenn es auch zu »tendenziös« klänge, so Thomas Mann, »daß Geist Krankheit sei, so haben diese Begriffe doch viel miteinander zu tun. Geist nämlich ist Stolz, ist emanzipatorische Widersetzlichkeit […] gegen die Natur, ist
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Abgelöstheit, Entfernung, Entfremdung von ihr« (ebd., S. 80). Von »sentimentalischer Abgetrenntheit« redet er schließlich und beruft sich bei seiner Identifizierung des Sentimentalischen und Kranken in einem argumentativen Salto mortale auf Goethe, der einerseits das Sentimentalische mit dem Romantischen, dieses aber ein andermal mit dem Kranken gleichgesetzt habe (GW IX, S. 80f.).15 Nun aber folgt jener überraschende Gedankenschub, der eine entscheidende Revision der Schillerschen Typologie des Naiven und Sentimentalischen impliziert: nicht nur der Geist, auch die Natur ist sentimentalisch; wie jener sich nach der Natur, so sehnt diese sich nach dem Geiste. Das demonstriert Thomas Mann durch eine grandiose Nachzeichnung der Lebenslinien Goethes wie Tolstois, die immer wieder gegen ihre eigene Naturhaftigkeit aufbegehrten – ein Aufbegehren, eine »Entnatürlichung«, die regelmäßig zu »Erkrankungen« geführt habe (ebd., S. 82f.), auch im Falle Goethes, aus dessen Biographie seine häufigen, oft schweren seelischen und körperlichen Erkrankungen immer wieder gern verdrängt worden sind, die aber Thomas Mann, durch seine »Philosophie der Krankheit« (ebd., S. 87) sensibilisiert, höchst aufmerksam registriert. Goethe wie Tolstoi haben unleugbar ihr Naturtalent jahrelang »unterdrückt«, nicht zuletzt »um einer unmittelbar sozialen Tätigkeit willen« (ebd., S. 85). Im Falle Goethes verweist Thomas Mann detailliert auf seine langjährige höchst prosaische amtliche Tätigkeit, ferner auf die asketischen Tendenzen in seinem Leben und Werk – von der sinnenscheuen Liebe zu Frau vom Stein bis hin zum »Entsagungsethos« (ebd., S. 123) seines Spätwerks –, ja er redet vom »Pathos der Entsagung, das die gotteskindlichheidnisch-naturadlige Wohligkeit von Goethe’s Leben so christlich überschattet, seinem geistigen Antlitz einen so ausdrucksvoll gotischen Leidenszug verleiht, daß nur der populärste Aberglaube an die aristokratische Glückhaftigkeit dieses Lebens ihn übersehen kann« (ebd., S. 122). Da bleibt wenig mehr von der heiteren Besonntheit und Besonnenheit des »Anderen« in Weimar, den der Schiller der Schweren Stunde so sehnsüchtig sich einbildete. »Was dauernd in Rede steht« – das ist die Kardinalthese von Goethe und Tolstoi – »ist das Streben der Naturkinder zum Geist, das ebenso ›sentimentalischer‹ Art ist wie das umgekehrte Streben der Geistessöhne zur Natur« (ebd., S. 124f.). Thomas Manns Idee einer sentimentalischen Tendenz der Natur muß den Horizont von Schillers Traktat sprengen, da sie von einem gänzlich anderen irrationalen, tellurisch-abgründigen Bild der Natur begleitet ist. Im Durchgang durch die Romantik und die mythische _____________ 15 Vgl. hier und im folgenden die Quellennachweise im Stellenkommentar der GKFA 15/2,
S. 509–531.
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Nachtseite der Moderne hat sie ihr aufgeklärtes Gesicht, ihre vernünftige Harmonie eingebüßt, die sie zum verlorenen und wiederzufindenden, paradiesischen oder utopischen Idealbild wie in Schillers Traktat machen konnte. Ganz anders sieht die Natur aus, die Thomas Mann im Kapitel »Problematik« von Goethe und Tolstoi beschreibt. Irrtum sei es, so heißt es da, »zu meinen, Problematik sei die Sache des Geistes, während das Reich der Natur ein Reich der Harmonie und der Klarheit sei. Das Umgekehrte scheint richtig zu sein«. Glück, Harmonie, Klarheit, Einfalt und Frieden, die man der Natur angedichtet hat, seien viel eher auf der Seite des Geistes zu finden, während die Natur das »Element der Fragwürdigkeit, des Widerspruchs, der Verneinung, des umfassenden Zweifels« sei. »Der Geist ist gut. Die Natur ist es durchaus nicht«. Ihre Sphäre sei die »Indifferenz« und eine Problematik, »die mit Qual und Bösartigkeit mehr zu tun hat als mit Glück und Güte«; nicht den Frieden bringe sie, sondern »Zweifel und Verwirrung« (GW IX, S. 114). Eben das aber seien auch Züge Goethes. Von seiner »Neigung zum Negieren« habe schon Kanzler von Müller gesprochen, von seiner »ungläubigen Neutralität« (ebd., S. 115). Sulpiz Boisserée registriert seine ständige Neigung zum »Lästern« und bemerkt, bei all den »moquanten Reden« Goethes komme er sich manchmal »wie auf dem Blocksberge« vor.16 Thomas Mann selber nimmt an ihm »das Elementare, das Dunkle, Neutrale, das Boshaft-Verwirrende, das Negierend-Teuflische«, ja »außermenschliche, eisige Neutralität« wahr (ebd., S. 119f.). Kein Zweifel, daß solche Charakteristika Goethes etwas Sympathieabweisendes haben. Derart Abweisendes aber fehlt dem Bild Schillers bei Thomas Mann in allen Phasen seines Lebens gänzlich. Schiller war ihm – und ist er in seiner Darstellung bei Thomas Mann – ganz einfach sympathischer, weil eben der Geist sympathischer ist, von jener Güte und Harmonie geprägt, die allein diesem, nicht aber der Natur eignen. Die Dialektik des Naiven und Sentimentalischen zieht sich nicht nur durch das essayistische Werk Thomas Manns, sondern prägt fast leitmotivisch auch seine Erzählkunst. Ein Musterbeispiel – fast eine Parabel zu Schillers Typologie – ist die »indische Legende« Die vertauschten Köpfe (1940). Es handelt sich um die Geschichte von dem sentimentalisch-naiven Freundespaar Schridaman – dem nur das »Geistige« gilt, der Kopf die Hauptsache ist, der hinter der sinnlichen Erscheinungswelt immer das Ansich-Sein der Dinge sieht – und des von »lustiger Einfalt« geprägten Nanda – der ganz in der Welt der Erscheinungen aufgeht, dem »der Körper die Hauptsache« ist »und der Kopf bloß ein nettes Zubehör« – sowie ihrer Doppelbeziehung zu der schönen Sita. Schridaman und Nanda kön_____________ 16 Vgl. wiederum die Quellennachweise in: GKFA 15/2, S. 509–531.
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nen ohne einander nicht sein, lieben sich »um ihrer Verschiedenheit willen«, eine Zuneigung, die freilich mit verhaltenem wechselseitigem »Spott« über das dem Anderen jeweils Fehlende vermischt ist (GW VIII, S. 714f.), ein Spott, »zärtliche Verachtung« oder erotische »Ironie«, die Thomas Mann in Goethe und Tolstoi auch in der Liebe des sentimentalischen Geistes zum naiven und umgekehrt walten sah (GW IX, S. 99f.). Was Nanda in den Vertauschten Köpfen Schridaman gesteht, könnte dieser von seiner Warte aus nicht weniger sagen: »was ich nicht habe, hast du und bist mein Freund, so daß es beinahe ist, als ob ich selber es hätte. Denn als dein Genoß hab ich teil an dir und bin auch etwas Schridaman, ohne dich aber wär’ ich nur Nanda, und damit komm’ ich nicht aus.« (GW VIII, S. 734) »Schönheit« und »Erkenntnis«, so reflektiert der Erzähler, streben nach dem »Anziehungsgesetz des Verschiedenen« wechselseitig nacheinander: Diese Welt ist nicht so beschaffen, daß darin der Geist nur Geistiges, die Schönheit aber nur Schönes zu lieben bestimmt wäre. Sondern der Gegensatz zwischen den beiden läßt mit einer Deutlichkeit, die sowohl geistig wie schön ist, das Weltziel der Vereinigung von Geist und Schönheit, das heißt der Vollkommenheit und nicht länger zwiegespaltenen Seligkeit erkennen. (Ebd., S. 793)
Als beide Freunde eines Tages Sita unfreiwillig beim Baden belauschen, verliebt sich Schridaman in sie, und mit lebhafter Unterstützung von Nanda heiraten sie. Doch Sita, so sehr sie ihren Gatten liebt, verfällt doch der körperlichen Anziehung Nandas. Schridaman, der das spürt, trennt sich in einem Tempel der Muttergöttin Kâlî mit einem Schwert das Haupt vom Leibe, Nanda, welcher ihm nacheilt, folgt dem Freund auf gleiche Weise in den Tod. Als Sita die beiden Leichname entdeckt, will sie sich ebenfalls töten, doch da ertönt die Stimme der Göttin, die ihr vergönnt, die Freunde zum Leben zu erwecken, indem sie ihre Häupter wieder dem Rumpf anfügt. Doch Sita vertauscht die beiden Köpfe – eine Fehlleistung, die doch ihrem tieferen Wunsch entspricht, denn nun hat sie das Haupt des geliebten und den Körper des begehrten Mannes zugleich. Und die beiden Freunde sind glücklich, weil sie nun das in sich selber vereinigen, was sie jeweils im Anderen ersehnten. Das Glück scheint auf allen Seiten vollkommen, doch bald wird es durch einen tiefen Schatten getrübt, als sich die Frage stellt, mit wem Sita nun vermählt ist. Ein Einsiedler fällt die Entscheidung, daß sie demjenigen gehört, der das Haupt des Gemahls trägt: Schridaman mit dem Nanda-Leib. Der tief enttäuschte Nanda-Kopf mit dem Schridaman-Körper muß das Feld räumen und zieht sich in die Einsamkeit zurück. Das Liebesglück Sitas und die »Vermählung von Sinnenschönheit und Geist« (ebd., S. 788) währen freilich nicht lange. Denn bald zeigt sich, daß Geist und Sinnenschönheit der wechselseitigen, sehnsüchtigen Spannung bedür-
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fen, um ihr eigentliches Sein entfalten zu können. Aus dieser Spannung jedoch herausgelöst, entgeistigt sich unter dem Einfluß des Nanda-Leibs das Haupt Schridamans und entsinnlicht sich unter dem Einfluß des Hauptes jener Leib. Und bald keimt neue Sehnsucht in Sita auf: »Der einsam verschönte Gattenleib schwebte ihr vor, wie er im Zusammenhang mit dem armen, verfeinerten Freundeshaupt auf eine geistige Weise unter der Trennung von ihr litt; und ein sehnsüchtiges Mitleid mit dem Fernen wuchs in ihr auf« (GW VIII, S. 794f.). Als der Gemahl sich auf eine Geschäftsreise begibt, nutzt Sita seine Abwesenheit zu einer Reise nach dem fernen Nanda mit dem ehemaligen Schridaman-Körper. Auch bei ihm haben sich Körper und Geist inzwischen wechselseitig verändert. Gleichwohl vereint sich Sita wieder mit dem einstigen Gattenleib. Als der zurückgekehrte und seiner Frau nachgereiste Schridaman bei dem neu-alten Liebespaar eintrifft, erkennen sie, daß »wo zwei von uns sind, immer der dritte fehlen wird«. Und Schridaman lehrt schopenhauerisierend: »In dem Wahn und der Sonderung des Lebens ist es das Los der Wesen, einander im Lichte zu stehen, und vergebens sehnen die Besseren sich nach einem Dasein, in dem nicht das Lachen des einen das Weinen des anderen wäre« (ebd., S. 801). Und so beschließen alle drei, durch den gemeinsamen Feuertod ihre »vertauschte Sonderung« abzulegen und ihr Wesen »wieder mit dem Allwesen zu vereinigen« (ebd., S. 802). Allein im Tod ist also jene sehnsuchtslose Einheit von Geist und Sinnenschönheit möglich, die in diesem Leben, in der Erscheinungswelt nur in der Dialektik der wechselseitigen Sehnsucht nacheinander zu ihrem Wesen gelangen. Das ist auch der Angelpunkt von Thomas Manns ›Poetik‹ der Freundschaft zwischen Goethe und Schiller. Noch einmal hat er diese »antipodische Freundschaft«, wie er sie nennt, »das berühmteste aller Bündnisse«, wie er wertet (GW IX, S. 880), kurz vor seinem Tode umfassend reflektiert: eben im Versuch über Schiller. Mit merkwürdig – gegenüber der ein halbes Jahrhundert zuvor verfaßten Schweren Stunde – ausgetauschten Vorzeichen wird Schiller zu Beginn des Essays eingeführt. Wie Goethe, der Naive, in Goethe und Tolstoi als Sentimentaliker, so erscheint der Sentimentaliker Schiller auf einmal als der große Naive. Bereits in Goethe und Tolstoi hat Thomas Mann ja in Umkehrung der Position Schillers betont, daß ›Einfalt‹ weit eher den »Kindern der Idee« als den »Söhnen der Natur« zukomme (ebd., S. 113f.). Diesen Gedanken führt er in seinem letzten Essay nun fort. »Und wer wollte denn auch«, so fragt er rhetorisch, »bei allem tief bemühten, heiligen und mit enormem Scharfsinn ausgestatteten Ernst, der ihm eignet, das Kindliche verkennen, die edelmütige Naivität, die uns so manches Mal ein verehrendes Lächeln auf die Lippen lockt, da sie doch unablöslich seiner spezifischen, ganz unvergleichlichen Größe angehört« (ebd., S. 875). Es ist
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jenes Lächeln, das doch eigentlich dem sentimentalischen Dichter zugehört, das sich angesichts der in einer künstlich gewordenen Kultur nicht erwarteten Kindlichkeit einstellt. Schiller selber hat die vermischte sentimentalische Empfindung von »Rührung«, »Lächeln« und »Ehrfurcht« angesichts der »kindlichen Einfalt« zu Beginn seines Traktats Über naive und sentimentalische Dichtung eingehend beschrieben.17 Zu lächeln hat der Sentimentalische über den Naiven – aber wer hätte wirklich je über Goethe, den vermeintlich Naiven gelächelt? Das »Ewig-Knabenhafte«, die »Lust am höheren Indianerspiel«, das »große Kind« (GW IX, S. 877), das »Kind im Künstler« (ebd., S. 881) – Thomas Mann kann sich auch im Versuch über Schiller nicht genug tun, immer neue Vokabeln und Formen von Schillers Kindlichkeit ins Spiel zu bringen – ins »Spiel«, das für Schiller bezeichnenderweise die ästhetische Zentralvokabel, der höchste, eigentliche Ausdruck der Menschlichkeit gewesen ist: der Mensch sei »nur da ganz Mensch, wo er spielt«, ist die im Druck hervorgehobene Kardinalthese der Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen,18 eine These, die laut Thomas Mann eben nur ein »Künstlerkind« aufstellen konnte (ebd., S. 876f.). Ein weiterer Rollentausch zwischen dem naiven und sentimentalischen Dichter vollzieht sich, wenn Thomas Mann den Zug des Realismus in Schillers geistigem Profil beschreibt, der zu einem sentimentalischen Idealisten so wenig zu passen scheint. Dazu gehört Schillers geistesorganisatorische Kompetenz, seine »kulturpolitisch diplomatisierende« Fähigkeit (ebd., S. 879), die sich auch bis an den Rand des Manipulativen in seinem großen Geburtstagsbrief von 1794 ausprägte, mit dem er Goethe auf seine Seite zu ziehen verstand. Überhaupt liegt Thomas Mann daran, »dem himmelblau-idealistischen Nimbus, der seine Gestalt als konventionelle Glorie umgibt, denn doch ein etwas kräftigeres Kolorit zu geben«. Er kontrastiert Schillers »Lebenswilligkeit und -tüchtigkeit« mit Hölderlins »ungeschützter Natur und ihrer Unfähigkeit, es mit Leben und Wirklichkeit aufzunehmen« (ebd., S. 883), beschreibt an immer neuen poetischen Beispielen seine »realistische Unverschwärmtheit« und oft sarkastische Nüchternheit bis an den Rand des Materialismus, seine Rhapsodien der »Desillusion« (ebd., S. 884f.). Und so stellt er auch der einseitigen Betonung des Schillerschen »Pathos« am Beispiel des Don Carlos und Wallenstein seine Versiertheit auf ganz anderen Stilebenen gegenüber: »welche Flüssigkeit, […] Beweglichkeit […] und dramatische Schlagkraft in diesem Werk eines Fünfundzwanzigjährigen!« ruft er im Blick auf Don Carlos aus und rühmt das _____________ 17 Schiller: Werke. Bd. V, S. 696ff. 18 Schiller: Werke. Bd. V, S. 618,
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»natürliche Parlando« als Grundmaß des letzten Jugenddramas wie des Wallenstein (ebd., S. 893f.). Thomas Manns Entpathetisierung Schillers steht in denkbar größtem Kontrast zu Schwere Stunde, wo nicht der originale Schiller, sondern Thomas Mann der Pathetiker ist, der die vielfach recht nüchternen authentischen Zitate, wie wir gesehen haben, emphatisch steigert, ja überinstrumentiert. Merkwürdig, daß in diesem Werkpanorama, das selbst die Stücke, die ganz im Hintergrund der Wirkungsgeschichte geblieben sind – Semele, Fiesco, Die Braut von Messina –, aber auch die Lyrik und Epik Schillers nicht übergeht, ein einziges Drama und Hauptwerk nur ganz beiläufig erwähnt wird: Maria Stuart. Warum wohl? Thomas Mann war der Ansicht – und hier sitzt er leider ein einziges Mal einem zähen Vorurteil auf –, daß Frauencharaktere nicht Schillers, des »ganz Männlichen« (GW IX, S. 933), Sache gewesen seien. Das gehörte für ihn zu seiner Kindhaftigkeit. Auch die Frauen in Schillers Leben – Thomas Mann listet sie auf – bleiben angeblich episodische Figuren ohne tiefere existentielle Bedeutung. »In diesem unlyrischen Leben spielt das Erotische keine schöpferische, Epochen bildende Rolle. Es gibt darin kein Sesenheim, kein Wetzlar, keine Lida, Marianne und Ulrike. Die Polarität der Geschlechter vergeistigte sich ihm, wie alles das tat«. Die große Passion seines Lebens, so Thomas Mann, war eben eine »Angelegenheit zwischen Mann und Mann«: seine zwischen »leidenschaftlicher Anziehung und Anstoßung« pendelnde Beziehung zu Goethe (ebd., S. 933). Thomas Mann hat hier etwas ausgespart, was er in einem Brief an den Mediziner Paul Orlowski vom 19. Januar 1954 mit psychologischer Ausgepichtheit diagnostiziert hat: auch da vergleicht er Goethes und Schillers Geschlechtsverhalten. »Ich glaube, unter uns, daß er [Goethe] zwar ein großer Erotiker, aber sexuell schwach war (bei allem ›Priapismus‹, den man ihm zeitweise nachsagte) und weit mehr dem Kusse zugetan als dem Koitus«. Zwar zweifelt Thomas Mann an Orlowskis These von Goethes »Bisexualität«, doch, so seine Überzeugung, »war er nicht hochgradig ›männlich‹, schon als Natur-Muttersöhnchen nicht – im Gegensatz zu der emanzipatorischen Über-Männlichkeit Schillers, bei der man nun wieder unwillkürlich eine homosexuelle Komponente vermutet« (Tb. 1953–1955, S. 557ff.). Thomas Mann entwickelt nun eine erotische Typologie, die geradezu eine Übersetzung von Schillers poetologischer in eine erotologische Dialektik darstellt und welche die strikte Unterscheidung von Hetero- und Homosexualität zu überwinden sucht. Er unterscheidet eine »streng einseitig festgelegte, […] un- und antifeminine Männlichkeit«, den effeminierten »Schwulen« und den Transvestiten als »Zwischenstufe«. Für wirklich homosexuell hält er nur die Liebe des erwachsenen, bärtigen
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Mannes zu einem anderen Bärtigen, »während die Knaben- und Jünglingsverehrung des Mannes offenbar nur eine leichte Abwandlung des Heterosexuellen« sei. Und nun kommt der direkte Übergang vom Erotischen zum Ästhetischen im Sinne von Schillers Typologie: Wie kompliziert es psychologisch um das ›Homo‹ und ›Hetero‹ steht, zeigt das Verhältnis des Geistes zum Leben und zur Schönheit, eine erotische Spannung, die nach ihrer polaren Natur heterosexuell ist, aber zugleich ins Homosexuelle übergeht.
Wer dächte hier nicht an Gustav Aschenbach, den Verfasser des an Schiller anknüpfenden Essays über Geist und Kunst, und seinen ›Übergang‹ ins Homosexuelle? Thomas Mann zitiert in seinem Brief wie einst in Goethe und Tolstoi, als er die »sentimentalische Ironie« charakterisieren wollte (GW IX, S. 99f.), Hölderlins Sokrates und Alcibiades: »Warum huldigst du, heiliger Sokrates, diesem Jünglinge stets?« »Wer das Tiefste gedacht, liebt das Lebendigste«.19 Und Thomas Mann zieht die heikle Folgerung: »Die Welt ist voll von aus dem Bürgerlichen fallenden und genialisch-merkwürdigen Begabungen, deren kulturelle […] Darbietungen die Bürgerlichkeit naiv genießt und applaudiert, während sie aus sexueller ›Abwegigkeit‹ kommen« (Tb. 1953–1955, S. 557ff.). Auch die Sehnsucht des Sentimentalischen nach dem Naiven, so scheint er sagen zu wollen, hat einen derart ›abwegigen‹ erotischen Hintergrund. Das ist die kühnste Spielart der Dialektik des Naiven und Sentimentalischen, die Thomas Mann in seinen Schiller-Reflexionen reflektiert.20 Literaturverzeichnis Mann, Thomas: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 2. Frühe Erzählungen 1893–1912. Text u. Kommentar. Hg. von Terence J. Reed. Frankfurt/M. 2004. Mann, Thomas: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 14. Essays I 1893–1914. Text u. Kommentar. Hg. von Heinrich Detering. Frankfurt/M. 2002. Mann, Thomas: Das Theater als Tempel. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 14/1. Essays I 1893–1914. Hg. von Heinrich Detering. Frankfurt/M. 2002, S. 117–122.
_____________ 19 Hölderlin: Gedichte, S. 205. 20 Eine wesentlich ausführlichere Darstellung der Beziehung Thomas Manns zu Schiller unter
ausführlicher Berücksichtigung der Forschung hat der Verfasser in folgender Studie vorgelegt: Schwere Stunde.
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Mann, Thomas: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 15. Essays II 1914–1926. Text u. Kommentar. Hg. von Hermann Kurzke. Frankfurt/M. 2002. Mann, Thomas: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2001ff. Bd. 21. Briefe I 1889–1913. Hg. von Thomas Sprecher / Hans R. Vaget / Cornelia Bernini. Frankfurt/M. 2002. Mann, Thomas: Der Tod in Venedig. In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. VIII. Frankfurt/M. 1974, S. 444–525. Mann, Thomas: Die verstaubten Köpfe. In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. VIII. Frankfurt/M. 1974, S. 712–807. Mann, Thomas: Fiorenza. In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. VIII. Frankfurt/M. 1974, S. 961–1067. Mann, Thomas: Schwere Stunde. In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. VIII. Frankfurt/M. 1974, S. 371–379. Mann, Thomas: Freud und die Zukunft. In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. IX. Frankfurt/M. 1974, S. 478–501. Mann, Thomas: Goethe und Tolstoi. In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. IX. Frankfurt/M. 1974, S. 58–173. Mann, Thomas: Nietzsche’s Philosophie im Lichte unserer Erfahrung. In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. IX. Frankfurt/M. 1974, S. 675–712. Mann, Thomas: Versuch über Schiller. In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. IX. Frankfurt/M. 1974, S. 870–951. Mann, Thomas: [Ansprache in Lübeck]. In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. XI. Frankfurt/M. 1974, S. 533–536. Mann, Thomas: Pariser Rechenschaft. In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. XI. Frankfurt/M. 1974, S. 9–97. Mann, Thomas: Brief an Hermann Grafen Keyserling. In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. XII. Frankfurt/M. 1974, S. 593–603. Mann, Thomas: [Über die Kritik]. In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden [GW]. Bd. XII. Frankfurt/M. 1974, S. 245–247. Mann, Thomas: Tagebücher [Tb.]. Bd. 10. 1953–1955. Hg. von Peter de Mendelssohn / Inge Jens. Frankfurt/M. 1955. Mann, Thomas: Dichter über ihre Dichtungen [DüD]. Hg. von Hans Wysling. Bd. I u. III. München, Frankfurt/M. 1975 u. 1981. Borchmeyer, Dieter: Musik im Zeichen Saturns. Melancholie und Heiterkeit in Thomas Manns Doktor Faustus. In: Thomas Mann Jahrbuch 7 (1994), S. 123–167. Borchmeyer, Dieter: Schwere Stunde. Thomas Mann und Schiller. In: Dirk Heißerer (Hg.): Thomas Mann in München III. Vortragsreihe Sommer 2005. München 2005, S. 59– 112. Bukowski, Evelyn: Metamorphosen der Verführung in der Novellistik der Frühmoderne. Tübingen, Basel 2004. Hölderlin, Friedrich: Gedichte. Hg. von Jochen Schmidt. Frankfurt/M. 1992. Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. von Giorgio Colli / Mazzino Montinari. München 1980. Sandberg, Hans-Joachim: Thomas Manns Schiller-Studien. Eine quellenkritische Untersuchung. Oslo 1964.
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Dieter Borchmeyer
Schiller, Friedrich: Nationalausgabe. Bd. XXV: Schillers Briefe 1.1.1788–28.2.1790. Hg. von Norbert Oellers. Stuttgart, Weimar 1979. Schiller, Friedrich: Nationalausgabe. Bd. XXIX: Schillers Briefe 1.11.1796–31.10.1798. Hg. von Norbert Oellers. Stuttgart, Weimar 1978. Schiller, Friedrich: Nationalausgabe. Bd. XXX: Schillers Briefe 1.11.1798–31.12.1800. Hg. von Norbert Oellers. Stuttgart, Weimar 1990. Schiller, Friedrich: Sämtliche Werke. Auf der Grundlage der Textedition von Herbert G. Göpfert hg. von Peter-André Alt/ Albert Meier / Wolfgang Riedel. Bd. V. München, Wien 2004. Täufel, Richard: Thomas Manns Verhältnis zu Schiller. Zur Thematik und zu den Quellen der Novelle Schwere Stunde. In: Georg Wenzel (Hg.): Betrachtungen und Überblicke. Zum Werk Thomas Manns. Berlin, Weimar 1966, S. 207–232. Vaget, Hans R.: Thomas Mann. Kommentar zu sämtlichen Erzählungen. München 1984.
RALF KLAUSNITZER
Jenseits der Schulen und Generationen? Zur literarischen Beziehungspolitik eines Solitärs
Am 21. Mai 1950 hält Thomas Mann an der Universität von Chicago einen (ursprünglich für die Library of Congress vorgesehenen) Vortrag, den er danach in Europa wiederholt.1 Obwohl ihn nur wenige Monate zuvor das »Gefühl allgemeiner Krise und Wende« angesichts einer sich rapide verdüsternden Weltlage und vermehrter politischer Angriffe gegen seine Person hatte überlegen lassen, dass die »Zeit zu vollständigem Schweigen […] gekommen« sei (Tb. 1949–1950, S. 161 [30.1.1950]), zieht der 75 Jahre alte Schriftsteller unter dem Titel Meine Zeit nun ein Fazit eigener Lebenserfahrung – nicht ohne abschließend an die »Kolosse des Westens und Ostens« zu appellieren, ein »neues Gleichgewicht« zwischen Freiheit und Gleichheit zu finden sowie eine »Gesetz und Frieden schützende Weltregierung« (GW XI, S. 302) vorzubereiten. Doch ist der Vortrag nicht allein aufgrund des politischen Beharrungsvermögens seines Verfassers von Interesse. Wesentlich für den hier zu behandelnden Zusammenhang sind vielmehr die autobiographisch grundierten Elemente einer weitreichenden Selbstdeutung, die der Text entgegen einer im ersten Satz ausgesprochenen Absichtserklärung realisiert. Denn nachdem der Autor in der einleitenden Passage dem Vorwurf, er sei der »Typus des a-christlichen Schriftstellers«, widersprochen und dazu die Auffassung vom eigenen Leben als »Gutmachung, Reinigung und Rechtfertigung« angesichts einer _____________ 1 Der für April 1950 geplante offizielle Vortrag an der Library of Congress wird Ende März abgesagt, nachdem der Librarian Luther Evans ein vom FBI stammendes Dossier mit politischen Äußerungen Thomas Manns – vor allem im Zusammenhang mit seiner WeimarReise 1949 – erhalten hat. Die Absage erfolgte nicht zuletzt, um die mehrfach als prokommunistisch angegriffene Library zu schützen (vgl. Vaget: Wetter, S. 74). Dennoch hält er den Vortrag am 21.5.1950 in Chicago und wiederholt auch in Europa, so zur Feier seines 75. Geburtstags in Zürich »vor einem wahren Staats- und Galapublikum« (Regesten III, S. 778 [T. M. an Hans Reisiger, 4.11.1950]). Der Vortrag wurde durch den Süddeutschen Rundfunk aufgezeichnet und weicht in dieser Fassung partiell von der Druckfassung ab; zitiert wird hier nach der ausführlicheren Druckfassung.
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tief empfundenen »Schuld, Verschuldung, Schuldigkeit« (ebd., S. 302) entwickelt hat,2 entwirft er ein Panorama prägender Bildungserlebnisse und fixiert dabei auch die Wahrnehmung seiner Stellung innerhalb einer durch wechselnde Bewegungen und Moden geprägten literarischen Öffentlichkeit: Wenn ich zurückdenke – ich war nie modisch, habe nie das makabre Narrenkleid des Fin de siècle getragen, nie den Ehrgeiz gekannt, literarisch à la tête und auf der Höhe des Tages zu sein, nie einer Schule oder Koterie angehört, die gerade obenauf war, weder der naturalistischen, noch der neu-romantischen, neu-klassischen, symbolistischen, expressionistischen, oder wie sie nun hießen. Ich bin darum auch nie von einer Schule getragen, von Literaten selten gelobt worden. Sie sahen einen ›Bürger‹ in mir – nicht zu Unrecht, denn aus einem Instinkt, der bis ins Bewußtsein reichte, hielt ich fest an der mir eingeborenen bürgerlichen Überlieferung, dem Bildungsgut des neunzehnten Jahrhunderts, mit dem sich in mir ein ausgesprochener Sinn für Größe verband. (GW XI, S. 311)
Diese Bestimmung der eigenen literarisch-kulturellen Position führt in das Zentrum der nachfolgenden Überlegungen. Obwohl es sicherlich verführerisch wäre, will ich an dieser Stelle nicht dem grundsätzlich angebrachten Stilisierungsverdacht folgen und den Wahrheitswert der Aussage überprüfen, der Autor Thomas Mann habe »nie den Ehrgeiz gekannt, literarisch à la tête und auf der Höhe des Tages zu sein«. Auch die Frage nach der Berechtigung seiner Erklärung, er sei nie kollektiv anerkannt und »von Literaten selten gelobt worden«, kann hier nur in eingeschränkter Weise diskutiert werden.3 Klären möchte ich hingegen die Frage, wie und warum der seine Zeit resümierende Autor gruppen- beziehungsweise epochenspezifische Kategorisierungen des literarischen Lebens aufnahm und dabei einerseits überindividuelle Gemeinschaftsbezüge radikal dementierte, andererseits die Teilhabe an einem umfassenderen Normen- und Wertekanon – »dem Bildungsgut des neunzehnten Jahrhunderts« – reklamierte. Diese Frage berührt nicht nur die Bestrebungen eines Autors, sich durch deklarierte Distanz zu kollektiven Größen innerhalb des literarischen Feldes zum Solitär beziehungsweise ›repräsentativen Außen_____________ 2 Den Vorwurf, Thomas Manns Werk lasse ein »gesundes christlich gehaltenes Volkstum« vermissen, artikulierte schon Heinrich Lützeler (Lützeler: Romane, S. 85); eine psychologische Reduktion transzendenter Wesenheiten monierte Hans Egon Holthusen in einer Artikelfolge im Merkur Januar und Februar 1949, die als Buchausgabe unter dem Titel Die Welt ohne Transzendenz. Eine Studie zu Thomas Manns »Dr. Faustus« und seinen Nebenschriften (Hamburg 1949) erschien. 3 Die Wahrnehmung durch zeitgenössische Autoren belegt die von Klaus Schröter herausgegebene, erstmals 1969 veröffentlichte Quellensammlung Thomas Mann im Urteil seiner Zeit. Publizistische Reaktionen versammelt die Dissertation von Schlutt. Vgl. auch die Abschnitte zur literarischen Kritik in Koopmann (Hg.): Thomas-Mann-Handbuch, S. 875– 940; zur wohl singulären Ehrung eines Autors durch Schriftstellerkollegen siehe Harpprecht: Mann, S. 559f.
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seiter‹ zu stilisieren. Sie tangiert zugleich das Problem der auktorialen Selbstwahrnehmung und Selbstbeschreibung, das mit dem (von Thomas Mann direkt angesprochenen) Verhältnis zur ›Überlieferung‹ auch die komplexen Beziehungen zur geistig-kulturellen Tradition mitsamt der dazu möglichen Verhaltensweisen umfasst. Darüber hinausgehend betrifft sie ein spezifisches Wissen über die Strukturprinzipien eines Feldes, in dem der Schriftsteller Thomas Mann agierte. Denn das Postulat, »nie einer Schule oder Koterie angehört« zu haben, »die gerade obenauf war«, formuliert ein werk- und beziehungspolitisches Selbstverständnis, das zeitgenössische wie retrospektive Beobachter leiten beziehungsweise verleiten sollte. Die dazu gewählten Begriffe kommunizieren bemerkenswerte Einsichten in die Verfassung einer segmentierten kulturellen Öffentlichkeit. Der explizit gebrauchte Terminus der ›literarischen Schule‹ erfasst sichtbar markierte Gruppenbildungen auf der Basis geteilter ästhetischer Ideale und wird im literarischen Leben in mehrfacher Weise verwendet: Zum einen durch Autoren, die kongruente literarisch-ästhetische Bestrebungen performativ visibilisieren, indem sie übereinstimmende Ausdrucksformen entwickeln, gemeinsame publizistische Plattformen nutzen und ihre kulturellen Wertvorstellungen auch bewusst konfrontativ gegenüber anderen Autoren und Autorengruppen propagieren. Zum anderen gebrauchen zeitgleiche oder spätere Beobachter den Begriff ›Schule‹, um Gruppenbildungen und gruppenspezifische Interventionen als Mittel zu beschreiben, sich innerhalb eines zunehmend unübersichtlichen literarischen Felds zu behaupten; Heinrich Heines und Rudolf Hayms Werke über Die romantische Schule sind einschlägige Beispiele aus dem 19. Jahrhundert, denen im 20. Jahrhundert etwa Darstellungen zum George-Kreis als ›Dichterschule‹ folgen.4 Das durch Thomas Mann unmittelbar nach dem Begriff der _____________ 4 So etwa Kluncker: ›Blätter für die Kunst‹; ders.: George-Kreis, S. 467–480. – Eine definitorische Fixierung des Begriffs erweist sich angesichts der divergierenden Funktionen und Strukturen gemeinsamer und längerfristiger Produktion und Rezeption von Literatur als schwierig. Als Variante kultureller Gruppenbildung unterscheidet sich die literarische Schule von reglementierenden Lehranstalten der Poesie wie etwa Meistersinger- und Rhetorikschulen des 16. Jahrhunderts durch ihre freie, nicht in vorhandene Institutionen eingebundene Gründung mit selbst gewählter Namensgebung und Programmatik. Der auf persönlichen Verbindungen zwischen quantitativ überschaubaren Mitgliedern basierende Charakter literarischer Schulen ist von den Wandlungen der kulturellen Öffentlichkeit nicht zu trennen: Basieren ihre vormodernen Ausprägungen wie etwa die Nürnberger Dichterschule um Georg Philipp Harsdörffer, Johann Klaj und Sigmund von Birken auf der Lehrbarkeit von Dichtung und der ständischen Bindung von Autorschaft, gewinnt seit dem 18. Jahrhundert die auf Freundschaft und exklusiver Abgrenzung beruhende Assoziation von Autoren zur Stabilisierung eigener Identität an Bedeutung. Das Spektrum dieser Gruppenbildungen reicht funktional von einer mit programmatischem Anspruch auftretenden ›Manifest-Gruppe‹ bis zum Typus der pragmatisch orientierten ›Service-‹ beziehungsweise ›Dienstleistungsgruppe‹; dazu Kröll: Eigengruppe, S. 652–671.
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›Schule‹ gebrauchte Wort »Koterie« – das aus dem Französischen stammt und ›Sippschaft‹ beziehungsweise ›Familienklüngel‹ bedeutet – zielt ebenfalls auf eine individuenübergreifende Verbindung, nimmt jedoch stärker deren verwandtschaftlich-genealogische Komponente in den Blick. Indem Thomas Mann behauptet, er hätte nie einer »Koterie« angehört, dementiert er seine Zugehörigkeit zu einer informellen Gemeinschaft, die gleichfalls von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die Ausdifferenzierung wie für die Reflexion literarischer Behauptungsstrategien ist und neben dem Begriff der ›Schule‹ im Zentrum dieses Beitrags stehen soll – die Beziehungsgemeinschaft der Generation. Diese Beziehungsgemeinschaft ist mehrfach dimensioniert. Sie konstituiert sich durch den Zusammenhang einer Altersgemeinschaft, die aufgrund analoger oder ähnlicher sozialer und kultureller Erfahrungen zu individuenübergreifenden Wahrnehmungsstrukturen findet und entsprechende Äußerungsformen generiert. Ein auf verschiedene Weise markiertes ›Generationsbewusstsein‹ prägt überindividuelle Bindungen aus, deren Spektrum von gemeinsamen Problem- und Frontstellungen über die Orientierung an spezifischen Normen und Werten (oder auch deren Ablehnung) bis hin zu kollektiven Sprachregulierungen und exklusiven Publikationsforen reichen kann.5 Auch wenn generationsspezifische Kohäsionen nicht im selben Maße wie etwa fixierte Gruppennormen wirken und durch retrospektive Beobachter aufgrund von noch zu benennenden Ambivalenzen weitaus schwerer bestimmbar sind, sollten ihre Auswirkungen nicht unterschätzt werden: Die Zugehörigkeit zu einer Generation kann – auch wenn sie als interessengeleitetes Auto- oder Heterostereotyp problematisch und diskutabel bleibt – bestimmende Wirkungen auf die Genese von Autorpersönlichkeiten wie auf literarische Produktionsverfahren und ihre Rezeption entfalten; generationsbedingte Veränderungen kultureller Erfahrungshorizonte und Erwartungshaltungen tragen zum Wandel in Motivik, Textverfahren oder präferierten Gattungen bei.6 _____________ 5 Erste Ansätze zur theoretischen Reflexion des Generationsbegriffs zur historischen Beschreibung und Erklärung einer durch gemeinsame Bildungserfahrungen und ästhetische Strategien geprägten Einheit unternahm Wilhelm Dilthey (Dilthey: Studium, S. 36–39). Die von Dilthey später präzisierten Bestimmungen befruchteten eine intensivierte Diskussion des Generationsbegriffs in den 1920er Jahren; so durch Pinder: Das Problem der Generation; Mannheim: Das Problem der Generationen; wieder ders.: Wissenssoziologie; Alewyn: Das Problem der Generationen; Hoppe: Das Problem der Generation; Petersen: Die literarischen Generationen; Wechßler: Die Generation. Neuere Ansätze zur Präzisierung des Generationsbegriffs kommen von Schorske: Generational Tension; Walter Schmitz: Literaturrevolten. Zur Provokationspoetik des generationstypologisch geprägten Jenaer Kreises, siehe instruktiv ders.: »Die Welt muß romantisiert werden…«. Zum prototypischen Muster des Kohortenaufstands vgl. Eibl: Jugendrevolte; ders.: Entstehung, S. 113–133. 6 Wie die Begriffskombination der ›literarischen Schule‹ weist der Begriff der ›literarischen Generation‹ zwei unterschiedliche Verwendungsweisen auf: Zum einen ist er ein performa-
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Im Folgenden ist danach zu fragen, wie der Autor Thomas Mann sich selbst innerhalb eines durch Gruppenbildungen und wechselnde Allianzen strukturierten Feldes positionierte – und wie andere Akteure seinen Bezug zu einer kulturellen Generation oder einer literarischen Schule wahrnahmen. Diese Verhältnisse sind keineswegs einfach zu klären. Denn während der Autor in seinem 1950 gehaltenen Vortrag Meine Zeit die Zugehörigkeit zu einer Schule beziehungsweise einer »Koterie« explizit verneint, schreibt er sich in der gleichen Rede die Teilhabe zu einer kohortenspezifischen Erfahrungsgemeinschaft zu: Sein Geburtsjahr vier Jahre nach der Reichsgründung von 1871 habe ihm nicht allein die Partizipation an großen geschichtlichen Umwälzungen beschert, die er als »besondere historische Ergiebigkeit der eigenen Lebensspanne« bezeichnet und in Parallele zu Goethes Erlebnisreichtum bringt, sondern auch einen generationsspezifischen »Bildungsvorteil« (GW XI, S. 315) vermittelt.7 Zugleich wissen wir, dass Thomas Mann eine Vielzahl von selbst- beziehungsweise gruppenbezogenen Aussagen über seine Person produzierte, deren Einheit wohl in erster Linie in ihrer Widersprüchlichkeit liegt. Persönlich adressierte Aufzeichnungen schildern einerseits eine radikal individualisierte Existenz als »kaltes, verarmtes, rein darstellerisches, rein repräsentatives Dasein«.8 Andererseits unternimmt er seine ersten Schritte im literarischen Feld mit Veröffentlichungen in gruppen- beziehungsweise richtungsspezifisch segmentierten Zeitschriften und konstatiert schon frühzeitig die »Sympathien der litterarischen Generation […], der ich an_____________ tiver Begriff, den aktive Autoren oder ihre zeitgenössischen Beobachter verwenden, um sich und ihr kollektives Auftreten innerhalb eines vorstrukturierten literarischen Feldes darzustellen – also Positionen durch Abgrenzung von bereits aktiven Teilnehmern zu besetzen und zu bezeichnen. Zum anderen kann der bereits von Wilhelm Dilthey verwendete Terminus als historischer Begriff verwendet werden, um retrospektiv die Zugehörigkeit eines Autors zu einer individuenübergreifenden Erfahrungs- und Artikulationsgemeinschaft zu beschreiben und zu erklären, wie sich Veränderungen innerhalb des Literatursystems vollzogen. Die Entstehung und Durchsetzung literarisch-kultureller Bewegungen wie Sturm und Drang, Romantik, Naturalismus oder Expressionismus lässt sich dementsprechend als ein generationell fundierter Wandel in Erzeuger- und Adressatengruppen der literarischen Produktion modellieren; vgl. Klausnitzer: Literaturwissenschaft, S. 135–154. 7 Vgl. dagegen Elsaghe: Imagination, S. 305–321; ausgeweitet in Elsaghe: Nation. Die diskursanalytisch vorgehenden Untersuchungen versuchen zu zeigen, wie Thomas Mann als repräsentativer Vertreter der ersten Generation nach der Reichsgründung von 1871 die nicht unumstrittenen Grenzziehungen literarisch modellierte – zum einen als »Sprach-, Kontinental- und als Geschlechtergrenze«; zum anderen als die fortbestehenden »kulturellen, konfessionellen oder ökonomischen Differenzen oder Rivalitäten« (Elsaghe: Nation, S. 21). Eine Diskussion der aus literarischen Texte gewonnenen Thesen, die namentlich in der Novelle Der Tod in Venedig, im Roman Doktor Faustus und in der späten Erzählung Die Betrogene eine geschlechterspezifisch konnotierte und sprachlich markierte Legitimation der Reichsgrenze zu Österreich entdecken, wird hier nicht vorgenommen. 8 So im Brief an Katia Pringsheim von Anfang Juni 1904 (Br. I, S. 45f.).
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gehöre« (DüD I, S. 19 [T. M. an Franz Brümmer., 7.4.1900]). In autobiographischen Äußerungen reiht er sich in individuenübergreifende Tendenzen ein, um diese Zusammenhänge im nächsten Atemzug zu dementieren. Als ebenso uneindeutig erweist sich sein ästhetisch überformtes Vaterverhältnis, das für eine Bestimmung der literarischen Beziehungspolitik eines Autors von nicht geringer Bedeutung ist: Benannte er im Vortrag Lübeck als geistige Lebensform von 1926 noch die Persönlichkeit des eigenen Vaters als prägende Größe, die nicht nur seine physisch-mentale Konstitution determiniert, sondern als »geheimes Vorbild« auch sein »Tun und Lassen« bestimmt habe,9 so spricht er im Vortrag Freud und die Zukunft zehn Jahre später von der »Identifikation mit einem aus innerster Sympathie gewählten Vaterbilde« und deklariert damit eine weitere zentrale Form des Generationenzusammenhangs.10 Die von verschiedenen Poeten und insbesondere auch von ihm selbst praktizierte »imitatio Goethes« bildet für Thomas Mann ein Gemenge aus frei gewählter und zugleich unbewusster »Vaterbindung« und »Vaternachahmung« – und kann als weiterer Hinweis auf die subkutane Präsenz eines generationellen Beziehungssinns im Lebenswerk und in den Positionierungsstrategien des Schriftstellers aufgefasst werden. Nicht zuletzt war Thomas Mann in Konflikte involviert, die sich als Zusammenprall verschiedener Generationen deuten lassen. Zum einen hatte er auf nachrückende Autoren zu reagieren, die ihre Durchsetzungsbestrebungen mit dem probaten Mittel des Kohorten-Aufstands gegen die ältere Generation zu realisieren suchten. Exemplarisch dafür ist die Auseinandersetzung mit dem acht Jahre jüngeren Josef Ponten, der 1924 in der Deutschen Rundschau das »dichterische Naturgeisterzeugnis« gegen den »theoretischen Schriftsteller« zu verteidigen sucht und dabei Rücken_____________ 9 »Wie oft im Leben habe ich mit Lächeln festgestellt, mich geradezu dabei ertappt, dass doch eigentlich die Persönlichkeit meines verstorbenen Vaters es sei, die als geheimes Vorbild mein Tun und Lassen bestimme. […] Er war kein einfacher Mann mehr, nicht robust, sondern nervös und leidensfähig, aber ein Mann der Selbstbeherrschung und des Erfolges, der es früh zu Ansehen und Ehren brachte in der Welt – dieser seiner Welt, in der er sein schönes Haus errichtete« (GW XI, S. 386). 10 »Die Vaterbindung, Vaternachahmung, das Vaterspiel und seine Übertragungen auf Vaterersatzbilder höherer und geistiger Art – wie bestimmend, wie prägend und bildend wirkten diese Infantilismen auf das individuelle Leben ein! Ich sage: ›bildend‹, denn die lustigste, freudigste Bestimmung dessen, was man Bildung nennt, ist mir allen Ernstes diese Formung und Prägung durch das Bewunderte und Geliebte, durch die kindliche Identifikation mit einem aus innerster Sympathie gewählten Vaterbilde. Der Künstler zumal, dieser eigentlich verspielte und leidenschaftlich kindische Mensch, weiß ein Lied zu singen von den geheimen und doch auch offenen Einflüssen solcher infantilen Nachahmung auf seine Biographie, seine produktive Lebensführung, welche oft nichts anderes ist als die Neubelebung der Heroenvita unter sehr anderen zeitlichen und persönlichen Bedingungen und mit sehr anderen, sagen wir: kindlichen Mitteln« (GW VIII, S. 498f.).
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deckung durch eine Phalanx der »Jungen« erhält, die in Pontens Offenem Brief an Thomas Mann das »aufsteigende deutsche Blut« erkennen, das »ersten Durchbruch gewinnt gegenüber intellektueller Zivilisation«.11 Zum anderen hatte Thomas Mann ein nicht spannungsfreies Verhältnis zwischen Generationen in der eigenen Familie zu bewältigen: Sohn Klaus wie auch Tochter Erika Mann stellten mit ihren Lebensentwürfen und Textverfahren eine neue, vom Muster des Vaters abweichende Literatur dar, die sich explizit auch als Stimme einer neuen Generation verstand. Damit sind die Einsatzpunkte dieser Studie umrissen. Es kann im Folgenden nicht darum gehen, bislang unbekanntes Material zur biographischen oder werkgeschichtlichen Konturierung einer faszinierenden Autor-Persönlichkeit zuzuführen oder Zusammenhänge zwischen dem Schriftsteller und literarischen Kreisen beziehungsweise Zirkeln zu beschreiben. Vielmehr möchte ich Äußerungen des Autors und seiner zeitgenössischen Beobachter nutzen, um übergreifende Fragestellungen nach dem komplizierten Verhältnis von individuellen Ausdrucksinteressen, gruppen- beziehungsweise generationsspezifischen Bindungen und den Konditionen des literarischen Feldes zu entfalten. Leitend dafür ist die Überzeugung, dass die materialgesättigte Rekonstruktion eines auktorial gesteuerten Verhältnisses zu literarischen Gruppen beziehungsweise Gruppennormen – das sich als ein Spektrum unterschiedlicher, zum Teil widersprüchlicher und sich selbst dementierender Haltungen offenbaren kann – die Klärung struktureller Zusammenhänge zwischen Autor, Werk und Literatursystem erlaubt. Zu fragen ist dabei erstens nach den Beweggründen und performativen Mitteln, mit denen sich ein Textproduzent mit individuellen Ausdrucks- und Distinktionsinteressen auf überindividuelle Einheiten des literarischen Feldes bezieht. Dabei gilt es, zwischen konstitutiven Elementen dieses Feldes zu unterscheiden: Zu ermitteln sind Muster und Regularien der auktorialen Beziehungspolitik im Verhältnis zu Akteuren, die ihrerseits dem literarischen Feld angehören und als Autoren oder Kritiker eine entsprechende Beobachtungs- und Wertungsperspektive zwischen den Polen der Akzeptanz und Kooperation einerseits beziehungsweise der Ablehnung und Ausgrenzung andererseits einnehmen; zu ermitteln sind zugleich die auktorialen Adressierungsleistungen, die sich an ein heterogenes Publikum mit seinerseits divergierenden Beobachtungs- und Wertungsperspektiven richten. Die zweite Fragestellung nimmt den ›Erfolg‹ dieser Beziehungspolitik in den Blick: Hier ist zu erschließen, wie die Instanzen des Feldes die gruppen- beziehungsweise generationsspezifischen Selbstdeutungen wahrnahmen, deuteten und bewerteten – _____________ 11 Rauch: Die Jungen, S. 54.
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wobei wiederum zwischen aktiven Akteuren innerhalb des literarischen Feldes und einem segmentierten Publikum zu differenzieren bleibt. Um diese Zusammenhänge zu entfalten, werde ich in drei Schritten vorgehen. Der erste Abschnitt versammelt exemplarische gruppen- beziehungsweise generationsbezogene Selbst- und Fremddeutungen der auktorialen Etablierungsphase, die als spezifische Strategien zur Identitätsstiftung und -behauptung gedeutet werden können. In einem zweiten Abschnitt ist der in den 1920er Jahren geführte Kampf um Repräsentanz zu untersuchen, der nach der Isolierung durch die Betrachtungen zu einer veränderten literarisch-kulturellen Beziehungspolitik führte. Die in dieser Zeit erfolgende Universalisierung der literarischen Beziehungspolitik war, so die nachfolgend zu belegende These, einerseits Element der Stilisierung zum generationenübergreifenden ›Großschriftsteller‹, andererseits Folge konkreter Auseinandersetzungen mit einer nachrückenden Autorenkohorte, die in Josef Ponten ihr Sprachrohr zu finden glaubte. Der dritte Abschnitt thematisiert die 1950 vorgetragene Selbstdarstellung Meine Zeit als widersprüchliche Modellierung einer solitären Position bei gleichzeitigem Anspruch auf einen generationsspezifischen ›Bildungsvorteil‹. Abschließend gebe ich eine thesenartig verknappte Erklärung für den Ruhm eines Autors, der durch permanente Mobilisierung gruppenübergreifender Adressierungen tendenziell uneingeschränkte Aufmerksamkeit und dauerhafte Rezeption fand. I. Gruppenbezogene Selbst- und Fremddeutungen als Behauptungsstrategien Der Autor Thomas Mann hat mit Selbstdarstellungen nicht gegeizt – auch wenn er in seinem Vortrag Meine Zeit unterstellte, möglicherweise liebe er sein eigenes Leben »nicht genug, um zum Autobiographen zu taugen« (GW XI, S. 302). Eine Auswertung dieser Texte hat sich mit besonderer Aufmerksamkeit zu wappnen. Schon die Essayistik der Frühzeit weist sichtbare Diskrepanzen und Widersprüche auf, die von der Forschung als »Masken und Tarnungen« zu Schutz beziehungsweise Selbstschutz bestimmt wurden.12 Persönliche Aufzeichnungen wie autobiographische Texte offenbaren irritierende Doppeldeutigkeiten, die auch die Bestimmung der eigenen Position innerhalb einer genau beobachteten literarischkulturellen Öffentlichkeit betreffen. Von besonderer Brisanz sind nicht zuletzt literarische Texte, die sich als Thematisierung der eigenen problematischen Existenz lesen lassen – von der im Mai 1897 in der Neuen _____________ 12 Vgl. Renner: Essayistik, S. 636.
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deutschen Rundschau veröffentlichten Novelle Der kleine Herr Friedemann (die ihm nach eigener Aussage geholfen hatte, »plötzlich die diskreten Formen und Masken zu finden, in denen ich mit meinen Erlebnissen unter die Leute gehen kann« [GKFA 21, S. 89]13) über die Schiller-Erzählung Schwere Stunde bis hin zur Novelle Der Tod in Venedig, die dem fiktiven Staatsschriftsteller Gustav von Aschenbach nicht nur aufgegebene eigene Werkpläne zuschreibt, sondern ihn durch wörtlich aus Samuel Lublinskis Bilanz der Moderne übernommene Sätze charakterisiert. Die mehrfach festgestellten Ähnlichkeiten zwischen Problemlagen literarischer Figuren und ihrem Urheber sind partieller wie artifizieller Natur und für eine Rekonstruktion der Beziehungspolitik Thomas Manns zu individuenübergreifenden Einheiten der kulturellen Öffentlichkeit nur bedingt heranziehen: Wie Hans Wysling schon 1965 gezeigt hat, enthält etwa das Werkverzeichnis des imaginierten Venedig-Reisenden nur solche Projekte und Werke Thomas Manns, die seinem eigenen Streben nach Repräsentanz und nationaler Geltung zugerechnet werden können – die nicht unbedeutende Kombination aus Satire, Karikatur und Parodie, die etwa den Simplicissimus-Mitarbeiter auszeichnete, blieb ausgespart.14 Deshalb sind die Aussagen des fiktionalen Textes über den von einer »ganzen dankbaren Jugend« bewunderten Dichter Gustav von Aschenbach ebenso sensibel als Adressaten der Beziehungspolitik Thomas Manns zu verwenden wie die als dessen Leser bestimmten »Moralisten der Leistung, die, schmächtig von Wuchs und spröde von Mitteln, durch Willensverzückung und kluge Verwaltung sich wenigstens eine Zeitlang die Wirkungen der Größe abgewinnen« (GW VIII, S. 450, 454). Wie gesagt: Vorsicht und Distanz bleiben angebracht, auch gegenüber den nicht-fiktionalen Aussagen Thomas Manns zu seinen literarisch-kulturellen Bindungen. Denn während er im vielzitierten Brief an Katia Pringsheim von Anfang Juni 1904 sein bisheriges Leben als »kaltes, verarmtes, rein darstellerisches, rein repräsentatives Dasein« herausstellte, dem nur ein asoziales Künstlertum wichtig gewesen sei (Br. I, S. 45f.)15, und er noch 1905 fürchtete, »mit Nothwendigkeit in die Irre [zu] gehen, weil es einen rechten Weg […] nicht giebt«,16 waren seine literarischen Anfänge keineswegs von einem so suggerierten Solipsismus geprägt. Im Gegenteil. Die im Rückblick als »wenig schulgemäß« bezeichnete Schüler_____________ 13 T. M. an Otto Grautoff, 6.4.1897. 14 Wysling: Aschenbachs Werke, S. 272–314. 15 Hier auch die Aussage, er habe sich »Jahre, wichtige Jahre lang […] als Menschen für nichts geachtet und nur als Künstler […] in Betracht kommen wollen«. 16 »Als ich im Tonio Kröger den Satz niederschrieb, daß Etliche mit Nothwendigkeit in die Irre gehen, weil es einen rechten Weg für sie überhaupt nicht giebt, dachte ich nicht, daß dies vielleicht das Entscheidendste sein könnte, was über mich zu sagen ist« (Nb. II, S. 112).
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zeitschrift Der Frühlingssturm, die Thomas Mann nach eigenen Worten »mit einigen revolutionären Primanern herausgab« (GW XI, S. 100), bot eine erste publizistische Plattform zur gruppenunterstützten Identitätsbildung; die nächsten Veröffentlichungen in weiterreichenden Periodika verbanden ihn mit bereits eingeführten literarischen Bewegungen und deren Normen: Die Novelle Gefallen, die ihm ersten literarischen Erfolg einbrachte, erschien im Oktober 1894 in Die Gesellschaft, die schon lyrische Versuche seiner Schülerzeit gedruckt hatte.17 Im Sommer 1895 schrieb er mehrere kleine Beiträge für die deutschnationale Zeitschrift Das Zwanzigste Jahrhundert, deren verantwortlicher Schriftleiter zwischen April 1895 und Dezember 1896 der Bruder Heinrich Mann war. Die frühe Mitarbeit an diesem Blatt verschwieg er später; für die Veröffentlichungen in der von Michael Georg Conrad herausgegebenen Monatschrift für Litteratur, Kunst und Sozialpolitik schämte er sich jedoch nicht und stilisierte das Periodikum zu einer »sozialistisch-naturalistischen Kampfzeitschrift« beziehungsweise zu einer »radikalen naturalistischen Kampfschrift« (GW XIII, S. 134). Verweisen schon diese (retrospektiven) Rubrizierungen auf gruppenspezifische Zuordnungen, erweisen sich die aufmerksamen Beobachtungen zur positiven Aufnahme von Gefallen durch »junge Leute« und den bereits erfolgreich agierenden Autor Richard Dehmel als gleichfalls aufschlussreich: Wenn junge Leser als Resonanzkörper der ersten Veröffentlichung eines noch unbekannten Autors identifiziert werden, ist damit ein Hinweis auf anvisierte wie auch mögliche künftige Adressaten verbunden. Figuriert der »bewunderte Dichter« schließlich als jene Instanz, die im »schreiend unreifen, aber vielleicht nicht unmelodiösen Produkt Spuren von Begabung erfühlt hatte« und seitdem Thomas Manns Weg »mit Sympathie, Freundschaft und ehrenvollen Prophezeiungen begleitet hat« (GW XI, S. 101f.), dann ist darin eine Schrittfolge zum Gewinn von Repräsentanz eingeschrieben: Hier treffen sich die Berufung auf die eingeführte Autorität des älteren, etablierten und seismographisch registrierenden Positionsinhabers sowie kritische Distanz zum eigenen, noch unreifen Produkt (dessen Defizienz spätere Texte überwinden sollten) mit der prophetischen Vorhersage von Erfolg (die von den seitdem erschienenen Texten eingelöst wurde). Nur anzumerken ist, dass auch der 1927 entstandene Artikel Dem Andenken Michael Georg Conrads eine Verknüpfung des Naturalismus mit _____________ 17 »Nicht nur daß sie in derselben sozialistisch-naturalistischen Kampfzeitschrift, M. G. Conrads ›Gesellschaft‹, die schon während meiner Schülerzeit ein Gedicht von mir veröffentlicht hatte, veröffentlicht wurde und jungen Leuten gefiel; sie trug mir auch einen warmherzigen und ermutigenden Brief Richard Dehmels ein, ja wenig später sogar den Besuch des bewunderten Dichters, dessen enthusiastische Menschlichkeit in meinem schreiend unreifen, aber vielleicht nicht unmelodiösen Produkt Spuren von Begabung erfühlt hatte und seitdem meinen Weg bis zu seinem Tode mit Sympathie, Freundschaft und ehrenvollen Prophezeiungen begleitet hat« (GW XI, S. 101).
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dem Auftreten einer neuen literarischen Generation vornahm: Bei allen Zweifeln gegenüber ihrer Ästhetik habe die naturalistische Bewegung eine »literarische Lufterneuerung« gebracht, »Türen und Fenster nach dem Auslande« aufgerissen und so die »Atmosphäre« geschaffen, »in der wir Jüngeren atmen sollten« (GW X, S. 447).18 Motivik und Textverfahren des Naturalismus bilden wesentliche, nicht zuletzt durch Gruppenbildung und Polarisierung der öffentlichen Meinung transportierte Bildungselemente des sich im literarischen Feld orientierenden Thomas Mann. Daneben wirkte vor allem Hermann Bahrs »erste symbolische Prosa« (DüD I, S. 13 [T. M. an Egon Friedell, 22.8.1920]), deren Entdeckung neuer literarischer Möglichkeiten so fasziniert, dass die im Frühlingssturm veröffentlichte »Prosa-Skizze« Vision »dem genialen Künstler, Hermann Bahr zugeeignet« wurde und der junge Autor den »wunderlichen Stil der von Hermann Bahr geführten Symbolistenschule« in Tagebüchern und erzählerischen Versuchen »sklavisch-freudig genau kopierte und eben darin eine künstlerische Genugtuung fand« (GW XIII, S. 132f.). Das hier ausgesprochene »Lob der Nachahmung« – die für Thomas Mann kein Zeichen ästhetischer Schwäche, sondern Symptom literarischer Vitalität und Begabung zum Stil ist – verweist jedoch nicht nur auf das auktoriale Bewusstsein von der notwendig imitatorischen Qualität kultureller Sozialisationsprozesse. Denn für die Praxis der Imitation ist neben dem Verfahren die Wahl des Objekts entscheidend. Mit seinen als »sklavisch-freudig« und »genau« attribuierten Nachahmungen der »Wiener Kunstprosa« partizipierte der junge Thomas Mann an Bindungen, deren Irritationspotenzial der fünf Jahre nach ihm geborene Robert Musil in der 1921 veröffentlichten Glosse Stilgeneration oder Generationsstil benennen sollte: Hatte man angesichts der Kunstströmungen der Wiener Jahrhundertwende um 1900 noch glauben können, in der Formenvielfalt von Naturalismus, Impressionismus und Décadence manifestierten sich »verschiedene Auswirkungen einer neuen Generation«, so wäre schon zehn Jahre später zu entdecken gewesen, »daß die ganze Gemeinsamkeit nur darin bestand, daß viele Leute um das gleiche – Loch, um das gleiche Nichts herumgestanden waren; und heute sind von der ganzen Generationsseele nichts als ein paar Einzelseelen übriggeblieben, welche die alphabetische Ordnung im Kürschner ganz gut vertragen oder mit Erfolg _____________ 18 Die Bedeutung des Naturalismus für die eigene literarische Entwicklung betont Thomas Mann noch in der Verteidigung des Romans Der Zauberberg während des Pariser Aufenthalts 1926. Als ein Diplomat Aufklärung über die »übergroße Fülle von nicht immer erfreulichem Detail« wünscht, antwortet er, »es handle sich um den Exaktheitsdrang eines Schriftstellers, der durch die naturalistische Schule gegangen. Seither habe aber das Detail an Sinn gewonnen, ja, überhaupt erst Sinn gewonnen. Das Exakte werde heute nicht mehr um seiner selbst willen gepflegt. Seine Vergeistigung habe von Anfang an in meiner Tendenz gelegen« (GW XI, S. 74).
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die Unterschiede zwischen Künstlerhaus und Sezession verwischen«.19 In dieser Abrechnung mit den Literaturströmungen der Wiener Jahrhundertwende erscheint die Entstehung und Behauptung künstlerischer Bewegungen als Schauspiel einer Selbst- und Fremdsuggestion, bei dem die mit dem Label der »Generationsseele« auftretenden Neuerer symbolisches Kapital aus dem Tanz um eine leere Mitte schlagen.20 Wenn Thomas Mann – der sich dem Freund Otto Grautoff gegenüber auch als »verrannter Bahrianer« (GKFA 21, S. 55) bezeichnete – diese »Wiener Kunstprosa« in seinen literarischen Anfängen »sklavisch-freudig genau kopierte«, dann lässt dieses Eingeständnis zum einen Rückschlüsse auf die zumindest temporär wirksame Attraktionskraft einer generationsspezifisch geltenden Literatur zu. Die mit dem Abstand von über vierzig Jahren fixierte Selbstdarstellung dokumentiert zum anderen die Distanz, die der inzwischen mit einem erkennbaren Individualstil ausgestattete Schriftsteller seinen ersten Anläufen entgegenbrachte, in deren Zusammenhang er auch die Romane Knut Hamsuns in einer »halbproduktiv-imitierenden Weise« rezipierte und von diesen den »Tonfall« übernahm (GW XIII, S. 133). Spätestens mit der im Herbst 1897 begonnenen Arbeit am Roman Buddenbrooks hat der Autor diese Form der Bindung an prägende Muster überwunden – und sich mit der Geschichte eines über vier Generationen verfolgten Familien-Verfalls zugleich einen Adressatenkreis erschrieben, der weit über den Zirkel einer Kohorte oder literarischen Gruppe hinausging. Hatte ihm die 1898 bei S. Fischer in Berlin erschienene Novellensammlung Der kleine Herr Friedemann nach Maßgabe der eigenen »Fühlhörner« die »Sympathien der litterarischen Generation eingetragen, der ich angehöre«,21 sind die Reaktionen auf den im Oktober 1901 veröffentlichten Roman von weitaus umgreifenderen Zuschreibungen geprägt. »Durch das ganze Werk geht ein echt deutscher Zug«, dekretiert Otto Grautoff in den Münchener Neuesten Nachrichten vom 24. Dezember 1901; »Gegenstand der Darstellung« wie der Bezug der Figuren seien »einem deutschen Empfinden entwachsen«. Nur wenig später legt er in der Hamburger Zeitschrift Der Lotse nach und erklärt, »im ganzen Habitus, geistig, gesellschaftlich und schon dem Gegenstande nach, sind Buddenbrooks ein echt deutscher Roman zu nennen, der mancher deutschen Familie ein _____________ 19 Musil: Stilgeneration, S. 662. 20 Dazu auch Honold: Wiener Décadence, S. 644–669, der mit Musil in der »Entstehung und Selbstbehauptung neuer Künstlergenerationen« ein »wiederkehrendes Schauspiel« erkennt: »da folgt auf jeden Konflikt ein Neubeginn, auf jede Abspaltung eine Form der Etablierung, und nach der Sezession kommt vielleicht eine Sezession der Sezession« (S. 645). 21 T. M. an Franz Brümmer, 7.4.1900: »Das kleine Buch, das sehr subjectiv und sehr aufrichtig ist, hat mir, soweit meine Fühlhörner reichen, die Sympathien der litterarischen Generation eingetragen, der ich angehöre. Mehr war davon nicht zu erwarten« (DüD I, S. 19).
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erfreuliches Weihnachtsgeschenk bedeutet haben wird«.22 Als »zwei echt deutsche Ingredienzen« identifizieren seine Besprechungen Musik und Philosophie; als europäische Einflussfaktoren werden in nahezu gleichlautenden Formulierungen Tolstoi, Dostojewski und Turgenjew sowie Dickens genannt. Auffällig ist die in beiden Rezensionen anzutreffende Betonung der singulären Stellung des Werkes im literarischen Leben der Zeit: Der eine »starke« beziehungsweise »ungewöhnliche künstlerische Energie« aufweisende Roman protestiere »gegen den Geist des Überbrettls der Fünf-Secunden-Lyrik und jeder gewissenlosen und schnellfertigen Romanschreiberei«.23 Die Besonderheit dieser Rezensionen aber besteht darin, dass ihr eigentlicher Verfasser nicht Otto Grautoff, sondern Thomas Mann selbst war. Wie in der Forschung zurecht vermerkt, hatte der aus Lübecker Schulzeiten stammende Freund die Vorgaben des Autors ausgeschrieben – sowohl die Qualifizierung des »deutschen Charakters« und der »zwei echten deutschen Ingredienzen« Musik und Philosophie als auch die Hinweise auf außerdeutsche »Meister« und die gegen »Fünf-Secunden-Lyrik« gerichtete »künstlerische Energie« wurden durch Thomas Mann im Brief vom 26. November 1901 detailliert vorgegeben.24 Nun ist diese Steuerung der Rezeption durch einen Autor zwar ein »starkes Stück«, doch kein singuläres Ereignis.25 Thomas Mann selbst sollte ähnliche Einflussnahmen bei anderen Werken – etwa beim Dreiakter Fiorenza oder in der Selbstanzeige des Romans Königliche Hoheit in der Neuen Rundschau (mitsamt einer anfänglich irritierten, dann zustimmenden _____________ 22 Grautoff: Buddenbrooks, S. 444. 23 Ebd. 24 Mann: Briefe an Grautoff, S. 139f.: »Ein paar Winke noch, Buddenbrooks betreffend. Im Lootsen sowohl wie in der Neuesten betone, bitte, den deutschen Charakter des Buches. Als zwei echt deutsche Ingredienzen, die wenigstens im II. Bande (der wohl überhaupt der bedeutendere sei) stark hervorträten, nenne Musik und Philosophie. Seine Meister, wenn schon von ihnen die Rede sein müsse, habe der Verfasser freilich nicht in Deutschland. Für gewisse Partien des Buches sei Dickens, für andere seien die großen Russen zu nennen. Aber im ganzen Habitus (geistig, gesellschaftlich) und schon dem Gegenstande nach echt deutsch: schon im Verhältnis zwischen den Vätern und Söhnen in den verschiedenen Generationen der Familie […] Der äußere Umfang sei etwas nicht ganz Bedeutungsloses. In der Zeit des ›Überbrettls‹ und der Fünf-Secunden-Lyrik sei es wenigstens ein Zeichen ungewöhnlicher künstlerischer Energie, ein solches Werk zu concipieren und zu Ende zu führen. […] Damit genug! Mach Deine Sache recht gut und verschiebe sie nicht zu lange« (Hervorh. i. O.). 25 So die Wertung von Harpprecht: Mann, S. 175: »Grautoff hatte, Thomas Mann mußte es wohl zugeben, seine Sache so gut wie nur möglich gemacht: das Diktat des Autors stand Wort für Wort in der führenden Zeitung der Hauptstadt Bayerns. Schriftsteller und Verleger haben, man weiß es, stets versucht, die Kritik zu manipulieren. Dies aber war ein starkes Stück – in Wahrheit nicht einmal übertroffen von jenen Fällen, in denen die Autoren es vorzogen, ihre Werke selbst zu besprechen, ob nun in ernster oder humoristischer Absicht. Nichts anderes war hier geschehen. Nur hatte sich Thomas Mann des Pseudonyms ›Otto Grautoff‹ bedient«.
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Reaktion auf Hermann Bahrs davon geleiteter Rezension) – erneut praktizieren. Auch das Verfahren der Selbstrezension durch Autoren war keineswegs neuartig, sondern ein bereits im 18. Jahrhundert geübter Vorgang. Innovativ und für die gruppenbezogene Beziehungspolitik relevant sind vielmehr die zur Charakteristik des eigenen Werkes benutzten Attribute, die den Begriffen nationalkultureller Selbstbeschreibung und deutung korrespondierten. Pars construens der auktorialen Vorlage wie der ihr treu nachfolgenden Rezensionen ist die Auszeichnung des Werkes mit dem Adjektiv »deutsch«, das sowohl zur Kennzeichnung des »ganzen Habitus« wie zur Charakteristik von Romangegenstand und -elementen herangezogen wird. Pars destruens bildet die Abweisung alternativer Textverfahren bei gleichzeitiger Erhebung des Textes auf den Höhenkamm der europäischen Romanproduktion in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Pointe der Selbst- wie der davon diktierten Fremddeutung besteht in einer deklarativen Universalisierung des Adressatenbezugs, die Bindungen an exklusive Gruppen – ob generationsspezifisch oder ›schulisch‹ geprägt – ausschließt. Mit anderen Worten: Der sich als Romancier generierende Autor vollzieht seine Erfindung als Nationalschriftsteller auf den Stufen von Werk, Eigenkommentar und (gesteuerter) Fremdbeobachtung, in dem er seine literarische Produktion dem größten und zugleich abstraktesten Adressaten – der deutschen Nation – zueignet.26 Diese nationalkulturelle Kompatibilität wird der Autor bei temporären Modifikationen und partiellen Veränderungen weiter verfolgen; seit den erfolgreichen Buddenbrooks imprägniert sie seine Selbstkommentare und Selbstdarstellungen – auch wenn sich die bereits konstatierten Widersprüche von adressatenübergreifender Deklaration und nachfolgendem Dementi nicht vermeiden lassen.27 _____________ 26 Eben deshalb erfolgt der rasche und energische Widerspruch gegen Kurt Martens, der im Beitrag Die Gebrüder Mann für das Leipziger Tageblatt vom 21.3.1906 gegen das allgemeine Lob der Buddenbrooks »als ein urdeutsches Buch« eingewandt hatte, der Roman sei »vielmehr ein kritisches, spöttisches, ja zersetzendes Werk, voll von einem Humor, als dessen stärkste Bestandteile sich Ironie und Sarkasmus ergeben, Eigenschaften, die dem deutschen Nationalcharakter ziemlich fremd sind.« Im langen Brief an Martens vom 28.3.1906 moniert Thomas Mann nicht nur »kleine Verzerrungen, Übertreibungen, Mißverständnisse, verfrühte Feststellungen«, sondern vor allem auch die Aberkennung seiner nationalkulturellen Qualitäten: »Es geht nicht an, ›Buddenbrooks‹ ein ›zersetzendes‹ Buch zu nennen. ›Kritisch‹ und ›spöttisch‹ – mag sein. Aber zersetzend geht nicht. […] es geht nicht an, es ein wesentlich undeutsches Buch zu nennen. […] Es trifft nicht zu, daß ›Buddenbrooks‹ und ›Tonio Kröger‹ dem Publicum durch Essays aufgeredet sind und kühl geschätzt werden. Diese Äußerungen meines Ich werden geliebt, glaube mir das, und zwar in dem Grade, daß es mich beunruhigen könnte« (Br. I, S. 61–63). 27 Nur ein Beispiel für die Widersprüchlichkeit der Selbstdeklaration sind die Kommentare zu den Betrachtungen eines Unpolitischen. Einerseits sind es »Volk« und »geistiges Deutschtum« die als Bezugsrahmen für die »Generalrevision meiner Grundlagen« beziehungsweise für das »Bekenntnis- und Kampfbuch« aufgerufen werden: »Ich teilte die Schicksalsergriffenheit
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Das zum »Erzeugnis meiner scheuen Einsamkeit« erklärte Debüt als Romancier – als dessen Einflussfaktor später noch die skandinavische Literatur gelten darf – initialisiert zugleich die Integration in eine Formation, die über Literatenkreise hinausgeht: »die Gesellschaft nahm mich auf« (GW XI, S. 116). Es sind jedoch nicht nur »Münchener Salons von literarisch-künstlerischer Atmosphäre«, die den 26jährigen Autor nun kooptieren; es ist die bürgerliche Welt, gegen deren »reguläre Ansprüche« der Autor nach eigenen Worten bislang eine »dumpfe Widersetzlichkeit« (ebd., S. 116) demonstriert hatte.28 Im Anschluss an den Novellenband Tristan erfolgt eine weitere rubrizierende Eingemeindung durch die beobachtende Literaturkritik. Otto Grautoff identifiziert ihn nun als eine »starke Hoffnung des literarischen Jung-Deutschlands«;29 Kurt Martens attestiert, »daß wohl alle jüngeren Novellisten in Thomas Mann neidlos einen Meister ihrer Kunst anerkennen werden«.30 Samuel Lublinski, der in seiner emphatischen Rezension der Buddenbrooks im Berliner Tageblatt dem Roman dauerhafte Lektüre über Generationen hinweg prophezeit hatte, erklärt in seiner Bilanz der Moderne das Erzählwerk Thomas Manns zu einem singulären Gipfel innerhalb der zeitgenössischen Literatur: »Weder die Jungen noch die Alten noch die vermittelnden Talente unter unsern Erzählern reichen an diese Leistung heran«.31 Doch hat Lublinski den Autor nicht nur gegen die von Carl Busse und Karl Muth vorgebrachten (und von Thomas Mann genau registrierten) Vorwürfe der »Kälte« und »Mache« in Schutz genommen und diese rezeptiven Fehlleistungen aus der Inkongruenz des Textes mit einer aktuell herrschenden Literaturströmung erklärt.32 Mit der Markierung von Jugend und Besonderheit des Künstlers _____________
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eines geistigen Deutschtums dessen Glaube soviel Wahrheit und Irrtum, Recht und Unrecht umfaßte […] Ich habe diesen schweren Weg zusammen mit meinem Volke zurückgelegt, die Stufen meines Erlebens waren die des seinen, und so will ich’s gutheißen« (GW XI, S. 126f.); Nur wenige Sätze später erfolgt das Dementi, denn nun stilisiert Mann die Abfassung der Betrachtungen zu einer solipsistischen Tätigkeit: »Ich habe nie eine Arbeit betrieben, die in meinen eigenen Augen so sehr das Gepräge des Privatwerkes und der öffentlichen Aussichtslosigkeit getragen hätte. Ich war allein mit meiner Plage. Keinem Fragenden war auch nur klarzumachen, was ich da eigentlich täte« (ebd., S. 128). Die externe Wahrnehmung einer offensichtlich erfolgreichen Position innerhalb des bürgerlichen Publikums markieren auch Karikaturen und Satiren, insbesondere Alfred Kerrs Spottgedicht Thomas Bodenbruch, in dem es heißt: »Ein Trost: ich schlage den Rekord/ Im Gründlichen, Langstieligen,/ Ich bleibe nach wie vor ein Hort/ Gebildeter Familien./ Sie äußern keinen Widerspruch/ Und schätzen Thomas Bodenbruch./ Ich bin doch voll und ganz/ Die Lust des Mittelstands.« Kerr: Caprichos, S. 189. Grautoff: Mann, S. 103. Martens: Tristan, Sp. 1358. Lublinski: Bilanz, S. 226. Vgl. ebd., S. 226: »Darum muß es erstaunlich erstaunen, daß man ihn vielfach der Kälte und Mache zu bezichtigen wagte, und es läßt sich nur daraus erklären, daß dieser erste und einzige naturalistische Roman zu einer Zeit erschienen ist, als alle Welt bereits mit viel
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(»junger Norddeutscher«; »der junge Dichter«; »schlechtweg der bedeutendste Romandichter der Moderne«; »ungewöhnlicher Stilkünstler«; »Gipfel«33 etc.) hebt er ihn aus der breiten Schicht der Literaturproduktion um 1900 heraus; mit der Bewertung der naturalistischen Form des Romans Buddenbrooks als narrativ nicht überbietbarem »Abschluß« setzte er zudem einen Maßstab, an dem sich der Autor nun zu orientieren hatte.34 Die von Lublinski artikulierte Notwendigkeit zur Erfindung neuer Formen hat Thomas Mann in verschiedenen Projekten ausprobiert, wusste er doch, dass es zur Verstetigung des Erfolgs darauf ankommt, ein »Profil« zu entwickeln und dem Publikum eine »scharf umrissene geistige Physiognomie« einzuprägen.35 Der 1903 erschienene Novellen-Band Tristan offeriert jene Textverfahren und Motive, die durch eine doppelte Strategie Erfolg zeitigen: Zum einen sichert sich der Autor – insbesondere mit der Novelle Tonio Kröger – den Anschluss an eine junge Generation, die zahlreiche Schriftsteller der Zeit mit ihren Texten und Publikationsprojekten literarisch umwarben.36 (Den besonderen Erfolg dieser zwischen Dezember 1900 und Dezember 1902 entstandenen Novelle bei einer generationsspezifisch bestimmten Leserschicht sollte Thomas Mann noch in den Betrachtungen eines Unpolitischen reflektieren – bezeichnenderweise nicht ohne Seitenhiebe auf eine verfehlte Rezeption des vorgängigen Romanwerks. Buddenbrooks wird hier zur »Basis« eines Werkzusammenhangs erklärt, dessen Kontinuität nur die »um das Jahr 1880 geborene _____________ 33 34
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Geschrei im neuromantisch-symbolistischen Fahrwasser plätscherte und die narkotische Betrunkenheit durch Stimmung begehrte«. Ebd., S. 225f. Ebd., S. 226: »Es ist unmöglich, daß die ›Buddenbrooks‹ auf dem Gebiet der Erzählung fortzeugend wirken könnten, denn dieser Roman ist nicht nur ein Anfang, sondern auch ein Abschluß. Die naturalistische Form forderte unbedingt eine Erweiterung nach oben hin […]«. T. M. an Paul und Carl Ehrenberg, 22.10.1902: »Es kommt darauf an, den Leuten sein Profil einzuprägen, so daß, wird der Mann genannt, in der Phantasie der Leute sofort eine scharf umrissene geistige Physiognomie hervorspringt […]« (DüD I, S. 35). Zu den Adoleszenz- und Jugendprobleme bearbeitenden Texten der Jahrhundertwende gehören u.a. die Romane Freund Hein (1902) von Emil Strauß (*1866), Peter Camenzind (1904) und Unterm Rad (1906) von Hermann Hesse (*1877), der im Frühjahr 1905 abgeschlossene und 1906 im Wiener Verlag erschienene Roman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß von Robert Musil (*1880) sowie die 1902 in Maximilian Hardens Zeitschrift Zukunft veröffentlichte Erzählung Die Turnstunde von Rainer Maria Rilke (*1875). Zu den Ausprägungen dieser auch in der Bildenden Kunst und in der Alltagskultur vollzogenen Entdeckung von Generationsverhältnissen vgl. Koebner / Janz / Trommler (Hg.): »Mit uns zieht die neue Zeit«; zur von der Wissenschaft beförderten »Mythologisierung des Jugendalters« zwischen 1890 und 1914 vgl. Bühler: Konstruktion, Zitat S. 135, zur literarischen Darstellung von Jugend besonders S. 104–134; Dudek: Jugend. Eine Zusammenstellung relevanter literarischer Texte der Jahre um 1900 enthält Neubauer: Fin-de-Siècle, S. 220–227; Fallstudien zu einzelnen Autoren und Zirkeln versammelt der Band Beyer / Burdorf (Hg.): Jugendstil.
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geistige Jugend Deutschlands« erkannt hätte.37) Zum anderen bemühen sich die Texte auf sprachlich-stilistischer wie auf thematisch-motivischer Ebene erfolgreich um das Überschreiten partikularer Bindungen an bestimmte Leserschichten und -erwartungen. Ziel ist es, ›Repräsentativität‹ und ›Klassizität‹ zu gewinnen – und wie die öffentliche Wahrnehmung zeigt, hat es der Novellenband geschafft. Schon im März 1904 – der Schriftsteller wird in der aktuellen Ausgabe von Kürschners Deutschem Literatur-Kalender erstmals als Romancier aufgeführt – spricht Heinrich MeyerBenfey seiner »Dichtung« das Attribut »klassisch« zu.38 – Mit dieser Erhebung zum »klassischen« Autor aber sind Gefahren verbunden. Etablierte Klassizität muss verteidigt werden und verpflichtet zu weiteren »klassischen« Werken; erfolgreiche Positionierung schafft Konkurrenzverhältnisse, die zu beobachten und mit neuen Leistungen zu bewältigen sind. In dieser Situation gewinnt das Problem der Generation explizite Bedeutung. Eine wahrscheinlich im Sommer 1909 niedergeschriebene Notiz für den geplanten, doch nicht realisierten Essay Geist und Kunst bringt das Verhältnis des inzwischen fast 35jährigen »Klassikers« zur nachrückenden Kohorte auf den Punkt: Die neue Generation, jenseits der Modernität. Ich weiß nicht, wie es in der Malerei, der Musik steht (Strauß scheint mir nur zur Psychologie der Modernität Wert zu haben). Aber in der Litteratur höre ich es überall pochen. Speyers Novelle. Fühle da viel Neues, Zukünftiges, Junges, Symptomatisches, viel ›neue Generation‹, viel ›Heraufkommendes‹. Gesundheit, kultivierte Leiblichkeit, vornehme Natur, vornehmes Wohlsein […] Ich rieche Morgenluft. Im Verhältnis zur Natur, zur Landschaft, zum Wandern: viel echte und unmittelbare Romantik; reine, unverhunzte Gefühlsintensität. ›Man muß das Leben mit gesunden Händen anfassen‹. Das hätte vor 10 Jahren kein junger Novellist geschrieben. Ich – grub mit 20 Jahren Psychologie: kein Unterschied der Bedeutung das, sondern einer der Generation.
_____________ 37 »Nun, wenigstens einmal entschied die Jugend, die ums Jahr 1880 geborene geistige Jugend Deutschlands, in anderem Sinne: das war im Falle des ›Tonio Kröger‹, dieser Prosa-Ballade, die freilich ohne ›Buddenbrooks‹ schlecht bestünde und die so recht ein Lied war, gespielt auf dem selbst gebauten Instrumente des großen Romans […] ›Lebendige, geistig unverbindliche Greifbarkeit der Gestaltung‹, heißt es in einer späteren Arbeit von etwas parodistischem Meisterstil, ›bildet das Ergötzen der bürgerlichen Massen, aber leidenschaftlich unbedingte Jugend wird nur durch das Problematische gefesselt‹. Ich dachte dabei an ›Buddenbrooks‹ und an ›Tonio Kröger‹. Jene, durchaus plastisch, Kunst – und kaum auch Geist, beschäftigten andauernd die gebildete Mittelklasse; aber die intellektuelle und radikale Jugend, die den Radikalismus damals freilich noch nicht politisch meinte, ergriff den ›Tonio Kröger‹ als ihr gemäß, – dies Spiel war ihr wichtiger als die Geige […] Wo ist er jetzt, der Göttinger Student von damals, der mir, als wir nach der Vorlesung in Mütze’s Weinstube tranken, mit seiner hellen, bewegten Stimme sagte: ›Sie wissen es hoffentlich, nicht wahr, Sie wissen es, – nicht die ›Buddenbrooks‹ sind Ihr Eigentliches, Ihr Eigentliches ist der ›Tonio Kröger‹!‹? Ich sagte, ich wüßte es« (GW XII, S. 90f.). 38 Meyer-Benfey: Mann, S. 531f. Die Bestimmung seiner »klassischen« Qualität erfolgt durch Abgrenzung: Der Autor sei weder »Naturalist« noch »Romantiker«, auch das »literarische Artistentum und der l’art pour l’art-Standpunkt« seien ihm »gründlich zuwider«.
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Interessant, interessant – und beunruhigend. Nicht durch beklemmend viel Talent kann diese Jugend den Baumeister Solneß fürchten machen, aber durch dies Neue. Hier ist unsere Gefahr, rascher zu veralten, als nötig wäre. Das Interesse, das au fond die Generation beherrscht, zu der Hauptmann, Hofmannsthal und ich gehören, ist das Interesse am Pathologischen. Die Zwanzigjährigen sind weiter. Hauptmann sucht eifrig Anschluß. Jemand sollte zählen, wie oft im Griechischen Frühling ›gesund‹ vorkommt. Auch Hofmannsthal wird sich auf seine Art zu arrangieren suchen. Die Forderung der Zeit ist, alles, was irgend gesund in uns ist, zu kultivieren.39
Was hier wortreich umschrieben und mit Bezug auf Henrik Ibsens Dramenfigur Solneß verbalisiert wird, ist mehr als nur das Gefühl einer Beunruhigung. Es ist eine aus Introspektion wie aus externer Beobachtung gespeiste Angst vor dem Verlust der errungenen Position. Thomas Mann fühlt sich der jungen Generation gegenüber wie der alte Baumeister Solneß, der in seinen lebenslang ausgeprägten Mustern befangen bleibt und das Neue erkennt, ihm aber nicht mehr zu folgen vermag. Ja mehr noch: Es ist das Bewusstsein, trotz einer gegenwärtig noch als »turmfest« wahrgenommenen Position von einer sich bereits formierenden Jugend zur Disposition gestellt und zum »Rücktritt« gezwungen zu werden.40 Denn die besondere Leistung seiner Generation – zu der er den 1862 geborenen Gerhart Hauptmann wie den 1874 geborenen Hugo von Hofmannsthal rechnet – besteht in der Thematisierung eines partikularen Erfahrungsbereichs, den er mit dem Begriff des »Pathologischen« bestimmt. Dieses generationsspezifische Interesse an Abweichung, Krankheit und Tod wird angesichts der neuen »Bejahung der Erde, Bejahung des Leibes« sichtbar, die Thomas Mann zum Ergebnis einer veränderten Nietzsche-Rezeption durch »die Zwanzigjährigen« im Gegensatz zur Lesart der »um 70 Geborenen« erklärt.41 Mit den nur skizzierten Veränderungen im literarisch-kulturellen Feld kann auf verschiedene Weise umgegangen werden: Naturmystizistische Dithyramben, wie sie Gerhart Hauptmann im Griechischen Frühling und _____________ 39 Mann: Geist und Kunst; Notiz 103. Hier zitiert nach der Edition von Wysling in: Scherrer / Wysling: Quellenkritische Studien, S. 207f. (Hervorh. i. O.). Bei der im Text erwähnten Novelle handelt es sich um den 1909 veröffentlichten Text Wie wir einst so glücklich waren von Wilhelm Speyer (1887–1952), der gemeinsam mit seinem Altersgenossen Bruno Frank (1887–1945) das Landerziehungsheim in Haubinda besucht hatte und der Familie Mann freundschaftlich verbunden war. 40 Vgl. den von Thomas Mann in seinem Exemplar angestrichenen Dialog in Ibsen: Baumeister Solneß, S. 361: »Herdal. Pah! Die Jugend! Sie wirft man doch noch nicht zum alten Eisen, sollt’ ich meinen. Ach nein, - Sie stehen doch heut so turmfest da, wie vielleicht niemals zuvor. Solneß. Der Rückschlag kommt. Ich ahne ihn. Und ich fühle, wie er näher zieht. Irgend einer drängt sich vor mit der Forderung: Tritt zurück hinter mich! Und alle die andern stürmen ihm nach und drohen und schreien: Platz gemacht, Platz – Platz! Jawohl, passen Sie nur auf Doktor. Eines Tages kommt die Jugend her und klopft an die Thür –«. 41 Mann: Geist und Kunst; Notiz 103, S. 208.
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dem 1909 in der Neuen Rundschau veröffentlichten Tagebuch Aus einer griechischen Reise vorgeführt hatte, waren ebenso möglich wie der von Hermann Bahr demonstrierte (und von Thomas Mann missbilligte) »Anschluß an das Allerneueste«, insbesondere an »Walt Whitman’s indianische[n] Rousseauismus«.42 Im Gegensatz zu diesen raschen Akkomodationen verfolgte Thomas Mann eine andere Konzeption, die hier jedoch nicht einmal ansatzweise nachgezeichnet werden kann. Nur anzudeuten ist, dass seine Annäherung an die Thematisierungen von Leben und Leib weitaus zögerlicher und voller Vorbehalte verlief: In den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull entwarf er erstmals ein Sonntags- und Sonnenkind; im Tod in Venedig wie im Zauberberg näherte er sich vorsichtig den komplizierten Zusammenhängen von Alter und Jugend, mit Hilfe von Bachofen und Freud fand er schließlich ein Verhältnis zur mythischen Überlieferung. Aus den Orientierungsversuchen der 1890er und 1910er Jahre aber hat er etwas über den fragilen und partikularisierenden Charakter von Generationen- und Gruppenbildungen gelernt – und sich schon frühzeitig und mehr oder weniger dauerhaft für eine alternative Strategie entschieden. Gegen die stabilisierende und zugleich nivellierende Integration in einen partikularen Gruppenzusammenhang behauptet er werk- wie öffentlichkeitspolitisch einen universalen Geltungsanspruch, der die Idee generationsspezifischer Bindungen aufhebt und ein Wirken als Nationalschriftsteller mit kohorten- wie zirkelübergreifenden Adressen auszugestalten versucht. Deshalb ist es wohl kein Zufall, dass der auf dem Weg zur »Klassizität« beschriebene Staatsschriftsteller Gustav von Aschenbach seine Laufbahn als dezidierter Einzelgänger vollzieht. Ohne Unterstützung durch eine literarische Schule oder einen generationellen Resonanzraum geht dieser Autor seinen Weg – zwar verehrt von einer »ganzen dankbaren Jugend« (GW VIII, S. 450), aber doch allein. Diese deklarierte Singularität sollte Thomas Mann erst im Zuge der Isolierung nach den Betrachtungen aufgeben. Nachdem er zu Beginn der 1920er Jahre um die Freundschaft Josef Pontens geworben hatte, von diesem zum Gegenpol des eigenen dichterischen Literaturverständnis exponiert und von einer nachfolgenden Kritik durch die »Jungen« getroffen wurde, sah er sich gezwungen, auf _____________ 42 Vgl. etwa die Besprechung von Gerhart Hauptmanns Tagebuch Aus einer griechischen Reise durch Harry Graf Kessler in der Neuen Rundschau 1909, S. 719f. Hermann Bahr hatte seine Dalmatinische Reise 1909 ebenfalls in der Neuen Rundschau veröffentlicht und ein Exemplar auch an Heinrich Mann gesandt, was Thomas Mann im Brief an Kurt Martens vom 11.1.1910 bissig kommentierte: Bahrs neue Produktionen resultierten aus »seiner ewigen Unruhe, modern zu bleiben und den Anschluß an das Allerneueste nicht zu verpassen. Früher stieß er als ersten in Deutschland den dernier crie de Paris aus. Jetzt hält er es behende mit Walt Whitman’s indianischem Rousseauismus und mit der demokratischen Bewegung in Deutschland [...]« (Br. I, S. 79).
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neue Weise an die Jugend heranzukommen. Diese Veränderungen in der Beziehungspolitik stehen jetzt im Mittelpunkt. II. Die Jungen mit Josef Ponten gegen Thomas Mann. Kampf um Repräsentanz Als im Oktober 1924 in der Deutschen Rundschau Josef Pontens Offener Brief an Thomas Mann erschien, hatte der so angeschriebene Autor gerade die Arbeit am Roman Der Zauberberg abgeschlossen.43 Anlass zu Pontens öffentlicher Stellungnahme war nach dessen eigener Aussage ein »öffentlicher« Aufsatz Thomas Manns zu Ricarda Huchs 60. Geburtstag, der im Juli in der Frankfurter Zeitung und in der Prager Presse erschienen war – die Gründe für den rasch grundsätzlich und polemisch werdenden »Widerspruch« gegen das Literatur- und Kunstkonzept des fast 50jährigen Autors aber liegen tiefer. Was Ponten unter Berufung auf den sich formierenden »Widerspruch bei Jüngeren« und die im »ordentlichen literarischen Parlament« gebildete »ernste Opposition gegen Sie« vortrug, war nicht weniger als ein Frontalangriff gegen die von Thomas Mann in intensiven Reflexionen gewonnenen Einsichten in die Funktionen und Potenziale einer kritisch-intellektuellen Literatur. Es ging – so jedenfalls legt es die Rhetorik des Offenen Briefes nahe – ums Ganze: Um die gegenwärtigen Aufgaben und die Zukunft der Literatur. Den Rang der Richtungsentscheidung zeigte Ponten an, indem er die »negative Aktivität« von Thomas Manns Textproduktion und ihre »mehr und mehr in ›Betrachtungen‹ und ›Reden und Antworten‹ sich bekundende kritisch-pädagogische Neigung« mit einem Begriff belegte, den die Betrachtungen zur Verurteilung des älteren Bruders angewandt hatten: »Denn was Sie preisen, ist reinste Zivilisa-
_____________ 43 Die Arbeit am Zauberberg wurde am 28.9.1924 beendet; der Roman erschien am 28. November in zwei Bänden bei S. Fischer in Berlin. Am 24.9.1924 hatte Thomas Mann dem freundschaftlich verbundenen Ponten berichtet, daß er »in diesen Tagen die mit Recht so beliebte ›letzte Hand‹ an das naturferne Geschwätz seiner beiden Bände« lege; Wysling: Dichter oder Schriftsteller, S. 46. In der selbstironischen Aussage über das angeblich »naturferne Geschwätz« des Zauberbergs verbarg sich ein erster Kommentar zu der ihm bereits im Manuskript zugänglich gemachten Abhandlung Pontens, liefen doch deren wortreich aufgefächerten Binäroppositionen von »schriftstellerisch« und »dichterisch« auf die Polaritätskonstruktion »Geist« und »Natur« hinaus und schlugen den »theoretischen Schriftsteller« Thomas Mann einer intellektuellen und naturfernen Geisteskultur zu: »Denn was ist’s, was uns im wesentlichen trennt – und was nach meiner Meinung Sie von der Wahrheit trennt […] Sie, glaube ich, unterschätzen die Natur«, Ponten: Offener Brief, hier und im Folgenden zitiert nach dem Abdruck in: Wysling (Hg): Dichter, S. 90–115, hier S. 99f.
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tionskunst und ganz gewiß Ende und Untergang. Hier spaltet sich unser bisher gemeinsamer Weg!«44 Der so markierte Dissens und seine Verhandlung ist an dieser Stelle jedoch nicht als polemische Konfrontation zwischen divergierenden Literatur- und Autorschaftskonzepten zu beschreiben. Wesentlich für den hier zu verhandelnden Zusammenhang sind vielmehr die rhetorischen und argumentativen Muster eines Positionierungsverhaltens, unter denen die Berufung auf die Autorität der Generation eine mehrfach dimensionierte Rolle spielte. Der offene Angriff Pontens, die nachfolgenden Zustimmungserklärungen der Jungen und Thomas Manns öffentliche Reaktionen lassen sich dabei als Einsätze erkennen, die stets auch die Möglichkeiten eines Autors thematisierten, als Sprachrohr kultureller Formationen beziehungsweise generationsspezifischer Gruppen aufzutreten und in dieser Funktion als öffentlicher Vertreter einer kollektiven Größe Repräsentanz zu gewinnen. Denn dass der zum Zeitpunkt seines Offenen Briefes bereits 41-jährige Ponten eine Rolle als (lautstarker) Anwalt einer jungen Autorengeneration einzunehmen suchte, belegen bereits die ersten Abschnitte seines Textes: Gegen Thomas Manns »Glauben«, in seiner öffentlich vorgetragenen »Apologie der intellektuellen Kultur« (im Aufsatz zu Ehren Ricarda Huchs) »der Sprecher für viele von uns Genossen zu sein«, setzte Ponten den öffentlichen »Widerspruch« und nahm dazu eine zwischen der ersten Person Singular und der ersten Person Plural changierende Position ein.45 Die als »ernste Opposition« im »ordentlichen literarischen Parlament« bestimmte Kollektivgröße spezifizierte er nach einer seitenlangen Gegenüberstellung von »Schriftstellerisch« und »Dichterisch« – die den »Schriftsteller« als rational organisierten Beobachter sowie kritisch belehrenden Realitätsgestalter vom irrational getriebenen Dichter als Schöpfer beziehungsweise »Stifter« abgrenzte – in direkter Auseinandersetzung mit dem mehr und mehr »theoretischen« Schriftsteller Thomas Mann: Meine Ausführungen richten sich nicht gegen den Praktiker, den Dichter Thomas Mann, dessen Gaben wir stets dankbar und, wenn wir sie einmal nicht billigen, immer respektvoll begrüßen; sondern gegen den Schriftsteller, den Theoretiker, der Sie mehr und mehr, und offenbar mit Lust und Absicht, werden. Wir sind dankbar für jedes Werk ihrer hohen Kunst, weil es als Dichtwerk nur für sich und den ganz besonderen Thomas Mann ›schweigend‹ spricht; wir müssen uns aber gegen den Theoretiker auflehnen, der, wie es im Wesen jeder Theorie liegt, für alle, also auch für uns, zu sprechen meint. ›Uns‹, ›wir‹, das sind die Jüngeren, und ›Jüngere‹ ganz ohne Hochmut und auch nur mit halber Beziehung auf die Jahre gemeint. Denn
_____________ 44 Ebd., S. 91. 45 Ebd., S. 90f.: »Mich im besonderen haben Sie erregt und zu alt-neuer Diskussion angeregt«; »Wir wollen ein anständiges Gefecht haben […]«; »viele von uns«; »haben wir nichts gemein« etc.
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ich fasse darunter diejenigen zusammen, die durch den Blutsumpf des Krieges gegangen sind. Vielleicht sind wir wirklich eine andere Rasse Mensch geworden. Und fasse auch die darunter, die dazu etwa an Jahren noch zu jung, durch Reisen, Forschungen, Wanderungen und jegliche Art Sport ein anderes neues (altes) Verhältnis zu Mutter Natur suchen und finden. Die ein anderes Lebensgefühl erwarben. Lebensgefühl, das ist es!46
Es kann nicht verwundern, dass Pontens performativer Sprechakt in der Zeit kultureller Polarisierung ein rasches und sich wechselseitig verstärkendes Echo fand. Nachdem der Roman Der Zauberberg im Februarheft 1925 der Zeitschrift Kunstwart als Werk für den »Markt der Alten« verworfen und Pontens Attacke »wider Thomas Manns blasse Geistigkeit« ausdrücklich gelobt wurde,47 erschien im »Führer zum guten Buch« Vorhof das von Karl Rauch verfertigte Manifest Die Jungen mit Josef Ponten gegen Thomas Mann, das im Brief des 41-jährigen an den 49-jährigen Schriftstellers nicht weniger erkannte als »eine Auseinandersetzung der jungen Generation mit dem Schriftsteller und Sprecher der vorangegangenen Alterschicht«.48 Die durch Ponten demonstrierte Konfessions- und Dezessionsrhetorik wurde hier aufgenommen und verschärft: Wir bekennen uns zu dem Dichter Josef Ponten als den Sprecher der im Krieg erwachten, aufsteigenden deutschen Lebenswelle, in der sich alle jene einen, die als Knaben in den Strudel des Weltkampfes gerissen, das Leben gewannen, da sie dem Tode begegneten, jene, die die Welt betreten haben an der Stelle des Weltgeschehens, das Thomas Manns großer Roman Der Zauberberg endet, dieser Roman, der groß ist als Leistung und über dessen Bedeutung zu debattieren uns am letzten einkommt, dessen Größe aber hinter uns liegt als eine vergangene Welt […] Wir wünschen und wir hoffen drängenden Blutes, daß Josef Ponten sein Bekenntnis, das wir im Grunde zu dem unsern erheben, hisse über unsern Häuptern als eine hellaufflatternden Fahne; allen sichtbar, voran einem Ritt, unserem Ritt, dem Ritt der Jungen in die starre, die noch immer nicht neugeborne Welt […].49
Diese in der literarischen Öffentlichkeit genau registrierten Stellungnahmen dokumentieren nicht nur die Funktionsprinzipien eines durch asymmetrische Chancenverteilung strukturierten Feldes, in dem junge Autoren Distinktionsgewinne mit dem probaten Mittel des Kohorten-Aufstands gegen arrivierte Platzhalter zu erzielen suchen. Sie demonstrieren zugleich exemplarisch die Qualität von Auto- und Heterostereotypisierungen, die der Sekuritätserfahrung der älteren Generation das Erlebnis von Krieg und Todesgefahr gegenüberstellt. In der maximierten Nutzung von sprachlichen Figuren aus dem Bildfeld der kriegerischen Auseinandersetzung laden sie die Abgrenzung der jungen von der älteren Generation _____________ 46 47 48 49
Ebd., S. 99. Schumann: Gestern und Morgen, S. 201. Rauch: Die Jungen, S. 54. Ebd., S. 56.
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militant auf – und verschärfen damit den Konflikt bis zum Risiko des Kommunikationsabbruchs. Doch hat Thomas Mann auf diesen »Ritt der Jungen« gegen eine auch von ihm repräsentierte »starre« Welt des Vergangenen nicht mit Schweigen und Abwendung reagiert. Nachdem er in einer ersten unmittelbaren Reaktion auf Pontens Offenen Brief »ein gewisses Unbehagen«50 empfunden und angesichts eines als »verdorben« bezeichneten Verhältnisses zu den »Jungen« Überlegungen anstellt hatte, »wie ich, früher oder später, auf eigene Hand ›an die Jugend herankomme‹«,51 bot sich Anfang 1927 die Gelegenheit. Die am 7. Januar 1927 in der Literarischen Welt veröffentlichten Worte an die Jugend, die als Antwort auf eine Rundfrage entstanden und auch im Rundfunk übertragen wurden, lassen sich vor dem Hintergrund von Pontens Offenem Brief und den nachfolgenden Reaktionen als Versuch zum Wiedergewinn verlorenen Terrains erkennen. Denn nun mobilisierte der Schriftsteller ein eigenes Generationsbewusstsein und einen gemeinschaftlichen Erfahrungshorizont: Wir waren jung, das heißt spröde und innerlich. Unsere Leidenschaft hieß Erkenntnis und Form. Hier, in einer asketischen Wechseldurchdringung von Moral und Kunst, suchten wir jenes Heldentum, nach welchem es jede Jugend verlangt. Dann stürzte die Welt auf uns zusammen, und ihre Katastrophe, für deren Nahen wir freilich nicht ohne Sensibilität gewesen waren, riß unsere Kräfte nach außen. Wir hatten zu bekennen, uns zu ordnen, uns zu berichtigen, uns zu bezwingen, und all dies immer unter der organisch-unzertrennlich damit verbundenen, der erschwerenden und ehrenvollen Bedingung der Form. Problematik und Form, das war uns die Bestimmung eines ehrenhaften, das heißt eines schweren, eines geistigen Lebens. Junge Leute! Gebt es zu, gebt es aus Erfahrung zu, daß Problematik und Form als geheimnisvoll-unlösbare Verbindung, daß diese tyrannische und künstlerische Lebenskampfbedingung ganz einfach die Bestimmung des Geistigen
_____________ 50 T. M. an Kurt Martens, 2.10.1924. Zitiert nach ebd., S. 155: »Du weißt, daß P[onten]s Manie, sich beständig auf mich zu beziehen und an mir zu messen, angefangen hat, mir ein klein bißchen auf die Nerven zu gehen. Außerdem denke ich und habe dies P. auch geschrieben: Er müßte wissen, daß solche Aeußerungen wie der Huch-Aufsatz bei mir aus einem gewissen Pflichtgefühl, einem Willen zum Zeit- und Lebensdienst hervorgehen, gegen den zu polemisieren nicht recht am Platze ist. Nur daher ein gewisses Unbehagen auf meiner Seite«. 51 T. M. an Josef Ponten, 31.1.1925. In: Wysling (Hg.): Dichter, S. 60. Gegen Pontens Vorschlag einer separaten und ergänzten Publikation seines Offenen Briefes hatte Thomas Mann zuerst erklärt, er fühle »keine Nötigung, den malerischen Zwiespalt, den oeffentlich zwischen uns aufzureißen Sie offenbar die unabweisliche Nötigung empfanden, durch begütigende Erläuterungen zu schließen« (ebd., S. 57). Nachdem es Ponten in seiner »eifervollen Freundschaft« gelungen sei, »die nationale Jugend gegen mich mobil zu machen« (ebd., S. 58) und er es also »mit der lieben Jugend verdorben« habe, könne er jetzt nicht »als Broschüren-Compagnon« auftreten: »Ich muß zusehen, wie ich, früher oder später, auf eigene Hand ›an die Jugend herankomme‹, und ich denke, auch Sie sollten es vorziehen, auf andere Weise an Sie heranzukommen, als durch Streitschriften gegen mich: nämlich durch Ihr Werk« (ebd.).
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ist – und wir haben einen Begriff, eine Liebe und einen Stolz gemeinsam, der alle Unterschiede sonstigen Lebensgefühls aufhebt und eine Solidarität zeitigt, vor welcher jede Fremdheit der Generationen zunichte wird. (GW X, S. 889)
Diese Appellation weist mehrere mit den vorangegangenen Äußerungen seiner Opponenten übereinstimmende Bestimmungen auf. Zum einen nutzt Thomas Mann – wie schon sein Briefpartner Ponten und die sich auf diesen berufenden »Jungen« – die Sprache zur Markierung eines Generationenbewusstseins. Auch er formuliert seine Aussagen in der ersten Person Plural – und integriert sich damit in eine Gruppe, die durch Attribuierung als »jung« implizit von der Generationsgemeinschaft der damals »Älteren« abgegrenzt wird. Auch er verwendet Begriffe und figurative Ausdrücke aus dem Umfeld von Kampf und existenziellem Einsatz: »Leidenschaft«, »Heldentum«, »Zusammensturz der Welt«, »Katastrophe« und »Lebenskampfbedingungen« sind Vokabeln, die sich an den Diskurs einer noch immer vom Weltkrieg erschütterten Kultur assimilieren. Zum anderen bestimmt er als Signum dieser seiner Generation eine Lebens- und Kunstform, die durch Bearbeitung der Problemkreise »Erkenntnis und Form« sowie »Moral und Kunst« mittels der personalen Eigenschaften »Leidenschaft«, »Askese« und »Heldentum« konstituiert wird. Damit schreibt er sich und seiner Generation das Projekt einer ästhetisch-heroischen Lebensform zu. Die Reichweite einer solchen Zuschreibung lässt sich nur unter Berücksichtigung der historischen wie der aktuellen Dimensionen dieser Äußerung erfassen. In historischer Perspektive konstruiert ihr Autor, der sich frühzeitig als »Nationalschriftsteller« mit universalem Adressatenkreis festlegte, nun einen Zusammenhang mit unterschiedlichen Ausprägungen einer partikularen Bewegung, die seit Beginn der 1890er Jahre in zumeist generationstypisch gleich gelagerten Gruppen und Zirkeln auf je eigene Weise gegen verflachte Bürgerlichkeit, Akademismus und bornierten Fortschrittsglauben opponierte.52 Von zentraler Bedeutung ist jedoch nicht nur Thomas Manns Homogenisierung dieser divergierenden und untereinander konkurrierenden Konventikel, sondern auch die weiterführende Modifikation der ästhetisch-heroischen Lebensform in _____________ 52 Zu dieser überaus heterogenen Bewegung gehört die Gruppierung von Künstlern und Wissenschaftlern um die 1892 gegründeten Blätter für die Kunst, die als George-Kreis bekannt werden sollte und junge Autoren versammelte, die in dezidierter Abwendung von den Regeln des Marktes anfänglich rein gruppenintern kommunizierten, die in München wirkende Kosmische Runde um Ludwig Klages und Alfred Schuler sowie divergierende Zirkel in Wien und Berlin. Besondere Aufmerksamkeit der Forschung fand das Projekt einer ästhetischheroischen Lebensform in seiner wirkungsgeschichtlich wohl singulären Variante im George-Kreis; dazu umfassend Kolk: Gruppenbildung; mit ausführlichen biographischen Angaben von Freunden und Bewunderern siehe Groppe: Macht; zu den Interaktionsformen des Kreises, unter denen lautes Lesen, gemeinsame Mahlzeiten und das Abschreiben ausgewählter Dichtung auf einen vollständigen affektiv-sozialen Sozialisationsprozess zielen, siehe Braungart: Ästhetischer Katholizismus.
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Folge des Ersten Weltkriegs. In den knappen Worten »Wir hatten zu bekennen, uns zu ordnen, uns zu berichtigen, uns zu bezwingen […]« fasst Thomas Mann seinen ganz eigenen Entwicklungsgang zusammen, exponiert dessen Ergebnisse als übergreifende Leistung der Angehörigen seiner nicht näher spezifizierten Altersgemeinschaft und modelliert sie zugleich in einer Weise, die seine so errungene Position kompatibel mit Lage und Aufgabe der gegenwärtig jungen Generation werden lässt. Diese Modellierung einer gleichgerichteten, über die Grenzen von »Nationen und Generationen« (GW X, S. 890) hinausgehenden Arbeit am Geist gewinnt vor dem Hintergrund der knapp skizzierten Entwicklungen innerhalb der aktuellen kulturellen Öffentlichkeit an Plastizität: Gegen die Stellungnahme Josef Pontens und die Zustimmungserklärungen der »Jungen«, die Thomas Mann als Autor einer »vergangenen Welt« auszugrenzen suchen und sein Werk allenfalls für den »Markt der Alten« gelten lassen, verteidigt Thomas Mann seine Stellung als gruppenübergreifender Repräsentant einer intellektuellen Kultur, die er als »Partei der geistigen Menschen« bestimmt und von der Partei der »ungeistigen, gegenseitigen« (GW X, S. 889) abgrenzt. Mit der expressis verbis vorgenommenen Reduktion der komplexen kulturellen Bewegungen der 20er Jahre auf ein diametrales Zwei-Parteien-System und einer klaren positionalen Zuordnung verliert der Gegensatz zwischen Jung und Alt an Bedeutung, zählen doch angesichts einer geschlossenen Front des Ungeistes nun nur noch Solidarität und Verständigung: Die Feindseligkeit der Partei der Ungeistigen gegen die unserige – ich sage ›die unsrige‹, junge Leute, ohne Unterschied von jung und alt! – ist heute kaum noch einer Steigerung fähig, die Parteidisziplin, die Solidarität dort drüben instinkthaft und unverbrüchlich. Wir sollten, im letzten und wenn es ums Ganze geht, was es heute fast immer tut, es an solcher Einmütigkeit, an solchem Zusammenhalten nicht fehlen lassen, möge es auch schwerfallen. (Ebd., S. 890)
Doch sind die Worte an die Jugend vom Januar 1927 nicht allein ein Versuch, einen kulturellen Geltungsanspruch zu behaupten und mit dem Aufruf zur »Solidarität« der geistigen Arbeiter neu zu befestigen. Ihre in der Beschwörung des Kämpferischen und Heroischen konvergierende Rhetorik verweist zudem auf eine genaue Beobachtung jener kulturellen Deutungsmuster, die sich in den Äußerungen der jungen ebenso wie in der Publizistik der etablierten älteren Generation fanden. Sie greift zudem auf Muster der Wahrnehmung des Autors in der kulturellen Öffentlichkeit zurück, die sich im Jahr seines 50. Geburtstags zu einer Fülle von hymnischen Ehrungen verdichtet hatten und als deren exemplarisches Zeugnis die Glückwünsche des nun seinerseits generationsspezifische Bindungen – und ihre Überwindung – deklarierenden Hermann Bahr gelten können:
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Aus unserer Generation des ›jüngsten Deutschland‹, einer durchaus dem Impressionismus hörigen Generation erwachsen, aber ihr geistig unwillkürlich immer mehr nach der neuen, kommenden hin entwachsend, deren gewaltigem Drang nach Ueberwindung alles Relativen, alles Unsteten, alles bloß Okkasionellem, nach Erkenntnis nicht bloß, sondern nach tätiger Anerkennung und freudiger Ausübung des Absoluten, des Unbedingten, des in sich selbst Ruhenden er sich aber dann selber doch niemals völlig gewachsen fühlt, wird er in seiner Entschlossenheit, sich dieser Bedrängnis tapfer zu stellen, auf nichts in sich zu verzichten, nichts von sich zu verleugnen, immer wieder von neuem produktiv, das schönste Beispiel eines heroischen Künstlers in unserer Zeit.53
Diese Stilisierung als das »schönste Beispiel eines heroischen Künstlers in unserer Zeit« hat sich der Autor offenbar gemerkt und in die späteren Worte an die Jugend eingespeist. Die mehrfach adressierte Botschaft maximiert die Eigenschaften des generationell geprägten, doch wandlungsfähigen Künstlers, der seine Identität aus einer heroischen Behauptung unter harten »Lebenskampfbedingungen« gewinnen und diese Behauptungsleistung als Brücke zwischen junger und alter Generation anbieten konnte. Auch wenn vereinzelte Stimmen wie etwa der 1928 die Generationen der Dichter im »verstreuten Wegwirrwarr der deutschen Gegenwart« musternde Richard Bie eine aufsteigende Linie in der Folge Gerhart Hauptmann, Brüder Mann und Hanns Johst erkannte und den »nach dem Bürgertum« gerichteten Thomas Manns als »endgültig« überlebten »Stilist[en] des bürgerlichen Interieurs« abtat,54 hatte dieser Ende der 1920er Jahre eine Position als Nationalschriftsteller wieder gewonnen, die von den hochfahrenden Neutönern um 1924/25 zwar kurzzeitig in Frage, doch nicht ernsthaft zur Disposition gestellt werden konnte: Mit der Verleihung des Nobelpreises im November 1929 – und zwar ausdrücklich für die zum deutschen Buch erklärten Buddenbrooks – waren die Debatten um eine Rolle als kultureller Repräsentant vom Tisch. Dem Bruders Heinrich Mann blieb es vorbehalten, in seiner Rundfunkrede zur Verleihung des Nobelpreises am 12. November 1929 zentrale Termini der Selbst- und Fremddeutungen des Großschriftstellers aufzunehmen und den universalen Bezug seines Werkes herauszustellen. »Als aber Thomas Mann Buddenbrooks schrieb, war er ein alleinstehender, innerlich noch nicht gefestigter junger Mensch«, der nicht nur »Zweifel an seiner Kraft«, son_____________ 53 Bahr: Mann, S. 831. 54 Bie: Generationen, S. 192f.: »Denn Thomas Mann trachtete nach dem Bürgertum und errichtete ihm noch in seinem Künstlertum den Thron eines bürgerlichen Stils: seitdem aber das Bürgertum unweigerlich seinen Untergang bereitet hatte, blieb Thomas Mann hilflos. Das ist die Tragödie seines halbseitigen Künstlerblutes, seiner verlorenen Sehnsucht, seines politischen Umfalls. Er wurde ein Stilist des bürgerlichen Interieurs, ein Psychologe des bürgerlichen Stillebens; seitdem schildert er nur noch tote Natur. Die Errichtung des Weltbürgertums auf demokratischer Grundlage ist die letzte Utopie Thomas Manns, der vom Bürgertum nicht lassen kann. […] Die Zeiten sind endgültig vorbei, wo sich das reimt«.
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dern zugleich auch »Scheu vor der Menge« kannte, hieß es über die Verfassung des ehemaligen literarischen Außenseiters.55 Der »heranwachsende Schriftsteller«, so Heinrich Mann weiter, erforschte für seinen Teil die Ursprünge einer seelischen Gemeinschaft, die Deutschland heißt, er wünschte den Neigungen und Zielen dieser seelischen Gemeinschaft zu entsprechen – wenn noch nicht sogleich von Natur aus, dann auf die Dauer durch Hingabe und treue Arbeit. Er hat besonders deutsche, diesem Volk besonders dienliche und erwünschte Werke vollbringen wollen und fand in sich sowohl die Liebe als den kritischen Sinn.56
Mit dieser Erhebung des international prämierten Bruders zum literarischen Sprachrohr für die »seelische Gemeinschaft, die Deutschland heißt« und der Erklärung seiner Werke als »besonders deutsche, diesem Volk besonders dienliche und erwünschte Werke« nivellierte Heinrich Mann aber nicht nur die partikularen Bindungen an generationsspezifische Prägungen und Tendenzen, sondern ebnete zugleich alle Differenzen zwischen den Rezipienten und ihren gar nicht so feinen Unterschieden ein. Eine »seelische Gemeinschaft« namens Deutschland war im November 1929 nur in der Imagination eines Literaten zu finden. III. Jahrgang 1875 – ein generationsspezifischer »Bildungsvorteil«? Als Thomas Mann im Mai 1950 seinen Vortrag Meine Zeit hielt, stand er im gleichen Lebensjahr wie Goethe, als dieser im Gespräch mit Johann Peter Eckermann den »großen Vorteil« seiner Geburtszeit in jener besonderen Konstellation erblickte, in der die größten Weltbegebenheiten an die Tagesordnung kamen und sich durch mein langes Leben fortsetzten, so daß ich vom Siebenjährigen Kriege, sodann von der Trennung Amerikas von England, ferner von der Französischen Revolution und endlich von der ganzen Napoleonischen Zeit bis zum Untergang des Helden und den folgenden Ereignissen lebendiger Zeuge war.57
Die historischen Erfahrungen hätten ihm, so Goethe weiter, zu »ganz anderen Resultaten und Einsichten verholfen«, als jene Akteure gewinnen könnten, die »jetzt«, das heißt im Jahr 1824, geboren würden. – Nun ist der Geburtsjahrgang zwar für das jeweilige Individuum ein absolutes Datum, doch im Vergleich lebenszeitlicher Erfahrungsräume relativ: Eine besondere historische Ergiebigkeit der eigenen Lebenszeit bleibt jenseits persönlicher Verfügungsgewalt, kann also weder intentional gesteuert noch als eigene Leistung qualifiziert werden; die Auszeichnung außeror_____________ 55 Heinrich Mann: Nobelpreis, S. 167. 56 Ebd. 57 Goethe: Gespräch mit Eckermann am 25.2.1824. In: Biedermann: Goethes Gespräche, S. 30.
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dentlichen Erfahrungsreichtums ist vor dem Hintergrund nachfolgender Entwicklungen stets vorläufig und kontingent. Das wusste auch Thomas Mann; und dennoch behauptete er einen altersgemeinschaftlich bestimmten »Vorteil«, den der von 1875 geltend machen kann gegen den 1914er oder noch spätere: Es ist kein kleines, dem letzten Viertel des Neunzehnten Jahrhunderts – eines großen Jahrhunderts –, der Spätzeit des bürgerlichen, des liberalen Zeitalters noch angehört, in dieser Welt noch gelebt, diese Luft noch geatmet zu haben; es ist, so möchte man in Altershochmut sagen, ein Bildungsvorteil vor denen, die gleich in die gegenwärtige Auflösung hineingeboren sind, – ein Fond und eine Mitgift von Bildung, deren die später Angekommen entbehren, ohne sie natürlich zu vermissen. (GW XI, S. 305)
Diesen Gedanken der Teilhabe an einer kohortenspezifischen Erfahrungsgemeinschaft führte er einige Absätze weiter aus – nachdem er die Zugehörigkeit zu einer literarischen Schule wie zu einer »Koterie« in der eingangs zitierten Weise verneint hatte. Mit den im ersten Jahrzehnt nach der Reichsgründung von 1871 geborenen Altersgenossen verbinde ihn zum einen das Erleben großer zeitgeschichtlicher Ereignisse, zum anderen ein generationsspezifischer »Bildungsvorteil«: Wenn ich aber von einem Vorteil sprach, den der 1875 Geborene vor denen besitze, die gleich in die nachbürgerliche Welt eintraten, und zwar von einem Bildungsvorteil, so meinte ich dies: daß wir Alten die Reaktion auf Liberalismus und Rationalismus noch in der Form höchster Bildung, als dunkle Spielart des Humanismus gekannt haben; als einen Pessimismus, der die Prosa unserer großen humanen Bildungsepoche schrieb und dessen stolze Misanthropie nie die Ehrfurcht vor der Idee, der höheren Berufung, der Würde des Menschen verleugnete. (Ebd., S. 315)
Diese Deklaration eines generationsspezifischen »Bildungsvorteils« ist aus mehreren Gründen von Interesse. Zum einen liefert der als Zeit-Deuter auftretende Sprecher materiale Bestimmungen einer individuenübergreifenden Formation, die mit einer zeithistorischen Markierung – dem Geburtsjahrgang 1875 – und geistig-kulturellen Prägungen verknüpft wird. Zum anderen steigert er diese Qualifikationen durch explizite wie implizite Abgrenzungen zu einem Kollektivbewusstsein, als dessen Repräsentant er auftritt: Was Thomas Mann sich und seiner explizit als »wir Alten« markierten Altersgruppe zuschreibt, sind Sozialisationserfahrungen, die als symbolisches Kapital aufgefasst und gegen anders strukturierte Erfahrungen der historisch nachfolgenden Generationen ausgespielt werden. Mit dieser Aufwertung eines »Bildungsvorteils«, also eines altersgemeinschaftlichen Erfahrungshorizonts zu einer im kulturellen Feld relevanten Kapitalsorte konstruiert der alte Thomas Mann eine Asymmetrie zwischen den Generationen – und folgt damit einem Muster, das sich seit der Ausdifferenzierung des Literatursystems in der Mitte des 18. Jahrhunderts beo-
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bachten lässt. Die Besonderheit seiner asymmetrischen Modellierung des Generationenverhältnisses aber besteht in einer Modifikation beziehungsweise Inversion bisheriger Muster. Seit dem Sturm und Drang als der »ersten deutschen Jugendrevolte«58 nutzen vornehmlich junge Autoren die öffentliche Zusammenfassung zu (exklusiven) Gruppen, die sich weniger nach gesellschaftlichen Rollen, als vielmehr auf Basis von Primärerfahrungen und gleichsam ›natürlichen‹ Merkmalen wie Alter und Geschlecht konstitutieren. Partikulare Gemeinschaften, die aufgrund analoger Sozialisationserfahrungen im kulturellen Raum übereinstimmende Einstellungen ausbilden und diese gegen etablierte ältere Positionsinhaber durch neue beziehungsweise abweichende Themen und Textverfahren zur Geltung zu bringen suchen, stabilisieren sich durch gemeinsame Gegnerschaft; ihr Kampf um Akzeptanz wird als Konflikt zwischen innovativen Jungen und überlebten Alten visibilisiert und die Epochenschöpfung als Modell kultureller Innovation eingeführt. Wenn der 75-jährige Thomas Mann 1950 sich und seine Altersgenossen als »wir Alten« tituliert und explizit von den später geborenen, »gleich in die nachbürgerliche Welt« eingetretenen Generationen abgrenzt, dann kehrt er das bislang praktizierte Muster einer Akkumulation kohortenspezifischen Kapitals um. Er folgt darin nicht nur dem mehrfach imitierten Goethe, sondern reagiert unmittelbar auch auf die aktuelle Verfassung des literarischen Feldes. 1947 hatte Alfred Döblin – der seine Stellung in deutschen Öffentlichkeit zurückzuerobern suchte und dazu das eigene Werk als »geistesrevolutionär« gegen den bürgerlichen Humanismus Thomas Manns positionierte – die jungen Autoren Wolfgang Grothe, Paul E. H. Lüth und Egon Vietta beauftragt, in der von ihm herausgegebenen Literaturzeitschrift Das goldene Tor das Werk Thomas Manns als Musterbeispiel großbürgerlicher Degeneration zu destruieren.59 Gegen diese und andere Versuche, ihm seinen Rang abzusprechen und in die Nähe eines feudalen Konservativismus zu rücken, wendet sich Thomas Mann, wenn er gegenüber dem »1914er oder noch spätere[n]« sein generationelles Kapital ins Feld führte. Doch mehr noch. Mit der Exponierung eines kohortenspezifischen ›Bildungsvorteils‹ legt er eine Klassizität nahe, die auf der Universalisierung von partikularen Bindungen beruhte. Deren explizit behauptete Dignität besteht darin, daß Einer, dessen Lebensspanne in zwei Epochen liegt, die Kontinuität, das Übergängliche der Geschichte erfährt. Denn in Übergängen, nicht sprungweise vollzieht die Geschichte sich, und in jedem Ancien Régime sind die Keime des Neuen schon lebendig und geistig am Werk. (GW XI, S. 305)
_____________ 58 Eibl: Jugendrevolte. 59 Vgl. [Döblin:] Das Werk, S. 741; Lüth: Über das Werk, S. 742–752; Vietta: Mann, S. 752– 755; Grothe: »Tod in Venedig«, S. 756–758. Dagegen Rilla: Literatur.
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Dieser vermeintlich kohortenspezifische »Bildungsvorteil« bleibt jedoch trotz seiner rezeptionslenkenden Wirkungsmächtigkeit eine Fiktion. Bei Musterung der Angehörigen von Thomas Manns Geburtsjahrgang 1875 ist festzustellen, dass weder ein übergreifendes humanistisches Bewusstsein noch die vermeintlich übergreifend erlebte »Form höchster Bildung« zu einer übereinstimmenden Generationseinheit führte. Die literarischkulturell tätigen Angehörigen dieser Kohorte weisen vielmehr extrem disparate Biographen auf – und dokumentieren damit die Problematik generationstypologischer Zuweisungen, die sich aus den performativen Dimensionen des Generationenbegriffs ergeben.60 Generationsspezifische Selbstwahrnehmungen unterliegen wie alle Formen des Zugangs zur eigenen Person einer stets möglichen Stilisierungsgefahr. Ihre Konstruktion erfolgt im Ergebnis von bewussten wie unbewussten Distinktionsstrategien, sind also stets als kalkulierte Effekte zu beschreiben, zu deuten und zu erklären. Wenn sich Thomas Mann im Rückblick einen »Bildungsvorteil« zuschreibt, dann aus Gründen, die seinen bereits frühzeitig gewonnenen Einsichten in die Muster und Adressierungsweisen literarischer Beziehungspolitik korrespondieren. Sie bilden zentrale Bedingungen für den Erfolg des Großschriftstellers und sind zum Abschluss noch einmal thesenhaft verknappt zu formulieren: (1) Seit seiner Frühzeit agiert Thomas Mann als engagierter Solitär, für den wechselnde gruppenbezogene Positionierungen eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen. Indem er sich einer expliziten Integration in partikulare Tendenzen und Gruppennormen entzieht und seine literarische Produktion zu einer universal adressierten Prägung bürgerlicher Normen und Werte stilisiert, gewinnt er Leserschichten, die eine dauerhafte Rezeption seiner Werke sicherten (und bis heute sichern) – denn allen kulturkritischen oder kulturrevolutionären Abgesängen zum Trotz erhielt, ja verbreiterte sich dieses bürgerliche Publikum. Dauerhafte Rezeption aber ist eine Bedingung von Ruhm. Und so sicherte gerade der Verzicht auf ein kurzzeitiges Aufglühen in einer kulturellen Generation oder einer literarischen Schule jene ruhmreiche Repräsentanz, die der Schriftsteller in literarischen Gestaltungen imaginierte und sich in autobiographischen Darstellungen selbst zuwies. (2) Die unterschiedlichen Ausgestaltungen der bei deklarierter Singularität vollzogenen Beziehungspolitik folgen je _____________ 60 Zu den Angehörigen von Thomas Manns Geburtsjahrgang zählen u.a. der als Dadaist und Begründer der Ersten Intertellurischen Akademie hervortretende Johannes Baader (1875– 1955), der als Publizist u.a. für Maximilian Hardens Zukunft schreibende Georg Bernhard (1875–1944), der als völkisch-nationaler Verfasser des Romans Volk ohne Raum bekannt gewordene Hans Grimm (1875–1959), der in Georges Blättern für die Kunst publizierende Lyriker Henry von Heiseler (1875–1928), der Begründer der analytischen Psychologie Carl Gustav Jung (1875–1961), Rainer Maria Rilke (1875–1926) und der Pädagoge Gustav Wyneken (1875–1964).
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spezifischen Ausdrucks- und Distinktionsbestrebungen. Wenn Thomas Mann den Durchgang durch die ›naturalistische Schule‹ noch 1926 als Grund für spezifische Textverfahren benennt oder die Kopie des durch Hermann Bahr verkörperten Symbolismus zu einer wesentlichen Voraussetzung für die Entwicklung des eigenen Stils erhebt, dann handelt er als Autor, der die Rezeption seiner Texte zu steuern sucht. Wenn er in den Worten an die Jugend von 1927 den Gegensatz der Generationen im Projekt einer ästhetisch-heroischen Lebensform aufzuheben glaubt, tritt er als Kulturpolitiker auf, der sich und seine Arbeit am ›Geistigen‹ als ein übergreifendes Unternehmen anbietet und zugleich Angriffe seitens der ›Jungen‹ abzuwehren hat. Wenn sich der 75jährige zum Sprachrohr einer alters- und sozialspezifisch konstituierten Erfahrungsgemeinschaft des bürgerlichen Zeitalters erklärt und dabei die durch Geburtsjahrgang zugänglichen Bildungserlebnisse als generationsspezifischen »Vorteil« deklariert, zielt er auf die Sicherung von Repräsentanz unter veränderten Bedingungen. (3) Gemeinsamer Nenner dieser Anstrengungen ist das Agieren im Modus einer permanenten Selbsterfindung und Selbstmodellierung. Dieses Verfahren wurde schon von zeitgenössischen Kollegen erkannt – am schärfsten wohl von Alfred Döblin, der in seinem Nachruf unter dem Titel Vom Verschwinden Thomas Manns dem stilisierten »Geschöpf« des Großschriftstellers eine »Schar lebendiger und wirklich als Person existierender Schreiber« gegenüberstellte und urteilte: Es gab diesen Thomas Mann, welcher die Bügelfalte zum Kunstprinzip erhob, erheben wollte, und mehr brauchte man von ihm auch nicht zu wissen. Er vertrat nämlich das gesamte mittlere und höhere Bürgertum im Lande, das über eine mäßige Bildung verfügte, und sich um einige überlieferte Namen der klassischen Bildung gruppierte. Für die Bedürfnisse dieser großen und immobilen Schicht schrieb er und modellierte er sich selber.61
Möglicherweise können die permanenten Neuerfindungen eines Autors für die Bedürfnisse einer großen und immobilen Schicht bürgerlicher Leser als Bedingung für Ruhm und dauerhafte Rezeption aufgefasst werden. Ob der Verzicht auf generationsspezifische Resonanzräume und die Stabilisierungseffekte einer literarischen Schule seit den Anfangsschritten im literarischen Feld kalkuliert war oder ein nicht kalkulierbares Glück (beziehungsweise vielleicht sogar Unglück) des individualisierten Autors darstellen, der aufgrund von persönlichen Dispositionen und literarischen Entwicklungen keinen Zugang zu einer starken Bindungsmacht fand, kann hier jedoch nicht mehr beantwortet werden.
_____________ 61 Döblin: Werke, S. 575–577.
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Ralf Klausnitzer
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Register
Abusch, Alexander 366 Adolphs, Dieter Wolfgang 165 Adorno, Theodor W. 22, 116f., 216 Agnon, Samuel Josef 294 Améry, Jean 8 Andersch, Alfred 6 Aquin, Thomas von 20 Bachofen, Johann Jakob 471 Back, Hanne 51 Bahr, Hermann 168, 185, 463, 466, 471, 477 Baring, Arnulf 317 Bartels, Adolf 333 Batoni, Pompeo 180 Baudelaire, Charles 295 Baum, Vicki 98 Becher, Johannes R. 2, 361, 371, 379 Benjamin, Walter 106, 339 Benn, Gottfried 14–18, 20, 299 Berendsohn, Walter A. 6, 164, 168 Berger, Elmer 406 Bermann Fischer, Gottfried 125f., 146, 148, Bertaux, Félix 88 Bertheau, Jochen 165, 168 Bertram, Ernst 22, 48, 50, 52, 56ff., 62f., 65ff., 70ff., 75ff., 87f., 138, 284, 289, 417 Bie, Richard 478 Bielschowsky, Albert 89 Bierbaum, Otto Julius 62 Bilse, Fritz Oswald 210f. Binding, Rudolf G. 141 Bitterli, Urs 12 Blüher, Hans 304f., 307f., 311 Boehlich, Walter 374 Boisserée, Johann Sulpiz M. D. 445 Böll, Heinrich 422
Bonsels, Waldemar 141 Borchardt, Rudolf 50 Böschenstein, Bernhard 224 Bourdieu, Pierre 7, 86, 237–241, 341 Bourget, Paul 168 Boy-Ed, Ida 86 Brandes, Georg S. 196 Braungart, Wolfgang 285 Brecht, Bertolt 37, 295, 329, 421 Brecht, Walther 51f., 60, 63, 65 Breloer, Heinrich 342–345 Broch, Hermann 20, 98f., 105, 110f., 423 Brody, Daniel 105 Bronnen, Arnolt 12 Bruhns, Johann Ludwig Hermann 401f. Bruhns, Wibke 343 Brüll, Oswald 142 Brümmer, Franz 458 Buber, Martin 277–284, 294 Buber, Salomon 279 Büchner, Georg 305 Busse, Carl 467 Cervantes, Miguel de 331 Cohen, Morris; siehe Brandes, Georg Cohn, Dorrit 224 Conrad, Joseph 144 Conrad, Michael Georg 167f., 462 Dallago, Carl 201 D’Annunzio, Gabriele 413f. Dante Alighieri 20 Däubler, Theodor 52 Dehmel, Richard 132, 166f., 183, 462 Derleth, Ludwig 287f. Derrida, Jacques 395 Detering, Heinrich 334f., 382, 390, 405 Dickens, Charles 275 Diersen, Inge 163
490 Dietrich, Marlene 351 Dilthey, Wilhelm 88 Döblin, Alfred 13f., 17, 98–103, 106f., 110–113, 116, 131, 136, 149, 299, 481, 483 Dohm, Hedwig 393 Domela, Harry 144 Dostojewskij, Fjodor M. 20f., 418, 441ff., 465 Droemer, Adalbert 147–150 Ebermeyer, Erich 164ff., 184 Ebert, Friedrich 302 Eckermann, Johann Peter 479 Ehrenberg, Paul 192, 194, 392 Eickhölter, Manfred 332 Einstein, Carl 14, 98, 101, 107 Eloesser, Arthur 49, 141f., 164, 184 Elsaghe, Yahya 396 Enzensberger, Hans Magnus 40 Ermatinger, Emil 51, 57, 63, 65, 67 Ernst, Paul 52 Etty, William 180 Eysteinsson, Astradur 100 Fabio, Udo di 317 Falkenberg, Hans-Geert 356f. Feld, Leo 212 Fenner-Brehmer, Hermann 180 Fest, Joachim 6, 381 Feuchtwanger, Lion 98 Fischer, Samuel 13, 125f., 128, 131f., 135, 137, 139f., 142, 145, 148–152, 404 Flake, Otto 131 Flaubert, Gustave 238f., 277, 288ff., 293 Fleißer, Marieluise 98 Fontane, Theodor 38, 105, 132 Foucault, Michel 327 Franck, Georg 125 Fred, W.; siehe Wechsler, Alfred Frenssen, Gustav 130 Freud, Sigmund 20, 185, 471 Frey, Alexander Moritz 144 Friedell, Egon 463 Friedrich II. (Friedrich der Große) 63, 209 Galsworthy, John 144 George, Stefan 129, 214, 277, 283–288, 294f., 305, 311, 455
Register
Geertz, Clifford 372, 374f., 379, 381 Gide, André 19, 91 Giehse, Therese 396 Goethe, Johann Wolfgang 15, 20f., 38, 44, 47, 52, 61, 68f., 87, 89, 92, 106, 111, 134, 140, 144, 168, 185, 193, 201, 207, 210–216, 248, 300, 320f., 327, 333, 344, 358f., 362f., 366f., 376, 411, 418, 422, 435ff., 439f., 442–445, 447ff., 457f., 479, 481 Goffman, Erving 196 Goldhagen, Daniel 396 Goll, Thomas 365 Görtemaker, Manfred 337 Grass, Günter 41, 422 Grautoff, Otto 23, 42, 85, 324, 464f., 467 Grimm, Hans 321 Gronicka, André von 93 Groppe, Carola 63 Grothe, Wolfgang 481 Gulbransson, Olaf 145 Gundolf, Friedrich 52, 89, 284 Hamburger, Käte 41, 57, 59–62 Hamsun, Knut 168, 185, 464 Handke, Peter 422 Harich, Wolfgang 366 Harpprecht, Klaus 380f. Haug, Hellmut 165 Hauptmann, Gerhart 12f., 37, 90, 128– 134, 136, 140, 214ff., 302, 325, 470, 478 Havenstein, Martin 72 Hayms, Rudolf 455 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 363 Heidegger, Martin 275, 295 Heilbut, Anthony 391 Heimann, Moritz 125, 137 Heine, Heinrich 185, 195f., 344, 455 Heinsius, Walther 164, 184 Helbling, Carl 61 Henner, Jean Jacques 180 Herder, Johann Gottfried 373 Hermand, Jost 365 Herz, Ida 168 Herzog, Wilhelm 417 Hesse, Hermann 136, 203, 392 Hindenburg, Paul von 309
Register
Hirschfeld, Magnus 194 Hitler, Adolf 12, 296, 307–311, 313, 317, 320, 331, 343, 364, 392 Hobbes, Thomas 319 Hofmann, Hasso 319 Hofmannsthal, Hugo von 52, 66, 132, 249, 470 Hölderlin, Friedrich 295, 448, 450 Holthusen, Hans Egon 2 Holz, Arno 90 Homer 20, 185 Hübinger, Paul Egon 48 Huch, Ricarda 52, 472f. Hufeland , Christoph Wilhelm 363 Hutter, Theodor 195 Ibsen, Henrik 132, 168, 470 Jacobs, Gerhard 61 Jacobsen, Jens Peter 168 Jäger, Georg 127 Jancke, Oskar 51, 71 Jeanne d’Arc 311 Jodl, Friedrich 279 Johst, Hanns 478 Jonas, Klaus W. 49, 164 Joyce, James 19, 45, 90–94, 105, 116 Kafka, Franz 19, 294, 324 Kahler, Erich 12, 105 Kalkschmidt, Eugen 85 Kamnitzer, Heinz 366 Kapp, Max 57f. Kayser, Rudolf 132 Kehlmann, Daniel 152 Keller, Gottfried 185 Kerr, Alfred 67, 329 Kessel, Martin 50, 55, 72 Kesting, Hanjo 339 Keun, Irmgard 98, 102 Keyserling, Hermann Graf 52, 150 Kielland, Alexander Lange 185 Kiepenheuer, Gustav 150 Kierkegaard, Søren 371 Kläber, Kurt 144 Kleist, Heinrich von 418, 436 Kluckhohn, Paul 52 Knaur, Theodor 147, 150 Knopf, Alfred A. 140, 151 Koestler, Arthur 381 Kogon, Eugen 376, 381
491 Kolb, Annette 6 Kolk, Rainer 67 Kollmann, Erich 60 Kommerell, Max 287 Koopmann, Helmut 98 Körner, Christian Gottfried 441 Korrodi, Eduard 41 Kronberger, Maximilian 286f. Kuhlmann, Andreas 338 Kundera, Milan 275 Kunz, Joseph 11 Kurz, Isolde 52 Kurzke, Hermann 380 Landauer, Gustav 281 Landmann, Edith 287 Lange, Wigand 365 Langen, Albert 194 Lenz, Siegfried 422 Lepenies, Wolf 338 Lessing, Theodor 197 Levin, Harry 91, 93f. Leyen, Friedrich von der 39, 74f. Lie, Jonas 185 Liebermann, Max 139f., 143 Liliencron, Detlef von 192 Lion, Ferdinand 396 Litzmann, Berthold 48, 50, 64, 73 Loerke, Oskar 137, 152 Lübkert, Carl A. 143 Lublinski, Samuel 62, 89f., 467f. Lühe, Irmela von der 333 Luhmann, Niklas 224f., 237f. Lukács, Georg 5, 52, 366 Lukrez 20 Lüth, Paul E. H. 481 Magerski, Christine 239 Magnes, Judah 278 Mann, Erika 40ff., 45, 340, 394, 435, 459 Mann, Elisabeth 42, 45, 340, 394 Mann, Friedrich (Friedel) 389 Mann, Frido 336, 341 Mann, Golo 42, 45, 340, 394, 404, 435 Mann, Heinrich 7f., 12f., 15f., 19, 39, 67, 87, 98, 108f., 129, 153, 195, 203, 209, 214, 277, 291, 302, 333, 381, 391, 393, 395, 397, 399, 402, 405, 414–418, 462, 478f.
492 Mann, Julia (geb. da Silva Bruhns) 390, 393, 395, 400ff., 406 Mann, Katia (geb. Pringsheim), 39f., 125, 197, 199, 209, 310, 335, 340, 372, 387, 390, 393–397, 399, 442, 461 Mann, Klaus 39, 42, 45, 312f., 333, 340f., 396, 402, 459 Mann, Michael 42, 45, 340, 394 Mann, Monika 42, 45, 333, 340, 394 Mann, Thomas Johann Heinrich 390, 393, 402, 458 Mann, Viktor 388, 401 Marcuse, Ludwig 354 Martens, Ernst 180 Martens, Kurt 438, 467 Marx, Friedhelm 289 Matt, Peter von 207f., 213 Matussek, Matthias 317 Maupassant, Guy de 185 Mayer, Hans 20, 168, 357, 372, 375– 379, 381 Maync, Harry 50ff., 63, 70 Max, Gabriel 177 Maximin; siehe Kronberger, Maximilian Mehring, Walter 148 Mende, [Karl] Erich 135 Mendelssohn, Erich von 69 Mendelssohn, Peter de 126, 136, 146, 163ff., 168 Mercanton, Jaques 93 Mérimée, Prosper 196 Meyer-Benfey, Heinrich 87, 469 Midell, Eike 2 Miegel, Agnes 52 Molo, Walter von 141, 360, 365 Mörike, Eduard 2 Motschan, Georges 372 Mueller-Stahl, Armin 344 Mühsam, Erich 203 Müller, Friedrich Theodor Adam Heinrich von 445 Müller, Georg 127 Muncker, Franz 50f., 71 Muschg, Adolf 127 Musil, Robert 1, 19, 98f., 101f., 108, 110f., 115, 127, 141, 275, 423f., 463 Muth, Karl 367
Register
Nadler, Josef 51f., 63 Naumann, Friedrich 61 Naumann, Hans 51, 63 Neumann, Michael 89 Niekisch, Ernst 10 Nietzsche, Friedrich 9, 22, 38, 59, 61, 74, 168, 185f., 194, 196, 214, 241, 276f., 285, 288f., 291, 322, 325, 376, 399, 411, 416, 418, 425, 433, 436ff., 440–443 Novalis 61 Oellers, Norbert 211f. Orlowski, Paul 449 Ottwalt, Ernst 354 Pannwitz, Rudolf 52 Paul, Jean 61 Penzoldt, Ernst 356 Peter, Hans Armin 50, 62, 72 Petersen, Julius 50, 63 Petsch, Robert 52 Pfitzner, Hans 20 Pindar 295 Platen, August von 414 Platon 185, 395 Poe, Edgar Allan 392 Ponten, Josef 144, 215, 458ff., 471–477 Prater, Donald 318, 380 Pringsheim, Alfred 387f., 390, 393–397, 399 Pringsheim, Hedwig 387, 390, 393, 395ff. Pringsheim, Katharina; siehe Mann, Katia Pringsheim, Klaus 387f., 393f., 395ff. Proust, Marcel 19, 45, 91 Rauch, Karl 474 Reed, Terence J. 167, 209, 292 Rehm, Walter 70 Reich-Ranicki, Marcel 124, 300, 328, 339, 343 Reinhardt, Volker 340, 342 Reisiger, Hans 144 Reissner, Larissa 144 Remarques, Erich Maria 152 Renner, Rolf Günter 222, 228 Reuter, Fritz 185 Rilke, Rainer Maria 2, 101f., 107, 111, 421
Register
Röhm, Ernst 309, 311f. Rolland, Romain 12, 418 Rorty, Richard 275f., 295 Roussell, Theodore 180 Rowohlt, Ernst 131 Rychner, Max 5, 91 Sabais, Heinz Winfried 372f., 377f. Said, Edward 394 Sartre, Jean-Paul 20 Schäfer, Wilhelm 52, 141 Scharffenstein, Georg Friedrich 124 Schaukal, Richard von 41 Scheffauer, Hermann Georg 147 Schickele, René 8, 417f. Schiller, Friedrich 20f., 38, 45, 124, 185, 214–216, 227, 252, 333, 353–356, 358, 361ff., 367, 435–445, 447–450 Schlaf, Johannes 90 Schlegel, Friedrich 61 Schliepmann, Hans 169, 184 Schlutt, Meike 329 Schmidt-Schütz, Eva 90 Schmitt, Carl 319, 338 Schneider, Rolf 164 Schnitzler, Arthur 132, 141, 168 Schönberg, Arnold 116f. Schopenhauer, Arthur 20, 59, 61, 168, 185f., 241, 376, 418, 425 Schröter, Klaus 379 Schultz, Franz 51, 63, 78 Schulz, Wilhelm 149 Schwabe, Toni 192–195 Seghers, Anna 98 Shakespeare, William 200, 387 Silva, Maria da 401 Simmel, Georg 55, 106, 278 Sokel, Walter H. 220 Solschenizyn, Alexander Issajewitsch 41 Sontheimer, Kurt 22, 339 Spiro, Eugen 146 Spitteler, Carl 211f. Sprengel, Peter 165 Spengler, Oswald 52 Staiger, Emil 53 Steinecke, Hartmut 98 Sternberger, Dolf 351, 367 Stifter, Adalbert 71 Storm, Theodor 168, 185, 193, 197, 404
493 Strauß, Botho 422 Strauß, Richard 469 Stresau, Hermann 164 Strich, Fritz 50, 63 Süskind, Wilhelm Emanuel 92 Tennenbaum, Richard 396 Tergit, Gabriele 98 Thieß, Frank 365 Tieck, Ludwig 196 Tolstoi, Lew Nikolajewitsch 20, 50, 61, 144, 168, 185f., 436, 442ff., 465 Trakl, Georg 51 Tschechow, Anton Pawlowitsch 185 Tucholsky, Kurt 90 Turgenjew, Iwan Sergejewitsch 168, 185f., 465 Ullrich, Volker 317 Unger, Rudolf 52 Unruh, Fritz von 52 Unseld, Siegfried 127 Vaget, Hans R. 58, 90, 117, 168f., 184, 196, 219, 221, 226, 229, 231, 366 Vergil 185 Vietta, Egon 481 Vischer, Melchior 141 Vogel, Bruno 144 Voltaire 422 Wagner, Richard 20, 38, 44, 59, 61f., 85, 104, 118, 168, 185, 193, 196, 199, 241, 252, 276f., 289, 301, 313, 325, 329, 376, 397–400, 416, 418f., 435f. Walpole, Hugh 147 Walser, Martin 422 Walzel, Oskar 51 Wandrey, Conrad 52, 72 Wassermann, Jakob 141 Weber, Carl Maria 287 Wechsler, Alfred 125 Wedekind, Frank 202f. Weininger, Otto 279 Weinrich, Harald 351 Weiß, Emil Rudolf 135f., 145 Weiss, Ernst 141 Weltrich, Richard 212 Weltsch, Robert 278 Weyden, Rogier van der 180 Whitman, Walt 306ff., 312, 471 Wiegmann, Hermann 185
494 Wiertz, Antoine Joseph 180 Wilhelm II. 320f. Winkler-Buber, Paula 278 Winston, Richard 165, 168, 185 Wißkirchen, Hans 340 Witkop, Philipp 69f., 87f. Wolfenstein, Alfred 136 Wolff, Hans 185
Register
Wolff, Kurt 131 Wolters, Friedrich 284f. Wysling, Hans 461 Zils, Wilhelm 166 Zima, Peter V. 100 Zola, Émile 11, 185f. Zsolnay, Paul 150 Zweig, Arnold 98