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German Pages [353] Year 2018
Rolf Zimmermann
Ankommen in der Republik
Thomas Mann, Nietzsche und die Demokratie
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495813546
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B
Rolf Zimmermann Ankommen in der Republik
VERLAG KARL ALBER
A
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Rolf Zimmermann
Ankommen in der Republik Thomas Mann, Nietzsche und die Demokratie
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
Rolf Zimmermann Arriving in the Republic Thomas Mann, Nietzsche and Democracy By identifying with the Weimar Republic Thomas Mann sided with the German revolution of 1918 and gave a strong argument for the adequate relation of culture and politics. During that time Thomas Mann became a prominent anti-Fascist and critique of National Socialism. His political convictions and statements were deeply influenced by Friedrich Nietzsche who served him as a companion through the 20th century. This, however, leads to a republican domestication of Nietzsche which separates him from fascist usurpations. Thomas Mann’s critique and vindication of Nietzsche stimulate the philosophical evaluation in terms of historical experience. As a consequence, this study presents a new look at the analytical potential of Nietzsche’s philosophy for the 20th century (e. g. Will to Power). The book contends that not the ›whole‹ Nietzsche, but a liberal Nietzscheanism deserves serious attention for the 21st century. Adorno once said that Thomas Mann saved Nietzsche for humanity. The book elaborates the truth of this dictum on a systematic level.
The Author: Rolf Zimmermann, born in 1944, studied philosophy, sociology, and politics at the University of Heidelberg (PhD 1972). He reached his German Habilitation at the University of Konstanz. Since 1983 he teached there as a professor of philosophy. From 1988 to 2000 he was in business as a human resources manager. Thereafter adjunct professor at Konstanz and independent scholar. Books et al.: Philosophie nach Auschwitz. Eine Neubestimmung von Moral in Politik und Gesellschaft (2005); Moral als Macht. Eine Philosophie der historischen Erfahrung (2008).
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Rolf Zimmermann Ankommen in der Republik Thomas Mann, Nietzsche und die Demokratie Die deutsche Revolution von 1918 hat mit Thomas Manns Bekenntnis zur Weimarer Republik eine Affirmation erhalten, die für das Verhältnis von Kultur und Politik von großer Bedeutung ist. In dieser Zeit avanciert Thomas Mann zu einem prominenten Anti-Faschisten und Kritiker des Nationalsozialismus, wobei seine politischen Überzeugungen und Stellungnahmen durch das Werk Friedrich Nietzsches inspiriert werden. Dabei erfährt Nietzsche durch Thomas Mann eine republikanische Zähmung, die ihn von faschistischen Vereinnahmungen entlastet. So fordern Thomas Manns Kritik und Verteidigung Nietzsches zu einer philosophischen Bestandsaufnahme am Leitfaden von historischer Erfahrung auf, die neue Einsichten zum analytischen Potenzial von Nietzsches Philosophie (z. B. der Wille zur Macht) für das 20. Jahrhundert erschließt. Dies führt zu systematischen Unterscheidungen zwischen Zentrum und Peripherie eines radikalen Philosophierens mit der These, dass nicht der »ganze« Nietzsche, aber ein liberaler Nietzscheanismus auch für das 21. Jahrhundert besondere Relevanz besitzt. Der Satz Adornos, dass Nietzsche von Thomas Mann für die Humanität gerettet wurde, erlangt dadurch seine philosophische Vertiefung.
Der Autor: Rolf Zimmermann, geboren 1944 in Stuttgart, Studium der Philosophie, Soziologie und Politik in Heidelberg, dort Promotion 1972. Habilitation 1983 in Konstanz, seit 1983 Professor für Philosophie in Konstanz. Von 1988 bis 2000 Personalgeschäftsführer in einem bundesweiten Bildungsunternehmen. Danach apl. Prof. in Konstanz und Privatgelehrter. Buchveröffentlichungen u. a.: Philosophie nach Auschwitz. Eine Neubestimmung von Moral in Politik und Gesellschaft (2005); Moral als Macht. Eine Philosophie der historischen Erfahrung (2008).
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2017 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagfotos: Verlagsarchiv Herder Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48904-8 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81354-6
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Für Melanie und Tassilo
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Inhalt
Einleitung Kultur und Politik: Thomas Manns Zeitfahrt mit Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 1.2 1.3 2 2.1 2.2 2.3 2.4
Nietzsche und Thomas Mann in Zeiten des Krieges Kulturkrieg mit und gegen Nietzsche . . . . . . . . Thomas Mann und die »Ideen von 1914« . . . . . . Offenes Problem: »Demokratie des Herzens« versus realpolitische Form . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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21 22 30
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47
Nietzscheanischer Republikanismus: Thomas Mann in Weimar . . . . . . . . . . . . . . . »Deutsche Demokratie« mit Nietzsche . . . . . . . . Republik und Humanität: Ressourcen der Romantik . Republikanische Wende: Politische Identifikation und ästhetische Distanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenbilanz: Thomas Mann und Nietzsche in der Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
51 51 57 63 82
3 Nietzsche und die Politik: ein systematischer Rahmen 88 3.1 »Wille zur Macht« und politische Ambivalenz bei Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 3.2 Dionysischer Radikalismus und Politik: vier Modelle . 102 3.3 Wille zur Macht, Krieg und historische Erfahrung: Nietzsche, Max Weber und Thomas Mann . . . . . . 112
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Inhalt
4 Nietzsche-Bilder im Kontext des Faschismus . . 4.1 »Militante Demokratie« gegen Faschismus . . . . 4.2 Nietzsche contra Wagner – Thomas Mann contra Hitler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Nietzsche und Doktor Faustus . . . . . . . . . . . 4.4 Nietzsche, Leverkühn, deutsche Politik . . . . . .
. . 125 . . 126 . . 131 . . 141 . . 157
5
Der »rettungsloseste Ästhet«: Nietzsche im Sog des Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Nietzsche-Kritik und ästhetische Würdigung . . . . . 5.2 Hintergrund: Georg Lukács und die »marxistische Scholastik« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Hintergrund: Der »fürchterliche« Alfred Bäumler . .
6 6.1 6.2 6.3 6.4
»Nicht Nietzsche hat den Fascismus gemacht, sondern der Fascismus ihn« . . . . . . . . . . . . . . Thomas Mann: Nietzsche als Seismograph des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nietzsche und das 20. Jahrhundert: Moral-Kriege und große Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neue Moralen im weltpolitischen Kampf . . . . . . . Nietzsche und die Transformation des Menschen . .
7 Auf dem Prüfstand historischer Erfahrung . . . 7.1 Nietzsches fatale Sätze – peripher oder zentral? 7.1.1 Nietzsche im Kontinuitäts-Modell . . . . 7.1.2 Nietzsche und das Differenz-Modell . . . 7.2 Übermensch und Metaphysik des Diesseits . . . 7.2.1 Übermensch, ewige Wiederkehr, amor fati 7.2.2 Ausnahmemenschen und menschliche Perfektion . . . . . . . . . . . . . . . . .
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170 170 179 184
194 194 201 204 222 226 226 228 239 245 245
. . . 258
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Inhalt
7.3 Thomas Mann, historische Erfahrung, philosophische Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 7.3.1 Zentrum und Peripherie . . . . . . . . . . . . . 267 7.3.2 Historische Realität, philosophische Revisionen und Nietzsches Relevanz . . . . . . . . . . . . 274
8 Zeitfahrt mit Nietzsche ins 21. Jahrhundert . . . . . 8.1 Atheismus, Religion, kultureller Pluralismus . . . . . 8.1.1 Historischer Atheismus und die Metaphysik der menschlichen Selbstbejahung: Nietzsche und Charles Taylor . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.2 Kunst und fragmentierte Moderne: Adorno, Nietzsche, Thomas Mann . . . . . . . . . . . . 8.2 Liberaler Nietzscheanismus und Konflikt-Demokratie 8.3 Thomas Mann und Nietzsche: Kulturelle Elite in der Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
279 279
282 306 317 331
Siglen, Zitierweise, Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . 334 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347
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Einleitung
»Man muß seine Zeit ganz in ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit in sich haben, denn Vielfaches, nicht eines nur, bildet die Zukunft vor. –« Thomas Mann, Meerfahrt mit ›Don Quijote‹ 1
Kultur und Politik – Thomas Manns Zeitfahrt mit Nietzsche Die deutsche Revolution von 1918 hat mit Thomas Manns Republikrede von 1922 eine Affirmation erhalten, die für das Verhältnis von deutscher Kultur und Politik von großer Bedeutung ist. Mit seinem Bekenntnis zur Weimarer Demokratie setzt sich Thomas Mann nicht nur von seiner früheren anti-westlichen Kritik ab, sondern wird in der Folgezeit immer mehr zu einem prominenten Anti-Faschisten und Kritiker des Nationalsozialismus. In allen Phasen bilden sich seine politischen Überzeugungen und Stellungnahmen vor dem Hintergrund einer im Bürgertum beheimateten Künstlerexistenz, deren Selbstverständnis tief von deutschen kulturellen Traditionen geprägt ist. Neben Goethe, Schopenhauer und Richard Wagner ist es vor allem Friedrich Nietzsche, dem er bei der Auseinandersetzung mit seiner Zeit entscheidende Impulse verdankt. Dabei steht für Thomas Mann außer Frage, dass Nietzsches Philosophie und ihre kunstvolle Stilistik zu einer ihm verwandten Humanität gehören. Werke IX, 465. Zum Folgenden, ebd., 462, 477. Im Weiteren wird diese Werkausgabe nur mit Bandangabe, römischer Ziffer und Seitenzahl zitiert. Vgl. Literaturverzeichnis.
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Einleitung
Auf seiner Meerfahrt mit ›Don Quijote‹, die ihn im Jahr 1934 zum ersten Mal nach Amerika führt, verbindet er die Lektüre des Meisterwerks von Cervantes mit Reflexionen über die antichristliche »Exzentrizität« Nietzsches, die diesen zu einem »rührenden Helden« stilisieren, der Don Quijote kaum nachzustehen scheint. In seinem Reisebericht erinnert sich Thomas Mann kurz vor der Ankunft in New York an einen nächtlichen Traum, in dem ihm die Züge Don Quijotes mit denen von Nietzsche und Zarathustra verschwimmen. So artikuliert sich eine Gefühlslage, die »Schmerz, Liebe, Erbarmen und grenzenlose Verehrung« vereinigt. Kaum ein anderes Stimmungsbild wäre geeigneter, um eine Zeitfahrt mit Nietzsche zu beginnen, auf der Thomas Mann die Komplexität seiner Epoche verarbeitet. Im Jahr 1952 meint Adorno rückblickend, Thomas Mann habe »Nietzsche der Humanität gerettet«, doch nicht durch den Inhalt seines Werks, sondern das »Wie«. 2 Diese Einschätzung von Thomas Manns Werk greife ich als Anregung auf, um nicht nur den Nietzscheanismus Thomas Manns zu erörtern, sondern an dessen politischem Weg der Frage nachzugehen, wie die Philosophie Nietzsches auf die Herausforderungen des 20. Jahrhunderts und die Zeit danach zu beziehen ist. Die diversen Antworten auf diese Frage sind bis heute umstritten. Das liegt nicht nur an den bekannten Problemen der Nietzsche-Deutung, sondern insbesondere daran, dass ein brauchbares Konzept fehlt, um Nietzsche in politischen Begriffen auf eine Zeit außerhalb seines eigenen historischen Erfahrungshorizonts abzubilden. So überrascht es kaum, dass philosophische Ratlosigkeit um sich greift, wenn es darum geht, welche »Tragweite« der PhiTh. W. Adorno, Imaginäre Begrüßung Thomas Manns. Ein Entwurf für Max Horkheimer, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 20.2, Frankfurt/M. 1986, 467–472, ebd., 472. Horkheimer hat diese Charakterisierung sinngemäß in seiner Begrüßung Thomas Manns am 10. November 1952 in Frankfurt übernommen: M. Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 13, Frankfurt/M. 1989, 256–258, ebd., 258.
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Einleitung
losophie Nietzsches für den Nationalsozialismus zukommt. 3 Andererseits gibt es zu Genüge Antworten, die sich in Rezeptionsgeschichten ganz unterschiedlicher Art zu Nietzsche finden. Doch diese unterstreichen in ihrer Verschiedenheit nur, dass die Frage nach Nietzsches politischer Relevanz offen bleibt. So gibt es einen jüdischen Nietzscheanismus, der Gershom Scholem von einem »Judenzarathustra« sprechen lässt. Bei Leo Trotzki und Maxim Gorki tritt der sozialistische »Übermensch« in Erscheinung, und die italienischen Faschisten (Benito Mussolini) wie die Nationalsozialisten (Alfred Bäumler) beanspruchen Nietzsche für ihren militanten Heroismus. 4 An diesen politisch relevanten Zugriffen auf Nietzsche wird deutlich, dass sie aufgrund jeweils eigener politischer Überzeugungen erfolgen, von denen behauptet wird, sie stünden mit Nietzsches Philosophie in Einklang oder seien gar durch diese vorgeprägt. Es spricht alles dafür, dass die Frage, wie Nietzsches Philosophie mit der nachfolgenden Zeit politisch zu vermitteln ist, keine eindeutige Antwort zulässt. Deshalb entwerfe ich im Folgenden eine perspektivische Systematik, die anhand von Thomas Manns Zeitgenossenschaft darlegt, wie eine nietzscheanische Weltsicht mit der Verarbeitung politischer Umbrüche und Erfahrungen einhergeht, die Kultur und Demokratie in eine produktive Beziehung setzt. Ausschlaggebend dafür ist Thomas Exemplarisch: J. Derrida, Otobiographien – Die Lehre Nietzsches und die Politik des Eigennamens, in: J. Derrida/F. Kittler, Nietzsche – Politik des Eigennamens, 7–63, ebd., 53 f. Derrida bleibt eine Antwort schuldig. 4 Beispiele zur Rezeptionsgeschichte: W. Stegmaier/D. Krochmalnik (Hg.), Jüdischer Nietzscheanismus, Berlin/New York 1997 (»Judenzarathustra«, ebd., 95 f.); B. Glatzer Rosenthal, New Myth, New World. From Niezsche to Stalinism, Pennsylvania 2002; H. Günther, Der sozialistische Übermensch. M. Gorkij und der sowjetische Heldenmythos, Stuttgart/Weimar 1993; G. Penzo, Der Mythos vom Übermenschen und der Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 1992; St. S. Aschheim, Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults, Stuttgart 1992; M. Zapata Galindo, Triumph des Willens zur Macht. Zur Nietzsche-Rezeption im NS-Staat, Hamburg 1995. Zu Bäumler vgl. Kap. 5.3, zu Trotzki Kap. 6.3. 3
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Einleitung
Manns intellektueller Anspruch, der sich – bei aller Ambivalenz der künstlerischen Existenz – in eigenständigen Beiträgen zum Zeitgeschehen zeigt. Thomas Manns Bewährungsprobe wird die Kritik des Nationalsozialismus. Thomas Mann sieht in Nietzsche den Genius großer Kultur, von dem zwar keine unmittelbaren Antworten auf die eigene Zeit zu erwarten sind, dessen Geisteshaltung aber als hilfreich erscheint, um Stellungnahmen zum Zeitgeschehen zu stimulieren. Das gilt vor allem für Thomas Manns Verteidigung der Weimarer Republik und seine frühe Kritik des Faschismus aus dem Geist von Nietzsches Wagner-Kritik. Aber Thomas Mann bleibt nicht bei der kulturellen Kritik der Politik, die Nietzsche am Bismarckreich übt, stehen, sondern entwickelt eine eigenständige politische Haltung aufgrund seiner Erfahrung des Ersten Weltkriegs. Sein ironischer Konservativismus steht für die politische Identifikation mit der Republik, ohne die ästhetische Distanz zum politischen Geschehen aufzugeben. Das weist über Nietzsche hinaus, bleibt ihm aber, was den an elitären Maßstäben orientierten Humanismus anbelangt, verpflichtet. Damit steht Thomas Mann exemplarisch für eine Geisteshaltung, deren bürgerlich-konservatives Selbstverständnis sich den Tendenzen der radikalen Rechten verweigert. Die Ausbreitung der nationalsozialistischen Herrschaft nötigt Thomas Mann zur Emigration. Er muss zur Kenntnis nehmen, dass Nietzsche vom Nationalsozialismus instrumentalisiert wird. Auf der anderen Seite sieht er sich mit der marxistischen Kritik konfrontiert, die Nietzsche zum Wegbereiter des Faschismus erklärt. Thomas Mann verarbeitet diese Konstellation auf zweifache Weise. Er zeichnet mit dem Roman Doktor Faustus in der Tragik seines Helden Adrian Leverkühn ein Nietzsche-Bild, das er in vielschichtiger Weise mit dem Weg Deutschlands in den Nationalsozialismus verschränkt. Außerdem versucht er, im Bewusstsein der künstlerischen Seelenverwandtschaft mit Nietzsche dessen angeblich faschistische Züge als Ausdruck eines radikalen Ästhetentums zu inter16 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
Einleitung
pretieren. Obwohl Thomas Mann in seinem großen Essay zu Nietzsche etliche Nietzsche-Klischees reproduziert, erreicht er mit seiner rückblickenden Bestandsaufnahme der Philosophie Nietzsches eine wegweisende These für das Verhältnis von Geist und Zeit: »Nicht Nietzsche hat den Fascismus gemacht, sondern der Fascismus ihn.« Diese These leitet meine philosophische und historische Deutung, die über Thomas Mann hinausgeht und Nietzsches Philosophie in ihrer Distanz zum Nationalsozialismus transparent macht. Daraus ergibt sich eine Begrifflichkeit für die Einordnung der totalitären Entwicklungen des 20. Jahrhunderts und das Verständnis der Divergenzen, die unterschiedliche moralisch-politische Ausprägungen des »Willens zur Macht« aufweisen. Das erfordert eine Erschließung des moralisch-wertsetzenden Sinns dieser Begriffsbildung und die Explikation der politischen Ambivalenz in Nietzsches Philosophie mit ihren autoritären wie liberalen Varianten. Weitere Differenzierungen dienen dazu, ein Gesamtbild von Nietzsches Philosophie zu zeichnen, das dem dionysischen Radikalismus und seiner ästhetischen wie moralisch-praktischen Dimension entspricht. Die kritische Klarstellung zu Thomas Manns Nietzsche-Verständnis belegt, dass sich Thomas Mann zu Recht gegen die Banalisierungen Nietzsches wendet. Thomas Mann, dem Autor von Weltrang, ist es nicht nur in seinen Erzählungen und Romanen gelungen, Probleme seiner Zeit zu gestalten. Auch seine Essays, die – neben seinem »Nietzsche-Roman« – hier im Zentrum stehen, zeigen einen Intellektuellen, der wie kein anderer die Verbindung von Kultur und Politik verkörpert. Wenn er gelegentlich als politisch »unwissender Magier« verkannt wird, dann, weil seine Essays und die Kontexte seiner vielfältigen Stellungnahmen nicht angemessen beurteilt werden. 5 Thomas Mann war kein Philosoph oder PoliExemplarisch: J. Fest, Die unwissenden Magier. Über Thomas und Heinrich Mann, Berlin 1985. Vgl. Kap. 2.2.
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Einleitung
tologe, der mit den Schulbegriffen dieser Disziplinen zu messen ist, genauso wenig passt die Innovationskraft Nietzsches in deren gängige Schablonen. Umso reizvoller ist es, eine wechselseitige Spiegelung dieser großen Autoren vorzunehmen, um an ihnen dem Geist-in-der-Zeit-Problem nachzugehen. Thomas Mann hat zu Recht angemahnt, bei der Beurteilung von Nietzsches Philosophie historische Erfahrung einzubringen. Diese Perspektive lässt sich fortführen, wenn man sowohl Thomas Manns ironischen Konservativismus wie Nietzsches dionysischen Radikalismus nach ihrer Aktualität für die konstitutionelle Demokratie befragt. Ich schließe daher eine Abwägung über Zentrum und Peripherie von Nietzsches Philosophie an, die auch deren Fragwürdigkeiten benennt. Dargelegt wird, inwieweit die Stärken des dionysischen Radikalismus, die in eine Philosophie der Diesseitigkeit münden, aufrechterhalten werden können. Das führt zur Situierung eines liberalen Nietzscheanismus unter fragmentierten Bedingungen der Moderne, die im Hinblick auf Kultur wie Politik zu reflektieren sind. In den ersten beiden Kapiteln meiner Abhandlung folge ich der politischen Entwicklung von Thomas Mann am Leitfaden seiner Nietzsche-Verarbeitung (1, 2), um die Position, die er mit seinem Bekenntnis zur Republik erreicht, als »Nietzscheanischen Republikanismus« zu kennzeichnen. Dieser lässt sich vor dem Hintergrund einer systematischen Sicht auf Nietzsches Begrifflichkeit (»Wille zur Macht« etc.) als liberale Variante charakterisieren (Kap. 3). Mit der Verteidigung der Weimarer Republik tritt Thomas Mann als Kritiker des italienischen und vor allem des deutschen Faschismus auf den Plan und sucht nach geistesgeschichtlichen Erklärungen. Deshalb wird Nietzsches Kritik an Richard Wagner und dem Wagnerianismus zum Paradigma seiner Faschismus-Kritik, die er mit der Aussage kommentiert, dass in Deutschland unpolitischer Hochmut in politischen Extremismus umgeschlagen sei. Diese Diagnose findet Eingang in den Faustus-Roman, der das Nietzsche-Bild modifiziert (Kap. 4). 18 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
Einleitung
Im fünften Kapitel steht Thomas Manns Essay zu Nietzsche (1947) im Zentrum. Zunächst geht es um die Deutung Nietzsches als eines unpolitischen Ästheten im Kontext der Zeitumstände. In diesem Kontext kommt den Nietzsche-Interpretationen von Georg Lukács und Alfred Bäumler exemplarische Bedeutung zu. Außerdem bedarf Thomas Manns ästhetische Verteidigung Nietzsches der kritischen Prüfung. Dazu ist es nötig, Nietzsches dionysischen Radikalismus differenziert darzustellen und einige Nietzsche-Begriffe, die immer wieder klischeehaft verwendet werden (»Blonde Bestie« etc.), zurechtzurücken. Das bedeutet, es nicht bei einem ästhetischen Freispruch Nietzsches aufgrund seiner persönlichen Tragik zu belassen, sondern sein Werk auf Bezüge zu faschistischem Gedankengut zu durchleuchten. Dieser komplexen Thematik widme ich mich, indem ich die o. g. These von Thomas Mann, die Nietzsches Distanz zum Faschismus behauptet, aufnehme. Daraus folgt eine Bezugnahme von Nietzsche auf die moralischen Transformationen des 20. Jahrhunderts. Auf diese Weise lässt sich das Potenzial seiner Philosophie zur Deutung von moralisch-politischen Umbrüchen des 20. Jahrhunderts heranziehen. So wird Thomas Manns wegweisendes Diktum in seiner intuitiven Stärke deutlich (Kap. 6). Darüber hinaus nutze ich – auch angesichts der Fragwürdigkeiten von Nietzsches Philosophie – die historische Erfahrung, zu der Thomas Mann weitere Stichworte liefert, als Prüfkriterium und kontrastiere das Kontinuitäts-Modell, dem Thomas Mann folgt, mit einem Differenz-Modell zu Nietzsche. Ich werde zeigen, wie Zentrum und Peripherie von Nietzsches Philosophie so abzuwägen sind, dass deren Metaphysik der Weltimmanenz als Herausforderung bestehen bleibt. Im siebten Kapitel ziehe ich ein systematisches Fazit zu Nietzsches Philosophie im Medium historischer Erfahrung. Eine Zeitfahrt mit Nietzsche ins 21. Jahrhundert kann nur entlang schlüssiger Revisionen erfolgen. Im achten Kapitel präsentiert sich Nietzsche als ein stimulierender Wegbegleiter der 19 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
Einleitung
Religionskritik im Rahmen eines kulturellen Pluralismus und einer den Problemen der Zeit gewachsenen Ästhetik. So führt ein liberaler Nietzscheanismus über die kulturelle Dimension hinaus zu einem Modell des Politischen, das auf den humanen Umgang mit Konflikt und Macht in der konstitutionellen Demokratie ausgerichtet ist. Bei der Durchführung meiner Untersuchung berücksichtige ich soweit erforderlich sowohl die historisch-philosophische Forschung zu Nietzsche als auch die literaturwissenschaftliche Interpretation zu Thomas Mann und beziehe Quellen der Geschichtsforschung ein. Diese Vorgehensweise führt zu meinen hier vorgelegten Ergebnissen zur Frage des Geistes in der Zeit.
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1. Nietzsche und Thomas Mann in Zeiten des Krieges
Thomas Mann reagiert auf den Ausbruch des 1. Weltkriegs wie die meisten der deutschen Intellektuellen und Künstler mit der patriotischen Parteinahme für die deutsche Seite. Auf der Gegenseite ergreifen Vertreter der französischen und britischen Kultur Partei für die jeweils eigene Nation. Das Eintreten für die nationale Sache gilt als ebenso selbstverständlich wie Schuldzuweisungen gegenüber den gegnerischen Mächten. Dabei entspinnt sich ab August 1914 ein »Krieg der Geister«, ein »Kulturkrieg« 1 , in dem die Verteidigung der eigenen Seite wie die Delegitimation und Denunziation des Gegners ausgetragen werden. In diesem Kulturkrieg spielt Nietzsche eine herausragende Rolle. Auf deutscher Seite erhebt man ihn zur Ikone des kriegerischen Heroismus und auf britisch-französischer Seite schmäht man ihn als Kriegstreiber. Ich gehe zunächst auf den Stellenwert Nietzsches in diesem Kulturkrieg ein (Kap. 1.1), und charakterisiere auf diesem Hintergrund Thomas Manns Schriften zur Zeit (1.2). Beides zusammen dient der Vorbereitung von Thomas Manns republikanischer Wende (Kap. 2).
H. Kellermann (Hg.), Der Krieg der Geister. Eine Auslese deutscher und ausländischer Stimmen zum Weltkriege 1914, Weimar 1915. Ernst Troeltsch spricht in einer Rede vom 1. Juli 1915 vom Kulturkrieg. Zu dieser Quelle wie insgesamt zur deutschen Philosophie im Krieg: P. Hoeres, Krieg der Philosophen. Die deutsche und die britische Philosophie im Ersten Weltkrieg, Paderborn 2004. Zu Troeltsch ebd., 262 ff.
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Nietzsche und Thomas Mann in Zeiten des Krieges
1.1 Kulturkrieg mit und gegen Nietzsche 2 Das geistige Klima des Krieges wird an einigen repräsentativen Vertretern der europäischen Nationen nachvollziehbar. Henri Bergson verkündet am 8. August 1914 den »Kampf der Zivilisation gegen die deutsche Barbarei« 3 , Gilbert Keith Chesterton greift mit ähnlicher Stoßrichtung das Preußentum an (The Barbarism of Berlin) 4 und für Maurice Maeterlinck werden Deutsche mit der Verletzung der Neutralität Belgiens und ihren Zerstörungen in Leuven zum »Feind des menschlichen Geschlechts« 5 . Mit dem berühmt-berüchtigten »Aufruf an die Kulturwelt«, in dem sich 93 Vertreter »deutscher Wissenschaft und Kunst« an die nationale wie internationale Öffentlichkeit wenden (4. Oktober 1914), beginnt der deutsche Kulturkrieg gegen die Entente. In diesem Aufruf wird den Kritikern Deutschlands das Recht abgesprochen, sich als Verteidiger der Zivilisation zu gerieren, da sie gemeinsame Sache mit »russischen Horden« und Serben machten »und der Welt das schmachvolle Schauspiel bieten, Mongolen und Neger auf die weiße Rasse zu hetzen«. Denn der vielfach angeklagte deutsche Militarismus diene dem Schutz der deutschen Kultur, ohne den sie »längst vom Erdboden getilgt« worden wäre. 6 Im Folgenden beziehe ich mich auf R. Zimmermann, Nietzsche 1914 – eine Philosophie für die Front?, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Bd. 62/4, 2014, 585–625. 3 »La lutte engagée contre l’Allemagne est la lutte même de la civilisation contre la barbarie.« Zitiert nach: Ch. Prochasson/A. Rasmussen, Au nom de la patrie: les intellectuels et la Première Guerre mondiale (1910–1919), Paris 1996, 131. Darin weitere Quellen zu Bergson und französischen Intellektuellen. 4 G. K. Chesterton, The Barbarism of Berlin, London 1914. 5 Zitiert nach: Kellermann, Krieg, a. a. O., 354 f. 6 Alle Zitate: K. Böhme (Hg.), Aufrufe und Reden deutscher Professoren im Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1975, 48. Weitere aufschlussreiche Texte in diesem Band. 2
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Kulturkrieg mit und gegen Nietzsche
Diese Ausschnitte aus dem intellektuellen Szenario des Kriegsbeginns geben die Stimmung wieder, die auch die Bezüge auf Nietzsches Philosophie kennzeichnet. Dabei ragen auf deutscher Seite Werner Sombarts »patriotische Besinnungen« 7 nicht nur als ein besonderes Beispiel chauvinistischer Vereinnahmung Nietzsches heraus, sondern bieten zugleich Einblicke in die damalige Verschmelzung von Nationalismus, Anti-Kapitalismus und Antisemitismus. In einer frühen Stellungnahme bezieht sich Sombart auf George Bernhard Shaw. Dieser hatte den preußischen Militarismus kritisiert und seine Bezwingung gefordert (»Gefahr von Potsdam«), zugleich aber den Krieg als bloßen »Krieg um Machtverhältnisse« relativiert und dabei Deutschland als »Bollwerk für die Zivilisation« gegenüber Russland bestätigt. Das nimmt Sombart zum Anlass, um Potsdam als Einheit von Preußentum und »deutscher Volksseele« zu verteidigen. Er reklamiert nicht nur deren geistige Verwandtschaft mit Friedrich II., Kant, Fichte und Goethe, sondern bezieht auch Nietzsche mit ein. Denn Nietzsches »höchstes Ideal«, so Sombart, »war der in Zucht und Ordnung und Pflicht zur Größe aufsteigende Mensch, und er stand mit seinem innersten Empfinden Potsdam ganz gewiß näher, als den verlumpten Kaffeehausliteraten, die ihn heute für sich requirieren.« 8 Die Abgrenzung gegenüber »Kaffeehausliteraten« zeigt u. a. die Uneinheitlichkeit der Nietzsche-Rezeption, die sich seit den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts in der Literatur immer stärker entfaltet, aber keine einheitlichen Lesarten zulässt. 9 Für Sombart jedoch bieten die Polemiken aus dem Ausland, die Nietzsche als geistigen Inspirator des Krieges sehen, die willkommene Gelegenheit, mit Nietzsche in den Krieg zu ziehen. 10 Der »Krieg W. Sombart, Händler und Helden. Patriotische Besinnungen, München/ Leipzig 1915. 8 Kellermann, Krieg, a. a. O., 382 (6. Sept. 1914). 9 Vgl. zum Bereich Literatur: B. Hillebrand (Hg.), Nietzsche und die deutsche Literatur, 2 Bde., Tübingen 1978. 10 Zum Folgenden: W. Sombart, Händler, a. a. O., 53 ff., 140 f., 113, 64 ff., 84. 7
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Nietzsche und Thomas Mann in Zeiten des Krieges
Nietzsches« wird für Sombart zur Kampfparole für den »deutschen Krieg«. Darüber hinaus präsentiert er das Wesen des Deutschtums im Stil einer religiösen Offenbarung: »[…] Nietzsche ist nur der letzte Seher und Sänger gewesen, der, vom Himmel hoch dahergekommen, uns die Mär verkündet hat, daß aus uns der Gottessohn geboren werden soll, den er in seiner Sprache den Übermenschen nannte.« Sombart nationalisiert Nietzsche und erteilt der europäischen Perspektive des Übermenschen eine explizite Absage, denn die Vervollkommnung des Menschen könne nur »im Rahmen völkischer Eigenart« geschehen. So entwickelt er die »deutsche Weltanschauung« in Kontrast zu allem, was »englischem oder insgesamt westeuropäischem Denken und Empfinden nahe kommt«. Dieser Geisteshaltung entsprächen auch die Ideen des 18. Jahrhunderts, die mit den Leitbegriffen von 1789 (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) nichts anderes als »Händlerideale« darstellten, hinter denen die »vollkommerzialisierte englische Bourgeoisie« stehe. Der Geist der englischen Nützlichkeitsphilosophie (»Utilitarismus, Eudämonismus«) sei zutiefst undeutsch und werde von Schopenhauer, Hegel, Fichte und Nietzsche, von Romantikern und Klassikern gleichermaßen abgelehnt. Das Positive der deutschen Eigenart verkörpert für Sombart der Typus des Helden im Unterschied zu dem des Händlers: »Die Tugenden […] des Helden sind […] alle positiv, Leben gebend und weckend […]: Opfermut, Treue, Arglosigkeit, Ehrfurcht, Tapferkeit, Frömmigkeit, Gehorsam, Güte. Es sind kriegerische Tugenden, Tugenden, die ihre volle Entfaltung im Kriege und durch den Krieg erleben […]«. Diese Tugenden reklamiert er in Anknüpfung an Nietzsche und dessen Kritik der »letzten Menschen« und deren
Auch für den bekannten französischen Schriftsteller Louis Bertrand war Nietzsche Inspirator des Krieges: Nietzsche et la guerre, in: Revue des Deux Mondes, tome 24, 1914, 727–745, insbes. 744: »S’il vivait encore, Nietzsche pourrait dire, en vérité: ›C’est ma guerre‹.«
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Kulturkrieg mit und gegen Nietzsche
banalem Glücksstreben als »schenkende Tugenden«, die sich dem »erbärmlichen Behagen der Meisten« entziehen. Der Händler sei als Gegentypus des Helden der Vertreter eines an primitiven Bedürfnissen und Glücksverlangen orientierten Kommerzialismus. Dessen Leitbild seien »gewinnbringende Geschäfte« und dessen Ideologie sei der englische Utilitarismus. Der Typus des Helden jedoch verlange nicht nur nach einer anderen Philosophie, sondern auch nach einem starken Staat. Dieser mache die »Einheit zusammengefaßte Volksgemeinschaft«, die im »Militarismus« sichtbar. So verleihe der Staat der »Sendung des deutschen Volkes« Gestalt, denn »deutsch sein, heißt ein Held sein«. Sombart, der die Deutschen auch als »Gottesvolk« preist, stellt mit seinem Chauvinismus das extreme Beispiel eines Nationalismus dar, in dem sich verschiedene Spielarten von »Deutschtumsmetaphysik« 11 zu Kriegsphilosophien steigern. Auch wenn Max Weber Sombarts Entgleisungen als persönliche Eitelkeiten eines Autors, der »nie schweigen kann und immer ›dernier cri‹ sein muß« 12 , verhöhnt, so geht Sombarts Polemik jedoch weiter. Das betrifft insbesondere das antisemitische Umfeld, das Sombart als renommierter Sozialwissenschaftler bedient. Für seine Untersuchungen zum modernen Kapitalismus beansprucht er zwar, nicht mit Kollektivbewertungen von Völkern und Rassen zu arbeiten und »wertfrei« zu argumentieren, doch lässt sich seine These, dass die Juden den modernen Kapitalismus maßgeblich hervorgebracht haben 13 , durchaus antisemitisch wenden. Wenn die Juden die Hervorbringer des Kapitalismus sind und wenn die englische Bourgeoisie mit ihren Am Beispiel von Rudolf Eucken entwickelt diese Kennzeichnung: H. Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland, Basel/Stuttgart 1963, 187 f. 12 Max Weber, Brief an Robert Michels, 20. Juni 1915: MWG, Abt. II, Briefe, Bd. 9, Tübingen 2008, 66. Direkt an Sombart gewandt zeigt Weber sich »verblüfft« über dessen »nationalistischen Furor«, ebd., 80. 13 Vgl. W. Sombart, Die Juden und das Wirtschaftsleben, Leipzig 1911. 11
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Nietzsche und Thomas Mann in Zeiten des Krieges
Händleridealen und ihrem Kommerzialismus dessen Verkörperung darstellt, dann impliziert seine Polemik gegen die englischen Krämerseelen eo ipso eine Diskriminierung der Juden, zumal Sombart den »Amerikanismus« als »geronnenen Judengeist« 14 bezeichnet. Hinzu kommt, dass sich Sombart im Interesse der Reinerhaltung der Rassen – auch der jüdischen Rasse – gegen Juden-Assimilation ausspricht, was einerseits zionistischen Beifall einbringt, andererseits aber antisemitische Stereotype der Zeit bedient. 15 Des Weiteren verbindet Sombart seine tiefe Abneigung gegen die Kultur einer kapitalistischen Massengesellschaft mit einer marxistisch inspirierten Kapitalismus- und Ideologiekritik, die in den Ideen von 1789 die Klassenreflexe der Bourgeoisie sieht. Daraus ergibt sich eine Mischung aus Nationalismus und Antisemitismus, die zwar Anklänge an Nietzsches Elitismus aufweist, aber dessen scharfer Kritik von Nationalismus und Antisemitismus in zentralen Punkten widerspricht. Näheres zu Nietzsche wird noch zu diskutieren sein, an dieser Stelle mögen wenige Hinweise genügen. So sieht Nietzsche das »Nationale« als »Krankheit dieses Jahrhunderts« (MA II, 87-N) und fordert dazu auf, »die antisemitischen Schreihälse des Landes zu verweisen« (JGB, 251-N), damit sie nicht »alle Hornvieh-Elemente des Volkes aufstacheln« (GM III, 26-N). Auch Nietzsches Polemiken gegen den Utilitarismus und die englische Philosophie lassen sich nicht im Stile Sombarts zu einem Feindbild Englands verzerren, genauso wenig wie Nietzsches kämpferisch vorgetragene Wertmaßstäbe mit kriegerischem Heroismus gleichzusetzen sind. Das Pendant zu Sombart und dem deutschen Kulturkrieg zeigt sich in der englischen Konstruktion einer Trias von Treitschke, Nietzsche, Bernhardi. Auslöser dieser Konstruktion W. Sombart, Die Juden, a. a. O., 44. Zur differenzierten Darstellung vgl. F. Lenger, Werner Sombart 1861– 1941, München 2012 (3. Aufl.), Kap. IX. Zum Folgenden ebd., Kap. X.
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Kulturkrieg mit und gegen Nietzsche
ist das 1912 erschienene Buch »Deutschland und der nächste Krieg« des Generals Friedrich von Bernhardi, der als Motto ein Zitat aus Nietzsches Zarathustra voranstellt. Er erteilt dem friedlichen Ausgleich mit England eine Absage und spielt den Krieg als realpolitisches Kalkül durch. 16 Bernhardi zitiert Nietzsches Lob der Tapferkeit und unterstreicht damit im politischen Konfliktfall die Bereitschaft zum Krieg. Ansonsten geht er auf Nietzsche nicht weiter ein und es zeigt sich, dass die Schriften Heinrich von Treitschkes und dessen Doktrin des nationalen Machtstaats die eigentlichen Quellen der Argumentation sind. Gegen die Ideen einer Friedenspolitik betont Bernhardi die politische und kulturelle Machtentfaltung aus vermeintlich biologischen Gründen. Der darwinistisch inspirierte Kampf als Naturgesetz und die imperialistischen Interessen um koloniale Einflusssphären bilden maßgebliche Orientierungen, die durchaus in Einklang mit der christlichen Moral gesehen werden. Hinzu kommt der Glaube an »Deutschlands historische Mission« und ihre Bedeutung »für die Gesamtentwicklung der Menschheit«, die auf den geistigen Stärken der Reformation und Kants prägendem Einfluss beruhten. Deutschland komme eine »Führerrolle auf geistigem Gebiet« zu, die bereits Treitschke durch die Leitworte »Tiefe, Idealismus, Universalität« vorweggenommen habe. Bernhardi weist jedoch Kants Friedensschrift zurück, wodurch neben Treitschke insbesondere Fichte und Ernst Moritz Arndt zu Leitfiguren eines kriegsbereiten Nationalismus werden. Bismarck und Friedrich der Große dienen dabei als Vorbilder. Bernhardis Buch wird stark beachtet und in viele Sprachen übersetzt. Die Reaktion auf englischer Seite führt zur o. e. Konstruktion der Trias »Treitschke, Nietzsche, Bernhardi«. Noch vor F. v. Bernhardi, Deutschland und der nächste Krieg, Stuttgart/Berlin 1912, 2. u. 3. Aufl. Zum Folgenden vgl. insbes. 312 ff. Bernhardi hat den Status eines Generals der Kavallerie z. D., d. h. »zur Disposition«, was in etwa dem einstweiligen Ruhestand entspricht.
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Nietzsche und Thomas Mann in Zeiten des Krieges
Ausbruch des Krieges veröffentlicht John Adam Cramb sein Buch über Deutschland und England, in dem er in Auseinandersetzung mit Bernhardi namentlich Treitschke und Nietzsche als geistige Stichwortgeber bezeichnet. In dem ergänzenden Vorwort beschreibt A. C. Bradley England als Antipode des deutschen Nationalideals und warnt speziell vor Nietzsche. 17 Denn für Cramb ist Nietzsche der Inaugurator eines anti-christlichen deutschen Geistes, der eine neue Religion propagiere, eine Religion des Heldenmuts (»religion of valour«), die sich an Napoleon orientiere und den Ruhm der Tat, des Heroismus und des Strebens nach Größe feiere. Die anti-napoleonische Stimmung des Jahres 1813 werde unter der Botschaft »gefährlich leben!« umgewendet in einen neuen Napoleonismus. Dieser verbinde sich mit der Vision des Übermenschen (»superman«) und den deutschen Ambitionen des »Willens zur Macht« und stelle so eine Gefahr für England dar. 18 Zwar konzediert Cramb Nietzsche eine europäische Gesinnung, doch werde sie durch Treitschkes Nationalismus überformt. Es ergebe sich das Bild von zwei Deutschlands, das eine spiegele die Humanität Goethes wider, das andere zeige sich in Militarismus und heroischer Religion mit seinen Vorbildern Treitschke, Nietzsche sowie dem aktuellen Protagonisten Bernhardi. Auf diese Weise wird die Trias »Treitschke, Nietzsche, Bernhardi« insbesondere im angelsächsischen Bereich zum geflügelten Wort für den deutschen Militarismus. Dort nimmt das Feindbild teilweise groteske Züge an. So kommt es zu Wortschöpfungen wie dem »Euro Nietzschean War« oder »execrable A. C. Bradley ist der Bruder des Hegelianers F. H. Bradley. Im Jahr 1915 erscheint Crambs Buch in den USA mit einem Vorwort des ehemaligen USBotschafters in London, Joseph H. Choate, der jedem Amerikaner empfiehlt, das Buch zu lesen: S. Daniel, A Brief Time to Discuss America. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Urteil amerikanischer Politiker und Intellektueller, Bonn 2008, 332. 18 J. A. Cramb, Germany and England, London 1914, 115 ff. Die zwei Deutschlands: 96 f. Crambs Buch hat bis 1915 über ein Dutzend Auflagen. 17
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Kulturkrieg mit und gegen Nietzsche
Neech«, die Nietzsche zunehmend als graue Eminenz des deutschen Generalstabs erscheinen lassen. 19 In einem Pamphlet stellt der bekannte Theaterkritiker William Archer die Einheit von deutscher Kriegspolitik und Nietzsches Philosophie fest und erklärt den Kampf gegen diese Philosophie zum Kriegsziel. 20 Diese hohe Emotionalisierung des Kulturkriegs auf britischer Seite bringt gegen Ende 1914 eine »Hydra ›Nichee-Neitschee-Neetschee‹« 21 hervor, deren Vorurteilsmuster bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts reichen. Die britisch-deutsche Konfrontation findet ihre Entsprechung in den USA. Zu Kriegsbeginn bewirkt die Verletzung der Neutralität Belgiens durch Deutschland und später (1915) die durch ein deutsches U-Boot herbeigeführte Versenkung des Passagierdampfers Lusitania mit über 100 Amerikanern an Bord ein gegen die deutsche Seite gerichtetes öffentliches Meinungsbild, das auch britischen Stimmen entspricht. Neben der geistigen Auseinandersetzung illustriert auch eine skurrile Affäre das Kriegsklima. So wird dem deutschstämmigen Publizisten Henry Louis Mencken, der als Autor eines Nietzsche-Buches exzentrisch-elitäre Ansichten vertritt, unterstellt, er sei ein Agent des »German monster, Nietzsky«. Das amerikanische Justizministerium leitet daraufhin Ermittlungen gegen ihn ein. 22 Der Kulturkrieg vermittelt nicht nur einen aufschlussreichen Einblick in dominierende Mentalitäten der Kriegszeit, sondern lässt am exponierten Beispiel Nietzsche das Geist-in-der-Zeit-
Dazu N. Martin, Nietzsche as Hate-Figure in Britain’s Great War: ›The Execrable Neech‹, in: F. Bridgham (ed.), The First World War as a Clash of Cultures, Rochester 2006, 147–166, insbes. 152 ff. 20 »In a very real sense it is the philosophy of Nietzsche that we are fighting«. Archer stand in Diensten des Wellington House, der britischen Propagandazentrale: S. Daniel, A Brief Time, a. a. O., 331. 21 N. Martin, a. a. O., 156. 22 M. Stassen, Nietzsky vs. the Booboisie: H. L. Mencken’s Uses and Abuses of Nietzsche, in: M. Pütz (ed.), Nietzsche in American Literature and Thought, Columbia/SC 1995, 97–113, insbes. 108 f. 19
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Nietzsche und Thomas Mann in Zeiten des Krieges
Problem deutlich werden. Die simplifizierend-verzerrenden Adaptationen von Nietzsches Philosophie, die im Lauf der folgenden Untersuchung in verschiedenen Kontexten Thema werden, machen die Nachfrage umso dringlicher, in welchem Verhältnis zur eigenen wie nachfolgenden Zeit Nietzsches Philosophie zu sehen ist. Es ist das Verdienst von Thomas Mann, dass er sich mit dieser Frage auseinandersetzt und sich aus den Konfrontationen des Kulturkriegs löst. Doch zunächst ist er in diese involviert.
1.2 Thomas Mann und die »Ideen von 1914« Mit den Gedanken im Kriege entfernt sich Thomas Mann von seiner früheren Geisteshaltung. Noch 1910 nennt er Theodor Fontane einen Vertreter von »tapferer Modernität« und eines »redlichen Rationalismus« und lobt dessen Aufgeschlossenheit für die sozialdemokratische Arbeiterbewegung wie seine Ablehnung von Kolonialismus und Militarismus. 23 Der Kriegsausbruch 1914 bewirkt bei Thomas Mann eine Umkehr. Nun ist für ihn »der deutsche Militarismus in Wahrheit Form und Erscheinung der deutschen Moralität« (15.1, 38). 24 Zum Verständnis dieses Diktums ist es angebracht, auf das Verhältnis von Kultur, Krieg und Zivilisation, das Thomas Mann entwickelt, einzugehen, um daran den Kontrast von Moral und Politik zu verdeutlichen. Bereits in den aphoristischen Notizen aus dem Jahr 1909 geht es ihm um den Gegensatz von Zivilisation und Kultur. Seine leitende Fragestellung ist die nach dem Verhältnis Der alte Fontane, GKFA, 14.1, 245–274, ebd., 265, 255, 267, 272 f. Diese Ausgabe wird im Weiteren nur noch mit Bandangabe in arabischen Ziffern und Seitenzahl zitiert. 24 Vgl. zur differenzierten Charakterisierung von Thomas Manns Essayistik vor dem Kriegsausbruch: H. Detering, Kommentar, 14.2, 577–604. Dort auch zur späteren politisch motivierten Änderung des Fontane-Essays (1919) mit Quellennachweis, 383 ff. 23
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Thomas Mann und die »Ideen von 1914«
von Geist und Kunst. 25 Die damaligen Überlegungen geben den Rahmen ab, um die Kriegsthematik national zuzuspitzen: »Zivilisation und Kultur sind nicht nur nicht ein und dasselbe, sondern sie sind Gegensätze, sie bilden eine der vielfältigen Erscheinungsformen des ewigen Weltgegensatzes und Widerspiels von Geist und Natur […] Kultur ist Geschlossenheit, Stil, Form, Haltung, Geschmack, ist irgendeine gewisse geistige Organisation der Welt, und sei das alles auch noch so abenteuerlich, skurril, wild, blutig und furchtbar […] Zivilisation aber ist Vernunft, Aufklärung, Sänftigung, Sittigung, Skeptisierung, Auflösung, – Geist.« (15.1, 27)
Dieser Gegensatz von Kultur und Zivilisation dient Thomas Mann dazu, um sowohl die Kunst als auch den Krieg der Kultur zuzuordnen. Beide versteht er als »Elementar- und Grundmacht des Lebens«, die innere Verwandtschaften aufweisen und sich von Fortschritt, Vernunft und Aufklärung, also Zivilisation, abheben: »Sind es nicht völlig gleichnishafte Beziehungen, welche Kunst und Krieg miteinander verbinden? Mir wenigstens schien von jeher, daß es der schlechteste Künstler nicht sei, der sich im Bilde des Soldaten wiedererkenne. Jenes siegende kriegerische Prinzip von heute: Organisation – es ist ja das erste Prinzip, das Wesen der Kunst. Das Ineinanderwirken von Begeisterung und Ordnung […] Schonungslosigkeit gegen sich selbst, moralischer Radikalismus, Hingebung bis aufs Äußerste, Blutzeugenschaft, voller Einsatz aller Grundkräfte des Leibes und der Seele […].« (15.1, 29 f.)
Die hier gebrauchten Formulierungen erinnern an die Erzählung Der Tod in Venedig, in welcher der Schriftsteller Gustav von Aschenbach als jemand charakterisiert wird, der dem »unanständigen Psychologismus der Zeit« widersteht und für die »Abkehr von allem moralischen Zweifelssinn, von jeder Sympathie mit dem Abgrund« eintritt (VIII, 455), indem er sich als »Soldat und Kriegsmann« der Kunst sieht. Das reale Kriegsgeschehen führt dazu, dass die »Herzen der Dichter in Flam25
Als Hintergrund zum Folgenden: 14.1, 213 f., Kommentar, 14.2, 300 ff.
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Nietzsche und Thomas Mann in Zeiten des Krieges
men« versetzt werden. Mit dem Dank an Gott wird der »Zusammenbruch einer Friedenswelt« begrüßt, die durch dekadente Strömungen, Orientierungslosigkeit und bürgerliche Sattheit gekennzeichnet ist (15.1, 30 ff.). Aufgrund seines »unpolitischen Wesens« erfährt der Künstler den Krieg mit moralischer Ergriffenheit, denn was »die Dichter begeisterte, war der Krieg an sich selbst, als Heimsuchung, als sittliche Not« (15.1, 29, 33). Der Krieg gerät zur moralischen Bewährungsprobe. Thomas Mann beschwört das historische Vorbild Friedrichs des Großen, dessen Zähigkeit für einen »moralischen Radikalismus« stehe, der jetzt wieder gefordert sei. So wird »Deutschlands Sieg ein Paradoxon sein, ja ein Wunder, ein Sieg der Seele über die Mehrzahl – ganz ohnegleichen« (15.1, 34). In seiner geschichtsübergreifenden Typologie, die sich auf die gegenwärtigen Kriegsparteien übertragen lasse, sieht Thomas Mann Voltaire auf der Gegenseite: »Voltaire und der König: Das ist Vernunft und Dämon, Geist und Genie, trockene Helligkeit und umwölktes Schicksal, bürgerliche Sittigung und heroische Pflicht; Voltaire und der König: das ist der große Zivilist und der große Soldat seit jeher und für alle Zeiten.« (15.1, 35) 26
Dies leitet über zu der Frage, wie die »nationalen Sinnbilder« des Krieges »für uns Deutsche« zu bestimmen sind, denn die feindliche Argumentation lautet, es gehe um den Kampf der Zivilisation gegen die »Barbarei« oder gegen den »Militarismus«. Damit kommen die schon bekannten Zuspitzungen des Kulturkriegs ins Spiel (vgl. Kap. 1.1). Thomas Mann lehnt den Barbarei-Vorwurf als nicht ernstzunehmende Übertreibung ab und geht auf die Antithese »Zivilisation gegen Militarismus« ein (15.1, 35 ff.). Er argumentiert, dass der Versuch, Deutschland im Vergleich zu Frankreich oder England als unzivilisiert oder unmodern zu charakterisieren, auf schwachen Füßen stehe. Es gebe aber so etwas wie die »internationale Fremdheit und Unheimlichkeit der deutschen Seele«: Dem entspricht der Tenor des Essays Friedrich und die Große Koalition (1915: 15.1, 55–122).
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Thomas Mann und die »Ideen von 1914«
»Die Deutschen sind bei weitem nicht so verliebt in das Wort ›Zivilisation‹ wie die westlichen Nachbarnationen; sie pflegen weder französisch-renommistisch damit herumzufuchteln, noch sich seiner auf englisch-bigotte Art zu bedienen. Sie haben ›Kultur‹ als Wort und Begriff immer vorgezogen – warum doch? Weil dieses Wort rein menschlichen Inhalts ist, während wir beim anderen einen politischen Einschlag und Anklang spüren, der uns ernüchtert, der uns zwar als wichtig und ehrenwert, aber nun einmal nicht als ersten Ranges erscheinen läßt; weil dieses innerlichste Volk, dies Volk der Metaphysik, der Pädagogik und der Musik ein nicht politisch, sondern moralisch orientiertes Volk ist […]. Die deutsche Seele ist zu tief, als daß Zivilisation ihr ein Hochbegriff oder etwa der höchste gar sein könnte.« (15.1, 37 f.)
Es liegt in der Konsequenz der Gegensatzpaare Moral – Politik, Kultur – Zivilisation und Soldat – Zivilist, dass Thomas Mann dem »pazifistischen Ideal der Zivilisation« eine Absage erteilt. Unter Hinweis auf die »Pariser Affären« und die »zivile Korruption« des Friedens würdigt er die deutsche Seele als »kriegerisch aus Moralität, – nicht aus Eitelkeit und Gloiresucht oder Imperialismus« (15.1, 38). Im Ergebnis liest sich sein Beitrag zum »Kulturkrieg« ganz ähnlich wie der »Aufruf an die Kulturwelt«, der den deutschen Militarismus im Interesse der deutschen Kultur verteidigt (vgl. Kap. 1.1). Das nationale Sinnbild wird unter Berufung auf deutsche Geistesgrößen bekräftigt, um den westlichen Mächten Paroli zu bieten. Thomas Mann verliert das Gespür für angemessene Proportionen, wenn er von den Leistungen Luthers und Kants sagt, sie »(wögen) die französische Revolution zum mindesten auf« und im Übrigen sei die Kritik der reinen Vernunft im Vergleich zur Proklamation der Menschenrechte ein »radikalerer Umsturz«. 27 Schließlich hätten Deutsche das Meiste und das Wichtigste zur »moralischen Apologie des Krieges« beigetragen, wofür ein Zitat aus Schillers Braut von Messina 28 ebenso steht wie Vgl. das Textstück 152 aus Geist und Kunst: Notiz, 223. Aus dem Schiller-Zitat: »›Denn der Mensch verkümmert im Frieden, Müßige Ruh’ ist das Grab des Muths, […] Aber der Krieg läßt die Kraft
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Nietzsche und Thomas Mann in Zeiten des Krieges
der Hinweis auf Nietzsche, denn dieser »letzte der großen deutschen Moralisten […] machte aus seinen kriegerischen, ja militärischen Neigungen kein Hehl.« (15.1, 38 f.) Dieser Berufung auf Nietzsche kommt kein vergleichbar zentraler Stellenwert wie in Sombarts Heroismus-Legende zu, sondern sie reiht sich ein in das Bemühen, die nationale Selbstbehauptung durch bellizistische Traditionen der deutschen Geistesgeschichte zu stärken, wobei in diesem Kontext eine genauere Betrachtung des Stellenwerts des Krieges bei Nietzsche (oder anderen Autoren) weniger interessiert (vgl. dazu Kap. 3). Die kulturtheoretische und moralisch-nationale Deutung des Krieges schiebt die Verantwortung für den Kriegsausbruch auf die Gegenseite ab, um umso emphatischer die schicksalhafte Bewährung Deutschlands im Krieg zu loben. Ähnlich wie Sombart sieht auch Thomas Mann im »Händlertum«, das keine Ehrfurcht vor dem heiligen Ernst des Krieges kenne, den eigentlichen Anstifter. Doch nun, nachdem das Kriegsgeschehen seinen Lauf nimmt, zeige sich »Deutschlands ganze Tugend und Schönheit«, weil es sich standhaft gegen die ausländischen Denunziationen, insbesondere Frankreichs, zeige und darüber hinaus das moralische Recht auf seiner Seite habe. Es lasse sich nicht von einer Koalition aus »gallischer« Radikalität und russischem Polizeistaat die politisch-kulturelle Bürgerlichkeit vorschreiben (15.1, 40 ff.). Thomas Mann versucht, das nationale Selbstbild mit Eigenarten des »deutschen Wesens« und der »deutschen Seele«, die über seine eigenen Worte hinaus als typisch für Denkweisen seiner Zeit gelten können, zu schmücken. So lautet seine Version der Deutschtumsmetaphysik: »Daß deutsches Wesen quälend problematisch ist, wer wollte es leugnen! Es ist nicht einfach, ein Deutscher zu sein, – nicht so bequem, wie es ist, als Engländer, bei weitem eine so distinkte und heitere Sache erscheinen, Alles erhebt er zum Ungemeinen, Selber dem Feigen erzeugt er den Muth.‹« (15.1, 39)
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Thomas Mann und die »Ideen von 1914«
nicht, wie es ist, auf französisch zu leben […]. Es ist wahr, der deutschen Seele eignet etwas Tiefstes und Irrationales, was sie dem Gefühl und Urteil anderer, flacherer Völker störend beunruhigend, fremd, ja widerwärtig und wild erscheinen läßt. Es ist ihr ›Militarismus‹, ihr sittlicher Konservatismus, ihre soldatische Moralität, – ein Element des Dämonischen und Heroischen, das sich sträubt, den zivilen Geist als letztes und menschenwürdigstes Ideal anzuerkennen.« (15.1, 45)
An der Unterstützung des Kriegs durch nationale Sinnbilder auf deutscher Seite wie auf Seiten der Entente lässt sich ablesen, welche Wandlungen nötig sind, um die deutsche Kultur in die Republik zu integrieren und die Verständigung zwischen den ehemaligen Kriegsgegnern zu befördern. Thomas Manns Stellungnahme zum Krieg und seine einschlägigen Schriften während der Kriegszeit gehören in den Kontext der »Ideen von 1914«, deren eigentlicher Propagandist der Volkswirtschaftler Johann Plenge ist. Der Titel einer der Programmschriften Plenges 1789 und 1914. Die symbolischen Jahre in der Geschichte des politischen Geistes ist jedoch bezeichnend für die Grundhaltung, die auch Thomas Mann teilt. 29 Es geht darum, die nationale Selbstbehauptung im Krieg mit der kulturell-geistigen, die sich in der Abgrenzung der Ideen von 1789 und 1914 manifestiert, zu vereinigen. Diese geistige Konstellation findet sich auch in einem allgemeinen Hinweis Thomas Manns auf die »Ideen von 1914«, der sich auf einen Vortrag bezieht, den Hugo von Hofmannsthal in Norwegen unter dem Titel »Wir Europäer« gehalten hat. Thomas Mann zeigt sich beeindruckt von Hofmannsthals »Synthese der Ideen von 1792 und 1914«, während er selbst noch an
Berlin 1916. Zuvor schon: J. Plenge, Der Krieg und die Volkswirtschaft, Münster 1915, inbes. 171: »Seit 1789 hat es in der Welt keine solche Revolution gegeben, wie die deutsche Revolution von 1914.« Neben Plenge ist zu nennen: R. Kjellén, Die Ideen von 1914, Leipzig 1915; ebenso: E. Troeltsch, Die Ideen von 1914 [1916], in: ders., Deutscher Geist und Westeuropa, hg. von H. Baron, Tübingen 1925, 31–58.
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Nietzsche und Thomas Mann in Zeiten des Krieges
»Grübeleien« über die Situation der Zeit gefesselt sei. 30 Diese Grübeleien qua Betrachtungen eines Unpolitischen können insofern den »Ideen von 1914« zugerechnet werden, als auch sie die Abgrenzung von den Grundlagen der westlichen Demokratien, wie sie von der Französischen Revolution und ihren angelsächsischen Äquivalenten repräsentiert werden, vertreten. Dafür steht die Feststellung der Betrachtungen, dass der Krieg einen neuen Ausbruch »des uralten deutschen Kampfes gegen den Geist des Westens« hervorbringe (13.1, 52). In diesem Text und anderen Schriften aus der Zeit nimmt Thomas Mann an diesem Kampf zwar teil, doch zeigt sich bald, dass er dabei auch mit sich selber kämpft. Thomas Mann nimmt Kant und Nietzsche als »Moralisten des deutschen ›Militarismus‹« 31 für ein moralisch geprägtes Soldatentum in Anspruch. Doch mit dem Beharren auf dem Gegensatz von Moral und Politik und parallel dazu von Kultur und Zivilisation ist es nicht getan. Denn das in der Kriegszeit immer drängendere Problem einer eigenständigen deutschen politischen Ordnung verlangt weitere Bearbeitung. Die Frage, welche politische Ordnung in Unterscheidung zur westlichen Demokratie für den deutschen Moralismus passend ist, wird zwar von Thomas Mann verschiedentlich gestellt, doch verbleiben die Ansätze zu ihrer Beantwortung im Vagen. Das kann in Anbetracht der Komplexität dieser Frage kaum überraschen. Auch die von Thomas Mann verfolgte starke Orientierung an Nietzsche vermag hierbei nicht weiterzuhelfen. Denn die Kritik Nietzsches an Bismarcks Politisierung des Deutschen Reichs ist die eine Sache, die Frage der staatspolitischen Neuordnung Deutschlands die andere. Thomas Mann verweist darauf, dass Nietzsche den »furor philosophicus« gegen den »furor politicus« starkmache und die anti-politische Haltung – im Bismarckreich eine Provokation – zur kulturellen Tugend er30 31
Brief an Ernst Bertram, 25. Nov. 1916, in: Br I, 132. Die Bücher der Zeit, 15.1, 53 (November 1914).
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Thomas Mann und die »Ideen von 1914«
kläre. 32 Das kann zwar die Distanz von Kultur und Politik aufrechterhalten, doch der Blick auf Nietzsches antipolitische Haltung aus der 3. Unzeitgemäßen Betrachtung 33 zeigt, dass er den Staat als Ordnungsmacht keineswegs kritisiert. Im Gegenteil: Nietzsche bekräftigt die Meinung Schopenhauers, dass der Staat eine Schutzmacht nach innen und außen zu sein habe und dass sich fähige Staatsmänner um die Wahrung dieser Aufgabe zu kümmern hätten. Damit müsse es sein Bewenden haben und alle politischen Bestrebungen, die dem Staat über seine Schutzfunktion hinaus andere Zwecke zuordneten, seien von Übel. Nietzsche hinterfragt den Staat in seiner Funktion als Ordnungsmacht nicht. Doch nun geht es kriegsbedingt darum, das Ordnungsgefüge des Staates als solches zu thematisieren, dessen politische Form neu zu gestalten und mit westlichen Demokratien zu kontrastieren. Das bedeutet, dass Thomas Mann zwar einerseits im Geist der »Ideen von 1914« über Ansätze für eine deutsche politische Gesamtkonzeption nachdenkt, aber andererseits bestrebt ist, die von Nietzsche propagierte Distanz von Kultur und Politik auch unter zeitbedingten Modifikationen beizubehalten. Thomas Mann schwebt eine politische Form Deutschlands vor, die insbesondere das kulturelle Erbe der Romantik berücksichtigt und so den nationalen Besonderheiten gerecht wird. In einer gegen Mitte des Krieges verfassten Würdigung des Dirigenten Bruno Walter heißt es: »Was ist das Romantische? Die ›Winterreise‹ könnte es lehren. Es ist das Volkstümlich-Dämonische. Es ist die Kunst, die tief ist und doch allgemeinverständlich, die hoch und nieder angeht, Wissende und Einfältige gleich stark, wenn auch auf verschiedene Weise, in Atem hält; es Der Taugenichts, 15.1, 164 f. Analog: 13.1, 157. Vgl. Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, UZ III, 365, 409. Die antipolitische Haltung ist auch dem späteren Nietzsche eigen. Vgl. GD, 106: »Die Cultur und der Staat – man betrüge sich hierüber nicht – sind Antagonisten […] was gross ist im Sinn der Cultur war unpolitisch, selbst a n t i p o l i t i s c h .« Zur Zitierweise von Nietzsches Werken: vgl. Literaturverzeichnis.
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Nietzsche und Thomas Mann in Zeiten des Krieges
ist die Kunst, die zusammenhält und brüderlich bindet, – Volkskunst in einem Sinne, der von Klassenranküne und sozialer Verhetzung noch nichts oder nichts mehr weiß: nationale Kunst also, ja, das Romantische ist das Nationale, – oder es ist doch die Sehnsucht nach alledem, die Sehnsucht einer anarchischen Zeit nach dem alles Bindenden, nach Vereinigung, nach Religion, nach Kultur.« 34
Franz Schuberts Winterreise und darin insbesondere das Lied Am Brunnen vor dem Tore repräsentiert für Thomas Mann den Geist der Romantik, den er auch im Zauberberg thematisiert. Die Musik, die in Richard Wagners »Rheingold« der Erfüllung der romantischen Sehnsucht Ausdruck verleiht, wird ihm geradezu zur richtungsweisenden deutschen »Nationalkunst«. Im »Ringen um Begriff und Idee der Demokratie, einer wahren und echten, nationalen Demokratie«, verfolgt Thomas Mann das kulturelle Paradigma einer politischen Gemeinschaft. Das Ideal der echten Demokratie, das er in Bruno Walters Künstlertum erkennt, ist das Ideal einer meta-politischen Gemeinschaft, in der sich Volkstümlichkeit und »natürlicher Aristokratismus« des Künstlers vereinen. Es ist eine Gemeinschaft, die sich als ein »Seelenbund« von Individuen, der kulturell – vorzugsweise musikalisch – gestiftet wird, versteht (15.1, 200 ff.). So kann der Künstler mit der Idee der Demokratie »Frieden« schließen. Thomas Manns Ideal ist nicht nur weit entfernt von realpolitischen Verhältnissen, sondern unterscheidet sich auch von den dominanten Versionen der »Ideen von 1914«. Wenn man dazu die Schriften von Johann Plenge und dessen Abgrenzung von Nietzsche in Betracht zieht, so wird der andere Zuschnitt von Thomas Manns nationaler Kulturdemokratie deutlich. Plenge vertritt eine korporatistische Ordnungskonzeption des Staates, die eine staatssozialistische Organisation der »Volksgemeinschaft« anstrebt und den Ideen von 1789 deutsche Begriffe wie »Kameradschaft« statt Gleichheit, »nationaler Sozialismus« statt Brüderlichkeit entgegensetzt. Der »Kriegssozialismus« soll 34
Musik in München, 15.1, 198 f.
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Thomas Mann und die »Ideen von 1914«
in eine spätere Wirtschaftsordnung transformiert werden, die den westlichen Kapitalismus mit seiner demokratisch-liberalen Ausrichtung zugunsten einer höheren gesamtgesellschaftlichen, autoritär strukturierten (»Führer« statt Beamte) Einheit überwindet. Dabei vertritt Plenge eine konservativ-autoritäre Staatsauffassung und bejaht die moderne durchrationalisierte Industriegesellschaft, die er zu einem organischen Ganzen unter dem Begriff der »Organisation« fügt. Plenges Verständnis von einer deutschen Revolution, die sich als »Revolution des Aufbaus und des Zusammenschlusses aller staatlichen Kräfte« mit dem 2. August 1914 etabliert habe, liefert das Zeitbild einer politisch-geistigen Konstellation, die auf breite Resonanz in gebildeten Kreisen stößt und von einem »Gott-mit-uns-Pathos« in Reden oder Aufrufen begleitet ist. 35 Von anderen Protagonisten der »Ideen von 1914« und Sombart unterscheidet sich Plenge dadurch, dass er seine Ideen von Nietzsche abgrenzt. Demgegenüber bringt Kjellén unter Berufung auf Plenges Kriegsvorträge und Sombarts Händler und Helden seine eigene Konzeption der »Ideen von 1914« in Umlauf und kritisiert den Subjektivismus der Menschenrechte von 1789, die nur »halbe Wahrheiten« beinhalteten. Die Ideen von 1789 sollen seiner Meinung nach in neue Leitbegriffe transformiert und statt der bloß »formellen« Freiheit soll der höhere Begriff der »Ordnung« verbindlich werden. Der Begriff der Gleichheit erhält eine neue Bedeutung im Sinne eines organisch-holistischen Gerechtigkeitskonzepts, das sich gegen die Dabei spielt auch der frühe Nietzsche-Kritiker Ulrich von WilamowitzMoellendorff (Polemik gegen die Geburt der Tragödie etc.) eine wichtige Rolle. Er gehört nicht nur zu den Befürwortern der »Ideen von 1914«, sondern ist auch der Verfasser der Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches (Okt. 1914), in der es heißt, »daß für die ganze Kultur Europas das Heil an dem Siege hängt, den der deutsche ›Militarismus‹ erkämpfen wird, die Manneszucht, die Treue, der Opfermut des einträchtigen freien Volkes.« Die Erklärung wurde von einer überwältigenden Mehrheit an allen Universitäten unterzeichnet. Text in: K. Böhme, Aufrufe, a. a. O., 50.
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Nietzsche und Thomas Mann in Zeiten des Krieges
Bildung eines Durchschnittsbegriffs von Gleichheit richtet, die zu einer »Dekapitierung der Menschheit« und deren Verkümmerung zum »Massenindividuum« führe. Gegen diese Nivellierung wird Nietzsche als Kronzeuge angeführt, denn dessen Idee des Übermenschen wende sich gegen den Durchschnitt und das banale Glück. 36 Gegen Kjellén erhebt Plenge Einspruch. Er teilt zwar die Auffassung, dass Nietzsches Kritik des Egalitarismus der Französischen Revolution seine und Kjelléns Ablehnung der modernen Gleichmacherei und Verflachung verstärken kann, doch er sieht richtig, dass Nietzsches moralische Rangordnung (»Herrenund Sklavenmoral«) eine elitäre Distanz zur Massengesellschaft impliziert: »Wer darum von Zarathustra kommt, muß vielleicht noch mehr umlernen, um 1914 zu verstehen, als wer von 1789 kommt, weil die Herrenmoral zwar durch die gemeinsame Entgegensetzung gegen 1789 eine schiefe Ähnlichkeit mit 1914 hat, aber in der scheinbaren Übereinstimmung der positiven Forderungen nur eine gefährliche Verzerrung der Ideen von 1914 ist und darum in jeder Hinsicht mißverstanden werden kann.« 37
Plenge plädiert für »die kräftige Einheit von Führer und Mannschaft« gemäß dem »Prinzip der Organisation« und warnt vor der »Verleitung zur Herrenmoral«, die seinem eigenen »apollinischen« Prinzip fremd sei. Aus seiner Sicht hätte auch Thomas Mann »umlernen« müssen, da dessen künstlerischer Aristokratismus analog zu Nietzsches Elitismus bei allem Hang zur romantisch getönten Volkstümlichkeit die deutsche Hochkultur zum Maßstab nimmt. Für Thomas Mann muss dieser Maßstab auch gegen Plenges Organisationsmodell im Interesse eines kulturellen Individualismus beibehalten werden: »Wenn aber ›Organisation‹, dieser andere politische Ruf von heute, Knechtung des Individuums durch den Staat, Staatsabsolutismus also, 36 37
Vgl. Kjellén, a. a. O., Kap. II. Plenge, 1789 und 1914, a. a. O., 146.
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Thomas Mann und die »Ideen von 1914«
bedeuten soll, und sei es auch der Absolutismus des Volksstaates, ja, sei es gerade dieser, – dann nieder auch mit ihm!« (13.1, 306)
Durch welche Anstöße auch immer Thomas Mann hier auf Plenge oder andere Vertreter des deutschen Organisationsmodells Bezug nehmen mag (vgl. 13.2, 387 f.), so unterstreicht das die für ihn entscheidende Fragestellung, wie eine meta-politische Kulturdemokratie in Einklang mit einer politischen Neugestaltung gebracht werden kann. Er problematisiert zwar eine eigenständige politische Ordnung Deutschlands, verfügt aber über keine spezifische Konzeption. Seine Orientierung an Begriffen wie »Volksstaat« oder »Staatssozialismus« zeigen sein Bemühen, sich auf die Herausforderung der Zeit, die immer stärker von der Notwendigkeit einer politischen Neuordnung Deutschlands bestimmt wird, einzulassen. 38 Wenn Thomas Mann solche Begriffe verwendet, geht es ihm darum, die damit umschriebenen politischen Konzeptionen mit seiner Idee von kultureller Vergemeinschaftung unter außerpolitischen Vorzeichen vereinbar zu machen. Seine Standardfrage lautet: Ist der Bildungsindividualismus, der »romantisch-unpolitische Individualismus«, mit dem »neudeutschen Staatssozialismus« zu versöhnen, ohne dass dies mit einer Politisierung nach westlichem Verständnis einhergeht? 39 Diese Frage leitet ihn auch in den Betrachtungen eines Unpolitischen, wobei es unerheblich ist, ob er die neudeutsche Ordnung als »Staatssozialis-
Vgl. zur Breite und Komplexität der Thematik: St. Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die ›Ideen von 1914‹ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin 2003. Zu Plenge im Kontext der »konservativen Revolution«, der Thomas Mann nicht zuzurechnen ist: R. P. Sieferle, Die konservative Revolution, Frankfurt/M. 1995, 71 ff. Plenge beansprucht später seinen »nationalen Sozialismus« als Vorläufer des NS. 39 Der Entwicklungsroman (1916), 15.1, 174 f. In diese Richtung geht auch die »Synthese von Macht und Geist«, die Thomas Mann als ein »Drittes Reich« anspricht, das durch den Krieg stimuliert wurde: An die Redaktion des ›Svenska Dagbladet‹ (1915), 15.1, 129. Vgl. zu dieser Gedankenfigur Kap. 2. 38
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Nietzsche und Thomas Mann in Zeiten des Krieges
mus« oder »Volksstaat« etikettiert. Wichtig ist für ihn, Konzeptionen der neuen Ordnung an seinen Vorstellungen von deutscher Kultur und Demokratie zu messen. 40 Ich wähle den Terminus Kulturdemokratie als Kennzeichnung des idealtypischen Modells, das Thomas Mann vorschwebt: Demokratie als Form der kulturellen Partizipation unter Achtung der jeweiligen individuellen Besonderheit. Diesen unpolitischen Begriff von Demokratie sieht Thomas Mann in der Kriegszeit in Einklang mit dem Kaiserreich, verwendet ihn aber auch als Kriterium zur Beurteilung anderer politischer Ordnungsvorstellungen und kontrastiert ihn mit der westlichen Demokratie. Für ein näheres Eingehen auf die Betrachtungen im Kontext von Thomas Manns Zuwendung zur Weimarer Republik ist damit eine Vororientierung gewonnen (vgl. Kap. 2.). Hinzu kommt ein weltgeschichtliches Ereignis, das sich stark auf die politische Neuorientierung Deutschlands auswirkt und auch für Thomas Mann von einiger Bedeutung ist. Mit der Russischen Oktoberrevolution wird ein neues Modell politischer Ordnung mit europaweiter Ausstrahlungskraft geschaffen. Die Revolution der Bolschewiki stellt das Kriegsgeschehen im Osten unter neue Vorzeichen, die zum Frieden von Brest-Litowsk führen (März 1918). Auch die innenpolitische Situation Deutschlands gerät unter ihren Einfluss. Es genügt hier, an die Fraktionierungen der Sozialdemokratie, die zur Abspaltung der USPD von der Mehrheitssozialdemokratie führen, zu erinnern. So finden verschiedene Phasen der Auseinandersetzung mit der bolschewistischen Politik ihren Niederschlag in der Spaltung der USPD und der Gründung der KPD. Entsprechende Fraktionierungen spielen auch in der deutschen Novemberrevolution von
Zum Volksstaat vgl. ergänzend 13.1, 268, 297, 360. »Sozialer Volksstaat«: 15.1, 233: Für das neue Deutschland. Eine Quelle zum Gebrauch des Volksstaatsbegriffs ist vermutlich W. Rathenau, Von kommenden Dingen (1917), in: Walther Rathenau, Hauptwerke und Gespräche, hg. v. Ernst Schulin, München 1977, 297–497, insbes. 436 ff. Vgl. den Kommentar 15.2, 130.
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1918 eine Rolle und zeigen ihre Wirkung in der Ausrufung des Freistaats Bayern durch Kurt Eisner (USPD). Thomas Mann verfolgt in München aus großer Nähe sowohl die Ermordung Eisners als auch die nachfolgende Münchner Räterepublik, die schon im Mai 1919 von Regierungstruppen aufgelöst wird. Da er die politische Neuordnung Deutschlands immer noch unter anti-westlichen Vorzeichen sieht, versucht er, die russische Entwicklung und die durch das bolschewistische Modell induzierten Begriffe auf seine Weise aufzunehmen. So betont er die kulturelle Gemeinsamkeit von Deutschen und Russen im Spiegel der russischen Literatur und überlegt, ob nicht der Idealtypus seiner Kulturdemokratie mit einem quasi bolschewistisch-kommunistischen Modell harmonieren könnte. Unter dieser Perspektive lassen sich sowohl Thomas Manns russische Sympathien wie sein Schwanken in der Beurteilung des Bolschewismus nachvollziehen. Am Beispiel Dostojewski erläutert er einerseits die russische Kulturdemokratie und äußert sich andererseits skeptisch zu deren Verbindung mit westlichen Modellen: »Ist nicht der Russe der menschlichste Mensch? Ist seine Literatur nicht die menschlichste von allen,– heilig vor Menschlichkeit? Rußland war in tiefster Seele immer demokratisch, ja christlich-kommunistisch, d. h. brüderlich gesonnen, und Dostojewski schien zu finden, daß für diesen Demokratismus das patriarchalisch-theokratische Selbstherrschertum eine angemessenere Staatsform darstelle, als die soziale und atheistische Republik.« (13.1, 476)
Für Thomas Mann ist die wahre menschliche Demokratie »eine Sache des Herzens« und das russische Beispiel zeige, dass sich Demokratie und Autokratie nicht ausschließen müssen. Umso mehr sei darauf zu achten, dass es keine »Mesalliance« zwischen der menschlichen Kulturdemokratie und der »Demokratie des Prinzips«, die Thomas Mann durch das Kriegsbündnis von Russland und Frankreich als gegeben ansieht, entstehe (13.1, 476). Die Demokratie des Prinzips ist der zur menschlichen Kul-
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Nietzsche und Thomas Mann in Zeiten des Krieges
turdemokratie konträre Idealtypus der westlich verfassten Demokratien und so ist fraglich, ob das neue sowjetische Modell eine vergleichbare Politisierung anstrebe wie der westliche Parlamentarismus oder ob es dazu eine Alternative darstellen könne. Zunächst führt Thomas Manns anti-westlicher Affekt durchaus zur Aufgeschlossenheit gegenüber dem Bolschewismus, denn der Kommunismus sei die Idee der Zukunft. 41 Deswegen interessiert er sich für »Wirtschaftsparlamente und (die) deutsche Zukunft der ›Räte‹« und »was am Spartacismus, Kommunismus, Bolschewismus gesund, menschlich, national, antiententetistisch, anti-politisch ist«. 42 Die Einsicht, dass diese Sichtweise nicht der politischen Wirklichkeit entspricht, führt bei ihm dazu, in dem bolschewistischen Modell eine immer weniger akzeptable Alternative zu sehen. Das hindert Thomas Mann jedoch nicht, noch im Jahr 1921 mit den Worten von 1917 die »Mesalliance« zwischen Russland und Frankreich, »das Mißbündnis der Menschlichkeit mit der Politik« zu kritisieren. 43 Sein Bedauern über den »falschen Krieg« mit Russland rekurriert erneut auf die russisch-deutsche »Demokratie des Herzens«, den Idealtypus der Kulturdemokratie, denn – wie es früher schon hieß – »deutsche und russische Menschlichkeit sind einander näher als russische und französische« (13.1, 477). Thomas Mann grenzt sich weiterhin von der westlichen Demokratie ab, doch nimmt er auch kritische Stimmen zum Bolschewismus, die sich in missbilligenden Kommentaren niederschlagen, auf. So finden sich die Ablehnung eines »revolutionären Politizismus«, die Absagen an die »Diktatur des Proletariats«, die »Internationalität des Sozialismus« und die Tb, 29. 11. 1918, 98. Vgl. zum Folgenden die materialreiche Studie: B. Koenen, Betrachtungen eines Unpolitischen. Thomas Mann über Rußland und den Bolschewismus, in: B. Koenen/L. Kopelew (Hg.), Deutschland und die Russische Revolution 1917–1924, München 1998, 313–379. 42 Tb, 22. 3. 1919, 176. 43 Russische Anthologie, 15.1, 339. Das Folgende ebd. 41
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Münchner Räterepublik. 44 Trotz aller Vorbehalte gegen den Bolschewismus bleibt die östliche Perspektive unter dem Vorzeichen der deutsch-russischen Kulturdemokratie bestehen. Zur Einordnung von Thomas Manns Beschäftigung mit dem Bolschewismus und der russischen Kultur ist es hilfreich, den Zeitkontext durch Walther Rathenau, dessen Schicksal später zu Thomas Manns politischer Wende beitrug, zu veranschaulichen. Der kompetente Industrielle (Vorsitz AEG), Schriftsteller und spätere Reichsaußenminister ist von dem bolschewistischen Modell sehr angetan, da er dem Kapitalismus keine Zukunft mehr zutraut. Er tritt für eine Neugestaltung Deutschlands unter angemessener Beteiligung aller Bevölkerungsschichten in einem »Volksstaat« ein und plädiert für die dringende Notwendigkeit einer wirtschaftlich-politischen Umorientierung. Es genügt hier, an seine Ideen für eine »Neue Wirtschaft« zu erinnern, welche die bestehende »anarchische und chaotische Wirtschaft« durch eine durchrationalisierte organische Gemeinwirtschaft ersetzen soll. Dabei denkt Rathenau an die Ablösung des westlichen Parlamentarismus durch ein »Rätewesen«, das er jedoch nicht auf wirtschaftlicher, sondern auf politischer Ebene sieht. Das bolschewistische Modell hinterlässt hier seine Spuren, führt aber dazu, dass Rathenau den »Doktrinarismus und Orthodoxismus Rußlands« ablehnt, denn aus »russischem Kommunismus wird tatarische Oligarchie«. Aufgrund seines Einblicks in operative Bedingungen von Wirtschaftsabläufen fordert Rathenau die Wertschätzung von Fachkompetenz und geistiger Führung. Seine Formel lautet: »Führung der Besten, Mitbestimmung Aller«. Das bedeutet, die »geistige Ungleichheit von Menschen« anzuerkennen und Vgl. Tb, 9. 10. 1918, 28; Für das neue Deutschland (1919): 15.1, 233; Br I, 183 (5. 9. 1920); Tb, 1918–1921, 220 ff. Ausführlich Koenen, a. a. O. Eine wichtige Kritik ist die von Dimitrij Mereshkowskij, des von Thomas Mann hochgeschätzten Vertreters und Vermittlers der russischen Literatur, den er als »Weltpsycholog« neben Nietzsche stellt (15.1, 339) und dessen »AntiBolschewisten-Buch« ihm bekannt war (vgl. Tb, 1918–1921, 539).
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der Einsicht zu folgen, dass »echte Revolution« nur im Geist entschieden wird. 45 Auch in Stellungnahmen gegenüber Zeitzeugen zeigt sich, wie stark Rathenau durch den Bolschewismus beeinflusst ist. So sieht er in ihm ein »großartiges System, dem wahrscheinlich die Zukunft gehören werde. In hundert Jahren werde die Welt bolschewistisch sein.« 46 Im selben Jahr, 1919, bekräftigt er gegenüber Karl Radek, einem wichtigen Vertreter der Bolschewiki, dass eine neue Ordnung geschaffen werden müsse, da es eine Rückkehr zum bisherigen Kapitalismus nicht geben könne. Doch zugleich ist Rathenau skeptisch, ob die Bolschewiki wie überhaupt die Arbeiterklasse in der Lage seien, eine neue planwirtschaftliche Ordnung erfolgreich zu gestalten, weil das eine hochkomplizierte Herausforderung bedeute. Seiner Meinung nach bedürfe es dazu einer »Aristokratie des Geistes«. Der Pragmatiker der Wirtschaft und idealistische Schriftsteller Rathenau, bei dem Nietzsches Elitismus deutliche Spuren hinterlassen hat, setzt zwar andere Akzente als Thomas Mann, doch zeigt er mit seinem Interesse für das bolschewistische Modell ein Bewusstsein für die geschichtliche Umbruchsituation. So sucht er nach neuen Perspektiven für die Nachkriegszeit in Deutschland und ist wie Thomas Mann immer auch vom Wunsch nach einer Synthese von Ost und West geleitet. Rathenau kommt diesem Wunsch auf seine Weise nach, bei Thomas Mann dauert es, bis für ihn Kultur und Politik eine neue Beziehung eingehen.
Zum »Volksstaat« vgl. Anm. 38. Zitate zur Konzeption von Rathenau aus: ders., Kritik der dreifachen Revolution. Apologie (1919), Nördlingen 1987, 45, 65 f., 60, 78, 73, 39, 18. Im Übrigen ist Thomas Mann diese Schrift bekannt. Trotz seines Kommentars »halb echt, halb falsch« erkennt er jedoch die Bemühungen Rathenaus an: »aber er plagt sich redlich – und um wen stünde es besser?«, Tb, 13. 8. 1919. 46 Rathenau, Hauptwerke, a. a. O., 779: Zeugnis: Harry Graf Kessler; Zeugnis: Karl Radek ebd., 804. Zu Rathenau vgl. Kap. 2. 45
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Offenes Problem: »Demokratie des Herzens« versus realpolitische Form
1.3 Offenes Problem: »Demokratie des Herzens« versus realpolitische Form Thomas Manns politische Unsicherheit zeigt sich Anfang der 1920er Jahre daran, dass er politische Einschätzungen vornimmt und den Idealtypus der Kulturdemokratie als Zukunftstraum stilisiert. Aus Anlass eines Kommentars zu Graf Keyserling besteht er darauf, dass er »nicht an einen deutschen Republikanismus in irgendeinem älteren westlichen Sinn« glaube. Zugleich meint er, dass die Revolution von 1918 zu einem Zustand geführt habe, der »gut ist«. Die Revolution habe die Menschen für die Zukunft frei gemacht, so dass sich jetzt die »kulturbildende Kraft des deutschen Geistes« erweisen könne. 47 Die Gemeinsamkeit mit Keyserling sieht er in der Vergeistigung des deutschen Konservativismus. Dagegen seien »Pogrom-Monarchisten und Patriotenlümmel« der radikalen Rechten in die Schranken zu weisen. Mit Keyserling stilisiert Thomas Mann das »politische Problem als eine Angelegenheit des inneren Menschen, als eine Erziehungs- und Bildungsfrage«, die letztlich nur durch Kultur eine Antwort finden könne: »Kultur – das ist menschliche Ganzheit und Harmonie; es ist die Vergeistigung des Lebens und das Fleichwerden des Geistes, – die Synthese von Seele und Geist […] Deutschland als Kultur, als Meisterwerk, als Verwirklichung seiner Musik; Deutschland einer klugen und reichen Fuge gleich, deren Stimmen in kunstvoller Freiheit einander und dem erhabenen Ganzen dienen, ein vielfacher Volksorganismus, gegliedert und einheitlich, voll Ehrfurcht und Gemeinsamkeit […] bewahrend und schöpferisch, arbeitsam, würdevoll, glücklich, das Vorbild der Völker, – ein Traum, der wert ist, geträumt, der wert ist, geglaubt zu werden.« (15.1, 293 f.)
Mit genau denselben Worten beendet Thomas Mann seinen Vortrag Goethe und Tolstoi, der exemplarisch für die ihn immer noch leitende deutsch-russische Kulturdemokratie steht. Für die 47
15.1, 293. Zum Folgenden ebd., 291, 281. Vgl. Br I, 173.
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Nietzsche und Thomas Mann in Zeiten des Krieges
anti-politische Bekräftigung wird auf Goethe verwiesen, der einen Geist der Erziehung vertrete, der »deutsch, nicht rhetorisch-humanistisch« und nicht »demokratisch-politisch« sei. Entsprechendes gelte für Tolstois Werk, wodurch sich eine »Verständigungsmöglichkeit« zwischen russischem und deutschem Wesen ergebe. 48 Doch kann das angesichts der politischen Realitäten nicht gelingen, denn in Russland werde die »mediterranklassisch-humanistische Überlieferung« als Kennzeichen der »bürgerlich-liberalen Epoche« durch die Herrschaft des Bolschewismus denunziert und in Deutschland sei »unentschieden«, ob die vorhandenen Kräfte des »humanistischen Liberalismus des Westens« den besonderen deutschen Bedingungen gerecht werden könnten. Die von manchen gestellte Alternative »Rom oder Moskau«, West oder Ost, werde zugunsten einer bürgerlichen Ordnung, die den deutschen Kulturtraum mit Leben erfüllt, hinfällig. Die Suche nach einer Synthese von Seele und Geist mit Hilfe der Kultur bewegt Thomas Mann auch in seiner Einleitung zu einer Auswahl russischer Literatur. Darin wird die kulturelle Vision einer Verbindung von Nietzsches Philosophie mit der russischen Literatur entfaltet, die auf eine neue Religiosität verweist. Seit Gogols Tagen gehe es um ein neu-religiöses Menschentum, »um die Verleiblichung des Geistes und die Vergeistigung des Fleisches«, ein Kampf, der »nirgends kühner und inniger geführt werde als in der russischen Seele« und – in Nietzsche. Nietzsche steht so für eine neue Synthese von Aufklärung und Glauben, die Thomas Mann zur Wortprägung einer »konservativen Revolution« führt: »Nietzsche hat das Christentum und die ›asketischen Ideale‹ mit den äußersten Mitteln bekämpft […] um einer neuen Religiosität, eines neuen ›Sinnes der Erde‹ und um der Heiligung des Leibes willen, im 15.1, 418–420 (Vortrag September 1921, Druck März 1922). Das Folgende ebd. Zur Entstehung und späteren unterschiedlichen Fortschreibungen des Vortrags: Kommentar 15.2, 260 ff.
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Offenes Problem: »Demokratie des Herzens« versus realpolitische Form
Namen des ›Dritten Reiches‹, von dem Ibsen […] sprach, des Reiches, dessen synthetische Idee seit Jahrzehnten über den Rand der Welt aufgestiegen ist […]. Seine Synthese ist die von Aufklärung und Glauben, von Freiheit und Gebundenheit, von Geist und Fleisch, von ›Gott‹ und ›Welt‹. Es ist, künstlerisch ausgedrückt, die von Sinnlichkeit und Kritizismus, politisch ausgedrückt, die von Konservativismus und Revolution. Denn Konservativismus braucht nur Geist zu haben, um revolutionärer zu sein als irgendwelche positivistisch-liberalistische Aufklärung, und Nietzsche selbst war, von Anbeginn, schon in den ›Unzeitgemäßen Betrachtungen‹, nichts anderes als konservative Revolution.« 49
Es fällt schwer, diesen Begriff der konservativen Revolution für ein politisches Programm zu nehmen, das darauf abzielt, die als »gut« befundene Revolution von 1918 durch eine handfeste Revolution von rechts zu überbieten. Vielmehr ist der Idealtypus eines kulturellen Konservativismus bestimmend, der allenfalls dadurch revolutionär genannt werden kann, dass er mit Nietzsche auf die Erneuerung eines Menschenbildes abhebt, jedoch die kulturkritische Radikalität Nietzsches »neureligiös« unterläuft. Thomas Mann formuliert im Kontext deutsch-russischer Künstlerverwandtschaft eine kulturutopische konservative Revolution, der jedoch die realpolitische Dimension abgeht. Dass er darüber hinaus Deutschland als kulturelles »Meisterwerk« beschwört und zum Vorbild der Völker erklärt, unterstreicht den utopischen Zug seiner Gedankenführung. 50 In der Berufung auf Nietzsche zeigt sich erneut das Dilemma der apolitischen Prämisse, die einem Zusammenfügen von Kulturideal und realpolitischer Form im Weg steht. Die für Nietzsches Zeit maßgebende staatliche Ordnungsmacht des Kaiserreichs ist Vergangenheit und es ist unklar, wie mit der durch die politische
Russische Anthologie (1921), 15.1, 341. Zur russischen Seele ebd. Zur späteren Kritik Thomas Manns an der konservativen Revolution als einer nationalen Revolution der Rechten vgl. R. Zimmermann, Mit Nietzsche in die Republik. Thomas Mann als Wortgeber und Kritiker der »konservativen Revolution«, in: S. Kaufmann/A. U. Sommer (Hg.), Nietzsche und die »konservative Revolution«, Berlin 2017 (im Druck).
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Nietzsche und Thomas Mann in Zeiten des Krieges
Neuordnung geschaffenen Republik umzugehen ist, da diese durch westlichen Konstitutionalismus bestimmt erscheint, ihre spezifisch deutsche Ausprägung aber noch der Konkretisierung bedarf. So gesehen kann es als offene Frage betrachtet werden, mit welcher realpolitischen Form die apolitische Kulturdemokratie, die »Demokratie des Herzens«, am ehesten ein Bündnis einzugehen vermag. 51 Thomas Mann kommt zur Einsicht, dass Republik und Kultur eine Einheit bilden müssen, nicht zuletzt weil kulturelle Reaktion, Antisemitismus und »Hakenkreuz-Unfug« 52 zunehmend zur Bedrohung werden. Doch daraus ergibt sich eine neue Herausforderung: die kulturelle Befruchtung der Republik im Geist Nietzsches.
Im Sinn dieser offenen Frage lässt sich von einer »unpolitisch-politischen Utopie Thomas Manns« sprechen, doch steht auch das nur für das oben benannte ungelöste Problem. Vgl. Ph. Gut, Thomas Manns Idee einer deutschen Kultur, Frankfurt/M. 2008, 139. 52 Vgl. Zur jüdischen Frage (1921), 15.1, 427–438, insbes. 435 f. Erstveröffentlichung 1966. Vgl. den Kommentar 15.2, 283 f. 51
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2. Nietzscheanischer Republikanismus: Thomas Mann in Weimar
Thomas Mann integriert seinen »ironischen Konservativismus« in die neue deutsche Demokratie und nimmt Nietzsche als Ikone der Hochkultur für seinen nationalen Republikanismus in Anspruch (2.1). Bei seiner Wandlung zum Republikaner stützt sich Thomas Mann auf Potenziale der Romantik, die er im Interesse einer kulturellen Festigung der Republik gegen die politische Rechte einbringt (2.2). Die nähere Analyse von Thomas Manns republikanischer Wende zeigt seine nietzscheanische »Selbstüberwindung«, in der er sich zu einer Neubestimmung der Beziehung von Politik und Kultur durchringt. Angesichts der nationalsozialistischen Gefahr plädiert Thomas Mann für eine Koalition aus Bürgertum und Sozialdemokratie, die er unter Berufung auf Nietzsche mit einem Bekenntnis zum Sozialismus verbindet (2.3). Mit dieser Perspektive betreibt Thomas Mann eine politisch-pragmatische Integration von Nietzsche in die Republik (2.4). Das erfordert weitere Klärungen, die das Verhältnis von Nietzsche zur Politik (Kap. 3), dessen faschistische Vereinnahmungen (Kap. 5) und die Neubewertung Nietzsches aufgrund historischer Erfahrung betreffen (Kap. 6, 7).
2.1 »Deutsche Demokratie« mit Nietzsche Mit dem emphatischen Ausruf »Es lebe die Republik!« beendet Thomas Mann seine Rede vom 13. Oktober 1922, in der er sich zur Weimarer Verfassung bekennt. Es stellt sich die Frage, was ihn bewogen haben mag, seine Kritik der westlichen Demokratien zur Zeit des Ersten Weltkriegs zurückzunehmen (vgl. Kap. 1). Die Antwort auf diese Frage ist vielschichtig, doch fällt 51 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
Nietzscheanischer Republikanismus: Thomas Mann in Weimar
auf, dass sich die politischen Stellungnahmen und Wandlungen Thomas Manns in unterschiedlicher Weise auf Nietzsche beziehen. So steht Nietzsche im Jahr 1914 stellvertretend für die Moralität der deutschen Seele und den Gegensatz von Kultur und Zivilisation und bürgt wenige Jahre nach Thomas Manns Bekenntnis zur Republik mit Goethe, Schopenhauer und Kant für eine kosmopolitisch-europäische Perspektive. Der deutsche Geist mit seinen spezifischen Ressourcen soll zur Festigung der Demokratie beitragen. Mitte der 1920er Jahre beruft sich Thomas Mann auf Nietzsche, um für die Demokratie als »Reich der Humanität« zu werben. Das nehme ich zum Ausgangspunkt, um sowohl im Rückblick auf die Zeit des Ersten Weltkriegs als auch in der Vorausschau auf die NS-Zeit die politischen Positionierungen Thomas Manns zu beleuchten. Dazu ein Schlüsselzitat: »Es ist nur eine Oberflächenunwahrscheinlichkeit, daß der Geist Nietzsches die ideologische Grundlage bilden könne einer deutschen Demokratie. Ist er es nicht, der die Demokratie zur Vorbedingung erklärt hat eines neuen Adels […] und ist er nicht der nachchristliche und neuantikische Sänger einer neuen Heiligung der Erde und des Menschen, der Prophet eines neuen Bundes von Erde und Mensch? Was aber wäre Demokratie im höchsten Sinne, wenn nicht dieser neue Bund? Nietzsche, der Überwinder Wagners, der Überwinder der Romantik, ist zugleich der Begründer einer romantischen Renaissance, die eine Neuerfüllung unseres Bildes der Antike mit geheimnis- und blutvollem Leben bedeutet. Demokratie aber ist nur der moderne politische Name für den älteren, klassizistischen Begriff der Humanität – dieses Hochbegriffes, der zwei Welten, die antike und die christliche, zugleich überwölbt. Der Prophetie Nietzsches verdanken wir einen erfrischten, religiös vertieften Blick auf diese Synthese. Er hat uns das ›Dritte Reich‹ darin zu erkennen gelehrt, ein Reich der Verleiblichung des Geistes und der Vergeistigung des Fleisches, das Reich des ›Übermenschen‹, das er schlechthin das des Menschen hätte nennen mögen, das Reich der Humanität […]. Einigen wir Deutschen uns mit den Völkern in Ost und West, dies Reich mit dem Namen der Demokratie zu benennen: und wir
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»Deutsche Demokratie« mit Nietzsche
werden zu den hingebendsten, ja zu den berufensten unter den Arbeitern an ihrer Verwirklichung zählen.« (15.1, 948) 1
Diese Passage, die den Abschluss des Artikels Deutschland und die Demokratie in der Neuen Freien Presse (Wien 1925) bildet, dürfte für die meisten Leser weniger verständlich gewesen sein als die bereits im Untertitel vermittelte Botschaft: »Die Notwendigkeit der Verständigung mit dem Westen.« Diese Botschaft formuliert Thomas Mann ohne Berufung auf Nietzsche, wenn er zunächst den seelisch-geistigen Zustand Deutschlands im Spannungsfeld der bolschewistischen Entwicklung in Russland und dem Aufstieg des »Fascismus Italiens« verortet (15.1, 938 f.). Beide Strömungen sind für ihn Hinwendungen zu »Diktatur und Terror« (15.1, 939, 683), so dass sich die Frage stellt, »ob die mediterran-klassisch-humanistische Überlieferung eine Menschheitssache und darum menschlich-ewig, oder ob sie nur Geistform und Zubehör einer Epoche, nämlich der bürgerlichliberalen war und mit ihr sterben kann« (938 f.). Für Russland führt der anti-liberale Weg nicht nach Europa, sondern nach Asien, während es für Europa noch offen zu sein scheint, welche Kräfte die Oberhand gewinnen. Denn im Gefolge des Weltkriegs ist der Nationalismus und »das truthahnmäßige Selbstgefühl der einzelnen europäischen Völker« (939) extrem angeschwollen. Deutschland ist nach dem Krieg in einer besonders schwierigen Lage, weil die als demütigend empfundene Niederlage und die als ungerecht bewerteten Friedensbedingungen einer Radikalisierung Vorschub leisten, die im Sog der europaweit entstandenen nationalistischen, antiliberalen und antihumanen Welle das hervorbringt, »was man den deutschen Fascismus nennen kann« (944). Thomas Mann erkennt in diesem Faschismus »eine ethnische Religion«, die gleichermaßen, Judentum, Christentum und den »Humanismus unserer klassischen Literatur« verachtet und ein
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»völkisches Heidentum« zelebriert. Diese »romantische Barbarei« gelte es zu bekämpfen (944) 2 , nicht zuletzt um französischen Rechten wie Poincaré keine Handhabe zu weiteren antideutschen Restriktionen zu liefern. Deshalb ist es das Gebot der Stunde, »unsere großen humanen Überlieferungen mit Macht zu betonen«, nicht nur um ihrer selbst willen, sondern um »die Ansprüche der ›lateinischen Zivilisation‹ recht sichtlich ins Unrecht zu setzen« (945). Damit argumentiert Thomas Mann nicht mit dem früher bemühten Gegensatz von Kultur und Zivilisation, sondern versucht, die humanen Traditionen der lateinischen Zivilisation durch die spezifisch deutschen zu konterkarieren. Auf diese Weise zielt sein Plädoyer auf die Annäherung an den Westen und gleichzeitig auf einen spezifisch nationalen Charakter von Humanität, der sich in politisch-demokratischen Formen verwirklichen müsse. Dabei ist offensichtlich, dass seine Wendung von einem mit Nietzsche erkennbaren »Dritten Reich« qua Humanität nichts mit dem nazistischen Gebrauch des Begriffs zu tun hat (vgl. Kap. 1.2). 3 Der Begriff der Humanität ist das Bindeglied zwischen den westlich-demokratischen Traditionen und der deutschen Republik, für die Thomas Mann seit 1922 mit eigenwilligen Begründungen, welche die »großen Bildner unseres nationalen Wesens« – Goethe, Schopenhauer, Nietzsche – einbeziehen, wirbt (947). Er sieht die Aufgabe der »Einordnung Deutschlands in die Weltdemokratie« nicht als bloße Anpassung an angelsächsische oder französische Ideen und Traditionen, sondern als Bereicherung und Vertiefung dieser Ideen durch den deutschen Beitrag. Thomas Mann begrüßt daher den Aufsatz von Ernst Troeltsch, Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik (946 f., vgl. 15.1, 723 ff.), der für eine »Neubesinnung des deutschen Vgl. Goethe und Tolstoi, 15.1, 932. Zum Sprachgebrauch und zur NS-Ideologie vom »Dritten Reich« und seiner Vorläufer: C.-E. Bärsch, Die politische Religion des Nationalsozialismus, München/Paderborn 2002, 53 ff.
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historisch-politisch-ethischen Denkens« plädiert, um den in der Weltkriegszeit zurückgedrängten westlichen Traditionen der Angelsachsen und Franzosen wieder offener zu begegnen und an einer »Rückkehr zu universalgeschichtlichem Denken und Lebensgefühl« zu arbeiten. 4 Mit der Respektierung der westlichen Traditionen und der Humanitätsidee der universalistischen Menschenrechte, die Troeltsch durch deutsche romantisch-organische Denkweisen zurückgedrängt sieht, geht er nicht nur auf Distanz zu den »Ideen von 1914« (vgl. Kap. 1.2), sondern verarbeitet Ereignisse der politischen Gegenwart, die auch Thomas Mann gegenwärtig sind. Die Ermordung Walther Rathenaus durch rechtsradikale Attentäter am 24. Juni 1922 in Berlin schockiert nicht nur als weiterer Höhepunkt rechtsradikaler Gewalt 5 , sondern erfordert auch eine grundsätzliche Besinnung auf die Situation Deutschlands im Verhältnis zu den Siegermächten und seiner künftigen Innen- und Außenpolitik. Als Außenminister und Wirtschaftsexperte setzt sich Walther Rathenau für eine sukzessive Verständigung mit den alliierten Siegermächten ein, was dazu führt, dass Deutschland als gleichberechtigter Partner zur wirtschaftspolitischen Konferenz nach Genua (10. 4.–19. 5. 1922) eingeladen wird. In deren Kontext soll der Vertrag von Rapallo (16. 4. 1922) mit der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik zur Normalisierung der beiderseitigen Beziehungen beitragen. Rathenau steht für die Wahrung deutscher Interessen unter Bedingungen einer Balance zwischen Ost und West (vgl. Kap. 1.2). Insofern kann sein Tod als HerausfordeE. Troeltsch, Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik, in: E. Troeltsch, Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918–1923), Kritische Gesamtausgabe Bd. 15, Berlin/New York 2002, 510, 508. 5 Zur Erinnerung: In den Jahren davor sind die politischen Morde an Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Kurt Eisner (1919) sowie Matthias Erzberger (1921) von besonderer Bedeutung. Seit 1919 gab es bereits 300 politische Morde: M. Görtemaker, Thomas Mann und die Politik, Frankfurt/M. 2005, 50. 4
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rung gesehen werden, die Weimarer Republik erst recht gegen ihre Gegner zu verteidigen. Ernst Troeltsch, ein Freund Walther Rathenaus, warnt in seiner Trauerrede vor dem »Faszistentum« und den Gefahren von Bürgerkrieg und Chaos. 6 Auch Thomas Mann spricht in seiner Republikrede von einer Bedrohung durch den »sentimentalen Obskurantismus«, der »sich zum Terror organisiert und das Land durch ekelhafte und hirnverbrannte Mordtaten schändet« (15.1, 522). Der Mord an Rathenau veranlasst ihn jedoch zu einer Unterscheidung zwischen reaktionärer politischer Roheit qua Obskurantismus und dem »geisteszarten Namen der Romantik«, der angesichts der gegenwärtigen Krise zur politischen Aufklärung im Interesse des Humanums von Republik und Demokratie beitragen könne (522). 7 Thomas Manns Bekenntnis zur Republik erfolgt unter dem Eindruck ihrer Gefährdung durch den rechtsradikalen Terror. 8 So dient sein Rückgriff auf geistige Ressourcen der Romantik als republikanisch-demokratische Begründungsstütze. Ich verfolge zunächst die Besonderheiten der Republikrede, um dann näher auf den Stellenwert Nietzsches für Thomas Manns »deutsche Demokratie« einzugehen.
E. Troeltsch, Dem ermordeten Freunde, in: ders., Bd. 15, a. a. O., 475. Troeltschs Rede wurde in die August-Ausgabe (1922) der »Neuen Rundschau« des S. Fischer Verlags aufgenommen, die weitgehend eine Sondernummer zum Gedenken an Walther Rathenau darstellte. 7 Auch Thomas Mann hält eine Rede auf Walther Rathenau, doch erst ein Jahr später zum Jahrestag (1923) von dessen Ermordung. In dieser Münchner Gedenkrede unter Anwesenheit von Reichspräsident Friedrich Ebert (vgl. dazu Th. Mann, Brief über Ebert, 15.1, 950) kehren zentrale Bestandteile der Republikrede vom Oktober 1922 wieder. 8 Vgl. schon K. Sontheimer, Thomas Mann als politischer Schriftsteller, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jahrgang 6, 1958, Heft 1, 13: »Der Mord an Walther Rathenau drängte Thomas Mann schließlich das öffentliche Bekenntnis zur Demokratie auf die Lippen«. 6
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2.2 Republik und Humanität: Ressourcen der Romantik Thomas Mann entfaltet in seiner Republikrede ein Szenario, das durch zwei Hauptpunkte gekennzeichnet ist und sich unter ein Leitthema bringen lässt. Der erste Punkt besteht in der These, sein Eintreten für die Republik sei in der Kontinuität zu seinen früheren Äußerungen zum Verhältnis von Geist und Politik zu sehen. Im zweiten Punkt fordert er seine Zuhörer auf, ihm bei seinem Appell für die Republik zu folgen. Dazu bedarf es jedoch eines gemeinsamen geistigen Erbes, mit dem man sich identifiziert und das dazu anregt, sich für Neues zu öffnen: die deutsche Romantik. Thomas Manns Leitthema lautet daher: Wie kann der Geist der Romantik für die Republik fruchtbar gemacht werden? Hierzu sagt er an einer zentralen Stelle seiner Rede: »Man kann, denke ich, dem Neuen in Deutschland behilflich sein, seinen ›wesentlichen Zauber‹ zu entfalten, indem man es anzuschließen sucht an eine Sphäre und Epoche, deren geistiges Niveau das höchste bei uns je erreichte war, in welcher Volkstümlichkeit und hohe Kunst, nationale und universalistische Elemente eine wundervolle Verbindung eingingen, und die unserem Herzen in gewissem Maße immer Heimat bleiben wird, – an die Sphäre der deutschen Romantik.« (15.1, 537) 9
Mit diesem Gedankengang erinnert Thomas Mann an Walt Whitman, der sein Engagement für die Demokratie mit der Einsicht unterstreicht, politische Institutionen müssten »fest und klar in den Menschenherzen und ihrem Fühlen und Glauben« verankert werden. Während Whitman für Thomas Mann die westliche Demokratie vertritt, bürgt Novalis auf deutscher Seite für eine »Art romantischen Jakobinertums« (538). Novalis sehe den Menschen in kulturell-gebildeter Einheit mit dem Staat und nehme – obwohl Royalist – eine harmonische Einheit von »Freiheit und Gleichheit« vorweg, die republikanischen Geistes sei (539 f., vgl. 515). Thomas Mann ist sich der eigenwilligen Berufung auf Novalis und Whitman bewusst, wenn er beide als 9
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»wunderliches Paar« bezeichnet. Hinter dieser Ironie steht jedoch eine klare Überzeugungsabsicht: »denn die Demokratie, die Republik in Beziehung setzen zur deutschen Romantik – hieße das nicht, sie auch stutzigen und trutzigen Volksgenossen plausibel machen?« Die Verbindung von Volkstümlichkeit und hoher Kunst bringt Nationales und Universalistisches in eine Balance, die Thomas Mann bereits zu Beginn seiner Rede zu Gerhart Hauptmanns 60. Geburtstag anspricht. In seinem Lob für Hauptmann betont er dessen Popularität und sein humanes Deutschtum, das nicht »völkisch ungeschlacht und randalierend« sei, sondern eine friedfertige Liberalität ausstrahle (516 f.). Am Beispiel des Jubilars zeige sich, dass echte deutsche Popularität nie von »plump aggressiver und humanitätsloser Art« sein könne (518), sondern vielmehr immer zum Universellen hin offen bleibe. Für diese Offenheit bei gleichzeitiger Romantisierung des Partikularen ist Novalis »Eideshelfer« einer humanen deutschen Kultur, deren nationale Besonderheiten auf eine »Veredelung« des Universellen und nicht auf eine völkische Reduzierung verweisen (518 f.). Dadurch dass Thomas Mann mit Novalis ein humanes Bild der Romantik zeichnet, wird es ihm möglich, umso schärfer Fehlentwicklungen zu kritisieren, die sich gleichfalls romantisch besetzen lassen. So unterscheidet er echte Romantik und deformierte Romantik: »Krieg ist Romantik […] Zu leugnen, daß er heute spottschlechte Romantik, ekelhaft verhunzte Poesie ist, wäre Verstocktheit. Und um das Nationale nicht völlig in Verruf kommen […] zu lassen, wird es nötig sein, daß es, statt als Inbegriff alles Kriegsgeistes und Geräufes, vielmehr, seiner künstlerischen und fast schwärmerischen Natur durchaus entsprechend, immer unbedingter als Gegenstand eines Friedenskultus verstanden werde.« (519)
Das deckt sich mit seinem Verweis auf Stefan George, der die abschreckenden Erfahrungen des Krieges mit der Gedichtzeile
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Republik und Humanität: Ressourcen der Romantik
kommentiert: »Der alte Gott der Schlachten ist nicht mehr.« Damit drücke er aus, dass der Kriegsgott zur »abscheulichen Götzenfratze« geworden und es »obskurantistische Donquixoterie« sei, ihm weiter zu dienen (520 f.). »Obskurantismus« steht bei Thomas Mann für deformierte Romantik, die politisch »Reaktion« heiße (522). Die Kritik an dieser Deformation als Gegenbegriff zum romantisch-humanen Erbe durchzieht seine Republikrede. Thomas Mann ist sich bewusst, dass es schwierig ist, die Jugend und das republikskeptische Bürgertum – beides Adressaten, auf die es ihm ankommt – zu überzeugen. So deutet er den Gemeinschaftsgeist zu Beginn des Ersten Weltkriegs als vorweggenommenen Aufbruch zur Republik, um das Gegenargument, die Republik und ihre demokratische Verfassung seien Ausdruck der Niederlage und westlicher »Fremdherrschaft«, zu entkräften (527 f.). Das Resultat der Niederlage sei vielmehr die Absetzung der alten dynastischen Mächte, was den Staat zu »unser aller Angelegenheit« mache. Dieser müsse nun einerseits so akzeptiert werden, wie er geworden sei, andererseits aber verlange er nach einer genuin nationalen Gestaltung, in der die Stärken des deutschen Geistes zum Tragen kommen müssten (528 ff.). Das führt zu der Frage, die Thomas Mann selbst als Einwand formuliert: »Goethe und Nietzsche waren wohl Liberale? Hölderlin und George sind am Ende gar demokratische Geister, deiner schnurrigen Meinung nach?« (532) Seine Gegenfrage lautet, »ob es absurder ist, der Republik das Wort zu reden in ihrem Namen, als die Restauration zu predigen um ihretwillen« (532). Damit wird deutlich, dass es ihm bei seinem Plädoyer für die Republik nicht nur um die Einheit mit der Romantik geht, sondern um die Inanspruchnahme maßgeblicher Ikonen des deutschen Geistes für die Republik. Und so erreicht Thomas Mann seine zentrale These, die Republik stehe für die »Einheit von Staat und Kultur« (555, vgl. 532). Diese These kollidiert mit seiner Schrift Betrachtungen eines 59 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
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Unpolitischen aus dem Jahr 1918. Um diesen Widerspruch auszuräumen, simuliert er empörte Protestrufe: »›Wie? Und dein Buch? Deine antipolitisch-antidemokratischen Betrachtungen von anno 18?! Überläufer! Gesinnungslump […] wage nicht, gewinnende Kraft in Anspruch zu nehmen für das Wort des charakterlosesten Selbstverleugners!‹« (533) In seiner Antwort betont er, dass er nichts Wesentliches zurückzunehmen habe, weil es ihm immer darum gehe, eine deutsche Mitte zu bewahren, die zwischen »Romantizismus und Aufklärung, zwischen Mystik und Ratio« eine Balance der Humanität bilde (533 ff.). Damit präsentiert sich Thomas Mann als überzeugter »Konservativer«. Erneut beruft er sich auf Novalis und dessen Vorstellung von zwei »Lebensmächten«, von denen die eine auf die traditionelle Bewahrung deutsch-romantischer Traditionen und Autoritäten gerichtet sei, die andere dagegen auf das Neue, Junge und sich in freiheitlichen Tugenden Ausbreitende. Novalis habe in der Kirche, dem religiösen »dritten Element«, das Spannungsverhältnis auflösen wollen, während ihm selbst dieses dritte Element immer schon in der Sache der Humanität eine Herzensangelegenheit gewesen sei (534 ff.). Die Bewahrung der Humanität habe auch schon früher seine Kritik der westlichen Zivilisation und Demokratie motiviert, jetzt verbleibe nur noch ihre Sicherung im Rahmen der Republik. Diese sei als »Schicksal« anzunehmen, »zu dem ›amor fati‹ das einzig richtige Verhalten ist« (525). Der »amor fati« ist eine Anspielung auf Nietzsche und kann in Verbindung mit dem Leitbegriff der Humanität als Antizipation der oben genannten deutschen Demokratie gesehen werden. 10 In der Republikrede steht die Verteidigung der Republik, bei Es findet sich jedoch auch Kritik an Nietzsches Elitismus und seiner »Lyrik des blonden Bestialismus« (541 f.), die Thomas Mann anführt, um mit Walt Whitman die Rückbindung der Elite auf den gemeinsamen Grund der Nation zu betonen. Auch die Kritik an Spengler (546 ff.) ist von Whitman inspiriert. Zur Klarstellung der Nietzsche-Klischees vgl. Kap. 3, 5.
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der die Gewährsleute Novalis und Walt Whitman die herausragende Rolle spielen, im Vordergrund. 11 Es ist jedoch bemerkenswert, dass Thomas Mann sein Bekenntnis zur Republik nicht nur mit der Romantik und anderen Quellen des deutschen Geistes begründet, sondern mit politischem Realismus verbindet. Indem er die Republik als »positive Rechtsform« der Humanität kennzeichnet und sie im Interesse der nationalen Sache befürwortet, zeigt er Sinn für politische Institutionen (559). 12 Sein Verständnis von Republik und Demokratie bleibt aber von der »Sehnsucht nach wahrer Lebensgemeinschaft unseres Volkes« getragen. 13 Die Erfüllung dieser Sehnsucht bietet nun die Republik als nationale Gemeinschaftsform, in der Volk und Hochkultur harmonisch vereint und das Nationale und Universelle integriert sind. In dieser Bedeutung will Thomas Mann seine Definition von »Republik« verstanden wissen. Er datiert ihre Geburtsstunde auf das Jahr 1914, denn »damals, in der Stunde totbereiten Aufbruchs, habe sie in den Herzen der Jugend sich hergestellt«. So gilt für ihn die Republik nicht nur als Gemeinschaftsform, sondern zugleich als Form der nationalen Selbstbehauptung. Wie gewagt diese Rückprojektion auch sein mag, sie steht im Einklang mit der Überzeugung, die Republik brauche eine Verankerung in den Herzen der Menschen und es komme in der Gegenwart darauf an, »diesem jammervollen Staat, der keine Thomas Mann scheut sich nicht, mit Whitman eine Lobpreisung der Demokratie zu feiern, die homoerotische Züge trägt und die in der positiv gefassten Einheit von Tod und Liebe ausklingt. Vgl. W. Lepenies, Kultur und Politik, München 2006, 147 ff. 12 Reformpolitische Kontexte waren ihm gleichfalls vertraut. Dazu: H. Wißkirchen, Die romantische Republik. Thomas Mann und die Demokratie von Weimar, in: H. Oberreuter/R. Wimmer (Hg.), Thomas Mann, die Deutschen und die Politik, München 2008, 25–39, insbes. 35 ff. Auch Wißkirchen verweist auf die »homosexuelle Whitman-Republik«, ebd., 32 ff. 13 Brief an Friedrich Lienhard, 6. 12. 1922, in: 22, 455. Folgende Zitate ebd. 456 f. 11
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Bürger hat, etwas wie Seele, Idee, Lebensgeist einzuflößen und ein Beispiel zu geben, indem man sich, notorischer ›Bürger‹, der man ist, entschlossen auf die Seite der Republik stellt […].« Die Verschränkung von politischen Stellungnahmen und geistigen Ressourcen der Romantik definiert das Spannungsfeld, in dem sich Thomas Mann zeitlebens bewegt und das er mit unterschiedlichen Selbstinterpretationen besetzt, die sich an seinem literarischen Werk ebenso verfolgen lassen. 14 Aufgrund seiner geistig-ästhetischen Prägung glaubt er, den Herausforderungen der Zeit nur durch eine Überprüfung romantischer Dispositionen und Traditionen begegnen zu können. Dass er dabei an einer inneren Kohärenz seiner Wandlungen festzuhalten versucht, mag psychologisch nachvollziehbar sein. Doch macht die Republikrede deutlich, dass die Romantik ein Problem darstellt, das weiterer Bearbeitung bedarf. Den Schlüssel für eine Lösung findet Thomas Mann in Nietzsches Kritik der Romantik und in dessen Selbstdarstellung: »Meine Humanität ist eine beständige Selbstüberwindung.« (EH, 276) Dieser Satz bildet das Leitmotiv von Thomas Manns Rede zum 80. Geburtstag Nietzsches. Darin würdigt Thomas Mann die »große, stellvertretende Selbstüberwindung« (15.1, 792) Nietzsches, einerseits als Überwinder von Wagner und der Romantik und andererseits als »Begründer einer romantischen Renaissance«, der der Demokratie eine besondere deutsche Note verleihe. Thomas Mann orientiert sich am Vorwort von Nietzsches Fall Wagner: »Wagnern den Rücken zu kehren war für mich ein Schicksal; irgend etwas nachher wieder gern zu haben ein Sieg. Niemand war vielleicht gefährlicher mit der Wagnerei verwachsen, niemand hat sich härter gegen sie gewehrt, Niemand sich mehr gefreut von ihr los zu sein. Eine Für das Umfeld des Ersten Weltkriegs sind insbesondere die Veränderungen relevant, die er an seinem Roman Zauberberg vornimmt, um romantische Grunddisposition und gesellschaftlich-politischen Wandel zu verarbeiten. Vgl. Wißkirchen, romantische Republik, a. a. O., 26 ff.; H. Kurzke, Thomas Mann. Epoche – Werk – Wirkung, München 2010 (4. Aufl.), 187 ff.
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Republikanische Wende: Politische Identifikation und ästhetische Distanz
lange Geschichte! – Will man ein Wort dafür? […] Vielleicht Selbstüberwindung […]« (WA, 11)
Der politische Weg der Selbstüberwindung führt Thomas Mann von der Identifikation mit dem Kaiserreich über die De-FactoAkzeptanz der Republik zur Konzeption von Demokratie aus dem Geist der deutschen Hochkultur. Er bezieht sich dabei auf romantische Traditionen, politische Zeiterfahrungen und literarische Ästhetik. Auf diese Weise gelingt es einem wichtigen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts, Nietzsche im Sinn des »ironischen Konservativismus« politisch zu integrieren. 15 Ich charakterisiere zunächst die Wandlungen, die Thomas Mann in Anlehnung an Nietzsche vollzieht (2.3). Darüber hinaus weist Thomas Manns Kritik des Faschismus als deformierte Romantik Analogien zu Nietzsches Wagner-Kritik auf, wobei die Ambivalenz des Nietzsche-Bildes im Dokor Faustus differenziert abzuwägen ist (Kap. 4).
2.3 Republikanische Wende: Politische Identifikation und ästhetische Distanz Im Kontext des Kulturkriegs, der sich seit August 1914 entwickelt, stehen Thomas Manns Gedanken im Kriege neben anderen zeitgenössischen Aussagen, die Nietzsche für den kämpferischen Selbstbehauptungswillen Deutschlands in Anspruch nehmen (vgl. Kap. 1.2). Der Kriegssituation gewachsen zu sein und der deutschen Eigenart zu ihrem Recht zu verhelfen, sind für Thomas Mann schriftstellerische wie persönliche Herausforderungen, um das Selbstverständnis seiner künstlerischen Existenz im Verhältnis zur Politik zu klären. Er glaubt, unter den Ersten gewesen zu sein, »die, in dem, was hereinbrach […] ein grundstürzendes Ereignis erkannten, […] eine Weltwende, die Sehr anregend zum Gesamtkomplex: Ch. Schmidt, Ehrfurcht und Erbarmen. Thomas Manns Nietzsche-Rezeption 1914–1947, Trier 1997.
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Nietzscheanischer Republikanismus: Thomas Mann in Weimar
blutig-geschichtliche Markierung der Jahrhundertwende zum mindesten.« (13.1, 235) 16 In den Betrachtungen eines Unpolitischen reflektiert Thomas Mann umfassend die geschichtlich-politische Lage und die Stellung seiner künstlerischen Existenz in der Zeit. Dabei spielen insbesondere die Bezüge auf Nietzsche eine herausragende Rolle. Sie bilden geradezu das Medium, in dem sich Thomas Manns Positionierungen vollziehen. So heißt es etwa: »man verzeihe mir, daß ich überall Nietzsche sehe und nur ihn; daß ich, obgleich seine geistig-politische Überwindung durch die Demokratie heute an jeder Straßenecke klebt, die Spur seines Lebens überall auch heute noch finde.« (13.1, 540 f.) 17 Thomas Mann geht es nicht um simple Nietzsche-Adaptationen, er hält es für »sinnlos«, aus der Perspektive der Gegenwart nach Urteilen von Nietzsche oder von Goethe zu fragen (13.1, 174). Bei aller Geistesverwandtschaft zu Nietzsche ist es sein Ziel, Klarheit über die eigene Zeit zu gewinnen. Dass diese Anstrengung zu keinem abschließenden Ergebnis führt, lässt sich an den Betrachtungen in verschiedener Hinsicht zeigen. Man kann diesem Text nicht gerecht werden, wenn man ihn als konservativ-reaktionär abtut und mit der späteren Republikrede für überwunden erklärt. Ergiebiger ist es, danach zu fragen, warum der antipolitische Nietzscheanismus, den Thomas Mann zu stärken sucht, aufgegeben werden muss. 18 Dazu erinnere ich an den Vgl. den Kommentar von H. Kurzke: 13.2, 2009, 9 ff. Ich stimme dem Plädoyer dieses Kommentars für Differenzierung zu. Vgl. dazu und zum Folgenden auch: Lepenies, Kultur, a. a. O., Kap. 4. 17 Zu Recht betont Schmidt, Ehrfurcht und Erbarmen, a. a. O., 67 ff. die Leitbildfunktion von Nietzsche in dieser Schrift. 18 Rückblickend spricht Thomas Mann von einem »Rückzugsgefecht großen Stils […], geliefert im vollen Bewußtsein seiner Aussichtslosigkeit […]«: Kultur und Sozialismus (1927): Ess III, 55. Vgl. auch Meine Zeit (1950): Ess VI, 171: »das Buch war im Innersten weit mehr Experimentalund Bildungsroman als politisches Manifest; es war, psychologisch genommen, eine lange E r k u n d u n g der konservativ-nationalen Sphäre in polemischer Form […] Kaum war es fertig, löste ich mich von ihm, – eine Lö16
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»Selbstwiderspruch«, den Thomas Mann für typisch deutsch hält und den er in seinem Buch nur darzustellen, nicht zu lösen vorgibt: »Es ist ein deutscher Selbstwiderspruch: er erwächst aus dem Gegensatz von Deutschtum und politischem Wesen, diesem nationalen Gegensatz, der 1813 von Goethe, 1848 von Schopenhauer, nach 1871 von Nietzsche gegen die Leidenschaft der politisierenden Massen vertreten wurde […]. Es ist so und nicht anders, daß in Deutschland die Bejahung des Nationalen die Verneinung der Politik und der Demokratie in sich schließt – und umgekehrt […]. Der Ruf nach Deutschlands ›Politisierung‹ bedeutet in intellektueller Sphäre durchaus nicht den Ruf nach Deutschlands Macht […]. Er bedeutet vielmehr den Willen zur Revolutionierung und politischen Zersetzung Deutschlands. Auf der anderen Seite ist es möglich, daß jene selbe nationale Sympathie […], die jemanden Deutschlands Sieg, Macht und historische Größe wünschen läßt, ihm zugleich eine anti-politische Haltung seelisch-unweigerlich vorschreibt […].« (288 f.) 19
Diese antipolitische Einstellung ist jedoch für Thomas Mann mit dem politischen Bekenntnis zur Monarchie vereinbar. Sein Plädoyer gilt einer starken Regierung, die »Sachlichkeit, Ordnung, Anstand« repräsentiert (285). Er distanziert sich vom öffentlichen Parteienstreit, der im Zuge der Demokratisierung die Gefahr »einer völligen Nivellierung, journalistisch-rhetorischen Verdummung und Verpöbelung« (283) nach sich ziehe. Mit einer Demokratisierung im Sinne der Anwendung von »Prinzipien der utilitaristischen Aufklärung sei kein Staatswesen vereinbar« (281), wohl aber könne Demokratie im Verständnis eines »gemäßigten Liberalismus« dem Staatsinteresse dienen. Thomas Mann ist für »soziale Freizügigkeit« und eine Demo-
sung, die mir auf alle Weise erleichtert wurde: durch die stumpfe Ablehnung des Buches vonseiten der Deutsch-Konservativen, denen es viel zu europäisch und liberal war; […] durch das Heraufkommen des Faschismus.« 19 Im Folgenden beziehen sich einfache Seitenzahlen im Text immer auf die Betrachtungen: 13.1.
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Nietzscheanischer Republikanismus: Thomas Mann in Weimar
kratisierung der Bildungsmittel, so dass eine »möglichst vollkommene Übereinstimmung der persönlichen und sozialen Rangordnung« (282) erreicht werde. Auch wenn sich Thomas Mann auf Hammacher als Quelle für die eben genannte Formulierung beziehen mag 20 , so ist die Nähe zu Nietzsches Problem der Rangordnung unverkennbar, zumal Thomas Mann einen Aphorismus Nietzsches anführt, der die Förderung der Kultur durch den Austausch zwischen der Klasse der »Zwangsarbeiter« und der der »Freiarbeiter« betont (282). 21 Nietzsche ist auch der Stichwortgeber für die Kritik an der utilitaristischen Aufklärung wie für die Polemik gegen Nivellierungstendenzen der Demokratisierung, die aristokratische Maßstäbe und Auslese verlange. 22 Thomas Mann teilt diese Kritik, doch besteht sein Problem darin, dass er nicht mehr Nietzsches Plädoyer für politische Enthaltsamkeit folgen kann. Nietzsche geht es darum, den »Vielen« ihr Glück da, wo sie es zu finden meinen, zuzugestehen, doch zu verhindern, dass alles unter die Maßstäbe nivellierender Politik fällt. Es muss zumindest »Einigen mehr als je erlaubt sein, sich der Politik zu enthalten«, und »man muss es diesen Wenigen nachsehen, wenn sie das Glück der Vielen […] nicht so wichtig nehmen und sich hie und da eine ironische Miene zu Schulden kommen lassen; denn ihr Ernst liegt anderswo, ihr Glück ist ein anderer Begriff […].« Politische Enthaltsamkeit und ironischer Habitus im Interesse höherer kultureller Tätigkeiten wie Musik, Literatur oder Philosophie entsprechen auch Thomas Manns Auffassung. Der Krieg und die damit einhergehenden politischen Verwerfungen Kurzke, Kommentar, 13.2, 372. E. Hammacher (Hauptfragen der modernen Kultur, Leipzig/Berlin 1914) enthält in Kap. XV eine differenzierte Würdigung Nietzsches, die dessen Gedanken der Rangordnung konstruktiv aufgreift. Vgl. dazu Kap. 3. 21 Vgl. Nietzsche, MA I, 439-N. 22 Vgl. ebd., 438-N, das Voltaire-Zitat: »quand la populace se mêle de raisonner, tout est perdu.« Das folgende Zitat ebd. 20
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Republikanische Wende: Politische Identifikation und ästhetische Distanz
zwingen ihn jedoch zu einer anderen politischen Positionsbestimmung als der von Nietzsche. Denn bei aller Kritik am deutschen Kaiserreich und Bismarck bewegt sich Nietzsche doch im Rahmen der vorgegebenen politischen Ordnung. Wie zukunftsweisend Nietzsche für »Geisterkriege« des 20. Jahrhunderts auch genommen werden mag (vgl. Kap. 6) – die Dringlichkeit einer politischen Neukonstituierung Deutschlands ist nicht sein Thema. Diesem Thema kann Thomas Mann aber immer weniger ausweichen. Seine Betrachtungen stellen den Versuch dar, sein nietzscheanisch inspiriertes Künstlertum im Rahmen des Kaiserreichs aufrechtzuerhalten. Dabei zeigt sich immer mehr die Fragwürdigkeit dieses Unterfangens. Doch zunächst setzt sich der »Unpolitische« mit Verve und viel Polemik, nicht zuletzt gegen Heinrich Mann, in Szene. 23 Die mit Nietzsche wiederholt bekräftigte Gegenüberstellung von Kultur und Politik (156 f., 229 ff.) sieht Thomas Mann in der Liberalität des Kaiserreichs bestätigt. So habe ein Buch wie Nietzsches Antichrist ohne Probleme erscheinen können, auch wenn darin das Christentum zum Schandfleck der Menschheit erklärt werde (376). Zugleich habe Nietzsche in seiner Spätphase durch die »ekstatische Höhe des polemischen Pathos« wegweisend für »Zivilisationsliteraten« – wie Heinrich Mann – gewirkt. Durch Nietzsche sei zwar nicht inhaltlich, aber formal ein stilistisches Paradigma geschaffen worden, das sich nun in politisierenden Bekenntnissen und Manifesten äußere (377 ff., 95 f.). Aber Nietzsche steht auch für Begrenzung, denn jeder, der »gewaltthätig in Wort und Werk Meinungen vertritt« (377; MA I, 633), sei ein Feind der Kultur. Der »Zivilisationsliterat« verkörpert so eine literarisch-politische Haltung, für die nicht Trotz dieser unverkennbar persönlichen Dimension der Betrachtungen und den Belegen der direkten Bezugnahmen auf Heinrich Mann wäre es verkürzend, die Gedankengänge Thomas Manns nur unter dem Vorzeichen des »Bruderkonflikts« (H. Koopmann, Thomas Mann – Heinrich Mann. Die ungleichen Brüder, München 2005, 311) aufzunehmen. Vgl. Kurzke, Kommentar 13.2.
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nur Heinrich Mann steht. Thomas Mann greift damit Intellektuelle an, deren Publikationen den Geist westlicher Demokratien widerspiegeln. Das Problem ist jedoch, dass Thomas Mann selbst dem zivilisationsliterarischen Spektrum angehört. Sein kultureller Nietzscheanismus kann nicht die demokratisierenden Tendenzen der Zeit ignorieren. So wartet er mit einer Selbstcharakterisierung auf, die Anlass zu Klarstellungen gibt: »[…] die Literatur ist demokratisch und zivilisatorisch von Grund aus; richtiger noch: sie ist dasselbe wie Demokratie und Zivilisation. Und mein Schriftstellertum also wäre es, was mich den ›Fortschritt‹ Deutschlands an meinem Teile – noch fördern ließe, indem ich ihn konservativ bekämpfe? –« (45)
Wie lässt sich Thomas Manns konservative Haltung mit Begriffen wie Demokratie und Zivilisation vereinbaren, wenn er weiterhin darauf besteht, kein »Zivilisationsliterat« zu sein? Dem Selbstverständnis Thomas Manns, wie es in den Betrachtungen zum Ausdruck kommt, entspricht eine kulturell fundierte Rückbindung von Demokratie und Zivilisation auf das »Allgemeinmenschliche«, auf die »Demokratie des Herzens«. Diese sei der »Demokratie des Prinzips« und ihrer Rhetorik vorzuziehen (476, 486). Damit zielt Thomas Mann auf eine vorpolitische Dimension, in der »Brüderlichkeit« (528) von abstrakter Gleichheit abgehoben wird, eine moralische Dimension, die das ureigene Feld der Literatur, bei der es um die künstlerische Verarbeitung des Menschlichen in allen Höhen und Tiefen geht, umschreibt. Terminologisch definiert ist das die Position des zivilisatorisch-humanen Ästheten. Doch auch den von Thomas Mann kritisierten »Zivilisationsliteraten« kann nicht abgesprochen werden, dass sie, zumindest partiell, die künstlerische Gestaltung der allgemein menschlichen Dimension anstreben. Was also ist der spezifische Unterschied? Der Unterschied ist nicht primär ein literarischer, sondern einer der politischen Gesinnung, so dass der »Zivilisa68 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
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tionsliterat« auch als »Zivilisationspolitiker« bezeichnet werden kann. Thomas Mann kritisiert dessen rigiden politischen Moralismus. Er betreibe eine bloße Politik der Innerlichkeit, die sich den Niederungen der äußeren Politik, bei der es um Macht gehe, versage (316 f., 104). »Der Zivilisationspolitiker« ist »ein Demagoge großen Stils, nämlich ein Menschheitsschmeichler […] und, wenn er von Menschlichkeit spricht, ausschließlich des Menschen Hoheit und Würde im Sinne hat, während sein Widerspiel, der von ihm so genannte Ästhet, beim Worte ›Menschlichkeit‹ mehr des Menschen Schwäche, Ratlosigkeit und Erbärmlichkeit zu meinen geneigt ist, – der philanthropische Politiker also, angeblich so sehr um Menschenwürde besorgt, gerade er ist es, (und nicht etwa irgend ein ›Ästhet‹), der mit Hilfe des Ehrebegriffs ›Menschlichkeit‹ das Leben um allen Ernst, alle Würde, alle Schwere und Verantwortlichkeit zu bringen sucht, […] eine moralische Verkitschung der Welt und des Lebens, der Geschmack abzugewinnen […] nicht Sache des Künstlers sein sollte: welcher nämlich das stärkste Interesse daran hat, daß dem Leben die schweren, todernsten Akzente nicht völlig abhanden kommen […].« (483 f.)
Der Gegensatz, den Thomas Mann aufzeigen will, besteht also zwischen dem zivilisatorisch-humanen Ästheten und dem Vertreter einer moralistischen Fortschrittspolitik, dem Politmoralisten, der aus den Quellen westlicher Demokratien schöpft. Der Klarheit halber sei ergänzt, dass die »ästhetizistische Politik«, die Thomas Mann zurückweist (584 ff.), gleichzusetzen ist mit dem Politmoralismus, von dem er sich selbst als Ästhet ebenfalls abhebt. Wenn man Thomas Manns Argumentation als idealtypischen Konflikt – Ästhet versus Politmoralist – interpretiert, können die Schwachstellen wie die Konstanten seiner Stellung zur Politik sichtbar werden. Thomas Mann unterläuft offenbar ein Fehler, wenn er die Kritik des Politmoralisten mit einer grundsätzlichen Kritik der westlichen Demokratie verknüpft. Denn es gibt auch in Bezug auf westliche Demokratien gute Gründe gegen die philanthropische »Moraltrompete« (551). Man kann auf Max Webers Charakteristik des Gesinnungsethikers verweisen, dem es nur 69 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
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darum geht, die »Flamme der reinen Gesinnung« leuchten zu lassen, ohne sich um widrige Realitäten der Welt zu kümmern. 24 Thomas Manns Polemik gegen den »Menschheitsschmeichler« und die moralische Verkitschung der Welt zielt in dieselbe Richtung, doch daraus ist keine haltbare Kritik westlicher Demokratie abzuleiten. In der Folge kann Thomas Mann seinen Fehler korrigieren, ohne sein Selbstverständnis als Ästhet zu ändern. Tendenziell vollzieht sich diese Korrektur bereits in den Betrachtungen immer dann, wenn er auf künftige oder zeitnahe demokratische Entwicklungen, denen er sich nicht entgegenstellen wolle, zu sprechen kommt (360). So bleibt ihm eigentlich nur die Aufgabe, die Demokratisierung der letzten 20 Jahre ironisch-konservativ zu kommentieren (634 ff.), zumal er einräumen muss, dass die demokratische Entwicklung Nietzsche überholt habe (vgl. oben). Für Thomas Mann ist es jedoch wichtig, den künftigen »deutschen Volksstaat« 25 nicht zu einem »Pöbel«- oder »Literatenstaat« verkommen zu lassen und nicht aus »tyrannistischer Hartstirnigkeit« zu behaupten, »daß Deutschland, eben weil es nicht demokratisch gewesen, die Schuld am Kriege trage« (361). Mit polemischem Bezug auf Heinrich Manns Zola-Essay argumentiert Thomas Mann zutreffend, dass aus den politischen Verfassungsstrukturen der kriegführenden Mächte weder auf moralische Vorzüge der Kriegsparteien noch auf eine moralische Schuld am Krieg geschlossen werden kann. Eine grundsätzliche moralische wie politische Verurteilung des Krieges müsse alle Kriegsparteien treffen, es sei denn, es lägen deutliche Belege für die Kriegsschuld einer bestimmten Partei vor. Dass diese Be-
Vgl. M. Weber, Politik als Beruf, in: ders., Gesammelte Politische Schriften, Tübingen 1988, 551 f. Die Verbindung zu Max Weber sieht auch: F.-U. Straßner, Gegenwart und Gegenwelten im Deutschlandbild Thomas Manns, Frankfurt/M. 2006, 95 f. 25 Vgl. zum Kontext dieses Begriffs Kap. 1.2. 24
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lege in der Krisensituation des Jahres 1914 und im Verlauf des Krieges kaum zu erbringen sind, ist offensichtlich. Es ist daher unangemessen, Thomas Mann vorzuhalten, er unterstütze einen »Angriffskrieg« 26 , zumal die neuere historische Forschung ein komplexeres Bild vom Ersten Weltkrieg zeigt 27 . Dass Thomas Mann den Kriegsausbruch positiv kommentiert und sich zu deutschnationalem Überschwang hinreißen lässt, macht ihn noch nicht zum Angriffskrieger. Zweifellos zeichnet sich Heinrich Mann durch das Votum gegen den Krieg aus, doch muss man sehen, dass Thomas Mann seine Kriegsaufsätze und seine Kritik der westlichen Demokratie später korrigiert, ohne den idealtypischen Gegensatz von Ästhet und Politmoralist aufzugeben. Das Bekenntnis zur Republik und Demokratie macht ihn nicht zum Politmoralisten, sondern ist sein Versuch, die »Demokratie des Herzens« in die politische Verfassung der Republik zu integrieren. Zu dieser gab es aufgrund historischer Erfahrung keine Alternative, doch galt es, der Republik mit deutschen Traditionen »Lebensgeist« einzuhauchen. Insofern lässt sich die Haltung, die Thomas Mann zum Krieg einnimmt, sinngemäß auf seine spätere Einstellung übertragen: »Denn jene meine Haltung und Parteinahme, möge sie von aller Literatur verlassen gewesen sein: sie war notwendig, gesetzmäßig, folgerecht, echt und wahr, sie war Ergebnis, Quintessenz, unmittelbarer Ausdruck meines Wesens, meiner Herkunft, Erziehung und Bildung, meiner Natur und Kultur, die […] nicht ganz und gar schlecht sein kann, da ich ihr zwei oder drei Werke abgewann, die gut sind und von einiger Dauer sein werden […].« (218)
So noch Koopmann, Mann, a. a. O., 286, 290. Auch Schmidt, Ehrfurcht, a. a. O., 40, bleibt der »Fischer-These« zum Ausbruch des Kriegs verhaftet. 27 Exemplarisch: Ch. Clark, Die Schlafwandler, München 2013, H. Münkler, Der große Krieg, Berlin 2013, J. Leonhard, Die Büchse der Pandora, München 2014. 26
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Dieser Geisteshaltung entspricht die Hinwendung zur Republik als Ausdruck seines Ästhetentums. Das bedeutet für Thomas Mann, der Republik eine sie tragende kulturelle Grundlage, die auf Nietzsche zurückführt, zu verschaffen. Er wird durch Kriegserfahrungen und die politischen Wirren der Nachkriegszeit zum Republikaner und unterscheidet sich insofern von Nietzsche (vgl. Kap. 3). Doch als Thomas Mann seine neue politische Position einnimmt, kann er mit Nietzsches Kritik der Romantik und dessen Elitismus an der kulturellen Stärkung der Republik und Demokratie arbeiten. Ohne den ›wesentlichen Zauber‹ der neuen politischen Form scheint ihm die Republik als nicht überlebensfähig. Konnte Nietzsche im Bismarck’schen Kaiserreich noch kompromisslos auf der These des Antagonismus von »Cultur und Staat« (GD, 106) bestehen, so kommt Thomas Mann nicht mehr ohne eine Positionierung aus, die sich mit der Republik als adäquatem Rahmen der Kultur identifiziert: daher seine These von der Republik als Einheit von »Staat und Kultur«. Die Kontinuität von Thomas Manns Stellung zur Politik zeigt sich darin, dass er in konkreten Umständen des Zeitgeschehens Position bezieht, ohne seine Grundhaltung als Ästhet aufgeben zu müssen. Thomas Mann löst sich politisch vom Kaiserreich, wird aber kein Politmoralist, sondern Republikaner, weil er erkennt, dass es zur Republik keine Alternative gibt. In manchen Situationen kommt allerdings auch der Ästhet nicht umhin, politisch Stellung zu beziehen, weil sich ihm die Grundsatzfrage stellt, mit welcher politischen Ordnung sein humanes Selbstverständnis vereinbar ist. Doch das Bekenntnis zur Republik schränkt den ironischen Konservatismus des Ästheten nicht ein. Das demokratisch-politische Geschehen bedarf keiner moralischen Überhöhung, sondern eines pragmatischen Realismus. Wenn in diesem Rahmen die Demokratie zur Beglückung der Menschheit hochstilisiert oder mit dem Moralismus sozialer Utopien verbunden wird, spielt auch der Konflikt zwischen Ästhet und Politmoralist wie72 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
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der eine Rolle. So schließt für den Ästheten die grundsätzliche Identifikation mit der Republik und der Demokratie das Spannungsverhältnis zur Politik nicht aus. Ihm geht es vielmehr um ironische Bearbeitungen menschlicher Stärken, Unzulänglichkeiten und Dramen im politischen Bereich, denn er ist »Menschlichkeits-Tragikomiker« (324). Man kann daher das Fazit ziehen, dass Thomas Manns Stellung zur Republik durch den Doppelaspekt von politischer Identifikation und ästhetischer Distanz charakterisierbar ist. 28 Rückblickend zeigt sich, dass der Monarchismus von Thomas Manns Betrachtungen wie die republikanische Identifikation mit dem Grundzug des ironischen Ästheten kompatibel ist. 29 Thomas Mann ist klar geworden, dass er sich elementaren politischen Entscheidungen stellen muss, denn »die Zeiten des ›Elfenbeinturmes‹ und der politischen Interesselosigkeit (sind) vorbei«. 30 Insofern vermag er nicht mehr Nietzsches antipolitischem Credo, doch dessen Kulturkritik an Wagner und dem Wagnerianismus zu folgen. Aufrechterhalten kann Thomas Mann auch seine nietzscheanische Sicht auf die Lebenswirklichkeit, die er gegen Heinrich Mann in den Betrachtungen polemisch zuspitzt. Denn sowohl das Absehen von politischer wie kultureller Fortschrittsgläubigkeit als auch die Absage an gesellVgl. die treffende Beschreibung der Doppelrolle von Künstler und politischem Redner bei L. Pikulik, Thomas Mann und der Faschismus, Hildesheim 2013, 170 ff. M. Görtemaker, Politik, a. a. O., 236, wird diesem Doppelaspekt nicht gerecht, wenn er die mangelnde »innere Hinwendung zur Demokratie« bei Thomas Mann kritisiert. Er folgt damit dem Fehlurteil von J. Fest, Magier, a. a. O., 67, der den »politischen Schriftsteller« vermisst. Diese und andere Fehlurteile korrigiert überzeugend: R. Mehring, Thomas Mann. Künstler und Philosoph, München 2000, zusammenfassend ebd., 221 ff. 29 Vgl. dazu das Schlusskapitel der Betrachtungen zu »Ironie und Radikalismus«, dessen Grundüberlegungen zum Konservativismus als »erotische Ironie des Geistes« (13.1, 618 ff.) auch im republikanischen Rahmen gelten können. 30 Pariser Rechenschaft, 15.1, 1130. 28
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schaftliche oder politische Glückserfüllungen entspricht Thomas Manns konservativen Haltung auch nach seiner politischen Wandlung: »Was aber ist das Glück? Das weiß niemand, und niemand kann das Glück gemeingültig bestimmen. Das Glück ist etwas ganz und gar Relatives und Persönliches […] Aber verunglimpft man die Menschheit, indem man feststellt, daß durchaus nicht nur ihr hungernder Teil, daß die gewaltig überwiegende Mehrzahl aller Menschen unter dem ›Glücke‹ Fressen und Saufen versteht –, oder, um es höflicher […] zu sagen: ›den größten Genuß der wirtschaftlichen Güter‹ ? […] Dies aber hat zur Folge, daß alle Aufklärungsmoral, jede Lehre vom ›wahren Nutzen‹ des Menschen […] unbedingt in demselben Maße herunterkommt, das heißt sich materialisiert, verwirtschaftlicht und entgeistigt, als sie zur Macht gelangt, vom Sinn der Menge Besitz ergreift […].« (354 f.)
Dieser drastische Angriff Thomas Manns auf die »utilitaristische Aufklärungsmoral«, die Nietzsches Kritik der demokratischen Verpöbelung unter Berufung auf Voltaire aufgreift 31 , zielt direkt auf eine Formulierung Heinrich Manns in dessen Essay über Zola. Darin wird der französische Romancier als Vorbild für »entschlossene Menschenliebe« gepriesen. Die »wahre Menschheit« 32 sei das innere Zentrum seines Schaffens. Thomas Mann greift die Formulierung »entschlossene Menschenliebe« auf und wendet ein, dass Heinrich Manns These der Einheit von Kultur und Demokratie, Literatur und Politik zu der mit Nietzsche kritisierbaren utilitaristischen Vulgärdemokratisierung und Glücksideologie führe (vgl. Kap. 3). Es ist die Absage an einen gesellschaftlich-politischen Glücksbegriff: »Das ›Glück‹ ist Schimäre. Nie wird die Harmonie des Individualinteresses mit dem der Gemeinschaft sich herniedersenken, die ungleiche Verteilung des Nutzens niemals enden, und warum die Einen immer In Anlehnung an Hammacher: Kurzke, Kommentar, 13.2, 427. Vgl. zu Voltaire Anm. 22. 32 Heinrich Mann, Zola, in: ders., Essays und Publizistik, Bd. 2. Kritische Gesamtausgabe, Bielefeld 2012, 187, 171. Die folgenden Bezüge ebd., 147 f., 159. 31
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Herren, die Anderen Knechte sein müssen, das erklärst du den Menschen nicht […].« (356)
Dieser Chimäre nachzujagen ist Thomas Manns Vorwurf an die utilitaristisch geprägte Aufklärungsmoral und die mit ihr verbundene Demokratisierung, für die exemplarisch Heinrich Mann steht. Heinrich Mann mit dem Utilitarismus zusammen zu sehen, mag fraglich sein. Zutreffend ist, dass Heinrich Mann eine in der Tradition der Französischen Revolution stehende Fortschrittsidee vertritt und die Literatur in den Dienst des Kampfes für Menschenwürde stellt. Er fordert für Deutschland eine demokratische Entwicklung und ruft die Literaten dazu auf, als »Agitatoren« des Geistes gegen die Macht zu wirken. 33 Sein Pathos der Menschenliebe und seine euphorischen Beschwörungen des Glücks 34 unterstreichen die demokratischen Absichten Heinrich Manns, können aber als Programm eines politisch einlösbaren Glücksversprechens nicht überzeugen. Thomas Mann betont den Widerspruch an diesem kritischen Punkt in den Betrachtungen. 35 Damit verfügt er über ein Argument gegen »Glücksphilanthropie« (280), ein harmonistisches Menschheitspathos und Glücksutopien auch im Rahmen der Republik. Mit der Absage an den Krieg in der Republikrede verändert sich sein Verhältnis zu Krieg und Frieden. Wird in den Betrachtungen der Krieg noch als menschliche Grundgegebenheit bezeichnet und die »schiedlich-friedliche Völkergesellschaft« wie der »Ewige Friede« als »Chimäre« zurückgewiesen (504), so geht es in der Republikrede um den nationalen »Friedenskultus« als Fortschrittsmodell auf politischer Ebene. In der Sache wird Thomas Mann dadurch nicht zu einem Vertreter der Idee eines weltweiten ewigen Friedens, seine konservative Auffassung des Heinrich Mann, Geist und Tat, Essays, Bd. 2, a. a. O., 113–119. Ebd., 116; ders., Leben, nicht Zerstörung!, in: ders. Essays, Bd. 2, a. a. O., 227. Kurzke, Kommentar, 13.2, 664 f., spricht von »Glückstheatralik« bei Heinrich Mann. 35 Vgl. die direkte Bezugnahme auf Heinrich Mann: 13.1, 631. 33 34
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»Glücks« schließt jedoch nicht aus, für politische Wandlung im Sinn einer Friedenspolitik zu plädieren. Wichtiges Anliegen von Thomas Mann bleibt das Verhältnis von Kultur und Politik, das neben Veränderungen auch durch Kontinuitäten bestimmt wird. Er revidiert seine Betrachtungen, indem er seine plakative Gegenüberstellung des Französischen und Deutschen qua Zivilisation und Kultur zurücknimmt. Anlass dazu habe eine verfehlte deutsche Kriegsideologie und die Vulgarisierung der Charakterbilder von Völkern gegeben. 36 Aber die Fragestellung nach der Beziehung von nationaler Kultur oder Zivilisation zur jeweiligen Politik besteht weiter. Werden in den Betrachtungen mit Goethe, Schopenhauer und Nietzsche die Deutschen noch als unpolitisches Volk charakterisiert, so vertritt er jetzt die Idee vom Wandel der deutschen Kultur hin zu weltoffener Demokratie (Ess III, 58). Dieser Neuausrichtung entsprechen Überlegungen, auch die sozialdemokratische Arbeiterbewegung mit der Hochkultur zusammenzubringen: »Unserem Sozialismus insbesondere, dessen geistiges Leben sich allzulange in einem inferioren Wirtschaftsmaterialismus erschöpft hat, ist nichts notwendiger, als Anschluß zu finden an jenes höhere Deutschtum, das immer ›das Land der Griechen mit der Seele gesucht‹ hat. Er ist heute in politischer Hinsicht unsere eigentliche nationale Partei; aber er wird seiner nationalen Aufgabe nicht wahrhaft gewachsen sein, bevor nicht, um das Ding auf die Spitze zu stellen, Karl Marx den Friedrich Hölderlin gelesen hat, eine Begegnung, die übrigens im Begriffe scheint sich zu vollziehen.« 37
Die Synthese von Marx und Hölderlin wird zum Topos für die Hoffnung, ein Bündnis zwischen konservativer Kulturidee und »revolutionärem Gesellschaftsgedanken« voranzubringen, zugleich aber von Idealen kommunistischer Utopien, die Thomas Vgl. Tendenzen des heutigen Deutschland (1926): 15.1, 1078 ff.; Pariser Rechenschaft (1926): 15.1, 1146. 37 Goethe und Tolstoi (Essayfassung, 1925): 15.1, 933; Vgl. Brief über Ebert: 15.1, 949. 36
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Mann als illusionäre Erlösungsversprechen zurückweist, abzusehen 38 . Diese Annäherung an die Sozialdemokratie zeigt, dass Thomas Mann mit seiner Kritik des Politmoralismus die Möglichkeit der kulturellen Vertiefung praktischer Politik unter konservativem Vorzeichen nicht ausschließt. 39 Unter noch stärkeren politischen Vorzeichen steht Thomas Manns »Bekenntnis zum Sozialismus« in seinen beiden Reden von 1932 und 1933. Im Bewusstsein der nationalsozialistischen Gefahr und dem durch politische Morde agierenden Terror 40 gibt er erneut ein Grundbekenntnis zur Republik ab. Er fordert ein Bündnis von Bürgertum und Sozialdemokratie, denn »der geistige Mensch bürgerlicher Herkunft (gehört) heute auf die Seite des Arbeiters und der sozialen Demokratie« (Ess III, 353). 41 Für Thomas Mann sind das Politische und Soziale genauso Bereiche des Humanen wie das Persönliche. Er übernimmt den »Materialismus des Geistes«, den er bei Nietzsche findet: »Materialismus kann viel geistiger, viel idealistischer und religiöser sein als die innerlichkeitsvollste Vornehmtuerei gegen das Materielle; denn er bedeutet ja nicht, wie der Kulturbürger will, das Versunkensein im Materiellen, sondern eben den Willen, es mit Menschlichem zu durchdringen. ›An der E r d e zu freveln, ist jetzt das Furchtbarste‹, hat N i e t z s c h e gerufen. ›Ich beschwöre euch meine Brüder, bleibt der Erde treu […]‹ Das ist der Materialismus des Geistes, die Wendung eines religiösen Menschen zur Erde hin. Und S o z i a l i s m u s ist nichts Kultur und Sozialismus (1927): Ess III, 63. Vgl. Betrachtungen, 13.1, 436: »Jeder Versuch, den Plan einer technisch oder moralisch vollkommenen Gesellschaftsordnung zu entwerfen, führt ins Lächerliche und Absurde […]«. 40 Im August 1932 beging die SA Terrorakte in Königsberg, darunter die Erschießung von Kurt Kotzan, des Führers des von der SPD mitgetragenen Reichsbanners. 41 Der Text dieser Rede wurde am 19. 2. 1933 auf dem Kongress Das freie Wort verlesen; Thomas Mann war krankheitsbedingt verhindert. (Ess III, Kommentar, 501, zum Folgenden ebd. Kommentar, 498 ff.). Am 22. 10. 1932 hielt Thomas Mann eine Rede vor Wiener Arbeitern, die als Bericht der Wiener Arbeiterzeitung vom 23. 10. überliefert ist und in demselben Tenor wie der Redetext von Anfang 1933 gehalten war. 38 39
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anderes als der pflichtmäßige Entschluß, den Kopf nicht mehr vor den dringendsten Anforderungen der Materie, des gesellschaftlichen kollektiven Lebens in den Sand der himmlischen Dinge zu stecken, sondern sich auf die Seite derer zu schlagen, die der Erde einen Sinn geben wollen, einen Menschensinn. In diesem Sinn bin ich S o z i a l i s t .« (Ess III, 354 f.) 42
1925 stilisiert Thomas Mann Nietzsche zum Vordenker einer deutschen Demokratie, nun bezieht er Zarathustras Emphase der Diesseitigkeit auf die materielle Situation der Arbeiterschaft und wertet sie als humanes Anliegen. Die Solidarität mit den Arbeitern folgt keinen spezifisch sozialistischen Modellen wie der Vergesellschaftung der Produktionsmittel oder der Rätedemokratie. Im Vordergrund steht die Dringlichkeit, für ein Bündnis von Bürgertum und Sozialdemokratie zu werben, das der nationalsozialistischen Gefahr widerstehen kann. Bereits in seiner Deutschen Ansprache von 1930 43 nimmt Thomas Mann den Wahlerfolg der NSDAP desselben Jahres zum Anlass, als »Kind des deutschen Bürgertums« (262) für die Sozialdemokratie Partei zu ergreifen. Es geht ihm darum, die bürgerlichen Ängste vor dem Marxismus zu zerstreuen und den scharfen Gegensatz zwischen der Sozialdemokratie und dem »orthodoxen Marxismus moskowitisch-kommunistischer Prägung« zu betonen. Für ihn vertritt die Sozialdemokratie drei berechtigte Anliegen: soziale Sicherung der arbeitenden Klasse, Bewahrung der demokratischen Staatsform sowie außenpolitische Verständigung und Frieden (882/271). Worauf es ankomme, sei eine Verbindung von Bürgertum und Sozialdemokratie, Vgl. Nietzsche, »Von den Hinterweltlern«: Z I, 35 ff. Ort der Rede war – wie bei der Republikrede von 1922 – der BeethovenSaal in Berlin (17. 10. 1930). Text: Ess III, 259–279 (Seitenangaben nach dieser Ausgabe). Eine rechtsgerichtete Gruppe, darunter Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger, störte unter Führung des Schriftstellers Arnolt Bronnen die Veranstaltung. Zu deren Unterstützung hatte Goebbels zwanzig SA-Männer in Zivil geschickt. Zu weiteren Details: M. Görtemaker, a. a. O., 60 f.
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die er in Gustav Stresemann verkörpert sieht. Stresemann sei Vorbild, da er eine friedliche Revision des Versailler Vertrags erreicht und Deutschland wieder internationale Anerkennung verschafft habe (274 ff.). Diese Politik unterlaufe der Nationalsozialismus, der die Verunsicherung der Massen in wirtschaftlichen Krisenzeiten auszunutzen versuche: »Fanatismus wird Heilsprinzip […] Politik wird zum Massenopiat des Dritten Reiches oder einer proletarischen Eschatologie, und die Vernunft verhüllt ihr Antlitz.« (269) Thomas Mann ruft gegen den Nationalsozialismus die besten Traditionen der Deutschen als Kulturvolk auf. Diese müssten insbesondere dem Bürgertum am Herzen liegen. Zu diesen Traditionen gehören für ihn weltbürgerliche und hohe Klassik, Tiefe und Raffinement der Romantik, Goethe, Schopenhauer, Nietzsche sowie die »Morbidität von Wagners Tristan-Musik« (270). Damit setzt Thomas Mann den Maßstab für die Zurückweisung des nationalistischen Pathos der NS-Bewegung und ihrer Verherrlichung von Blut, Instinkt und Gewalt. Dieser »heruntergekommenen und mißbrauchten Geistigkeit« stellt er sein Selbstverständnis als bürgerlicher Demokrat entgegen und plädiert für eine europäische Völkerverständigung (Ess III, 356 f.). Die Kritik am dürftigen intellektuellen Niveau der nationalsozialistischen Bewegung erinnert an die in der Republikrede artikulierte Kritik der deformierten Romantik. Umso mehr sind niveauvolle geistige Ressourcen für Republik und Demokratie gefragt. Nietzsche verkörpert dieses Niveau und so ist der Rückgriff auf dessen »Materialismus des Geistes« eine der Formeln, um für die Sache der Humanität zu werben. Eine andere ist Thomas Manns Rede vom »Dritten Reich«, das er mit Nietzsche als »Verleiblichung des Geistes und Vergeistigung des Fleisches« versteht. Auch in seinem Bekenntnis zum Sozialismus kommt er darauf zurück und kritisiert, dass der Name dieses Dritten Reichs »heute so mißbräuchlich geführt wird« und nicht der 79 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
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humanen Einheit von Leib und Geist des Menschen verpflichtet sei. Denn diese Einheit strebe eine Philosophie der Diesseitigkeit nach dem Vorbild Nietzsches an und sie sei gleichermaßen das Ziel der Kunst: »Was hat schöpferische Kunst je anderes getan, als die Natur mit Menschlichem zu durchdringen und aus ihr zu nehmen, was sie zu ihrer schöpferischen Gestaltung des Lebens braucht? […] Sie ist das Zünden des Geistes in der Materie, der natürliche Trieb zur Gestaltung und Vergeistigung des Lebens – denn auch solche Naturtriebe gibt es, man soll uns nicht einreden, es gebe nur finstere und zerstörende.« (Ess III, 354)
Es bedarf keines besonderen Hinweises, um darin den Anklang an Nietzsches Kunstauffassung zu sehen. 44 Die Parallele von diesseitsorientierter Philosophie und Kunst verweist auf das, worauf es Thomas Mann bei seinem Rückgriff auf Nietzsche ankommt. Es geht darum, das soziale und politische Leben zu fördern und mit Qualitätsmaßstäben des Humanen in Einklang zu bringen. Dazu muss sich die bürgerliche Kultur öffnen und sich von problematischen deutschen Traditionen lösen. NietzVgl. Nietzsche, KSA, Bd. 11, 587 f.: »In der Hauptsache gebe ich den Künstlern mehr Recht als allen Philosophen bisher: sie verloren die große Spur nicht, auf der das Leben geht, sie liebten die Dinge ›dieser Welt‹, – sie liebten ihre Sinne […] wir wollen den Sinnen dankbar sein für ihre Feinheit, Fülle und Kraft und ihnen das Beste vom Geist, was wir haben, dagegen bieten […] es ist ein Merkmal der Wohlgerathenheit, wenn Einer gleich Goethen mit immer größerer Lust und Herzlichkeit an ›den Dingen der Welt‹ hängt: – dergestalt nämlich hält er die große Auffassung des Menschen fest, daß der Mensch d e r Ve r k l ä r e r d e s D a s e i n s wird, wenn er sich selbst verklären lernt.« Diese Passage findet sich auch als Nr. 820 in der Kompilation Der Wille zur Macht (dazu näher Kap. 3), die Thomas Mann bekannt war. Auch Philosophie in Nietzsches Sinn ist »Kunst der Transfiguration« (FW, 349-N). Auf diese Passage bezieht sich Thomas Mann bereits in dem kurzen Essay Die gesellschaftliche Stellung des Schriftstellers in Deutschland (1910), wo er vom »absoluten Schriftsteller« in wörtlicher Analogie zu Nietzsche sagt, dass dieser »Alles in Licht und Flamme« verwandle: 14.1, 228. Zu Nietzsches Metaphysik des Diesseits vgl. Kap. 7.2.
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sche verkörpert für Thomas Mann das »Reich der Humanität«, zu dem der »Übermensch« als Ideal des neuen Bundes zwischen Erde und Mensch ebenso gehört wie Nietzsches Überwindung der Romantik und des Wagnerianismus. Daher die Kontinuität, mit der Thomas Mann Nietzsche seit der Republikrede für die Demokratie in Anspruch nimmt. Es ist ihm unmöglich, die Vereinnahmungen Nietzsches durch den Nationalsozialismus zu akzeptieren. Da die christliche Tradition für Thomas Mann zur bürgerliche Kultur Deutschlands gehört, ist er bestrebt, Nietzsches Atheismus nicht wörtlich zu nehmen, sondern als puritanische Selbstreinigung einer neuen Dimension von Religion zu verstehen. Damit integriert er ihn in eine reformbürgerliche Perspektive. Bereits in den Betrachtungen interpretiert er Nietzsches europäisches Schauspiel der Selbstüberwindung als Aufbruch zu einem neuen Ethos, das ein »bürgerlich-dürerisch-moralistisches« Signum trage und dessen symbolische Gestalt Dürers Werk Ritter, Tod und Teufel sei (13.1, 160 f., 588). Nietzsche wird zum Erzieher, der mit Walt Whitman das »dritte Reich der religiösen Humanität« gründet (15.1: 553, 685). Es ist ein Reich, in dem Griechentum und amerikanische Demokratie ihren Ort haben. 45 So beschreibt Thomas Mann seine Gesamtsicht auf Nietzsche als einen Prozess der »Verbürgerlichung«: »[…] ich sah in Nietzsche vor allem den Selbstüberwinder; ich nahm nichts wörtlich bei ihm, ich glaubte ihm fast nichts […]. Sollte ich es etwa ›ernst‹ nehmen, wenn er den Hedonismus in der Kunst predigte? Wenn er Bizet gegen Wagner ausspielte? Was war mir seine Machtphilosophie und die ›Blonde Bestie‹ ? Beinahe eine Verlegenheit. Seine Verherrlichung des ›Lebens‹ auf Kosten des Geistes […] es gab nur eine Möglichkeit, sie mir zu assimilieren: als Ironie […]. Diese Verbürgerlichung schien mir und scheint mir auch heute noch tiefer und verschlagener als aller heroisch-ästhetische Rausch […]. Mein NietzscheVgl. Five Years of Democracy in Germany: 15.1, 674. Dort auch die Kritik an der angelsächsischen Zusammenführung von Nietzsche mit Treitschke und Bernhardi; ebenso ebd., 1085 f. Vgl. Kap. 1.1.
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Erlebnis bildete die Voraussetzung einer Periode konservativen Denkens, die ich zur Kriegszeit absolvierte; zugleich aber hat es mich widerstandsfähig gemacht gegen alle übel-romantischen Reize, die von einer inhumanen Wertung des Verhältnisses von Leben und Geist ausgehen können und heute so vielfach ausgehen.« 46
In diesem Sinn kehrt Thomas Mann seine an Nietzsche geschulte Widerstandsfähigkeit gegen den Ungeist der Zeit und den Nationalsozialismus. Nietzsche wird Teil eines demokratischen Spektrums mit elitären Maßstäben der Hochkultur. Die philosophische Radikalität Nietzsches wird republikanisch gezähmt.
2.4 Zwischenbilanz: Thomas Mann und Nietzsche in der Republik Als Zwischenbilanz fasse ich zentrale Punkte zusammen, die Thomas Manns Sicht auf Nietzsche leiten, und füge einige Ergänzungen hinzu: Nietzsche als Sprachkünstler und Kulturkritiker Nietzsche als quasi-religiöser Moralist und Anti-Politiker Nietzsche in der ironisch-politischen Korrektur Nietzsche ist für Thomas Mann das herausragende Beispiel eines europäischen Intellektuellen, dessen stilistische und polemische Meisterschaft das geistige Klima der Epoche prägt. Darüber hinaus erkennt Thomas Mann in Nietzsches sprachlicher Brillanz die innere Verwandtschaft von Sprache und Musik: »Seine Sprache selbst ist Musik und bekundet eine Feinheit des inneren Gehörs, eine Meisterschaft des Sinnes für Fall, Tempo, Rhythmus der scheinbar ungebundenen Rede, wie er in deutscher Prosa, und wahrscheinlich in europäischer überhaupt, bisher ohne Beispiel war. Nicht nur die Verwandtschaft und innere Zusammengehörigkeit von Kritik 46
Lebensabriß (1930): Ess III, 189.
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Zwischenbilanz: Thomas Mann und Nietzsche in der Republik
und Lyrik ist es, was das Phänomen Nietzsche, dieses Phänomen des Erkenntnislyrikers erweist, es zeigt zugleich […] die eigentümlichste Zusammengehörigkeit und innere Einheit von Kritik und Musik. Kritik aber heißt Scheidung und Entscheidung, und die Musik war es, an die die höchsten Entscheidungen seines Geistes und seiner Seele […] sich knüpften.« 47
Damit steht Nietzsche für Thomas Mann noch über dem »Sprachmeister« und »europäischen Prosaisten« Schopenhauer (15.1, 80) und dient ihm als Wegweiser für seine Auseinandersetzung mit Richard Wagner. Wagners Musik repräsentiert sowohl für Nietzsche wie für Thomas Mann eine bedeutende kulturelle Entwicklung, die als Gegenstand der Kulturkritik relevant ist. Die nie zum Abschluss gekommene Wagner-Kritik Nietzsches kommentiert Thomas Mann als »das stärkste kritische Erlebnis meiner Tage«, das ebenso wichtig sei wie die Kunst Wagners selbst, die er trotz der »höhlenbärenmäßigen Deutschtümelei« in Bayreuth als europäisches Ereignis einstuft. Deren Verführungen wolle er angemessen begegnen. 48 Nietzsche sei ein Vorbild an kultureller Sensibilität und kritischem Niveau. Ihm gelte es, bei der eigenen Würdigung und Verarbeitung Wagners nachzueifern. Der Essay zu Wagner, der Anlass für Thomas Manns Emigration aus Deutschland ist, kann als Bestätigung dafür dienen. 49 Aufgrund der literarischen und kritischen Qualität hält Thomas Mann eine Vereinnahmung von Nietzsche für den Nationalsozialismus für »eine Rede zur Feier des 80. Geburtstags Friedrich Nietzsches: 15.1, 789. Kosmopolitismus (1925): 15.1, 1022 f. 49 Leiden und Größe Richard Wagners (1933): Ess IV, 11–72. Der Text geht auf einen Vortrag zurück, den Thomas Mann aus Anlass des 50. Todesjahrs von Wagner in München hielt. Der Vortrag löste den Protest der RichardWagner-Stadt München aus, der als Presseveröffentlichung u. a. von Hans Pfitzner und Richard Strauss unterzeichnet wurde. Angeblich hatte Thomas Mann eine Verunglimpfung Wagners betrieben. Die Schärfe dieses Protests im Kontext der nationalsozialistischen Machtergreifung führte dazu, dass Thomas Mann von einer ausländischen Vortragsreise nicht mehr nach Deutschland zurückkehrte und schließlich das Exil wählte. 47 48
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Nietzscheanischer Republikanismus: Thomas Mann in Weimar
plumpe Niedertracht, die eine nie dagewesene Niveausenkung enthüllt«. 50 Thomas Mann nimmt Nietzsche als Verkünder einer künftigen Humanität wahr, die er in der Konzeption eines neuen Bundes von Erde und Mensch sieht, den er mit seiner Begriffsbildung des »Dritten Reichs« zugleich als Einheit von Leib und Geist feiert. Der Übermensch wird zum Repräsentanten dieses Reichs und Nietzsche zum Visionär eines neuen Menschensinns in der Dimension religiös-moralischer Idealbildung. Diese apolitische Idealbildung gehört zu einem hochkulturellen Elitismus, den Thomas Mann mit Nietzsche teilt. Dieser Elitismus dient als kritischer Maßstab, um die politischen Zustände der Gegenwart im Namen höherer Humanität zu kommentieren. Ausdruck dafür ist Thomas Manns Hinwendung zum Sozialismus als nietzscheanische Treue zu Leib und Leben und die Verurteilung des Nationalsozialismus als niveaulose Barbarei. Aber die religiöse Humanität, die Thomas Mann in Nietzsche sieht, ist mit dessen ernstgemeintem Atheismus nicht vereinbar, auch wenn Nietzsche den »Tod Gottes« gelegentlich als einen Prozess sieht, der sich möglicherweise über Jahrtausende hinzieht (vgl. FW, 108-N). Hieraus folgt nicht, dass sich aus der Kritik des Christentums oder anderer Religionen eine neue Art von Religion herausbilden müsste. Thomas Mann stilisiert Nietzsches Kritik der Religion vor allem als persönlich-heroischen Selbstreinigungskampf und ist bemüht, ihren sachlichen Gehalt zu neutralisieren und damit die christliche Tradition aufrechtzuerhalten. So betont Thomas Mann die geistige Radikalität Nietzsches (vgl. 15.1, 208), um ihn vor politischen Vereinnahmungen zu bewahren. Bereits in den Betrachtungen weist Thomas Mann den politisch orientierten Nietzscheanismus im Kontext der »Action française« zurück (13.1, 229 ff.) und besteht auch nach Brief an Wilhelm Emrich, 20. 6. 1932: 23.1, 641. Näheres dazu unten im Kontext von A. Bäumler: Kap. 5.2.
50
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Zwischenbilanz: Thomas Mann und Nietzsche in der Republik
der republikanischen Wende sowie in der Zeit der Auseinandersetzung mit Faschismus/Nationalsozialismus auf dieser Sichtweise. Nietzsche ist für ihn der Radikale im Geiste, dessen antipolitisches Credo er respektiert, auch wenn er selbst eine politische Haltung einnimmt. Dem widerspricht nicht, Nietzsche für die Integration von Republik und Hochkultur zu bemühen, was jedoch im Programmatischen verbleibt. Thomas Manns pragmatische Bestandsaufnahme lautet, dass, »solange es dem Deutschtum nicht gelingt, aus seiner eigensten Natur in politicis etwas Neues und Originales zu erfinden, man genötigt sei, aus dem Historisch-Überlieferten das Persönlichste und damit Beste zu machen […]« 51 Dieser Satz zur Verteidigung von Demokratie und Parlamentarismus richtet sich gegen die drohende nationalsozialistische Gefahr, den italienischen Faschismus sowie die bolschewistische Klassendiktatur. Der Pragmatismus, der sich in Thomas Manns Eintreten für die Republik zeigt, steht insofern in der Kontinuität der Betrachtungen, als diese einem anti-radikalen Verständnis von Politik folgen, das sich auch unter republikanischen Bedingungen rechtfertigen lässt: »Politik ist notwendig der Wille zur Vermittlung und zum positiven Ergebnis, ist Klugheit, Geschmeidigkeit, Höflichkeit, Diplomatie und braucht bei alledem der Kraft keineswegs zu entbehren, um immer das Gegenteil ihres Gegenteils zu bleiben: der vernichtenden Unbedingtheit, des Radikalismus.« 52
Für Thomas Mann muss sich Politik dem Leben mit allen Höhen und Tiefen gewachsen zeigen und kann deshalb nie eine rein geistige Botschaft sein. Sie sei darin der Kunst vergleichbar, die eine Mitte zwischen Leben und Geist einnehme und durch Ironie die »Bürgerliebe zum Menschlichen, Lebendigen und Gewöhnlichen« verarbeite. 53 In dieser Auffassung fühlt sich Tho51 52 53
Deutsche Ansprache: Ess III, 265. 13.1, 628. Tonio Kröger: 2.1, 318.
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Nietzscheanischer Republikanismus: Thomas Mann in Weimar
mas Mann durch Nietzsches Lebensbegriff ebenso bestärkt wie durch Nietzsches Konzentration auf denkerische Anstrengungen, die im Handeln einen Hang zur Mäßigung befördern. Was den Begriff des Lebens angeht, so gilt Thomas Manns Interesse weniger Nietzsches begrifflicher Verbindung von Leben und Wille zur Macht 54 , sondern der Herausforderung, die aus Nietzsches Lebensbegriff für Moral und Kunst erwächst (15.1, 92 f.). Die ironisch-künstlerische Verarbeitung dieser Herausforderung soll dem unaufhebbaren Spannungsverhältnis von Leben und Geist auch in der Politik Rechnung tragen. Diese »ironische Politik« (15.1, 628) unterstreicht Thomas Manns Kritik des Radikalismus. Sie verträgt sich mit konservativer Politik, denn man »könnte sagen, dass Ironie der Geist des Konservativismus sei, – sofern dieser nämlich Geist hat« (13.1, 634). Der mäßigenden Haltung des ironischen Konservativismus entspricht das Festhalten an einer durch Skepsis geschulten Aufklärung, die sich gegen dogmatische Indoktrinationen wehrt und mit dem frühen Nietzsche eine anti-revolutionäre geistige Liberalität vertritt. Thomas Mann führt ein Nietzsche-Zitat an, mit dem auch sein späteres Beharren auf Nietzsche als Vertreter einer geistigen Radikalität zum Ausdruck kommt (15.1, 538 f.). Es ist ein Beleg für seine unpolitische Lektüre Nietzsches: »M a a s s . – Die volle Entschiedenheit des Denkens und Forschens, also die Freigeisterei, zur Eigenschaft des Charakters geworden, macht im Handeln mäßig: denn sie schwächt die Begehrlichkeit, zieht viel von der vorhandenen Energie an sich, zur Förderung geistiger Zwecke, und zeigt das Halbnützliche oder Unnütze und Gefährliche aller plötzlichen Veränderungen.« 55 Dazu zum Vergleich eine zentrale Nietzsche-Stelle: JGB, 259-N: »Leben selbst ist w e s e n t l i c h Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigner Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens Ausbeutung […] weil Leben eben Wille zur Macht i s t .« Im Näheren zu Leben und Wille zur Macht vgl. Kap. 3. 55 Nietzsche, MA I, 464-N. In diesem Kontext kritisiert Nietzsche die »lei54
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Zwischenbilanz: Thomas Mann und Nietzsche in der Republik
Die Zustimmung zu dieser anti-revolutionären Position Nietzsches in den Betrachtungen behält Thomas Mann auch in seiner späteren Kritik des revolutionären Radikalismus bei. Sie stützt sein Plädoyer für Nietzsche als »Freigeist«, der nicht politisch vereinnahmt werden könne. So erreicht Thomas Mann eine Einschätzung von systematischer Relevanz: Zu unterscheiden sei zwischen der Ebene philosophischer Radikalität bei Nietzsche und der Frage eventueller realpolitischer Optionen. Und dies im Bewusstsein darüber, dass bei Nietzsche keine Antworten für die Gegenwart zu finden seien. 56 Wie schwierig es ist, Nietzsches Philosophie auf eindeutige politische Botschaften festzulegen, wird nun genauer zu betrachten sein.
denschaftlichen Thorheiten und Halblügen« Rousseaus, die den Geist der Revolution wachgerufen und die maßvolle aufklärerische Haltung missachtet hätten, für die Voltaire stehe: ebd., 463-N. 56 Thomas Mann könnte sich für seine Betonung der geistigen Radikalität Nietzsches auf weitere Quellen berufen. Vgl. z. B. Nietzsche, KSA, Bd. 9, 31: »Vor jedem Einzelnen sind wir voll 100 Rücksichten: aber w e n n man s c h r e i b t , so verstehe ich nicht, warum man da nicht bis an den äußersten Rand seiner Ehrlichkeit vortritt. Das ist ja die Erholung!« Diese Art von Radikalität unterscheidet sich von Nietzsches Charakterisierung der Politik als »Improvisieren auf gut Glück« (MA II/2, Wanderer, 277-N).
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3. Nietzsche und die Politik: Ein systematischer Rahmen
Die kontroversen politischen Vereinnahmungen Nietzsches zur Zeit des Ersten Weltkriegs setzen sich bis heute fort. Die einen sehen in Nietzsche den Proto-Faschisten, die anderen betonen seine geistige Originalität und seinen unpolitischen Charakter, so auch Thomas Mann. Doch mit seiner dezidierten Hinwendung zur Republik lässt er Nietzsche politisch hinter sich und löst das Geist-in-der-Zeit-Problem auf seine Weise: Zivilisierung der philosophischen Radikalität Nietzsches durch Integration in einen Republikanismus mit kulturell-elitärem Profil. Diese Lösung analysiere ich durch Klärung wichtiger Begriffsbildungen Nietzsches (Wille zur Macht etc.) und indem ich die politische Ambivalenz von Nietzsches dionysischem Radikalismus darlege (Kap. 3.1). Das führt zu einer politischen Modellbildung, die Thomas Manns nietzscheanischen Republikanismus differenziert zu beurteilen erlaubt (3.2). Danach konfrontiere ich Nietzsches Elitismus mit der politischen Theorie Max Webers und den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs (Kap. 3.3). Vor diesem Hintergrund gewinnt die von Nietzsches Wagner-Kritik inspirierte Faschismus-Kritik Thomas Manns an Transparenz (Kap. 4).
3.1 Wille zur Macht und politische Ambivalenz bei Nietzsche Wenn Thomas Mann bei seiner Einbindung Nietzsches in die Republik dessen »Machtphilosophie« beiseitelässt, so geschieht das im Zuge der ironischen Verbürgerlichung Nietzsches (vgl. Kap. 2.3). Doch es bleibt die Frage, was es mit der Begrifflichkeit 88 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
Wille zur Macht und politische Ambivalenz bei Nietzsche
Nietzsches genauer auf sich hat, denn nur so kann die Nietzsche-Problematik im Kontext des Nationalsozialismus präzisiert werden. Im Folgenden gehe ich von Nietzsches Begriffsbildung des Willens zur Macht aus und zeige, wie sich sein moralphilosophischer Bellizismus in zwei politische Hauptstränge ausdifferenzieren lässt. Ich unterscheide einen liberalen und autoritären Idealtypus bei Nietzsche und verdeutliche anhand ihrer unaufgelösten Spannungsverhältnisse die Ambivalenzen in Nietzsches Verhältnis zur Politik. Thomas Mann hat sich für eine liberal-konservative Variante starkgemacht, die man mit Blick auf die Zeitumstände respektieren muss, auch wenn sie sich nicht bruchlos aus Nietzsches Philosophie ergibt. Angesichts der vielfältigen Aufarbeitungen, die Nietzsches Verhältnis zur Politik gefunden hat, kann nur ein systematischer Ansatz die Problematik erschließen. Hierbei ist die historisch-philologische Nietzsche-Forschung hilfreich, weil sie dazu beiträgt, Vereinfachungen, die nicht zuletzt durch die fragwürdige Nachlassveröffentlichung Der Wille zur Macht beeinflusst werden, zu korrigieren. 1 Nietzsches Begrifflichkeit des Willens zur Macht wird immer wieder mit simplifizierenden Formeln menschlicher Machtphantasien oder brutaler Machtpolitik besetzt. Das Verzerrende solcher Sichtweisen kann nur durch die Analyse von Nietzsches Philosophie korrigiert werden. Das führt auf die von Nietzsche nicht bewältigte Vieldeutigkeit seiner Begriffsbildung, die gemäß seines eigenen Maßstabs der Klarstellung bedarf, denn einen »guten Autor« In KSA, Bd. 14, 383 ff. findet sich eine Darlegung der Herausgeber zur Entwicklung und Veränderung des Problemkomplexes »Der Wille zur Macht« bis hin zu seiner Modifikation in die Programmatik der »Umwerthung aller Werthe«. Die Edition der nachgelassenen Notiz-und Arbeitshefte Nietzsches in größter Nähe zu den Originalen (KGW, Abt IX), die noch nicht abgeschlossen ist, unterstreicht, dass es ein »Hauptwerk« unter dem Titel des Willens zur Macht nicht gibt. Die alte Kompilation wird weiter verlegt und lässt sich allenfalls aus historisch-dokumentarischen Gründen rechtfertigen: WzM. Diese Textbefunde bilden die Grundlage weiterer systematischer Klärung.
1
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Nietzsche und die Politik: Ein systematischer Rahmen
zeichnet aus, »mit seinen Worten eindeutige Begriffe zu verbinden«. 2 Bei der näheren Interpretation des Willens zur Macht 3 muss in einem ersten Schritt dessen metaphysische Bedeutungsvariante erwähnt werden. Nietzsche verfolgt dabei die Idee, dass im Willen zur Macht so etwas wie ein inneres Prinzip der Welt liegt, das auch hinter ihren physikalisch beschreibbaren Gegebenheiten wirkt (JGB, 36-N; FW, 349-N). Diese These ist nicht zu ignorieren, doch ist klar, dass ihr spekulativ-metaphysischer Zuschnitt keinen Ansatzpunkt bietet, um sie ernsthaft zu stützen. Es kann nur darum gehen, die Welt des Menschen unter der Leitorientierung des Willens zur Macht zu thematisieren. Ich konzentriere mich also auf den menschlichen Bereich, unterscheide verschiedene Bedeutungen des Willens zur Macht und prüfe die Relevanz, die ihnen in Nietzsches Philosophie zukommt. Ich hebe vier Begriffe hervor und nehme sie als analytisches Hilfsmittel für weitere Klärungen: – – – –
Wille zur Macht als Selbstentfaltung eigener Fähigkeiten und Möglichkeiten Wille zur Macht als normative Selbstbehauptung im Kontrast zu anderen Wille zur Macht als Durchsetzung von Macht über andere Wille zur Macht als gewaltförmige Herrschaft über andere
Außer dem ersten sind alle weiteren Begriffe relational zu verstehen (im Kontrast zu, über). Zugleich können alle Bedeutun-
KSA, Bd. 11, 445 f. Folgende Interpretationen sind für meine Systematisierung hilfreich: Volker Gerhardt, Vom Willen zur Macht, Berlin/New York 1996, Kap. VII; Henning Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, Berlin/New York 1999 (2. Aufl.), Kap. B V, C V; Wolfgang Müller-Lauter, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, in: ders., Über Werden und Wille zur Macht. Nietzsche-Interpretationen I, Berlin/New York 1999, 25–95.
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Wille zur Macht und politische Ambivalenz bei Nietzsche
gen sowohl für Individuen als auch für Kollektive verwendet werden. Der erste Begriff beinhaltet individuelle Selbstentfaltung, bei der menschliche Fähigkeiten und Möglichkeiten realisiert und gesteigert werden. Die lateinische Entsprechung ist »potentia«, die griechische »dýnamis«, deutsch »Vermögen«, aber auch »Kraft« oder »Macht«. Selbstentfaltung in diesem Sinn führt nicht notwendigerweise zum Willen zur Macht im kontrastierenden oder dominierenden Verständnis. Die künstlerische Tätigkeit gibt für Nietzsche das Paradigma für die Entfaltung des menschlichen Potenzials zu höchsten Leistungen ab. Der »Genius«, der für den frühen Nietzsche durch Richard Wagner verkörpert wird (GT), macht deutlich, dass der Wille zur Macht als Selbstentfaltung über physische Macht oder bloße Selbsterhaltung hinausgeht. Insofern liest sich der Wille zur Macht als Prozess der Selbstformung und Selbstüberwindung. So besteht auch für Zarathustra die innere Beziehung von Wille und Leben nicht im Willen zum Leben, sondern im Willen zur Macht (Z II, 147 ff.). Die allgemeine Bedeutung des Willens zur Macht in individueller Perspektive wird von Zarathustra im Hinblick auf seine Rangordnung und dem Streben nach hohen Werten weiter verfolgt. Damit ist die Schnittstelle erreicht zwischen dem Willen zur Macht als Selbstentfaltung und dem Willen zur Macht als normative Selbstbehauptung im Kontrast zu Anderen. Die Maßstäbe, die Zarathustra proklamiert, sind WertMaßstäbe, denn: »Um die Erfinder von neuen Werthen dreht sich die Welt […].« (Z I, 65) Weder Individuen noch Kollektive könnten ohne die Bindung an bestimmte Werte leben und Zarathustra meint, auf Erden sei keine größere Macht »als gut und böse« zu finden. So habe er entdeckt, dass jedes Volk sich mit einer »Tafel von Gütern« identifiziere, die dessen Willen zur Macht ausdrückten (Z I, 74). Selbstentfaltung eines Kollektivs in Begriffen seiner Werte, seiner Definition von Gut und Böse, ist normative Selbstpräsentation und Selbstbehauptung gegen-
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Nietzsche und die Politik: Ein systematischer Rahmen
über anderen Kollektiven, die sich mit anderen Werten identifizieren. 4 Von grundlegender Relevanz ist, dass für Nietzsche die Selbstentfaltung des Menschen in Werten elementar ist. Der Mensch wird bestimmt als »das Wesen, welches Werthe misst, werthet und misst, als das ›abschätzende Tier an sich‹« (GM II, 8-N). Menschen-Sinn ist Sinn gemäß Werten (Z I, 75), in denen sich das menschliche Leben in unterschiedlichen Gestaltungen des Willens zur Macht auslegt. 5 Wille zur Macht ist existenzielle Selbstauslegung in Werten (vgl. FW, 374-N). Die menschliche Welt ist wesentlich eine Welt wertgeleiteter Aktivitäten, die zu Machtbeziehungen im Sinne von Wertvergleichen und Wertdominanz führt. Deshalb ergibt sich als definitorischer Vorschlag zum relationalen Sinn des Willens zur Macht die oben angeführte (wert-)normative Selbstbehauptung im Kontrast zu anderen Wertidentifikationen. Als daran anschließbare Steigerungsvarianten des Willens zur Macht sind die wertgeleitete Machtdurchsetzung oder die gewaltförmige Herrschaft über Andere zu nennen, die dem obigen dritten und vierten Begriff entsprechen. Damit ist der Rahmen für Nietzsches moralische Wertdiskussion gesetzt. Aber mit welcher politischen Konzeption ist Nietzsches Begriffsbildung vereinbar? Sein moralisches Credo besteht in einem personalistischen Anti-Egalitarismus. So polemisiert er gegen den Utilitarismus, »dass die ›allgemeine Wohlfahrt‹ kein Ideal, kein Ziel, kein irgendwie fassbarer Begriff, sondern nur ein Brechmittel ist,– dass, was dem Einen billig ist, durchaus noch nicht dem Andern billig sein k a n n , dass die Hierzu sehr deutlich: »B e f e h l e ›so sollt ihr schätzen!‹ sind die Anfänge aller moralichen Urtheile – ein Höherer Stärkerer gebietet und verkündet s e i n Gefühl als G e s e t z für Andere.« (KSA, Bd. 11, 133) 5 Die hier verfolgte Leitperspektive des Willens zur Macht als Selbstauslegung in Werten ist kompatibel mit einer noch umfassenderen Sicht auf den Willen zur Macht als »Interpretation«: Müller-Lauter, Wille, a. a. O., 68–88. 4
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Wille zur Macht und politische Ambivalenz bei Nietzsche
Forderung Einer Moral für Alle die Beeinträchtigung gerade der höheren Menschen ist, kurz, dass es eine R a n g o r d n u n g zwischen Mensch und Mensch, folglich auch zwischen Moral und Moral giebt. Es ist eine bescheidene und gründlich mittelmässige Art Mensch, diese utilitarischen Engländer […]« (JGB, 228-N)
Nietzsches Kritik ist jedoch keineswegs auf den Utilitarismus beschränkt, sondern wird mutatis mutandis gegen Kants Universalismus wie gegen Schopenhauers Mitleidsmoral vorgebracht. Jede dieser Moralkonzeptionen legt einen Begriff von menschlicher Gleichheit zugrunde, der alle Menschen einschließt. Deshalb sind sie für Nietzsche auch nur Varianten der sie insgeheim dominierenden christlichen Moral, die er bekämpft. Nietzsches Angriff auf eine »Moral für Alle« führt auf ein zentrales Problem seiner Moralphilosophie und ihrer möglichen politischen Konsequenzen. Deshalb ist es wichtig, an diesem Punkt sowohl differenzierende wie kritische Argumente darzulegen. Zur Differenzierung gehört, dass sich Nietzsches Votum für eine menschliche Rangordnung in einer moderaten und einer strikten Lesart auslegen lässt. Die moderate Variante verbindet die Kritik an der Vagheit des Begriffs der allgemeinen Wohlfahrt mit Polemik gegen Mittelmäßigkeit und einem Plädoyer für die Entfaltung »höherer Menschen«. Dieses Bestehen auf einer qualitativen Rangordnung zwischen Menschen schließt die Anerkennung der Gleichheit von Menschen im Sinne einer vorherrschenden Zeittendenz nicht aus. Doch auch wenn man sich nolens volens mit dieser arrangiert, kann man versuchen, ihre Nivellierungstendenzen zurückzudrängen. Damit verweist die moderate Variante der Rangordnung auf einen Begriff von menschlicher Gleichheit, der sich als elitekompatibel bezeichnen lässt. Man kann auch von einem individualistischen Begriff von Gleichheit sprechen, der einen Rahmen für die Verschiedenheit von Menschen nach Maßgabe ihrer persönlichen Qualitäten bis hin zur Bildung von Eliten abgibt. So kann die Anerkennung eines Gleichheitsrahmens von sich unterschiedlich entfaltenden Individuen geradezu als Bedingung 93 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
Nietzsche und die Politik: Ein systematischer Rahmen
für die freie Herausbildung von individuellen Fähigkeiten gelten. Dadurch werden die Qualitäten von Genies offenkundig und die besonderen Leistungen herausragender Persönlichkeiten von allen akzeptiert. 6 Eine Rangordnung nach Leistung und »Größe« ist dadurch nicht ausgeschlossen, hängt aber von einem Prozess kontroverser Wertschätzungen ab, in dem nicht notwendigerweise Zarathustra das letzte Wort hat. An dieser moderaten Variante von Rangordnung zeigt sich das systematische Defizit von Nietzsches Verzicht auf Differenzierungen im Begriff der Gleichheit. Er verdrängt ein individualistisches Verständnis von menschlicher Gleichheit. Er hätte sich Rat bei John Stuart Mill holen können, der – wie viele seiner Zeitgenossen – Nietzsches Sorge um eine auf Gleichheit beruhende nivellierende »Tyrannei der Mehrheit« teilt, dies jedoch zum Anlass nimmt, die Vorzüge individueller Freiheit zu verteidigen, ohne damit eine prinzipielle Ablehnung von Gleichheit zu verbinden. 7 Demnach schließt die Anerkennung des gleichen moralischen Status der Menschen eine Ungleichheit hinsichtlich ihrer Qualitäten und unterschiedlichen Entfaltungsmöglichkeiten nicht aus. Gleichmacherei, Mittelmäßigkeit und Langeweile, die für Nietzsche mit der modernen Gleichheitsidee einhergehen und gegen die er polemisiert, mögen nivellierenden Zeitströmungen zugeschrieben werden, jedoch wird damit ein individualistischer Begriff von Gleichheit nicht hinfällig, auch wenn Nietzsche gelegentlich das moderne »Individualistische« kritisiert, weil es nur zu »ungefähr Gleichen« tendiere und die ganz großen Menschen ablehne (KSA, Bd. 11, 642). Die Klärung dieses individualistischen Gleichheitsbegriffs konkretisiert den Willen zur Macht als denjenigen, der bestimmte Wertschätzungen im Sinne eines Wettstreits um Persönlichkeitsideale zur Dominanz bringt. Es geht darum, in Vgl. die analoge Kritik bei Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Ges. Werke, Bd. 2, Bern 1954, 522. 7 J. St. Mill, Über die Freiheit [1859], Stuttgart 1980, 9. 6
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Wille zur Macht und politische Ambivalenz bei Nietzsche
einem kommunikativen Prozess möglichst viele Menschen vom eigenen Ideal zu überzeugen und eine Überzeugungsmacht zu bilden, die Wertschätzungen nicht nur gegen andere behauptet, sondern divergierende Auffassungen zurückdrängt. Diese kommunikative Verbreitung einer Überzeugungsmacht betont Nietzsche, wenn er auf die europaweite Herausbildung einer neuen Moral nach Überwindung der »Moral im alten Sinn« reflektiert: »Es giebt jetzt vielleicht zehn bis zwanzig Millionen Menschen unter den verschiedenen Völkern Europa’s, welche nicht mehr ›an Gott glauben‹, – ist es zu viel gefordert, dass sie einander ein Zeichen geben? Sobald sie sich derartig erkennen, werden sie sich auch zu erkennen geben, – sie werden sofort eine Macht in Europa sein und, glücklicherweise, eine Macht zwischen den Völkern! Zwischen den Ständen! Zwischen Arm und Reich! Zwischen Befehlenden und Unterworfenen! Zwischen den unruhigsten und den ruhigsten, beruhigendsten Menschen!« (M, 96-N)
Es ist die Perspektive einer Vereinigung »freier Geister«, die sich in der »Selbstaufhebung der Moral« (M, Vorrede, 4-N) einig sind und daran arbeiten, für Europa eine neue Wertedominanz im Verständnis nach-christlicher Persönlichkeitsideale einzuführen. Diese Konzeption setzt auf die geistige Macht von Überzeugungen, die bei Völkern, sozialen Schichten oder politischer Herrschaft wirksam werden kann. Es handelt sich um eine Überzeugungsmacht, die mehr sein will als normative Selbstbehauptung, denn es geht um die Werte-Dominanz über eine andere Moral, einen anderen Willen zur Macht. Das Medium, in dem sich dies vollzieht, ist ein Prozess aus individueller Einsicht, Polemik gegen die alte Moral und Erzeugung eines öffentlichen Raums von Werte-Dominanz, der durch die Kommunikation von Menschen geschaffen wird, die ihre Wertsetzungen gegen die aus ihrer Sicht überholten alten Vorstellungen vorbringen. Zarathustra ist so der Verkünder eines nach-christlichen Ideals, der einen moralischen Machtkampf gegen den christlich 95 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
Nietzsche und die Politik: Ein systematischer Rahmen
konnotierten »Willen zur Gleichheit« als anders geartetem Willen zur Macht führt. Dabei grenzt sich Zarathustra von den »Predigern der Gleichheit« ab und propagiert seine Rangordnung: »Denn so redet m i r die Gerechtigkeit: ›die Menschen sind nicht gleich.‹ Und sie sollen es auch nicht werden! Was wäre denn meine Liebe zum Übermenschen, wenn ich anders spräche?« (Z II, 130)
Nietzsches Begriffsbildung des Übermenschen ist zunächst als Ausdruck seines Persönlichkeitsideals zu verstehen, das große Menschen und deren stetige Höherentwicklung zum Maßstab nimmt. Er tritt für eine Rangordnung unter Menschen ein, die den »letzten Menschen«, der sich mit dem anspruchslosen bequemen Glück der »Heerde« identifiziert, verachtet. Und so höhnt Zarathustra: »Jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig in’s Irrenhaus.« (Z I, 19 f.) Der Gegensatz von Übermensch und letztem Menschen sowie der moralische Machtkampf um eine neue Werte-Dominanz ist mit der moderaten Variante der Rangordnung vereinbar, wenn im Interesse des Erringens von Überzeugungsmacht für die eigene Sache der Spielraum einer kommunikativen Auseinandersetzung zugrunde gelegt wird. Diese Art von Machtdurchsetzung geht über die normative Selbstbehauptung gegenüber anderen hinaus. Sie entspricht dem obigen dritten Begriff des Willens zur Macht, der sich jedoch als zwanglose Veränderung von Überzeugungen verstehen lässt. Diese Feststellung schärft den Blick für die strikte Variante von Nietzsches Rangordnung. Diese besteht darin, die Verneinung der Gleichheit von Menschen mit einer Unterscheidung im Status ihres Menschseins zu verbinden, so dass verschiedene Kategorien von Menschen je eigenen, nicht überbrückbaren Welten angehören. Dem entspricht eine hierarchische Rangordnung: »›gleiche Rechte‹, ›freie Gesellschaft‹, ›keine Herren mehr und keine Knechte‹, das lockt uns nicht! […] wir denken über die Notwendigkeit
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Wille zur Macht und politische Ambivalenz bei Nietzsche
neuer Ordnungen nach, auch einer neuen Sklaverei – denn zu jeder Verstärkung und Erhöhung des Typus ›Mensch‹ gehört auch eine neue Art der Versklavung hinzu – nicht wahr?« (FW 377-N)
Parallel dazu unterscheidet Nietzsche zwischen Herrenmoral und Sklavenmoral, die er aus der Geschichte von »Moralen, welche bisher auf Erden geherrscht haben« begründet. Nietzsche verweist darauf, dass gesellschaftlich-politische Herrschaftsverhältnisse mit einer moralischen Selbstinterpretation auf Seiten der Herrschenden und Beherrschten korrelieren, die auf zwei »Grundtypen« von Moral, der »Herren–Moral und der Sklaven–Moral« verweisen (JGB 260-N). Die Unterscheidung hat idealtypischen Charakter, da sie Mischformen zulässt und »sogar im selben Menschen« ein Nebeneinander beider Typen auftreten kann. Doch es ist möglich, diese Unterscheidung im Sinne einer neuen Ordnung von gesellschaftlicher Hierarchie zu positionieren, die sich dichotomisch auf Herrschende und Beherrschte verteilt. Die Herrenmoral besteht für Nietzsche in einer Grundhaltung der »Selbstverherrlichung«: »Im Vordergrunde steht das Gefühl der Fülle, der Macht, die überströmen will, das Glück der hohen Spannung, das Bewusstsein eines Reichthums, der schenken und abgeben möchte: – auch der vornehme Mensch hilft dem Unglücklichen, aber nicht oder fast nicht aus Mitleid, sondern mehr aus einem Drang, den der Überfluss von Macht erzeugt. […] Am meisten ist aber eine Moral der Herrschenden dem gegenwärtigen Geschmacke fremd und peinlich in der Strenge ihres Grundsatzes, dass man nur gegen Seinesgleichen Pflichten habe; dass man gegen Wesen niedrigeren Ranges, gegen alles Fremde nach Gutdünken oder ›wie das Herz will‹ handeln dürfe und jedenfalls ›jenseits von Gut und Böse‹ –: hierhin mag Mitleiden und dergleichen gehören.« (JGB 260-N)
Die Sklavenmoral der Unterdrückten äußert sich einerseits in Missgunst gegenüber den Herrschenden und idealisiert andererseits Mitleid, Bescheidenheit, Freundlichkeit und Fleiß als Tugenden, um den »Druck des Daseins« auszuhalten. Die Sklavenmoral ist »Nützlichkeits-Moral« (JGB 260-N). Nietzsche deutet 97 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
Nietzsche und die Politik: Ein systematischer Rahmen
sie als Reaktion auf die Vornehmheit der Herrenmoral und rückt sie in seiner Genealogie der Moral in die weltgeschichtliche Perspektive eines »Sklavenaufstands in der Moral«, als dessen Urheber er die jüdisch-christliche Moral kritisiert. Sie sei aus dem Geist des sich rächenden Ressentiments zu verstehen (GM I, 10-N). An dieser Stelle hebe ich nur die weitreichende Relevanz von Nietzsches Unterscheidung in Herrenmoral und Sklavenmoral hervor. Worauf es ankommt, ist die Situierung von Nietzsches moralischer Rangordnung in einer gesellschaftlich-politischen Ordnung, die durch ein Herrschaftsgefüge hierarchischer Art geprägt ist. In dieser strikten Variante kommt Zarathustra nicht nur die Rolle eines radikalen Kritikers des nivellierenden Zeitgeistes zu. Vielmehr wird das von ihm propagierte Persönlichkeitsideal handlungsleitend für eine neue Werteordnung, die gegen die »Welt-Müden« einen »neuen Adel«, der das Bedürfnis der »Menschen-Gesellschaft« nach »Befehlenden« erfüllt, ins Leben ruft (Z III, 258, 254, 265, 263). So gesehen ist Zarathustra der Verkünder einer neuen Rangordnung und der Ratgeber für eine Herrschaft der Besten nach seinen Maßstäben. Erfüllt werden könnten diese Maßstäbe durch eine »neue Kaste«, die über Europa herrscht. Einerseits soll sie der »Bedrohlichkeit Rußlands« gewachsen sein, andererseits aber durch die Geschlossenheit eines eigenen Willens »die langgesponnene Komödie« der europäischen Kleinstaaterei und deren »dynastische wie demokratische Vielwollerei« beenden. Nietzsche nimmt an, dass ein solcher Wille eine Perspektive »über Jahrtausende« bräuchte, da schon das nächste Jahrhundert den »Kampf um die Erd-Herrschaft, – den Z w a n g zur grossen Politik« bringe (JGB 208-N). Nietzsches europäische Perspektive und seine Jahrhundertdiagnose der großen Politik werde ich noch näher diskutieren, wobei ich die strikte wie die moderate Variante seiner Rangordnung gegeneinander abwäge (vgl. Kap. 6). Worauf es zunächst ankommt, ist, dass sich die Varianten von Nietzsches moralischer Rangordnung zu zwei Ideal98 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
Wille zur Macht und politische Ambivalenz bei Nietzsche
typen von Politik weiterführen lassen. In ihnen wird die Ambivalenz deutlich, die nicht nur für Nietzsches eigene Thematisierung der politischen Dimension charakteristisch ist, sondern auch den Hintergrund für mancherlei Kontroversen um Nietzsche bildet. Der erste, liberale Typus wird erkennbar, wenn man Nietzsches Kritik der Gleichheit primär als eine Kritik der Uniformität, nivellierender Tendenzen und harmonistischer Ideale versteht und sein Plädoyer für eine höhere menschliche Entwicklung als eine radikale Stimme öffentlicher Kritik einordnet, die den Menschen in Europa zu einem neuen Selbstbewusstsein verhelfen will. Eine solche Stimme strebt mit ihrem »Pathos der Distanz« (JGB, 257-N) nach kommunikativer Macht über Mittelmäßigkeit, ohne demokratische Entwicklungen oder Institutionen in Frage zu stellen, so dass eine moralische Dynamik denkbar ist, die selbst die Utopie des »Übermenschen« mit einer konstitutionellen Demokratie verträglich erscheinen lässt. In diesen liberalen Idealtypus ist die moderate Variante von Nietzsches Rangordnung integrierbar. Das geht jedoch nicht ohne Verzicht auf Nietzsches prinzipielle Kritik menschlicher Gleichheit und die Einschränkung seiner Kritik repräsentativer Verfassungen (vgl. JGB, 199-N). Der zweite, autoritäre Typus tritt demgegenüber umso klarer hervor. Dieser Typus beruht auf der strikten Variante von Nietzsches Rangordnung und einem kompromisslosen Anti-Egalitarismus. Dem entspricht die radikale Kritik der jüdisch-christlichen Moral, auf die für Nietzsche auch der »Pöbelaufstand« der Französischen Revolution zurückgeht. 8 Zu diesem Typus gehört die grundsätzliche Kritik der modernen Demokratie als »Verfallsform des Staates« einschließlich des »Deutschen Reichs«, so dass allenfalls autoritäre Lösungen nach dem Beispiel NapoVgl. dazu detailliert und differenziert: U. Marti, »Der große Pöbel- und Sklavenaufstand«. Nietzsches Auseinandersetzung mit Revolution und Demokratie, Stuttgart 1993.
8
99 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
Nietzsche und die Politik: Ein systematischer Rahmen
leons noch ein brauchbares Modell abzugeben vermögen (GD, 140 f., 145). Dieser autoritäre Idealtypus der Nietzscheanischen Politik hebt sich von dem liberalen Idealtypus ab. Die Gegenüberstellung der Idealtypen lässt Kombinationen zwischen beiden zu. Eine davon betrifft den Problemkomplex des Bonapartismus, den man nicht auf Napoleon I. zu begrenzen braucht, sondern als eine Verbindung von egalitär-demokratischen Komponenten (Plebiszite) mit übergreifenden autoritären Herrschaftsformen sehen kann. 9 Allerdings ist es systematisch nicht zwingend, den liberalen Idealtypus nur für die mittlere Periode von Nietzsches Schriften anzusetzen, dem dann die autoritäre Variante in späteren Schriften folgt. 10 So ist es richtig, Dazu neuerdings: D. Dombowsky, Nietzsche and Napoleon. The Dionysian Conspiracy, Cardiff 2014, Ch. III. Obwohl diese Interpretation Nietzsches politischen Horizont auf den Bonapartismus begrenzt, so hat sie gegenüber apolitischen Deutungen zu Nietzsche den großen Vorteil, dass sie die Problematik der politischen Dimension von Nietzsches Philosophie in den Fokus rückt. Zugleich verarbeitet Dombowsky den Stand der angelsächsischen Diskussion. Vgl. auch die breit angelegte Studie von D. Losurdo, Nietzsche, der aristokratische Rebell. Intellektuelle Biographie und kritische Bilanz, 2 Bde., Berlin 2009. Hier geht die Betonung der politischen Problematik mit der Schwäche einher, dass der marxistisch inspirierte Autor Nietzsche nur als anti-modernen Reaktionär sieht, dessen Kritik der Französischen Revolution und der Pariser Kommune den Leitfaden zu bilden habe (ebd., Kap. 28) und zeige, wie die liberale Tradition zum elitären Individualismus einer privilegierten Minderheit übersteigert werde (ebd. Kap. 33). Auf diese Weise scheitert der Anspruch des Autors, das theoretische Potenzial von Nietzsches Philosophie gegen ihre kritikwürdigen Züge abzuwägen. Zur systematischen Einlösung eines solchen Anspruchs vgl. Kap. 3.2 und Kap. 7, 8. 10 Vgl. das entsprechende Material bei: H. W. Siemens: Yes, No, Maybe So … Nietzsche’s Equivocations on the Relation between Democracy and ›Große Politik‹, in: H. W. Siemens/V. Roodt (eds.), Nietzsche, Power, and Politics, Berlin/New York 2008, 231–268. Auch andere Beiträge in diesem Band zeigen, dass die Beziehung von Nietzsches Philosophie zur Politik nur mit Hilfe systematischer Unterscheidungen zu klären ist. Dasselbe gilt für den neueren Band: M. Knoll/B. Stocker (eds.), Nietzsche as Political Philosopher, Berlin/Boston 2014. Hier findet sich eine Unterteilung in Sektionen, die liberale und nicht-liberale Lesarten Nietzsches präsentieren. 9
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Wille zur Macht und politische Ambivalenz bei Nietzsche
die Radikalisierung von Nietzsches Entwicklung zu beachten, aber richtig ist ebenfalls, Nietzsches Selbstinterpretation auch in seiner Spätphase im Sinne beider Idealtypen zu lesen. So hält der dänische Kulturphilosoph Georg Brandes nach einer Lektüre von Nietzsches Schriften in einem zu Recht berühmten Brief fest: »[…] vieles stimmt mit meinen eigenen Gedanken und Sympathien überein, die Geringschätzung der asketischen Ideale und der tiefe Unwille gegen demokratische Mittelmäßigkeit, Ihr aristokratischer Radikalismus.« 11
Nietzsche lobt diese Einschätzung seiner Denkweise als »das gescheuteste Wort, das ich bisher über mich gelesen habe« (NB, Bd. 8, 206). Er findet dabei seine »Denkweise«, von der er nicht wisse, »wie weit sie mich noch führen wird«, angemessen gewürdigt. Damit bleibt eine dezidiert politische Ausdeutung des aristokratischen Radikalismus genauso in der Schwebe wie in den verschiedenen Vorworten zu seinen Schriften aus den Jahren 1886/87, die er Brandes zur Erläuterung seiner Philosophie empfiehlt. Nietzsche verweist in seiner Antwort auf sein »Chorwerk mit Orchester«, dem Hymnus an das Leben, das ihm zu dieser Zeit besonders am Herzen liegt und dem er posthume Aufführungen wünscht. In Verbindung mit Brandes’ »aristokratischem Radikalismus« liest sich dieser Hinweis wie eine ergänzende Gesamtsicht auf Nietzsches philosophisches Grundanliegen. Dieses, so Nietzsche im Rückblick auf die Geburt der Tragödie, besteht darin, eine antichristliche Deutung des Lebens, eine »Gegenwerthung des Lebens«, die er die »d i o n y s i s c h e « nennt, aus einem »fürsprechenden Instinkt« heraus zu stärken. 12 Aufgrund der Selbstcharakterisierung, die Nietzsche gibt, halte ich es für angemessen, den Terminus dionysischer Radikalismus als Leitbegriff seiner Philosophie zu wählen. Unter die11 12
26. November 1887: KGB, Bd. 6, 120. Versuch einer Selbstkritik [1886]: GT, 19.
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Nietzsche und die Politik: Ein systematischer Rahmen
sem Begriff können Varianten des aristokratischen Radikalismus in moralischer wie politischer Hinsicht unterschieden werden, darunter auch solche, die dem liberalen oder autoritären Typus entsprechen. Ein weiterer Vorteil besteht in dem Bezug zu Nietzsches dionysischem Pessimismus, der seinerseits der Klärung bedarf (vgl. Kap. 5, 7, 8). Mit der Begriffsbildung des dionysischen Radikalismus ist auch eine Differenzierung zwischen Nietzsches philosophischen Begriffsbildungen und den an sie anschließbaren politischen Optionen angezeigt. Nur so ist es möglich, der Eigenart philosophisch-allgemeiner Begriffsbildungen wie der berechtigten Frage nach ihren politischen Deutungen oder Konsequenzen gerecht zu werden. Die bisherigen Klarstellungen des Willens zur Macht haben sowohl seine Vielschichtigkeit wie seine Einbindung in die moralische Wertdiskussion, aber auch seine politische Ambivalenz deutlich gemacht. Es ist jedoch ebenso klar, dass dem Willen zur Macht ein politischer Stellenwert zukommt, der ergänzende Bestimmungen in Bezug auf beide Idealtypen verlangt. Dazu gehört auch die Thematik des Krieges, die der Nietzscheaner Thomas Mann auf seine Weise beantwortet, wenn er – belehrt durch historische Erfahrung – den Krieg als »spottschlechte Romantik« bezeichnet (vgl. Kap. 2). Bevor ich mich dieser Thematik zuwende (Kap. 3.3), entwickle ich vier Modelle zur politischen Ambivalenz von Nietzsches Philosophie.
3.2 Dionysischer Radikalismus und Politik: vier Modelle In einer kritischen Bemerkung distanziert sich Georg Brandes von dem Werk des französischen Historikers Hippolyte Taine über die Französische Revolution und dessen Wertschätzung durch Nietzsche: »Er bedauert und haranguirt ein Erdbeben.« 13
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KGB, a. a. O., 131. Das folgende Zitat von Brandes ebd.
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Dionysischer Radikalismus und Politik: vier Modelle
Die Wortbildung ›haranguirt‹, die Brandes von Taine aufgreift 14 , leitet sich ab vom französischen ›haranguer‹ und bedeutet im übertragenen Sinn ›abkanzeln‹. Nietzsches Antwort: »Sie haben recht mit dem ›Haranguiren des Erdbebens‹ : aber eine solche Don-Quixoterie gehört zum Ehrwürdigsten, was es auf Erden giebt.« 15 Indem Nietzsche einräumt, dass der geschichtliche Umbruch der Französischen Revolution einem Erdbeben gleichkommt, das man zwar bedauern, aber nicht ungeschehen machen kann, so wenig wie es Sinn machen würde, das Eintreten eines Naturereignisses zu verleugnen, trägt er der Faktizität des Gleichheitsprinzips der Revolution und damit des demokratischen Zeitalters Rechnung. Insofern erscheint ihm eine grundsätzliche Ablehnung der Zeittendenz als Kampf gegen Windmühlen, als »Don-Quixoterie«, um wenigstens das an Rangordnung zu retten, was noch zu retten ist. Brandes verwendet für Nietzsches Position den Begriff des aristokratischen Radikalismus, weil dieser, wie er meint, »so ganz meinen eigenen politischen Überzeugungen entspricht«. Doch er fügt hinzu: »Mich verletzt es aber ein wenig, wenn Sie in Ihren Schriften so schnell und heftig über Phänomene wie Sozialismus oder Anarchismus absprechen […]. Ihr Geist, der in der Regel so blendend ist, scheint mir ein wenig zu kurz zu kommen, wo die Wahrheit in der Nuance liegt.« Damit bringt Brandes zum Ausdruck, dass für ihn Nietzsches Radikalismus nur im Rahmen der revolutionär vorgeprägten demokratischen Gleichheitspostulate, die auch in Gestalt unterschiedlicher sozialistischer oder anarchistischer Modelle ihre Wirksamkeit entfalten, vorstellbar ist. Die »Nuance«, die Brandes gegen Nietzsche anführt, entspricht dem liberalen Idealtypus Nietzscheanischer Politik. Brandes selbst versteht sich als radikaler Liberaler, für den eine geistesaristokratische Avantgarde zum 14 15
G. Brandes, Menschen und Werke, Frankfurt/M. 1894, 213. NB, Bd. 8, 229: 8. Jan. 1888.
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Nietzsche und die Politik: Ein systematischer Rahmen
wesentlichen Bestandteil der Demokratie gehört. 16 Es ist aufschlussreich, dass Nietzsche dem nicht mehr als eine »Don-Quixoterie« entgegenzuhalten weiß. Thomas Mann nimmt seinerseits auf Georg Brandes Bezug, wenn er in seinem Nietzsche-Essay (1947) darauf verweist, dass Brandes als »Jude und liberaler Schriftsteller« noch zu sehr von der »Sorglosigkeit des zu Ende gehenden bürgerlichen Zeitalters« getragen gewesen sei, um den aristokratischen Radikalismus als »Nuance« dieser Zeit zu entdecken. Dabei habe er jedoch die Nähe von Ästhetizismus und Barbarei bei Nietzsche nicht bemerkt, sondern sich – seinerzeit zu Recht – mit einer Rezeption Nietzsches »cum grano salis« begnügt (19.1, 221). Thomas Manns kritische Bestandsaufnahme zu Nietzsche wird noch genauer zu betrachten sein (Kap. 5). Hier interessiert der Bezug auf Brandes nur insoweit, als sich Thomas Mann damit indirekt von seiner »Verbürgerlichung« Nietzsches distanziert. Nach den Erfahrungen der NS-Zeit und der nazistischen Vereinnahmung Nietzsches kann er kein ungebrochenes Nietzsche-Bild mehr aufrechterhalten. Seine republikanische Integration Nietzsches versieht er so mit einer nachträglichen Einschränkung, die jedoch unterstreicht, dass Nietzsche für ihn nur im Rahmen eines liberalen Idealtypus politisch zu situieren ist. Da diese Option später zu entfallen scheint, bleibt Thomas Mann nur noch die ästhetische, nicht mehr die politische Verteidigung Nietzsches. Die Schwierigkeit, Nietzsche politisch zu verteidigen, wird durch Textbefunde der folgenden Art unterstrichen: »Meine Philosophie ist auf Rangordnung gerichtet, nicht auf individualistische Moral. Der Sinn der Heerde soll in der Heerde herrschen, – aber nicht über sie hinausgreifen: die Führer der Heerde bedürfen einer grundverschiedenen Werthung ihrer eignen Handlungen, imgleichen Vgl. sehr erhellend dazu: Ch. Benne, Vom aristokratischen zum antiquarischen Radikalismus. Radikale Missverständnisse von Georg Brandes bis Oscar Levy, in: R. Reschke/M. Brusotti (Hg.), »Einige werden posthum geboren« – Friedrich Nietzsches Wirkungen, Berlin/Boston 2012, 407–426, insbes. 408–420.
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Dionysischer Radikalismus und Politik: vier Modelle
die Unabhängigen, oder die ›Raubtiere‹ usw.« (KSA, Bd. 12, 280: 1886/ 1887)
Hier zielt Nietzsches Rangordnung auf eine dichotomische Unterscheidung zwischen der Moral der Herrschenden und der Moral der Herde, einer Sklavenmoral, die sowohl individualistisch wie kollektivistisch sein kann, denn auch die individualistische Moral »kennt die Rangordnung nicht und will dem Einen die gleiche Freiheit geben wie allen«. Mit seiner Verneinung eines individualistischen Begriffs von Gleichheit, dem ein egalitärer Begriff von Freiheit korrespondiert, verbindet Nietzsche die Idee der Rangordnung mit dem »Grad von M a c h t , den Einer oder der Andere über andere oder Alle ausüben soll«. So erscheint der Entzug der Freiheit der Gemeinen oder ihre »Versklavung« im Interesse eines »h ö h e r e n Ty p u s « als erwägenswerte Utopie: »In größter Form gedacht: w i e k ö n n t e m a n d i e E n t w i c k l u n g d e r M e n s c h h e i t o p f e r n , um einer höheren Art als der Mensch ist, zum Dasein zu helfen? –« (KSA, Bd. 12, 281)
Diese Kombination von moralischer Rangordnung, Macht und Menschheitsutopie verlangt einen autoritären Politiktypus. Die moralische Rangordnung verbindet sich mit der asymmetrischen Machtdominanz einer Führungselite, die mit ihrer höheren Moral über die Herde, die in ihrer gemeinen Moral verhaftet bleibt, herrscht. Hinzu kommt, dass es ihr nicht nur um das Ausüben von Herrschaft geht, sondern um die moralische Vorgabe, einen höheren Menschentypus hervorzubringen oder zu bewahren. So unterscheidet Nietzsche »vornehme und gemeine Moral«, indem er feststellt: »Sittlichkeit: ein Ty p u s des Menschen soll erhalten werden. Vornehme Moral. Das Menschliche in irgend welchem Maaße soll erhalten werden: gemeine Moral.« (KSA, Bd. 11, 655: 1885)
Sowohl das Bewahren wie auch das Hervorbringen eines höheren Typus nach Nietzsches Wertmaßstäben ist im Rahmen der 105 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
Nietzsche und die Politik: Ein systematischer Rahmen
strikten Rangordnung nur autoritär zu denken. Wie sehr der Primat moralischer Wertsetzungen Nietzsches Rangordnung der Sittlichkeit und ihre autoritäre Variante bestimmt, zeigt eine Reflexion auf die sittliche Bedeutung des Christentums. Nietzsche bezieht sich auf die Bibel als »das beste Stück Zucht und Verfeinerung der Sitte, das Europa dem Christentum verdankt«, um deutlich zu machen, wie ein Buch dieser »Tiefe und letzten Bedeutsamkeit« nur durch eine »Tyrannei von Autorität« geschützt werden kann, damit es über Jahrtausende – nicht zuletzt durch Ehrfurcht für »heilige Erlebnisse« – zu wirken vermag (JGB, 263-N). Insofern ist auch die utopische Dimension der Entwicklung der Menschheit zu einer höheren Art allenfalls als langwieriger Prozess zu sehen. Der »Übermensch« stellt nur die Problemformel für eine offene Zukunft dar. Offen ist, ob der höhere Typus der Zukunft eher als eine Reihe großer Einzelpersönlichkeiten zu sehen ist oder ob es um eine neue Art von Menschen geht, die sich ihre eigenen Bedingungen der Reproduktion von Herrschaft erschafft. Die letztere Möglichkeit belegen historische Beispiele wie die altgriechische Polis oder Venedig, an denen Nietzsche aufzeigt, wie ein aristokratisches Gemeinwesen seine Tugenden als dominierende Moral gegen Nachbarn oder Beherrschte behauptet. (JGB, 262-N) 17 Auch wenn Zarathustra einem neuen Adel, der sich nicht auf dynastische Traditionen beruft, das Wort redet, so sind Verbindungen zwischen altem und neuem Adel denkbar. Nietzsches bonapartistische Neigungen und seine Affinität zur Turiner Aristokratie verweisen auf diese möglichen Kombinationen. 18 Eine weitergehende utopische Steigerung von Nietzsches autoritärem Politiktypus manifestiert sich in der Verbindung, die Näheres zum Übermenschen im individuellen wie überindividuellen Sinn Kap. 7.2. 18 Vgl. Dombowsky, a. a. O., Ch. III; NB, Bd. 8, 469: 13. Nov. 1988 an Overbeck. 17
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Dionysischer Radikalismus und Politik: vier Modelle
Nietzsche zwischen der wertsetzenden Rolle des Philosophen und einer neuen europäischen Herrschaftskaste herstellt. Denn der eigentliche Philosoph ist der »Mensch der umfänglichsten Verantwortlichkeit«, »der das Gewissen für die Gesammt-Entwicklung des Menschen hat«. Er kann sich der Religionen ebenso bedienen wie die jeweiligen politischen und wirtschaftlichen Umstände für seine Zwecke nutzen. So ist es legitim, »noch die Niedrigsten anzulernen, sich durch Frömmigkeit in eine höhere Schein-Ordnung der Dinge zu stellen« (JBG 61). In diesem Sinn fordert Nietzsche »neue Philosophen« für die Gestaltung der Zukunft der Menschheit, denn der »Wille von Jahrtausenden« soll auf »neue Bahnen«, die einer »Umwerthung der Werthe« entsprechen, gezwungen werden. Die Umsetzung dieser Perspektive bleibt vage, weil nur davon die Rede ist, dass »irgendwann einmal eine neue Art von Philosophen und Befehlenden« nötig sein wird (JGB 203-N). Der autoritäre Duktus dieser Utopie ist jedoch unverkennbar, denn er verlangt auch Gedanken der strengen Erziehung und »Züchtung«, die auf Basis der »Sicherheit der Werthmaasse« nicht ohne »besonnene Grausamkeit« und Härte auskommen (JGB 61-N, 203-N, 210-N). Die Rede von Züchtung kann hier im Sinne eines Zwangscharakters von Erziehung gelesen werden, ihre biologische Konnotation jedoch gehört in einen anderen Kontext (vgl. Kap. 7). Indem Nietzsche die neuen Philosophen als Befehlende und Gesetzgeber vorstellt, wird ein herkömmliches Verständnis von Philosophie obsolet. 19 So sei Kant »nur ein grosser Kritiker« gewesen und habe wie Hegel daran gearbeitet, ehemalige Wertsetzungen, die herrschend geworden seien, »in Formeln zu drängen«. Im Gegensatz zu diesen »philosophischen Arbeitern« greifen die eigentlichen Philosophen nach der Zukunft, um sie zu gestalten:
Vgl. jedoch den Vergleich mit Platons König-Philosophen-These: Ottmann, a. a. O., 237 ff.
19
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Nietzsche und die Politik: Ein systematischer Rahmen
»Ihr ›Erkennen‹ ist S c h a f f e n , ihr Schaffen ist eine Gesetzgebung, ihr Wille zur Wahrheit ist – W i l l e z u r M a c h t . – Giebt es heute solche Philosophen? Gab es schon solche Philosophen? M u s s es nicht solche Philosophen geben? …« (JGB 211-N)
Damit bestätigt sich einerseits, dass das Verständnis des Willens zur Macht auf normative Selbstbehauptung und wertsetzende Dominanz angelegt ist (vgl. Kap. 3.1). Andererseits wird die utopische Dimension von Nietzsches Philosophie vermittelt. So ruft Zarathustra dazu auf, die »alten Tafeln« zu zerbrechen und seiner neuen Wertorientierung zu folgen. Er ist einer der Großen, »welcher des Menschen Ziel schafft und der Erde ihren Sinn giebt« (Z III, 247). Doch Zarathustra ist allenfalls Initiator für die Bildung einer Avantgarde und es bleibt offen, ob Nietzsches Ruf nach neuen Philosophen Gehör findet. Das schließt nicht aus, diese Perspektive zumindest ansatzweise mit konkreten Bezügen zu besetzen und nach Menschen von »schöpferischer Machtfülle und Herrschaftlichkeit« Ausschau zu halten, die beispielgebend im Sinne einer strikten Rangordnung sein können (JGB 212-N). Die Größe dieser Menschen wird nicht zuletzt daran sichtbar, welche anspruchsvollen politischen oder gesellschaftlichen Ziele sie verfolgen. Ein solches Ziel sieht Nietzsche in der Einheit Europas und in der Ablehnung von Nationalismus und Antisemitismus. Insofern kommt Napoleon I. eine Vorreiterrolle zu, denn Napoleon ist der Einzige, »der stark genug war, aus Europa eine politische und wirtschaftliche Einheit zu bilden.« (NB, Bd. 8, 454) Doch ob die Fortsetzung Napoleons auf bonapartistischem Weg geschehen kann oder ob dem Geist der »guten Europäer« in anderen, neuen Formen großer Politik Gestalt zu geben ist (FW 362-N, 377-N), kann nicht vorentschieden werden. Es ergeben sich Politikmodelle, die auf unterschiedlich konkretisierbare Formen von Politik verweisen. Nietzsches dionysischer Radikalismus ist interpretierbar als:
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Dionysischer Radikalismus und Politik: vier Modelle
1. 2. 3. 4.
Kulturkritik im Rahmen von konstitutioneller Demokratie (liberaler Idealtypus) Normativer Autoritarismus im Rahmen hierarchisch-dichotomischer Herrschaft (autoritärer Idealtypus) Mischform aus (1) und (2) im Rahmen eines plebiszitärautoritären Bonapartismus Utopisch-europäische Form mit Elementen aus (1), (2) und (3)
Am Konkretesten erscheinen Interpretationen zu (1) und (3), die an Nietzsches Zeit anschließbar sind. Dabei kann unter (1) ein Typus von konstitutioneller Demokratie, der neben westlichen Demokratien auch demokratisch defizitäre Gebilde wie das deutsche Kaiserreich (Dreiklassen-Wahlrecht in Preußen etc.) einschließt, den Rahmen bilden, sofern rechtsstaatliche Strukturen vorhanden sind, die dem Gleichheitsprinzip unterliegen. Nietzscheanische Kulturkritik, die der moderat-liberalen Variante der Rangordnung folgt, kann damit leben. Das Gleichheitsprinzip bleibt im Bonapartismus grundsätzlich erhalten, doch kommt es nur in demokratisch fragwürdigen Plebisziten unter autokratischen Herrschaftsformen zur Wirksamkeit. Insofern steht der normative Autoritarismus unter (2), der auf der strikten Variante der Rangordnung basiert, in kritisch-idealtypischer Distanz zum Bonapartismus. Das verwundert nicht, weil Nietzsches Moral-Dichotomie zwischen Führer und Herde, Herrenmoral und Sklavenmoral idealtypisch konzipiert ist. In solchen Begriffsbildungen praktiziert Nietzsche beispielhaft die geistige Art von »Ferne«, die er geradezu als konstitutiv für das, was Philosophie auszeichnet, ansieht: die »Kunst der Transfiguration« (FW, Vorrede, 3-N). Das führt auf die obige utopisch-europäische Form, deren Abstand zu ihren realgeschichtlichen Bedingungen offensichtlich ist. Die von Nietzsche als Wertsetzende beschworenen neuen Philosophen sind mit Ausnahme seines imaginierten Zarathustra nicht in Sicht. Auch die Umwertung der Werte in 109 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
Nietzsche und die Politik: Ein systematischer Rahmen
seinem Antichrist kann keine Werterevolution in Europa herbeiführen. Nietzsche weiß, wie schwierig es ist, sich von der alten europäisch-christlichen Moral zu lösen, denn sie ist »eine Summe von kommandirenden Werthurteilen […], welche uns in Fleisch und Blut übergegangen sind« (FW 380-N, 377-N). Das erklärt die immense Perspektive von Jahrhunderten, die er gelegentlich in Aussicht stellt. Hinzu kommt, dass er mit seinem kulturrevolutionären Impuls auf Gegner wie den Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus trifft, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts große Bedeutung erlangen und weit ins 20. Jahrhundert hineinwirken (vgl. Kap. 1.1). Daher bedarf es nicht nur eines Willens zur Macht in neuen Wertsetzungen, sondern auch in konkreter politischer Machtpolitik zur Umsetzung des Europäertums. Wie utopisch auch immer sich diese Perspektive angesichts der geschichtlichen Konstellationen ausnehmen mag, so ist es für Nietzsches Denkweise nicht ausgeschlossen, dass die Kontingenz der Geschichte unerwartete Überraschungen, sei es in Gestalt neuer philosophischer Gesetzgeber oder großer Europäer nach dem Vorbild Napoleons, bereithält. Ein fruchtbarer Neubeginn mit »cäsarischem Züchter und Gewaltmenschen der Cultur« (JGB 207-N), einem überragenden Machtpolitiker oder einer entsprechenden Kaste (vgl. oben) ist für Nietzsche immer möglich. Insofern ist die utopisch-europäische Politikform auf den autoritären Idealtypus unter (2) bezogen, aber auch – je nach geschichtlichen Umständen – mit demokratischen oder halbdemokratischen Bedingungen unter (1) und (3) vereinbar. Das hat zur Folge, dass die Ebene der philosophischen Begriffsbildung, die auf der »Kunst der Transfiguration« beruht, nicht ohne weiteres auf konkrete oder zukünftige politische Konstellationen angewendet werden kann. Dem ist eine Charakterisierung von Nietzsches Moralphilosophie im Ganzen hinzuzufügen, die bis in die Gegenwart von systematischer Relevanz ist. Nietzsche vertritt – zu Recht – eine historische Moralauffassung, die eine Pluralität von Mo110 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
Dionysischer Radikalismus und Politik: vier Modelle
ralen im Gang der Geschichte thematisiert und bewertet. Er kritisiert als »Erbfehler der Philosophen« ihren »Mangel an historischem Sinn«, der sich daran zeige, dass philosophische Wahrheiten über den Menschen nicht mehr seien als Zeugnisse »über den Menschen eines sehr beschränkten Zeitraumes.« (MA I, 2-N; vgl. GD, 74) Programmatisch heißt es dann: »Gerade dadurch, dass die Moral-Philosophen […] in Hinsicht auf Völker, Zeiten, Vergangenheiten schlecht unterrichtet und selbst wenig wissberig waren, bekamen sie die eigentlichen Probleme der Moral gar nicht zu Gesichte: – als welche alle erst bei einer Vergleichung vieler Moralen auftauchen. In aller bisherigen ›Wissenschaft der Moral‹ fehlte, so wunderlich es klingen mag, noch das Problem der Moral selbst: es fehlte der Argwohn dafür, dass es hier etwas Problematisches gebe. Was die Philosophen ›Begründung der Moral‹ nannten und von sich forderten, war […] nur eine gelehrte Form des guten Glaubens an die herrschende Moral, […] im letzten Grunde, eine Art Leugnung, dass diese Moral als Problem gefasst werden dürfe: – und jedenfalls das Gegenstück einer Prüfung, Zerlegung, Anzweiflung, Vivisektion eben dieses Glaubens.« (JGB, 186-N)
Nietzsche hält das moralische Universum keineswegs für wohlgeordnet, sondern offen für unterschiedliche Moralkonzeptionen, die sich historisch erschließen lassen. Die Begründungsfrage »der Moral« muss in eine vergleichende Perspektive gerückt werden, d. h., die Antworten bedürfen stets der kritischen Prüfung im Hinblick auf die sie limitierenden historischen Bedingungen. Mit Bezug auf die oben verdeutlichten Lesarten des Willens zur Macht ergibt sich, dass jede geschichtlich ausgeprägte Moral auf ihre Weise den Willen zur Macht qua normative Selbstbehauptung gegen anderen moralische Wertsetzungen verkörpert (vgl. Kap. 3.1, Kap. 6.4). Formal gesehen ist somit die Sklavenmoral, sei sie christlichen oder jüdischen Ursprungs, genauso eine Form des Willens zur Macht wie die Herrenmoral. Unabhängig von seiner Kritik der modernen Gleichheitsidee sieht Nietzsche richtig, dass das normative Postulat der mensch111 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
Nietzsche und die Politik: Ein systematischer Rahmen
lichen Gleichheit keine ahistorische Basis in einem wie auch immer konzipierten Natur- oder Vernunftrecht hat, sondern auf dem Willen beruht, »Menschen als Menschen g l e i c h z u s e t z e n « (KSA, Bd. 12, 438). 20 Diesem Willen setzt Nietzsche seine »Don-Quixoterie« (vgl. oben) oder einen normativen Autoritarismus entgegen. Die geschichtliche Sicht auf die christliche Moral erklärt die neue Hoffnung auf eine andere moralische Rangordnung, denn die Kunde »Gott ist tot« (FW, 125-N, 343N) stellt für Nietzsche eine existenzielle Wende in der moralischen Selbstinterpretation des Menschen dar. Gott steht für die absolute Instanz der jüdisch-christlichen Moral und deshalb eröffnet sein Tod neue Horizonte der moralischen Gründung, die von Zarathustra begonnen wird und von den »neuen Philosophen« weiterzuführen ist. Die These vom Tod Gottes provoziert bis heute und wird als Bestandteil des dionysischen Radikalismus gesondert diskutiert (Kap. 7, 8).
3.3 Wille zur Macht, Krieg und historische Erfahrung: Nietzsche, Max Weber und Thomas Mann Die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs sind nicht nur richtungweisend für die politischen Folgekonstellationen des 20. Jahrhunderts, sie verändern auch bei prominenten Intellektuellen die Einstellung zu Krieg und nationaler Politik. Thomas Mann revidiert seine frühere kulturtheoretische Einordnung des Krieges. Für ihn ist Krieg mittlerweile nur noch schlechte Romantik (Kap. 1.2, 2.2). Max Weber, der mit seinem glühenden Nationalismus den Thomas Manns noch übertrifft, vollzieht einen vergleichbaren Wandlungsprozess vom kriegerischen Nationalisten Noch stärker und positiver in einer früheren Notiz: »Der Socialismus beruht auf dem E n t s c h l u s s die Menschen g l e i c h zu setzen und gerecht gegen jeden zu sein: es ist die höchste Moralität.« (KSA, Bd. 8, 373: 1876/77).
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Wille zur Macht, Krieg und historische Erfahrung
zum Befürworter der parlamentarischen Demokratie und nationalen Pazifisten. Hinzu kommt, dass Weber aufgrund seiner analytischen Fähigkeiten herausragende Beiträge zur republikanischen Neuordnung Deutschlands leistet. Max Webers Theoriebildung, die einem nietzscheanischen Elitismus nahesteht, eignet sich sehr gut, um die Ambivalenz von Nietzsches Verhältnis zur Politik einem Test unter systematischen wie realhistorischen Bedingungen zu unterziehen. Wie die unterschiedlichen Vereinnahmungen Nietzsches zum Ersten Weltkrieg bereits gezeigt haben (vgl. Kap. 1.1), stellt sich ohnehin die Frage nach dem Bezug des Willens zur Macht und des dionysischen Radikalismus zur Kriegsthematik. Ich wende mich daher zunächst der Kriegsthematik bei Nietzsche zu. Wenn Nietzsche von Krieg redet, geht es einerseits um die bellizistische Kulturkritik der inneren Beschaffenheit eines Landes wie Deutschland oder um Europa insgesamt, andererseits aber auch um den Krieg zwischen Völkern und Staaten. Darüber hinaus findet sich bei Nietzsche ein noch breiteres Kriegsvokabular, wenn er von Menschen in »einem Auflösungs-Zeitalter« spricht. Diese lebten in einem inneren Widerstreit mit sich, der sich einerseits in einem Bedürfnis nach Ruhe zeige, andererseits aber zu einer »Meisterschaft und Feinheit im Kriegführen mit sich«, zur »Selbst-Beherrschung, Selbst-Überlistung« stimuliere (JGB, 200-N). Dieses »Kriegführen mit sich« gleicht der obigen ersten Bedeutung des Willens zur Macht, die unter dem Vorzeichen der Entfaltung eigener Fähigkeiten steht und als Vollzug unterschiedlicher Wesenszüge denkbar ist. So kann auch der Gegensatz von Herrenmoral und Sklavenmoral zum inneren Kampf eines Menschen werden (JGB, 260-N). Seinen moralphilosophischen Bellizismus praktiziert Nietzsche besonders in seiner späten Schrift Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt. Nietzsche charakterisiert sie als »g r o s s e K r i e g s e r k l ä r u n g «, die dem Angriff auf »e w i g e Götzen« gilt, »an die hier mit dem Hammer wie mit einer Stimmgabel gerührt wird«, um der Umwer113 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
Nietzsche und die Politik: Ein systematischer Rahmen
tung aller Werte als Wegweiser zu dienen (GD, Vorwort, 57 f.). Diese Schrift, die Nietzsche in einem Brief an Brandes als »meine Philosophie i n n u c e – radikal bis zum Verbrechen …« vorstellt (NB, Bd. 8, 457), enthält zentrale Thesen seiner Philosophie. Demgemäß bezieht sich das Kriegsgeschehen auf den Kampf gegen die platonisch-sokratische Philosophie, gegen das Christentum und gegen die Nivellierungen einer demokratisierenden Moderne. Nietzsche polemisiert gegen das Fortschrittsund Harmoniebedürfnis seiner Zeit und tritt für die Dominanz der »kriegs- und siegesfrohen Instinkte« über die Instinkte des »Glücks« ein: »Der Mensch strebt n i c h t nach Glück; nur der Engländer thut das.« (GD, 139, 61) Der freie Geist verachtet das »Wohlbefinden, von dem Krämer, Christen, Kühe, Weiber, Engländer und andere Demokraten träumen. Der freie Mensch ist K r i e g e r.« (GD, 139 f.) Freiheit muss für Nietzsche durch das Überwinden von Widerständen erst erkämpft werden und je besser und niveauvoller das geschieht, umso höher ist der Status des jeweiligen Menschen oder des Kollektivs. Diese kriegerische Freiheit ist in den Willen zur Macht integrierbar und bleibt rückbezogen auf konfligierende individuelle oder kollektive Wertorientierungen, auch wenn diese zu gewaltförmiger Herrschaft tendieren. Insbesondere in den radikalen Zuspitzungen von Nietzsches Spätphase, die sich bis zum (nachgelassenen) Antichrist fortsetzt, wird deutlich, dass es Nietzsche primär um einen geistigen Kampf zur Durchsetzung seiner Werte für die Zukunft geht. Diese Durchsetzung erfordert Härte, so dass er die »GötzenDämmerung« mit einer Erinnerung an seinen Zarathustra (Z III, 268) schließt: »w e r d e t h a r t !« (GD, 161) Diese kulturrevolutionäre Militanz speist sich aus der Größe der Aufgabe, neue Wertetafeln für die Menschen aufzustellen. Es geht darum, Werte aus »Urzeiten« umzuwerfen, gleichsam »die schweren, granitnen Katzen«, die den Weg versperren, beiseite zu räumen (KSA, Bd. 11, 405). In diesem Sinn fordert Zarathustra seine Schüler zur kriege114 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
Wille zur Macht, Krieg und historische Erfahrung
rischen Haltung, zu Tapferkeit und dem Stolz auf Feinde auf. In seiner Rede »Vom Krieg und vom Kriegsvolke« stilisiert er sich zum »bestem Feind« gegenüber seinen »Brüdern im Kriege«, um ihren Gehorsam beim Verfolgen des höchsten Gedankens einzufordern, und scheut sich nicht, den Krieg zu loben: »Ihr sagt, die gute Sache sei es, die sogar den Krieg heilige? Ich sage euch: der gute Krieg ist es, der jede Sache heiligt.« (Z I, 59) Solche und andere Sätze sind, losgelöst von ihrem philosophischen Kontext, dazu angetan, als Parole einer kriegerischen Machtpolitik zu dienen: »Was liegt am Lang-Leben! Welcher Krieger will geschont sein!« (Z I, 60) Oder auch: »[…] das Geheimnis, um die grösste Fruchtbarkeit und den grössten Genuss vom Dasein einzuernten, heisst: g e f ä h r l i c h l e b e n !« (FW, 283-N) Dieser letzte Satz mag als Aufruf zu einem Abenteurertum und zur Kriegsbereitschaft erscheinen, doch der philosophische Kontext des Satzes verweist auf geistige Neuorientierung. Denn diesem Satz geht Nietzsches Hoffnung auf ein neues Zeitalter voraus, »das den Heroismus in die Erkenntnis trägt und K r i e g e f ü h r t um der Gedanken und ihrer Folgen willen«. Dieser Heroismus erfordert »vorbereitende Menschen«: »Baut eure Städte an den Vesuv! Schickt eure Schiffe in unerforschte Meere! Lebt im Kriege mit Euresgleichen und mit euch selber! Seid Räuber und Eroberer, so lange ihr nicht Herrscher und Besitzer sein könnt, ihr Erkennenden!« Doch das weist auch voraus auf eine kommende Zeit, in der »die Erkenntnis die Hand nach dem ausstrecken (wird), was ihr gebührt: – sie wird h e r r s c h e n und b e s i t z e n wollen […].« (FW, 283-N) Das bellizistische Verständnis von Erkenntnis ist insoweit nicht von möglichen Entwicklungen zur Herrschaft zu lösen, was auf die oben erläuterten Modelle Nietzscheanischer Politik zurückführt. Vor diesem Hintergrund und der grundsätzlichen Orientierung von Nietzsches Philosophie an Diesseitigkeit, Geschichtlichkeit und dem Willens zur Macht muss der Krieg zwischen Völkern und Staaten in eine Phänomenologie menschlicher Le115 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
Nietzsche und die Politik: Ein systematischer Rahmen
bensverhältnisse eingeordnet werden. Der Wille zur Macht kann sich in Kriegen manifestieren und sich zur gewaltförmigen Herrschaft über andere steigern. Nietzsches Lob der »kriegsund siegfrohen Instinkte« lässt die Konkretisierung im militärischen Verständnis durchaus zu, macht aber Nietzsche noch nicht zum Militaristen und Propheten des Krieges von 1914. Dagegen stehen wesentliche Inhalte von Nietzsches Philosophie: Europäertum, Anti-Nationalismus, Kritik des Antisemitismus – speziell in Deutschland. Das schließt nicht aus, dass in kulturtheoretischer Hinsicht Nietzsche die anti-pazifistische Position Max Webers teilen könnte: »Die Stellung der Evangelien […] stehen im Gegensatz nicht etwa gerade nur zum Krieg […], sondern letztlich zu allen und jeden Gesetzlichkeiten der sozialen Welt, wenn diese eine Welt der diesseitigen ›Kultur‹, also der Schönheit, Würde, Ehre und Größe der ›Kreatur‹ sein will. Wer die Konsequenzen nicht zieht […], der möge wissen, daß er an die Gesetzlichkeiten der diesseitigen Welt gebunden ist, die auf unabsehbare Zeit die Möglichkeit und Unvermeidlicheit des Machtkrieges einschließen […].« 21
Diese von Weber noch zur Zeit des Ersten Weltkriegs (1916) formulierte Überzeugung, die unterstreicht, dass das »›MachtPragma‹ […] alle politische Geschichte beherrscht«, lässt sich auch parallel zu Nietzsche lesen. Zwar ist bei Nietzsche das »Macht-Pragma« vielschichtiger als bei Webers realpolitischer Orientierung, doch Machtphänomene unter Einschluss von Kriegen sind bei einer lebensnahen Betrachtung des Menschlichen zu berücksichtigen. Diese Sichtweise kann bestehen bleiben, auch wenn – wie bei Thomas Mann und Max Weber – die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs dazu führen, den Krieg nicht länger als selbstverständliches Mittel in politischen Konflikten zu betrachten. Denn das Risiko von Kriegen ist nicht für alle Zukunft auszuschließen. 21
M. Weber, Zwischen zwei Gesetzen, in: ders., Ges. Pol. Schr., a. a. O., 145.
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Wille zur Macht, Krieg und historische Erfahrung
Die veränderte politische Grundorientierung gegenüber dem Krieg übersteigt den zeitgeschichtlichen Erfahrungshorizont von Nietzsche. Deshalb lassen sich in Bezug auf Nietzsche allenfalls Ansatzpunkte für einen neuen politischen Kontext finden. Solche Ansatzpunkte zeigen sich in kritischen Überlegungen zum Krieg, die zwar die beschriebene kulturtheoretische Einordnung des Krieges nicht gänzlich ändern, aber doch andere Akzentsetzungen ermöglichen. So schwächt Nietzsche z. B. Feststellungen zur »Unentbehrlicheit« von Kriegen und »zeitweilige Rückfälle in die Barbarei« ab (MA I, 477-N). Denn es soll auch möglich werden, dass ein starkes Volk, in dem Menschen ohnehin bereit sind, »das Leben für eine einzige gute Empfindung dahin zu geben […] Kriege nicht nöthig (hat)« (MA II/2, 187-N). Darüber hinaus erwägt Nietzsche als »Mittel zum wirklichen Frieden«, dass ein durch Kriege und Siege erfahrenes Volk eines Tages mit dem Ruf »w i r z e r b r e c h e n d a s S c h w e r t « den »Kriegsglorien-Baum […] durch einen Blitzschlag zerstört«, weil es »aus einer H ö h e der Empfindung heraus« den »Frieden der Gesinnung« gefunden hat (MA II/2, 284-N). Die kriegerische Freiheit kann die Größe der Selbstüberwindung hervorrufen und zum Frieden führen. Es bleibt jedoch bei Nietzsches Einschätzung, dass ein neues kriegerisches Zeitalter für Europa begonnen hat, das in der Tradition von Friedrich dem Großen und Napoleon die »Skepsis der verwegenen Männlichkeit« wieder befördere (JGB, 209-N). Doch das Europäertum, das Nietzsche vertritt, nimmt gleichzeitig Abstand von den nationalistischen Tendenzen seiner Zeit und wendet sich gegen »atavistische Anfälle von Vaterländerei und Schollenkleberei« (JGB, 241-N). Dass diese Rückschläge realhistorisch viel stärker sind und die Konflikte um nationale Selbstbehauptung zum Ersten Weltkrieg bestimmen, unterstreichen den utopischen Zug von Nietzsches europäischem Herrschaftsmodell (vgl. Kap. 3.2), dessen Realisierung er gerade in einem Prozess der »A u s g l e i c h u n g des europäischen Menschen«, der »K l u f t a u f r e i ß u n g , D i s t a n z , R a n g o r d 117 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
Nietzsche und die Politik: Ein systematischer Rahmen
n u n g « im Sinne der vornehmen Moral einer »Herren-Rasse« sieht. (KSA, Bd. 12, 425 f.) Die Polemik gegen den Nationalismus und die Einigung Europas führt Nietzsche zur Proklamierung einer »Friedenspartei«, die jedoch strengen Maßstäben unterliegt: »Eine Partei des F r i e d e n s , ohne Sentimentalität, welche sich und ihren Kindern verbietet, Krieg zu führen […] Gegnerisch gegen die R a c h - und N a c h g e f ü h l e . Eine K r i e g s p a r t e i , mit der gleichen Grundsätzlichkeit und Strenge gegen sich in umgekehrter Richtung vorgehend –« (KSA, Bd. 13, 93)
Auch die Friedenspartei bedarf also einer bellizistischen Einstellung, um ihre Sache durchzusetzen, so dass der begriffliche Rahmen des Willens zur Macht bzw. der Impetus zur Umwertung der Werte erhalten bleibt. Auch wenn es nicht möglich ist, aus der Ambivalenz der Nietzscheanischen Politikmodelle und der utopisch-europäischen Perspektive konkrete Folgerungen für die Zeit des Ersten Weltkriegs und seiner Konsequenzen abzuleiten, so zeigt sich doch, dass Nietzsches Denken auch bei der Frage des Krieges für Revisionen offenbleibt. Mit der Theoriebildung Max Webers steht eine Kontrastfolie zur Verfügung, die es erlaubt, Nietzscheanische Politikperspektiven unter Einbeziehung von historischer Erfahrung und analytischer Stringenz systematisch zu korrigieren. Die kulturelle Vertiefung der Republik, die Thomas Mann mit Nietzsche anstrebt (vgl. Kap. 2), lässt sich so komplementär zu Max Weber lesen. Weber zeigt, dass wichtige kulturelle Anstöße zur Politik von Nietzsche oder Thomas Mann durch eine Theoriebildung, die aus einer originären Kenntnis des Politischen und seiner operativen Bedingungen resultiert, zu modifizieren und zu binden sind. Das nationalistische Pathos von Webers Freiburger Antrittsrede (1895), das Politik und Sozialwissenschaft auf den »letzten Wertmaßstab« der deutschen Staatsräson verpflichtet und den Machtstaatsgedanken von der »ernsten Herrlichkeit des natio118 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
Wille zur Macht, Krieg und historische Erfahrung
nalen Empfindens« durchweht sieht 22 , lebt in dessen Einschätzung des Kriegs von 1914 (»groß und wunderbar«) zwar fort, verbindet sich aber mit der Kritik an der politischen Führung des Kaiserreichs und der »entsetzlichen Unfähigkeit unserer Diplomatie«. 23 So sehr Weber am Krieg als unvermeidliche Selbstbehauptung von Deutschlands »Ehre« festhält, so entschieden kritisiert er immer wieder deutsche Allmachtsphantasien der politischen Rechten und die Demagogie der »Eitelkeitspolitiker«, die er zu rationaler Politik und zu einem ausbalancierten Friedensschluss im europäischen Spektrum der Mächte für unfähig hält. 24 Durch die Erfahrungen des Krieges belehrt, dessen Ausbruch er später als »Katastrophe« charakterisiert 25 , lautet sein Fazit Ende 1918: »Klarer Verzicht auf imperialistische Träume und also rein autonomistisches Nationalitätsideal: Selbstbestimmung aller deutschen Gebiete zur Einigung in einem unabhängigen Staat zu rückhaltlos friedlicher Pflege unserer Eigenart im Kreise des Völkerbunds.« 26 Mit dieser Wendung zu einem »nationalen Pazifismus« bekennt sich Weber zur Republik, welche einerseits die Konsequenz aus der Selbstdiskreditierung der preußischen Dynastie sei, andererseits aber das Resultat grundsätzlicher Überlegungen zur neuen Staatsform Deutschlands darstelle. Die Absage an dynastische Legitimität zielt auf eine Stärkung des Bürgertums wie auf die Verwirklichung der parlamentarischen Demokratie mit allgemeinem gleichem Wahlrecht, das er im Interesse M. Weber, Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik, in: ders., Ges. Pol. Schr., a. a. O., 1–25, inbes. 13 ff., 25. 23 M. Weber, Brief an Ferdinand Tönnies: 15. 10. 1914. In: MWG, Abt. II, Band 8, Tübingen 2003, 799. 24 Exemplarisch dazu: M. Weber, Deutschland unter den europäischen Weltmächten (1916), in: ders., Ges. Pol. Schr., a. a. O., 157–177. 25 M. Weber, Bemerkungen zum Bericht der Kommission der alliierten und assoziierten Regierungen über die Verantwortlichkeit der Urheber des Krieges, ebd., 571 ff. 26 M. Weber, Deutschlands künftige Staatsform, ebd., 455. Zum Folgenden ebd., 449 ff., Zitate 455, 482. 22
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Nietzsche und die Politik: Ein systematischer Rahmen
der heimkehrenden Soldaten schon während des Krieges gegen das Preußische Zensuswahlrecht einfordert. Mit dem Plädoyer für die republikanische Position und seiner Verurteilung der »Hetze gegen die ›westliche‹ Demokratie« spricht sich Weber für eine paritätische »bürgerlich-sozialistische Regierung« aus, allerdings in Distanzierung zu der »völligen Unfähigkeit der radikalen Literaten zur Leitung der Wirtschaft«. Für Max Weber ist eine Neuordnung Deutschlands nur im Rahmen einer westlich geprägten konstitutionellen Demokratie vorstellbar. Denn nur so könne die deutsche Niederlage langfristig in eine Friedens- und Verständigungsperspektive für Europa und die Welt (Völkerbund) transformiert werden. Webers Kritik an der »dilettantischen« Politik des Kaiserreichs sowie seine Einschätzung von modernen Tendenzen gesellschaftlicher Rationalisierung und Bürokratisierung führen zu der Forderung nach starken Führungspersönlichkeiten, die aufgrund ihrer »charismatischen« Befähigung die politischen Geschicke im Zeitalter demokratischer Massengesellschaften lenken. Nachdem die alten aristokratisch-feudalen Eliten abgewirtschaftet haben und die Zeit der Honoratiorenparteien wie im alten Liberalismus vorbei ist, scheint so das Modell der »plebiszitären Führerdemokratie« den neuen Anforderungen für politische Machtausübung unter Bedingungen eines inzwischen entstandenen Spektrums an Massenparteien wie der Sozialdemokratie gerecht zu werden. 27 Webers Konzeption verbleibt dabei im Rahmen des republikanisch-parlamentarischen Verfassungsstaats. 28 So kann das Profil der verantwortungsethischen Führungspersönlichkeit, das er zeichnet, auch unter gegenwärtigen Bedingungen systematische Beachtung beanspruchen. 29 Max Webers Verarbeitung des Krieges kann beispielhaft für die M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Studienausgabe, Tübingen 1976, 156 f. 28 Vgl. St. Breuer, Max Webers Herrschaftssoziologie, Frankfurt/M. 1991, 200. 29 Vgl. M. Weber, Politik als Beruf, in: Ges. Pol. Schr., a. a. O., insbes. 545 ff. 27
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Wille zur Macht, Krieg und historische Erfahrung
politische Relevanz historischer Erfahrung herangezogen werden, um mit Blick auf Nietzsche Konsequenzen zu ziehen. Damit soll Webers Sichtweise nicht auf Nietzsche übertragen werden, doch ist es legitim, mit Webers Hilfe nach einer nietzschenahen Lehre aus dem Weltkrieg zu fragen. Zunächst ist die Klarheit und intellektuelle Rechtschaffenheit hervorzuheben, mit der Max Weber die deutsche Niederlage eingesteht und reflektiert, eine Tugend, die deutliche Anklänge an das von Nietzsche betonte »intellectuale Gewissen« aufweist (FW, 2-N, 319-N; Z IV, 360; JGB 227-N). Weber setzt sich damit dem Vorwurf des »Vaterlandverräters« 30 aus, der auch gegen Ernst Troeltsch erhoben wird, als dieser sich von früheren Positionen der »Ideen von 1914« verabschiedet und sich Webers Konstitutionalismus annähert. Das erinnert zugleich an Max Webers Ablehnung der »vielen Phrasen der Ideen von 1914« 31 , denen er bereits während des Krieges entgegenhält, dass viel wichtiger die Ideen des Jahres 1917 seien, wenn es um den möglichen Frieden ginge. 32 Angesichts des nationalistischen Volksgemeinschaftsozialismus der »Ideen von 1914« und seiner antisemitischen Durchtränkung liefert dieser Kontext einen Grund mehr, Max Webers Kriegsfazit und seine politische Konzeption als Modell aufzugreifen, um mit Blick auf Nietzsche Klarstellungen vorzunehmen. Die erste kritische Zumutung für Nietzsche oder einen geistesverwandten Nietzscheaner besteht in Webers Auffassung, Dazu R. Zimmermann, Philosophie nach Auschwitz, Reinbek bei Hamburg 2005, Kap. 2.3. 30 So der Weltkriegsgeneral Erich Ludendorff über Max Weber: M. Llanque, Demokratisches Denken im Krieg. Die deutsche Debatte im Ersten Weltkrieg, Berlin 2000, 245. Zu Troeltsch: P. Hoeres, Krieg, a. a. O., 442. Zum Kulturkrieg und den »Ideen von 1914« vgl. Kap. 1.1. Zu Thomas Mann und Troeltsch vgl. Kap. 2.1. 31 Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild, München 1989, 569. 32 M. Weber, MWG, Bd. I/15: Zur Politik im Weltkrieg, Tübingen 1984, 660. Vgl. M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1988, 540.
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Nietzsche und die Politik: Ein systematischer Rahmen
dass nur im Kreis konstitutioneller Demokratien die weitere Verfolgung einer europäischen Idee Sinn macht, so schwierig sich diese auch nach dem Krieg ausnehmen mag. Die politischen Vorstellungen der Vorkriegs- und Kriegszeit verlieren mit der illusionslosen Bilanz des Krieges und der deutschen Niederlage ihre Bedeutung und verlangen mit dem Zusammenbruch des Kaiserreichs nach einer Neubesinnung. Webers Plädoyer für die Republik und die parlamentarische Demokratie definiert die politische Form, unter der allein noch Nietzsches Idee der »Ausgleichung des europäischen Menschen« und die Ablehnung des Nationalismus möglich bleibt. Das jedoch führt auf die zweite Zumutung gegenüber Nietzsche, die auf das Problem des Egalitarismus verweist. Die konstitutionelle Demokratie nach westlichem Muster ist nicht ohne moralisch-politische Gleichheitsgrundsätze zu verstehen und steht insofern in der Tradition der Französischen Revolution von 1789. Dieses Problem verweist zurück auf die idealtypische Unterscheidung zwischen einem liberalen und autoritären Typus und entsprechende nietzscheanische Politikmodelle. Diese sind systematisch zu reduzieren: nur noch ein republikanischdemokratischer Rahmen bleibt vertretbar. Max Webers Konzeption eines auf charismatische politische Leitfiguren ausgerichteten Typus von parlamentarischer Demokratie, der eine »cäsaristische Wendung der Führerauslese« 33 starkmacht, kann Nietzsches Elitismus aufnehmen. Doch muss auch der Preis eingefordert werden, der unter demokratischen Bedingungen zu entrichten ist: die Anerkennung des egalitären Prinzips. Wenn man berücksichtigt, dass das egalitäre Prinzip mit einem individualistischen Begriff menschlicher Gleichheit zusammenzubringen ist (vgl. 3.1, 3.2), dann gibt es keinen systematischen Grund, der gegen die Einbindung Nietzsches in den Konstitutionalismus Max Webers spricht. Darüber hinaus kehrt Nietzsches Plädoyer für Rangordnungen wieder in Max Webers eige33
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Wille zur Macht, Krieg und historische Erfahrung
nem moralischem Personalismus, der eine vergleichbare »Moral der Vornehmheit« kennt. 34 Zur Bestätigung meiner These verweise ich auf eine Passage aus dem noch zur Kriegszeit (1917) verfassten Aufsatz Wahlrecht und Demokratie in Deutschland. Max Weber wirft darin die Frage auf, wie sich die Demokratisierung Deutschlands mit der Konstituierung einer Aristokratie im politischen, nicht erblich-dynastischen Sinn, verbinden ließe und stellt fest: »Die Entwicklung einer wirklich vornehmen und zugleich dem bürgerlichen Charakter der sozial maßgebenden Schichten angemessenen ›deutschen Form‹ liegt jedenfalls noch im Schoß der Zukunft.« Doch ist für Weber klar, dass die Vornehmheit einer politischen Elite nur noch in Verbindung mit einer Anerkennung der »demokratischen Welt« zu vertreten sei. Und als wollte er einen Kommentar zu einer moderat-liberalen Variante der Rangordnung bei Nietzsche abgeben, heißt es bei Max Weber: »›Distanz‹ ist aber keineswegs, wie der Mißverstand der verschiedenen auf NIETZSCHE zurückgehenden ›Prophetien‹ bei uns glaubt, nur auf dem Kothurn der ›aristokratischen‹ Kontrastierung seiner selbst gegen die ›Vielzuvielen‹ zu gewinnen: – sie ist im Gegenteil stets unecht, wenn sie heute dieser inneren Stütze bedarf. Gerade als Probe ihrer Echtheit kann ihr vielleicht die Notwendigkeit, sich innerhalb einer demokratischen Welt innerlich zu behaupten, nur dienlich sein.« 35
Mit der Absage an den »Kothurn« vordemokratischer Eliten adaptiert Max Weber Nietzsches Frage »Was ist vornehm?« (JGB, 257 ff.) für seine politischen Perspektiven. Nietzsches moralisch-kulturelle Radikalität bedarf unter demokratischen Vorzeichen zeitgemäßer Akzentuierungen, die für Weber schon deshalb unvermeidlich sind, weil er klar sieht, dass Lösungen für politische Probleme seiner Zeit, »nicht aus noch so wertW. Hennis, Die Spuren Nietzsches im Werk Max Webers, in: ders., Max Webers Fragestellung, Tübingen 1987, Kap. 4, 172 ff. 35 M. Weber, Ges. Pol. Schr., a. a. O., 285. Zitat zuvor ebd., 284. 34
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Nietzsche und die Politik: Ein systematischer Rahmen
vollen Geisteswerken unserer Vergangenheit zu destillieren« sind. Max Weber formuliert die Einbindung Nietzsches auf der Ebene politischer Begriffe, während Thomas Mann die Republik mit dem Impetus einer Hochkultur versieht, die ohne Nietzsche undenkbar ist.
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4. Nietzsche-Bilder im Kontext des Faschismus
Thomas Manns philosophische Urteilskraft zeigt sich darin, dass er zwischen Nietzsches philosophischen Thesen und Begriffsbildungen sowie zeitgenössischen politischen Positionen und Herausforderungen differenziert und die Vereinnahmungen Nietzsches durch den Nationalsozialismus zurückweist. Auch wenn ihm Thesen zu Nietzsches angeblicher Nähe zum Faschismus bedenkenswert erscheinen, so sieht er Nietzsche – trotz eigener Kritik – in Distanz zum Nationalsozialismus. Sein Essay Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung ist nicht nur als spätes Fazit Thomas Manns relevant, sondern auch als Appell an unsere eigene Erfahrung im Hinblick auf Zeitgeschichte und kontroverse Nietzsche-Interpretationen von Bedeutung (vgl. Kap. 7). In den folgenden Kapiteln ordne und kommentiere ich in einer schrittweisen, systematischen Bestandsaufnahme die wichtigsten Bausteine. Das betrifft Thomas Manns politische Haltung zur Zeit der NS-Herrschaft, seine Kritik am Faschismus und seine politische Einflussnahme als Emigrant (Kap. 4.1). Thomas Mann nimmt einerseits Nietzsches Wagner-Kritik zum Vorbild seiner NS-Kritik (Kap. 4.2) und macht andererseits auch Nietzsche für das Verhängnis des apolitischen deutschen Geistes verantwortlich. Sein »Nietzsche-Roman« Doktor Faustus soll der Situation der Kunst wie der Lage des Menschen zeitgemäßen Ausdruck verleihen (Kap. 4.3). Im Genre des Gesellschaftsromans reflektiert er die Krise des Verhältnisses von Hochkultur und Politik (Kap. 4.4). Vor diesem Hintergrund diskutiere ich Thomas Manns Nietzsche-Bild (Kap. 5, 6).
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Nietzsche-Bilder im Kontext des Faschismus
4.1 »Militante Demokratie« gegen Faschismus Thomas Manns öffentliches Bekenntnis zur Literatur im Exil und seine Stellungnahmen gegen den Nationalsozialismus machen ihn zu einem herausragenden Vertreter der Emigration und der deutschen anti-faschistischen Kultur. 1 Dem Schritt zum öffentlichen Bekenntnis (1936), das Thomas Manns Ausbürgerung durch das NS-Regime zur Folge hat, gehen interne Aufzeichnungen und eine Tagungsrede voraus, die in der Forderung nach einem europäischen »militanten Humanismus« 2 im Kampf gegen den Faschismus gipfeln. Noch drastischer und polemischer formuliert Thomas Mann seine Kritik in den Tagebuchblättern Leiden an Deutschland (1933/34), in denen es zu Hitler heißt: »[…] was für ein Kujon dieser Mensch ist, […] was für ein Vieh mit seinen Hysterikerpfoten, die er für Künstlerhände hält.« (XII, 737) Solche und ähnliche Sätze stehen unter dem Eindruck der Liquidierung der SA-Führung und des Mordkomplotts gegen den österreichischen Kanzler Dollfuß (Juni/Juli 1934). Sie passen zu Äußerungen über die »schweinische Art des Systems«, die Thomas Mann in den Lügengebäuden der NS-Propaganda diagnostiziert (XII, 707). Seine »Überzeugung, daß das Regime an seiner schamlosen Verlogenheit zugrunde gehen müsse« (XII, 728), erweist sich zwar als voreilig, doch liegt Thomas Manns Einschätzung in anderen Punkten richtig. Zum einen betrifft das die früh geäußerte Vermutung, das NS-Regime bereite einen Krieg vor (XII, 713), die er im Lauf der 30er Jahre bestätigt sieht (vgl. Ess IV, 159, 188 f., 314; Ess V, 86) und ihn zur Kritik an der Nachgiebigkeit Englands gegenDetails hierzu bei Pikulik, Faschismus, a. a. O., 159 ff. Text unter dem Titel Achtung, Europa!: Ess IV, 147–160, vgl. ebd. insbes. 159. Die Rede wurde auf der Tagung des Komitees für Literatur und Kunst des Völkerbundes (Nizza, April 1935) in Abwesenheit von Thomas Mann in französischer Sprache verlesen. Zu weiteren Details: Kommentar, Ess IV, 374 ff.
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»Militante Demokratie« gegen Faschismus
über Hitler bewegt. 3 Zum zweiten betrifft das die Einsicht, dass der Nationalsozialismus »etwas aus dem Europäischen und Gesittungsmäßigen durchaus Herausfallendes (ist)«. Er steht nicht nur in Opposition zu Liberalismus und westlicher Demokratie, sondern »zur Zivilisation schlechthin.« (XII, 766) So ist für ihn das Geschichtsbild des NS-Faschismus »ein absoluter, von Moral und Vernunft völlig freier und ihnen fremder Dynamismus«. Faschismus und Demokratie wohnen »gleichsam auf verschiedenen Sternen« (Ess IV, 238). Die Exzesse der Judenverfolgung sind für Thomas Mann nicht nur die Konsequenz der Rassenideologie, sondern Vorstufe zum Angriff auf das Christentum. Das bedeute, dass »im Moralischen […] die Vernichtung der Grundfesten unserer Zivilisation« zur Disposition steht. 4 In einer Radioansprache an die deutschen Hörer (1943) verweist Thomas Mann geradezu beschwörend auf die zehn Gebote und das Buch Mose. Das verfluche diejenigen, die ihre Geltung missachteten (1943, Ess V, 212). 5 Folgende Hauptpunkte der Auseinandersetzung von Thomas Mann mit dem Nationalsozialismus verdienen es, hervorgehoben zu werden: Erstens erkennt Thomas Mann früh die durch den NS vollzogene moralische Abkehr von westlich-humanitären und christlichen Traditionen. Insofern nimmt er Hannah Arendts Hierzu: Vom zukünftigen Sieg der Demokratie (1938): Ess IV, 239 ff.; Die Höhe des Augenblicks (1938): Ess V, 18 ff. 4 Das Problem der Freiheit (1939): Ess V, 70. Hierzu passt, dass Heinrich Himmler das Christentum als einen dem Judentum vergleichbaren Feind bezeichnete: P. Longerich, Heinrich Himmler, München 2008, Kap. III. 5 Dem entspricht die »Moses-Erzählung« Das Gesetz (VIII, 808–876), die zuerst in englischer Sprache unter dem Titel Thou shalt have not other Gods before me in einem Sammelband erschien. Titel: The ten Commandments. Ten short novels of Hitler’s War against the Moral Code, New York 1943. Das Vorwort stammt von Hermann Rauschning, der zur NS-Zeit Regierungschef von Danzig war (1933/34), danach mit dem NS brach und ins Exil in die USA ging. Rauschning ist in der historischen Forschung als Quelle zum NS – insbesondere seine Gespräche mit Hitler – umstritten. 3
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Nietzsche-Bilder im Kontext des Faschismus
Urteil vorweg, dass der NS »das moralische Gefüge der westlichen Welt« durch seine Verbrechen zerstört habe. 6 Auch wenn das Ausmaß dieser Verbrechen für Thomas Mann erst später sichtbar wird, so bringt sein Appell an das deutsche Volk, »Scham und Ekel« angesichts der »Lösung der Judenfrage« 7 zu empfinden, seine Sensibilität für die gravierende moralische Problematik der NS-Herrschaft zum Ausdruck. Zweitens prognostiziert Thomas Mann bereits vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, dass politische Kompromisse mit dem Nationalsozialismus nicht von Dauer sein werden. So fordert er vor amerikanischem Publikum dazu auf, für eine »militante Demokratie« und den »Sieg der Gesittung über die Barbarei« einzutreten (1939, Ess V, 71). Sein Plädoyer für die Selbstbehauptung der Demokratie im Kampf gegen den Faschismus ruft im Hinblick auf seine vorrepublikanischen Aufsätze während der Zeit des Ersten Weltkriegs kritische Stimmen in Amerika auf den Plan. Sie veranlassen ihn dazu, seine politische Entwicklung zu beschreiben: »Als Künstler […] war ich ungewöhnlich frühreif, da ich mit dreiundzwanzig Jahren ein Buch schrieb, das heute noch lebt […]. In politischer Beziehung dagegen ist bei mir (und das ist vielleicht national-deutsch) ein sehr langsames Reifen festzustellen, und tatsächlich setzte erst der mich in meinen Grundfesten erschütternde Kriegsausbruch von 1914 gewaltsam zu Problemen überhaupt in Beziehung, für die ich vorher gar kein Organ entwickelt hatte. So steht der alte Aufsatz […] am frühesten Anfang eines Gedankenprozesses, der durch die ›Betrachtungen‹ und den ›Zauberberg‹ zu der Rede ›Vom kommenden Sieg der Demokratie‹ führte, eines Prozesses, der sich natürlich nicht im luftleeren Raum, sondern im Zusammenhang mit den wechselnden Situationen der geschichtlichen Wirklichkeit abspielte und in dem es mir gelang, meinen Humanitätsbegriff politisch zu vervollständigen und im Menschheitskampf meinen rechten Platz zu finden.« 8 H. Arendt, Besuch in Deutschland, Berlin 1993, 23. Dieser Krieg (1940): Ess V, 87. 8 The Quotations of Mr. Peyre (1944): Ess V, 250–256, ebd. 253. Zur Vorgeschichte dieser Stellungnahme vgl. Ess V, Kommentar, 427 ff. 6 7
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»Militante Demokratie« gegen Faschismus
Bei dem erwähnten »alten Aufsatz« handelt es sich um die Gedanken im Kriege (vgl. Kap. 1), denen die Betrachtungen eines Unpolitischen folgen. Die Betrachtungen kommentiert Thomas Mann nun als ein Werk, das zu Recht nicht übersetzt worden sei und auch auf Deutsch nicht hätte veröffentlicht werden dürfen, weil es eine Art intimes und missbrauchbares Tagebuch sei. Allenfalls könne das Werk noch als intellektuelle Vorbereitung zu seinem Roman Der Zauberberg durchgehen. Dort sei die Polemik gegen den »Zivilisationsliteraten« in die menschlich anziehende Fiktion der Romanfigur »Settembrini« transformiert worden (Ess V, 251 f.). In der Folge dieses Lernprozesses setzt sich Thomas Mann verstärkt mit der geschichtlichen Wirklichkeit auseinander und definiert seinen ironischen Konservativismus komplementär zu Republik und Demokratie. 9 Seine Rede Vom zukünftigen Sieg der Demokratie ist so nicht nur wegen des amerikanischen Kontexts nachvollziehbar. Denn in ihr kommt in aller Deutlichkeit der innere Zusammenhang von »unveräußerlicher Menschenwürde« und »moralischer Bestimmung der Demokratie« zur Sprache, der ebenso zentral wie das Beharren auf dem nicht überbrückbaren Gegensatz von Faschismus und Demokratie ist. Deshalb wird im Interesse der Selbsterhaltung die militante Demokratie gefordert (Ess IV, 220 ff., 240 ff.). Dem entspricht auch Thomas Manns Bekenntnis, er habe im »Menschheitskampf« seinen Platz gefunden. Auf die nietzscheanisch-elitären Züge von Thomas Manns Demokratieverständnis komme ich in einem abschließenden Fazit zurück (vgl. Kap. 7.3). Drittens interessiert im Kontext der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus die künstlerische bzw. essayistische Verarbeitung der totalitären Zeitumstände. Wie bereits deutlich wurde (vgl. Kap. 2.3), schließt die politische Identifikation mit Republik und Demokratie eine ironische Distanz zum politischVgl. Briefkonzept vom 21. Jan. 1944 an C. B. Boutell: »Ich hatte einfach etwas gelernt,– was viele andere nicht getan hatten.« Br II, 353.
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Nietzsche-Bilder im Kontext des Faschismus
gesellschaftlichen Geschehen keineswegs aus. Sie ermöglicht, die Problematik der Zeit in den Eigenarten, Widersprüchlichkeiten und tragischen Schicksalen von Personen literarisch zu verarbeiten. Wie der Zauberberg zur Gestaltung der »europäischen Dialektik« dient, so setzt sich der Doktor Faustus mit Faschismus und Nationalsozialismus auseinander. Darüber hinaus entwirft Thomas Mann ein Psychogramm Hitlers, das ihn in das Spektrum menschlicher Lebenswirklichkeiten einordnet: »Der Bursche ist eine Katastrophe; das ist kein Grund, ihn als Charakter und Schicksal nicht interessant zu finden.« 10 Das Bild, das Thomas Mann in Bruder Hitler zeichnet, ist nicht historisch-politisch zu bewerten, sondern im Sinne einer literarisch-essayistischen Annäherung. Es ist das Bild eines gescheiterten Künstlers, eines minderbegabten Kollegen, der quasi brüderlicher Nachsicht bedarf. Doch diese Nachsicht gegenüber dem (von der Akademie) »abgewiesenen Viertelskünstler« und dessen daraus resultierenden Minderwertigkeitsgefühlen mischt sich mit »angewiderter Bewunderung« für dessen hysterische »Unersättlichkeit des Kompensations- und Selbstverherrlichungstriebes«. Hitler greife die Sehnsüchte eines geschlagenen Volkes auf und inszeniere sich mit einer Art »Magnetismus, den man ›Genie‹ nennt«. Die verwandtschaftliche Nähe findet ihre Grenze da, wo Hitlers Programm »Ausdruck einer Selbstverachtung der Kunst« wird, die eine »geistig unkontrollierte Kunst, Kunst als schwarze Magie und hirnlos unverantwortliche Instinktgeburt« suggeriere. So gesehen wäre der missratene Bruder Hitler mit seiner geistfeindlichen Genialität besser auf der Couch von Sigmund Freud gelandet, anstatt seine Symptome auf Eroberungszügen auszuleben. Hitler, so die Pointe, sei jedoch dem Entlarver seiner Neurose durch den Einmarsch in Wien zuvorgekommen. DarüBruder Hitler (1938): Ess IV, 305–312, ebd. 306. Die folgenden Zitate ebd. 306–308, 311, 312, 310, 307. Vgl. ausführlicher: Pikulik, Faschismus, a. a. O., Kap. 6.
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Nietzsche contra Wagner – Thomas Mann contra Hitler
ber hinaus sei Hitler als gescheiterter Künstler und Gegner Freuds geradezu prädestiniert, auch die »Verhunzung« Richard Wagners zu betreiben. Freud und Wagner werden zu unterschiedlichen Bezugsgrößen für Thomas Manns Kritik des Faschismus und seine diesbezüglichen geistesgeschichtlichen Deutungen. Das geistige Rüstzeug dafür liefert zunächst Nietzsche.
4.2 Nietzsche contra Wagner – Thomas Mann contra Hitler Die Faszination für Wagner teilt Thomas Mann mit Nietzsche, auch wenn sich beide mit dessen Musik kritisch auseinandersetzen. Schon Nietzsche beschränkt seine Kritik an Wagner nicht auf die Musik, sondern wirft ihm vor, »reichsdeutsch« geworden zu sein (EH, 289). Damit zielt er bereits auf den Wagnerianismus als deutschnationale Kulturströmung. Dessen vulgarisierende Tendenzen signalisieren für Nietzsche die Abkehr vom europäischen Selbstverständnis der Kultur. Er grenzt den »Cosmopolitismus des Geschmacks Wagners« von seiner deutschen Vereinnahmung in Bayreuth ab und spottet: »Der Wagnerianer war Herr über Wagner geworden! – Die d e u t s c h e Kunst! Der d e u t s c h e Meister! Das d e u t s c h e Bier! […] Der arme Wagner! Wohin war er gerathen! – Wäre er doch wenigstens unter die Säue gefahren! Aber unter Deutsche!« (EH, 323 f.)
Bekanntlich hat Nietzsche an Wagner nicht nur seine Verchristlichung und Vereinnahmung durch den sich in Bayreuth konzentrierenden Wagner-Kult kritisiert, sondern Wagners Musik immer wieder in einfühlsamen Passagen seiner Schriften gewürdigt. Insgesamt jedoch ist er zu einem polemisch-kritischen Urteil gekommen. So reiht er Wagner in die Kulturkritik der Décadence ein und wirft ihm vor, eine »Gesamtverwandlung der Kunst in’s Schauspielerische« zu betreiben (WA, 26 f.). Sie liefere den psychisch erschöpften Menschen der Moderne Stimulan131 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
Nietzsche-Bilder im Kontext des Faschismus
tia, »das B r u t a l e , das K ü n s t l i c h e und das U n s c h u l d i g e (Idiotische)« (WA 23, vgl. KSA, Bd. 13, 249). Nietzsche rechnet Wagners Werke zur Romantik, in der »U n g e i s t i g k e i t « und »Haß g e g e n d i e › A u f k l ä r u n g ‹ u n d › Ve r n u n f t ‹ « dominierten. Außerdem öffne sich Wagners Musik dem Populismus: »ich habe Biertrinker und Militärärzte gesehen, die Wagner ›verstanden‹ … Wagners Ehrgeiz, auch die Idioten zu zwingen, Wagner zu verstehen« (KSA Bd. 13, 248 f.). Und dennoch befindet sich Nietzsche – nach seinen eigenen Worten ehemals einer der »corruptesten Wagnerianer« (WA, 16) – in einem Zwiespalt: »Ich verstehe es vollkommen, wenn heute ein Musiker sagt ›ich hasse Wagner, aber ich halte keine andre Musik mehr aus‹. Ich würde auch einen Philosophen verstehen, der erklärte: ›Wagner r e s ü m i e r t die Modernität. Es hilft nichts, man muss erst Wagnerianer sein …‹« (WA, 12)
Für Thomas Mann sind das Anhaltspunkte, die ihn dazu motivieren, seine politische Kritik des Nationalsozialismus geistesgeschichtlich zu vertiefen. Er sieht in der Romantik eine Verwandtschaft zum NS und nimmt Richard Wagner als Paradigma. Dabei geht es ihm um die politische Relevanz einer deformierten Romantik, auf die er bereits in seiner Republikrede zu sprechen kommt (vgl. Kap. 2.2). Sie beschäftigt ihn umso mehr, je mehr der NS an Macht gewinnt. Er kritisiert nicht nur die nazistische Vereinnahmung von Wagner durch den Wagnerianer Hitler und seine Bayreuther Gefolgschaft, sondern vermutet auch in Wagners Musik selbst Züge des Nazismus: »Ich finde das nazistische Element nicht nur in Wagners fragwürdiger ›Literatur‹, ich finde es auch in seiner ›Musik‹, in seinem ebenso, wenn auch in einem erhabeneren Sinne, fragwürdigen Werk –, ob ich es gleich so geliebt habe, daß ich noch heute, wenn irgendein abgerissener Klang aus dieser Beziehungswelt mein Ohr trifft, erschüttert aufhorche. Die Begeisterung, die es erzeugt, das Gefühl von Herrlichkeit, das uns so oft davor erfaßt und das nur mit Gefühlen zu vergleichen ist, die die größte Natur, Hochgebirgsgipfel im Abendschein, das brandende
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Nietzsche contra Wagner – Thomas Mann contra Hitler
Meer in uns erregt, darf nicht vergessen machen, daß dieses Werk, welches ›gegen die Zivilisation‹, gegen die ganze Kultur und Bildung gerichtet und gedichtet ist, wie sie seit der Renaissance herrschend gewesen war, aus der bürgerlich-humanistischen Epoche auf dieselbe Art und Weise heraustritt, wie der Hitlerismus; daß es mit seinem Wagalaweia und seiner Stabreimerei, seiner Mischung aus Urtümlichkeit und Zukünftigkeit, seinem Appell an eine klassenlose Volklichkeit, seinem mythisch-reaktionären Revolutionarismus die genaue geistige Vorform der ›metapolitischen‹ Bewegung ist, die heute den Schrecken der Welt bildet […] und Hitler, in all seiner Elendigkeit, ist kein Zufall.« 11
Diese Passage ist noch aufschlussreicher als der oft zitierte Satz: »Es ist viel ›Hitler‹ in Wagner.« Dieser Befund steht in einem Brief an Emil Preetorius, in dem sich Thomas Mann kritisch wie lobend zu Wagners Werken äußert, aber die Meistersinger abschätzig kommentiert: »Warum gerade dieses Werk, das es, bei persönlichster Synthese, doch überallher hat, volkschaffend und welterlösend sein soll, das wissen die Götter. Es ist da, in Wagners Bramarbasieren, ewigem Perorieren, Alleinreden-Wollen, über alles Mitreden-Wollen eine namenlose Unbescheidenheit, die Hitler vorbildet, – gewiß, es ist viel ›Hitler‹ in Wagner, und das haben Sie ausgelassen […] wie sollten Sie das Werk, dem Sie dienen, mit Hitler in Verbindung bringen! Es hat lange genug mit ihm in Verbindung gestanden.« 12
Th. Mann, Zu Wagners Verteidigung (1939): Ess V, 81 f. Ursprünglich in Englisch als In Defense of Wagner, A letter on the German culture that produced both Wagner and Hitler, Brief an den Herausgeber des Common Sense (1940), Englisch in: P. Viereck, Metapolitics. From Wagner and the German Romantics to Hitler [1941], Erweiterte Neuausgabe, New Brunswick/London 2007, LI-LX, ebd. LVIIIf. Vgl. entsprechend Schicksal und Aufgabe (1943): Ess V, 224 ff. Die These, dass Hitler kein Zufall sei, findet sich auch bei dem zu seiner Zeit einflussreichen Sir Robert Gilbert Vansittart. Erläuternd und differenzierend: H. R. Vaget, Thomas Mann, der Amerikaner, Frankfurt/M. 2012, 415–442. 12 6. Dez. 1949: Br III, 115. Im Anschluss daran werden Wagners Tristan und Lohengrin gelobt. 11
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Nietzsche-Bilder im Kontext des Faschismus
Die »namenlose Unbescheidenheit« Wagners, die bereits Nietzsche »auf die Nerven ging« 13 , entspricht der hysterischen Selbstverherrlichung, die in Bruder Hitler diagnostiziert wird (vgl. oben). Noch mehr als bei dem Quasi-Künstler Hitler bestehe bei Wagner die Gefahr, dass Kunst sich zur geistig unkontrollierten »schwarzen Magie« steigere. Wenn deren entgrenzende Wirkung sich in eine politische Dimension hineinbewege, werde es fatal. Da diese Tendenz in Wagners Werk angelegt sei, insofern sie mangelnde Selbstdisziplin mit mythischem Revolutionarismus verbinde, repräsentiere sie eine Schöpfung gegen die Zivilisation. Damit nimmt Thomas Mann die Bewertung des Gegensatzes von Zivilisation und Kultur zurück, obwohl sie für ihn in den Betrachtungen gerade unter Verweis auf Wagner leitend war. Denn dort lobt er die Genialität Nietzsches, der den Gegensatz von Musik und Politik, von »Deutschtum und Zivilisation« mit Blick auf Wagner auf die Formel gebracht habe: ›Meistersinger – Gegensatz zur Zivilisation, das Deutsche gegen das Französische‹ (13.1, 35). 14 Jetzt belässt Thomas Mann Musik qua Kunst qua Kultur nicht mehr in einer unpolitischen Sonderstellung, sondern deutet das Verhältnis von Kunst/Kultur und Politik so, dass die westlich-demokratische Grundbindung das Komplement zum künstlerischen Humanum darstellt und die Aufrechterhaltung des zivilisatorischen Rahmens verbürgt. In Thomas Manns Wagner-Kritik steckt daher auch Selbstkritik, denn die »metapolitische Bewegung«, die sich der NS zunutze gemacht habe, verweise auf Ursprünge, die in der antipolitischen deutschen Tradition liegen. Indem man sich von Politik verabschiede, die durch Meinungskampf, parlamentarischdemokratische Institutionen, Interessengruppen, KompromissDie Entstehung des Doktor Faustus: 19.1, 573. Die Bemerkung aus dem Nachlass steht im Kontext von Nietzsches Schrift Richard Wagner in Bayreuth (UZ IV) und ist eher deskriptiv zu lesen, keinesfalls jedoch mit der Emphase, die Thomas Mann ihr beimisst. Vgl. KSA, Bd. 8, 267.
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bildung geprägt sei und stattdessen Visionen von menschlicher Größe, deutscher Tiefe, menschlicher Erfüllung in der Kunst im Namen einer »wahren« Verbindung von Kultur und Politik entwerfe, könnten Entwicklungen eintreten, die totalitäre Gesamtlösungen anstrebten. Diesen deutschen Hang zur »Metapolitik« kritisiert Thomas Mann im Anschluss an Peter Viereck unter Hinweis auf Wagners Musik. Peter Viereck, Historiker und späterer Pulitzerpreisträger, stellt Wagner ebenfalls in den Kontext der Romantik und charakterisiert ihn anhand von dessen Schriften und dessen Glorifizierung durch Hitler und den Bayreuther Kreis als antiwestlichen Metapolitiker. 15 Vierecks Begriffsbildung Metapolitics besagt, dass die pragmatischen Dimensionen der Politik – vom Meinungskampf bis zum Machtkampf – durch Konzeptionen von menschlichen Idealbildern und Erlösungshoffnungen, die sich allzu leicht inhumaner politischer Mittel bedienen, überlagert werden. Die Begriffsbildung Vierecks verweist auf den Philosophen und Bismarck-Gegner Constantin Frantz, der in einem offenen Brief an Wagner den Terminus ›Metapolitik‹ einführt und sich gegen das »preußisch-deutsche Kaisertum« wendet. Auf Wagners Frage »was ist deutsch?« antwortet Frantz, die »wahre deutsche Politik« habe eine besondere Verwandtschaft zur Kunst. Frantz lehnt die deutsche Nationalstaatsbildung von 1870 unter der Führung Preußens ab. Statt der »Borussifizierung« Deutschlands fordert er die Rückkehr zum »heiligen röDas Buch erschien zuerst 1941. Die oben zitierte Stellungnahme Thomas Manns bezieht sich auf Vierecks Aufsatz Hitler and Wagner in der Zeitschrift Common Sense (deutsch in: Musik-Konzepte, H.5, hg. von K. Richter, Richard Wagner/Wie antisemitisch darf ein Künstler sein?, München 1978, 16–27). Dieser Aufsatz nimmt Thesen des Buches vorweg (vgl. Anm. 11). Viereck konzentriert sich in seiner Kritik an Wagner auf dessen Schriften und den Wagnerianismus des Bayreuther Kreises, in dem Houston Stewart Chamberlain und Winifred Wagner eine wichtige Rolle spielen. Als kritischer Widerpart zu Wagner fungiert auch bei Viereck – Nietzsche.
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mischen Reich« und propagiert Deutschland als »überstaatliches und übernationales Wesen«. Sein Credo lautet: »um wirklich deutsch zu sein muss daher die Politik über sich selbst hinaus gehen. Sie muss sich zur Metapolitik erheben, als welche sich zur gemeinen Schulpolitik ähnlich verhält, wie zur Physik die Metaphysik. Unser Deutschtum geht uns dabei nicht verloren. Im Gegenteil, je mehr wir uns den allgemeinen Aufgaben, menschheitlicher Entwicklung zuwenden, um so freier kann es sich entfalten, und um so edler wird es sich gestalten, sich emporringend zu den höchsten Ideen des menschlichen Geistes. Das nenne ich deutsche Politik […] so wird die wahre deutsche Politik der deutschen Kunst auch erst die rechte Stätte bereiten, wie andererseits die Kunst die Politik beflügeln wird zu immer höherem Aufschwung.« 16
Für Frantz ist Wagner das Beispiel eines überragenden Künstlers, der dem Deutschtum Flügel verleihe und einer noch nicht absehbaren, aber wünschbaren Einheit von Kunst und Politik den Weg bereite. Der Terminus ›Metapolitik‹ steht für das Überschreiten pragmatischer Politikverständnisse. Der »universale Charakters wahrer deutscher Politik« wäre demnach – realpolitisch zu Ende gedacht – dazu prädestiniert, ein »Reich« unter deutscher Dominanz zu konstituieren, das die »höchsten Ideen des menschlichen Geistes« zur Geltung bringt. Die Konzeption von Frantz klingt wie die Vorwegnahme der Deutschtumsmetaphysik, deren universalistische Ambitionen zur Zeit des Ersten Weltkriegs nationalistische Züge annehmen, die sich anti-westlich positionieren. 17 Sofern die Kunst Teil dieser Deutschtumsmetaphysik ist, verstärkt sie die anti-zivilisatorischen politischen Bewegungen. Thomas Mann ist sich aufgrund der eigenen Selbstprüfung in den Betrachtungen dieser Gefahr bewusst und weist mit seiner Kritik an Wagners Musik auf eine solche Gefahr hin, die nicht zuletzt in der Unterstützung des NS durch den Bayreuther Kreis sichtbar wird. Das ProC. Frantz, Offener Brief an Richard Wagner, in: Bayreuther Blätter, Juni 1878, Heft 6, 149–170, ebd., 169. Zum Folgenden vgl. 150. 17 Vgl. dazu R. Zimmermann, Nietzsche 1914, a. a. O., 605 ff. 16
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blem der Synthese von Kunst/Kultur und Politik spiegelt sich in der Schlussansprache von Hans Sachs in den Meistersingern (Uraufführung 1868) wider: »Zerging in Dunst / das heil’ge röm’sche Reich, / uns bliebe gleich / die heil’ge deutsche Kunst!« Schon nach 1870 hält Wagner den deutschen Geist für berufen, die Völker zu »beglücken«. Der hohe Ton der Kunst suggeriert den Schritt von der »Weltbeglückung« zur »Welteroberung«. 18 Dieses ambivalente Verhältnis von Kultur und Politik in der deutschen Tradition wird für Thomas Mann zum ständigen Thema. Es bleibt die Frage, in welchem Sinn die These, dass Wagner der »geistige Vorläufer« des Nationalsozialismus und Hitler »kein Zufall« sei, belegt werden kann. Sie steht für den Versuch, die Krise der Zeit aus vorgängigen Entwicklungen der deutschen Geistesgeschichte zu reflektieren. Auf diesen Versuch, der sein Pendant in marxistischen »Erklärungen« des NS aus sozio-ökonomischen Bedingungen hat, komme ich zurück (Kap. 5.2). Es muss zwischen Wagners Werk und den nach seinen Lebzeiten eingetretenen geistigen und gesellschaftlich-politischen Entwicklungen unterschieden werden. Wieweit die Musikdramen Wagners zum Selbstbild Hitlers beitragen (z. B. Rienzi, Lohengrin), ist besonderer Untersuchung wert. 19 Thomas Mann deutet in seinem Brief an Preetorius an, dass Wagners Musik auch in den politischen Rahmen westlicher Demokratien integrierbar Ein Vorläufer dieser Gedankenfigur findet sich bei Friedrich Schiller, dessen Gedichtfragment »Deutsche Größe« gleichfalls die geistig-kulturelle Größe der Deutschen vom Bereich der Politik unterscheidet, um eine deutsche politische Utopie der Zukunft folgen zu lassen, die das Komplement der Kultur abgeben soll: D. Borchmeyer, Weimarer Klassik. Porträt einer Epoche, Weinheim 1998, 57 ff. Borchmeyer verweist darauf, dass Thomas Mann diese Parallele entgangen zu sein scheint. 19 Dazu und zur »metapolitischen Verknüpfung« von Wagner, Bayreuth und Hitler durch den Antisemitismus Houston Stewart Chamberlains: H. R. Vaget, Wagnerian Self-Fashioning: The Case of Adolf Hitler, in: New German Critique, 101/2007, 95–114. Vaget nimmt Thomas Manns Bruder Hitler zum Ausgangspunkt. 18
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sei. Wagners antisemitische Texte geben allen Anlass zur Kritik. Antisemitische Akzente in Wagners Musikdramen stellen ebenso ein Problem dar wie die triste Bilanz des Antisemitismus im Wagnerianismus. 20 Gleichwohl lautet die differenzierende Frage: Wie ist die Beziehung eines Philosophen oder Künstlers – wie Nietzsche und Wagner – zu geschichtlich-politischen Verhältnissen innerhalb seiner Zeit und zu Zeitperioden danach zu bestimmen? 21 Thomas Manns These zu Wagners Musik mag retrospektiv als Diagnose einer wirkungsmächtigen »Mentalitätsform« gelesen werden, 22 doch verlangen die kontingenten geschichtlichen Umstände, die letztlich zur Machtergreifung Hitlers führen, eine weitergehende Deutung. Unabhängig von diesem Deutungsproblem verweist die »Art von dialektischem Umschlag«, durch den der kulturelle »Universalismus und Kosmopolitismus […] sich ins Böse verkehrte« (Ess V, 274), auf Thomas Manns auch für die Nietzsche-Deutung relevante Interpretation: die Verkehrung der Hochkultur ins Verhängnis. Dem Wagner-Hitler-Vergleich ist der Satz Nietzsches hinzuzufügen: »Es ist viel Wagner in Baudelaire.« Mit dieser Feststellung setzt Nietzsche den Schlusspunkt zu einer längeren Reflexion über die französische Kultur, der geistigsten und raffiniertesten in Europa. Sie endet mit einer Charakterisierung Baudelaires in Parallele zu Wagner: Vgl. dazu: A. Hein, »Es ist viel ›Hitler‹ in Wagner«. Rassismus und antisemitische Deutschtumsideologie in den ›Bayreuther Blättern‹ (1878– 1938). Mit einem Verfasser- und Schlagwortregister, Tübingen 1996. Der Satz von Thomas Mann dient lediglich als Titel und wird als solcher nicht weiter diskutiert. 21 Die Komplexität des Wagner-Themas kann hier nicht weiter verfolgt werden. Als Hinweise mögen genügen: D. D. Scholz, Wagners Antisemitismus, Darmstadt 2013, S. Friedländer/J. Rüsen (Hg.), Richard Wagner im Dritten Reich, München 2000. 22 So H. R. Vaget, Seelenzauber. Thomas Mann und die Musik, Frankfurt/ M. 2006, 163 f. Der folgende Wagner – Baudelaire Vergleich bei Nietzsche ebd., 165. 20
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Nietzsche contra Wagner – Thomas Mann contra Hitler
»Was den pessimistischen Baudelaire betrifft, so gehört er zu jenen kaum glaublichen Amphibien, welche ebensosehr deutsch als pariserisch sind; seine Dichtung hat etwas von dem, was man in Deutschland Gemüth oder ›unendliche Melodie‹ und mitunter auch ›Katzenjammer‹ nennt. Im Übrigen war Baudelaire der Mensch eines vielleicht verdorbenen, aber sehr bestimmten und scharfen, seiner selbst gewissen Geschmacks: damit tyrannisiert er die Ungewissen von Heute […] vielleicht, daß er heute der erste ›Wagnerianer‹ von Paris sein würde. Es ist viel Wagner in Baudelaire.« (KSA, Bd. 11, 601)
Diese Parallele variiert nicht nur Nietzsches kritische Sicht auf Wagner, sondern bringt zugleich den von Nietzsche mit Wagner – aber gegen die Wagnerianer – aufrechterhaltenen »Cosmopolitismus« ins Spiel. Da Nietzsche die moderne Kunst »als eine Kunst zu t y r a n n i s i r e n « (KSA, Bd. 12, 473) problematisiert, in der Wagner eine besondere Rolle spiele, sind ihm die deutschen Vereinnahmungen Wagners zuwider. In Thomas Manns Auseinandersetzung mit Wagner überschneiden sich zwei Argumentationslinien. Die eine ist der kulturelle Nietzsche-Kosmopolitismus, der jedoch nicht ausschließt, die Wagner-Kritik unter dem Vorzeichen einer verfehlten Metapolitik zu formulieren. Die andere ist die Ablehnung des Wagner-Bayreuth-Kults, dessen deutschnationale oder nazistische Züge die »Verhunzung« Wagners wie die fatalen Auswüchse metapolitischer Utopien zeigen. Je nachdem, welche Linie Thomas Mann betont, gerät Wagner in entferntere oder engere Verwandtschaft zum Nationalsozialismus. Zugleich gilt, dass die »Wagner’sche Kunstrevolution […] auf unvergleichlich höherer Ebene, ein der national-sozialistischen Revolution verwandtes Phänomen« darstellt (Ess V, 224). Nietzsche ist für Thomas Mann auch wegweisend für die Einbeziehung der Psychoanalyse Sigmund Freuds in seine zeitkritischen Diagnosen. Denn »unsere geistespolitischen Kontroversen« seien nichts anderes »als die sozusagen journalistische Ausmünzung seines epochalen, durch und durch symbolisch-repräsentativen Kampfes gegen Wagner, der Selbstüberwindung 139 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
Nietzsche-Bilder im Kontext des Faschismus
der Romantik […].« 23 Diesen Kampf Nietzsches und dessen Anknüpfung an die Aufklärung nimmt Thomas Mann zum Maßstab, um Freuds Werk zu würdigen. Dessen Theorie des Unbewussten, des menschlichen Trieblebens und des Mythischen führt für Thomas Mann eben »nicht in die Verherrlichung seines Gegenstandes auf Kosten der intellektuellen Sphäre«. Denn Freuds »Antirationalismus«, der sich mit der Überlegenheit des Triebes über den Geist analytisch befasse, bedeute keine »Verhöhnung des Geistes«. Aber weder Nietzsche noch Freud lassen sich den Vertretern der zeitbedingten irrationalistischen Strömungen zuordnen. Denn Freud sei als Bundesgenosse zu sehen, der in rational aufklärerischer Absicht Einsichten in das Gefühlsleben vermittle. Die Jugend könne von ihm lernen und bräuchte nicht auf die irrationalen Bewegungen der Zeit zu hören. Denn diese propagierten das »roh Geistfeindliche« und stimulierten dazu, den »Arm zum römischen Gruß« der Faschisten zu heben. Das sei »greisenhaft reaktionär« und müsse mit Freud zurückgewiesen werden. So würdigt Thomas Mann Freuds Abhandlung Totem und Tabu als »Weltliteratur« und hält dessen gesamtes Werk im Kontext der Kritik am italienischen Faschismus und Nationalsozialismus für besonders relevant. Die Blut-und-Boden-Mythologie des NS und sein rassistischer Vitalismus müssten durch eine dem Geist der Humanität verpflichtete Forschung konterkariert werden. 24 Doch je mehr Nietzsche im Zuge der politischen Entwicklung in die Nähe zum Nationalsozialismus gerückt wird, umso weniger erwähnt Thomas Mann das aufklärerische Potenzial von Nietzsches Wagner-Kritik. Daraus resultiert ein von ihm literarisch und essayistisch umgestaltetes Nietzsche-Bild. Die Stellung Freuds in der modernen Geistesgeschichte (1929): Ess III, 122–154, ebd., 126. Die folgenden Zitate ebd., 147, 143, 123, 144 f. 24 Vgl. ergänzend den Briefwechsel mit Freud in: H. Wysling (Hg.), Thomas Mann. Briefwechsel mit Autoren, Frankfurt/M. 1988, 183–192. 23
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Nietzsche und Doktor Faustus
4.3 Nietzsche und Doktor Faustus Im Jahr 1934 bezeichnet Thomas Mann Nietzsches Wagner-Kritik als »das geistesgeschichtlich Wichtigste und Repräsentativste in seinem Werk« und noch 1936/37 ist für ihn Nietzsche der Gewährsmann für einen menschlichen Sozialismus. 25 Dagegen beklagt er 1941 die mangelnde Verantwortlichkeit von Nietzsches Denken: »denn wo würde das Verhängnis, das über den Wegen des deutschen Geistes waltet, die Tendenz zum intellektuellen Abgrund, an dessen Rande alles Verantwortungsgefühl des Gedankens für seine Folgen im Menschlich-Wirklichen erlischt, deutlicher als bei ihm?« 26
Nietzsches Lehre wird für Thomas Mann – in Abhebung von seiner »zarten Künstlernatur« – zu einem »trunken-romantischen Poem«, das die Antwort schuldig bleibt, »wie seine Gedanken sich in politischer Verwirklichung ausnehmen würden«. Damit thematisiert Thomas Mann zutreffend die politische Ambivalenz von Nietzsches Philosophie (vgl. Kap. 3), doch zeigt sich in seiner Äußerung zugleich der Einfluss des ideologischen Streits der Nietzsche-Interpretation. So verkörpere Nietzsche »eine rauschvoll anti-humane Lehre«, die in den Begriffen »Macht, Instinkt, Dynamismus, Übermenschentum, naive Grausamkeit« zum Ausdruck komme. Dagegen spreche jedoch Nietzsches Menschlichkeit, die sich z. B. in seinem Lob für die Liberalität Friedrich III. widerspiegele.
Tb, 1935/36, 326; Brief an Herman Wolf, vgl. Kap. 5.1. Noch 1937 wiederholt sich die Einbindung von Nietzsche in den Sozialismus: Maß und Wert, Ess IV, 210. 26 Denken und Leben, X, 364; die folgenden Zitate ebd., 365 f. Vgl. Ansprache zum 70. Geburtstag von Heinrich Mann (1941), wo es zu Nietzsche heißt: »Seit seine Kritik der Moral uns kritisch erregte, hat die Zeit uns das Gewissen geschärft für die Verpflichtung des Gedankens auf Leben und Wirklichkeit, eine Verpflichtung, die durch das Harakiri des Geistes zu Ehren des Lebens sehr schlecht erfüllt wird.« (XIII, 855) 25
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Nietzsche-Bilder im Kontext des Faschismus
Thomas Manns klischeehafte Wiedergabe von Nietzsches Lehre verrät eine starke Verunsicherung, die auf zeitgenössische Nietzsche-Deutungen zurückgeht. Sie veranlasst ihn sogar, seine Euphorie, mit der er früher das Reich des Übermenschen als Reich der Humanität bezeichnet hatte, aufzugeben. Er unterstreicht damit seine selektive Nietzsche-Interpretation, in der es ihm nie um »Machtphilosophie« oder die »blonde Bestie« gegangen sei (vgl. Kap. 2.3). Doch auch wenn seine Kritik an Nietzsche den »Hochmut des Geistes gegen die Realität« verurteilt, so geht sie keineswegs so weit, Nietzsche mit dem Nationalsozialismus zusammenzubringen, denn »Nietzsche (würde) sich im Grabe umdrehen, wenn er dort unten erführe, was man aus seinem Macht-Philosophem gemacht hat«. Er wäre heute, so Thomas Mann, »einer von uns. Er wäre in Amerika.« Thomas Mann versucht zwar, Nietzsche in Distanz zum NS zu halten, doch er bezieht ihn mit ein, wenn es um den verhängnisvollen Weg des deutschen Geistes und die metapolitische Übersteigerung der deutschen Kultur als Erklärung für fatale politische Entwicklungen geht. So erfährt die Philosophie Nietzsches ein ähnliches Schicksal wie die Musik Richard Wagners und es ist bezeichnend, dass Thomas Mann für den »Roman meiner Epoche« (19.1, 435), Doktor Faustus, einen genialen Musiker als Hauptfigur wählt, der die Züge Nietzsches trägt: Adrian Leverkühn. Thomas Manns Doktor Faustus kann hier nicht in seiner ganzen Vielschichtigkeit gewürdigt werden. 27 Mir kommt es darin nur auf das Nietzsche-Bild und dessen eigenwillige Verarbeitung der Geist-in-der-Zeit-Problematik an. Denn der Roman eignet sich als Einstieg in die systematische Analyse von Thomas Manns großem Nietzsche-Essay, und über ihn hinaus. Dass der Essay ursprünglich den Titel Nietzsche und das deutsche
Vgl. zu Entstehungsgeschichte, Quellenlage, Rezeptionsgeschichte und Sekundärliteratur insgesamt: Kommentar 10.2.
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Schicksal führen sollte, unterstreicht den Zusammenhang von Roman und Essay (vgl. Kap. 5, 6). 28 In der Entstehung des Doktor Faustus verweist Thomas Mann auf die Verschränkung seines »Musik-Romans« mit Problemen der Zeit. Im Roman dient die Musik als »Paradigma für Allgemeineres«, so dass »die Situation der Kunst überhaupt, der Kultur, ja des Menschen, des Geistes selbst in unserer durch und durch kritischen Epoche« zur Sprache kommt (19.1, 438). Wenn man bedenkt, dass die Entstehungszeit des Romans in die Jahre 1943 bis 1947 fällt, so ist klar, dass er sich auch auf den Zweiten Weltkrieg, den Untergang des Nationalsozialismus und die Nachkriegszeit Deutschlands bezieht. Thomas Manns ambitioniertes Projekt lese ich daher unter der Fragestellung: Wie kann ein herausragender Intellektueller und Gegner des Faschismus seine literarischen Möglichkeiten bei der Auseinandersetzung mit einer durch den Nationalsozialismus geprägten Zeit einbringen? Dabei wird auch Nietzsche in diesem Kontext behandelt. Thomas Mann verweist darauf, dass »so viel ›Nietzsche‹ in dem Roman ist, so viel, daß man ihn geradezu einen Nietzsche-Roman genannt hat […]« (19.1, 432). Die Einarbeitung von Nietzsches Briefen und Schriften in den Roman bestätigen diese Einschätzung. Aber in welchem Sinn handelt es sich um einen NietzscheRoman? Eine erste Antwort liefert die Krankheitsgeschichte Nietzsches, die Thomas Mann auf die Biographie des »deutschen Tonsetzers« Adrian Leverkühn überträgt. Dabei benutzt er Quellen, die Nietzsches geistigen Zusammenbruch zur Jahreswende 1888/89 als Folge einer syphilitischen Erkrankung diagnostizieren. Ein ähnliches Schicksal erfährt auch Adrian Leverkühn, dessen schöpferische Genialität aufgrund eines Pakts mit Zur Titelgebung des Essays: H. R. Vaget, ›Schicksalsgeist‹. Zu Thomas Manns Nietzsche-Rezeption in der Weimarer Republik, in: Th. Valk (Hg.), Friedrich Nietzsche und die Literatur der klassischen Moderne, Berlin/New York 2009, 147–162. Vaget verweist auf einen Brief an Agnes E. Meyer von Ende 1945, ebd., 161.
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dem Teufel extreme Ausmaße annimmt. Der Teufel motiviert Adrian zum Verkehr mit einer Prostituierten und preist die anschließende syphilitische Erkrankung als Auslöser höchster musikalische Leistungen und geistiger Ekstase. Ob die Figur des Teufels auf die Tradition der alten Faustlegende oder Goethes Faust anspielt oder ob sie die Projektion eines Selbstgesprächs, eine Autosuggestion von Adrian Leverkühn darstellt, mag offen bleiben. Der Teufel aus Thomas Manns Roman betätigt sich als verführerischer Stimulator. So erklärt er Adrian Leverkühn, wie eine bestimmte Art von Bakterien, die »bleiche Venus, die spirochaeta pallida« eine große »Vorliebe für die Kopfregion« entfalte und die Chance »zur Metastasierung ins Metaphysische«, zu geistiger Ekstase, biete (10.1, 338, 340). Thomas Mann baut zwischen medizinischem Vokabular und der Verheißung genialer Inspiration eine spekulative Brücke hin zu Nietzsche. 29 Wenn der Teufel den Künstler als »Bruder des Verbrechers und des Verrückten« bezeichnet, so schwingt neben Anklängen an Bruder Hitler insbesondere Nietzsches Bemerkung zur Götzen-Dämmerung – seine Philosophie sei radikal bis zum Verbrechen – mit (vgl. Kap. 3.3). 30 Hinzu kommt das Versprechen des Teufels, die Syphilis löse »echte, alte urtümliche Begeisterung« und »heilige VerZur medizinhistorischen Analyse der Krankheit Nietzsches und ihrer immer noch offenen Fragen vgl. P. D. Volz, Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit, Würzburg 1990. Dort auch ein medizinischer Kommentar zur dichterischen Freiheit, die Thomas Mann im Doktor Faustus walten lässt: 191–197. Dazu neuerdings H. Koopmann, Syphilis. Wie ein Wort Nietzsche zu einer Krankheit verhalf, an der er nicht litt – und Thomas Mann zu einem Romanstoff, den es sonst kaum gegeben hätte, in: ders., Thomas Mann. Studien statt einer Biographie, Würzburg 2016, 484–510. Koopmann greift auf neuere medizinische Erkenntnisse zurück und unterstreicht die Wahrscheinlichkeit, dass Nietzsche nicht an Syphilis, sondern an einer Erbkrankheit mütterlicherseits litt (494 ff.). 30 Vgl. zur Beziehung Künstler-Verbrecher: Dostojewski – mit Maßen (1945), 19.1, 44 ff., mit Bezug auf Nietzsche: 50. Zu weiteren Quellen: H. Wysling, Narzißmus und illusionäre Existenz, TMS, Bd. 5, 1982, 25–29. 29
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zückung« aus. Diese Verzückung sei nur mit dem Teufel, »dem wahren Herrn des Enthusiasmus möglich«. In Anlehnung an Nietzsches Worte findet sich eine Beschreibung der Inspiration, »bei der alles als seliges Diktat empfangen wird, der Schritt stockt und stürzt, sublime Schauer den Heimgesuchten vom Scheitel zu den Fußspitzen überrieseln, ein Tränenstrom des Glücks ihm aus den Augen bricht […]« (10.1, 347, zuvor 345 f.)
Es ist offensichtlich, dass Thomas Mann hier eine Passage aus Nietzsches Ecce homo übernimmt, die er auch in seinem Nietzsche-Essay zitiert. Er deutet sie als Symptom eines bevorstehenden »paralytischen Kollaps« (19.1, 192 f.). Die Passage, aus der ich die Parallelstellen kursiv hervorhebe, lautet bei Nietzsche: »Man hört, man sucht nicht; man nimmt, man fragt nicht, wer da giebt; wie ein Blitz leuchtet ein Gedanke auf, mit Nothwendigkeit, in der Form ohne Zögern, – ich habe nie eine Wahl gehabt. Eine Entzückung, deren ungeheure Spannung sich mitunter in einen Thränenstrom auslöst, bei der der Schritt unwillkürlich bald stürmt, bald langsam wird; ein vollkommnes Ausser-sich-sein mit dem distinktesten Bewusstsein einer Unzahl feiner Schauder und Überrieselungen bis in die Fusszehen; eine Glückstiefe, in der das Schmerzlichste und Düsterste nicht als Gegensatz wirkt, sondern als bedingt, als herausgefordert, sondern als eine nothwendige Farbe innerhalb eines solchen Lichtüberflusses […] Alles geschieht im höchsten Grade unfreiwillig, aber wie in einem Sturme von Freiheits-Gefühl, von Unbedingtsein, von Macht, von Göttlichkeit … Die Unfreiwilligkeit des Bildes, des Gleichnisses ist das Merkwürdigste; man hat keinen Begriff mehr, was Bild, was Gleichniss ist, Alles bietet sich als der nächste, der richtigste, der einfachste Ausdruck. Es scheint wirklich, um an ein Wort Zarathustra’s zu erinnern, als ob die Dinge selber herankämen und sich zum Gleichnisse anböten […] Dies ist m e i n e Erfahrung von Inspiration […] (EH, 339 f.)
Diese Passage steht im Kontext von Nietzsches Schilderung zur Entstehung seines Zarathustra, die er auf eine Inspiration während eines Spaziergangs in der Bucht von Rapallo zurückführt. Dort »fiel mir der ganze erste Zarathustra ein, vor Allem Zarathustra selber, als Typus, richtiger, er ü b e r f i e l m i c h …« 145 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
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(EH, 337) Vor dem Hintergrund der ligurischen Küste gewinnt Nietzsches Beschreibung eine wirklichkeitsnahe Plastizität. Auch die Landschafts- und Stadtszenarien, auf die Nietzsche für weitere Inspirationen verweist, sind eher erdnah. Das schließt ihre euphorische »Glückstiefe« nicht aus, verbindet sie jedoch mit körperlichen Erfahrungen, die Nietzsche im Kontext des Zarathustra-Kapitels des Ecce homo besonders hervorhebt. So entstehen der Gedanke der ewigen Wiederkunft beim Anblick eines Felsblocks am See von Silvaplana, der dritte Teil des Zarathustra unter dem »halkyonischen Himmel Nizza’s« und die Passage »von alten und neuen Tafeln« beim beschwerlichen Aufstieg »zu dem wunderbaren maurischen Felsenneste Eza«. In Rom vermisst Nietzsche eine »a n t i c h r i s t l i c h e Gegend«, die er ersatzweise in einer über der Piazza Barberini gelegenen Loggia findet. Beim Rauschen der Fontana del Tritone dichtet er das Nachtlied des Zarathustra, das er im Ecce homo nochmals zitiert: »Nacht ist es: nun reden lauter alle springenden Brunnen. Und auch meine Seele ist ein springender Brunnen […]« (vgl. EH, 335, 340 f., 345 ff.; Z II, 136–138). Nietzsches Inspirationsberichte in Kombination mit seiner überzogenen Selbstdarstellung im Ecce homo können dazu verleiten, insbesondere seine Spätphilosophie als Vorzeichen einer von progressiver Paralyse gezeichneten Künstlerexistenz zu interpretieren. Es ist jedoch genauso möglich, sie mit seiner »Psychologie des Künstlers« zu deuten, in der er den »Rausch« zur Bedingung der Kunst erklärt. Als Beispiele nennt er den »Rausch der Geschlechtserregung« als »älteste und ursprünglichste Form«, dazu den »Rausch des Festes, des Wettkampfs, des Bravourstücks, des Siegs, der extremen Bewegung« und endlich den »Rausch des Willens. – Das Wesentliche am Rausch ist das Gefühl der Kraftsteigerung und Fülle.« (GD, 116) Daraus ergeben sich Kernsätze seiner Ästhetik: »Der Mensch dieses Zustandes verwandelt die Dinge, bis sie seine Macht widerspiegeln,– bis sie Reflexe seiner Vollkommenheit sind.
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Dies Verwandeln m ü s s e n ins Vollkommene ist – Kunst. Alles selbst, was er nicht ist, wird trotzdem ihm zur Lust an sich; in der Kunst genießt sich der Mensch als Vollkommenheit.« (GD, 117)
Nietzsches rauschhafte Inspirationserlebnisse können als Zeichen einer außergewöhnlichen Kreativität verstanden werden, ohne dass das dabei zutage tretende »jasagende Pathos«, das Nietzsche auch das tragische nennt, Krankheitssymptome zeigen muss (vgl. EH, 336). Im Gegensatz dazu ist das NietzscheBild, das Thomas Manns Held Adrian Leverkühn verkörpert, ein durch Krankheit gebrochenes. Nietzsches dionysischer Radikalismus, die positiv besetzte Machtentfaltung des Menschen in der Kunst und in anderen Bereichen des Lebens, kann insofern nicht mehr affirmativ besetzt werden (vgl. Kap. 3.1). So stilisiert Thomas Mann den Lebensweg Leverkühns als den eines luziferisch Gezeichneten, der seine Produktivität nur um den Preis des syphilitischen Rauschs zu steigern weiß. 31 Das Gespräch von Adrian Leverkühn mit dem Teufel enthält nicht nur Anspielungen auf Nietzsche, sondern Thomas Mann greift für das zentrale Thema der Inspiration auch auf die Theorie des Komponisten Hans Pfitzner zurück. So zeigt Hans Rudolf Vaget, dass die Worte »Einfall« und »seliges Diktat« auf Pfitzner und seine Oper Palestrina verweisen. 32 Im ersten Akt dieser Oper tritt ein Engel in Erscheinung, der dem Komponis-
Im Übrigen gibt die Konstruktion des Lebenswegs von Adrian Leverkühn auch die Orientierung für weitere Bezüge zu Nietzsches Leben im Roman vor: Der Freundeskreis Nietzsches sowie die ihm nahestehenden Frauen (z. B. Lou v. Salomé) werden in mehr oder weniger verschlüsselter Form ebenso eingeblendet wie Nietzsches Gewohnheiten der Ernährung, die zu Diätplänen Leverkühns mutieren. Solche Bezüge sind hier nicht von Interesse. Vgl. jedoch E. Joseph, Nietzsche im DOKTOR FAUSTUS, in: H. Wißkirchen/Th. Sprecher (Hg.), »und was werden die Deutschen sagen??« Thomas Manns Roman DOKTOR FAUSTUS, Lübeck 1997, 61–108, mit Bildmaterial. 32 H. R. Vaget, Salome und Palestrina als historische Chiffren: Zur musikgeschichtlichen Codierung des Doktor Faustus, in: ders. Seelenzauber, 31
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ten Palestrina die Feder führt, eine quasi außerirdische Inspiration, die Pfitzners Lehre vom Einfall und »autonomen Schaffensprozeß« illustriert. Dieser romantisch-reaktionäre Kunstbegriff ist allerdings schon zu Pfitzners Zeit umstritten. In Thomas Manns Roman trifft der Teufel Adrian Leverkühn in dem nahe Rom gelegenen Ort Palestrina und propagiert Pfitzners Lehre. 33 Auch die Gegenposition kommt zur Sprache, wie die Anknüpfung an eine Formulierung von Richard Strauss zeigt, der die Inspiration eher unromantisch sieht. Strauss billige einer musikalischen Inspiration allenfalls »drei, vier Takte« zu. Der wesentliche Teil der Komposition sei mühevolle Ausarbeitung, »Sitzfleisch«. Das bestätigten auch die Notizhefte Beethovens, in denen der Prozess ständiger Korrekturen und Überarbeitungen gegen die romantische Überhöhung gottgleicher Eingebungen spreche (10.1, 346 f.). Der Teufel im Roman jedoch verheißt wahrhafte Verzückung. Pfitzner und Strauss gehören wie Thomas Mann zu den Nachfahren Richard Wagners. Insofern liefert der Rückgriff auf Pfitzner das »Paradigma einer epochenspezifischen, künstlerpsychologischen Befindlichkeit«, die sich in der Figur Adrian Leverkühn ins Extrem steigert: einerseits der avantgardistische Aufbruch Leverkühns in die 12-Ton-Musik und andererseits seine Verhaftetheit in der reaktionären Künstlerideologie (Pfitzner). So ergibt sich eine »Verquickung von Romantik und Moderne im Geistig-Seelischen«, die politische Tendenzen ins Barbarische freisetzt, Tendenzen, die sich im Nationalsozialismus verstärkt wiederfinden. 34 Der Teufel präludiert dies, indem er Leverkühn verspricht: »[…] die Zeit selber, die Kulturepoche, will sagen, die Epoche der Kultur und des Kultus wirst du durchbrechen und dich der Barbarei era. a. O., 222–237. Das Folgende zu Pfitzner und Richard Strauss ebd. Vgl. Kommentar 10.2, 560 f. 33 Vgl. Kommentar 10.2, 531 f. 34 H. R. Vaget, Seelenzauber, a. a. O., 236.
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dreisten, […] weil sie nach der Humanität, […] und bürgerlichen Verfeinerung kommt.« (10.1, 355)
Die Aufnahme von Pfitzners Schöpfertheorie beeinflusst das von Thomas Mann in der Figur Leverkühn gezeichnete Nietzsche-Bild. So wird Nietzsche durch Pfitzners reaktionären Kunstbegriff Teil der kulturellen Gemengelage im Vorfeld des Nationalsozialismus. In dem veränderten Nietzsche-Bild wirkt sich der von Thomas Mann erhobene Vorwurf der »intellektuellen Verantwortungslosigkeit« Nietzsches aus. Er ist auch für den Roman prägend. So spiegelt sich im Nietzsche-Bild der Zwiespalt der Zeitumstände in Kultur und Politik. Leitbild ist die Musik, »die deutscheste der Künste« (19.1, 499), der Adrian Leverkühn zu einem neuen Durchbruch verhelfen will. Dabei stützt sich Thomas Mann auf die Musikkompetenz Theodor W. Adornos und dessen Erläuterungen der 12-Ton-Musik von Arnold Schönberg. Adrian Leverkühn wird zum fiktiven Schöpfer dieser Musik und Adorno der »Ghostwriter« der musiktheoretischen Passagen des Romans, die auch Interpretationen zu Beethoven beinhalten (exemplarisch 10.1: Kap. 22, 25, 34, 8). 35 Mit Richard Strauss und Hans Pfitzner konkurriert Arnold Schönberg um das Erbe Wagners. Die Aufnahme der Modernität der seriellen Musik in den Roman ist insofern konsequent. 36 Der Bezug auf Adorno zeigt sich auch im Gespräch Leverkühns mit dem Teufel. So kritisiert der Teufel den »Scheincharakter des bürgerlichen Kunstwerks« und vertritt Thesen aus Adornos Philosophie der neuen Musik: »Der Anspruch, das Allgemeine im Besonderen harmonisch enthalten zu denken, dementiert sich selbst.« (10.1, 352) Nach Adorno steht die Musik Schönbergs für dieses Dementi, was zur Folge hat, dass Adrian
Vgl. dazu insgesamt: Theodor W. Adorno/Thomas Mann, Briefwechsel 1943–1955, hg. von Ch. Gödde und Th. Sprecher, Frankfurt/M. 2002. Musikalische Aufzeichnungen Adornos zum Doktor Faustus ebd., 155–161. 36 H. R. Vaget, Seelenzauber, a. a. O., 237. 35
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Leverkühn, indem er sich auf den luziferischen Pakt einlässt, mit der 12-Ton-Musik neue Wege beschreiten kann (vgl. 10.2, 570). Im Roman beschreibt nun Leverkühns Biograph Serenus Zeitblom die musikalische Entwicklung seines Freundes. Dabei setzt er immer wieder die Werke Leverkühns in ein Verhältnis zu den politischen Zeitumständen in den Jahren von 1885 bis 1945, also bis zum Zusammenbruch Deutschlands. Diese Zeit spiegelt sich in den Lebensläufen zweier Personen. Einerseits in der Lebenszeit Adrian Leverkühns (1885–1940), der jedoch 1930 in die geistige Umnachtung versinkt, andererseits in der des Erzählers Serenus Zeitblom, der wenige Jahre nach Leverkühns Tod über dessen Leben berichtet. Dabei integriert der Erzähler immer wieder Ereignisse von der Jahrhundertwende bis zum Jahr 1945. Die geistig intakte Lebenszeit Leverkühns wie die Zeit von dessen geistigem Siechtum orientiert Thomas Mann offensichtlich an der Lebenszeit Nietzsches. Weniger offensichtlich ist die Bedeutung von Zeitblom als alter ego von Leverkühn. Denn Zeitblom präsentiert sich als überzeugter Vertreter bürgerlicher Normalität, dem das Dämonische »wesensfremd« ist (10.1, 12). Thomas Mann weist später auf die »geheime Identität« seines Erzählers mit Leverkühn hin, die der Maskierung seiner eigenen Künstlerbiographie entspricht (19.1, 474). So beschreibt er, wie die Erregung des Erzählers über das Lebensdrama des Adrian Leverkühn seine eigene ist (19.1, 434). Er habe in der Figur des Adrian Leverkühn nicht nur ein Symbol für das deutsche Verderben, sondern zugleich etwas »Unheimlich-Autobiographisches« gestaltet, quasi »eine versetzte, verschobene, verzerrte, dämonische Wiedergabe und Bloßstellung meines eigenen Lebens«. 37 Gemeint ist die Künstlerexistenz Thomas Manns, die sich in der Bürgerlichkeit Zeitbloms und der künstlerischen Radikalität Leverkühns wechselseitig spiegelt. DüD III, 98 f. Dem entspricht die Kennzeichnung, der Roman sei das »persönlichste und leidenschaftlichste meiner Bücher«. Ebd., 113.
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Der radikale Künstler steht so vor der Herausforderung, in einer krisenhaften Zeit Ausdrucksformen zu finden, die einerseits die ästhetische Autonomie und die Distanz zur Zeit wahren und andererseits so etwas wie die komprimierte Signatur der Zeit auf höchstem Niveau verkörpern. Wenn Nietzsche über Wagners Musik sagt, in ihr artikuliere »die Modernität ihre i n t i m s t e Sprache«, ihr Gutes wie Böses (WA, 12), so artikuliert sich für Thomas Mann in der künstlerischen Genialität Leverkühns das 20. Jahrhundert. Das bedeutet, dass auch Thomas Mann seinen eigenen künstlerischen Anspruch daran zu messen hat, ob sich seine Literatur auf der Höhe der Zeit befindet und einer krisenhaften Ambivalenz gewachsen ist. 38 Der Wechselbezug des Autobiographischen mit der Künstlerszene der Epoche zeigt sich in der Situation der Musik, die Thomas Mann im Spannungsfeld von Richard Strauss, Hans Pfitzner und Arnold Schönberg verarbeitet. Das bestätigt auch die Jahreszahl 1919, die Zeitblom als Entstehungszeit des großen Werks von Leverkühn, der Apocalypsis cum figuris, angibt. Dieses Werk befindet sich nicht nur in zeitlicher Nähe zu den Werken der drei o. a. Komponisten, sondern fällt in die Umbruchszeit nach dem Ersten Weltkrieg. Es handelt sich dabei um ein Oratorium, dessen Entstehung Zeitblom begleitet. Er beschreibt die in dieser Zeit »überstürzten, dann wieder stockenden Schritte« Leverkühns beim Spaziergang und dessen dabei verspürten »melodischen Erleuchtungen«. So verursacht die vom Teufel vermittelte Inspiration Leverkühns Rastlosigkeit (10.1, 522). Darüber hinaus findet Nietzsches angespanntes Verhältnis zu Das »Unheimlich-Autobiographische« analysiert im Detail: E. Heftrich, Radikale Autobiographie und Allegorie der Epoche: Doktor Faustus, in: ders., Vom Verfall zur Apokalypse. Frankfurt/M. 1982, 173–288. Heftrich spricht von einer »radikalen Autobiographie« und geht der »geheimen Identität« von Zeitblom und Leverkühn im einzelnen nach: 187, 204 f., 281 ff. Darüber hinaus stellt er den Faustus-Roman in den Kontext der anderen literarischen Werke Thomas Manns, indem er die Bezüge im Roman im Sinne einer »chiffrierten Werkgeschichte« freilegt: 214 ff.
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Wagner direkten Eingang in den Roman. Denn Leverkühn schickt seinem Freund einen Brief, den er mit Perotinus Magnus unterzeichnet. (Perotinus entwickelte als Leiter der Kirchenmusik von Notre Dame im 12. Jahrhundert die »Kunst der Polyphonie«). Zeitblom erkennt in Leverkühns »Selbstverspottung« die Analogie zu Wagner, der die Übersendung seines Parsifal an Nietzsche mit ›Ober-Kirchenrat‹ signiert (10.1, 540 f.). Auch wenn Nietzsche im ganzen Roman nicht namentlich erwähnt wird, so tritt er hier offensichtlich in der Verbindung mit Wagner in Erscheinung. Hinzu kommt der Bezug auf Thomas Mann selbst, der den Doktor Faustus als seinen »Parsifal« bezeichnet. 39 Wagner bleibt für Thomas Mann – bei aller Kritik – ein Vorbild des epochemachenden Künstlers, an dem er sich auch in seinem Alterswerk orientiert. Dadurch dass sich Leverkühn in seiner ironischen Selbstcharakterisierung an Wagner angleicht, verweist er indirekt auf das Problem, inwieweit im 20. Jahrhundert der Wagnersche Parsifal als Vorlage überhaupt noch möglich ist. Wagners ironische Signatur antizipiert hellsichtig Nietzsches Kritik, die im Parsifal den Rückfall in ein überlebtes Christentum und eine »Falschmünzerei der Transcendenz und des Jenseits« sieht (WA, 43). Was bedeutet es also, wenn Thomas Mann seinem Zeitblom die Rolle eines Kritikers nach dem Vorbild Nietzsches zuschiebt? Zeitblom bewundert Leverkühn, kann aber auf dessen Selbstironie nur mit Ratlosigkeit reagieren. Wenn Leverkühn ein durch Krankheit gebrochenes Nietzsche-Bild repräsentiert, dann ist Nietzsche nicht mehr die kritische Gegeninstanz, sondern mit Leverkühn selbst Gegenstand der Kritik. Diese Kritik artikuliert Zeitblom, indem er die Gefahren der »Nachbarschaft von Ästhetizismus und Barbarei«, die mit der »Erneuerung kultischer Musik aus profaner Zeit« einhergehen, beschwört (10.1,
Br II, 27. 4. 1943 an Klaus Mann, 309; ebenso an Agnes Meyer, 28. 4. 1943: Vaget, Amerikaner, a. a. O., 158. Vgl. 19.1, 422.
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541). Er berichtet, wie Leverkühns Apocalypsis cum figuris bei ihm eine Mischung aus Faszination und Schaudern auslöst: »Man hat da Ensembles, die als Sprechchöre beginnen und erst stufenweise, auf dem Weg sonderbarster Übergänge, zur reichsten Vocal-Musik werden […] begleitet von Klängen, die als bloßes Geräusch, als magisch-fanatisch-negerhaftes Trommeln und Gong-Dröhnen beginnen und bis zu höchster Musik reichen […]. Wie entsetzlich wirken an der Stelle, wo die vier Stimmen des Altars das Loslassen der vier Würgeengel verordnen […] die Posaunen-Glissandi, die hier das Thema vertreten, – dies zerstörerische Durchfahren der sieben Zuordnungen oder Lagen des Instruments! […] Aber das Markerschütterndste ist die Anwendung des ›Glissando‹ auf die menschliche Stimme […] und eine andere Ergriffenheit packt mich: die Erinnerung an das Pandämonium des Lachens, das Höllengelächter, […] diese Windsbraut infernalischer Lachlust […] hat ja sein Gegenstück in dem so ganz und gar wundersamen Kinderchor […] einem Stück kosmischer Sphärenmusik, eisig, klar, gläsern-durchsichtig, zwar herb dissonant, dabei aber von einer, ich möchte sagen: unzugänglich-überirdischen und fremden, das Herz mit Sehnsucht ohne Hoffnung erfüllenden Lieblichkeit des Klanges.« (10.1, 542–549)
Diese Schilderung, in der Thomas Manns gestalterische Kraft und Adornos Beratung sichtbar werden, zeigt Zeitbloms Zwiespalt. Aufgrund seines humanistisch geprägten bürgerlichen Selbstverständnisses müsste er sich von Leverkühns Kunst distanzieren. Er kann sich jedoch der Faszination, die von Leverkühns Musik ausgeht, nicht entziehen. Denn Leverkühn thematisiert die Krise der Kultur und wagt einen Ausbruch, dessen Radikalität den Horizont von Zeitbloms bürgerlicher Welt übersteigt. Die daraus resultierende Verunsicherung Zeitbloms reicht aber noch weiter. Neben der bürgerlich-humanistischen Tradition und ihrer ästhetizistisch neo-barbarischen Überwindung taucht noch eine weitere Konzeption von Kunst auf. Leverkühn bezeichnet sie als »Durchbruch […] aus geistiger Kälte in eine Wagniswelt neuen Gefühls«, die den bisherigen Kunstelitismus überwinden und den Weg zum »Volk« finden soll, das »heißt, 153 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
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um es unromantisch zu sagen: zu den Menschen« (10.1, 468 f.). Hier entwirft Leverkühn eine Utopie, die den Bezug zu seiner eigenen Musik löst: »Die ganze Lebensstimmung der Kunst […] wird sich ändern, und zwar ins Heiter-Bescheidenere, – es ist unvermeidlich, und es ist ein Glück. Viel melancholische Ambition wird von ihr abfallen und eine neue Unschuld, ja Harmlosigkeit ihr Teil sein. Die Zukunft wird in ihr, sie selbst wird wieder in sich die Dienerin sehen an einer Gemeinschaft, die weit mehr als ›Bildung‹ umfassen und Kultur nicht haben, vielleicht aber eine sein wird. Wir stellen es uns nur mit Mühe vor, und doch wird es das geben und wird das Natürliche sein: eine Kunst ohne Leiden, seelisch gesund, unfeierlich, untraurig-zutraulich, eine Kunst mit der Menschheit auf Du und Du …« (10.1, 469)
Zu Leverkühns These, die Kunst bedürfe der »Erlösung« aus ihrer »feierlichen Isolierung«, schweigt Zeitblom »erschüttert«, weil ihm diese Perspektive nicht zur Einsamkeit des genialen Musikers passen will. Er besteht dagegen auf seiner eigenen Auffassung, dass die Kunst nicht ins Volk gehen könne, weil sie nicht die »Bedürfnisse der Menge, des kleinen Mannes, des Banausentums« aufnehmen dürfe. Sie dürfe auch nicht durch den Staat unter Volkskontrolle gestellt werden. Das führe ins Elend und bedeute den »Mord des Geistes«, denn dieser gedeihe nur, wenn der Geist die Menge überrage. Kunst könne allenfalls auf »hoch-mittelbare Weise« den Menschen dienen. Zeitblom glaubt damit die »natürliche Gesinnung Adrians« zu erfassen und wertet dessen Utopie als Ausdruck einer aus Hochmut resultierenden »Leutseligkeit«. Ihn irritiert jedoch, wenn Leverkühn voller Erregung von der Erlösungsbedürftigkeit der Kunst spricht (10.1, 470). Leverkühns Utopie einer neuen Unschuld der Kunst eröffnet eine dritte Möglichkeit, die sich von der bürgerlichen Tradition der Kunst wie von seinem eigenen musikalischen Werk unterscheidet. Sie lässt sich auch nicht in Einklang mit seiner letzten Komposition Doctor Fausti Weheklag bringen. Die Konzeption dieses zweiten Oratoriums, einer »symphonischen Kantate«, 154 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
Nietzsche und Doktor Faustus
fällt in das Jahr 1927, ein für Leverkühn außerordentlich fruchtbares Jahr, »das Jahr des kammermusikalischen Hoch- und Wunderertrages«. Thomas Mann gestaltet diese Werkphase wiederum in Anlehnung an Adornos Darlegungen zu Kompositionen von Arnold Schönberg und Alban Berg. Auf deren Niveau bezieht Zeitblom ein Streichquartett von Leverkühn und hebt es als dessen »esoterischstes Werk« hervor (10.1, 660 f., 10.2, 826 f.). In dieser Phase ist davon auszugehen, dass auch Doctor Fausti Weheklag die kompromisslose Modernität der bisherigen Arbeiten fortführt und es nicht nachvollziehbar ist, wie Zeitblom meint, dass diese Komposition der 12-Ton-Musik der Menschheit »auf Du und Du« begegne. Insofern versucht Zeitblom etwas nahezu Unmögliches, wenn er glaubt, das »Monstre-Werk der Klage« in Übereinstimmung mit der früheren Utopie bringen zu können: »Bedeutet es nicht den ›Durchbruch‹, von dem zwischen uns […] so oft von einem Problem, einer paradoxen Möglichkeit die Rede gewesen war, – die Wiedergewinnung […]: die Rekonstruktion des Ausdrucks, der höchsten und tiefsten Ansprechung des Gefühls auf einer Stufe der Geistigkeit und Formenstrenge, die erreicht werden mußte, damit dieses Umschlagen kalkulatorischer Kälte in den expressiven Seelenlaut und kreatürlich sich anvertrauende Herzlichkeit Ereignis werden könne?« (10.1, 703)
Zu Recht weist Herbert Lehnert darauf hin, dass diese Brücke, die Zeitblom zu Leverkühns früherer Kunstutopie schlägt, ihn als Erzähler unzuverlässig macht, denn es ist nicht glaubwürdig, dass »die verzweifelte Klage des Teufelsbündners über das Ende seiner Frist Herzlichkeit ausdrücken (soll)«. 40 Die Gestaltung der Faust-Legende im letzten Werk Leverkühns stärkt viel eher die Skepsis darüber, dass es der Kunst gelingen könnte, eine Art Mittlerin zwischen den Menschen zu werden. So nimmt Leverkühn mit seiner letzten Komposition eine resignative Haltung H. Lehnert, Kaisersaschern auf der Flucht vor der Modernität, in: TMS, Bd. 46, 2013, 11–31, ebd., 29. Zum Folgenden ebd. 30 f.
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Nietzsche-Bilder im Kontext des Faschismus
ein und sagt sich mit dem »Zurücknehmen« der 9. Symphonie Beethovens von einem humanen Impetus los. Zeitblom registriert diesen Gegenentwurf und resümiert, »daß aus tiefster Heillosigkeit, wenn auch als Frage nur, die Hoffnung keimte?« Dieses Paradoxon nennt er »religiös«, denn nur so könne der »Hoffnung jenseits der Hoffnungslosigkeit« Ausdruck verliehen werden (10.1, 711, zuvor: 693, 709). Das eröffnet die vage Möglichkeit, Leverkühns Schicksal mit der human-christlichen Bürgerlichkeit zu vereinbaren. Thomas Manns Empathie für seinen Helden setzt eher einen anderen Akzent. Wenn Zeitblom als »Generalthema des Variationenwerks« von Doctor Fausti Weheklag »das zwölftönige ›Denn ich sterbe als ein böser und guter Christ‹« anführt (10.1, 706, 708), so kann Leverkühns anschließender, an Nietzsche erinnernder Zusammenbruch nicht christlich gedeutet werden. Bei seinem letzten Auftritt im Kreis von Freunden und Bekannten legt Leverkühn eine Art Lebensbeichte ab. Er sieht keinen Ausweg aus seiner Verdammnis, da er mögliches »Erbarmen« durch seine gottlose Spekulation zerstört habe. Wenn er dann, mit einem Klagelaut und ausgebreiteten Armen über seinem Klavier zusammenbricht und »wie gestoßen« zu Boden fällt, wirkt das wie ein finaler Sieg des Teufels und nicht wie Hoffnung auf Erlösung. Thomas Mann zeichnet Adrian Leverkühn nach dem Vorbild von Nietzsches Ecce homo und seiner eigenen Sicht auf Nietzsche als tragische Figur einer Krise des Christentums. Doch der als Kreuzigungsszene stilisierte Zusammenbruch am Klavier oder auch das als »Ecce homo-Antlitz« charakterisierte Aussehen des schon geistig Umnachteten (10.1, 703, 729, 736) können Leverkühn nicht in die christliche Tradition zurückbringen, auch wenn Zeitblom das nahelegt. Thomas Mann ist ein zu guter Nietzsche-Kenner, um zu übersehen, dass Nietzsches Atheismus eine ernstzunehmende Option für ein nachchristliches Menschenbild darstellt. Auch wenn er Nietzsches Radikalität nicht teilt, so kommt es dennoch zu keiner Versöhnung Lever156 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
Nietzsche, Leverkühn, deutsche Politik
kühns mit dem Christentum. Damit verbleibt der Roman im unaufgelösten Spannungsfeld unterschiedlicher kultureller Strömungen und bestätigt dadurch seine Modernität. Auch eine mit Wagners Parsifal vergleichbare Erlösungsperspektive wird hinfällig, denn Thomas Manns »Parsifal« kann die Wunden der Zeit nicht schließen. Die kulturellen Modelle, die der Roman präsentiert, sind divergent und lassen sich nicht vereinheitlichen: Leverkühns Radikalität schafft Werke »mit Sehnsucht ohne Hoffnung« (vgl. 10.1, 549) und endet mit einer großen Klage, die sich dem bürgerlichen Humanismus verweigert. Gegen diese beiden Konzeptionen steht Leverkühns uneingelöste Kunstutopie, die einer fremden Welt anzugehören scheint. In anderen Worten: die Ambitionen der Kunst, den Menschen als Orientierung zu dienen, sind vergeblich geworden. Ein kultureller Leitfaden existiert nicht mehr. So markiert Leverkühns uneingelöste Kunstutopie eine Leerstelle. Wenn aber die Kunst als »Dienerin« der Gemeinschaft angesprochen wird, verweist das in einer krisenhaften Zeit zuallererst auf die Notwendigkeit einer neuen gesellschaftlich-politischen Ordnung, in der die Kunst ein neues Selbstverständnis finden muss. Dass dies keine ferne Utopie ist, zeigt sich darin, wie Thomas Manns Roman den Geschichtskontext des 20. Jahrhunderts aufnimmt.
4.4 Nietzsche, Leverkühn, deutsche Politik Die geschichtlich-politische Dimension wird im Faustus-Roman selbst und in den begleitenden Essays deutlich. So berichtet der Erzähler Zeitblom über seine politischen Erfahrungen, in die Thomas Mann seine eigenen einfließen lässt. Zeitblom, der aus humanistischer Überzeugung seine Lehr-Tätigkeit als Gymnasialprofessor aufgibt, zeigt damit seine Distanz zum Nationalsozialismus (10.1, Kap. 1, 2). Darüber hinaus unterbricht er immer wieder die biographische Niederschrift über seinen Freund Leverkühn mit Reflexionen zum aktuellen Zeit157 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
Nietzsche-Bilder im Kontext des Faschismus
geschehen und zur sich abzeichnenden Niederlage Deutschlands. Anfang 1945 beklagt Zeitblom das Vordringen der Russen nach Berlin und den Rhein-Übergang der Alliierten in den Worten von Leverkühns Apocalypsis: »[…] das Ende kommt, es kommt das Ende […]« (10.1, 629). Entsprechend wird das 1926 unter dem Dirigenten Otto Klemperer in Frankfurt aufgeführte Werk (10.1, 547) als »Prophetie des Endes« bezeichnet, eine Art Vorwegnahme des sich abzeichnenden Unheils der deutschen Geschichte (10.1, 655 f.). In diesem Sinn interpretiert Zeitblom auch die »harte Chorfuge zu den Worten des Jeremias«: »Du hast uns zu Kot und Unflat gemacht unter den Völkern.« (10.1, 522 f.) Angesichts des deutschen Zusammenbruchs notiert Zeitblom am 25. April 1945 Gedanken, die Thomas Manns Einstellung zur deutschen Entwicklung und zum Verhältnis von Kultur und Politik widerspiegeln. Nach der Befreiung des Lagers Buchenwald und der von den Amerikanern angeordneten dortigen Besichtigung durch die Weimarer Bevölkerung klagt Zeitblom verzweifelt: »[…] offen liegt unsere Schmach vor den Augen der Welt […].« 41 Es entspricht auch der Auffassung Thomas Manns, wenn er die Frage stellt, »Denn ist es bloße Hypochondrie, sich zu sagen, daß alles Deutschtum, auch der deutsche Geist, der deutsche Gedanke, das deutsche Wort von dieser entehrenden Bloßstellung mitbetroffen und in tiefe Fragwürdigkeit gestürzt worden ist?« (10.1, 697)
und als Kommentar zur NS-Herrschaft weiterfragt: »War diese Herrschaft nicht nach Worten und Taten nur die verzerrte, verpöbelte, verscheußlichte Wahrwerdung einer Gesinnung und Weltbeurteilung, der man charakterliche Echtheit zuerkennen muß, und die der christlich-humane Mensch nicht ohne Scheu in den Zügen unserer Großen, der an Figur gewaltigsten Verkörperungen des Deutschtums ausgeprägt findet? Ich frage – und frage ich zuviel? Ach, es ist wohl Diese Formulierung kehrt wörtlich wieder in Die deutschen KZ (1945), Ess VI, 11.
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Nietzsche, Leverkühn, deutsche Politik
mehr als eine Frage, daß dies geschlagene Volk jetzt eben darum irren Blicks vor dem Nichts steht, weil sein letzter und äußerster Versuch, selbsteigene politische Form zu finden, in so gräßlichem Mißlingen untergeht.« (10.1, 698)
Die Entstellung des deutschen Charakters im Nationalsozialismus ist für ihn deshalb so erschütternd, weil sie Züge aufweist, die in fataler Weise im deutschen Wesen und auch in den Vertretern der deutschen Hochkultur, in ihren »Großen«, angelegt sind. Zu diesen Großen gehört auch Adrian Leverkühn, dessen Werk paradigmatisch für die Ambivalenz der deutschen Kultur steht. Wenn nun Leverkühn seinen Zusammenbruch mit den Worten begleitet, er sterbe als guter und böser Christ, so verweist sein Pakt mit dem Teufel auf diese Ambivalenz. Mit seiner künstlerischen Radikalität überschreitet er in genialischer Selbstermächtigung Grenzen. Das führt – übertragen auf die Politik – nicht nur ins eigene, sondern ins nationale Verderben. Wie in der Figur Leverkühn sieht Thomas Mann den Zwiespalt zwischen Gut und Böse im deutschen Charakter angelegt. Das stimmt mit seiner These überein, dass Hitler kein Zufall sei, weil in der Ambivalenz des deutschen Charakters begründet (vgl. Kap. 4.2). Das »gute und böse« Deutschland gehörten zusammen und von daher müsse das fatale politische Desaster verstanden werden. Was die Kunst Leverkühns und ihr Verhältnis zur Politik anbelangt, müssen Differenzierungen angebracht werden. Leverkühn, der das Archaische mit dem Revolutionären in seiner 12Ton-Musik verbindet, überträgt das nicht auf die Politik. Im Gegenteil, er weigert sich entschieden »ein politisch Lied« zu intonieren, eine offenkundige Anspielung auf Goethes Faust »Ein garstig Lied! Pfui! ein politisch Lied!« (10.1, 276–278; 10.2, 485). Es ist das Bild eines nur seiner Kunst verpflichteten Genies als Außenseiterexistenz. 42 So äußert Leverkühn beim Anhören Zum Problem der künstlerischen Außenseiterexistenz mit Bezug auf Nietzsche vgl. H. Lehnert, Nietzsche-Vision und Nietzsche-Kritik in Tho-
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Nietzsche-Bilder im Kontext des Faschismus
der Arie der Dalila aus der Oper Samson von Saint-Saëns im Kreis von Münchner Bildungsbürgern die Überzeugung, dass der Geist von der »animalischen Schwermut sinnlicher Schönheit aufs tiefste ergriffen werden kann«. Es sei daher nötig, »eine gewisse Großzügigkeit in Dingen künstlerischer Moralität« walten zu lassen: »Was bleibt von dem ganzen KlingKlang denn übrig, wenn man den rigorosesten geistig-moralischen Maßstab anlegt? Ein paar reine Spektren von Bach. Es bleibt vielleicht überhaupt nichts Hörbares übrig.« (10.1, 600 f.) Damit wird nicht nur Nietzsches Hang zum Unpolitischen thematisiert, sondern auch eine moralisierende Tendenz in der Kunst. Dazu Nietzsche: »Der Kampf gegen den Zweck in der Kunst ist immer der Kampf gegen die m o r a l i s i e r e n d e Tendenz in der Kunst, gegen ihre Unterordnung unter die Moral. L’art pour l’art heißt: ›der Teufel hole die Moral!‹« (GD, 127)
Doch auch für Nietzsche geht der elementare Instinkt der Kunst nicht in Zwecklosigkeit auf. Vielmehr versteht er den Sinn der Kunst als »das große Stimulans zum Leben« und als tapfere Lebensbejahung (GD, 127 f.). Dieses jasagende Pathos liegt zwar Leverkühn fern, doch die apolitische Radikalität seiner Kunst zeigt verwandtschaftliche Nähe zu Nietzsche. Dazu passt Zeitbloms Charakterisierung von Leverkühns Bearbeitung des auf Shakespeares Love’s Labour’s Lost zurückgehenden Opern-Sujets, die »so unwagnerisch wie möglich« angelegt sei. Er lobt diese Bearbeitung als eine parodistische »Kunst um der Kunst willen«. Sie äußere sich in einer »selbstzentrierten und vollkommen kühlen Esoterik« (10.1, 239, 318). Die Esoterik findet sich auch in Leverkühns Vertonung von Klopstocks Frühlingsfeyer, die in den 20er Jahren einerseits »hämisch-banausischen Widerspruch« hervorruft und andererseits von einer begeisterten Minderheit mit der »Aura esoterischen mas Manns Werk, in: A. Blödorn/S. R. Fauth (Hg.), Metaphysik und Moderne. Von Wilhelm Raabe bis Thomas Mann, Wuppertal 2006, 281–320.
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Nietzsche, Leverkühn, deutsche Politik
Ruhms« umgeben wird (10.1, 386). Der in den Jahren 1913/14 komponierten Orchester-Phantasie Die Wunder des Alls wird jedoch »eine virtuos antikünstlerische Gesinnung« und letztlich »nihilistischer Frevel« vorgeworfen (10.1, 401). Zeitblom weist diese Kritik zwar zurück, sieht aber auch die Gefahr der Barbarei in diesem Werk (vgl. 4.3). Doch bei der ersten vollständigen Aufführung der Apocalypsis zeigt sich, dass das »welt-und freiheitsfreundliche« Frankfurter Publikum im Gegensatz zu der »nationalistisch-wagnerisch-romantischen Reaktion« in München über starke Befürworter verfügt. Insofern steht das Frankfurter Publikum in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre der Weimarer Republik für eine aufgeschlossene Öffentlichkeit. Dem »künsterisch-›republikanisch‹ gesinnten Publikum« ist es auch zu verdanken, dass Werke Leverkühns bei dem Weimarer »Tonkünstlerfest« und den Donaueschinger Musiktagen aufgeführt werden und zu einer »neuen geistig-musikalischen Haltung« beitragen (10.1, 563 f.). Das zeigt, dass auch radikale Kunst von der Gesellschaft akzeptiert wird. Voraussetzung dafür ist eine republikanische Öffentlichkeit, die der Kunst ihren Freiraum lässt, aber zugleich an einer systematischen Unterscheidung von Kunst und Politik festhält. Dieses Fazit legt ein Kapitel des Romans nahe (Kap. 36), in dem der Niedergang Deutschlands und die Zerstörung von Hoffnungen auf die Weimarer Republik beklagt werden. Aus Zeitblom spricht Thomas Mann, wenn er an die in der Weimarer Republik mühsam erlangte Phase der Stabilisierung erinnert: »Eine Epoche seelischer Erholung, des gesellschaftlichen Fortschritts in Frieden und Freiheit, der mündigen und zukunftsgewillten kulturellen Bemühtheit, der gutwilligen Angleichung unseres Fühlens und Denkens ans Welt-Normale schien uns Deutschen zu dämmern.« (10.1, 562)
Roman-Passagen wie diese orientieren sich an Thomas Manns Republikrede von 1922 und anderen Beiträgen zur Verteidigung der Weimarer Republik, die ich als Nietzscheanischen Republi161 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
Nietzsche-Bilder im Kontext des Faschismus
kanismus analysiert habe (Kap. 2). Dieser Republikanismus ist deshalb nietzscheanisch zu nennen, weil er Thomas Manns zeitgeschichtliche Erfahrungen und politischen Urteile sowie die deutsche Hochkultur unter dem Leitbild Nietzsches versammelt. Dennoch votiert Thomas Mann für die konstitutionelle Demokratie und bedauert mit Zeitblom, dass dies der letzte und äußerste Versuch gewesen sei, »selbsteigene politische Form zu finden«. Mit der These, die Republik sei die Einheit von Staat und Kultur, bekennt sich Thomas Mann zu der für ihn adäquaten politischen Form. Das ist immer mit der Perspektive verbunden, die Besonderheiten der deutschen Kultur in dieser Einheit zu wahren. Für Thomas Mann ist der Nationalsozialismus und die Katastrophe von 1945 aufs engste mit der Frage verbunden, warum die Kultur, und das heißt vor allem die bürgerliche Kultur, den faschistischen und nazistischen Tendenzen nicht widerstehen konnte. 43 Deshalb ist für ihn Deutschlands politisches Verhängnis auch ein kulturelles. Die positive Reaktion des Publikums auf die Kunst Leverkühns steht in deutlichem Kontrast zu anderen Verhaltensweisen im Roman. Diese beschreiben eine bürgerliche Gesellschaft, die nicht mehr in der Lage ist, krisenhaften Herausforderungen der Zeit mit humanen Konzepten zu begegnen. Exemplarisch dafür ist Zeitbloms Gesellschaftskritik an dem bildungsbürgerlichen Kridwiß-Kreis (Kap. 34). So beobachtet Zeitblom bei den Teilnehmern dieses Münchner Kreises, dass sie während des Ersten Weltkriegs und danach (1919) immer mehr von der bürgerlichen Tradition abrücken. Bezeichnenderweise ist es die Zeit, in der Thomas Mann selbst nur mühsam den Weg zur Republik findet (vgl. Kap. 2). Dagegen wird im Kridwiß-Kreis die Republik »auch nicht einen Augenblick als ernstzunehmender Rahmen für das visierte Neue anerkannt«. Der durch den Krieg verursachte politische Umbruch weise – so Zeitblom – für diesen Kreis in Richtung Diktatur und 43
Vgl. Pikulik, Faschismus, a. a. O., 8, 53.
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Nietzsche, Leverkühn, deutsche Politik
Gewalt. Auch die globale Perspektive ziele seit der Französischen Revolution auf »despotische Zwangsherrschaft über nivellierte, atomisierte, kontaktlose und, gleich dem Individuum, hilflose Massen« (10.1, 530 f.). Zeitblom fühlt sich abgestoßen von der verantwortungslosen Naivität, mit der gebildete Bürger solche Perspektiven erwägen und z. B. Georges Sorels Buch über die Gewalt goutieren. Als der Kridwiß-Kreis die »humane Verweichlichung« der Gesellschaft verurteilt und für die Einführung einer Volks-und Rassenhygiene plädiert, erschrickt Zeitblom über die »intentionelle Re-barbarisierung«, die auf die Zeit noch vor der christlichen Zivilisation des Mittelalters zurückgehe (10.1, 531, 537 f.). Er fühlt eine beängstigende Nähe von Leverkühns Kunst zu den im KridwißKreis geäußerten Ansichten. Es wäre jedoch falsch, der Kunst Leverkühns präfaschistische Tendenzen des Kridwiß-Kreises anzulasten. Denn Leverkühns Werk beinhaltet beides, Nähe wie Distanz zum Kridwiß-Kreis. Das fragliche Verhältnis von Kunst und Politik wird nicht geklärt, es bleibt in der Schwebe. 44 Leverkühns Kunst der 12-Ton-Musik ist zeitnah und progressiv und distanziert sich als nach-wagnerische Musik von dem bürgerlich-kulturellen Selbstverständnis der Spätromantik. Durch den Ersten Weltkrieg und seine Folgen gerät das deutsche Bürgertum in eine Sinnkrise, die von der künstlerischen Avantgarde auf ihre Weise bearbeitet wird. Wenn Leverkühn in seiner Apocalypsis radikale Wege geht und auch vor archaisierenden Mitteln nicht zurückschreckt, so ist dies keine Aufforderung Die Distanz zwischen Leverkühn und der Münchner Gesellschaft, die in den Kridwiß-Kreis eingeht, bringt Thomas Mann unter Hinweis auf ein anderes Kapitel (23) zum Ausdruck: »Der Faustus ist augenblicklich in eine Phase des Gesellschaftsromans getreten. Er spielt jetzt in München, und ich krame in meinen Erinnerungen an das München von 1910. Adrian paßt natürlich wenig in die Atmosphäre dieses einfältigen Capua, das dann zur ›Wiege der Bewegung‹ werden sollte. Ich hatte immer eine Ahnung von diesem Dummheitsschicksal.« Brief an Agnes Meyer, 11. Okt. 1944, Br II, 394.
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zur Barbarei, sondern Warnruf und düstere Prophetie einer eher esoterisch ausgerichteten Kunst (vgl. Kap. 4.3). Dadurch gewinnt Leverkühns Kunst Distanz und Autonomie. Diese Distanz lässt offen, mit welchen gesellschaftlichen oder politischen Strömungen sie in engere Beziehung treten wird. Denn Leverkühn kann seiner Musik nicht die ihr angemessene gesellschaftlich-politische Bedeutung verschaffen, weil er um den Preis des Teufelspakts seine persönlich künstlerische Erfüllung über alles andere stellt. Auf diese Weise verbleibt seine Kunst in der Schwebe von künstlerischer Esoterik und Utopie. Das markiert zugleich ihre politische Leerstelle, die als neo-barbarische Tendenz in Gesellschaft und Politik gelesen werden, aber auch im künstlerisch-republikanischen Geist wie in Frankfurt als Beitrag zur Diskussion der Probleme der Zeit beitragen kann. War es nicht Thomas Mann, der – wie eingangs zitiert – an Nietzsche kritisiert, der »Tendenz zum intellektuellen Abgrund« erlegen zu sein und das Verantwortungsgefühl für seine Gedanken vermissen zu lassen? 45 Dieser Vorwurf lässt sich auch auf Leverkühn übertragen. Er hätte durch seine Anwesenheit bei den Aufführungen seiner Kompositionen in Frankfurt, Weimar und Donaueschingen zeigen können, dass er sich mit dem aufgeschlossenen republikanischen Publikum als Adressaten seiner Kunst solidarisiert. Doch die Aufführungen finden, wie Zeitblom bedauert, »leider in des Komponisten Abwesenheit« statt (10.1, 564). Auch hier wird die Analogie zu Thomas Mann und Nietzsche sichtbar. Während Nietzsche und Leverkühn in der Attitüde des Unpolitischen verharren, gelangt Thomas Mann zu einer angemessenen Verhältnisbestimmung von Kultur und Politik in einer krisenhaften Zeit. Seine Positionierung gegen den Nationalsozialismus gewinnt immer klarere KonIm selben Sinn äußert sich Thomas Mann in einem Brief an Fritz Kaufmann (Aug. 1944), wenn er meint, sein Wunsch nach mehr »›Pragmatismus‹« lasse ihn inzwischen auch Nietzsche kritischer sehen, denn es gehe um »mehr verantwortungsbewußte Rücksichtnahme auf Leben und Wirklichkeit«: DüD III, 27.
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Nietzsche, Leverkühn, deutsche Politik
turen (vgl. Kap. 1, 2). Die zeitgeschichtlichen Stationen dieses Wegs spiegeln sich in den Kommentaren Zeitbloms wider, sind aber nicht mit der politischen Biographie von Thomas Mann gleichzusetzen. 46 Vor dem Hintergrund des eigenen politischen Wegs ist somit Thomas Manns Nietzsche-Bild, das in Leverkühn Gestalt annimmt, auch als Selbstkritik der eigenen Künstlerexistenz zu lesen, einer Künstlerexistenz, die zur Selbstüberhöhung neigt, keine gesellschaftliche Rückbindung hat und schließlich politischen Halt verliert. Insofern bedarf die Kunst keines metaphysisch stilisierten Teufels als Verführer, denn sie unterliegt schon ihrem Wesen nach immer der Gefahr der Selbst-Verführung. 47 Es gehört daher zur Selbstkritik, »das Gute und Böse der deutschen Kultur« in sich selbst zu erkennen und die Herausforderung anzunehmen, daraus eine humane Perspektive zu entwickeln. Somit repräsentiert Thomas Mann das »gute und böse« Deutschland. Der Faustus-Roman enthält nicht nur eine künstlerische, sondern auch eine politische Autobiographie (vgl. Kap. 4.3). Die These, dass das »gute und böse« Deutschland zusammengehören, kann im Kontext des Romans an weiteren Quellen vertieft werden. 48 Es verweist auf Thomas Manns diskursive Zeitblom bleibt trotz Distanz zum NS in Deutschland; er hat zwei Söhne im Zweiten Weltkrieg auf deutscher Seite und schwankt gelegentlich zwischen Hoffen und Bangen um die deutsche Sache. Außerdem ist seine Art der »inneren Emigration« nicht die des Autors, dem dieser Begriff jedoch geläufig ist (Ess V, 222). Vgl. als Widerhall zu der Entwicklung Thomas Manns die Zeitkommentare Zeitbloms, z. B. in Kap. 13, 14, 21, 23. 47 Dazu passt, dass die Musik »unter allen Künsten den höchsten Grad innerer Möglichkeit besitzt, zur Teufelskunst zu werden. Denn sie ist Moral und Verführung zugleich […]«: Die Sendung der Musik. Zum 50jährigen Dirigenten-Jubiläum Bruno Walters, Ess V, 241 (Nov. 1944). 48 Hierzu insbes. Vaget, Amerikaner, a. a. O., 443–478. Sehr aufschlußreich sind die Verweise auf Stevensons Dr. Jekyll and Mr. Hyde und auf Sebastian Haffners Germany: Jekyll and Hyde, ebd. 459 ff., 454 ff. Dort auch zum Thema »Gnade« aus dieser Ambivalenz: 464, 477 f. 46
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Nietzsche-Bilder im Kontext des Faschismus
Behandlung des Themas. Nicht nur, dass in diesen Texten wörtliche Formulierungen auftauchen, die im Roman wiederkehren 49 , sondern sie bestätigen auch, dass Thomas Mann hier seinen politischen Werdegang verarbeitet. So auch in dem persönlichen Bekenntnis von 1945: »Eines mag diese Geschichte uns zu Gemüte führen: daß es nicht zwei Deutschland gibt, ein böses und ein gutes, sondern nur eines, dem sein bestes durch Teufelslist zum Bösen ausschlug. Das böse Deutschland, das ist das fehlgegangene gute, das Gute im Unglück, in Schuld und Untergang. Darum ist es für einen deutsch geborenen Geist auch so unmöglich, das böse, schuldbeladene Deutschland ganz zu verleugnen und zu erklären: ›Ich bin das gute, das edle, das gerechte Deutschland im weißen Kleid, das böse überlasse ich euch zur Ausrottung.‹ Nichts von dem, was ich Ihnen über Deutschland zu sagen oder flüchtig anzudeuten versuchte, kam aus fremdem, kühlem, unbeteiligtem Wissen; ich habe es auch in mir, ich habe es alles am eigenen Leibe erfahren.« 50
Thomas Mann trägt dieses Fazit als »ein Stück deutscher Selbstkritik« vor und sieht eine Zukunftsperspektive in der Erneuerung des universalistischen Geistes von Hölderlin, Goethe und Exemplarisch sei hier eine besonders auffällige Passage genannt: In dem Essay Schicksal und Aufgabe von 1943 (Ess V, 223) heißt es, dass die Deutschen in Furcht vor der Niederlage leben, dass es aber etwas gebe, »was einige von ihnen heimlich, in Augenblicken, die ihnen selbst verbrecherisch erscheinen, wenn auch gleichfalls unter Gewissensbissen, mehr fürchten als die deutsche Niederlage, und das ist der deutsche Sieg.« Das kehrt leicht abgewandelt als Zeitbloms Beschreibung des eigenen Gemütszustandes wieder: 10.1, 50. 50 Deutschland und die Deutschen, Ess V, 279. Zum Folgenden ebd., 280 f., vgl. 433 f. Die Passage wird wiederholt in Thomas Manns Erläuterung, warum er nicht nach Deutschland zurückkehrt: Ess VI, 40. Vgl. zum Wechselbezug von Roman und Essayistik sowie zur Ernsthaftigkeit der Auseinandersetzung mit dem NS: R. Wimmer, Die Essayistik der Doktor FaustusZeit, in: TMS, Bd. 48, 2014, 163–178. Entsprechend und mit Kritik an marxistischen Deutungen des Romans: H. Münkler, Wo der Teufel seine Hand im Spiel hat. Thomas Manns Deutung der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, in: W. Röcke (Hg.), Thomas Mann. Doktor Faustus 1947–1997, Frankfurt/M. 2001, 89–107. 49
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Nietzsche, Leverkühn, deutsche Politik
Nietzsche, den er an politischen Zielen wie »soziale Weltreform«, »Weltstaat« und »sozialem Humanismus« ausrichtet. Ein post-nazistisches Deutschland könne nur mit Rückgriff auf universalistische deutsche Traditionen gestaltet werden. Weil auch der Widerstand gegen Hitler aus diesen Traditionen hervorgegangen ist, hofft Thomas Mann auf »Gnade«. So im Schlusssatz des Romans: »Gott sei eurer armen Seele gnädig, mein Freund, mein Vaterland.« (10.1, 738) Nach Thomas Mann ist Deutschland trotz seines Zusammenbruchs im Jahr 1945 nicht identisch mit Hitler-Deutschland, sondern sollte die Möglichkeit erhalten, »eine neue Gestalt anzunehmen, in einen neuen Lebenszustand überzugehen, der vielleicht nach den ersten Schmerzen der Wandlung und des Übergangs mehr Glück und echte Würde verspricht, den eigensten Anlagen und Bedürfnissen der Nation günstiger sein mag als der alte.« (Ess VI, 40) Das erfordere jedoch echte Wandlung und geistige Erneuerung, zu der gehöre, die gesamtdeutsche Verantwortung für die NS-Zeit zu übernehmen und glaubhaft aufzuarbeiten. Diese Forderung von Thomas Mann verweist auf zahlreiche Kontroversen in Nachkriegsdeutschland (vgl. Kap. 6.1). Darüber hinaus besteht er auf einem »neuen globalen Humanismus« für die Beziehung von Kultur und Politik (Ess V, 238). So kommt mit anderer Akzentuierung erneut die eher kryptische Kunstutopie Leverkühns zur Sprache. Sie lässt sich aber weder mit Zeitbloms Beschreibung von Leverkühns Kompositionen noch mit der bürgerlich-humanistischen Tradition in Einklang bringen (vgl. Kap. 4.3). Ein Selbstzitat Thomas Manns macht deutlich, dass die Utopie Leverkühns seine eigene ist: »Die Kulturidee gehört einer vergehenden, einer schon vergangenen Epoche an, eben der bürgerlichen […] Die Kultur, vom Kultus emanzipiert, war dieser Epoche ein Religionsersatz, und ihrem geistigen Ausdruck, der Kunst, ward dadurch eine übertriebene Feierlichkeit zuteil […] Verstanden, genossen wurde sie allenfalls von einer Bildungselite, ›Publikum‹ genannt, welche aufgehört hat, zu existieren. Die Kunst ist allein, und sie ist zum einsamen Hinkränkeln und Absterben verurteilt,
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Nietzsche-Bilder im Kontext des Faschismus
wenn sie den Weg nicht findet zu einer Gemeinschaft, die viel mehr umfaßt als Bildung, und die ›Kultur‹ nicht haben, vielleicht aber eine sein wird; wenn sie nicht wieder lernt, sich als bescheidene, von Erlösungsambitionen entlastete Dienerin einer Kultus-Gemeinschaft, der Ökumene der Menschheit zu empfinden. Der Gegensatz zur bürgerlichen Kultur ist nicht die Barbarei, es ist die Gemeinschaft.« 51
Die textlichen Übereinstimmungen mit Leverkühns Utopie (vgl. Kap. 4.3) sprechen für sich und verweisen auf den engen zeitlichen Zusammenhang zwischen der Abfassung des RomanKapitels und dem zitierten Gelegenheitstext. Thomas Mann kommt im Jahr 1945 und danach immer wieder auf die Frage einer neuen humanen Weltordnung zu sprechen. Seiner Meinung nach müssen Kultur und Kunst in einen moralischen Rahmen eingebettet sein, der zwischen Gut und Böse klar unterscheidet. Politisch zielt das auf eine »Ökumene der Menschheit«, eine »Welt-Civilisation« und den Weltstaat nach Maßgabe von Menschenrechtsnormen der Nachkriegszeit. Es entspricht dem Pathos von Thomas Manns Kunstutopie, wenn er die Verwirklichung der Utopie im Sinne des Weltstaats zur »Lebensnotwendigkeit« erklärt. 52 Das bedeutet, dass nach dem Sieg über den Nationalsozialismus die Frage nach einem neuen Selbstverständnis der Kunst zugleich mit der Frage nach einem neuen gesellschaftlichen und politischen Selbstverständnis gestellt werden muss. Der Roman kann das problematische Verhältnis von Kultur und Politik nur »auf eine symbolische und individualisierte Weise« darstellen. Als »melancholische Geschichte« umkreist er nur eine Problemlage von Deutschlands Schicksal. 53 Die Verschränkung von fiktiver Künstlerbiographie mit geschichtlich-politischen Entwicklungen bietet in ihrer ästhetisch komplexen Konstruktion Dankadresse an das American Christian Committee for Refugees, 19.1, 99. Vgl. Kommentar 19.2, 112 f. und Lehnert, Flucht, a. a. O., 29. 52 19.1, 168. Außerdem zu diesem Zusammenhang: 19.1, 40, 101, 122 f., 127. 53 Vgl. Tb, 1946–48, Nachtrag zum 2. 7. 1947, 898. 51
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Nietzsche, Leverkühn, deutsche Politik
ein beeindruckendes Bild, aber keine Lösung der dabei aufgetretenen Probleme. Vor allem lässt sich aus dem Roman keine Eindeutigkeit von Nietzsches Verhältnis zum Nationalsozialismus ableiten. Dass Thomas Mann Nietzsche stellvertretend für den metapolitischen Überschwang des deutschen Geistes und dessen gefährliche Selbstübersteigerung anführt und Nietzsches Krankheitsgeschichte in Leverkühns Biographie nachbildet, erzeugt einen Zusammenhang zwischen Nietzsche und dem Nationalsozialismus, kann aber keine Analyse ersetzen. Erst Thomas Manns Essay Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung stellt den Versuch dar, ein durch historische Erfahrung modifiziertes Nietzsche-Bild zu zeichnen. Dass es sich lohnt, die philosophische Beurteilung dieses Essays in Angriff zu nehmen, wird nun zu konkretisieren sein.
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5. Der »rettungsloseste Ästhet«: Nietzsche im Sog des Nationalsozialismus
Thomas Mann setzt mit seinem Essay Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung die Arbeit an seinem NietzscheBild fort. Dabei kommen zeitgenössische Positionen, die Nietzsche in ein Verhältnis zum Nationalsozialismus setzen, zur Sprache. Obwohl Thomas Mann an gewissen Nietzsche-Klischees festhält, bemüht er sich um eine ausgewogene Würdigung Nietzsches. Ich gehe zunächst auf Thomas Manns ästhetische Deutung ein, um dann den Kontext zu Georg Lukács und Alfred Bäumler zu beleuchten (Kap. 5.2 f.).
5.1 Nietzsche-Kritik und ästhetische Würdigung In einem erst unlängst aufgefundenen Brief von Thomas Mann an den niederländischen Philosophen Herman Wolf steht die abschließende Passage: »Ein guter, ein wahrhaftiger Nietzsche-Essay, das wäre auch so eine Aufgabe heute! – Dieser Christus-Epigone wollte die Treue zur Erde und daß der Mensch ihr einen Sinn gebe, ›einen Menschensinn‹. Für mich ist das Sozialismus. – Im Übrigen: Christentum, Katholizismus, Demokratie, Kommunismus – alles eins, alles gut, alles willkommen zum Bündnis, alles, alles möge zusammenstehen und sich aufheben in der ›Volksfront‹ des Ecrasez l’infâme!« 1 Brief an Herman Wolf, 30. 7. 1936, FAZ: 21. 3. 2014, 14. Das folgende Zitat ebd. Vgl. Tb, 1935/1936, 326. In einem Interview mit der Washington Post vom 1. Juli 1935 erklärt Thomas Mann, dass er nach Beendigung seines Joseph-Romans »einen großen Essay über Nietzsche schreiben« wolle: V. Hansen/G. Heine (Hg.), Frage und Antwort. Interviews mit Thomas Mann 1909–1955, Hamburg 1983, 216. Vgl. auch Tb, 1933/34, 577 (29. 11.
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Nietzsche-Kritik und ästhetische Würdigung
Es ist bemerkenswert, wie der Kampf gegen den Faschismus dazu motiviert, in einer Volksfront alle antifaschistischen Kräfte ungeachtet ihrer religiösen und politischen Verschiedenheit zu versammeln. Den »wahrhaftigen« Nietzsche-Essay zu schreiben vertagt Thomas Mann zwar auf später, doch fordert er schon in diesem Brief, man solle Nietzsches Person von seiner Lehre, »die viel Selbstmißverständnis« enthalte, unterscheiden. Für Thomas Mann verkörpert Nietzsche in seiner Person einen humanen Geist. Er kritisiert jedoch die radikalen Züge von Nietzsches Werk, die dessen zunehmende Politisierung begünstigen. So wird Nietzsche auf der einen Seite durch die »Nietzsche-Verhunzer« Alfred Bäumler und Oswald Spengler für den Nationalsozialismus in Anspruch genommen 2 und auf der anderen Seite von Georg Lukács als Wegbereiter des NS »entlarvt«. 3 Die Unterscheidung von Person und Werk behält Thomas Mann auch später bei. Während er Nietzsches Werk immer stärker kritisiert, würdigt er die Person Nietzsches als Geistesverwandter der emigrierten Intellektuellen (vgl. Kap. 4.3). Es geht ihm um das Bemühen, Nietzsches Philosophie nicht unreflektiert auf die Gegenwart zu übertragen und neben allen kritischen Bedenken die produktiven Anstöße von Nietzsche herauszuarbeiten. Thomas Manns kritische Bestandsaufnahme orientiert sich in seinem Nietzsche-Essay an den Leitgesichtspunkten Person – Werk – Faschismus. Dabei geht er auf die Krankheitsgeschichte Nietzsches ein und zieht sie als Erklärung für das »fast schon hemmungslose Spätwerk ›Ecce homo‹« (192) 4 heran. So äußere sich Nietzsches Leidensgeschichte in 1934): »Ich bedachte, daß ein, dem Wagner-Essay entsprechender Aufsatz zu Nietzsche auf meinem Wege liege.« 2 Leiden an Deutschland, XII, 699; Tb, 1933/34, 596 f. 3 Vgl. Tb, 1935/36, 326. Zu weiteren Details: Ch. Schmidt, Ehrfurcht, a. a. O., 254 ff. 4 Die folgenden Seitenzahlen in Klammern beziehen sich alle auf den Nietzsche-Essay: 19.1, 185–226. Zur Vorgeschichte des Essays und der Breite der von Thomas Mann verwendeten Quellen vgl. den Kommentar
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Der »rettungsloseste Ästhet«: Nietzsche im Sog des Nationalsozialismus
überzogene Selbststilisierung, Ausdruck einer »hoch-künstlerischen Verfassung«, die sich als mythologische »Vereinigung des Dionysos mit dem Gekreuzigten« geriere (204 f.). Thomas Mann bezieht sich damit auf letzte Briefe, die Nietzsche teils mit »Dionysos«, teils mit »Der Gekreuzigte« signiert und seinen geistigen Zusammenbruch anzeigen. 5 So wird Nietzsches »Martertod am Kreuze des Gedankens« eng mit seiner Krankheit im »klinischen Verstande« (188) zusammengeführt. Im Übrigen sei Nietzsche eine »Gestalt von zarter und ehrwürdiger Tragik« (226), deren Eigenart es gerecht zu werden gelte: »Nietzsche […] ist der vollkommenste und rettungsloseste Ästhet, den die Geschichte des Geistes kennt, und seine Voraussetzung, die seinen dionysischen Pessimismus in sich enthält: daß nämlich das Leben nur als ästhetisches Phänomen zu rechtfertigen sei, trifft genauestens auf ihn, sein Leben, sein Denk- und Dichtwerk zu, – nur als ästhetisches Phänomen ist es zu rechtfertigen, zu verstehen und zu verehren […]« (220)
Thomas Manns These erfasst aber nicht die Vielschichtigkeit von Nietzsches Philosophie. Weder seine Einschätzung von Nietzsches Philosophie als purer Ästhetizismus noch als »durchorganisiertes System« (220) sind haltbar. Jedoch kann er damit einerseits eine zugespitzte Kritik an Inhalten von Nietzsches Philosophie formulieren und andererseits Nietzsches Ästhetentum eine »tiefe Politiklosigkeit« bescheinigen (223), die in Widerspruch zu dessen faschistischer Vereinnahmung steht. Was die Inhalte von Nietzsches Philosophie angeht, so fehlen bei Thomas Mann weder das berühmt-berüchtigte ZarathustraZitat zum Lob des Krieges (211) noch der Hinweis auf die »Blonvon H. Lehnert: 19.2, 207 ff. Die Deutung Nietzsches aus der Perspektive seiner Krankheitsgeschichte ist vorweggenommen in: Dostojewski – mit Maßen (1945): 19.1, 49 ff. 5 NB, Bd. 8, 571 ff. Dagegen schließt EH mit »D i o n y s o s g e g e n d e n G e k r e u z i g t e n … «, ebd., 374.
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Nietzsche-Kritik und ästhetische Würdigung
de Bestie« als Ausdruck eines »infantilen Sadismus« (213), noch die Charakterisierung des Übermenschen als barbarischem Herrscher-Typus über die Erde (214). Thomas Mann beschreibt Zarathustra als »Unfigur«, die der Lächerlichkeit nahekomme (194), womit er seine frühere Einschätzung, er habe »nie ein Verhältnis zum Zarathustra gehabt«, polemisch verstärkt. 6 Er nimmt auch keine weitere Differenzierung zu Nietzsches Begriffsbildung vom Willen zur Macht vor, sondern stellt »Macht« auf eine Ebene mit »Gewalt« und »Grausamkeit«. Dies ergebe eine »trunkene Botschaft«, die Nietzsches »Gedanke des Lebens als Kunstwerk« letztlich in Richtung einer vom »Instinkt beherrschten unreflektierten Kultur« degenerieren lasse (206). Nietzsches genealogische Moralkritik und dessen Programm der »Umwertung aller Werte« werden von ihm zwar einbezogen, verlieren jedoch durch seine These des Ästhetentums an Relevanz (203 ff.). Damit wird deutlich, dass das Desiderat eines »wahrhaftigen« Nietzsche-Essays auch anders eingelöst werden kann. Anstatt eines an der Person orientierten Ästhetentums werden Nietzsches philosophische Begriffsbildungen in den Mittelpunkt gerückt und mit den problematischen Zügen seiner Philosophie systematisch abgeklärt (vgl. Kap. 3,7). Es soll also an Nietzsches Werk geprüft werden, ob Gewaltbotschaften, biologistisches Gedankengut oder Euthanasie-Tendenzen (216) zum Wesenskern gehören oder Randerscheinungen sind. So bedarf es auch der Klärung, ob Nietzsches Umwertung der Werte und die im Kontext des Übermenschen verfassten Theoriebildungen mit dem ideologischen und normativen Gehalt des NS übereinstimmen oder diesem widersprechen. Mit seinem Fazit, dass nicht Nietzsche »den Fascismus gemacht hat, sondern der Fascismus ihn«, kommt Thomas Mann zu dem Schluss, dass Nietzsche die »fascistische Epoche eher antizipierend« vorausgeahnt habe (215). Diese These verändert 6
Tb, 1935/36, 324.
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Der »rettungsloseste Ästhet«: Nietzsche im Sog des Nationalsozialismus
die Sicht auf das Verhältnis von Nietzsches Philosophie zum Faschismus in produktiver Weise. Ich werde Thomas Manns eher intuitive Einsicht zur These zuspitzen, dass es angemessener ist, Nietzsches Willen zur Macht als analytischen Erklärungsbegriff für Entwicklungen des 20. Jahrhunderts heranzuziehen als Nietzsches Philosophie zur Ideologie des Faschismus zu stilisieren (vgl. Kap. 6). Thomas Mann kommentiert die Wirkung Nietzsches in der NS-Zeit und stellt fest, Nietzsche habe »Geschichte gemacht, fürchterliche Geschichte«, die nicht nur die »geistesgeschichtliche Revolte« gegen den Vernunftglauben des 18. und 19. Jahrhunderts betreffe, sondern weiterreiche (224). Seine beiden Thesen gegen Nietzsches Kritik des Vernunftglaubens sind jedoch nicht überzeugend. In der ersten These kritisiert er, Nietzsche unterliege einer »Verkennung des Machtverhältnisses zwischen Instinkt und Intellekt«, wenn er fordere, »man müsse den Intellekt überwinden durch den Instinkt […] Als ob es nötig wäre, das Leben gegen den Geist zu verteidigen […] und sich auf die Seite der Macht und des instinkthaften Lebens zu schlagen« (208). Bei dieser Kritik übersieht Thomas Mann, dass Nietzsche im Namen des Geistes und der aufklärerischen Vernunft gegen die Romantik argumentiert und dass er ›Instinkt‹ nicht ohne ›Intellekt‹ versteht, so etwa wenn er Wagners »Schauspieler-Genie« als »dominirenden Instinkt« bezeichnet (WA, 30) oder im Rahmen seiner Moralpsychologie von einem »Instinkt für den Rang« oder einem »Instinkt der Ehrfurcht« spricht (JGB, 263N). 7 Es überrascht, wie Thomas Mann Nietzsches Anti-Idealismus in einen schlichten Irrationalismus umbiegt, als ob er Nietzsche nie als Vorläufer von Freud gewürdigt hätte (vgl. Kap. 4.1). Dem entspricht die definitorische Bestimmung: »Ich rede von I n s t i n k t , wenn irgend ein U r t h e i l (G e s c h m a c k in seiner untersten Stufe) einverleibt ist, so daß es jetzt selber spontan sich regt und nicht mehr auf Reize zu warten braucht.«: KSA, Bd. 9, 505.
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Nietzsche-Kritik und ästhetische Würdigung
Auch Thomas Manns zweite These lässt sich bei näherer Betrachtung nicht halten. Es sei Nietzsches Irrtum, Leben und Moral als »Gegensätze« zu behandeln (209) und sie in ein »ganz und gar falsches Verhältnis« zu setzen. Das führe zu einer unmoralischen Lebensweise und zu kriegerischem Heroentum, das auch vor Menschenopfern nicht zurückschrecke, wie der Nationalsozialismus gezeigt habe (210). Dazu verweist Thomas Mann auf verschiedene Aussagen von Nietzsche, die ich wegen ihrer umstrittenen Relevanz in einer gesonderten Diskussion behandle (Kap. 7). Was das Verhältnis von Leben und Moral betrifft, so kritisiert Nietzsche die christlich-jüdische Moral und den »Sklavenaufstand« der Französischen Revolution als gegen das Leben gerichtete egalitäre Moralisierungen. Das bedeutet aber nicht, Leben und Moral als grundsätzliche Gegensätze zu sehen. Vielmehr geht es Nietzsche um eine andere Art von Moral, eine Moral im Sinn des »dionysischen Pessimismus«. Denn für Nietzsche ist der Mensch das »abschätzende Tier an sich«, das ohne moralische Werte gar nicht existieren kann. Die Frage ist nur, welche Art von Moral dem Leben gerecht wird (vgl. Kap. 3). Es ist daher nicht – wie Thomas Mann feststellt – der »dionysische Ästhetizismus, welcher den späteren Nietzsche zum größten Kritiker und Psychologen der Moral macht, den die Geistesgeschichte kennt« (202), sondern es ist der »dionysische Pessimismus«, der als Weltinterpretation sowohl Nietzsches ästhetisches wie moralisches Verständnis leitet. 8 Diesen Pessimismus charakterisiert Nietzsche als »Lust am Neinsagen und Neinthun aus einer ungeheuren Kraft und Spannung des Jasagens« heraus, die »allen reichen und mächtigen Menschen und Zeiten« eigen sei (KSA, Bd. 13, 90). Er steht für eine kraftvolle Lebendigkeit, die sich das Nein zum Leben zumutet. Dabei kann Nicht zuletzt unterstreicht die Titelgebung der neuen Ausgabe seiner frühen Schrift diese Zuschreibung: Die Geburt der Tragödie. Oder: Griechenthum und Pessimismus (1886).
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die »Spannung des Jasagens« sich auch auf das »D i o n y s i s c h e in Wille, Geist, Geschmack« (KSA, ebd.) beziehen, so dass es zu keiner Trennung von Instinkt und Intellekt kommt. Der dionysische Pessimismus, als dessen »Erfinder« sich Nietzsche sieht 9 , steht als »Pessimismus der Zukunft« im Kontrast zum »romantischen Pessimismus« 10 . Die beiden Pessimismen repräsentieren für Nietzsche »zweierlei Leidende, einmal die an der U e b e r f ü l l e d e s L e b e n s Leidenden, welche eine dionysische Kunst wollen und ebenso eine tragische Ansicht und Einsicht in das Leben, – und sodann die an der Ve ra r m u n g d e s L e b e n s Leidenden, die Ruhe, Stille, glattes Meer, Erlösung von sich durch die Kunst und Erkenntnis suchen, oder aber den Rausch, den Krampf, die Betäubung, den Wahnsinn. Dem Doppelbedürfnis der L e t z t e r e n entspricht alle Romantik in Künsten und Erkenntnissen, ihnen entsprach (und entspricht) ebenso Schopenhauer als Richard Wagner […]« (FW 370-N)
Diese Passage macht deutlich, dass dionysische Kunst und die tragische Sicht auf das Leben zusammengehören und dionysische Erkenntnis nicht in dionysischer Kunst aufgeht. Die Verbindung von »Rausch und Leiden«, auf die Thomas Mann abhebt, unterlässt die Differenzierung in eine romantische und dionysische Variante, auf der Nietzsche besteht. Denn er stellt selbstkritisch fest, dass er früher die romantische Variante insbesondere bei Wagner missverstanden habe. Deswegen sei es nun umso wichtiger, seine dionysische Auffassung, die er als »klassisch« bezeichnet, dagegen zur Geltung zu bringen (FW 370-N). Insofern geht die Thematik des Leidens weit über eine rein persönliche Dimension hinaus und muss als tragische Einsicht in das Leben verstanden werden. Thomas Mann verkürzt Nietzsche, wenn er glaubt, Nietzsche sehe den Wert eines Menschen NB, Bd. 8, 375 (Juli 1888). Zu weiteren Differenzierungen vgl. W. Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, Berlin/Boston 2012, 465 ff. 10 Vgl. analog zum »Pessimismus der Sensibilität«: KSA, Bd. 13, 30. 9
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Nietzsche-Kritik und ästhetische Würdigung
darin, »wie tief einer leiden kann« (205). In der fraglichen Passage Nietzsches (JGB 270-N) geht es um den »Stolz des Auserwählten der Erkenntnis«, der sich in geistigem »Hochmuth und Ekel« von anderen Menschen abgrenzt, und um die Frage »was ist vornehm?«. So gesehen gehört die Thematik des Leidens in eine Phänomenologie der Vornehmheit: »Das tiefe Leiden macht vornehm; es trennt. Eine der feinsten Verkleidungsformen ist der Epicureismus und eine gewisse fürderhin zur Schau getragene Tapferkeit des Geschmacks, welche das Leiden leichtfertig nimmt und sich gegen alles Traurige und Tiefe zur Wehr setzt. Es gibt ›heitere Menschen‹ welche sich der Heiterkeit bedienen, weil sie um ihretwillen missverstanden werden – sie w o l l e n missverstanden sein […]. Woraus sich ergibt, dass es zur feineren Menschlichkeit gehört, Ehrfurcht ›vor der Maske‹ zu haben und nicht an falscher Stelle Psychologie und Neugierde zu treiben.« (JGB 270-N)
Die Leidensthematik gehört für Nietzsche zu einem dionysischen Bild des Menschen, bei dem es auch um ein »höheres fernsichtigeres Mitleiden« geht, denn »wir sehen, wie d e r M e n s c h sich verkleinert, wie ihr ihn verkleinert! – und es giebt Augenblicke, wo wir gerade e u r e m Mitleiden mit einer unbeschreiblichen Beängstigung zusehn […] Mitleid also g e g e n Mitleid! – Aber, nochmals gesagt, es giebt höhere Probleme als alle Lust- und Leid- und Mitleid-Probleme, und jede Philosophie, die nur auf diese hinausläuft, ist eine Naivetät.« (JGB 225-N)
Das dionysische Menschenbild beinhaltet die tragische Sicht auf das Leben, die Umwertung aller Werte sowie die dionysische Kunst. Der Stellenwert des Leidens im Rahmen dieser Konzeption geht daher über das von Thomas Mann in den Mittelpunkt gestellte Ästhetentum hinaus. Insofern kann mit Nietzsche gefragt werden: welcher »Instinkt« leitet Thomas Manns Sicht auf Nietzsche? Ich meine, es ist Thomas Manns Instinkt für Nietzsches geistigen Rang und ein Gefühl der ästhetischen Verwandtschaft für philosophisch-dichterische Wagnisse. Seine Nietzsche-Kritik
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Der »rettungsloseste Ästhet«: Nietzsche im Sog des Nationalsozialismus
formuliert er unter dem Druck der Zeitumstände so, dass er Nietzsche als unpolitischem und tragischem Ästheten gleichsam Absolution erteilen kann. In diesem Sinn charakterisiert er Nietzsches Persönlichkeit in Analogie zur lebensfernen Einsamkeit Zarathustras (223 f.). Auch später bleibt Nietzsche für ihn ein Humanist, dem es selbst »in seinen schrillsten und leidendsten Exzentrizitäten« noch um die »Erhöhung des Menschen« gehe. 11 Die wichtige Frage, wie Nietzsches Werk sich zur Politik verhält, kann durch diese Verschiebung auf die Person Nietzsches nicht beantwortet werden. Und dennoch: In der Tendenz kann man Thomas Manns wohlwollenden »Instinkt« auch auf die Ebene von Nietzsches Werk übertragen. Aus philosophischer Sicht erfordert das eine an systematischen Gründen orientierte Deutung. Dazu ist es hilfreich, philosophische Positionen, die Thomas Manns ästhetische Stilisierung Nietzsches beeinflussen, zu kommentieren. Solche Einflüsse sind die marxistische Nietzsche-Kritik von Georg Lukács in den 30er Jahren und Alfred Bäumlers exemplarische Nietzsche-Vereinnahmung im Nationalsozialismus. Thomas Mann versucht zwar, sich davon abzusetzen, doch unter dem Druck des Zeitgeschehens ist es ihm nicht möglich, sich von einigen Argumenten dieser Interpretationen zu lösen.
Meine Zeit (1950), Ess VI, 173. In diesem Kontext bestätigt Thomas Mann auch den oben gegen ihn – mit Nietzsche – festgehaltenen Bezug von Instinkt auf Intellekt: »[…] aus einem Instinkt, der bis ins Bewußtsein reichte, hielt ich fest an der mir eingeborenen bürgerlichen Überlieferung, dem Bildungsgut des 19. Jahrhunderts, mit dem sich in mir ein ausgesprochener Sinn für Größe verband.« Ebd., 169.
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Hintergrund: Georg Lukács und die »marxistische Scholastik«
5.2 Hintergrund: Georg Lukács und die »marxistische Scholastik« Auf die Nietzsche-Interpretationen von Georg Lukács und Alfred Bäumler gehe ich nur insoweit ein, als sie als Vorlagen für Thomas Mann erkennbar sind. 12 So beurteilt Thomas Mann einen Aufsatz von Lukács, in dem Nietzsche als Vorläufer des Faschismus kritisiert wird 13 , zu Recht als »scholastisch-marxistisch«, setzt sich jedoch mit dessen inhaltlichen Orientierungen nicht weiter auseinander. 14 Lukács diagnostiziert Nietzsches Werk als romantisch-reaktionäre Kulturkritik des Kapitalismus, die einen »militaristisch-imperialistischen Ausweg« aus der Krise der Zeit verfolge. Seine These ist, dass die bislang »zahme Barbarei« der kapitalistischen Moderne mit Nietzsche in eine neue Art von Barbarei überführt wird. Deren Leitbilder sind für ihn die »blonde Bestie« als Mythos der neuen Herren der Erde sowie die von Nietzsche genannten Machtmenschen der Renaissance wie Cesare Borgia. Die Kunst fungiere dabei als Mittel zur Höherentwicklung der Menschheit und das bedeute – so Lukács – »biologische Höherzüchtung« und »prinzipielle Verlogenheit als Fundament der Ästhetik«. Lukács sieht darin das Credo eines modernen Antirealismus, den er später als »Ästhetik des Irrationalismus« kritisiert und im Kontext seiner These von der Zerstörung der Vernunft weiter ausführt. 15 Den »Niveau-Unterschied« zwischen Nietzsches Werk und seinen faschistischen Adaptationen räumt Vgl. zur Kritik beider Autoren: M. Montinari, Nietzsche zwischen Alfred Bäumler und Georg Lukács, in: ders., Nietzsche lesen, Berlin/New York 1982, 169–206. 13 Tb,1935–1936, 210 (21. Nov. 1935). 14 G. Lukács, Nietzsche als Vorläufer der faschistischen Ästhetik (1934), in: ders., Probleme der Ästhetik, Werke Bd. 10, Neuwied/Berlin 1969, 307– 339. Zum Folgenden vgl. ebd., 314 f., 335 ff., 330 f., 14, 339. 15 G. Lukács, Die Zerstörung der Vernunft, Werke Bd. 9, Neuwied/Berlin 1962, Kap. 3: Nietzsche als Begründer des Irrationalismus der imperialistischen Periode. 12
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Der »rettungsloseste Ästhet«: Nietzsche im Sog des Nationalsozialismus
Lukács zwar ein, dennoch bleibt Nietzsche für ihn einer der »wichtigsten Ahnen des Faschismus«. Wie verzerrt auch immer Nietzsches Philosophie in dieser Deutung erscheint, so fällt auf, dass Thomas Manns Kritik an Nietzsche Parallelen zu Lukács aufweist. Das gilt für Thomas Manns Bezeichnung von Nietzsches Werk als »trunken-romantisches Poem« ebenso wie für seine Kritik am Primat des Instinkts gegenüber dem Intellekt. Die Analogie zu Lukács’ Irrationalismus-These ist offensichtlich. 16 Thomas Manns wie Lukács’ Nietzsche-Klischees (»blonde Bestie« etc.) verweisen auf einen zentralen Fehler, dessen Korrektur für eine Gesamtwürdigung Nietzsches von einiger Bedeutung ist (vgl. Kap. 7). Beide lassen den geschichtlich-genealogischen Kontext außer Acht und lesen Nietzsches drastische Formulierungen zur »blonden Bestie« als positive Identifikation. Entsprechendes gilt für Repräsentanten der Renaissance wie Cesare Borgia. Dagegen ist an der oft zitierten Textpassage zur »blonden Bestie« deutlich erkennbar, dass es sich bei ihr um ein Barbarentum handelt, das nach seiner Läuterung und Sublimierung im Prozess der Kultivierung Träger höherer Kultur ist: »Das tiefe, eisige Misstrauen, das der Deutsche erregt, sobald er zur Macht kommt, auch jetzt wieder – ist immer noch ein Nachschlag jenes unauslöschlichen Entsetzens, mit dem Jahrhunderte lang Europa dem Wüten der blonden germanischen Bestie zugesehen hat (obwohl zwischen alten Germanen und uns Deutschen kaum eine Begriffs-, geschweige eine Blutsverwandtschaft besteht).« (GM I, 11-N)
Vgl. ergänzend G. Lukács, Der deutsche Faschismus und Nietzsche (1943), in: ders., Schicksalswende, Berlin 1956, 26: »Das Ideal der Barbarisierung der menschlichen Instinkte geht als Leitfaden durch die ganze Entwicklung Nietzsches.« In einer Besprechung von Thomas Manns Aufsätzen, die dessen antifaschistische Haltung lobend anerkennt, wiederholt Lukács seine Nietzsche-Kritik und empfiehlt Thomas Mann, sein Nietzsche-Bild zu korrigieren: ders., Thomas Mann über das literarische Erbe (1936), ebd., 69–82, inbes. 80 f.
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Hintergrund: Georg Lukács und die »marxistische Scholastik«
Vornehme Rassen – seien sie römisch, arabisch, japanisch, germanisch oder griechisch – erregen eine Mischung aus Bewunderung und Furcht, die ihr geschichtliches Erbe ausmacht. Vor diesem Hintergrund platziert Nietzsche seine Zeitkritik und polemisiert gegen die Verkleinerung des Menschen zum »HeillosMittelmäßigen«, der nichts mehr zu fürchten habe: »wer möchte nicht hundertmal lieber sich fürchten, wenn er zugleich bewundern darf, als sich n i c h t fürchten, aber dabei den ekelhaften Anblick des Missrathenen, Verkleinerten […] nicht mehr los werden können?« (GM I, 11-N) Dieser »Verkleinerung und Ausgleichung des europäischen Menschen«, vor der Nietzsche warnt, setzt er jedoch nicht die Rückkehr zu altem Barbarentum entgegen, sondern fordert eine Neubestimmung der menschlichen Möglichkeiten unter Bedingungen des geschichtlichen Gewordenseins. Zu diesen Bedingungen gehört auch die »Vergeistigung der F e i n d s c h a f t « wie es in einer späten Schrift heißt. Das bezieht sich nicht nur auf die Auseinandersetzung mit dem Christentum, sondern auch auf die Politik (GD, Moral, 3-N). Nach Nietzsche muss das geschichtliche Herkommen beachtet werden, so dass auch ein nachchristliches Menschenbild nicht ohne seine Vorgeschichte zu denken ist. Diese Vorgeschichte wirke sich möglicherweise viel länger als gewünscht aus, denn der alte Gott könne noch lange »seinen Schatten« werfen (FW 108-N). Was Cesare Borgia angeht, so führt Nietzsches Wertschätzung der Kultur der Renaissance, die von Jacob Burckhardts Werk beeinflusst ist 17 , nicht dazu, in Cesare Borgia ein Vorbild zu sehen. Allerdings sei es die Aufgabe der Moralphilosophie, solche Menschen zu beachten und sich nicht nur an einem Menschenbild des »gemässigten Menschen« zu orientieren (JGB, 197-N). Darüber hinaus benutzt Nietzsche den Verweis auf Cesare Borgia polemisch, wenn er sich gegen Fehldeutungen J. Burkhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien [1860], Stuttgart 1988.
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seiner Schriften verwahrt und das Unverständnis seiner Zeitgenossen verspottet: »Wem ich ins Ohr flüsterte, er solle sich eher noch nach einem Cesare Borgia als nach einem Parsifal umsehn, der traute seinen Ohren nicht.« (EH, 300) Lukács ist die Ironie von Nietzsche entgangen. Dasselbe gilt für Nietzsches simulierte Inszenierung: »[…] ich sehe ein Schauspiel, so sinnreich, so wunderbar paradox zugleich, dass alle Gottheiten des Olymps einen Anlass zu einem unsterblichen Gelächter gehabt hätten – C e s a r e B o r g i a a l s P a p s t … Versteht man mich? … Wohlan, d a s wäre der Sieg gewesen, nach dem i c h heute allein verlange –: damit war das Christentum a b g e s c h a f f t !« (AC, 61-N)
Offenbar geht es Nietzsche um die reductio ad absurdum des Christentums, um die Betonung der Diesseitigkeit des Lebens und um die Demontage des Dogmas der Erbsünde, des »peccatum originale«. Cesare Borgia steht für den diesseitigen »Triumph des Lebens«. Mit Martin Luther, dem Kritiker des Papsttums, findet jedoch eine Erneuerung des Christentums statt. Damit, so Nietzsche, war die historische Chance zur »U m w e rt u n g d e r c h r i s t l i c h e n We r t h e «, die in der Renaissance bestanden hatte, vertan, so dass nun erneut der religionskritische Kampf aufgenommen werden müsse (AC, 61-, 62-N). Lukács’ Unterstellung der »gigantischen Niederträchtigkeit« von Nietzsches »Geschichtsmythos« erweist sich als politisch motiviertes Fehlurteil, das auf dem Hintergrund seiner marxistisch-ideologischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus zu werten ist. Auch wenn Thomas Mann die marxistische Sichtweise von Lukács nicht teilt, so respektiert er sie im Sinne seiner »Volksfront«-Idee, die Christentum und Kommunismus zusammenbringt, als solidarischen Beitrag im Kampf gegen den Nationalsozialismus (vgl. Kap. 5.1). Diese politischen Berührungspunkte erklären, warum Thomas Manns Eingehen auf Nietzsches Werk relativ undifferenziert bleibt. Hinzu kommt eine Vergleichbarkeit in den Denkansätzen 182 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
Hintergrund: Georg Lukács und die »marxistische Scholastik«
von Lukács und Thomas Mann, die ich aus systematischen Gründen hervorheben möchte. Denn bei aller Verschiedenheit sind beide auf der Suche nach einem Nexus zwischen Geist und Zeit. Lukács verwendet dazu das Instrumentarium des Marx’schen Basis-Überbau-Modells und verfolgt eine ideologiekritische Deutung Nietzsches aus Bedingungen der kapitalistischimperialistischen Entwicklung. 18 Thomas Mann sucht dagegen in den Quellen der deutschen Romantik und der Musik Wagners die geistige Verbindung zum Faschismus. Unter diesen Erklärungsansatz einer metapolitischen Übersteigerung und Verkehrung des Geistes stellt er auch seine Stilisierung Nietzsches im Faustus–Roman (vgl. Kap. 4). Im Nietzsche-Essay hält er daran fest und sieht in Nietzsches Ästhetentum die verhängnisvolle Verschränkung von deutschem Geist und NS. In beiden Fällen wird eine innere Verbindung von geistiger und gesellschaftlich-politischer Entwicklung konstruiert. Es ist aber zweifelhaft, ob diese mit der Kontingenz der Realgeschichte vereinbar ist. In anderen Worten: Sowohl das Erklärungsparadigma eines gesellschaftslogischen Nexus von Geist und Zeit als auch eines ideenlogischen Nexus zwischen Geist und Zeit scheinen für geschichtliche Prozesse solange fragwürdig, als sie nicht auch den Konstellationen geschichtlicher Kontingenz gerecht werden. Das bedeutet nicht, den Konflikt zwischen sozialen Klassen oder den Einfluss von geistigen Strömungen für geschichtliche Entwicklungen zu ignorieren. Doch im Interesse der Klarheit muss die uneingelöste Beweislast von Erklärungsparadigmen, die auf eine wie immer geartete »innere Logik« der Entwicklung abheben, benannt werden.
Lukács’ marxistisch-leninistische Orthodoxie wird besonders deutlich in der nachgelassenen Schrift: Wie ist die faschistische Philosophie in Deutschland entstanden? [1933], Budapest 1982. Dort zu Nietzsche insbes. 82 ff.
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Der »rettungsloseste Ästhet«: Nietzsche im Sog des Nationalsozialismus
5.3 Hintergrund: Der »fürchterliche« Alfred Bäumler Alfred Bäumler versteht Nietzsche als einen Wegbereiter des Nationalsozialismus. Diese Sicht ist Thomas Mann vertraut und lässt sich anhand seiner Bäumler-Lektüre gut verfolgen. 19 In seinem Nietzsche-Buch von 1931 erklärt Bäumler die Nachlassveröffentlichung Der Wille zur Macht (WzM) zum Hauptwerk Nietzsches und meint, darin ein »echtes philosophisches System« zu erkennen, das zwar fragmentarisch geblieben sei, doch von innerer Geschlossenheit zeuge. 20 Parallel dazu tritt Bäumler als Herausgeber von Nietzsches Schriften hervor. In der von ihm verfassten Einleitung kritisiert er die Kultur des bürgerlichen Europa. Im Ersten Weltkrieg sei diese Kultur, der Nietzsche bereits im Zarathustra durch seine Kritik des »letzten Menschen« als Vertreter einer »unheroischen demokratischen Kultur« eine Absage erteilt habe, zusammengebrochen. 21 Nach dem Vorbild Heraklits, der für Bäumler paradigmatisch für Nietzsches Griechentum steht, wird nun Zarathustra zum Gesetzesgeber der Zukunft und zum Verkünder des diesseitsorientierten heroischen Menschen, dem nordischen Menschen. Alfred Bäumler verfügt über eine umfassende Kenntnis der zu seiner Zeit zugänglichen Schriften Nietzsches. Seine Interpretation ist jedoch von der eigenen anti-westlichen und antibürgerlichen Haltung stark beeinflusst. So schließt er sich Anfang der 1930er Jahre dem von der NSDAP gegründeten »Kampfbund für deutsche Kultur« an und hat persönliche Begegnungen mit Hitler und Alfred Rosenberg. Es folgen seine Vgl. H. Lehnert, Kommentar: 19.2, 228 f. Zur Dokumentation des Verhältnisses von Th. Mann zu A. Bäumler: B-Doku. Erhellend auch: E. Heftrich, Nietzsches tragische Größe, Frankfurt/M. 2000, 198 ff. 20 A. Bäumler, Nietzsche, der Philosoph und Politiker, Leipzig 1931, 14. 21 A. Bäumler, Nietzsche. Einleitung zur Dünndruckausgabe von Nietzsches Werken, Leipzig 1930, wieder in: ders., Studien zur deutschen Geistesgeschichte, Berlin 1937, ebd., 245, 271. Zum Folgenden ebd., 260 ff. 19
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Hintergrund: Der »fürchterliche« Alfred Bäumler
Parteinahme für die NSDAP bei der Reichstagswahl 1932 und die spätere Tätigkeit im Amt Rosenberg während der NS-Herrschaft. In einem Aufsatz aus dem Jahr 1934 stellt er eine direkte Verbindung zwischen Nietzsches Philosophie und dem Nationalsozialismus her und grüßt Nietzsche darin mit ›Heil Hitler‹. 22 Thomas Mann sieht sich bereits bei der Abfassung seiner Pariser Rechenschaft zu einer Polemik gegen Bäumler veranlasst, da Bäumler Nietzsche ein tieferes Verständnis des tragischen Mythos abspreche. Hingegen lobt Bäumler die dem Geist der Heidelberger Romantik verbundene Sichtweise des Rechts- und Altertumshistorikers Johann Jakob Bachofen. Bachofen, der »Entdecker des Chthonismus der Antike«, sehe in der Gestalt der Mutter den »Schoß der mythischen Einheit des Menschengeschlechts«, während Nietzsche die Mysterien der Geschlechtlichkeit primär auf die männliche Schaffenskraft des Dionysos beziehe und in der Geburt der Tragödie auf fragwürdige Weise mit Wagners Musik assoziiere. 23 Diese Mythos-Interpretation geht Thomas Mann »über die Hutschnur«, weil Bäumler Nietzsche an Bachofen misst 24 und eine These vertritt, die im Gegensatz zu Thomas Manns Auffassung des Verhältnisses von Mythos und Psychologie steht. Diesem Verhältnis widmet er eine eigene Aufarbeitung im Roman Joseph und seine Brüder. 25 Mit Bezug auf die besondere politische Konstellation der Zeit veröffentlicht Thomas Mann die Pariser Rechenschaft, das Resumée seiner Paris-Reise im Jahr 1926, die der Annäherung an A. Bäumler, Nietzsche und der Nationalsozialismus, in: ders., Studien, a. a. O., 281–294. 23 B-Doku, 144 ff. Zur Einordnung von Bachofen in die Heidelberger Romantik vgl. Bäumler, Von Winckelmann zu Bachofen, in: ders., Studien, a. a. O., 99–219. Beide Quellen beruhen auf Bäumlers Einleitung in die Werke Bachofens von 1926. 24 Brief an Ph. Witkop, 2. Apr. 1926, B-Doku, 151. Ebenso später: B-Doku, 167. 25 Vgl. H. Kurzke, Epoche, a. a. O., 181 f., 334 f., B-Doku, 170 ff. 22
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Frankreich und dessen Kultur gilt. Dabei nimmt er Abstand von seiner früheren polemischen Gegenüberstellung von deutscher Kultur und französischer Zivilisation (15,1, 1145 f.) und beschäftigt sich mit der Frage, wie eine Einigung Europas erreicht werden kann, die er für »bare Notwendigkeit« hält (15.1, 1127 ff.). Da für ihn die Demokratie die Gefahr der Demagogie beinhaltet, fragt er sich, ob nicht eine »aufgeklärte Diktatur« für Europa das Bessere sei (15.1, 1134). Doch bei einem Theaterbesuch irritiert ihn der Applaus des Pariser Publikums für die antidemokratischen Pointen so sehr, dass er eine grundsätzliche Klärung für notwendig hält: »Die Forderung, die schon Nietzsche an Deutschland stellte, nämlich endlich in politicis etwas Neues zu erfinden, ist heute für alle Nationen dringlich geworden. Der Weg ins Vordemokratische zurück ist jedoch ungangbar.« (15.1, 1158)
Auf diesem Weg ins Vordemokratische sieht Thomas Mann auch Bäumlers Einleitung zur Würdigung der Leistung Bachofens. Die Eindringlichkeit, mit der Bäumler die Einsichten Bachofens darlege, seien geprägt von dem »großen ›Zurück‹, von der mütterlich-nächtlichen Idee der Vergangenheit« (15.1, 1159). Darin sieht Thomas Mann die Wiederbelebung des Dualismus von Humanität und Nationalität. Bäumlers Ansatz könne der völkischen Reaktion als pseudo-revolutionärer Vorwand dienen und artikuliere mehr den reaktionären Geist von München als den von Heidelberg. Für Thomas Mann enthält Bäumlers geistesgeschichtliche Untersuchung eine »stille Insinuation« zur Tagespolitik (15.1, 1159), die ihn dazu provoziert, erneut mit Nietzsche an das Zukunftsprojekt »Humanität« zu appellieren: »Nicht an Bachofen und seine Grabessymbolik knüpft das wahrhaft Neue an, das jetzt werden will, sondern an das heroisch-bewunderungswürdigste Ereignis und Schauspiel der deutschen Geistesgeschichte, an die Selbstüberwindung der Romantik in Nietzsche und durch ihn; und nichts ist gewisser, als dass in die Humanität von mor-
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gen, die nicht nur ein Jenseits der Demokratie, sondern auch ein Jenseits des Faschismus wird sein müssen, Elemente eines Neu-Idealismus eingehen werden, stark genug, um dem Ingrediens romantischer Nationalität die Waage zu halten.« (15.1, 1162)
Damit setzt Thomas Mann seine früheren Überlegungen fort, mit Nietzsche einen Beitrag zur politischen Neugestaltung eines humanen Deutschland zu leisten (vgl. Kap. 2). Der Pariser Kontext forciert Thomas Manns Suche nach etwas Neuem »in politicis« auch in einem europäischen Rahmen. Zugleich wird das Problem einer postfaschistischen Politik deutlich, die einerseits nicht ins Vordemokratische zurückfallen, andererseits aber ein »Jenseits der Demokratie« ergeben soll. Das Jenseits der Demokratie bleibt bei Thomas Mann ähnlich unbestimmt wie die Realisierung des nietzscheanischen Wegs einer deutschen Demokratie. Für beide gilt die Leitidee, dass die demagogischen Verführungen der Massendemokratie durch elitäre Maßstäbe eingedämmt werden müssen. Diese Leitidee zeigt sich in der Verbundenheit der deutschen Hochkultur mit der Demokratie: »Ich verstehe Demokratie nicht hauptsächlich als einen Anspruch und ein Sich-gleich-stellen von u n t e n , sondern als Güte, Gerechtigkeit und Sympathie von o b e n . Ich finde es nicht demokratisch, wenn Mr. Smith oder little Mr. Johnson Beethoven auf die Schulter schlägt und ruft: ›How are you, old man!‹ Das ist nicht Demokratie, sondern Taktlosigkeit und Mangel an Sinn für Distanz. Wenn aber Beethoven singt: ›Seid umschlungen, Millionen, diesen Kuß der ganzen Welt!‹, d a s ist Demokratie. Denn er könnte sagen: ›Ich bin ein großer Genius und etwas ganz Besonderes, die Menschen aber sind mob‹; […] Statt dessen nennt er sie alle Brüder und Kinder eines Vaters im Himmel, der auch der seine ist. Das ist Demokratie in ihrer höchsten Form, die fern ist von Demagogie und schmeichlerischer Umwerbung der Massen. Von jeher habe ich es mit dieser Art von Demokratie gehalten […]« 26
In dieser Überhöhung von Demokratie findet sich Nietzsches Pathos der Distanz und Beethovens Menschheitsuniversalismus 26
Schicksal und Aufgabe (1943), Ess V, 232 f.
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wieder. Es ist das Ideal einer Synthese von qualitativer Rangordnung und formaler Gleichheit. Das schließt jedoch keineswegs aus, auf die jeweiligen politischen Umstände pragmatisch zu reagieren. In seiner Deutschen Ansprache fordert Thomas Mann mit Nietzsche »in politicis etwas Neues und Originales zu erfinden« und vermisst konkrete Gegenvorschläge zur parlamentarischen Verfassung. In realistischer Einschätzung der Lage gibt er dem demokratischen Parlamentarismus den Vorzug vor der sozialistischen Klassendiktatur oder dem italienischen Mussolini-Cäsarismus (vgl. Ess III, 265 und Kap. 2). Für Thomas Manns politisches Denken ist die Spannung zwischen seiner Erwartung an die kulturell fundierte Demokratie und dem Alltag demokratischer Verfassungsstaaten charakteristisch. Das sensibilisiert ihn gegen Versuche, die existierenden Demokratien durch fragwürdige Alternativen zu ersetzen. In seiner Pariser Rechenschaft finden sich Überlegungen zu einer höheren politischen Ordnung »jenseits der Demokratie«, die ihn hellhörig machen gegenüber Tendenzen, die diese Ordnung in völliger Abkehr von den westlichen Demokratien anstreben und dabei rückwärtsgewandte Ziele verfolgen. Das ist der Hintergrund für Thomas Manns Polemik gegen Bäumlers »Obskurantismus«. Im Sinn einer »Renaissance des Liberalismus« setzt er dagegen auf einen »europäischen Pazifismus« (15.1, 1174, 1194, 1187). Auch wenn die Kritik an Bäumler zum damaligen Zeitpunkt (1926) politisch überzogen ist, da sie das komplexe Thema des Mythos ohne Differenzierung ins Politische übersetzt, so besteht die Ironie der Geschichte darin, dass Thomas Mann sich durch die spätere Entwicklung Bäumlers bestätigt sehen kann. Denn Bäumler wird Parteigänger des »revolutionären Obskurantismus«, dessen kommendes Unheil Thomas Mann mit »quälender Klarheit« voraussieht. 27 Daher sieht Thomas Mann auch keinerlei Anlass, seine in der Sache problematische Kritik an Bäumler später zu modifizieren: B-Doku, 179 ff., 213 f. Detailliert zur Mythos-Problematik im Kontext von Bäumler und
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Seine Kritik an Bäumlers Nietzsche-Interpretation schließt jedoch nicht aus, dass er inhaltliche Anleihen bei Bäumler macht. Bäumler schreibt Ende der 1920er Jahre seine Deutung zu Bachofen und Nietzsche fort und betont deren kritische Haltung gegenüber bürgerlichen Wertvorstellungen. Bäumler sieht bei Bachofen die »Entwurzelung der Ethik des Bürgertums«. Denn er stelle die bürgerliche Versittlichung der Naturgewalten am Beispiel des Geschlechtstriebs und der Ethisierung der Ehe in Frage. Nietzsche hingegen verabschiede in der »Entdeckung des Agons« und in dem heraklitischen Heroismus die bürgerliche Moral und ihren gesellschaftlichen Harmonismus. 28 Bäumlers Ressentiment gegen die unheroische Zivilität einer demokratischen Kultur bleibt bestimmend. Sein Argument, Nietzsche sei kein »sensitiver Ästhet oder Künstler«, sondern ein Mensch von großer innerer Stärke, der als existenzieller Denker für eine andere Welt kämpfe, liest sich wie die vorweggenommene Gegenthese zu Thomas Mann. 29 In diesen Kontext gehört auch ein politisch motivierter Angriff Bäumlers gegen Thomas Mann. Bäumler entwickelt die Konzeption eines »deutschen Männerbunds«, in der er die bürgerliche Lebensform denunziert und Thomas Mann zu ihrem Repräsentanten erklärt. Zugleich bezieht sich Bäumler auf Thomas Manns Republikrede und missversteht dessen an Walt Whitman angelehnte homoerotisch getönte Erotik der Demokratie (vgl. Kap. 2, Anm. 8) als anti-kriegerische Vorherrschaft der »Weiber«. Daran schließt er das Verdikt, dass Demokratie in Deutschland nicht gedeihen könne. In einem Vortrag kritisiert Bäumler Thomas Manns Pariser Rechenschaft als Beispiel für die Verhaftetheit in einer urbanen Welt der materiellen Konsumkultur und stellt ihr die
Bachofen: M. Dierks, Studien zu Mythos und Psychologie bei Thomas Mann, TMS, Bd. 2, Bern/München 1972, inbes. Kap. IX, X. 28 A. Bäumler, Bachofen und Nietzsche (1929), in: ders., Studien, a. a. O., 220–243, insbes. 229 ff., 237 ff. 29 Ders., Nietzsche, in: Studien, a. a. O., insbes. 260 ff.
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auf Staat und Arbeit konzentrierte Lebensform des Mannes gegenüber. 30 Es verwundert auch nicht, dass das Berliner Tageblatt Bäumlers Nietzsche-Buch von 1931 mit der Notiz »Nietzsche als Faschist« ankündigt. Wenn Bäumler sich rückblickend gegen diese Zuschreibung verwahrt, weil er damals »fern aller Politik« gewesen sei 31 , so kann das kaum überzeugen. Vielmehr enthalten seine Bachofen- und Nietzsche-Studien sowie seine Vorträge einen politisch-kulturellen Subtext, den er nach der nazistischen Machtergreifung selbstbewusst explizit macht. 32 Was das Nietzsche-Buch betrifft, an dem sich Thomas Mann – bei aller Kritik – im Vorfeld seines Nietzsche-Essays orientiert, so wird in dessen Epilog die politische Einordnung, die Bäumler mit Nietzsches Philosophie vornimmt, deutlich: »Wie richtig haben unsere Feinde während des Weltkriegs das Germanische in Nietzsche empfunden. Sie sahen in seinem Werk ein Attentat auf die ›christliche Kultur‹, d. h. auf eine wohlbewährte Verbindung von Evangelium und Geschäft; […] sie empfanden den Siegfriedangriff auf die Urbanität des Westens. Der unversöhnliche Gegner jener abendländischen Zivilisation, die uns im Jahre 1914 den Krieg erklärt hat – das ist Nietzsche. […] Deutschland kann weltgeschichtlich nur unter der Form der Größe existieren. Es hat nur die Wahl, die anti-römische Macht Europas zu sein, oder nicht zu sein. Wenn es sich der Zivilisation des Westens einordnet, unterwirft es sich Rom; wenn es seine germanische Abkunft vergißt, verfällt es dem Osten. Der Schöpfer eines Europa, das mehr ist als eine römische Kolonie, kann nur das nordische Deutschland sein, das Deutschland Hölderlins und Nietzsches. Nicht neben Bismarck gehört Nietzsche, er gehört in das Zeitalter des Großen Krieges. Der deutsche Staat der Zukunft wird nicht eine Fortsetzung B-Doku, 175–177: Texte aus den Jahren 1930, 1929. B-Doku, 250. Dort auch die Insinuation, als habe Thomas Manns Annäherung an die »Entente Cordiale« ihn zur anti-westlichen Haltung getrieben. 32 So heißt es im Vorwort zu Männerbund und Wissenschaft (Berlin 1934): »Das Politische liegt nicht im Gegenstand der Reden, sondern wird dahinter sichtbar […] Jeder der vorgetragenen Gedankengänge hatte eine unmittelbare politische Beziehung.« 30 31
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der Schöpfung Bismarcks sein, sondern er wird geschaffen werden aus dem Geist Nietzsches und dem Geist des Großen Krieges.« 33
Bäumlers Absage an die westliche Zivilisation und sein Pathos der Erneuerung Deutschlands aus dem Geist des Ersten Weltkriegs stimmen mit Grundthesen des Nationalsozialismus überein. Nietzsches Philosophie wird dafür in Anspruch genommen, so dass nicht nur Thomas Mann in Bäumler den »Nazi-Nietzsche« sieht 34 , sondern auch das Berliner Tageblatt diese Tendenz erkennt. 35 Bäumlers Nietzsche-Buch interessiert hier nur insoweit, als es – analog zu Lukács – deutliche Spuren in der Nietzsche-Deutung Thomas Manns hinterlassen hat. Zunächst ist festzustellen, dass Bäumlers Diagnose von Nietzsches Atheismus und dessen anti-cartesianische Betonung der Leiblichkeit des Menschen zutrifft. Das deutet er jedoch als prinzipiellen »Kampf gegen das Bewußtsein« sowie als Leugnung der Unterscheidung von ›Gut‹ und ›Böse‹ in moralisch-praktischer Hinsicht. 36 In der »Unschuld des Werdens« thematisiert Bäumler die Entfaltung des Lebens als einen aus dem Vorbewussten kommenden ständigen Kampf, in dem sich der Wille zur Macht ausdrückt und Herrschaftsverhältnisse schafft: »Die wahre Ordnung entsteht aus den Herrschaftsverhältnissen, die der Wille zur Macht hervorbringt. Human, fügen wir hinzu, ist eine Welt, in der die Rangordnung gilt, nicht eine Welt, in der moralische Begriffe das Wort führen. Inhuman ist lediglich das Chaos. Die Herrschaft der Toleranz und der moralischen Ideen, der Vernunft und des Mitleids, kurz der ›Humanität‹, führt zur I n h u m a n i t ä t .«
A. Bäumler, Nietzsche, Philosoph, a. a. O., 182 f. Brief an Emrich, 20. 6. 1932: B-Doku, 178. Vgl. Kap. 2.4. 35 Zur Kritik der Nietzsche-Vereinnahmungen im Ersten Weltkrieg vgl. Kap. 1 und ausführlicher: R. Zimmermann, Nietzsche 1914, a. a. O. 36 A. Bäumler, Nietzsche, Philosoph, a. a. O., 54 ff. Zum Folgenden ebd. Das Zitat: 72 f. Zu Nietzsche als Politiker, ebd., Teil II. 33 34
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Bäumler liefert damit Vorlagen für Thomas Manns NietzscheKritik, an der Verdrängung des Intellekts zugunsten des Instinkts und dem falschen Verhältnis von Moral und Leben (vgl. Kap. 5.1). Bäumler unterschlägt aber, dass Nietzsche das Problem der Rangordnung in moralischen Begriffen bestimmt (vgl. Kap. 3). So ist der Protest, den Thomas Mann gegen den Verlust der Moral bei Nietzsche vorbringt, im Grunde eine Kritik am »Nazi-Nietzsche« Bäumlers. Besser verständlich wird damit auch Thomas Manns Schwierigkeit, eine differenzierte Sicht auf Nietzsche zu bewahren. Wie intellektuell und durch politische Umstände auch immer vermittelt, stehen sich in Bäumler und Thomas Mann zwei Grundhaltungen gegenüber, die zu unterschiedlichen Nietzsche-Deutungen führen. Für Thomas Mann ist Nietzsches Philosophie ein unverzichtbares Ingrediens der bürgerlichen Kultur, die sich für die Demokratie öffnet und die Arbeiterklasse integriert. Für Bäumler ist Nietzsche der Antipode, der zur Überwindung eben dieser Kultur beiträgt und mit dem Willen zur Macht dem existenziellen Heroismus den Weg zur politischen Tat weist. 37 Thomas Mann stilisiert Nietzsche als herausragenden Überwinder der Romantik und ästhetisches Genie, ja als »Künstler-Märtyrer« 38 . Später räumt er allerdings ein, dass ihm mit seinem Nietzsche-Vortrag kein würdiges Gegenstück zu seinem Wagner-Essay gelungen sei (vgl. Kap. 2.4, Anm. 50). Die Begründung dafür ist aufschlussreich: »Schuld war die historische Stunde, in der ich schrieb, und die In dem späteren Aufsatz heißt es holzschnittartig: »An die Stelle der bürgerlichen Moralphilosophie setzt Nietzsche die P h i l o s o p h i e d e s W i l l e n s z u r M a c h t , d. h. die Philosophie der P o l i t i k .« In: Studien, a. a. O., 292. Ausführlicher zu den Verkürzungen, die Bäumler an Nietzsche vornimmt: M. Riedel, Nietzsche in Weimar. Ein deutsches Drama, Leipzig 1997, Kap. 3. Dazu auch die kontroversen Nietzsche-Deutungen im Kontext des NS und die »Gleichschaltung« des Nietzsche-Archivs durch Elisabeth Förster-Nietzsche: ebd., Kap. 4. 38 So in einem Brief an Walter A. Kaufmann, dessen Nietzsche-Buch er als »Abtrennung Nietzsches von der Nazi-Bäumler-Welt« lobt, aber neben Nietzsche als Denker den Künstler-Märtyrer vermisst: B-Doku, 216. 37
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Hintergrund: Der »fürchterliche« Alfred Bäumler
meine Kritik schärfte, aber von Wissen und Gefühl vieles vergessen ließ.« 39 Trotz alle Probleme seiner ambivalenten Deutungen zu Nietzsche bewahrt sich Thomas Mann in einer schwierigen Zeit die Fähigkeit zu einer differenzierten Sicht: »Die national-sozialistische Verballhornung seiner Philosophie, wie sie etwa durch den fuerchterlichen Alfred Bäumler geschah, war mir ein wahrer Schrecken. Aber auch die sehr primitive Kritik, die etwa von literarisch-kommunistischer Seite heute an ihm geuebt wird, kann ich unmöglich als gueltig anerkennen, weil sie der vielfachen Facettierung seines Wesens so wenig gerecht wird.« 40
Dass man Nietzsches Werk noch weit produktivere Aspekte abgewinnen kann, wird im Folgenden zu zeigen sein. Dabei geht es weniger um Gefühl als um ein Wissen, dessen Aneignung für Thomas Mann nicht mehr möglich war.
39 40
Brief an H. E. Hinderks, 4. 6. 1948: Reg III, 479 f. Brief an Louis Leibrich, 10. 8. 1946, B-Doku, 186.
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6. »Nicht Nietzsche hat den Fascismus gemacht, sondern der Fascismus ihn«
Thomas Manns Nietzsche-Essay enthält eine aufschlussreiche Passage, die dazu anregt, das begriffliche Potenzial von Nietzsches Philosophie zur Deutung des 20. Jahrhunderts einzusetzen. Ich beginne mit der Erläuterung von Thomas Manns obiger These (Kap. 6.1) und führe sie zu einer nietzscheanischen Diagnose des 20. Jahrhunderts fort (Kap. 6.2). Die anschließende historisch-normative Analyse der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts stützt Nietzsches vergleichende Moralphilosophie (Kap. 6.3) und fragt nach Optionen menschlicher Transformation unter Bedingungen von historischer Erfahrung (Kap. 6.4).
6.1 Thomas Mann: Nietzsche als Seismograph des 20. Jahrhunderts In seinem Nietzsche-Essay reagiert Thomas Mann auf den Vorwurf, Nietzsche sei ein »Schrittmacher, Mitschöpfer und Ideensouffleur des europäischen –, des Welt-Fascismus gewesen«. Dagegen lautet sein Votum: »Unterderhand bin ich geneigt, hier Ursache und Wirkung umzukehren und nicht zu glauben, daß Nietzsche den Fascismus gemacht hat, sondern der Fascismus ihn, – will sagen: politikfern im Grunde und unschuldig-geistig hat er als sensibelstes Ausdrucks- und Registrierinstrument mit seinem Macht-Philosophem den heraufsteigenden Imperialismus vorempfunden und die fascistische Epoche des Abendlandes, in der wir leben und trotz dem militärischen Sieg über den Fascismus noch lange leben werden, als zitternde Nadel angekündigt.« (19.1, 215)
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Thomas Mann: Nietzsche als Seismograph des 20. Jahrhunderts
Das ist eine der originellsten Passagen des Nietzsche-Essays, die Thomas Manns Fähigkeit zeigen, das Geist-in-der-Zeit-Problem gegen dominante Strömungen zu reflektieren. Diese Passage passt zu der antizipatorischen Sensibilität der Kunst Adrian Leverkühns (vgl. Kap. 4.3, 4.4) und wird durch Thomas Manns Kommentar zum Roman unterstrichen. In Anknüpfung an Georg Lukács, der ihm und seinem Bruder Heinrich Mann attestiert hatte, in ihren Werken Gefahren der Zeit »signalisiert« zu haben, erklärt er, der Begriff des Signalisierens sei von »erster Wichtigkeit«: »Der Dichter (und auch der Philosoph) als Melde-Instrument, Seismograph, Medium der Empfindlichkeit, ohne klares Wissen von dieser seiner organischen Funktion und darum verkehrter Urteile nebenher durchaus fähig, – es scheint mir die einzig richtige Perspektive.« (19.1, 513)
Bei allem Provisorischen, das dem Gedanken, Nietzsche als Seismographen des 20. Jahrhundert zu lesen, anhaften mag, so liegt darin doch eine wegweisende Perspektive, mit der die diagnostischen Potenziale von Nietzsches Philosophie in den Vordergrund rücken. 1 Nicht minder herausfordernd erscheint Thomas Manns Einschätzung, mit der militärischen Niederlage NaziDeutschlands sei keineswegs das Ende der faschistischen Epoche gekommen. Um mit dem Letzteren zu beginnen: Für Thomas Manns Einschätzung sind zwei sehr unterschiedliche Kontexte zu berücksichtigen. Der erste betrifft die diffamierende Kritik, die ihm nach 1945 von Seiten derer entgegenschlug, die sich als Vertreter der »inneren Emigration« vom NS freizusprechen suchten. Der zweite Kontext verweist auf Anstöße aus der Gesellschaftstheorie von Theodor W. Adorno.
Vgl. die Bekräftigung von Thomas Manns Perspektive bei: R. Reschke, Denkumbrüche mit Nietzsche. Zur anspornenden Verachtung der Zeit, Berlin 2000, 390.
1
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»Nicht Nietzsche hat den Fascismus gemacht, sondern der Fascismus ihn«
»Es ist das alte Nazi-Land und wird es bleiben.« 2 Aus diesem Satz spricht Thomas Manns Enttäuschung über den gegen ihn gerichteten Vorwurf, nur wer in Deutschland geblieben sei, habe das moralische Recht, über die jüngste Vergangenheit zu urteilen. Dahinter steht die restaurative Vergangenheitspolitik derer, die sich mit dem NS-Regime eingelassen oder zumindest vorübergehend sympathisiert haben. Sie bezweifeln Thomas Manns Patriotismus und unterstellen ihm eine amerikanische Untertanengesinnung. Dass die Aberkennung seiner deutschen Staatsbürgerschaft der Annahme seiner amerikanischen Staatsbürgerschaft vorausgeht, wird – im Tenor der nazistischen Identitätspolitik – in eine Illoyalität gegenüber Deutschland umgedeutet. Die Schriftsteller, die sich als Vertreter der »inneren Emigration« stilisieren, tragen durch ihre Intrige dazu bei, dass Thomas Mann davon absieht, nach Deutschland zurückzukehren. 3 Es wird ihm vorgeworfen, eine pauschale Kollektivschuldthese zu vertreten, während er tatsächlich – ähnlich wie Karl Jaspers – die Gesamtverantwortung Deutschlands hervorhebt und dafür plädiert, der Befreiung von außen eine innere Umkehr folgen zu lassen, welche die Chance biete, in den humanen Kreis der Menschheit zurückzukehren. 4 Damit vertritt er bereits 1945 eine Position, die in der Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker 40 Jahre später offizielle Einsicht wird. Wegen ihrer unübertroffenen Relevanz greift sie 60 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs Außenminister Joschka Fischer anlässlich Brief an Erich Kahler, 13. 2. 1946: BrEvK, 96. Ich folge der überzeugenden Darstellung und Analyse von H. R. Vaget, Thomas Mann, der Amerikaner, Frankfurt/Main 2012 (2. Aufl.), 479–502. Zu Recht erweitert Vaget seine Kritik an Vertretern der »inneren Emigration« zur Kritik an Vorurteilen, die im Kontext von Thomas Manns Exilantenstatus zu sehen sind (495 ff.). Hierzu gehören das Klischee vom politisch ahnungslosen »unwissenden Magier« (Joachim Fest) ebenso wie die ihm als Emigrant zu Unrecht unterstellte Kollektivschuldthese. Insgesamt zur politischen Würdigung Thomas Manns vgl. Kap. 7. 4 Die deutschen KZ, Ess VI, 11–13. Vgl. Karl Jaspers, Die Schuldfrage [1946], München 1965. 2 3
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Thomas Mann: Nietzsche als Seismograph des 20. Jahrhunderts
seines Bekenntnisses zur historischen Verantwortung für die Zeit des Deutschen Reichs unter Hitler auf. 5 In einem Brief an Adorno bekräftigt Thomas Mann, dass ihn »keine zehn Pferde« nach Deutschland bringen könnten, weil ihm der Geist des Landes widerwärtig sei. 6 Adorno wiederum hebt aus Anlass einer späteren Lesung von Thomas Mann in Frankfurt hervor, dass sich dieser von »der Rolle des Sündenbocks, die der fortschwelende Nationalismus« ihm zuschreibe, nicht beirren lasse und eine versöhnliche Humanität zeige. 7 Die Übereinstimmung mit Adorno zeigt sich jedoch nicht nur in der Ablehnung des fortbestehenden Gedankenguts der NS-Zeit. Im Zug der musiktheoretischen Zusammenarbeit bei der Abfassung des Doktor Faustus macht sich Thomas Mann auch mit Grundzügen von Adornos Kultur- und Gesellschaftskritik vertraut. Zusätzlich zu seinen Erfahrungen kann er so auf strukturelle Analysen von Adorno und Horkheimer zu faschistischen Tendenzen in modernen Gesellschaften – auch am Beispiel der USA –, die sich in der Dialektik der Aufklärung finden, zurückgreifen. 8 In diesem Zusammenhang genügt es, an den Grundansatz und die Kulturkritik der Dialektik der Aufklärung zu erinnern. Der zentrale Gedanke 9 ist die Kritik der Aufklärung als Natur10. Mai 2005 bei der Übernahme des Leo Baeck Preises. Nachzulesen über: www.zentralratjuden.de/de/article/288.html. Letzter Zugriff: 27. 4. 2017. 6 BrThWA, 67: 1. 7. 1950. 7 Adorno, Imaginäre Begrüßung, a. a. O., 468, Okt. 1952. 8 Zu Belegen für die Lektüre vgl. Tb, 1944–1946, 110 f., Okt. 1944. Dort ist von »Philosophischen Fragmenten« die Rede, die dem ursprünglichen Titel der Dialektik der Aufklärung entsprechen (New York, Institute for Social Research, 1944) und später Untertitel werden. Neuausgabe mit Vorwort der Autoren und Nachwort von Jürgen Habermas, Frankfurt/M., 1969/1986. Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe. Vgl. das Nachwort zur Angabe der Autorenschaft für einzelne Abschnitte. 9 Vgl. zum Folgenden das Eröffnungskapitel Begriff der Aufklärung, 9–49; Kulturindustrie, 128–176. 5
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»Nicht Nietzsche hat den Fascismus gemacht, sondern der Fascismus ihn«
beherrschung, durch die neue Zwänge von Herrschaft unter dem Primat technischer und ökonomischer Rationalität geschaffen werden, die zu einer fortschreitenden Verdinglichung und Entfremdung in modernen Gesellschaften führen. Die kapitalistisch strukturierten Gesellschaften stehen unter der Dominanz von »instrumenteller Vernunft« (Max Horkheimer). 10 Dieses auf Zweck-Mittel-Rationalität eingeschränkte Denken entzieht sich einer Konzeption von Vernunft, die auf objektiv begründbaren menschlichen Zwecken besteht. Das Individuum wird immer mehr Gegenstand technisch-ökonomischer Beherrschung und Manipulation, so dass verschiedene Varianten gesellschaftlicher und individueller Regression entstehen, die Ausdruck einer selbstzerstörerischen Aufklärung sind. Der Nationalsozialismus ist nur eine Ausprägung in einer internationalen Gesamtentwicklung. Insofern unterliegt auch eine Gesellschaft wie die USA der faschistischen Bedrohung. Diesen Leitgedanken führt Adorno in seiner Kritik der Kulturindustrie fort, in der er – insbesondere mit Blick auf die USA – eine völlige Vereinnahmung der Massenkultur (Film, Radio, Magazine) durch staatenumspannende Konzerne konstatiert, die zu »ästhetischer Barbarei« führt. Als Folge ergibt sich eine durchgängige Nivellierung, so dass die Menschen zu austauschbaren Exemplaren in einer gleichermaßen ökonomischen wie kulturellen Einöde werden. Sein Fazit lautet: »Die Liquidation der Tragik bestätigt die Abschaffung des Individuums.« In diesem Satz kommt zum Ausdruck, dass Adornos Gesellschaftsund Rationalitätskritik nicht nur von der Marx’schen Entfremdungstheorie, sondern auch von Nietzsches Monitum zum Verlust des Tragischen in der modernen Gesellschaft der »Gleichmacherei« beeinflusst wird (vgl. Kap. 3, 5). Es ist angemessen, diesen Begiff Horkheimers hier zu verwenden, der dem Titel der deutschen Version seiner Eclipse of Reason (1944) entspricht: M. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt/M. 1967. Der Sache nach ist die Kritik der Zweckrationalität qua instrumenteller Vernunft in der Dialektik allgegenwärtig.
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Thomas Mann: Nietzsche als Seismograph des 20. Jahrhunderts
Die Erinnerung an Adornos und Horkheimers gesellschaftstheoretische Einordnung des Faschismus zeigt, dass Thomas Mann sich an Begrifflichkeiten und Deutungen zu orientieren versucht, die ihm eine Einordnung von Nietzsches Philosophie in die »nachbürgerliche Zeit« des Faschismus ermöglichen. Solche Bezüge auf übergreifende gesellschaftstheoretische oder politische Begriffsfelder haben offenbar auf ihn einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. 11 So kommentiert Thomas Mann die Entwicklung unter der McCarthy-Ära in den USA in Anlehnung an Adornos Vokabular als »bereits faschistisch« und lobt soziologische Untersuchungen zu McCarthy und dem »amerikanischen Faschismus«. 12 Im Rahmen der übergreifenden Faschismus-Thematik dient Adornos Kulturkritik Thomas Mann dazu, Nietzsche in Distanz zum Faschismus zu setzen. Denn analog zu Adorno heißt es: »Der Fascismus als Massenfang, als letzte Pöbelei und elendestes Kultur-Banausentum, das je Geschichte gemacht hat, ist dem Geist dessen, für den alles sich um die Frage ›Was ist vornehm?‹ drehte, im Tiefsten fremd […]« (19.1, 216)
Nietzsches »Macht-Philosophem« verlangt jedoch nicht nur einen kulturkritischen Kommentar. Auch Thomas Mann, der versucht, Nietzsches Willen zur Macht in dessen Ästhetentum
Es ist außerdem bemerkenswert, dass bereits die Dialektik der Aufklärung Hinweise zur Sonderstellung der Kunst enthält, die darin bestehen, dass »authentische Kunstwerke« sich dem dominierenden Gesellschaftszwang entziehen und dem Warencharakter zu trotzen vermögen (24, 166), eine Gedankenfigur, die auf Adornos Musikphilosophie zurückgeht und später in seiner ästhetischen Theorie weiter entfaltet wird. Vgl. Kap. 8.1.2. 12 BrThWA, 141, 8. 3. 1954; Tb, 1953–55, 171 f.: 18. 1. 1954. Mit Bezug auf einen gegen McCarthy gerichteten Artikel von Walter Lippmann, der dessen »Totalitarismus« kritisiert, heißt es, ebd., 189, 2. 3. 1954: »Findet sich nicht ein braver junger Mensch, der McCarthy erschießt, so steht es um Amerika schlimmer als um Deutschland. Und das will die Welt retten und führen!« 11
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politisch zu neutralisieren, beschäftigt dennoch die Frage nach der politischen Relevanz von Nietzsches Philosophie weiter. Jedoch unterlässt er es, der Begriffsbildung des Willens zur Macht differenziert nachzugehen. Zwar kann er sich den auf Nietzsche lastenden Faschismus-Zuschreibungen nicht völlig entziehen (vgl. Kap. 5), sieht aber die Möglichkeit, »Ursache und Wirkung umzukehren« und Nietzsche die Rolle eines vorausahnenden Diagnostikers der faschistischen Entwicklung, eines sensiblen Seismographen, zuzuschreiben. So trägt das Versäumnis einer politischen Analyse von Nietzsches »Macht-Philosophem« dazu bei, einerseits Macht qua politische Gewalt und Brutalität auf die NS-Herrschaft zu beziehen und andererseits Nietzsche davon abzugrenzen. Die These, die ich im Folgenden begründe, lautet: Die von Thomas Mann eher intuitiv vorgeschlagene Sicht auf Nietzsches Philosophie gibt Anlass zu einer systematischen Deutung von moralisch-politischen Formationen in nietzscheanischen Begriffen. Dies betrifft nicht nur das Faschismusproblem des 20. Jahrhunderts, denn Thomas Mann motiviert dazu, die Frage nach dem Seismographen Nietzsche neu zu stellen. Die Antwort auf diese Frage muss jedoch weit mehr als bei Thomas Mann das philosophische Werk Nietzsches ins Zentrum der Analyse rücken. 13
Es sei erwähnt, dass sich bei Ernst Jünger die analoge Charakterisierung von Nietzsche als einem Seismographen findet (vgl. Ch. Schmidt, Ehrfurcht, a. a. O., 298). Auch bei Jünger weist der »Wille zur Macht« auf eine neue Zeit voraus, die er in fragwürdigen Nietzsche-Anknüpfungen in seiner Schrift Der Arbeiter (1932/Stuttgart 2007) zu einer Epochendiagnose stilisiert. Rückblickend heißt es zu Nietzsche: »Nach dem Erdbeben schlägt man auf die Seismographen ein. Man kann jedoch die Barometer nicht für die Taifune büßen lassen, falls man nicht zu den Primitiven zählen will.« In: E. Jünger, Sämtliche Werke, Tagebücher II, Strahlungen I, Stuttgart 1979, Vorwort, 13. Doch auch Jünger versäumt es, die Begriffsbildung des Willens zur Macht angemessen zu interpretieren.
13
200 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
Nietzsche und das 20. Jahrhundert: Moral-Kriege und große Politik
6.2 Nietzsche und das 20. Jahrhundert: Moral-Kriege und große Politik Um Entwicklungen des 20. Jahrhunderts in der Begrifflichkeit Nietzsches zu verstehen, muss der Wille zur Macht in seiner wertsetzenden Dimension eingebracht werden. Denn Nietzsche interpretiert das menschliche Leben unter verschiedenen Wertsetzungen des Willens zur Macht. Als Kurzdefinition kann die relationale Bedeutung des Willens zur Macht qua existenzielle Selbstauslegung und Selbstbehauptung in Werten dienen. Dieser Grundansatz muss in einer historischen Betrachtung von konfligierenden Moralen zur Etablierung normativer Ordnungen weiterverfolgt werden. Es geht um den kritischen Vergleich von verschiedenen Moralen und deren Bewertung (vgl. Kap. 3.1, 3.2). Dabei ändert Nietzsches negative Bewertung der Moral des Christentums als Sklavenmoral nichts daran, dass auch diese Moral – formal gesehen – eine Ausprägung des Willens zur Macht ist. Der kritische Vergleich der Moralen, der aus Nietzsches Sicht dem Maßstab der Rangordnung und Vornehmheit folgt, führt nicht nur zur Bestandsaufnahme von historischen Moralen, sondern auch zur Frage, welche Moralen in Zukunft noch möglich sind. Mit seiner These »Gott ist tot« zielt Nietzsche auf die Auflösung der Absolutheit der jüdisch-christlichen Moral und verneint zugleich, dass es so etwas wie eine objektiv verbürgte Moral geben kann. 14 Das eröffnet Perspektiven für konkurrierende Konzeptionen von Moral und Neubildungen von normativen Ordnungen. So diagnostiziert Nietzsche, dass das Problem der Moderne, wie nach dem Verlust einer absoluten moralischen Instanz (Gott) allgemein verbindliche normative Ordnungen möglich sind, ungelöst ist. Damit verzeichnet das seismographische »Registrierinstrument«, das Thomas Mann in Nietzsches »Macht-Philosophem« 14
Vgl. M, 139-N: […] »es giebt keine absolute Moral.«
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sieht, weit mehr als die Perspektive politischer Macht- und Gewaltentwicklungen unter faschistischen Vorzeichen. In seiner moralisch-wertsetzenden Grundbedeutung bietet Nietzsches Wille zur Macht die Option, den Faschismus als geschichtlich neue Wertsetzung zu begreifen. Nietzsche hat keine konkreten Macht- und Gewaltexzesse des Faschismus vorweggenommen, sondern er hat in seiner historischen Moralphilosophie die Möglichkeit für noch unbekannte normative Gestalten des Willens zur Macht aufgezeigt. Insofern ist der schon erwähnte »Zwang zur großen Politik« (Kap. 3.1), den Nietzsche für das 20. Jahrhundert prognostiziert, ein Kampf um moralisch-geistige Vorherrschaft: »Denn wenn die Wahrheit mit der Lüge von Jahrtausenden in Kampf tritt, werden wir Erschütterungen haben, einen Krampf von Erdbeben, eine Versetzung von Berg und von Thal, wie dergleichen nie geträumt worden ist. Der Begriff der Politik ist dann gänzlich in einen Geisterkrieg aufgegangen, alle Machtgebilde der alten Gesellschaft sind in die Luft gesprengt – sie ruhen allesamt auf der Lüge: es wird Kriege geben, wie es noch keine auf Erden gegeben hat. Erst von mir an giebt es auf Erden g r o s s e P o l i t i k . –« (EH, 366)
Große Politik in Nietzsches Sinn evoziert das moralische Drama der menschlichen Selbstauslegung und das Ringen um neue Selbstbilder. Dieser existenzielle Kampf um neue Selbst-Definitionen des Menschen in Wertbegriffen ist die Vision, die Nietzsche für das 20. Jahrhundert entwirft. 15 Dass es dabei nicht nur um einen Bellizismus auf moralphilosophischer Ebene geht, sondern um Kämpfe zur Erlangung von gesellschaftlicher Dominanz, ja um Kriege, erscheint unvermeidlich, wenn »alle Machtgebilde der alten Gesellschaft in die Luft gesprengt« werDieser Sprachgebrauch von »grosser Politik« ist zu unterscheiden von eher konventionellen Verwendungen des Terminus, die gleichfalls bei Nietzsche zu finden sind. So ist die Rede von einem Volk, das sich in »grosser Politik im Kontext eines Krieges engagiert« (MA I, 481-N), oder auch von der »Vergeistigung der Feindschaft« auf dem Gebiet der »grossen Politik« (GD, 84).
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Nietzsche und das 20. Jahrhundert: Moral-Kriege und große Politik
den. Für Nietzsche umfasst der »Geisterkrieg« Religionen wie Moralen und entlädt sich in konkreten Kämpfen: »Neben den Religionskriegen her geht fortwährend der M o r a l – K r i e g : d. h. Ein Trieb will die Menschheit s i c h u n t e r w e r f e n ; und je mehr die Religionen aussterben, um so b l u t i g e r und s i c h t b a r e r wird dies Ringen werden. Wir sind im Anfange!« (KSA, Bd. 10, 263 f.)
Moral-Krieg als große Politik verweist auf die Frage, welcher Typus von Moral sich gegenüber möglichen anderen als gesellschaftlich dominant durchsetzt – und dies in einem Szenario von Erdbeben ähnlichen Umbrüchen. Solche Erdbeben hat das 20. Jahrhundert in der Tat hervorgebracht. Thomas Mann konzentriert seine Einschätzung von Nietzsche als Seismograph auf den Nationalsozialismus. Doch auch der Bolschewismus gehört in eine nietzscheanische Diagnose des 20. Jahrhunderts. In beiden Fällen handelt es sich um neue Ordnungen, die auf neuen Moralen mit neuen Menschenbildern basieren und neue konkrete Macht- und Gewaltverhältnisse hervorbringen. Im Kontrast dazu steht der westliche Universalismus, so dass eine Pluralität divergierender moralisch-politischer Ordnungen zu verzeichnen ist. Nietzsches historische Moralphilosophie wird dieser Sachlage gerecht, während monistische Sichtweisen von Moral daran scheitern. Wenn die moralisch-wertsetzende Grundbedeutung des Willens zur Macht als leitend erkannt wird, ergibt sich nicht nur eine Bestätigung für Thomas Manns Metapher von Nietzsche als Seismograph. Darüber hinaus kann eine systematische Orientierung für eine nietzscheanische Diagnose des 20. Jahrhunderts gefunden werden. Dazu ist es nötig, auf die unterschiedlichen moralisch-politischen Modelle des Nationalsozialismus und Bolschewismus einzugehen. Angesichts der moralischen Katastrophen, die beide Formationen hervorgebracht haben, bedarf die Rede von Moral einer methodischen Klarstellung. So gilt es, im Sinn einer historisch vergleichenden Moral203 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
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betrachtung den normativen Gehalt unterschiedlicher Moralen deskriptiv herauszuarbeiten, ohne sich mit ihnen wertend zu identifizieren. Das bedeutet nicht, auf den eigenen moralischen Maßstab bei dieser Untersuchung zu verzichten. Im Folgenden lege ich den Maßstab des egalitären Universalismus zugrunde: Anerkennung jedes Menschen als Menschen und gleiche Rechte für alle. Die Gegenüberstellung von Nationalsozialismus, Bolschewismus und egalitärem Universalismus bestätigt Nietzsches Monitum, dass das »Problem der Moral« einen historisch fundierten Vergleich von Moralen verlangt (vgl. Kap. 3.2). Umgekehrt erhält Nietzsches Philosophie durch die geschichtliche Entfaltung alternativer Moralen im 20. Jahrhundert eine materialreiche Bestätigung, die so nicht vorhersehbar ist. Vor diesem Hintergrund stellt sich erneut die Frage nach dem Stellenwert von Nietzsches Philosophie für Entwicklungen des 20. Jahrhunderts (Kap. 7, 8).
6.3 Neue Moralen im weltpolitischen Kampf Nationalsozialismus wie Bolschewismus präsentieren sich als revolutionäre Neuansätze, die der Menschheit den Weg in die Zukunft weisen wollen. Das impliziert moralische Transformationen, die sich angesichts der dabei begangenen Massenverbrechen als moralisches Anderssein darstellen. Dass Rassen- oder Klassenmorde unter dem Vorzeichen andersartiger moralischer Selbstverständnisse geschehen, ist nur scheinbar ein Paradoxon, benennt aber den Problemkomplex, um den es geht. Beide, Nationalsozialismus wie Bolschewismus, entwickeln eine Art Erlösungsperspektive, indem sie die Menschheit von bestimmten Menschengruppen »befreien«, d. h. diese physisch vernichten. »Auschwitz« als Chiffre für den Holocaust und »Gulag« als Signum für die Unterdrückung und Vernichtung von Klassenfeinden stehen für die extreme Zuspitzung der jeweiligen Transformationsmoral. 204 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
Neue Moralen im weltpolitischen Kampf
Mit Hilfe historischer Forschung wird so eine moralphilosophische Interpretation begründbar, die an epochal bedeutsamen Erfahrungen aufzeigt, dass Bolschewismus wie Nazismus eine einheitliche Gattungsmoral aufkündigen. Das markiert ihren unüberbrückbaren Gegensatz zum egalitären Universalismus. Sie schaffen neue moralisch-geschichtliche Ordnungen, die nicht nur von den mit ihnen verbundenen Eliten getragen werden, sondern bei sehr vielen Menschen Unterstützung finden. Ihre wertsetzende Kraft zeigt sich ebenfalls daran, wie dominant sie im welthistorischen Maßstab zu werden vermochten. Solche moralischen Transformationen einfach als Rückfall in Unmoral zu verstehen und sie definitorisch aus dem Spektrum von Moral auszuschließen, wird der Sachlage nicht gerecht. Es ist dagegen erhellender, die moralische Selbstauslegung von Menschen als einen offenen geschichtlichen Prozess zu untersuchen und im Rahmen einer Phänomenologie der historischen Erfahrung zu analysieren. Wie immer sich die Unterschiede des egalitären Universalismus zu anderen Moralverständnissen auch darstellen, die Selbstinterpretation der jeweiligen Gegenseite ist der hermeneutische Schlüssel zur Erfassung der inhaltlichen Konflikte. Es ist nicht zu bestreiten, dass Trotzki von Moral redet, wenn er formuliert: »Ihre Moral und unsere«, nur ist eben seine Moral nicht »unsere«, sofern wir uns mit dem egalitären Universalismus identifizieren. Historische Erfahrung ernst nehmen heißt in moralischer Hinsicht, einsehen, dass das moralische Universum keineswegs wohlgeordnet ist, sondern eine Pluralität von Entwürfen aufweist, die miteinander konkurrieren. Nietzsches Begriffsbildungen, die auf unterschiedliche wertsetzende Modelle des Willens zur Macht oder auf die Frage der Umwertung der Werte verweisen, tragen dieser Einsicht Rechnung, ohne abschließende Antworten auf die Sachlage zu geben. Seismographisch jedoch sind sie moralphilosophischen Traditionalismen überlegen. Als Einleitung zu den nachfolgenden systematischen Überlegungen ist
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daher Nietzsches Votum zur geschichtlichen Menschenkenntnis durchaus aktuell: »Ihr möchtet euch gerne als Menschenkenner geben, aber wir werden euch nicht durchschlüpfen lassen! Sollen wir es nicht merken, dass ihr euch erfahrener, tiefer, erregter, vollständiger darstellt, als ihr seid? […] Habt ihr G e s c h i c h t e in euch erlebt, Erschütterungen, Erdbeben, weite lange Traurigkeiten, blitzartige Beglückungen? Seid ihr närrisch gewesen mit grossen und kleinen Narren? Habt ihr den Wahn und das Wehe der guten Menschen wirklich getragen? Und das Wehe und die Art Glück der schlechtesten hinzu? Dann redet mir von Moral, sonst nicht! (M, 545-N)
Die Geschichte des 20. Jahrhunderts bietet allen Anlass, den moralischen Erschütterungen und Verwerfungen, die sie kennzeichnen, nachzugehen. Dazu ist es erforderlich, über Nietzsche und Thomas Mann hinaus historische und moralisch-normative Untersuchungen zusammenzuführen. Im Interesse einer Systematik, die Nietzsches Weitblick und Thomas Manns intuitive Einsicht stützt, erstelle ich eine Analyse der moralischen Divergenzen des 20. Jahrhunderts, deren Begrifflichkeit sich von beiden Autoren löst und gleichwohl eine Explikation im Geiste beider erreicht. Dabei orientiere ich mich an einschlägigen Diskussionen zu historischen Moralvergleichen. Im Sinne eines analytisch-deskriptiven Begriffs ist die Rede von »nationalsozialistischer Moral« hinreichend gegenwärtig. 16 Analog dazu kann von einer bolschewistischen Moral gesprochen werden. 17 Bereits Hannah Arendt hat eine vergleichende Perspektive im Blick, wenn sie konstatiert, dass das nationalsozialistische Deutschland das moralisch-westliche Gefüge durch seine Verbrechen zerstört habe. 18 Was Arendt als Zerstörung Vgl. W. Bialas, Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus, Göttingen 2014, R. Gross, Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral, Frankfurt/M. 2010, R. Zimmermann, Moral als Macht, Reinbek bei Hamburg 2008. 17 Klassisch dazu: L. Trotzki, Ihre Moral und unsere, siehe Anm. 39. 18 H. Arendt, Besuch, a. a. O., 23. 16
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namhaft macht, sind die Auswirkungen einer alternativen NSMoral, die normative Setzungen, Ideologie und Gewalt auf ihre Weise zu integrieren sucht. Die methodisch fruchtbarste Vorgehensweise, dem Problem divergierender Moralen gerecht zu werden, besteht darin, ihre wesentlichen Elemente im Sinne von Idealtypen nach dem Vorbild Max Webers 19 zusammenzufassen, um einen Rahmen für begriffliche oder empirische Detailbetrachtungen zur Verfügung zu haben. Für die vergleichende Betrachtung kann man der Einfachheit halber von verschiedenen moralischen Ordnungen sprechen: Erstens muss es ein elementares moralisches Selbstverständnis geben, ein moralisches Zentrum, das Verpflichtungen für die jeweiligen Ich- oder Wir-Orientierungen definiert. Für den westlich-universalistischen Typus bedeutet dies, dass jede Frau und jeder Mann sich selbst denselben moralischen Status zuschreiben wie jeder anderen Frau und jedem anderen Mann und dass sie sich als eine Wir-Gemeinschaft verstehen, in der jedes Mitglied diesem Selbstverständnis folgt. Das entsprechende Selbstverständnis wird manifest in der wechselseitigen Anerkennung von gleichen Rechten für jedes Mitglied einer wie immer gearteten Gemeinschaft. Der Nazismus setzt ein eigenes Zentrum dem universalistischen Zentrum entgegen. Demgemäß beanspruchen Deutsche oder Arier einen höheren moralischen Status als Nicht-Deutsche oder Nicht-Arier und folgen dem Selbstverständnis einer nach rassischen Kriterien strukturierten Wir-Gemeinschaft, die eine normative Ungleichheit für selbstverständlich hält. Dieses partikularistische Verständnis von Moral ist der als »jüdisch« deklarierten universalistischen Überzeugung strikt entgegengesetzt. So steht das Judentum paWegen der sensiblen moralischen Problematik, um die es geht, sei daran erinnert, dass Webers Idealtypen nichts mit normativen Idealen zu tun haben, sondern analytische Konstrukte darstellen, die nur nach ihrer Adäquatheit für begriffliche oder empirische Fragestellungen zu beurteilen sind. Man kann auch Idealtypen zur Mafia etc. bilden.
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radigmatisch für ein universalistisches Menschenbild und wird vom NS durch die Theorie der »jüdischen Weltverschwörung« als Hauptfeind denunziert. 20 Zweitens gibt es ein Netzwerk von sozialen Normen und Institutionen, die mit dem moralisch zentralen Selbstverständnis in Verbindung stehen. Elemente des universalistischen Typus sind ein gewaltfreies Zivilleben, sozialer und öffentlicher Schutz vor Diskriminierungen jeder Art und ein Rechtssystem, das auf Menschenrechten gründet und Bedingungen für die politische Sphäre der konstitutionellen Demokratie sowohl nach innen als auch nach außen festlegt. Im Kontrast dazu strebt der NS die Stärkung der arisch-deutschen Gemeinschaft unter Leitung des »Führers« an. Das »Führerprinzip« entbindet von der Beschränkung der inneren und äußeren Politik durch das Recht, indem den Interessen der »Volksgemeinschaft« oberste Priorität zugesprochen wird. Carl Schmitt, einer der prominenten Juristen des Dritten Reiches, entwickelt die Doktrin »Der Führer schützt das Recht« und macht so Hitler zur höheren Autorität einer Gesetzgebung, die das wahre Recht der Gemeinschaft schafft und verbürgt. 21 Drittens charakterisiert die Stellung zur Gewalt einen bestimmten Typus von moralischer Ordnung. Der universalistische Typus verlangt, die Lösung von Konflikten im Innern einer Gemeinschaft nicht gewaltförmig auszutragen und das staatliche Gewaltmonopol zu respektieren. Für den NS-Typus ist Gewalt ein legitimes Mittel zur Stärkung der Homogenität der Gemeinschaft gegen Feinde, die nach Rassekriterien oder gemäß der Aussonderung »ungesunder Elemente« definiert werden. Dementsprechend besteht für Hitler das wahre »Menschenrecht« einer Gemeinschaft in dem gewaltförmigen Kampf für Vgl. zur Quelle für diese Verschwörungstheorie: J. L. Sammons (Hg.), Die Protokolle der Weisen von Zion. Die Grundlage des modernen Antisemitismus – eine Fälschung. Text und Kommentar, Göttingen 1998. 21 Vgl. C. Schmitt, Der Führer schützt das Recht. In: Deutsche JuristenZeitung, Bd. 39 (1934) 15, 945–950. 20
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die Dominanz der eigenen Rasse in einer weltweiten Auseinandersetzung. Selbst das Verfassungsrecht kann im Interesse der Sicherung des Deutschtums übergangen werden. 22 Zugleich werden Angriffskriege als Aktionen der Selbstverteidigung deklariert. Verglichen damit beschränkt der universalistische Idealtypus militärische Macht und Gewalt auf Situationen der Selbstverteidigung und verlangt die Respektierung des Völkerrechts. Ergänzend zu diesem idealtypischen Rahmen sind drei Aspekte hervorzuheben: Die Kohärenz der NS-Moral, die »Normalität« der Täter, das Verhältnis von Universalismus und Partikularismus. Was die Kohärenz der NS-Moral angeht, halte ich es für ausreichend, die wesentlichen normativen Gehalte so wie oben dargelegt wiederzugeben. Spezielle Studien zur moralischen Ordnung des NS zeigen eine nicht abgeschlossene Dynamik auch in moralischer Hinsicht, so dass es keiner Vorstellung von innerer Geschlossenheit bedarf. Um ein Beispiel zur Entwicklung von Moral und Recht zu nennen, so ist an Ausführungen von Roland Freisler zu erinnern, der Moral mit »völkischer Sittenlehre« identifiziert und diese zur Basis für die Reform des Strafrechts erklärt. 23 Die substantielle Transformation der Gesellschaft und des Menschen, die vom NS propagiert wird, 24 ist keine creatio ex nihilo, sondern muss sich permanent A. Hitler, Mein Kampf, Zentralverlag der NSDAP, München 1937 (248.– 251. Aufl.), 105. 23 R. Freisler, Gedanken zur Technik des werdenden Strafrechts und seiner Tatbestände. In: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 55 (1936) Nr. 1, 511. Umfassend zur Beziehung von Recht und Moral im NS: H. Pauer-Studer/J. Fink (Hg.), Rechtfertigungen des Unrechts. Das Rechtsdenken im Nationalsozialismus in Originaltexten. Frankfurt/M. 2014. Die Herausgeberin H. Pauer-Studer stellt in ihrer Einleitung klar, dass im NS nicht etwa ein Rechtspositivismus dominant war, sondern das Postulat der Einheit von Recht und Moral, ebd., 28 ff. 24 Vgl. A. Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts, München 1935 (75.–78. Aufl.). Im Vorwort fordert Rosenberg die Fortsetzung der politischen Revolution durch die ›Umwandlung der Geister‹. 22
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von früheren moralischen Normen oder politischen Institutionen absetzen. 25 So ist etwa die Weimarer Verfassung niemals offiziell außer Kraft gesetzt, sondern durch neue Gesetze überschrieben worden. Das bedeutet, dass sich Anhänger der früheren Republik mit ihrer verfassungsmäßigen Anerkennung von persönlichen Rechten, wenn auch in der Minderheit, als Vertreter einer noch immer intakten oppositionellen Moral sehen. Umgekehrt können Parteigänger des NS, die zunehmende moralische Skrupel bekommen, auf noch bestehende Ressourcen westlicher Moraltraditionen oder auf das Christentum zurückgreifen. Insofern wird man der historischen Situation am besten dadurch gerecht, dass man sie als von gegensätzlichen Moralen determinierte Konflikte sieht, wie dominant auch immer die NS-Moral zu bestimmten Zeiten gewesen sein mag. Der Prozess der moralischen Transformation zeigt sich innerhalb der Wehrmacht ebenso wie in Einsatzgruppen, die an Mordaktionen beteiligt sind und dabei ihre moralische Identität verändern. 26 Auch Führungsfiguren wie Himmler entwickeln ihre Pläne zur »Endlösung« erst nach und nach. Die Beseitigung der Juden stellt zwar eine ständige Option dar, die Vorstellungen zu ihrer Umsetzung verändern sich aber im Lauf der Zeit. Im Jahr 1940 spricht sich Himmler für den »Madagaskar Plan« aus, der noch von einer physischen Vernichtung der Juden als »ungermanisch« absieht. Die SS und ihre Gliederungen sind exemplarische Gemeinschaften der moralischen Transformation. Man muss sich vergegenwärtigen, dass die SS nicht nur eine militante Elite-Gemeinschaft in Bezug auf Ideologie und Rassenkampf ist. Zugleich verkörpert sie das Paradigma einer idealen Nazi-Sozialisation und moralischen Transformation, die als Erziehungsmodell der ganzen Gesellschaft dient. Die Tugenden von Treue, Vgl. C. Koonz, The Nazi Conscience, Cambridge/MA/London 2003. Vgl. H. Welzer, Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Frankfurt/M. 2005.
25 26
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Gehorsam, Ehre und Kameradschaft werden in direkte Beziehung zu Adolf Hitler gebracht, so dass mit dem Eid eines jeden SS-Mannes Hitler persönlich die Treue bis in den Tod gelobt wird. An dieser Entwicklung kann man die Suspendierung des individuellen Gewissens ablesen, das in der christlichen Tradition als moralische Selbstprüfung einen hohen Stellenwert einnimmt. Auf diese Weise werden im NS moralische Grenzen stetig überschritten. 27 Die Bedeutung der moralischen Transformation, auf die es ankommt, findet ihr Echo in Hitlers Ausspruch, dass der Niedergang des Christentums eine der größten Revolutionen in der Geschichte sei. 28 Christentum und egalitärer Universalismus vertreten beide die fraglose Zugehörigkeit eines jedes Menschen zur Gattung. Deshalb spreche ich von »Gattungsbruch«, wenn es um den durch den Holocaust offen zu Tage getretenen Bruch dieses Selbstverständnisses geht. 29 Was das Persönlichkeitsprofil der Täter betrifft, so ist die NSBewegung kein Resultat einer fernen Welt, sondern operiert innerhalb der sozialen, kulturellen und politischen Konstellationen Europas. Die vom Holocaust ausgehende moralische Verstörung ist eine Verstörung über Taten von Menschen, die uns ähnlich sind: »[…] die Tragödie der Shoah bestand nicht darin, dass sie unmenschlich war, sondern dass die Nazis Menschen waren, genauso wie wir.« 30 In einer moralischen Fragestellung Vgl. B. Wegener, Hitlers Politische Soldaten: Die Waffen-SS 1933–1945, Paderborn/München/Wien/Zürich 2006 (7.). 28 Vgl. R. Zitelmann, Hitler. Selbstverständnis eines Revolutionärs, Stuttgart 1987, 104 ff. Als Quelle verweist Zitelmann auf Hitlers »Monologe«. 29 R. Zimmermann, Philosophie nach Auschwitz, Reinbek bei Hamburg, Kap. 1. 30 Y. Bauer, Einige Überlegungen zur Shoah. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Bd. 54, 2006, 547. Vgl. entsprechend: P. J. Haas, Morality after Auschwitz. The Radical Challenge of the Nazi Ethic, Philadelphia 1988, 23: »Although the Holocaust is unique in its awfulness, it is a firm part of normal human history […]. In studying Holocaust, we study not only a particular society of the past but ourselves as well.« 27
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ist es besonders wichtig, dass die Protagonisten, Unterstützer oder Täter des NS bei aller entschiedenen Kritik ihrer Ideologie und ihrer moralischen Überzeugung nicht aus dem Spektrum menschlicher Vielfalt ausgesondert werden dürfen. Das Feld menschlicher Möglichkeiten ist offen zu halten, um ein realistisches Bild der Geschichte zeichnen zu können. 31 Moralische Diversität gehört dazu. Schließlich bedarf die Lesart des NS als Partikularismus im Gegensatz zum egalitären Universalismus einer Ergänzung. Gelegentlich wird das Argument vorgebracht, dass die Nazi-Bewegung den Status der Juden als Menschen nicht negiert hätte. Das ist nur in einem gewissen Sinn zutreffend, ansonsten aber falsch. 32 Man muss der Zweideutigkeit im Begriff der Menschheit Rechnung tragen. Auf der einen Seite wird ›Menschheit‹ als deskriptiver Terminus im üblichen Verständnis gebraucht und bezieht sich auf die Gesamtheit der weltweiten tatsächlichen Lebensumstände von Individuen, Gruppen, Völkern, Nationen oder religiösen Gemeinschaften. In diesem Sinn gehören Juden zur Menschheit. Auf der anderen Seite hingegen wird ›Menschheit‹ enger gefasst und steht für einen normativen Begriff mit der Bedeutung von ›wahrer Menschheit‹ oder ›wahrem Menschentum‹, mit dem keineswegs die Tatsächlichkeiten der weltweiten Menschheit anerkannt werden. In diesem Sinn werden Juden nicht in die Menschheit eingeschlossen, sondern ausgesondert, um eine »gesäuberte« Menschheit zu erreichen. Der normativ begrenzte Begriff ist das Pendant zum »GattungsVgl. I. Clendinnen, Reading the Holocaust, Cambridge 1999, 111 f.: »I do not pretend that ›understanding‹ Hitler, or Himmler, or Stangl is an easy matter. I would only insist that the problem is not qualitatively different from the problems inherent in understanding any other human beings – and that our understanding of our fellow human beings will not be and cannot be complete.« 32 Vgl. dazu meine Replik auf entsprechende Einwände: R. Zimmermann, Moralischer Universalismus als geschichtliches Projekt, in: ErwägenWissenEthik, 20/2009, 415–496, ebd. 488 f. 31
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bruch«. Hannah Arendt hat dies bereits klar gesehen, als sie in den letzten Sätzen ihres Eichmann-Buches die Nazi-Anmaßung anprangert, »zu entscheiden, wer die Erde bewohnen soll und wer nicht« 33 . Der normativ begrenzte Begriff der Menschheit ist für den NS leitend. Deshalb ist sein Anspruch, die ganze Menschheit zu »retten«, pseudo-universalistisch. In Wirklichkeit wird ein radikaler moralischer Partikularismus verfolgt. Analog zu der vergleichenden Typologie von Universalismus und NS-Moral kann die bolschewistische Moralordnung folgendermaßen charakterisiert werden: Erstens gibt es ein elementares moralisches Selbstverständnis der Kernmitglieder der Gesellschaft, einer exklusiven Gemeinschaft proletarisch Gleicher anzugehören, die gegenüber allen bisherigen Vergesellschaftungsformen als moralisch überlegen gilt. Zweitens gibt es die revolutionäre Partei als leitende Autorität für alle sozialen Normen und Institutionen, die über die Prioritäten der kommunistischen Entwicklung befindet und das Recht auf allen Ebenen (auch das Strafrecht) setzt. Drittens gibt es das Parteimonopol zur Organisation von Gewalt im Namen des Staates und im Interesse des revolutionären Prozesses. Dieses Monopol dient der Sicherung der Homogenität der proletarischen Vergemeinschaftung in Auseinandersetzung mit allen Klassenfeinden auf nationaler wie internationaler Ebene. Es ist offensichtlich, dass dieser Idealtypus einen Gegensatz sowohl zur NS-Ordnung als auch zum egalitären Universalismus bildet. Dabei ist klar, dass die Transformation der Gesellschaft die Veränderung psycho-moralischer Einstellungen und eine neue moralische Selbstinterpretation der Mitglieder der avancierten Gesellschaft erfordert. Der Transformationsprozess umfasst nicht nur bolschewistische Aktivisten auf verschiedenen Ebenen, sondern ebenso das von diesen beeinflusste kulturelle wie soziale Umfeld. Es spricht viel dafür, die stalinistische Epoche – bei aller Besonderheit – als Teil des bolschewistischen 33
H. Arendt, Eichmann in Jerusalem, München 1991 (7. Aufl.), 329.
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Gesamtprojekts zu sehen. Die kommunistischen »Ingenieure der Seele«, von denen Stalin spricht 34 , sehen sich in Einklang mit Lenins Satz, dass der Mensch nach einem bolschewistischen Ideal gemacht werden kann. Es ist kein Zufall, dass bereits im Jahr 1919 ein Tscheka-Bulletin das alte System der »Ethik und Humanität« für obsolet erklärt und eine neue Ethik »absoluter Humanität« proklamiert, durch die rigide Gewalt gerechtfertigt sei. 35 Solche und andere Beispiele verweisen auf Stalin als Erbe Lenins und unterstreichen den Ansatz, moralische Transformationen in der gesamten bolschewistischen Ära zum Gegenstand zu machen. In den 20er bis 30er Jahren des 20. Jahrhunderts gibt es einen bolschewistischen Diskurs über die Psyche, in dem es um die Konstruktion proletarischer Identitäten und eine adäquate moralische Selbstinterpretation geht. 36 »Bolschewistische Moralisten« ist die Bezeichnung für eine Gruppe sehr unterschiedlicher Wissenschaftler, die sich mit »kommunistischer Ethik« befassen. Es gibt autobiographische Tests und Selbstreflexionen, um die innere Einstellung, die einen wahren Proletarier auszeichnen, zu prüfen. Diskussionen unter bolschewistischen Universitäts-Studenten betonen Fragen der Moral, eingeschlossen solche des sexuellen Verhaltens. Nikolai Bucharins Aufforderung zu einer »dramatischen Wandlung menschlicher Qualitäten, Gewohnheiten, Gefühle, Wünsche« findet Widerhall in »Geboten des Komsomol«, in denen der biblische Dekalog transformiert wird. So mutiert die klassische marxistische Konzeption der sozialen Klasse zu einer Konzeption von Klasse als »psychoJ. Baberowski, Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, München 2004 (2. Aufl.), 112. 35 R. Gellately, Lenin, Stalin and Hitler. The Age of Social Catastrophe, London 2007, 100 f. Zu Stalin als Erbe Lenins ebd., Teil I. 36 I. Halfin, Terror in my Soul. Communist Autobiographies on Trial, Cambridge/MA/London 2003, Kap. 3. Zum Folgenden insbes. 108 ff. Vgl. J. Hellbeck, Revolution on my Mind. Writing a Diary under Stalin, Cambridge/MA/London 2006. 34
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logischer Typus«. Die bolschewistische Arbeit am Selbst qua innerer Reinigung des Menschen wird im Stalinismus dominant und bildet den normativen Rahmen für die »Große Säuberung«. Das führt zur Diagnose des Stalinismus als eines »ethischen Systems«. 37 Eine Sonderstellung bei der Entwicklung der bolschewistischen Moral nimmt Trotzki ein. Nicht nur, dass er bereits 1923 die Transformation der Moral 38 proklamiert, darüber hinaus kann seine Schrift Ihre Moral und unsere (1938) als Formulierung eines Idealtypus der bolschewistischen Moral verstanden werden. Trotzki entwickelt nicht nur zentrale Punkte seines bolschewistischen Selbstverständnisses, sondern unterstreicht die verschiedenen Ausformungen von Moral. »Unsere Moral« bezieht sich auf die bolschewistische Moral, von der die »demokratische Moral« der Epoche des liberalen Kapitalismus ebenso abgehoben wird wie die faschistische Moral und die »reaktionäre« politische Moral des Stalinismus (125 ff.). 39 Trotzki insistiert auf der bolschewistischen Moral im Geiste Lenins und bekräftigt die bekannte marxistische Deutung der Moral als eines vom Klassenkampf bestimmten normativen Gehalts, der eine über den Klassen stehende Moral als Illusion zurückweist. Über diese marxistische Standardlesart hinaus entwickelt Trotzki eine Argumentation, in der die bolschewistische Radikalisierung deutlich hervortritt. Trotzki erklärt den Bürgerkrieg im Gefolge der Russischen Revolution zum »Kulminationspunkt des Klassenkampfs […], der alle moralischen Bande zwischen den feindlichen Klassen in I. Halfin, Terror, a. a. O., 2. Das ist hier äquivalent zu meiner Terminologie einer moralischen Ordnung. 38 Am leichtesten zugänglich in Englisch unter: http://www.marxists.org/ archive/trotsky/1923/10/morals.htm. Letzter Zugriff: 1. 5. 2017. 39 L. Trotzki, Ihre Moral und unsere, in: U. Kohlmann (Hg.), Politik und Moral (Dewey, Kautsky, Trotzki). Die Zweck-Mittel-Debatte in der neueren Philosophie und Politik, Lüneburg 2001, 113–159. Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf diesen Text. 37
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die Luft sprengt« (123). Er geht von einer unaufhebbaren moralischen Klassendichotomie aus, so dass die revolutionäre Partei des Proletariats nur in völliger Unabhängigkeit von der Bourgeois-Moral ihre Ziele verfolgen kann. In der revolutionären Partei kristallisiert sich die Schaffung der neuen Moral. Trotzki erklärt, »daß für einen Bolschewiken die Partei alles bedeutet« (151), weil nur sie zu einer Gesellschaft ohne Widersprüche hinführen kann. Um diese Gesellschaft zu erreichen, müssten »revolutionäre, d. h. gewaltsame Mittel«, eingesetzt werden, denn es geht um einen »Kampf auf Leben und Tod« (142, 150). Weiter meint Trotzki, es könne zwischen der persönlichen Moral und den Interessen der Partei keinen Widerspruch geben, denn das Bewusstsein des Einzelnen wisse sich in Einklang damit, dass die Partei die höchsten Aufgaben und Ziele der Menschheit verkörpere. Die proletarische Revolution lege den »grundstein für eine klassenlose, erstmals wahrhaft menschliche kultur« 40 . So sind die Bolschewiki die »eingefleischten Krieger« (120) der sozialistischen Idee, die in Lenin den überragenden Führer gefunden haben, um der »dialektischen Auffassung der Moral« zum Erfolg zu verhelfen. Dafür sei eine »höhere Qualität des Intellekts« als der gesunde Menschenverstand erforderlich, da letzterer nicht einsehe, dass die von Lenin praktizierte Verwerfung herkömmlicher Moral in Wahrheit »Synonym für eine höhere menschliche Moral« (127 ff., 152) sei. In der Anknüpfung an Lenin und die Wiedererweckung der wahren Bolschewiki-Moral durch Trotzki zeigt sich das systematische Problem, das einer dialektischen Moral des Klassenkampfs inhärent ist. Dieses Problem ist hier nur insofern von Belang, als es die Eigenart der bolschewistischen Konzeption verdeutlicht. 41 Es besteht darin, dass die moralische IndividualiL. Trotzkij, literatur und revolution, berlin 1968, 13. Zum Problem des Verhältnisses von Mitteln und Zwecken vgl. insbes.: J. Dewey, Means and Ends. In: ders., Later Works, vol. 13, Carbondale/Ill. 1988, 349–354. Deutsch in: Trotzki et al.: U. Kohlmann (Hg.), Die MittelZweck-Debatte, 161–168.
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tät zugunsten des Parteibewusstseins verdrängt wird, ohne irgendwelche Standards von Verbindlichkeit oder Verantwortung vorzulegen. Die Konsequenz hieraus ist eine doppelte. Auf der einen Seite wird der führenden Gruppe der Partei oder ihrer jeweiligen Führungsfigur eine Blankovollmacht für Entscheidungen über den richtigen Weg zur klassenlosen Gesellschaft erteilt. Es bleibt aber offen, wie eine institutionalisierte Prozedur der demokratischen Willensbildung – etwa über Alternativen des revolutionären Prozesses – in der Partei auszusehen hätte, um sich auf anerkannte Regeln und die Einhaltung von Verantwortlichkeiten berufen zu können. Die »Dialektik« des Kampfs regelt das quasi von selbst. Die demokratischen Defizite reichen von Lenins Fraktionsverbot, das Trotzki unterstützt (1921), bis zu Stalins »demokratischem Zentralismus«. Diskussionen innerhalb der Partei oder auf Parteitagen sind zwar nicht ausgeschlossen, jedoch lassen es die Bolschewiki an einem Regelwerk für moralische oder politische Verbindlichkeiten fehlen. Fatale Folgen stellen sich insbesondere dann ein, wenn Gewalt zum Medium von revolutionärer Aktion und Fortschritt wird, ohne dass moralische Grenzen hinsichtlich Repression, physischer Bedrohung, Terror oder Folter definiert werden. Die Geschichte des Stalinismus zeigt diese Fatalität in aller Deutlichkeit. Trotzki ist für Stalins Untaten nicht verantwortlich, doch das Credo der revolutionären Partei klingt sehr ähnlich. Denn auch für Stalin ist die Partei »alles«, mit anderen Worten »eine Art Schwertritterorden innerhalb des Sowjetstaates, der die Organe des letzteren anführt und deren Tätigkeit beseelt«. 42 Auf der anderen Seite führt die Blankovollmacht für die Parteiführung zur Gestaltung der Dialektik des revolutionären Prozesses dazu, dass der einzelne Mensch sich mit der Frage konfrontiert sieht, ob er sich angemessen mit dem Willen der Partei identifiziert und wie er sein moralisches Selbst in ÜbereinstimZitiert bei: S. Slutsch, Macht und Terror in der Sowjetunion. In: V. Knigge/N. Frei (Hg.), Verbrechen erinnern, München 2002, 111–123, hier 113.
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mung mit dem Parteibewusstsein des sozialen Fortschritts bringen kann. Trotzkis Postulat von der Kongruenz der persönlichen Moral mit der moralischen Substanz der Partei bedeutet für die Individuen, sich permanent selbst zu prüfen und zu »säubern«, um wahre Proletarier zu werden, die es wert sind, am historischen Fortschritt teilzunehmen. Systematisch gesehen kann daher die Moralkonzeption von Trotzki nicht abgekoppelt werden von der quälenden Frage vieler Menschen im Stalinismus, wie sie sich zu der Parteilinie verhalten sollen. 43 Die exklusive Gemeinschaft proletarisch Gleicher und ihrer Moral erhöht Trotzki zu einem Zukunftsbild des Neuen Menschen, das an Gigantomanie kaum zu überbieten ist: »Das menschengeschlecht, der erstarrte homo sapiens, wird erneut radikal umgearbeitet – und unter seinen eigenen händen – zum objekt kompliziertester methoden der künstlichen auslese und des psychophysischen trainings werden […]. Der mensch wird sich zum ziel setzen, seiner eigenen gefühle herr zu werden, seine instinkte auf die höhe des bewußtseins zu heben, sie durchsichtig klar zu machen, mit seinem willen bis in die letzten tiefen seines unbewussten vorzudringen und sich so auf eine neue Stufe zu erheben – einen höheren gesellschaftlich-biologischen typus, und wenn man will – den übermenschen zu schaffen […]. Der mensch wird unvergleichlich viel stärker, klüger und feiner, sein körper wird harmonischer, seine bewegungen werden rhythmischer und seine stimme wird musikalischer werden. Die formen des alltagslebens werden dynamische theatralik annehmen. Der durchschnittliche menschentyp wird sich bis zum niveau des Aristoteles, Goethe und Marx erheben. Und über dieser gebirgskette werden neue gipfel aufragen.« 44
In der utopischen Vision von Trotzki wird die moralische Transformation Teil einer umfassenden Transformation der Menschheit, für die Nietzsches Begriffsbildung des Übermenschen instrumentalisiert wird. Unabhängig davon ist es aufschlussreich, Vgl. I. Halfin, Stalinist confessions: messianism and terror at the Leningrad Communist University, Pittsburgh 2009, 10. 44 L. Trotzkij, literatur, a. a. O., 214 f. 43
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die Besonderheit der bolschewistischen Moral zu analysieren und sie vergleichend der NS-Moral gegenüberzustellen. Zuallererst muss der Unterschied zwischen dem Pseudo-Universalismus des Bolschewismus und dem egalitären Universalismus gesehen werden. Es ist richtig, in deskriptiver Rede zu sagen, dass die Bolschewiki »an eine universelle Menschheit glaubten und sich selber als Erben und Vollender von Werten der Aufklärung sahen«, doch in der normativen Beurteilung der bolschewistischen Moral ist es falsch, diesem Selbstbild zu folgen. 45 Denn im Kern steht der Bolschewismus für eine Version des Partikularismus, für den Versuch, eine homogenisierte Lebensform mit weltweitem Zuschnitt zu schaffen. So kann man die stalinistische Säuberung und damit die kompromisslose Entschlossenheit, die Realität in die kommunistische Ordnung zu zwingen, als »hyperrational« beschreiben. Demgegenüber induziert der egalitäre Universalismus keine homogenisierte Lebensform. Dieses Ergebnis kann durch eine Lesart des klassischen Marxismus verdeutlicht werden, die den Unterschied zum Bolschewismus noch transparenter macht. Diese Lesart verbindet evolutionäre und revolutionäre Mittel zur sozialen Emanzipation, wodurch bei der Abschaffung der Klassengesellschaft die Vertreter oder Anhänger der alten Ordnung in die neue Gesellschaft integriert werden können, ohne ihnen ihre soziale oder moralische Mitgliedschaft zu entziehen. Sie mögen unter Einsatz von revolutionärer Gewalt ihre Macht, aber nicht elementare Rechte verlieren. Die marxistische Kritik der Menschenrechte als Ideologie der Bourgeoisie wirft zwar ein Problem auf, doch ließe sich das im Sinne einer Anerkennung von elementaren Ansprüchen auf soziale Mitgliedschaft modifizieren. In dieser Lesart könnte der marxistischen Perspektive »jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen« ein ko-
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I. Halfin, confessions, a. a. O., 2,; die folgende Charakterisierung ebd., 8.
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härenter universalistischer Sinn zuerkannt werden, der keine Travestie der »befreiten Gesellschaft« ist. Im Gegensatz zu diesem marxistischen Idealtypus verfolgen Bolschewismus und Stalinismus ein utopisches Projekt, das die soziale Revolution in eine partikularistische Bewegung der sozialen und moralischen Ausgrenzung, die auf Praktiken der physischen Vernichtung setzt, verwandelt. Der marxistische Idealtypus wird so allenfalls zum ideologischen Schein einer Emanzipation, deren Prozeduren keinen Raum für soziale Vermittlung oder moralische Toleranz lassen. Ähnlich wie der NS favorisiert auch der Bolschewismus die Vernichtung der Feinde der neuen Gesellschaft – hier der Klassenfeinde – als die erfolgversprechendste Strategie zur Schaffung des Neuen Menschen. Wie im Fall des NS wird auch im Bolschewismus die Menschheit normativ reduziert. Auch seine Hybris besteht – mit Hannah Arendts Worten – in der Anmaßung, zu entscheiden, wer die Erde bewohnen soll und wer nicht. Spiegelbildlich zum rassistischen Exterminismus des NS-Partikularismus kann deshalb vom »kulturellen Rassismus« des bolschewistischen Partikularismus gesprochen werden. 46 Durch diesen idealtypischen Vergleich, der sich auf historisches Material zum 20. Jahrhundert stützt, bestätigt sich Nietzsches Vorahnung eines sich abzeichnenden Kampfes um »ErdHerrschaft« (vgl. Kap. 3.1) und sein Begriff von großer Politik als Moral-Krieg. Nazismus und Bolschewismus stehen für eine »Umwertung der Werte«, die in Widerspruch zu Nietzsches Maßstäben steht. Aber zugleich besteht eine Epochenverwandtschaft mit Nietzsche in der Thematik einer Transformation des Menschen nach dem Tod Gottes. Die Transformation des Menschen betreiben Nazismus wie Bolschewismus – bei aller Verschiedenheit – in einer Weise, die es erlaubt, sie als Erlösungsmoralen zu kennzeichnen. Ihr ErJ. Baberowski/A. Doering-Manteuffel, Ordnung durch Terror, Bonn 2006, 89.
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lösungsweg besteht in einem Aufkündigen der Gattungszugehörigkeit, die jedem Menschen aufgrund seines Menschseins zukommt. Ihre neue Transzendenz verspricht Erlösung im Überschreiten moralischer Grenzen der Gattungsbindung. Diese Gattungstranszendenz kann für den Nazismus mit dem Begriff des Erlösungsantisemitismus, für den Bolschewismus mit dem Terminus Erlösungskommunismus bezeichnet werden. 47 Der Gegentypus dieser Erlösungsmoralen ist als Integrationsmoral zu definieren. Für die Integrationsmoral ist es ein außer Frage stehender Grundsatz, dass jedes menschliche Wesen als Mitglied der Gattung gilt. Insofern stellt der moderne Universalismus den Spezialfall einer Integrationsmoral dar, als neben ihm durchaus traditionelle Moralvorstellungen möglich sind, die – etwa im Sinne einer Ständeordnung – die prinzipielle Gleichheit von Menschen ablehnen, aber deswegen nicht die Gattungsintegration von Menschen, die als ungleich angesehen werden, bestreiten. Vielmehr können dabei paternalistische Maßstäbe von moralischer Verantwortung greifen. Auch religiöse Moralen gehören im hier relevanten Sinn zum Typus der Integrationsmoral, weil sie zwar in der einen oder anderen Weise auf »Erlösung« ausgerichtet sind, jedoch die Gattungsintegration nicht verneinen. Es mag Fälle geben, wo die Grenze zum obigen Typus der Erlösungsmoral fließend ist (radikaler Islamismus), doch besteht kein Zweifel, dass Weltreligionen, die diesen Namen verdienen, zum Typus der Integrationsmoral gehören. Der Natur der Sache nach ist religiöse Erlösung – gemäß Max Weber – »außerweltlich« orientiert, sie kann daher die innerweltlichen Verhältnisse so nehmen wie sie sind. Und selbst da, wo – wiederum mit Weber – das Streben nach außerweltlicher Erlösung zu einer massiven innerweltDen Begriff des Erlösungsantisemitismus nehme ich auf von: S. Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, Bd. 1, München 1998, Kap. 3. Baberowski und Doering-Manteuffel, a. a. O., 16, sprechen vergleichend von »Erlösungsideologien«. Ryklin sieht im Kommunismus eine Art von Religion: M. Ryklin, Kommunismus als Religion, Frankfurt/M. 2008.
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lichen Umwälzung führt, bleibt die Gattungsintegration unangetastet: Der Geist des kalvinistischen Protestantismus sucht die innerweltliche Bewährung im Sinn der Arbeitsaskese und des kapitalistischen Wirtschaftens, doch die religiös inspirierten Akteure beabsichtigen bei ihrer Weltgestaltung keine Gattungstranszendenz. Die innerweltliche Umwälzung dient trotz allen Aufwandes nur dazu, das außerweltliche Heil im Sinne der Zugehörigkeit zu den von Gott Erwählten zu erringen. 48 Anders bei der Erlösungsmoral, die Nazismus und Bolschewismus verkörpern. Ihr Erlösungsweg ist ganz und gar innerweltlich. Religiöse oder kulturelle Hindernisse auf diesem Weg werden beseitigt. Die »heilige« Erfüllung dieser nicht-religiösen, aber in ihren motivationalen Antrieben quasi-religiösen Moralen ist von dieser Welt. In diesem Sinn veranstalten sie das Jüngste Gericht unter Bedingungen ihrer Gattungstranszendenz in radikaler Diesseitigkeit: Auschwitz und Gulag sind die Konsequenzen. 49 Vor diesem Hintergrund gewinnt Thomas Manns Diagnose zu Nietzsche als seismographischem Prognostiker des Faschismus an Bedeutung. Sie veranlasst dazu, eine Zwischenbilanz zur Relevanz von Nietzsches Moralphilosophie für das 20. Jahrhundert zu ziehen.
6.4 Nietzsche und die Transformation des Menschen Die philosophische Systematisierung von Thomas Manns These zu Nietzsche als Seismographen unterstreicht das Potenzial von Vgl. M. Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Gütersloh 1979 (5. Aufl.). 49 P. Sloterdijk (Zorn und Zeit, Frankfurt/M. 2006) erreicht aufgrund seiner »Zornhypothese« ein analoges Resultat, wenn er nach dem Tod Gottes feststellt, dass die Geschichte selbst zum Jüngsten Gericht wird. Aus meiner Sicht setzen radikale Entwicklungen der »Zornpolitik« tieferliegende moralische Transformationen voraus, die mehr sind als ein »Provisorischwerden der Moral in Zeiten permanenter Kämpfe« (ebd., 233). 48
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Nietzsches Moralphilosophie zur Deutung des 20. Jahrhunderts und darüber hinaus. Doch dadurch werden auch Nietzsches eigene Begriffe, die auf die moralische Veränderung bzw. Transformation des Menschen zielen, in eine Vergleichsperspektive zu Nationalsozialismus oder Bolschewismus gerückt. Der Leitbegriff der moralischen Transformation verweist auf die Epochenverwandtschaft von Nietzsche mit späteren moralischen Umbrüchen und zwingt dazu, die Distanz Nietzsches zu diesen Entwicklungen herauszuarbeiten. Dass Trotzki und der NS sich auf Nietzsches Rede vom Übermenschen beziehen, zeigt, dass sie Nietzsche zur Rechtfertigung ihrer eigenen Transformationsmoral benutzen. Umso wichtiger ist es, auf einem genaueren Vergleich von Nietzsches Philosophie und den späteren Transformationsmoralen zu bestehen und die Begriffsbildung des Übermenschen differenziert zu interpretieren (vgl. Kap. 7.2). Als Orientierung kann die oben gewonnene Unterscheidung zwischen Integrationsmoral und Erlösungsmoral dienen. Diese Unterscheidung ermöglicht die Überprüfung der Textbestände, in denen Nietzsche die Transformation des Menschen thematisiert, um zu klären, welchem Grundtypus Nietzsches Konzeption zuzurechnen ist. Nietzsches Umwertung der Werte und die Aufhebung der jüdisch-christlichen Moral bewegen sich im Rahmen des Typus der Integrationsmoral, denn die angestrebte Transformation des Menschen zielt nicht auf eine Überschreitung der menschlichen Gattung als solcher. So zeigt Nietzsches diesseitsorientierte Rangordnungsmoral (vgl. Kap. 3, 5) eine Radikalität von einem anderen Zuschnitt als die gewaltdominierten Erlösungsmoralen des 20. Jahrhunderts. Daher präzisiere ich Thomas Manns Diktum zu der These: nicht Nietzsches Transformationsmoral hat die Erlösungsmoralen des 20. Jahrhunderts geschaffen, sondern diese haben Nietzsches Transformationsphilosophie für ihre eigenen Zwecke in Dienst genommen. Umso mehr kann Nietzsches philosophische Radikalität nach 223 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
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dem Scheitern der Erlösungsmoralen als produktiver Stimulus fungieren. Wie also ist die Thematik der menschlichen Transformation bei Nietzsche zu interpretieren und moralisch wie politisch zu bewerten? Dazu ist es wichtig, dass solche Sätze Nietzsches, die Thomas Mann zu den »trunkenen Botschaften von Macht, Gewalt, Grausamkeit« zählt und als Zeichen eines »infantilen Sadismus« werten zu müssen glaubt (19.1, 206, 213), nicht ignoriert werden. Zentrale und periphere Komponenten von Nietzsches Philosophie müssen unter gegenwärtigen Maßstäben abgewogen und gewichtet werden. Zunächst führe ich die schon vorliegenden Ergebnisse zu dieser Thematik an und ergänze die Begriffsbildungen, die noch untersucht werden müssen: 1. Nietzsche eröffnet mit dem wertsetzenden Willen zur Macht eine pluralistische Sicht auf unterschiedliche Moralen, die formal als Konkurrenten zu verstehen sind: jüdisch-christliche Moral, egalitärer Universalismus, Erlösungsmoralen von Nationalsozialismus und Bolschewismus. Hierbei handelt es sich um historische Ausprägungen von Moral. (Vgl. Kap. 3.1, 6.3) 2. Nietzsche plädiert für eine eigene inhaltliche Ausprägung des Willens zur Macht, die er aus seiner Kritik der christlichen Moral und der mit dieser verwandten egalitären Moral entwickelt. Diese diesseitsorientierte Rangordnungsmoral impliziert nach dem Tod Gottes die existenzielle Neubestimmung des Menschen, die normative Auszeichnung der Herrenmoral gegenüber der Sklavenmoral sowie die dionysische Sicht auf das menschliche Leben. (Vgl. Kap. 3.1, 3.2, 5.1) 3. Nietzsches dionysischer Radikalismus ist auf kein eindeutiges politisches Modell festzulegen, sondern kann, wie Thomas Mann zeigt, im Interesse der Integration von Kultur und Republik in die bürgerliche Demokratie eingebracht werden. Daraus resultiert ein demokratischer Elitismus, der die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs mit einer nietzscheanischen europäischen
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Nietzsche und die Transformation des Menschen
Perspektive gegen Nationalismus und Antisemitismus verbindet. (Vgl. Kap. 2, 3.2, 3.3) Aufgrund der Erlösungsmoralen des 20. Jahrhunderts und den durch sie geschaffenen politischen und moralischen Desastern stellt sich die Frage, in welchem Sinn es noch vertretbar ist, über radikale Veränderungen des Menschen oder dessen moralische Transformation zu sprechen. Zugleich ist unbestreitbar, dass historischer Wandel sich auch auf das Selbstbild von Menschen auswirkt. Insofern sprechen die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zwar entschieden gegen eine Transformationsmoral nach den Modellen von NS oder Bolschewismus, aber dadurch werden Fragen nach der Zukunft des Menschen nicht obsolet. Zu diesen Fragen kann Nietzsche immer noch Anstöße geben, wenn dabei dem Gewicht der historischen Erfahrung Rechnung getragen wird. Deshalb erweitere ich den Prüfstand historischer Erfahrung über Thomas Manns Einschätzung hinaus und komme zu einer systematischen Betrachtung von Zentrum und Peripherie der Philosophie Nietzsches (Kap. 7). Damit ist die Voraussetzung gegeben, um mit Nietzsche eine Zeitfahrt ins 21. Jahrhundert anzutreten (Kap. 8).
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7. Auf dem Prüfstand historischer Erfahrung
Thomas Manns Urteil über Nietzsche ist durch historische Erfahrung geprägt. Sein Nietzsche-Bild gibt zwar zu Differenzierungen und Korrekturen Anlass, doch seine Hervorhebung der Distanz zwischen Nietzsche und dem NS ist zutreffend (vgl. Kap. 5, 6). Für eine philosophische Gesamtbilanz zu Nietzsche ist es wichtig, in detaillierter Weise auf solche Passagen bei Nietzsche einzugehen, die der Menschenverachtung des NS nahezukommen scheinen. Ich prüfe, ob es sich dabei um zentrale oder periphere Äußerungen handelt. Dazu ist eine Gesamtabwägung von Nietzsches Philosophie unter dem Vorzeichen historischer Erfahrung nötig (Kap. 7.1). Von besonderem Interesse sind auch die Provokationen von Nietzsches Philosophie der Diesseitigkeit in Form seines Atheismus und seiner Metaphysik der Weltimmanenz: Übermensch, ewige Wiederkehr, amor fati (Kap. 7.2). Auf Grundlage der dabei erzielten Resultate kann Thomas Manns Sicht auf Nietzsche im Rahmen einer philosophischen Systematik beurteilt werden (Kap. 7.3).
7.1 Nietzsches fatale Sätze – peripher oder zentral? Thomas Mann neigt dazu, einzelne Teile von Nietzsches Philosophie zu einer Einheit zusammenzufügen, die in der Gesamtschau zu dem Nietzsche-Bild eines letztlich hemmungslosen Genies und dessen persönlicher Tragik, eines rettungslosen »Ästheten«, führen. Diese Sichtweise leitet auch den FaustusRoman und drückt sich in Thomas Manns Zugriff auf Nietzsches Werk aus, das eine »vollkommene Einheitlichkeit und Geschlossenheit« zeige (19.1, 196). Sie entspricht Thomas Manns 226 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
Nietzsches fatale Sätze – peripher oder zentral?
»Gefühlsmischung« von »Ehrfurcht und Erbarmen«, die im Nietzsche-Essays das kritische Bedauern von Nietzsches Fehlern und Überzeichnungen begleitet. Zum Ausgangspunkt nehme ich eine von Thomas Mann angeführte Passage aus Nietzsches Nachlass, die auf ein Problem verweist, das nicht zu ignorieren ist: »Der große Mensch fühlt seine M a c h t über ein Volk, sein zeitweiliges Zusammenfallen mit einem Volke oder einem Jahrtausende […] es drängt ihn nach Mitteln der Mitteilung: alle großen Menschen sind erfinderisch in solchen Mitteln. […] es giebt eine g ö t t l i c h e Liebe, welche verachtet und liebt und das geliebte u m s c h a f f t , hinaufträgt […] jene ungeheure E n e r g i e d e r G r ö ß e zu gewinnen, um, durch Züchtung und anderseits durch Vernichtung von Millionen Mißrathener, den zukünftigen Menschen zu gestalten und n i c h t z u G r u n d e zu gehen an dem Leid, das man s c h a f f t , und dessen Gleichen noch nie da war!« (KSA, Bd. 11, 98, vgl. ebd., 75: Hervorhebungen im Original)
Thomas Mann zitiert die letzte Satzpasssage wörtlich (»durch Züchtung … nie da war«) 1 und bezieht sich auf den NS, der »Menschen hekatombenweise« geopfert habe. Zugleich grenzt er Nietzsche von der Bewegung »größenwahnsinniger Kleinbürger« des NS ab, weil diesem solches Gesindel (»crapule«) »schwerste Migräne« bereitet hätte (19.1, 210). Doch mit der Einordnung der zitierten Passage in die Grundzüge von Nietzsches Philosophie nimmt Thomas Mann eine Zuschreibung vor, die der systematischen Diskussion bedarf. Denn er folgt damit einem Muster der Nietzsche-Interpretation, das sich als Kontinuitäts-Modell bezeichnen lässt, und bleibt so – trotz seiner ästhetischen Sicht auf Nietzsche – im Umkreis von Gesamtdeutungen, die Nietzsche zum Philosophen des Faschismus oder Nationalsozialismus erklären. Der damit aufgeworfenen Problematik gehe ich dadurch nach, dass ich das Kontinuitäts-Modell Die Passage ist als Nr. 964 in WzM, 642 f. wiedergegeben. Vgl. zu Thomas Manns Quellen und den folgenden Nietzsche-Zitaten: Kommentar, 19.2, 279 ff.
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Auf dem Prüfstand historischer Erfahrung
im Kontext anderer fragwürdiger Sätze Nietzsches diskutiere (Kap. 7.1.1). Dem stelle ich das Differenz-Modell der Nietzsche-Deutung entgegen, das Zentrum und Peripherie von Nietzsches Philosophie angemessen unterscheidet (Kap. 7.1.2).
7.1.1 Nietzsche im Kontinuitäts-Modell Vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik gegen die Juden, »minderwertige« andere Völker oder Rassen sowie gegen »lebensunwertes« Leben lesen sich Nietzsches Sätze zur Opferung von Menschen und der Vernichtung Missratener wie die reductio ad absurdum einer abstrusen Philosophie. 2 Thomas Mann belässt es nicht bei dem oben angeführten Zitat, sondern bezieht sich auf eine andere Quelle, in der Nietzsche das Christentum, das sich der Selektion und Opferung von Menschen versage, kritisiert. Die Gattung benötige den »Untergang der Mißrathenen, Schwachen, Degenerierten«: »Wenn man eine solche Gesinnung nicht als eine extreme U n m o r a l i t ä t , als ein Verbrechen am Leben empfindet, so gehört man zur kranken Bande […]. Die ächte Menschenliebe verlangt das Opfer zum Besten der Gattung – sie ist hart, sie ist voll Selbstüberwindung, weil sie das Menschenopfer braucht. Und diese Pseudo-Humanität, die Christenthum heißt, will gerade durchsetzen, daß N i e m a n d g e o p f e r t w i r d …« (KSA, Bd. 13, 471)
Auch eine Analogie zu Himmlers Posener Rede vom 6. Okt. 1943 mag herstellbar erscheinen. Dort heißt es zur Judenvernichtung: »Es mußte der schwere Entschluß gefasst werden, dieses Volk von der Erde verschwinden zu lassen. Für die Organisation, die den Auftrag durchführen mußte, war es der schwerste, den wir bisher hatten. Er ist durchgeführt worden, ohne daß – wie ich glaube sagen zu können – unsere Männer und unsere Führer einen Schaden an Geist und Seele erlitten hätten.«: H. Himmler, Geheimreden 1933–1945, Frankfurt/Berlin/Wien 1974, 169 f. Nietzsches Kritik des Antisemitismus lässt eine Analogie zu Himmler nicht zu. Vgl. Kap. 7.3.1.
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Nietzsches fatale Sätze – peripher oder zentral?
Für Thomas Mann steht dies in der Kontinuität einer Gedankenfigur, die auf eine Passage in Nietzsches Morgenröthe verweist: »Wie? Das Wesen des wahrhaft Moralischen liege darin, dass wir die nächsten und unmittelbarsten Folgen unserer Handlungen für den Anderen ins Auge fassen und uns darnach entscheiden? Dies ist nur eine enge und kleinbürgerliche Moral, wenn es auch eine Moral sein mag: aber höher und freier scheint es mir gedacht, auch über diese nächsten Folgen für den Anderen h i n w e g z u s e h e n und entferntere Zwecke unter Umständen a u c h d u r c h d a s L e i d d e s A n d e r e n zu fördern, – zum Beispiel die Erkenntnis zu fördern, auch trotz der Einsicht, dass unsere Freigeisterei zunächst und unmittelbar die Anderen in Zweifel, Kummer und Schlimmeres werfen wird.«
Bis hierher zielt Nietzsches Gedanke auf die vertretbare Überlegung, dass es im Interesse der Förderung von »Erkenntnis« nicht darum gehen könne, Rücksicht auf naheliegende und möglicherweise engstirnige Bedenken von Mitmenschen zu nehmen, die keine Neigung zu radikaler Aufklärung (»Freigeisterei«) verspürten, insbesondere auch nicht zu solcher, die das Christentum in Zweifel ziehen und insofern Leid und Kummer bewirken könnte. Doch dann weitet sich Nietzsches Perspektive: »Gesetzt, wir hätten den Sinn der Aufopferung für uns: was würde uns verbieten, den Nächsten aufzuopfern? – so wie bisher der Staat und der Fürst thaten, die den einen Bürger den anderen zum Opfer brachten, ›der allgemeinen Interessen wegen‹, wie man sagte. Aber auch wir haben allgemeine und vielleicht allgemeinere Interessen: warum sollten den kommenden Geschlechtern nicht einige Individuen der gegenwärtigen Geschlechter zum Opfer gebracht werden dürfen? sodass ihr Gram, ihre Unruhe, ihre Verzweiflung, ihre Fehlgriffe und Angstschritte für nöthig befunden würden, weil eine neue Pflugschar den Boden brechen und fruchtbar für Alle machen solle? – Endlich: wir theilen zugleich die Gesinnung an den Nächsten mit, in der er s i c h a l s O p f e r f ü h l e n kann, wir überreden ihn zu der Aufgabe, für die wir ihn benutzen. Sind wir denn ohne Mitleid? Aber wenn wir auch ü b e r u n s e r M i t l e i d h i n w e g gegen uns selber den Sieg erringen wollen, ist diess nicht eine höhere und freiere Handlung und Stimmung
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Auf dem Prüfstand historischer Erfahrung
als jene, bei der man sich sicher fühlt, wenn man herausgebracht hat, ob eine Handlung dem Nächsten w o h l o d e r w e h e t h u t ? Wir dagegen würden doch durch das Opfer – in welchem wir u n d d i e N ä c h s t e n inbegriffen sind – das allgemeine Gefühl der menschlichen M a c h t stärken und höher heben, gesetzt auch, dass wir nicht mehr erreichten. Aber schon diess wäre eine positive Vermehrung des G l ü c k e s .« (M, 146-N)
An dieses Zitat aus Nietzsches mittlerer Schaffensperiode knüpft nicht nur Thomas Mann an. Man kann es in den Zusammenhang mit späteren Zuspitzungen stellen, um auf die Kontinuität von Nietzsches Entgleisungen hinzuweisen. Demgegenüber werde ich eine Interpretation vertreten, die keine Kohärenz zwischen dem normativen Zentrum von Nietzsches Philosophie und ihren späteren Kontrollverlusten herstellt (vgl. Kap. 7.1.2). Thomas Mann entnimmt der obigen Passage die Botschaft, »hart gegen sich und andere, bereit zur Opferung seiner selbst und anderer« zu sein. Das entspreche dem Nietzsche-Bild des tragischen, heroischen Menschen, der als Krieger keine Rücksicht zu nehmen brauche, ganz so, wie ihn Nietzsche in der Götzen-Dämmerung charakterisiert habe (19.1, 209 f.). Auf diese Weise lassen sich Nietzsches Opfer-Forderung, seine Kritik am Christentum sowie die Untaten des NS in ein Gesamtbild fügen, das den Vorwurf von Nietzsches Inhumanität bestärkt. 3 Aber in Ein ähnliches Bild zeichnet die neuere »Streitschrift« gegen Nietzsche von J. Schmidt, Der Mythos ›Wille zur Macht‹. Nietzsches Gesamtwerk und der Nietzsche-Kult. Eine historische Kritik, Berlin/Boston 2016. Auch Schmidt zitiert die oben angeführte Passage, liest sie jedoch nur als Ausdruck von Nietzsches rücksichtsloser Verachtung des Mitleids über andere und sich selbst, die in der Bereitschaft zu Menschenopfern und der Selbstzerstörung kulminiere. Die von Nietzsche angesprochene Stärkung des allgemeinen Gefühls der menschlichen Macht wird bei Schmidt zur Stärkung von Nietzsches eigenem Ego, dem er die von Lou von Salomé überlieferte Kennzeichnung unterlegt, Nietzsche sei »Sadomasochist« gewesen: ebd., 21–23. Diese Verbindung von Textdeutung und Psychologie ist nicht überzeugend. Schmidt schlägt die Brücke von Nietzsche zum Ersten Weltkrieg und zum Nationalsozialismus im Sinne geistiger Kontinuität, ebd., Kap. 23. Vgl. dagegen Kap. 1, 3, 7.1.2, 7.2, 7.3.1. Was den NS betrifft, so erwähnt
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der Götzen-Dämmerung zeigt sich das Kriegertum Nietzsches gerade als moralphilosophischer Bellizismus, geht es doch darum, dem Christentum, der sokratischen Philosophie und der demokratischen Moderne die dionysische Werteordnung entgegenzusetzen. Wenn Nietzsche diese Schrift als »radikal bis zum Verbrechen« bezeichnet, so macht er deutlich, welche moralischen Grenzüberschreitungen er einzugehen bereit ist und welches Problem der Selbstkontrolle sich dabei ergibt. Außerdem schlägt Nietzsche bellizistische Töne auch dann an, wenn er für eine europäische Friedenspartei plädiert, die sich mit aller Strenge zum Frieden disziplinieren soll (vgl. Kap. 3.3). Das zeigt, dass Nietzsches normativer Bellizismus zu einem psycho-moralischen Rigorismus tendiert, der die Gefahr des Kontrollverlusts und des Abgleitens in Extreme birgt. Diese Gefahr deutet sich nicht nur in den von Thomas Mann angeführten Quellen an. Die eingangs zitierte Passage zur Vernichtung Missratener ist dem Kontext der Abfassung und Bearbeitung des Zarathustra zuzuordnen (Frühjahr 1884). Mit dieser Schrift glaubt Nietzsche der Menschheit einen neuen Weg gewiesen, ihr sogar das »grösste Geschenk« gemacht zu haben (EH, 259). Doch dieser neue Weg ist nur mit der Anstrengung der Selbstüberwindung begehbar. Ihm zu folgen erfordert, die Lehre Zarathustras über die Schaffung neuer Werte und die Einsicht in die »ewige Wiederkunft des Gleichen« zu teilen. Aus Nietzsches Sicht dient dieser zentrale Gedanke, der näherer Erläuterung bedarf (Kap. 7.2), als Test dafür, welche Menschen in der Lage sind, Zarathustras Werten der Lebensbejahung zu folgen und den Übermenschen anzustreben. So nimmt Zarathustra beim Ankündigen der »Treppen des Übermenschen« keine Rücksicht auf die »Zögernden und Saumseligen«. Er will über sie »hinwegspringen«, um sein Ziel zu erreichen: »Also sei mein Gang ihr Untergang!« (Z I, 26 f.) Den »abgründlichsten GedanSchmidt nirgends Nietzsches Kritik des Antisemitismus und Nationalismus.
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ken« der ewigen Wiederkehr, den Zarathustra in poetischer Sprache vorträgt (Z III, 205), verwendet Nietzsche, um scharfe Konsequenzen zu ziehen: »Zeitalter der Ve r s u c h e . Ich mache die große Probe: w e r h ä l t d e n G e d a n k e n d e r e w i g e n W i e d e r k e h r a u s ? – Wer zu vernichten ist mit dem Satz ›es giebt keine Erlösung‹, der soll aussterben. Ich will K r i e g e , bei denen die Lebensmuthigen die Anderen vertreiben: diese Frage soll alle Bande auflösen und die Weltmüden h i n a u s t r e i b e n – ihr sollt sie ausstoßen, mit jeder Verachtung überschütten, oder in Irrenhäuser sperren, sie zur Verzweiflung treiben usw.« (KSA, Bd. 11, 85)
Mit explizitem Bezug auf Zarathustra heißt es (1884): »– kein Geheimbund! Die F o l g e n meiner Lehre müssen fürchterlich wüthen: aber e s s o l l e n a n i h r U n z ä h l i g e zu Grunde g e h e n . – w i r m a c h e n e i n e n Ve r s u c h m i t d e r Wa h r h e i t ! Vielleicht geht die Menschheit dran zu Grunde! Wohlan!« (Ebd., 88)
Diese drastischen Passagen stehen in Einklang mit Zarathustras Lehre »Von der Selbst-Ueberwindung«, in der er den Zusammenhang von Leben und Willen zur Macht entwickelt und auf das Umschaffen von Werten verweist, denn »Gutes und Böses, das unvergänglich wäre – das giebt es nicht!«. Deshalb muss der Schöpfer neuer Werte »Vernichter erst sein und Werthe zerbrechen« (Z II, 148 f.). Doch der Wille zur Macht, der sich normativ als neue Wertsetzung – »der Übermensch s e i der Sinn der Erde!« – ausformt, kann nicht beim bloßen Willen stehen bleiben. Die Frage, wer »soll der Erde Herr sein?« (Z I, 26), reicht weiter. Sie wird von Nietzsche auch als »Refrain meiner praktischen Philosophie« (KSA, Bd. 11, 76) bezeichnet und es ist klar, dass diejenigen die Herrenrolle übernehmen sollen, die seiner Rangordnung der Werte folgen. Das bedeutet, dass die neue geistigmoralische Werteordnung in konkrete gesellschaftliche und politische Repression oder »Opferung« von Menschen abgleiten kann, wenn nicht ein klares Votum für die Begrenzung des Wil-
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lens zur Macht und der Ausschluss von gewaltförmiger Durchsetzung von Herrschaft erfolgt. In Rückblick auf die oben explizierte Systematik des Willens zur Macht ist erkennbar, dass Nietzsche in manchen seiner Äußerungen die Bedeutungsunterschiede des »Willens zur Macht« als normative Selbstbehauptung, als Durchsetzung von Macht über andere oder als gewaltförmige Herrschaft über andere vermischt und damit zu Thomas Manns Kritik Anlass gibt. Hinzu kommt die Ambivalenz der politischen Modelle, so dass Nietzsches Vokabular der Vernichtung oder Aussperrung von »Weltmüden« oder »Mißrathenen« einem autoritär-hierarchischen Modell zugeordnet werden kann (vgl. Kap. 3). Ähnlich problematisch sind die extremen Aussagen, zu denen Nietzsche seine Kritik des Christentums steigert. Ausgangspunkt ist die Diagnose, der Glaube an den christlichen Gott sei unglaubwürdig geworden (FW, 343-N). In einem kulturrevolutionären Impuls ruft Nietzsche dazu auf, die nicht mehr gläubigen Europäer sollten ihre Macht durch Zusammenschlüsse zur Geltung bringen (vgl. Kap. 3.1). Zugleich bedeutet der Tod des christlichen Gottes für Nietzsche die Verneinung des Glaubens an eine absolute Moral, die von einer höheren Instanz verbürgt wird. Die daraus resultierende existenzielle Umbruchsituation des Menschen sieht Nietzsche als Langfristperspektive und als zähen Prozess des Überwindens überkommener Glaubenshaltungen, die möglicherweise noch sehr lange im Schatten des alten Gottes verbleiben. So ist für ihn der Prozess der Ablösung vom Christentum eine Art Selbst-Reinigung, die aus den spirituellen Quellen des Christentums resultiere. So sei der Atheismus die Konsequenz einer in der christlichen Tradition stehenden Tugend der Rechtschaffenheit und der Suche nach Wahrheit. Am Ende »einer zweitausendjährigen Zucht zur Wahrheit […]« verbiete sich »die L ü g e i m G l a u b e n a n G o t t «. (GM III, 27N; vgl. ebd., 24-N, FW, 357-N)
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Im Sinn einer Langzeitperspektive ruft Nietzsche auch im Anschluss an die Kreismetapher der ewigen Wiederkehr zu langsamer Veränderung auf: »Hüten wir uns, eine solche Lehre wie eine plötzliche Religion zu lehren! Sie muss langsam einsickern, ganze Geschlechter müssen an ihr bauen und fruchtbar werden […] Was sind die Paar Jahrtausende, in denen sich das Christentum erhalten hat! Für den mächtigsten Gedanken bedarf es vieler Jahrtausende – l a n g e , l a n g e muß er klein und ohnmächtig sein!« (KSA, Bd. 9, 503)
Umso schroffer wirken die Zuspitzungen von Nietzsches Antichrist. Diese Schrift mit dem Untertitel Fluch auf das Christentum versteht Nietzsche als das erste Buch seiner Umwertung der Werte, auf dessen Abschluss er im Vorwort der GötzenDämmerung verweist (GD, 58). Obwohl dem Nachlass zuzurechnen, hat Nietzsche den Antichrist zur Veröffentlichung vorgesehen. Im Bewusstsein von dessen Radikalität erklärt er, man werde sich in Europa wohl befleißigen, »noch ein Sibirien zu erfinden, um den Urheber dieser Werth-Tentative dorthin zu senden« 4 . Auch der Antichrist spricht davon, dass die »Schwachen und Missrathenen«, die das Christentum hervorgebracht habe, zu Grunde gehen sollen und dass man wie ein Arzt das »Messer« gegen das christliche Mitleid zu führen habe. So verurteilt Nietzsche den christlichen Gott als Feind des Lebens und geißelt die christliche Weltverneinung als »Instinkt-Hass gegen die Realität«, wofür der Apostel Paulus ein genialer Verkünder sei (AC, 170, 174, 200 ff.). Für Nietzsche ist es »unanständig, heute Christ zu sein«; das Christentum sei das bisher größte Unglück für die Menschheit gewesen (AC, 210, 232). In diesen Kontext gehört auch der bereits kommentierte Bezug auf Cesare Borgia. Dieser hätte als Papst den Sieg des Lebens über die Erbsünde gefeiert und die reductio ad absurdum der christlichen Kirche verkörpert (vgl. Kap. 5.2). Bis hierher bezieht sich Nietzsche in seiner Kritik des Christentums auf schon Bekanntes und 4
NB, Bd. 8, 420: An Brandes, 13. Sept. 1888, ebenso, 424.
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überschreitet trotz scharfer Polemik nicht die Grenzen philosophischer Auseinandersetzung. Dem Antichrist ist jedoch ein Anhang beigefügt, der den Titel trägt »Gesetz wider das Christenthum«. In diesem »Gesetz« wird für Priester das Zuchthaus empfohlen. Ansonsten soll die Ursprungsstätte des Christentums eingeebnet werden und die Worte ›Gott‹, ›Heiland‹, ›Erlöser‹, ›Heiliger‹ unter die Kategorie von »Schimpfworten« bzw. »Verbrecher-Abzeichen« fallen (AC, 254). Diese Invektiven gehen weit über die Freiheit der polemischen Rede hinaus. Als Aufruf zur konkreten Unterdrückung des Christentums müssen sie gesellschaftlich wie politisch zurückgewiesen werden. Außerdem widerspricht der diktatorische Impetus des »Gesetzes« Nietzsches Perspektive einer allmählichen Selbstüberwindung des Christentums. 5 Es fällt schwer, einem solchen Widerspruch im Rahmen des Kontinuitäts-Modells Rechnung zu tragen. In diesen Zusammenhang gehören auch Texte Nietzsches, die einen Biologismus der Stärke zu vertreten scheinen und zu einer entsprechenden Deutung des Übermenschen verleiten. Thomas Mann kommt – beeinflusst von Lukács – einer solchen Lesart nahe (vgl. Kap. 5.1, 5.2.). Sie wird durch Passagen wie die eingangs zitierten unterstrichen, in denen von »Züchtung« in Verbindung mit der Vernichtung oder Opferung von Menschen die Rede ist. Nietzsches Umwertung der Werte wird so nicht nur als qualitative Veränderung des menschlichen Selbstverständnisses durch Überwindung der christlichen Moral interpretierbar, sondern als Programm zur menschlichen Steigerung durch biologische Auslese. Das umso mehr, als Nietzsche explizit »zoologische termini« in exemplarischen Vergleichen zu »züchtenden« A. U. Sommer spricht von »eschatologischer Selbstermächtigung« und verweist auf die in derselben Schrift von Nietzsche ausgesprochene gegenläufige Warnung, »Theologen« nicht durch Verfolgung zu Märtyrern aufzuwerten (AC, 53): ders.: Kommentar zu Nietzsches Der Antichrist, Ecce homo, Dionysos-Dithyramben, Nietzsche contra Wagner, Berlin/Boston 2013, 319 f. Zur Textgeschichte dieses Anhangs ebd., 315 ff.
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und »zähmenden« Moralen heranzieht (GD, 99 ff.). »Züchtung« gehört dann nicht mehr in die Dimension qualitativ-normativer Erziehung und moralischer Veränderung, sondern in die Kategorie von biologischer Selektion: »M o r a l f ü r Ä r z t e . – Der Kranke ist ein Parasit der Gesellschaft. In einem gewissen Zustande ist es unanständig, noch länger zu leben. Das Fortvegetiren in feiger Abhängigkeit von Ärzten und Praktiken, nachdem der Sinn vom Leben, das R e c h t zum Leben verloren gegangen ist, sollte bei der Gesellschaft eine tiefe Verachtung nach sich ziehn. Die Ärzte wiederum hätten die Vermittler dieser Verachtung zu sein, – nicht Recepte, sondern jeden Tag eine neue Dosis E k e l vor ihrem Patienten … Eine neue Verantwortlichkeit schaffen, die des Arztes, für alle Fälle, wo das höchste Interesse des Lebens, des a u f s t e i g e n d e n Lebens, das rücksichtsloseste Nieder- und Beiseite-Drängen des entartenden Lebens verlangt – zum Beispiel für das Recht auf Zeugung, für das Recht, geboren zu werden, für das Recht, zu leben … Auf eine stolze Art sterben, wenn es nicht mehr möglich ist, auf eine stolze Art zu leben. Der Tod, aus freien Stücken gewählt, der Tod zur rechten Zeit, mit Helle und Freudigkeit, inmitten von Kindern und Zeugen vollzogen: so dass ein wirkliches Abschiednehmen noch möglich ist, wo Der n o c h d a i s t , der sich verabschiedet, insgleichen ein wirkliches Abschätzen des Erreichten und Gewollten, eine Summirung des Lebens – Alles im Gegensatz zu der erbärmlichen und schauderhaften Komödie, die das Christenthum mit der Sterbestunde getrieben hat.« (GD, 36)
Diese Passage, die Thomas Mann ebenfalls in verhängnisvoller Nähe zum NS sieht (19.1, 216), ist geradezu paradigmatisch dafür, wie Nietzsches wertsetzender dionysischer Radikalismus in Richtung Eugenik oder Euthanasie eskaliert. 6 Nietzsches Worte zu Krankheit, entartetem Leben oder zur Verweigerung von Lebensrechten können hier nicht als symbolische Polemik interpretiert werden. Dasselbe gilt für die »Amputation« kranker Insofern ist es nachvollziehbar, Nietzsche in den Umkreis eugenischer Ideologien zu stellen, die auch in angelsächsischen Ländern anzutreffen sind: D. Stone, Breeding Superman. Nietzsche, Race and Eugenics in Edwardian and Interwar Britain, Liverpool 2002.
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Glieder der Gesellschaft und die Suspendierung des Tötungsverbots gegenüber dem »Ausschuß und Abfall des Lebens«. Nietzsches Verbindung von großer Politik und »Physiologie« offenbart hier ihre Entgleisungen (KSA, Bd. 13, 413, 594, 638). 7 Dass ein Teil von Nietzsches Überlegung eine relevante Fragestellung zur Sprache bringt, ist davon zu unterscheiden, denn auch heute ist die moralische Frage nach einem würdigen Tod am Ende des menschlichen Lebens einschließlich des Problems des Suizids zu diskutieren. Für Thomas Mann sind jedoch die Erfahrung mit dem NS und der Einfluss der Nietzsche-Deutungen von Lukács und Bäumler leitend, um sich gegen Nietzsches Biologismus zu verwahren. So betont er das »Über-Biologische« im menschlichen Dasein und wendet sich gegen ein Übermenschen-Bild, das kriegerischen Heroismus, Gewaltbereitschaft und biologische Überlegenheit idealisiert (19.1, 207 ff.). Dass sich Thomas Mann dabei problematischer Nietzsche-Klischees bis hin zur »blonden Bestie« bedient, ist bereits kritisch angemerkt worden (vgl. Kap. 5). Gleichwohl sind die biologistischen Züge bei Nietzsche nicht zu ignorieren. Es ist offensichtlich, dass der Begriff des Übermenschen, den ich noch genauer kommentiere (vgl. Kap. 7.2), parallel zu Nietzsches biologistischen Passagen gedeutet werden kann. In dieses Bild passt auch, dass im Zarathustra »Kind und Ehe« in die Perspektive der »Sehnsucht zum Übermenschen« gerückt werden. Auch findet sich die Vision, dass aus den »Einsamen von heute«, die Nietzsche als Avantgarde der von Zarathustra Belehrten versteht, »einst ein Volk« werden
Zu nachsichtig dagegen: W. Stegmaier, Eugenik und die Zukunft im außermoralischen Sinn: Nietzsches furchtlose Perspektiven, in: St. L. Sorgner/H. J. Birx/N. Knoepffler (Hg.), Eugenik und die Zukunft, Freiburg/ München 2006, 27–42. Demgegenüber bringt W. Müller-Lauter die Entgrenzungen der Schriften des Jahres 1888 deutlich zur Sprache und bewertet sie insgesamt als »philosophischen Niedergang«: ders., Über Werden und Wille, a. a. O., 266–277.
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soll, »ein auserwähltes Volk […] und aus ihm der Übermensch« (Z I, 90 f., 101). Solche Passagen können in einer durch den NS geprägten Zeit und einer darauf fokussierten historischen Erfahrung dazu beitragen, aus Nietzsche einen Rassehygieniker und Vorreiter des arisch-deutschen Herrenmenschen zu machen. Thomas Manns Hochschätzung von Nietzsches geistigem Rang verhindert solche Zuschreibungen. Doch auch wenn er sich – gegen Lukács – weigert, im Übermenschen eine »Idealisierung des faschistischen Führers« zu sehen oder dem deutschen Bürgertum vorwirft, in der NS-Zeit »plumpen Mißverständnissen« zu Nietzsche aufgesessen zu sein, so gilt seine Kritik gleichwohl »Nietzsches Träumen von kulturerneuernder Barbarei« (19.1, 214, 216 f.). Diese Kritik wird von der Erfahrung des NS bestimmt und kann mit den zitierten fatalen Sätzen Nietzsches unterlegt werden. Sie entspricht einer Deutung von Nietzsches Philosophie im Kontinuitäts-Modell. Die Tendenz zu solcher Barbarei lässt sich kritisieren, aber auch mit Thomas Manns ästhetischer Würdigung Nietzsches im Sinne einer »ästhetischen Trunkenheit« (19.1, 221), einem »Hochmut des Geistes gegen die Realität« abmildern (vgl. Kap. 5.1). So setzt sich Thomas Mann der historischen Erfahrung aus und versucht dennoch, Nietzsches Philosophie vom NS abzugrenzen. Kann aber nicht noch ein anderer Weg beschritten werden, um Nietzsches Philosophie unter dem Vorzeichen historischer Erfahrung zu beurteilen? Ein solcher Weg besteht darin, die Perspektive der historischen Erfahrung nicht nur auf den NS zu begrenzen, sondern ein breiteres historisches Spektrum zu betrachten, an dem deutlich wird, wie die Geschlossenheit von Nietzsches Philosophie, die das Kontinuitäts-Modell vertritt, verlorengeht. Außerdem soll deutlich werden, an welchen Stellen Nietzsches Philosophie als überholt bzw. unhaltbar zu bezeichnen ist. Dieser Weg führt im Folgenden zu einer Differenzierung zwischen Zentrum und Peripherie von Nietzsches Philosophie. 238 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
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7.1.2 Nietzsche und das Differenz-Modell Thomas Manns eigene politische Entwicklung ist symptomatisch für eine breiter gefasste Perspektive historischer Erfahrung. Ein Rückblick auf den geschichtlichen Umbruch durch den Ersten Weltkrieg und seine Folgen zeigt, wie sehr die Zeitumstände schon über Nietzsches politische Vorstellungswelt hinweggegangen sind. Die chauvinistische Vereinnahmung Nietzsches durch Werner Sombart zur Zeit des Ersten Weltkriegs verdrängt Nietzsches Kritik des Nationalismus und des Anti-Semitismus sowie Nietzsches anti-christliches Europäertum und reklamiert ihn für einen kriegerischen Heroismus im Namen der deutschen Sache. Dem entsprechen auf der Seite der Entente die Denunziationen Nietzsches als Ikone des deutschen Militarismus (vgl. Kap. 1.1). So sehr auch Thomas Mann glaubt, für seine eigene patriotische Haltung auf den bellizistischen Nietzsche zurückgreifen zu können, so wird Nietzsche für ihn doch immer mehr zum Stichwortgeber, um die politische Wende zur Republik durch Ressourcen der deutschen Hochkultur zu verstärken (vgl. Kap. 1.2, 2.1). Mit der Zurücknahme seiner metapolitischen Idee von Kulturdemokratie zugunsten der realpolitischen Form der Republik und der Absage an eine romantisch getönte Kriegsrhetorik nach den Erfahrungen des Weltkriegs und politischen Terrors Anfang der 1920er Jahre löst sich Thomas Mann bereits von einigen Gedanken Nietzsches. Seine damaligen politischen Urteile sind bereits als Kritik an Nietzsche zu interpretieren: Krieg ist nicht länger produktives Element einer dionysischen Kultur. Hochkultur kann nur in einer demokratisch verfassten Gesellschaft gedeihen und diese befruchten. Europäische Perspektiven bedürfen der Respektierung nationaler Besonderheiten und sind nur durch wechselseitige Verständigung, nicht aber durch einen übergreifenden Bonapartismus zu realisieren. Über Nietzsche im Licht historischer Erfahrung zu schreiben, bedeutet so z. B. auch, mit Max Webers Verarbeitung des Krieges Nietzsches po239 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
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litische Ambivalenz zu reflektieren. Das eröffnet die begründete Möglichkeit, Nietzsche als Impulsgeber für eine europäische Friedensperspektive wahrzunehmen und den Vereinnahmungen Nietzsches durch die anti-demokratischen Vertreter der »konservativen Revolution« eine Absage zu erteilen (vgl. 3.3). 8 De facto steht Thomas Manns »republikanisch gezähmter« Nietzsche für die Synthese von historischer Erfahrung, politischem Urteil und kulturellem Dialog, so dass er ihn für seine Idee des humanen Sozialismus gegen den NS in Anspruch nehmen kann (vgl. 2.3). Ergänzt man dazu Thomas Manns durch Nietzsche beeinflusste Kritik der Romantik, Wagners und des Wagnerianismus (vgl. Kap. 4.2), so ergibt sich das durch historische Erfahrung konstituierte Bild des in der Tradition der Aufklärung stehenden Kulturkritikers Nietzsche. Doch Thomas Manns Versuch, den Nationalsozialismus aus Abwegen des deutschen Geistes, seiner metapolitischen Übersteigerung, zu erklären, überlagert unter dem Druck der Zeitumstände seine Einstellung zu Nietzsche. So gesehen erweist sich sein Erklärungsansatz zum Nexus von Geist und Zeit als problematisch, weil dadurch Nietzsche in ein zu Wagner analoges Interpretationsmuster eingebunden wird (vgl. Kap. 4.3). Das verhindert eine Einschätzung, die Nietzsche noch entschiedener in geschichtliche Distanz zu realpolitischen Bedingungen des 20. Jahrhunderts bringt. Die kulturelle Erklärung der verhängnisvollen Entwicklung der deutschen Politik trägt zu einer Sicht auf Nietzsche bei, die ein Kontinuitäts-Modell nahelegt. Im Gegensatz dazu nimmt das Differenz-Modell politische Erfahrungen zum Maßstab. Bereits vor der Zeit des Nationalsozialismus gibt es durch den Ersten Weltkrieg und die deutsche Revolution von 1918 Umbrüche, die zu einer Überprüfung von Vgl. den Sprachgebrauch zur »konservativen Revolution« in einem kulturellen Sinn bei Thomas Mann (Kap. 1.3). Davon zu unterscheiden sind die Hardliner einer konservativen Revolution gegen die Weimarer Republik: St. Breuer, Wie teuflisch ist die ›konservative Revolution‹ ? Zur politischen Semantik Thomas Manns, in: W. Röcke (Hg.), Faustus, a. a. O., 59–71.
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Nietzsches politischen Vorstellungen Anlass geben. So gesehen wird Thomas Manns »politikloser« Nietzsche bereits durch die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs und die nachfolgenden Zeitumständen dem Test ausgesetzt, mit welcher politischen Form seine Philosophie am ehesten vereinbar ist. Was also ergibt sich, wenn die politischen Dimensionen von Nietzsches Philosophie auf die Erfahrungen der Weltkriegszeit bezogen werden? Das politische Gewicht von Max Weber ist ein Maßstab, um vor dem Hintergrund der an Nietzsche aufzeigbaren Politikmodelle für Klarheit im politischen Urteil zu sorgen. Die Revolution von 1918 und der Übergang zur Weimarer Republik machen die konstitutionelle Demokratie für Deutschland unverzichtbar. Insofern lassen sich Nietzsches Kultur- und Moralkritik nur in diesem Rahmen weiter diskutieren. Ein historisch fundiertes Urteil generiert so einen Blick auf Nietzsche unter Bedingungen des 20. Jahrhunderts. Das umfasst dann nicht – wie die verschiedenen Politik-Modelle gezeigt haben – den ganzen Nietzsche, bringt jedoch die Einsicht, dass unter veränderten historischen Bedingungen die Einheitlichkeit oder Kontinuität einer Philosophie abhandenkommen kann. Daraus folgt weiter, dass die Thesen und Begrifflichkeiten von Nietzsches Philosophie einer systematischen Überprüfung bedürfen, inwieweit sie mit einer konstitutionellen Demokratie kompatibel ist. Das gibt die Orientierung für das Differenz-Modell zu Nietzsche vor. Nietzsches liberaler Idealtypus, der von fragwürdigen autoritären Varianten zu unterscheiden ist, bietet allein die Brücke zur Integration von Nietzsches dionysischem Radikalismus in die konstitutionelle Demokratie des 20. Jahrhunderts (vgl. 3.2, 3.3). Wenn dem so ist, dann muss ein demokratisch situierter Nietzscheanismus diejenigen Teile von Nietzsches Gedankengängen, die einer demokratischen Verfassung entgegenstehen, isolieren, gewichten und kritisch zurückweisen. Das ist auch ohne eine ästhetische Würdigung Nietzsches nach dem Beispiel Thomas Manns möglich. Im Gegenteil: Es 241 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
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erweist sich als produktiver, Korrekturen in politischen Begriffen vorzunehmen, die Nietzsches politische Relevanz hervorheben und den Stellenwert seiner Ästhetik lediglich als Teil seines dionysischen Radikalismus zu würdigen. In diesem Sinn sind die von Thomas Mann genannten fragwürdigen Passagen Nietzsches Beispiele für die Notwendigkeit, kritische Abgrenzungen zu Nietzsche vorzunehmen. Es ist klar, dass in diese auch historische Erfahrungen eingehen. Was Nietzsches Forderung der Opferung und Vernichtung »Missratener« angeht, so entgrenzt er seine Rangordnungsmoral und antichristliche Kritik zu einer Menschheitsphantasie, die bei aller Emphase zu menschlicher Größe die kontrollierte Rückbindung an gesellschaftlich-politische Verhältnisse vermissen lässt. Nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus ist die Aufforderung zu menschlicher Selbstveränderung und Größe ohne die moralisch-politischen Rahmenbedingungen des demokratischen Rechtsstaats nicht mehr diskutabel. Auch wenn dies schon zu Zeiten der Weimarer Demokratie gilt, so verstärken die moralischen Transformationen unter dem NS – nicht zuletzt im Hinblick auf die Abwege des Biologismus – die Notwendigkeit dieser Bedingungen entscheidend. Es ist jedoch wichtig festzustellen, dass die bei Nietzsche zu kritisierenden Entgrenzungen nicht bruchlos auf eine innere Logik seiner Philosophie zurückgehen. So erzeugt Nietzsches wertorientierte Emphase menschlicher Veränderung und Selbstüberwindung eine unaufgelöste Spannung zwischen einer eher evolutionären Entwicklung und Impulsen einer autoritären Unmittelbarkeit. Die evolutionäre, eher langfristige Perspektive wird erkennbar, wenn Nietzsche seine Überwindung des Christentums als einen mühsamen Prozess aus spirituellen Quellen des christlichen Glaubens beschreibt und die Gewöhnung an den Grundgedanken der »ewigen Wiederkehr« zu einer Sache von Jahrtausenden erklärt (vgl. Kap. 7.1.1). Eine solche Perspektive setzt offenbar auf religionskritische Abwendung vom Christentum und die Zustimmung zu Nietzsches Satz »es giebt keine 242 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
Nietzsches fatale Sätze – peripher oder zentral?
Erlösung«. Das betrifft die Ebene der geistigen Auseinandersetzung, die ähnlich wie Nietzsches Kampf gegen die sokratische Philosophie und eine nivellierende Moderne verstanden werden kann. Dieser geistige Kampf verweist auf Konflikte, die Nietzsche aufgrund seiner Distanzierung von »enger und kleinbürgerlicher Moral« und seinem Eintreten für »Freigeisterei« als unvermeidlich ansieht. Die »Opferung«, die er fordert (vgl. oben), betrifft die Abkehr von alten Überzeugungen, die Verzweiflung und Angst hervorrufen mag. So soll der Prozess, in dem »wir und die Nächsten inbegriffen sind«, das Mitleid gegen diese Zustände unterdrücken und den Nächsten dazu »überreden«, Teil einer Entwicklung zu werden, die freieren Handlungsraum schafft sowie menschliche Machtfülle und Glück vermehrt. Dieser »Sinn der Aufopferung« ereignet sich in einem gesellschaftlichen Raum als geistiger Konflikt, der frei von Zwang gedacht werden kann. Politisch entspricht er dem liberalen Idealtypus (vgl. Kap. 3.1). Nicht immer, wenn Nietzsche von Opferung spricht, ist an gewaltförmige Ausgrenzung und Vernichtung von Menschen zu denken. Es handelt sich um Opferung im geistigen Kampf zum »Besten der Gattung«. Das bedeutet Polemik gegen die »Weltmüden«, die »Missratenen«, die den Test des Gedankens der ewigen Wiederkehr nicht bestehen, sowie moralische Kritik und beleidigende Schmähung. Umso deutlicher tritt dann hervor, welche Grenzen überschritten werden, wenn damit gedroht wird, die geistig Unbelehrbaren in Irrenhäuser zu sperren, die Stätten des Christentums einzuebnen, den Ärzten die Euthanasie zu empfehlen und auch noch die Aufhebung des Tötungsverbots gegen bestimmte Menschengruppen in Betracht zu ziehen. Thomas Manns Kritik macht auf fragwürdige Passagen aufmerksam, die Nietzsches Entgrenzungen in den Fokus stellen. Sie sind Radikalisierungen zuzuschreiben, die nicht ins Zentrum von Nietzsches normativem Bellizismus gehören, sondern davon wegführen. Thomas Mann begreift das intuitiv, wenn er 243 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
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das Zentrum von Nietzsches Denken ästhetizistisch deutet, um die Radikalisierungen als ästhetische Hemmungslosigkeit zu erklären. Das dabei verwendete Kontinuitäts-Modell erweist sich jedoch als wenig überzeugend. 9 Demgegenüber erlaubt das Differenz-Modell, im Licht historischer Erfahrung Zentrum und Peripherie von Nietzsches Philosophie so abzuwägen, dass Nietzsches dionysischem Radikalismus nicht nur in ästhetischer Hinsicht, sondern umfassend Rechnung getragen wird. Im Weiteren besteht der Vorteil darin, dass möglichen Erklärungen für Nietzsches radikale Entgrenzungen nachgegangen werden kann, ohne Thomas Manns Orientierung an Nietzsches Krankheit zu folgen. Das betrifft auch Schlussfolgerungen im Rückblick auf die gewaltdominierten Erlösungsmoralen von Nationalsozialismus und Bolschewismus. So steht im Zentrum von Nietzsches Rangordnungsmoral nicht diesseitsorientierte Erlösung, sondern die Tragik einer ästhetischen wie kulturell-politischen Sicht auf das Leben und menschliche Größe. Eine differenzierte Deutung kann Nietzsches Philosophie nur dem Typus der gattungsbezogenen Integrationsmoral zuordnen, die sich systematisch von den Erlösungsmoralen der Totalitarismen unterscheidet (vgl.
Unter einer »Kontinuitäts-Prämisse« steht auch die subtile literaturwissenschaftliche Untersuchung von H. Detering, Der Antichrist und der Gekreuzigte. Friedrich Nietzsches letzte Texte, Göttingen 2010, 21. Diese Prämisse bezieht sich auf die »narrative Kohärenz«, die Detering als ein »Denken in Figuren« in den letzten Texten Nietzsches aufzuweisen sucht. Indem Detering die Figur des Gekreuzigten mit Nietzsches positivem JesusBild besetzt und als Ausdruck der Weltbejahung gegen das paulinische Christentum interpretiert, kann er die Figuren des Dionysos, des Antichrist und des Gekreuzigten integrieren. Als Resultat könnte so eine »kunstreligiöse Inszenierung« Nietzsches sichtbar werden, die sich als eine Art Explikation zu Thomas Manns ästhetischer Deutung Nietzsches lesen lässt: ebd. 162 f. Deterings »jesuanischer Dionysos«, den er aus einer Interpretation des Antichrist gewinnt, lässt sich in Nietzsches Metaphysik der Weltbejahung eingliedern. Dazu im Folgenden Kap. 7.2 und 8.1.1. Die historischpolitische Thematik wird von Deterings Deutung nicht berührt.
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Übermensch und Metaphysik des Diesseits
Kap. 6.3). Wie verhält sich nun dazu die Idee des Übermenschen und ihre metaphysische Einbettung?
7.2 Übermensch und Metaphysik des Diesseits Die Schwierigkeiten, die mit dem Begriff des Übermenschen verbunden sind, spiegeln sich in Thomas Manns unterschiedlichen Anknüpfungen an Nietzsches Wortschöpfung wieder. Die Spanne reicht von der Inanspruchnahme des »Reichs des Übermenschen« für das humane »Reich der Demokratie« (vgl. Kap. 2.1) bis zur Kritik an Nietzsches »anti-humaner« Lehre in ihrer Synthese von Macht, Übermenschentum und Grausamkeit (vgl. Kap. 4.3) und der Verurteilung des Übermenschen als »barbarischem Herrschertypus« (vgl. Kap. 5.1). Das unterstreicht die Zuspitzungen, die Nietzsches Begriffsbildung je nachdem, welcher moralisch-politische Rahmen als Orientierung dient, ermöglicht. Insbesondere in politischen Modellen variiert die Bedeutung des Übermenschen. Da es bei Nietzsche kein eindeutiges Politik-Modell gibt, erst recht keines für das 20. Jahrhundert (vgl. Kap. 3, 6), ist auf dem Prüfstand historischer Erfahrung zu testen, ob die Idee des Übermenschen noch in Einklang mit der republikanischen Integration Nietzsches gelesen werden kann (vgl. Kap. 7.1.2). Dazu stelle ich Nietzsches Idee in den Kontext seiner Metaphysik des Diesseits (Kap. 7.2.1) und kläre seine Konzeption im Rahmen der konstitutionellen Demokratie (Kap. 7.2.2).
7.2.1 Übermensch, ewige Wiederkehr, amor fati Am Ende seines Nietzsche-Essays bringt Thomas Mann die Ansatzpunkte für eine konstruktive Sicht auf wichtige Elemente von Nietzsches Konzeption zur Sprache:
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Auf dem Prüfstand historischer Erfahrung
»Wenn aber Nietzsche verkündete: ›Gott ist tot‹ – ein Beschluß, der für ihn das schwerste aller Opfer bedeutete – zu wessen Ehrung, für wessen Erhöhung tat er es, als zu der des Menschen? Wenn er Atheist war, wenn er es zu sein vermochte, so war er es, und klinge das Wort noch so pastoral-empfindsam, aus Menschenliebe. Er muß es sich gefallen lassen, ein Humanist genannt zu werden, wie er es dulden muß, daß man seine Moral-Kritik als eine letzte Form der Aufklärung begreift.« (19.1, 225)
Vermeintlich gegen Nietzsche – doch eigentlich auf seinen Spuren – umschreibt Thomas Mann die Problemlage eines nachchristlichen Menschenbildes im Rahmen der neuzeitlichen Aufklärung. Der Übermensch repräsentiert diese neue Epoche, ihr Verkünder ist Zarathustra: »›To d t s i n d a l l e G ö t t e r : n u n w o l l e n w i r, d a s s d e r Ü b e r m e n s c h l e b e .‹« (Z I, 102) Das Bekenntnis zum Übermenschen soll der »letzte Wille« all derer sein, die mit Zarathustra zu einem neuen Menschenbild übergehen: »Und das ist der grosse Mittag, da der Mensch auf der Mitte seiner Bahn steht zwischen Thier und Übermensch und seinen Weg zum Abende als seine größte Hoffnung feiert: denn es ist der Weg zu einem neuen Morgen. Alsda wird sich der Untergehende selber segnen, dass er ein Hinübergehender sei; und die Sonne der Erkenntnis wird ihm im Mittage stehn.« (Z I, ebd.)
Nietzsches Atheismus ist das Ergebnis einer philosophisch-historischen Aufklärung über das Weltverständnis von Religionen, insbesondere der christlichen Religion. Religionskritik ist für das 19. Jahrhundert nichts Ungewöhnliches wie die Beispiele Ludwig Feuerbach, Heinrich Heine oder Karl Marx und davor der Atheismusstreit um Johann Gottlieb Fichtes idealistische Philosophie zeigen. Doch indem für Nietzsche mit dem Tod des christlichen Gottes das Vertrauen in eine überweltliche Macht und eine durch diese geleitete moralische Weltsicht verlorengeht, wird der Mensch gezwungen, sein Selbstverständnis zu überdenken. Der Tod Gottes versetzt ihn in eine existenzielle 246 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
Übermensch und Metaphysik des Diesseits
Sinnkrise. So steht der Übermensch für die Neu-Definition des postreligiösen Menschen. Dadurch dass Nietzsche Zarathustra als Verkünder eines neuen Menschenbildes wählt und dessen Lehren in poetische Formen kleidet, wird das Utopisch-Visionäre des Übermenschen unterstrichen, aber auch die inhaltliche Bedeutung unschärfer. Zu der Bedeutungsvielfalt des Übermenschen in anderen Texten kommt noch die enge Verbindung zwischen dem Übermenschen und der metaphysischen Konzeption der ewigen Wiederkehr (Wiederkunft) des Gleichen. Diese Gemengelage lässt sich dadurch ordnen, dass nach Maßgabe des obigen Differenz-Modells die Integration von Nietzsches Philosophie in die konstitutionelle Demokratie vollzogen wird. Schon bei den verschiedenen Politikmodellen wird deutlich, dass ein Wettbewerb um normative Idealbildungen des Menschen solange unproblematisch ist, als er sich den Bedingungen eines liberalen Politiktypus fügt (vgl. Kap. 3.1, 3.2). Das gilt auch für eine Kritik, die den christlichen Glauben ablehnt und das Ideal eines ausschließlich diesseitigen Selbstverständnisses vertritt. Gegen ein solchen Selbstverständnis wenden sich diejenigen, die sich zu christlichen oder anderen Gottesvorstellungen bekennen und in Nietzsches Diktum »Es gibt keine Erlösung!« die Gefährdung ihres Lebenssinns sehen (vgl. Kap. 7.1.1). Somit müssen Veränderungen im Sinne dieses Diktums und seines postreligiösen Ideals einem Prozess geistiger Auseinandersetzung überlassen bleiben, deren Verlauf nicht unter äußerem Zwang steht. Das akzeptiert auf seine Weise auch Zarathustra, wenn er den in Mittelmäßigkeit verharrenden Menschen, die an seiner Gottlosigkeit Anstoß nehmen, zuruft: »Ja! Ich b i n Zarathustra, der Gottlose! […] wo finde ich Meinesgleichen? Und alle die sind Meines-Gleichen, die sich selber ihren Willen geben und alle Ergebung von sich abthun.« Der »grosse Mittag« des Hinübergehens zum Übermenschen sei noch nicht gekommen, denn die Menschen weigerten sich noch, selbst das »Feuer« zu entzünden, das ihnen zum neuen Menschen-Bild leuchten soll 247 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
Auf dem Prüfstand historischer Erfahrung
(Z III, 215, 217). Es könne noch sehr lange dauern, bis der Tod des alten Gottes eingetreten sei. Nur ein »Possenreisser« könne denken, »›der Mensch kann auch ü b e r s p r u n g e n werden‹« (Z III, 249). Die Absage an eine religiöse Erlösung verbindet Nietzsche mit einer metaphysischen Weltbejahung, der ewigen Wiederkehr (Wiederkunft) des Gleichen. Wenn man diesen »abgründlichsten Gedanken«, mit dem die veröffentlichte Version des Zarathustra-Textes zu Ende geht 10 , von seiner andernorts ins Extrem getriebenen Polemik löst (vgl. Kap. 7.1.1), dann stellt er den Versuch dar, der Weltzuwendung in all ihren Erscheinungsweisen eine Dignität zu verschaffen, die ihr einen eigenen Glanz von Ewigkeit verleiht. So wird der »Ring der Wiederkunft« am Schluss zu dem »hochzeitlichen« Bekenntnis: »Denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!« (Z III, 287–291) Der Übermensch ist ein Mensch, der sich selbstbewusst an der Immanenz der Welt orientiert, überholte Vorstellungen von Transzendenz ablegt und zur Anerkennung eines ewigen Kreislaufs der Dinge gelangt. Um den Gedanken der ewigen Wiederkehr zu ertragen, bedarf es des starken Menschen, des Übermenschen. Selbst die Wiederkehr Zarathustras oder eines anderen Weisen scheint nötig, um immer wieder darauf hinzuweisen, dass es um das Leben, wie es immer war und sein wird und daher auch immer wieder um den Übermenschen geht (Z III, 276). Schon Alfred Weber hat in treffenden Formulierungen darauf hingewiesen, dass Nietzsche der »objektiv transzendenten Macht«, die kennzeichnend für die Gottesvorstellung des Christentums und vergleichbarer Religionen ist, eine »immanent Die Entstehungsgschichte des Zarathustra erfordert die Zuordnung von dessen Teil IV zum Nachlass. Das gilt auch für die Dionysos-Dithyramben, die teilweise schon in diesem Teil zu finden sind. Eine abschließende Gestaltung der Wiederkunftslehre bleibt offen: M.-L. Haase, Zur Überlieferung und Entstehung von ›Also sprach Zarathustra‹, in: KGW VI/4, 943–978, 1991.
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Übermensch und Metaphysik des Diesseits
transzendente Mächtewelt« entgegenstellt. 11 Diese Kennzeichnung ist gut geeignet, um den Anspruch einer a-religiösen Spiritualität zum Ausdruck zu bringen, der den Gedanken der ewigen Wiederkehr trägt. 12 Für Nietzsche ist die Zuwendung zur Diesseitigkeit der Welt nicht mit der Begrenzung auf ihre raum-zeitliche Verfasstheit verbunden, sondern verlangt eine sinnschöpfende Weltbejahung, die idealiter in der Synthese von Übermensch und ewiger Wiederkehr stattfindet. Dabei ist zu beachten, dass die Idee der ewigen Wiederkehr in ihrer eigentlichen Spiritualität nicht auf eine physikalisch-kosmologische Spekulation, sondern auf ein nur in Augenblicken der Entrücktheit erfahrbares zeitloses Innewerden von Ewigkeit zielt: »Für einen kurzen ewigen Augenblick sieht die Welt wie vollkommen aus.« 13 Die Metaphysik der ewigen Wiederkehr ist das Bekenntnis zu der einen diesseitigen Welt. Diesem Bekenntnis ist als übergreifender Leitgedanke Nietzsches amor fati zuzuordnen, der die bewusste Annahme der Welt ausdrückt. Ausflüchte in WunschA. Weber, Abschied von der bisherigen Geschichte [1946], in: AlfredWeber-Gesamtausgabe, Bd. 3, Marburg 1997, 188 f. Vgl. eine analoge Begriffsbildung bei E. Tugendhat, Nietzsche und die philosophische Anthropologie: Das Problem der immanenten Transzendenz, in: ders., Anthropologie statt Metaphysik, München 2007, 13–33, ebd., 15. 12 H. Ottmann, Nietzsche, a. a. O., 348, spricht von einer »Metaphysik der Immanenz und des Diesseits«. Dort auch differenziert zur Thematik des Übermenschen: 382–388. 13 M. Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und ästhetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von Morgenröthe bis Also sprach Zarathustra, Berlin/New York 1997, 667. Brusotti bezieht die so erreichte Version der Wiederkunftslehre auf den vierten Teil des Zarathustra. Seine Untersuchung geht in subtiler Weise der Entwicklung des Wiederkunftsgedankens, der der Begriffsbildung des Übermenschen vorausgeht, nach (ebd. 328 ff., vgl. dazu das obige Zitat: Kap. 7.1, KSA Bd. 9, 503). Nietzsche erreicht über Aporien einer kosmologischen Deutung (ebd. 358 ff.) das Zusammendenken von Übermensch und ewiger Wiederkunft (ebd. 516 ff.). Diese Verbindung verschiebt mit dem Übermenschen auch die Einsicht in die ewige Wiederkunft in eine Zukunftsdimension. 11
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Auf dem Prüfstand historischer Erfahrung
welten wie religiöse Jenseitswelten werden verneint und Phänomene wie Leid, Schmerz und Tragik als unvermeidliche Bestandteile von Weltzugehörigkeit und Welterfahrung akzeptiert. Nur eine solche Weltsicht ermöglicht auch den künstlerischen Impuls, die Dinge der Welt ins »Vollkommene« zu verwandeln und dabei die eigene kreative Macht zu genießen (vgl. Kap. 4.3: GD, 117). In seiner Fröhlichen Wissenschaft (1882) nimmt sich Nietzsche vor, »das Nothwendige an den Dingen als das Schöne« zu sehen und zu denen zu gehören, »welche die Dinge schön machen: Amor fati: das sei von nun an meine Liebe!« (FW 276-N) Nietzsche will von einer Anklage der hässlichen Dinge der Welt absehen, allenfalls von ihnen »wegsehen«, um irgendwann »nur noch ein Ja-sagender« sein zu können. Die Akzentsetzung des amor fati mag Wandlungen durchlaufen haben, hier genügt es, den Bogen zu einem späteren Fazit zu schlagen: »Philosophie, wie ich sie bisher verstanden und gelebt habe, ist das freiwillige Aufsuchen auch der verwünschten und verruchten Seiten des Daseins […] ›Wieviel Wahrheit e r t r ä g t , wieviel Wahrheit w a g t ein Geist?‹ – dies wurde für mich der eigentliche Werthmesser […] Eine solche Experimental-Philosophie, wie ich sie lebe, nimmt versuchsweise selbst die Möglichkeiten des grundsätzlichen Nihilismus vorweg: ohne […] daß sie bei einem Nein, bei einer Negation, bei einem Willen zum Nein stehen bliebe. Sie will vielmehr bis zum Umgekehrten hindurch – bis zu einem d i o n y s i s c h e n J a s a g e n zur Welt, wie sie ist, ohne Abzug, Ausnahme und Auswahl – sie will den ewigen Kreislauf, – dieselben Dinge, dieselbe Logik und Unlogik der Knoten. Höchster Zustand, den ein Philosoph erreichen kann: dionysisch zum Dasein stehn –: meine Formel dafür ist amor fati …« (KSA, Bd. 13, 492; 1888)
Der Einbindung der Idee des Übermenschen in eine Metaphysik des Diesseits, die sich in der dionysischen Weltsicht und ihrer postreligiösen Zukunftsperspektive ausdrückt, sind weitere Besonderheiten zum Übermenschen hinzuzufügen. So bezeichnet Zarathustra den Übermenschen als »Sinn der Erde«. Der Übermensch solle, wenn die Menschen ihr Selbstverständnis an die250 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
Übermensch und Metaphysik des Diesseits
sem Ideal orientierten, auch die Herrschaft über die von »überirdischen Hoffnungen« befreite Menschheit antreten, denn »das Beste soll herrschen, das Beste w i l l auch herrschen!« (Z, Vorrede, 14 f., Z III, 263). Zwar ruft Zarathustra nach einem neuen dominierenden Adel, der sich »allem Gewalt-Herrischen« und dem Pöbel widersetzt, doch ist klar, dass diese Differenzierung noch keine Antwort darauf ist, wie im Zusammenhang der Begriffsbildung des Willens zur Macht (Z II, 146 ff.) eine nähere gesellschaftlich-politische Gestaltung der Übermenschen-Zukunft auszusehen hätte. Eine solche Antwort zu erwarten, hieße die Poesie des Zarathustra-Textes zu überfordern, führt sie doch auf die unaufgelöste Problematik der politischen Ambivalenz zurück (vgl. Kap. 3.1). Wenn die Entwicklung zum postreligiösen Übermenschen nur als Selbstüberwindung christlich-religiöser Einstellungen zu denken ist und wenn nicht alle Menschen diesem Ideal zu folgen bereit sind, dann bleiben als vertretbare Rahmenbedingungen der geistigen Auseinandersetzung nur gesellschaftliche Regelungen für eine normative Toleranz in einem pluralistischen Spektrum von Menschheitsidealen. Nach aller historischen Erfahrung kann nur ein liberaler Verfassungsstaat solche Regelungen absichern. Dadurch wird verhindert, dass für radikale Atheisten wie Nietzsche ein »Sibirien« geschaffen wird (vgl. Kap. 7.1.1) und dass Christen oder Vertreter anderer Religionen unterdrückt werden. Eine philosophische Begriffsbildung, die der »Kunst der Transfiguration« folgt (vgl. Kap. 3.2) und ein neues Menschenbild mit einer neuen Lebensweise als ambitioniertes Projekt vorstellt, ist verpflichtet, den dafür geeigneten politischen Rahmen klarzustellen. Der Übermensch als selbstbestimmter Mensch des Diesseits ist somit nur mit einem politischen Modell verträglich, das in Einklang mit dem liberalen Idealtypus steht (vgl. Kap. 3). Mit diesem Befund ist die philosophische Dimension des Übermenschen in Rückbindung auf die Metaphysik des Dionysischen gewahrt und die Abgrenzung gegenüber einer Idee des 251 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
Auf dem Prüfstand historischer Erfahrung
Übermenschen mit autoritären oder diktatorischen Ansprüchen definiert. Auch solche Ansätze Nietzsches werden hinfällig, in denen er zwar die Herrschaft des Übermenschen über die »letzten Menschen« der nivellierenden Moderne verneint, aber sich der Illusion eines beziehungslosen Nebeneinander hingibt (KSA, Bd. 10, 244). Ähnlich vage bleiben seine Ideen, die mit der Lehre der ewigen Wiederkehr die »Gründung einer Oligarchie ü b e r den Völkern und ihren Interessen« und die »Erziehung zu einer allmenschlichen Politik« verbinden (KSA Bd. 10, 645). Auch der eigenen Selbstüberhöhung Nietzsches im Ecce homo, in dem er tendenziell die Figur des Zarathustra, den Übermenschen und die Göttlichkeit des Dionysos in seiner Person vereint, muss widersprochen werden (EH, 258 f., 342, 344 f., 348). Hier zeigt sich das systematische Defizit Nietzsches, der sein Menschheitsideal in Bezug auf gesellschaftliche Vermittlung und politische Institutionalisierung unterbestimmt lässt. So ist der poetische Text des Zarathustra eher als eine Utopie des Übermenschen und radikale Kulturkritik denn als konkretes Gesellschaftsprojekt zu verstehen. Die Kehrseite davon ist, dass Nietzsches Gestus der Prophetie, sein Impetus einer menschlichen Transformation und seine autoritären Züge zu simplifizierenden Deutungen des Willens zur Macht Anlass geben und so zu Recht Thomas Manns Ablehnung hervorrufen. Das unterstreicht das gesellschaftstheoretische Defizit von Nietzsches Konzeption. Zur weiteren Differenzierung gehört jedoch auch, dass Nietzsche Reflexionen zur gesellschaftlichen Entwicklung ansetzt, die für die Offenheit seiner Konzeption des Übermenschen sprechen und den Bedeutungssinn eines höheren Typus erhellen. So möchte Nietzsche die »Notwendigkeit erweisen«, »daß zu einem immer ökonomischeren Verbrauch von Mensch und Menschheit, zu einer immer fester ineinander verschlungenen ›Maschinerie‹ der Interessen und Leistungen e i n e G e g e n b e w e g u n g g e h ö r t . Ich bezeichne dieselbe als A u s s c h e i d u n g e i n e s L u x u s - Ü b e r s c h u s s e s d e r M e n s c h h e i t : in ihr soll eine s t ä r k e -
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Übermensch und Metaphysik des Diesseits
r e Art, ein höherer Typus ans Licht treten, der andre Entstehungs- und andre Erhaltungsbedingungen hat als der Durchschnitts-Mensch. Mein Begriff, mein G l e i c h n i ß für diesen Typus ist, wie man weiß, das Wort ›Übermensch‹«. (KSA, Bd. 12, 462)
Der Übermensch wird hier zum Gleichnis für einen gesellschaftlichen Prozess zur Erzeugung des »synthetischen Menschen«, der auf dem »Untergestell« der ökonomisierten Durchschnittsmenschen »seine h ö h e r e F o r m zu sein sich erfinden kann …« (KSA, ebd., 463). Die Selbstfindung des Menschen zu einer solchen Form verlangt den Selbstvollzug der Einzelnen zu dem von Nietzsche geforderten Niveau, so dass dieser höhere Typus nicht als standardisierter Typus, geschweige denn als biologischer Typus, gedacht werden kann. Viel eindeutiger als die höhere Form des Menschen, die von der Selbstformung Einzelner abhängt, sind die gesellschaftlichen Verhältnisse, gegen die sich Nietzsche wendet: »– Man sieht, was ich bekämpfe, ist der ökonomische O p t i m i s m u s : wie als ob mit den wachsenden Unkosten A l l e r auch der Nutzen Aller nothwendig wachsen müßte. Das Gegentheil scheint mir der Fall: d i e Unkosten aller summiren sich zu einem GesammtVe r l u s t : der Mensch wird g e r i n g e r : – so daß man nicht mehr weiß, w o z u überhaupt dieser ungeheure Prozeß gedient hat. Ein wozu? Ein n e u e s ›Wozu?‹ – das ist es, was die Menschheit nöthig hat …« (KSA, Bd. 12, 463)
Damit weitet sich die Perspektive über die postreligiöse Selbstbestimmung hinaus zu einer umfassenden gesellschaftlichen Etablierung von starken Menschen, die eine Gegenbewegung zu der fortschreitenden Ökonomisierung und der damit einhergehenden Nivellierung bilden. Es ergibt sich eine Parallele zwischen der Entwicklung des Menschen, der stark genug ist, um sich des Glaubens an Gott »schämen zu dürfen« (KSA Bd. 12, 467), und dem Menschen, der stark genug ist, Scham über das Ausgeliefertsein an eine ökonomisch determinierte und organisierte Welt zu empfinden. An diesem Punkt berührt sich Nietzsches Zeitkritik mit Sichtweisen der marxistischen Kapitalis253 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
Auf dem Prüfstand historischer Erfahrung
muskritik und mit Adornos Kritik der Kulturindustrie, die gegen die Nivellierungen der modernen Gesellschaft den Verlust des Individuums und des Tragischen beklagen (vgl. Kap. 6.1). Die Verbindung zwischen Übermensch und Metaphysik des Diesseits ist jedoch insofern zu relativieren, als es durchaus starke Menschen gibt, die Nietzsches höherer Form nahekommen, aber gleichzeitig in christlichen Traditionen verhaftet sind. Das wird deutlich an Beispielen wie Goethe und Raffael, aber auch an Bismarck oder Napoleon. An Goethe würdigt Nietzsche, dass er sich zur Ganzheit »s c h u f « und einen »verwegenen Realismus« gepflegt habe, der »eine Ehrfurcht vor allem Thatsächlichen« zeige. Eine solche Haltung mag Einzelnes verwerflich finden, doch lebt sie im Vertrauen darauf, dass »im Ganzen sich Alles erlöst und bejaht«. Damit schließt sich Goethe dem Glauben an Dionysos an, »dem höchsten aller möglichen Glauben«, so dass das christliche Kreuz zur Nebensächlichkeit wird (GD, 151–153). Die Weltzugewandtheit und Weltbejahung Goethes interpretiert Nietzsche als die Sicht auf eine sich selbst erlösende Welt. Das widerspricht nicht dem antichristlichen Diktum, es gebe keine Erlösung, da die christliche Erlösung nicht diesseitig, sondern jenseitig gedacht ist (vgl. Kap. 7.1.1). Vielmehr geht es darum, die christlichen »Weltverleumder-Ideale« durch eine Vertiefung in die Wirklichkeit zu ersetzen und so die »E r l ö s u n g dieser Wirklichkeit« zu Wege bringen, eine Erlösung von dem christlichen Ideal der Weltverneinung (GM II, 24-N). Dem entspricht Nietzsches Kommentar zu Raffael: »Raffael sagte Ja, Raffael m a c h t e Ja, folglich war Raffael kein Christ …« (GD, 117) Die Betrachtung von Raffaels Sixtinischer Madonna stützt dieses Urteil: »›Nicht wahr? Diese Mutter und ihr Kind – das ist ein angenehmer einladender Anblick?‹ Diess Gesicht und dieser Blick strahlt von der Freude in den Gesichtern der Betrachter wieder; der Künstler […] geniesst sich auf diese Weise selber und giebt seine eigene Freude zur Freude der Kunst-Empfangenden hinzu.« (MA II/2, 73-N) Und deshalb war 254 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
Übermensch und Metaphysik des Diesseits
Raffael »dankbar für das Dasein, wo es n i c h t spezifisch-christlich sich zeigte.« (KSA, Bd. 12, 119) 14 Der politische Bereich bietet ebenfalls Beispiele von bedeutenden Menschen, die sich christlicher Voreingenommenheit wie ihrer Durchschnittlichkeit entziehen. Bismarck, dessen eigenes Selbstverständnis auf der christlichen Tradition beruht, wird zwar von Nietzsche im Kontext des deutschen Nationalismus kritisiert, »sein beweglicher Geist im Dienste starker Grundtriebe« wird jedoch gelobt (M, 167-N). Er ist wie Goethe eine »A u s n a h m e vom Geist der Rasse«. »Rasse« bezieht sich hier auf die Deutschen, denen Bismarcks »Macchiavellismus« und seine »Realpolitik« fremd geblieben seien. Wie Goethe, dessen Realismus geradezu dem »Heidenthum« gleichkomme, verkörpere Bismarck einen Weltzugang, der eine »kräftigere Zukunft« vorbereite. So dienen Goethe und Bismarck der Metaphysik des Diesseits als Beispiele (FW 357-N, KSA, Bd. 11, 273, KSA, Bd. 12, 444). Das Entsprechende gilt für Napoleon, der bei Nietzsche eine Sonderstellung einnimmt. Im Kontext des Übermenschen interessiert nicht der obsolete politische Bonapartismus (vgl. Kap. 3.2, 3.3). Vielmehr geht es um das Phänomen des Ausnahmemenschen, den Nietzsche als Gegenentwurf zu Rousseaus revolutionärem Egalitarismus präsentiert: »Um es im G l e i c h n i s s zu sagen: Napoleon war ein Stück ›Rückkehr zur Natur‹, so wie ich sie verstehe (zum Beispiel in rebus tacticis, noch mehr, wie die Militärs wissen, im Strategischen).« (GD, 150) Aber Napoleon verdeutlicht auch das Problem von Nietzsches vornehmem Ideal, eine Zwiespältigkeit, die er als Synthese von »Unmensch und Übermensch« charakterisiert (GM I, 16-N). An anderer Stelle – aber im selben Tenor – wird Raffael von Michelangelo überboten, weil dieser durch den »christlichen Schleier« hindurch die Ideale einer vornehmen Kultur gesehen habe (KSA, Bd. 11, 470), doch die Wertschätzung für Raffael bleibt erhalten, da er den klassischen Typus der Jungfrau geschaffen habe, die in ihrer menschlichen Heiterkeit »ewig populär bleiben (wird)«: KSA, Bd. 13, 122.
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Auf dem Prüfstand historischer Erfahrung
Nietzsche erkennt Napoleons barbarische Züge, seine Maßlosigkeit und fehlende Seelengröße und vermeidet deshalb eine undifferenzierte Heroisierung (KSA, Bd. 11, 40 f.). Außerdem pflegt Napoleon einen pragmatischen Umgang mit dem Katholizismus. Insofern kann man ihn schwerlich als Atheisten bezeichnen. Bei aller Würdigung solcher Menschen müssen die philosophisch leitenden Fragen jedoch sein: was sagt ihr Beispiel über die jeweilige Zeit aus und welche herausragenden Fähigkeiten erzeugen ihre prägende Wirkung. Die Metaphysik des Diesseits und der postreligiöse Übermensch können so als idealtypischer Maßstab dienen, um die Beurteilung großer Persönlichkeiten in einer historischen Ikonographie vorzunehmen. Da keine historische Figur der idealtypischen Konstruktion gerecht werden kann, stilisiert Nietzsche Goethe zum »Heiden« und Raffael zum »Nicht-Christen« oder klammert bei Bismarck und Napoleon deren christliche Bezüge aus. Diese Beispiele einer Ikonographie menschlicher Größe zeigen das Problem auf, mit welchen Akzenten eine zukünftige höhere Form des Menschen zu versehen sei. Die idealtypische Konstruktion des starken diesseitigen Menschen, der sich vom Durchschnitt abhebt und eine höhere Form verkörpert, die sich in Distanz zu einer überökonomisierten Welt positioniert, ist zu unbestimmt, um insbesondere gesellschaftstheoretisch zu überzeugen. Einzelne Menschen mögen zwar zu einer individuellen höheren kulturellen Form finden, doch kann sich zugleich herausstellen, dass ihnen die Fähigkeit zu sozialer Kommunikation, der Einblick in politische Zusammenhänge und politisches Urteilsvermögen fehlt. Umgekehrt können auch Christen, die fähig sind, machiavellistisch zu handeln, die höhere Form einer künftigen Elite erreichen. Die künftigen Ikonen menschlicher Größe bleiben so als konkrete Gestalten im Unbestimmten. Nietzsche gibt jedoch deutliche Hinweise zu einer menschlichen Synthese, die der europäischen Zukunft gilt:
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Übermensch und Metaphysik des Diesseits
»Bei allen tieferen und umfänglicheren Menschen dieses Jahrhunderts war es die eigentliche Gesammt-Richtung […] versuchsweise den Europäer der Zukunft vorwegzunehmen […]. Ich denke an Menschen wie Napoleon, Goethe, Beethoven, Stendhal, Heinrich Heine, Schopenhauer […] auch Richard Wagner […]. Sie sind sich in allen Höhen und Tiefen ihrer Bedürfnisse verwandt, grundverwandt: Europa ist es, das Eine Europa, dessen Seele sich durch ihre vielfältige und ungestüme Kunst hinaus, hinauf drängt und sehnt – wohin? In ein neues Licht? Nach einer neuen Sonne?« (JGB, 256-N) 15
Hier formuliert Nietzsche gegen den Nationalismus des 19. Jahrhunderts eine Perspektive, die über individuelle Selbstvervollkommnung sowie ökonomische Beschränktheit hinausführt. Wiederum sind es seine Ikonen, die ihn leiten. Im Zentrum steht nun nicht mehr deren persönliche Größe, sondern die integrative Kraft des europäischen Menschen. Insofern werden das Gleichnis des Übermenschen und die Suche nach einem höheren Typus mit dem überindividuellen Ziel verbunden, den Europäer als den dominierenden Menschen der Zukunft hervorzubringen. Eine solche Aufgabe kann nur im Ringen um menschliche Selbstverständnisse bewältigt werden, wobei große Persönlichkeiten als Vorbilder dienen können. Es ist bezeichnend, dass Nietzsche Napoleon neben die kulturellen Größen stellt. Was dabei zählt, sind die kulturellen Wertmaßstäbe der menschlichen Zukunft. Wenn Nietzsche daher »das nächste Jahrhundert in den Fußstapfen Napoleons« zu sehen meint (KSA, Bd. 11, 584), dann gleicht das zunächst der realpolitisch ausgedienten Utopie eines europäischen Caesarismus. Doch zugleich enthält sie eine Vision, deren Langzeitperspektive sich die Europäer erst nach den historischen Erfahrungen von zwei Weltkriegen zu eigen machen können. Dass zur Umsetzung dieser Perspektive starke politische Persönlichkeiten wie de Gaulle oder Adenauer und kulturelle Repräsentanten wie Vgl. KSA, Bd. 13, 451: Zu Napoleon: »Europa als politische Einheit concipirend«. Und: »Goethe, indem er eine europäische Cultur imaginirte, die die volle Erbschaft der schon e r r e i c h t e n Humanität macht.«
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Auf dem Prüfstand historischer Erfahrung
Thomas Mann gehören, liegt auf der Hand. Der Europäer der Zukunft kann so im Rahmen der aufgezeigten Differenzierungen als idealtypisches Maß gelten. Dabei wird deutlich, dass das idealtypische Maß von persönlichen, gesellschaftlichen und politischen Konstellationen abhängig ist und welche historischen Brechungen zu berücksichtigen sind, die den gegenwärtigen oder künftigen Spielraum für Ausnahmemenschen prägen. Die Erfahrungen des 20. und 21. Jahrhunderts mit den Totalitarismen des »Neuen Menschen« oder diktatorischen Regimen zeigen, dass ein autoritäres Modell von Gesellschaft und Politik keinen produktiven Raum für menschliche Höherentwicklung eröffnet. Insofern hat Nietzsche, der unter dem Einfluss Napoleons Öffentlichkeit und Parlamentarismus als untauglich für eine europäische Perspektive erklärt (KSA, Bd. 11, 584) oder die moderne Demokratie als institutionelle Verfallsform des Staates kritisiert (GD, 140 f.), den Test der Geschichte gegen sich. Das führt auf Thomas Manns Intuition zurück, dass, wenn überhaupt, Nietzsches Idee des Übermenschen nur in einem humanen »Reich der Demokratie« diskutierbar bleibt. Hieraus folgt, dass die gesellschaftlich-politische Bedeutung der Begriffsbildung des Übermenschen und die postreligiöse Metaphysik des Diesseits in eine republikanische Integration einzubinden ist. Damit lautet die Frage: Welchen besonderen Rang können Ausnahmemenschen im Rahmen der konstitutionellen Demokratie einnehmen und welcher ist vertretbar?
7.2.2 Ausnahmemenschen und menschliche Perfektion Auch wenn bei Nietzsche schon früh der künstlerische Genius als Paradigma menschlicher Selbstentfaltung feststeht, so kann die Emphase zur Selbstvervollkommnung nicht auf den individuellen Bereich beschränkt bleiben (vgl. Kap. 3.1). Doch die individuelle Selbstentfaltung gehört zur Kultur einer modern verfassten Demokratie und kommt in der Anerkennung besonderer 258 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
Übermensch und Metaphysik des Diesseits
Leistungen in Musik, bildender Kunst, Literatur, Wissenschaft oder Philosophie zum Ausdruck. Auch in einer dem Gleichheitsgrundsatz verpflichteten Demokratie bedarf es keiner strukturellen Begrenzung von individuellen Unterschieden, dem Einzelnen steht hinreichend Spielraum zur individuellen Selbstentfaltung zu. So stellt Nietzsches emphatische Betonung hochkultureller Qualitätsmaßstäbe ein legitimes Anliegen dar und Ausnahmeerscheinungen großer Persönlichkeiten können sich frei entfalten. Über deren Leistungen im Einzelnen kann man trefflich streiten, wie nicht zuletzt Nietzsches Auseinandersetzung mit Wagner zeigt, doch das ändert nichts daran, dass Wagner ein musikalisches Genie verkörpert. Das verweist auf die Frage, welche Ausnahmemenschen als besonders beispielgebend anzusehen sind, und das führt auf ihre gesellschaftliche, möglicherweise politische Relevanz. Thomas Manns Kritik an Wagner wie an Nietzsche zeigt, zu welchen gesellschaftlichen und politischen Konflikten kulturelle Leistungen beitragen können. Für die Demokratie ist hieraus die Konsequenz zu ziehen, dass sie eines öffentlichen Raums von Kritik und Gegen-Kritik bedarf, der zivilisierten Umgang mit kulturellen Konflikten ermöglicht, aber diese auch in einen rechtlichen Rahmen stellt. Atheisten, die sich auf Nietzsche berufen, haben Regeln des Meinungspluralismus genauso zu respektieren wie Christen oder Muslime, denen Nietzsche und seinesgleichen ein Gräuel sind. Insofern kann ein aufgeklärter Pluralismus religiöser oder anti-religiöser Grundüberzeugungen, der in einer demokratischen Öffentlichkeit bewusst mit Leben erfüllt wird, schon als solcher dem Qualitätsanspruch einer »höheren Form« im Sinne einer Weiterentwicklung des Menschen näherkommen. Wenn es eine anspruchsvollere menschliche Existenzweise darstellt, sich in einem pluralistischen Spektrum von religiösen und anti-religiösen Grundüberzeugungen selbstbestimmt zu bewegen und für die Durchsetzung der eigenen Überzeugungen zu argumentieren oder zu polemisieren, dann leistet Nietzsches 259 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
Auf dem Prüfstand historischer Erfahrung
Atheismus und seine Metaphysik des Diesseits einen aufklärerischen Beitrag zum Entwicklungsprozess eines kulturellen Pluralismus, dessen Verlauf nicht determiniert werden kann und daher prinzipiell offen ist. Der Übermensch ist so kein fixierbares Ziel, sondern in der Tat nur ein »Gleichniß«. 16 Er steht für den hohen Qualitätsanspruch der Auseinandersetzung mit dem Problem der individuellen wie gesellschaftlichen Selbstentfaltung in einem modernen Welthorizont. Insofern kann auf den Terminus »Übermensch« auch verzichtet werden. Stattdessen ist es angemessener, von Ausnahmemenschen im Plural zu sprechen, die als exemplarisch dafür gelten können, gleichzeitig hohe Qualitätsansprüche der Selbstentfaltung und Weltbewältigung zu erfüllen. Das setzt eine Einstellung zur Welt voraus, die deren Probleme oder Fragwürdigkeiten als Herausforderungen annimmt und ihnen mit aktivem Gestaltungswillen begegnet. Die Stärke dieses Gestaltungswillens und die persönlichen Fähigkeiten, ihm gerecht zu werden, können als Maßstab für die Bedeutung, die »Größe« eines Menschen genommen werden. Der von Nietzsche antizipierte Europäer der Zukunft ist ein treffendes Problembeispiel, das bis in die Gegenwart Relevanz besitzt und deutlich macht, was es bedeutet, nicht nur veränderte Einstellungen zur Selbstentfaltung der Menschen in Europa hervorzubringen, sondern insbesondere auch die politischen Mittel
Auch M. Knoll (The ›Übermensch‹ as a Social and Political Task: A Study in the Continuity of Nietzsche’s Political Thought, in: M. Knoll/B. Stocker (eds.), Nietzsche as Political Philosopher, Berlin/Boston 2014, 239–266) betont die Offenheit der Konzeption und verweist treffend auf die soziale und politische Dimension des Übermenschen. Die vergleichende Betrachtung zu Platos politeia ist textexegetisch erhellend (ebd., 251 ff.), doch bedarf ein nietzscheanischer Republikanismus anderer systematischer Akzente. Das Entsprechende gilt für die griechisch-platonische Traditionslinie, die – wenn auch zu stark – betont wird bei: H. Drochon, Nietzsche’s Great Politics, Princeton/Oxford 2016, insbes. Kap. 5, 6. Zur politischen Systematik Kap. 8.2.
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Übermensch und Metaphysik des Diesseits
und Wege zu finden, um eine entsprechende Entwicklung zu befestigen. Dass dazu von verschiedenen europäischen Politikern durchaus so etwas wie Bismarck’scher Macchiavellismus oder napoleonischer Machtinstinkt erforderlich sein kann, ist so lange kein Einwand, als nicht der Rahmen der europäischen Vertragsgemeinschaft oder die Rückbindung auf nationale Parlamente verlassen wird. Die Komplexität, mit der eine europäische Zukunft auf verschiedenen Ebenen behaftet ist, unterstreicht die Qualitätsanforderung, der insbesondere die politischen Führungen der europäischen Demokratien zu genügen haben. Da übergreifende autoritäre Muster der Problembewältigung entfallen, verbleibt nur der zivilisierte Konflikt im politischen Streit um europäische Selbstverständnisse und Gestaltungen. Kulturelle und politische Konflikte sind typisch für eine Problemlage, in der Ausnahmemenschen ebenso wie alle anderen Mitglieder der Gesellschaften Europas ihren Platz haben. Es ist daher nicht hilfreich, breitere gesellschaftliche Schichten der europäischen Nationen gegen kulturelle, gesellschaftliche und politische Eliten auszuspielen (vgl. Kap. 8.2). Natürlich wirken die elitären Forderungen Nietzsches nach einem »neuen Adel« oder einer Herrscherkaste von Vornehmen über Europa wie autoritäre Nostalgie und entsprechen keinen realpolitischen Optionen (vgl. Kap. 7.2.1). Das ändert aber nichts daran, dass unter demokratischen Bedingungen gefragt werden kann, welchen Auffassungen vom Zusammenleben der Menschen der Vorzug zu geben ist und welchen maßgeblichen Persönlichkeiten die legitime Rolle zukommt, für weitere Entwicklungen wegweisend zu sein. Damit ist ein Spannungsverhältnis benannt, das sich auf die Wechselbeziehung von Eliten und Bevölkerung im nationalen wie internationalen Rahmen bezieht und nähere Betrachtung im Sinne einer nietzscheanischen Konfliktdemokratie erfordert (vgl. Kap. 8.2). Zu ergänzen ist, dass Nietzsches dionysische Sicht auf die Welt und das menschliche Dasein zwar die mögliche Weiterent261 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
Auf dem Prüfstand historischer Erfahrung
wicklung des Menschen zu höherer Perfektion vermittelt, aber nicht auf eine optimistische Fortschrittsgeschichte der Menschheit zielt. Denn der Kontingenz von geschichtlichen Entwicklungen ist ebenso Rechnung zu tragen wie der Vielfältigkeit von Ausnahmemenschen, die über die europäische Perspektive hinausgeht. Das unterstreicht, dass die Rede vom Übermenschen eher als Gleichnis zu lesen ist: »Die Menschheit stellt n i c h t eine Entwicklung zum Besseren oder Stärkeren oder Höheren dar, in der Weise, wie dies heute geglaubt wird. Der ›Fortschritt‹ ist bloß eine moderne Idee, das heißt eine falsche Idee. Der Europäer von heute bleibt, in seinem Werthe tief unter dem Europäer der Renaissance; Fortentwicklung ist schlechterdings n i c h t mit irgendwelcher Nothwendigkeit Erhöhung, Steigerung, Verstärkung. In einem andren Sinne giebt es ein fortwährendes Gelingen […] aus den verschiedenen Culturen heraus, mit denen in der That sich ein h ö h e r e r Ty p u s darstellt: Etwas, das im Verhältniss zur GesammtMenschheit eine Art Übermensch ist. Solche Glücksfälle des grossen Gelingens waren immer möglich und werden vielleicht immer möglich sein. Und selbst ganze Geschlechter, Stämme, Völker können unter Umständen einen solchen Tr e f f e r darstellen.« (AC, 4-N; vgl. KSA, Bd. 13, 191)
Hier kommt deutlich zum Ausdruck, dass die »Treffer« als Glücksfälle des menschlichen Gelingens unter kontingenten geschichtlichen Konstellationen stehen. Von ›Typus‹ ist daher nur im Sinne der Ausprägung herausragender Qualitäten zu reden. 17 Eine solche menschliche Größe wird komparativisch als eine »Art Übermensch« aufgefasst, wobei umgangssprachliche Redewendungen wie »übermenschliche Anstrengung« oder »übermenschliche Ausdauer« etc. anklingen. Sofern Kollektiven ein solches Gelingen zugesprochen werden kann, stehen für
Vgl. KSA, Bd. 13, 317: »Die reichsten und komplexesten Formen – denn mehr besagt das Wort ›höherer Typus‹ nicht – gehen leichter zu Grunde […] der höhere Typus stellt eine unvergleichlich größere Complexität, – eine größere Summe coordinierter Elemente dar […].«
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Übermensch und Metaphysik des Diesseits
Nietzsche die Stadtstaaten der Renaissance, die griechische Polis oder Venedig an erster Stelle (vgl. Kap. 3.2). Solche Kollektive bilden aber keinen homogenen ›Typus‹, sondern sie sind Einheiten, die durch ihre innere Konstitution unterschiedliche Gestalten von Größe hervorbringen. In ihren herausragenden Repräsentanten kulminiert das überindividuelle Ziel einer nach menschlicher Vollkommenheit strebenden Gemeinschaft, die sich durch ihre Eigenart in der Welt behauptet. Kollektive diesen Zuschnitts exemplifizieren Nietzsches emphatischen Begriff von Kultur in seinen frühen Schriften: »Kultur ist vor allem Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäusserungen eines Volkes.« (UZ 1, 163, UZ 2, 274) Insofern gehört zu einer Ikonographie großer Menschen eine entsprechende Ikonographie großer Gemeinschaften mit starken Repräsentanten. Nietzsche, der Thukydides als »Menschen-Denker«, der mit unbefangener Weltkenntnis die kulturelle Hochblühte Athens erfasst habe, bewundert, erläutert, worin die Einheit dieser Blühte zu sehen sei, nämlich in einer Kultur, »welche in Sophokles ihren Dichter, in Perikles ihren Staatsmann, in Hippokrates ihren Arzt, in Demokrit ihren Naturforscher hatte […]« (M, 168-N). Auch wenn Nietzsche seinen frühen ganzheitlichen Begriff von Kultur später modifiziert, um den kulturellen Divergenzen unter modernen Bedingungen besser gerecht zu werden 18 , so treffen seine Provokationen gegen moderne Fortschrittsgläubigkeit insofern einen bedenkenswerten Punkt, als sie die Selbstverständlichkeit der Rede vom Fortschritt in Frage stellen und die modernen Gesellschaften in einen kontingenten Horizont der Geschichte rücken. 19 Es fragt sich, wie der Geschichtlichkeit des moralischen Vgl. P. v. Tongeren, Vom ›Arzt der Cultur‹ zum Arzt und Kranken in einer Person. Eine Hypothese zur Entwicklung Nietzsches als Philosoph der Kultur(en), in: A. U. Sommer (Hg.) Nietzsche – Philosoph der Kultur (en)?, Berlin/New York 2008, 11–29. 19 Vgl. die Standard-Definition der Kontingenz: Kontingent ist das, was weder notwendig noch unmöglich ist. 18
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Auf dem Prüfstand historischer Erfahrung
Universalismus, seinen liberal-demokratischen Ausprägungen und seinen menschlichen Selbstverständnisse in der Perspektive einer globalen Menschheitsgeschichte Rechnung getragen werden kann. Dass Alternativen zu dieser Entwicklung bestehen und weiter möglich sind, bedarf der umfassenden konflikttheoretischen Betrachtung von Politik (vgl. Kap. 8.2). Das schließt nicht aus, von Fortschritt zu sprechen, wenn es um die Bewertung der Niederlagen von Nationalsozialismus und Bolschewismus aufgrund historischer Erfahrung geht. Entsprechendes gilt für neuere geschichtliche Entwicklungen (z. B. Südafrika unter Mandela). Auch geht es nicht darum, Nietzsches Wertungen in jeder Hinsicht zu teilen. Sie erschließen jedoch in ihrer vergleichenden Sicht auf menschliches Gelingen im individuellen wie überindividuellen Rahmen eine Problemlage, die nicht überholt ist. Dabei ist es ein Fehler, Nietzsche auf eine rückwärtsgewandte Apologie der griechischen Hochkultur oder der Renaissance festzulegen, denn er ist sich über den heuristischen Stellenwert seiner Vergleiche im Klaren: »Überdies k ö n n e n wir in’s Alte nicht zurück, wir h a b e n die Schiffe verbrannt; es bleibt nur übrig, tapfer zu sein, mag nun dabei diess oder jenes herauskommen.« (MA I, 248-N) 20
Durch historische Erfahrung belehrt und unter Berücksichtigung der kritischen Bestandsaufnahme von Nietzsches Philosophie kann so diskutiert werden, was unter gegenwärtigen Verhältnissen Nietzsches Anregung, »dionysisch« zum Dasein zu stehen, bedeutet. Dass Thomas Manns Zeitfahrt mit Nietzsche dafür nur einen demokratischen Rahmen zulässt, ist klar.
Vgl. KSA, Bd. 8, 97: »Das griechische Alterthum als classische Beispielsammlung für die Erklärung unserer ganzen Cultur und ihrer Entwicklung. Es ist ein Mittel u n s z u v e r s t e h e n , unsre Zeit zu richten und dadurch zu überwinden.«
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Thomas Mann, historische Erfahrung, philosophische Systematik
7.3 Thomas Mann, historische Erfahrung, philosophische Systematik Die Beurteilung der Philosophie Nietzsches unter den Bedingungen historischer Erfahrung hat sich als ein vielschichtiges Unterfangen erwiesen, zu dem Thomas Mann wesentliche Gesichtspunkte beiträgt. Als Zeitgenosse gravierender Umbrüche und krisenhafter politischer Entwicklungen des 20. Jahrhunderts ist er gezwungen, seine kulturelle Bindung an die deutsche Klassik und Romantik sowie seine Ikonen Schopenhauer, Wagner und Nietzsche zu reflektieren und zu modifizieren. Bei seiner Verarbeitung historischer Erfahrung kommt er zu Lernprozessen, die seine künftige Haltung zum Verhältnis von Kultur und Politik prägen: die Verteidigung der Weimarer Republik. Diese politische Erkenntnis führt zu einem Wandel im Umgang mit den von Thomas Mann geschätzten kulturellen Traditionen. Nach seiner zunächst patriotischen Parteinahme für Deutschland zu Zeiten des Ersten Weltkriegs löst er sich von seiner konservativen Bindung an das Kaiserreich und plädiert mit der Absage an den Krieg und politischen Terrorismus für humane Maßstäbe in der Politik. Diese politische Wende verarbeitet er auf verschiedenen Ebenen, vor allem aber kulturell. So legen Thomas Manns Romane und Erzählungen, seine Essays, Tagebücher und Briefe Zeugnis über seine permanente Reflexion zur Wechselbeziehung von deutscher Kultur und Politik ab. Die Sonderstellung, die Nietzsche in diesem Prozess einnimmt, habe ich deutlich gemacht. Es zeigt sich, dass Thomas Manns Sicht auf Nietzsches Philosophie durch einige kritische Klarstellungen der Korrektur bedarf. Diese erstreckt sich auch auf Thomas Manns Nietzsche-Deutung im Kontext der NS-Problematik, wie die Kontrastierung von Kontinuitäts- und Differenz-Modell der Nietzsche-Interpretation darlegt (Kap. 7.1). Das schmälert nicht die Verdienste von Thomas Mann, der seine intellektuellen und künstlerischen Fähigkeiten nicht nur poli265 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
Auf dem Prüfstand historischer Erfahrung
tisch gegen die NS-Herrschaft einsetzt, sondern auch Nietzsches geistigen Rang vor fragwürdigen Verzeichnungen schützt. Die Schwankungen seines Nietzsche-Bildes und seine ästhetische Würdigung Nietzsches belegen sein Bemühen, Nietzsche gerecht zu werden (vgl. Kap. 4, 5). So kommt Thomas Mann zu der programmatischen Aussage – »Nicht Nietzsche hat den Fascismus gemacht, sondern der Fascismus ihn.« Sie ist der Anlass, Nietzsches Relevanz für das 20. Jahrhundert einer weiteren systematischen Interpretation zu unterziehen (vgl. Kap. 6). Ein abschließender Blick auf den Nietzsche-Essay Thomas Manns zeigt, dass sich bei aller Kritik auch Ansätze finden, die nicht nur eine klare Trennungslinie zwischen Nietzsche und dem NS ziehen, sondern darauf hinweisen, wie mit Nietzsche der Nazismus moralisch und politisch verurteilt werden kann. So offenbart die vermeintliche Nietzsche-Kritik, die Thomas Mann gegen den Übermenschen als Repräsentanten einer antihumanen Lehre ins Feld führt, eine Nietzsche viel näher stehende Sichtweise von aufklärerischer Moralkritik, die auch Nietzsches Atheismus zugrunde liegt (vgl. Kap. 7.2). Noch eindringlicher ist Thomas Manns Betonung von Nietzsches »Hohn auf den Antisemitismus und den gesammten Rasseschwindel« sowie dessen Absage an »nationalistische Borniertheit«. Hinzu komme Nietzsches Europäertum und sein den Straßenpöbel des NS konterkarierender Gestus der Vornehmheit (19.1: 217, 209, 211, 218, 216). All das verweist darauf, dass Thomas Mann eigentlich die Frage bearbeitet, wie in Anbetracht dieser Gegensätze zum Nazismus das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie von Nietzsches Philosophie zu gewichten sei. Diese Gewichtung bringe ich im Folgenden zu einem systematischen Fazit, indem ich die inhaltlichen Gegensätze zum Nazismus mit den zu Nietzsches Philosophie gewonnenen Einsichten verbinde (Kap. 7.3.1). Angesichts historischer Realitäten schließen sich daran Revisionen zur Begrifflichkeit Nietzsches an, die zur Diskussion der produktiven Züge seiner Philosophie für Gegenwart und Zukunft überleiten (Kap. 7.3.2). 266 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
Thomas Mann, historische Erfahrung, philosophische Systematik
7.3.1 Zentrum und Peripherie An der historischen Realität der nationalsozialistischen Judenvernichtung wird deutlich, dass Nietzsches dionysischer Radikalismus mit den zentralen Thesen und Praktiken des Nazismus unvereinbar ist. 21 Nietzsches Kritik des Antisemitismus ist so eindeutig und kompromisslos wie seine grundsätzliche Ablehnung des Rassismus und Nationalismus. Wie sich zeigt, haben eine solche Haltung und Nietzsches emphatisch betontes Europäertum bereits im Umfeld des Ersten Weltkriegs kaum noch Aussicht, gegen die Mehrheitsmeinung zur Geltung zu kommen. Insofern ist Nietzsche bereits in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts politisch unzeitgemäß und die bonapartistische Variante seiner ambivalenten Stellung zur Politik obsolet (vgl. Kap. 1.1, 3.3). Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus nimmt in seinen letzten Jahren zunehmend an Schärfe zu. Rückblickend betont er, schon bei seiner Trennung von Wagner den Antisemitismus verachtet zu haben (NW, 431). Darüber hinaus sprechen seine polemischen Spitzen gegen den Antisemitismus von Heinrich Treitschke, Theodor Fritsch, Eugen Dühring oder seinen Schwager Bernd Förster eine deutliche Sprache. In einem Briefentwurf an seine Schwester heißt es: »Nachdem ich gar den Namen Z(arathustra) in der antis(emitischen) Korrespondenz gelesen habe, ist meine Geduld am Ende – ich bin jetzt gegen die Partei Deines Gatten im Zustand der N o t w e h r. Diese verfluchten Antisemiten-Fratzen s o l l e n nicht an mein Ideal greifen!!« (BN, Bd. 8, 218 f.) 22 Es ist das Verdienst von Georges Bataille, dies im Jahr 1944 aus Anlass des 100. Geburtstags von Nietzsche ganz entschieden betont zu haben: ders., Nietzsche und der Nationalsozialismus, in: Nietzsche und der Wille zur Chance (Atheologische Summe III), hg. von G. Bergfleth, München 2005, 221–229. 22 Diese Abgrenzung stammt von Ende 1887. Vgl. folgende Polemiken: Gegen Treitschke: »Benebelungen des deutschen Geistes und Gewissens« 21
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Auf dem Prüfstand historischer Erfahrung
Damit protestiert Nietzsche gegen Missverständnisse oder bewusste Verfälschungen, die sein Konzept einer neuen moralischen Wertsetzung mit politischen Zeitströmungen des Antisemitismus vermischen. Nietzsches diesseitsorientierte Rangordnungsmoral kritisiert zwar die aus jüdischen Ursprüngen abgeleitete christliche Moral, doch hat die weltgeschichtliche Perspektive dieser Kritik nichts mit Antisemitismus zu tun. Wieweit Nietzsches genealogische Analyse der jüdisch-christlichen Moral als historische Interpretation zu überzeugen vermag, kann hier dahingestellt bleiben. Es genügt, an den Grundzug seiner These zu erinnern, der den Rahmen für die bereits erläuterte typologische Unterscheidung in Herrenmoral und Sklavenmoral abgibt (vgl. Kap. 3.1). Damit wird der philosophische Gehalt unterstrichen und von verkürzenden antisemitischen Politisierungen abgegrenzt. 23 (JGB, 251-N); gegen Fritsch: »Es giebt gar keine unverschämtere und stupidere Bande in Deutschland als diese Antisemiten […]. Dies Gesindel wagt es, den Namen Z(arathustra) in den Mund zu nehmen! Ekel! Ekel! Ekel!« (KSA, Bd. 12, 321; vgl. NB, Bd. 8, 45 f., 51) Zum Standard-Klischee des Antisemitismus: »seinen Neid gegen die Geschäfts-Klugheit der Juden unter Moralitäts-Formeln zu verstecken ist antisemitisch, ist gemein, ist plump canaille«. (KSA, Bd. 12, 494) Gegen Dühring: »[…] Dühring, das erste Moral-Großmaul, das es jetzt giebt, selbst noch unter seinesgleichen, den Antisemiten […].« (GM III, 14-N) Vgl. auch Kap. 1.1. Gegenüber diesen klaren Aussagen fallen antisemitische Bemerkungen des frühen Nietzsche (z. B. KSA, Bd. 1, 154, 549/KSA, Bd. 14, 101; NB, Bd. 2, 125, 127; MA I, 475-N) nicht mehr ins Gewicht. Eine differenzierte Darstellung zu Nietzsche und dem Antisemitismus gibt: F. M. Zumbini, Die Wurzeln des Bösen, Frankfurt/M. 2003, Kap. VI. Mit Blick auf Wagner vgl. Ch. Niemeyer, Nietzsche und sein Verhältnis zum Antisemitismus, in: R. Reschke/ M. Brusotti, »posthum geboren«, a. a. O., 501–511. Zu Dühring als Nazi avant la lettre: W. Santaniello, Nietzsche und die Juden im Hinblick auf das Christentum und Nazismus – nach dem Holocaust, in: Ch. Niemeyer et al. (Hg.), Friedrich Nietzsche, Darmstadt 2014, 197–236, hier 203 ff. Im Sinne der »narrativen Kohärenz« von Detering (vgl. oben Anm. 9) wären auch Nietzsches letzte Äußerungen anzuführen: »Ich lasse eben alle Antisemiten erschießen … Dionysos« (NB, Bd. 8, 575: 4. Januar 1889). 23 Für eine detaillierte Analyse der historischen Problematik von Nietz-
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Thomas Mann, historische Erfahrung, philosophische Systematik
Die genealogische Analyse der Moral liefert eine Typologie der moralischen Weltgeschichte, die von zwei gegensätzlichen Strömungen, der aristokratischen Herrenmoral und der egalitären Sklavenmoral, geprägt wird. Für die Sklavenmoral steht die jüdisch-christliche Tradition, in deren Folge sich eine egalitäre gesellschaftliche und politische Bewegung entwickelt. Mit den Juden beginnt für Nietzsche der Sklavenaufstand in der Moral. Ihnen sei es gelungen, einer Moral des Ressentiments weltgeschichtliche Dominanz zu verschaffen. Das Ressentiment entfaltet mit den Juden eine schöpferische Kraft der spezifischen Wertsetzung, die es ermöglicht, die frühere vornehme Rangordnung zwischen hochgestellten und gemeinen Menschen umzukehren. Das »Grundgefühl einer höheren herrschenden Art im Verhältnis zu einer niederen Art, zu einem ›Unten‹« definiert ursprünglich den Gegensatz zwischen »gut« und »schlecht«, der einem »Pathos der Distanz« entspringt (GM I, 2-N). Die aristokratische Wertgleichung lautet »gut=vornehm= mächtig=schön=glücklich=gottgeliebt«. Dagegen haben die Juden – als Volk der priesterlichen Rache – die Umkehrung gewagt: »nämlich ›die Elenden sind allein die Guten, die Armen, Ohnmächtigen, Niedrigen sind allein die Guten, die Leidenden […] die einzig Gottseligen […] ihr Vornehmen und Gewaltigen, ihr seid in alle Ewigkeit die Bösen, die Grausamen, die Lüsternen, die Unersättlichen, die Gottlosen, ihr werdet die […] Verdammten sein!‹« (GM I, 7-N)
Die Umkehrung der ursprünglich »Guten« in die »Bösen« und die Umkehrung der ursprünglich »Schlechten« in die »Guten« steht hinter dem Sklavenaufstand in der Moral, den Nietzsche sches Genealogie und zur Einordnung von Nietzsches Verhältnis zum Judentum in sein Gesamtwerk ist zu verweisen auf: Y. Yovel, Dark Riddle. Hegel, Nietzsche, and the Jews, Pennsylvania 1998, Part II, 103 ff. Eine komprimierte Fassung dieser exzellenten Studie bietet: Y. Yovel, ›Nietzsche contra Wagner‹ und die Juden, in: D. Borchmeyer/A. Maayani/S. Vill (Hg.), Richard Wagner und die Juden, Stuttgart/Weimar 2000, 123–143, insbes. 129–136.
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Auf dem Prüfstand historischer Erfahrung
auf die Juden zurückführt und der sich für ihn im Christentum fortsetzt. Die ohnmächtige jüdische Rache und ihr »Werte umschaffender Hass« hätten »eine neue Liebe« hervorgebracht, die danach trachte, die alte Wertordnung der Antike umzukehren. Es gehöre zur »grossen Politik der Rache« der Juden, dass es ihnen mit der Kreuzigung Christi auf sublime Weise gelungen sei, gerade für die spätere Akzeptanz ihrer Wertumkehrung zu sorgen (GM I, 8-N). So sei die christliche Botschaft der Liebe Ausdruck einer Moral des Ressentiments. Seither stehe die Moral der Rangordnung mit dem Gegensatz »gut und schlecht« sowie die Moral des Ressentiment mit dem Gegensatz »gut und böse« in einem »Jahrtausende langen Kampf auf Erden«, der sich in der Todfeindschaft von »Rom gegen Judäa, Judäa gegen Rom« kristallisiere. Die Renaissance habe ein »Wiederaufwachen des klassischen Ideals« verkörpert, doch Judäa habe aufgrund der »pöbelhaften« Ressentiment-Bewegung der Reformation wieder triumphiert. Schließlich sei die letzte »politische Vornehmheit« des 17. und 18. Jahrhunderts unter der Französischen Revolution zusammengebrochen. Diesem Sieg von Judäa sei dann von Napoleon im Sinne des klassischen Ideals eine Absage erteilt worden (GM I, 16-N). Wenn man sich die Dimension dieser Jahrtausend-Geschichte der Moral vergegenwärtigt, dann versteht man, warum Nietzsche mit dem Tod Gottes die Hoffnung auf ein Ende der Ressentiment-Moral vom Vorrecht der Meisten verbindet. Aber klar wird auch, dass Nietzsche zwar den Juden (zur Zeit des Zweiten Tempels) die Inauguration eines dominanten Typus von Moral zuschreibt, doch bedeutet das nicht, dass er auch weiterhin den Juden als Kollektiv eine Sklavenmoral unterstellt. Die Genealogie der Moral ist eine Sache, die willentliche Orientierung pro oder contra Herrenmoral und Sklavenmoral eine andere, zumal auch bei demselben Individuum ein Spannungsverhältnis zwischen beiden Moral-Typen auftreten kann (vgl. Kap. 3.1). Somit haben Juden wie alle anderen Menschen die Freiheit, mit dem Tod Gottes ihr moralisches Selbstverständnis zu revi270 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
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dieren oder in ihren religiösen Traditionen weiterzuleben. Für Nietzsche sind sie als Parteigänger seiner diesseitsbezogenen Rangordnungsmoral genauso willkommen wie jeder andere. Mehr noch, sie seien aufgrund ihrer Widerstandskraft und ihrer Fähigkeiten, die sie während der Diaspora über Jahrhunderte hinweg kultiviert hätten, geradezu prädestiniert, sich in »grosse geistige Menschen und Werke (auszuströmen)«, die Europa nötig habe (M, 205-N). 24 So bleibt bei aller Kritik, die Nietzsche an der jüdisch-christlichen Moral übt, die Anerkennung des »grossen Stils« und des »Genies« der jüdischen Moral bestehen (JGB, 250-N, FW, 136-N). Der christlichen Moral gebühre Wertschätzung dafür, dass sie den Menschen eine über lange Zeit tragende Ordnung verschafft und mit der Bibel ein Grundwerk gelegt habe, das Ehrfurcht verdiene (vgl. Kap. 3.2). Das ist in der evolutionären Perspektive einer Weltgeschichte der Moral, die primär vom moralisch-wertsetzenden Willen zur Macht bestimmt wird, besonders zu vermerken (vgl. Kap. 7.1, 6.4). Für Nietzsches europäische Perspektive bilden die Juden einen integralen Bestandteil, denn mit der Absage an den Nationalismus und die »haßschnaubende Verdummungsparole ›Deutschland, Deutschland über Alles‹« (KSA, Bd. 12, 55) werden die Juden erst recht zu einem wichtigen Bestandteil von Nietzsches Vision einer neuen europäischen Führungsschicht (JGB, 251-N) und einer Kultur, die dem Rassismus abschwört: »Gegen Arisch und Semitisch. Wo Rassen gemischt sind, der Quell großer Kultur.« (KSA, Bd. 12, 45) Nachdem Nietzsches europäische Idee unter Verzicht auf autoritäre Varianten nur noch den liberalen Idealtypus von Politik zulässt, kann seine moralische Kritik der Französischen Revolution, die der Gefahr der Gleichmacherei gilt 25 , in einem neueren Auf diese Passage verweist Nietzsche auch später in einer abweisenden Antwort an den Antisemiten Theodor Fritsch: NB, Bd. 8, 45: 23. März 1887. Wenige Tage später verschärft er seine Kritik: ebd., 51. 25 Zur Aufarbeitung der Französischen Revolution im Kontext der geistigen Einflüsse, die für Nietzsche relevant wurden: U. Marti, Sklavenauf24
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Auf dem Prüfstand historischer Erfahrung
Kontext eine Analogie finden. Denn neben der politischen Korrektur an Nietzsche kann auch das Widerstandspotenzial seiner anti-egalitären Rangordnungsmoral gegen die kollektivistischen Moralen des Nazismus und Bolschewismus explizit gemacht werden. So zwingend es ist, gegen Nietzsche mit einem individualistischen Begriff von Gleichheit als normativer Grundlage der konstitutionellen Demokratie zu argumentieren, so zwingend ist es auch, mit Nietzsche den Gleichheitskollektivismus der nazistischen Volksgemeinschaft oder den proletarischen Klassenegalitarismus des Bolschewismus zurückzuweisen (vgl. Kap. 6.3). Die konstitutionelle Demokratie steht mit Nietzsche gegen diese Konzeptionen von Gleichheit, deren totalitäre Konsequenzen hinreichend bekannt sind. Im Spektrum des systematischen Vergleichs konträrer moralisch-politischer Formationen des 20. Jahrhunderts kann somit weder eine eindeutige Übereinstimmung des normativen Kerns von Nietzsches Philosophie mit dem egalitären Universalismus noch mit dem Nazi-Partikularismus oder gar der bolschewistischen Klassengemeinschaft konstatiert werden (vgl. Kap. 6.3). Die Epochenverwandtschaft mit den beiden letzteren besteht zwar im Impetus einer moralischen Transformation des Menschen, doch die damit verbundene Idealbildung lässt insbesondere mit Blick auf den Nazismus keine Vergleichbarkeit in den entscheidenden Punkten zu. 26 Der Nazismus vertritt eine Erstand, a. a. O. Das Material, das Marti detailliert darlegt, stützt die moralische Lesart der Französischen Revolution bei Nietzsche im Kontext seiner Kritik des Christentums. 26 Die Vergleichbarkeit, die Tugendhat, wenngleich sehr differenzierend, zwischen Nietzsches und Hitlers Antiegalitarismus darzulegen sucht, bleibt zu weit gefasst. Die Analogie zwischen einem »vertikalen Inegalitarismus« (Nietzsches Rangordnung) und dem »horizontalen Inegalitarismus« zwischen Völkern vernachlässigt die konstitutive Bedeutung des radikalen Antisemitismus bei Hitler. Gemessen daran ist Nietzsche geradezu ein antirassistischer Universalist, ein Vertreter »internationaler Werthe«: KSA, Bd. 12, 310. Unverständlich bleibt auch, warum Nietzsche ein »milder Antisemitismus« zugeschrieben wird –, möglicherweise ein Missverständnis
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Thomas Mann, historische Erfahrung, philosophische Systematik
lösungsmoral, die mit ihrem anti-jüdischen Exterminismus die Gattungseinheit der Menschheit aufkündigt. Der Gattungsbruch ist Bestandteil des Nazismus. Dagegen bleiben Nietzsches Idealbildung des postreligiösen Menschen (Übermenschen) und seine Metaphysik des Diesseits an der Gattung orientiert. Sie sind in ihrem Kern dem Typus der Integrationsmoral zuzurechnen (vgl. Kap. 6.4, 7.1). Die Entgleisungen Nietzsches hinsichtlich der Vernichtung von »missratenen« Menschen, von Euthanasie oder der Repression gegen das Christentum sind unentschuldbare Übersteigerungen seines moralisch-wertsetzenden Bellizismus. Doch gemessen am normativen Zentrum von Nietzsches Rangordnungsmoral sind diese Entgleisungen peripher. Dass Vertreter des Nazismus biologistische Lesarten des Übermenschen in Verbindung mit rassistischer Euthanasie propagieren und in ihre Herrenmenschenund Rasse-Ideologie aufnehmen, ist in Abwägung zu Nietzsches evolutionärem Konzept der selbstbewussten Fortentwicklung des Menschen als Karikatur zu werten (vgl. Kap. 7.1, 7.2). Desgleichen können megalomanische Phantasien zur Erneuerung des Menschen im Bolschewismus nicht mit Nietzsche beglaubigt werden (vgl. Kap. 6.3). Eine Verbindung von Nietzsches Philosophie zu Auschwitz herzustellen, ist abwegig. 27 Die mit Nietzsches Rangordnungsmoral einhergehenden autoritären Politikvarianten erfordern ebenfalls eine systematische Abwägung. Die historischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts lassen nur eine nietzscheanische Rangordnungskonzeption im Rahmen der Demokratie zu. Thomas Mann hat dazu die richtige Einstellung gefunden, die durch eine Analyse von
von JGB, 251-N. Vgl. E. Tugendhat, Macht und Antiegalitarismus bei Nietzsche und Hitler, in: ders., Aufsätze 1992–2000, Frankfurt/M. 2000, 225–261, insb. 228 ff., 260. Verdeutlichend zu JGB, 251-N: A. U. Sommer, Kommentar zu Nietzsches Jenseits von Gut und Böse, Berlin/Boston 2016, 709 f. 27 Auch Ch. Schmidt, Ehrfurcht, a. a. O., 209, greift hier daneben.
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Nietzsches politischer Ambivalenz bekräftigt werden kann (vgl. Kap. 2, 3). Wieweit ein kultureller Elitismus zum Bestand einer modernen Demokratie gehört und welche Rolle er zu spielen hat, bedarf weiterer Diskussion (vgl. Kap. 8.2, 8.3).
7.3.2 Historische Realität, philosophische Revisionen und Nietzsches Relevanz Thomas Manns Absage an die Kriegsromantik und seine geistige Neuorientierung nach dem Ersten Weltkrieg stehen für die schwierigen Voraussetzungen einer europäischen Friedensperspektive, die sich sowohl von Nietzsches bonapartistischer Nostalgie als auch seinem philosophischen Bellizismus löst. Nietzsches Begriffsbildung bedarf also nicht zuletzt im Hinblick auf spätere faschistische Entwicklungen der Revision. Das betrifft zunächst den Begriff vom Willen zur Macht, der in seinen Bedeutungsvarianten selbst von Nietzsche nicht konsistent durchgehalten wird (vgl. Kap. 3.1, 7.1) und tendenziell ein autoritäres Muster von Weltbewältigung und Politik nahelegt. Deshalb sollte in den jeweiligen Sachzusammenhängen von künstlerischer Selbstentfaltung, menschlicher Selbstauslegung, moralisch-wertsetzendem Selbstverständnis, normativer Selbstbehauptung, gesellschaftlicher oder politischer Macht oder Herrschaft sowie von kriegerischer Haltung und Absicht gesprochen werden. Zu einer solchen Differenzierung von Begriffen gehört auch eine sprachliche Abrüstung. Das ist keine rein stilistische oder terminologische Frage. Mit der politischen Missbilligung des Krieges nach 1918 ändert sich der Stellenwert des Krieges, wie man bei Max Weber und Thomas Mann sehen kann. Bei aller kritischen Motivation, die Nietzsches philosophische »Kriegserklärungen« leitet, erscheint dieser polemische Stil überholt, zumal dann, wenn der Wiedergewinnung von kulturellen und politischen europäischen Perspektiven Vorrang eingeräumt wird 274 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
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(vgl. Kap. 3.3). 28 Die Autoren, die demnach an Nietzsches Begriffsbildung des Willens zur Macht undifferenziert festhalten und seinen philosophischen Bellizismus in den von Thomas Mann kritisierten Biologismus der Stärke und kriegerischen Heroismus verlängern, gelten als typische Vertreter der politischen Rechten, die ihren Revanchismus in Konzeptionen von »konservativer Revolution« oder Zielsetzungen verfolgen, die den Nazismus unterstützen (vgl. zu Bäumler: Kap. 5.3). Aber auch die Begriffsbildung des Übermenschen muss revidiert werden. Denn eine postreligiöse Sicht auf den Menschen mit evolutionärer Aufklärungsperspektive macht nur Sinn in einem kulturell-politischen Raum unter Bedingungen des Rechtsstaats. So sind die noch näher zu diskutierenden spannungsreichen Fragen der menschlichen Selbstvervollkommnung in einen Rahmen eingebunden, der nicht mehr zur Disposition steht. Auch der Zarathustra-Text kann damit in seiner ästhetischen Dimension gewürdigt werden, ohne zu weiteren Missverständnissen Anlass zu geben. Es ist systematisch unerheblich, ob man von Übermenschen, Ausnahmemenschen, Exemplaren von Wohlgeratenheit oder souveränen Individuen der Diesseitigkeit spricht (vgl. Kap. 7.2), die historische Sensibilität jedoch rät, die Rede vom Übermenschen ad acta zu legen. Die Poesie des Zarathustra, Nietzsches Kunst des Aphorismus sowie die Sprache seines lyrischen Werks repräsentieren eine stilistische Brillanz, die nicht nur die Bewunderung Thomas Manns gefunden hat. Denn Nietzsches Stil wie seine phiDie Stilkritik, die Heinz Schlaffer an Nietzsche übt, ist überzogen. Ausgehend von Nietzsches Kritik an Wagner (FW) meint Schlaffer eine epochenprägende Stilform des »entfesselten Worts« konstatieren zu können, die Nietzsche zum Vorläufer rechter Strömungen, des Heroismus und des Führerkults des 20. Jahrhunderts macht. Es ist unangemessen, wenn Schlaffer die Polemik Nietzsches und dessen Elitismus mit Konnotationen von Hitlers Mein Kampf besetzt: H. Schlaffer, Das entfesselte Wort. Nietzsches Stil und seine Folgen, München 2007, 12 f., Kap. 12, Kap. 14 ff.
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losophischen Gedankengänge können eine Intensität der geistigen Auseinandersetzung annehmen, die nicht nur beachtenswerte Inhalte, sondern eine geradezu existenzielle Dimension anspruchsvollen Denkens vermittelt: »Das abstrakte Denken ist für Viele eine Mühsal,– für mich, an guten Tagen, ein Fest und ein Rausch.« (KSA, Bd. 11, 463) Dieser Satz von Nietzsche erinnert an seine Psychologie des Künstlers, die dem Rausch das Gefühl der Fülle zuschreibt, in dem sich der Mensch in der Kunst als »Vollkommenheit« erfährt (vgl. Kap. 4.3). Offenbar ist das für Nietzsche auch in der Philosophie möglich, so dass Thomas Manns ästhetisierende Deutung Nietzsches hierin einen Beleg findet. Doch Nietzsches Anspruch geht weiter, wenn er meint, mit bestimmten Inhalten seiner Philosophie die Erwartung zu verbinden, dass »europäische Fürsten« auf ihn hören sollten. Er fügt aber hinzu, dass er ihrer eigentlich nicht bedarf: »Wir Immoralisten – wir sind heute die einzige Macht, die keine Bundesgenossen braucht, um zum Siege zu kommen […] Der Zauber, der für uns kämpft, das Auge der Venus, das unsere Gegner selbst bestrickt und blind macht, das ist die M a g i e d e s E x t r e m s , die Verführung, die alles Äußerste übt: wir Immoralisten – wir sind d i e Ä u ß e r s t e n … « (KSA, Bd. 12, 510)
In dieser Passage verbindet sich Nietzsches Fähigkeit zu kunstgerechter Zuspitzung mit einer geradezu naiven Erwartung, dass seine philosophische Botschaft die substanzielle Veränderung von Menschen ermöglicht und damit zum politischen Erfolg führt. Die philosophische Einsicht imaginiert sich als spontane Macht der menschlichen Transformation, die auf eine weitere Konkretion verzichtet. Der Philosoph des Willens zur Macht überschätzt die Macht des philosophischen Gedankens. 29 Vgl. dagegen eine frühere Einsicht Nietzsches: »D i e Wa h r h e i t h a t d i e M a c h t n ö t h i g . – An sich ist die Wahrheit durchaus keine Macht, – was auch immer des Gegentheils der schönthuerische Aufklärer zu sagen gewohnt sein mag!– Sie muss vielmehr die Macht auf ihre Seite ziehen oder sich auf die Seite der Macht schlagen, sonst wird sie immer wieder zu Grunde gehen!«: M, 535-N.
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Er lässt die operativen Bedingungen politischer Machtgestaltung außer Acht und verzichtet auf deren nähere Bearbeitung. Da die Inhalte von Nietzsches Philosophie eminente politische Relevanz haben, ist das ein systematisches Defizit, das von der Unfähigkeit zeugt, philosophische Faszination und realpolitische Formen zusammenzubringen. In der konstitutionellen Demokratie werden Nietzsches moralisch-wertsetzende Ansprüche auf radikale aufklärerische Impulse zur menschlichen Selbstverständigung und auf Maßstäbe eines demokratischen Elitismus reduziert. Das bedeutet, dass die Philosophie prinzipiell im Modus reflektierender Argumentation verbleibt, wie stilistisch brillant auch immer sie sein mag. Auf der einen Seite stimmt das mit Nietzsches »Fest des Denkens« im Sinn einer dionysischen »Experimental-Philosophie« überein (vgl. Kap. 7.2). Auf der anderen Seite wird aber einer philosophischen Führerschaft und Gesetzgeberrolle und damit einem autoritären Politikmodell eine Absage erteilt (vgl. Kap. 3.2). Historische Erfahrung belehrt darüber, dass das »Fest des Denkens« durch politische Urteilskraft und zivilisierte Austragung von Konflikten ausbalanciert werden muss. Umgekehrt wird so der Freiraum geschaffen, den eine provokative Philosophie wie die Nietzsches braucht, um ihr Publikum zu finden. Der »Magie des Extrems« werden Artikulationsmöglichkeiten eingeräumt, doch nur in einem pluralistischen Spektrum, das unter limitierenden Spielregeln demokratischer Verfassungen steht. Auch Thomas Manns nietzscheanischer Republikanismus gehört in dieses Spektrum. Damit lässt sich ein Fazit zur moralisch-politischen Relevanz von Nietzsches Philosophie auf folgende Kernpunkte bringen: 1. Nietzsches Einsicht in einen Pluralismus von historischen Moralen mit divergierenden politischen Konsequenzen ist von bleibendem Wert und für die Unterscheidung von Erlösungsmoralen und Integrationsmoralen des 20. Jahrhunderts vertiefend belegbar (vgl. Kap. 6.3, 6.4, 7.1). Eine nietzscheanische 277 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
Auf dem Prüfstand historischer Erfahrung
Moralphilosophie markiert daher den Gegensatz zu einem monistischen Verständnis von Moral, das in verschiedenen Varianten bis in die Gegenwart hinein vertreten wird. 30 2. Nietzsches Plädoyer für ein postreligiöses Menschenbild und seine Metaphysik des Diesseits formulieren Herausforderungen für die moderne menschliche Existenz, die in vergleichbare Problemstellungen der gegenwärtigen Philosophie hineinführen: Atheismus und Religion stellen Gegensätze im Rahmen eines kulturellen Pluralismus dar, in dem um Selbstverständnisse menschlicher Sinngebung gerungen wird (vgl. Kap. 8.1). 3. Nietzsches dionysischer Radikalismus vertritt eine universelle Rangordnungsmoral, deren qualitative Maßstäbe unter Berücksichtigung von individualistischer Gleichheit (liberaler Idealtypus) zwar nicht notwendig dem egalitären Universalismus widersprechen, aber ein Spannungsverhältnis zwischen Grundnormen menschlicher Gleichheit und Formen von Ungleichheit anzeigen. Die Frage ist, wie mit diesem Spannungsverhältnis innerhalb der konstitutionellen Demokratie umgegangen werden kann. Dazu muss auch geklärt werden, wie sich eine nietzscheanische Skepsis des menschlichen Fortschritts zur geschichtlichen Interpretation der modernen Demokratie verhält (Kap. 8.2). 4. Die Vorzüge von Nietzsches Stil bestehen in dem beeindruckenden Elan, mit dem philosophische Fragestellungen und Inhalte vorgetragen werden. Trotz kritischer Einschränkung steht er für ein leidenschaftliches Engagement im Interesse kultureller Reflexion und Innovation. Thomas Manns Hochschätzung wie eine Kritik Nietzsches verweisen auf die immer wieder zu leistende Anstrengung, die Anstöße kultureller Eliten produktiv zu verarbeiten und demokratisch zu binden (Kap. 8.3).
Näher dazu: R. Zimmermann, Radikales moralisches Anderssein als historische Erfahrung und begründungstheoretische Herausforderung, in: Th. Gutmann/S. Laukötter/A. Pollmann/L. Siep (Hg.), Genesis und Geltung: Historische Erfahrung und Normenbegründung in Moral und Recht, Tübingen 2017 (im Druck).
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8. Zeitfahrt mit Nietzsche ins 21. Jahrhundert
»Der Philosoph glaubt, der Werth seiner Philosophie liege im Ganzen, im Bau: die Nachwelt findet ihn im Stein, mit dem er baute und mit dem, von da an, noch oft und besser gebaut wird: also darin, dass jener Bau zerstört werden kann und d o c h n o c h als Material Werth hat.« Nietzsche, MA II, 201
Wieweit Nietzsches Religionskritik und sein postreligiöses Menschenbild noch Relevanz beanspruchen, lässt sich an gegenwärtigen Religionskonzeptionen abwägen. Das kann auch zur Stärkung eines kulturellen Pluralismus, in dem die Kunst einen besonderen Stellenwert hat, beitragen (Kap. 8.1). Darüber hinaus zielt ein liberaler Nietzscheanismus auf ein Modell des Politischen, das unaufhebbaren Konflikten menschlichen Zusammenlebens gerecht zu werden sucht (Kap. 8.2). Die Beispiele von Thomas Mann und Nietzsche machen deutlich, dass die Beiträge und die Verantwortung kultureller Eliten wesentliche Bestandteile einer Konflikt-Demokratie bilden (Kap. 8.3).
8.1 Atheismus, Religion, kultureller Pluralismus Die Religionskritik Nietzsches findet ihr gegenwärtiges Echo in unterschiedlichen Versuchen, den Stellenwert der Religion unter säkularen Voraussetzungen zu bestimmen. Charles Taylor erklärt, dass in der säkularen Gesellschaft der Glaube an Gott nur eine mögliche Weltsicht neben anderen darstellt. Religion ist zu einer, wenngleich nach wie vor ernstzunehmenden Option
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geworden. 1 Auch Hans Joas verfolgt unter soziologischen Aspekten die Frage nach der Aktualität des Christentums in seiner programmatischen Schrift Glaube als Option. 2 Dabei weist er darauf hin, dass eine pluralistische Gesellschaft nicht nur unterschiedliche religiöse, sondern auch atheistische Optionen ermöglichen muss, um der religiösen Thematik gerecht zu werden. Beide Optionen, religiöse wie atheistische, sind danach zu beurteilen, mit welcher Ernsthaftigkeit und spirituellen Tiefe sie ihre Auffassungen vertreten. Nietzsches Atheismus und seine Metaphysik des Diesseits erfüllen ohne Zweifel diese Anforderungen. Nietzsches Konzeption ist in zweifacher Hinsicht zur Stärkung eines kulturellen Pluralismus geeignet. Nietzsches Thesen fordern diejenigen heraus, die an religiösen Grundüberzeugungen in einem pluralistischen Spektrum festhalten. Ein solches Spektrum umfasst nicht nur religiöse Strömungen bekannter Weltreligionen, sondern auch davon abweichende religiöse Überzeugungen. Daneben stehen atheistische Optionen, die nicht mit Nietzsches Position übereinstimmen oder nur religiöse Desinteressiertheit bekunden. In diesem Gesamtspektrum kommt Nietzsche insofern Bedeutung zu, als sich seine Metaphysik des Diesseits im Sinne eines historischen Atheismus hervorheben lässt, der trotz der Abkehr von der Religion eine besondere Spiritualität der Weltdeutung beibehält. In anderer Hinsicht erscheint Nietzsches Atheismus als Provokation für religiöse Überzeugungen, die keine religiöse VielCh. Taylor, Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt/M. 2009, 15 ff. Dabei ist auffällig, wie sehr permanente Bezüge auf Nietzsche den Versuch Taylors begleiten, den modernen säkularen Rahmen mit einem Plädoyer für das Christentum zu verbinden. Vgl. S. Shearn, Charles Taylor, Nietzsche and Theology in A Secular Age, in: F. Zemmin/C. Jager/G. Vanheeswijk (eds.), Working with A Secular Age, Berlin/Boston 2016, 263–282. Näheres weiter unten. 2 H. Joas, Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums, Freiburg 2012. Zum Folgenden ebd. 54 f. 1
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falt oder atheistischen Positionen tolerieren. Für diese religiösdogmatischen Überzeugungen kann Nietzsches Atheismus eine Art Test darstellen und zeigen, inwieweit sie sich einer historischen Reflexion ihrer Glaubensgewissheiten oder »Offenbarungen« öffnen. In diesem Sinn vereinen sich Vertreter eines historisierten Christentums mit Nietzsches historischem Atheismus gegen religiös fundamentalistische Dogmatiken. Diese Problematik kann hier nicht weiter verfolgt werden. Stattdessen wende ich mich dem pluralistischen Spektrum von Religion und Atheismus in westlichen Gesellschaften zu. Dabei diskutiere ich eine Problemebene, an der die Relevanz von Nietzsches Metaphysik des Diesseits deutlich wird. Aus Charles Taylors Werk ergibt sich ein produktiver Vergleichsansatz. Beide, Taylor und Nietzsche, entwickeln eine Metaphysik der menschlichen Selbstbejahung. Taylor steht für die christliche, Nietzsche für die atheistische Variante. Es zeigt sich die Problematik unterschiedlicher metaphysischer Modelle unter religiösen wie a-religiösen Vorzeichen in einer säkularen Zeit. Insofern geht es darum, umfassende Deutungen der Welt und der menschlichen Existenz sowie die dabei in Anspruch genommenen Evidenzen transparent zu machen. Eine solche Transparenz hilft, die politische Relevanz metaphysischer Gesamtdeutungen abzuwägen. Dazu beschränke ich mich auf wenige Punkte, an denen sich ein liberal gefasster Nietzscheanismus verdeutlichen lässt (Kap. 8.1.1). Nietzsches Auszeichnung der Kunst als »eigentlich metaphysische Tätigkeit« trägt dazu bei, um unter gewandelten geschichtlichen Bedingungen ein differenziertes Bild menschlicher Selbstbejahung zu zeichnen (Kap. 8.1.2).
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8.1.1 Historischer Atheismus und die Metaphysik der menschlichen Selbstbejahung: Nietzsche und Charles Taylor Nietzsches historische Zugangsweise zu philosophischen wie religiösen Fragen setzt sich von traditionellen Konzeptionen der Metaphysik ab: »Was uns von allen Platonischen und Leibnitzischen Denkweisen am Gründlichsten abtrennt, das ist: wir glauben an keine ewigen Begriffe, ewigen Werthe, ewigen Formen, ewigen Seelen; und Philosophie, soweit sie Wissenschaft und nicht Gesetzgebung ist, bedeutet uns nur die weiteste Ausdehnung des Begriffs ›Historie‹.« (KSA, Bd. 11, 613, vgl. ebd., 562)
Das historische Philosophieren verbindet Nietzsche an dieser Stelle mit einer Differenzierung zwischen Philosophie als Wissenschaft und Gesetzgebung, die aufgrund meiner obigen Kritik zu bekräftigen ist. Denn nachdem Nietzsches Anspruch auf eine Gesetzgeberrolle für Philosophen entfällt, verbleibt nur eine historisch orientierte Philosophie, die bereits als charakteristisch für Nietzsches Denken hervorgetreten ist (vgl. Kap. 3, 6, 7). Das verweist auf eine Gedankenführung bei Nietzsche, die den Kräften der Kultur – und damit der Religion – die entscheidende Rolle für die menschliche Entwicklung zuschreibt. Denn der »grosse Satz«, mit dem die »Civilisation« beginnt, lautet: »jede Sitte ist besser, als keine Sitte.« (M, 16-N, vgl. GM II, 2-N) Die von Religionen geformte Sitte habe sich über Jahrhunderte hinweg als dominierend erwiesen und mit besonderer Kraft »Werthmesser« für das menschliche Leben entwickelt (KSA, Bd. 8, 113). Trotz aller Kritik erkennt Nietzsche die geschichtliche Leistung von Religionen, speziell auch des Christentums, an. Nietzsches Verschränkung der christlichen Religion mit der Geschichte der Moral verweist auf Moral und Religion als kulturbildende Kräfte, die durch historische Verarbeitung transformiert und 282 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
Atheismus, Religion, kultureller Pluralismus
qualitativ neu gestaltet werden müssen. Zur Frage der Moral ist bereits klar geworden, dass Nietzsches an menschlicher Perfektion orientierte Rangordnungsmoral nur in einem egalitären Rahmen weiter diskutiert werden kann. In Bezug auf das Christentum bedarf die enge Verbindung, die Nietzsche zwischen der jüdisch-christlichen Moral und dem modernen Egalitarismus herstellt, sowohl historisch wie systematisch der ergänzenden Korrektur. Historisch, weil die von Nietzsche als Quelle des Egalitarismus angeführte »Gleichheit der Seelen vor Gott« (AC, 62-N) nicht zwingend auf einen uneingeschränkten Egalitarismus verweist. Gleichheit vor Gott bedeutet individuelle Würdigung und Beurteilung der Menschen vor Gott, denn Gott entscheidet über das endgültige Seelenheil. Dieser unter dem Vorzeichen des Glaubens stehende religiöse Egalitarismus schließt nicht per se gesellschaftliche oder politische anti-egalitäre Auffassungen aus. Ungleichheit zwischen Männern und Frauen oder unterschiedliche traditionelle soziale und politische Ordnungen sind mit dem Christentum vereinbar. Insofern schöpft der moderne Egalitarismus aus Quellen, die über christliche Orientierungen hinausweisen, auch wenn sie mit diesen eine Verbindung eingehen können. 3 Das führt auf den systematischen Punkt, dass der Entwicklung moderner Gleichheitspostulate und egalitär-universalistischer Menschenrechte Aneignungsvollzüge und Identifikationen von Menschen zu Grunde liegen, die nicht christlich geprägt sein müssen. Dem entspricht im Ergebnis, dass der egalitäre Universalismus sowohl mit religiösen wie a-religiösen Vorstellungen vereinbar ist. Man muss nicht, aber man kann an Gott glauben, um die egalitäre Moral zu vertreten. Darin zeigen sich die Veränderungen der modernen Entwicklung des egalitären Universalismus, der den umfassenden moralischen Hierzu treffend M. Scheler, Das Ressentiment, a. a. O., 59 f. Entsprechend: F. Appel, Nietzsche contra Democracy, Ithaka/London 1999, 135.
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Rahmen abgibt. Der Glaube an Gott bewegt sich in diesem Rahmen, nicht umgekehrt. Als Option bleibt der Glaube an Gott möglich – es sei denn, die religiöse Überzeugung würde erneut dogmatisiert. Die moralphilosophische Korrektur an Nietzsche und die systematische Bedeutung des egalitären Universalismus für die säkulare Konstellation erlauben es, Nietzsches Beiträge zur Religionskritik in ihrer historischen Perspektive aufzunehmen. Denn Nietzsche bewegt sich bereits auf dem Problemniveau der säkularen Konstellation, wenn er ein »Zeitalter der Vergleichung« thematisiert, das zu einer »Polyphonie von Bestrebungen« führt. In diesem Zeitalter stehen tradierte Gewohnheiten zur Disposition und fordern zu neuen Orientierungen heraus: »Ein solches Zeitalter bekommt seine Bedeutung dadurch, dass in ihm die verschiedenen Weltbetrachtungen, Sitten, Culturen verglichen und neben einander durchlebt werden können, was früher […] nicht möglich war, entsprechend der Gebundenheit aller künstlerischen Stilarten an Ort und Zeit. Jetzt wird eine Vermehrung des ästhetischen Gefühls endgültig unter so vielen der Vergleichung sich darbietenden Formen entscheiden […]. Ebenso findet jetzt ein Auswählen in den Formen und Gewohnheiten der höheren Sittlichkeit statt, deren Ziel kein anderes als der Untergang der niedrigeren Sittlichkeiten sein kann. Es ist das Zeitalter der Vergleichung! Das ist sein Stolz, – aber billigerweise auch sein Leiden. Fürchten wir uns vor diesem Leiden nicht! Vielmehr wollen wir die Aufgabe, welche das Zeitalter uns stellt, so gross verstehen, als wir nur vermögen: so wird uns die Nachwelt darob segnen […]« (MA I, 23-N)
Bei der Beschreibung der »Aufgabe« blickt Nietzsche mit »Dankbarkeit« auf vergangene kulturelle und religiöse Formen zurück, auch wenn diese sich im geschichtlichen Prozess auflösen können. Die neuere erkenntniskritische Aufklärung und die moderne Naturwissenschaft haben nicht zuletzt den christlichen Glauben an einen persönlichen Gott und den Sohn Gottes als Retter der Welt fragwürdig gemacht. So wird es für Menschen mit einem »intellectualen Gewissen« zunehmend proble284 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
Atheismus, Religion, kultureller Pluralismus
matisch, die traditionelle Glaubensbasis zu teilen (MA I, 109-N, 113-N, M, 95, 96-N). Diese Gedankenfigur leitet auch andere Phasen von Nietzsches Religionskritik (vgl. Kap. 7.1.1). Trotz seiner Religionskritik findet sich bei Nietzsche das Gespür für den »Zauber der religiösen Empfindung«. Diesen Zauber könne man »ohne begrifflichen Inhalt« bei Begegnungen mit Musik erleben oder angesichts der Madonnen von Raffael. Doch bei diesen »religiösen Nachwehen«, so die korrigierende Reflexion Nietzsches, lasse man sich von Bedürfnissen leiten, die wandelbar und vergänglich seien, so dass – wie bei der Zustimmung zu einer religiös gefärbten Philosophie – der »innere Wunsch« dazu verleite, »schlechte Gründe als gute einzukaufen« (MA I, 131-N). Der ästhetische Zugang zu religiösen Empfindungen eröffne jedoch auch die Einsicht in die Verwandtschaft von Kunst und Religion: »[…] man könnte die homines religiosi mit unter die Künstler rechnen, als ihren h ö c h s t e n Rang. Es ist die tiefe argwöhnische Furcht vor einem unheilbaren Pessimismus, der ganze Jahrtausende zwingt, sich mit den Zähnen in eine religiöse Interpretation des Daseins zu verbeissen: […] ehe der Mensch stark genug, hart genug, Künstler genug geworden ist … Die Frömmigkeit, das ›Leben in Gott‹, mit diesem Blicke betrachtet, erschiene dabei als letzte Ausgeburt der F u r c h t vor der Wahrheit […]. Vielleicht, dass es bis jetzt kein stärkeres Mittel gab, den Menschen selbst zu verschönern, als eben Frömmigkeit: durch sie kann der Mensch so sehr Kunst, Oberfläche, Farbenspiel, Güte werden, dass man an seinem Anblicke nicht mehr leidet. –« (JGB, 59-N)
Der religiöse Instinkt strebt wie die Kunst nach menschlicher Selbstbejahung angesichts einer pessimistisch erfahrenen Welt, so dass die psychologische Betrachtung der Religion in Analogie zur Psychologie der Kunst zu sehen ist. 4 Vor dem Hintergrund des von Nietzsche vertretenen »klassischen Pessimismus« und seiner dionysischen Weltsicht (vgl. Kap. 5.1, 7.1.1) erfährt die Vgl. KSA, Bd. 7, 101: »Eine Weltcorrektion – das ist Religion oder Kunst. Wie muß die Welt erscheinen, um lebenswerth zu sein?«
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Religion in dem Maß eine positive Würdigung, als sie eine den Menschen erhöhende Weltsicht vertritt. Auch wenn für Nietzsche die moderne Zeit über Religionen hinweggegangen ist, so fordert er, das »Problem der Religion« ernst zu nehmen und nicht mit anmaßender Gleichgültigkeit zu behandeln. Schließlich sei es bisher das »vornehmste und entlegendste Gefühl« gewesen, den »Menschen zu lieben um Gottes Willen«, das Gefühl eines Menschen, der »am höchsten bisher geflogen und am schönsten sich verirrt hat« (JGB, 58, 60-N). 5 Obwohl Nietzsche der Meinung ist, das Christentum habe den Weg der menschlichen Selbstbejahung verlassen, so zeigt seine historische Würdigung der Religion dennoch bis in seine Spätphase hinein, worin der entscheidende Gesichtspunkt des religiösen Instinkts besteht: in einer Sicht auf das Leben, die sich an »dessen Verklärung und ewigem Ja« orientiert. So braucht der religiöse Instinkt nicht verdrängt oder unterdrückt zu werden, sondern kann sich in verschiedenen Varianten entfalten. Nietzsche gibt diesem »lebendigen« Instinkt auf seine Weise nach. Er fügt jedoch Zarathustras nur noch ästhetisch gefärbte Zuwendung zum Göttlichen hinzu: »Und wie viele Götter sind noch möglich! … Mir selber, in dem der religiöse, das heißt gottb i l d e n d e Instinkt mitunter immer wieder lebendig werden will: wie anders, wie verschieden hat sich mir jedes Mal das Göttliche offenbart! … So vieles Seltsame ging schon an mir vorüber, in jenen zeitlosen Augenblicken, die ins Leben hinein wie aus dem Monde fallen, wo man schlechterdings nicht mehr weiß, wie alt man schon ist und wie jung man noch sein wird … Ich würde nicht zweifeln, daß es viele Arten Götter giebt … Es fehlt nicht an solchen, aus denen man selbst einen gewissen Halkyonismus und Leichtsinn nicht hinwegdenken darf […] Zarathustra geht so weit, von sich zu bezeugen, ›ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde‹. Nochmals gesagt: wie viele Götter sind noch möglich! – Zarathustra Vgl. KSA, Bd. 8, 425: man soll von metaphysischen Vorstellungen »im würdigsten Tone« reden. Dem entspricht, dass es »gemein« ist, »mit rachsüchtigem Herzen vom Christenthum« zu sprechen: KSA, Bd. 9, 589.
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selbst freilich ist bloß ein alter Atheist. Man verstehe ihn recht! Zarathustra sagt zwar, er w ü r d e –; aber Zarathustra w i r d nicht …« (KSA, Bd. 13, 525 f.: 1888; vgl. Z I, 49)
Die Anerkennung des religiösen Instinkts erweist sich in Nietzsches historischem Atheismus in einer Vielfalt von göttlichen Ausdrucksformen, doch bleiben die »zeitlosen Augenblicke« gewahrt. Auch die Begriffsbildung der ewigen Wiederkehr kann diesen Augenblicken zugeschrieben werden. Es ist aber nicht – wie Thomas Mann nahelegt – möglich, diese Vorstellung mit einer christlich-religiösen Humanität zusammenzubringen (vgl. Kap. 2.3, 7.2.1) oder zum Religionsersatz zu erklären. 6 Vielmehr geht es darum, der Tiefendimension des »religiösen Zaubers« in einer Metaphysik des Diesseits, die sich in der geschichtlichen Perspektive einer vom Christentum emanzipierten Weltsicht bewegt, gerecht zu werden (vgl. Kap. 7.2). 7 Zarathustras »tanzender Gott« steht für Dionysos als Gegenbild zum Gott des Christentums. So trägt die Verwandtschaft von Religion und Kunst zur Erhöhung des Menschen bei. Die Idee der ewigen Wiederkehr ist damit nicht nur ein spekulativer Gedanke, sondern kann als ästhetische Transformation des Religiösen verstanden werden. Diese Transformation ist kein einmaliger Akt, sondern als stetige Auseinandersetzung mit dem Christentum und vergleichbaren Religionen zu denken, solange deren Metaphysik der objektiven Transzendenz geschichtlich relevant ist. Das unterstreicht auch die offene Lesart von Nietzsches Idee des Übermenschen (vgl. Kap. 7.2). Denn das souveräne Individuum, das sich von religiösen Traditionen und deren kulturellen Herrschaftsansprüchen zu befreien sucht, nimmt eine ständige Anstrengung der Selbstüberwindung auf sich. So K. Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, Stuttgart 1964 (5. Aufl.), 398. In der Leichtigkeit des Tanzes, für die Dionysos steht, verbindet sich die anti-christliche Weltsicht mit dem Übergang ins Ästhetische. Vgl. K. Reschke, Die andere Perspektive: Ein Gott, der zu tanzen verstünde. Eine Skizze zur Ästhetik des Dionysischen im Zarathustra, in: V. Gerhardt (Hg.), Friedrich Nietzsche. Also sprach Zarathustra, Berlin 2000, 257–284.
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Zeitfahrt mit Nietzsche ins 21. Jahrhundert
Auch das postreligiöse souveräne Individuum ist nicht frei von religiösen Impulsen, doch seine Option ist die der ästhetischen Transzendenz. 8 Das souveräne, selbst-bestimmte Individuum, das Zarathustra fordert, ist der Komplementärbegriff zu einer auf ästhetische Verwandlung des religiösen Instinkts angelegten geschichtlichen Entwicklung des Menschen. Dabei kann das ästhetische Transzendieren immer neue Formen philosophischer oder künstlerischer Ausgestaltung annehmen, es eröffnen sich »unendliche Interpretationen« (FW, 374-N). Nietzsches historischer Atheismus und seine Metaphysik des Diesseits zielen in ihrem Kern auf eine geschichtliche Selbstbejahung des Menschen als postreligiös-souveränes Individuum mit der Fähigkeit zu ästhetischer Transzendenz. Doch gerade dann, wenn Nietzsches Konzeption auf eine geschichtlich-kulturelle Dynamik verweist, stellt sich die Gegenfrage, ob nicht auch ein geschichtlich gewandeltes Christentum zu Veränderungen führt, die der menschlichen Selbstbejahung gerecht werden. Diese Frage motiviert zu einem Vergleich von Nietzsches Konzeption mit dem Werk von Charles Taylor. In seiner Untersuchung Quellen des Selbst drückt Taylor die Hoffnung aus, dass der religiöse Glaube, den der christlich-jüdische Theismus hervorgebracht hat, auch unter modernen Bedingungen reaktiviert werden kann. Es geht ihm um den Inhalt dieses Glaubens mit »seiner zentralen Verheißung einer göttlichen Bejahung des Menschlichen, die umgreifender ist, als sie von den Menschen ohne Hilfe erreicht werden kann«. 9 Der Leitgedanke Vgl. eine analoge Bestimmung bei Michael Steinmann, Die Ethik Friedrich Nietzsches, Berlin/New York 2000, 202: »Der Übermensch ist die Leitfigur einer untheologischen Religiosität, der es primär um das Transzendenzverhalten geht […].« 9 Ch. Taylor, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt/M. 1999 (3. Aufl.), 899. Die folgenden Seitenangaben im Text beziehen sich auf dieses Werk mit der Abkürzung ›Q‹, entsprechend bezieht sich ›S‹ auf: Ein säkulares Zeitalter. 8
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der Bejahung des Menschlichen veranlasst ihn, sich immer wieder mit Nietzsche und der jüdisch-christlichen Kultur auseinanderzusetzen: »Der zutiefst christliche Nachhall, der trotz seiner hitzigen Gegnerschaft gegen das Christentum bei Nietzsche vorhanden bleibt, liegt in seinem Bestreben, das Ganze der Realität zu bejahen, es als etwas Gutes zu sehen und zu allem ›ja‹ zu sagen. Das ist ein Bestreben, das außerhalb der jüdisch-christlichen Kultur gar nicht verständlich gewesen wäre.« (Q 784)
Damit rückt Taylor Nietzsches Atheismus in eine geschichtliche Perspektive und würdigt ihn zugleich als Antipoden auf derselben Problemebene, die ihm für seine christliche Bejahung des Menschlichen relevant erscheint. So hebt Taylor – gegen Derrida und Foucault – gerade »die andere Facette dieses rätselhaften Denkers – die dionysische Vision der ›ewigen Wiederkehr‹, die die alles umgreifende Bestätigung des ›Jasagens‹ ermöglicht«, hervor (Q 845). Das macht Nietzsche zu einer Art Mitstreiter für die Perspektive eines »Sich-der-Epiphanie-Öffnens« unter modernen Bedingungen (ebd.). Für Taylor besteht diese Öffnung in der christlich-spirituellen Liebe (Agape) als Quelle der Bejahung und Kraft, um der Welt positiv gegenüber zu treten und nicht zuletzt die Moral des Wohlwollens zu festigen (Q 891 f.). Damit markiert Taylor die inhaltliche Differenz zu Nietzsche, die jedoch in einem breiteren kulturellen Spektrum der Gegenwart weiter zu diskutieren ist: »Es gibt säkulare Humanisten, es gibt Neonietzscheaner, und es gibt die Gruppe derjenigen, die einen jenseitigen Wert anerkennen. Jedes aus diesen Positionen gebildete Paar kann sich im Hinblick auf eine wichtige Streitfrage gegen den Dritten verbünden. Die Neonietzscheaner und die säkularen Humanisten tun sich zusammen, um die Religion zu verurteilen und jede Form von jenseitigem Wert zurückzuweisen. Die Neonietzscheaner und die Transzendenzfreunde hingegen sind sich sowohl darüber einig, daß die fortwährenden Enttäuschungen des säkularen Humanismus nichts Überraschendes an sich haben, als auch darüber, daß der Lebensvorstellung dieses Humanismus eine Di-
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mension fehlt. Eine dritte gemeinsame Front bilden die säkularen Humanisten und die Gläubigen, wenn sie eine Vorstellung von menschlichem Heil gegen den Antihumanismus der Erben Nietzsches verteidigen.« (S 1058 f.)
Eine nähere Betrachtung dieser idealtypisch gefassten Gruppierungen kann zeigen, wie eine differenzierte Sicht auf Nietzsches Metaphysik des Diesseits – noch weit mehr als Taylor zugesteht – zum kulturellen Streit der Moderne beizutragen vermag. Was die säkularen Humanisten angeht, so stehen diese für die Tradition einer rationalistischen Aufklärung, die die Menschen von der Illusion eines jenseitigen Heils zu befreien sucht und eine ausschließlich innerweltliche Perspektive favorisiert. Für Taylor definiert diese Auffassung insofern das säkulare Zeitalter, als es sich dabei um einen »selbstgenügsamen«, »ausgrenzenden« Humanismus handelt, der keine letzten Ziele, die über diese Perspektive hinausweisen, akzeptiert und auch keine Loyalität gegenüber einer Instanz jenseits der innerweltlichen Orientierung anerkennt. Diese Auffassung steht für eine epochale Wende, weil damit der »Niedergang aller über das menschliche Gedeihen hinausgehenden Ziele«, die für viele Menschen das Selbstbild einer Lebensweise repräsentieren, erfolgt (S 41 ff.). Dieser säkulare Humanismus unterscheidet sich deutlich von dem vormodernen Menschenbild: Der Mensch steht nicht an der Spitze der Weltordnung, sondern ist eingebunden in einen Kosmos höherer Wesen (Götter) oder höherer Wesensformen, wie sie etwa in Platons Ideenlehre zum Ausdruck kommen. Die platonische Frage nach dem »guten Leben«, die ihre aristotelische Fortsetzung im Leitbegriff der eudaimonia findet, strebt nach einer umfassenden Konzeption des Guten, die für Taylor einerseits die diagnostische Kontrastfolie zum säkularen Humanismus abgibt, andererseits aber als Modell für die eigene Problemorientierung dient (vgl. Q 178 ff.). Wie kann der als ungenügend empfundene innerweltliche Humanismus durch eine Konzeption der »menschlichen Fülle« (S 17 ff.), die unter mo290 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
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dernen Bedingungen eine Offenheit für Transzendenz bewahrt, überboten werden? Diese Offenheit für Transzendenz, die laut Taylor wesentlich ist für ein »moralisch-spirituelles Leben«, verbindet den Nietzscheaner mit den »Transzendenzfreunden« eines religiösen Glaubens. Denn Nietzsche setzt sich auf seine Weise mit der Frage der Transzendenz auseinander, wenngleich er die christlichen Antworten verwirft. Gleichwohl erkennt Taylor den Versuch Nietzsches an, auf eine Metaphysik der menschlichen Selbstbejahung, die ein Ideal der menschlichen Fülle anstrebt, hinzuarbeiten. Im Licht der oben dargelegten Deutung von Nietzsches Metaphysik des Diesseits ist diese Einordnung gut nachvollziehbar (vgl. Kap. 7.2). Problematisch dagegen ist Taylors Nietzsche-Deutung, wenn er Nietzsche einen »Antihumanismus« unterstellt, den er – mit anderen Akzenten – auch bei Autoren wie Foucault am Werk sieht (vgl. Q 189 f.). Taylor ist der Meinung, dass Nietzsches Kritik am modernen Egalitarismus für eine Ethik steht, »in der für eine Moral im Sinne der westlichen Moderne kein Platz ist«. Die Absage an »Gleichheit, Glück und Linderung von Leid« (S 998 f., vgl. Q 861) mache Nietzsche zum Protagonisten einer »immanenten Gegenaufklärung« (S 693, 1202). Entsprechend formuliert Taylor die Kritik an Nietzsches Willen zur Macht in Verbindung mit der Idee der ewigen Wiederkehr, die für ihn den Irrweg einer Konzeption der »immanenten Transzendenz« darstellt. Bei seinem Versuch, diese Kritik an der Schlusspassage der Kompilation Der Wille zur Macht (WzM) zu demonstrieren, favorisiert er eine Variante dieser Verbindung, ohne andere Textbefunde heranzuziehen (S 978 f.). 10
Hierzu ist auf die kritisch geklärte Textlage zu verweisen, die diese Passage in die Mitte des Jahres 1885 versetzt: KSA, Bd. 11, 610 f. Das folgende Zitat ebd. Zur Kompilation des WzM vgl. Kap. 3, Anm. 1. Bei dieser Gelegenheit sei daran erinnert, dass die umfassende Konzeption des Willens zur Macht später der Umwertung der Werte Platz macht.
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Unabhängig von der adäquaten Einordnung dieser Passage ist sachlich entscheidend, dass Taylor weder den Willen zur Macht einer näheren Analyse unterzieht noch beim Gedanken der ewigen Wiederkehr eine differenzierte Betrachtung vornimmt. Die fragliche Passage bietet eine besonders dramatische Variante der Integration des Willens zur Macht in die umfassende Weltsicht der ewigen Wiederkehr, so dass sie sich als exemplarischer Beleg aufdrängt. Doch auch hier trägt Nietzsche seine metaphysische Weltdeutung in einer Sprache vor, die auf ästhetische Transzendenz weist: »Und wißt ihr auch, was mir ›die Welt‹ ist? Soll ich sie euch in meinem Spiegel zeigen? Ein Ungeheuer von Kraft, […] vom ›Nichts‹ umschlossen als von seiner Gränze, […] ewig sich wandelnd, ewig zurücklaufend, mit ungeheuren Jahren der Wiederkehr, mit einer Ebbe und Fluth seiner Gestalten […] ein Werden, das kein Sattwerden, keinen Überdruß, keine Müdigkeit kennt –: diese meine d i o n y s i s c h e Welt des Ewig-sich-selber-Schaffens […] wollt ihr einen N a m e n für diese Welt? […] D i e s e We l t i s t d e r W i l l e z u r M a c h t – u n d n i c h t s a u ß e r d e m ! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem!« (KSA, Bd. 11, 610 f.)
Taylor sieht hierin die hymnische Überbietung eines sinnentleerten Kosmos, aus dem der Wille Gottes gewichen ist und die menschliche »Selbstermächtigung« sich der »frohgemuten Stimmung der Freiheit, Macht und Schönheit« hingibt. Nietzsches Radikalität führe zum Bruch »mit den Grundprinzipien unserer Zivilisation«: Egalitarismus und Demokratie seien dabei »Hindernisse auf dem Weg zur Selbstüberwindung« (S 978). »Impulse zu Gewalt, Zerstörung und orgiastischer Sexualität«, als deren Anreger Nietzsche gelte, seien die Folge (S 1097). Nietzsche rückt in dieser Perspektive in die Nähe des Faschismus und älterer »Kriegerethiken« (S 437, 624). Taylor erkennt zwar Nietzsches Offenheit für Transzendenz an, vertritt aber eine Version antihumanistischer und gegenaufklärerischer Nietzsche-Deutung, die vor dem Hintergrund der oben dargelegten Differenzierungen zu Nietzsches Philosophie nicht haltbar ist. 292 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
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Da es Taylor jedoch primär um eine Kritik des Nietzscheanismus unter gegenwärtigen Bedingungen geht, ist eine weitere Kontroverse um Nietzsche-Interpretationen nicht erforderlich. Stattdessen argumentiere ich für eine Variante des Nietzscheanismus, die in das von Taylor als »immanenten Rahmen« gesetzte moderne Gefüge integrierbar ist (vgl. S 899 ff., 990). Diese Variante ist der liberale Nietzscheanismus, dessen moralisch-politische Konzeption der menschlichen Rangordnung im Rahmen des modernen Egalitarismus vertreten werden kann. Die Metaphysik des Diesseits mit ihrer Offenheit für transzendierende Potenziale gibt dieser Konzeption zusätzliches kulturelles Gewicht (vgl. Kap. 3, 7). In diesem Sinn ist eine produktive Integration des Nietzscheanismus in die westliche Tradition möglich. Das bedeutet zugleich, dass ein liberaler Nietzscheanismus für Taylors christliche Perspektive eine weit größere Herausforderung als seine antihumanistische Version darstellt. Denn nun begegnen sich beide Positionen auf der Ebene eines kulturellen Pluralismus: Historischer Atheismus mit dionysischer Weltsicht und ästhetischer Transzendenz – zeitgemäßes Christentum im Zeichen objektiver Transzendenz. Auf dieser Grundlage kann die Abwägung der Positionen konstruktiv fortgeführt werden und die gemeinsame Abgrenzung gegenüber dem säkularen Humanismus bestehen bleiben. Taylor stärkt seine Position dadurch, dass er für ein Christentum eintritt, das die »dunkle Seite der Conditio humana« nicht beschönigt und die düsteren Erfahrungen von Leid, Grausamkeit und Unmenschlichkeit nicht verleugnet. Dabei stimmt er Nietzsches Einsicht zu, dass nicht das Leiden als solches, sondern die Sinnlosigkeit des Leidens für die Menschen das Problem darstellt, auf das sie eine Antwort suchen (S 538 f.). Hinzu kommt, dass Taylor eine christliche Orthodoxie, die eine rückwärtsgewandte Kritik der Moderne betreibt, zurückweist. Beispiele dafür sind die Ablehnung von Menschenrechten und Demokratie im 19. Jahrhundert (Pius IX.: S 691, 952) oder neuere dogmatisch-christliche Lehren (S 1084 f.). Des Weiteren strebt Taylor 293 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
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einen liberalen Katholizismus an, der normale menschliche Bedürfnisse – wie Sexualität – nicht zugunsten höherer Spiritualität verleugnet (S 1063 ff.). 11 Schließlich greift Taylor historische Erfahrungen der Unmenschlichkeit und Gewalt in der neueren Geschichte auf und bezieht sie in seine Reflexion über die Conditio humana ein. Zu Recht meint er, dass eine Konfrontation mit solchen Erfahrungen die verbleibenden Möglichkeiten von Transzendenz berührt. Doch die Art und Weise, wie er gravierende historische Erfahrungen kommentiert, zeigt, dass ihn bei aller historischen Sensibilität ein festgefügtes moralisches Paradigma leitet, das einen christlich oder säkular verstandenen egalitären Universalismus wie fraglos voraussetzt. So kommentiert er die »grausame Verletzung der Menschenrechte durch das Naziregime« mit den Worten Winston Churchills als einen »schrecklichen Verstoß gegen die Standards der ›christlichen Zivilisation‹«. Taylor führt den »religionsfernen« Churchill als Beleg dafür an, dass nach dem Zweiten Weltkrieg eine »Rückkehr zur Religion« – auch in Deutschland – zu konstatieren sei. Die Religion bilde ein »Bollwerk der Menschenrechte« (S 997). So nachvollziehbar diese religiös betonte Verurteilung des Naziregimes ist, so unumgänglich ist auch, sowohl den säkularen Humanismus als auch den liberalen Nietzscheanismus gegen den Nazismus in Anspruch zu nehmen. Insofern geht es bei der moralischen Verurteilung des Naziregimes im Namen der Zivilisation nicht nur um christliche Positionen, sondern in einem übergreifenden Sinn um Standpunkte westlicher Moral, zu der gleichermaßen der säkulare Humanismus wie der liberale Nietzscheanismus gehören. Neben dem Christentum stehen auch diese Richtungen in klarer Abgrenzung zum Nazismus. Das zeigt, dass Taylors moralisches Bild der Moderne in einer Zum Plädoyer für einen universalistisch verstandenen Katholizismus vgl. Ch. Taylor, A Catholic Modernity?, in: J. L. Heft (ed.), A Catholic Modernity?, New York 1999, 13–37.
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wichtigen Hinsicht der moralischen Komplexität der neueren Geschichte nicht gerecht wird. Denn wenn man im Namen der christlichen oder einer allgemeinen westlichen Zivilisation den Nazismus als »Verstoß« gegen den egalitären Universalismus der Menschenrechte verurteilt, erfasst man das Phänomen des Nazismus, der sein moralisches Anderssein in eine eigene Wertordnung und Gesellschaftsordnung transformiert, nicht adäquat. Zu erklären, es ginge dabei um die Abweichung von einem gesicherten Moralkanon, ist analytisch unzureichend und wird der geschichtlichen Realität nicht gerecht. Hinzuzufügen ist, dass der bolschewistische Kommunismus auf seine Weise das Problem grundlegender moralischer Transformationen in der Moderne unterstreicht (vgl. Kap. 6). 12 Insofern ist Taylors Vorhaben, eine »Großerzählung« des Zeitalters im Sinne von »umfassenden Rahmenschilderungen der historischen Entwicklung« zu liefern (S 957), mit merklichen Defiziten behaftet. Im Unterschied dazu kann ein nietzscheanischer Blick auf die Divergenz moralischer Ordnungen in der neueren Geschichte einen Pluralismus von Moralen vorweisen. In ihnen konkurrieren elementare Wertsetzungen miteinander, die formal als gegenläufige Willen zu normativer Macht beschreibbar sind. Überschneidungen oder wechselseitige Kompatibilität ist, wie sich am aufgezeigten Spektrum der westlichen Zivilisation zeigt, möglich. Doch es gibt auch unüberbrückbare Gegensätze, die in Gestalt nationalsozialistischer und bolschewistischer Erlösungsmoralen für bestimmte Zeiten dominant werden können. Dieser Befund berührt die Frage der menschlichen Selbstbejahung und ihre christliche Antwort darauf, die Taylor zu geben versucht. Denn wie unmenschlich nach Maßgabe des egalitären Universalismus auch immer: die totalitären Erlösungsmoralen haben auf ihre Weise Konzeptionen der menschlichen Selbstbejahung
Auch den Bolschewismus kommentiert Taylor im Sinne des Verstoßes gegen »Prinzipien der universellen Achtung«: S 1130.
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vertreten. 13 Sie haben zu Ausprägungen menschlicher Lebensweisen geführt, die als historische Erfahrungen ernst zu nehmen sind. Das wirft deshalb für Taylors christliche Perspektive ein Problem auf, weil viele Menschen als Opfer der vom Nationalsozialismus und Bolschewismus verursachten moralischen Katastrophen das Vertrauen in das »Gute«, das im christlichen Gott Ursprung und Halt hat, verloren haben. Vergleichbares gilt für Menschen, die sich mit solchen Opfern solidarisieren. So wirft Taylors Konzeption angesichts historischer Erfahrung eine Rechtfertigungsfrage auf, auch wenn man in Glaubensfragen im strengen Sinn nicht von Rechtfertigung oder Beweisen sprechen kann. Welche Hürden sind zu überwinden, um für den christlichen Glauben ein philosophisch fundiertes Plädoyer abzugeben, wenn dieses mehr sein soll als die Rechtfertigung eines Beitrags zur westlichen Zivilisation? Die selbstverständliche Anerkennung dieses Beitrags steht außer Frage, auch wenn dieser für viele Menschen auf die konventionelle Übernahme christlicher Traditionen beschränkt bleibt. Taylor spricht von »Glaubenssprung«, um zu verdeutlichen, wie eine Gesamtsicht auf die Welt und das menschliche Leben in unterschiedlicher Weise zum Ausdruck kommen kann. Dabei stellt für ihn die Beschränkung auf eine ganzheitliche Weltsicht, die sich jeglichem Jenseits verweigert und somit auf »abgeschlossener Immanenz« besteht, auch eine Art Glaubenssprung dar. Das führt auf eine Abwägung von Gesamtsichten über die Welt: »Wenn man unsere prekäre Situation ohne ideologische Verzerrung und ohne Scheuklappen begreift, wird man sehen, daß der eine wie der andere Weg einen sogenannten ›Glaubenssprung‹ voraussetzt […]. Es ist, wie man sagen könnte, unsere Gesamtsicht des menschlichen Lebens und seines kosmischen sowie (gegebenenfalls) spirituellen Umfelds, die uns in die eine oder andere Richtung drängt. Die Einstellung, Vgl. KSA, Bd. 11, 499: »N.B. Jede Moral ist eine Gewohnheit der SelbstVerherrlichung: vermöge deren eine Art von Mensch ihrer Art und ihres Lebens froh wird: sie wehrt den Einfluß von Menschen anderer Art damit von sich ab, daß sie dieselben als ›unter sich‹ fühlt.«
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die man zur Frage des Glaubens an Gott oder der offenen beziehungsweise abgeschlossenen Interpretation des immanenten Rahmens vertritt, ergibt sich normalerweise aus dieser intuitiven Gesamtsicht […]. Sie beinhaltet eine Art Vorahnung, und vielleicht wäre es besser, von ›vorgreifendem Vertrauen‹ zu sprechen. Genau das ist gemeint, wenn hier von einem ›Glaubenssprung‹ die Rede ist. […]. Obwohl der Glaube im […] theistischen Sinn für eine bestimmte Haltung der Offenheit spezifisch ist, setzen sowohl die offene als auch die abgeschlossene Deutung einen Schritt voraus, der über die verfügbaren Gründe hinausgeht und in den Bereich des vorgreifenden Vertrauens führt.« (S 917 f.)
Intuitive Gesamtsichten der Welt sind nach Taylor von Vorstellungen über Ziele und Gewichtungen im menschlichen Leben, aber auch von vielfältigen Erfahrungen abhängig. Insofern geht es um ganzheitliche Interpretationen, die miteinander konkurrieren, ohne dass zwischen ihnen definitiv entschieden werden könnte. Das schließt jedoch nicht aus, dass die Einstellung des »vorgreifenden Vertrauens« Abwägungen zulässt, die sich mit der intuitiven Plausibilität der jeweiligen Weltsicht befassen. Das bestätigt Taylor, indem er den christlichen Glaubenssprung dadurch charakterisiert, dass es um »das persönliche Verhältnis des Vertrauens und des Zutrauens zu Gott« gehe, dem letztlich die »Heilung der Welt« durch das »Mysterium der Leiden des Gottmenschen« anheimgegeben sei (S 918, 540). Dieser christlichen Variante steht nicht nur die obige Konzeption der transzendenzlosen Immanenz des säkularen Humanismus gegenüber, sondern eine nietzscheanische Metaphysik des Diesseits, die eine Heilung der Welt für nicht mehr nachvollziehbar hält, weil sie auf einer geschichtlich gewachsenen Einsicht von Kontingenz, menschlicher Ausweglosigkeit, Tragik und Sinnlosigkeit insistiert und, wenn überhaupt, nur noch ein dionysisches Gesamtbild menschlicher Höhen und Tiefen zulässt. Man kann es auch »verwegenen Realismus«, den Nietzsche bei Goethe lobt, nennen. Diesem Realismus entspricht die Gedankenfigur der ewigen Wiederkehr als unaufhebbarer Faktizität alles Geschehens, das sich für Nietzsche nur noch in »zeit297 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
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losen« Augenblicken ästhetisch transformieren lässt: »Siehe! Jetzt eben w a r d die Welt vollkommen.« (KSA, Bd. 10, 128; vgl. Kap. 7.2) Taylor meint mit seiner Kritik an Nietzsche bzw. dem Nietzscheanismus die dionysische Sicht auf die Welt zurückweisen zu müssen, weil sie eine Aufwertung von Zerstörung und Chaos oder den Lobpreis auf Leid, Ausbeutung, Tod und Vernichtung beinhalte (S 626, 1057). Nietzsche und manche seiner Interpreten mögen so gelesen werden können. 14 Der von mir vorgestellte liberale Nietzscheanismus präsentiert jedoch eine klare Alternative: die dionysisch-realistische Sicht auf die Welt nimmt die düsteren Erfahrungen der menschlichen Existenz wie Leid und Tod auf, ohne sie über die unausweichliche Anerkennung ihrer Faktizität hinaus zu überhöhen oder zu verdrängen. Amor fati bedeutet mit der Welt umzugehen, wie sie ist, nicht mehr und nicht weniger. Erst die Art des jeweiligen Umgangs mit der Welt führt zu unterschiedlichen Wertsetzungen. Die Bejahung der Welt als Ganzes lässt sich nicht mehr im Sinn einer moralischspirituellen Gesamtsicht darstellen, sondern nur in einer Bewegung zwischen zwei Polen möglicher Vollkommenheit: der nicht transzendierbaren existenziellen Bewährung des Menschen in der Welt und der transzendierenden Kraft des Ästhetischen. Die existenzielle Bewährung des Menschen in der Welt verweist auf Maßstäbe qualitativer Rangordnung, die transzendierende Kraft des Ästhetischen auf qualitative Maßstäbe der Kunst. Die christlichen »Transzendenzfreunde« werden damit nicht zufrieden sein, doch bleibt ein liberaler Nietzscheanismus in die kulturelle Dynamik eingebunden, die Taylor treffend charakterisiert: »Das Religiöse verharrt unauslöschlich am Horizont des
Allerdings ist auf das auch bei Taylor festzustellende Missverständnis hinzuweisen, das darin besteht, in Nietzsches Ablehnung des Primats der Mitleidsmoral die generelle Ablehnung von Mitgefühl hineinzulesen. Vgl. z. B. JGB, 284-N: »[…] Herr seiner vier Tugenden bleiben, des Muthes, der Einsicht, des Mitgefühls, der Einsamkeit.«
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Areligiösen – und umgekehrt.« (S 986) 15 Insofern geht es um eine nicht abgeschlossene Wechselbeziehung von Religiösem und A-Religiösem, das der Problemstellung entspricht, die aus Nietzsches historischem Atheismus gewonnen werden kann. Auch wenn Taylor sich den dunklen Seiten der Conditio humana stellen will, so leitet ihn eine harmonische Weltsicht, die sich einer »Erzählung von menschlichem Fortschritt« verbunden fühlt, die »tief in unsere Welt eingebettet« ist (S 1188). So wenig zu bestreiten ist, dass es Fortschritt im Namen von Menschenrechten, Wohltätigkeit und Gerechtigkeit gibt, so fraglich ist, wieweit solche Errungenschaften eine umfassende Konzeption vom »guten Leben« im Sinne der objektiven Transzendenz des Christentums mittragen können. Taylor arbeitet mit einer philosophischen Begrifflichkeit, welche die avisierte moralische Fülle und deren höhere »Erfüllung« durch eine »Ontologie«, die »unsere moralischen Bindungen« stützt, absichern will (S 1011). Er meint, Erfahrungen von »Schönheit in Kunst und Natur« seien nicht mit einer »transzendenzfreien Ontologie« zu deuten (S 1008). So steht hinter aller historischen Orientierung, die Taylors Untersuchung in vielen Details auszeichnet, eine »eschatologische Dimension«, eine »Dimension der Versöhnung und des Vertrauens, die jedoch über jede nur innerhistorische Perspektive einer möglichen Diese Diagnose lässt sich mit Nietzsche bekräftigen: »Die F o r t d a u e r des christlichen Ideals gehört zu den wünschenswerthesten Dingen, die es giebt: und schon um der Ideale willen, die neben ihm und vielleicht über ihm sich geltend machen wollen – sie müssen Gegner s t a r k e Gegner haben, um s t a r k zu werden. – So brauchen wir Immoralisten die M a c h t d e r M o r a l : unser Selbsterhaltungstrieb will, daß unsere G e g n e r bei Kräften bleiben, – will nur H e r r ü b e r s i e werden. –«: KSA, Bd. 12, 523. Indem Nietzsche gegen das paulinische Christentum die Einzigartigkeit von Jesus starkmacht, kann er sogar sagen: »[…] im Grunde gab es nur einen Christen, und der starb am Kreuz […] heute noch ist ein s o l c h e s Leben möglich, für g e w i s s e Menschen sogar nothwendig: das echte, das ursprüngliche Christenthum wird zu allen Zeiten möglich sein … N i c h t ein Glauben, sondern ein Thun […]: AC, 211.
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Versöhnung hinausweist«. (S 1172) Damit plädiert Taylor für die Objektivität einer transzendenten Realität, die nur dem Glauben offen bleibt in dem Bewusstsein, »daß unser Sinn für Fülle ein Reflex der transzendenten Realität (für mich: der Gott Abrahams) ist und daß alle Menschen eine Vorstellung von der Fülle haben […]« (S 1273). 16 Aus der Sicht eines liberalen Nietzscheanismus ist diese Synthese des Sinns für Fülle und objektive Transzendenz unter den Der Bezug auf eine transzendente Realität wird auch von Ronald Dworkin in Anspruch genommen, doch dieser argumentiert für einen »religiösen Atheismus«: R. Dworkin, Religion ohne Gott, Frankfurt/M. 2014, 15. Diese Begriffsbildung erklärt sich aus Dworkins Konzeption von Religion, die ohne einen Gottesbegriff auskommen will. Dworkin entwickelt starke Thesen zu einer Metaphysik der Werte, um die religiöse Haltung von dem Glauben an einen persönlichen Gott zu lösen. Damit meint er einen Beitrag zu leisten, um »Kulturkriege«, die im Namen religiöser Überzeugungen geführt werden, ebenso zu entschärfen wie den Vorwurf, Atheisten seien unmoralische Heiden (ebd., 17 f.). Im gegenwärtigen Zusammenhang ist von besonderem Interesse, dass Dworkin seinen religiösen Atheismus unter die Leitfrage stellt, »was es bedeutet, ein gutes Leben zu führen« (ebd., 18). Zu dieser Frage knüpft Dworkin in seinem größeren Werk an Platon und Aristoteles an, die er als »Philosophen der Selbstbejahung« charakterisiert: R. Dworkin, Gerechtigkeit für Igel, Frankfurt/M. 2012, 38. Damit wäre auch Dworkins Konzeption im Vergleich zu Taylor und Nietzsche unter der Fragestellung einer Metaphysik der menschlichen Selbstbejahung weiter zu diskutieren. Die Thesen, die Dworkin zur Metaphysik von zwei Grundwerten aufstellt, »den intrinsischen Sinn des Lebens und die intrinsische Schönheit der Natur« (ebd., 20), stehen in offenkundigem Gegensatz zu Nietzsches historischer Philosophie der Werte. Denn für Dworkin ist die Existenz dieser Werte »autark und selbstbeglaubigend«, so dass sie für ihn so wirklich sind »wie Bäume oder Schmerzen« (Religion, 22 ff.). Die objektiven Werte stehen für die Tiefe der religiösen Weltsicht, womit der Glaube an einen persönlichen Gott nur eine der Möglichkeiten ist, eine religiöse Haltung einzunehmen. Im Prinzip reicht der Glaube an die objektiven Werte hin. Gegen diese quasi überreligiöse Konzeption eines religiösen Atheismus ist hier nicht weiter zu argumentieren, doch bereichert sie das Spektrum des religiösen Pluralismus. Der Vorzug von Taylors Position besteht darin, dass sie die Bindung an einen persönlichen Gott bewahrt und damit in größerer Nähe zu geschichtlichen Verständnissen von Religion, auch bei deren Wandel, verbleibt.
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drei Gesichtspunkten historische Erfahrung, moralisch-religiöse Diversität und Erfüllung in immanenter Transzendenz kritisch zu kommentieren. Was die historische Erfahrung betrifft, so verweise ich auf den Eigenwert bereits genannter moralischer Erfahrungen wie den Holocaust, der gegen eine universelle Dimension von Versöhnung und Vertrauen spricht. Für viele Menschen, auch für mich, hat diese moralische Katastrophe eine innere Zusammengehörigkeit, ein inneres Band aller Menschen zerrissen. Die Erfahrung eines moralisch Andersartigen, eines zutiefst befremdlichen Anderen, spricht gegen ein erneutes Vertrauen in die Menschen und die Welt. Ein »Glaubenssprung« in diese Richtung muss daher viele Hürden überwinden. Daran schließt der zweite Punkt, die moralisch-religiöse Diversität, an: Wenn sowohl historisch als auch zukunftsbezogen von einem metaethischen Pluralismus auszugehen ist, der eher Konflikte als moralische Vereinheitlichung aufzeigt, so verwundert es nicht, dass sich auf der religiös-theologischen Ebene das parallele Problem stellt. Offenbar muss sich die christlich gedachte objektive Transzendenz mit anderen Konzeptionen von objektiver Transzendenz, die eigene Ansprüche erheben, austauschen. Die Verschränkung von Moral und Religion spricht so für einen metareligiösen Pluralismus, der über westliche Gesellschaften hinausreicht. Das wirft die Frage auf, wieweit sich ein moralisch-religiöses Bild des Menschen vereinheitlichen lässt. Zu dieser Frage bleibt zwar einerseits die nietzscheanische Distanz zu Taylors Version des Christentums in Kraft, andererseits zeichnet sich eine Annäherung ab, insofern ein liberales Christentum dogmatische oder fundamentalistische Konzeptionen von objektiver Transzendenz zu überwinden sucht. »Religion durch Religion domestizieren« kann das Programm eines Zwischenschritts sein 17 , bei dem sich liberaler Nietzscheanismus und liberales Christentum auf derselben Seite eines Pluralismus F. W. Graf, Götter global. Wie die Welt zum Supermarkt der Religionen wird, München 2014, 246 ff.
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wiederfinden, der fundamentalistische Bewegungen – welcher Art auch immer – zurückweist. 18 Der dritte Punkt betrifft die Erfüllung in immanenter Transzendenz gegen Taylors Überzeugung, dass menschliche Erfüllung den Rückbezug auf eine objektive Transzendenz braucht. Denn es gibt Quellen von Moral und Selbstverständnisse eines guten Lebens aus eigener Kraft, die keine transzendenten Bezüge benötigen. So wichtig es ist, der moralischen und religiösen Diversität, die zur weiteren Differenzierung von Taylors Zeitalterbild gehört, Rechnung zu tragen, so richtig ist auch, dass im Spektrum dieser Diversität Menschen in der Lage sind, in selbstbestimmter Weise moralische Alternativen abzuwägen und in ihre Vorstellungen eines sinnerfüllten Lebens zu integrieren. Was die Moral des egalitären Universalismus angeht, so kann diese auf Quellen elementarer Mitmenschlichkeit und historischer Erfahrung zurückgreifen. Das von Taylor zu Recht betonte Problem der moralischen Motivation (S 1167) verdeutlicht sich in der Entscheidungsfindung für einen moralischen Standpunkt, der als vergleichende Stellungnahme formulierbar ist: Es ist besser, einer Gemeinschaft anzugehören, in der Einstellungen der zwischenmenschlichen Gleichheit dominieren. Hierzu lautet die nietzscheanische Ergänzung: Es ist noch besser, einer Gemeinschaft anzugehören, in der zwischenmenschliche Gleichheit die Grundlage des Strebens nach menschlicher Perfektion bildet. 19 Die Motivation, moralisch schlechtere Alternativen abzuweisen, führt zur Identifikation mit Grundnormen der westlichen Moderne. Diese Normen sind dem Inhalt nach universalistisch Vgl. H. Joas, Option, a. a. O., 64, der die wichtigste »Front« der kulturellen Auseinandersetzung nicht zwischen Gläubigen und Ungläubigen verlaufen sieht, sondern »zwischen Universalisten gläubiger und ungläubiger Art auf der einen Seite und Anti-Universalisten gläubiger oder nichtgläubiger Art auf der anderen«. 19 Unabhängig von Dworkins objektivistischer Konzeption ist bemerkenswert, dass er sich Nietzsche in dieser liberalen Version annähert: Dworkin, Igel, a. a. O., 438 ff. 18
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(Menschenrechte etc.), bestimmen aber keineswegs weltweit die menschliche Praxis. Die Erklärung der Menschenrechte von 1948 ist zwar ein großer Fortschritt, doch stellt sich damit in aller Deutlichkeit das keineswegs gelöste Problem der Universalisierung des Universalismus sowohl auf der persönlichen wie kulturellen wie politischen Ebene. 20 Es genügt, an die Frage der Gleichstellung von Frau und Mann oder an das Postulat der Nicht-Diskriminierung von Ethnien zu erinnern, um die Problematik zu ermessen. Das kann einen nietzscheanisch verstandenen metaethischen und metareligiösen Pluralismus zwar kaum verwundern, doch wirken sich diese Tatbestände auf die umfassend gestellte Frage nach dem guten Leben und der Bejahung des Menschlichen aus. Wie ist die individuelle Vorstellung vom guten Leben mit überindividuellen Zusammenhängen von Gemeinschaft oder Glauben so zu vermitteln, dass nicht nur eine Problemlage sichtbar wird, sondern auch die Kohärenz eines übergreifenden Sinngefüges von Individuum und Welt? Der Verzicht auf ein solches übergreifendes Sinngefüge muss nicht zum Verlust von moralischer Kraft und dem Selbstverständnis eines guten Lebens führen, aber unter bestimmten geschichtlichen Bedingungen verändern sich die Schwerpunkte der menschlichen Bejahung. Die Kräfte des moralischen Egalitarismus und des nietzscheanischen Perfektionismus weisen aus Motiven existenzieller Selbstbehauptung andere Konzeptionen des guten Lebens zurück. Das bedeutet, dass konkurrierende Entwürfe des guten Lebens sowohl in individueller wie überindividueller Hinsicht ausgegrenzt werden. So bietet die Gesamtsicht auf Sinnkonstellationen des guten Lebens in der Welt nur mehr ein fragmentiertes Bild und lässt keine Einheitlichkeit erkennen. Das führt nicht zwingend auf die resignierende Konsequenz, dass die Situation des Menschen in der modernen Welt mit Vgl. Ch. Menke/A. Pollmann, Philosophie der Menschenrechte, Hamburg 2007, 74 ff.
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einem nicht mehr korrigierbaren übergreifenden Sinnverlust einhergeht. Denn es eröffnet sich dadurch die Chance, dass Menschen in der Erarbeitung eigener Sinngebungen erst die ihnen gemäße Erfüllung finden, auch wenn diese nicht mehr unter objektiven Vorzeichen erfolgen. So stehen sich die unter geschichtlichen Bedingungen zu denkende Subjektivierung des Sinns der Welt und der Anspruch auf menschliche Sinnerfüllung in ihrer Rückbindung an eine objektive Transzendenz gegenüber. Taylor, der in der »Sinnfrage ein zentrales Problem unserer Zeit sieht«, kann beigepflichtet werden, ohne ihm bei der Antwort auf die »Frage nach den Quellen des tieferen Sinns« (S 1189, 1179, 1122) zu folgen. Die Frage nach dem guten Leben ließe sich vor dem platonisch-aristotelischen Hintergrund als Frage nach der menschlichen Sinnorientierung in einer durch die genannten Gesichtspunkte charakterisierbaren Weltkonstellation weiter vertiefen. 21 Die vergleichende Betrachtung von Nietzsches und Taylors Metaphysik der menschlichen Selbstbejahung liefert dazu Beiträge, die auf folgende Thesen führen: 1. Eine umfassende Bejahung von Mensch und Welt unter Bedingungen der Moderne, die ihren tieferen Sinn auf religiöse Transzendenz zurückführt, ist skeptisch zu beurteilen, aber als Option offen. 22 Dazu sowohl historisch wie systematisch sehr erhellend: U. Wolf, Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, Reinbek bei Hamburg 1999. Vgl. dazu meine Akzentsetzung zur »Verneinung des schlechten Lebens« aus historischer Erfahrung: R. Zimmermann, Auschwitz, a. a. O., Kap. 1.3. 22 Das letzte Kapitel von Taylors Werk trägt den Titel »Bekehrungen«, wo an persönlichen Beispielen die religiöse Option bekräftigt wird (S, Kap. 20). Das Wahrnehmen religiöser Optionen und das Festhalten an religiösen Gemeinschaften können in einer pluralistischen Demokratie fortbestehen, doch wird die Gesellschaft dadurch nicht »postsäkular«. Vgl. zur Begriffsbildung der »postsäkularen Gesellschaft«: J. Habermas, Glauben und Wissen, Frankfurt/M. 2001, 12 ff. Trotz dieser etwas schiefen Akzentsetzung bildet für Habermas der liberale Verfassungsstaat den unverzichtbaren po21
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2. Ein liberaler Nietzscheanismus bezieht sich auf die fragmentierte Sinnkonstellation der Moderne und unterscheidet zwei Dimensionen menschlicher Bejahungsmöglichkeit, die diesseitsbezogene Selbstvervollkommnung in der Welt und die ästhetische Transfiguration der Welt als Verwirklichung menschlicher Vollkommenheit. 3. Die diesseitige Selbstvervollkommnung kann alle Bereiche menschlicher Aktivitäten umfassen und unterliegt qualitativen Maßstäben menschlicher Existenzbewältigung, die eine dynamische Rangordnung menschlicher Größe implizieren. Transzendieren in dieser Dimension entspricht einer Bewegung der Selbstperfektion des Menschen. 4. Die ästhetische Transfiguration der Welt verschafft dem Menschen die Möglichkeit, sich in immanenter Transzendenz eine eigene Vollkommenheit zu schaffen, die im Kunstwerk erfahrbar wird. Die Selbstperfektion des Menschen bei der Existenzbewältigung und die Möglichkeit der Selbstvervollkommnung in der Kunst sind zwei Weisen menschlicher Selbsterfüllung und insofern des »guten Lebens«. Die ästhetische Selbstbejahung betrifft die jeweilige individuelle Vervollkommnung, während die Existenzbewältigung in anderen Bereichen auf überindividuelle und gemeinschaftliche Ziele bezogen sein kann. Beispiele dafür sind Nietzsches Forderung nach europäischer Orientierung oder seine Bewertung gelungener historischer Gemeinschaften (Polis, Venedig etc.) wie auch seine Ikonographie menschlicher Größen (vgl. Kap. 7.2). In der ästhetischen Transfiguration kommt der Mensch der religiösen Tiefe, die für ihn einstmals die Quelle seiner Selbstbejahung bildete, als Künstler am nächsten. So wird die Überlitischen Rahmen. Vgl. die entsprechende Klarstellung bei M. Seel, Ist eine rein säkulare Gesellschaft denkbar?, in ders., Aktive Passivität, Frankfurt/ M. 2014, 202–222, hier 220 f.
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zeugung des frühen Nietzsche verständlich, wenn er in seinem Vorwort an Richard Wagner »von der Kunst als der höchsten Aufgabe und der eigentlich metaphysischen Thätigkeit dieses Lebens« spricht (GT, 24). Hier rückt die Kunst an die erste Stelle menschlicher Selbstbejahung. Doch es gibt Korrekturen Nietzsches an seiner frühen Kunstemphase, die sich in die Betrachtung der Kunst unter der fragmentierten Sinnkonstellation der Moderne miteinbeziehen lassen. Thomas Mann verweist im Faustus-Roman bereits auf die Problematik, in einer schwierigen Zeit das Selbstverständnis der Kunst zu bestimmen (vgl. Kap. 4.3, 4.4). Auch Adorno setzt sich mit dieser Problematik intensiv auseinander, so dass sein Werk als kritischer Leitfaden für das Verhältnis der Kunst zu verbleibenden Möglichkeiten menschlicher Selbstbejahung dienen kann.
8.1.2 Kunst und fragmentierte Moderne: Adorno, Nietzsche, Thomas Mann In der Philosophie Adornos findet sich auch ein berühmtes Diktum zur historischen Situation der Kunst: »Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben. Der absoluten Verdinglichung, die den Fortschritt des Geistes als eines ihrer Elemente voraussetzte und die ihn heute gänzlich aufzusaugen sich anschickt, ist der kritische Geist nicht gewachsen, solange er bei sich bleibt in selbstgenügsamer Kontemplation.« 23
Auschwitz hat »das Mißlingen der Kultur unwiderleglich bewiesen«, ja, alle Kultur nach Auschwitz, »samt der dringlichen Th. W. Adorno, Kulturkritik und Gesellschaft, in: ders., »Ob nach Auschwitz sich noch leben lasse«. Ein philosophisches Lesebuch, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1997, 187–205, hier 205.
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Kritik daran, ist Müll«. 24 Das heißt nicht, dass Adorno der Kunst keinen wichtigen Stellenwert mehr beimisst. Im Gegenteil. Kunst erlangt für Adorno eine entscheidende Bedeutung, indem er ihr die geschichtliche Dimension der Dialektik von Unterdrückung und Befreiung zuschreibt. Für Adornos Philosophie ergibt sich daraus ein permanentes Spannungsverhältnis zwischen einem auf die Krisenhaftigkeit der Zeit bezogenen Vokabular der Negativität und einem an der Autonomie der Kunst orientierten Potenzial von Affirmation. Während in Adornos Denken die epochale Katastrophe von Auschwitz nachwirkt, öffnet sie zugleich eine an der Kunst orientierte utopische Dimension und unterstreicht die fragmentierte Sinnkonstellation der Moderne. Mit Bezug auf Nietzsche kann Adornos Philosophie als Test dienen, um unter Bedingungen extremer historischer Erfahrung die Frage der menschlichen Selbstbejahung in der Kunst und deren Stellung in der Gesellschaft zu überprüfen. Die dabei gewonnenen Anhaltspunkte sollen helfen, sowohl Nietzsches Korrekturen an seiner frühen Kunstemphase wie die Einordnung der Roman-Kunst Thomas Manns abschließend zu kommentieren. Adornos Kunstdiktum ist nachvollziehbar, wenn man die Deformation der kulturellen Ressourcen Deutschlands durch die NS-Barbarei zur Kenntnis nimmt, ein Sachverhalt, der auch Thomas Mann umtreibt und zu seinem EpochenRoman führt (vgl. Kap. 4). Die historische Erfahrung von Auschwitz bewirkt die Absage an ein Verständnis von Lyrik oder Kunst, das sich der Illusion hingibt, es gebe so etwas wie einen außergesellschaftlichen Bereich von Kultur und Kunst. Für Adorno fördert die Vorstellung von »reiner Lyrik« die Barbarei, weil sie die Selbständigkeit einer geistigen Sphäre suggeriert, die nicht existiert und nur solange plausibel erscheint, als von gesellschaftlich induzierten Einflüssen auf die Kunst abgesehen wird. 25 24 25
Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt/Main 1975, 359. Vgl. zu diesem und anderen Gesichtspunkten für die Relevanz von
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Adorno vereint seine Gesellschaftskritik der Moderne (Dialektik der Aufklärung), die auch Thomas Mann beeinflusst (vgl. Kap. 6.1), mit seiner Ästhetik in der Weise, dass die Kunst aus ihrer Verschränkung mit geschichtlichen Konstellationen ihren besonderen Stellenwert erhält: »Das geschichtliche Moment ist den Kunstwerken konstitutiv; die authentischen sind die, welche dem geschichtlichen Stoffgehalt ihrer Zeit vorbehaltlos und ohne Anmaßung über ihr zu sein sich überantworten. Sie sind die ihrer selbst unbewußte Geschichtsschreibung ihrer Epoche; das nicht zuletzt vermittelt sie zur Erkenntnis.« 26
Die Verschränkung der Kunst mit gesellschaftlich-politischen Realitäten der Geschichte ist die Problemorientierung, an der sich Adornos Ästhetik in vielschichtiger Weise abarbeitet. Sie erschließt Kunst in ihrem »Doppelcharakter« von Autonomie und »fait social«, um in ihren Formen die »ungelösten Antagonismen der Realität« aufzuzeigen (19, 312). Diese Antagonismen sind für Adorno »Male der Zerrüttung« und prägen das »Echtheitssiegel der Moderne«, die keine traditionelle Geschlossenheit mehr zulasse (41). Und dennoch schreibt Adorno der Eigendimension von Kunstwerken ein Potenzial zu, das auf eine Art von Utopie angelegt ist: »Die ästhetische Erfahrung ist die von etwas, was der Geist von der Welt noch von sich selbst schon hätte, Möglichkeit, verhießen von ihrer Unmöglichkeit. Kunst ist das Versprechen des Glücks, das gebrochen wird.« (204 f.)
Damit greift Adorno auf Stendhal zurück, der Schönheit als ein Glücksversprechen umschreibt, dessen Einlösung in der Schwe-
Auschwitz im Denken Adornos: D. Claussen, Nach Auschwitz. Ein Essay über die Aktualität Adornos, in: D. Diner (Hg.), Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt/M. 1988, 54–68. 26 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1970, 272. Die folgenden Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf dieses Werk.
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be bleibt (»La beauté n’est que la promesse du bonheur« 27 ). Adorno versucht die Verbindung von Kunst und Utopie aufrechtzuerhalten und rückt sie zugleich in die Ferne: »Stendhals Diktum von der promesse du bonheur sagt, daß Kunst dem Dasein dankt, indem sie akzentuiert, was darin auf die Utopie vordeutet. Das aber wird stets weniger, das Dasein gleicht immer mehr bloß sich selber. Kunst kann darum immer weniger ihm gleichen. Weil alles Glück am Bestehenden und in ihm Ersatz und falsch ist, muß sie das Versprechen brechen, um ihm die Treue zu halten.« (461)
Das Problem, das sich für Adorno in der Spanne von Negativität und Utopie stellt, wird an den Werken von Kafka und Beckett, die als bedeutende Zeugnisse moderner Kunst gelten, deutlich. Bei Kafka wird für Adorno der »Verblendungszusammenhang der Gesellschaft« als »verwalteter Welt« kenntlich (342), bei Beckett diagnostiziert er Verhandlungen über »Sinn«, die sich mit geschichtlich gewordener Sinnlosigkeit auseinandersetzen (230). Vor dem Hintergrund solcher Beispiele ist einerseits nachvollziehbar, wenn Adorno betont, die Tiefe von Kunstwerken bestehe darin, dass sie das Divergente, Widersprüchliche, Antagonistische nicht zu schlichten versuchen. Andererseits aber »transzendiert das Kunstwerk zugleich die Antagonismen des Daseins ohne den Trug, sie wären nicht mehr« (283). Dieses Transzendieren soll dem im Werk objektivierten »richtigen Bewußtsein« entsprechen. Es stehe für ein »Potential von Freiheit«, das in seiner fortschrittlichsten Form die »Widersprüche Stendhal, De L’Amour, Paris 1980 [1822], Kap. XVII, Anm. 1, 59. Stendhal spricht von der Schönheit von Frauen im Kontext der Liebe zu weniger schönen oder hässlichen Frauen; eine hässliche Frau kann mehr geliebt werden als eine schöne. Das verweist auf die subjektiv empfundene Schönheit, die von jedem Menschen in Hinsicht auf die mögliche Erfüllung seines Glücks anders empfunden werden kann. Davon unterscheidet Stendhal die ideale Schönheit in der Kunst. Adornos Anknüpfung interessiert hier nur wegen der Spanne von Negativität und Utopie. Zur differenzierten Interpretation Stendhals mit Bezug auf Adorno vgl. Ch. Menke, Die Kraft der Kunst, Frankfurt/M. 2013, 41–55.
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im Horizont ihrer möglichen Versöhnung« vergegenwärtige. Die Utopie möglicher Versöhnung ist der ideale Ort, in dem Adorno seine kritische Gesellschaftstheorie mit der Ästhetik zusammenführt. Dem entspricht eine komplementäre Beziehung von gesellschaftlicher Negativität und künstlerischer Affirmation, die jedoch den Ort möglicher Versöhnung in einer eher paradox anmutenden Unerreichbarkeit umkreist: »Der Glanz, den heute die alle Affirmation tabuierenden Kunstwerke ausstrahlen, ist die Erscheinung des affirmativen ineffabile, des Aufgangs eines Nichtseienden, als ob es doch wäre. Sein Anspruch zu sein erlischt im ästhetischen Schein, was nicht ist, wird jedoch dadurch, daß es erscheint, versprochen. Die Konstellation von Seiendem und Nichtseiendem ist die utopische Figur von Kunst. Während sie zur absoluten Negativität gedrängt wird, ist sie kraft eben jener Negativität kein absolut Negatives.« (347)
Anstatt die Kunst in ihrer besonderen Stellung zwischen den ihr inhärenten geschichtlichen Momenten und den ihr eigenen Konfigurationen von uneingelösten Möglichkeiten zu belassen, gibt Adorno – tendenziell – der Neigung nach, die Kunst selbst ins gesellschaftlich Utopische zu wenden. Die Kunst würde so in einer befreiten Gesellschaft aufgehen: »Umzukehren wäre am Ende die Nachahmungslehre; in einem sublimierten Sinn soll die Realität die Kunstwerke nachahmen.« (199 f.) Gegen diesen Zug der ästhetischen Utopie Adornos hat Martin Seel triftige Einwände erhoben, die nicht nur das Spannungsverhältnis zwischen Negativität und Affirmation bei Adorno klären, sondern auch als Beitrag zur systematischen Beziehung von Kunst und Gesellschaft dienen können. Seel weist darauf hin, dass der Kunst, auch der Kunst der Avantgarde, keine gesellschaftlich-politische Vorreiterrolle zugeschrieben werden kann. Kunst fordert nicht dazu auf, sie – wie immer »sublimiert« – nachzuahmen. Kunstwerke sind »Konfigurationen eines bis dahin nicht da gewesenen Erscheinens. Sie selbst eröffnen Möglichkeiten des Sehens und Fühlens, des Denkens und der Erfahrung. Sie tun dies nicht in einer fernen Zukunft, son310 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
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dern an den historischen Orten, an denen sie als bedeutende Objekte ins Bewusstsein treten.« 28 Seel bestreitet, dass Kunstwerke in einem Vokabular von Utopie angemessen beschrieben werden können, denn sie bieten ihre »Energien hier und jetzt« auf, um eine Wirklichkeit in der »puren Gegenwart« zu schaffen, die vorher noch nicht möglich schien. Das erklärt auch die Anregung zu immer neuen Kunstproduktionen, die von bedeutenden Kunstwerken ausgeht. Obwohl Kunstwerke sich inhaltlich auf Utopien beziehen können, sind sie »im Kern antiutopisch«. Indem Seel die prinzipielle Unabgeschlossenheit von künstlerischer Innovation in einer wie auch immer zu denkenden freieren Gesellschaft betont, kann er – mit Adorno – darauf verweisen, dass ein Verzicht auf menschliche Imagination nicht denkbar ist. Das bedeutet, dass im Überschreiten des im Denken und Handeln Üblichen und in der Auseinandersetzung mit den von Adorno umschriebenen »Malen der Zerrüttung« das negatorische Potenzial der Kunst auf etwas Affirmatives verweist: »Die Kehrseite dieser Negation ist das Vermögen einer bis dahin unerhörten Bejahung.« Denn die Kunstwerke »sagen nicht allein ›nein‹ zu hergebrachten Gestaltungsweisen, sie erfinden in ihrer Gestalt eine neue, die sie mit der Kraft ihrer Konstruktion bejahen. Und mit der Konstruktion, für die sie einstehen, stehen sie für ein Verhältnis zur Gegenwart ihres Erscheinens ein. Sie affirmieren die Möglichkeit der Erfahrung, die mit ihnen entstanden und an sie gebunden ist.« 29 Die bejahende Kraft der künstlerischen Konstruktion äußert sich auch da, wo sich die Kunst den dunklen oder katastrophalen Seiten geschichtlicher Konstellationen zuwendet. In der ästhetischen Wahrnehmung ermöglicht sie besondere Erfahrungen, die umso beachtlicher sind, je mehr sie von bisherigen ZugangsM. Seel, Adornos Philosophie der Kontemplation, Frankfurt/M. 2004, 74 f. Zum Folgenden ebd., 75 f. 29 Ebd., 70 f. 28
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weisen abweichen. Als Beispiel führt Seel den Roman eines Schicksallosen von Imre Kertész an, der aus der Perspektive eines Heranwachsenden von dessen Deportation nach Auschwitz und Aufenthalten in anderen Lagern (Buchenwald) erzählt. 30 Der Versuch dieses Heranwachsenden, seiner Situation in Beschreibungen alltäglicher Normalität Sinn abzugewinnen, verstärkt immer mehr den Eindruck des Grauens. 31 Ein anderes Beispiel zur Auschwitz-Thematik ist Roberto Benignis Film La vita è bella, in dem es dem Protagonisten gelingt, seinem kleinen Sohn den Aufenthalt in einem Konzentrationslager wie ein kompliziertes Spiel zu deuten, dessen Regeln einzuhalten sind, um am Ende einen echten Panzer zu gewinnen. Der Vater wird zwar erschossen, doch der Sohn, der auf Anweisung des Vaters in seinem Versteck bleibt, bis ein amerikanischer Panzer auftaucht, kann sich als Sieger des Spiels fühlen. Die tragikomische Inszenierung der Unmenschlichkeit und ihre Überwindung zeichnen den mit einem Oscar prämierten Film aus. Weitere literarische oder filmische Beispiele bedürften gesonderter Diskussion, wobei es nicht um eine vereinheitlichende Sicht auf Auschwitz oder andere geschichtliche Katastrophen geht, sondern um die Kraft der künstlerischen Imagination in der jeweiligen Präsentation von Erfahrungsweisen der Realität. Das Werk von Anselm Kiefer stellt im Bereich der bildenden Kunst Zugänge zur Verarbeitung der deutschen Geschichte und des Nationalsozialismus sowie der geschichtlich-existentiellen Lage des Menschen dar. Wenn eine Gesamtwürdigung dieses Werks zu dem Schluss kommt, dass das »unendliche Begehren nach Sinn« den Kern von Kiefers Kunst ausmacht, so unterstreicht das die bejahende Kraft der künstlerischen Produktion
Seel führt auch andere Beispiele aus den Bereichen Literatur, Jazz und Film an, deren Relevanz anders gelagert ist; sie können hier übergangen werden. 31 Die »Chiffre Auschwitz« wird auch in einem späteren Roman zentrales Thema: I. Kertész, Liquidation, Frankfurt/M. 2003, insbes. 117 ff. 30
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im Kontext der Situation der Kunst, wie sie Adornos Ästhetik thematisiert. 32 Die künstlerischen Beispiele zu Auschwitz, die hier primär interessieren, repräsentieren in ihrer Gestaltungskraft produktive Konfrontationen mit Inhumanität. Dabei lässt sich mit Adorno das wichtige Moment von reflexiver Distanzierung als Stichwort für das angemessene Verhältnis von Kunst und Politik herausheben. Denn Kunst veranlasst denjenigen, der sie erfährt, aus sich herauszutreten. Sie »setzt den Rezipierenden als empirisch-psychologische Person zugunsten seines Verhältnisses zur Sache außer Aktion«. Mit dieser Leistung der Distanzierung, so Adorno, bestimmt Kunst den Rezipierenden als »zoon politikon«. 33 Auch wenn Kunst »Praxis als Bildung von Bewußtsein« ist, so ist sie doch keine Praxis als darüber hinausreichende Aktion. Sie verweist auf Politik, indem sie die Menschen auf ihr Selbstverständnis als politische Wesen, als moderne citoyens, anspricht und das kann nur heißen, dass Menschen in der Dimension des Politischen ihre eigene Praxisform gestalten. Die Kraft der künstlerischen Gestaltung und ihre spezifische Art von Bejahung verweist auf das Feld der Politik, auf dem eine eigene produktive Bejahung zu realisieren ist. So gesehen führt Adornos Ästhetik zu einer Komplementarität von Kunst und Politik. Dem entspricht ein anderes Diktum von Adorno: »Es gibt kein richtiges Leben im falschen.« 34 Denn dieses Diktum, das Hierzu: D. Arasse, Anselm Kiefer, München 2001, 307; zu Adorno: 136; zu Auschwitz: 147–150. Es ist bezeichnend, dass Anselm Kiefers Werk Eisen-Steig auf dem Umschlag zu einer neueren Studie über die Vernichtung der europäischen Juden zu finden ist: Ch. Gerlach, Der Mord an den europäischen Juden, München 2017. Als neueres Beispiel ist die Bildreihe zu nennen, die Gerhard Richter unter dem Titel Birkenau zu Auschwitz erstellt hat. Richter geht eigene Wege und setzt sich mit dem Problem der Darstellbarkeit von Auschwitz auseinander. Diese Thematik, die nicht nur die bildende Kunst angeht, kann hier nicht vertieft werden. 33 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, a. a. O., 361. Das Folgende ebd. 34 Vgl. Th. W. Adorno, Minima Moralia, Frankfurt/M. 1951/2001, 59. 32
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Adornos Kritik des modernen »Verblendungszusammenhangs« zuspitzt, ist letztlich nur vor dem Hintergrund eines sich in negierender Abgrenzung zum Bestehenden definierenden Gegenentwurfs, eines humanen Positivums, nachvollziehbar. Es reicht hier klarzustellen, dass Adorno die Vorsicht, die er bei positiven Bestimmungen zu Gesellschaft und Politik walten lässt, ablegt, wenn es um das ihn leitende Humanum der Erziehung nach Auschwitz geht. 35 Hinzu kommen modifizierende Reflexionen in seinen Vorlesungen zur Moralphilosophie, die, wenn auch in konjunktivischer Form, die Frage des richtigen Lebens in die »Frage nach der richtigen Politik« überleiten. 36 Das Festhalten an dieser Frage rückt die Dialektik der Negativität in eine offene politische Perspektive. Adorno begründet seine Zurückhaltung in Fragen positiver Gesellschaftsbestimmung in einer aufschlussreichen Antwort an Thomas Mann, der um eine ungefähre Vision von »wahrer Gesellschaft« bittet. 37 Darin verweist er auf das für ihn fragwürdige Beispiel von Stefan George. Stefan George habe es – wie Nietzsche – nicht »in der Negativität aushalten können« und sich einem Götzenkult, mit dem er als Künstler unmöglich geworden sei, verschrieben. Adorno betont gegenüber Thomas Mann seine selbstverordnete »Askese«, obwohl ihm eigentlich »der fessellose Ausdruck der Hoffnung viel näher« liege. Jedoch habe, bei aller Askese, die Negation ihr Recht »einzig an der Kraft des Positiven«. 38 Th. W. Adorno, Erziehung nach Auschwitz, in: ders., Ob nach Auschwitz, a. a. O., 48–63. 36 Th. W. Adorno, Probleme der Moralphilosophie, Frankfurt/M. 2010, 262. 37 Vgl. zum Folgenden den Wechselbezug von Thomas Manns Orientierung am Gedanken der Humanität und Adornos negativer Dialektik, den R. Mehring betont: ders., Das ›Problem der Humanität‹. Thomas Manns politische Philosophie, Paderborn 2003, 100 f. 38 BrThWA, 122, 128. Vgl. dazu Seel, Adornos Philosophie, a. a. O., 20 ff. Seel zitiert die Antwort Adornos und entwickelt eine Interpretation, die den »normativen Kern von Adornos Denken« als »anschauende Erkennt35
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Damit ergibt sich ein vergleichender Blick auf Nietzsche, den Adorno in seiner Kritik an George auch erwähnt. Doch so richtig die Feststellung ist, dass Nietzsche es in der Negativität nicht aushält, so richtig ist auch, dass sich Nietzsche zu Korrekturen an seiner frühen Kunstemphase genötigt sieht. Nietzsches frühe Tragödienschrift, der das programmatische Wort über die Kunst als eigentlich metaphysische Tätigkeit entstammt, ist von einem utopischen Impetus getragen. Hinter der Deutung der griechischen Tragödie aus dem Geist der Musik steht Richard Wagners musikalischer Aufbruch zu einer kulturellen Neuorientierung des Menschen. 39 Diese zielt für Nietzsche auf eine gesellschaftliche Umwälzung, der die Kunst den Weg weisen kann. 40 Darin liegt eine, wenn auch anders als bei Adorno gelagerte, utopische Überforderung der Kunst. Nietzsche korrigiert sich jedoch im Zuge seiner Distanzierung von Wagner: »Ein Künstler ist nicht Führer des Lebens – wie ich früher sagte.« (KSA, Bd. 9, 169) So löst sich Nietzsche von einem ganzheitlichen Verständnis von Kultur, das er zunächst in der Wiedergeburt eines deutschen Mythos im Gefolge Wagners sucht (GT, 103, 107, 153 f.). Dieser ganzheitliche Bewertungsmaßstab ergibt sich aus einem Kulturbegriff, der die Einheit des künstlerischen Stils in allen Lebensäußerungen eines Volkes postuliert. Dieser Kulturbegriff kann die Besonderheit von Gemeinschaften wie der altgriechischen Polis oder Venedigs würdigen (vgl. Kap. 7.2.2), doch kaum noch der modernen Kunst und Kultur gerecht werden, die eine solch nis« in theoretischer, ethischer, ästhetischer Hinsicht bestimmt. Die obige Distanzierungsleistung der Kunst kann in Einklang mit dieser Interpretation verstanden werden. 39 Vgl. zu diesem Zusammenhang: G. W. Most, Die Geburt der Tragödie, in: St. L. Sorgner/H. J. Birx/N. Knoepffler (Hg.), Wagner und Nietzsche. Kultur – Werk – Wirkung, Reinbek bei Hamburg 2008, 420–427. 40 Vgl. dazu UZ IV (Richard Wagner in Bayreuth): Wirkungen der theatralischen Kunst auf Erneuerung von Sitte, Staat, Erziehung (448, 458), Wagner als Revolutionär der Gesellschaft (475), »Lebensquell […] einer wahrhaft menschlichen Gesellschaft« (480).
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übergreifende Einheitlichkeit immer mehr in Frage stellt. Nietzsche ist sich dessen bewusst, wenn er rückblickend auf seine frühe Kulturkritik, die sich gegen das »chaotische Durcheinander aller Stile« wendet (UZ I, 163), seine »Neuerungen« formuliert: »1.) Mein A n s t r e b e n gegen den Verfall und die zunehmende Schwäche der Persönlichkeit. Ich suchte ein neues C e n t r u m . 2.) Unmöglichkeit dieses Strebens erkannt! 3.) […] ich erkannte die a c t i v e K r a f t des Schaffenden inmitten des Zufälligen […] G e g e n die lähmende Empfindung der allgemeinen Auflösung und Unvollendung hielt ich die e w i g e W i e d e rk u n f t !« (KSA, Bd. 10, 661 f.)
Mit dem Verzicht auf ein neues Zentrum der Kultur verbleibt als einheitsstiftender Gedanke nurmehr die Metaphysik der ewigen Wiederkehr, die eine dionysische Gesamtsicht ermöglicht und zugleich die aktive Kraft des Schaffenden anerkennt. Doch zu einer solchen Gesamtsicht gehören nicht nur die künstlerischen Schaffenskräfte. Zwar ist der Status der Kunst wegen ihrer Innovationskraft und ihres Potenzials der menschlichen Selbstbejahung ein besonderer, doch diese »eigentlich metaphysische Tätigkeit« wird von der dionysischen Metaphysik des Diesseits insofern umgriffen, als sich diese auf alle Bereiche menschlicher Aktivitäten bezieht. Die aktive Kraft der Schaffenden in Gesellschaft und Politik bewirkt keine Verklärung des Daseins, sie ist jedoch eine Praxisform, an die ebenfalls Maßstäbe des guten oder schlechten Gelingens anzulegen sind. Solche Maßstäbe verweisen auf Nietzsches Rangordnungsmoral als Gradmesser menschlicher Bejahungsmöglichkeiten. Systematisch betrachtet ist damit die im Anschluss an Adorno deutlich gewordene Komplementarität von Kunst und Politik auch für Nietzsche zutreffend. Dass mit Adorno der historischen Erfahrung von Auschwitz für eine fragmentierte Moderne ein besonderer Stellenwert zukommt, unterstreicht rückblickend die offene Problematik des Verhältnisses von Kultur und Politik, die sich auch in Thomas Manns Faustus-Roman
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Liberaler Nietzscheanismus und Konflikt-Demokratie
stellt. In ihm verliert die Kunst ihre prägende Orientierungsfunktion und präsentiert sich in einer eher fragmentarischen Verfassung (vgl. Kap. 4.3, 4.4). 41 Ein Ausdruck dafür ist die von Thomas Mann im Kontext politischer Neubesinnung in der Schwebe gehaltene »Lebensstimmung von Kunst« als dritte Möglichkeit zwischen bürgerlicher Tradition und künstlerischer Avantgarde. Sie findet in Adornos Ästhetik eine frappierende Parallele, deren Konkretion er sich jedoch im Sinne der von ihm geübten Askese verbietet: »Auch die Gestalt von Kunst in einer veränderten Gesellschaft auszumalen steht nicht an. Wahrscheinlich ist sie ein Drittes zur vergangenen und gegenwärtigen […].« 42 Nachdem deutlich geworden ist, dass eine veränderte Gesellschaft – sowohl im Sinne Adornos und Nietzsches als auch Thomas Manns – ohne den ständigen Beitrag der Kunst weder vorstellbar noch wünschenswert ist, stellt sich umso dringlicher die Frage nach dem politischen Rahmen für gesellschaftliche Entwicklungen. An dieser Frage scheiden sich die Geister von Adorno und Nietzsche: Weder »Erlösung« noch »Versöhnung« werden am Zukunftshorizont der Politik sichtbar, allenfalls ein humaner Umgang mit Konflikt und Macht.
8.2 Liberaler Nietzscheanismus und Konflikt-Demokratie Als vertretbare politische Interpretation von Nietzsches dionysischem Radikalismus bleibt allein die Einbindung in die konstitutionelle Demokratie. Das entspricht nicht nur dem Geist der republikanischen Integration Nietzsches durch Thomas Mann, Vgl. hierzu die Deutung von H. Koopmann mit Bezügen auf Adorno: Koopmann, Thomas Mann, a. a. O., 326–343: Thomas Manns Doktor Faustus: Die Absage an das ›runde Werk‹ und die Botschaft des Fragments. 42 Adorno, Ästhetische Theorie, a. a. O., 386. 41
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sondern auch der Kritik an Nietzsches Begriffen und Thesen unter systematischen Gesichtspunkten von historischer Erfahrung (vgl. Kap. 2, 3, 7). Nur so ist es möglich, die Perspektive eines produktiven liberalen Nietzscheanismus zu verfolgen. Eine solche Anknüpfung besteht in der Integration von Nietzsches Religionskritik in das Spektrum des kulturellen Pluralismus. Hinzu kommt der besondere Stellenwert der Kunst als Dimension der menschlichen Selbstbejahung in einer fragmentierten Moderne. Zugleich besteht eine unaufhebbare strukturelle Differenz zwischen Kunst und Politik, die zur Frage führt: Welche nietzscheanischen Impulse können für den Bereich des Politischen geltend gemacht werden? Im Wesentlichen sehe ich vier Themen, deren Reihenfolge ihre ansteigende Gewichtung wiedergibt: Erstens die Einsicht in die historische Kontingenz westlichpolitischer Ordnungen; zweitens das Wechselspiel von Kultur und Politik unter europäischer Perspektive; drittens das Spannungsverhältnis zwischen Grundnormen menschlicher Gleichheit und Formen von Ungleichheit; viertens das unaufhebbare Problem von politischer Macht, das alle Themenbereiche betrifft. Zu diesen Themen gebe ich einen Ausblick, der einige wichtige Gesichtspunkte von Nietzsche aufnimmt. Der erste Themenbereich rekurriert auf die Einsicht, dass das moralische Bild des Menschen und die Möglichkeiten seiner Selbstbejahung den Bedingungen einer fragmentierten Moderne unterliegen sowie auch den Bereich der Politik prägen. Angesichts der historischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts und den politischen Konstellationen der Gegenwart wäre es naiv, Bedrohungen der westlichen politischen Ordnungen zu ignorieren. Diese Ordnungen bilden eine Gemeinschaft liberaler Verfassungsstaaten oder übernationaler Vereinigungen (EU). Der historische Rückblick erfordert nicht nur die Berücksichtigung gegenläufiger politischer Totalitarismen des 20. Jahrhunderts (vgl. Kap. 6). Vielmehr legt die vergleichende Geschichtsforschung nahe, die Kontingenz der liberalen Versionen der politischen Moderne besonders hervorzuheben. So sind aus den im Stali318 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
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nismus und Nazismus realisierten Konzeptionen des »neuen Menschen« Konsequenzen zu ziehen: »Obwohl sie illiberal waren, waren beide Regime zutiefst modern, weil ihr Engagement auf die Neugestaltung und Neu-Definition der menschlichen Spezies zielte. Ihr Projekt umfasste eine alternative, illiberale Moderne. Der Neue Mensch war eine alternative, aber nicht gänzlich unbekannte Figur, da er mit den Mitteln der Wissenschaft und Rationalität und in Einklang mit grundlegenden Prämissen des westlichen »Fortschritts« entworfen wurde. Indem wir diesen Entwurf untersuchen, stellen wir die immer noch dominante Annahme in Frage, nach der im Liberalismus die Grundposition des Westens zu sehen ist. Wir zeigen, dass der Liberalismus eine höchst kontingente Position darstellt, die in weiten Teilen des 20. Jahrhunderts rabiat angegriffen wurde.« 43
Die liberalen Ordnungen des Westens sind nach diesem Befund bis in die Gegenwart in eine weltweite Konkurrenz politischer Systeme, die keine einfache Fortschrittsgeschichte zulässt, verstrickt. Auch unter den Vorzeichen einer ökonomischen Globalisierung bleibt diese Konstellation bestehen. Die historische Erkenntnis öffnet den Blick auf Alternativen der menschlichen Transformation in der Moderne, die sich in divergenten moralisch-politischen Ordnungen niederschlagen. Nietzsches historische Moralphilosophie wird dieser Problemlage gerecht, auch wenn ihre eigenen Thesen zur menschlichen Transformation qua Perfektion nur im liberal-demokratischen Rahmen diskutabel bleiben (vgl. Kap. 6.4, 7.1.2). Weil die historische Erfahrung zeigt, dass die Transformationspotenziale der Moderne sich in ganz unterschiedliche Richtungen entfalten können, bleibt mit Nietzsche die Betonung geschichtlicher Kontingenz relevant. Seine Polemik gegen den modernen Fortschrittsglauben ist zwar überzeichnet, leistet aber einen wichtigen Beitrag zur SelbstP. Fritzsche/J. Hellbeck, The New Man in Stalinist Russia and Nazi Germany, in: M. Geyer/Sh. Fitzpatrick (eds.), Beyond Totalitarianism. Stalinism and Nazism compared, New York 2009, 302–341, hier 302. Übersetzung R. Z.
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reflexion der westlichen Moderne im Rahmen geschichtlicher Möglichkeiten (vgl. Kap. 7.2.2). Zu diesen Möglichkeiten gehört Nietzsches europäische Idee im Kontext der Verarbeitung von historischer Erfahrung. Damit komme ich zum zweiten Themenbereich, der das Wechselspiel von Kultur und Politik in Europa betrifft. Politische Vorgaben haben der Europäischen Union ihre vertragliche Gestalt auf der Grundlage von Menschenrechten, Demokratie und ökonomischer Kooperation gegeben. Doch dies ist nicht alles. Wie die Geschichte der EU zeigt, sind ihre politischen, rechtlichen wie ökonomischen Bereiche und Entwicklungen unverzichtbar auf einen kultureller Raum der Integration ausgerichtet. Die Gestaltung dieses Raums, die Nietzsches überindividueller europäischer Perspektive entspricht (vgl. Kap. 7.2.1), erfordert eine Anstrengung der Bewusstseinsbildung in den Bereichen Kunst, Philosophie, Sozialwissenschaft und Medien. So sind die Gegner Nietzsches auch die Gegner eines aufgeklärten Europäertums der Gegenwart: Befürworter von Nationalismus, Partikularismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus. Die ökonomischen Probleme, mit denen die EU zu kämpfen hat, können keine Rechtfertigung für die Toleranz gegenüber diesen Strömungen sein. Deren kritische Bewertung stellt eine permanente Aufgabe dar, die unter Berücksichtigung der historischen Erfahrungen des 20. und 21. Jahrhunderts in der Öffentlichkeit zu erfüllen ist. Ein polemisches Votum von Nietzsche kann dies bestärken: »Ein wenig reine Luft! Dieser absurde Zustand Europa’s soll nicht mehr länger dauern! Giebt es irgend einen Gedanken hinter diesem Hornvieh-Nationalismus? Welchen Werth könnte es haben, jetzt wo Alles auf größere und gemeinsame Interessen hinweist, diese ruppigen Selbstgefühle aufzustacheln? […] Und das in einem Zustande, wo die g e i s t i g e U n s e l b s t ä n d i g k e i t und Entnationalisierung in die Augen springt und in einem gegenseitigen Sich-Verschmelzen und -Befruchten der eigentliche Werth und Sinn der jetzigen Cultur liegt.« (KSA, Bd. 13, 92 f.: 1887/88)
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Nietzsche verbindet sein Europa-Votum mit der ihm eigenen Kritik am Egalitarismus und am für ihn niveaulosen Zeitungswesen. Beides ist zwar überholt, doch selbst im Rahmen der auf Egalität gebauten modernen Demokratie stellen sich vergleichbare Herausforderungen bei der Kritik an populistischer Simplifizierung und medialer Niveausenkung. Denn es geht um Konflikte kultureller Rangordnung, die sowohl in Anbetracht partikularistischer und rassistischer Primitivismen als auch in Hinblick auf divergierende intellektuelle Konzeptionen zu Europa auszutragen sind. Nietzsches europäisches Engagement erfüllt auch noch heute das Kriterium, das Jürgen Habermas für die Fähigkeit des Intellektuellen anführt: »den avantgardistischen Spürsinn für Relevanzen« einschließlich des »Muts zum Pamphlet«. 44 Die Vorstellungen von Habermas zu Europa verweisen auf das Problem, wie ein breites Publikum in die Lage versetzt werden kann, die Gehalte eines »mehr oder weniger vernünftigen Elitediskurses« unter den heutigen politischen Kommunikationsbedingungen aufzunehmen und im Interesse demokratischer Partizipation zu verarbeiten. Niemand – auch Habermas nicht – kann dafür perfekte Lösungen anbieten, zumal die Perspektive einer »Transnationalisierung der bestehenden nationalen Öffentlichkeiten« ungewiss ist. Was den Elitediskurs betrifft, so hat Wolf Lepenies eine eindrucksvolle Fallstudie, die sich mit der Idee einer Mittelmeerunion befasst, vorgelegt. In ihr diskutiert er die Idee der Führungsrolle Frankreichs unter dem Vorzeichen eines Zusammenschlusses von kultureller »Latinität« und politischer Dominanz. 45 Der ehemalige Präsident Nicolas Sarkozy strebt die Mittelmeerunion als Gegengewicht zu Deutschland an. Auf philosophischer Seite befürwortet Giorgio Agamben die DenkJ. Habermas, Ein avantgardistischer Spürsinn für Relevanzen. Die Rolle des Intellektuellen und die Sache Europas, in: ders., Ach, Europa, Frankfurt/ M. 2008, 77–87, hier 84. Zum Folgenden ebd., 178 ff., 190 f. 45 W. Lepenies, Die Macht am Mittelmeer. Französische Träume von einem anderen Europa, München 2016. 44
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schrift des Philosophen und Politikers Alexandre Kojève aus dem Jahr 1945, in der dieser für eine europäische Nachkriegsordnung argumentiert, die Frankreich den wirtschaftlichen und politischen Spitzenplatz in Abgrenzung zu Deutschland sichern soll. Hintergrund für die Reaktualisierung von Kojèves Denkschrift ist der französisch-deutsche Konflikt zur Bewältigung der Finanz- und Schuldenkrise der EU (2013): Französische Verschuldungstoleranz versus deutsche Austerität. Lepenies untersucht die Entwürfe für »lateinische« Koalitionen in der Auseinandersetzung zwischen Frankreich und Deutschland und zeigt deren illusionäre Hoffnungen. Gleichzeitig diagnostiziert er ein kulturell induziertes Nord-Süd-Vorurteil, an dem sichtbar wird, welche Hindernisse Nietzsches Idee von der Angleichung der europäischen Kultur noch entgegenstehen: »Das Nord-Süd-Stereotyp bleibt weiter wirksam, es zeigt, dass der von Nietzsche vorausgeahnte ›Prozess einer Anähnlichung der Europäer‹ […] noch nicht an ein Ende gekommen ist. Der ›Norden‹ steht dabei für die Moderne, in der sich die an Zweckrationalität orientierte Industriegesellschaft formte, der ›Süden‹ pflegt eine berechtigte Modernitätsskepsis und versucht, Lebensformen und Lebensansprüche zu bewahren, die sich neoliberalen Nutzenrechnungen entziehen. […] Empirisch lassen sich solche Gegenüberstellungen schnell als haltlos entlarven, was nicht verhindert, dass sie Überzeugungen und Handlungen der Akteure prägen. In den jüngsten europäischen Konflikten wurde die Nord-Süd-Spannung erneut sichtbar.« 46
Es ist bemerkenswert, dass einer der wichtigsten europäischen Politiker der Nachkriegszeit, Charles de Gaulle, gegen Kojèves Konzeption auf die Kooperation mit Deutschland unter Konrad Adenauer setzt, wobei er gleichwohl den politischen Führungsanspruch Frankreichs aufgrund seines Status als Atommacht unterstreicht. Auch diese Konstellation gewinnt nach dem Ausscheiden von Großbritannien aus der EU (Brexit) zusätzliche Lepenies, Mittelmeer, a. a. O., 14, vgl. Nachwort, 313 ff. Vgl. zum Folgenden die Kapitel zu de Gaulle: 33–55.
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Aktualität. Nicht nur, dass das Einvernehmen zwischen Frankreich und Deutschland für die weitere Entwicklung der EU von entscheidender Bedeutung ist: Frankreich als Atommacht und ständiges Mitglied im Sicherheitsrat der UN hat nicht nur für Deutschland, sondern die gesamte EU besonderes Gewicht. Das Beispiel, das de Gaulle für die Entwicklung Europas abgibt, zeigt, dass das Wechselspiel zwischen Kultur und Politik nicht den Schluss nahelegt, nur Intellektuelle könnten avantgardistischen Spürsinn für europäische Konzeptionen von Relevanz entwickeln. Es bleibt auch unter Bedingungen der Gegenwart eine Frage des Wettstreits um die besten Vorschläge zur europäischen Zusammenarbeit. Eine offene Frage allgemeinerer Art ist das konfliktreiche Verhältnis von normativer Gleichheit und Formen von Ungleichheit nach politischen Maßstäben. Damit komme ich zum dritten Bereich, der nach einem nietzscheanischen Kommentar verlangt. Aus der Suspendierung von Nietzsches autoritärem Idealtypus und der Verarbeitung von historischer Erfahrung kann nur folgen, die Betrachtung auf die Grundlage der universalistischen Gleichheitspostulate und Menschenrechte als moralisches Zentrum der westlichen Verfassungsstaaten zu stellen. Im Sinn des liberalen Idealtypus von Nietzsches Philosophie ist dennoch zu prüfen, welche anti-egalitären Akzente sich in die Gleichheitsproblematik der westlichen Demokratien einbringen lassen. Das Streben nach menschlicher Perfektion, die Vervollkommnung in unterschiedlichen Dimensionen von menschlicher Aktivität, gibt die Orientierung (vgl. 8.1.1), um zu untersuchen, wo ein solches Streben die Grundnormen politischer Gleichheit zu Recht überschreitet. Als Ausgangspunkt ist die menschliche Selbstvervollkommnung in der Kunst zu nennen, die frei von politischen Restriktionen zu sein hat. Ihre Beurteilung innerhalb des Rahmens des Rechtsstaats unterliegt ästhetischen Maßstäben. Man kann über Kunst nicht demokratisch abstimmen. Mehrheitsmeinungen haben in Fragen der Kunst, nicht zuletzt im Hinblick auf die 323 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
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künstlerischen Avantgarden, kein Gewicht. Im Gegenteil: Vorrang hat die qualitative Kunstbeurteilung und Kunstkritik, Kontroversen eingeschlossen. Auch Urteile von Nietzsche, Adorno oder Thomas Mann können zum Gegenstand von Kritik werden, relevant ist das Niveau, das sie in den Qualitätsdiskurs der Kunstbetrachtung einbringen. Die strukturelle Differenz zwischen Kunst und Politik, die gegenüber Adornos Ästhetik zu akzentuieren war, ist damit in zweifacher Hinsicht zu unterstreichen. Nicht nur die Überforderung der Kunst in Richtung politischer Utopie ist zu vermeiden, sondern auch die Überdehnung des Politischen in Richtung Kunst. Das gilt auch für andere Bereiche der Kultur wie Wissenschaft oder Philosophie. Die Qualitätsmaßstäbe in diesen Bereichen verweisen darauf, dass der für alle Mitglieder der demokratischen Gesellschaft offene Zugang zur Kultur Gelegenheit bietet, die vorausgesetzte individualistische Gleichheit gemäß den eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten weiter zu differenzieren, aber auch die personale Ungleichheit anzuerkennen. So gesehen repräsentiert die Kultur einen Bereich der qualitativen Rangordnung, der auch die Populärkunst oder populäre Werke aus Wissenschaften oder Philosophie mit einbezieht. Das elitäre Diktum Nietzsches, das den Sinn für Schönheit nur Wenigen zuschreibt (»pulchrum est paucorum hominum«: MA II, 118N; KSA, Bd. 11, 673), ist zwar in demokratischen Zeiten überholt, doch ändert die gesellschaftliche Öffnung für alle Menschen in alle Bereiche der Kultur nichts daran, dass qualitative Maßstäbe gültig bleiben. Diese Selbstverständlichkeit führt zu der Frage, wie es damit in der übrigen Gesellschaft und der Politik bestellt ist. Überlegungen Nietzsches, die mit einem demokratischen Rahmen kompatibel sind, können dabei einbezogen werden. So etwa seine Reflexion zum Verhältnis von Ausnahme und Mittelmaß: »Der Haß gegen die Mittelmäßigkeit ist eines Philosophen unwürdig: es ist fast ein Fragezeichen an seinem R e c h t auf ›Philosophie‹. Gerade
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deshalb, weil er die Ausnahme ist, hat er die Regel in Schutz zu nehmen, hat er allen Mittleren den guten Muth zu sich selber zu erhalten.« (KSA, Bd. 12, 559 f.) 47
Auch fragt Nietzsche zweifelnd, ob eine Welt ohne die »Schwachen und Mittleren« wünschenswert sei (KSA, Bd. 13, 323 f.), denn nicht nur Menschen, die als starke Personen, als »solitäre Typen«, oben auf der Rangordnung stehen, seien notwendig, sondern auch »heerdenhafte« Menschen, die den Durchschnitt verkörpern: »man soll den solitären Typus n i c h t abschätzen nach dem heerdenhaften, und den heerdenhaften n i c h t nach dem solitären« (KSA, Bd. 12, 492). Das ändert zwar nichts daran, dass er die Durchschnittsmenschen den solitären Menschen nachordnet, doch gelegentlich scheinen ihm die Chancen der letzteren in einer demokratischen Gesellschaft am größten zu sein. Allerdings werde sich der erfolgreiche Kampf um gleiche Rechte im Kampf »gegen die S o l i t ä r – P e r s o n « fortsetzen (KSA, Bd. 12, 493). Den Kampf um gleiche Rechte respektiert Nietzsche insofern, als der egalitäre Individualismus, den er dem Sozialismus zuschreibt, eine »Stufe« des Willens zur Macht, wenn auch deren »bescheidenste«, sei (KSA, Bd. 12, 503). Indem Nietzsche – entgegen seiner anti-egalitären Kritik – diesen egalitären Individualismus anerkennt, integriert er die individualistische Gleichheit in seine qualitative Rangordnung. Auch wenn es beim Kampf um gleiche Rechte und Gerechtigkeit für Nietzsche um Machtverteilung geht, die sich in »milderer Form« in neuen Kämpfe um »Übergewichte« fortsetzt (ebd., 504), so zeigt das, dass seine Kritik der Gleichheit eigentlich nur als Überbietung der individualistischen Gleichheit, nicht aber als deren prinzipielle Ablehnung Sinn macht. Die Überbietung geschieht durch Vgl. AC, 244: »Es würde eines tieferen Geistes vollkommen unwürdig sein, in der Mittelmäßigkeit an sich schon einen Einwand zu sehn. Sie ist selbst die e r s t e Nothwendigkeit dafür, dass es Ausnahmen geben darf: eine hohe Cultur ist durch sie bedingt.«
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Ausnahmemenschen, starke solitäre Persönlichkeiten, und schließt keine Dimension menschlicher Aktivität vom Streben nach Vollkommenheit aus, wie unterschiedlich auch immer die Bewertungen des jeweiligen Strebens ausfallen mögen. Damit wird nicht nur die systematische Relevanz des liberalen Idealtypus unterstrichen, sondern unabhängig von Nietzsches elitären Präferenzen deutlich, dass sich menschliche Bestrebungen auf der Grundlage individualistischer Gleichheit in unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen und Perfektionsgraden konkretisieren. 48 Diese sind jedoch in einer demokratischen Gesellschaft nicht vorgegeben oder autoritär festgelegt. Sie unterliegen der Dynamik gesellschaftlicher Entwicklung und politischer Gestaltung und sind in zivile Umgangsformen und rechtliche Regelungen eingebunden, aber nicht konfliktfrei. Ob Menschen ihre Gesellschaft primär unter der Perspektive von Arbeit und wirtschaftlichem Wachstum wahrnehmen und ihr Streben nach persönlicher Perfektion daran orientieren oder aber vor allem auf Freizeit, Kultur, ökologische Nachhaltigkeit oder Privatheit setzen oder sich um eine Perfektionierung der Balance zwischen diesen Schwerpunkten bemühen – Spannungen zwischen Modellen menschlicher Perfektion sind unvermeidlich und markieren gesellschaftliche Konflikte. Jeder Mensch ist frei, seine Art von Perfektion zu verfolgen, doch über die individuelle Lebensführung hinaus geht es um Modelle menschlicher Perfektion, die gesellschaftliche oder politische Dominanz beanspruchen. Diese Auseinandersetzung hat Erhellend zu Nietzsches Perfektionismus: J. Conant, Friedrich Nietzsche. Perfektionismus & Perspektivismus, Konstanz 2014, Kap. II, IV. Zu Recht hebt Conant hervor, dass es bei Nietzsche nicht nur um die Vervollkommnung des Einzelnen, sondern auch um »die eventuelle Vervollkommnung ganzer Lebensformen« geht, 337. Ansonsten zeichnet Conant ein Nietzsche-Bild, das zwar in Einklang mit meinem liberalen Idealtypus steht, aber als Nietzsche-Interpretation angreifbar bleibt, weil Nietzsches autoritär-elitäre Züge geglättet werden. Conant scheut die Rede von Elite und Macht, die unter demokratischen Bedingungen nicht verdrängt zu werden braucht.
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überindividuellen Charakter, weil sie auf soziale oder politische Gruppen- und Parteibildung angelegt ist. Formal beruht sie auf einer symmetrischen Basis von Gleichheit bei den gesellschaftlichen und politischen Zugangschancen, um die jeweilige Schwerpunktsetzung zur Geltung zu bringen. 49 Doch es besteht der Anspruch, die jeweils eigenen Modelle über die anderen zu stellen und eine Rangordnung menschlicher Perfektion zu schaffen. Das heißt, dass die unterschiedlichen Rangordnungen auf eine Asymmetrie verweisen, die im Kampf um politische Durchsetzung des jeweiligen Modells ausgetragen wird. 50 Dieser Kampf unterliegt zwar demokratischen Spielregeln, doch die strukturelle Asymmetrie der konkurrierenden Modelle bleibt bestehen. Diese machtpragmatische Asymmetrie führt zu der nietzscheanischen These, dass die gekennzeichneten Konflikte als Grundphänomene anzuerkennen sind und ihre prinzipielle Christoph Menke drückt diese Problemlage so aus, dass »die Differenz zwischen politischer Gleichheit und dem individuellen Guten in das Politische selbst eingetragen und im Politischen selbst ausgetragen werden [muss]«. Menke betont jedoch eher die Selbstbeschränkung einer Politik der Gleichheit, um den »Leiden und Klagen der einzelnen« stattzugeben. Diese konflikttheoretische Ergänzung des Liberalismus durch Untersuchung der Spannung zwischen Gleichheit und Individualität, liberaler Gerechtigkeit und subjektiver Freiheit lese ich komplementär zu meinem nietzscheanischen Liberalismus, der das Problem der politischen Macht zur Sprache bringt. Menke hält größere Nähe zu Adorno, wenn er dessen Transzendierung der Gleichheitsmoral in Richtung spontaner Solidarität von Nietzsche abgrenzt. Dem gegenüber steht das nietzscheanische Transzendieren von Gleichheit durch Machterfüllung. Vgl. Ch. Menke, Spiegelungen der Gleichheit. Politische Philosophie nach Adorno und Derrida, Frankfurt/M. 2004; Zitate hier 268 f. Zu Adorno, 98 ff. Zur Gesamtproblematik ebd., Kap. 5, 6. 50 Vgl. hierzu den demokratischen Nietzscheanismus bei L. J. Hatab, A Nietzschean Defense of Democracy, Chicago/La Salle 1995, Kap. 3. Hatab betont im Anschluss an Nietzsche das »Agonale« der Demokratie. Einen kritischen Überblick zu agonistisch-demokratischen Theorien im Kontext von Nietzsche gibt: H. W. Siemens, Nietzsche’s ›post-Nietzschean‹ political ›Wirkung‹. The Rise of Agonistic Democratic Theory, in: R. Reschke/ M. Brusotti (Hg.), posthum geboren, a. a. O., 393–406. 49
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Auflösbarkeit nicht möglich ist. Ein liberaler Nietzscheanismus der Machtpragmatik steht dem Idealtypus eines deliberativen, auf Konsens angelegten Demokratiemodells (Habermas) entgegen. 51 Das bedeutet nicht, dass der Kampf um Modelle der menschlichen Perfektion nicht in diskursive Formen der Auseinandersetzung einzubinden ist. Im Gegenteil, nur so können in demokratisch vertretbarer Weise unterschiedliche Schwerpunktsetzungen präsentiert, vergleichend abgewogen und mögliche Veränderungen von Einstellungen und Überzeugungen angeregt werden. Nur so kann auch eine Urteilsbildung erfolgen, die Modelle der menschlichen Perfektion mit der Einschätzung der Qualität ihrer Protagonisten verbindet. Eine demokratische Kultur ist daran zu messen, wieweit sie in der Lage ist, politische Unterschiede anzuerkennen und politische Gegner zu respektieren. Hier gelten für jede Gruppierung die Maßstäbe, die Max Weber als Qualitäten des politischen Führungspersonals benennt: »Leidenschaft – Verantwortungsgefühl – Augenmaß«. 52 Die einer demokratischen Gesellschaft angemessene Beurteilung aller Bereiche menschlicher Tätigkeit nach Perfektionsmaßstäben und Qualitäten der Existenzbewältigung (vgl. 8.1.1) bezieht sich auch auf die demokratisch vertretbare HerausbilDer Idealtypus bei Habermas kann in eine stärkere und schwächere Variante differenziert werden. Die schwächere Variante ist als Stärkung der diskursiv-demokratischen Kultur mit der Machtpragmatik verträglich. Vgl. R. Zimmermann, Auschwitz, a. a. O., 166 ff. Ein analoger Befund ist in der Kritik zu sehen, die Raymond Geuss u. a. an John Rawls übt. Seine Kritik betont die Wichtigkeit historischer Zugänge zur Politik und die unverzichtbare Thematik der Macht: R. Geuss, Kritik der politischen Philosophie. Eine Streitschrift, Hamburg 2011, insbes. 28, 96, 97 ff., 123 ff., 131. Auch die agonistische Konzeption von Politik, die Chantal Mouffe in den letzten Jahren entwickelt hat, geht in kritische Distanz zu Rawls und Habermas und verweist auf die unaufhebbare Konfliktdimension von Politik. Zusammenfassend: Ch. Mouffe, Agonistik. Die Welt politisch denken, Frankfurt/M. 2014, Kap. 1. 52 M. Weber, Ges. Pol. Schr., a. a. O., 545. 51
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dung von kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Eliten. Diese unterliegen denselben moralischen und rechtlichen Grundsätzen wie jedes andere Mitglied der Gesellschaft. Zugleich sind die jeweiligen Eliten danach zu beurteilen, ob sie den qualitativen Ansprüchen in der Praxis gerecht werden. Was den politischen Bereich und die Parteien angeht, so gilt dies für die Linke genauso wie für die Mitte und die Rechte. Die Notwendigkeit einer tragfähigen europäischen Integration und eines nachhaltigen europäischen Bewusstseins erfordert, dass die politischen Eliten ihre Bewährungsprobe bestehen. Die Affinität der europäischen Integration zu Nietzsches Plädoyer für ein Europäertum der Zukunft legt nahe, diese Problematik und die komplexen Sachlagen, die mit dem europäischen Projekt verbunden sind, besonders hervorzuheben. Eine Balance zwischen ökonomischer Entwicklung, Finanz- und Geldpolitik, sozialer Gerechtigkeit und politischer Verständigung herzustellen, ist für die Nationen der EU eine Aufgabe, die ohne starke politische Führungen nicht zu meistern ist. Das heißt, dass die europäische Machtpragmatik verlangt, nationale Partikularismen oder nationalistische Extreme und Strömungen, die das europäische Projekt ablehnen, zu bekämpfen. Politische Eliten müssen dabei vorangehen und sich ihre Mehrheiten in ihren Nationen suchen. Die gelegentliche Kritik an Europa als einem »Eliteprojekt« ohne hinreichende demokratische Legitimation ist deplatziert, wenn sie nicht die Vorbildfunktion von Eliten einbezieht. 53 Die Beispiele de Gaulle und Adenauer sprechen für sich. Am Beispiel Europa lässt sich die unaufhebbare Dimension von politischer Macht verdeutlichen, die hier als vierter und letzter Punkt eines nietzscheanischen Ausblicks betont werden soll. So wenig Nietzsches Philosophie eine ausgearbeitete Theorie der politischen Macht darstellt, so sehr legen ihr wertorientierter Bellizismus und das Insistieren auf einer normativen 53
So auch Habermas, Europa, a. a. O., 98 ff.
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Rangordnung in Kultur, Gesellschaft und Politik nahe, die Formen möglicher Selbstvervollkommnung des Menschen unter historischen Bedingungen zu betrachten und ihre divergierenden moralisch-politischen Bestrebungen zur Kenntnis zu nehmen. Die verschiedenen Bedeutungen des Willens zur Macht, in denen Nietzsche diese Formen thematisiert, bilden auch die Grundlage für die Analyse von politischer Macht. Ihr Kern besteht in der normativen Selbstbehauptung einer Gemeinschaft, die darauf angewiesen ist, sich gegen andere Orientierungen oder Gemeinschaften durchzusetzen. Diese Asymmetrie der Machtpragmatik umgreift alle angeführten Themenbereiche. Die im ersten Themenbereich genannte Selbstreflexion der westlichen Moderne im Bewusstsein geschichtlicher Alternativen verlangt die politische und militärische Stärkung des Verbunds der demokratischen Verfassungsstaaten nach außen. Das kann unter der Priorität der Selbstbehauptung geschehen, die langfristig auf »soft power« zur Durchsetzung liberaler gesellschaftlicher Überzeugungen und Entwicklungen setzt. 54 Im zweiten Themenbereich geht es um die Durchsetzung kultureller Hegemonie im Interesse der europäischen Integration. Diese Art von Machtpragmatik hat wesentlich mit der Mobilisierung von aufklärerischen Impulsen auf allen Gebieten der Kultur zu tun, wobei es unvermeidlich ist, gegen nationalistische Borniertheiten vorzugehen. Daher bedürfen auch einschlägige Elitediskurse der argumentativen Unterstützung durch sozialwissenschaftliche Kompetenz. Hier ist die ökonomische wie politische Wissenschaft gefordert. Drittens schließlich gehören Kämpfe um überindividuelle Grundlegend zu dieser Begriffsbildung und Diskussion: J. S. Nye, The Future of Power, New York 2011, Part I, III. Seine viel diskutierte Begriffsbildung verwendet Nye, um an einer konstruktiven Balance von »hard« und »soft power«, die er unter den Begriff »smart power« bringt, zu arbeiten. Der Hinweis auf dieses Werk soll hier nur dazu dienen, die Schnittstelle zu bezeichnen, an der sich philosophische Überlegungen mit Analysen der politischen Wissenschaft verbinden.
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Thomas Mann und Nietzsche: Kulturelle Elite in der Demokratie
Modelle der menschlichen Perfektion zum Grundtatbestand politischer Auseinandersetzung, der für demokratische Ordnungen nach innen wie außen unaufhebbar ist. Das Politikverständnis Max Webers, der Politik als das »Streben nach Machtanteil oder Beeinflussung der Machtverteilung« bestimmt, gilt auch für die anspruchsvolle Machtpragmatik bei der Gestaltung der EU. Weber ist so als liberaler Nietzscheaner zu lesen, der unter demokratischen Bedingungen die Mühen und Herausforderungen der Politik als »ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich« zutreffend umschreibt. 55
8.3 Thomas Mann und Nietzsche: Kulturelle Elite in der Demokratie Thomas Manns republikanische Einbindung Nietzsches steht für die Einsicht, dass radikale Kulturkritik nur unter der Voraussetzung einer stabilen Demokratie produktive Wirkung entfalten kann. In einer Krise der Demokratie muss sie sich auf deren Seite schlagen. So gesehen ist die ästhetische Distanz zur Politik und die Identifikation mit ihrer basalen Form, der Demokratie, nicht nur kennzeichnend für Thomas Manns nietzscheanischen Republikanismus, sondern von systematischer Relevanz für das Verhältnis der kulturellen Elite gegenüber der Demokratie (vgl. Kap. 2). Die Identifikation mit der Demokratie ist bei Thomas Mann getragen von einem kulturellen Elitismus, der auf sein Bestreben zurückgeht, die republikanische Form mit den Qualitäten der deutschen Hochkultur zu verstärken. Nietzsches Philosophie dient ihm dazu, sich mit dem Verhältnis von Kultur und Politik im Lauf des 20. Jahrhunderts auseinanderzusetzen. Dabei wandelt sich seine konservative Grundhaltung zu einer Be55
M. Weber, Ges. Pol. Schr., a. a. O., 506, 560.
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fürwortung der neuen Republik, die ihn zum progressiven Vertreter der deutschen Demokratie macht. Damit überwindet er nicht nur die anti-politischen Tendenzen Nietzsches, sondern zeigt, wie dessen Philosophie in der Konfrontation mit historisch-politischer Erfahrung der Revision bedarf. Deutlich wird dadurch auch, dass Thomas Mann mit Nietzsche einen kulturellen Elitismus vertritt, der in der Lage ist, gegen politische Primitivität und die menschenverachtende Propaganda des Nationalsozialismus Widerstand zu leisten. Dabei drängen sich Analogien zur Kritik des Populismus der Gegenwart auf. Im Gegensatz zu den anti-westlichen Strömungen seiner Zeit zeigt Thomas Manns Entwicklung einen Konservativismus, der sich liberal öffnet und für ein Bündnis von Bürgertum und Sozialdemokratie zur Abwehr des Nationalsozialismus beizutragen sucht. Indem Thomas Mann seine Künstlerexistenz in ein Verhältnis zur Politik setzt, macht er deutlich, dass es in der Verantwortung jedes einzelnen Vertreters der Kultur liegt, aufgrund der eigenen Zeiterfahrung Position zu beziehen. Auf diese Weise zeigt sein Beispiel, dass es nicht darum geht, Nietzsches Philosophie als politischen Leitfaden für die eigene Zeit zu verwenden, sondern dass die Verantwortung für die eigene politische Entscheidung zu Modifikationen auch in der Wahrnehmung der Philosophie Nietzsches führen muss. Es ist nicht die Philosophie Nietzsches, die viele seiner konservativen Zeitgenossen auf die Seite der konservativen Revolution oder des Faschismus bringt, sondern maßgebliche Faktoren sind deren eigene Prädispositionen und die Unfähigkeit, aus der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg zu lernen. Thomas Manns Sicht auf Nietzsches Philosophie steht exemplarisch für das Geist-in-der-Zeit-Problem unter dem Aspekt der Verschiebung und Kritik dieser Philosophie im Medium historischer Erfahrung. Die gängigen Rezeptionsgeschichten zu Nietzsche reichen an diese Thematik nicht heran. So ist für mich Thomas Manns Zeitgenossenschaft einerseits relevant für die 332 https://doi.org/10.5771/9783495813546 .
Thomas Mann und Nietzsche: Kulturelle Elite in der Demokratie
politische Deutung von Nietzsches Philosophie zur Zeit des Ersten Weltkriegs und danach. Andererseits aber muss es darum gehen, den Akzentsetzungen, die Thomas Mann rechtfertigend oder kritisch zu Nietzsches Philosophie vornimmt, eine philosophische Bewertung nach systematischen Gesichtspunkten zur Seite zu stellen. Der Prüfstand historischer Erfahrung führt so zur Unterscheidung in Zentrum und Peripherie von Nietzsches Philosophie (vgl. Kap. 7). In politischer Hinsicht lässt die systematische Bewertung Nietzsches nur eine liberale Variante zu, die Zeit ist über das Ganze seiner Philosophie hinweggegangen. Umso deutlicher treten jene Züge von Nietzsches Philosophie hervor, die immer noch für produktive Anstöße sorgen: historische Religionskritik, Ästhetik, elitärer Perfektionismus, Machtpragmatik. Der liberale Nietzscheanismus, der diese Elemente verbindet, mag nicht so provokativ sein wie manche radikalen Thesen von Nietzsche, er bewahrt jedoch seine kulturelle Radikalität unter Prämissen der konstitutionellen Demokratie. Deren politische Agenda erfordert Handlungskompetenzen, die auf einer anderen Ebene als Thomas Manns oder Nietzsches kulturellem Elitismus liegen. In Bezug auf Nietzsche und Thomas Mann kann am ehesten Max Weber zur Politik überleiten. Doch die Probleme unserer Zeit verlangen nach eigenen politischen Lösungen und Akteuren von Format.
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Personenverzeichnis
(Kursive Ziffern beziehen sich auf die Anmerkungen) Adenauer, K. 257, 322, 329 Adorno, Th. W. 14, 149, 153, 155, 195, 197–199, 254, 306–311, 314, 315–317, 324, 327 Agamben, G. 321 Appel, F. 283 Arasse, D. 313 Archer, W. 29 Arendt, H. 127, 128, 206, 213, 220 Aristoteles 218, 290, 300 Arndt, E. M. 27 Aschheim, St. S. 15 Baberowski, J. 214, 220–221 Bach, J. S. 160 Bachofen, J. J. 185–186, 189–190 Baeck, L. 197 Bärsch, C.-E. 54 Bäumler, A. 15, 19, 84, 170–171, 178, 184–186, 188–193, 237, 275 Baron, H. 35 Bataille, G. 267 Baudelaire, Ch. 138 Bauer, Y. 211 Beethoven, L. v. 148–149, 156, 187, 257 Benigni, R. 312 Benne, Ch. 104 Berg, A. 155 Bergfleth, G. 267 Bergson, H. 22 Bernhardi, F. v. 26–28, 81
Bertram, E. 36 Bertrand, L. 24 Bialas, W. 206 Birx, H. J. 237, 315 Bismarck, O. v. 16, 27, 36, 67, 72, 135, 190–191, 254–256, 261 Bizet, G. 81 Blödorn, A. 160 Böhme, K. 22 Borchmeyer, D. 137, 269 Borgia, C. 179–182, 234 Boutell, C. B. 129 Bradley, A. C. 28 Bradley, F. H. 28 Brandes, G. 101–104, 114, 234 Breuer, St. 120, 240 Bridgham, F. 29 Bronnen, A. 78 Bruendel, St. 41 Brusotti, M. 104, 249, 268, 327 Bucharin, N. 214 Burckhardt, J. 181 Cervantes 14 Chamberlain, H. St. 135, 137 Chesterton, G. K. 22 Choate, J. H. 28 Churchill, W. 294 Clark, Ch. 71 Claussen, D. 308 Clendinnen, I. 212 Conant, J. 326 Cramb, J. A. 28
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Personenverzeichnis
Daniel, S. 28–29 De Gaulle, Ch. 257, 322–323, 329 Demokrit 263 Derrida, J. 15, 289, 327 Detering, H. 30, 244, 268 Dewey, J. 215–216 Dierks, M. 189 Diner, D. 308 Doering-Manteuffel, A. 220–221 Dollfuß, E. 126 Dombowsky, D. 100, 106 Dostojewski, F. 43, 144, 172 Drochon, H. 260 Dühring, E. 267, 268 Dürer, A. 81 Dworkin, R. 300, 302
Fritsch, Th. 267, 268, 271 Fritzsche, P. 319
Ebert, F. 56 Eichmann, A. 213 Eisner, K. 43, 55 Emrich, W. 84, 191 Erzberger, M. 55 Eucken, R. 25
Gellately, R. 214 George, St. 58–59, 314–315 Gerhardt, V. 90, 287 Gerlach, Ch. 313 Geuss, R. 328 Geyer, M. 319 Glatzer Rosenthal, B. 15 Goebbels, J. 78 Gödde, Ch. 149 Goethe, J. W. v. 13, 23, 28, 48, 52, 54, 59, 64–65, 76, 79, 80, 144, 159, 166, 218, 254–257, 297 Görtemaker, M. 55, 73, 78 Gogol, N. W. 48 Gorki, M. 15 Graf, F. W. 301 Gross, R. 206 Günther, H. 15 Gut, Ph. 50 Gutmann, Th. 278
Fauth, S. R. 160 Fest, J. 17, 73, 196 Feuerbach, L. 246 Fichte, J. G. 23, 24, 27, 246 Fink, J. 209 Fischer, F. 71 Fischer, J. 196 Fitzpatrick, Sh. 319 Förster, B. 267 Förster-Nietzsche, E. 192 Fontane, Th. 30 Foucault, M. 289, 291 Frantz, C. 135–136 Frei, N. 217 Freisler, R. 209 Freud, S. 130–131, 139–140, 174 Friedländer, S. 138, 221 Friedrich II. 23, 27, 32, 117 Friedrich III. 141
Haas, P. J. 211 Haase, M.-L. 248 Habermas, J. 197, 304, 321, 328, 329 Haffner, S. 165 Halfin, I. 214–215, 218–219 Hammacher, E. 66, 74 Hansen, V. 170 Hatab, L. J. 327 Hauptmann, G. 58 Heft, J. L. 294 Heftrich, E. 151, 184 Hegel, G. W. F. 24, 107, 269, 287 Hein, A. 138 Heine, G. 170 Heine, H. 246, 257 Hellbeck, J. 214, 319 Hennis, W. 123 Heraklit 184
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Personenverzeichnis
Hillebrand, B. 23 Himmler, H. 127, 210, 212, 228 Hinderks, H. E. 193 Hippokrates 263 Hitler, A. 126–127, 130–135, 159, 167, 184–185, 197, 208, 209, 211, 212, 214, 272–273, 275 Hölderlin, F. 59, 76, 166, 190 Hoeres, P. 21, 121 Hofmannsthal, H. v. 35 Horkheimer, M. 14, 197–198 Ibsen, H. 49 Jager, C. 280 Jaspers, K. 196 Jeremias 158 Jesus 244, 299 Joas, H. 280, 302 Joseph, E. 147 Jünger, E. 78, 200 Jünger, F. G. 78 Kahler, E. 196 Kant, I. 23, 27, 33, 36, 52, 93, 107 Kaufmann, F. 164 Kaufmann, S. 49 Kaufmann, W. A. 192 Kautsky, K. 215 Kellermann, H. 21, 22, 23 Kertész, I. 312 Kessler, H. Graf 46 Kiefer, A. 312, 313 Kittler, F. 15 Kjellén, R. 35, 39–40 Klemperer, O. 158 Klopstock, F. G. 160 Knigge, V. 217 Knoepffler, N. 237, 315 Knoll, M. 100, 260 Koenen, B. 44–45 Kohlmann, U. 215 Kojève, A. 322
Koonz, C. 210 Koopmann, H. 67, 71, 144, 317 Kopelew, L. 44 Kotzan, K. 77 Krochmalnik, D. 15 Kurzke, H. 62, 64, 66–67, 74–75, 185 Laukötter, S. 278 Lehnert, H. 155, 159, 168, 172, 184 Leibniz, G. W. 282 Leibrich, L. 193 Lenger, F. 26 Lenin, W. I. 214–217 Leonhard, J. 71 Lepenies, W. 61, 64, 321–322 Levy, O. 104 Liebknecht, K. 55 Lienhard, F. 61 Lippmann, W. 199 Llanque, M. 121 Löwith, K. 287 Longerich, P. 127 Losurdo, D. 100 Lübbe, H. 25 Ludendorff, E. 121 Lukács, G. 19, 170–171, 178–180, 182–183, 191, 195, 235, 237–238 Luther, M. 33, 182 Luxemburg, R. 55 Maayani, A. 269 Maeterlinck, M. 22 Mandela, N. 264 Mann, H. 17, 67–68, 70–71, 73–75, 141, 195 Mann, K. 152 Marti, U. 99, 271–272 Martin, N. 29 Marx, K. 76, 183, 198, 218, 246 McCarthy, J. 199 Mehring, R. 73, 314 Mencken, H. L. 29
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Personenverzeichnis
Menke, Ch. 303, 327 Mereshkowskij, D. 45 Meyer, A. E. 143, 152, 163 Michelangelo 255 Michels, R. 25 Mill, J. St. 94 Montinari, M. 179 Moses 127 Most, G. W. 315 Mouffe, Ch. 328 Müller-Lauter, W. 90, 92, 237 Münkler, H. 71, 166 Mussolini, B. 15, 188 Napoleon 28, 99–100, 108, 110, 117, 254–258, 261, 270 Niemeyer, Ch. 268 Novalis 57–58, 60–61 Nye, J. S. 330 Oberreuter, H. 61 Ottmann, H. 90, 107, 249 Overbeck, F. 106 Pauer-Studer, H. 209 Paulus 234, 244, 299 Penzo, G. 15 Perikles 263 Perotinus Magnus 152 Peyre, H. 128 Pfitzner, H. 83, 147–149, 151 Pikulik, L. 73, 126, 130, 162 Pius IX. 293 Platon 107, 282, 290, 300 Plenge, J. 35, 38–41 Poincaré, R. 54 Pollmann, A. 278, 303 Preetorius, E. 133, 137 Prochasson, Ch. 22 Pütz, M. 29 Raabe, W. 160 Radek, K. 46
Raffael 254–256, 285 Rasmussen, A. 22 Rathenau, W. 42, 45–46, 55–56 Rauschning, H. 127 Rawls, J. 328 Reschke, K. 104, 195, 268, 287, 327 Richter, G. 313 Richter, K. 135 Riedel, M. 192 Röcke, W. 166, 240 Roodt, V. 100 Rosenberg, A. 184–185, 209 Rousseau, J. J. 87, 255 Rüsen, J. 138 Ryklin, M. 221 Saint-Saëns, C. 160 Salomé, L. v. 147, 230 Sammons, J. L. 208 Santaniello, W. 268 Sarkozy, N. 321 Scheler, M. 94, 283 Schiller, F. 33, 137 Schlaffer, H. 275 Schmidt, Ch. 63–64, 71, 171, 200, 273 Schmidt, J. 230–231 Schmitt, C. 208 Schönberg, A. 149, 151, 155 Scholem, G. 15 Scholz, D. D. 138 Schopenhauer, A. 13, 24, 37, 52, 54, 65, 76, 79, 83, 93, 176, 257, 265 Schubert, F. 38 Schulin, E. 42 Seel, M. 305, 310–312, 314 Siemens, H. W. 100, 327 Shakespeare, W. 160 Shaw, G. B. 23 Shearn, S. 280 Sieferle, R. P. 41 Siep, L. 278 Sloterdijk, P. 222
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Personenverzeichnis
Slutsch, S. 217 Sombart, W. 23–26, 34, 39, 239 Sommer, A. U. 49, 235, 263, 273 Sontheimer, K. 56 Sophokles 263 Sorel, G. 163 Sorgner, St. L. 237, 315 Spengler, O. 60, 171 Sprecher, Th. 147, 149 Stalin, J. 214, 217 Stangl, F. 212 Stassen, M. 29 Stegmaier, W. 15, 176, 237 Steinmann, M. 288 Stendhal 257, 308–309 Stevenson, R. L. 165 Stocker, B. 100, 260 Stone, D. 236 Straßner, F.-U. 70 Strauss, R. 83, 148–149, 151 Stresemann, G. 79 Taine, H. 102–103 Taylor, Ch. 279, 280, 281–282, 288–302, 304 Thukydides 263 Tiedemann, R. 306 Tönnies, F. 119 Tolstoi, L. N. 48, 54, 76 Tongeren, P. v. 263 Treitschke, H. v. 26–28, 81, 267 Troeltsch, E. 21, 35, 54–56, 121 Trotzki, L. 15, 205, 206, 215–218, 223 Tugendhat, E. 249, 272–273 Vaget, H. R. 133, 137–138, 143, 147, 148–149, 152, 165, 196 Valk, Th. 143
Vanheeswijk, G. 280 Vansittart, R. G. 133 Viereck, P. 133, 135 Vill, S. 269 Voltaire 32, 66, 74, 87 Volz, P. D. 144 Wagner, R. 13, 18, 38, 52, 62–63, 73, 79, 81, 83, 91, 125, 131–142, 148–149, 152, 157, 171, 174, 176, 183, 185, 192, 235, 240, 257, 259, 265, 267, 268–269, 275, 306, 315 Wagner, W. 135 Walter, B. 38, 165 Weber, A. 248, 249 Weber, Marianne 121 Weber, Max 25, 69, 70, 112–113, 116, 118–124, 207, 221, 222, 239, 241, 274, 328, 331, 333 Wegener, B. 211 Weizsäcker, R. v. 196 Welzer, H. 210 Whitman, W. 57, 60, 61, 81, 189 Wilamowitz-Moellendorf, U. v. 39 Wimmer, R. 61, 166 Wißkirchen, H. 61–62, 147 Witkop, Ph. 185 Wolf, H. 141, 170 Wolf, U. 304 Wysling, H. 140, 144 Yovel, Y. 269 Zapata Galindo, M. 15 Zemmin, F. 280 Zitelmann, R. 211 Zola, E. 70, 74 Zumbini, F. M. 268
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