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German Pages 519 [520] Year 1983
JOACHIM R I N G L E B E N ANEIGNUNG DIE SPEKULATIVE THEOLOGIE S0REN KIERKEGAARDS
ANEIGNUNG DIE SPEKULATIVE THEOLOGIE S0REN KIERKEGAARDS
VON
JOACHIM R I N G L E B E N
WALTER DE GRUYTER · BERLIN · NEW YORK 1983
THEOLOGISCHE BIBLIOTHEK TÖPELMANN HERAUSGEGEBEN VON K. ALAND, C. H. RATSCHOW UND E. SCHLINK 40. BAND
Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Theologischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Ringleben, Joachim: Aneignung : d. spekulative Theologie S0ren Kierkegaards / von Joachim Ringleben. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1983. (Theologische Bibliothek Töpelmann ; Bd. 40) ISBN 3-11-008878-9 NE:GT
© 1983 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30 (Printed in Germany) Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Satz: Dörlemann-Satz, Lemförde Druck: Union-Presse, Berlin · Einband: Fuhrmann, Berlin.
VORWORT Diese Arbeit hat im Sommersemester 1981 der Kieler Theologischen Fakultät als Habilitationsschrift für das Fachgebiet Systematische Theologie vorgelegen. Sie erscheint mit nur geringfügigen Veränderungen im Druck. Der Freiraum dazu, mich meinen Kierkegaardstudien mit ungeteilter Aufmerksamkeit widmen zu können, war mir in großzügigster Weise durch eine Assistentenstelle bei Professor Dr. H.-J. Birkner gewährt. Ihm gilt unverändert meine Dankbarkeit. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft schulde ich großen Dank für die entscheidende finanzielle Unterstützung dieser Veröffentlichung. Kiel, im April 1983
J. R.
INHALTSVERZEICHNIS Einleitung
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Vergleichende Übersicht der Ausgaben
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I. Der Begriff „Erbaulich" Einleitung
9 11
Erste Hälfte: Zugang 1. Grundzüge des Gottesverhältnisses
15 17
Zweite Hälfte: Das Erbauliche 2. Das Erbauliche als Bestimmung der Subiektivität
25 27
a) „Ein Einzelner werden" b) Die Selbsttätigkeit
27 36
3. Das Erbauliche als Bestimmung des Gottesverhältnisses . . . 46 a) Das unendliche Verhältnis b) Die Funktion des Erbaulichen c) Das Erbauliche als religiöse Erfahrung
4. Der Ernst und das Erbauliche 5. Das Problem des Paradox-Erbaulichen II. Der Begriff „Aneignung" Erste Hälfte: Aneignen Vorbegriff 1. Die Einheit von Empfangen und Hervorbringen 2. „Sich selbst erwerben" 3. Verwirklichung 4. Umgang mit religiöser Wahrheit 5. Christlicher Glaube 6. Aneignung als Kategorie religiöser Erfahrung
46 59 74
76 85 97 99 99 101 108 119 128 138 154
VIII
Inhaltsverzeichnis
Zweite Hälfte: Erwerben und Zeitlichkeit 7. Erwerben und Arbeit a) Erwerben und Spontaneität b) Arbeit und Sich-Erwerben c) Abgleitungen ins Ergebnis d) Glauben e) Kampf und Sieg
157 159 159 163 167 169 174
8. Zeitlichkeit und Subjektivität a) Zeit und Freiheit b) Selbstsein und Zeitlichkeit c) Sinn der Zeitlichkeit
180 180 184 189
III. Das Absolute
197
Erste Hälfte: Dialektik des Absoluten Einleitung
201 201
1. Wahl des Absoluten (Gen. obj.) (1. Satz) a) Absolute Wahl der Verzweiflung Erstens: Absolute Wahl Zweitens: Wahl der Verzweiflung Drittens: Verzweiflung und Zweifel b) Verzweifelte Wahl des Absoluten Erstens: Ewige Gültigkeit des Selbst Zweitens: Absolut wählen - das Absolute wählen Drittens: Wahl des Absoluten und das Erbauliche c) Absolut Sein Erstens: Tun und Sein Zweitens: Denken und Wählen d) Selbst das Absolute setzen und sein Erstens: Wählen als Setzen (Zusammenfassung) Zweitens: Das gewählte Selbst
203 203 203 207 210 213 214 218 220 228 229 235 239 240 241
2. Wahl des Absoluten (Gen. subj.) (2. Satz) a) Schlechthinnige Ergänzung b) Das wählende und setzende Absolute selbst Erstens: Absolute Umkehrung Zweitens: Selbsterschließung des Absoluten
255 255 256 256 260
Inhaltsverzeichnis
3. Wählen, Setzen und Sein (3. Satz) a) Gesetztsein und c) Sein für die Wahl b) Setzen und d) Werden durch die Wahl
4. Konkrete Identität (4. Satz) a) Wahre Einheit b) Dialektik der Einheit Erstens: Einheit des Selbst Zweitens: Absolute Identität
Zweite Hälfte: Das Absolute als Form seines Inhalts Überblick 5. Die Form-Inhalt-Reduplikation a) Dialektischer Formbegriff b) Form im Religiösen Erstens: Aneignung als Form Zweitens: Form und das Erbauliche
IX
269 270 272
277 278 280 281 283
285 285 287 287 293 293 296
6. Die Dialektik von Wie und Was
301
Einleitung: Wie und Freiheit a) Die absolute Bedeutung des Wie b) Das Wie und das Absolute c) Das Gottesverhältnis
301 305 315 327
7. Der Weg als die Wahrheit Einleitung a) Weg und Subjektivität, Zeitlichkeit, Wahrheit Erstens: Subjektivität Zweitens: Zeitlichkeit Drittens: Wahrheit b) Christus - der Weg und Wahrheit
8. Die Verdoppelung des Absoluten Einleitung a) Absolute Verdoppelung b) Verdoppelung als Konkretion Erstens: Zwischenbestimmung Zweitens: Konkretion 1. Konkretion der Wahrheit 2. Die Wahrheit s e i n c) Verdoppelung und Freiheit
339 339 340 340 347 359 363
374 374 375 386 387 391 392 399 402
X
Inhaltsverzeichnis
IV. Erbauung, Aneignung und das Absolute im Horizont eines Begriffs von religiöser Erfahrung 411 Einleitung 413 1. Erfahrung und religiöse Erfahrung bei Kierkegaard Erstens: Die Struktur von Erfahrung Zweitens: Wert und Grenzen von Erfahrung Drittens: Erfahrung und Religion Viertens: Religiöse Erfahrung 2. Erbauung und Aneignung als Kategorien religiöser Erfahrung und ihr Verhältnis zu Hegels Erfahrungsbegriff Erstens: Zur Begrifflichkeit - Überblick Zweitens: Aneignung und Erbauung als Erfahrung der Erfahrung Drittens: Hegels Erfahrungsbegriff- ein Vergleich 1. Das Prinzip der Erfahrung 2. Spekulativer Begriff der Erfahrung
415 415 421 424 432 438 438 441 450 451 458
Exkurse I. Das Erbauliche bei Hegel II. Zur Kritik am „Einzelnen" III. Der Glaube und das Absurde IV. Kritik des Aneignungsbegriffs bei W. Anz V. Zur Diskussion mit H. Fahrenbach
467 467 469 472 478 485
Literaturverzeichnis I. Werkausgaben II. Sekundärliteratur und allgemeine Literatur
489 489 489
Stellenregister Namenregister Begriffsregister
498 502 504
EINLEITUNG Die überaus reiche Forschungsliteratur zu Werk und Person von S0ren Kierkegaard läßt durchweg Übereinstimmung darin erkennen, daß die Begriffe „Aneignung" und „das Erbauliche" Grundanliegen des Dänen bezeichnen. Daß gleichwohl die Bedeutung dieser Themen kaum irgendwo genau untersucht, sondern in der Regel nur in Gestalt allgemeiner Hinweise konstatiert und behauptet worden ist, mutet um so merkwürdiger an.1 Das vorliegende Buch kann sich also versprechen, mit der Thematisierung von Aneignung und Erbauung einen sinnvollen Beitrag zum Verständnis von Kierkegaards Theologie zu erbringen, der die Chance bietet, deren Anliegen von einer bisher eher unterbelichteten Seite zur Sprache zu bringen, ohne sogleich einem der vielfältigen kontroversen Interpretationstypen sich zuordnen zu müssen, die an plakativen Spitzenbegriffen wie „Existenz, Innerlichkeit, Paradoxalität" u. ä. orientiert sind. Sie hat freilich ihre Eigenart in der sich einstellenden Erkenntnis, daß die Begriffe des Erbaulichen und der Aneignung bei Kierkegaard einbezogen sind in ein Konzept vom Absoluten als solchem und im spekulativen Sinne, das man kaum anders als metaphysisch (im neuzeitlichen Sinne) wird nennen können. Und erst im Horizont dieses spekulativen Ansatzes wird es dann möglich, eine Reihe von Termini angemessen zu verstehen, die dem Kierkegaard-Leser beinahe auf jeder Seite des schriftstellerischen und erbaulichen Werkes begegnen (wie z.B. Form, das Wie, Weg, Zwischenbestimmung, Verdoppelung).
Einer der wenigen, der die Wichtigkeit gerade des Aneignungsbegriffes erkannt und ihm eine, freilich höchst problematische Kritik gewidmet hat, ist W. Anz gewesen; cf. u. Exkurs IV, S. 478 ff. Auch in dem letzten Buch von H. Gerdes (1982) wird verschiedentlich und mit Nachdruck auf die religiöse Bedeutung der Aneignung bei Kierkegaard aufmerksam gemacht; cf. a.a.O. S. 3f., 21 f., 52f., 82, 86u.ö.
2
Einleitung
Was ich hier vorlege, läßt sich also zunächst auffassen als die Zusammenstellung von drei monographischen Begriffsuntersuchungen, die auch als einzelne einen Beitrag zur Kierkegaardforschung zu leisten hoffen und so auch für sich gelesen werden können. Gleichwohl liegt eine systematische Anlage zugrunde: Der Fortgang von einer unmittelbar-religiösen Kategorie (das Erbauliche) zu einer spezifisch theologischen (Aneignung) sowie der metaphysischen des Absoluten gehorcht einer Sachlogik, die sich auf das Grundlegend-Umfassende hin entwickelt. In das metaphysische Konzept des Teiles III erst lassen sich die Erkenntnisse aus den beiden ersten Teilen theoretisch integrieren bzw. durch Ausweitung des Denkhorizontes gelangt die Untersuchung der vorher behandelten Begriffe zu deren metaphysischem Grund. In der Abfolge der drei Teile dieser Arbeit spiegelt sich auch der subjektive Erkenntnisprozeß des Autors, in dem der zweite Teil eine Gelenkfunktion hat. Auch die rein sprachlichen Spuren dessen sind absichtlich nicht getilgt worden. Mein Eindruck, so Kierkegaards Denken fortschreitend immer tiefer verstanden zu haben, soll im Gang der Darstellung vom Erbaulichen über die Aneignung zur Dialektik des Absoluten durchaus präsent bleiben. Die strukturelle Anlage dieser Arbeit läßt sich wohl am besten mit einem Gewebe vergleichen. Als durchgehende „Kette" fungieren die großen Themen des Kierkegaardschen Denkens wie: Subjektivität, Wahrheit, Gott, der Einzelne, Christus, Paradox, Freiheit, Glaube, Liebe, Geist, Existenz, Ernst, Selbstsein u. a. Der einschlagende „Schuß" ist jeweils durch die Kapitel- bzw. Teilüberschriften markiert: das Erbauliche, Aneignung, Erwerben, Zeitlichkeit, das Absolute, Form, das Wie, Weg und Verdoppelung. Jene sich kontinuierenden Motive werden also durchgehend unter immer neuen Aspekten erörtert und so in ihrem Verständnis sukzessive erhellt und angereichert. Nicht diesem Bilde einzuordnen sind dagegen andersartige Verschränkungen, wie daß das Erbauliche auf immer neuen Reflexionsstufen erörtert wird bzw. daß gerade auch der Aneignungsbegriff durch die ganze zweite Hälfte von Teil III zusätzliche Präzisierungen erfährt. Darin kommt eben die metaphysische Denkbewegung zum Zuge, die das in den ersten beiden Teilen gewonnene Verständnis unter den Bedingungen des Absoluten gleichsam „wiederholt". Der wissenschaftliche Ertrag davon mag - summarisch gesprochen darin liegen, exemplarisch zu zeigen, in welche Fragedimensionen ein
Einleitung
3
sich durchgehend seinem Thema anmessendes Verständnis dieses Denkens bzw. der sich dessen immanenter Logik überlassende Versuch, spekulativ mitzudenken, notwendig hineinführt. Kierkegaards Werk ist stets in besonderem Maße und nicht zufällig Anlaß zu stark polarisierten Deutungen und parteilichen Vereinnahmungen wie zu Polemik gewesen. Ob es in solcher Situation einem Versuch wie diesem gelingen mag, durch intensive Textinterpretation zur Logik der Sache selbst vorzudringen - was nicht mit totaler Identifikation mit Kierkegaards Thesen zu verwechseln ist -, dies zu erproben, ließ das Unternehmen dieser Arbeit verlockend und ihre Eigentümlichkeit gerechtfertigt erscheinen. Diese hat ein Indiz u. a. daran, daß eine Fülle von Einzelstellen des Gesamtwerkes aus ihrem unmittelbaren Kontext gelöst und zur Interpretation herangezogen werden. Es ist grundsätzlich meine, hier mannigfach bewährte, Überzeugung, daß die signifikanten der hier erörterten Stellen einen konsistenten Gedankenzusammenhang spekulativer Art bilden, der vielleicht nicht immer im Oberflächenzusammenhang der jeweiligen Kontexte, sondern erst durch diese Synopse erkennbar wird. Ich meine, die vorliegenden Untersuchungen geben meiner Sicht recht, daß bei Kierkegaard ein festes Netz spekulativer Grundgedanken durch alle seine Schriften hindurch auszumachen ist und daß die systematische Zusammenschau dieser spekulativen Motive aus verschiedenen Zeiten und Erzeugnissen von Kierkegaards Autorenexistenz eine eigene Evidenz hat. Diese Arbeit möchte dem Leser mit Kierkegaards spekulativer Theologie ein untergründig dominierendes Element seines Denkens vor Augen führen. Daß dabei freilich Kierkegaard aus diesen Texten manchem mit anderer als der gewohnten Stimme vernehmlich wird, kann ich nur für einen Vorzug halten. Diesen deutlichen, wenn auch nicht vordergründigen Denkzusammenhang als eine „spekulative Theologie" zu bezeichnen, scheint mir, ohne daß damit die Palette der Kierkegaard-Gesamtdeutungen um eine neue Variante bereichert werden müßte, historisch und systematisch als völlig sachgemäß. Es handelt sich um theologische Absolutheitsspekulation in Gestalt eines dialektischen Denkens. Dazu kommt ein ganz unmittelbares Motiv. Liest man einen Satz wie: „Gott selbst ist ja dieses: welcherart man sich mit ihm einläßt" - und verwandte Sätze werden wir in Fülle zu bedenken haben -, so weiß ich in der Tat nicht, wie man die sprachliche und gedankliche Eigenart eines solchen Satzes besser charakterisieren sollte als mit dem Terminus „spekulativ" (im Sinne der Philoso-
4
Einleitung
phie des deutschen Idealismus) - unerachtet, Kierkegaards ständiger Protest gegen ihm zeitgenössische Modelle von „Spekulation" bzw. des „Spekulanten" nicht vergessen wird. Liegt hier aber tatsächlich eine durch alle Schriften weitverzweigte Schicht dialektischer Absolutheitsspekulation (eine „Metaphysik") vor, deren auch unauffälligere und wenig verhandelte Textzeugnisse ich mit Fleiß aufzuspüren und präzise zu interpretieren wie auch an den bekannten Spitzensätzen Kierkegaards zu bewähren bemüht bewesen bin, so versteht sich methodisch, daß Interpretation hier nur heißen kann, sich auf den dialektischen Gedanken (im Detail) wirklich einzulassen und mit- bzw. nachvollziehend ihn selber zu denken. Alles Andere (wie bloßes Referat, Paraphrase, äußerliche Charakterisierung etc.) bliebe zwangsläufig an der Oberfläche dieser Sache und würde dem Anspruch solchen Denkens nicht gerecht. Spekulatives Denken läßt sich eingreifend auch nur spekulativ kritisieren. Unter dem Aspekt des spekulativen Zugs der betrachteten Texte sehe ich mich auch von einer durchgängigen Einbeziehung der Pseudonymitätsproblematik entbunden, so sehr diese für konkretisierende Deutungen und rein historische Untersuchungen von Kierkegaards Schriftstellerei unumgänglich sein mag. Grundsätzlich nämlich muß es auch im Entwerfen von Pseudonymen - wo es wie bei Kierkegaard systematisch reflektiert geschieht — einen gedanklichen Einheitspunkt geben, ob er nun dem Entwerfenden als solcher vor Augen steht oder nicht. Spätestens der denkende Nachvollzug muß ihn aber anvisieren und vielleicht sogar ausmachen können. Aber von diesem Grundsätzlichen einmal abgesehen, in unserem Falle läßt sich sogar nachweisen, daß wir bei vielen wichtigen Texten von der diffizilen Pseudonymentheorie, d.h. von dem kompliziert abgestuften perspektivischen System, in das Kierkegaard seine Schriften einordnet, absehen können - und zwar gerade bei den sich als durchgehend erweisenden spekulativen Gedankenmotiven. Zum Beweis ein Beispiel: in einer unter eigenem Namen veröffentlichten Kampfesschrift (XIV 122), in einer privaten Aufzeichnung des Tagebuchs (X2 A 644) und in der pseudonymen „Nachschrift" (VII 370) finden sich nur leicht variierende Fassungen ein und desselben spekulativen Grundgedankens2. Aufgrund solcher zahlreich vorhandenen Beispiele verfährt unsere Arbeit. Überhaupt ist es auffällig, daß auch überzeu2
Zur genauen Interpretation cf. u. S. 315 ff.
Einleitung
5
gende Kierkegaardinterpretation weithin ohne die ständige Berücksichtigung der Pseudonyme auskommt, an der Kierkegaard selber so viel lag. Eine Besonderheit dieser Arbeit dürfte darin erblickt werden, daß sie - im Ausgang von Erbauung und Aneignung - Kierkegaards spekulative Theologie in eine systematische Konfiguration mit dem Thema religiöser Erfahrung bringt (Teil IV). Das wäre nicht zureichend aus dem gegenwärtig neuerwachten Interesse an diesem Thema motiviert3. Vielmehr hat es, wenn man noch absieht von den sachlichen Ergebnissen dieses systematischen Versuchs, eine zumindest äußere Parallele im KierkegaardOpus selber, insofern als seine philosophisch-theologischen Schriften stets begleitet wurden von „Erbaulichen Reden", die einen integrierenden und quantitativ sehr erheblichen Teil des von ihm selbst Veröffentlichten ausmachen. Aus diesen erbaulichen Texten wird hier ausführlich zitiert und ebenso interpretiert. Dabei fällt auf, daß gerade auch höchst spekulative Sachverhalte von Kierkegaard in diesem Rahmen erörtert werden.4 Was in dieser Arbeit abschließend als Verhältnis von Spekulation und religiöser Erfahrung theoretisch bedacht wird, das ist bei Kierkegaard selber bereits in Gestalt von spekulativer Erbaulichkeit bzw. als erbaulicher Zuspruch des spekulativen Denkens schon vorgetragen und durchgeführt. Daß das Spekulative zum Erbaulichen, und d. h. zu religiöser Konkretion hin, geöffnet ist, ja darin sich als seinem eigentlichen Thema erfüllt, bzw. daß das Erbauliche seinen konkreten Anspruch gerade auf spekulative Sachverhalte gründet, das kennzeichnet Kierkegaards erbauliche Produktion in hohem Maße. Weil für Kierkegaard offensichtlich das Spekulative das eigentlich Erbauliche ist und das Erbauliche in seinem innersten Wesen spekulativ, darum mußte hier auf das Verhältnis von spekulativer Theologie und religiöser Erfahrung eingegangen werden. Ist mit all dem auch das Interesse angesprochen, das systematischtheologische Arbeit an diesen Kierkegaardstudien nehmen kann, so will ich das für die beiden Hauptbegriffe des Themas Aneignung und Erbauung noch eigens aussprechen. Denn gerade „das Erbauliche" liegt nicht nur völlig im Schattenreich des theologischen Bewußtseins, sondern scheint sogar als Thema hoffnungslos suspekt. Man wird denn auch der Diagnose von M. Doerne Cf. dazu beispielsweise die Schrift von E. Herms, 1978. Cf. z.B. u. S. 375ff.
6
Einleitung
kaum widersprechen können: „Erbauung ist eine heillos verschlissene, dem Sprach- und Vorstellungsbereich der Christenheit fremde, ja ärgerliche oder lächerliche Vokabel geworden. Ihr ist schwerlich aufzuhelfen".5 Es scheint das freilich nicht auf das gegenwärtige allgemeine Empfinden (innerhalb und außerhalb der Christenheit) beschränkt zu sein; vielmehr hat man den Eindruck, auch zu Kierkegaards Zeit sei der pejorative Sinn des Wortes durchaus geläufig gewesen. Jedenfalls hat Doerne darin unbedingt recht, wenn er als unaufgebbares theologisches Anliegen es doch festhält: „desto wichtiger ist, daß die Sache . . . in der Katastrophe der Vokabel nicht mit umkommt".6 Und die in dieser Arbeit versuchte theologische Aufarbeitung des Begriffs im Horizont des Kierkegaardschen Denkens folgt denn auch einem Hinweis desselben Autors, der gerade von diesem sich verspricht, seine Einsichten könnten „dazu helfen, von dem abusus der Erbauung in jener abgetanen Erbaulichkeit die unaufgebbare Sache . . . redlicher zu unterscheiden".7 Könnte der Erbauungsbegriff Kierkegaards somit dazu beitragen, das theologische Thema als solches zu profilieren und so sich ungeteiltes Interesse sichern, so liegt die Bedeutung der Kategorie „Aneignung" vor allem in der exemplarischen Ausarbeitung christlichen Glaubens unter den Bedingungen neuzeitlichen Freiheitsbewußtseins. In Kierkegaards Theologie erscheint der christliche Glaube als Inbegriff von religiösen Sachverhalten, die an sich selber und von sich aus einen spezifisch-adäquaten subjektiven U m g a n g mit ihnen erheischen. Das Christliche ist danach nie nur es selbst, sondern auch immer zugleich die Art und Weise seiner Aneignung. Christliches Bewußtsein vergewissert sich also - und das wird theologisch ausgearbeitet - nicht allein im Blick auf seine gegenständlichen Themen, sondern von diesen her stets auch im Blick auf seine eigene Angemessenheit zu diesen Themen. Damit ist aber gesagt, daß in Kierkegaards spekulativer Theologie das christliche Bewußtsein in einem prinzipiellen Sinne als Selbstbewußtsein gedacht ist. Und gerade von der so verstandenen Aneignungsthematik her (wie natürlich auch im Begriff des Erbaulichen wie der ständigen Berücksichtigung von Kierkegaards religiösen Reden) scheint mir eine mögliche Cf. Artikel „Erbauung", RGG2 (1958), 2. Bd., Sp. 539. Cf. ebend. A.a.O., Sp. 540.
Einleitung
7
Relevanz dieser Arbeit für die Praktische Theologie sich anzudeuten. Dies gilt besonders im Blick auf die Praxis und Theorie der sogen, neueren Seelsorgebewegung, bei der sich dem unbefangenen Beobachter die Wahrnehmung ständig aufdrängt, daß sie sich - wie ungewußt bzw. unexpliziert auch immer und z.T. durch modischen Betrieb entstellt, was gewiß Kierkegaards Satire provoziert hätte - durchaus im Bereich der Aneignungsdialektik aufhält. Es hat eine eigene Stimmigkeit, daß eben in Formen moderner Spiritualität, wie sie in dem genannten Bereich erfahren und bedacht werden, gerade spekulative Sachverhalte konkret präsent sind. Abschließend einige Hinweise zum Zitierverfahren. Ich zitiere Kierkegaard in der Regel nach der Übersetzung der Hirsch-Ausgabe, aber mit Band- und Seitenzahl der ersten dänischen Ausgabe der Samlede Vaerker, die bei Hirsch stets am Rande angegeben sind. Auf diese Weise ist jedes Zitat in beiden Ausgaben unschwer aufzufinden. Dies wird dann noch erleichtert durch den hier folgenden Vergleich beider Ausgaben, wo man auch die zugehörigen Titel von Kierkegaards Schriften schnell ersehen kann. Bei Tagebuchaufzeichnungen gebe ich, wo möglich, stets den Ort in den „Papirer" und in der Gerdes-Übersetzung. Manchmal habe ich auch im Text Buchtitel Kierkegaards abgekürzt, aber deutlich identifizierbar beigefügt. Finden sich in einem Kierkegaard-Zitat eckige Klammern, schließen sie immer Zusätze von mir (Vf.) ein. Auch der umgekehrte Weg ist dem Leser ermöglicht. Mit Hilfe des Stellenregisters am Ende des Buches, das alle von mir ausführlicher besprochenen Kierkegaardzitate verzeichnet, kann man mühelos zu einer Stelle bei Kierkegaard meine Interpretation aufsuchen. Dadurch wird das Buch auch nach Art eines Kommentars benutzbar. Wo es nötig erschien, habe ich auf den dänischen Originalwortlaut hingewiesen, um die Eigentümlichkeit der deutschen Übersetzung zu kennzeichnen.
2
Ringleben: Aneignung. TBT 40
Vergleichende Übersicht der Ausgaben Samlede Vaerker
Ges. Werke (Hirsch)
Titel
I II III
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7./8V9. 10. 11. 12. 13. 14.
Abt. Abt. Abt. Abt. Abt. Abt. Abt. Abt. Abt. Abt. Abt. Abt.
Entw.-Oder I Entw.-Oder II 2 Erbaul. Rdn. 1843 Furcht u. Zittern Wiederholung 3 Erb. Rdn. 1843 Erb. Rdn. 1843/44 Philos. Brocken Begriff Angst Vorworte Erb. Rdn. 1844 Rdn. b. gedacht. Gelegenh. Stadien Abschl. Unw. Nachschr. Literar. Anzeige Erb. Rdn. i. versch. Geist (1847) Der Liebe Tun Christi. Rdn. 1848 Krise Lilien a. d. Felde 2 Kl. eth.-rel. Abhdln. Krankh. z. Tode Hohepriester- ZöllnerSünderin Einübung Erb. Rdn. 1850 Rdn. b. Altargang (1851) Z. Selbstprüfung/ Urteilt selbst Erstlingsschriften Begriff Ironie Corsarenstreit Schriften üb. sich selbst (Verfasserwirksamkeit) Augenblick Briefe Buch Adler
IV
v VI VII VIII IX X XI
XII
XIII
xrv
1- 52 53-168 169-264 265 ff. 1-170 171-272 273 ff. 1- 72 73-168 169 ff.
1-106 107 ff.
15. 16. 17. 18.
Abt. Abt. (1 + II) Abt. Abt.
1-318 319ff. 5- 58 59-128
19. 20. 21. 22. 23.
Abt. Abt. Abt. Abt. Abt.
129-272 273 ff.
24. Abt. 25. Abt.
1-240 241-260 261-290
26. Abt. 27. Abt. 28. Abt.
291-370 371 ff. 1- 92 93-394 395-486 487 ff.
29. Abt. 30. 31. 32. 33.
Abt. Abt. Abt. Abt.
34. Abt. 35. Abt. 36. Abt.
TEIL I DER BEGRIFF „ERBAULICH"
Kierkegaard verwendet die Wortgruppe: erbauen, Erbauung, erbaulich (dän.: opbygge, Opbyggelse, opbyggelig) nicht selten in einem umgangssprachlich-abgeflachten Sinne, der gelegentlich einen satirischen Beiklang hat. In diesem nicht-terminologischen Gebrauch wird damit so etwas wie irgendeine innere Erhebung oder Seelenstärkung, eine unbestimmt tröstliche Affirmation benannt. Beispiele hierfür zu geben, die sich z. B. in Entweder - Oder I durchweg finden, erscheint mir uninteressant. Daneben findet sich aber eine, wie im folgenden gezeigt werden soll, streng begriffliche Verwendung dieser Wörter, nach der sie terminologischen Rang haben. Mit ihrer Untersuchung möchte ich einsetzen. Methodisch ist sie dadurch gesichert, daß Kierkegaard selber eine Fülle von Hinweisen zur Klärung des Begriffs gibt - überwiegend in seinen „Erbaulichen Reden" selbst1 -, sowie durch die Möglichkeit, aus dem unmitMit dem Prädikat „erbaulich" werden die Reden streng auf die grundlegende Struktur des Gottesverhältnisses bezogen. Dessen Momente und die dialektischen Beziehungen zwischen ihnen bilden - in immer neuen Abwandlungen religiös schier unerschöpflich konkretisiert - die theologischen Grundmuster dieser Reden. Jenes Prädikat ist also keine bloß äußerlich-zufällige Charakterisierung (etwa einer die Reden begleitenden oder von ihnen erzeugten Stimmung o.a.), sondern vielmehr genau und folgerichtig aus dem Begriff der Sache selbst gewonnen und die spezifische Natur des Themas der Reden ausdrückend. Kierkegaard selbst macht freilich einen Unterschied zwischen „erbaulich" und „zur Erbauung" (cf. X1 A 510, Tgb. II, S. 256 und dazu Malantschuk, Die Begriffe Immanenz und Transzendenz . . ., in „Materialien . . .", a.a.O., S. 490). Allgemeine rhetorische Merkmale der erbaulichen Rede Kierkegaards, insofern sie „der Entwicklung von Subjektivität dienen soll", zählt Anderson auf: Kierkegaards Theorie der Mitteilung, in „Materialien . . .", a.a.O., S. 449-453. Sieht man von den am Verkündigungsproblem als solchem orientierten Arbeiten von L0gstrup, Metzger, van Randenborgh, Schröer und Schuepp ab, so ist
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Der Begriff „Erbaulich"
telbaren Kontext ihrer Verwendung die begriffliche Struktur dieser Wörter aufzuhellen. Das früheste - soweit ich sehe - Zeugnis für Kierkegaards Begriff des Erbaulichen findet sich in einer aufschlußreichen Tagebucheintragung aus der Zeit noch vor Erscheinen der Magister-Dissertation: „Es ist merkwürdig mit dem Haß, den Hegel auf das Erbauliche hat, der überall hervorsticht; aber das Erbauliche ist kein Betäubungsmittel, welches einschläfert, es ist das Amen des endlichen Geistes und ist eine Seite der Erkenntnis, die nicht übersehen werden darf. - Den 10. Juli 1840" (III A 6, Tgbl, S. 229f.).
Diese Zeilen bekunden die Entdeckung einer Kategorie, und für die eindrucksvolle Metapher „das Amen des endlichen Geistes" wird gleichwohl reklamiert, eine ernsthafte Erkenntnisaufgabe zu bezeichnen. Unverkennbar ist dabei die Intention mitbestimmend, sich von Hegels Verkennen des Begriffs dadurch abzusetzen, daß er auf seinem eigenen Felde gleichsam überboten wird.2 Kierkegaards Versuch, das von ihm vermerkte Erkenntnisdesiderat durch eine theologische Konstruktion des Erbaulichen zu erfüllen, soll im folgenden ausführlich dargestellt werden. Vorwegnehmend läßt sich im Anschluß an die zitierte Notiz vielleicht doch schon eine abstrakte Skizzierung unternehmen.3
eine ausführliche theologische Untersuchung der erbaulichen und christlichen Reden Kierkegaards als solcher i'mmer noch ein Desiderat der Forschung, und das, obwohl sie einen integrierenden Bestandteil seines Werkes ausmachen (cf. die partiellen Bezugnahmen der Titel von Deuser (1974), Haecker, Hamann und S10k im Lit.-Verzeichnis). Die Ankündigung eines geplanten großen Buches über Kierkegaards Reden von Th. W. Bätscher (in: Hohlenberg, a.a.O., S. 453, Anm. 213) ist leider bis heute unerfüllt geblieben. Auch das neue Buch von A. Paulsen vermag diese Lücke nicht zu schließen, da es nur beiläufig auf die Reden eingeht. Cf. Exkurs I, u. S. 467 f. Cf. die kurzen Andeutungen bei A. Paulsen, a.a.O. S. 59 f. Zutreffend daran ist die Verneinung einer herkömmlich-pietistischen oder bloß unbestimmtstimmungsmäßigen Bedeutung für Kierkegaard. Für eine genauere Begriffsbestimmung des Erbaulichen bei Kierkegaard, als „den ganzen Ernst der Lebensentscheidung für Gott" betreffend (ebd.), reicht freilich der formelle Hinweis auf A. Schlatters neutestamentliche Definition schwerlich aus. Erbauung als,
Der Begriff „Erbaulich"
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Der Begriff des Erbaulichen bezeichnet die spezifische Qualität des menschlichen Gottesverhältnisses. Und er bezeichnet diese Qualität zugleich als eine spezifisch menschliche, insofern als auch die Funktion dieses Verhältnisses für das darin lebende Subjekt gerade gemeint ist. Wobei ausdrücklich mitgedacht wird, daß das religiöse Gottesverhältnis von dieser seiner Funktion bzw. subjektiven Bedeutung nicht ablösbar ist, vielmehr darin sich erst erfüllt. Es gilt also, die Grundzüge von Kierkegaards Verständnis des menschlichen Gottesverhältnisses kurz zu skizzieren (Kap. 1), um dann ausführlich darzulegen, wie der Begriff des Erbaulichen dazu konform gefaßt wird und aus dieser Konformität seine eigentümlichen Merkmale verständlich werden (Kap. 2 ff.).
nach Kierkegaard, „ein uns allen gemeinsames menschliches Anliegen" (zit. a.a.O.) verlangt eigene begriffliche Aufklärung. Ein skizzenhafter Überblick findet sich bei Vetter, a.a.O. S. 23-29.
ERSTE HÄLFTE ZUGANG
KAPITEL l GRUNDZÜGE DES GOTTESVERHÄLTNISSES Sich zu Gott zu verhalten, ist das Verhältnis zu etwas, wozu man sich direkt nicht verhalten kann. Aber sich „direkt" zu etwas verhalten, ist identisch damit, sich zu etwas zu verhalten. Zu Gott sich zu verhalten, wenn es überhaupt möglich sein soll, kann also nur bedeuten, sich zu sich selbst verhalten. Denn dies ist ein direktes Verhältnis, also überhaupt Verhältnis, aber nicht zu einem „Etwas". Problematisch ist nur, inwiefern ein Verhältnis zu sich zugleich ein (eo ipso) indirektes Verhältnis zu Gott sein kann. Bewußtes Verhältnis zu etwas ist immer Verhältnis zu etwas Bestimmtem, Einzelnem. Das aber ist Gott auf keinen Fall, was auch immer er sonst sein mag. Mit „Gott" ist gemeint, was jede einzelne Bestimmtheit unendlich übersteigt: nichts Endliches, sondern Unendliches, nichts Einzelnes, sondern schlechthin Alles. Verhalte ich mich zu mir, so verhalte ich mich nun aber auch zu einem einzelnen endlich bestimmten Menschen. Ein Verhältnis zu mir als mögliches Verhältnis zu Gott müßte also sein: negatives Verhältnis zu meiner Endlichkeit. Sich direkt als Einzelnes negieren, heißt, sich indirekt auf Unendliches beziehen. Ein Verhältnis zu Gott als Gott ist also denkbar nur indirekt: indem ich mich selbst negiere, räume ich dem, was nicht endlich ist, eine Präsenz ein. Negatives Selbstverhältnis ist so die Gestalt einer positiven, aber indirekten Gottesbeziehung. Gott ist zugänglich nur mittelbar durch Zurücknehmen der eigenen Unmittelbarkeit. Als Gottesverhältnis will also ein Verhältnis gedacht werden, das nie als direktes Verhältnis zweier gleichrangiger und äußerlich unterscheidbarer Größen gedacht werden kann. Hält das Subjekt sich als solches fest, zu Gott ins Verhältnis tretend als eo ipso einem Objekt (Etwas) - hat es zwar ein direktes Verhältnis, aber nicht zu Gott als Gott. Nur wo das Subjekt sich in bezug auf Gott aufhebt, kann Gott als Gott für es dasein. „Für es" heißt, in seinem Gott-Raum-Geben ist es selbst die Präsenz Gottes. Der Akt, Gott sein zu lassen und der Akt, sich
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Der Begriff „Erbaulich"
vor ihm aufzuheben sind identisch; Gott ist nur in der Weise „für" das Subjekt, daß dieses sich negiert: indirekt. Gott ist in der Weise, wie er als Gott respektiert wird. Die Unendlichkeit Gottes erscheint in der tendenziell unendlichen Selbstaufhebung des Subjektes. Diese Überlegungen dienen der Exposition zweier Thesen, die für Kierkegaards Deutung des menschlichen Gottesverhältnisses konstitutiv sind. Sie lassen sich so formulieren: 1. Gottes Positivität ist als unendliche nur exklusiv, d.h. negativ gegen jede endliche Positivität zur Darstellung zu bringen. 2. Ein Gottesverhältnis ist nicht ohne Selbstverhältnis möglich. Aus der ersten These folgt ohne weiteres, daß ein Verhältnis als solches (als direktes) Gott bereits unangemessen ist. Ist jede Relation zu definieren als Beziehung zweier a) von einander unabhängiger, d.h. selbständiger und gleichberechtigter, b) zugleich als außereinander seiend voneinander abgrenzbarer und c) doch für einander seiender Terme, so kann es keine echte Relation zu Gott geben, weil a) neben Gott nichts von ihm Unabhängiges gedacht werden kann, b) ein Für-ein-anderesSein Gottes im strengen Sinne notwendig eine Begrenzung seiner bedeuten müßte und c) Gott als eins der Relate selber relativ wäre. Damit aber ist gesagt, daß ein „Gottesverhältnis" nur sein kann als permanente Unterscheidung seiner selbst von jedem möglichen Verhältnis zu etwas - eine Unterscheidung, die nur als in Kraft des Begriffs von Gottes Gottsein bewußt vollzogene wirksam sein kann. Als Instanz, die diese Unterscheidungvollzieht, indem sie sich „verhält" und zugleich zu diesem Verhältnis (selbstkritisch) sich verhält, also davon auch selbst wieder unterscheidet- kann nur ein Selbst inf rage kommen. D.h. daß ein Gottesverhältnis w i r k l i c h ein Verhältnis zu Gott wird bzw. bleibt, macht ein Selbstverhältnis (als seinen anderen Pol) prinzipiell notwendig. Es kann - aufgrund seiner besonderen Qualität - kein Gottesverhältnis geben ohne Selbstverhältnis (These 2). Ein Gottesverhältnis ist nur als selbstbewußtes möglich. Was am Gottesverhältnis, insofern es ein Verhältnis ist, Gott unangemessen ist, dessen Exklusivität verdeckt, kann das Selbst aber nur so zurücknehmen, daß es sich gegen sich selbst wendet. Das Selbst, als positiver Term, der die Relation als solche festlegt, kann nur so zur Geltung bringen, daß hier mehr und anderes ist als bloße „Relation", indem es seine eigene Positivität aufhebt. Negative Wendung gegen sich macht ausdrücklich, daß ein Verhältnis des Selbst zu Gott nur wahr sein kann als Verhältnis Gottes zum Selbst, d. h. als dessen Negation.
Grundzüge des Gottesverhältnisses
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Eben diese Umkehrung des Verhältnisses als Wendung gegen das Selbst macht es allererst religiös. Daß die eigene Negation des Selbst in Kraft unendlicher Positivität geschieht, daß Selbstaufhebung als Ausdruck göttlicher Gegenwart erfahrbar ist - eben dies meint der Begriff des Erbaulichen. Ein erbauliches Gottesverhältnis ist das wahrhaft religiöse, d.h. es bringt die Gottheit Gottes an sich selbst zur Geltung, verhält sich so zu Gott, daß es darin dies Verhältnis von Gott her denkt und bestimmt sein läßt, d. h. also gegen sich kehrt. Erbaulich ist, was im direkt Negativen indirekt unendlich Positives zugänglich macht. Ein unmittelbares Verhältnis zu etwas setzt die wesentliche Gleichheit der sich Verhaltenden voraus. In diesem Sinne kann es aber kein unmittelbares Verhältnis zu Gott geben, der so nie dem sich zu ihm Verhaltenden gleich ist, sondern es gilt, das Gottesverhältnis gerade als Umkehrung jedes Verhältnisses zu ... zu begreifen. Derart heißt es von der Gleichheit des Menschen mit Gott bei Kierkegaard: „sie ist in Wahrheit nur innerhalb der unendlichen Verschiedenheit, und deshalb ist das Anbeten die Gleichheit mit Gott, wie es der Vorzug vor allen Geschöpfen ist. Der Mensch und Gott gleichen einander nicht unmittelbar, sondern umgekehrt: Erst wenn Gott unendlich der Anbetung ewiger und allgegenwärtiger Gegenstand geworden ist und der Mensch ständig ein Anbetender ist, erst dann gleichen sie einander. Will der Mensch Gott gleichen, indem er herrscht, so hat er Gott vergessen . . ." (VIII 279).
Gleichheit innerhalb unendlicher Verschiedenheit, Übereinstimmung im reziproken Verhältnis - das sind die abstraktesten Formeln für ein religiöses Gottesverhältnis. Darin nimmt der Mensch sich gleichsam ganz zurück (unendliche Anbetung), um Gott ganz Gott, absolut Herrscher sein zu lassen. Jede direkte Gleichheit wäre faktisch „Herrschaft" des Menschen über Gott (anstelle Gottes). Im Sinne solcher unmittelbaren Gleichheit hat das „Heidentum" Gott aufgefaßt und verkannt (cf. ebd.). Wohingegen das wahre, nämlich umgekehrte, Gleichheitsverhältnis allein der Unsichtbarkeit Gottes gerecht wird, die das Maß ihrer Erscheinung gerade am Zurücknehmen sichtbarer Unmittelbarkeit hat (cf. aaO. 278). Andererseits ist, so die unsichtbare Herrlichkeit Gottes durch Anbetung auszudrücken, das Herrlichste, was der Mensch als Mensch vor aller Natur allein kann: daß er, der durch aufrechten Gang Ausgezeichnete, sich gleichwohl vor etwas Unsichtbarem niederwerfen kann. So ist, worauf die ganze Schöpfung gleichsam wartet, „am herrlichsten, nichts
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Der Begriff „Erbaulich"
zu sein, indem man anbetet" (VIII 279). Hier kündigt sich ein unten wieder aufzunehmender Gedanke an: das Sich-zurücknehmen des Menschen im Gottesverhältnis ist die höchste Möglichkeit, geradezu die Vollendung seines Seins. Sich unendlich zu überschreiten, in Richtung auf seinen absoluten Grund, das begründet - als unmittelbare Selbstaufgabe - gerade erst wahrhaft den Menschen. Das durch ein unmittelbares Verständnis von Gleichheit bestimmte, heidnisch genannte, Gottes Herrschaft faktisch antastende Gottesverhältnis rückt sonst auch bei Kierkegaard unter die existenz-systematische Kategorie des Ästhetischen: „. . . daß ein direktes Gottesverhältnis Ästhetik ist und eigentlich kein Gottesverhältnis, so wenig wie ein direktes Verhältnis zum Absoluten ein absolutes Verhältnis ist, da die Aussonderung des Absoluten nicht eingetreten ist. In der religiösen Sphäre ist das Positive am Negativen kenntlich. Das höchste Wohlbefinden einer glücklichen Unmittelbarkeit, das Freude über Gott und das ganze Dasein hinausjubelt, ist sehr liebenswert, aber nicht erbaulich und wesentlich kein Gottesverhältnis" (VII 489 Fn.*).
Dieses Zitat ist in mancher Hinsicht aufschlußreich und zeigt in nuce alle wichtigen Gedanken der folgenden Darstellung.4 Malt der letzte Satz die „ästhetisch" verflachte Religiosität konkreter aus, in der Gott letztlich „vergessen" ist (s.o.), so wird dies verständlicher, wenn man hinzunimmt, daß Kierkegaard als Instanz für ein wahrhaft „erbauliches" Gottesverhältnis unmittelbar vorher vom „Schuldbewußtsein" spricht. Dies ist es offenbar, was jede unbefangene Unmittelbarkeit Gott gegenüber verhindert und ein direktes Gottesverhältnis zerbricht. Gottesverhältnis ohne Schuldbewußtsein wäre demnach wesentlich keines. Derart ist die „Kenntlichkeit" des Göttlichen eine durchaus indirekte: die Positivität Gottes manifestiert sich gerade nicht unmittelbar - dann wäre sie von der des Menschen ununterscheidbar, also mindestens nicht mehr die Gottes allein, und Gott ist gerade allein „alles, und ist unendlich alles" (cf. VII 489) —, sondern allein mittelbar in der Negativität des Schuldbewußtseins, in dem das Subjekt einer Wahrheit über sich Raum gibt, die Auf die systematische Funktion des Begriffs des Erbaulichen als notwendiges Bindeglied zwischen ästhetisch-ethischer und ethisch-religiöser Schriftstellerei bei Kierkegaard sowie als zentrales Lösungspotential ihrer dialektischen Schwierigkeiten weist S10k in seiner Untersuchung zu den „Zwei erbaulichen Reden" (1843) abschließend hin, cf. in „Materialien . . .", a.a.O., S. 260f.
Grundzüge des Gottesverhältnisses
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nur als gegen es bleibt, was sie ist. Für den Begriff erbaulich mag bereits hier aus der Formel: „das Positive am Negativen kenntlich" abgelesen werden, daß alles das erbaulich ist, was Positivität dem Menschen so zugänglich macht, daß sie zugleich seiner Verfügung entzogen bleibt. Im Interesse des Menschen das kenntlich zu machen, was ihm gerade darin hilft, daß er sich darin einbezogen findet, ohne es von sich aus affirmieren zu können - wäre erbaulich. Hinzu gehört, daß das Erbauliche stets die Überführung davon für ihn bei sich führt, daß der sich erbaut Findende es nötig hat, ohne es sich selbst geben zu können, ja, seiner nur so bedarf, daß er von der eigenen grundsätzlichen Unfähigkeit weiß, es sich aus sich selbst zu verschaffen. Erbaut kann nur werden, wer zugleich weiß, daß er erbaut w e r d e n m u ß . Und das Erbauliche vermittelt stets mit sich dies Wissen um das Daraufangewiesensein. In dem angeführten Zitat ist sodann für Kierkegaards Deutung des Gottesverhältnisses und weiter seinen Begriff des Erbaulichen wichtig die zweite Hälfte des ersten Satzes: „sowenig wie ein direktes Verhältnis zum Absoluten ein absolutes Verhältnis ist, da die Aussonderung des Absoluten nicht eingetreten ist" (ebd.). Meines Erachtens spricht der Satz nicht eine Parallele oder Analogie aus, sondern die innere, gedankliche Struktur des Gottesverhältnisses selbst - und zwar in einer Terminologie, die dafür besonders geeignet ist. Daß ein wahres „Verhältnis zum Absoluten ein absolutes Verhältnis" nur als indirektes ist, - mit dieser Formulierung wird schon sprachlich auf die Eigenart des Gedankens des Absoluten hingewiesen, auch das noch zu bestimmen, was es nicht ist: auch das Verhältnis zum Absoluten steht unter dessen Bedingungen; anders wäre jenes nicht das Absolute. Das Absolute ist nur es selbst, wenn es auch absolut ist, d. h. in dem sich wiederfindet, was es unmittelbar nicht ist. Es ist zugleich es selbst und das Verhältnis zu ihm. Es gibt kein mögliches Außerhalb, von woher - als solchem - ein Verhältnis zu ihm möglich wäre. Denn dann wäre ihm auch dieses Verhältnis äußerlich. Es ist vielmehr absolut nur, wenn und weil es auch die Bedingungen setzt, unter denen es für eine andere Instanz das Absolute ist. D.h. auf den kürzest möglichen Ausdruck gebracht, das Absolute ist nicht nur Gegenstand, sondern zugleich immer auch Möglichkeitsbedingung dieser seiner Gegenständlichkeit, es ist als Inhalt notwendig auch dessen Form. Das heißt, in dem indirekten, also wahrhaften Verhältnis zum Absoluten ist dessen Anspruch auf Absolutheit auch auf die Form, in der es „da" ist, bezogen. Ein „direktes" Verhältnis trägt dem nicht Rechnung,
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Der Begriff „Erbaulich"
daß das Absolute der Inhalt ist, der die ihm angemessene Form selber setzt. In einem „indirekten" Verhältnis zum Absoluten wird dagegen dieser Inhalt-Form-Dialektik gerade Ausdruck verliehen. Sich im Gottesverhältnis zurückzunehmen, heißt wahrmachen, daß Gott alles sein will, bzw. wahrhaft Gott nur ist, wenn er auch das Verhältnis zu ihm noch ermöglicht und bestimmt. Daß das Positive religiös nur am Negativen kenntlich ist, ist Ausdruck der absoluten Form-Inhalt-Identität, als die das Absolute gedacht werden muß. Kierkegaards Begriff des Erbaulichen gründet in der Dialektik des Gottesgedankens, die absolute Einheit von Form und Inhalt zu sein.5 Daß das Absolute das ist, was auch jedes mögliche Verhältnis zu ihm noch bestimmt (so daß der andere Pol ihm nicht wirklich gleichrangig ist), sagt hier im behandelten Zitat deutlich die Wendung von der „Aussonderung des Absoluten" als Bedingung dafür, daß das Verhältnis wirklich absolut, d.h. seinem Gegenstand angemessen sei. Diese "Wendung muß als Gen. subj. gelesen werden.6 Hier bringt Kierkegaard zur Sprache, was wir oben die „Exklusivität" des Gottesgedankens genannt haben (These 1). Wer sich zu Gott verhält, bleibt nicht, was er unmittelbar ist; er wird unter Bedingungen gestellt, die allein von dem, wozu er sich verhält, geprägt werden wollen - läßt er sich andererseits darauf ein, für sich wahrzunehmen, daß es Gott ist, zu dem er sich verhält. Zu Gott sich zu verhalten ist streng identisch damit, sich von ihm bestimmen lassen zu wollen. Ein Gottesverhältnis wird wirklich als Bestreben, Gott sein zu lassen, was er ist. Im Gottesverhältnis reduziert sich das Subjekt darauf, Gott handeln zu lassen; es selbst ist nur, was Gott will, Positivität kommt in es auf dem Wege der Negation seiner selbst. Es wird also, was es religiös ist, allererst durch Gott. Diese mit der Aufgabe der eigenen Unmittelbarkeit verbundene Bestimmtheit durch Gott konstituiert es gleichsam neu als Selbst, das von Gott her ist. Als solches ist es aus allen unmittelbaren Bezügen, in denen es vorher es selbst war, ausgesondert. Der Begriff „der Einzelne" erhält bei Kierkegaard in diesem Zusammenhang sein Gewicht.7 Der Einzelne ist der vor Gott Existierende, d.h. Vereinzelte, bzw. umgekehrt, vor Gott kann man nur als Ausgesonderter, d. h.
5 6 7
Darüber ist noch ausführlich zu handeln, cf. u. S. 287 ff. So auch H. M. Junghans, cf. „Nachschrift", Bd. II, S. 401, Anm. 716 Cf. Exkurs II, u. S. 469 ff.
Grundzüge des Gottesverhältnisses
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als einzelnes religiöses Selbst, existieren. Dies spielt wiederum in den Begriff des Erbaulichen stark hinein.8 Eine Näherbestimmung des unmittelbar-ästhetischen Gottesverhältnisses mag diese Darlegung abrunden. „Das Ästhetische liegt immer darin, daß das Individuum sich einbildet, daß es eifrig damit zu tun hat, nach Gott zu greifen und seiner habhaft zu werden, also in der Einbildung, daß das undialektische Individuum geschickt genug sei, wenn es nur Gottes habhaft werden könne als eines E t w a s a u ß e r h a l b " (VII 489 Fn**, Sperrung vom Vf.).
Dieser für sich genommen unangemessene Status Gottes als nur eines „Etwas außerhalb" ist aber notwendig dann gegeben, wenn das Verhältnis zu ihm eine Relation im strengen Sinne ist.9 Die Pointe dieses äußerlichen Verhältnisses zu Gott ist nun gerade, daß das Individuum, das Gott derart außerhalb seiner hält, um sich zu ihm „verhalten zu können", eben damit sich selber außerhalb Gottes hält und d.h. sich Gott gegenüber einfach affirmiert. Das ist das verborgene Herrschaftsmotiv im direkten Gottesverhältnis.10 Gehört aber zu Gott jene unbedingte Exklusivität, ist er wirklich Gott nur, wenn er „weder ein Etwas, sondern alles, und . . . unendlich alles, noch außerhalb des Individuums" ist (VII 489),
so gilt, daß „es nämlich das Individuum selbst ist, das ein Hindernis bildet" (ebd.). Und eben durch „die Vernichtung, in welcher das Individuum sich selbst beiseiteschafft, um Gott zu finden", kann es Gott als Gott wahrnehmen und nicht als Etwas außerhalb, sondern als die unendlich positive Macht, die sich in der eigenen Selbstnegation ausdrückt. Ästhetische Religiosität steht sich eigentümlich im Wege, indem sie Gott zu suchen prätendiert, ihn aber als äußerliches Etwas nicht in Wahrheit finden kann, weil das Subjekt so gerade sich selbst heimlich Gott entzieht. „Ästhetisch ist die heilige Ruhestätte der Erbauung außerhalb des Individuums, es sucht die Stätte" (ebd.),
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s.u. S. 27ff. s.o. S. 18: Merkmal b. Cf. o. zu VIII 279 Ringleben: Aneignung. TBT 40
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Der Begriff „Erbaulich"
aber - so ist zu verstehen - so, daß dies Suchen sein Ziel verfehlen muß, eben weil es nicht außerhalb sein kann; auch schützt sich dies Suchen durch seine Richtung nach außen gerade vor dem, wonach es sucht. Dagegen ist „in der ethisch-religiösen Sphäre . . . das Individuum selbst die Stätte, wenn das Individuum sich selbst vernichtet hat" (ebd.),
- wobei zu bedenken ist, daß diese Stätte nicht das Subjekt in seiner festgehaltenen Unmittelbarkeit, sondern allein in dessen sich permanent vollbringender Selbstaufhebung ist. Das Subjekt kann „Stätte" nur im prohibitiven Sinne sein, durch Fernhalten alles dessen, was die Möglichkeit der Präsenz Gottes ausschließt, d. h. im Grunde: seiner selbst. Es ist also so „Stätte", daß gleichsam nicht es selbst sie ist - es negiert sich ja gerade — und ist Stätte allein in seinem Verschwinden vor Gott. „Das Erbauliche ist hier also ganz richtig kenntlich am Negativen, an der Selbstvernichtung, die in sich das Gottesverhältnis findet, die [es] durchleidend im Gottesverhältnis sinkt, darin gründet, weil Gott in dem Grunde ist, wenn nur alles das, was im Wege ist, weggeräumt worden ist, jede Endlichkeit und vor allem das Individuum selbst in seiner Endlichkeit, in seiner Rechthaberei gegen Gott" (ebd.).11
Zur genaueren Interpretation dieser Stelle cf. u. S. 64 f.
ZWEITE HÄLFTE DAS ERBAULICHE
KAPITEL 2 DAS ERBAULICHE ALS BESTIMMUNG DER SUBJEKTIVITÄT a) „Ein Einzelner werden" Ist, wie oben skizziert, für das menschliche Gottesverhältnis als solches ein bewußtes Verhältnis zu sich selber unabdingbar12, so muß sich diese Verschränkung im Begriff des Erbaulichen wiederfinden lassen, ja, sie muß in diesem Begriff noch deutlicher zutage treten, wenn anders das Erbauliche eben dasjenige bezeichnet, was das Gottesverhältnis als ein menschliches, d. h. subjektiv angeeignetes qualifiziert. Und so notiert Kierkegaard auch ausdrücklich, daß Erbauung nur als Sich-Erbauen möglich ist, weil es ein Sich-Verstehen wesentlich einschließt. Das Erbauliche selber, d.h. das was erbaut, ist nur zu verstehen, wenn man sich selbst in dies Verständnis einbezieht, das bedeutet aber: sich selbst darin versteht.13 Was oben hinsichtlich des Gottesverhältnisses die „Aussonderung des Absoluten" hieß14, das erscheint hier als die für das Erbauliche konstitutive Vereinzelung: nur als Einzelner, als sich in ihrer konkreten Existenz verstehende und sie einbeziehende Subjektivität, kann ich erbaut werden. So ist Kierkegaards Appell streng aus dem Begriff gedacht: „. . . aber jeder Mensch ist doch wohl ein einzelner Mensch! Jeder Ernstere, . . . er sei sonst wer er wolle, . . . der jemals sich erbaut und Gott ihm nahe gefühlt, wird mir unbedingt Recht damit geben, daß es unmöglich ist, en masse zu erbauen oder erbaut zu werden, . . . Erbauung verhält sich noch bestimmter als Lieben zum Einzelnen. Der Einzelne . . . in dem Sinne, in welchem jeder Mensch, schlechthin jeder Mensch es sein kann und sein soll, er soll seine Ehre darein setzen, wird aber wahrlich auch seine Seligkeit darin finden, der Einzelne zu sein" (XIII 603).
Daß hierbei auf den Begriff des Einzelnen (aus der Schrift dieses Titels stammt das letzte Zitat) so großes Gewicht fällt, ist nicht aus seiner gewissermaßen faktischen Unreduzierbarkeit o. ä. zu verstehen; vielmehr 12
Cf. These 2 mit Erläuterung » Cf.XIOlf. 14 Cf. o. S. 21 f. Den geschichtsphilosophischen Aspekt dieses Begriffs beschreibt Anz, 1954, a.a.O., S. 211 f.; cf. auch Ders., a.a.O., S. 76
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Der Begriff „Erbaulich"
ist es gerade so, daß der Einzelne als solcher erst durch das Erbauliche zu sich kommt, sich neu und entschieden als er selber identifiziert. Das Erbauliche ist als das Medium gedacht, darin der Einzelne wesentlich er selbst wird, das einzelne Subjekt sich in seiner konkreten Subjektivität ergreift.15 Diese Konstitution des religiösen Selbstbewußtseins im Zuge seiner erbaulichen Vereinzelung erklärt sich aus der erbaulich intendierten bzw. im Erbaulichen liegenden Forderung, es streng und konkret auf sich selbst, den jeweils davon Angesprochenen in seiner Einmaligkeit, zu beziehen: ,,. . . denn man wird nie im Allgemeinen erbaut, ebensowenig wie ein Haus im Allgemeinen erbaut wird. Erst wenn das Wort gesagt wird von dem Rechten, unter den rechten Umständen, auf die rechte Art, erst dann hat die Aussage alles, was sie vermag, getan, den Einzelnen anzuleiten, daß er aufrichtig tue, was man sonst schnell genug ist zu tun: daß er alles auf sich beziehe" (IV 158).
Nun ist aber aufgrund der Exklusivität des Gottesgedankens16 diese Selbstbezüglichkeit in der Erbauung zunächst Negativität: das Subjekt wendet sich erbaulich gegen sich selbst, bzw. das Erbauliche ist das, was das Subjekt im Namen Gottes gegen sich selbst wendet. Diese religiöse negative Selbstbeziehung vereinzelt das Subjekt erst endgültig; hier ist es unausweichlich und mit letztgültiger Eindeutigkeit gemeint und betroffen: „Darum nimm dich in Acht, wenn du hinauf gehst zum Hause des Herrn; denn dort bekommst du die Wahrheit zu hören - zur Erbauung, ja, das ist freilich wahr, doch nimm dich in Acht vor dem Erbaulichen, es ist nichts so milde wie das Erbauliche, indes es ist auch nichts so herrschsüchtig; das Erbauliche ist weniger denn alles sonst ein unverbindliches Gerede, es gibt nichts, das dermaßen bindet. Und in Gottes Haus bekommst du die Wahrheit zu wissen - nicht vom Pastor, dessen Einfluß du dich leicht entziehen
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Auch H. Deuser betont zu Recht den polemischen Richtungssinn des Begriffs „der Einzelne" als dem Bestehenden jeweils erst noch entgegen zu setzende Instanz, cf. 1980, a.a.O., S. 112 u. 139. Nach Anderson, Kierkegaards Theorie der Mitteilung, ist es geradezu die Aufgabe von Erbauung, „Subjektivität hervorzubringen", cf. in „Materialien . . .", a.a.O., S. 441, 449; über die rhetorischen Eigentümlichkeiten der Gattung erbaulicher Rede, die daraus folgen, cf. ebd. S.449-453. s.o. S. 18
Das Erbauliche als Bestimmung der Subjektivität
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kannst und in gewissem Sinne auch entziehen sollst, sondern von Gott oder vor Gott. Eben dies ist der Wahrheit Ernst, ist die Wahrheit, daß du vor Gott sie zu wissen bekommst; das worauf es vor allem ankommt, ist dies ,vorGott'" ( 174)17.
Hier wird eindrücklich deutlich, wie durch die erbaulich entscheidende Bestimmung „vor Gott" letzter Ernst und d.h. persönliche Unvertretbarkeit und individuelles Betroffensein in das Selbstverhältnis kommt, so daß der Gottesgedanke das Selbst letztgültig und für es unüberholbar mit sich selbst konfrontiert. Eben das heißt, daß Ein-Einzelner-Werden ein Gewissensverhältnis ist bzw. umgekehrt, daß erst im (eo ipso religiösen) Gewissensverhältnis der Einzelne sich wirklich wird: „Es ist in Gottes Haus Einer zur Stelle, der es mit dir weiß: du, eben du, hast die Wahrheit zu wissen bekommen. Nimm dich in Acht vor diesem Mitwissen; von diesem Mitwissen kommst du nie los und zurück in die Unwissenheit, das will heißen, du kommst nicht ohne Schuld davon los, und du entschlüpfst auch nicht dem Bewußtsein von dieser Schuld" (ebd.)
und: „. . . es wäre umsonst, wenn du etwa sagtest, daß es dich nichts angehe, es wäre umsonst, wenn du wieder gehen wolltest: es ist dir gesagt worden, und Gott weiß es mit dir, daß es dir gesagt worden ist, daß du es gehört hast!" (a.a.O. 176).18
Diese Stellen aus den „Christlichen Reden 1848" führen den Begriff des Erbaulichen auf selber erbauliche Weise ein: sie sagen nur aus, was sie faktisch tun: den Zuhörer als Einzelnen vor sich zu bringen in unbedingtem Ernst, d.h. erbaulich. In dieser Tendenz, den Einzelnen als Einzelnen anzusprechen, d. h. ihn sich finden zu lassen, ist das Erbauliche schlechthin allgemein. Als Identitätsangebot knüpft es da an, worin ausnahmslos jeder Mensch sich
Zum Motiv des „vor Gott" Seins, s.u. S. 78f., 313 u. 379f. Dasselbe in der aus der Mystik kommenden Blick-Metapher (cf. auch das Motto dieser Arbeit sowie XI 180, zit. S. 79): „Im Gewissen hat Gott sein Auge auf mich gerichtet, und nun ist es mir unmöglich gemacht zu vergessen, daß dieses Auge auf mich sieht. Daß Gott auf mich sah, das machte, daß ich auf Gott sehen mußte und muß" (VIIIA 158, Tgb. II, S. 142).
Cf. auch III A 196, Tgb. I, S. 275 (Fragen-Hören). Es handelt sich hierbei um ein eminent spekulatives Motiv.
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Der Begriff „Erbaulich"
vorfindet: ein Verhältnis zu sich selber zu haben. Daß formelles Selbstbewußtsein sich vertiefe zum religiösen Bewußtsein der Einmaligkeit des je einzelnen und je eigenen Daseins als Gewissen vor Gott - das ist die Identifikationshilfe, die in der Erbauung liegt. So verstanden, geht sie den Menschen als Menschen an, d. h. jeden: „. . . so ist diese Rede eben darum erbaulich, weil sie sich an einen jeden Menschen wendet. . ." (IV 129)19.
Diese menschliche Universalität des Erbaulichen hat einen doppelten Aspekt; sie bezieht sich einmal auf eine letzte Gleichheit aller Menschen, und darin macht sie andererseits eine letzte Solidarität möglich. Beides ist kurz zu verdeutlichen. Kierkegaard macht das Erste an dem wesentlichen Entschluß klar, als Einzelner vor Gott das Gute zu wollen, worin die Erbauung münden kann: „Nun ist es freilich an dem, daß das Gute, das in Wahrheit Große und Edle für jeden wieder etwas anderes ist, aber der Entschluß . . . ist dennoch der gleiche. Dies ist ein recht erbaulicher Gedanke . . . jedoch welch eine Gleichheit im Augenblick des Entschlusses . . . Der gute Entschluß, welcher der Erkenntnis des Guten gemäß ist, ist ja, alles tun zu wollen, was in eines Macht steht. . . Alles tun, was einer vermag, welch eine selige Gleichheit; denn das vermag ja ein jeder Mensch"(V 136).
Diese letzte Gleichheit relativiert unendlich alle irdisch-gegebenen Verschiedenheiten. Hier wird eine wesentliche Funktion des Erbaulichen erkennbar: „Im vergänglichen Augenblick muß ich so gut sein, die Unterscheidung zu respektieren und mich ihr zu fügen; es ist mir jedoch erlaubt, mich religiös zu erbauen an der Gewißheit, daß in der Ewigkeit die Unterscheidungen schwinden, sowohl die, welche mich auszeichnet, als auch die, welche mich niederdrückt. Als Untertan muß ich dem König Ehre und Gehorsam erweisen mit ungeteilter Seele, es ist mir jedoch erlaubt, mich religiös zu erbauen an dem Gedanken, daß ich, aufs Wesentliche gesehen, Bürger im Himmel bin" (XI 101).
Cf. auch das o. S. 27 angeführte Zitat aus XIII 603 sowie XIII 601. An der Stelle IX 340 heißt es: „Eben deshalb ist es erbaulich, über die Liebe zu sprechen, weil man beständig bedenken und zu sich selbst sagen muß: Das kann jeder, oder das sollte jeder können .. ."
Das Erbauliche als Bestimmung der Subjektivität
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Sich erbaulich auf Gott beziehen, heißt also nicht nur, sich als endliches Selbst zu überschreiten, sondern Endlichkeit überhaupt zu transzendieren in Richtung auf schlechthinnige Allgemeinheit, in der alle bestimmten Differenzen aufgehoben sind. Als Einzelner zu existieren, heißt offenbar, allen Unterschieden im Irdischen mit der Freiheit dessen gegenüber zu stehen, der einer ewigen Gleichheit vergewissert ist. Das Erbauliche ist, durch Negation eigener Endlichkeit hindurch Freiheit in Gott zu finden. Deswegen ist Angst vor diesem unendlichen Schritt der Erbauung Sünde gegen letzte religiöse Freiheit: „Es ist Befleckung, wenn der Geringe derart vor seinem Elend erschrickt, daß er nicht den Mut hat, sich durch das Christentum erbauen zu lassen; aber es ist auch Befleckung, wenn der Vornehme sich derart in seine Vornehmheit einhüllt, daß er davor erschrickt, durch das Christentum erbaut zu werden; und auch das ist Befleckung, wenn jemand, dessen Verschiedenheit darin besteht, daß er so ist wie die Leute meist, niemals in christlicher Erhebung aus dieser Verschiedenheit herauskommt" (IX 75).
Die religiöse Gleichheit aller vor Gott kommt dialektisch gerade zustande durch die Gleichheit darin, in der Erbauung ein Einzelner zu werden. Das Erbauliche ist die Allgemeinheit des Persönlichen. Als solches stellt es jede erbauliche Rede vor die Aufgabe, alle auffälligen Unterschiede aufhebende Gleichheit und individuelle Selbstkonkretion zu vermitteln: „Denn daß die Rede deutlich ist, was heißt dies andres, als daß sie doch jemand angeht, daß sie doch irgend einem Menschen zur Erbauung redet. Nun verhält es sich freilich so, daß die besorgte Wahrheit der Vermahnung sich eben an den Einzelnen in einer besonderen Lebenslage wendet; die Rede aber muß sich doch wohl hüten, die Erbauung durch das Zufällige bedingt sein zu lassen, wohl davor hüten durch Eifer für das Zufällige in Streit und Widerspruch zu geraten mit dem, was ansonst erbaulich ist; denn alsdann ist die Erbauung unwahr und lediglich eine ungesunde Vergnügung vermöge eines Vorzugs oder eines mißverstandenen Wunsches, der töricht danach begehrt" (IV 128 f.).20
Ewige Gleichheit vor Gott erfahrbar zu machen, das ist eine Funktion des Erbaulichen, und dies geschieht gerade durch existentielle Vereinzelung:
Im Kontext am Verhältnis zu Jugend und Alter vedeutlicht.
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Der Begriff „Erbaulich" „. . . findet jede erbauliche Betrachtung des Lebens erst ihre Ruhestatt oder wird erst erbaulich mit und in der göttlichen Gleichheit, welche die Seele für das Vollkommene erschließt und das sinnliche Auge für die Verschiedenheit blind macht. . . . . . in einer jeden erbaulichen Betrachtung des Lebens erhebt sich in der Seele eines Menschen der Gedanke, der ihm hilft den guten Kampf zu kämpfen mit Fleisch und Blut, . . . und in diesem Kampf sich selbst frei zu machen zur Gleichheit vor Gott,. . . Allein dann ist die Gleichheit das göttliche Gesetz, . . . der Kampf Wahrheit,. . . hat der Sieg Gültigkeit, wenn der Einzelne kämpft für sich selbst mit sich selbst in sich selbst, und nicht unzeitig sich vermißt der ganzen Welt zur Gleichheit im Äußerlichen verhelfen zu wollen ..." (IV 40).
In diesen Sätzen ist der im Begriff des Erbaulichen liegende Zusammenhang von Negativität (Kampf), Selbstbezüglichkeit (für sich selbst mit sich selbst in sich selbst), ein Einzelner sein, Freiheit und Gleichheit vor Gott komprimiert dargestellt. Eben in Kraft dieser wesentlichen Gleichheit ist - das ist das zweite hier Festzuhaltende - eine Solidarität im Erbaulichen möglich, die auch die Einsamkeit eines tief Leidenden noch umgreift: „O, ohne Vertraulichkeit bist du doch nicht, falls du das nicht selbst verschulden willst; sie wird dir geboten, die höchste Vertraulichkeit und die des Höchsten. Und du bist auch nicht ohne die Teilnahme des Menschen. Es gibt ein gemeinsames menschliches Anliegen, welches Erbauung heißt, es ist nicht dergestalt gemeinsam wie die Vorhaben, bei denen die Menge tost und lärmt, denn jeder Teilnehmer ist wesentlich mit sich selbst allein, dennoch ist es im höchsten und umfassendsten Sinne ein gemeinsames menschliches Anliegen. Die erbauliche Betrachtung findet nicht Ruhe, ehe sie dich verstanden hat" (VIII 202). Von dieser wahren Allgemeinheit des Erbaulichen, die streng auf Existenzverinnerlichung bezogen bleibt und nicht Gleichheit im Äußerlichen sucht (cf. IV 40, o. zitiert), ist polemisch zu unterscheiden eine schlechte erbauliche Allgemeinheit, die es ins Objektiv-Gültige und Unpersönliche verkehrt: „. . . und er will daher getröstet werden durch einen Sinnentrug, dadurch, daß viele derselben Meinung sind, . . . und dadurch erbaut werden, daß er das Welthistorische seinem bißchen Wirklichkeit hinzufügt. . ."(VII 455). Als witzige Satire auf eine derart falsch-allgemeine „Erbaulichkeit" in existentieller Selbstvergessenheit gibt Kierkegaard im sechsten seiner
Das Erbauliche als Bestimmung der Subjektivität
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„Vorworte" das ironische Programm einer solchen „Erbauungsschrift für Gebildete" mit „systematischer Tendenz". Aus der Karikatur lassen sich alle wichtigen Begriffsbestimmungen für das wahre Erbauliche e contrario ablesen: „Dem Gebildeten hingegen ist es wahrlich zu wenig, mit einem einzelnen Menschen zu tun zu haben, selbst dann, wenn dieser Mensch er selber wäre. Er will nicht gestört werden, wenn er sich erbauen soll, nicht erinnert werden an all das Kleinliche, die einzelnen Menschen, sich selbst; denn all das vergessen ist gerade die Erbauung. In gegenwärtiger Schrift ist Gegenstand der Betrachtung das Leben der Gemeinde, die großartige Bestimmung des Systems, das reine Menschliche, welches alles den Menschen nicht verführt, an sich selbst zu denken, oder irgendetwas zu vollbringen, sondern lediglich ihn erbaut, indem er es nachdenkt. Es ist hier wiederum das Ganze, zu dem sie hinstrebt" (V 37).
Der hier in ironischer Polemik enthaltene Vorwurf Kierkegaards ist vor allem der der Entwirklichung. Wahre Erbauung darf die Wirklichkeit, und d. h. der konkreten Existenz je meiner selbst als eines Einzelnen vor Gott, der sein Leben selbst zu verantworten und auch „etwas zu vollbringen" hat, nicht überspringen. Sondern die erbauliche Wahrheit, die den Menschen freilich von allem „Kleinlichen" weg und auf das Wesentliche und Göttliche, auf seine ewige Bedeutung hinleiten will, hat das Maß ihrer Vollmacht darin, wieweit sie gerade den Einzelnen in seiner individuellen Situation mit dem Ewigen zu vermitteln weiß. Die wahrhafte Allgemeinheit des Göttlichen erweist sich eben daran, daß sie den Einzelnen als solchen ernst zu nehmen gestattet und fordert. Nicht ein Von-sichnicht-lassen-Können, das sich auch religiös nur in seiner zufälligen Subjektivität bebrütet, sondern der Wirklichkeitsernst, sich selbst vom Ewigen betreffen zu lassen, das ist wahre Erbauung. Im Zusammenhang des zitierten Textes werden als Merkmale echt erbaulicher Darstellung im Kontrast zu jener Satire erwähnt: die Erweckung einer „ernstlicheren Selbstprüfung" des Einzelnen und einer „tieferen Sorge um sich selbst und für sich selbst", also das Ernstnehmen dessen, daß dies ihn selber angeht.21 Auf die kürzeste Formel gebracht: das Gegenteil schlechter, weil am einzelnen Selbst unernst vorbei auf leere Allgemeinheiten gehender Erbaulichkeit ist die A n e i g n u n g . 2 2 Cf. a.a.O., 36 f. Zu diesem zentral wichtigen Begriff s. den Teil II, u. S. 99 ff.
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Der Begriff „Erbaulich"
Die Kritik an schlechter Allgemeinheit im Erbaulichen macht noch einmal auf die Bedingung seiner wahren aufmerksam, auf die unerläßliche Vollzugsbestimmung: für dich. Bereits die erste veröffentlichte Predigt Kierkegaards am Schluß von „Entweder-Oder"23, die sogleich das Erbauliche thematisiert24, schließt mit dem gewichtigen Satz: „denn allein die Wahrheit, die da erbaut, ist für dich Wahrheit" (II 318).
Hier wird offenbar behauptet, daß Wahrheit nur dann Wahrheit ist, wenn sie persönliche Bedeutung für einen hat: was nicht „für dich" Wahrheit sein kann, wäre gleichgültig. Wahrheit ist, was als solche nach dem Subjekt greift, für das sie ist. Und eben diese Aneignung der Wahrheit als persönlich bedeutsam vermittelt das Erbauliche. Wahrheit, die erbaut - das ist Wahrheit in ihrer wesentlichen Funktion: den je Einzelnen als solchen zu betreffen. Wo Wahrheit erbaulich ist, da vollendet sie sich, wird Wahrheit „für dich".25 „Erbauen" hat hier zunächst - d. h. abgesehen vom konkreten Zusammenhang der Predigt - die nur formale Bedeutung: subjektiv verändernd zu wirken (wie die Predigt ausführt: durch Selbstkritik hin zu Selbstfindung in Gott, dazu s.u.), in Richtung auf wesentliches Selbstsein. Nur an ihrem wirklichen Sichdurchsetzen bei dem Subjekt, dem sie gilt bzw. an dessen Sich-ihr-Hingeben, d. h. Verändertwerden, bemißt sich die erbauliche Macht der Wahrheit und zugleich an dem Ernst ihrer subjektiven Bedeutsamkeit (des „für dich") die Wesentlichkeit dieser Subjektivität: Wahrheit ist sie selber erst als subjektiv ergriffen, und Subjektivität kommt wesentlich zu sich im SichBetreffenlassen (Erbautwerden) von Wahrheit.26 In diesem Sinne kommentiert die „Abschl. Unw. Nachschr." den eben zitierten Satz: 21
II 306 ff.
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Zu ihr u. S. 46 ff. Näheres. Im Jahre 1847 erkennt Kierkegaard überrascht sein wesentliches Anliegen bei Luther wieder:
25
„Seltsam. Die Kategorie ,für dich' (die Subjektivität, die Innerlichkeit), womit .Entweder/Oder' schloß (,nur die Wahrheit, die erbaut, ist Wahrheit für dich'), ist gerade die Luthers. Ich habe eigentlich niemals etwas von Luther gelesen. Aber wo ich jetzt seine Postille aufschlage - gleich im Evangelium am l. Sonntag im Advent sagt er ,für dich', das sei es, worauf es ankommt. . ." (VIII A 465, Tgb. II, S. 190).
26
Über Kierkegaards Verhältnis zu Luther cf. auch Teil II Anm. 59 (zu S. 131) und 128 (zu S. 167). Im Ernst des selbsttätigen Aufsichbeziehens erst kommt das „für dich" bzw. das persönlich treffende „Du" zur Geltung, cf. VIII 216.
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"Dies ist eine wesentliche nähere Bestimmung der Wahrheit als Innerlichkeit, durch die deren entscheidende Bestimmung als erbaulich „ f ü r d i c h " , d.h. für das Subjekt, deren wesentlicher Unterschied von allem objektiven Wissen ist, indem die Subjektivität selbst das Kennzeichen der Wahrheitwird"(VII213).
Was wesentliche Wahrheit von allem bloß objektiven, d. h. gegen subjektive Aneignung gleichgültigen Wissen unterscheidet, ist eben die Bestimmung: „erbaulich für dich", was eigentlich ein Hendiadyoin ist. Denn Sich-Erbauen heißt eben, ernstlich „für mich" gelten zu lassen, und das „für mich" ist wirksam nur, wo es erbaulich-verändernd eingreift. Das Zitat steht im Zusammenhang der These der „Nachschrift": die Subjektivität ist die Wahrheit.27 Die Wendung hier: „Wahrheit als Innerlichkeit" besagt dabei, daß Wahrheit w i r k l i c h e Wahrheit nur ist als innerlich angeeignete, d.h. da, wo sie in den eigenen Existenzvollzug relevant eingreift. Subjektivität ist „das Kennzeichen der Wahrheit", insofern sie wirkliche, subjektiv wirksam sich zu eigen gemachte Wahrheit ist, die existenzbestimmend wird. Der Kommentar der Nachschrift verweist in diesem Zusammenhang auf das Beispiel des Ethikers B im zweiten Teil von „Entweder-Oder", um zu zeigen, wie in dieser Subjektivität der Wahrheit allererst die Wahrheit der Subjektivität hervortritt: B hat verzweifelt und sich selbst gewählt, er wird sich selbst offenbar und gewinnt die Möglichkeit einer persönlichen Geschichte: „Statt einer Welt von Möglichkeit... ist ein Individuum geworden - und nur die Wahrheit, die erbaut, ist Wahrheit für dich, d. h. die Wahrheit ist die Innerlichkeit, wohlgemerkt Existenzinnerlichkeit, hier in ethischer Bestimmung" (VII 214).
Aneignung erbauender Wahrheit bringt einen ganz einzelnen Menschen hervor, der kraft des Ethischen existiert (cf. ebd.)28
Cf. VII 157 ff. und in dieser Arbeit u. S. 131 f., 312 ff. u. 328 ff. Das Notabene „Existenzinnerlichkeit" verwahrt sich gegen ein abstrakt-gefühliges Mißverständnis; die Betonung des hier (nur) ethischen Charakters weist indirekt auf spezifisch religiöse Existenzweisen hin. Die Struktur des Erbaulichen bleibt davon grundsätzlich unberührt; cf. dazu u. Kap. 5, S. 85 ff.
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Der Begriff „Erbaulich"
b) Die Selbsttätigkeit In der bisherigen Darstellung ist indirekt immer schon von einem Wesensmerkmal des Begriffs „erbaulich" die Rede gewesen, das es nun ausdrücklich zu betrachten gilt: daß Erbauung bedingt ist durch die Selbsttätigkeit des sich erbauen lassenden Subjekts. „. . . wie es eine Macht der Rede geben soll, die nahezu Wunder zu tun vermag, so gibt es auch eine Macht des Zuhörers, die Wunder zu tun vermag, falls er so will. Solch ein Zuhörer ist der ernste; er sagt „ich will mich erbauen", und siehe, er wird erbaut. Aber der Ernst liegt in einem Entschluß" (V 220).
Über die wichtige prinzipielle Bedeutung dieser Konstruktivität für Kierkegaards Verständnis des religiösen Aktes überhaupt wird unten zum Begriff „Aneignung" ausführlicher zu reden sein.29 Hier gilt es allein zu sehen, wie religiöse Konstruktivität den Begriff des Erbaulichen mitbestimmt. Mitgemeint war sie bereits in der Darstellung des Gottesverhältnisses: das zur Geltung Bringen der göttlichen Positivität durch Selbstnegation ist ihr zuzurechnen. Daß das Subjekt gleichsam gegen sich „arbeitet", um Gott sein zu „lassen", das kann es nur sich selbst zuschreiben, zumindest als tatsächlichen Vollzug. Insofern ist subjektive Konstruktivität konsumtiv für Erbauung. Eben dergestalt kann sie allein wirklich, d.h. Selbsterbauung sein.30 Auch die von uns oben hervorgehobene und dort zunächst auf das Negationsmoment im Erbaulichen zurückgeführte wesentliche Vereinzelung durch das Erbauliche läßt sich im Zusammenhang dieser Selbsttätigkeit erst ganz verstehen. Daß Subjektivität konstitutiv für das Erbauliche ist, bringt sich entscheidend darin zur Wirklichkeit, daß sie dabei konstruktiv ist. Offenbar kann Subjektivität sich ganz erst als selbsttätig identifizieren. Erbaut werden kann nur der Einzelne, weil eben dieser als Subjekt seiner Tätigkeit unvertretbar er 29
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s. u. S. 102 ff. Den Begriff „Selbstwirksamkeit" oder Selbsttätigkeit hat Kierkegaard nach A. Paulsens allgemeinem Hinweis von seinem verehrten Lehrer P. M. Moller übernommen (cf. a.a.O., S. 54). Gleichwohl ist sein historischer und systematischer Ursprung in der deutschen idealistischen Philosophie unverkennbar, cf. u. S. 102 und Anm. 3. Der Sache nach ist schon 1837 vom pädagogischen Erwecken zur Selbsttätigkeit die Rede in Papirer II A 12, a.a.O., S. 9-19, bes. 12 u. 14. s.o. S. 27f.
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selbst ist. Sich selbst zu erbauen - das kann tatsächlich nur so gelingen, daß dieses Selbst auch die Bedingungen (mit) setzt, die garantieren, daß die Erbauung seine eigene wird. Auf diese konstitutive Bedingung für Erbauung, die eigene Aktivität des betroffenen Subjektes, lassen sich eine Reihe von Merkmalen zurückführen, die Kierkegaard für das Erbauliche in Anspruch nimmt. Zunächst einmal liegt in dieser wesentlichen „Macht des Zuhörers" doch eine Selbstbegrenzung aller erbauenden Aktivität, die auf einen Ändern geht, z. B. der religiösen Rede.31 Ihre Intention kann niemals werden, die eigentliche Entscheidung über sich dem Zuhörer abzunehmen. Nur wenn sie wesentlich f r a g e n d und mahnend bleibt, respektiert sie dessen Eigensein, d. .h. Selbsttätigkeit: „Die Rede fragt dich dann, oder du fragst dich selbst durch die Rede, ob du nun derart lebst. . . Die Rede ist nicht so vermessen, richten zu wollen. O, weit entfernt: sie richtet niemanden; . . . ziemt es sich wohl für eine erbauliche Rede, sich nur in Ehrerbietung an den Leidenden zu wenden . . ." (VIII 235)."
Jedoch ist diese Beschränkung der erbaulichen Rede auf die Frage an den Zuhörer keine Abschwächung ihrer eigentlichen Macht, sondern deren stärkste Ausübung, sofern sie diesen nämlich als den Verantwortlichen anspricht und ihn auf diese Verantwortung für sich vor Gott festlegt: „Denn menschliche Teilnahme, ob sie dich auch noch so fleißig fragte, kann die Unverändertheit des Leidens durch die Frage nicht verändern; wofern du jedoch die Frage der Ewigkeit in Wahrheit dir selbst vor Gott stellst, so enthält die Frage schon die Möglichkeit der Veränderung. Doch ich spreche ja beinahe wie zur Erbauung, die Rede nimmt gleichsam ehrerbietig Anstand, die Frage geltend zu machen; aber du weißt selbst am besten: falls du die Frage stellst, ist es die der Rechenschaft: ob du nun dergestalt lebst?" (VIII 237).
Denkt man diese Aussagen mit den oben angeführten über das Mitwissen Gottes zusammen33, so wird noch einmal deutlich, wie unauflöslich bindend der Anspruch des Erbaulichen gerade darin ist, daß er sich „fra31
32 33
Über erbauliche Redeform in Abgrenzung zu informativer, argumentierender oder persuasiver Rede cf. Andersons rhetorische Untersuchung: Kierkegaards Theorie der Mitteilung, in „Materialien . . .", a.a.O., S. 437ff., bes. 441-444. Cf. a.a.O. 206 Cf. o. S. 28 f.
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Der Begriff „Erbaulich"
gend" an die Selbstverantwortlichkeit des einzelnen Subjektes wendet.34 Fällt ein solches Gewicht auf dessen eigene aktive Beteiligung, so wird auch verständlich, daß der Anlaß zur Erbauung relativ gleichgültig ist. Wem es ernst damit ist, d. h. wer sich selbst richtig darin versteht, daß es um ihn selber geht und daher auf ihn selber wesentlich ankommt, der kann sich letztlich an allem erbauen - sogar an einer schlechten Predigt. Von ihr heißt es, sie sei „. . . nur dienlich als ein Fegefeuer, wo das Individuum sich selbst dazu erzieht, sich im Hause Gottes an allem erbauen zu können" (VII 378 Fn.).35
Ja, es ist Bedingung jeder wahren Erbauung, daß das Subjekt zwischen deren Anlaß bzw. Vermittler - z. B. dem Prediger - und der darin sich ihm anbietenden Wahrheit selbst zu unterscheiden wagt. Denn nur durch solche Unterscheidung ist ewige Wahrheit irgend für ihn und kann er sich in letzter Betroffenheit vor Gott finden. Insofern ist der Vollzug dieser Unterscheidung geradezu religiöse Pflicht.36 Und letztlich ist es auch Pflicht, sich durch nichts von der Erbauung abhalten zu lassen, da sie eben in das eigene Können gestellt ist: „Wenn man einen ästhetisierenden religiösen Vortrag in einer Kirche hört, hat man natürlich die Pflicht, erbaut zu werden, ob Se. Hochwürden auch noch so verrücktes Zeug quatscht" (VII 424 Fn.).
Und eben weil dies religiöse Pflicht ist, reicht die „Macht des Zuhörens" auch dort noch hin, wo an sich das Gegenteil des Erbaulichen ist: in die Sphäre objektiven Wissens. „Und doch kann ja auch das Wissen und die Mitteilung des Wissens erbaulich sein; ist es das aber, dann deshalb, weil Liebe zugegen ist" (IX 206).
Was hier mit „Liebe" bezeichnet ist, nimmt das Vorwort der „Krankheit zum Tode" mit dem Ausdruck des „Besorgtseins" wieder auf. Kierkegaard betont, daß sich seiner Meinung nach streng wissenschaftliche Erörterung und Erbaulichkeit nicht grundsätzlich ausschließen müssen (cf. XI 117). Dann heißt es: 34
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Auch in einer der „Christlichen Reden" von 1848 ist hervorgehoben, daß sie sogar in Abwandlung des Skopus ihres Bibeltextes - „alle Gedanken auf die Selbsttätigkeit" sammeln wolle, cf. X 220. Cf. auch V 220, zit. o. S. 36. Cf. X174, zit. o. S. 28 f.
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„Christlich müssen nämlich alle, alle Dinge zur Erbauung dienen. Die Art von Wissenschaftlichkeit, die nicht letztlich erbaulich ist, ist eben damit unchristlich. Alles Christliche muß in der Darstellung Ähnlichkeit haben mit dem Vortrag eines Arztes am Krankenbett. . . Diese Beziehung des Christlichen zum Leben . . . oder diese ethische Seite des Christlichen ist eben das Erbauliche" (ebd.).
Eben damit ist der Unterschied zu einer menschlich-gleichgültigen Wissenschaftlichkeit angesprochen: „Alles christliche Erkennen, wie streng seine Form im übrigen auch sei, muß besorgt sein; diese Besorgnis aber ist eben das Erbauliche. Die Besorgnis ist die Beziehung zum Leben, zur Wirklichkeit des Persönlichen und somit, christlich: der Ernst; . . . Aber der Ernst ist wiederum das Erbauliche"(ebd.).
Gehen diese Äußerungen mehr auf die erbauliche Form in der „Mitteilung des Wissens", die liebevoll besorgt sein muß in nüchternem Existenzernst, um als christlich gelten zu können, so dürften sie wohl ebensosehr auf die rechte Aneignung des Wissens übertragen werden können. Diese wäre erbaulich, Wissen würde erbaulich, ließe es nicht die Besorgnis des Einzelnen um sich selbst in seinem Sein vor Gott außer Acht. In religiösem Ernst sich zu eigen gemachtes Wissen verlöre seine unmenschliche Gleichgültigkeit und vermöchte als streng-objektives gleichwohl erbaulich zu sein. Bereits das vorletzte Zitat enthielt Kierkegaards umfassendsten und konkretesten Ausdruck für die Selbsttätigkeit, die subjektive conditio sine qua non des Erbaulichen ist. Diese Konstruktivität ist wesentlich Liebe. 3 7 Ist das Gottesverhältnis aber als Liebe bestimmt, so zeigt sich, daß die erbauliche Konstruktivität nicht völlig freies Aussichheraussetzen ins Leere hinein ist, sondern eher so etwas wie ein Entsprechen, Antworten, Reagieren. Liebe ist freies Einstimmen in ein Sich-Ziehen-Lassen zum Geliebten bzw. vom Geliebten, ist freies Sichhingeben an das Geliebte, dessen Wen als die Liebe auslösend, freisetzend gilt. D.h. die hier gemeinte Selbsttätigkeit ist liebendes Begehren, Wünschen, Verlangen Aktivitäten, die von dem her sich bestimmt erfahren, darauf sie sich richten. Damit ist aber zugleich gesagt, daß Liebe nicht ohne den Wunsch gedacht werden kann, das Geliebte als liebenswert bzw. als immer lie57
Cf. über die Konstruktivität der Liebe die Tagebuchnotiz IX A 438, zit. u. S. 111.
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Ringleben: Aneignung. TBT 40
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Der Begriff „Erbaulich"
benswerter zu wissen. Je größer die Liebe, desto größeren Wert hat für sie das Geliebte. Ihr Verlangen nach dem Geliebten schließt in sich das Verlangen, es das Liebenswerteste sein zu lassen. Und dieser Wunsch sieht sich gestillt in dem Maße, wie der Liebende seinen Wertabstand zum Geliebten erfährt. Das belege hier eine späte Tagebuchaufzeichnung Kierkegaards (1850) unter der Überschrift: „Das Ideal": „Jeder Fortschritt auf das Ideal hin ist ein Rückschritt; denn der Fortschritt besteht ja eben darin, daß ich eindringlicher die Vollkommenheit des Ideals entdecke - und also ist mein Abstand von ihm größer. - Selbstisch kann man das Ideal nicht lieben; denn dann würde der Fortschritt mich nur freuen, falls ich dem Ideal u n m i t t e l b a r näherkäme, ja in gewissem Sinne müßte ich dann ja wünschen, daß das Ideal nicht allzu vollkommen wäre, oder daß ich nicht zu viel von seiner Vollkommenheit erführe - damit ich es dann besser erreichen könnte. - Das Ideal in Wahrheit lieben (so daß also der Fortschritt Rückschritt ist, oder daß jeder Fortschritt einen Rückschritt aus Ehrfurcht bedeutet, weil ich die Erhabenheit des Ideals noch vollkommener sehe), heißt deshalb gleichsam, sich selber hassen" (X3 A 509, Tgb. IV, S. 237).38
Bekanntlich meint der späte Kierkegaard mit dem „Ideal" das des Glaubens: Christus. Je liebenswerter er das Geliebte, desto unwürdiger erlebt er sich selbst: „. . . der erste Ausdruck einer wahren und tiefen Verliebtheit [ist] das Gefühl der eigenen Unwürdigkeit. . ." (VIII A 675, Tgb. II, S. 243).
So wird der Wunsch, selber sich als des Geliebten unwürdig zu erfahren, Ausdruck des Wunsches, das Geliebte als höchstes Gut dieser Liebe zu sehen. Die liebende Selbsttätigkeit, die das Geliebte steigert, richtet sich notwendig zugleich gegen sich, um das wirklich zu können. „Höchster Ausdruck der Verliebtheit ist, daß der Liebende sich als ein Nichts empfindet der Geliebten gegenüber, und umgekehrt ebenso, denn sich als etwas fühlen, streitet wider die Verliebtheit" (VI 110).
Dies wird ihr legitime Erfahrung der Stärke in ihrer Liebe, diese Selbstnegation das Maß von deren Positivität: „Warum hattest du den Wunsch, Unrecht zu haben gegen einen Menschen? weil du liebtest; warum fandest du es erbaulich? weil du liebtest" ( 314).39 38
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Cf. X3 A 525, Tgb. IV, S. 238 f. Cf. a.a.O. 313
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Die grundlegende Predigt über das Erbauliche aus „Entweder-Oder II", aus der diese Worte stammen, betont in diesem Sinne immer wieder, daß der Wunsch, gegen das Geliebte Unrecht zu haben, daß die sich gegen sich richtende Selbsttätigkeit Ausdruck wahrer Liebe sei, und zwar zu einem Menschen und zu Gott. „Ist es für einen Sohn entsetzlich, recht zu haben gegen seinen Vater, ist es ein erbaulicher Gedanke, daß ein Sohn i m m e r unrecht hat gegen seinen Vater: o, dann ist es auch selig, daß es unmöglich gemacht ist, daran zu zweifeln, daß Gott Liebe ist" (VIII 357).
Dies ist die Freiheit in der Liebe, das Geliebte ihr alles sein zu lassen und sich selbst ganz zurückzunehmen. Und das Maß der Freiwilligkeit dabei ist das Maß für die Unbedingtheit dieser Liebe. Wer erst durch Gründe bezwungen, Gott gegen sich Recht geben muß, der liebt ihn nicht. Die Liebe würde solcher zwingenden Überführung immer schon zuvorkommen, und das ist die Selbsttätigkeit, in der sie ihrer selbst gewiß ist: „. . . du warst nicht gezwungen, denn wo du in Liebe bist, da bist du in Freiheit. . . vielmehr von dem einzigen und höchsten Wunsch der Liebe her, daß du allezeit Unrecht haben mögest, bist du gelangt zu der Erkenntnis, daß Gott allezeit Recht hat. Dieser Wunsch aber ist der Liebe und somit der Freiheit Sache . . ." (II 314).
Und nur so kann es erbaulich sein: als zustande gekommen durch das eigene liebende Wollen: „. . . wir haben ja gesagt, der Grund, weshalb . . . es sich . . . erweisen könne . . . als erbaulich, sei der, daß man . . . begehre zu erkennen . . ." (II 314).
Und gleichwohl erfährt sich diese Konstruktivität nicht als selbstherrlich, sondern gerade von ihrem Ziel her bestimmt. Die Freiheit der Liebe hat ihren (inneren, d.h. in Freiheit ergriffenen) Halt darin, daß sie nicht anders kann, als das Geliebte zu lieben und lieben zu wollen. Ihr eigenes Tun ruht darin auf, daß es sich ganz vom Geliebten her versteht: „. . . das ist das Sehnen, mit dem er Gott sucht, das ist die Liebe, in der er Gott findet" (cf. II 317).
Das Suchen erfährt sich selbst vom Gesuchten her, das lieben Wollen als lieben Müssen, das freie Tun als wirkliches Finden. Dies gilt in eminentem Sinne vom Gottesverhältnis, insofern es erbaulich ist. Gerade die
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Der Begriff „Erbaulich"
subjektive Freiheit im Sich-Aneignen überwindet die Distanz zu Gott40, und gerade im eigenen Wunsch, ihm sein unendliches Recht gegen einen einzuräumen, erfüllt sich die Liebe zu ihm: „denn du kannst freilich gezwungen werden zu erkennen, daß Gott allezeit Recht hat; dazu jedoch, daß du die Anwendung auf dich selber machst, daß du diese Erkenntnis in dein ganzes Wesen aufnimmst, dazu . . . n i c h t . . . Es liegt nichts Erbauliches darin zu erkennen, daß Gott allezeit Recht hat. . . Wenn du [dies] erkennst. . . stehst du außerhalb Gottes, und ebenso denn auch, wenn du als eine Folge hiervon erkennst, daß du allezeit Unrecht hast. Dahingegen, wenn du, ohne daß eine vorhergehende Erkenntnis dich dazu bestimmt, es verlangst und dessen gewiß bist, daß du allezeit Unrecht hast, so bist du in Gott geborgen. Dies ist deine Anbetung, deine Andacht, deine Gottesfurcht" (II 315).
Es ist das Geheimnis des Erbaulichen, daß die es ermöglichende Konstruktivität gleichwohl außer sich zur Ruhe kommt. Diese Konstruktivität ist - religiös - Liebe, indem das Subjekt sich gegen sich wendet, um Gott alles sein zu lassen - auch bei sich. Dieser Zusammenhang potenziert sich, wo der Glaube an Gottes Gegenliebe in ihn eintritt. Erst dann - christlich - steigert sich die erbauliche Wendung gegen sich dazu, ihn den sein zu lassen, der mich unendlich viel mehr liebt als ich ihn und dem gegenüber mein Lieben nur im Anerkennen des ihn nicht genug lieben Könnens sowie im mich ganz von ihm lieben Lassen sich ausdrücken kann. Die eben schon angeführte Tagebuchstelle gibt dem eine gesammelte Formulierung: „Wie der erste Ausdruck einer wahren und tiefen Verliebtheit das Gefühl der eigenen Unwürdigkeit ist, ebenso ist das Verlangen nach der Vergebung der Sünden das Kennzeichen dafür, daß man Gott liebt. . . Die Innerlichkeit des Sündenbewußtseins ist eben die Leidenschaft der Liebe. Denn das Gesetz macht einen zwar zum Sünder - aber die [geoffenbarte göttliche] Liebe macht einen zum weit größeren Sünder; zwar kann einer, welcher Gott fürchtet und zittert, sich als Sünder fühlen, aber einer, der in Wahrheit liebt, fühlt sich als noch größerer Sünder" (VIII A 675).
Dies ist das christlich potenzierte Erbauliche: sich als Sünder zu fühlen, weil im Unrecht nicht bloß gegen Gott überhaupt, sondern gegen seine Liebe. Zugleich ist dies Bewußtsein - erbaulicher - Ausdruck der christlichen Liebe zu Gott und eigentümlich geborgen in dieser Verschärfung: 40
Das „Außerhalb", s. o. S. 23 f.
Das Erbauliche als Bestimmung der Subjektivität
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„Und ist es denn nicht deine Seligkeit gewesen, daß du niemals hast lieben können so, wie du geliebt wardst?" (II 315).
Es leuchtet ein, daß aufgrund dieser Zusammenhänge, weil sie eben konkret L i e b e ist, jene Selbsttätigkeit nicht bloße Willkür ist: „. . . das Erbauliche, . . . was, obgleich es der Subjektivität angehört, doch nicht das Willkürliche ist, so wenig wie die Liebe und das Lieben . . ."(VII 489).
Denn Liebe weiß, was sie will und weiß sich begründet in dem, was sie liebt. Derart hat Liebe als Vollzug von Freiheit in sich eine Gewißheit, die ineins Gewißheit ihrer selbst als Freiheit und ihrer Abhängigkeit von ihrem Gegenstande, d.h. Gewißheit ihres Gegenstandes ist: „Dieser Wunsch aber [vor Gott Unrecht zu haben] ist der Liebe und somit der Freiheit Sache,. . . die Gewißheit hat darin gelegen, daß du dadurch erbaut wurdest. . . hätte diese Gewißheit ihren Ursprung nicht in deinem ganzen Wesen, das heißt in der Liebe, die du in dir trägst. . ." (II 314).
Man darf also formulieren: das Erbauliche ist die Selbstgewißheit der Freiheit, die Gottesliebe ist. Eben weil die Erbauung in Selbsttätigkeit bedingt ist, ist sie ihrer auch gewiß. Und zugleich: eben weil diese Selbsttätigkeit es mit Gott zu tun hat, ist ihre Gewißheit von sich auch erbaulich. Damit ist wiederum gesagt, daß das Maß der Erbaulichkeit die Sichdurchsichtigkeit des Subjektes ist41, was noch einmal anders eine Willkürlichkeit religiöser Konstruktivität ausschließt. Dies möge ein längeres Zitat belegen, das den Satz: „Wer etwas will, muß auch wissen was das ist das er will, muß sich selbst verstehen in dem was er will" für den Begriff des Erbaulichen anwendet: „So steht es denn auch . . . hinsichtlich des Erbauens, oder richtiger des Sicherbauens. Es könnte vielleicht jemand geben, der da so allgemein und obenhin den Willen hat, sich zu erbauen, den Wunsch hat, sich zu erbauen; falls er sich jedoch die Zeit nähme zu verstehen was er will. . ., so würde er wohl recht bedenklich werden und nun liebend gern sich dessen überhoben sehen, daß er erbaut werde . . . So verhält es sich mit dem Erbaulichen, welches wahrlich an und für sich ein Gutes ist, und eben darum verlangen muß, daß der Einzelne, der sich erbauen will, sich selbst verstanden habe, daß er nicht etwa leichtsinnig, weltlich, gedankenlos, begehrlich das Erbauliche eitel nehme ..." (X 101 f.). 41
Zum Sich-Verstehen s. schon o. S. 27 ff.
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Der Begriff „Erbaulich"
Offenbar steht das Wollen des Erbaulichen unter Bedingungen, die verhindern, daß es unter die beliebige Verfügung dieses Wollens gerät. Es wirklich zu wollen, heißt, es auf eine Art zu wollen, die selbst dem Erbaulichen entspricht, d.h. es dem Wollenden schwer macht. Das Erbauliche hält wesentlich „gegen" - auch bei seiner Aneignung. Sichtbar ist bereits in dem zitierten Text: die Liebe, von der hier die Rede ist, ist nur erbaulich, mehr als subjektiv-willkürliche Zaubermacht, wenn ihr Wollen Mut einschließt. Es gehört neben dem Sichselbstverstehen Mut dazu, sich erbauen zu lassen.42 Weiter unten wird sich zeigen, daß das Erbauliche immer als das Erschreckende auftritt. Hier ist aber schon in einem anderen Sinne Mut vonnöten, damit Erbauung, Sicherbauen sich verwirkliche, nämlich der „christliche Heroismus", „daß man es wagt ganz man selbst zu werden, ein einzelner Mensch, dieser bestimmte einzelne Mensch, einsam Gott gegenüber, einsam in dieser ungeheuren Anstrengung und dieser ungeheuren Verantwortlichkeit"(XI 117).
In diesem Mut zur Erbauung sind subjektive Konstruktivität und das ein Einzelner vor Gott Werden ganz zusammengesehen. Er bezeichnet das Wagnis der Gottesliebe. Es entspricht dem, und d. h. der religiösen Freiheit, von der hier geredet wird, aufs genaueste, daß Kierkegaard Erbauung zugleich auch als Pflicht bezeichnen kann. Wer versteht, was das Erbauliche ist, versteht auch, daß er sich erbauen soll. Wir sahen oben an der Relativität des Anlasses bereits diese Pflicht verdeutlicht: weil Erbauung religiös Pflicht ist, darf ich mich durch nichts davon abhalten lassen. Ich soll das Unbedingte dadurch möglich machen, daß ich von allem Bedingten (der Vermittlung) abstrahiere.43 „. . . daß nämlich wahre Erbauung die strenge Rede sei, das hast du hier in tiefstem Sinne gelernt: nur jenes „soll" rettet ewig glücklich vor Verzweiflung"^ 45).
Geht diese Stelle auch unmittelbar auf das „du sollst lieben", so gilt die Strenge des Erbaulichen eben damit auch für seine Aneignung. In diesem „du sollst dich erbauen" ist der subjektiven Konstruktivität ein Anreiz 42
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Cf. 1X75, zit. o. S. 31 Cf. die o. S. 38 zitierten Stellen VII 424 u. 378
Das Erbauliche als Bestimmung der Subjektivität
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zugleich mit einem Halt gegeben, in dem das Subjekt sich selbst finden, seine Freiheit sich als Gottesverhältnis unbedingt erfüllen, d. h. erbauen kann.
KAPITEL 3 DAS ERBAULICHE ALS BESTIMMUNG DES GOTTESVERHÄLTNISSES Entschiedener als bisher soll jetzt die Aufmerksamkeit darauf gerichtet sein, welche Qualitäten dem Erbaulichen aus seinem Gegenstandsbezug, daß es von Gott her ist, zukommen. Es soll also dargestellt werden unter dem spezifischen Blickwinkel, daß es ein rein religiöses Verhältnis ist (a), sowie hinsichtlich seiner daraus erwachsenden Bedeutung für das religiöse Subjekt (b).
a) Das unendliche Verhältnis Den Schlüssel zum Verständnis des erbaulichen Gottesverhältnisses bietet die schon oben diskutierte Kurzformel „In der religiösen Sphäre ist das Positive am Negativen kenntlich" (VII 489 Fn.).44 Kierkegaard selber gibt eine bezeichnende Reihe konkreter Variationen: „. . . die Offenbarung ist am Geheimnis kenntlich, die Seligkeit am Leiden, die Gewißheit des Glaubens an der Ungewißheit, das Leichtsein am Schwierigsein, die Wahrheit an der Absurdität. . ." (VII 375 Fn.). Wir haben hier genauer zu untersuchen: wie erscheint diese Negativität als von Gott her stammend denn konkret, und was für eine Positivität wird dergestalt kenntlich? Allein durch Negativität zugängliche Positivität - dies Strukturprinzip des Erbaulichen erscheint gleich im Titel der ersten von Kierkegaard in den Druck gegebenen Predigt, der im „Ultimatum" am Schluß von „Entweder-Oder ". Sie ist programmatisch überschrieben: „Das Erbauliche, welches in dem Gedanken liegt, daß wir Gott gegenüber allezeit Unrecht haben" (II 306). 44
s. auch o. S. 20 f.
Das Erbauliche als Bestimmung des Gottesverhältnisses
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Über diesen Titel und die Predigt selber wollen wir hier weiter nachdenken45, weil sie grundlegende Aussagen zum erbaulich qualifizierten Gottesverhältnis herausstellt. Es dürfte nicht zufällig sein, daß Kierkegaards erste (zwar pseudonym bzw. sogar anonym: ein „Pastor in Jutland", cf. II 303 f.) gedruckte Predigt sich ausdrücklich dem Begriff des Erbaulichen widmet. Sie führt diesen Begriff thematisch ein, um sozusagen die Qualität, innerhalb derer die gleichzeitig (1843) herausgegebenen „Zwei erbaulichen Reden" als solche liegen, zu beschreiben. Das so verstandene Erbauliche gibt gleichsam den Horizont, die Verstehensbedingung ab, innerhalb derer jene allein richtig gelesen bzw. religiös angeeignet sind. Die Ultimatumspredigt schlägt den Grundton an, der in jenen immer noch mitgehört werden will. Das verleiht dem angeführten Titel definitorischen Rang: im Gedanken des eigenen Unrechts vor Gott liegt das Erbauliche schlechthin. Er ist nicht ein möglicher Ausdruck des Erbaulichen unter anderen, sondern der grundlegende. Dieser Gedanke ist Grundmuster alles dessen, was überhaupt erbaulich ist. In ihm lernt man allererst und endgültig das Erbauliche kennen. „Das Erbauliche, welches in dem Gedanken liegt, daß wir Gott gegenüber allezeit Unrecht haben" - faßt man diese Formulierung genau und streng auf, so scheint das Wort „erbaulich" selbst allerdings nicht eigentlich (neu) definiert zu werden. Es wird als irgendwie bekannt vorausgesetzt - und ist ja auch faktisch aus dem kirchlichen bzw. umgangssprachlichen Gebrauch aufgenommen. Entscheidend ist hier vielmehr, daß „das Erbauliche" da gefunden wird, wo man es nicht erwartet hätte: im Gedanken des eigenen Unrechts, und weiterhin, daß diese Verbindung - auch durch die Predigt selbst - notwendig gemacht wird. Der Titel definiert also den Begriff des Erbaulichen so, daß er seiner unbestimmt gewußten und unausdrücklich aufgenommenen Bedeutung eine entscheidende und sie erst qualifizierende Bedingung hinzufügt: erbaulich kann immer nur sein, was d i e s e r Bedingung genügt. Liegt nach herkömmlichem Sprachgebrauch in „erbaulich" irgendeine positive Förderung oder Steigerung für den Menschen - so wird dies Positive hier definitorisch verknüpft mit einer starken Negation: gerade in einem unErwähnungen o. S. 34 u. 40 f. Cf. den Hinweis auf die grundlegende Bedeutung dieser Formulierung für Kierkegaards Gesamtwerk bei Deuser, 1980, a.a.O., S. 284.
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Der Begriff „Erbaulich"
mittelbar als Einbuße und Mangel („Unrecht") Empfundenen soll das Positive („Erbauliche") liegen, und nur, wenn es da gefunden wird, ist es zu Recht das erbaulich-Positive. Das Negative ist gewissermaßen der Preis, der zu entrichten ist, um überhaupt an das Positive zu gelangen. Und ohne diesen Preis wäre es nicht das Positive. Der Titel hat zudem etwas Paradoxes, und das weist auf einen Wechsel der Perspektive hin: was uns als Negation erscheint, das ist in Wahrheit das Positive. D.h. beim Lesen oder Hören des Titels erleidet die Verstehensrichtung einen Anstoß, sie wird zu einer Gegenläufigkeit gezwungen. „Das Erbauliche" - da erwarten wir etwas unmittelbar Positives, Förderliches; „daß wir . . . allezeit Unrecht haben" - darin wird unsere Erwartung enttäuscht, und wir finden uns zu einem neuen Gedanken genötigt: von diesem Negativen her jenes - nun nicht mehr selbstverständliche - Positive neu zu denken bzw. zu fragen, was es denn unter d i e s e r Bedingung sein könne. Der Titel lockt also den Leser mit dem scheinbaren Einverständnis über das, was man sich unter dem „Erbaulichen" vorzustellen habe, an, um ihn dann darauf zu stoßen, daß er (der Leser) es tatsächlich nicht weiß. Das Erbauliche präsentiert sich schon damit als etwas, was gegen den, der es intendiert, gerichtet ist. Es etabliert Wahrheit als nicht unmittelbar, nur durch Kritik des Scheins zugänglich. So formal bereits torpediert Kierkegaards Begriff vom Erbaulichen Unmittelbarkeit. Wir finden dieses Auflaufenlassen des Lesers, das ihn erst zu wirklicher - d. h. vom selbstverständlich Mitgebrachten befreiter - Aufmerksamkeit freimacht, noch in manchen Predigtüberschriften Kierkegaards. So z. B. „Gottes bedürfen ist des Menschen höchste Vollkommenheit" (V 81), wo, was unmittelbar als Schwäche aufgefaßt werden muß (Bedürfnis), doch gerade als Stärke (Vollkommenheit) begriffen werden soll. Oder zu der Predigt über den rechten Beter: „und siegt - damit, daß Gott siegt" (V 149) - d.h. doch, dadurch, daß er (der Beter) verliert. Daß dieses sein Verlieren vor Gott doch gerade ein Sieg sein soll - das ist sensu stricto ein erbaulicher Gedanke. Er findet sich konkretisiert an Hiob: „Hat Hiob Recht bekommen? Ja! auf ewig, dadurch, daß er Unrecht bekommen hat vor Gott" (III 245). Diese Beispiele mögen hier genügen. Wir haben gesehen: das Erbauliche sperrt sich (in Kierkegaards Verständnis) gegen unmittelbare Hinnahme. Diese seine Gegenläufigkeit gegen das naheliegende Vorverständnis bringt sich bereits in seiner sprach-
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liehen Formulierung zur Geltung, insofern sie nämlich paradox ist. Das Erbauliche zwingt schon rein durch seine sprachliche Gestalt jeden, der es sich aneignen will, zum Umdenken, d. h. sich selbst zu hinterfragen, bzw. von dem, was er unmittelbar sich (seinen Verstehensbedingungen) integrieren wollte, erst sich selbst und sein Verständnis befragen oder kritisieren zu lassen. Nur als negativ gegen die Unmittelbarkeit seiner Auffassung zeigt sich das Erbauliche in dem, was es positiv ist. Diese Dialektik auf der Ebene des Formalen redupliziert sich nun aber auch inhaltlich. Es entsteht ja die Frage: wie kann Unrecht haben erbaulich sein? Sieht man genau zu, so liegt die eben beschriebene Peripetie im Verständnis des Titels erst bei bzw. nach der Nennung Gottes: „Gott gegenüber allezeit Unrecht". Mit der Nennung des Wortes „Gott" setzt jener Rückstoß unmittelbaren Sichzueigenmachenwollens „des Erbaulichen" ein. Als Sicherung der Bedeutung dieses Wortes muß es verstanden werden, wenn die Nähe, die der Satz zum unbefangenen Verstehen bis an diese Stelle hatte, hier jäh abgebrochen und ein harter Abstand brüsk markiert wird: (wir) „allezeit Unrecht". So, als wäre Gott nicht mehr Gott, wenn nicht diese Distanz scharf eingehalten würde. Was mit dem Wort „Gott" angesprochen ist, ist nur in solcher Exklusivität zu wahren. Unrecht gegen ihn zu haben - ist also der genaue Ausdruck seiner unendlichen Andersheit. Und es „allezeit" zu haben, betont noch einmal die schlechthinnige, weil zu keiner Zeit einholbare Überlegenheit Gottes gegenüber dem Menschen. Die Formulierung will also mitteilen: nur wenn du dich selbst ganz zurücknimmst, ist in Wahrheit von Gott die Rede. Den unendlichen Abstand zu vergessen, hieße, nicht von Gott zu reden. Und daß dieser Abstand qualitativ ist — eben das indiziert das Wort „Unrecht". Recht haben oder nicht - dabei geht es um das Ganze des eigenen Seins, nicht um eine quantite negligeable. „Allezeit Unrecht" - wer sich das zu eigen machen kann, macht radikal, bis in den Grund seiner Existenz damit Ernst, daß er weiß, wer Gott ist. „Wer sich mit Gott nicht auf die Art und Weise der unbedingten Hingebung einläßt, der läßt sich überhaupt nicht mit Gott ein" (X2 A 644, Tgb. IV, S. 156).
Also um der Gottheit Gottes willen wird von menschlichem Unrecht so nachdrücklich geredet. Aber Gott Gott sein zu lassen, das ist eben das Erbauliche. D. h. um die Positivität Gottes gerade als wirkliche Positivität, d. h. Positivität im Verhältnis zu „uns", zu realisieren, müssen „wir"
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Der Begriff „Erbaulich"
uns selbst negieren. Sie ohne diese Negation unserer selbst haben zu wollen, das hieße, sie zu demontieren. Bzw. man kann sie nur so „haben", daß man sich gegen sie zurücknimmt, ihr Platz macht. Das Erbauliche wäre dann, daß sie in ihrer Wahrheit ist. „Erbaulich" heißt wissen, daß das „gegen uns" der Wahrheit die Weise ist, wie allein sie die Wahrheit und doch „für uns" sein kann. Gott Gott sein lassen, heißt religiös gesprochen, ihn zu lieben. Dies nennt Kierkegaard - als ein des unendlichen Abstands zum Unendlichen unendlich bewußtes Verhalten - ein „unendliches Verhältnis": „So ist denn der Wunsch, Unrecht zu haben, Ausdruck für ein unendliches Verhältnis" (II 313).
Ein bloß endliches Verhältnis wäre das der Selbstbehauptung; Liebe heißt aber gerade Selbstaufgabe zugunsten des Geliebten.46 Damit das Verhältnis zu dem unendlichen Gott selber ein unendliches Verhältnis bleibe, kann seine Positivität nur indirekt, am Negativen erscheinen. Eben diese Reduplikation des Gegenstandes im religiösen Verhältnis auch an dessen Form gibt dem Begriff des Erbaulichen sein dialektisches Gepräge: „Also ist es erbaulich, allezeit Unrecht zu haben, denn allein das Unendliche erbaut, das Endliche nicht!" (ebd.).
Gleichzeitig läßt sich sagen, Gott zu lieben, das bedeutet: das Unendliche im Endlichen, die Wahrheit sein zu lassen unter den Bedingungen der Unwahrheit. Demgegenüber bliebe ein direktes Liebesverhältnis zu Gott, z. B. in der Dankbarkeit, undialektisch, weil unangemessen, indem der Mensch so noch „gemäß seiner Vollkommenheit" liebte. Aber „Gott kann ein Mensch in Wahrheit allein lieben, wenn er ihn liebt gemäß seiner [sc. des Menschen] Unvollkommenheit" (III 49).
So erst in der Gottesliebe als R e u e , die Modell eines wahrhaft unendlichen Verhältnisses ist: „denn in der Reue ist es Gott, der dich liebt. In der Reue empfängst du alles von Gott, sogar die Danksagung, die du ihm darbringst" (III 50). 46
Cf. a.a.O. ebd. u. IX 25. IX 173 f. wird geredet von der „Pflicht, in der Liebe Schuld gegeneinander zu bleiben" um ihrer Unendlichkeit willen.
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Reue aber ist als selbsttätiges Verhalten gegen sich in Kraft der Wahrheit selbst wiederum Freiheit: „In einem unendlichen Verhältnis zu Gott ist er, wenn er erkennt, daß Gott allezeit Recht hat, und in einem unendlich freien Verhältnis, wenn er erkennt, daß er selbst allezeit Unrecht hat" (II 316).47
Wahrheit wird hier - wenn man will, durchaus formal - allein kenntlich an ihrer kritischen Kraft im Subjekt gegen es. An der Weise, wie die Subjektivität sich ihr aussetzt, hat Wahrheit ihre Erscheinung. In diesem Sinne ist „die Subjektivität die Wahrheit". Gott immer reiner Gott sein zu lassen bzw. der Wahrheit auf selber wahrhafte Weise sich zu öffnen darin bringt sich eine Konstruktivität zur Geltung, die inkraft dessen sich vollzieht, das zugleich sie sein läßt. Gott stellt damit - ähnlich einer selbstregulativen Idee - die Forderung dar, ihn immer adäquater zu denken; der Wahrheit ihr Recht einzuräumen, ist gleichermaßen unendliche Forderung wie selbstkritische Instanz gegen jede einzelne Weise, solches zu tun. Das Erbauliche ist, in solcher Konstruktivität sich dessen zu vergewissern, was sie dadurch - gleichsam außerhalb ihrer - ermöglicht, daß es sie gegen sich selbst sich wenden läßt: das heißt, in Freiheit ihrer Begründung ansichtig zu werden. Dies lehrt als in Offenbarungsdialektik begründet eine späte Tagebuchstelle Kierkegaards sehen, die wie wenige geeignet ist, die paradoxen Verschränkungen von Nähe Gottes und Selbstbegrenzung des Menschen, Gottes Erhabenheit und menschlichem Erhöhtwerden durch anbetende Selbstverneinung aufzuzeigen, die dem erbaulichen „Gesetz der Umkehrung" gehorchen. Dieser höchst aufschlußreiche Text soll hier ausführlich wiedergegeben werden, weil er den Begriff des „unendlichen Verhältnisses" nach allen wichtigen Momenten seiner Dialektik auseinanderlegt: „Gerade indem er [sc. Gott] sich stärker hingibt, sich mehr mit dem Menschen einläßt, ihm näherkommt, oder gerade indem er das will, gerade damit wird der Mensch, obwohl erhoben, herabgesetzt. In Wahrheit wird er erhoben, aber er wird dadurch erhoben, daß er eine unendlich höhere Vorstellung von Gott gewinnt, und auf die Weise wird er herabgesetzt. Wie erhebend! . . . Aber Gott ist [gegen Zudringlichkeit] gesichert; denn je näher du ihm kommst, desto mehr wirst du herabgesetzt, das will heißen, je näher du ihm kommst, eine desto unendlichere Vorstellung be47
Den Zusammenhang von Reue und Selbsttätigkeit betont auch I 126.
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Der Begriff „Erbaulich" kommst du von seiner unendlichen Erhabenheit, aber dadurch wirst du herabgesetzt. „Er muß wachsen, ich aber abnehmen", dies ist das Gesetz für alle Annäherung an Gott.. . Aber durch das Gesetz der Umkehrung gesichert zu sein, daß Annäherung Entfernung ist: unendliche Majestät. „Aber dann verliere ich Gott ja auf gewisse Weise". Wie denn, er wächst ja! Nein, verliere ich etwas, so verliere ich nur meine Selbstsucht, mich selbst, bis daß ich ganz und gar die Seligkeit finde in jener Anbetung: er muß wachsen, ich aber abnehmen. Aber dies ist ja das Gesetz für alle wahre Liebe. Wollte ich, es solle so sein, daß ich z u g l e i c h mit dem Wachsen Gottes wüchse, so wäre das doch wohl Selbstliebe" (X5 A 23, Tgb. V, S. 130 f.).
Der zitierte Text macht offenkundig, daß der Begriff „unendliches Verhältnis" die Lösung des - oben S. 17 ff. exponierten - Problems, wie denn ein Verhältnis zu Gott möglich sei, übernimmt. Es ist ein solches Verhältnis, in dem der Sich-Verhaltende (das menschliche Subjekt) sich als solcher zurücknimmt um dessen willen, zu dem er sich verhält, und das in dem Bewußtsein tut, sich nur so wirklich dazu zu verhalten, bzw. wo das Verhalten des Subjektes darin besteht, ein Verhältnis gerade des anderen „Poles" (seines Objektes gleichsam) zu ihm an ihm selbst möglich zu machen und auszudrücken. Das eigene Verhalten durchsichtig zu machen als bloßes Organ des Verhaltens eines Anderen zu einem selbst eben darin besteht jene „Umkehrung", von der oben die Rede war.48 Das Gottesverhältnis erweist sich darin als dialektisch, daß keiner seiner „Pole" als ein solcher streng für sich faßbar ist. Vielmehr ist jeder Pol insofern dialektisch, als er nur in Bezogenheit auf den jeweils anderen überhaupt denkbar ist: das Ich als Konstruktivität, aber auf absolute Selbstbegrenzung gerichtet; Gott als unendliche Affirmation des Ich, aber durch dessen Negation hindurch. In diesem „Verhältnis" ist das Subjekt seines „Gegenstandes" unendlich versichert, eben weil dieser nicht bloßer Gegenstand bleibt, vielmehr als dasjenige präsent ist, woraus das Subjekt selber ist und sich verhält. „Unendliches Verhältnis" ist Verhältnis zu dem, was ein solches allererst und überhaupt möglich macht. Darin drückt subjektive Konstruktivität ihr Bewußtsein von sich aus, sich nicht sich selber zu verdanken. Damit ist zugleich gesagt, daß solche Konstruktivität sich vollendet in ihrer Selbstbegrenzung.
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Cf. S. 19 u. 21 f.
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„Aber am herrlichsten [ist es], nichts zu sein, indem man anbetet" (VIII 279).
Auch dieses Zitat macht klar, daß für Kierkegaard solche Selbstnegation immer in positiver Tendenz geschieht, um willen höherer Affirmation: darin, daß es sich gegen Gott zurücknimmt, gewinnt das Subjekt auch sich selbst neu. Aus dem Verlust seiner unmittelbaren Identität entsteht ihm eine vermittelte in Gott: es lebt - ohne falsche Selbstbehauptung gegen das Unendliche - ganz in und aus dem unendlichen Verhältnis. „Das Erbauliche in der Sphäre der Religiosität A ist das der Immanenz, ist die Vernichtung, in welcher das Individuum sich selbst beiseite schafft, um Gott zu finden, da es nämlich . . . selbst. . . ein Hindernis bildet. Das Erbauliche ist hier also ganz richtig kenntlich am Negativen, an der Selbstvernichtung, die in sich das Gottesverhältnis findet. . ." (VII 489).
Diese Dialektik der Konstruktivität,/ sich gerade da vollendet zu gewinnen, wo erscheint, wovon auch sie noch abhängig ist, faßt sich in dem einen paradoxen Versuch beschreibenden - Begriff „Selbstbegründung" zusammen. Sich selbst seinen Grund zu geben, der als Grund aber nicht selbst geschaffen sein darf, bzw. das zu schaffen, was das Schaffen erst begründet, weil es absolut für sich ist - kann, wenn überhaupt, nur gelingen als Selbstaufhebung in das hinein, woraus dies Tun sich als ermöglicht erfährt.49 Selbstverneinung im Interesse von Selbstbegründung - sie artikuliert sich bei Kierkegaard in jener Klimax des Erbaulichen: „Gottes bedürfen" (V 71 ff.), „vor Gott allezeit Unrecht haben" (II 306 ff.). „Totalität des Schuldbewußtseins" (VII 489) und „Sündenbewußtsein" (VIII A 675).50 Diese Formeln gehen das Subjekt in seiner Konstruktivität an, aber so, daß sie ihm gleichsam immer mehr entzogen erscheint - im Modus der Verfehlung schließlich. Daß Konstruktivität sich nicht selbst verdankt, dabei behaftet nichts sie so entscheidend wie ihre Decouvrierung als Schuld. „Die Totalität des Schuldbewußtseins ist das Erbaulichste in der Religiosität A" (VII 489).
Dazu auch u. S. 62 f. und besonders das wichtige Zitat über Wahlfreiheit im Verhältnis zu Gott, Teil III, Anm. 75 (zu S. 258). Die letzte Stelle zit. o. S. 42.
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Der Begriff „Erbaulich"
Darin ist sie ganz als sie selbst gemeint und - festgelegt. Ihre Freiheit wird identifiziert im Modus faktischen Verlustes derselben. Findet das Subjekt sich da h i n e i n , so ergreift es gerade in der Anerkenntnis seines unendlichen Abstandes dagegen, wovon es doch lebt. Schuld bleibt indirekt darauf bezogen, wogegen sie sich als solche erfährt. Diese ihre Selbsterfahrung wird ihr Garant ihrer besseren Möglichkeit, ja ihrer Freiheit auch da noch, wo sie ihrer unmittelbar verlustig gegangen ist. Und nirgends wird so der identifizierende Anspruch dessen, woher Freiheit sich verdankt, gegen sie für sie manifest wie im Verdikt: schuldig. „. . . ich finde die Freude und die Gewißheit der Freude bei dem Erbaulichen, . . . daß die Gewißheit der Schuld das Frohmachende verbürgt" (VIII 365). Und christologisch gewendet: „Dies ist das Erbauliche, das Lehrreiche bei diesem Räuber, daß er im Augenblick des schmachvollsten Todes dennoch Tiefe und Demut genug hat, um es als Linderung zu ergreifen, daß er schuldig leidet im Vergleich mit dem Todesschmerz, welcher an dem Kreuz gelitten wird, das in der Mitte steht" (VIII 355 f.).
Auch dagegen, daß solches Verhältnis nicht wieder in die Verfügung der Subjektivität gerät, daß es vielmehr, erbaulich, u n e n d l i c h b l e i b t , sichert jenes „allezeit" (cf. II 306). So wird verständlich, daß, was dem Subjekt unendlich dienlich sein, weil es mit dem Unendlichen ins Verhältnis bringen, es erbauen soll, sich zunächst ganz anders zeigt, als tremendum: „. . . jedoch wie das Erbauliche in seinem ersten Anfang allezeit das Erschreckende ist, . . . und wie Liebe zu Gott in ihrem ersten Anfang allezeit Leid ist: ebenso . . . das in Wahrheit Beruhigende ist allezeit in seinem ersten Anfang das Beunruhigende" (XII 278).
Benennt hier das „Erschreckende" die Durchgangsbedingung, ohne die endliche Subjektivität nicht in ein Verhältnis zum Unendlichen, zur Wahrheit, zu Gott treten kann, das selber unendlich angemessen ist, und die zugleich nur transitorische Bedeutung hat („in seinem ersten Anfang"), weil durch die Negativität ja Positivität sich offenbaren will, so dient dies Moment zugleich auch zur Sicherung menschlicher Echtheit und Wahrhaftigkeit im Erbaulichen: „Es ist bei aller Erbauung erforderlich, daß sie allererst den notwendigen adäquaten Schrecken hervorbringt; denn sonst ist die Erbauung eine Einbildung" (VII 218).
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Dieser Schrecken verwahrt das Erbauliche gegen ein oberflächliches Verständnis des Religiösen.51 Beide Momente zusammen sind ausgesprochen in einer der christlichen Reden von 1848, die sie darlegt und zugleich anwendet, weshalb hier ausführlich zitiert wird: „Was nämlich ist das Erbauliche? Die erste Antwort darauf ist, was das Erbauliche zuerst ist: es ist das E r s c h r e c k e n d e . Das Erbauliche ist nicht für den Gesunden, sondern für den Kranken, nicht für den Starken, sondern für den Schwachen; dem vermeintlich Gesunden und Starken muß es sich daher erst einmal erzeigen als das Erschreckende. Der Kranke versteht sich mit Leichtigkeit darin, daß er in ärztlicher Behandlung ist; für einen Gesunden jedoch wäre es erschreckend, entdecken zu müssen, daß er in die Hände eines Arztes gefallen sei, der ihn ohne weiteres als Kranken behandele. So also mit dem Erbaulichen, welches zuerst das Erschreckende ist: für den Nichtzerknirschten ist es zuerst das Zerknirschende. Wo da gar kein Erschreckendes ist und gar kein Erschrecken, allda ist auch schlechthin nichts Erbauliches und schlechthin keine Erbauung . . . Man soll vor dem Erschrecken nicht bange werden, als ob es der Erbauung im Wege stünde, soll es nicht in Weichlichkeit fernhalten in der Hoffnung, damit die Erbauung um so gefälliger zu machen; denn mit dem Erschrecken zugleich hört die Erbauung eben auf. Andererseits aber, eben in dem Erschrecken ist die Erbauung" (X 102f.).
Die erste gedruckte Stelle bei Kierkegaard zum Erbaulichen in der Magister-Dissertation von 1841 versieht diese Funktion des tremendum noch mit einem besonderen Akzent. Er setzt dort (XIII 258 f.) die theoretische Unwissenheit des Sokrates über das ewige Wesen der Gottheit in Entsprechung zu einer ganz analogen religiösen, der Gott gleichfalls ein Geheimnis blieb. Und von dieser, „welche in einer völligen Unwissenheit ihre Erbauung sucht und ihre Frömmigkeit bekundet", zieht er dann eine Parallele zu einer neuzeitlichen Weiterentwicklung dieses Ansatzes: „ebenso wie z. B. in einer weit konkreteren Entwicklung Schleiermacher im Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit das Erbauliche suchte."
In unserem Zusammenhang ist es nun nicht von Belang, ob Schleiermachers Theologie damit richtig gewürdigt wird - Kierkegaard selbst hat später höchst anerkennend von ihr gesprochen52 -, sondern hier ist allein interessant, was Kierkegaard als Struktur dieses Erbaulichen erhebt. 51
Cf. auch X 101 f., zit. o. S. 43 " Cf. vor allem IV 292 5
Ringleben : Aneignung. TBT 40
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Der Begriff „Erbaulich" „Auch das Letztere birgt in sich natürlich eine Polemik, und wird ein Schrecken für jedermann, der da in dem einen oder ändern endlichen Verhältnis zur Gottheit seine Ruhe gefunden" (ebd.).
Das wahrhaft Erbauliche ist also als „unendliches Verhältnis" notwendig polemisch gegen jedes „endliche Verhältnis zur Gottheit". Das Erschrekkende, das ihm zukommt, geht als solches gegen die falschen Verendlichungen, in denen der Mensch sich vor seiner radikalen Infragestellung durch Gott zu schützen sucht. Die menschliche Neigung zu falscher Sicherheit (Ruhe) im Religiösen bedingt, daß die göttliche Wahrheit nur als zunächst negativ auftretend sie selbst bleiben kann. Insofern wird das tremendum zum erbaulichen index veri gerade auch des Gottesverhältnisses als solchen. Solcherart das Erbauliche unverfälscht auszudrücken und zur Geltung zu bringen, daß sein Positives nur durch die Negation des Erschrekkens hindurch zugänglich wird, soll das Verhältnis wahrhaft unendlich bleiben, bestimmt sich ausdrücklich als Aufgabe erbaulicher Rede: „Zuerst wird gesprochen . . . von der Sünde, davon, daß du ein Sünder bist. . . vor Gott, daß du in Furcht und Zittern über diesem Gedanken deine irdische Not vergessen sollst. Nicht wahr, das ist eine eigentümliche Art zu trösten? Anstatt teilnehmend nach deinem Befinden zu fragen, anstatt dir Ratschläge und Winke zu geben . . . du kommst ja dann zu dem was noch schrecklicher i s t . . . wird ein noch stärker drückendes Gewicht dir aufgelegt, wirst du zum Sünder gemacht. Alsdann spricht man, und in Wahrheit zur Erbauung, davon, daß es Erlösung gibt für Sünder, Trost für Reuige ..." (X 176).
Das Bewußtsein um diese ihre Grundstruktur, erbaulich durch Schrecken hindurch zu sein, gibt der religiösen Rede die Chance letzter Solidarität mit menschlichem Leiden: auch „zu den schrecklichen Leiden" soll und kann sie sich mit hinauswagen (cf. VIII 203), und „gewohnt an den täglichen Anblick des Schrecklichen" will sie wie ein Lotse bereit sein, in der Gefahr beizustehen (cf. ebd.). Schließlich kommt ihr daher auch ihre Unermüdlichkeit, den Leiden beiseite zu bleiben (cf. ebd.). Und eben weil „die fromme Erbauung . . . nicht sein [soll] wie der zarte Schmuck der Frau, berechnet für einen festlichen Augenblick" (VIII 234),
ist sie fähig, auch dem Entsetzlichsten ins Auge zu blicken. Derart setzt wahre Erbauung voraus, die Tiefen menschlicher Erfahrung zu kennen und verlangt erbaulicher Rede hinführende Behutsamkeit ab.
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„Wahrlich, ein Mensch muß in der Schule der Leiden sehr viel gelernt haben und sehr gründlich gelernt haben, ehe er wirklich zu seiner Erbauung mit einem so erhabenen Gedanken umgehen dürfte . . . Deshalb wähle ich stets lieber die Rede von dem Geringeren, vom langsamen und beschwerlichen Gang des Anfängers, denn diese Rede kann niemanden betrügen . . ." (VIII 346).
Die paradoxe Zusammenstellung von Positivem und Negativem in einer Formulierung, die uns schon oben an Titeln von erbaulichen Reden auffiel 53 und die in Wendungen wie „das Frohmachende im Leiden" (cf. VIII 373, X 103 u.ö.) oder „zur Erbauung . . . hinterrücks verwunden" (X 233) häufig wiederkehrt, erweist sich also als direkter Ausdruck von Kierkegaards religiösem Grundverständnis. Es handelt sich dabei offensichtlich um das universale Zur-Geltung-Bringen seiner Anschauung der Dialektik von - theologisch gesprochen - Gesetz und Evangelium. Es ist das eine Evangelium, das den sündigen Menschen zugleich richtet (Gesetz) und begnadet. Gesetz als die unerbittliche Gnade ist ebenso Ausdruck der unveränderlichen göttlichen Liebe wie das Evangelium selbst. Daß die ewige Liebe göttlich ist, das bezeugt das Gesetz, und daß der ewige Gott erbarmende Liebe ist, das Evangelium, und beides um des endlichen sündigen Menschen willen, der zu Gott allein in einem „unendlichen Verhältnis" stehen kann, so daß nur durch das „gegen ihn" ein „für ihn", allein am Negativen das Positive kenntlich werden kann. „Alles Christliche nämlich ist eine Verdoppelung, oder eine jede Bestimmung des Christlichen ist zuerst ihr Gegensatz . . . So ist z. B. ein Geist, der lebendig macht, in bloß menschlichem Sinne ein lebendig machender Geist, nichts weiter; in christlichem Sinne ist er zuerst der Geist, welcher ertötet, welcher das Absterben lehrt. Erhebung . . . in christlichem Sinne ist sie zuerst Demütigung. Ebenso ist Begeisterung . . . in christlichem Sinne . . . zuerst Nüchternwerden" (XII 38l). 54
Es leuchtet ein, daß diese Verdoppelung des Erbaulichen, das zunächst das Erschreckende ist, der erbaulichen Rede sich so mitteilt, daß die Strenge des Gesetzes die erste Erscheinung ist, die der Trost des Evangeliums in ihr hat. Von daher versteht sich jenes strenge „du sollst" in erbaulicher Rede, das allein vor Verzweiflung rettet (cf. IX 45)55, ver53
54 55
5*
s.o. S. 48 Cf. auch die Ausführungen über den „Geistesmenschen" XIV 196. Zit. o. S. 44
58
Der Begriff „Erbaulich"
steht sich, daß sie „herrschsüchtig" ist und „bindend" wie nichts sonst (X 174).56 Und entsprechend will auch die „Krankheit zum Tode" gerade „zur Erbauung und Erweckung" dienen (cf. XI 113), wobei selbst die bloß wissenschaftliche Strenge der Erörterung doch auch dem Erbaulichen nicht hinderlich sein soll.57 Daß aber der strenge Ernst des Erbaulichen letztlich auf Freiheit abzielt, das tut sich, ist nur dem Unendlichen Genüge getan, dann doch auch kund in jener Freiheit dem bloß Endlich-Irdischen gegenüber, die gerade im Bewußtsein unbedingter Abhängigkeit von Gott möglich wird und selber erbaulich ist: „. . . laßt uns jedoch nie vergessen, daß da wahrlich mitten in des Lebens Ernst Zeit ist und sein muß zum Scherzen, und daß auch dieser Gedanke eine erbauliche Betrachtung ist. Wer nämlich so recht dankbar ist, und in Demut das Tiefsinnige begreift, daß alle seine Emsigkeit, göttlich gesprochen, lediglich das Mißverhältnis aufzeigt zwischen ihr und dem, was er im Leben rein als Gabe empfangen muß, er hat auch Zeit zu unschuldigem und Gott wohlgefälligem Scherz - er wird auch zu wünschen wissen" (IV 140).
Und auch in religiöse Rede fällt so ein Schein davon, daß, wiederum erbaulich, die angespannte Strenge des Ewigkeitsernstes sich zur Milde des wahrhaft Humanen: des Lächelns verklären kann58, d.h. entspannen, ohne wesenlos zu werden: „So kämpft denn der erbauliche Vortrag auf mancherlei Weise dafür, daß das Ewige im Menschen siegen möge, aber er vergißt es auch nicht, am rechten Ort mit Hilfe der Lilie und des Vogels milde zu stimmen bis zum Lächeln. O du, der du im Kampfe stehst, laß dich milde stimmen! Man kann des Lachens vergessen, aber davor behüte Gott einen Menschen, je des Lächelns zu vergessen!" (X 18).
Cf. o. S. 28 Cf. ebd. 117 Eine Aufzeichnung Kierkegaards von 1843 beschreibt das Erbauliche als die wahre Einheit von Scherz und Ernst, beides aber in etwas anderem Sinne genommen, cf. IV A 80, Tgb. I, S. 298.
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b) Die Funktion des Erbaulichen Noch nicht geklärt ist die Frage, inwiefern das Erschrecken der Anfang des Erbaulichen bzw. inwiefern es das Erbauliche sein kann, das sich zunächst als tremendum zeigt. Worin besteht eigentlich genauer die Positivität, die in jenem Negativen kenntlich werden soll - und zwar als Positivität für das erbaute Subjekt? Ihr Sinn hinsichtlich der Eigenart Gottes ist oben dargestellt worden; jetzt geht es darum, welche Funktion das Gottesverhältnis für die Subjektivität hat: was bedeutet es für diese, erbaut zu werden? „Da ist Vergebung der Sünden, das ist erbaulich, das Erschreckende ist, daß da Sünde ist; und der Größe des Erschreckens in der Innerlichkeit des Schuldbewußtseins entspricht die Größe der Erbauung. Da ist Heilung für allen Schmerz, Sieg in allem Streit, Rettung in aller Gefahr, das ist erbaulich, das Erschreckende ist, daß da Schmerz ist, Streit, Gefahr, und der Größe des Erschreckenden und des Erschreckens entspricht die Größe des Erbauenden und der Erbauung" (X 102).
Sünde, Schmerz, Streit, Gefahr benennen auf unterschiedliche Weise die Selbstentzweiung, die im Subjekt Voraussetzung dafür ist, erbaut zu werden. In diesen Phänomenen äußert sich der Angriff des Negativen auf jegliche Unmittelbarkeit subjektiver Selbstbehauptung. Kierkegaard macht nun das Maß dieser Selbstentzweiung zum Maß der positiven Erbauung. Je „größer", d.h. ernster und radikaler, der Gottesgedanke als Bruch mit der eigenen unbefangenen Selbstgewißheit des Subjektes vollzogen wird, desto größer ist auch die Erbauung, d. h. der Gewinn einer neuen Identität. Erbaut werden hieße, seine Identität nicht unmittelbar zu haben, sondern sie durch tiefste Entzweiung hindurch aus Gott, d. h. in Übereinstimmung mit seiner Unbedingtheit neu zu gewinnen. Und je umfassender, bis ins Letzte gehend, die unmittelbare Selbst- und Lebensgewißheit der Exklusivität Gottes ausgesetzt wird, je weniger also das Subjekt von seiner natürlichen Selbstaffirmation Gott gegenüber festhält, desto echter und wahrhafter ruht seine neue Identität in diesem Geschehen, d. h. desto tiefer begründet lebt es ganz aus der Macht Gottes, indem es ihr in sich Raum gibt. Die Kraft der Selbstentzweiung gerade gibt also den Maßstab für die subjektive Wirklichkeit der neuen dialektischen Identität, d.h. der Erbauung. Diese bis ins innerste Sein der Subjektivität dringende Entzweiung garantiert der Begriff von Schuld und
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Der Begriff „Erbaulich"
Sünde.59 Durch nichts wird das Subjekt so unverwechselbar zu sich selbst gerufen und zugleich in sich erschüttert wie durch das Schuldbewußtsein. Sünde - das zielt in die letzte Tiefe eigenen Selbstseins. Und nur wo das Erschrecken vor der Unbedingtheit Gottes in solche Tiefe der Subjektivität vorstößt, kann es erbaulich sein: „In solcher Tiefe liegt das Erbauliche. Mit dem Finden des Erbaulichen steht es ebenso wie mit jenem künstlichen Erbohren von Brunnen, wobei man die vielen, vielen Faden tief graben muß — nun ja, dafür springt der Wasserstrahl auch um so höher. Zuerst muß man genau zusehen, daß man das Erschreckende finde. Denn das Erschreckende steht zum Erbaulichen in dem Verhältnis der Wünschelrute zum Springquell. . . und wo das Erschreckende ist, da ist das Erbauliche in dem Grund nicht fern. Wenn man darum, nachdem man im Finden des Erschreckenden genau hingesehen hat, noch einmal genau hinsieht, dann findet man das Erbauliche" (X 102).
Damit ist wiederum gesagt, daß die Ernsthaftigkeit, mit der Erbauung gewollt wird, ablesbar ist daran, wie ernsthaft das Subjekt sich in das Zerbrechen seiner gegebenen Identität hineinwagt. Das Maß des Mutes, sich preiszugeben, ist auch das des Willens, sich erbaut wiederzugewinnen. Was im Zitat „noch einmal genau hinsehen" genannt wird, ist Ausdruck der gläubigen, erbaut werden wollenden Erfahrung, sich gerade da als sich geschenkt zu wissen, wo man sich einer unbedingten Verneinung ausgesetzt hat, oder auch dessen, daß diese Negation Index einer unbedingten Positivität ist - unter Bedingungen, die diese Positivität als unbedingt gegen endliche Verfügbarkeit sichern. Ist unmittelbare subjektive Identität nur auf Kosten der Unbedingtheit Gottes da (als selbstische Affirmation, d. h. gegen ihn), so kann wahrhafte Identität nur gedacht werden als nicht aus sich (endlicher), sondern aus seiner (unendlicher) Positivität sich verdankend, und die Bedingung dafür ist das Zerbrechen unmittelbaren Aussichseins. Was eben „Tiefe" hieß, ist also die Dimension authentischen Beisich-selbst-seins von Subjektivität, in der sie sich in ihrer Unmittelbarkeit gleichwohl radikal aufs Spiel setzt. D.h. in ihrer Tiefe ist Subjektivität da, wo es um ihre Identität, um sie als g a n z e geht. Daher gilt konsequent: „Die Totalität des Schuldbewußtseins ist das Erbaulichste . . ." (VII 489).
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S. auch o. S. 53 f.
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Im Sichtranszendieren als ganze stößt Subjektivität an ihre Grenze. Sie erfährt ihre Ganzheit gerade da, wo sie sich im tiefsten von sich entzweit, und umgekehrt: nur wo sie sich in ihrer Totalität, d.h. ganz sich s e l b s t , überschreitet auf ein Anderes hin, nur da kann ihr eine wahrhaft neue Identität zuteil werden. Schuldbewußtsein greift nach dem selbsthaften Kern von Subjektivität und umgrenzt sie eben so als ganze. Und nur wo das Subjekt sich in seiner Totalität überschreitet, in Schuld und Sünde seine letzte und darin es selbst definierende Grenze erfahrend, wird es frei (von sich selbst) zu sein, was es ebenso wollen wie empfangen muß: ein Selbst aus Gott. Wobei dieses „aus Gott" eben das Dialektische der neuen Identität meint, die wirklich sie selbst ist (Moment der Konstruktiv!tat) und zugleich doch in einem Umgreifenden, so daß Selbstsein nicht in die eigene (selbstische) Verfügung gerät. Eben in der Abhängigkeit dieser Identität von außerhalb ihrer selbst ist sie wahrhaft, weil unbedingt gegen sich geschützt. Damit ist auch sichtbar geworden, daß das Erschreckende Bedingung des Erbaulichen ist, insofern es sich bis in die Tiefe des Subjektes erstreckt und es in seiner Totalität betrifft. Dazu eine konkretere Anwendung: „Man leidet nur einmal. Das sagt sich so geschwinde, es klingt nahezu leichtsinnig . . . Um aber das Erbauliche zu finden, muß man zuerst das Erschreckende finden . . . Man leidet nur einmal - das ist eben so, wie wenn man von jemand sagt, er sei nur einmal in seinem Leben krank, nur einmal unglücklich gewesen, nämlich sein ganzes Leben hindurch. Sieh, nunmehr hebt in tiefstem Sinne die Erbauung an ... Denn das Christliche hebt eben eigentlich da an . . ., wo die menschliche Ungeduld, was von wirklichem Leiden ihr auch Grund zur Klage gäbe, dieses unendlich gesteigert fände durch den Trost, ja - durch einen Trost, der zum Verzweifeln ist" (X 103).6°
Nur wo die Negativität ins Unbedingte reicht, kann an ihr unbedingte Positivität kenntlich werden, und zwar so, daß sie als positiv doch unbedingt bleibt. Und nur so ist das Erbauliche ein „unendliches Verhältnis"61, d. h. ein „absolutes Verhältnis zum Absoluten".62 Betrifft der Schrecken des Unbedingten das Subjekt in seiner Tiefe, d. h. da, wo es sich als Totalität zugänglich wird, so ließe sich auch sagen: 60 61 62
Cf. a.a.O. 106 s.o. S. 50f. s.o. S. 21 f.
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diese Erfahrung rührt an den G r u n d von Subjektivität. Das Erbauliche hätte mit Begründung zu tun.63 Indem die Subjektivität sich der Erfahrung des Unbedingten radikal aussetzt, gerät sie - sich als ganze überholend - an ihre Grenze. In diesem Verlust ihrer selbst (in unmittelbarer Selbstgewißheit) bricht die Frage nach ihrem Grund als solchem allererst auf. Die Erschütterung selbstgewisser Affirmation im Schuldbewußtsein führt, eben indem das Subjekt sich darin bis in den Grund fragwürdig wird bzw. in seinem eigenen Grund von sich entzweit, die Frage nach dem, worin es gründen könne, unausweichlich mit sich. In der Selbstnegation an die Grenze seiner selbst gelangt, entsteht dem Subjekt plötzlich angesichts des Nichtin-sich-selbst-Gründens das Problem seiner Begründung.64 Die im SichÜberholen wirksame Konstruktivität streckt sich notwendig aus auf ein Jenseits des Subjektes, von dem her es sich neu affirmieren kann. Das Sich-Aussetzen (z.B. im Schuldbewußtsein) ist konstruktives Sich-Entwerfen auf etwas hin, das wahrhaft Grund sein könne. Je radikaler jenes ist, desto gültiger kann das neu Begründende erfahren werden. Geht jene Erschütterung wahrhaft bis in den innersten Grund des Selbstseins, so vermag das Subjekt auch wirklich „von Grund auf" erbaut zu werden. Wobei für Kierkegaard nur solches „von Grund auf" das eigentlich Erbauliche ist65, da der Ausdruck „erbauen" nach seinem unmittelbaren Sinn wesentlich so viel bedeutet wie „von Grund auf in die Höhe bauen", wie er herausstellt.66 Das „bis in den Grund" (des Erschreckens) ist also Voraussetzung des „von Grund auf" (des Erbaulichen). Es gilt zu sehen, daß eben dieser Zusammenhang durch subjektive Konstruktivität vermittelt ist. Der paradoxe Terminus „Selbstbegründung"67 begreift ihn in sich. Das Sich-selbst-beiseite-Schaffen als sich selbst genug bzw. Sich-Zurück-nehmen in erbaulicher Absicht kann nur dem Subjekt zugerechnet werden. Eben mit diesem konstruktiven Akt setzt Subjektivität erst das Problem ihrer Begründung frei. Sie entwirft 63 64
65 66 67
Die Vokabel kommt vor in dem Zitat o. S. 60. Zur Erfahrung der Grundlosigkeit von Existenz in der Angst cf. Rohrmoser, a.a.O., S. 420 f. Cf. die Erörterung über „Liebe erbaut", IX 203 f., 207 f., 215. Cf. 1X202-204 Cf. dazu schon o. S. 53
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sich auf einen Grund hin, der als solcher aber nicht konstruiert werden bzw. sein kann, sondern in dem diese subjektive Tätigkeit muß aufruhen können. Daß dem die unmittelbare Identität aussetzenden Selbst sich nur in solcher gegen es negativen Tätigkeit gleichwohl ein Grund seiner (nun neuen) Identität zeigt, hält der Begriff des Erbaulichen fest, indem er das tremendum zu seiner Voraussetzung hat. Freilich läßt sich zeigen, daß jenes Sich-bis-in-den-Grund-Negieren des Subjektes es zugleich - indem es es zur Totalität zusammenschließt - auch wieder für sich zusammenfaßt. Solcherart wäre gerade die Intensität der gegen es gerichteten eigenen Tätigkeit, des Entzweiens, Ausdruck einer sich actu in sich sammelnden Identität: im Gewinnen ihrer Grenze gerade gewönne Subjektivität sich. Aber eben diese neue Identität als solche kann Subjektivität sich nicht voll selbst zurechnen, sondern erfährt sie notwendig so, daß sie sich in ihre Tätigkeit hineinschenkt. Und eben so will sie sie auch erfahren, indem sie erbaut werden will. Denn bereits ihre Selbstverneinung kann sie sich nicht völlig selbst zurechnen, geschieht sie doch als solche und nach dem Maß ihrer Radikalität in Kraft dessen, dem sie eo ipso Raum läßt: des Unbedingten. Noch eine der letzten Aufzeichnungen Kierkegaards drückt dies aus: „. . . denn er [sc. Gott] war selbst bei diesem Menschen gegenwärtig und half ihm, soweit Gott zu dem helfen kann, was doch nur Freiheit tun kann; nur Freiheit kann es tun; aber die Überraschung über das Können [sc. Gottes Liebe zu preisen] drückt sich dadurch aus, daß der Mensch Gott dafür dankt, als sei Gott es, der es tat; und in seiner Freude über das Können ist er so glücklich, daß er nichts, nichts davon hören will, daß er selbst es sei, sondern dankend alles auf Gott zurückführt,. . . denn er glaubt nicht an sich selbst, sondern . . . an Gott" (XI2 A 439, Tgb. V, S. 378).
So sehr der Ausdruck „Selbstbegründung" auch den konstruktiven Anteil dabei festhalten soll, ebenso sehr geht dieser doch darauf, sich selbst in das hinein aufzuheben, was ihm Grund sein kann. Religiöse Konstruktivität vollzieht sich da erbaulich, wo sie in sich gegenläufig ist: eine Tätigkeit, die sich darauf richtet, woher sie sich doch ermöglicht weiß.68 68
Zu Gott als paradoxem Grund der Freiheit cf. auch Anz, 1954, a.a.O., S. 217f. u. 214 Anm. 80 und S. 188 f. In den modifizierten Ausführungen zu diesem Problem in der späteren Arbeit scheint mir in Anz' Interpretation die Dialektik der Freiheit preisgegeben zugunsten eines äußerlichen Jenseits-Dualismus, cf. Ders. 1956, a.a.O., S. 65f.
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Den Zusammenhang des Erbaulichen mit dieser Begründungsproblematik faßt folgender Text: „Das Erbauliche ist hier also ganz richtig kenntlich am Negativen, an der Selbstvernichtung, die in sich das Gottesverhältnis findet, die [es] durchleidend im Gottesverhältnis sinkt, darin gründet, weil Gott in dem Grunde ist, wenn nur alles das, was im Wege ist, weggeräumt worden ist, jede Endlichkeit und vor allem das Individuum selbst in seiner Endlichkeit..." (VII 489).
Bereits der Übersetzer der „Absch. unw. Nachschr." macht auf die Abfolge der Verbformen: findet. . . sinkt. . . gründet aufmerksam.69 Ich möchte darin so etwas wie einen dialektischen ordo salutis sehen. Das erste Prädikat „findet" bezeichnet sehr klar das Ineinander von Konstruktivität und Religiosität (das übrigens auch in der „Selbstvernichtung" selber schon zu denken ist, insofern sie von dem geleitet ist, um dessentwillen sie sich vollzieht: dem exklusiven Anspruch des Unbedingten). Und insofern Selbstvernichtung eine ist, um Gott Gnade sein zu lassen, und das heißt notwendig: für sie (die sich vor ihm zurücknehmende Subjektivität), insofern „findet" sie „in sich" nur, was sie als solche bereits ist: ihr Verhältnis zu Gott. Auch das „Durchleiden" des Gottesverhältnisses läßt sich wiederum nur denken als dialektisches Zugleich von Ausgesetztsein und Tätigkeit. Denn es durchleiden, heißt doch das Gottesverhältnis wirksam, Gott immer ernsthafter Gott sein zu lassen - bei sich, also gegen sich. Das Wort „durchleiden" hält die Realisierung der religiösen Selbstverneinung so fest, daß als absoluter Ausgangspunkt dieser Bewegung nicht das sie formell ermöglichende Subjekt, sondern Gott erscheint: es ist ein „erbauliches" Wort. Im Gottesverhältnis „sinken" ist daher soviel wie: sich von Gott immer stärker hinein, d.h. zu ihm, gezogen wissen. Der Übergang von „findet" zu „sinken" signalisiert eben die religiöse Grundumkehrung: daß die Tätigkeit etwas hervorbringt, worin hinein sie sich notwendig aufhebt, so daß sie sich selber darin gleichsam immer mehr vergißt. Es ist mit dem allen der religiöse Prozeß bezeichnet, daß das Subjekt, indem es sich vor Gott selbst zurücknimmt, radikal an seine Grenze geführt wird und sich so als ganzes überholt, d.h. seiner Grundlosigkeit in sich ansichtig wird. „Gründen" soll es nun aber gerade in der Dynamik
69
Cf. a.a.O. Bd. II, S. 401, Anm. 718.
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des Gottesverhältnisses. Indem es in Gott „sinkt", soll es „darin" (d.h. doch auch in diesem, das Gottesverhältnis qualifizierenden Sinken) seinen Grund finden. Es findet also seinen Grund darin, daß es sich von Gott gezogen weiß (s.o.), d.h. gleichsam außerhalb seiner; seine Selbstbegründung geschieht als Grundfinden im Unbedingten: gerade im Preisgeben an eigene Grundlosigkeit öffnet sich die Möglichkeit unendlichen Begründetwerdens. Wirklich Grund finden kann es in diesem Prozeß aber nur, weil seine Negativität eben Erscheinung einer unbedingten Positivität, weil „Gott in dem Grunde ist". Der Übergang von „sinkt" zu „gründet" signalisiert die religiöse Dialektik von Negativität und Positivität, tremendum und Erbauung. Religiös identifiziert sich Subjektivität in einer unbedingten Bewegung, die als nicht aus ihr doch zu ihr bzw. in ihr nur sich vollzieht. D.h. sie identifiziert sich selbst so, daß sie es nicht aus sich selbst tut, sondern vom Bezug des Unbedingten zu ihr ermöglicht, erbaulich tut. „Grund" ist das Unbedingte also nicht in einem gegenständlichen Sinne, sondern als umgreifender Halt einer von ihm her und auf ihn zu gehenden Bewegung. Nur in radikaler Selbstbegrenzung kann Subjektivität ihres letzten Grundes ansichtig werden. Dieser Grund kann also als solcher nur wirksam werden in der Aufhebung aller Endlichkeit und besonders der der Subjektivität selber vor ihm. Zu beachten ist noch die Bestimmung „in sich". Damit, daß hier Subjektivität als der Ort dieser religiösen Dialektik für - wie ich meine - alle Aussagen des Satzes festgehalten wird, ist die Beziehung auf die Identitätsproblematik wie der Zusammenhang mit subjektiver Konstruktivität gesichert. In diesen Darlegungen sind die Voraussetzungen beigebracht, um die Wirkungen zu verstehen, die das Erbauliche nach Kierkegaard für das erbaute Subjekt mit sich bringt. Wir betrachten dazu abschließend noch einige Texte: „Gott erschreckt - aber aus Liebe" - so formuliert es eine spätere Aufzeichnung und führt das näher aus (X4 A 309, Tgb. V, S. 21). Hier ist die Frage, wie das religiöse Subjekt bei sich dieser Liebe gewahr wird. Darüber gibt grundlegende Auskunft wieder die schon mehrfach herangezogene Ultimatumspredigt:
„Und doch hat deine Seele verlangt, solchermaßen zu lieben, allein darin vermochtest du Ruhe zu finden und Frieden und Glück. Da kehrte sich deine Seele ab von dem Endlichen und hin zu dem Unendlichen; in diesem hat sie ihren Gegenstand gefunden, in ihm ist deine Liebe glücklich gewor-
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Der Begriff „Erbaulich" den. ,Gott will ich lieben', sprachest du, ,er gibt dem Liebenden alles, er erfüllt meinen höchsten, meinen einzigen Wunsch, daß ihm gegenüber allezeit ich möge Unrecht haben . . .'" (II 315).
Also gerade die uns durch Negation unserer selbst unendlich zuvorkommende göttliche Liebe erfüllt das menschliche Verlangen, das Unendliche zu lieben. Gerade die göttliche Umkehrung, auch die Bedingungen noch zu setzen, unter denen allein sie wahrhaft geliebt werden kann, gibt solchem Lieben seine tiefste Erfüllung. Es weiß sich selig im Einverständnis damit, daß allein Gott in seiner Exklusivität zu lieben, heiße, ihn als Gott zu lieben. Daß solche Liebe ihre Gewißheit gleichsam außer sich hat, in ihrem Bestand nicht von sich allein abhängt, das eben macht ihr Überlegenheitsbewußtsein endlicher Liebe gegenüber aus. In solchem Verhältnis zu Gott weiß die religiöse Subjektivität, daß mehr und Größeres an ihr mächtig ist, als sie aus sich selbst ist und hat. Sie verliert sich gleichsam an dies Unbedingte, um darin auf unendliche Weise sich, ihre Identität, neu zu gewinnen: Ruhe . . . Frieden . . . Glück. Es lebt in der Erfahrung des Erbaulichen ein unbedingtes Bewußtsein, das in der Transzendenz, im Abstand von aller Endlichkeit, sich geborgen weiß: „. . . denn daß er allezeit Unrecht hat, das sind die Flügel, mit denen er sich über die Endlichkeit hinausschwingt, das ist das Sehnen, mit dem er Gott sucht, das ist die Liebe, in der er Gott findet" (II 317).
Dieses - durch das tremendum hindurch - überschwengliche Bewußtsein letzter Geborgenheit in Transzendenz, vorzustoßen ins Unendliche, weil darin Unbedingtes sich gegenwärtig macht, das solchen Vorstoß von jenseits seiner legitimiert, ist als Gewinn neuer unverfügbarer Identität das eines Sieges über sich und ineins damit weltliches Sein überhaupt: „So ist denn also der Gedanke, daß Gott gegenüber du allezeit Unrecht hast, . . . eine Freude, in welcher du siegest über dich und die Welt" (II 315).7°
In diesem „Sieg" vergehen gleichsam alle irdisch-endlichen Kümmernisse, weil sie das eigentliche, letzte Selbst nicht treffen können, das sich in Gott geborgen weiß: Cf. die Rede „Des Glaubens Erwartung", die Sieg schlechthin als Telos des Glaubens darstellt, III 26 ff. Zu dieser Rede cf. die Abhandlung von J. S10k in „Materialien . . .", a.a.O., S. 241 ff.
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„. . . eben deshalb ist die Erbauung durch die unsichtbare Herrlichkeit die höchste Erhebung über weltliche Bekümmerung: das Anbeten ist die Herrlichkeit . . ." (VIII 280).
Aber auch hierbei darf nicht vergessen werden, daß der Sieg in dieser Anbetung nur dann wirklich religiös und erbaulich ist, wenn er aus dem Zunichtewerden vor Gott kommt, wenn das Erbauliche eben daran sich orientiert, daß wir vor Gott allezeit Unrecht haben. Allein, wenn dieser Gedanke festgehalten wird, kann er seine erbauliche Macht wahrhaft entfalten. Daher ist der Sieg im Erbaulichen also primär nicht der Sieg des Subjektes selbst, sondern dieses gibt ja gerade Gott allezeit Recht gegen sich; es partizipiert gleichsam an dem Sieg, den es Gott über sich einräumt und bleibt so, auch und gerade im Sieg über sich, abhängig von Gott; das Erbauliche ist daher subjektiv wirklich als „das Amen des endlichen Geistes" (III A 6, Tgb. I, S. 229 f.). Nur weil die erbauliche Macht des Gedankens schlechthinnigen Unrechts vor Gott nicht die des Subjektes selbst ist, ist er ja erbaulich für es. Dieser Gedanke „erweist seine Macht zu erbauen auf zwiefache Weise, teils dadurch, daß er dem Zweifel Einhalt tut und den Kummer des Zweifels zur Ruhe bringt, teils dadurch, daß er Mut gibt zu handeln" (II 316).
Die Rede ist hier von der Angst des Zweifels, in die der Mensch gerät, verläßt er sich Gott gegenüber auf sein eigenes Können.71 Die unendliche Vergewisserung, die im Gottesverhältnis liegt, beruht gerade im Verzicht auf solches Gott gegenüber Sich-festhalten-Wollen. Und insofern liegt die „Ruhe", die das Erbauliche mit sich bringt, gerade darin, außerhalb seiner selbst, im Überschreiten der eigenen Zweideutigkeit, unendlich eindeutig zu werden: „Einzig in einem unendlichen Verhältnis zu Gott kann sein Zweifel zur Ruhe gebracht werden; einzig in einem unendlich freien Verhältnis zu Gott kann sein Kummer sich wandeln zu Freude" (II 316).
„Ruhe" und „Freude" benennen als die beiden Momente in der Erbauung deren allein durch das Erschrecken hindurch zu gewinnende Affirmation. Dabei bezeichnet das erste mehr das Sich-überwunden-Haben des Subjekts, das sich dem Unbedingten ganz öffnet, und das zweite mehr das Sich-selbst-Finden darin in neuer Freiheit. Und dementspre71
Cf. II310f.
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chend kommt allein im Unbedingten oder vom Unbedingten her jener Zweifel zur Ruhe bzw. stillt sich sein Kummer72 und öffnet sich der Freiraum religiös bestimmten Handelns.73 Gerade die Betonung dieses letzten Punktes sichert Kierkegaards Verständnis des Erbaulichen vor dem Schein des Quietismus. Daß religiös sich neu gewinnende Identität auch eine entsprechende Praxis begründet, gehört unabdingbar in die hier gedachte Dialektik von Subjektivität. Es wurde gesagt, der Sieg, der in der Erbauung liegt, ist Sieg, der aus dem Erschrecken vor Gott kommt. Und eben im Verwandeln dieser Negativität, ohne die es nicht zugänglich werden kann, liegt das Sieghafte alles Erbaulichen: „So sicher ist das Erbauliche seiner selbst, so verläßlich in sich selbst... So sieghaft. . ., daß eben das, was etwa beim ersten Augenschein als sein Feind sich ausnimmt, gemacht wird zur Voraussetzung, zum Diener, zum Freund. Wenn die Arzneikunst siegreich der Schwierigkeit Herr wird, Gift zu Heilmittel zu wandeln, so ist doch weit herrlicher die Verwandlung, durch die im Erbaulichen Erschrecken zu Erbauung wird" (X 103).
Die Kraft dieser Verwandlung ist einerseits die Intensität, mit der das religiöse Subjekt Gott gegen sich Recht gibt, also das Steigern jenes Erschreckens, andererseits aber gerade das, daß es diese seine fromme Tätigkeit nur als von Gottes Liebe selbst hervorgebracht und empfangen verstehen kann. Diese in der Erbauung sich gegenwärtig machende göttliche Liebe ist für jedes Leid und jeden Leidenden da: „O du Leidender, du, der gleichsam verlassen ward von dem Geschlecht . . . allein in der Welt; du bist doch nicht verlassen von dem Gott, der dich geschaffen hat, seine Vertraulichkeit umgibt dich überall, sie wird dir jeden Augenblick angeboten: in ihr b i s t du mit dem G u t e n in der E n t s c h e i d u n g " (VIII 203).
Hier ist zu verstehen, daß erst in der Vertiefung des menschlich-irdischen Leidens zum Leiden an Gott (Erschrecken, unendliches Schuldbewußtsein) der Trost in der göttlichen Liebe zugänglich wird. Durch diese Steigerung aller endlichen Beschwernis zur Reue über das eigene Unrecht vor Gott gewinnt das Subjekt jene religiöse Konzentration, in der 72 73
Cf. dazu II 316 f. Cf. II 317
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alles Leid unendlich überholt ist und die Möglichkeit eines neuen Sichgeschenkt-Werdens aus Gott liegt: „Nein, die Reue soll ein Tun mit gesammeltem Gemüt sein, so daß von ihr zur Erbauung gesprochen werden kann, so daß sie neues Leben aus sich gebären kann" (VIII 127).
Auch hier ist betont, daß die Negation im Gottesverhältnis allein in positiver Tendenz, erbaulich zu fassen ist. Das gilt in dem Grade, daß die Frage an den Leidenden, ob er sich, dieses damit steigernd und sich dem tremendum aussetzend, in seinem Leiden vor Gott verstehen will, zusammenfällt mit der Frage, ob er sein Leid letztlich überwinden will. Gerade das Sich-Aussetzen wäre dann Anzeichen für den Wunsch nach religiöser Befreiung vom Leiden, nach Erbauung. „. . . und die Ewigkeit fragt ja nach der Veränderung, nicht nach der Unverändertheit des Leidens. So denn fragt die Ewigkeit; . . . so soll doch diese Frage, falls sie in Wahrheit gestellt wird, dir zur Veränderung behilflich sein . . . wofern du jedoch die Frage der Ewigkeit in Wahrheit dir selbst vor Gott stellst, so enthält die Frage schon die Möglichkeit der Veränderung" (VIII 236 f.).
Daß die ernste Frage schon die Möglichkeit der Veränderung in sich trägt, das gilt da, wo das Leid sich vor Gott so in sich zu vertiefen wagt, daß es in sich Gott findet. Dann ist erfahrbar, daß gerade in gesteigerter Negativität das sich findet, was befreit: „Denn geistlich gesprochen lebt die Erfüllung allezeit im Wunsche, des Kummers Beruhigung im Kummer, gleich wie Gott bereits in dem Leide ist, das man nach ihm trägt" (IV 138).
Der letzte Satzteil spricht die religiös erfahrene Umkehrung von Suchen als Gestalt eines Schon-Gefundenseins aus. Mit dem allen ist gesagt: das Erbauliche ist Begegnung mit dem Ewigen im Kontrasterlebnis (des Leidens bzw. Schuldbewußtseins). Im Gewahrwerden der es unendlich umfangenden ewigen Liebe ist alles unendliche Leid unbedingt überholt: „Laß ihn nimmer fahren, diesen erbaulichen Trost: „man leidet nur einmal"; schirme dich mit ihm, d.h. mit dem Ewigen, darwider, daß du je in deinem Leben dahin kommst, mehr als einmal zu leiden!" (X 106).
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Was oben als Sichzusammenschließen der Subjektivität zur Totalität vor Gott verhandelt wurde74, das erscheint hier konkreter als Zusammenfassen der Negativitäten des Lebens zur Totalität des Endlichen: „nur einmal". Im Blick auf Ewiges erst wird Endliches ganz endlich. Das Transzendieren des eigenen Lebens auf ein Ewiges hin relativiert es zum: einmal und nicht wieder. Darin liegt Erbauung: Freiheit von sich zum Letzten aufblähender Endlichkeit. In diesem Aufschwung über die eigene Endlichkeit ereignet sich die Positivität des Erbaulichen. Erbaut werden heißt, daß das Ewige in einem stark wird. Hier ist noch einmal das Stichwort „Sieg" wieder aufzunehmen. Das Erbauliche ist Sieg, insofern es dem Ewigen bei mir Geltung verschafft. Das läßt sich zwiefach erfahren. Einmal, bietet das Ewige als das Beständige Halt im verwirrenden Lauf der Zeit: „. . . nur das Ewige erbaut; die Wahrheit der Jahre ist verwirrend, nur die Weisheit der Ewigkeit erbaut" (VIII 122).
Es ist erbaulich, weil es jenseits der Zwiespältigkeiten des Lebens liegt, in denen das Subjekt sich verlieren kann. 75 Nur da ist wirkliche Erbauung, wo diese durch alle Veränderung hin b l e i b e n d e ewige Liebe gegenwärtig wird: „Denn bleibt Liebe, so ist ja ebenso sicher, daß sie im Zukünftigen zugegen ist, falls du dieses Trostes bedarfst, und daß sie im Gegenwärtigen zugegen ist, falls du dieses Trostes bedarfst. Wider alle Schrecken des Zukünftigen setze du diesen Trost: Liebe bleibt. . . Schau, dies ist ein erbaulicher Gedanke, daß Liebe bleibt. Wir meinen nun . . . die Liebe, welche das ganze Dasein trägt, die Liebe Gottes. Wofern sie einen Augenblick, einen einzigen Augenblick ausbliebe, so müßte alles sich verwirren. Aber das tut sie nicht, und deshalb, wie sehr sich für dich auch alles verwirrt — Liebe bleibt" (IX 287).
Andererseits ist das Ewige auch Sieg über die Zeit - wie sich eben schon andeutete. Erbaut werden heißt, in ein neues Verhältnis zur Zeit zu geraten. So ist es der Sieg des Ewigen über die Zeit, der aus den Verstrickungen der Vergangenheit befreit und diese in Zukunft verwandelt:
74 75
s.o. S. 60ff. Cf. V 215
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„vergiß noch einmal das Vergangene, vernichte die Aufrechnung, in der du dich selber verfängst, stelle nicht des Herzens Antrieb stille, lösche den Geist nicht aus in unnützem Streit darüber, wer am längsten gewartet und am meisten gelitten, wirf noch einmal alle deine Sorge auf Gott und senk dich selbst in seine Liebe hinunter; aus diesem Meere steigt die Erwartung hoch, abermals wiedergeboren, und sieht den Himmel offen; wiedergeboren, nein, neugeboren; denn diese himmlische Erwartung hebt gerade an, wenn die irdische ohnmächtig und verzweifelt zu Boden sinkt" (IV 103). Der Sieg des Ewigen ist es, Zukunft zu gewähren, das Erbauliche ist die Kraft zu Neuem vom Ewigen her: „. . . und dazu gehören die Kräfte der Ewigkeit, sogleich im entscheidenden Augenblick die Vergangenheit ins Zukünftige zu verwandeln! Doch hat das Bleiben eben diese Macht. Wie soll ich nun dieses Tun der Liebe beschreiben? O, ich müßte unerschöpflich sein in meiner Beschreibung dessen, was zu bedenken so unbeschreiblich frohmachend und erbaulich ist"(IX 291). So ist der Sieg des Ewigen in der Erbauung, daß es ständig eine Möglichkeit von Zukunft offenhält 76 , und die gläubige Erwartung des Ewigen ist die Gestalt dieses seines Sieges: „Noch im letzten Augenblick gibt es eine Möglichkeit, oder richtiger, es gibt keinen letzten Augenblick, ehe denn er vorüber i s t . . . [Dies ist] eine Betrachtung, ja eine erbauliche Betrachtung; denn was ist es, das die Trübsal kurz währen läßt, es ist die Zeit; was aber ist es, was die Trübsal „kurz und leicht" sein läßt (2. Kor. 4,17), sogar wenn sie ein ganzes Leben währt, es ist die Erwartung des Ewigen, und die Geduld, welche es erwartet. Und daß man dies allezeit zu sagen vermag, ist das nicht der ewigen Erwartung Sieg (ja mehr als ein Sieg) über das Zeitliche!" (IV 103f.). Und als was wird dieser Sieg des Ewigen subjektiv erlebt? Kierkegaard hat dafür immer wieder das eine Wort: Ruhe. Durch das Ewige erbaut zu werden, heißt in Gottes Liebe Ruhe zu finden. Doch was sich in diesem religiösen Grundwort ankündigt, wird nach Kierkegaard nur richtig verstanden, wenn Ruhe nicht undialektisch, d.h. aus dem Zusammenhang mit ihrem Widerspiel gelöst, genommen wird. Daß und wie solche „Ruhe" Sieg ist, bleibt ihr wesentlich. Sie ist nicht, was sie ist, ohne den Kampf, in dessen Mitte gerade sie sich einzustellen vermag. Derart 76
Zum Thema „Zukunft" s. auch u. S. 383 sowie die o. Anm. 70 genannte Untersuchung von S10k über „Das Verhältnis des Menschen zu seiner Zukunft".
6
Ringleben: Aneignung. TBT 40
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wäre Sieg nicht einer erst nach dem Kampf, weil er dann nicht wahrhaft durchgreifend es wäre, sondern der Kampf etwas für sich und sein Resultat (Sieg) auch. Wahrhaft ist der Sieg gerade als Ruhe inmitten unruhigen Kampfes. Solcher Sieg hat größere Macht, weil sie auch da noch bzw. schon waltet, wo noch ihr Gegenteil ist. Und eben dies, Ruhe zu finden, wo bei einem selbst alles in Bewegung ist, ist nur möglich in einem „unendlichen Verhältnis". Eben weil diese Ruhe nicht hervorgebracht wird oder abhängt vom (kämpfenden) Subjekt, sondern dieses sie gleichsam außer sich hat, eben deswegen kann es sich - als selber stets in unruhiger Bewegung - doch in sie hinein finden. Gerade, daß es sie f i n den kann oder muß, gibt dem Subjekt die Möglichkeit, in einer Ruhe zu ruhen, die nicht von ihm her ist, sich halten zu lassen in dem, was ihm im endlichen Sinne - entzogen ist.77 Diese Dialektik religiöser Ruhe findet ihr Abbild in dem, was die religiöse Rede dem Hörer zur Erbauung ist. Nur weil sie den kummervollen Kampf des Lebens nicht einfach ignoriert, sondern ihn in sich hinein aufhebt, kann die erbauliche Rede ihn zugleich stillen. Zwei Zitate belegen den Zusammenhang: „. . . der ist ja bekümmert, er wird daher nicht gestört, weil die Rede seines Kummers gedenkt, er sucht eher Erbauung in der frommen Betrachtung" (V 216) und: ,,. . .welcher aus den schweren Verwicklungen des Lebens heraus nach dem erbaulichen Augenblick der Rede sich sehnt. . ." (VI 432).
Dieser „Augenblick" ist das Berührtwerden zeitlicher Bewegtheit durch die sieghafte Ruhe des Ewigen. Und eben um der „Gründlichkeit" dieses Sieges willen läßt die erbauliche Rede sich und dem Hörer keine Ruhe (cf. VIII 203), ehe sie nicht sein Unruhigsein ganz durchdrungen hat. Ihre Ruhe ist, daß sie bei seiner Unruhe verweilt: „. . . es kann immer nützlich sein, daß man von den Leiden spricht, wenn man nur nicht der Selbstherrlichkeit des Kummers zuredet, wohl aber, wo möglich, zur Erbauung des Trauernden spricht; es ist zulässig und ist Teilnahme, daß man recht lange bei den Leiden verweilt, damit der Leidende nicht ungeduldig werde über unsere oberflächliche Rede, in der er seine
Cf. die analoge Dialektik des Gründens o. S. 64 f. und die Polemik gegen falsche Ruhe, o. S. 56; Kierkegaard malt das Zugleich von Ruhe und Weg mit dem Bild des Vogelflugs, cf. VIII 273.
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Leiden nicht wiedererkennen kann, damit er nicht aus diesem Grunde ungeduldig den Trost von sich stoße und im Wankelmut bestärkt werde" (VIII 198 f.).
Je mehr diese Kraft des Verweilens beim Negativen ihr zukommt, desto eher ereignet sich in religiöser Rede das Positive siegender Erbauung: „Laß uns denn in der Schilderung dem Leidenden womöglich nach dem Munde reden, und wolle Gott, daß die Erbauung darunter ihm zu Herzen spreche" (VIII 201).
Das Maß ihrer Erbaulichkeit ist, so gesehen, das der Unermüdlichkeit ihres Standhaltens und in Ruhe hinein Überwindens, „. . . denn eine erbauliche Rede wird nicht müde; nein, eher müßte eine Mutter müde werden, ihr krankes Kind zu pflegen, als daß die erbauliche Rede müde würde, vom Leiden zu sprechen . . ." (VIII 203).
D.h. aber, daß die ärztliche Strenge des Erbaulichen78 nichts anderes ist als Ausdruck davon, wie ernst es damit ist, Leiden aufzuheben in Sieg des Ewigen. Daß sie so den Kampf in sich hineinnimmt, um ihn zu überwinden, verhindert, daß die erbauliche Rede selbst aus falscher Sicherheit und Beruhigtheit ihm äußerlich bleibt. Zugleich setzt es sie selber dem Ringen um i h r e n Sieg aus, der doch wiederum nicht nur der ihre ist. Nur in Kraft des wahrhaft Allgemeinen, Gottes, kann sie Sieg vermitteln, d.h. Leiden durch Teilnahme nicht verstärken, sondern in Erbauung überführen: „Gesetzt nun, es wäre da einer gewesen, den die Betrachtung lediglich schmerzhaft an seinen Mangel erinnert hätte, so wäre es wohl unziemlich und unwürdig für eine erbauliche Rede, ja am schlimmsten für sie selber, falls sie ohne Teilnahme bliebe; denn alsdann wäre sie nicht erbaulich, hätte nicht das Allgemeine gefunden, sondern wäre betört worden von dem Zufälligen" (IV 138).
Indem solche Teilnahme Leiden bis in seinen letzten Grund begleiten, es vor Gott sehen will, kann es als „dienlich" erfahren werden. Diese Umwandlung meint der Begriff des Erbaulichen. Denn „dienlich" heißt, daß unmittelbare Negativität sich als bloßes Moment, vermittelt in einem Höheren herausstellt, aus dessen Positivität es, wenn nicht beseitigt, so doch in die Ruhe eines Umgreifenden hinein aufgehoben werden soll. 78
6*
s.o. S. 39
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Der Begriff „Erbaulich"
Zugleich erscheint dieses als wahre Gegenwart, die das Leid in den Rang eines bloß Überwundenen, d. h. wesentlich schon Vergangenen79 herabstuft. Seine Funktion wird es, der eigenen Überwindung zu dienen: es rückt damit ein in die Bewegung von „Besserung" und „Verhütung"; „. . . falls es aber die Rede ihm [sc. dem Einzelnen] unmöglich machte, daß auch dieser Kummer ihm dienlich werde zur Beruhigung, ein Leid über das Vergangene werde, welches zur Besserung dient, so ist die Rede nicht erbaulich, sondern weltlich gesinnt, streitsüchtig und verwirrt. Andererseits soll die Rede freilich auch einen einzelnen jungen Menschen bewegen, den schmerzlichen Nachwehen der Versäumnis zuvorzukommen . . ." (IV 129).
c) Das Erbauliche als religiöse Erfahrung Kierkegaard konzipiert den Begriff des Erbaulichen als theologische Kategorie. Was diese in sich begreift, soll hier rückblickend kurz zusammengefaßt und durch am Schluß der Arbeit wieder aufzunehmende Andeutungen ergänzt werden. Als formelles Merkmal des Begriffs läßt sich angeben, daß es beim Erbaulichen um den religiösen Umgang des Menschen mit der eigenen Endlichkeit geht. Dieser vollzieht sich wesentlich in drei Momenten. 1. Das „Wegräumen" der eigenen Endlichkeit80 als deren Überwindung durch Selbstnegation. 2. Das „Amen des endlichen Geistes"81, das als selbst vollzogene Negation nichts anderes ist als Durchführen der Endlichkeit eigenen Seins. Die Metapher beschreibt das Setzen der eigenen Endlichkeit als solcher, das zugleich selbsttätiges Übernehmen des Sichsetzens des Unendlichen am Endlichen ist. 3. In solcher „Aufhebung" der eigenen Endlichkeit gibt sich das Selbst einen Grund im Unbedingten als solchen.82 Der Begriff des Erbaulichen als Einheit dieser drei Momente geht demgemäß auf die religiöse Relation, i n s o f e r n sie für das in sie eintretende menschliche Subjekt in besonderer Weise q u a l i f i z i e r e n d ist, d.h. auf das Gottesverhältnis als wirklich e r f a h r e n e s . Diese Qualifi79 80 81 82
Cf. „einmal", o. S. 69. s.o. S. 24 u. 64. s.o. S. 12 u. 67 s.o. S. 64f.
Das Erbauliche als Bestimmung des Gottesverhältnisses
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kation erscheint 1. als Konstitution eines spezifisch religiösen Selbst (cf. Kap. 2a: ein Einzelner werden, u. Kap. 3a: Selbstbegründung, neue Identität) und 2. als Gestaltung des spezifisch religiösen Sichverhaltens dieses Selbst (cf. Kap. 3b). In solchem Qualifiziertwerden ist Erbauung religiöse Erfahrung, d.h. sie steht unter der Dominanz eines Widerfahrnisses. Das Erbauliche bringt den Geschehenscharakter des Religiösen zur Geltung. Erfahrung heißt zunächst immer Erfahrung eines Anderen. Gleichwohl ist das Erbauungsgeschehen als am und im Selbst sich verwirklichend auch dessen (aktuelle und indirekte) Erfahrung von sich. Religiöse Erfahrung ist im Begriff des Erbaulichen stets als Selbsterfahrung gedacht: am Nichtidentischen erfährt sich zugleich das, was darin für sich identisch wird, durchs Andere schlechthin das eigene Selbst. Schließlich aber ist solche Einheit von Fremd- und Selbsterfahrung bzw. von religiöser Erfahrung und Erfahrung des religiös erfahrenden Selbst auch, und das gibt wieder gerade der Begriff des Erbaulichen zu denken, in dem Sinne Selbst-Erfahrung, daß sie eine aus prinzipiellen Gründen stets nur s e l b s t zu m a c h e n d e Erfahrung ist. Ihr Zustandekommen fürs erfahrende Subjekt impliziert dessen Selbsttätigkeit (cf. Kap. 2b). Das Erbauliche ist - formal beschrieben - eine Kategorie religiöser Erfahrung, insofern darin gerade Fremderfahrung, d. h. Erfahrung überhaupt, nach eben ihrer Funktion - nämlich als für Selbsterfahrung qualifizierend und durch Selbsttätigkeit mitbedingt spezifisch e r f a h r b a r gedacht wird. Das Religiöse an erbaulicher Erfahrung begründet, so gesehen, daß hier notwendig Erfahrung von (mit der) Erfahrung gemacht wird. Bedeutet Erfahrung immer die von Abhängigkeit, Endlichkeitserfahrung, so religiöse deren Gestaltung, d.h. „Selbstbegründung". Unbeschadet der Aufdeckung seiner konstruktiven Implikationen liegt beim Begriff des Erbaulichen doch vorrangig der Akzent auf dem Moment des Wirkenden und Widerfahrenden in religiöser Erfahrung. Es entspricht der systematischen Konsequenz Kierkegaards, das das andere Moment des an sich geschehen Las s ens des zu Erfahrenden, d.h. des wirklichen Sich-Erbauens, auch kategorial selbständig gefaßt wird. Ist „das Erbauliche" eher als Kategorie des Erfahrungs-Gehaltes zu bezeichnen, so findet sie systematische Ergänzung an einer eigenen RezeptionsKategorie. Diese meint der Begriff „Aneignung", dem sich der zweite Teil dieser Untersuchung ausführlich zuwenden wird.
KAPITEL 4 DER ERNST UND DAS ERBAULICHE Zur Darstellung des Erbaulichen wurde in Kapitel 1-3 immer wieder der Begriff Ernst berührt. Dies geschah sowohl in Kierkegaards eigenen Texten83 wie bei ihrer Interpretation.84 Diese Zusammenstellung dürfte nicht zufällig sein. Denn bekanntlich ist „Ernst" ein Spitzenbegriff des Existenzdenkers.85 Es legt sich uns damit die Frage nahe nach dem systematischen Verhältnis beider Begriffe. Weist - so wollen wir im folgenden fragen - der Begriff Ernst in seiner inneren Verfassung Momente auf, die ihn notwendig in sachliche Nähe zum Erbaulichen bringen? Es ist von vornherein absehbar, daß dabei dem Problem, was Gottesgedanke und Ernst miteinander zu tun haben, eine Schlüsselstellung zukommen wird. Versuchen wir zunächst, zur „Einstimmung" so etwas wie eine kleine Phänomenologie des Ernstes zu skizzieren, denn es ist nicht zu bestreiten, daß auch Kierkegaards Begriff Ernst das ihm eigentümliche anspruchsvolle Pathos aus bereits umgangssprachlich erfahrenen Möglichkeiten des Wortgebrauchs gewinnt. Sagt jemand oder empfindet man in einer bestimmten Situation: „Jetzt wird es Ernst" - so ist damit diese Situation in ausgezeichneter Weise 83 84
85
Cf. o. S. 29, 36, 39. Cf. o. S. 29, 34f., 38 f., 60. Als solcher ist er gründlichst und ausführlich untersucht in der vorzüglichen Monographie von M. Theunissen, 1958. Es kann uns nicht darum gehen, die Ergebnisse dieser Arbeit, der die vorliegende Anregungen verdankt und mit der sie sich in erfreulicher Übereinstimmung bezüglich mancher Fragen sieht, hier zusammenfassend zu wiederholen, noch auch darum, was schwerlich möglich sein dürfte, neues Material zum Thema Ernst vorzulegen. Vielmehr erscheint mir allein sinnvoll, den Begriff Ernst an einigen wenigen Texten nach seiner offenkundigen inneren Verwandtschaft zum Erbaulichen zu untersuchen. Dies tut Theunissen so nicht, wenngleich auch er sich zum „Ernst des Erbaulichen" äußert (a.a.O., S. 90-92) - aber dies allein im Zusammenhang der „erbaulichen" Produktion Kierkegaards und unter dem Gesichtspunkt der Mitteilungsthematik.
Der Ernst und das Erbauliche
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qualifiziert. Alles erscheint auf einmal mit irgendwie verpflichtender Qualität besetzt, und das Wirklichkeitsbewußtsein erfährt eine deutliche Steigerung. Es ist, als komme jetzt erst eigentlich Wirklichkeit in die Situation, d.h. überhaupt als solche hervor. Das Geschehen und Verhalten in solcher Situation gewinnt, ohne daß man sich ihm entziehen könnte, ein eindeutiges Gefalle: es ist auf einmal deutlich, was „zählt" und daß überhaupt etwas „zählt". Ein unumkehrbarer Richtungssinn der Situation entfaltet gleichsam eine Eigendynamik, so daß „ernsthaft" mit Folgen zu rechnen ist. Von dieser situativen Umstrukturierung ist unabtrennbar, und sie wird auch immer nur so erlebt, daß zugleich die an ihr teilhabenden Subjekte sie in sich mitvollziehen. Von einem oder mehreren Anwesenden müßte es in solchem Falle regelmäßig heißen: „Plötzlich wurde er ernst". Bemerkbar macht sich als „Ernst" also eine subjektive Einstellungsänderung. Statt in gleichsam beliebiger Plastizität unbefangen „dabei" zu sein, vollzieht das Subjekt ernst werdend einen Akt der Konzentration auf sich selbst (cf.: „tiefernst") und bringt sich als Selbst derart ins Spiel. Wie Wirklichkeit überhaupt kommt auch das Selbst definitiv hervor. Genauer: das Selbst bringt sich selbst hervor, indem es sich als selbsthafte Einheit einer (vorher) vieldeutigen Mannigfaltigkeit durchsetzt und so gleichsam „Profil" gewinnt für sich und die anderen. Es ist solchem Ernstwerden eigentümlich, daß es sich „über" oder „an" etwas ereignet. Nur im Bezug auf ein Auslösendes kommt das Selbst in ernsten Selbstbezug. Ernst ist immer ein Sich-ernst-machenLassen. Im Ernst-werden gehorcht man gleichsam einer höheren Forderung, es zu werden. Das wird besonders deutlich daran, was als sein Gegenteil, als „Unernst", angesprochen wird. Von „Unernst" reden wir, wenn das Subjekt nicht bereit ist (oder es nur scheinbar ist), sich „wirklich" auf an das eigene Selbst unvertretbar gerichtete Anmutungen „einzulassen". Unernst ist in diesem Sinne, das eigene Selbst „außerhalb" zu halten, die Sache nicht „zur eigenen zu machen". Das Unernste hat die Art, dem gerade auszuweichen, daß etwas das eigene Selbst als solches angehen könne. Diese kurze Charakterisierung des Phänomens „Ernst" reicht vielleicht hin, um einige begriffliche Momente hervorteten zu lassen. Danach ist Ernst eine Weise, sich von etwas Bindendem (eo ipso: Höherem) derart betreffen zu l a s s e n , daß man darin eindeutig und unabweisbar man „selbst" wird. Ernst ist so immer ein Ernst-sein-Wollen. Es ist ein Wollen dessen, worin dieses Wollen gehalten wird. Ernst werdend gibt
78
Der Begriff „Erbaulich"
sich das Selbst eine Substantialität dadurch, daß es sich ihr a n h e i m gibt. 8 6 Selbstbegrenzung von unbestimmten Möglichkeiten (Willkür) dient hier zur Selbstbegründung. Zugleich ist an dem Begriff Ernst eine eigentümliche Formalität unübersehbar; er ist inhaltlich schwer zu fassen. Daß es einem „wirklich ernst" ist, ist nur an der inneren Wirklichkeit der Selbstbeteiligung ablesbar. D. h. diese Formalität trägt die Signatur von Subjektivität überhaupt, die eben nie auf Inhaltlichkeit reduzierbar, locker geredet, keine „sichtbare Wirklichkeit" ist. Freilich hat das Maß von Ich-Betroffenheit, das den Ernst „wirklich" macht, einen Ausdruck am Maß von Ichveränderung, das mit jener einhergeht; also irgendwelche Folgen garantieren in gewissem Sinne so etwas wie Wirklichkeit. Auch bedeutet diese Formalität von Ernst, daß er gleichsam wie eine regulative Idee fungiert: indem er eine Richtung freisetzt, in der seine immer weitergehende „Verwirklichung" angelegt ist. Nach dieser Vorbereitung soll nun unverzüglich Kierkegaard selber zu Worte kommen. In einer Reihe von Texten definiert er „Ernst" geradezu durch das Gottesverhältnis: „Ernst ist das Gottesverhältnis eines Menschen" (IX 304 f.) und „Nur das Gottesverhältnis ist Ernst" (ebd. 181). Es drängt sich dabei der Eindruck auf, daß nach Kierkegaards Meinung erst in diesem Zusammenhang der Begriff Ernst seinen höchsten Wesensausdruck erlangt bzw. erst als religiöser Ernst ganz Ernst ist, so daß, was Ernst letztlich zu wirklichem Ernst macht, eben der Bezug auf Gott ist. „Überall, wo der Gedanke an Gott in dem, was ein Mensch tut, denkt, sagt, mit dabei ist, da ist Ernst, darin ist Ernst" (IX 305). Wie nun dieser Zusammenhang genauer zu beschreiben ist, zeigen Texte, in denen das Gottesverhältnis seinerseits charakteristisch näher bestimmt wird. Das Verhältnis des Menschen zu Gott muß nämlich aufgefaßt werden als ein Sein vor Gott: „Ernst ist:. . . daß du vor und für Gott bist" (XI 20). Wo das bewußt wird, kehrt sich das Verhältnis gleichsam um, indem Gott nur als derjenige erfahren werden kann, der von sich aus ein „Verhältnis" zu ihm ermöglicht und trägt. Ein Gottesverhältnis ist nur ein sol86
Cf. Theunissen, 1958, a.a.O., S. 8 über Ernst als Gestimmtsein.
Der Ernst und das Erbauliche
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ches, wenn es sich in ein Gegenverhältnis Gottes einbezogen weiß. Und allein dies fromme Wissen stabilisiert erst jenes Verhältnis zu Gott und den sich darin Verhaltenden: „Der Mensch, der nicht vor Gott ist, ist auch nicht er selbst" (X 45).
Ernst kommt demnach nicht durch irgendein beliebiges Denken an Gott, sondern erst aus dem Gedanken, daß Gott sich einem selbst zuwendet, daß „ich für ihn" bin. Dies findet den religiös-plastischen Ausdruck von Gottes „Sehen": „Gott den Gedanken, welcher der Ernst ist, stehlen, daß Gott auf einen sehe, anstelle wovon das verzweifelte Selbst sich daran genügen läßt, auf sich selber zu sehen . . ." (XI 180).
Durch dieses Gottesverhältnis wird also immer auch das Selbstverhältnis entscheidend qualifiziert: indem ich mich zu mir verhalte, verhält sich zugleich Gott zu mir. Mein Selbstverhältnis wird seiner selbst vor einer höheren Instanz gegenwärtig. Ich kann also gewissermaßen nicht mehr auf mich selber sehen, ohne dabei zu berücksichtigen, daß auch Gott auf mich sieht. Und genau dieser Rücksicht entspringt der Ernst: „eben dies ist ja der Ernst und die Verantwortung, daß Er, der unendlich Erhabene, dir ganz nahe ist. . ." (X 170).
Das bewußte Sein vor Gott findet sich in der Nähe Gottes, einer Nähe, die von Gott her ist und darum unbefangenes Bei-sich-sein unmöglich macht. Das Subjekt weiß, daß es in seinem Selbstbezug nicht allein mit sich ist: es verhält sich so zu sich, daß es dabei auch einen Bezug von außen zu sich weiß. In Gott schaut es an, daß sein Verhalten zu sich immer auch eine ihm entzogene Seite hat, insofern darin über seine unmittelbare Selbstgewißheit hinausgehende Wirklichkeit gegenwärtig ist. Das Bewußtsein um Gottes „Nähe" garantiert dem Selbst Wirklichkeit für sich von außerhalb seiner. Vom Ernst ist somit unablösbar ein gesteigertes Interesse an sich selbst als ausgezeichnetes Bewußtsein der eigenen Wirklichkeit: „der ernsthafte Mensch läßt den Nachdruck stets auf sich selber fallen" (V 117).
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Der Begriff „Erbaulich"
Zerstreute Selbstvergessenheit als Gegenteil von Ernst ist immer auch Wirklichkeitseinbuße. Empfängt sich der Wirklichkeitsernst aus dem Bewußtsein unbedingter Wirklichkeit (Gottes), so ist untrennbar davon das Selbstbewußtsein des Ernstes. Wird er in Gott gleichsam sich selbst gegenständlich, insofern er sich als Gegenstand eines Verhältnisses Gottes zu ihm weiß - so hat der Ernst, der sich aus Gott bestimmt, seinen davon abhängigen Gegenstand am eigenen Selbst. „Dieser Gegenstand [des Ernstes] ist jedem Menschen eigen, denn es ist er s e l b s t " (IV415). 87
Zugleich ist diese Wirklichkeit nur als verpflichtend da; denn „der unendlich Erhabene" in persönlicher Relation zum je eigenen Ich verunmöglicht Unbefangenheit und stiftet - als Wirklichkeitsbewußtsein Verantwortlichkeit. Damit ist „Ernst" konstituiert. Ernst ist also letztlich ein Ernstnehmen Gottes. Im Bezug auf die in Gott gemeinte Unbedingtheit erfährt das Subjekt letzte Wirklichkeit und ist ihm Identität garantiert jenseits seiner. Nur durch den Gedanken letzter Einheit vermag offenbar Subjektivität ihr eigenes Sein zu einigen, und Gott ist ihr daher notwendig nicht „bloß so etwas, was es auch noch gibt", sondern „schlechthin der Erste, . . . der Alleine, unbedingt Alles" (XI 26).
Sich wirklich erfahren, ist dann identisch damit, sich als verantwortlich zu erfahren im Blick auf das schlechthin Unüberholbare und darum letzten Halt Gewährende: „weil da der ist, der mit der Macht der Ewigkeit zwingt" (cf. IX 181).
Ernst als das Rechnen mit diesem Letztbezug verleiht dem Subjekt Wirklichkeit für es selbst. Indem es ernst wird, wird es zugleich sich wirklich. „Der Ernst in diesem Sinne bedeutet die Persönlichkeit selbst, und nur eine ernste Persönlichkeit ist eine wirkliche Persönlichkeit" (W 415).88
Als Ausdruck der individuellen Unverwechselbarkeit und Exklusivität solchen Bezugs zwischen Selbst und Gott im Begriff des Ernstes dient wiederum die Kategorie des „Einzelnen": 87 88
Cf. auch Papirer X6 B 2, a.a.O., S. 10 f. Cf. die negativ gewendete Aussage X 45, zit. o. S. 79.
Der Ernst und das Erbauliche
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„Ernst ist, daß ich als Einzelner mich zu Gott verhalte" (Papirer VIIP B 81, 23, aaO. S 151).
Die phänomenale Struktur des Ernstes, seine Tendenz also, sich von etwas Bindendem betreffen zu lassen89, gelangt im Gottesgedanken zu ihrer vollkommenen Erfüllung. Dabei ist subjektive Konstruktivität jedesmal unverkennbar beteiligt: Ernst-werden-Wollen90 und Gott wirklich Gott sein Lassen fallen in eins. Kierkegaard selbst vermerkt den Zusammenhang von Ernst und Konstruktivität ausdrücklich: „faßt es der Empfangende als Ernst auf, so tut er es wesentlich durch sich selbst, und dies ist gerade der Ernst" (VII 223).
Dabei ist hervorzuheben, daß dies Moment des „durch sich selbst" eben das Sich-selbst-Hervorbringen des ernstlich selbsthaften Subjektes bezeichnet. Im Begriff Ernst gelangen Konstruktivität und Bindung in den Einstand, in dem allein Wirklichkeit als die von Subjektivität erfahrbar wird. Die Konstruktivität des Ernstes ist so etwas wie „Selbstbegründung"91: eine sich in ein sie Begründendes hinein frei aufhebende Selbsttätigkeit, deren Sich-abhängig-Machen im Interesse eigener Wirklichkeitsvergewisserung geschieht. Sie geht darauf, als sie letztlich bindend zu erfahren, was sie gleichwohl selbst für sich hervorbringt. Diese Bewegung kommt in einer Umkehrung an ihr Ziel: wo das, dem sie sich verbindlich überlassen will, ihr zum unausweichlich Zwingenden, wo es „Ernst" wird. Ernst ist, sich „zwingen" zu lassen: „der wahre Ernst kommt eigenlich erst da hervor, wo ein Mensch mit Tüchtigkeit gegen seine Lust von einem Höheren gezwungen wird . . ." (XIV 105).
Die konstruktive Anerkennung eines „Höheren" ist die Bereitschaft, zwingend Bindendes wahrzunehmen. Denn nur so kann die unbestimmte Möglichkeit von Subjektivität (Willkür) sich selbst eindeutig wirklich werden:
89
s.o. S. 77f. *° s. o. S. 77. Den Zusammenhang von Ernst und Selbsttätigkeit betont auch VIII 216. " Dazu s. o. S. 53 u. 62 f.
82
Der Begriff „Erbaulich" „Der Mensch muß gezwungen werden, wenn es Ernst werden soll" (Papirer X3 A 499, aaO S. 332).
Dies demonstriert eine andere Tagebuchnotiz kritisch an Kants Autonomiebegriff: „Zwang muß her, wenn es Ernst werden soll. Wenn nichts höheres Bindendes ist als ich selber und ich soll mich selber binden, woher sollte ich da als A, der Bindende, die Strenge bekommen, die ich nicht habe als B, der gebunden werden soll, wenn doch A und B dasselbe Selbst ist. Dies zeigt sich nun besonders auf allen religiösen Gebieten. Die Umsetzung, die eigentlich geschieht von Unmittelbarkeit zu Geist, dieses Absterben, wird nicht Ernst, wird eine Illusion, ein Experimentieren, wenn da nicht ein Drittes ist, das Zwingende, das nicht das Individuum selbst ist" (X2 A 396, Tgb. IV, S. 93).
Der Text dokumentiert am Exempel des Autonomiebegriffs, daß das Dilemma von „Selbstbegründung" nur eine religiöse Auflösung erfahren kann: als Umkehrung endlicher Leistung von unbedingter Selbstgebung her. Daß die derart durch göttliches Entgegenkommen stabilisierte Bewegung als empfangene Wirklichkeit zugleich doch die eigene von Subjektivität bleibt, schlägt sich im Begriff „Geist" nieder. Wahrhafte Wirklichkeit des Subjektes kann Kierkegaard offenbar nur als ethisch-geisthafte, d.h. e r n s t h a f t e denken. Nur das dem Ernst sich erschließende Geheimnis ungedingt-bindender Wirklichkeit garantiert, daß Subjektivität sich nicht in unbestimmter Vieldeutigkeit scheinhaft wird: „eine Illusion, ein Experimentieren" (ebd.). Das ein Anerkennen des „Höheren" programmatisch verweigernde Bei-sich-selbst-Bleiben der Subjektivität wird am Surrogat der eigenen Unwirklichkeit zu „Verzweiflung"; denn es ist „das verzweifelte Selbst", das „sich daran genügen läßt, auf sich selber zu sehen" (XI 180). So kommt es nicht zum Wirklichkeitsernst, denn „es kennt keine Macht über sich, darum ermangelt es, im letzten Grunde, des Ernstes, und kann lediglich einen Schein von Ernst vorgaukeln, wenn es seinen Experimenten selbst allerhöchst seine Aufmerksamkeit schenkt" (ebd.).
Wie die Verzweiflung verrät (die letzten Zitate stammen aus der „Krankheit zum Tode"), genügt die reine Selbstgenügsamkeit sich eben doch nicht selber, ist der Schein von Ernst Entwirklichung. Das Illusionäre
Der Ernst und das Erbauliche
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und unverbindlich Experimentierende solcher Existenz rückt ihren Unernst in die Nähe von Kierkegaards Begriff des Ästhetischen. „Das Mangelhafte selbst an der edelsten menschlichen Begeisterung ist, daß sie, als bloß menschlich, im letzten Sinne n i c h t i h r e r s e l b s t mächtig ist, weil sie k e i n e h ö h e r e Macht ü b e r sich hat. Nur das Gottesverhältnis ist Ernst; das Ernste ist gerade, daß die Aufgabe zu ihrem Höchsten gezwungen wird, weil da der ist, der mit der Macht der Ewigkeit zwingt, das Ernste ist, daß die Begeisterung Macht über sich und Zwang auf sich hat" (IX 181).
Es ist die innere Dialektik der ästhetischen Haltung92, in ihrer reinen Selbstmächtigkeit gerade sich als Willkür preisgegeben zu sein. Der Bindung im Ernst dagegen verdankt sich erst wahrhafte Selbstmächtigkeit. Freiheit hat Macht über sich nur durch eine Macht ü b e r sich. Kierkegaards Verständnis von wahrhafter Wirklichkeit der Subjektivität erweist sich hier als das von erfüllter Freiheit. Ihr ist die konstruktive Hingabe an ein zwingend Höheres Bedingung der eigenen Verwirklichung. Das Gottesverhältnis tritt genau in diese Funktion eines Letztbegründenden ein. Daß dabei Freiheit sich in ein unendlich Überlegenes einbeziehen läßt und sich zwingender Wirklichkeit aussetzt, bedeutet zugleich aber, daß Ernst ein Moment von Selbstnegation unmittelbarer Selbstgenügsamkeit einschließt. Ist „Selbstvernichtigung die wesentliche Form für das Gottesverhältnis" (VII 401),
so bedeutet Ernst immer auch, daß der Mensch „vor Gott nichts ist und nichts vermag" (VII 402). Es ist dies wie eine Probe auf den Ernst des Ernstes; denn das „einzige Ernste" ist eben, „sich zu Gott zu verhalten, zu nichts zu werden" (IX 101). Solche Selbsthingabe und -Überwindung hat der Ernst mit der Liebe im Gottesverhältnis gemeinsam: „Aber für den, der die Liebe preisen will . . ., muß das Verhältnis der Selbstverleugnung zu Gott oder dies, sich in Selbstverleugnung zu Gott zu verhalten, der Ernst sein . . ." (IX 345).
Die zusammenfassende Formel für dies Moment der Selbstnegation im Ernst ist uns bereits begegnet:
92
Zu ihrer Schilderung s. o. S. 20 f.
84
Der Begriff „Erbaulich" „Die Umsetzung, die eigentlich geschieht von Unmittelbarkeit zu Geist, dieses Absterben . . ." (X2 A 396)."
Sie bezeugt, daß jene Negation im Interesse von Positivität geschehen soll: wahrhafte Identität gewinnt sich nur in selbsttätiger Distanz zu unmittelbarer Selbstaffirmation und aus dialektischem Bezug zum Unbedingten, bzw. die Freiheit vollendet sich religiös. Die sachliche Nähe der Begriffe „Ernst" und „Erbaulichkeit" dürfte mit dem allen handgreiflich geworden sein. Es gilt jetzt vielmehr, ihren Unterschied zu formulieren, da ihre Struktur völlig konform erscheint. Man vergleiche nur das Verhältnis von „Schrecken" und „Sieg" beim Erbaulichen 94 mit dem von „Zwang" (Selbstvernichtigung) und Wirklichwerden beim Ernst. Beide Begriffe gehorchen der Dialektik von an Negativität kenntlicher Positivität. Und doch ist der Begriff Ernst der weitere; er erscheint auch in vielen noch nicht explizit religiösen Gestalten.95 Ernst ist gleichsam eine Grundform des Wirklichkeitsbezuges, der sich das erbauliche Verhältnis glatt einpaßt. Andererseits hörten wir schon: was der Ernst letztlich und eigentlich ist, „dies zeigt sich nun besonders auf allen religiösen Gebieten".96 Das Erbauliche wäre also der spezifische Ernst der Religion und im religiösen Subjekt. Und Ernst - von daher gesehen - die nichtreligiöse, aber zum Religiösen hin geöffnete Vorform des Erbaulichen. Dieses ist gleichsam der Ernst, der sich im Unbedingten erfaßt. Vertieft der Ernst sich in sich zum Gottesverhältnis, so bringt er sich nur zum Bewußtsein, was in ihm wesentlich angelegt ist. Das Erbauliche ist das innere Telos des Ernstes. Hebt man umgekehrt am Erbaulichen seinen Ernst hervor, so gerät vor allem dessen Wirklichkeitsbezug und die darin liegende Grundstimmung des Erbauten in den Blick.
93 9