Sämtliche Werke: Band 3 Schriften zur Kunst- und Literaturtheorie 9783111145709, 9783110785210

Ab 1785, vor allem jedoch seit seiner Italienreise (1786–1788) beschäftigte sich der Berliner Spätaufklärer und Frühklas

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German Pages 1596 [580] Year 2023

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Table of contents :
Inhalt
Texte. Grundlagenschriften zur ästhetischen Theorie
Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sichselbst Vollendeten.
Ueber die bildende Nachahmung des Schönen
In wie fern Kunstwerke beschrieben werden können?
Ueber die Allegorie
Grundlinien zu einer vollständigen Theorie der schönen Künste
Über des Herrn Professor Herz Versuch über den Geschmack
Die metaphysische Schönheitslinie
Schriften zur Kunsttheorie
Sind die architektonischen Zierrathen in den verschiedenen Säulenordnungen willkührlich oder wesentlich?
Vom Isoliren, in Rücksicht auf die schönen Künste überhaupt
Minerva
Einfachheit und Klarheit
Vorbegriffe zu einer Theorie der Ornamente
Schriften zur Literatur
Über eine Preisfrage: Wie kann der Nationalgeschmack durch die Nachahmung der fremden Werke, aus der alten sowohl als neuern Litteratur, entwickelt und vervolkommnet werden?
Schriften zum Streit mit Joachim Heinrich Campe 〈Öffentliche Erklärung vom 2. Mai 1789〉
Ueber eine Schrift des Herrn Schulrath Campe, und über die Rechte des Schriftstellers und Buchhändlers
〈Öffentliche Erklärung, erschienen am 11. Juli 1789〉
〈Öffentliche Erklärung vom 28. Juli 1789〉
Der Dichter im Tempel der Natur. Ein Fragment
Milton über Weißheit und Schönheit
Anmerkungen von dem verstorbenen Professor Moritz. Ueber die Idee einer ernsthaften Epopee unserer Zeit
Prosodie und Stilistik
Versuch einer deutschen Prosodie
Grundlinien zu meinen Vorlesungen über den Styl
Vorlesungen über den Styl. Erster Theil
Vorlesungen über den Styl. Zweiter Theil
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Sämtliche Werke: Band 3 Schriften zur Kunst- und Literaturtheorie
 9783111145709, 9783110785210

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Karl Philipp Moritz Sämtliche Werke Band 3

Karl Philipp Moritz S�mtliche Werke Sämtliche Kritische und kommentierte Ausgabe Ausgabe von Herausgegeben von Martin Disselkamp, Anneliese Anneliese Klingenberg, Klingenberg, Albert Meier, Conrad Conrad Wiedemann Wiedemann und Christof Wingertszahn Wingertszahn

Band Band4/2 3

De Gruyter

Karl Philipp Moritz S�mtliche Werke Schriften zur Kunst- und Literaturtheorie Kritische und kommentierte Ausgabe Herausgegeben I: Text von Martin Disselkamp, Anneliese Klingenberg, Albert Meier, Conrad Wiedemann Herausgegeben und Christof Wingertszahn von Martin Disselkamp Band 4/2 Herausgegeber des Versuchs einer deutschen Prosodie: Lars Korten

De Gruyter

Kritische und kommentierte Moritz-Ausgabe gefördert von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

ISBN 978-3-484-15700-2 (Gesamtwerk) ISBN 978-3-11-078521-0 (Band 3) e-ISBN (PDF) 978-3-11-114570-9

Library of Congress Control Number: 2023935761 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: pagina GmbH, Tübingen Druck und buchbinderische Verarbeitung: Beck Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Texte Grundlagenschriften zur ästhetischen Theorie Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ueber die bildende Nachahmung des Schönen . . . . . . . . . . . . . . . In wie fern Kunstwerke beschrieben werden können? . . . . . . . . . Ueber die Allegorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlinien zu einer vollständigen Theorie der schönen Künste . Über des Herrn Professor Herz Versuch über den Geschmack . . . Die metaphysische Schönheitslinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3 10 43 55 59 61 65

Schriften zur Kunsttheorie Sind die architektonischen Zierrathen in den verschiedenen Säulenordnungen willkührlich oder wesentlich? . . . . . . . . . . . . Vom Isoliren, in Rücksicht auf die schönen Künste überhaupt . . . Minerva . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einfachheit und Klarheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbegriffe zu einer Theorie der Ornamente . . . . . . . . . . . . . . . .

75 79 82 85 88

VI

Inhalt

Schriften zur Literatur Über eine Preisfrage: Wie kann der Nationalgeschmack durch die Nachahmung der fremden Werke, aus der alten sowohl als neuern Litteratur, entwickelt und vervolkommnet werden? . . . Schriften zum Streit mit Joachim Heinrich Campe . . . . . . . . . . . . . . . . 〈Öffentliche Erklärung vom 2. Mai 1789〉 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ueber eine Schrift des Herrn Schulrath Campe, und über die Rechte des Schriftstellers und Buchhändlers . . . . . . . . . . . . . 〈Öffentliche Erklärung, erschienen am 11. Juli 1789〉 . . . . . . . . . . . . . 〈Öffentliche Erklärung vom 28. Juli 1789〉 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Dichter im Tempel der Natur. Ein Fragment . . . . . . . . . . . . Milton über Weißheit und Schönheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen von dem verstorbenen Professor Moriz. Ueber die Idee einer ernsthaften Epopee unserer Zeit . . . . . . . . . . . . . . .

149 154 154 157 191 192 193 200 203

Prosodie und Stilistik Versuch einer deutschen Prosodie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlinien zu meinen Vorlesungen über den Styl . . . . . . . . . . . Vorlesungen über den Styl. Erster Theil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorlesungen über den Styl. Zweiter Theil . . . . . . . . . . . . . . . . . .

217 353 357 493

Kommentar Benutzungshinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zu diesem Band . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Editorische Abkürzungen und Zeichen 3. Allgemeine Abkürzungen . . . . . . . . . . 4. Abgekürzt zitierte Werke von Moritz . 5. Abgekürzt zitierte Literatur . . . . . . . .

................... ................... ................... ................... ................... ...................

569 569 571 572 573 577

Zur Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

651

Inhalt

VII

Grundlagenschriften zur ästhetischen Theorie Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Textgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Varianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblickskommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Versuch einer Vereinigung im Werkkontext . . . . . . . . . . 2. Ästhetische Debatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Eine ›entpsychologisierte‹ Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dokumente zur Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stellenerläuterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

659 659 659 660 667 667 674 678 683 683 686

Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Textgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Varianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblickskommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Ideenspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Erkenntnistheorie und geniale Produktionsästhetik 4. Leid, Tragik, Mitleid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Dokumente zur Entstehung . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zeitgenössische Rezensionen . . . . . . . . . . . . . . . 3. Weitere Rezeptionszeugnisse . . . . . . . . . . . . . . . Stellenerläuterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ueber die bildende Nachahmung des Schönen . . . . . . . . . . . . . . . ........... ........... ........... ........... ........... ........... ........... ........... ........... ........... ........... ........... ...........

695 695 695 696 706 706 711 713 719 726 726 727 745 770

In wie fern Kunstwerke beschrieben werden können? . . . . . . . . . .................................... .................................... .................................... ....................................

801 801 801 802 809

Überlieferung . . . . . . 1. Textgrundlage . 2. Varianten . . . . Überblickskommentar

VIII

Inhalt

Dokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dokumente zur Entstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stellenerläuterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

818 818 819

Ueber die Allegorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Textgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Varianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblickskommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Monats-Schrift der Akademie der Künste und mechan. Wissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Allegorie und Allegoriekritik im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . 3. Moritz’ Allegoriekritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Allegoriekritik als Rehabilitation der Allegorie . . . . . . . . . . . . . . . Stellenerläuterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

831 831 831 832 834

Überlieferung . . . . . . 1. Textgrundlage . 2. Varianten . . . . Überblickskommentar Stellenerläuterungen .

Grundlinien zu einer vollständigen Theorie der schönen Künste . .................................... .................................... .................................... .................................... ....................................

854 854 854 855 857 860

Überlieferung . . . . . . . . . . . . 1. Textgrundlage . . . . . . . 2. Varianten . . . . . . . . . . Überblickskommentar . . . . . . Dokumente . . . . . . . . . . . . . Dokumente zur Entstehung Stellenerläuterungen . . . . . . .

Über des Herrn Professor Herz Versuch über den Geschmack . . . .............................. .............................. .............................. .............................. .............................. ............................. ..............................

862 862 862 863 864 870 870 873

Die metaphysische Schönheitslinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Textgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Varianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

876 876 876 877

834 837 841 844 845

Inhalt Überblickskommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stellenerläuterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

IX

878 881

Schriften zur Kunsttheorie Sind die architektonischen Zierrathen in den verschiedenen Säulenordnungen willkührlich oder wesentlich? . . . . . . . . . . . . Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Textgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Varianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblickskommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stellenerläuterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

886 886 886 887 890 894

Überlieferung . . . . . . 1. Textgrundlage . 2. Varianten . . . . Überblickskommentar Stellenerläuterungen .

Vom Isoliren, in Rücksicht auf die schönen Künste überhaupt . . . .................................... .................................... .................................... .................................... ....................................

899 899 899 900 901 903

Minerva . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Textgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Varianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblickskommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stellenerläuterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

907 907 907 907 908 911

Einfachheit und Klarheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .................................... .................................... .................................... .................................... ....................................

915 915 915 916 917 920

Überlieferung . . . . . . 1. Textgrundlage . 2. Varianten . . . . Überblickskommentar Stellenerläuterungen .

X

Inhalt

Vorbegriffe zu einer Theorie der Ornamente . . . . . . . . . . . . . . . . ................. ................. ................. ................. ................. ................. ................. ................. ................. ................. ................. ................. ................. ................. .................

Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Textgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Varianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblickskommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Textbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Entstehungsanlässe . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zur zeitgenössischen Ornamentdebatte . 4. Arabesken und Grotesken . . . . . . . . . . . 5. Ornamenttheorie und Autonomietheorie 6. Einheit in der Mannigfaltigkeit . . . . . . . . . 7. Italien und Deutschland . . . . . . . . . . . . . Dokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zeitgenössische Rezensionen . . . . . . . . . 2. Weitere Rezeptionszeugnisse . . . . . . . . . Stellenerläuterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

928 928 928 931 946 946 951 956 959 962 965 968 970 970 980 980

Schriften zur Literatur Über eine Preisfrage: Wie kann der Nationalgeschmack durch die Nachahmung der fremden Werke, aus der alten sowohl als neuern Litteratur, entwickelt und vervolkommnet werden? . . . Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Textgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Varianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblickskommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeitgenössische Rezensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stellenerläuterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1056 1056 1056 1057 1058 1064 1064 1066

Schriften zum Streit mit Joachim Heinrich Campe 〈Öffentliche Erklärung vom 2. Mai 1789〉 . . . . Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Textgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Varianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1069 1069 1069 1069 1069

................ ................ ................ ................ ................

Inhalt

XI

Ueber eine Schrift des Herrn Schulrath Campe, und über die Rechte des Schriftstellers und Buchhändlers . . . . . . . . . . . . . Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Textgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Varianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1070 1070 1070 1071

〈Öffentliche Erklärung, erschienen am 11. Juli Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Textgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Varianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1072 1072 1072 1072

〈Öffentliche Erklärung Überlieferung . . . . . 1. Textgrundlage . 2. Varianten . . . .

1789〉 . . . . . . . . . . . . . .................. .................. ..................

vom 28. Juli 1789〉 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1073 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1073 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1073 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1073

Überblickskommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur Vorgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Campes Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Moritz’ Streitschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Dokumente zum Streit zwischen Moritz und Campe . . . . . . . 2. Zeitgenössische Rezensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Weitere Rezeptionszeugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stellenerläuterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stellenerläuterungen zur öffentlichen Erklärung vom 2. Mai 1789 . Stellenerläuterungen zu Ueber eine Schrift des Herrn Schulrath

1074 1074 1083 1086 1091 1091 1119 1121 1124 1124

Campe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1124 Stellenerläuterungen zur öffentlichen Erklärung, erschienen am 11. Juli 1789 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1139

Der Dichter im Tempel der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .................................... .................................... .................................... .................................... ....................................

Überlieferung . . . . . . 1. Textgrundlage . 2. Varianten . . . . Überblickskommentar Stellenerläuterungen .

1140 1140 1140 1140 1141 1146

XII

Inhalt

Überlieferung . . . . . . 1. Textgrundlage . 2. Varianten . . . . Überblickskommentar Stellenerläuterungen .

Milton über Weißheit und Schönheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .................................... .................................... .................................... .................................... ....................................

1159 1159 1159 1159 1160 1162

Anmerkungen von dem verstorbenen Professor Moriz. Über die Idee einer ernsthaften Epopee unserer Zeit . . . . . . . . . . . . . . . Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Textgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Varianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblickskommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entstehung; Moritz und Jenisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Jenischs Borussias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zur Literaturkritik der Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stellenerläuterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1164 1164 1164 1164 1166 1166 1169 1172 1175

Prosodie und Stilistik Versuch einer deutschen Prosodie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..................... ..................... ..................... ..................... ..................... ..................... ..................... ..................... ..................... ..................... ..................... ..................... .....................

Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Textgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Varianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblickskommentar . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zur Prosodie im 18. Jahrhundert . . 3. Moritz’ System der Prosodie . . . . . 4. Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zeugnisse zur Entstehungsgeschichte 2. Zeitgenössische Rezensionen . . . . . 3. Zeugnisse zur Wirkungsgeschichte . Stellenerläuterungen . . . . . . . . . . . . . . . .

1189 1189 1189 1190 1216 1216 1219 1223 1225 1227 1227 1228 1246 1267

Inhalt

Grundlinien zu meinen Vorlesungen über den Styl . . . . . . . . . . . ....................... ....................... ....................... ....................... .......................

Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Textgrundlage . . . . . . . . . . . . . . 2. Varianten . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblickskommentar und Dokumente Stellenerläuterungen . . . . . . . . . . . . . .

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Vorlesungen über den Styl. Erster Theil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1295 Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1295 1. Textgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1295 2. Varianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1297 Vorlesungen über den Styl. Zweiter Theil . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1313 Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1313 1. Textgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1313 2. Varianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1314 Überblickskommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1319 1. Entstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1319 2. Geschäftsstyl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1322 3. Adelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1332 4. Eine nichtnormative Stillehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1335 5. Wort und Sache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1340 6. Kürze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1344 7. Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1349 Dokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1353 1. Dokumente zur Entstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1353 2. Zeitgenössische Rezensionen zu Grundlinien zu meinen Vorlesungen über den Styl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1358 3. Zeitgenössische Rezensionen zu Teil 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1359 4. Zeitgenössische Rezensionen zu Teil 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1395 5. Rezensionen zur Neuauflage von 1808 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1417 6. Weitere Rezeptionszeugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1418 Stellenerläuterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1424 Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1531 Abbildungsnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1543 Personen- und Werkregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1545

Texte Grundlagenschriften zur ästhetischen Theorie

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Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des i n s i c h s e l b s t Vo l l e n d e t e n . An Herrn Moses Mendelssohn. Man hat den Grundsatz von der N a c h a h m u n g der Natur, als den Hauptendzwek der schönen Künste und Wissenschaften verworfen, und ihn dem Zwek des Ve r g n ü g e n s untergeordnet, den man dafür zu dem ersten Grundgesetze der schönen Künste gemacht hat. Diese Künste, sagt man, haben eigentlich bloß das Vergnügen, so wie die mechanischen den Nutzen, zur Absicht. – Nun aber finden wir sowohl Vergnügen am Schönen, als am Nützlichen: wie unterscheidet sich also das erstre vom letztern? Bei dem bloß Nützlichen finde ich nicht sowohl an dem Gegenstande selbst, als vielmehr an der Vorstellung von der Bequemlichkeit oder Behaglichkeit, die mir oder einem andern durch den Gebrauch desselben zuwachsen wird, Vergnügen. Ich mache mich gleichsam zum Mittelpunkte, worauf ich alle Theile des Gegenstandes beziehe, d. h. ich betrachte denselben bloß als Mittel, wovon ich selbst, in so fern meine Vollkommenheit dadurch befördert wird, der Zwek bin. Der bloß nützliche Gegenstand ist also in sich nichts Ganzes oder Vollendetes, sondern wird es erst, indem er in mir seinen Zwek erreicht, oder in mir vollendet wird. – Bei der Betrachtung des Schönen aber wälze ich den Zwek aus mir in den Gegenstand selbst zurük: ich betrachte ihn, als etwas, nicht in mir, sondern i n s i c h s e l b s t Vo l l e n d e t e s , das also in sich ein Ganzes ausmacht, und mir um s e i n s e l b s t w i l l e n Vergnügen gewährt; indem ich dem schönen Gegenstande nicht sowohl eine Beziehung auf mich, als mir vielmehr eine Beziehung auf ihn gebe. Da mir nun das Schöne mehr um sein selbst willen, das Nützliche aber bloß um meinetwillen, lieb ist; so gewähret mir das Schöne ein höheres und uneigennützigeres Vergnügen, als das

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bloß Nützliche. Das Vergnügen an dem bloß Nützlichen ist gröber und gemeiner, das Vergnügen an dem Schönen feiner und seltner. Jenes haben wir, in gewissem Verstande, mit den Thieren gemein; dieses erhebt uns über sie. Da das Nützliche seinen Zwek nicht in sich, sondern a u ß e r sich in etwas anderm hat, dessen Vollkommenheit dadurch vermehrt werden soll; so muß derjenige, welcher etwas Nützliches hervorbringen will, diesen ä u ß e r n Zwek bei seinem Werke beständig vor Augen haben. Und wenn das Werk nur seinen äußern Zwek erreicht, so mag es übrigens in sich beschaffen sein, wie es wolle; dies kömmt, in so fern es bloß nützlich ist, gar nicht in Betracht. Wenn eine Uhr nur richtig ihre Stunden zeigt, und ein Messer nur gut schneidet; so bekümmre ich mich, in Ansehung des eigentlichen Nutzens, weder um die Kostbarkeit des Gehäuses an der Uhr, noch des Griffes an dem Messer: auch achte ich nicht darauf, ob mir selbst das Werk in der Uhr, oder die Klinge an dem Messer, gut ins Auge fällt oder nicht. Die Uhr und das Messer haben ihren Zwek außer sich, in demjenigen, welcher sich derselben zu seiner Bequemlichkeit bedienet; sie sind daher nichts in sich Vollendetes, und haben an und für sich, ohne die mögliche oder wirkliche Erreichung ihres äußern Zweks, keinen eigenthümlichen Werth. Mit diesem ihren äußern Zwek zusammengenommen als ein Ganzes betrachtet, machen sie mir erst Vergnügen; von diesem Zwek abgeschnitten, lassen sie mich völlig gleichgültig. Ich betrachte die Uhr und das Messer nur mit Vergnügen, in so ferne ich sie brauchen kann, und brauche sie nicht, damit ich sie betrachten kann. Bei dem Schönen ist es umgekehrt. Dieses hat seinen Zwek nicht außer sich, und ist nicht wegen der Vollkommenheit von etwas anderm, sondern wegen seiner eignen innern Vollkommenheit da. Man betrachtet es nicht, in so fern man es brauchen kann, sondern man braucht es nur, in so fern man es betrachten kann. Wir bedürfen des Schönen nicht so sehr, um dadurch ergötzt zu werden, als das Schöne unsrer bedarf, um erkannt zu werden. Wir können sehr gut ohne die Betrachtung schöner Kunstwerke bestehen, diese aber können, als solche, nicht wohl ohne unsre Betrachtung bestehen. Jemehr wir sie

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also entbehren können, desto mehr betrachten wir sie um ihrer selbst willen, um ihnen durch unsre Betrachtung gleichsam erst ihr wahres volles Dasein zu geben. Denn durch unsre zunehmende Anerkennung des Schönen in einem schönen Kunstwerke, vergrößern wir gleichsam seine Schönheit selber, und legen immer mehr Werth hinein. Daher das ungeduldige Verlangen, daß alles dem Schönen huldigen soll, welches wir einmal dafür erkannt haben: je allgemeiner es als schön erkannt und bewundert wird, desto mehr Werth erhält es auch in unsern Augen. Daher das Mißvergnügen bei einem leeren Schauspielhause, wenn auch die Vorstellung noch so vortreflich ist. Empfänden wir das Vergnügen an dem Schönen mehr um unsert- als um sein selbst willen, was würde uns daran liegen, ob es von irgend jemand außer uns erkannt würde? Wir verwenden, wir beeifern uns für das Schöne, um ihm Bewundrer zu verschaffen, wir mögen es antreffen, wo wir wollen: ja wir empfinden sogar eine Art von Mitleid beim Anblik eines schönen Kunstwerks, das in den Staub darniedergetreten, von den Vorübergehenden mit gleichgültigem Blik betrachtet wird. – Auch das süße Staunen, das a n g e n e h m e Ve r g e s s e n u n s r e r s e l b s t bei Betrachtung eines schönen Kunstwerks, ist ein Beweis, daß unser Vergnügen hier etwas untergeordnetes ist, das wir freiwillig erst durch das Schöne bestimmt werden lassen, welchem wir eine Zeitlang eine Art von Obergewalt über alle unsre Empfindungen einräumen. Während das Schöne unsre Betrachtung ganz auf sich zieht, zieht es sie eine Weile von uns selber ab, und macht, daß wir uns in dem schönen Gegenstande zu verlieren scheinen; und eben dies Verlieren, dies Vergessen unsrer selbst, ist der höchste Grad des reinen und uneigennützigen Vergnügens, welches uns das Schöne gewährt. Wir opfern in dem Augenblik unser individuelles eingeschränktes Dasein einer Art von höherem Dasein auf. Das Vergnügen am Schönen muß sich daher immer mehr der uneigennützigen L i e b e nähern, wenn es ächt sein soll. Jede specielle Beziehung auf mich in einem schönen Kunstwerke giebt dem Vergnügen, das ich daran empfinde, einen Zusatz, der für einen andern verlohren geht; das Schöne in dem Kunstwerke ist für mich nicht eher rein und unvermischt, bis

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ich die specielle Beziehung auf mich ganz davon hinwegdenke, und es als etwas betrachte, das bloß um sein selbst willen hervorgebracht ist, damit es etwas in sich Vollendetes sei. – So wie nun aber die Liebe und das Wohlwollen dem edeln Menschenfreunde gewissermaßen zum Bedürfniß werden können, ohne daß er deswegen eigennützig werde; so kann auch dem Mann von Geschmak das Vergnügen am Schönen, durch die Gewöhnung dazu, zum Bedürfniß werden, ohne deswegen seine ursprüngliche Reinheit zu verlieren. Wir bedürfen des Schönen bloß, weil wir Gelegenheit zu haben wünschen, ihm durch Anerkennung seiner Schönheit zu huldigen. Ein Ding kann also nicht deswegen schön sein, weil es uns Vergnügen macht, sonst müßte auch alles Nützliche schön sein; sondern was uns Vergnügen macht, ohne eigentlich zu nützen, nennen wir schön. Nun kann aber das Unnütze oder Un-zwekmäßige unmöglich einem vernünftigen Wesen Vergnügen machen. Wo also bei einem Gegenstande ein äußerer Nutzen oder Zwek fehlt, da muß dieser in dem Gegenstande selbst gesucht werden, sobald derselbe mir Vergnügen erwekken soll; oder: ich muß i n d e n e i n z e l n e n T h e i l e n desselben so viel Zwekmäßigkeit finden, daß ich vergesse zu fragen, wozu nun eigentlich das Ganze soll? Das heißt mit andern Worten: ich muß an einem schönen Gegenstande nur um sein selbst willen Vergnügen finden; zu dem Ende muß der Mangel der äußern Zwekmäßigkeit durch seine innere Zwekmäßigkeit ersetzt sein; der Gegenstand muß etwas in sich selbst Vollendetes sein. Ist nun die innere Zwekmäßigkeit in einem schönen Kunstwerke nicht groß genug, um mich die äußere darüber vergessen zu lassen; so frage ich natürlicher Weise: wozu das Ganze? Antwortet mir der Künstler: um dir Vergnügen zu machen; so frage ich ihn weiter: was hast du für einen Grund, mir durch dein Kunstwerk eher Vergnügen als Mißvergnügen zu erwekken? Ist dir an meinem Vergnügen so viel gelegen, daß du dein Werk mit Bewußtsein unvollkommner machen würdest, als es ist, damit es nur nach meinem vielleicht verdorbnem Geschmak wäre; oder ist dir nicht vielmehr an deinem Werke so viel

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gelegen, daß du mein Vergnügen zu demselben hinaufzustimmen suchen wirst, damit seine Schönheiten von mir empfunden werden? Ist das letztere, so sehe ich nicht ab, wie mein zufälliges Vergnügen der Zwek von deinem Werke sein konnte, da dasselbe durch dein Werk selbst erst in mir erwekt und bestimmt werden mußte. Nur in so fern du weißt, daß ich mich gewöhnt habe, an dem, was wirklich in sich vollkommen ist, Vergnügen zu empfinden, ist dir mein Vergnügen lieb; dies würde aber nicht so sehr bei dir in Betracht kommen, wenn es dir bloß um mein Vergnügen, und nicht vielmehr darum zu thun wäre, daß die Vollkommenheit deines Werks durch den Antheil, den ich daran nehme, bestätiget werden soll. Wenn das Vergnügen nicht ein s o s e h r u n t e r g e o r d n e t e r Z w e k , oder vielmehr nur eine natürliche Folge bei den Werken der schönen Künste wäre; warum würde der ächte Künstler es denn nicht auf so viele als möglich zu verbreiten suchen, statt daß er oft die angenehmen Empfindungen von vielen Tausenden, die für seine Schönheiten keinen Sinn haben, der Vollkommenheit seines Werks aufopfert? – Sagt der Künstler: aber wenn mein Werk gefällt oder Vergnügen erwekt, so habe ich doch meinen Zwek erreicht; so antworte ich: umgekehrt! weil du deinen Zwek erreicht hast, so gefällt dein Werk, oder daß dein Werk gefällt, k a n n v i e l l e i c h t e i n Z e i c h e n sein, daß du deinen Zwek in dem Werke selbst erreicht hast. War aber der eigentliche Zwek bei deinem Werke mehr das Vergnügen, das du dadurch bewürken wolltest, als die Vollkommenheit des Werks in sich selber; so wird mir eben dadurch der Beifall schon sehr verdächtig, den dein Werk bei diesem oder jenem erhalten hat. »Aber ich strebe nur den Edelsten zu gefallen.« – Wohl! aber dies ist nicht dein letzter Zwek; denn ich darf noch fragen: warum strebst du gerade den Edelsten zu gefallen? Doch wohl, weil diese sich gewöhnt haben, an dem Vollkommensten das größte Vergnügen zu empfinden? Du beziehst ihr Vergnügen auf dein Werk zurük, dessen Vollkommenheit du dadurch willst bestätiget sehen. Muntre dich immer durch den Gedanken an den Beifall der Edlen zu deinem Werke auf; aber mache ihn selber nicht zu deinem letzten und höchsten Ziele,

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sonst wirst du ihn am ersten verfehlen. Auch der schönste Beifall will nicht erjagt, sondern nur auf dem Wege mitgenommen sein. Die Vollkommenheit deines Werks fülle während der Arbeit deine ganze Seele, und stelle selbst den süßesten Gedanken des Ruhms in Schatten, daß dieser nur zuweilen hervortrete, dich aufs neue zu beleben, wenn dein Geist anfängt, laß zu werden; dann wirst du ungesucht erhalten, wornach Tausende sich vergeblich bemühen. Ist aber die Vorstellung des Beifalls dein Hauptgedanke, und ist dir dein Werk nur in so fern werth, als es dir Ruhm verschaft; so thu Verzicht auf den Beifall der Edlen. Du arbeitest nach einer eigennützigen Richtung: der Brennpunkt des Werks wird außer dem Werke fallen, du bringst es nicht um sein selbst willen, und also auch nichts Ganzes, in sich Vollendetes, hervor. Du wirst falschen Schimmer suchen, der vielleicht eine Zeitlang das Auge des Pöbels blendet, aber vor dem Blik des Weisen wie Nebel verschwindet. Der wahre Künstler wird die höchste innere Zwekmäßigkeit oder Vollkommenheit in sein Werk zu bringen suchen; und wenn es dann Beifall findet, wird’s ihn freuen, aber seinen eigentlichen Zwek hat er schon mit der Vollendung des Werks erreicht. So wie der wahre Weise die höchste mit dem Lauf der Dinge harmonische Zwekmäßigkeit in alle seine Handlungen zu bringen sucht; und die reinste Glükseligkeit, oder den fortdaurenden Zustand angenehmer Empfindungen, als eine sichre Folge davon, aber nicht als das Ziel derselben betrachtet. Denn auch die reinste Glükseligkeit will nur auf dem Wege zur Vollkommenheit m i t g e n o m m e n , und nicht erjagt sein. Die Glükseligkeitslinie läuft mit der Vollkommenheitslinie nur parallel; sobald jene zum Ziele gemacht wird, muß die Vollkommenheitslinie lauter schiefe Richtungen bekommen. Die einzelnen Handlungen, in so fern sie bloß zu einem Zustande angenehmer Empfindungen abzwekken, bekommen zwar eine anscheinende Zwekmäßigkeit; aber sie machen zusammen kein übereinstimmendes harmonisches Ganze aus. Eben so ist es auch in den schönen Künsten, wenn der Begriff der Vollkommenheit oder des in sich selbst Vollendeten dem Begriff vom Vergnügen untergeordnet wird.

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»Also ist das Vergnügen gar nicht Zwek«? – Ich antworte: was ist Vergnügen anders, oder woraus entsteht es anders, als aus dem Anschauen der Zwekmäßigkeit? Gäbe es nun etwas, wovon das Vergnügen selbst allein der Zwek wäre; so könnte ich die Zwekmäßigkeit jenes Dinges bloß aus dem Vergnügen beurtheilen, welches mir daraus erwächst. Mein Vergnügen selbst aber muß ja erst aus dieser Beurtheilung entstehen; es müßte also da sein, ehe es da wäre. Auch muß ja der Zwek immer etwas Einfacheres als die Mittel sein, welche zu demselben abzwekken: nun ist aber das Vergnügen an einem schönen Kunstwerke eben so zusammengesetzt, als das Kunstwerk selber, wie kann ich es denn als etwas Einfacheres betrachten, worauf die einzelnen Theile des Kunstwerks abzwekken sollen? Eben so wenig wie die Darstellung eines Gemäldes in einem Spiegel der Zwek seiner Zusammensetzung sein kann; denn diese wird allemal von selbst erfolgen, ohne daß ich bei der Arbeit die mindeste Rüksicht darauf zu nehmen brauche. Stellt nun ein angelaufner Spiegel mein Kunstwerk desto unvollkommner dar, je vollkommner es ist; so werde ich es doch wohl nicht deswegen unvollkommner machen, damit weniger Schönheiten in dem angelaufenen Spiegel verlohren gehen? – Moritz.

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bildende Nachahmung des

Schönen.

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von Karl Philipp Moritz.

Braunschweig 1788. In der Schul-Buchandlung.

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Wenn der griechische Schauspieler, in der Komödie des Aristophanes dem Sokrates auf dem Schauplatze, und der Weise ihm im Leben nachahmt: so ist das Nachahmen von beiden so sehr verschieden, daß es nicht wohl mehr unter einer und eben derselben Benennung begriffen werden kann: wir sagen daher der Schauspieler p a r o d i e r t e den Sokrates, und der Weise a h m t i h m n a c h . Dem Schauspieler war es freilich nicht darum zu thun, dem Sokrates im Ernst nachzuahmen, sondern vielmehr nur, das Eigenthümliche desselben, oder seine I n d i v i d u a l i t ä t in Gang, Miene, Stellung und Gebehrden, auf eine gewisse übertriebne Art, wodurch sie bei dem Zuschauer lächerlich werden sollte, n a c h z u b i l d e n . Weil dieß nun der Schauspieler mit Bewußtseyn, und gleichsam im Scherz that, so sagen wir: er parodierte den Sokrates. Wäre aber der Schauspieler, den wir hier vor uns sehen, nicht Schauspieler, sondern irgend einer aus dem Volke, der dem Sokrates, welchem er sich innerlich schon ähnlich dünckte, nun auch im Aeussern, in Gang, Stellung und Gebehrden, i m E r n s t nachzuahmen suchte; so würden wir von diesem Thoren sagen: er ä f f t dem Sokrates nach; oder, er verhält sich zum Sokrates ohngefähr so, wie der Affe, in seinen possierlichen Stellungen und Gebehrden, sich zum Menschen verhält. Der Schauspieler also schließt den Weisen aus, und parodiert nur den Sokrates; denn die Weisheit läßt sich nicht parodieren: der Weise schließt in seiner Nachahmung den Sokrates aus, und ahmt in ihm nur den Weisen nach; denn die Individualität des Sokrates kann wohl parodiert und nachgeäfft, aber nie nachgeahmt werden. Der Thor hat keinen Sinn für die Weisheit und hat doch Nachahmungstrieb: er ergreift also, was ihm am nächsten liegt; äfft nach, um nicht nachahmen zu dürfen; trägt die ganze Oberfläche einer fremden Individualität auf die seinige über, und die Basis oder das Selbstgefühl dazu legt ihm seine Thorheit unter.

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Wir sehen also aus dem Sprachgebrauch, daß N a c h a h m e n , im edlern moralischen Sinn, mit den Begriffen von nachstreben und wetteifern fast gleichbedeutend wird; weil die Tugend, welche ich z. B. in einem gewissen Vorbilde nachahme, etwas Allgemeines, über die Individualität Erhabnes ist, das von jeder-mann, der darnach strebt, und also auch von mir sowohl, als von meinem Vorbilde, mit dem ich zu wetteifern suche, erreicht werden kann. Weil ich aber diesem Vorbilde doch einmal nachstehe, und ein gewisser Grad von edler Gesinnung und Handlungsweise mir ohne dasselbe vielleicht nicht so bald, oder gar nie denkbar geworden wäre: so nenne ich mein Streben nach einem gemeinschaftlichen Gute, das auch von meinem Vorbilde erst mußte errungen werden, eine Nachahmung dieses Vorbildes. Ich ahme meinem Vorbilde nach; ich strebe ihm nach; ich suche mit ihm zu wetteifern. – Durch mein Vorbild ist mir bloß das Ziel höher, als von mir selbst, hinaufgesteckt. Nach diesem Ziele muß ich nun, nach meinen Kräften, auf meine Weise, streben; zuletzt mein Vorbild selbst vergessen, und suchen, wenn es möglich wäre, das Ziel noch weiter hinaus zu stecken. Durch diese Gesinnung muß das Nachahmen im edlern moralischen Sinn erst seinen eigentlichen Werth erhalten. – Und es frägt sich nun: wie von diesem Nachahmen im moralischen Sinn, das Nachahmen in den schönen Künsten, oder von der Nachahmung des Guten und Edlen, die Nachahmung des Schönen unterschieden sey? – Diese Frage muß sich alsdann von selbst beantworten, wenn wir die Begriffe von Schön und Gut, wiederum nach dem Sprachgebrauch, gehörig unterscheiden: denn daß dieser sie oft verwechselt, darf uns hier nicht kümmern, wo es beym Nachdenken über die Sache bloß aufs Unterscheiden ankömmt; und nothwendig, so wie auf dem Globus, gewisse feste Grenzlinien, die in der Natur selbst nicht Statt finden, gezogen werden müssen, wenn die Begriffe sich nicht wiederum eben so, wie ihre Gegenstände, unmerklich in einander verlieren und verschwimmen sollen: ein getreuerer Abdruck der Natur können sie in diesem letztern Falle seyn, aber das eigentliche Denken, welches nun einmal im Unterscheiden besteht, hört auf.

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Nun schließt sich aber im Sprachgebrauch das Gute und Nützliche, so wie das Edle und Schöne, natürlich aneinander; und diese vier verschiednen Ausdrücke bezeichnen eine so feine Abstufung der Begriffe, und bilden ein so zartes Ideenspiel, daß es dem Nachdenken schwer werden muß, das immer ineinander sich unmerklich wieder Verlierende gehörig auseinander zu halten, und es einzeln und abgesondert zu betrachten. So viel fällt demohngeachtet deutlich in die Augen, daß das bloß Nützliche dem Schönen und Edlen, mehr als das Gute, entgegenstehe; weil durch das Gute vom bloß Nützlichen zum Schönen und Edlen schon der Uebergang gemacht wird. Wir denken uns z. B. unter einem nützlichen Menschen einen solchen, der nicht sowohl an und für sich selbst, als vielmehr nur in Beziehung auf irgend einen Zusammenhang von Dingen ausser ihm, unsre Aufmerksamkeit verdienet: der gute Mensch hingegen fängt schon an und für sich selbst betrachtet, an, un-sre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und unsre Liebe zu gewinnen; in so fern wir uns nehmlich denken, daß er, seinem innern Fond von Güte nach, uns nie durch Eigennutz und Selbstsucht schaden, in den Zusammenhang von Dingen, worinn wir uns befinden, nicht leicht disharmonisch eingreifen, kurz, unsern Frieden nicht stören wird. – Der edle Mensch aber, zieht, für sich ganz allein, unsre ganze Aufmerksamkeit und Bewundrung auf sich; ohne alle Rücksicht auf irgend etwas ausser ihm, oder auf irgend einen Vortheil, der uns für unsre eigne Person aus seinem Daseyn erwachsen könnte. Und weil nun der edle Mensch, um edel zu seyn, der körperlichen Schönheit nicht bedarf, so scheiden sich hier wiederum die Begriffe von Schön und Edel, indem durch das letztre die innre Seelenschönheit, im Gegensatz gegen die Schönheit auf der Oberfläche, bezeichnet wird. In so fern nun aber die äussre Schönheit zugleich mit ein Abdruck der innern Seelenschönheit ist, faßt sie auch das Edle in sich, und sollte es, ihrer Natur nach, eigentlich stets in sich fassen. Hiedurch hebt sich aber demohngeachtet der Unterschied zwischen schön und edel nicht wieder auf. Denn unter einer edlen Stellung denken wir uns z. B. eine solche, die zugleich eine gewisse innere

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Seelenwürde bezeichnet: irgend eine leidenschaftliche Stellung aber kann demohngeachtet immer noch eine schöne Stellung seyn, wenn gleich nicht eine solche innere Seelenwür-de ausdrücklich dadurch bezeichnet wird; nur darf sie einem gewissen Grade von innerer Würde nie geradezu widersprechen; sie darf nie unedel seyn. Hieraus erklärt sich nun zugleich beiläufig der Begriff vom edlen Stil in Kunstwerken jeder Art, welcher kein andrer ist, als derjenige, der zugleich mit eine innre Seelenwürde des hervorbringenden Genies bezeichnet. Ob nun gleich dieser edle Stil die andern untergeordneten Arten des Schönen nicht vom Gebiet des Schönen ausschließt, so schneidet er doch alles, was ihm geradezu entgegensteht, davon ab; er schließt das Unedle aus. In so fern nun unter dem Edlen, im Gegensatz gegen das äussre Schöne, bloß die innre Seelenschönheit verstanden wird, können wir es auch, so wie das Gute, i n uns selbst nachbilden. – Das Schöne aber, in so fern es sich dadurch vom Edlen unterscheidet, daß, im Gegensatz gegen das Innre, bloß das äussre Schöne darunter verstanden wird, kann durch die Nachahmung nicht in uns herein, sondern muß, wenn es von uns nachgeahmt werden soll, nothwendig wieder a u s u n s h e r a u s g e b i l d e t werden. Der bildende Künstler kann z. B. die innre Seelenschönheit eines Mannes, den er sich in seinem Wandel zum Vorbilde nimmt, ihm nachahmend in sich übertragen. Wenn aber eben dieser Künstler sich gedrungen fühlte, die innre Seelenschönheit seines Vorbildes, in so fern sie sich in dessen Gesichtszügen abdrückt, nachzuahmen: so müsste er seinen Begriff da-von nothwendig aus sich herauszubilden und ausser sich darzustellen suchen; indem er nehmlich diese Gesichtszüge nicht geradezu nachbildete, sondern sie gleichsam nur zu Hülfe nähme, um die in sich empfundne Seelenschönheit eines fremden Wesens auch ausser sich wieder darzustellen. Die eigentliche Nachahmung des Schönen unterscheidet sich also zuerst von der moralischen Nachahmung des Guten und Edlen dadurch, daß sie, ihrer Natur nach, streben muß, nicht, wie diese, in sich hinein, sondern aus sich heraus zu bilden.

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Wenden wir nun die Begriffe von Gut, Schön und Edel wiederum auf den Begriff von Handlung an; so denken wir uns unter einer guten Handlung eine solche, die nicht allein um ihrer Folgen, sondern zugleich um ihrer Beweggründe willen, unsre Aufmerksamkeit erregen, und unsern Beifall verdienen kann: bei der Schätzung einer edlen Handlung vergessen wir ganz die Folge, und sie scheinet uns allein schon um ihrer Beweggründe, das ist, um ihrer selbst willen, unsrer Bewundrung werth. Betrachten wir nun eine solche Handlung nach ihrer O b e r f l ä c h e , von der sie einen sanften Schein in unsre Seele wirft, oder nach der angenehmen Empfindung, die ihre blosse Betrachtung in uns erweckt; so nennen wir sie eine s c h ö n e Handlung: wollen wir aber ihren innern Werth ausdrücken, so nennen wir sie e d e l . Jede schöne H a n d l u n g aber muß nothwendig auch edel seyn: das Edle ist bei ihr die Basis oder der Fond des Schönen, durch welches sie in unser Auge leuchtet. Durch den Mittelbegriff des Edeln also wird der Begriff des Schönen wieder zum Moralischen hinübergezogen und gleichsam daran festgekettet. Wenigstens werden dem Schönen dadurch die Grenzen vorgeschrieben, die es nicht überschreiten darf. Da wir nun einmal genöthigt sind, uns den Begriff von der Nachahmung des eigentlichen Schönen, den wir nicht haben, aus dem Begriff von der moralischen Nachahmung des Guten und Edlen, den wir haben, zu entwickeln; und, da wir uns die eigentliche Nachahmung des Schönen, ausser dem Genuß der Werke selbst, die dadurch entstanden sind, gar nicht anders denken können, als in so fern sie sich von der bloß moralischen Nachahmung des Guten und Edlen unterscheidet: so müssen wir nun schon die Begriffe von nützlich, gut, schön, und edel, noch weiter in ihre feinern Abstufungen zu verfolgen suchen. Dadurch also, daß z. B. die That des Mutius Scaevola erwünschte Folgen hatte, wurde sie nicht im geringsten edler, als sie war; und würde auch, ohne den Erfolg, von ihrem innern Werth nichts verlohren haben: sie brauchte nicht n ü t z l i c h zu seyn, um edel zu seyn; bedurfte des Erfolges nicht, eben weil sie ihren innern Werth in sich

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selber hatte: und wodurch anders hatte sie diesen Werth, als durch sich selbst, durch ihr Daseyn? Das Edle und Grosse der Handlung lag ja eben darinn, daß der junge Held, auf jeden Erfolg gefaßt, das alleräusserste wagte, und, da es ihm mißlang, ohne Bedenken seine Hand in die lodernde Flamme streckte, ohne noch zu wissen, was sein Feind, in dessen Gewalt er war, über ihn verhängen würde. – So kann nur der handeln, welcher eine grosse That, deren Erfolg so äusserst ungewiß ist, u m d i e s e r T h a t s e l b s t w i l l e n unternimmt, wovon allein schon das grosse Bewußtseyn ihn für jeden mißlungnen Versuch schadlos hält. Wäre Mutius, unter andern Umständen, bloß das Werkzeug eines Andern, dem er aus Pflicht gehorchte, zu einer ähnlichen That gewesen, und hätte sie, mit Beistimmung seines Herzens, vortreflich, und so wie er sollte, ausgeführt: so hätte er zwar noch nicht edel, aber gut gehandelt: denn obgleich seine Handlung auch schon vielen Werth in sich selber hat, so wird doch immer ihre Güte zugleich mit durch den Erfolg bestimmt. Hätte aber eben dieser Mutius den Angriff auf den Feind seines Vaterlandes, meuchelmörderischer Weise, aus Privatrache und persönlichem Haß gethan, und sie wäre ihm nicht mißlungen: so hätte sie seinem Vaterlande, ohne gut und edel zu seyn, dennoch genützt, und hätte, ohne den mindesten innern Werth zu haben, dennoch d u r c h d e n E r f o l g , eine Art von äussrem Werth erhalten. Wie nun das Gute zum Edlen, eben so muß das Schlechte zum Unedlen sich verhalten: das Unedle ist der Anfang des Schlechten, so wie das Gute der An-fang des Schönen und Edlen ist; und so wie eine bloß gute, noch keine edle, so ist eine bloß unedle deswegen noch keine schlechte Handlung. Und wie das Nützliche zum Guten, eben so verhält wiederum das Unnütze sich zum Schlechten; das Schlechte ist gleichsam der Anfang des Unnützen, so wie das Nützliche schon der Anfang des Guten ist. Wie das bloß Nützliche deswegen noch nicht gut ist, so ist auch das bloß Schlechte deswegen noch nicht unnütz. Nun steigen die Begriffe von unedel, schlecht, und unnütz, eben so herab, wie die Begriffe von nützlich, gut, und schön heraufsteigen.

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Von den heraufsteigenden Begriffen steht das Edle und Schöne auf der höchsten, so wie von den herabsteigenden das Unnütze auf der niedrigsten Stufe. Von allen diesen Begriffen nun, stehen der vom Schönen, und der vom Unnützen am weitesten voneinander ab, und scheinen sich am stärksten entgegengesetzt zu seyn; da wir doch vorher gesehen haben, daß das Schöne und Edle sich eben dadurch vom Guten unterscheidet, daß es nicht nützlich seyn darf, um schön zu seyn, und also der Begriff vom Schönen mit dem Begriff vom Unnützen oder nicht Nützlichen sehr wohl müßte zusammen bestehen können. Hier zeigt es sich nun, wie ein Zirkel von Begriffen zuletzt sich wieder in sich selbst verliert, indem seine beiden äussersten Enden gerade da wieder zusammenstossen, wo, wenn sie nicht zusammenstiessen, von einem zum andern der weiteste Weg seyn würde. Der Begriff vom Unnützen nehmlich, in so fern es gar keinen Zweck, keine Absicht ausser sich hat, warum es da ist, schließt sich am willigsten und nächsten an den Begriff des Schönen an, in so fern dasselbe auch keines Endzwecks, keiner Absicht, warum es da ist, ausser sich b e d a r f , sondern seinen ganzen Werth, und den Endzweck seines Daseyns in sich selber hat. In so fern aber nun das Unnütze nicht zugleich auch schön ist, fällt es auf einmal wieder am allerweitesten vom Begriff des Schönen bis unter das Schlechte hinab, weil es nun weder in sich noch ausser sich, eine Absicht hat, warum es da ist, und sich also gleichsam selbst aufhebt. Ist aber das Unnütze, oder dasjenige, was ausser sich keinen Endzweck seines Daseyns hat, zugleich auch schön, so steigt es plötzlich auf die höchste Stufe der Begriffe bis über das Nützliche und Gute empor, indem es eben deswegen keines Endzwecks ausser sich bedarf, weil es in sich so vollkommen ist, daß es den ganzen Endzweck seines Daseyns in sich selbst hat. Die drei aufsteigenden Begriffe von nützlich, gut und schön, und die drei absteigenden von unedel, schlecht und unnütz, bilden also aus dem Grunde einen Zirkel, weil die beiden äussersten Begriffe vom Unnützen und vom Schönen sich gerade am wenigsten einander aus-

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schliessen; und der Begriff des Unnützen von dem einen, für den Begriff des Schönen von dem andern Ende, gleichsam die Fuge wird, in die es sich am leichtesten hineinstehlen, und unmerklich sich darin verlieren kann. Steigen wir nun die Leiter der Begriffe herab, so verträgt sich schön und edel zwar mit unnütz, aber nicht mit schlecht und unedel; gut verträgt sich mit unedel, aber nicht mit schlecht und unnütz; nützlich mit schlecht und unedel, aber nicht mit unnütz; unedel mit gut und nützlich, aber nicht mit schön; schlecht mit nützlich, aber nicht mit schön und gut; unnütz mit schön, aber nicht mit gut und nützlich. – Die Begriffe müssen sich immer gerade da wieder entgegen kommen, wo sie am weitesten von einander abzuweichen, und sich zu verlassen scheinen. Allein wir dürfen itzt dieß Ideenspiel nur so weit verfolgen, als es unserm Zweck uns näher führt, unsre Vorstellung von der Nachahmung des Schönen, durch den Begriff des Schönen aufzuhellen. Nun kann aber nur die Vorstellung von dem, was das Schöne n i c h t z u s e y n b r a u c h t , um schön zu seyn, und was als überflüssig davon betrachtet werden muß, uns auf einen nicht unrichtigen Begriff des Schönen führen, indem wir uns alles, was nicht dazu gehört, um dasselbe her hinweg, und also wenigstens den wahren Umriß des leeren Raumes denken, wohinein das von uns Gesuchte, wenn es positiv von uns gedacht werden könnte, nothwendig passen müßte. Da nun aus der vorhergegangenen Nebeneinanderstellung klar ist, daß die Begriffe von schön und un-nütz nicht nur einander nicht ausschliessen, sondern sogar sich willig ineinander fügen: so muß das Nützliche offenbar an dem Schönen als überflüssig, und wenn es sich daran befindet, doch als zufällig, und als nicht dazu gehörig betrachtet werden, weil die wahre Schönheit, eben so wie das Edle in der Handlung, durch das Nützliche dabei weder vermehrt, noch durch den Mangel desselben auf irgend eine Weise vermindert werden kann. Wir können also das Schöne im Allgemeinen auf keine andre Weise erkennen, als in so fern wir es dem Nützlichen entgegenstellen, und es davon so scharf wie möglich unterscheiden. Eine Sache wird nehm-

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lich dadurch noch nicht schön, daß sie nicht nützlich ist, sondern dadurch, daß sie nicht nützlich zu seyn b r a u c h t . Um nun aber die Frage zu beantworten, wie denn eine Sache beschaffen seyn müsse, damit sie nicht nützlich zu seyn brauche, müssen wir wiederum erst den Begriff des Nützlichen noch mehr zu entwickeln suchen. Unter Nutzen denken wir uns nehmlich die Beziehung eines Dinges, als Theil betrachtet, auf einen Zusammenhang von Dingen, den wir uns als ein Ganzes denken. Diese Beziehung muß nehmlich von der Art seyn, daß der Zusammenhang des Ganzen beständig dadurch gewinnt und erhalten wird: je mehrere solcher Beziehungen nun eine Sache auf den Zusammenhang, worinn sie sich befindet, hat, um desto nützlicher ist dieselbe. Jeder Theil eines Ganzen muß auf die Weise mehr oder weniger Beziehung auf das Ganze selbst haben: das Ganze, als Ganzes betrachtet, hingegen, braucht weiter keine Beziehung auf irgend etwas ausser sich zu haben. So muß jeder Bürger eines Staats eine gewisse Beziehung auf den Staat haben, oder dem Staate nützlich seyn; der Staat selbst aber braucht in so fern er in sich allein ein Ganzes bildet, weiter keine Beziehung auf irgend etwas ausser sich zu haben, und braucht also auch nicht weiter nützlich zu seyn. Hieraus sehen wir also, daß eine Sache, um nicht nützlich seyn zu dürfen, nothwendig ein für sich bestehendes Ganze seyn müsse, und daß also mit dem Begriff des Schönen der Begriff von einem für sich bestehenden Ganzen unzertrennlich verknüpft ist. – Daß aber dieß demohngeachtet noch nicht zum Begriff des Schönen hinreicht, sehen wir daraus, weil wir z. B. mit dem Begriff vom Staat, ob derselbe gleich ein für sich bestehendes Ganze ist, dennoch den Begriff der Schönheit nicht wohl verknüpfen können, indem derselbe i n s e i n e m g a n z e n U m f a n g e , weder in unsern äussern Sinn fällt, noch von der Einbildungskraft umfaßt, sondern bloß von unserm Verstande gedacht werden kann. Aus eben dem Grunde können wir auch mit dem ganzen Zusammenhange der Dinge den Begriff von Schönheit nicht eigentlich verknüpfen, eben weil dieser Zusammenhang, i n s e i n e m g a n z e n

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U m f a n g e , weder in unsre Sinnen fällt, noch von unsrer Einbildungs-kraft umfaßt werden kann, gesetzt daß er auch von unserm Verstande gedacht werden könnte. Zu dem Begriff des Schönen, welches uns daraus entsprungen ist, daß es nicht nützlich zu seyn braucht, gehört also noch, daß es nicht nur oder nicht sowohl, ein für sich bestehendes Ganze wirklich sey, als vielmehr nur wie ein für sich bestehendes Ganze, i n u n s r e S i n n e f a l l e n , oder von unsrer E i n b i l d u n g s k r a f t u m f a ß t w e r d e n könne. Und so wie nun das Nützliche seine Grade hat, eben so muß sie auch das Schöne haben: je mehr Zusammenhang befördernde Beziehungen nämlich eine nützliche Sache auf den Zusammenhang, worinn sie sich befindet, hat, um desto nützlicher ist sie; und je mehrere solcher Beziehungen eine schöne Sache von ihren einzelnen Theilen zu ihrem Zusammenhange, das ist, zu sich selber, hat, um desto schöner ist sie. So wie nun das Schöne, unbeschadet seiner Schönheit auch nützen kann, ob es gleich nicht um zu nützen da ist; so kann das Nützliche auch, unbeschadet seines Nutzens, in einem gewissen Grade schön seyn, ob es gleich nur um zu nutzen da ist. Allein es darf die Linie um kein Haarbreit überschreiten; so bald der Zweck des Nützlichen, wozu es da ist, unter der angemaßten Schönheit leidet, bleibt es weder schön noch nützlich mehr, sinkt unter sich selbst herab, und hebt sich selber auf. Wenn das Schöne sich a n d e m N ü t z l i c h e n befindet, muß es sich auch dem Nützlichen unterordnen – es ist nicht um sein selbst willen da – es dient das Nützliche aufzuschmücken – steigt also selbst zum Nützlichen herab, und fließt mit ihm zusammen – Es giebt seine Ansprüche mit seinem Nahmen auf; tritt in gemessene Schranken; wird zur bescheidnen Z i e r d e , zur simplen E l e g a n z . Aus der höchsten Mischung des Schönen mit dem Edlen, da wo das äussere Schöne ganz in Ausdruck innrer Würde und Hohheit übergeht, erwächst der Begriff des Majestätischen – Denken wir uns das Majestätische belebt, so muß es die Welt beherrschen, der Dinge Zusammenhang in sich fassen; der Erdkreis muß vor ihm sich beugen.

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Wenn wir das Edle in Handlung und Gesinnung mit dem Unedlen m e s s e n , so nennen wir das Edle groß, das Unedle klein. – Und messen wir wieder das Grosse, Edle und Schöne nach der Höhe, in der es über uns, unsrer Fassungskraft kaum noch erreichbar ist, so geht der Begriff des Schönen in den Begriff des E r h a b n e n über. In so fern aber nun in einem schönen Werke die mannichfaltigen Beziehungen der einzelnen Theile zum Ganzen, nicht nur oder nicht sowohl von unserm Verstande gedacht werden, als vielmehr nur in unsern ä u s s r e n S i n n fallen, oder von unsrer E i n b i l d u n g s k r a f t umfaßt werden müssen, in so fern schreiben unsre E m p f i n d u n g s w e r k z e u g e dem Schönen wieder sein M a a ß vor. Sonst würde freilich der Zusammenhang der ganzen Natur, welcher zu sich selber, als zu dem größten uns denkbaren Ganzen, die meisten Beziehungen in sich faßt, auch für uns das höchste Schöne seyn, wenn derselbe nur einen Augenblick von unsrer Einbildungskraft umfaßt werden könnte. Denn dieser grosse Zusammenhang der Dinge ist doch eigentlich das einzige, wahre Ganze; jedes einzelne Ganze in ihm, ist, wegen der unauflößlichen Verkettung der Dinge, nur e i n g e b i l d e t – aber auch selbst dies Eingebildete muß sich dennoch, als Ganzes betrachtet, jenem grossen Ganzen in unsrer Vorstellung ähnlich, und nach eben den ewigen, festen Regeln bilden, nach welchen dieses sich von allen Seiten auf seinen Mittelpunkt stützt, und auf seinem eignen Daseyn ruht. Jedes schöne Ganze aus der Hand des bildenden Künstlers, ist daher im Kleinen ein Abdruck des höchsten Schönen im grossen Ganzen der Natur; welche das noch m i t t e l b a r durch die bildende Hand des Künstlers nacherschafft, was unmittelbar nicht in ihren grossen Plan gehörte. Wem also von der Natur selbst, der Sinn für ihre Schöpfungskraft in sein ganzes Wesen, und das M a a ß des Schönen in Aug’ und Seele gedrückt ward, der begnügt sich nicht, sie anzuschauen; er muß ihr nachahmen, ihr nachstreben, in ihrer geheimen Werkstatt sie belauschen, und mit der lodernden Flamm’ im Busen bilden und schaffen, so wie sie: –

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Indem seine glühende Spähungskraft in das Innre der Wesen dringt, bis auf den Quell der Schönheit selbst, die feinsten Fugen löset; und auf der Oberfläche sie schöner wieder fügend, ihre edle Spur in weichen Ton eindrückt, in harten Stein sie bildet; oder auf flachem Grunde, mit trennender Spitze die Gestalt aus ihren Umgebungen sondert; durch kühnen Farbenanstrich die Masse selbst nachahmt; und durch Mischung von Licht und Schatten die Fläche dem Auge entgegen rückt. Die Realität muß unter der Hand des bildenden Künstlers zur Erscheinung werden; indem seine durch den Stoff gehemmte Bildungskraft von innen, und seine bildende Hand von aussen, auf der Oberfläche der leblosen Masse zusammentreffen, und auf diese Oberfläche nun alles das hinübertragen, was sonst größtentheils vor unsern Augen sich in die Hülle der E x i s t e n z verbirgt, die durch sich selbst schon jede Erscheinung aufwiegt. Von dem reellen und vollendeten Schönen also, was unmittelbar sich selten entwickeln kann, schuf die Natur doch m i t t e l b a r den Wiederschein durch Wesen in denen sich ihr Bild so lebhaft abdrückte, daß es sich ihr selber in ihre eigene Schöpfung wieder entgegenwarf. – Und so brachte sie, durch diesen verdoppelten Wiederschein sich in sich selber spiegelnd, über ihrer Realität schwebend und gauckelnd, ein Blendwerk hervor, das für ein s t e r b l i c h e s Auge noch reizender, als sie selber ist. Und obgleich auch der Mensch an seinem Platze in der Reihe der Dinge so beschränkt wie möglich ist, damit über ihm und unter ihm sich noch so viele verschiedne Arten des Daseyns, wie nur möglich sind, drängen mögen; so gab ihm dennoch die Natur, damit er in seiner Art so vollkommen wie möglich sey, ausser dem Genuß noch Bildungskraft; ließ ihn mit sich selbst wetteifern, und sich von ihm, damit keine Kraft in ihm unentwickelt bliebe, sogar dem Scheine nach, übertreffen. Der Sinn aber für das höchste Schöne in dem harmonischen Bau des Ganzen, das die vorstellende Kraft des Menschen nicht umfaßt, liegt unmittelbar in der T h a t k r a f t selbst, die nicht ehr ruhen kann,

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bis sie das, was in ihr schlummert, wenigstens irgend einer der vorstellenden Kräfte genähert hat. – Sie greift daher in der Dinge Zusammenhang, und was sie faßt, will sie der Natur selbst ähnlich, zu einem e i g e n m ä c h t i g für sich bestehenden Ganzen bilden. – Die Realität der Dinge, deren Wesen und Wirklichkeit eben in ihrer E i n z e l n h e i t besteht, wiederstrebt ihr lange, bis sie das innre Wesen, in die Erscheinung aufgelöst, sich zu eigen macht, und eine eigne Welt sich schafft, worin gar nichts Einzelnes mehr statt findet, sondern jedes Ding in seiner Art ein für sich bestehendes Ganze ist. Die Natur konnte aber den Sinn für das höchste Schöne nur in die Thatkraft pflanzen, und durch dieselbe erst mittelbar einen Abdruck dieses höchsten Schö-nen der Einbildungskraft faßbar, dem Auge sichtbar, dem Ohre hörbar, machen; weil der Horizont der Thatkraft mehr umfaßt, als der äussre Sinn, und Einbildungs- und Denkkraft fassen kann. In der Thatkraft liegen nämlich s t e t s die Anlässe und Anfänge zu so vielen Begriffen, als die Denkkraft nicht auf einmal einander u n t e r o r d n e n ; die Einbildungskraft nicht auf einmal n e b e n e i n a n d e r s t e l l e n , und der äussre Sinn noch weniger auf einmal in der W i r k l i c h k e i t ausser sich fassen kann. Die Denkkraft muß sich, um dem, was die thätige Kraft in dunkler Ahndung a u f e i n m a l faßt, nachzukommen, so oft wiederholen, bis sie den ganzen Fonds von Anfängen und Anlässen zu Begriffen, der in der Thatkraft ihr unterliegt, erschöpft hat, und alsdann den Kreislauf von neuem beginnen kann. – Die Einbildungskraft muß noch weit öfter sich wiederholen, weil sie nicht in einander- sondern n e b e n e i n a n d e r s t e l l e n d , jedesmal um so weniger fassen kann. – Der äussre Sinn ist ein immerwährendes Wiederholen seiner selbst, weil er jedesmal nur so viel faßt, als in dem Horizonte, der undurchdringlich ihn umschließt, w i r k l i c h neben einander steht. – So wenig faßt der äussre Sinn, daß, um dem reichen Fonds von Anlässen zu Begriffen, die in der Thatkraft schlummern, nachzukommen, und alle zum Anschaun und zur Wirklichkeit zu bringen, kein Leben hinreicht, und so lange wir athmen, das Auge sich nimmer satt sieht, das Ohr sich nimmer satt hört.

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Je lebhafter spiegelnd nun das Organ von der d u n k e l a h n d e n d e n Thatkraft, durch die u n t e r s c h e i d e n d e Denkkraft, bis zu dem h e l l s e h e n d e n Auge, und d e u t l i c h v e r n e h m e n d e n Ohre, wird; um desto vollständiger und lebendiger werden zwar die Begriffe, aber um destomehr v e r d r ä n g e n sie sich auch, und s c h l i e s s e n e i n a n d e r a u s . – Wo sie sich also am wenigsten einander ausschliessen, und ihrer am m e i s t e n neben einander bestehen können, das kann nur da seyn, wo sie am u n v o l l s t ä n d i g s t e n sind, wo bloß ihre Anfänge oder ersten Anlässe zusammentreffen, die eben durch ihr Mangelhaftes und Unvollständiges, in sich selber den immerwährenden, unwiderstehlichen Reiz bilden, der sie zur vollständigen Wirklichkeit bringt. Der Horizont der thätigen Kraft aber muß bei dem bildenden Genie s o w e i t , w i e d i e N a t u r s e l b e r , seyn: das heißt, die Organisation muß so fein gewebt seyn, und so unendlich viele B e r ü h r u n g s p u n k t e der allumströmenden Natur darbieten, daß gleichsam die ä u s s e r s t e n E n d e n von allen Verhältnissen der Natur im Großen, hier im Kleinen sich nebeneinander stellend, Raum genug haben, um sich einander nicht verdrängen zu dürfen. Wenn nun eine Organisation von diesem feinern Gewebe, bei ihrer völligen Entwicklung, auf einmal in der dunklen Ahndung ihrer thätigen Kraft, ein G a n z e s faßt, das weder in ihr Auge noch in ihr Ohr, weder in ihre Einbildungskraft noch in ihre Gedanken kam; so muß nothwendig eine Unruhe, ein Mißverhältniß zwischen den sich wägenden Kräften so lange entstehen, bis sie wieder in ihr Gleichgewicht kommen. Bei einer Seele, deren bloß thätige Kraft schon das e d l e , g r o s s e G a n z e der Natur in dunkler Ahndung faßt, kann die deutlich erkennende Denkkraft, die noch lebhafter darstellende Einbildungskraft, und der am hellsten spiegelnde äussre Sinn, mit der Betrachtung des E i n z e l n e n im Zusammenhange der Natur, sich nicht mehr begnügen. Alle die in der thätigen Kraft bloß dunkel geahndeten Verhältnisse jenes grossen Ganzen, müssen nothwendig auf irgend eine Weise ent-

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weder sichtbar, hörbar, oder doch der Einbildungskraft faßbar werden: und um dieß zu werden, muß die Thatkraft, worinn sie schlummern, sie n a c h s i c h s e l b e r , a u s s i c h s e l b e r b i l d e n . – Sie muß alle jene Verhältnisse des grossen Ganzen, und in ihnen das höchste Schöne, wie an den Spitzen seiner Strahlen, in einen Brennpunkt fassen. – Aus diesem Brennpunkte muß sich, nach des Auges gemessener Weite, ein zartes und doch getreues Bild des höchsten Schönen ründen, das die vollkommensten Verhältnisse des grossen Ganzen der Natur, eben so wahr und richtig, wie sie selbst, in seinen kleinen Umfang faßt. Weil nun aber dieser Abdruck des höchsten Schönen nothwendig an etwas haften muß, so wählt die bildende Kraft, durch ihre I n d i v i d u a l i t ä t bestimmt, irgend einen sichtbaren, hörbaren, oder doch der Ein-bildungskraft faßbaren Gegenstand, auf den sie den Abglanz des höchsten Schönen im v e r j ü n g e n d e n Maasstabe überträgt. – Und weil dieser Gegenstand wiederum, wenn er w i r k l i c h , was er darstellt, w ä r e , mit dem Zusammenhange der Natur, die ausser sich selber kein wirklich eigenmächtiges Ganze duldet, nicht ferner bestehen könnte: so führet uns dies auf den Punkt, wo wir schon einmal waren: daß jedesmal das innre Wesen erst in die Erscheinung sich verwandeln müsse, ehe es, durch die Kunst, zu einem für sich bestehenden Ganzen gebildet werden, und u n g e h i n d e r t die Verhältnisse des grossen Ganzen der Natur, in ihrem völligen Umfange spiegeln kann. Da nun aber jene grossen Verhältnisse, in deren v ö l l i g e n U m f a n g e eben das Schöne liegt, nicht mehr unter das Gebiet der Denkkraft fallen; so kann auch der l e b e n d i g e Begriff von der bildenden Nachahmung des Schönen, nur im Gefühl der thätigen Kraft, die es hervorbringt, im ersten Augenblick der Entstehung statt finden, wo das Werk, als schon vollendet, durch alle Grade seines allmähligen Werdens, in dunkler Ahndung, auf einmal vor die Seele tritt, und in diesem Moment der ersten Erzeugung gleichsam vor seinem w i r k l i c h e n Daseyn, da ist; wodurch alsdann auch jener unnennbare Reiz entsteht, welcher das schaffende Genie zur immerwährenden Bildung treibt.

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Durch unser Nachdenken über die bildende Nachahmung des Schönen, mit dem reinen Genuß der schönen Kunstwerke selbst, vereint, kann zwar etwas je-nem lebendigen Begriff näherkommendes in uns entstehn, das den Genuß der schönen Kunstwerke uns erhöht. – Allein da unser höchster Genuß des Schönen dennoch sein w e r d e n a u s u n s r e r e i g n e n K r a f t unmöglich mit in sich fassen kann – so bleibt der einzige höchste Genuß desselben immer dem schaffenden Genie, das es hervorbringt, selber; und das Schöne hat daher seinen höchsten Zweck, in seiner Entstehung, in seinem Werden schon erreicht: unser N a c h g e n u ß desselben ist nur eine F o l g e seines Daseyns – und das bildende Genie ist daher im grossen Plane der Natur, zuerst u m s e i n s e l b s t , und dann erst um unsertwillen da; weil es nun einmal ausser ihm noch Wesen giebt, die selbst nicht schaffen und bilden, aber doch das Gebildete, wenn es einmal hervorgebracht ist, mit ihrer Einbildungskraft umfassen können. Die Natur des Schönen besteht ja eben darinn, daß sein innres Wesen ausser den Grenzen der Denkkraft, in seiner Entstehung, in seinem eignen Werden liegt. Eben darum, weil die Denkkraft beim Schönen nicht mehr fragen kann, warum es schön sey? ist es schön. – Denn es mangelt ja der Denkkraft völlig an einem Ve r g l e i c h u n g s p u n k t e , wornach sie das Schöne beurtheilen, und betrachten könnte. Was giebt es noch für einen Vergleichungspunkt für das ächte Schöne, als mit dem Inbegriff aller harmonischen Verhältnisse des grossen Ganzen der Natur, die keine Denkkraft umfassen kann? Alles einzelne hin und her in der Natur zerstreute Schöne, ist ja nur in so fern schön, als sich dieser Inbegriff aller Verhältnisse jenes grossen Ganzen mehr oder weniger darinn offenbahrt. – Es kann also nie zum Vergleichungspunkte für das Schöne der bildenden Künste, eben so wenig als der wahren Nachahmung des Schönen zum Vorbilde dienen; weil das höchste Schöne im Einzelnen der Natur immer noch nicht schön genug für die stolze Nachahmung der grossen und majestätischen Verhältnisse des allumfassenden Ganzen der Natur ist. – Das Schöne kann daher nicht erkannt, es muß hervorgebracht – oder e m p f u n d e n werden.

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Denn weil in gänzlicher Ermanglung eines Vergleichungspunktes, einmal das Schöne kein Gegenstand der Denkkraft ist, so würden wir, in so fern wir es nicht selbst hervorbringen können, auch seines Genusses ganz entbehren müssen, indem wir uns nie an etwas h a l t e n könnten, dem das Schöne näher käme, als das Minderschöne – wenn nicht etwas die Stelle der hervorbringenden Kraft in uns ersetzte, das ihr so nahe wie möglich kömmt, ohne doch sie selbst zu seyn: – dieß ist nun, was wir G e s c h m a c k oder Empfindungsfähigkeit für das Schöne nennen, die, wenn sie in ihren Grenzen bleibt, den Mangel des höhern Genusses bei der Hervorbringung des Schönen, durch die ungestörte Ruhe der stillen Betrachtung ersetzen kann. Wenn nämlich das Organ nicht fein genug gewebt ist, um dem einströmenden Ganzen der Natur so viele Berührungspunkte darzubieten, als nöthig sind, um a l l e ihre grossen Verhältnisse vollständig im Kleinen abzuspiegeln, und uns noch ein Punkt zum völligen Schluß des Zirkels fehlt; so können wir statt der Bildungskraft nur Empfindungsfähigkeit für das Schöne, haben: jeder Versuch, es ausser uns wieder darzustellen, würde uns mißlingen, und uns desto unzufriedner mit uns selber machen, je näher unser Empfindungsvermögen für das Schöne an das uns mangelnde Bildungsvermögen grenzt. Weil nämlich das Wesen des Schönen eben in seiner Vo l l e n d u n g in sich selbst besteht, so schadet ihm der letzte fehlende Punkt, so viel als tausend, denn er verrückt alle übrigen Punkte aus der Stelle, in welche sie gehören. – Und ist dieser Vo l l e n d u n g s p u n k t einmal verfehlt, so verlohnt ein Werk der Kunst der Mühe des Anfangs und der Zeit seines Werdens nicht; es fällt unter das schlechte bis zum Unnützen herab, und sein Daseyn muß nothwendig durch die Vergessenheit, worinn es sinkt, sich wieder aufheben. Eben so schadet auch dem in das feinere Gewebe der Organisation gepflanzten Bildungsvermögen, der letzte zu seiner Vollständigkeit fehlende Punkt, soviel als tausend. – Der höchste Werth, den es als Empfindungsvermögen haben könnte, kömmt bei ihm, als Bildungskraft, eben so wenig wie der geringste, in Betrachtung. Auf dem Punkte, wo das Empfindungsvermögen seine Grenzen überschreitet, muß

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es nothwendig unter sich selber sinken, sich aufheben, und vernichten. Je vollkommner das Empfindungsvermögen für eine gewisse Gattung des Schönen ist, um desto mehr ist es in Gefahr sich zu täuschen, sich selbst für Bildungskraft zu nehmen, und auf die Weise durch tausend mißlungne Versuche, seinen Frieden mit sich selbst zu stören. Es blickt z. B. beim Genuß des Schönen in irgend einem Werke der Kunst zugleich d u r c h d a s We r d e n desselben, in die bildende Kraft, die es schuf, hindurch; und ahndet dunkel den höhern Grad des Genusses eben dieses Schönen, im Gefühl der Kraft, die mächtig genug war, es aus sich selbst hervorzubringen. Um sich nun diesen höhern Grad des Genusses, welchen sie an einem Werke, das einmal schon da ist, unmöglich haben kann, auch zu verschaffen; strebt die einmal zu lebhaft gerührte Empfindung vergebens etwas Aehnliches aus sich selbst hervorzubringen; haßt ihr eignes Werk, verwirft es, und verleidet sich zugleich den Genuß alle des Schönen, das ausser ihr schon da ist, und woran sie nun eben deswegen, weil es ohne ihr Zuthun da ist, keine Freude findet. – Ihr einziger Wunsch und Streben ist, des ihr versagten, höhern Genusses, den sie nur dunkel ahndet, theilhaftig zu werden: in einem schönen Werke, das ihr sein Daseyn dankt, mit dem Bewußtseyn von eigner Bildungskraft, sich selbst zu spiegeln. – Allein sie wird ihres Wunsches ewig nicht gewährt, weil Eigennutz ihn erzeugte; und das Schöne sich nur um sein selbst willen von der Hand des Künstlers greifen, und willig und folgsam von ihm sich bilden läßt. Wo sich nun in den schaffenwollenden Bildungstrieb, sogleich die Vorstellung vom G e n u ß des Schönen mischt, den es, wenn es vollendet ist, gewähren soll; und wo diese Vorstellung der e r s t e und stärkste Antrieb unsrer Thatkraft wird, die sich zu dem, was sie beginnt, nicht in und durch sich selbst gedrungen fühlt; da ist der Bildungstrieb gewiß nicht rein: der Brennpunkt oder Vollendungspunkt des Schönen fällt in die W i r k u n g über das Werk hinaus; die Strahlen gehen a u s e i n a n d e r ; das Werk kann sich nicht in sich selber ründen.

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Dem höchsten Genuß des aus sich selbst hervorgebrachten Schönen sich so nah zu dünken, und doch darauf Verzicht zu thun, scheint freilich ein harter Kampf – der dennoch äusserst leicht wird; wenn wir aus diesem Bildungstriebe, den wir uns einmal zu besitzen schmeicheln, um doch sein Wesen zu veredeln, jede Spur des Eigennutzes, die wir noch finden, tilgen; und jede Vorstellung des Genußes, den uns das Schöne, das wir hervorbringen wollen, wenn es nun da seyn wird, durch das Gefühl von unsrer eignen Kraft, gewähren soll, so viel wie möglich, zu verbannen suchen: so daß wir, wenn wir auch mit dem letzten Athemzuge es erst vollenden könnten, es dennoch zu vollenden strebten. – Behält alsdann das Schöne, das wir ahnden, bloß an und für sich selbst, in seiner Hervorbringung, noch Reiz genug unsre Thatkraft zu bewegen; so dürfen wir getrost unserm Bildungstriebe folgen, weil er ächt und rein ist. – Verliert sich aber, mit der gänzlichen Hinwegdenkung des Genusses und der Wirkung, auch der Reiz – so bedarf es ja keines Kampfes weiter – der Frieden in uns ist hergestellt – und das nun wieder in seine Rechte getretne Empfindungsvermögen eröfnet sich, zum Lohne für sein bescheidnes Zurücktreten in seine Grenzen, dem reinsten Genuß des Schönen, der mit der Natur seines Wesens bestehen kann. Freilich kann nun der Punkt, wo Bildungs- und Empfindungskraft sich scheidet, so äusserst leicht verfehlt und überschritten werden, daß es gar nicht zu verwundern ist, wenn immer tausend falsche, angemaaßte Abdrücke des höchsten Schönen, gegen einen ächten, durch den falschen Bildungstrieb, in den Werken der Kunst entstehen. Denn da die ächte Bildungskraft, sogleich bei der ersten Entstehung ihres Werks, auch schon den ersten, höhsten Genuß desselben, als ihren sichern Lohn, in sich selber trägt; und sich nur dadurch von dem falschen Bildungstriebe unterscheidet, daß sie den a l l e r e r s t e n Moment ihres Anstosses durch sich selber, und nicht durch die Ahndung des Genusses von ihrem Werke, erhält; und weil in diesem Moment der L e i d e n s c h a f t die Denkkraft selbst kein richtiges Urtheil fällen kann, so ist es fast unmöglich, ohne eine Anzahl mislungner Versuche, dieser Selbsttäuschung zu entkommen.

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Und selbst auch diese mißlungnen Versuche sind noch nicht immer ein Beweiß von Mangel an Bildungskraft, weil diese selbst da, wo sie ächt ist, oft eine ganz falsche Richtung nimmt, indem sie vor ihre Einbildungskraft stellen will, was vor ihr Auge, oder vor ihr Auge, was vor ihr Ohr gehört. Eben weil die Natur die inwohnende Bildungskraft nicht immer zur völligen Reife und Entwicklung kommen oder sie einen falschen Weg einschlagen läßt, auf dem sie sich nie entwickeln kann; so bleibt das ächte schöne s e l t e n . Und weil sie auch aus dem angemaßten Bildungstriebe das Gemeine und Schlechte ungehindert entstehen läßt, so unterscheidet sich eben dadurch das ächte Schöne und Edle, durch seinen seltnen Werth, vom Schlechten und Gemeinen. – In dem Empfindungsvermögen bleibt also stets die Lücke, welche nur durch das Resultat der Bildungskraft sich ausfüllt. – Bildungskraft und Empfindungsfähigkeit verhalten sich zu einander, wie Mann und Weib. Denn auch die Bildungskraft ist bei der ersten Entstehung ihres Werks, im Moment des höchsten Genusses, zugleich Empfindungsfähigkeit, und erzeugt, wie die Natur, den Abdruck ihres Wesens aus sich selber. Empfindungsvermögen sowohl als Bildungskraft sind also in dem feinern Gewebe der Organisation gegründet, in sofern dieselbe in allen ihren Berührungspunkten von den Verhältnissen des grossen Ganzen der Natur ein vollständiger oder doch fast vollständiger Abdruck ist. Empfindungskraft sowohl als Bildungskraft umfassen m e h r als Denkkraft, und die thätige Kraft, worinn sich beide gründen, faßt z u g l e i c h auch alles was die Denkkraft faßt, weil sie von allen Begriffen, die wir je haben können, die ersten Anlässe, stets sie aus sich herausspinnend, in sich trägt. In sofern nun diese thätige Kraft alles, was nicht unter das Gebiet der Denkkraft fällt, h e r v o r b r i n g e n d in sich faßt, heisset sie Bildungskraft: und in sofern sie das, was ausser den Grenzen der Denkkraft liegt, d e r H e r v o r b r i n g u n g s i c h e n t g e g e n n e i g e n d in sich begreift, heißt sie Empfindungskraft.

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Bildungskraft kann nicht ohne Empfindung und thätige Kraft, die bloß thätige Kraft hingegen kann ohne eigentliche Empfindungsund Bildungskraft, wovon sie nur die Grundlage ist, für sich allein statt finden. In sofern nun diese bloß thätige Kraft ebenfalls in dem feinern Gewebe der Organisation sich gründet, darf das Organ nur überhaupt in alle seinen Berührungspunkten ein Abdruck der Verhältnisse des grossen Ganzen seyn, ohne daß eben der Grad der Vollstän-digkeit erfordert würde, welche die Empfindungs- und Bildungskraft voraussetzt. Von den Verhältnissen des grossen Ganzen, das uns umgiebt, treffen nämlich immer so viele in allen Berührungspunkten unsres Organs zusammen; daß wir dies grosse Ganze dunkel in uns fühlen, ohne es doch selbst zu s e y n : die in unser Wesen hineingesponnenen Verhältnisse jenes Ganzen streben, sich nach allen Seiten wieder auszudehnen: das Organ wünscht, sich nach allen Seiten bis ins Unendliche fortzusetzen. Es will das umgebende Ganze nicht nur in sich spiegeln, sondern so weit es kann, selbst dies umgebende Ganze seyn. Daher ergreift jede höhere Organisation, ihrer Natur nach, die ihr untergeordnete, und trägt sie in ihr Wesen über. Die Pflanze den unorganisierten Stoff, durch bloses Werden und Wachsen – das Thier die Pflanzen durch Werden, Wachsen und Genuß – der Mensch verwandelt nicht nur Thier und Pflanze, durch Werden Wachsen und Genuß in sein innres Wesen; sondern faßt zugleich alles, was seiner Organisation sich unterordnet, durch die unter allen am hellsten geschliffne, s p i e g e l n d e Oberfläche seines Wesens, in den Umfang seines Daseyns auf, und stellt es, wenn sein Organ sich bildend in sich selbst vollendet, verschönert außer sich wieder dar. Wo nicht, so muß er das, was um ihn her ist, durch Z e r s t ö h r u n g in den Umfang seines wirklichen Daseyns ziehn, und verheerend um sich greifen, so weit er kann; da einmal die reine unschuldige Beschauung seinen Durst nach ausgedehntem wirklichen Daseyn nicht ersetzen kann.

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Mit dem sich angeschliffnen Stahle seines eingeschränkten Daseyns nicht mehr froh, strebt er, ausser sich selber, ein grösseres Ganze, als er selbst, zu seyn; stellt sich, zu einem Volk, zu einem Staat sich bildend, mit Wesen seiner Art zusammen, um Wesen seines gleichen, die sich ihm unterordnend ihm nicht dienen, mit ihm nicht eins seyn wollen, zu zerstören. – Er steht auf dem höchsten Punkte seiner Wirksamkeit; der Krieg, die Wuth, das Feldgeschrei, das höchste Leben, ist nah an den Grenzen seiner Zerstörung da. – Kommen dann endlich die strebenden Kräfte wieder in ein glückliches Gleichgewicht; und macht die unruhige Wirksamkeit der stillen Beschauung Platz: so muß nothwendig in dem zum erstenmal in sich versunknen Menschen der Sinn für die umgebende Natur erwachen, die nie zerstört, als wo sie muß, und schonet, wo sie kann. – Er lernt allmälig das E i n z e l n e i m G a n z e n , und in Beziehung auf das Ganze, sehen; fängt die grossen Verhältnisse dunkel an zu ahnden, nach welchen unzählige Wesen auf und ab, so wenig wie möglich sich verdrängen, und doch so nah wie möglich an einanderstossen. – Dann steigt in seinen ruhigsten Momenten die Geschichte der Vorwelt, das ganze wunderbare Gewebe des Menschenlebens in allen seinen Zweigen vor ihm auf. – In allen, was seine ruhige Einbildungskraft ihm spiegelt, sondert sich das Grosse und Edle vom Gemeinen, nach einem dunkelempfundnen Maaßstabe in ihm selber ab, und strebt aus ihm heraus. – So geht die um sich greifende, zerstörende Thatkraft, sich auf sich selber stützend, in die sanfte schaffende Bildungskraft, durch ruhiges Selbstgefühl, hinüber, und ergreift den leblosen Stoff, und haucht ihm Leben ein. Auf die Weise bildete unter jedem Himmelsstrich die Natur das Schöne, sich in den reinsten Seelen in ihren ruhigsten Momenten spiegelnd. – Sie allein führt an ihrer Hand den bildenden Künstler, den Dichter, in ihr innerstes Heiligthum, wo sie dem sich neu entwickelnden Bildungstriebe, schon seit Jahrhunderten vorgearbeitet, und seine Bahn ihm vorgezeichnet hat.

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Denn alles, was die Vorwelt erfunden, ist ja in den Umfang der Natur zurücktretend, mit ihr e i n s geworden, und soll mit ihr vereint, harmonisch auf uns wirken. – – Das Schöne der bildenden Künste steht, sobald es einmal da ist, mit auf ihrer grossen Stufenleiter, und will nicht mit ihr in ihren einzelnen Theilen verglichen, sondern in ihrem ganzen Umfange, als z u i h r g e h ö r e n d , mitgedacht und empfunden seyn. Unser Naturgenuß soll durch die Betrachtung des Schönen in der Kunst, verfeinert; und unser Gefühl für das Schöne in der Kunst soll wechselseitig durch den Genuß der schönen Natur g e s t ä r k t , und zugleich seine Grenzen ihm vorgezeichnet werden. Strömt dann das Maaß der Empfindung über, und wird zur Bildungskraft, so ahmt es in jedem Einzelnen der Natur nicht mehr das Einzelne, und in dem höchsten Kunstwerke, nicht das Kunstwerk, sondern die grosse Harmonie des mitempfundnen Ganzen nach, das sich in beiden abdrückt. Der einmal aufgeweckte, ächte Bildungstrieb findet nichts Einzelnes in der Natur, das ganz ihm gnügte; auch selber das höchste Kunstwerk nicht, das, als der erste Abdruck des höchsten Schönen, doch immer nur Abdruck bleibt. Das bildende Genie will, wo möglich, alle die in ihm schlummernden Verhältnisse jener grossen Harmonie, deren Umfang grösser, als seine eigne Individualität ist, s e l b s t u m f a s s e n : das kann es nun nicht anders, als in v e r s c h i e d n e n M o m e n t e n , schaffend, bildend, aus seiner eignen eingeschränkten Individualität gleichsam heraus, in ein Werk, das ausser ihm sich darstellt, hinüberschreitend, und m i t diesem Werke nun das u m f a s s e n d , was seine Ichheit selber vorher nicht fassen konnte. Allein der Anblick von dem reinsten Abdruck des höchsten Schönen in dem vollkommensten Kunstwerke, mußte dem Bildungstriebe den ersten Anstoß geben, bloß durch Gefühl der M ö g l i c h k e i t , sich in einem Kunstwerke ausser sich selbst zu stellen, und das in einer F o l g e v o n M o m e n t e n bildend und schaffend zu umfassen, was keine Empfindung auffaßt, wofür das Selbstgefühl zu beschränkt ist, und die Ichheit keinen Raum hat.

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Und jeder Stoff, den dann die Bildungskraft ergreift, wird jeden nachfolgenden Versuch vereiteln, denselben Stoff zu einem neuen Werke noch einmal eben so schön zu bilden. Je mehrere Reize der Stoff an sich hat, um destomehr wird es den nachfolgenden Bildungstrieb in Verzweiflung setzen. Der falsche Bildungstrieb wird am ersten darnach haschen; Anfang, Mittel, und Ende tauschen; und dieß verzerrte, entstellte Ganze, das unverzerrt und unentstellt vor ihm schon da war, als sein eignes Werk betrachten, das ihm sein Daseyn dankt. Dergleichen Nachäffungen des ächten Schönen könnten nie Beifall finden, wenn Empfindungsfähigkeit und Bildungskraft bei ihrer Entwicklung immer gleichen Schritt hielten, und nicht eins der andern ängstlich nach oder vorzukommen strebte: denn da das Empfindungsvermögen, seiner Natur nach, so nah an die Bildungskraft grenzt, daß diese nur gleichsam die letzte Lücke ausfüllt, deren Ausfüllung dem Geschmack zur eignen Hervorbringung des Schönen aus sich selber fehlt; so muß auch die Empfindungsfähigkeit selbst schon den Sinn für das Schöne haben, das die Bildungskraft hervorbringen soll; sie muß sich mit dieser zugleich, i n i h r e m M a a s s e , auf gleiche Art entwickeln. Das Schöne will eben sowohl bloß um sein selbst willen betrachtet und empfunden, als hervorgebracht seyn. – Wir betrachten es, weil es da ist, und mit in der Reihe der Dinge steht; und weil wir einmal betrachtende Wesen sind, bei denen die unruhige Wirksamkeit auf Momente der stillen Beschauung Platz macht. Betrachten wir das Schöne nicht um sein selbst willen, sondern um erst unsern Geschmack dafür zu bilden, so bekömmt ja eben dadurch unsre Betrachtung schon eine eigennützige Richtung. Unser Urtheil ist uns alsdann mehr werth, als die Sache, worüber wir urtheilen: und statt daß also unsre Beurtheilungskraft, durch ruhige Betrachtung, sich erweitern sollte, wird vielmehr der Gesichtspunkt für das Schöne nach den zu engen Grenzen unsrer Fassungskraft sich verschieben müssen.

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Der Geschmack, oder die Beurtheilung des Schönen, gehört ja eben so, wie das Schöne selbst, zu den Sachen, die wir nicht brauchen, sobald wir sie nicht kennen, und nicht entbehren, sobald wir sie nicht haben; deren Bedürfniß erst durch den Besitz entsteht, wo es sich durch sich selbst befriedigt: geht also das Bedürfniß vor dem Besitz vorher, so kann es nicht anders als eingebildet und erkünstelt seyn. Was uns daher allein zum wahren Genuß des Schönen bilden kann, ist das, wodurch das Schöne selbst entstand; v o r h e r g e g a n g n e r u hige Betrachtung der Natur und Kunst, als eines einz i g e n g r o s s e n G a n z e n , das in allen seinen Theilen sich in sich selber spiegelnd, da den reinsten Abdruck läßt, wo alle Beziehung aufhört, in dem ächten Kunstwerke, das, so wie sie, in sich selbst vollendet, den Endzweck und die Absicht seines Daseyns in sich selber hat. – Auf die Weise entstand, ohne alle Rücksicht auf Nutzen oder Schaden, den es stiften könnte, das Schöne der bildenden Künste in jeder Art, bloß um sein selbst und seiner Schönheit willen; und konnte auf keine andere Weise entstehen, weil der Begriff der Schönheit selbst schon jede Rücksicht auf Nutzen oder Schaden, seiner Natur nach, ausschließt; und der Begriff des Schädlichen auch bei der wirklichen Hervorbringung des Schönen sich von selbst aufhebt. Denn suchen wir uns nun noch zuletzt den Begriff des Schädlichen näher zu entwickeln, so ist nur jede unvollkommnere Sache in sofern schädlich, als eine vollkommnere darunter leidet. – Das wirklich Vollkommnere kann daher nie dem Unvollkommnern; dem weniger Organisirten nie das höher Organisirte schaden. Wir sagen: es ist schade um den Theil der Pflanzenwelt, den die hereinbrechende Fluth verschlingt; aber nicht um den, der, von der lebenden Welt zerstöhrt, in eine höhere Organisation hinüber geht: denn weit mehr Schade, als um die Pflanzenwelt, wäre es um die lebende Welt, wenn sie deswegen aufhören sollte, damit die ganze Pflanzenwelt unbeschädigt bliebe. – Und weit mehr Schade, als um die unterjochte Thierwelt, wäre es wieder um die Menschenwelt, wenn diese deßwegen nicht statt fin-

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den sollte, damit alles übrige in dem Zustande seiner natürlichen Freiheit bliebe. – So liesse sich nun weiter schliessen, daß es in der Menschenwelt auch mehr Schade um die überwiegende Stärke wäre, wenn diese deswegen nicht statt finden sollte, damit die Schwäche ihre Schwachheit nicht gewahr werde; als es um den schwächern Theil der Menschen schade ist, daß sie der Obermacht des Stärkern weichen, und ihre Schwäche empfinden müssen. – Und daß es folglich auch wieder um das Schöne, welches am meisten um sein selbst willen da ist, weit mehr Schade wäre, wenn es deswegen vertilgt seyn sollte, damit keine unbefriedigte Sehnsucht dadurch entstehn, und keine thätige Kraft darunter erliegen könne; als es um die thätige Kraft schade ist, die unter der unbefriedigten Sehnsucht endlich erliegen muß; – Da überdem das Schöne mit dem Leiden, das sein versagter Genuß erweckt, zusammengenommen, in unsrer Vorstellung erst seinen höchsten Reiz erhält, dem durch kein schöneres Opfer, als dieses, kann gehuldigt werden. – Denn so wie die Liebe die höchste Vollendung unsres empfindenden Wesens ist, so ist die Hervorbringung des Schönen die höchste Vollendung unsrer thätigen Kraft – und die höchste Liebe muß wieder in Hervorbringung, in Zeugung, wo nicht in die süsseste Auflösung des liebenden Wesens hinüber gehn. – Nun sind freilich die Begriffe von Aufopferung, Liebe und Sehnsucht selber viel zu süß, als daß wir sie wieder entbehren könnten, sobald wir sie einmal haben, oder ihr Daseyn nicht wünschen sollten, sobald wir sie einmal kennen. – Es scheint nichts Höheres zu geben, dem die Aufopferung selbst wieder müßte aufgeopfert werden. – Und das Schöne hinwegwünschen, weil unter ihm die Stärke erliegt, hiesse auch, die Stärke hinweg wünschen, weil unter ihr die Schwäche erliegt; den Menschen, weil er mit zerstöhrender Hand die freie Thierwelt sich unterjocht; die ganze lebende Welt, weil sie unaufhörlich die unschuldige Pflanzenwelt zerstöhrt; und zuletzt auch die leblose Pflanzenwelt, weil sie

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die unzerstöhrbaren Theile des organisirten Stoffs, aus ihrer natürlichen Gleichheit reißt, und sie, durch die trügerische Bildung und Form zum erstenmale der Zerstöhrung unterwirft. Das einfachste Pflanzengewebe muß für seinen Raub an den noch einfachern Elementen, schon durch Auflösung und Verwelkung; das geringste Lebende für seinen Raub an dem Organisirten, mit körperlichen Schmerzen und dem Tode; und die Menschheit für den Raub ihres höhern Daseyns, an der ganzen umgebenden Natur, mit den Leiden der Seele büssen. – Und das Individuum muß dulden, wenn die G a t t u n g sich erheben soll. Die Menschengattung aber muß sich heben, weil sie den Endzweck ihres Daseyns nicht mehr ausser sich, sondern in sich hat; und also auch durch die Entwicklung aller in ihr schlummernden Kräfte, bis zur Empfindung und Hervorbringung des Schönen, s i c h i n s i c h s e l b e r v o l l e n d e n m u ß . – Zu dieser Vollendung aber gehört das duldende Individuum selber mit; dessen Duldung eben, wenn sie vorüber ist, durch die Darstellung zugleich in den höchsten Vollendungspunkt des Schönen mit hinüber geht. – So lößt sich die Duldung in die Erscheinung auf, indem sie da, wo sie wirklich geduldet ward, nicht mehr empfunden, nicht mehr geduldet wird. – Das individuelle Leiden in der Darstellung, geht in das erhabnere M i t l e i d e n über, wodurch eben das Individuum aus sich selbst gezogen, und die Gattung wieder in sich selber vollendet wird. Höher aber kann die Menschheit sich nicht heben, als bis auf den Punkt hin, wo sie durch das Edle in der Handlung, und das Schöne in der Betrachtung, das Individuum selbst aus seiner Individualität herausziehend, in den schönen Seelen sich vollendet, die fähig sind, aus ihrer eingeschränkten Ichheit, in das Interesse der Menschheit hinüber schreitend, sich in die Gattung zu verlieren. Ehe sie aber bis dahin sich erhebt, muß die Duldung des Einzelnen vorhergehn. – Die Gattung ist mit dem Individuum, die Erscheinung mit der Wirklichkeit im ewigen Kampfe. –

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Sobald die Erscheinung in der Gattung, über die Wirklichkeit in dem Individuum gesiegt hat, geht das bitterste Leiden, durch das über die Individualität erhabne Mitleid, in die süsseste Wehmuth über; und der Begriff des höchsten S c h ä d l i c h e n in der Wirklichkeit, lößt sich in den Begriff des höchsten Schönen in der Erscheinung, auf. Und so wie jedes Schöne in der Erscheinung nur in dem Maasse schön ist, als es nicht nützlich zu seyn braucht, so ist es auch nur in dem Maasse schön, als es, wenn es wirklich wäre, schädlich seyn würde; und doch auch wieder nicht schädlich seyn würde – in sofern das Wort s c h ä d l i c h von untergeordneten, selbst der Schönheit huldigenden Wesen ausgesprochen wird, die nicht wünschen können, daß das Schöne vertilgt seyn mögte, damit es keine Zerstöhrung anrichte; sondern die Schuld der Zerstöhrung von der Schönheit ab, auf die Nothwendigkeit der Dinge, oder höhere Mächte wälzen: wie der Greis Priamus beim Homer, der die erhabne, selbst über den durch sie gestifteten Jammer weinende Schönheit, mit sanften Worten tröstet:

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Tochter, du bist nicht, die unsterblichen Götter sind schuldig, Welche den traurigen Krieg mir mit Achaja erregten. Und die zürnenden Trojaner, welche die verderbliche Ursach des Krieges laut verwünschen, können sich nicht enthalten, bei der Ankunft des göttlichen Weibes, sich ins Ohr zu flüstern: Wahrlich, sie sind nicht zu schelten, die schön gestiefelten Griechen, Und die Trojaner, um solch ein Weib so vieles zu dulden: Denn den Unsterblichen gleicht sie an Wuchs und schöner Gebehrde. Der Kampf muß also durchgekämpft, das grosse Opfer muß dargebracht werden. – Das Geklirr der Waffen, und das Geschrei der Sterbenden muß gen Himmel tönen – Hektor muß fallen, und Hekuba ihr Haar zerraufen. – Hat dann die Zeit über die Zerstöhrung ihre Furche hingezogen; so nimmt die Nachwelt den Jammer der Vorwelt in ihren Busen auf, und

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macht ihn, wie ein köstliches Kleinod, sich zu eigen, durch welches der Menschheit ihr dauernder Werth gesichert, und ihre edelste und zarteste Bildung vollendet wird. Denn in der Duldung liegt der Kern zu jeder höhern Entwicklung; und die Freude selbst nimmt, wo sie am höchsten steigt, von der jungfräulichen Hoffnung und dem geliebten Kummer, mit süssen Thränen, Abschied. – Der freudige Stoff der Dichtkunst lößt sich in sich selber, der tragische in der Veredlung unsres Wesens durch das Mitleid, auf. Je weniger wir nämlich das schadende und vernichtende Vollkommnere selbst vertilgt wünschen, und uns dennoch nicht enthalten können, vor der nahen, unvermeidlichen Vernichtung eines Wesens unsrer Art, zu zittern, um desto edler und reiner muß unser Mitleid werden, weil es mit keiner Bitterkeit und keinem Haß gegen die zerstöhrende Obermacht mehr vermischt ist, sondern ganz in sich selbst versunken, sich zu der unaufhaltbaren Thräne ründet, worinn unser ganzes mitleidendes Wesen, aus seinem zartesten Vollendungspunkte, sich aufzulösen und zu zerfliessen strebt. Wir können aber das vernichtende Vollkommnere in sofern nicht vertilgt wünschen, als wir uns zugleich selbst in ihm doppelt vernichtet fühlen würden. – Denn in sofern das Schöne alles Mangelhafte von sich ausschließt, begreift es auch alles Wirkliche in sich, das bloß durch sein Mangelhaftes sich von dem Schönen unterscheidet, und eben deswegen sich unwiderstehlich von ihm angezogen fühlt, und mit ihm eins zu seyn strebt, weil es in dem Schönen das G a n z e erkennt, von dem es selber nur ein Theil ist. Indem nun aber das Schöne alles Mangelhafte von sich ausschließt, und alles Wirkliche in sich begreift, ohne doch alles Wirkliche selbst zu seyn, findet es, selbst da, wo es wirklich ist, für jedes Individuum, das mit ihm nicht eins werden kann, immer nur in der Erscheinung statt. Wenn nun bei diesem Individuum die Empfindung die Thatkraft überwiegt, und also die Thatkraft durch Zerstöhrung sich nicht rä-

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chen kann; so muß das Individuum für den Raub, den es durch die Erkenntniß des ihm unerreichbaren Schönen, an seiner Individualität begangen hat, mit Höllenquaalen büssen. Sysiphus wälzt den Stein – Tantalus lechzt nach der von seinen Lippen ewig weichenden Fluth. – Allein die Qualen sind nur dem Individuum schrecklich, und werden in der Gattung schön – sobald daher die Gattung in dem Individuum sich vollendet, lößt sein Leiden sich von ihm ab, und geht in die Erscheinung, die Empfindung geht in die B i l d u n g über – was von dem bildenden Wesen sich zerstöhrt, ist sein Phantom – das veredelte Daseyn bleibt zurück. Eben diese Erscheinung aber faßt das alles in sich, was die Wirklichkeit hätte zerstöhren müssen, wenn sie nicht die Macht gehabt hätte, es von sich abzulösen, und bildend ausser sich darzustellen. – So wie jedes vollkommne Kunstwerk seinen Urheber, oder was ihn umgiebt, würde zernichtet haben, wenn es sich aus seiner Kraft nicht hätte entwickeln können. In diesem Punkte treffen also Zerstöhrung und Bildung in eins zusammen – Denn das höchste Schöne der bildenden Künste, faßt dieselbe Summe der Zerstöhrung, i n e i n a n d e r g e h ü l l t , auf einmal in sich, welche die erhabenste Dichtkunst, nach dem Maaß des Schönen, a u s e i n a n d e r g e h ü l l t , in furchtbarer Folge uns vor Augen legt. Ist es nicht die immerwährende Zerstöhrung des Einzelnen, wodurch die Gattung in ewiger Jugend und Schönheit sich erhält? Und ist es nicht die durch die reinste Imagination zum Gott verkörperte Jugend und Schönheit selbst, welche mit sanftem Geschoß die Menschen tödtet; oder mit Köcher und Bogen zürnend einher tritt, düster und furchtbar, wie Schrecken der Nächte – den silbernen Bogen spannt – und die verderbenden Pfeile in das Lager der Griechen sendet? – Sobald nämlich in der vollendeten Schönheit die Gattung sich selbst erblickt, kann sie das, worinn sie eigentlich erst sich selbst b e s i t z t , nicht anders, als für das größte Kleinod halten, welches in

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sofern es nicht als Erscheinung, sondern als wirklich betrachtet wird, alles Einzelne aufwiegt. Weil es nun von jedem als wirklich betrachtet werden kann, so wird das Einzelne dadurch gezwungen, sich wieder unter einander aufzuwiegen, damit sein verhältnißmässiger Werth gegen das Schöne s i c h t b a r werde, der sich nicht anders, als durch die Zerstöhrung des Schwächern durch das Stärkre, und des Unvollkommnern, durch das Vollkommnere, zeigen kann. Auf die Weise schreibt die Schönheit der Zerstöhrung selbst ihr edles Maaß vor – wo nicht, so regen die Zähne des Drachen sich in der lockern Erde – die Saat des Kadmus keimt in geharnischten Männern auf, die ihre Schwerdter gegen einander kehren, und ehe vom Streit nicht ruhn, bis ihre Leiber wieder den Boden küssen. – Weil nun durch die Erscheinung der individuellen Schönheit dieselbe Summe der Zerstöhrung des Einzelnen, in einem kürzern Zeitraume, sichtbar wird, welche zur Erhaltung der immerwährenden Jugend und Schönheit, in der Gattung überhaupt, durch Alter und Krankheit, fast unmerklich ihren Fortschritt hält: Und weil wir diese Zerstöhrung mit der individuellen Schönheit, durch welche sie unmittelbar bewirkt wird, uns zusammen denken: So giebt das Schöne, in welches die Zerstöhrung selbst sich wieder auflößt, uns gleichsam ein Vorgefühl von jener grossen Harmonie, in welche Bildung und Zerstöhrung einst Hand in Hand, hinüber gehn. Und die immerwährende Zerstöhrung des Schwächern durch das Stärkre, und des Unvollkommnern durch das Vollkommnere, scheint uns in eben dem Maasse, wie die unaufhörliche Bildung des Unvollkommnern zum Vollkommern, dem ewigen Schönen n a c h z u a h m e n , das, über Zerstöhrung und Bildung selbst erhaben, in der Himmelswölbung und auf der stillen Meeresfläche ruhend, sich uns am reinsten darstellt. – Allein unser Begriff des Schönen verliert sich zuletzt doch immer wieder in den Begriff der N a c h a h m u n g von etwas, worinn das Vollendete sich wieder zu vollenden, und unser eignes Wesen, in jeder Aeußrung seines Daseyns, uns unbewußt, sich aufzulösen strebt.

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Wo nun die Auflösung eines Wesens unsrer Art, am unmittelbarsten durch die schönen Verhältnisse des Ganzen selbst bewirkt wird, und in der edelsten Bil-dung dieses Wesens selbst sich gründet, da scheinet in der Darstellung seiner Leiden, die immerwährende Auflösung unsres eignen Wesens, auf einige Augenblicke, uns bewußt zu werden, indem uns dünkt, als ob, im schönen Wiederschein herbeigezaubert, ein Stück aus jenem grossen Zirkel vor uns schwebte, in welchen unsre kleinere Laufbahn sich einst verlieren wird. – So vollendet die Liebe unser Wesen – das erhabnere Mitleid aber blickt thränend auf die Vollendung selbst herab – Weil es Aufhören und Werden, Zerstöhrung und Bildung in eins zusammenfaßt. Und wenn jemals ein schwacher Schimmer des über Zerstöhrung und Bildung erhabnen Schönen sich uns zeigen kann, so muß es auf dem Punkte seyn, wo es aus der über unserm Haupte schwebenden Zerstöhrung selbst uns wieder entgegen lächelt. – Das Auge blickt dann, sich selber spiegelnd, aus der Fülle des Daseyns auf. – Die Erscheinung ist mit der Wirklichkeit, die Gattung mit dem Individuum eins geworden. – Tod und Zerstöhrung selbst verlieren sich in den Begriff der e w i g bildenden Nachahmung des über die Bildung selbst e r h a b n e n S c h ö n e n , dem nicht anders als, durch i m m e r w ä h r e n d s i c h v e r j ü n g e n d e s D a s e y n , nachgeahmt werden kann. Durch dieß sich stets verjüngende Daseyn, s i n d w i r s e l b e r . Daß wir selber s i n d , ist unser höchster und edelster Gedanke. – Und von sterblichen Lippen, läßt sich kein erhabneres Wort vom Schönen sagen, als: e s i s t !

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Als P h i l o m e l e ihrer Zunge beraubt war, webte sie die Geschichte ihrer Leiden in ein Gewand, und schickte es ihrer Schwester, welche es aus einander hüllend, mit furchtbarem Stillschweigen, die gräßliche Erzählung* las. Die stummen Charaktere sprachen lauter als Töne, die das Ohr erschüttern, weil schon ihr bloßes D a s e y n von dem schändlichen Frevel zeugte, der sie veranlaßt hatte. Die Beschreibung war hier mit dem Beschriebenen eins geworden – die abgelößte Zunge sprach durch das redende Gewebe. Jeder mühsam eingewürkte Zug schrie laut um Rache, und machte bey der mitbeleidigten Schwester das mütterliche Herz zum Stein. Keine rührende Schilderung aus dem Munde irgend eines Lebendigen, konnte so, wie dieser stumme Zeuge, wirken. – Denn nichts lag ja dem Unglück der weinenden Unschuld n ä h e r , und war so innig damit verwandt, als eben dieß mühsame Werk ihrer Hände, wodurch sie allein ihr Daseyn kund thun, und ihre Leiden offenbaren konnte. Eben darum konnte es seiner schrecklichen Wirkung nicht verfehlen. So war dem unglücklichen Weibe des K o l l a t i n u s nichts n ä h e r , als ihr Gatte, und ihr Vater selbst, welche durch die bloße Erzählung ihres beweinenswerthen Schicksals, ein ganzes unterdrücktes Volk gegen die Macht der Tyranney empörten, und die erloschne Freyheitsliebe in aller Busen wieder weckten.

* O v i d s Verwandlungen, im sechsten Buche.

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Mit seiner eignen, unschuldigen Tochter Blut bespritzt, durfte V i r g i n i u s nur den Mund eröfnen, um alles zur lebhaftesten Theilnehmung an seiner Erzählung hinzureißen, und durch die einfachste Beschreibung der jammervollen Scene, konnte er dasselbe Volk noch einmal bewegen, das Joch der Knechtschaft von sich abzuschütteln. Eben das nahe Band, welches den überlebenden Gatten und Vater an jene Schlachtopfer der willkührlichen Herrschaft knüpfte, machte, daß die Erzählung, z u g l e i c h m i t d e r e r z ä h l t e n S a c h e , auf die Gemüther wirkte, und bis ins Innerste sie erschütterte. Denn aus den theuren Ueberlebenden flehte der Mund der Todten die menschliche Natur um Mitleid an. Aber wer kann dem Vater, wer dem Gatten nacherzählen? – wer so rührend P h i l o m e l e n s Unglück schildern, als das Tuch, worin sie selbst es würkte? Daß sie es in dies Tuch würkte, macht ja selbst den rührendsten Zug in der Schilderung ihrer Leiden aus. Und die Beschreibung durch Worte muß sich hier begnügen, das bloß a n z u d e u t e n , was durch sein Daseyn selber mehr als Worte sagt. Wer den Schmerz des V i r g i n i u s würdig beschreiben wollte, müßte entweder, wie der Schauspieler, streben, auf eine Zeitlang, durch ein künstliches Vergessen seiner selbst, und durch das darstellende Mitgefühl fremder Leiden, so viel möglich, selbst wieder dieser V i r g i n i u s zu seyn. Oder er müßte, wie der bildende Künstler, einem der fliehenden Momente Dauer geben, welcher deswegen am stärksten die Seel’ erschütterte, weil in allem, was in ihm auf einmal sich dem Auge darstellt, immer eines durch das andre, so wie das Ganze durch sich selber, r e d e n d und b e d e u t e n d wird. Der Geschichtschreiber hebt, durch die einfache Erzählung des Vorhergehenden und Nachfolgenden, einen solchen Moment heraus; durch die simple Erwäh-nung der Umstände, welche die Begebenheit v e r a n l a ß t e n ; durch die Beschreibung des E i n d r u c k s , welchen der Anblick dieser Scene auf die Gemüther machte, und der w i c h t i g e n Folgen, welche dieser Eindruck nach sich zog.

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Durch die Hand des bildenden Künstlers dargestellt, kann P r o g n e , von dem aufgerollten Gewebe ihrer Schwester, auf den neben ihr stehenden schmeichelnden Knaben, einen Blick werfen, der den gräßlichen Vorsatz ihrer Seele schon in dem ersten Augenblick seiner Geburt enthüllt. Das Vorhergehende und Nachfolgende dieses Moments, in so fern es noch durch Worte bezeichnet werden kann, bestimmt für die Imagination des bildenden Künstlers, in jedem Zuge den Ausdruck, der nun über allen fernern Ausdruck durch Worte erhaben ist, welche eben da aufhören müssen, wo das ächte Kunstwerk anfängt. Denn darinn besteht ja eben das Wesen des Schönen, daß ein Theil immer durch den andern und das Ganze durch sich selber, redend und bedeutend wird – daß es sich selbst erklärt – sich durch sich selbst beschreibt – und also außer dem bloß andeutenden Fingerzeige auf den Inhalt, keiner weitern Erklärung und Beschreibung mehr bedarf. So bald ein schönes Kunstwerk, außer diesem Fingerzeige, noch einer besondern Erklärung bedürfte, wäre es ja eben deswegen schon unvollkommen: denn das erste Erforderniß des Schönen ist ja eben seine K l a r h e i t , wodurch es sich dem Aug entfaltet. Das in die Hülle der Existenz, gleich dem elektrischen Funken, verborgne Schöne findet allenthalben statt, und dient der häßlichsten Oberfläche sehr oft zur Unterlage – wo also die Kunst es auf der Oberfläche darstellen will, muß sie es auch nothwendig g a n z entwickeln, und es gleichsam aus sich selbst enthüllen. Wo dann das ächte Schöne sich uns entfaltet, da ist es durch sich selbst die vollkommenste Erklärung der Vollkommenheit, die im Innern der Natur verborgen, unter tausend Gestalten lauscht, und mehr oder weniger sich unserm Blick entzieht. Es ist eine deutliche Beschreibung dessen, was unsrer Sterblichkeit nur dunkel ahndet. Das Licht, worinn sich uns das Schöne zeigt, kommt nicht von uns, sondern fließt von dem Schönen selber aus, und verscheucht auf eine Weile die Dämmrung um uns her. –

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Darum fühlen wir beym Anblick des Schönen unser Herz und unsern Verstand erweitert, weil uns etwas von demjenigen sichtbar, und fühlbar zu werden scheint, was immer unsern forschenden Gedanken sich entzieht, welche durch die schwachen Laute der Sprache nur mühsam ihren Kreislauf beschreiben, und immer da in sich selbst wieder zurückfallen, wo sie ihren höchsten Gegenstand zu erreichen hofften. Jemehr wir nehmlich, überhaupt beym Anblick der Natur, die Ursach in ihrer Wirkung, das innere Wesen der Dinge in ihren äußren Formen und Gestalten lesen, um desto befriedigter fühlen wir uns, und um desto vollkommner scheint uns das zu seyn, was durch seine äußere Form zugleich sein innres Wesen uns enthüllt. Eben darum rührt uns die Schönheit der menschlichen Gestalt am meisten, weil sie die inwohnende Vollkommenheit der Natur am deutlichsten durch ihre zarte Oberfläche schimmern, und uns, wie in einem hellen Spiegel, auf den Grund unsres eignen Wesens, durch sich schauen läßt. Die Nacktheit selber, welche jeden Mangel aufdeckt, und jedes andre Thier entstellt, ist bey dem Menschen das höchste Siegel der Vollendung seiner Schönheit, die allein ihrer Blöße sich nicht schämen darf, sondern, wie die Wahrheit, keinen edlern Schmuck, als sich selber kennt. Denn die Nacktheit selbst entsteht ja aus der vollkommensten B e s t i m m t h e i t aller Theile, wodurch alles Zufällige von der vollendeten Bildung ausgeschlossen wird, und nur das Wesentliche auf der Oberfläche erscheint. Sobald die Bildung nicht in allen Theilen so vollkommen bestimmt, und vollendet ist, daß sie das innre Wesen des Gebildeten allenthalben auf seiner Oberfläche durchschimmern läßt, findet auch bey der Entblößung, keine eigentliche Nacktheit statt. Denn die letzte ins Auge fallende Oberfläche ist alsdann immer selbst schon wieder eine Art von Bekleidung, die das innre Wesen uns verdeckt. – Eben weil alsdann die Bildung nicht vollkommen bestimmt, und in sich selbst vollendet ist, sondern durch den Auswuchs

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von Schuppen, Haar, und Federn, gleichsam über sich hinausgeht – und eben dadurch immer mehr an Schönheit, und Bedeutsamkeit verliert, bis sie zuletzt in dem unbestimmtesten Wachsthum der Pflanze die harte Rinde um sich herzieht, die den Schatz von Vollkommenheit, den sie umschließt, am neidischsten unserm Blick entzieht. So wie sich nehmlich mit der zunehmenden Bestimmtheit alles Ungebildete dem Gebildeten nähert; so nähert sich auch, mit der zunehmenden Zufälligkeit, das Gebildete immer mehr dem Ungebildeten. Denn der Begriff des Unorganisirten ist mit dem Begriff des Zufälligen unzertrennlich verknüpft. – Der Tropfen f ä l l t dem Tropfen, der Staub dem Staube, z u – aber das Gebildete fällt nicht zu sich selber, sondern ist nur in so fern gebildet, als es durch die Bestimmtheit seiner Form, sich aus seiner nächsten Umgebung s o n d e r t , und das Zufällige von sich ausschließt. Das Unorganisierte hingegen, welches dem Unorganisierten z u - f ä l l t , wird ungehindert mit ihm eins, und zieht es mit sich zu Boden. Der Regen strömt in Tropfen, in Flocken fällt der Schnee herab, die zueinanderfallend in eine Masse sich verlieren. Die Zufälligkeit seiner Bildung drückt den harten Stein zur Erde nieder, und die Bestimmtheit ihrer Form treibt die Pflanze aus dem Schooß der Erd’ empor. Mit dem ersten Anfange der Bestimmtheit, und mit der schwächsten Ausschließung des Zufälligen, tritt der Wa c h s t h u m in die zarte Pflanze, wodurch sie in Blättern und Zweigen sich selbst verjüngt, und ihre erste einfachste Organisation so oft wiederholt, als ihr Wachsthum dauert. Mit der völligen Bestimmtheit der Bildung, und Ausschließung alles Zufälligen, durch das nothwendige Beisammenseyn zweier symmetrischen Hälften, tritt die B e w e g u n g in den Embrio, der sich den Fesseln seiner nächsten Umgebung entwindet, eben weil er, durch die

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Ausschließung alles z u r E r d e d r ü c k e n d e n Z u f ä l l i g e n , nun seinen eignen Schwerpunkt, und die Achse seines Umdrehens in sich selber hat. Und mit der allervollkommensten B e s t i m m t h e i t in der Gestalt des Menschen, die bis auf die feinsten Züge sich erstreckt, tritt endlich, in dem beweglichsten Theile des Organs, die r e d e n d e S t i m m e selbst ein, welche als das Resultat der vollkommensten Bestimmtheit, nun auch alles übrige in der Natur b e s t i m m t , und durch das Wort ihm seine Grenzen vorschreibt. – Jemehr auf die Weise aus der harten, umgebenden Hülle das Zarte, Bewegliche sich entwickelt, um desto redender und bedeutender wird es durch sich selber – bis dahin, wo die allerzarteste Beweglichkeit, in dem eigentlichen Werkzeuge der Sprache, selbst zur Sprache wird. Denn da wo Mund und Wange lächeln, muß auch die Zunge verständlich werden. – Eintönig rauschen die Blätter des Baumes vom Winde hin und her bewegt. – Die Nachtigall singt auf seinen Zweigen ihr mannichfaltiges Lied. – Indeß der junge Schäfer an seinen Stamm gelehnt, den Nahmen der Geliebten mit Entzückung ausspricht, oder mit scharfer Spitze der wachsenden Rind’ ihn einverleibt. – Dieser unabänderliche N a h m e belebt alle übrigen Laute seines Mundes, welche mit den abwechselnden Bewegungen seiner Seele gleichen Schritt halten, und mit der schwellenden Empfindung seines Busens steigen und fallen. – Und ist es nicht derselbe Hauch der Luft, welcher in den Blättern des Baumes rauscht, in der Kehle der Nachtigall zu schmelzen-den Tönen, und auf der redenden Lippe des Menschen zum verständlichen Laut sich bildet? So ist nun bey dem bloß Wachsenden nichts als seine Bildung, bey dem Lebenden und Athmenden Bildung und Bewegung, bey dem Lebenden und Denkenden aber Bildung, Bewegung und Laut b e s t i m m t – wodurch das Ganze in Harmonie sich auflöset – das Um-

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fassende sich wieder selbst umfassend, mit leisem Tritt auf seiner Umgrenzung wandelt – und mit dem aufmerksamen Ohre, von der äußersten Zungenspitze, seines Wesens Wiederhall vernimmt. – (Die Fortsetzung folgt künftig.)

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Hier ist es also, wo Bildung und Laut sich scheiden. – Durch das redende Organ beschreibt die menschliche Gestalt sich selber in allen A e u ß r u n g e n ihres Wesens – da aber, wo das wesentliche Schöne selbst auf ihrer Oberfläche sich entfaltet, verstummt die Zunge, und macht der weisern Hand des bildenden Künstlers Platz. Denn da, wo das denkende Gebildete in den äußersten Fingerspitzen sich in sich selbst vollendet, vermag es erst, das Schöne u n m i t t e l b a r wieder außer sich darzustellen. – Indes die Zunge durch eine bestimmte Folge von Lauten jedesmal harmonisch sich hindurch bewegend nur m i t t e l b a r das Schöne umfassen kann; in so fern nehmlich die mit jedem Worte erweckten und nie ganz wieder verlöschenden Bilder, zuletzt eine S p u r auf dem Grunde der Einbildungskraft zurücklassen, die mit ihrem vollendeten Umriß dasselbe Schöne umschreibt, welches von der Hand des bildenden Künstlers dargestellt, auf einmal vors Auge tritt. Worte können daher das Schöne nicht eher beschreiben, als bis sie in der bleibenden Spur, die ihr vorübergehender Hauch auf dem Grunde der Einbildungskraft zurückläßt, s e l b s t w i e d e r z u m Schönen werden. –

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Dieß können sie aber nicht eher werden, als auf dem Punkte, wo die Wahrheit der Dichtung Platz macht, und die Beschreibung mit dem Beschriebnen eins wird, weil sie nicht mehr um des Beschriebnen willen da ist, sondern ihren Endzweck in sich selber hat; und also auch nicht ferner dazu dienen kann, uns eine Sache kenntlich zu machen, die wir noch nicht kennen; indem unsre ganze Aufmerksamkeit mehr auf die Beschreibung selbst, als auf die beschriebne Sache gezogen wird, die wir durch die Beschreibung nicht sowohl kennen lernen, als vielmehr sie in ihr w i e d e r e r k e n n e n wollen. Denn es ist offenbar, daß wir uns bei der Dichtung die Sachen um der Beschreibung willen, bei der Geschichte hingegen, die Beschreibung um der Sachen willen denken. Bei der Beschreibung des Schönen durch Worte, müssen also die Worte, mit der Spur, die sie in der Einbildungskraft zurücklassen, zusammengenommen, selbst das Schöne seyn. Und so müssen auch bei der Beschreibung des Schönen durch Linien, diese Linien selbst, zusammengenommen, das Schöne seyn, welches nie anders als durch sich selbst bezeichnet werden kann; weil es eben da erst seinen Anfang nimmt, wo die Sache mit ihrer Bezeichnung eins wird. Die ächten Werke der Dichtkunst sind daher auch die einzige wahre Beschreibung durch Worte von dem Schönen in den Werken der bildenden Kunst, welches immer nur mittelbar durch Worte beschrieben werden kann, die oft erst einen sehr weiten Umweg nehmen, und manchmal eine Welt von Verhältnissen in sich begreifen müssen, ehe sie auf dem Grunde unsers Wesens dasselbe Bild vollenden können, das von außen auf einmal vor unserm Auge steht. Man könnte in diesem Sinne sagen: das vollkommenste Gedicht sey, seinem Urheber unbewußt, zugleich die vollkommenste Beschreibung des höchsten Meisterstücks der bildenden Kunst, so wie dieß wiederum die Verkörperung oder verwirklichte Darstellung des Meisterwerks der Phantasie; – wenn wir nur einen Augenblick auf den Grund unsers Wesens schauen, und dort die Spur uns erklären könnten, welche nach Lesung des Homer dieselbe Empfindung des

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Schönen in uns zurückläßt, die der Anblick des höchsten Kunstwerks unmittelbar in uns erweckt. So viel fällt demungeachtet deutlich in die Augen, daß die zurückgelaßne Spur von irgend einer Sache, von dieser Sache selbst so unendlich verschieden seyn könne, daß es zuletzt fast unmöglich wird, die Verwandtschaft der Spur mit der Gestalt des Dinges, wodurch sie eingedrückt ward, noch ferner zu errathen. – So wie denn jede sich fortbewegende Spitze einerlei Spur zurückläßt, die übrige Gestalt des Dinges, woran sie befindlich ist, mag auch beschaffen seyn, wie sie wolle. Das Allerverschiedenste kann daher immer in der l e t z t e n Spur, die es von sich zurückläßt, sich wieder gleich werden; wie denn alles was da ist, sich auf dem Punkte gleich wird, wo seine äußersten Spitzen in unserm Denken zusammentreffen, und dort eine gemeinschaftliche Spur von sich zurücklassen, die mit nichts außer sich mehr Aehnlichkeit hat, und eben daher von allem was da ist, ohne Hinderung sagen kann: es ist. Auf die Weise kann nun auch auf dem Grunde der Einbildungskraft, da, wo die in ihr erweckten Bilder ihre letzte, leiseste Spur zurücklassen, durch das Zusammentreffen aller dieser Spuren etwas von allen den einzelnen Bildern ganz Verschiednes entstehen, das bloß die reinsten Verhältnisse in sich faßt, nach welchen das ganz von einander Verschiedne sich um und zu einander bewegt. Nun giebt es aber in der ganzen Natur keine so sanften und reinen Bewegungen von Linien um und zu einander, als in der Bildung des Auges selbst, in dessen umschatteter Wölbung Himmel und Erde ruht, während daß es das Allerverschiedenste in seinen reinsten Verhältnissen in sich faßt. – Daher kömmt nichts unter allem Sichtbaren dem Sehenden selbst an Schönheit gleich, und die sanfte Spur des Sehenden in seine ganze Umgebung verhältnißmäßig eingedrückt, ist von allem Sichtbaren allein vermögend, uns u n m i t t e l b a r Liebe und Zärtlichkeit einzuflößen.

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Nun gründet sich aber der Genuß des Schönen stets auf Liebe und Zärtlichkeit, in so fern es uns jedesmal auf eine Weile aus uns selber zieht, und macht, daß wir über seinem Anschaun uns selbst vergessen. – Da nun unter allem Sichtbaren nichts fähig ist, uns u n m i t t e l b a r Liebe und Zärtlichkeit einzuflößen, als die reinsten Verhältnisse in der vollendeten Gestalt des Sehenden; so scheinet es, als müßten wir jedesmal diese Verhältnisse auf eine oder die andre Weise, in uns oder außer uns, w i e d e r e r k e n n e n , so oft wir dem Schönen zu huldigen uns gedrungen fühlen. Und wo könnten auch wohl die unzähligen Widersprüche, die wir im Kleinen und im Großen wahrnehmen; der Druck der Ungleichheit, die Entzweiung des Gleichen; der Raub des Eingreifenden, der Neid des Ausschließenden; die Verdrängung des Rechten, die Rachsucht des Verdrängten; die Empörung des Niedrigen; der Fall des Erhabnen; und alle die gegen einander streitenden Kräfte sich endlich in eine sanftere Harmonie verlieren, als in den reinsten Verhältnissen der Bildung, welche zuletzt alle diese Widersprüche in sich selber auflößt und vereinigt? – In welcher der Druck des Ungleichen seine Tyrannei; die Entzweiung des Gleichen ihre abneigende Feindschaft; der Raub des Eingreifenden seine zerstörende Gewaltsamkeit; der Neid des Ausschließenden; die Verdrängung des Geraden ihre Ungerechtigkeit; die Rachsucht des Verdrängten ihre Unversöhnlichkeit; die Empörung des Niedrigen ihren Haß, und der Fall des Erhabnen seine Schmach verliert. – Wo das Auge, durch die höchste und tiefste seiner Spuren, Stirn und Wange scheidend, den denkenden Ernst vom jugendlichen, lächelnden Leichtsinn sondert; indem es in dunkler Umschattung hinter dem Schimmer der Morgenröthe hervortritt, und durch die Wölbung von oben seinen Glanz verdeckt; während daß die Scheidung des Gewölbten über ihm in den einander entgegenkommenden Augenbraunen sich sanft zu einander neigend, die Wiedervermählung des Getrennten in jedem untergeordneten Zuge vorbereitet, und der ganzen sich

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herabsenkenden Umgebung, bis zu den Spitzen der Zehen, die immerwährende Spur von Scheidung und von Wölbung eindrückt. So sinkt die erhabne Wölbung der Stirn, gerade da, wo sie durch das Emporragende zwischen Aug’ und Wangen sich am merklichsten fortpflanzt, auf einmal, unbeschadet ihrer Hoheit, bis zu dem leisesten, verlohrendsten Zuge des Mundes herab, dessen sanftgebogener Rand wiederum auf der stützenden Wölbung des Kinnes ruht, das durch sich selbst emporgetragen, und in sich ruhend, seinen eignen Umriß um sich selber zieht. – In dieser sanften Hinabsenkung des Gewölbten wird endlich der trennende Z w i e s p a l t selber doppelt und vierfach schön, weil nur durch ihn die völlige Entfaltung des eingewickelten, nach einer b e s t i m m t e n M a s s e , sich vollenden kann. – Nach welchem Maaße das Auseinandertretende dem sich Entgegenneigenden, das Abspringende dem sich Einfügenden, das sich Entfernende dem sich Annähernden, nichts an Schönheit nachgiebt, aus keinem andern Grunde, als weil das Abweichende mit dem sich Entgegenkommenden, die Entfernung mit der Annäherung e i n e r l e y n o t h w e n d i g e n U r s p r u n g hat. Dieser U r s p r u n g ist es, welcher durch keinen bestimmten Laut dem Ohre vernehmbar wird: er bezeichnet sich aber durch die s i c h t b a r e Auflösung des Widerspruchs in der sanftesten Trennung des Zusammengefügten, und der innigsten Zusammenfügung des Getrennten. (Die Fortsetzung folgt künftig.)

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Wir kommen also wiederum auf den Punkt zurück, daß die Werke der bildenden Künste selbst schon die vollkommenste Beschreibung ihrer

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selbst sind, welche nicht noch einmal wieder beschrieben werden kann. Denn die Beschreibung durch Konturen ist ja an sich selbst schon bedeutender und bestimmter, als jede Beschreibung durch Worte. Umrisse v e r e i n i g e n , Worte können nur auseinander sondern; sie schneiden in die sanfteren Krümmungen der Konturen viel zu scharf ein, als daß diese nicht darunter leiden sollten. W i n k e l m a n n s Beschreibung vom Apollo im Belvedere zerreißt daher das Ganze dieses Kunstwerks, sobald sie unmittelbar darauf angewandt, und nicht vielmehr als eine bloß poetische Beschreibung des Apollo selbst betrachtet wird, die dem Kunstwerke gar nichts angeht. Diese Beschreibung hat daher auch der Betrachtung dieses erhabenen Kunstwerks weit mehr geschadet, als genutzt, weil sie den Blick vom Ganzen abgezogen, und auf das Einzelne geheftet hat, welches doch bei der nähern Betrachtung immermehr verschwinden, und in das Ganze sich verlieren soll. Auch macht die Winkelmannsche Beschreibung aus dem Apollo eine Komposition aus Bruchstücken, indem sie ihm eine Stirn des Jupiters, Augen der Juno, u. s. w. zuschreibt; wodurch die Einheit der erhabnen Bildung entweihet, und ihr wohlthätiger Eindruck zerstört wird. Eben so unzweckmäßig wie es nun seyn würde, die Schönheiten eines Gedichts nach der Reihe zu beschreiben, statt das Gedicht selbst vorzulesen, oder den Gang einer vortrefflichen Musik die man hören kann, mit Worten schildern zu wollen, eben so vergeblich und zweckwidrig ist es auch, Kunstwerke, die man im Ganzen sehen kann, nach ihren e i n z e l n e n T h e i l e n im eigentlichen Sinne zu beschreiben. Wenn über Werke der bildenden Künste, und überhaupt über Kunstwerke etwas Würdiges gesagt werden soll, so muß es keine bloße Beschreibung derselben nach ihren einzelnen Theilen seyn, sondern es muß uns einen n ä h e r n A u f s c h l u ß ü b e r d a s G a n z e und die Nothwendigkeit seiner Theile geben. Moritz.

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In so fern eine Figur sprechend ist, in so fern sie bedeutend ist, nur in so fern ist sie schön. – Dieß Sprechende und Bedeutende muß aber ja in dem rechten Sinne genommen werden: Die Figur, in so fern sie schön ist, soll nichts bedeuten, und von nichts sprechen, was a u ß e r ihr ist, sondern sie soll nur von sich selber, von ihrem innern Wesen durch ihre äußere Oberfläche gleichsam sprechen, soll durch sich selbst bedeutend werden. Daher wird durch b l o ß allegorische Figuren, die Aufmerksamkeit, in Rücksicht auf die schöne Kunst, zerstreuet, und von der Hauptsache abgezogen. Sobald eine schöne Figur noch etwas außer sich selbst anzeigen und bedeuten soll, so nähert sie sich dadurch dem bloßen Symbol, bey dem es, so wie bey dem Buchstaben, womit wir schreiben, auf eigentliche Schönheit nicht vorzüglich ankömmt. – Das Kunstwerk hat alsdann nicht mehr seinen Zweck bloß in sich selbst, sondern schon mehr nach außen zu. Das wahre Schöne besteht aber darin, daß eine Sache bloß sich selbst bedeute, sich selbst bezeichne, sich selbst umfasse, ein in sich vollendetes Ganze sey. Ein Obelisk bedeutet – die Hieroglyphen daran bedeuten, etwas nach außen zu, das sie nicht selber sind, und erhalten bloß durch diese Bedeutung ihren Werth – weil sie sonst an sich selber ein müssiges Spielwerk wären. – Soll nun ein schönes Kunstwerk b l o ß deswegen da seyn, damit es etwas außer sich andeute, so wird es ja dadurch selbst gleichsam zur N e b e n s a c h e – und bey dem Schönen kömmt es doch immer darauf an, daß es selbst die Hauptsache sey. – Die Allegorie muß also, wenn sie statt findet, immer nur untergeordnet, und mehr zufällig seyn; sie macht niemals das We-sentliche oder den eigentlichen Werth eines schönen Kunstwerks aus. –

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Wenn der Borghesische Fechter z. B. auch außer sich selbst noch etwas bedeuten sollte, so würden wir doch bey der Betrachtung seiner innern Schönheiten, auf diese äußere Bedeutung wenig Rücksicht nehmen, weil er gar nichts weiter außer sich selbst zu bedeuten braucht, um unsre ganze Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Wo die Allegorie statt findet, muß sie immer untergeordnet, sie muß nie Hauptsache seyn – sie ist nur Zierrath – und b l o ß allegorische Kunstwerke sollten eigentlich gar nicht statt finden, oder doch nie vorzüglich um der Allegorie willen für wahre Kunstwerke gelten. Die Allegorie kann bey großen Gemählden als eine Art von erklärender, höherer Sprache angebracht werden, wie bey der Vermählung der P s y c h e von R a p h a e l ; wo unter dem Hauptgemählde rings an den Wänden besondere kleinere Felder angebracht sind, in welchen Amoretten mit den Attributen der höhern Gottheiten spielen, die bey der Hochzeit der P s y c h e zugegen sind. – Die allegorischen Vorstellungen sollen das Ganze nur umgaukeln; nur gleichsam an seinem äußersten Rande spielen – nie aber das innere Heiligthum der Kunst einnehmen – sobald sie auf die Weise untergeordnet bleiben, und in ihre bescheidene Grenzen treten, sind sie schön. – Ueberschreiten sie aber diese Grenzen, wie z. B. die Figur, welche die Gerechtigkeit mit verbundenen Augen, dem Schwerdt in der einen, und der Wage in der andern Hand darstellt, so ist nichts dem wahren Begriff des Schönen mehr widersprechend, als dergleichen Allegorien. In der allegorischen Darstellung der Gerechtigkeit widerspricht ein Symbol dem andern, sobald die Figur an und für sich selbst kunstmäßig betrachtet wird. – Der Gebrauch des Schwerdts erfodert ja eine ganz andere Stellung als der Gebrauch der Wage, die Wage eine ganz andere Stellung als das Schwerdt, und der Gebrauch von beiden erfordert offne Augen. – Nichts ist widriger, als diese Figur; bey ihr erscheint nichts in Bewegung, nichts in Thätigkeit; sie hält bloß maschinenmäßig das

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Schwerdt und die Wage, und die verbundenen Augen machen sie noch unthätiger. – Die ganze Figur ist überladen und steht von sich selbst erdrückt, wie eine todte Masse da. Die Bachantin schwingt den Thyrsusstab – H e r k u l e s lehnt sich auf seine Keule – D i a n a spannt den Bogen. – Die Gerechtigkeit aber hält Schwerdt und Wage, wie eine todte Masse, mit verbundenen Augen, in den Händen. Sobald die Allegorie auf die Weise jedem Begriff von Schönheit in den bildenden Künsten widerspricht, verdienet sie gar keinen Platz in der Reihe des Schönen, und hat ohngeachtet alles Aufwandes von Fleiß und Mühe, weiter keinen Werth, als der Buchstabe mit dem ich schreibe. Die Fortuna von G u i d o , mit fliegenden Haaren, und den Spitzen der Zehen die rollende Kugel berührend, ist eine schöne Figur, nicht deswegen, weil das Glück dadurch treffend bezeichnet wird, sondern weil das Ganze dieser Figur Uebereinstimmung in sich selber hat. – Die rollende Kugel berühret nur immer in einem Punkte, mit einer Spitze, den Boden, so wie die F o r t u n a mit der Spitze der Zehen wieder die rollende Kugel berührt, und durch das fliegende Haar den eilenden Lauf bezeichnet. – Kein Symbol ist hier dem andern widersprechend – Leben, Leichtigkeit, Bewegung, Wechsel, sind hier so harmonisch bezeichnet, daß die Bezeichnung selbst zur Hauptsache wird, u n d d i e I d e e s i c h u n t e r o r d n e t . – Denn wenn man die F o r t u n a von G u i d o erblickt, macht man keine Betrachtungen über den Wechsel des Glücks, sondern ergötzt sich an dem Umriß, und der Fülle, dieser leicht und zart entworfenen Luftgestalt. – Eben so wenig wird man die A u r o r a von G u i d o * betrachten, um dadurch den Gedanken an die eigentliche Morgenröthe in sich zu erwecken – sondern der Gedanke an die Morgenröthe wird nur hinzugebracht, um das Gemählde selbst zu erklären, welches hier das Herrschende ist, und für sich allein die Aufmerksamkeit fesselt. – * Ein Deckengemählde in dem Pallast Ruspigliosi in Rom.

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Durch die Macht des Pinsels ist die Idee untergeordnet – sie dient dem Kunstwerke, das Kunstwerk dient nicht ihr. – Die Morgenröthe wurde von dem bildenden Künstler zum Gegenstande gewählt, weil eine Zusammensetzung schöner Figuren durch diese Idee veranlaßt wurde; und diese Figuren wurden nicht deswegen zusammengesetzt, damit der Gedanke an die eigentliche Morgenröthe dadurch erweckt werden sollte, welche das Auge selbst in der Natur weit schöner sieht, als irgend ein Pinsel sie darstellen kann. – Die Wiedererinnerung an den eigentlichen Schimmer der Morgenröthe, liegt bey dem Anblick dieses Gemähldes nur gleichsam im Hintergrunde der Einbildungskraft zurückgezogen, und hält sich bescheiden in ihren Grenzen, um den Eindruck dieses schönen Ganzen nicht zu stören. – – Moritz. (Die Fortsetzung folgt künftig.)

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1) Das ächte Schöne ist nicht bloß in uns und unserer Vorstellungsart, sondern a u ß e r u n s an den Gegenständen selbst befindlich. 2) Es giebt daher eine würkliche Theorie des Schönen, wodurch das Auge auf einen gewissen Punkt geheftet wird, aus welchem das Schöne nothwendig beobachtet werden muß, wenn es gehörig soll geschätzt und empfunden werden. 3) Dieser Punkt ist allemal in dem Kunstwerke selbst zu suchen: denn jedes ächte Kunstwerk hat einen solchen Punkt in sich, wodurch alle seine Theile, und ihre Stellungen gegen einander n o t h - w e n d i g werden, und aus diesem Hauptgesichtspunkte betrachtet, sich uns auch als nothwendig darstellen. 4) Je n o t h w e n d i g e r nun alle einzelnen Theile eines Kunstwerks und ihre Stellungen gegen einander sind; desto schöner ist das Werk; je weniger sie aber nothwendig sind; und je mehr, unbeschadet des Ganzen, noch hinzugethan oder davon abgenommen werden kann; desto schlechter und mittelmäßiger ist das Werk. 5) Durch die gehörige Betrachtung des ächten Schönen in der Poesie, muß der Geschmack zu der Schätzung und Betrachtung des Schönen in den Werken der bildenden Künste erst vorbereitet werden. 6) Denn die Poesie b e s c h r e i b t das Schöne der bildenden Künste, indem sie dieselben Verhältnisse mit Worten umfaßt, welche in der bildenden Kunst durch Umrisse bezeichnet werden. 7) Die vollkommenste Darstellung der vollkommensten menschlichen Bildung ist der höchste Gipfel der Kunst, nach welchem sich alles übrige abmißt. 8) Das Schöne schließt das Nützliche nicht aus; wenn es sich aber dem Nützlichen u n t e r o r d n e t , wird es zur Zierde. *) Es versteht sich von selbst, daß diese allgemeinen Sätze, welche nur als Resultate stehn, durch die vollständige Entwickelung derselben, erst e r w i e s e n und in ihr gehöriges Licht gestellet werden müssen.

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9) Aus der höchsten Mischung des Schönen mit dem Edlen entsteht der Begriff des M a j e s t ä t i s c h e n . 10) Wenn wir das Edle in Handlung und Gesinnung mit dem Unedlen m e s s e n ; so nennen wir das Edle groß, das Unedle klein. Und messen wir wieder das Edle, Große und Schöne nach der Höhe, in der es über uns, unserer Fassungskraft kaum noch erreichbar ist; so geht der Begriff des Schönen in den Begriff des E r h a b e n e n über. 11) Unsere Empfindungswerkzeuge schreiben dem Schönen sein Maaß vor. 12) Der Zusammenhang der ganzen Natur würde für uns das höchste Schöne seyn, wenn wir ihn einen Augenblick umfassen könnten. 13) Jedes schöne Ganze der Kunst ist im Kleinen ein Abdruck des höchsten Schönen im großen Ganzen der Natur. 14) Der g e b o h r n e K ü n s t l e r begnügt sich nicht, die Natur anzuschauen, er muß ihr nachahmen, ihr nachstreben, und bilden und schaffen, so wie sie. 15) Der höchste Genuß des Schönen läßt sich nur in dessen We r d e n a u s e i g n e r K r a f t empfinden. Jeder Nachgenuß desselben ist nur eine Folge seines Daseyns. 16) Damit wir den Genuß des Schönen nicht ganz entbehren, tritt der G e s c h m a c k oder die Empfindungsfähigkeit für das Schöne in uns an die Stelle der hervorbringenden Kraft, und nähert sich ihr, so viel als möglich, ohne in sie selbst überzugehen. 17) Je vollkommner das Empfindungsvermögen für eine ge-wisse Gattung des Schönen ist, um desto mehr ist es in Gefahr sich zu täuschen, sich selbst für Bildungskraft zu nehmen, und auf die Weise durch tausend mißlingende Versuche den Frieden mit sich selbst zu stören. 18) Was uns allein zum wahren Genuß des Schönen bilden kann, ist das, wodurch das Schöne selbst entstand: r u h i g e B e t r a c h t u n g der Natur und Kunst, als eines einzigen großen Ganz e n ; denn was die Vorwelt hervorgebracht, ist nun mit der Natur verbunden für uns e i n s geworden, und soll, mit ihr vereint, harmonisch auf uns wirken. Moritz.

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Ueber nachstehende Anzeige eines Buchs, dessen Gegenstand uns beide vorzüglich interessirt, wünschte ich wohl Ihre Gedanken zu wissen, um sie dieser Anzeige beizufügen: Markus Herz, d. A. D. Arztes am Lazareth der jüdischen Gemeinde zu Berlin, Königl. Professors der Phil o s o p h i e , H o c h f ü r s t l . Wa l d e c k s c h e n H o f r a t h u n d L e i b a r z t e s Ve r s u c h ü b e r d e n G e s c h m a c k u n d d i e U r s a c h e n s e i n e r Ve r s c h i e d e n h e i t . Z w e i t e v e r m e h r t e u n d v e r b e s s e r t e A u f l a g e . B e r l i n 1 7 9 1 b e i Vo ß u n d S o h n . Dies Buch enthält sehr wichtige und wahre aus der Natur der menschlichen Seele geschöpfte Beobachtungen, wovon die Behauptungen ausgehen, die zum Theil keinen Zweifel unterworfen sind, zum Theil aber zu weiterm Nachdenken über die Sache Veranlassung geben können. Der Hauptideengang des Verfassers hebt eigentlich mit dem Unterschiede an, zwischen dem, w a s m i t t e l b a r u n d w a s u n m i t t e l b a r g e f ä l l t ; was mittelbar gefällt ist g u t , weil man sich irgend einen Nutzen, den es haben kann, dabei denkt; was unmittelbar gefällt ist angenehm, ohne Rücksicht auf Nutzen oder Schaden. Das Gute kann daher zuweilen sehr unangenehm, das Angenehme sehr schädlich seyn; liegt nun das Angenehme nicht in der Materie, wie z. B. bei den Gegenständen des Geruchs und Geschmacks, sondern in der Form, wie z. B. bei den Gegenständen des Gesichts, so heißt das Angenehme oder unmittelbar Gefallende, s c h ö n . Das Angenehme in der Form aber, oder das Schöne, besteht in der verhältnißmäßigen Uebereinstimmung des Mannichfaltigen zu einem Ganzen. Das Verhältnißmäßige in der Uebereinstimmung aller Theile zum Ganzen, macht der Verfasser wieder zu einem Hauptbegriffe, und nennt es die H a l t u n g . Mannichfaltigkeit, Uebereinstimmung und Haltung machen also gleichsam die Bestand-

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theile der Schönheit aus. Die Uebereinstimmung muß von der Vernunft erkannt, die Mannichfaltigkeit von der Einbildungskraft umfaßt, und die Haltung oder das Verhältnißmäßige in der Uebereinstimmung des Mannichfaltigen, vermöge des Haltungsgefühls beurtheilt werden. Dieß führt nun den Verfasser auf die eigentliche Ursach der Verschiedenheit des Geschmacks bei einzelnen Menschen. Dieser liegt nehmlich wiederum in der verhältnißmäßigen oder unverhältnißmäßigen Ausbildung der Seelenkräfte. Da nun aber doch in den Seelenkräften gewissermaaßen selbst eben eine solche Haltung, wie in dem Schönen, das sie beurtheilen sollen, statt finden muß, so scheint es, als ob der Nahme Haltungsgefühl dieser vorausgesetzten Proportion der Seelenkräfte nicht recht angemessen sey, weil diese Proportion selbst vermittelst jener Benennung, als eine besondere Seelenkraft betrachtet wird. Der Verstand kann nehmlich unverhältnißmäßig mit der Einbildungskraft und diese unverhältnißmäßig mit dem Verstande erweitert und vervollkommnet werden; aber niemals kann das, was der Verfasser das Haltungsgefühl nennt, auf Kosten irgend einer von den Seelenkräften zu sehr ausgebildet werden, weil dies Gefühl sich nur auf das Bewußtseyn einer Proportion in unsern eigenen Seelenkräften gründen kann. Denn wir haben ja keine anschauliche Idee von Proportion, als in so fern dieselbe in unserm eignen Wesen liegt, und wir sie auf das, was außer uns ist, übertragen. Man könnte also sagen, die Uebereinstimmung muß mit der Vernunft erkannt, die Mannigfaltigkeit mit der Einbildungskraft umfaßt werden, die Haltung aber kann nur in so fern von uns geprüft werden, als unsere eigenen Neigungen und Wünsche mehr oder weniger harmonisch sind, oder jene verhältnißmäßige Uebereinstimmung, die wir in dem Kunstwerke bemerken sollen, mehr oder weniger in unserm eignen Wesen statt findet. In so fern nun die eigentliche Bildung des Menschen selbst in der harmonischen Entwickelung aller seiner Kräfte besteht, kann man sich die Bildung des Geschmacks nicht als etwas für sich bestehendes, sondern man muß sie sich bloß als eine Folge der Bildung des Menschen überhaupt denken; und eben so kann man sich auch die richtige

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Prüfung des Verhältnißmäßigen bei dem Schönen als das Geschäft des Geschmacks nicht wohl als ein besonderes Gefühl vor-stellen, sondern man muß sie ebenfalls als eine Folge jener vorausgesetzten harmonischen Bildung unsers eignen Wesens überhaupt betrachten. Mit dieser Idee stimmt nun der Verfasser auch in der Folge seines Buches überein, und scheint daher das Wort Haltungsgefühl der folgenden Erklärung seines Begriffes nur substituirt zu haben. Er geht nehmlich in dem zweiten Abschnitt dieses Buchs die Hindernisse des guten Geschmackes durch, welche sich alle auf das Verhältnißmäßige in der Entwickelung und Bearbeitung der Seelenkräfte zurückführen lassen; was also der Entwickelung und Bildung des Menschen überhaupt hinderlich ist, das schadet auch der Bildung des Geschmacks, als ein unverhältnißmäßiger Grad von Eigenliebe, Eigennutz, der dem Gefühl für Schönheit am aller schädlichsten ist, wenn er in pöbelhaften Geiz ausartet. In so fern nun die Werke der schönen Künste in einem kleinen Raume sehr viel Verhältnißmäßiges vereinigen, würken sie wieder auf den Geschmack zurück, den sie veredlen, verfeinern und erhöhen, und durch denselben die höhere Bildung überhaupt mit befördern, welche höhere Bildung des Menschen mit eine Folge von dem Daseyn der schönen Künste ist, aber auf keine Weise, als ein besonders e r k l ä r e n d e r G r u n d s a t z für dieselben betrachtet werden kann. Der Verfasser behauptet nehmlich, daß man bei einem jeden Kunstwerke, welches von einem vernünftigen Wesen hervorgebracht sey, sich nicht an der Schönheit begnüge, sondern immer noch einen besondern Zweck des Künstlers dabei erwarte, und dieser Zweck sey am Ende kein anderer, als die Beförderung der höchsten Glückseeligkeit. Die höchste Glückseeligkeit setzt aber der Verfasser in die höhere Menschenbildung oder verhältnißmäßige Entwickelung und Bearbeitung aller menschlichen Fähigkeiten und Neigungen, also in die verhältnißmäßige Uebereinstimmung des Mannichfaltigen bei dem Menschen zu einem harmonischen Ganzen; dies Verhältnißmäßige in der Uebereinstimmung der Theile aber nennt er nun die H a l t u n g . Da nun bei den schönen Künsten ebenfalls die H a l t u n g in der

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verhältnißmäßigen Uebereinstimmung der Theile zum Ganzen besteht, so fällt ja auf die Weise der Begriff der Haltung wieder in sich selbst zurück; die Haltung soll der Haltung zur Regel dienen, die Haltung soll der Endzweck der schönen Künste seyn, was heißt das anders, als der Endzweck der schönen Künste liegt in ihnen selber, denn die Haltung, oder die harmonische Uebereinstimmung macht ja ihr Wesen aus.

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Bei dem wahren Künstler muß das Kunstwerk, was er hervorbringen will, gleichsam erst in seiner Seele reif geworden seyn. Ein Reichthum großer und edler Gedanken, die schon seine frühste Kindheit erzeugte, liegt in ihm da. Diese Gedanken sind aber in den ganzen Zusammenhang aller seiner übrigen weniger edlen und großen Vorstellungen, – und gleichsam in sein Ich verwebt; er findet ein gewißermaßen eigennütziges Vergnügen darin, indem er sie betrachtet, in wie fern sie zu der Vollkommenheit seines Ichs abzwecken. Indem nun das Maaß dieser großen und edlen Gedanken gleichsam voll ist, so empfindet der Künstler einen Drang sich mitzutheilen, und seine innere Vollkommenheit gleichsam außer sich zu vervielfältigen. Ein reineres edleres Vergnügen, das sich der Liebe nähert, ahndet ihm dunkel, wenn er seine eigne subjektive Vollkommenheit, in eine objektive, oder seinen Genuß in Anschauen wird verwandelt sehen. Diese dunkle Ahndung aber b e s t i m m t sein Werk noch nicht, sondern nun wirken die großen und edlen Gedanken auf einen besondern Zweck, dem sie sich am leichtesten und natürlichsten unterordnen können, und auf die Weise nicht mehr zerstreut als Mittel zur Vollkommenheit eines größern Ganzen abzwecken, sondern selbst in sich vereinigt, ein Ganzes ausmachen: sie müßen gleichsam eine N e i g u n g g e g e n s i c h s e l b s t e r h a l t e n , und ein Faden nach dem andern muß abgeschnitten werden, der sie mit den übrigen Vorstellungen in der Seele des Künstlers, gleichsam nach einer ä u ß e r n R i c h t u n g , zusammen knüpft. Was in dem Moment der höchsten Reife der großen und edlen Gedanken die lebhafteste und wichtigste Vorstellung in der Seele des Künstlers ist, sey sie auch nur durch zufällige Umstände veranlaßt worden, an diese schließen sich plötzlich alle seine übrigen großen und edlen Gedanken, und lösen sich verhältnißmäßig von dem Zusammenhange der übrigen Vorstellungen ab, je mehr sie sich an der einzigen Hauptvorstellung festhalten.

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Sobald Homer nur einen Achilles hat, ordnen sich auch schon seine Schlachten, seine Helden, seine großen und edlen Gesinnungen und Charaktere. Alle seine großen und erhabenen Vorstellungen reißen sich jetzt mit einiger Beschwerlichkeit aus dem Zusammenhange seines Denkens gleichsam aus seiner Ichheit heraus, und neigen sich gegen sich selber, um etwas außer ihm bestehendes, in sich Vollendetes zu seyn. Nun vergißt er auf eine Zeitlang das dunkle Vergnügen, das ihm ahndete, und hat sein Augenmerk nur auf seinen Achilles gerichtet; des Achilles wegen müßen Griechen fallen, des Achilles wegen müßen die übrigen Helden im Dunkeln, und Hektor nur in einem etwas schwächern Lichte als Achilles stehen, damit durch seinen Fall, der Held noch mehr gehoben werde. Der Held wird durch die Begebenheiten, und die Begebenheiten durch den Helden in jedem Augenblick wichtiger. Wenn das Vergnügen, was der Künstler an seinem Werke selbst empfindet der unmittelbare Zweck desselben wäre, so brauchte er das Große und Edle was einmal in seiner Seele da ist, nicht außer sich darzustellen; denn indem es in seine übrigen Vorstellungen Einfluß hat, und also unmittelbar zu seiner Glückseligkeit abzweckt, macht es ihm ja schon Vergnügen; und er bringt gewissermaßen seinem Werke ein Opfer, indem er den großen und edeln Gedanken eine Neigung gegen einander giebt, wodurch sie während dieser Zeit nicht unmittelbar zu seiner Glückseligkeit abzwecken, indem sie aus dem Zusammenhange seiner Ichheit gleichsam gerissen werden. In diesem Verstande kann man sagen, daß der Künstler sein Werk aus Liebe zu dem Werke verfertige, indem er sich gleichsam eine Zeitlang für sein Werk aufopfert, sich selbst über dem Werke vergißt. Die allmälige Neigung der Gedanken gegen einander, oder die allmälige Verwandlung der äußern Zweckmäßigkeit in die innre, oder kürzer d a s i n s i c h s e l b s t Vo l l e n d e t e , scheinet daher der eigentlich l e i t e n d e Zweck des Künstlers bei seinem Kunstwerke zu seyn.

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Der Künstler muß suchen, den Zweck, der in der Natur immer außer dem Gegenstande liegt, in den Gegenstand selbst zurückzuwälzen, und ihn dadurch in sich vollendet zu machen. Dann sehen wir ein Ganzes, wo wir sonst nichts als abzweckende Theile erblickten. Die Begebenheiten der Iliade würden in einer allgemeinen Weltgeschichte, uns nur in so ferne wichtig seyn, als sie mit dem ganzen Lauf der Dinge zusammenhingen, sie würden sich in das Ganze verschwimmen, ihr Zweck würde immer in ihren Folgen außer ihnen seyn, und wir würden in ihnen nie ein Ganzes überschauen. Der Dichter schneidet sie gleichsam aus ihrem Zusammenhange heraus, und giebt den Begebenheiten eine Neigung gegen sich selber unter einander, die sie in der Natur nicht haben. Der Zweck aller dieser Begebenheiten fällt in sie selbst zurück; wir vergessen ihren Zusammenhang mit dem großen Lauf der Dinge, und glauben eine Welt, ein Ganzes von Begebenheiten im Kleinen zu sehen. Der Dichter schneidet die Fäden ab, wodurch die Begebenheiten eine Neigung außer sich bekommen könnten, er läßt dasjenige weg, was in eine andere Sphäre von Begebenheiten eingreift, er rückt Ursach und Wirkung näher zusammen, als sie es in dem gewöhnlichen Lauf der Dinge sind; eine Mannigfaltigkeit von auseinander fließenden Begebenheiten, die sich kaum in Jahrhunderten zutragen, sehen wir hier in einem kurzen Zeitraume zusammengedrängt. Damit aber die Abweichungen von der Wahrheit nicht zu auffallend werden, so müßen dieselben allmälig geschehen. Zu jeder weitern Abweichung von der Wahrheit, und zu jeder Ineinanderneigung der Begebenheiten, muß uns der Dichter erst durch eine weniger gewagte, und weniger merkliche vorbereiten, worauf wir unsern Glauben gleichsam stützen können. Erstlich muß uns etwas vorgestellt werden, was wir an und für sich selber zu glauben nicht abgeneigt sind; dies ist aber ziemlich gleichgültig, weil wir bei den Kunstwerken immer mehr auf die innere, als äußere Wahrheit sehen.

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Dann aber muß nicht gleich etwas folgen, was sich etwa alle hundert Jahre einmal in der Folge zuträgt, sondern das Seltnere und Ungewöhnlichere muß durch das Alltäglichere und Gewöhnlichere a l l m ä l i g vorbereitet werden, so daß die wunderbarsten Verkettungen in der Auflösung der Begebenheiten nicht mehr auf eine unangenehme Art auffallend sind, weil die Kunst uns mit sanfter Hand dazu geleitet, und unser Auge gleichsam an das Neue und Auffallende allmälig gewöhnt hat. Das Einzige wahre in sich Vollendete, ist nur die ganze Natur als ein Werk des Schöpfers, der allein mit seinem Blick das Ganze umfaßt, und den Zweck dieses großen Gegenstandes in ihn selbst zurückwälzt. In so fern also hier Zweck und Mittel zusammen gedrängt eins ausmachen, stellt sich das allerhöchste Schöne nur dem Auge Gottes dar. Unser umschränkter Verstand sieht in der großen Natur nichts als Mittel, und ahndet nur die Zwecke. Wenn wir uns die Natur als einen großen Zirckel denken, deßen Theile insgesammt eine Neigung gegen sich selbst haben, um miteinan-der ein Ganzes auszumachen, so sind uns wegen der unermeßlichen Größe des Umkreises die Krümmungen fast unmerkbar, und wir glauben da allenthalben nichts als grade Linien, oder bloß a b z w e c k e n d e M i t t e l zu sehen, wo doch eine immerwährende Neigung zum Zweck ist, die uns entwischt, weil wir nicht einmal einen so großen Theil des Zirkels überschauen können, der uns eine wirkliche Krümmung darstellte; wir müßen diese Krümmungen nur ahnden, nur errathen. Indem wir nun einen Drang empfinden, das höchste Schöne in der allein in sich selbst vollendeten ganzen Schöpfung nachzuahmen, so geben wir demjenigen was uns in der Natur g e r a d e L i n i e n , oder bloß a b z w e c k e n d e Mittel zu sein scheinen, eine allmälige Neigung gegen sich selber, gleichsam als ob wir in dem großen unermeßlichen Zirkel einen kleineren im verjüngten Maaßstabe nachbilden wollten. Indem wir uns aber die abzweckenden Mittel in der Natur, als gerade scheinende Linien denken, so müßen wir so viele solcher dicht

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an einander gränzenden Linien annehmen, als es abzweckende Mittel in der Natur giebt. Soll nun aus dem natürlichen ein Kunstwerk hervorgebracht, oder die höchste Schönheit im verjüngten Maaßstabe dargestellt werden, so muß das gleichsam n e g a t i v , oder wie durch einen Schattenriß geschehen; indem ich von der ersten gerade scheinenden Linie einen willkürlichen Abschnitt, von der angrenzenden schon einen etwas stärkern, und von der folgenden noch einen etwas stärkern Abschnitt mache, so daß diese Abschnitte der gerade scheinenden dicht an einander gränzenden Linien, wiederum eine anscheinende krumme Linie bilden, die aber im Grunde nur aus lauter Bruchstücken besteht, und nicht in einem fortgehet. Wir wollen uns also einen unermeßlichen Zirkel in lauter an einander gränzenden Linien denken, und in demselben eine krumme Linie, die im Kleinen einen Theil des großen Zirkels darstellt, indem sie eine Anzahl der eigentlichen Linien des großen Zirkels durchschneidet. So wie nun hier die an einander gränzenden grossen Linien durch ihren allmäligen Mangel oder durch ihre stuffenweisen Abschnitte, eine krumme Linie bilden, wodurch sie selbst durchkreutzt werden, diese krumme Linie aber nur etwas Anscheinendes und Negatives ist; so bekommen auch in den schönen Kunstwerken die abzweckenden Mittel, die wir mit den geradescheinenden aneinander gränzenden Linien verglichen haben, immermehr innre anscheinende Zweckmäßigkeit, jemehr sie äußere wahre Zweckmäßigkeit verlieren, und zuletzt kömmt ein Punkt, wo die äußere Zweckmäßigkeit gänzlich ausgeschlossen, und irgend ein Gegenstand, der in der Natur auch nur Mittel war, selbst zum Zweck gemacht wird, auf welchen sich nun alle die zusammengestellten Mittel wegen des a l l m ä l i g e n Abschnitts ihrer äußern Zweckmäßigkeit zu beziehen scheinen. Je a l l m ä l i g e r und je sanfter nun der Uebergang dieser Mittel von ihrer äussern Zweckmäßigkeit, zu der anscheinenden innern ist, desto geründeter wird die anscheinende krumme Linie, und ein desto getreuerer Schattenriß der höchsten Schönheit wird sie seyn.

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Ginge die anscheinende krumme Linie zu gerade hinunter, so würde das Horazische Ungeheuer herauskommen. Ein Kopf vom Löwen, Schwanz von Fisch, Brüste von einem Weibe; lauter Mittel, wovon die Zwecke in der Natur auf einmal, und auf völlig gleiche Art, ohne allmälige Abstuffung abgeschnitten wären. Dies kann uns also nicht täuschen, hier ist die fehlende natürliche äußere Zweckmäßigkeit, durch keine anscheinende innere Zweckmäßigkeit ersetzt. Läuft die krumme Linie zu parallel mit der geraden Linie des großen Cirkels, so kömmt ein langweiliges historisches Gedicht heraus, wo die Erzählung des Trojanischen Krieges von den Eiern der Leda anhebt. Geht die krumme Linie bis über den Punkt, wo von der äußern Zweckmäßigkeit der stärkste Abschnitt statt findet, so daß sich alles in der innern Zweckmäßigkeit verliert, und muß sie nun auf der andern Seite wieder heruntersteigen, wo die Abschnitte wieder abnehmen, und die äußere Zweckmäßigkeit wieder zunehmen muß, so wird das Kunstwerk matt, indem es sich aus seinem immer in sich selbst vollendeten Zusammenhange, in den äußern Zusammenhang der Dinge wieder verschwimmt. Diese krummen Linien wollen wir also die Schönheitslinien, und die in dem unermeßlichen Zirkel gerade scheinenden Linien die Wahrheitslinien nennen. Die Schönheit wäre also die Wahrheit im verjüngten Maaßstabe. Wir können die Wahrheitslinie nicht selber biegen, sondern nur machen, daß sie sich zu biegen scheinet, indem sie mit den hervorstehenden äußersten Spitzen der angränzenden Wahrheitslinien eine krumme Linie bildet, und auf die Weise das Zusammengesetzte vorgestellt wird, als ob es etwas aus einem Stück bestehendes wäre. Das in sich vollendete, was in der Natur durch die S u c c e s s i o n bewerkstelligt wird, muß hier auf eine anscheinende Art durch die Z u s a m m e n s t e l l u n g hervorgebracht werden. Die eingebildete Schönheitslinie durchkreutzt eine Anzahl Wahrheitslinien, indem sie denselben a l l m ä l i g engere Gränzen vorschreibt, welche Gränzen eben das Wesen der Schönheitslinie ausmachen.

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So muß also der Dichter bei einem jeden Dialog im Drama, dasjenige gehörig abzuschneiden wißen, was derselbe, der gewöhnlichen Folge der Dinge gemäß, nun noch ferner in sich fassen müßte; und in jedem folgenden Dialog, muß alles, was gesagt wird, i m m e r w e n i g e r B e z i e h u n g auf irgend etwas anders in der Welt als auf die Katastrophe des Stücks haben; es muß also immer mehr äusserlich Zweckmässiges von jeder Unterredung abgeschnitten werden, je mehr das Drama in sich selbst vollendet seyn, oder innerliche Zweckmässigkeit haben soll. Je unmerklicher ein Künstler diese Abstufung machen kann, desto vollkommener ist sein Werk. Das Gehörige weglassen ist also eigentlich das wahre Wesen der Kunst, die mehr negativ, als positiv zu Werke gehen muß, wenn sie gefallen soll. Wie jener große Zeichner von sich sagte; er habe einen schönen Kopf mehr durch Auslöschen als durch Zeichnen hervorgebracht. Die einzelnen Theile in einem schönen Kunstwerke müssen alle aus der Natur genommen, und also wahr seyn, aber ihre Zusammensetzung ist die Schönheit, diese ist also nur eine einzige, dahingegen die Wahrheit mehrfach ist. Je mehrfacher die Wahrheitslinien, welche durch ihre Abstufung die Schönheitslinien bilden, bis auf einen gewissen Punkt, sind, je näher sie aneinander gränzen, desto grössere Aehnlichkeit wird diese mit der unermeßlichen wirklichen Schönheitslinie haben. Sind der eingeschloßenen Wahrheitslinien aber zu viele, so geht diese Aehnlichkeit wieder verloren: denn die Schönheitslinie weicht von ihrem Urbilde ab, und neigt sich wieder zur Wahrheitslinie. Wenn ich in einem Drama das Aufeinanderfolgende immer als Ursach und Wirkung ansehen soll, so muß mich der Künstler niemals einen Sprung merken lassen. Ob ich alsdann gleich das jetzt Gesagte im Dialog auf tausend andere Dinge ziehen könnte, so fühle ich mich doch gedrungen, es auf das folgende zu beziehen, und dasselbe als die Wirkung davon anzusehen, weil gerade so viel äusseres Zweckmässiges von dem Dialog abgeschnitten ist, als nöthig ist mich die zunehmende innere Zweck-

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mässigkeit fühlen zu lassen; und doch immer n u r e t w a s m e h r , als in dem Vorhergehenden, damit die Schönheitslinie der Wahrheitslinie in so fern ähnlich werde, daß ihre Krümmung so viel wie möglich unmerklich ist, und ich auf die Weise desto leichter und angenehmer getäuscht werde.

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Sind die architektonischen Zierrathen in den verschiedenen Säulenordnungen willkührlich oder wesentlich?

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Um diese Frage zu beantworten, dürfen wir nur den Begriff von Zierrath gehörig entwickeln. Unter Zierrath denken wir uns dasjenige gleichsam Ueberflüßige an einer Sache, wodurch sie nicht nützlicher wird, als sie schon war, sondern nur besser ins Auge fällt. Durch die angebrachte Zierrath soll unsre Aufmerksamkeit mehr auf die Sache selbst hingeheftet werden, so daß wir bey ihrem bloßen Anblick gern verweilen. Die Zierrath muß also nichts F r e m d a r t i g e s enthalten, sie muß nichts enthalten, wodurch unsre Aufmerksamkeit von der Sache selbst abgezogen wird, sondern sie muß vielmehr das Wesen der Sache, woran sie befindlich ist, auf alle Weise andeuten, und bezeichnen, damit wir in der Zierrath die Sache selbst gleichsam wie-dererkennen und wiederfinden. Je bedeutender daher die Zierrath ist, desto schöner ist sie. Wenden wir nun diesen Satz auf die Zierrathen in der Baukunst an, so muß es einleuchtend werden, ob dieselben wesentlich oder zufällig sind, ob sie durch andere ersetzt werden können, oder nicht? Das Kapitäl der corinthischen Säule ist mit Laubwerk verziert, wo zwischen den Blättern zarte Stengel sich hervordrängen, die oben unter dem Deckel schneckenförmig sich in sich selbst zurückkrümmen. – Das Kapitäl der ionischen Säule hat nur die schneckenförmig in sich selbst zurückgekrümmten Auswüchse oder Voluten, ohne die Blätter. – Das Kapitäl der dorischen und toskanischen Säule ist ganz ohne diesen zarten Auswuchs, und trägt nur die sichtbare Spur des Drucks von oben an sich, indem es mehr oder weniger Ringe und Reifen um sich herzieht, und stuffenweise über seinen Stamm hervortritt. Die toskanische und dorische Säule sind kürzer, in sich gedrängter, und t r a g e n bloß das auf ihnen ruhende Gebälk – die ionische und corinthische Säule sind schlanker und aufgeschoßner, und h e b e n das auf ihnen ruhende Gebälk e m p o r .

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Je kürzer die Säule im Verhältniß gegen ihre Dicke ist, destomehr nähert sie sich dem Block, der ungebildeten bloß tragen-den Masse; je schlanker sie aber ist, destomehr nähert sie sich dem Gebildeten, Emporstrebenden und Wachsenden. Die corinthische Säule, als die schlankste von allen, muß daher das Zeichen des Wachsens und Emporstrebens am deutlichsten an sich tragen. Nun giebt es aber in der ganzen Natur keine vollkommnere Bezeichnung des Wachsens und Emporstrebens, als den zarten Blätterwuchs, wo noch nichts geendiget und geschlossen ist, sondern immer neue zarte Sprößlinge sich hervordrängen können, und wo dieß Hervordrängen und innere Streben zugleich weit deutlicher ins Auge fällt, als bey dem Stamme selbst. Die zarten Sprößlinge aber die zwischen dem Laubwerk in gerader Linie emporschießen würden, wenn sie durch den Druck von oben nicht gehemmt wären, bezeichnen eben dadurch am deutlichsten die innere wachsende und strebende Kraft, daß sie sich nun in sich selbst zurückkrümmen, und ihren Wachsthum nach unterwärts in sich selbst vollenden, nachdem er oberwärts gehemmt ist. Man versuche es bey der corinthischen Säule, das Laubwerk und diese schneckenförmig gewundenen Stengel mit irgend einem andern Zierrath zu vertauschen, und gebe Acht, ob nicht das Ganze auf einmal ein unbedeutendes todtes Ansehen erhalten, und als ein müssiges Spielwerk ins Auge fallen wird. Warum nicht Blumen und Früchte, statt der Blätter? – eben deswegen weil hier ein durch den Druck von oben gehemmter Wuchs oder gehemmtes Emporstreben bezeichnet werden soll; und Blumen und Früchte, in ihrem Wuchs schon geschlossen und vollendet sind, und nicht ferner gehemmt werden können. Die Blume senkt ihr Haupt, und die Frucht zieht den schwerbeladenen Ast zu Boden. Durch Blumen und Früchte würde unsre Aufmerksamkeit von dem eigentlichen Begriffe des durch den Druck gehemmten Emporstrebens der schlanken Säule abgezogen, und auf etwas Fremdes, nicht zur Sache gehöriges gelenkt werden. Denn die Säule hat ja weiter nichts als das anscheinende Emporstreben mit dem Baumstamme gemein; nicht aber seine nützende fruchttragende Kraft.

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Der Baum hat weiter nichts zu tragen als seine eigene zu ihm gehörende Frucht; die Säule trägt etwas außer sich, dem sie mit leichtem Wuchs entgegenstrebt, und eben dieser Anschein von leichtem Entgegenstreben würde ja durch alles Schwere und Niederziehende an der Säule selbst, gehemmt und verhindert werden. Wollte man den Blätterwuchs an dem Kapitäl der corinthischen Säule mit Federschmuck vertauschen, so würde das Ganze dadurch wie u n t e r b r o c h e n scheinen; weil Federn mit dem Begriff eines emporschießenden Stammes nichts gemein haben, sondern die Aufmerksamkeit auf etwas anders, auf die belebte Bildung lenken, wodurch der Eindruck des Ganzen gehemmt wird. Bey allem aber was schön ins Auge fallen soll, kömmt es eben darauf an, daß der einfache Begriff des Ganzen durch nichts Unübereinstimmendes gestört und unterbrochen werde. Die corinthische Säule vollendet sich auf dem Punkte, wo die zwischen den Blättern hervorsprossenden zarten Stengel zuletzt in ihrem Wachsthum wie gehemmt, paarweise unter dem Deckel in Spirallinien sich in sich selbst zurückkrümmen, ohne Blätter gewonnen zu haben. – In dieser letzten Vollendung steht die Säule, als ein feines und schlankes Ganze da, welches gleichsam noch mehr Kraft in sich hat, als nur das auf ihm ruhende Gebälk zu tragen, und gewissermaaßen den Ueberfluß seines innern Wuchses, seiner zartesten Vollendung in sich selbst wieder aufnimmt. Die ionische Säule tritt in bescheidne Grenzen zurück, sie verhält sich sanftentgegenstrebend aber auch sanft leidend gegen den Druck von oben; sie schießt nicht bis zu dem üppigen Blätterwuchs der corinthischen Säule empor, welche das Gebälk nur gleichsam s c h w e b e n d über sich trägt. – Sie krümmt sich nur in ihren zartesten Vollendungen durch bloße Spirallinien in sich selbst zurück. Durch die zarten Auswüchse bezeichnet sie ebenfalls, nur im mindern Grade als die corinthische Säule, die Fülle ihres innern em-porstrebenden Wachsthums; durch die Krümmungen dieser zarten Auswüchse bezeichnet sie den Druck des Gebälks von oben; und dadurch, daß nur diese zarten Sproßen, aber sie selber sich nicht krümmt,

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bezeichnet sie bey der Schlankheit und dem emporstrebenden Wuchs, ihre inwohnende Stärke, wodurch sie dem Druck in der Masse widersteht, und nur in ihrer letzten Vollendung seine Spur trägt. Moritz.

Vom Isoliren, in Rücksicht auf die schönen Künste überhaupt

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In dem Begriff des Isolirens, des Aussonderns aus der Masse, beruhet alle Bildung, und unterscheidet dadurch allein sich von der Zufälligkeit. Jemehr etwas sich selber isolirt, seinen eigenen Umriß um sich her zieht und seinen Schwerpunkt in sich selber hat, desto weniger ist es zufällig, desto weniger fällt es zu etwas anderm und vermischt sich damit. – Der Mensch scheidet sich durch die genaueste Bestimmtheit seiner Umrisse von allem, was ihn umgiebt – er unterscheidet sich von seiner nächsten Umgebung, von der Bedeckung, die er selber erst um sich herzieht. – Das Thier isolirt sich schon nicht so sehr, seine Bedeckung ist ihm angewachsen, und läßt die Umrisse nur im Ganzen, nicht aber im Einzelnen durchschimmern. – Der Baum isolirt sich noch weniger, ihm ist die grobe Rinde angewachsen, die von seiner innern Natur am wenigsten durchschimmern läßt. – Isoliren, aus der Masse sondern, ist die immerwährende Beschäftigung des Menschen, er mag als Eroberer die Grenzen seines Gebiets um Meere und Länder herziehen – oder aus dem Marmorblock eine in sich vollendete Bildung hervortreten lassen. Aller Reitz der Dichtung beruht auf diesem Isoliren, Aussondern aus dem Ganzen, und darin, daß dem Isolirten ein eigener Schwerpunkt gegeben wird, wodurch es sich selbst wieder zu einem Ganzen bildet. – Durch dieß Isoliren wird die Armuth in dem Schäferleben reizend und poetisch – weil es in keinem drückenden Verhältniß mit einem Staate, sondern an und für sich bestehend gedacht wird. – Selbst das Schreckliche, sobald es sich nicht mehr auf uns beziehet – uns nicht mehr in Schrecken setzt, wird es in sich selber schön, und wir sehen es mit Vergnügen an. –

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Anwendung des Begriffs vom Isoliren auf die Verzierungen.

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Der Rahmen ziert ein Gemählde, weil er es isolirt, es aus der umgebenden Masse der übrigen Dinge heraushebt, und es als einen vorzüglichen Gegenstand der Aufmerksamkeit uns darstellt. Alle E i n f a s s u n g e n zieren, indem sie das Eingefaßte isoliren, es aus der umgebenden Masse von Dingen sondern, und es als etwas vorzüglich unsrer Aufmerksamkeit würdiges, bezeichnen. So ziert der Saum das Kleid, der Ring den Finger, der Kranz das Haupt. Das eigentlich Fassende selbst, die Vase, dienet daher schon an sich zur Zierrath, weil sie den Begriff des I s o l i r e n d e n i n s i c h f a s s e n s durch sich selbst bezeichnet. Die Form der Vase ergiebt sich von selber aus der natürlichen Idee des Fassens. Was fassen will, eröfnet, erweitert sich allmählig – denn wenn es gleich unten so weit, wie oben wäre, so würde es sich mehr leidend als thätig zu verhalten scheinen, und den l e b e n d i g e n Begriff des Fassens nicht bezeichnen. Dieser Begriff des Fassens mahlt sich am deutlichsten an dem Kelch der Blumen, der sich nach oben zu über sich selbst zurückbiegt, um noch mit dem äußersten Rande die fallenden Thautropfen aufzufassen, und nichts vorbeyzulassen, was sich von oben seiner Umgebung nähert. Es war daher auch bey den Alten die natürlichste und am nächsten liegende Idee, die Vasen gleich von unten auf dem Kelch der Blumen ähnlich zu bilden. So wie nun das Fassende sich von unten allmählig erweitert und aus einander tritt, so ist es auch natürlich, daß es sich nach oben zu wieder etwas zusammenziehe, um das Gefaßte aufzubewahren, und von obenher zu schützen. Trägt nun die Vase den Charakter des Aufbewahrens, so muß sie sich später und enger unter ihrem Rande, oder ihrer Vollendung, zusammenziehen. Trägt sie die Spur des Schöpfens, so muß sie sich

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Vom Isoliren, in Rücksicht auf die schönen Künste überhaupt

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kaum merklich unter ihrem Rande in sich selber schmiegen. Ist sie bloß darreichend, so muß ihre Erweiterung nach dem Rande zu durch gar keine Einziehung unterbrochen werden. Moritz.

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Minerva.

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Ist eine der vielumfassendsten poetischen Darstellungen und schönsten Dichtungen der Alten, wodurch auf einmal eine ganze Masse von harmonirenden Begriffen bezeichnet wird, die sich sonst nicht zusammenfinden, und nicht zusammengedacht werden. Sie ist die Verwundende und die Heilende, die Zerstörende und die Bildende. – Sie lehrte die Menschen das Wollspinnen, das Oel aus den Oliven zu pressen – sie unterwieß sie in den n ü t z l i c h e n und m ü h s a m e n Künsten. Demohngeachtet hatte sie Gefallen am Kriege, so wie D i a n a an der Jagd, und Ve n u s an Liebesverständnissen. – Ve n u s ist ganz Zärtlichkeit. – Die jungfräuliche D i a n a blickt, obgleich nur verstohlner Weise, den schlummernden E n d y m i o n mit liebevollen Augen an. – M i n e r v a , selbst männlich und ernst, hatte sich nie eine ähnliche Schwachheit zu verzeihen. Nun ist aber der Mangel an Zärtlichkeit mit Zerstörungssucht verbunden, die in dem Maaß zunimmt, wie jene abnimmt. – D i a n a findet Gefallen am Morden der Thiere. M i n e r v a am Morden der Männer in der Feldschlacht. – D i a n a giebt verstohlner Weise noch sanftern Empfindungen nach. – M i n e r v a ist ganz k a l t und unzärtlich. – Diese z u r ü c k s c h r e c k e n d e K ä l t e ist der Hauptcharakter in den Zügen der M i n e r v a . – Es ist das v e r s t e i n e r n d e Haupt der M e d u s a auf ihrer Brust; Es ist der düstre freudenlose N a c h t v o g e l , der über ihrem Haupte schwebt; Es ist die kalte überlegende Weißheit, welche nie die Stimme der Leidenschaft hört. – Sie ward von keiner Mutter gebohren, sondern sprang aus J u p i t e r s Haupte gerüstet hervor, mit einer Brust, so kalt wie der Stahl, der sie bedeckt.

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Diese K ä l t e macht sie gleich fähig zur grausamen Zerstörung, und zur mühsamen Arbeit des Webens, und der Erfindung aller friedlichen Künste. – Sie macht sie fähig die Regiererin der Gedanken der Sterblichen zu seyn, welche den A c h i l l bey den Haaren zurückhält, da er im Begriff ist, sein Schwerdt gegen den A g a m e m n o n aus der Scheide zu ziehen. – Sie ist selbst im Kriege noch Friedensstifterin. – Die wilde B e l l o n a hingegen ist nur eine untergeordnete Gottheit, die den Wagen des M a r s lenkt – in der einen Hand die Peitsche, in der andern den Schild, mit fliegendem Haar. Hier ist nicht die erhabene Friedensstifterin, die Erfinderin der Künste, noch mitten in dem wüthenden Treffen sichtbar – sondern nur die rasende Wuth – die Grausamkeit – die Zerstörung allein. – Aber eben daß bey der M i n e r v a das E n t g e g e n g e s e t z t e sich zusammenfindet, macht diese Dichtung so schön. – Der friedliche Oelzweig, und Schild und Spieß. – Ihr sanftes blaues Auge, und das Haupt der M e d u s a auf ihrer Brust. – Ihr jungfräuliches Haupt mit dem Helm bedeckt, und der nächtliche Vogel über ihr schwebend. Sie ist es, die den duldenden, standhaften, kalten, und verschlagenen U l y s s e s in Schutz nimmt, und die aufgebrachten Helden zur Kaltblütigkeit zurückruft. – Sie schützt den Staat, der auf Weißheit gebauet ist. Ihr Name ist Krieg und Frieden, Zerstörung und Bildung, P a l l a s Athene. – M i n e r v a die Drohende, und M i n e r v a die Lehrende. Sie war die Schutzgöttin der gebildetesten Stadt, die jemals den Erdkreis zierte: bey den Römern herrschte der rauhere Mars. – Die Wildheit des Krieges war bey der M i n e r v a durch ihre Weiblichkeit gemildert, und die Weichheit und Sanftheit des Friedens und der Künste lag unter der kriegerischen Gestalt verdeckt. –

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Was also sonst in der Natur nie zusammengedacht wird, und doch in ihrem schönen Umfange eingehüllt liegt, das wurde hier auch im Ganzen zusammengedacht. – M a r s ist der personificirte Krieg selber. – Vor ihm her geht die Zwietracht, ihm folgen die Rachgöttinnen, und seine Diener sind die Furcht und das Entsetzen. – Er faßt nichts von Bildung in sich, als die menschliche Bildung selbst, welche auch das Zerstörende veredelt. – M a r s ist daher auch in Ansehung der Schönheit der Kunst eine der M i n e r v a untergeordnete Götterbildung. – Moritz.

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Wo nur irgend, nach der langwierigen Barbarei, den Wissenschaften ein neues Licht angezündet ist, und die Kunst ihr Haupt emporgehoben hat, da hat man sich, statt neue Verzierungen auszudenken, der edlen Einfalt der Griechen und Römer wieder zu nähern gesucht. Man fing damit an, jedes schöne Ueberbleibsel des Alterthums wie ein kostbares Kleinod zu betrachten; man wallfahrtete nach antiken Bildsäulen und Ruinen; bereichert mit den Schätzen der alten Kunst, kehrte der Künstler wieder in sein Vaterland zurück, und mit ihm der wohlthätige Genius, welcher neue Wärme und neues Leben um sich her verbreitete. So wie der gebildete Geist im Denken Ordnung, Licht und Klarheit liebt, so muß auch in der Kunst das Wohlgeordnete, was leicht zu durchschauen und ohne Mühe zu umfassen ist, vor dem Verwickelten, Verwirrten, und Unbehülflichen nothwendig den Vorzug haben. Auf Leichtigkeit der Uebersicht kömmt ja im Denken alles an, und so auch in der Kunst. – Alles was daher die leichte Uebersicht des Ganzen stört, mag es an sich und einzeln betrachtet auch noch so vielen Reiz haben, ist in der Kunst eben so verwerflich, als in Gegenständen des Denkens ein müßiges Spiel der Einbildungskraft ist, das nicht zur Sache gehört. So wie jemand, der eine Sache deutlich einsiehet, sie mit der leichtesten Mühe bearbeitet, da hingegen ein anderer mit der größten Anstrengung nicht zu seinem Zweck gelangt, so ist auch der Künstler nur durch die leichte Uebersicht seines Gegenstandes mächtig, durch die Kunst auf das Gemüth zu wirken, und die Aufmerksamkeit zu fesseln. Denn indem er alles Einzelne so darzustellen weiß, daß man dadurch nicht befriedigt, sondern immer auf ein größeres Ganze hingewiesen und hingezogen wird, hat er das Gemüth gleichsam in seiner Gewalt, und wirkt unwiderstehlich auf dasselbe. Dieser erste Grundsatz ist so fest, daß gar kein Zweifel dagegen statt findet: wer die einzelnen Theile oder die Verzierungen in einem

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Kunstwerke so hervorstechend macht, daß meine Aufmerksamkeit dadurch zerstreuet, und die Uebersicht des Ganzen mir dadurch erschwert wird, der hat auch gewiß das Ganze selbst verunstaltet, statt es zu verschönern. Wie nun die männliche Denkart sich dadurch von der kindischen unterscheidet, daß sie einen festen Plan verfolgt, und sich durch die Spiele des Zufalls in den einzelnen Momenten von ihrem Hauptgegenstande nicht ablenken läßt; so unterscheidet sich auch in den Künsten der edle und männliche Geschmack dadurch von dem Kleinlichen und Kindischen, daß er nichts duldet, wodurch die Einbildungskraft zu unnützen Spielen verleitet, und die Aufmerksamkeit der Seele von dem Hauptgegenstande abgelenkt wird. Zwar spielt die Kunst immer, aber selbst mit dem Spiele muß doch ein gewisser Grad von Ernst und Aufmerksamkeit verknüpft seyn, wenn es nicht langweilig und abgeschmackt werden soll; wo nun dieser Ernst und Aufmerksamkeit ganz fehlt, da fällt das Spiel selbst wieder ins Kindische, und dies heißt denn, nach Lessings Ausspruch: »mit dem Spiele spielen.« Sobald man sich dieß erlaubt, wird freilich die Mannichfaltigkeit grenzenloß, aber eben deswegen wird sie auch langweilig und fade werden, weil sie keinen Vereinigungspunkt mehr hat, woran man das Einzelne knüpfen könnte, und wodurch die Vergleichungskraft unserer Seele beschäftigt würde. Daher ist nichts langweiliger und tödtender für den Geist, als bloße Abwechselung und bloße Mannichfaltigkeit ohne Plan und Zweck. Wo diese herrschend ist, da erliegt das Emporstreben der Denkkraft, und jede edle und große Empfindung unter dem Drucke einer Menge von Kleinigkeiten, die allezusammen genommen nicht der Mühe des Denkens werth sind. Indem wir uns nun an die Alten schließen, so heben wir uns auch zu ihrer männlichen Denkart wieder empor. – Denn sie waren Künstler mit der Einbildungskraft und mit dem Verstande zugleich; diejenigen, welche von ihnen abwichen, waren bloß Künstler mit der Einbildungskraft: es war ihnen gleichsam zu lästig, den Flug der Einbil-

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dungskraft immer wieder zurückzurufen; sie ließen sich durch ihren Gegenstand selber, mit einer Art von Vergnügen in Labyrinthe verleiten, statt daß sie hätten wünschen sollen, desselben immer Meister zu seyn, und ihn in ihrer Gewalt zu haben. Ihre Zusammensetzungen verhielten sich daher zu den Kunstwerken der Alten, wie ein arabisches Feenmährchen zu der Iliade des Homer. So wie wir uns nun zuweilen am kindischen Spiel ergötzen, können auch die sonderbarsten Ausschweifungen der Einbildungskraft uns wohl einmal Vergnügen erwecken; nur müssen wir sie für das halten, was sie sind, und das Studium und die Betrachtung der edleren Werke des Geistes nicht darüber vernachläßigen: Denn durch diese bekommen wir doch erst den wahren Maaßstab für das Schöne, nach welchem wir es bis in seine feinsten Abstuffungen verfolgen können, und wodurch uns zugleich die Grenzen des Abentheuerlichen und Abgeschmackten bezeichnet werden, welche doch irgendwo statt finden musten, weil man sonst gar nicht sagen könnte, daß irgend etwas geschmackvoll oder geschmackloß sey. Freilich kömmt es nur darauf an, von wem das Urtheil, daß etwas geschmackvoll oder geschmackloß sey, ausgesprochen wird; weil der eine sich wirklich an einer Sache sehr ergötzen kann, wovon ein anderer verächtlich seinen Blick abwendet. Hierin beruht aber alles auf der Ve r g l e i c h u n g ; wer diese anzustellen noch nicht Gelegenheit oder Muße gehabt hat, dessen Urtheil verdient Schonung und Nachsicht; wer aber bei der Vergleichung selber durch das Bessere und Schönere ungerührt bleibt, den werden auch keine Gründe überzeugen; er wird den Gott der Harmonie mit seinem Saitenspiel verwerfen, und für die Pfeife des Pan entscheiden. – Moritz.

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Schriften zur Kunsttheorie

Vorbegriffe zu einer

Theorie der Ornamente

von Karl Philipp Moritz.

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Mit Kupfern.

Berlin, 1793. in Karl Matzdorff’s Buchhandlung.

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Inhalt

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〈Widmung〉 〈Ohne Titel〉 Der Rahmen. Abwechselung und Einheit in der Landschaft. Menschliche und thierische Bildung. Apollo in Belvedere. Spielarten des Geschmacks. Die Säule. Arabesken. Ueber Kuppeln, Thürme, Obelisken und Denksäulen. Raphaels Stanzen. Die Vase. Ueber die Allegorie. Raphaels Villa. Beschreibung eines Saals in dem Hause des königlichen Staatsministers, Freiherrn v. Heinitz zu Berlin. Nachahmungstrieb und Neuerungssucht. Widerlegung des falschen Ausspruchs: de gustibus non est disputandum. Die Paulskirche in Rom. Einförmigkeit und Mannichfaltigkeit. Ein Dekkengemählde von Pietro von Kortona. Häußliche Einrichtung der Alten und Verzierungen in ihren Zimmern. Die Altäre der Alten. Die Tempel der Alten. Die Bildsäulen der Götter. Die Haine der Götter. Die Kampfspiele im Cirkus. Die Verzierungen der Peterskirche in Rom. Verzierungen an den Marmorsärgen der Alten.

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Marmornes Grabmaal zum Andenken des seligen Grafen von der Mark Gewand und Faltenwurf. Beschreibung eines neuen Gesellschaftssaals in der ehemaligen Wohnung des Königl. Staatsministers Freiherrn von Heinitz im Dorvilleschen Hause zu Berlin von Johann Christian Genelli, Architekt. Ein römischer Senator. Ein reichsstädtischer Bürgermeister. Eine römische Matrone. Eine Prinzessin von Parma. Durchbrochene Arbeit. Das Geschmacksurtheil.

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Friedrich Anton Freiherrn von Heinitz wirklichen Geheimen Etats- und Kriegsrath, Vicepräsidenten und dirigirenden Minister bei dem General- Ober- Finanz- Krieges- und Domainen-Directorio, Ritter des schwarzen Adlerordens, auch Amtshauptmann zu Ravensberg, Erbherr auf Dröschkau, Chef des Departements von Cleve, Meurs, Ostfriesland, Mark, Geldern, Minden, Ravensberg, Tecklenburg und Lingen; desgleichen des Bergwerks und Hütten-Departements, wie auch sämmtlicher Salz- und Münz-, auch Porzellain-Manufaktursachen in allen Königl. Provinzen; Mitglied der Königl. Akademie der Wissenschaften, und Kurator der Akademie der Künste; dem eifrigen und thätigen Beförderer der schönen und bildenden Künste widmet diese Blätter ehrfurchtsvoll d e r Ve r f a s s e r .

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Schriften zur Kunsttheorie

Das Zierliche setzt man dem Unbehülflichen, der schweren Masse, dem Plumpen entgegen. Der menschliche Geist ist immer wirksam, er kann die einförmigen todten Massen nicht dulden, er sucht ihnen Leben einzuhauchen, er schafft und bildet nach sich selber, von dem armen Wilden, der seinen Bogen schnitzt und sein Kanot regiert, bis auf den erhabensten Künstler – Was ist es anders, als der innere Trieb nach Vollkommenheit, der sich auch hier offenbart, der demjenigen, was an sich keinen Schluß, keine Grenzen hat, eine Art von Vollendung zu geben sucht, wodurch es sich zu einem Ganzen bildet – Das schönste Säulenkapitäl trägt und stützt nicht besser, als der stumpfe Schafft – Das kostbarste Gesimse deckt und wärmt nicht besser, als die platte Wand – Der Mensch will in einem Gebäude nicht nur mit Wohlgefallen wohnen – er will es auch mit Wohlgefallen ansehen – und es arbeiten für die Nahrung des Auges fast eben so viele Hände als für die Ernährung des Körpers. – Die Kunst kann sich daher unaufhörlich vervielfältigen; denn das Auge siehet sich nimmer satt, und das Ohr höret sich nimmer satt. – So wie nun aber schon der Anblick des gewölbten Himmels, der grünen Wiesenfläche und des Blattes am Baume, die Seele, welche mit ruhigen Sinnen diesem Anblick eröfnet ist, unmerklich emporzieht und veredelt, so kann auch die geringste wohlgewählte Zierrath durch das Auge die Seele ergötzen, und unmerklich auf die Verfeinerung des Geschmacks und Bildung des Geistes wirken. – Daher ist selbst das Streben nach Verzierung ein edler Trieb der Seele, wodurch der Mensch sich von dem Thiere, das nur seine Bedürfnisse befriedigt, unterscheidet – und wenn dieser Trieb nicht mißleitet wird, so ist er eben so wohlthätig als der Trieb nach Wissenschaft und nach der hohen Kunst. – Wie groß der Trieb des Menschen nach Schönheit sey, sieht man daraus, daß er selbst da, wo die Schönheit nicht mehr statt findet, wenigstens noch für die Zierde Platz zu gewinnen sucht.

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Der Rahmen.

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Warum verschönert der Rahmen ein Gemählde, als weil er es i s o l i r t und aus dem Zusammenhange der umgebenden Dinge sondert. Die Schönheit des Rahmens und die Schönheit des Bildes fließen aus einem und demselben Grundsatze. – Das Bild stellt etwas in sich Vollendetes dar; der Rahmen umgrenzt wieder das in sich Vollendete. Er erweitert sich nach außen zu, daß wir gleichsam stufenweise in das innere Heiligthum blicken, welches durch diese Umgrenzung schimmert. Durch den Werth und Umfang des Gemähldes zeichnet die Grenzlinie sich von selber, wo der Rahmen ein plumpes überladenes Ansehen erhal-ten, und das Ganze dadurch wie erdrückt scheinen würde. So wie der Rahmen am Gemählde, sind die Einfassungen überhaupt, durch die Idee des Isolirens oder Heraushebens aus der Masse zu Verzierungen geworden; der Saum und die Bordirung am Gewande; der Purpurstreif auf der Toga der alten Römer; der Ring am Finger; und um das Haupt die Krone und das Diadem.

Abwechselung und Einheit in der Landschaft.

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Nichts ist langweiliger und ermüdender, als eine gerade Heerstraße, wo man das Ziel, das man erreichen will, immer in einerlei Richtung vor sich siehet. – Ein Pfad, der sich schlängelt, ist angenehmer, als ein gerader Weg; da hingegen eine schnurgrade Straße in einer Stadt, die sich auf einmal dem Auge darstellt, an sich schon, wegen der Größe des Gegenstandes, einen angenehmen Eindruck macht. Ein Garten, der aus lauter krummen labyrinthischen Gängen, und einer, der aus lauter geraden Alleen bestände, würden in ihrer Anlage gleich tadelnswerth seyn! –

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Denn die Seele, wenn sie durch die umgebenden Gegenstände angezogen werden soll, wünscht bald ein Ganzes auf einmal zu übersehen, und bald sich wieder in sanften Krümmungen zu verlieren, wo das, was kommen soll, nur zuweilen wie verstohlen dem Blicke sich zeigt, und sich nicht eher in seinem Umfange darstellt, bis man es ganz erreicht hat. So wie die aufeinander folgenden Töne in der Musik erst allmälig ein Ganzes bilden, das mehr in der Erinnerung als in der Wirklichkeit sich in der Seele darstellt, so ist eine Gegend, welche nicht auf einmal, sondern allmälig, so wie man sie durchwandelt, ihr Bild in der Seele abzeichnet. In einer Landschaft, wo die verschiedensten Gegenstände aus der Pflanzen- Thier- und Menschenwelt, ohne Plan und Zweck zusammen gedrängt sind, wie z. B. in einigen niederländischen Darstellungen des Paradieses, herrscht Vielfältigkeit, aber keine Mannichfaltigkeit. Wo Mannichfaltigkeit herrscht, da bietet sich bei den verschiedensten Gegenständen dennoch ein Hauptgesichtspunkt für das Ganze dar, worunter sich alles übrige ordnet, und die Uebersicht dem Auge erleichtert wird.

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Menschliche und thierische Bildung. In der menschlichen Form ist bei der größten Mannichfaltigkeit die größte Einheit. – Alle Thiergestalten sind gleichsam nur Abarten oder Spielarten von der menschlichen Form. Allenthalben ist Leib und Kopf; aber nirgends alles übrige, so auf den Kopf und das Auge hindeutend, wie bei dem Menschen. – Bei dem Menschen ist das Haupt die Vollendung des Ganzen, und alles übrige weist darauf hin – alles übrige ist dazu gleichsam die Stufenleiter – Bei dem Thiere bücket sich das Haupt zur Erde, und dient dem Körper nur, um ihn mit Nahrung zu versorgen. –

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Bei dem Menschen ist der ganze übrige Körper dem Haupte dienstbar. Demohngeachtet nimmt die Kunst in einzelnen Theilen zu der Thierwelt ihre Zuflucht, um ihre Bildungen zu verschönern – Jupiters Haupt schüttelt die Löwenmähne – und auf der Schulter eines Herkules strebt der Nacken des Stiers empor.

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Apollo in Belvedere.

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Man kann freilich sagen: was für ein erstaunlicher Unterschied findet in der bildenden Kunst der Alten zwischen einem Silen und einem Apollo statt; und doch sind beide schön, ein jeder i n s e i n e r A r t . – Ein Faun oder Silen kann in seinem Charakter eben so übereinstimmend seyn, wie ein Apollo in dem seinigen. – Wer aber den Apollo gebildet hat, den wird doch wohl ein jeder für einen größern Künstler halten, als denjenigen, welcher nur einen vollkommnen Faun zu bilden fähig war. – Wer einen Apollo bilden konnte, in dessen Macht stand es auch gewiß, einen vollkommnen Faun zu schaffen, aber nicht umgekehrt konnte je-der, der einen vollkommnen Faun zu bilden fähig war, auch einen Apoll hervorbringen. Denn wenn wir gleich zugeben, daß ein jedes Ding in seiner Art vollkommen ist, so müssen wir doch auch gestehen, daß die Arten selber sich wieder untergeordnet sind, und die eine mehr Vollkommenheiten in sich faßt, als eine andere. – So enthält die ganze Thierwelt nicht so viele Vollkommenheiten in sich, als der Körperbau des Menschen. – Der Löwe und das Pferd sind von majestätischer Bildung – die aufrechte Stellung des Menschen aber, und sein zum Himmel empor gehobenes Antlitz, erhebt ihn über beide und über die ganze Thierwelt – Auch läßt die Menschenbildung von dem Geistigen, was sie in sich faßt, am meisten durch ihre sanfte Oberfläche durchschimmern, und erhält dadurch bei der Körperlichkeit ein erhabenes geistiges Gepräge, welches der ganzen übrigen Thierwelt mangelt.

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Wo nun dies geistige Gepräge am deutlichsten hervorleuchtet, das ist auch der erhabenste Gegen-stand der Kunst; je mehr sich dieß Gepräge verliert, und der Ausdruck sich dem Thierischen wieder nähert, desto untergeordneter ist das Kunstwerk. – In den Bildungen der Alten aber, so wie in ihren Dichtungen, spielt die Thierwelt in die Menschenwelt – es ist der lachende wollüstige Faun, der gleichsam den Gegensatz zu einem majestätischen Apollo macht. – Allein von dem Schönsten war der Maaßstab zu allen niedern Bildungen einmal genommen. In dem hohlen Leibe des ungestalten Satyrs fand man die Bilder der Grazien versteckt.

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Spielarten des Geschmacks. Bei den Spielarten des Geschmacks herrscht die Mannigfaltigkeit über die Einheit, bei dem ächten Geschmack ist die Mannigfaltigkeit der Einheit untergeordnet. Durchbrochene und eingelegte Arbeit, Mosaiken, Grotesken und Arabesken, sind Spielarten des Geschmacks, wo die Mannichfaltigkeit das Herrschende und die Einheit ihr untergeordnet ist. Man kann wohl behaupten, daß die Peters-Kirche in Rom selbst eine Spielart des Geschmacks im Großen ist; es ist eine Riesenidee, ein Pantheon in der Luft zu erhöhen – aber die Vernunft sieht keinen Zweck davon ein. – Der ganze untere Theil ist entweder nur wie ein Gerüst zu dem obern zu betrachten, oder der obere Theil, die Kuppel selbst, bleibt immer ein überflüßiger Aufsatz zu dem untern. Beim Anblick des mailändischen Doms weiß man kaum, ob man dies Gebäude nicht vielmehr wie eine aufgethürmte Stadt, als wie ein Gebäude betrachten soll – unzählige Gipfelchen und Thürmchen, wie lauter kleine Häuser, streben aus der ungeheuren Masse empor, und nur durch den mittelsten höchsten Gipfel erhält das Ganze eine Art von Vereinigungspunkt.

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Die Säule.

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〈S. 75–78 im vorliegenden Band.〉

Arabesken. 5

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Der Ausspruch des Horaz: »Mahlern und Dichtern war von jeher alles zu wagen erlaubt,« scheint in den Arabesken das herrschende Gesetz zu seyn. Zu den Zeiten des August lebte schon ein gewisser Ludius in Rom, der, wie der ältere Plinius erzählt, zuerst die Wände der Zimmer mit kleinen Landschaften bemahlte, wo lasttragende aufgeschürzte Frauen durch Sümpfe wadeten und sich fürchteten zu fallen, und dergleichen sonderbare Gegenstände mehr, welche von dem Ernst der alten Kunst abwichen. Vitruv eifert dagegen, als gegen einen unverzeihlichen Mißbrauch der Kunst; die Alten, sagt er, nahmen den Stoff zu ihrer Mahlerei von wahren und ernsten Gegenständen. – Die Neuern pflanzen ein dünnes Rohr anstatt der Säulen hin – sie stellen auf langen Leuchtern stehende Figuren dar – zarte, in sich gewundene Stengel schießen hervor, auf denen phantastische Wesen tanzen, wovon man nicht weiß, wie sie dahin kommen. – Aus den Blumen wachsen Köpfe, die halb Menschen, halb Thieren ähnlich sind, u. s. w. Alle diese Deklamationen der Kunstverständigen aber halfen nichts, da die Phantasie einmal zu spielen geneigt war. Unter dem Pabst Leo dem Zehnten wurden zuerst in den Ruinen von dem Pallast und den Bädern des Titus, die mit enkaustischen Mahlereien verzierten Wände wieder aufgefunden; und alles lief nun plötzlich hinzu und bewunderte. Raphael mit seinem Schüler Johann von Udino kam auch dahin, und man giebt ihm Schuld, daß er hier von der alten Mahlerei verschiedenes vernichtet habe, um sich das Verdienst der neuen Erfindung davon zuzueignen.

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Dies war nun für die Neuerungs- und Modesucht und für den spielenden Geschmack ein erwünschter Fund. – Es entstand ein neuer Zweig der Kunst, der durch den Zufall, daß in verschütteten unterirrdischen Wohnungen oder G r o t t e n , diese muthwilligen Spiele der Phantasie wieder aufgefunden wurden, seine Benennung des G r o t e s k e n erhielt, welche Benennung nachher zu einem allgemeinen Kunstworte wurde, das auch zu einer besondern Unterscheidung des Komischen überhaupt dienen mußte, welches man nun da, wo es ins Poßierliche und Phantastische fällt, das Groteske Komische nennt. – Die Logen oder auswendigen gewölbten Gänge, welche in dem innern Hofe des vatikanischen Pallastes um den obern Stock laufen, waren von Bramante unvollendet geblieben, und Raphael verzierte nun die vierzehn Pfeiler, welche die dreizehn Gewölbe in diesen Logen unterstützen. Thiere – Masken – Laubwerk – Kameen – Vasen – Trophäen – Sirenen – Termen und Terminetten – Satyren – kleine Schilde – Gesimswerk – Pavillons – Waffen – Insekten – u. s. w. befinden sich in diesen Zusammensetzungen in der wunderbarsten Mischung – Demohngeachtet reihet sich auch hier noch alles zu einer gewissen Einheit. – Es ist gleichsam die Stufenleiter der Wesen, die man hier hinaufsteigt – ein schönes Labyrinth, worin das Auge sich verliert – Nur muß man sich wohl hüten, diese Zusammenfügung, wie eine Art von Hieroglyphen zu betrachten, wo man alles deuten will – in einigen dieser Zusammensetzungen entdeckt sich wohl eine Art von Plan – Vieles aber ist auch blos ein Werk der Laune, wo schlechterdings keine Ausdeutung weiter möglich ist, sondern die muthwilligen Spiele der Phantasie sich blos um sich selber drehen – Es ist das Wesen der Zierde selbst, die sich an kein Gesetz bindet, weil sie keinen Zweck hat, als den, zu vergnügen –

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Ueber Kuppeln, Thürme, Obelisken

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und

Denksäulen. 5

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Selbst die Kuppeln sind schon eine Spielart des Geschmacks, weil man im Grunde, bloß zur Pracht und ohne einen vernünftigen Zweck, ein Gebäude aufs andre setzt. – Die ernste Baukunst der Alten vermied diesen üppigen Auswuchs – sie fühlten, daß die Majestät eines Gebäudes auf seiner Zweckmäßigkeit und Einheit beruhet. Demohngeachtet aber haben diese modernen Kuppeln noch ein weit ernsteres und edleres Ansehen, als die Thürme; weil ihr Umfang zu ihrer Höhe doch weniger unverhältnißmäßig ist, und der Begriff eines Gebäudes sich eher damit verträgt. Ein Thurm, besonders, wenn er isolirt steht, scheint ein Gebäude aus einer andern Welt, und für eine andre Gattung von Wesen zu seyn, als die auf der Erde wohnen. – Wenn ich hingegen die trajanische oder antoninische Säule anblicke, so verschwindet der Begriff von einem Gebäude ganz, obgleich diese Säulen von solchem Umfange sind, daß Treppen darin hinauf gehen. Die Basreliefs, welche sich in Spirallinien an diesen Säulen hinaufwinden, um die Thaten der Kaiser zu verewigen, denen sie zum Andenken errichtet sind, enthüllen sogleich dem Auge ihren Zweck, und machen, daß wir sie gleichsam wie eine erhabene Schrift betrachten, worin die Nachwelt lesen soll. – Der Obelisk hat zu eben diesem Endzweck freilich ein ernsteres Ansehen, weil er, wegen seiner Zuspitzung, den Begriff des Tragens nicht erweckt, da hingegen eine Säule, die n i c h t s t r ä g t , schon mehr eine Spielart des Geschmacks ist. Man kann die Vorstellung von Unzweckmäßigkeit nicht vermeiden, wenn man auf den thurmhohen über alle Häuser emporragenden trajanischen und antoninischen Säulen die Statüen erblickt, wel-

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che sie tragen. Als Fußgestell zu diesen Statüen betrachtet, ist das Verhältniß ungeheuer, und doch tragen diese Säulen weiter nichts. Anstatt der goldnen Kugeln, worin die Asche des Antonin und Trajan aufbewahrt wurde, stehen jetzt die Statüen der Apostel Petrus und Paulus auf diesen Säulen, und machen einen sonderbaren Kontrast mit den Basreliefs, welche die kriegerischen Thaten jener Beherrscher der Welt verkündigen, und sich nun bis zu den Füßen dieser Apostel den Pfeiler hinauf winden. Um diese Säulen mit Wohlgefallen zu betrachten, muß man über ihrem schönen Inhalt gewissermaßen ihre Form vergessen; das Auge muß bis zum Gipfel diese Schlangenlinien hinaufwandern und gleichsam Zeile für Zeile wie in einem Buche lesen. Die ägyptische Pyramide ist ein majestätisches Gebäude, weil ihr Umfang zu ihrer Höhe nicht unverhältnißmäßig ist, und weil sie selber durch ihre Zuspitzung nach oben zu, als ein erhabenes Todtendenkmal, bezeichnend und bedeutend wird. Wir stellen nun die Pyramide – den Obelisk – die kolossale Säule – die Kuppel – den Thurm – und das Thürmchen – nebeneinander, um den stufenweisen Uebergang von dem Ernsthaften und Großen zu dem Spielenden und Tändelnden zu bemerken. Das chinesische Thürmchen weicht von der ernsten Baukunst der Alten am meisten ab, und dient gleichsam, um den höchsten Grad des Kindischen und Spielenden zu bezeichnen. Die Minarets oder schmalen Thürmchen auf den türkischen Moscheen, sind im Grunde bloße Gerüste für die Priester, um das Volk zum Gottesdienste zusammen zu berufen, da man sich keiner Glocken bedienen darf; sie sind daher auch nicht von größerem Umfange, als zu diesem Endzwecke nöthig ist, und machen schon deswegen keinen wiedrigen Anblick. Unter den Glockenthürmen sind die alten spitzigen oder stumpfen Thürme immer noch erträglicher, als die modernen, wo man das Unverhältnißmäßige des Umfanges zu der Höhe durch allmälig kleiner werdende Absätze zu verdecken sucht.

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Allein dies hat gerade das Ansehen, als ob eine Anzahl kleiner und schmaler Stockwerke von verschiedenen Gebäuden, statt nebeneinander zu stehen, auf einander gestellt wären. Am häßlichsten nimmt sich bei diesen modernen Thürmen die kleine Wölbung auf der Spitze aus, welche die Stelle der Kuppel vertreten soll, und wie eine Zwergenkappe auf der Scheitel eines Riesen sitzt.

Raphaels Stanzen. 10

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Man kann wohl sagen, daß die berühmten Raphaelschen Stanzen im vatikanischen Pallaste unter allen Zimmern in der Welt am prächtigsten und am schlechtesten dekorirt sind. Als Verzierung betrachtet, ist die Mahlerei in diesen Zimmern höchst tadelnswerth – denn das Auge findet nirgends Ruhe – wohin man blickt, ist alles bemahlt, und die Einfassung der größern Gemählde selbst besteht wieder aus kleinern Gemählden, wodurch das Ganze ein überladenes Ansehen erhält. Man sieht, daß Raphaels Geist mit dem erhabenen Despotismus der Kunst hier herrschte, dem alles übrige weichen und sich unterordnen mußte. – Der größte Mahler war ein sehr unfähiger Dekorateur. – Auch sind diese Zimmer zu kostbar, um bewohnt zu werden, so wie die Mahlerei zu vortreflich, um als Zierde zu dienen. Die Zimmer selbst sind nichts weiter, als ein Rahmen zu dieser bewundernswürdigen Darstellung – man denkt fast nicht mehr daran, daß um der Zimmer willen die Gemählde da sind. – Demohngeachtet aber sind die Gegenstände wohl ausgesucht, um den Wohnplatz eines Oberhauptes der christlichen Kirche zu bezeichnen. – Der erste christliche Kaiser, Konstantin, mit dem Zunahmen, der Große, hält eine Anrede an sein Heer – in der Luft von Engeln emporgetragen erscheint ihm das triumphirende Kreuz, mit den Worten: in hoc signo vinces!

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Das Christenthum überwindet auch im Schlachtgetümmel – Maxentius wird vom Konstantin besiegt. – Der Pabst Silvester tauft den Kaiser – Der Kaiser schenkt dem Pabste des heiligen Petrus Erbtheil. – Strafende von Gott gesandte Engel peitschen den Heliodor aus dem Tempel zu Jerusalem, den er berauben will. – Eine Anspielung auf die priesterliche Macht – der Pabst hat die Feinde aus dem Kirchenstaate vertrieben. In der Messe zu Bolsena ereignet sich ein Wunder. – Dem einsegnenden Priester beim Abendmahl steigen Zweifel auf, und plötzlich wird er gewahr, daß bei der Konsekrirung der Hostie das Kelchtuch blutig wird, – in den Mienen der Zuschauer liest man den Ausdruck von Verwunderung und Erstaunen. – Die Apostel Petrus und Paulus erscheinen dem Attila in der Luft, um gegen ihn zu fechten. – Der Pabst Leo der Zehnte ist in diesem Gemählde auf einem Maulesel reitend abgebildet, und Raphaels Lehrer, Perugino, reitend auf einem weißen Pferde vor ihm her. – Ein Doppelgemählde, wo auf der einen Seite der Apostel Petrus im Gefängniß abgebildet ist, unter den schlafenden Wächtern ruhend, wie ihn der Engel weckt, und auf der andern Seite, wie der Engel ihn hinausführt. – In allen diesen Gemählden also die streitende und triumphirende Kirche. – Nun sind in einem Zimmer die Philosophie, die Jurisprudenz, die Theologie und die schönen Wissenschaften dargestellt. Die Schule von Athen, welche die grichische P h i l o s o p h i e in ihren erhabenen Lehrern vor’s Auge bringt. – Der Streit über das Sacrament, welcher die T h e o l o g i e in ihren unbegreiflichen Geheimnissen darstellt. – Die J u r i s p r u d e n z ist sehr bildlich dargestellt: Klugheit, Mäßigung und Stärke begleiten die Gerechtigkeit – Justinian überreicht dem Trebonius die Pandekten – Gregorius der Neunte übergiebt einem Advokaten die Dekretalien. Von den Fakultäten ist die Arzneikunst ausgelassen – die s c h ö n e n W i s s e n s c h a f t e n aber sind in der Abbildung des Parnasses, so wie

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die Philosophie in der Schule von Athen, mit inniger Verehrung für das grichische Alterthum von dem Künstler dargestellt. Das letzte Zimmer scheint ganz dazu bestimmt, um die päbstliche Macht und Hoheit in ihr glänzendstes Licht zu stellen – Leo der Vierte siegt über die Saracenen bei Ostia. – Er krönet Karl den Großen – Er löscht mit seinem Segenspruch eine Feuersbrunst in der Nähe des Vatikans. – Er schwört, von Bischöfen umgeben, auf das Evangelium, um seine Unschuld zu betheuren.

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Die Vase.

39f.

〈S. 80,10–81,3 im vorliegenden Band.〉

Ueber

41–47

die Allegorie. 15

〈S. 55–58 im vorliegenden Band.〉

Raphaels Villa.

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Nichts Reizenderes kann man sich denken, als die Verzierung von Raphaels Schlafgemach, das er sich selbst ausmahlte. An der einen Wand ist die Hochzeit des Alexander mit der Roxane abgebildet; an der andern sieht man eine Gruppe von Liebesgöttern, die sich eine Trophäe zum Ziele genommen haben, worauf sie alle zugleich ihre Pfeile abdrücken, und in deren Stellungen eine so reitzende Mannichfaltigkeit und Abwechselung herrscht, die das Auge ergötzt, man mag das Gemählde betrachten, so lange man will.

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Auch das Deckengemählde hat Bezug auf den Triumph der Liebe. Man tritt in dies kleine Schlafgemach wie in ein Heiligthum, und in das Landhaus des Künstlers, wie in einen Tempel; nur Schade, daß der jetzige Besitzer diesen einfachen ländlichen Sitz in einen englischen Garten mit allerlei Spielwerk von winzigen Hügeln, Brücken, Boskets u. s. w. verwandelt, und ewig Schade, wenn auch die Behausung des Künstlers selbst ein Raub dieser geschmacklosen Zierde und Verschönerungssucht werden sollte, da man jetzt noch Wallfahrten zu diesem stillen Wohnplatze des Künstlers anstellt, wo er, im sanften Genuß seiner Tage eingewiegt, vielleicht seine frohsten Stunden verlebte.

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Beschreibung eines Saals in dem Hause des königlichen Staatsministers, Freiherrn v. H e i n i t z zu Berlin. Die Basreliefs sind von dem Rektor und Hofmahler Herrn F r i s c h , die Dekoration und Anordnung des Ganzen von dem Architektmahler Herrn B ü r n a t . )

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Der Saal besteht aus einem länglichten Viereck. An jedem Ende der beiden langen Seiten ist eine Thür, so daß die vier Eingänge des Saals einander symmetrisch gegenüber sind. Sechs gemahlte jonische Säulen an jeder der beiden langen Seiten, scheinen von einer Thür zur andern einen Gang zu bilden. – Die Säulen springen vor, und hinter ihnen tritt die Wand in dunklern Wiederschein zurück, so daß durch diese Täuschung der ganze Saal sich für das Auge erweitert. – Der Fries an dem Gebälke ist mit Greifen, so wie der Fries am Tempel der Faustina in Rom, verziert. – Die Krümmung am Gesimse ist wie eine glatte Fläche zu dem Friese benutzt, damit durch diese Täuschung die niedrige Wand sich für das Auge erhöhe. –

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Daß die Decke für das Ganze nicht zu drückend scheine, und sich durch nichts zu sehr dem Auge nähern könne, ist jede überladene Zierrath mit Sorgfalt an ihr vermieden. Ein ganz einfaches Oval bezeichnet in der Länge den Umfang, in welchem zwölf Kronenleuchter den Saal erhellen, wo die Massen von Licht und Schatten auf die Weise geordnet sind, daß die Beleuchtung von oben nach unten fallen muß. Dies Oval an der Decke ist rund umher mit einfachen viereckigten Feldern umgeben, die einen leeren Raum einschließen, weil sie ohne allen frem-den Zusatz nur den Begriff der Ausbreitung und Bedeckung von oben bezeichnen sollen. Ueber den vier Thüren sind große Basreliefs auf flachem Grunde dargestellt, und an den beiden Seiten jeder Thür eine antike Bildsäule in Bronze freistehend nachgeahmt. In den anscheinenden Vertiefungen zwischen den Säulen sind Basreliefs im Hintergrunde mit dunklern Farben dargestellt. – An der einen langen Seite erhebt sich in der Mitte ein Kamin von weißem Marmor mit einfacher Einfassung und Gesimse. An dem obern und untern Ende des Saals sind zwischen den Fenstern und Spiegeln, einzelne, Antiken nachgebildete Figuren, eine bescheidne Zierde. Der Grund des Saals in der Nachahmung durch Farben ist Granit. – Die Säulen sind von Giallo Antiko. – Die Säulenfüße und Kapitäle von Stuck. – Hiervon ist auch Gebälk und Decke nur von einem mildernden Roth umzogen. – Die Gestelle zu den bronzenen Bildsäulen sind in der Nachahmung von Porphyr. – Die Thüren selbst von Bronze. Den Haupteingang in den Saal verziert, als Basrelief, ein Fest der Flora. – Ueber der zweiten Thüre ist ein Opfer der Göttin Ceres, über der dritten der Gott Silen von Faunen und Bachanten umgeben, und über der vierten die Vermählung des Herkules mit der Göttin der Jugend dargestellt. Diese mythologischen Bilder enthalten nicht hart und buchstäblich auszudeutende sondern leise Anspielungen auf den Frühling, den

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Sommer und den Herbst des Lebens und auf den Lohn der thatenvollen Tugend. Im Hintergrunde zwischen den Säulen sind auf der einen Seite, in einer Reihe von Basreliefs, des Theseus Heldenthaten, und auf der andern die Wettkämpfe in den vom Herkules gestifteten Spielen dargestellt.

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Das Fest der Flora. (Ueber dem Haupteingange.)

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Auf einem Ruhebette liegt die Blumengöttin. – Zephir bringt ihr schwebend einen Kranz von Rosen – zu ihrem Haupte greift Amor in die Harfe – zu ihren Füßen schlummert ein Genius auf Blumen – und spielende Amoretten umgeben die Lagerstatt. – Die Grazien knüpfen Amors Waffen an einen Myrthenbaum. – Und auf der andern Seite sieht ein liebendes Paar, das schon des Lebens Herbst erreicht hat, mit innigem Wohlgefallen den jugendlichen Spielen des Frühlingsalters zu. – Sie halten beide eine Blumenkette und bezeichnen durch dies schöne Sinnbild jene frohen Tage, wo sie zuerst ein solches Band verknüpfte. Unter diesem Basrelief sind zwei antike Bildsäulen in Bronze freistehend nachgeahmt. Auf der einen Seite der Thüre, der mächtige Amor, der im Gefühl seiner Allgewalt, muthwillig der Götter spottet – auf der andern Seite, Psyche, die wider das Verbot der Venus die Büchse eröffnet hat, in welcher sie die Reize der Schönheit verborgen glaubte, und aus der nun plötzlich ein tödtender Dampf ihr entgegen steigt. –

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Apollo und Hyacinth.

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Mitleidsvoll streckt Apollo seine Arme gegen den hingesunknen Liebling aus, den er mit einem unglücklichen Scheibenwurf beim Spiele tödtlich verwundet hat. Der sterbende Jüngling hält im Sinken noch die zerschellte Stirn. – Aus seiner Asche ließ der Gott der Schönheit und der Jugend die Blume hervor sprossen, welche den Nahmen des schlummernden Lieblings führt.

Theseus. 10

Der heldenmüthige Theseus ist in Kreta angelangt. – Man sieht sein Schiff am Ufer stehen – ihm überreicht des Minos Tochter Ariadne den Knäuel, der den Faden enthielt, an welchem er aus dem Labyrinthe glücklich den Ausweg fand.

Der Sieg des Theseus über den Minotaurus. 15

Der Minotaurus liegt erschlagen; der junge Held, mit der Keule bewaffnet, tritt auf seinen Nacken; atheniensische Knaben und Mädchen, die zum Schlachtopfer schon bestimmt waren, blicken mit freudiger Neugier und Erstaunen auf das erschlagene Ungeheuer.

Die Horen. 20

Drei tanzende Horen, Hand in Hand geschlungen, bezeichnen, im Basrelief über dem Kamin, den eilenden Flug der Zeit. –

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Theseus und Pirithous.

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Durch den treusten Freundschaftsbund waren Theseus und Pirithous verknüpft. Bei der Vermählung des Pirithous mit der Hippodamia waren die Centauren zum Hochzeitmahl geladen. – Von Wein und Liebe berauscht, verletzten diese das heilige Gastrecht und wollten die Braut entführen. Der heldenmüthige Theseus widersetzte sich dem frevelhaften Raube, und wandte von seinem Freunde die drohende Gefahr ab. – Er ist hier kämpfend abgebildet, wie er den einen Centaur zu Boden geschlagen hat, und einem andern droht, welcher im Begriff ist, die Hippodamia zu entführen; die Miene der andern, welche noch beim Gastmahl zu Tische sitzen, drückt Betäubung und Erstaunen über den unvermutheten Frevel aus.

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Theseus und Ariadne. Ariadne, vom Theseus verlassen, trauert am einsamen Felsen auf der Insel Naxos. – Man sieht das Schiff des Theseus mit aufgeschwellten Segeln. – Bacchus tröstet die Verlaßne, und verwandelt ihren Hauptschmuck, den er gen Himmel wirft, in eine Sternenkrone.

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Der Raub der Proserpina. Der unerbittliche Pluto entführt die jungfräuliche Proserpina, die noch die eben gepflückten Blumen festhält, in die Unterwelt – unaufhaltsam rollt sein Wagen zum schwarzen Styx hinunter – und Jugend und Schönheit werden ein Raub des Todes. –

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Das Opfer der Ceres.

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(Ueber dem zweiten Eingange.)

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Ceres, die Mutter der Proserpina, steigt auf ihren mit Drachen bespannten Wagen. – Sie hat am Aetna die Fackel angezündet, womit sie die Nacht erleuchtet, um in den verborgensten Winkeln der Erde ihre verlohrne Tochter zu suchen. – Während die jammervolle Mutter trauert, spürt die Erde ihren wohlthätigen Einfluß, und freut sich ihres Segens. – Sie hat den Triptolem den Ackerbau gelehrt – die Rinder ziehen den Pflug, – der Landmann öffnet seine Furchen, und der edle Saamen wird ausgestreut. – Auf der andern Seite beginnt das Fest der Erndte, und am Altar der Ceres werden volle Garben von Schnittern und Schnitterinnen zum Opfer dargebracht. – In der Mitte prangt ein Baum mit Früchten, der von der segnenden Fülle der alles ernährenden Erde ein schönes Sinnbild ist. So wie Amor und Psyche den Frühling des Lebens bezeichneten, deuten M i n e r v a und M e r - k u r , als Bildsäulen unter diesem Basrelief, die ernstern Beschäftigungen des männlichen Alters an. – Auf der einen Seite der Fenster an diesem Ende des Saals ist ein Terme nach einer antiken Lampe; auf der andern ein Priester des Bachus aus den herkulanischen Gemählden; und in der Mitte zwischen den Fenstern eine Najade, ein Seeroß umfassend, abgebildet.

Silen. (Ueber dem dritten Eingange.)

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Der alte Silen, vom Weine berauscht und taumelnd, wird vom Pan, der den Thyrsus hält, und einer zarten Nymphe, auf die er sich stützt, empor gehalten – zwei Genien keltern den Wein im Fasse – zu ihrer frohen Arbeit spielt ein Faun die Doppelflöte. – Eine Tischgesellschaft kränzt und lagert sich zum Mahle, wo drei aufgestellte Larven ein Sinnbild der scherzenden komischen Laune sind. – Junge Satyrn

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und Bachantinnen auf der andern Seite führen den Esel des Silen und spor-nen ihn mit dem Thyrsusstabe zu schnellern Schritten an. – Die eine der Bachantinnen hält in jeder Hand ein zierliches Trinkgefäß, während daß ein schwer beladner Träger mit einem großen Weingefäße den Zug beschließt, worin ein junger Satyr mit einem Bock sich stößt, und scherzender Muthwille in allen Mienen herrscht. Als Bildsäulen unter dem Basrelief, ist auf der einen Seite Bachus mit dem Thyrsusstabe in der Rechten, die Linke auf dem Haupte ruhend, dargestellt; und auf der andern die Göttin der Gesundheit, welche die zahme Schlange aus der wohlthätigen Schaale tränkt – beides Gottheiten, die vorzüglich d e s L e b e n s H e r b s t versüßen.

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Bachus auf seinem mit Tygern bespannten Wagen.

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Bachus mit dem Thyrsusstabe in der Rechten, die Linke auf das Knie gestützt, sitzt auf seinem mit Tygern bespannten Wagen, welchen Amor als Fuhrmann lenkt; denn nur der Gott der Liebe und der Gott des Weins können die Wuth der Tyger zähmen, die sich willig unter das Joch der alleserfreuenden Gottheit schmiegen. Der fröliche Genuß geht nun ins thatenvolle Leben über. – –

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Die Wettkämpfe in den olympischen Spielen. Der Wettstreit in der Beredsamkeit. Ein junger Redner, auf einer kleinen Erhöhung stehend, mit dem aufgerollten Papier in seiner Linken, begleitet den Ausdruck seiner Rede mit einer anständigen Bewegung seiner rechten Hand. – Die horchende Menge, Jünglinge, Knaben, und Greise, sind um ihn her versammelt, einige stehend, andre als Richter, sitzend, um über die Austheilung des Preises in dem Wettstreite zu entscheiden.

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Auf den Redner horchend sind alle dargestellt, aber in Miene und Stellung eines jeden herrscht ein verschiedner Ausdruck.

Der Wettkampf im Ringen. 5

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Hinter den Schranken stehen die Zuschauer; zwei kleine Pyramiden, als das Ziel, um welches man beim Wettlauf den Wagen lenkte, bezeichnen den Kampfplatz, wo die Spiele gefeiert werden. Zwei Paare sind aufgetreten, die nach den Regeln der Kunst miteinander ringen. Einer hat den andern schon zu Boden geworfen; bei dem zweiten Paare ist der Sieg noch unentschieden.

Der Wettkampf im Wagenrennen. Auf demselben Kampfplatze wechselt nun die Scene; zwei Wettrenner mit ihren Wagen, die nach dem Ziele streben, peitschen die Rosse an – ein abgesprungenes Rad am Wagen raubt dem vordersten seinen Sieg.

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Der Wettkampf im Scheibenwerfen. Derselbe Schauplatz bleibt, und an die Stelle des Wettrennens tritt der Wurf mit der Diskusscheibe – in verschiedenen Stellungen stehen die beiden Scheibenwerfer, der eine mit dem Ausdruck von Heftigkeit und Anstrengung aller Muskeln, der andre mit Sicherheit und ruhiger Ueberlegung, um durch die Luft den entscheidenden Wurf zu lenken. – Auf die Arbeit folgt nun der Lohn! –

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Die Austheilung der Preise. Die Richter sitzen auf Stühlen am Ende des Kampfplatzes, neben dem Ziele der Laufbahn, und theilen die Preise aus. – Ein Jüngling empfängt mit bescheidner Miene den Kranz von wilden Oelzweigen, welcher der Lohn des Siegers war. Die andern stehen wartend hinter ihm, um, wen die Reihe trift, zu den Richtern hinzuzutreten.

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Herkules.

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Herkules führt dem Admet, welcher mit freudigem Entzücken seine Arme ausstreckt, aus dem Reiche der Schatten die schon betrauerte Gattin zu. – Der dreiköpfigte Cerberus, gebändigt von dem Sohne des Donnergottes, schmiegt sich zu seinen Füßen.

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Die Vermählung des Herkules mit der Göttin der Jugend. (Ueber dem vierten Eingange.)

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Herkules mit der Linken auf seine Keule gestützt, reicht Heben seine rechte Hand zum Bunde. Die versöhnte Juno, neben dem Donnergotte sitzend, segnet gnadenvoll den Bund. Zu dem Ohre Jupiters bücket sich Merkur, ihm eine Botschaft bringend. Auf der andern Seite zunächst dem vermählten Paare sitzt Venus, die den Eros umschlungen hält, während daß Anteros zu ihren Füßen spielt. – Pluto reicht der Proserpina noch einmal den Apfel dar, durch dessen Genuß sie auf ewig die Seinige ward. Den Schluß der Götterversammlung machen die Grazien. – Neben dem Jupiter und der Juno sind Minerva und Vulkan in ihrem Gespräch vertieft, und werden vom Apollo durch einen bedeutenden Fingerzeig zu den Gra-zien hingewiesen, denen selber die Weisheit huldigen muß.

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Ganymedes tränkt den Adler Jupiters, welcher den Blitz in seinen Klauen trägt. – Unter dem Basrelief an beiden Seiten der Thüre sind die Bildsäulen des Apollo und der Diana wiederum freistehend nachgeahmt, und beschließen das Ganze, auf die ewig wiederkehrende Verjüngung im All der Schöpfung deutend. – Eine Priesterin der Vesta, die am Altare den Opferkrug ausgießt. – Ein Genius, der im vollen Lauf den Pegasus lenkt. – Ein Terme – zieren den Raum zwischen den Fenstern am obern Ende des Saals. –

Nachahmungstrieb und Neuerungssucht.

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Der Nachahmungstrieb hüllt allmälig, was ineinander war, auseinander, um es zu entwickeln. – Die Neuerungssucht reißt das, was durch Natur und Kunst schon entwickelt außereinander war, voneinander, und trägt es wieder zusammen. – Ihre Bildungen werden s o n d e r b a r , das heißt, einzig in ihrer Art, ohne schön zu seyn – a b e n t h e u e r l i c h , das heißt, wie durch den wunderbarsten Zufall in eins zusammengeworfen – u n g e h e u e r , das heißt, so einzig durch Disharmonie, wie das Schöne durch Harmonie. –

Widerlegung des falschen Ausspruchs: de gustibus non est disputandum. 25

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Gewiß liegen die Grundsätze des Geschmacks eben sowohl im Verstande, als im Gefühl. – Man glaubt zu fühlen, daß etwas schön ist;

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man fühlt es durch den Gedanken. – Darum läßt sich wohl über den Geschmack reden. – Die Schweifungen und Krümmungen an einem Gebäude sind deswegen nicht schön, weil sie mit dem Begriffe des Gebäudes nicht übereinstimmend sind, wo das auf den Säulen ruhende Gebälk in grader Richtung liegt. Es ist nicht sowohl das Auge, welches durch die krummen Linien in der Baukunst beleidiget wird, als vielmehr der Verstand. – Die Wellenlinie ist nicht an sich schön, sondern wegen des Begriffs von Bewegung, wo derselbe damit verknüpft ist. Ein Weg, der sich hinschlängelt, ein Fluß, der sich hinschlängelt, sind deswegen reizende poetische Bilder, weil die Krümmungen mit dem Begriff der Bewegung harmonisch sind, der bei Weg und Fluß der herrschende ist. Eben deswegen sind auch die Wellenlinien bei den thierischen Körpern schön, weil hier der Begriff der Bewegung der herrschende ist. – Bei den Pflanzen würden sie schon nicht so schön seyn, denn da herrscht der Begriff des Feststehens. Bei den Gebäuden ist der Begriff des Feststehens ganz der herrschende – und die Wellenlinie ist mit diesem Begriff ganz disharmonisch. Bei dem Schiffe hingegen ist die krumme Linie schön, weil sie mit dem Begriffe von Bewegung harmonirt, der bei einem Schiffe der Hauptbegriff ist. Die widrigste Gestalt eines Kahns würde die von einem Troge seyn – an welchem der Begriff von Beweglichkeit durch nichts bezeichnet würde. Bei Stühlen, Tischen, wo der Begriff des Feststehens der herrschende ist, ist daher auch die Wellenlinie immer schlecht angebracht. – Wo sie die Alten anbrachten, da verknüpften sie sie mit der Thiergestalt. – Das Tischblatt wurde von einem Greif oder Centaur emporgetragen. – Der Stuhl stützte sich auf Bärenfüße. – – Der verbesserte Geschmack in Mobilien hat sich auch damit angefangen, daß man die krumme Linie mit der geraden vertauscht.

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Die Paulskirche in Rom.

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Dieser majestätische einsame Tempel liegt vor der Porta S. Paolo, welches die alte Porta trigemina ist, die von den drei Horaziern, welche aus diesem Thore gegen die drei Kuriazier hinauszogen, den Nahmen führt. Beim ersten Eintritt in die Paulskirche fühlt man sich auf die sonderbarste Weise überrascht, indem man die höchste Pracht mit der höchsten Einfalt verknüpft sieht; denn achtzig antike Marmorsäulen stützen eine platte hölzerne Decke, die sich über das ganze ungeheure Gebäude hin erstreckt, und mit der Majestät der Säulen, worauf sie ruht, auf die sonderbarste Weise absticht. Die Kirche ist nach der Peters-Kirche in Rom die größte, und ganz nach gothischer Bauart, welches die melancholische Pracht bei ihrem Anblick noch vermehrt. Denn die ganze Kirche ist öde und leer; keine Gemählde, keine Zierrath schmückt die Wände dieses Tempels; man blickt zwischen den vier Säulenreihen in die weiten Gänge, bis zum Hochaltar hinauf, der sich, wenn man im Eingange steht, in ganz dunkler Perspective zeigt. An den Seiten sind keine Altäre; der Fußboden ist uneben, wie auf einer Straße; das Licht fällt von oben durch die Scheiben der gothischen Fenster hinein; die ungesunde Luft verscheucht im Sommer die Mönche aus dem Kloster, das zu dieser Kirche gehört; es wird nur selten Gottesdienst darin gehalten, und so wie man keinen Menschen sieht, vernimmt man auch weiter keinen Laut in diesem unermeßlichen Gebäude, als von dem wiederhallenden Fußtritt. Die achtzig Säulen, welche aus dem Grabmahl Hadrians hieher gebracht sind, scheinen noch jetzt wie öde und verwaist über den entschwundenen Glanz der Vorzeit zu trauren, und mehr ein neues Todtendenkmal zu bilden, als einen Tempel zu schmücken. Oben an der schmalen Wand, die unter dem Dache auf den Säulen ruht, sieht man die Abbildungen von zweihundert und funfzig Päpsten, welche Zahl nemlich diejenigen in sich begreift, die seit dem

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fünften Jahrhundert regiert haben. – Dieß ist der einzige traurige Schmuck dieser Kirche, welche dadurch wieder zu einem erhabenen Mausoleum wird, das auf den Stützen eines Grabmahls der glänzenden Vorzeit ruhet.

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Einförmigkeit und Mannichfaltigkeit. Bei großen Gegenständen findet die Seele selbst an der Einförmigkeit Wohlgefallen, – wie an dem Anblick der blauen Himmelswölbung, der unendlichen Meeresfläche und eines Säulenganges, der selbst durch seine Fortdauer, wo sich doch immer wieder dieselbigen Gegenstände dem Auge darbieten, ergötzt, und wo es einen majestätischen Eindruck macht, je weniger man gleichsam das Ende davon absieht – Denn da eine einzige Säule schon etwas Prachtvolles ist, so macht ihre Anzahl und ihre Folge einen Reichthum der Vorstellung aus, der an sich Vergnügen erweckt: die Einförmigkeit ist also hier gewiß schöner, als die Abwechselung. Eine einzige Säule ist schon an sich ein Ganzes, das die Seele füllt, welche sich ergötzt, diesen einzigen Begriff immer wieder nicht abwechselnd, sondern vervielfältigt und sich gleichsam in sich selber spiegelnd zu finden. Von den kleinern Gegenständen erfüllt das Einzelne die Seele nicht ganz, daher ist ihr die Abwechselung nicht zuwieder, sondern angenehm, weil sie immer noch Raum genug für neue Begriffe hat. – Von dem Großen und Erhabenen will man viel, von dem Kleinen vielerley sehen. Ein Eichenhain, ein Cypressenwald, sind schön in ihrer Einförmigkeit; ein mit den abwechselndsten Farben spielendes Blumenbeet, ist schön in seiner Mannichfaltigkeit. – Große hohe Bäume nehmen sich besser in geraden Gängen aus; denn es wäre Schade, wenn hier die Pracht des Ueberblicks verlohren ginge, wo die erhabenen Stämme in der perspectivischen Ferne allmählig ihre Wipfel neigen, und schon durch diese täuschende Darstellung allein, ein schönes Gemählde in der Seele hervorbringen.

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Niedrige Bäume und Gesträuche passen besser zu krummen Gängen, weil eine Uebersicht des Ganzen hier doch zu kleinlich ist, und kein Interesse für die Seele hat, deren vorstellende Kraft durch große und erhabne Gegenstände gleichsam ausgedehnt und erweitert zu seyn strebt. Bei großen Gegenständen ist daher die Uebersicht, bei kleinen die spielende Ueberraschung schöner. – Ein erhabenes Gedicht braucht nicht zu überraschen, oder die Ueberraschung ist doch nur sein kleinstes Verdienst; denn man empfindet seine Schönheiten erst ganz, wenn man es zum öftern lieset, und auf die ganze Folge der Darstellung immer schon vorbereitet ist. Ein leichter, blos unterhaltender Roman hingegen, den man nur einmal lieset, soll vorzüglich durch überraschende Scenen gefallen. In einer Oper, die mehr ein Vergnügen für das Auge und Ohr, als für den Geist ist, müssen die Scenen überraschend seyn; in einem ernsten Trauerspiele hingegen, liegt an der Ueberraschung wenig, und es kommt nicht sowohl darauf an, daß sich unerwartete Vorfälle ereignen, als vielmehr darauf, daß eine Begebenheit, sie mag uns nun bekannt oder unbekannt seyn, uns durch die Darstellung immer wichtiger werde, und immer mehr Interesse für uns erhalte. Unberufene dramatische Dichter suchen daher durch die Häufung unerwarteter Vorfälle, den Mangel an Interesse, das sie ihren Gegenständen nicht geben können, zu ersetzen, und den Zuschauer, den sie nicht zu rühren wissen, wenigstens in ein betäubendes Erstaunen zu versetzen. So, wie bei allen ernsten Gegenständen, muß auch bei Gebäuden das Ueberraschende und Auffallende niemals gesucht werden, wenn die Baukunst nicht in einen kindischen und spielenden Geschmack ausarten soll. Ein Gebäude soll durch seine edle Zweckmäßigkeit, und durch das schöne Ebenmaß seiner Theile, je länger man es betrachtet, den Blick immer mehr an sich fesseln, und durch das Auge der nachdenkenden Vernunft Beschäftigung geben.

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Ein Gebäude, das durch eine phantastische und abentheuerliche Zusammensetzung die Seele blos in Erstaunen versetzt, wird für einen ächten und geläuterten Geschmack sehr bald sein Interesse verlieren, und wenn die erste Ueberraschung vorbei ist, mit Verachtung und Gleichgültigkeit betrachtet werden.

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Ein Dekkengemählde von P i e t r o von K o r t o n a .

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Das Deckengemählde von Pietro von Kortona in dem Pallast Barberini, ist eines der prachtvollsten, aber auch der abentheuerlichsten, was man sich denken kann; so sonderbar ist das Christliche mit dem Heidnischen in der allegorischen Darstellung untermischt. Pabst Urban der Achte aus dem Hause Barberini, hat seiner unbegrenzten Eitelkeit hier ein bleibendes Denkmal gestiftet; und dieses Deckengemählde dienet zugleich zum Andenken an die fürchterliche Gewalt, welche sich die Kirche einst angemaßt hat; denn darauf zielen im Grunde alle diese sonderbar gemischten Symbole ab. Es ist nehmlich die geistliche Gewalt, welche hier den Friedenstempel aufschließt, die Furien verjagt, und den Cyklopen befiehlt, zum Schutz der Kirche Waffen zu schmieden. In der Mitte des Gewölbes wird das barberinische Wapen in den Himmel unter die Sterne versetzt. Keine geringere Personen, als die Zeit, die Vorsehung, die Parzen, und die Ewigkeit, sind mit dieser wichtigen Handlung beschäftiget. Minerva schleudert den Donner auf die Titanen. – Herkules tödtet die Harpyen. – Religion und Glaube ist auf der einen, und die Wollust auf der andern Seite allegorisch abgebildet. In den Wolken schweben die Gerechtigkeit und der Ueberfluß. Mitten unter den heiligen Erscheinungen dampft die Werkstätte des Vulkan.

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Der Friede verschließt den Tempel des Krieges; Mars liegt an Ketten; Fama verkündigt den Frieden; und in der Mitte stehen zwei Frauenzimmer. Diese heißen: d i e K i r c h e und d i e K l u g h e i t . Auf die Weise ist in diesem Deckengemählde die geistliche Gewalt allegorisch dargestellt.

Häußliche Einrichtung der Alten

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Verzierungen in ihren Zimmern. 10

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Die Häuser sind größtentheils an sanften Abhängen gebaut; die Stockwerke sind nicht aufeinander gethürmt, sondern man wohnte unten und oben auf ebener Erde. Wenn man in die Thüre tritt, kömmt man zuerst auf einen Hof, der im Viereck gebaut, und mit einem Säulengange umgeben ist. Alles scheint darauf eingerichtet, daß man sich, auch innerhalb seiner Wohnung, des milden Klima freue, und, bedeckt vor dem Regen, bei jeder Witterung, der freien Luft genieße. Unter den bedeckten Gängen sind unmittelbar die Eingänge in die Zimmer, welche rund umher liegen, und ihre Erleuchtung mehrentheils durch die Thüre selbst haben, die daher gewöhnlicher Weise eröfnet seyn mußte. Im Winter erwärmte ein Kohlenbecken die Zimmer, wie es in den italienischen Stuben noch itzt der Brauch ist. Die Fußböden der Zimmer sind größtentheils von Mosaik. In dem einen Hause liest man beim Eintritt über die Schwelle mit schwarzen Marmorstiften auf dem weißen Grunde, das Wort Salve, eingelegt. Alles hat gleich ein wirthbares und vertrauliches Ansehen, wenn man in den kleinen Hof, mit dem bedeckten Säulengange tritt, in dessen Mitte gemeiniglich ein Wasserbehälter ist, und an dessen Seite die Eingänge zu den Wohnzimmern mit einem Blick zu übersehen sind.

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Die hölzernen Geräthschaften in den Zimmern sind verfault, oder zu Kohlen verbrannt; alles aber, was dem Feuer widerstanden hat, ist hier weggebracht, und in dem Museum zu Portici aufgestellt. Nichts ist einladender und reizender, als die bedeutungsvollen, der Bestimmung der einzelnen Zimmer ganz angemessenen Verzierungen, welche man noch häufig findet. Ueber dem Brunnen ruht ein Flußgott, und Nymphen zu beiden Seiten gießen Wasser aus ihren Muscheln; in der Küche ist ein Opfer des Aeskulap abgebildet, um dessen Altar sich eine Schlange windet; in dem Putzzimmer beschäftigen sich die Grazien mit dem Kopfputz der Liebesgöttin; und in dem Schlafzimmer ruht Venus in den Armen des Adonis. Die übrige Mahlerei in den Zimmern besteht aus Arabesken, die aber durch ein reizendes Köpfchen in ihrer Mitte, oder durch irgend eine mythologische Darstellung in einem Medaillon, immer einen schönen Vereinigungspunkt haben, wodurch die ausschweifende Phantasie gleichsam wieder zu einem Hauptgegenstande zurück geführt wird.

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Die Altäre der Alten. Die Altäre, die man den Göttern weihte, schmückte man jedesmal, ehe man opferte, mit Zweigen von dem Baume, welcher der Gottheit, der man das Opfer brachte, vorzüglich heilig war. Wodurch man viele reizende Ideen aus der wirklichen Welt auf einmal vor die Einbildungskraft brachte. So schmückte man den Altar des Apollo mit Lorbeerzweigen, welche den Helden und den Dichter krönen; mit Myrthen den Altar der Venus, und den Altar der Minerva mit Zweigen von dem Oehlbaum, dessen Pflegung und Wartung sie die Menschen lehrte. Nicht allein in Tempeln, sondern allenthalben, auch unter freiem Himmel, auf dem Felde fand man den Göttern geweihte Altäre. Freundschaftsbündnisse, Aussöhnungen und Heirathen wurden bei

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diesen Altären geschlossen und versiegelt, indem man bei den feierlichen Versprechen, das man that, mit der Hand den Altar berührte, und die Gottheit, der er geweiht war, zum Zeugen rief. So mußten obrigkeitliche Personen ihren Eid ablegen, indem sie den Altar der Themis berührten. Das Wahre wurde auf die Weise mit dem Sinnbildlichen stets verknüpft, und man kann daher sagen, daß die Religion der Alten, im eigentlichen Sinne, eine Religion der Einbildungskraft war. Von den marmornen Altären selber kann man sich einen sehr deutlichen Begriff machen, weil sich eine große Anzahl davon unter den Resten des Alterthums erhalten hat, und weil man sie auch in den antiken Basreliefs sehr häufig abgebildet findet. An den marmornen Altären selber findet man auf den Seiten Abbildungen in Basreliefs, die sich auf die Verehrung der Gottheit beziehen, welcher der Altar geweiht ist. Die einfachsten Verzierungen an den Altären aber, und die man am häufigsten findet, sind eine Opferschaale und ein Opferkrug in Basreliefs an den Seiten des Altars, dessen Bestimmung dadurch auf die simpelste Art bezeichnet, und durch dies einfache Symbol gleichsam dem Auge erklärt wurde. Auch die Guirlanden und andere Zierrathen, womit man die Altäre schmückte, findet man auf vielen der alten Denkmäler dieser Art in den Marmor selbst ausgehauen. Es war das erste Geschäft der bildenden Kunst, die zufälligen Zierrathen, an dem Gegenstande selber bleibend darzustellen, und als wesentlich damit zu verknüpfen.

Die Tempel der Alten.

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Die Tempel der Götter bei den Alten waren zum Theil schon durch den Ort bezeichnend, wo sie standen. Die Schutzgötter der Städte hatten gewöhnlich auf den höchsten Anhöhen, wo man die Stadt übersehen konnte, ihre Tempel; Apoll und Bachus bei den Schauplätzen; Herkules bei der Rennbahn und bei den Kampfplätzen, wo

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die Körperkraft sich zeigte; die Tempel des Vulkans und der Bellona mußten eigentlich vor der Stadt gebauet seyn, in so fern man es für Unglück bedeutend hielt, Krieg und Feuersbrunst innerhalb der Mauren durch diese Tempel zu bezeichnen. Diese Tempel, welche allenthalben die Blicke auf sich zogen, luden zu feierlichen Spielen und Wettkämpfen, zu Siegen und Triumphen, zur Vertheidigung des Vaterlandes und zugleich zum frohen Genuß des Lebens ein. Sie ragten mitten aus den öffentlichen Lebensscenen empor, die dadurch geweiht, und an die religiösen Gebräuche angeschlossen wurden.

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Die Bildsäulen der Götter. In dem schönen Alterthum waren die Bildsäulen der Götter dasjenige, was wegen des Ausdrucks von Hoheit und Würde in der veredelten Menschenbildung am stärksten die Aufmerksamkeit auf sich heften mußte; weil in den Götteridealen die erhöhte Jugendstärke, Körperkraft und Schönheit im Grunde sich selber wiederfand, und die Menschheit eigentlich nur das Gepräge ihrer eignen Bildung in den Göttergestalten ehrte. Wo diese Bildsäulen standen, in Häusern, in Tempeln, auf dem Felde, oder am Wege, da waren sie bezeichnend und bedeutend, indem sie durch ihren Anblick an irgend eine Wohlthat der Natur, an irgend einen Genuß des Lebens, oder an irgend einen der Vorzüge des Menschen erinnerten; und auf die Weise zu ausdruckvollen Symbolen wurden, woran eine Anzahl schöner Nebenideen sich reihen konnten, die alle auf das wirkliche Leben und den Genuß desselben einen unmittelbaren Bezug hatten.

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Die Haine der Götter.

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Dies waren die ältesten Tempel, welche der Natur gleichsam am nächsten lagen. An den Bäumen waren Hirschgeweihe, Bärenhäute, und Bogen und Pfeile der Diana zu Ehren aufgehängt; und an festlichen Tagen schmückte man die Haine mit Blumenkränzen aus. Es wurde für einen Kirchenraub gehalten, wenn jemand irgend einen Baum in einem heiligen Haine zu beschädigen wagte; so daß sogar Gebete und Opfer vorher angestellt wurden, wenn die Aeste nothwendig mußten behauen werden. Diese in die heiligen Gebräuche verwebte Ehrfurcht gegen das Leblose, hat an sich selber schon etwas Schönes und Anziehendes; es ist, als ob das Band zwischen dem Menschen und der umgebenden Natur dadurch gleichsam enger geschlungen würde.

Die Kampfspiele im Cirkus. 15

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Die Kampfspiele im Cirkus wurden durch einen r e l i g i ö s e n A u f z u g vorbereitet, worinn sich alles vereinigte, was nur irgend durch sinnbildlichen Ausdruck von Hoheit und Würde auf die Gemüther der Sterblichen wirken kann. Durch einen solchen Aufzug wurde die Verehrung aller übrigen Götter, in das Fest, welches man einer besondern Gottheit zu Ehren feierte, mit eingeschlossen, und ihre Bildsäulen im Pomp mit aufgeführt. Die majestätische Folge des ganzen Götterchores bildete vor den Augen des Volks ein bewegliches Pantheon. Voran wurde eine geflügelte Victoria mit einem Palmzweige in der einen, und einem Kranze in der andern Hand, getragen. Denn es ist die Siegesgöttin, welche bei jedem Kampf, sey’s Treffen oder Spiel, den Vorsitz hat. Dann folgten die hohen Schutzgottheiten Roms. Jupiters Bildsäule mit dem Blitz bewafnet, Juno mit dem majestätischen Pfau, Minerva

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mit Helm und Spieß, und dann nach der Reihe die Bildsäulen der übrigen Gottheiten. Geschmückte Knaben leiteten die zum Wettrennen bestimmten Pferde, welche zu dem Feste gleichsam geweihet waren. – Dann folgte der Zug der obrigkeitlichen Personen, der Senat und die Söhne der Ritter. – Hierauf die Fechter und Ringer, und die Chöre von Sängern, wovon das erste aus Männern, das zweite aus Jünglingen, und das dritte aus Kindern bestand; nebst den Pfeiffern und Cytherspielern, an welche sich ein Haufe aus dem Volke in allerlei Verkleidungen muthwillig scherzend anschloß. Dann kamen die Priester, welchen ihre Bediente das Opfergeräthe nachtrugen, und endlich die Opferschlächter mit den bekränzten Opferthieren. – Es mischte sich nichts Strenges, nichts Düstres in diese Feierlichkeit. – Die Bildsäulen der Götter selber waren schön, und durch dieselben und ihre Attribute, wurde Hoheit, Macht und Würde auf mannichfaltige Weise sinnbildlich ausgedrückt. Die tanzenden Männer, Jünglinge und Knaben, welche auf eine natürliche und ungesuchte Weise das fortschreitende Alter bezeichneten, boten den Augen ein eben so schönes als bedeutendes Schauspiel dar. Das Opfergeräthe selbst, welches nachgetragen wurde, die Rauchpfannen, Opfertische und Dreifüße, machten einen schönen und mahlerischen Anblick; und die bekränzten Opferthiere vollendeten gleichsam das Gemählde, welches dieser Zug in der Einbildungskraft zurückließ. Das Ganze zusammengenommen, war ein majestätisches Bild des immer fortschreitenden Lebens, mit seinen abwechselnden ernsten und komischen Sce-nen. Nichts war darin ungöttlich, nichts wurde ausgeschlossen, was frohen Lebensgenuß gewährt, und Scherz und Lachen schloß sich in dem schönen Zuge mit an.

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Die Verzierungen

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der

Peterskirche in Rom. 5

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Was zuerst beim Eintritt in die Peterskirche den Eindruck von Größe vermindert, ist der Glanz und die Reinlichkeit, welche einem von allen Seiten, wie aus einem geschmückten Wohnzimmer entgegen strahlet; hier erscheint einem nichts Wüstes und unerreichbar Hohes, die Nettigkeit und Sauberkeit selber bringt der Einbildungskraft alles so nahe, als ob man es mit Händen greiffen und fassen könnte. Auch durchschauet man alles mit einem einzigen Blicke; nichts Winklichtes und Verborgenes läßt die Einbildungskraft weiter schreiten, als das Auge siehet; darum scheint auch bei dem ungeheuren Umfange, alles so beschränkt und nahe aneinander, als ob man von den Wänden eines angenehmen warmen Zimmers eingeschlossen würde. Kurz, einem ist wohl bei diesem Anblicke; die Höhe, Breite und Länge dieses ungeheuren Gebäudes macht nichts weniger, als einen schauerlichen Eindruck; man fühlt sich in dieser Weite gar nicht, wie verlohren, sondern von allen Seiten bequem und gemächlich eingeschlossen. Statt daß in dem gothischen Dome alles darauf angelegt ist, daß die Höhe furchtbar, die Weite wie eine Wüste erscheine, und das Ganze Schauer und Bewunderung errege, so ist hier alles darauf angelegt, bei dem erstaunlichsten Umfange, dennoch die Idee des Angenehmen, Bequemen und Wohnbaren zu erregen. Bei dem gothischen Gebäude soll das Haus einer Felsenmasse, hier soll die Felsenmasse dem Hause ähnlich sehen. Statt daß man dort durch die ungeheuren Verhältnisse gezwungen wird, mit einer Art von Entsetzen empor zu schauen, und der Geist sich unter der Masse gleichsam erdrückt fühlt, fühlt man sich hier durch einen sanften Zug emporgehoben, weil das Ebenmaaß der Verhältnisse, die man erblickt, mit dem Geiste des Menschen harmoni-

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rend und sein eignes Werk ist, worinn er sich allenthalben wieder erkennt und wieder findet, da er in dem gothischen Gebäude mit einer Art von wilder Schwärmerei sich selber in schauervollen Labyrinthen zu verlieren sucht. Hier blickt das Auge gleich beim Eintritt zu der schön gewölbten Decke empor, die mit ihrer geschmackvollen Vergoldung sich sanft dem Blicke entgegen zu senken scheinet. In der Mitte erhebt sich die Wölbung der Kuppel, welche auf dem Erdboden nicht ihres Gleichen hat, und demohngeachtet nichts weniger als einen furchtbaren Eindruck macht, sondern das Auge allmählig, durch ihre sanfte Krümmung bis zu ihrem Schlußpunkt in die Höhe zieht. Unter dieser schönen Wölbung steht der zierlich geschmückte Hochaltar unter dem vergoldeten Baldachin, welcher auf vier gewundenen bronzenen Säulen ruhet, und selbst die Höhe eines ansehnlichen Gebäudes hat, ob er gleich dem Auge nur wie eine bloße Zierde erscheint. Das schönste von der Peterskirche aber bleibt immer der Eindruck des Ganzen, wenn man seine Augen nicht auf Kleinigkeiten heftet, und sich durch die überflüßige Pracht und Verzierungen der einzelnen Theile nicht irren läßt. Denn so gewaltig ist der Eindruck dieses Ganzen, daß wenn man nur seine Augen darauf heftet, alle das Kleinliche und Spielende verschwindet, womit eine kindische Ehrfurcht es auszuschmücken suchte.

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Verzierungen

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an den

Marmorsärgen der Alten. 5

In einem Zimmer des Kapitoliums in Rom befinden sich eine Anzahl antiker Marmorsärge, an welchen sich die schöne Vorstellungsart der Alten in den reizendsten Bildern darstellt.

Die Amazonenschlacht.

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Auf dem einen dieser Särge, von parischem Marmor, ist eine Amazonenschlacht abgebildet. – Auf der Fronte des Deckels sieht man weinende Amazonen und andere, deren Arme gebunden sind. Unter den Gebeinen in diesem Sarge fand man versteinerten Balsam, und einen kleinen gold-nen Ring mit Edelgesteinen besetzt. Scheinen nicht jene Sinnbilder auf das Grabmal einer Heldin zu deuten, die vielleicht, wie Zenobia, selbst ins Treffen ging, und als ein Opfer ihres Heldenmuthes fiel, den die bildende Kunst in dem Marmor verewigte?

Der umgestürzte Terminus.

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Auf einem andern Sarge ist die Zeit abgebildet, welche die Hülle eines erblaßten Jünglings umfaßt. – Ein Terminus hinter ihr ist zu Boden gestürzt. – Diana mit der Fackel, von einem Liebesgott begleitet, steigt vom Wagen, um ihren Endymion zu suchen. – Unter diesem schönen Symbol pflegten die Alten häufig den Tod des Jünglings anzudeuten. – In dem Deckel des Sarges sind drei kleine Oefnungen, in welche man wahrscheinlich bei dem Todtenopfer den heiligen Wein ausgoß.

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Prometheus. Diesem Sarge gegenüber steht ein anderer, wo auf der rechten Seite die Sonne auf ihrem Wagen emporsteigt, und auf der linken sich niedersenkt, wo Diana, als die Göttin der Nacht, verweilt. – Prometheus bildet den Menschen aus Thon; Minerva steht ihm bei, und setzt dem Neugebildeten einen Schmetterling aufs Haupt, um gleichsam den Geist ihm einzuflößen. – Nach oben zu ist eine Gestalt, die alles genau zu beobachten, und das Schicksal des Neuerschaffenen zu überdenken scheint. Amor und Psyche umarmen sich, um auf die Vereinigung der Seele und des Körpers anzuspielen. Die Elemente unter ihren Symbolen, fachen das Leben an, und erhalten es während seiner kurzen Dauer. – Nun aber ruht schon unter dem Wagen der Diana die Hülle des neugebildeten Menschen, und der Schmetterling flieht von ihm; ein Genius mit der umgekehrten Fackel und den Kranz in der andern Hand, blickt traurig zur Erde nieder. – Die Seele, in Gestalt der Psyche, wird vom Merkur nach Elysium geleitet; und Prometheus, an dessen Leber der Geier nagt, büßt nun für seine Schöpfung des hinfälligen Menschen. – Auf dem Deckel ruht ein Jüngling, wie im sanften Schlummer, mit zwei Mohnstengeln in der Hand. – Ein Knabe hält eine Frucht in der einen und einen kleinen Vogel in der andern Hand. – Man schreibt gern diesen Sarg dem schönen Diadumenianus, einem Sohne des Kaisers Makrinus zu, der in seinem zwölften Jahre mit seinem Vater ums Leben kam.

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Die neun Musen.

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Auf noch einem andern Sarge sind in den reizendsten Stellungen die neun Musen abgebildet – auf der einen Seite ist Sokrates sitzend, und vor ihm eine verschleierte Frau, auf einen niedrigen Säulenschaft gestützt, die mit ihm zu philosophiren scheint. Auf der andern Seite ist Homer sitzend abgebildet, und vor ihm eine unverschleierte Frau, die ihm ein Volumen überreicht. Der Deckel ist, gleichsam um den Ernst zu mildern, mit scherzenden Abbildungen von Meerungeheuern, Nereiden u. s. w. rund umgeben. – Man fand diese Urne drei Meilen von Rom, auf dem Wege nach Ostia. Konnten wohl schönere Symbole den Sarg eines Weisen, eines Redners oder Dichters zieren? –

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Diana und Endymion. Auf dem letzten Sarge steigt Diana von ihrem Wagen, um den schlafenden Endymion zu besuchen; Morpheus, Amoretten und Genien, Hirten und Heerden sind umher. – Den Deckel zieren fünf abgetheilte Basreliefs. Auf dem ersten sieht man zwei Parzen, die den Lebensfaden spinnen, und Lachesis, die ihn abschneidet. Auf dem zweiten Telesphorus, den Gott der Wiedergenesung. Auf dem dritten, Pluto und Proserpina, mit dem Cerberus zu ihren Füßen. Auf dem vierten, Merkur, welcher die Seelen zur Unterwelt geleitet. Auf dem fünften, Mann und Frau sich umarmend, und auf einem Ruhebette sitzend; einen Hund zu ihren Füßen.

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Ein Leichenstein. Bei der Thür steht ein schöner Leichenstein, auf welchem sich zwei runde Höhlungen befinden, welche die Aschentöpfe des liebenden Ehepaars in sich faßten, dessen die Inschrift erwähnt. – Mit angenehmen Schauer betrat ich jedesmal dieses Zimmer, welches nach Jahrtausenden noch das heilige Andenken der Todten in schönen Symbolen aufbewahrt, und auf die süßeste Art mit den Bildern des Todes uns vertraut macht. –

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Marmornes Grabmaal zum Andenken

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des seligen

Grafen von der Mark auf

Sr. Königl. Majestät von Preußen allerhöchsten Befehl auf der Neustadt in der Dorotheenkirche zu Berlin errichtet,

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G. Schado Königl. Hofbildhauer und Rector der Akademie der schönen Künste.

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(Von diesem Kunstwerke hat der Kurfürstl. Pfalzbaiersche Hofkupferstecher Herr S i n t z e n i c h einen vortreflichen Stich in schwarzer Kunst geliefert.) Auf einem marmornen Sarkophag ist der junge Graf in einer ruhenden Stellung abgebildet. Die Brust scheint athmend, und die Stärke und Fülle seiner Glieder zeigt Leben an. Der Künstler hätte zu viele

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Schönheit aufopfern müssen, wenn er die gänzliche Erschlaffung im Tode hätte darstellen wol-len. Zu seinem Haupte liegt ein Helm; das Schwerdt entsinkt der Rechten. Beides eine Anspielung auf seine Neigung zu einer kriegerischen Laufbahn. Die reich gestickten Schuhe, und die Decke, welche über den Sarg herunter fällt, bezeichnen den hohen Stand des entschlafenen Jünglings. Der Sarg im antiken Geschmack von Schlesischen Freiburger Marmor, ruht frei auf leichten Füßen auf zwei Staffeln erhoben. Die halberhabene Arbeit darauf ist von Karrarischen Marmor inkrustirt, und stellt den Augenblick vor, wie die Göttin Minerva den Jüngling in ihre Schule der Künste und Wissenschaften aufnehmen wollte, und die Zeit ihn ihr entreißt, er sträubt sich, die Zeit aber zeigt den unterirrdischen Weg, den die abgeschiedenen Seelen nehmen müssen; auf einem dabei liegenden Schilde ist das gräfliche Wapen. Auf der rechten Seite des Sarges ist der Tod, wie ihn die Griechen abgebildet, dargestellt, ein Jüngling mit erloschner Fackel, er hält einen Kranz von Rosen, worin man einen Schmetterling bemerkt, unter welchem sich die Alten die Seele dachten. Auf der linken Seite sieht man des Todes Bruder, Morpheus, oder den Schlaf; man erkennt ihn an dem Sinnbilde des Schlafs, der Mohnstaude, welche zu seinen Füßen hervorkeimt, sein Haupt ist mit Mohnblumen gekränzt. Oben sieht man in einer Nische die drei Parzen: Lachesis hält das Buch des Verhängnisses, und scheint den Augenblick bestimmt zu haben, wo Atropos den Faden zerreißen soll. Klotho, die ihn gesponnen, sucht die Atropos abzuhalten. Das Zerreißen des Fadens deutet auf die Hinwegraffung in der Blüthe der Jugend, da nicht Alter oder Schwäche die Schuld des Todes sind. Man findet eine ähnliche Vorstellung in einem kleinen Bilde auf dem hiesigen alten Schlosse von Mich: Angelo, dessen Geschmack in der Bekleidung seiner berühmten Sybillen in der Sixtinischen Kapelle, der Künstler nachzuahmen gesucht hat, weil die Parzen in Ansehung des Hohen und Geheimnißvollen mit jenen Wesen etwas Aehnliches haben.

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Alle hieran verfertigte Bildhauer Arbeit, so wie auch die Guirlande von Eichenlaub, sind von Karrarischen Marmor. Die Stufen und der ganze Corps d’Architekture ist von Schlesischem Kauffunger Marmor, der röthlich aussieht. Die Fugen der Stücke sind alle symmetrisch gewählt. Das Frontispice ist von Schlesischem dunkelblauen Freiburger Marmor. Die Nische ist aus Priborner Marmor, woran jedoch die obere Schaale ein wegen seiner Größe und Güte besonders schätzbares Stück Marmor ist. Auf einer Tafel von schwarzem Brabanter Marmor befindet sich folgende Inschrift vom Hrn. Professor Ramler. FRID. GUILIEL. MAURIT. ALEXANDER. MARCH. COMES. NAT. D. IV. JAN. MDCCLXXIX. DENAT. D. I. AUG. MDCCLXXXVII. PATERNIS PROSECUTUS LACRIMIS EGREGIIS VIRTUTIBUS ORNATUS ARTIBUS INGENUIS MATURE INSTRUCTUS AD ALTIORA SE CONTULIT STUDIA COELITUM CHORIS IMMIXTUS.

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Friedrich Wilhelm Moritz Alexander Graf von der Mark. Gebohren den 4ten Januar 1779. Gestorben den 1. Aug. 1787. Beweint von Vaterthränen, Geschmückt mit Seelenadel Früh sich den edlen Künsten weihend, Trat er die höhere Laufbahn an, Dem Chore der Himmlischen zugesellt.

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Gewand und Faltenwurf. Apollo Musagetes

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(im Vatikan in Rom.)

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Dieser weibliche Apollo ist Harmonie und Wohllaut in seiner ganzen Stellung. – Seine Körperbiegung ist nach vorwärts, und sein Gewand wird von dem Hauch der Luft sanft zurückgeweht. – Je länger man dieß Gewand betrachtet, desto harmonischer scheinen seine Falten sich zu werfen, und gleichsam in das tönende Saitenspiel zu rauschen. – Der Mantel über dem Leibrocke vermehrt die Würde und Fülle des Ganzen. Die schrägen Parallellinien, in welchen die Falten sich zurückbiegen, und nach unten zu wie-der vorwärts treten, geben einen anschaulichen Begriff von der Einheit des Mannichfaltigen, welcher macht, daß die Harmonie der Tonkunst selber in dieser Figur verkörpert zu seyn scheint. – Auch der Ausdruck in der Miene ist wie auf erhabene Töne horchend – und der Schluß an dem Lorbeerkranze um das Haupt vollendet das Ganze in Eines, und macht gleichsam das Vollendete dieser Bildung aus, in welcher alles musikalische Bewegung ist. Denn selbst die Linie, in welcher der Arm sich emporhebt, und der Fuß vorwärts tritt; bezeichnet Takt und Rhytmus, und Ruhe und Ernst im Blick bezeichnen göttliche Hoheit.

Die tragische Muse. – 25

(im Vatikan in Rom.) Die tragische Muse tritt majestätisch und ernst einher – ihr Gewand ist unter dem Busen gegürtet, und sinkt über das durchschimmernde Knie herab. –

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Sie hält die tragische Larve in der rechten Hand, und deutet mit der linken gleichsam den Fall des Edlen an. – Wie kömmt es, daß die Falten im Gewande einen so unwiederstehlichen Reiz für das Auge, oder vielmehr für die Einbildungskraft haben? – Ist es etwa, weil sie eine gewisse Fülle und Ueberfluß bezeichnen, welche der unterliegenden Bildung gleichsam freien Spielraum läßt? – oder weil durch das Auge die Seele beschäftiget wird, die Zweck und weise Anordnung selbst in dem bemerkt, was sonst ein bloßes Spiel des Zufalls ist? – Daß gerade in dieser Stellung das Gewand so und nicht anders fallen mußte, und daß Erhabenheit und Würde nicht nur durch den Körper und seine Stellung, sondern auch durch das Gewand, das ihn umhüllt, hervorschimmert, ist ein hoher Triumph der Kunst, die auch in dem zufällig scheinenden Faltenwurf die schaffende Natur nachahmet.

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Beschreibung eines neuen Gesellschaftssaals 5

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in der ehemaligen Wohnung des Königl. Staatsministers Freiherrn von Heinitz im

Dorvilleschen Hause zu Berlin von 10

Johann Christian Genelli, Architekt.*) – – aië µoyËsai xrysaµpykew – – ÆEnneÁa thÄsiÂn aëdon UaliÆai kaiÁ teÂrciw aÆoidhÄw. HESIOD. THEOGONIA. V. 915. 916.

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Wenn der Architekt verzieren will, so muß er zu den andern bildenden Künsten seine Zuflucht nehmen. Denn die Architektur bietet nur todte Gegenstände dar, die blos dann interessiren, wenn sie in ihrer Anordnung wesentlich sind. Will er diese beleben, so muß er Sachen anbringen, die Geist und Herz beschäftigen können: Geschichten, Sinnbilder, poetische Fictionen; oder doch Darstellungen aus der überall belebten Natur. Dies sind Zierrathen für die Architektur: Säulen und Gebälke müssen da nützlich scheinen, wo sie hingeordnet sind; und können zierlich, aber nicht Zierrath seyn.

*) Diese Beschreibung ist von dem Architekten Herrn G e n e l l i selbst verfertigt.

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Dem gemäß, werden hier nur die poetischen Bilder dieses Saales erkläret, weil die Architektur desselben, die nur der Symmetrie des Raumes, der bequemen Eintheilung wegen, und gleichsam als Gerüst zu jenen angebracht ist, keiner Erklärung bedarf. Nur dieß sey beiläufig angemerkt, daß sie, nach Erforderniß des Ortes und weil sie nur in Farben ausgeführt werden sollte, sehr leicht und flach angegeben ist. In einem Raume, wo die vier Wände hinreichend zu Stützung der Decke sind, freies Säulenwerk anbringen, oder gar die Wände durchbrechen, um diesen Stützen Platz zu verschaffen, wäre ungereimt und über-flüßig, und würde in so engem Raume plump ausfallen; um so mehr, da dergleichen Gegenstände in der Mahlerei nur Einen Gesichtspunkt verstatten, außer welchem bloße Verwirrung erscheint, die durch keinen andern Reitz vergütet wird. Die Musen, die, wie Hesiod sagt, fröhliche Gelage, und das Vergnügen des Gesanges lieben, sind die ersten Vorstellungen in diesem Saale. Sie sind sitzend in Nischen, zu welchen die Gestalt des Fensters die Veranlassung gab, oben herum geordnet, wo sie von ihrer Höhe die Aufsicht über den Saal führen, und die Versammlung unter ihren göttlichen Schutz nehmen. Weil aber, nach der Einrichtung des Saals, eilf solcher Nischen angebracht werden mußten: so ist der Chor der neun Helikonischen Schwestern mit ihrer gemeinschaftlichen Mutter Mnemosyne, und Apollo, dem Herrscher, vermehrt worden; und zwar so, daß Phöbus Apollo, der mit dem harmonischen Klange seines Psalters den Tanz der Sphären leitet, und den Menschen Heil und Gedeihen bringt, grade dem Fenster gegenüber, von seinem Sitze herab gleichsam den ganzen Saal beherrschet. An den Seitenwänden ist Mnemosyne die erste, wenn man in den Saal tritt; und dann folgen ihre Töchter in der Ordnung, wie sie Hesiodus anführt. Ob sie gleich alle in ruhiger Stellung sind, so hat man doch gesucht, durch Gestalt und Geberde ihre Charaktere auszudrücken; wozu noch die Wahl der Farben in ihren Gewändern kömmt, welche von den Herkulanischen Musen entliehen sind, außer die der Euterpe, welche unter diesen verloschen, und der Mnemosyne, die unter den benannten Bildern nicht befindlich ist.

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Apollo, der stets Blühende, sitzt, auf seine Leier gestützt, halb in grünes Gewand gehüllt, und mit Lorbeern gekränzt. Mnemosyne, das Gedächtniß oder die Denkkraft, Mutter der Erfindungen, der Musen, Tochter des Himmels, und der ältern Gottheiten eine, sitzt in nachdenkender Stellung mit himmelblauem Kleide; sie ist in einen weißen Mantel ganz eingehüllt, hat das Haupt mit dem goldnen Diademe geschmückt, und wie Apollo Sohlen unter den Füßen. Klio, die Ruhm-volle, Muse der Geschichte: sitzt nachläßig, in einem Volumen lesend; sie hat ein violettes Kleid, und einen dunkelrothen Mantel, das Haupt mit Lorbeern gekränzt, und ist barfuß. Euterpe, die Ergötzende, Muse der Tonkunst: müßig sitzend mit übergeschlagenen Beinen, und ihre Flöten in den Händen; in gelbem Kleide und karmesinrothen Mantel, und mit Epheu bekränzt. Thalia, die Fröhliche, Muse der Komödie: in der einen Hand eine komische Maske, die sie betrachtet, in der andern einen Hirtenstab; in grünem Kleide mit rothem Mantel, und das Haupt mit Lorbeern bekränzt. Melpomene, die Melodische, Muse der Tragödie: mit der tragischen Maske und einer Keule; hat ein blaues Kleid und rothen Mantel, eine goldne Kopfbinde und einen Lorbeerkranz, goldne Armbänder und einen Kothurn unter dem rechten Fuß. Terpsichore, die Freundin des Tanzes: auf der Leier spielend; ihr Kleid spielt in zwei Farben, himmelblau und hellroth, und der Mantel ist blau; sie ist bekränzt, und hat Sohlen unter den Füßen. Erato, die Sängerin der Liebe: den Psalter schlagend; in rosenrothem Kleide und Mayengrünem Mantel, und mit Myrthen bekränzt. Polymnia, die Gedächtnißreiche, Muse der Fabel: den rechten Zeigefinger auf den Mund legend, zum Zeichen des verdeckten Verstandes in ihren Gesängen; in grünem Kleide und blauem Mantel, einen Lorbeerkranz auf dem Haupte, und Sohlen an den Füßen. Uranie, die Himmlische, die in den Sternen wandelt, mit der Himmelskugel; in blauem Kleide und gelbem Mantel; sie hat Schuhe an, und einen Lorbeerkranz. Kalliope, mit schöner Stimme, die Sängerin der Helden: leicht geschürzt, mit grünem Rock und weißem Mantel, einem Epheukranze, rother Kopfbinde, Ohrringen, Armbändern am Oberarm, und Sohlen an den Füßen; sie hält ein zusammengerolltes

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Volumen in der Rechten. Diese, sagt Hesiod, ist die vortreflichste: denn sie begleitet Herrscher und Helden, und bringt ihre Thaten auf die Nachwelt – und hier schließet sie den blühenden Kreis. Außer der einer jeden zukommenden Charakteristik sind noch auf den Sockeln, worauf sie sitzen, ihre griechischen Titul angebracht, die, insofern sie bei den Herkulanischen Musen angezeiget sind, nach diesen abgeschrieben worden; zu den übrigen hat man ähnliche hinzugefügt. Sie sind folgendermaßen zu ergänzen. FOIBOS. APOLLVN: Phoibus Apolloˆn – MNHMOSYNH. AIDOIH: Mnemosyne aidoiˆe: die Ehrwürdige – KLEIV. ISTORIAN; Kleio´ historian: die Geschichte – EYTERPH. AYLON: Euterpe aulon: die Flöten – UALEIA. KVMVIDIAN: Thaleia komoidian: die Komödie – MELPOMENH. TRAGVIDIAN: Melpomene Tragoidian: die Tragödie – TERCIXORH. LYRAN: Terpsichore lyran: die Leier – ERATV. CALTRIAN: Erato psaltrian: der Psalter – POLYMNIA. MYUOYS: Polymnia mythus: die Fabeln – OYRLNIH. ASTRA: Uranie astra: die Sterne – und KALLIOPH. POIHMA: Kalliope poiema: das Gedicht. Unter diesen Nischen bleiben durch die Art der Anordnung nur noch neun Felder: denn eine derselben kömmt über den Kamin, eine andre über den großen Spiegel, der zwischen beiden Thüren angebracht ist. So wie die obern Musen ihren heiligen Schutz über den Saal ausbreiten, und der Versammlung ihre erfreulichen Gaben, Ergözzung des Geistes, und die sanft vergleichende Rede, welche die Menschen in Liebe vereint, und muntre Scherze verleihen: also sollten in diesen untern Feldern mehr für den Sinn reitzende Bilder angebracht werden, die den Menschen auch an sein physisches Dasein erinnern, und ihn zum fröhlichen Genuß desselben auffordern. Hiezu ward das Bild des Komus gewählt, des Gottes der Gastereien, der Lust und Fröhlichkeit; unter dessen schwärmenden Tanze des Lebens lachendere Seite geschildert wird. Dem Unbefangenen, unbekannt mit Kummer und Druck, der des Neides Zahn nie fühlte, jeden gegenwärtigen Augenblick genoß, und den künftigen stets mit neuen Freuden herannahen sah; dem lacht die gesegnete Natur; dem ist das Leben ein jauchzender Tanz auf

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blumiger Aue. Aber wenn er angefeindet, dem Kummer und Druck unterliegt, die Gegenwart entrückt, die Zukunft ohne Hoffnung sieht; dann erst schilt der Mensch gallsüchtig die Natur und sein Daseyn. Doch letztere Darstellung durfte hier keinen Platz finden. Es ist demnach in fortschreitenden Bildern auf dunklem Grunde, die, wie die der Musen, bei der Thür anfangen, unter dem Tanze des Komus der f r ö h l i c h e G a n g d e s L e b e n s geschildert. Man fängt an mit der Vorbereitung zu diesem Tanze; und schließt mit der Ermüdung und Ruhe nach selbigem. In dem ersten Gemählde bindet sich der Gott die Sohlen unter; im zweiten windet er sich einen Kranz; im dritten zündet er seine Fackel an; im vierten füllt er sich die Schaale; im fünften tanzt er, diese in der Hand; im sechsten leert er sie tanzend; im siebenden schwärmt er Bacchisch, hoch die Fackel schwingend; im achten taumelt er nur noch ermüdet, und läßt die Fackel sinken; und im neunten ruht er mit übergeschla-genen Beinen, auf die ausgelöschte Fackel gestützt. Herder führt aus dem Philostrat einen ähnlichen ruhenden Komus an;*) und wer fühlt hierbei nicht sogleich das Bild des sanften Entschlafens nach einem schönen Genußreichen Leben? Vielleicht, dies sei im Vorbeigehen gesagt, stellen ähnliche Genien auf Römischen Grabmählern oft nichts als diesen ruhenden Komus vor. In der Anwandlung des Schlafs scheint er, wie auch Philostrat es angiebt, zu vergessen, was er in den Händen hält, und öffnet sie. Daß man ihm aber einen Schmetterling auf den Kranz gesetzt, den er in der Linken hält, soll ihn nicht zum Todesgenius umbilden; soll nur den Verstand an dies sanfte Gleichniß erinnern, daß eine Reihe von Aufmunterungen zur Freude so paßlich zu schließen scheint. Noch befinden sich zwei Gottheiten in dieser Gesellschaft, die aber nur als Nebenbegriffe zu betrachten sind; da sie zwar mit obigen verwandt sind, doch aber in die wesentliche Verbindung je-ner ersten Begriffe nicht eigentlich hingehören. Die erste ist Amor, der in der Musen Nachbarschaft wohnt. In dem mittlern Basrelief über dem *) In der Abhandlung: w i e d i e A l t e n d e n To d g e b i l d e t , im zweiten Brief.

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Spiegel ist er vorgestellt auf der Flöte spielend, und um ihn tanzen sieben Genien im Kreise; eine Anspielung auf die Pythagoräische Harmonie der Sphären. Ueber der wirklichen Thüre reitet er im Triumph auf einem Löwen, die Leier in der Hand; und ihn begleiten seine Gespielen mit den erbeuteten Waffen der mächtigen Götter. Es drückt seine Macht aus, die stolzesten Gemüther zu bändigen; und entspricht jenem griechischen Epigramm: Siehe die Liebesgötter! verwegene, hüpfende Knaben, rüsten mit Waffen sie sich, zieren mit Beute sich aus, Und es ist Götterbeute. Der schwinge den Bacchischen Thyrsus; Dieser Mavors Schild und den gefiederten Helm: Der trägt Jupiters Blitz, und der den Köcher Apoll’s; Dieser Alcides Schmuck, jener den hohen Trident. Zittert, Menschen, der Liebe; sie hat den Himmel bezwungen; Allen Unsterblichen hat Cypris die Waffen geraubt.

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Ueber der falschen Thüre ist er vorgestellt, wie er mit seinen Gespielen zwei Widder gegen einander hetzt: auf einem derselben reitet ein Amorin noch, da sein Gegner von dem andern herabgefallen ist. Amor hetzt oft die sanftesten Gemüther gegen einander. Die andere Gottheit ist Bacchus. Auf einer großen Vase, die auf dem Kamin steht, ist dessen Triumph vorgestellt. Er fährt auf einem Wagen, von einem Pardel und einem Bocke gezogen, auf denen zwei spielende junge Faunen reiten, begleitet von seinen fröhlichen Genossen. Durch die Masken am Bauche, und die Schwäne, Apollons Vögel, die oben auf dem Deckel liegen, und mit ihren Hälsen gleichsam den Griff desselben bilden, wird übrigens dies Gefäß genauer für den Ort bestimmt. Dies ist die Beschreibung der poetischen Darstellungen, mit welchen dieser Saal ausgeschmückt ist; zu welcher nur noch hinzugefügt wird, daß die Sphinx und der Greif, die über den Thüren, zu beiden Seiten der Nische Apollons sitzen, Attribute dieses Gottes sind. Sie sind die Hüter seines Heiligthums, und deuten, die Sphinx mit der Maske, welche keine theatralische ist, auf die Orakel, die in räthsel-

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hafter Dunkelheit das Schicksal verkündeten; und der Greif mit der Leier, auf die Macht der Harmonie. Die jugendlichen Figuren, die rund herum den Karnieß zu stützen scheinen, sind bloß schmückende Darstellungen aus der belebten Natur, die durch ihre Mannichfaltigkeit ergötzen: ohne andern Zweck, als der Architektur, mit welcher sie genauer verbunden sind.*)

Ein römischer Senator.*)

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Der rechte Fuß ist emporgehoben, und berührt nur mit den Zehen den Boden, indeß die Last des Körpers auf dem linken ruht. – Die Toga wirft sich mit halbrunden niedersteigenden Falten um Hüfte und Knie der linken Seite, während das rechte, vorgestreckte Bein bis an das Knie entblößt ist. – Der schräge Faltenwurf der Toga über der Brust, und die senkrechten Falten, die vom Arme hinuntersteigen, bilden einen reitzenden Gegensatz. – Besonders schön und bedeutend ist die Falte, welche am Ellenbogen die Biegung des rechten Armes bezeichnet. – Der Körperbau ist nur halb durch dies Gewand verdeckt, und schimmert halb hindurch. Das Gegeneinanderüberstehende bildet einen schönen Gegensatz – der linke Arm ist, so wie das rechte Bein, entblößt. – Der rechte Arm ist, so wie das linke Bein, bedeckt. – Der linke Arm gesenkt und ruhend, in der Hand die papierne Rolle – der rechte Arm emporgehoben, mit der Hand und dem ausgestreckten Zeigefinger den Ausdruck der Rede begleitend. – *) Was die Ausführung betrifft, so sind die Figuren sämmtlich von dem Historienmahler Herrn K a r s t e n s , die Architektur aber ist vom Herrn F e c h h e l m gemahlt: die Vase, was die Figuren anlangt, vom Hofbildhauer Herrn S c h a d o w , übrigens aber vom Herrn We r n e r , Modelleur in der Porzellainfabrick, verfertigt. *) Siehe die erste Kupfertafel.

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Das emporgehobene Gewand bezeichnet die Emporhebung des Armes und enthüllt zugleich einen Theil des Körperbaues. – Das Haupt ist natürlich umlockt; der Hals entblößt – die Tunika dicht anliegend – der Ermel deckt nur den linken Oberarm. – Die weite Toga über der Tunika deckt nur die Schulter – steigt hernieder, umschlingt die linke Hüfte, und wird vom rechten Arme wieder emporgetragen. – So wiegt sich, im schönen Wechsel, Niedersenkung und Emporsteigen gegeneinander ab. –

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Ein reichsstädtischer Bürgermeister.*)

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Das vollkommene Gegentheil von der voranstehenden Figur. – dort Anstand, Würde, Leben, Bewegung, und Leichtigkeit. – hier Plumpheit, Steifheit; schwere unbehülfliche Masse. – Den Kopf entstellt: Das hangende Unterkinn; Die aufgedunsene Wange; Die fast verquollenen Augen; Der ungeheure Wulst von erborgten Haaren, den Kopf verbergend, auf beiden Schultern ru-hend, mit den herabhangenden Zipfeln auf beiden Seiten; Der spitze Hut, der die Scheitel deckt; Der steife Kragen, der den Hals umschließt; und auf welchem das breite Kinn mit seiner Unterlage ruhet. – Statt der leichten Tunika, umhüllt den Leib und deckt die Schenkel die ungeheure Doppelweste, mit den steifen Schößen, mit Knopflöchern und mit Knöpfen von oben bis unten ausstaffiert. –

*) Siehe die zweite Kupfertafel.

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Auf den Schultern ruhet, statt der vollen und schönen natürlich faltenreichen Toga, der kurze Mantel, der, wie von Holz geformt, über dem Knie und Rockschooß sich in gerader Linie abschneidet. – Die Kniegürtel über den feisten Waden schnüren das Beingewand zusammen. – Auf den ganz gleichen Füßen steht die schwere Körpermasse, wie auf zwei bauchichte Säulen gestützt. – Der Fuß ist in den geründeten unförmlichen dicken Schuh gepreßt, worin die kleine Schnalle, ihn, wie ein Vorlegeschloß, verwahrt. – Die Hände sind vor der Brust zusammen, auf dem Bauche ruhend – die linke hält ein Papier, indeß die rechte phlegmatisch worauf deutet. – Statt daß in der voranstehenden Figur der ausgestreckte Zeigefinger der rechten Hand den Ausdruck der beweisenden Rede bedeutend und schön begleitet, ist hier die Bewegung der Hand mit der Miene des Gesichts vollkommen übereinstimmend: Phlegmatisch kalt und stolz befehlend. – –

Eine römische Matrone.*) 20

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Ernst und sittsam senkt sich die Tunika der Matrone bis auf die Füße herab. – Die Toga über der Tunika wird von dem linken Arme emporgetragen, indeß die rechte sich niedersenkt, und auf dem fallenden Gewande ruht, das, über die Tunika hinaufgezogen, in seinem sanften Fall sich ründet. – Ueber dem linken Fuße steigt die emporgezogene Toga mit schrägen Faltenwurf in die Höhe. – Hier ist nichts schrof abgeschnittnes, sondern lauter allmälige Uebergänge, und sanftes Ineinanderfließen.

*) Siehe die dritte Kupfertafel.

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Das Gewand, welches sich von oben bis unten niedersenkt, bildet ein u n u n t e r b r o c h e n e s G a n z e . – Der Wurf der Toga über die Schulter bezeichnet mit drei halbverlohrnen Linien die sanfte Ründung. – Die Senkung und Erhebung des Gewandes, das um den Körper natürlich fällt, und nirgends z u g e n a u a n p a s s e n d und a n g e m e s s e n ist, giebt der ganzen Figur ein harmonisches, edles und volles Ansehen, wodurch sie erst ein würdiger Gegenstand für die bildende Kunst wird.

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Eine Prinzessin von Parma.*)

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Was in der voranstehenden Figur sanft geründet ist, das ist hier scharf und eckigt. – Der Wulst auf den Schultern verhüllt und entstellt den Körperbau, den dort der schöne und natürliche Faltenwurf bezeichnet. – Statt daß sich dort das Gewand von oben bis unten niedersenkt, und ein ununterbrochenes Ganze bildet, schneidet es hier sich um die Hüfte ab, nimmt nach unten wie eine Glocke zu, und spitzt sich nach oben bis zum Halse, den unter dem Kinn eine steife Binde umschließt. – Auch hier steigt ein weites Gewand, das Falten wirft, von der Hüfte nieder; nur daß es sich über den Füßen in zu g e r a d e r L i n i e abschnei-det, statt daß dort die Toga sich schräg in die Höhe zieht. – Ein Theil des Gewandes deckt bei der voranstehenden Figur, das Haupt, und senkt sich in sanften Falten nieder, statt daß hier der abgesonderte dichtanliegende Hauptschmuck einen steifen gezwungenen Umriß bildet. Die Kleidung von der Hüfte an sondert sich – der Leib ist dicht umschränkt. –

*) Siehe die vierte Kupfertafel.

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Das flatternde Gewand auf dem Rücken vereinigt gewissermaßen wieder das getrennte Ganze. – Das zu fest anliegende, genau angemessene, und den einzelnen Theilen des Körpers b e s o n d e r s anpassende, ist der Charakter der gothischen Kleidung. – Die steife Binde um den Hals; der dicht anliegende Schuh um den Fuß; der enge Strumpf um die Wade, die Schnürbrust um die Hüften: Das leichte, lockere, flatternde, den Körper sanft Umhüllende, ist schön und geschmackvoll, und bezeichnet das grichische und römische Gewand.

Durchbrochene Arbeit.

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Eine Spielart des Geschmacks, welche sich in der durchbrochenen Arbeit äußert, erstreckt sich von dem Münster in Strasburg, bis auf die Schnalle am Schuh, und den stählernen Knopf am Kleide. – Durch die Durchbrechung der harten Masse, giebt man dem stählernen Knopf das Ansehn des zierlich Ausgearbeiteten. – Dies ist nun freilich wohl kein Verdienst, weil es zu dem Endzwecke des Knopfs, als Knopf, nichts beiträgt, eben so wenig, wie die Durchbrechung an dem gothischen Gebäude auf die Bequemlichkeit und wahre Zierde des Hauses, als Haus, abzweckt. Freilich ließe sich bei dem gothischen Thurme für die Durchbrechung wohl ein Grund angeben: weil nehmlich die Höhe des Thurms an sich schon zu seinem Umfange ein unpassendes Verhältniß hat, so muß das Ungeheure durch den Begriff der L e i c h t i g k e i t gemildert werden, womit die abentheuerliche Masse in die Luft empor steigt, und durch ihre eigene Last nicht niedergedrückt erscheint. Der Schnalle am Schuh, dem stählernen Knopf am Kleide giebt die Durchbrechung das Ansehn von Zierlichkeit und Zartheit, womit die Vorstellung des Leichtzerbrechlichen verknüpft ist, die mit der harten Masse auf eine angenehme Weise kontrastirt.

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Man kann auch an diesen Spielarten des Geschmacks wohl abwechselnd Vergnügen finden, wenn durch die Betrachtung solider Massen das Auge gesättigt ist. –

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Das Geschmacksurtheil. 〈S. 86,31–87,28 im vorliegenden Band.〉

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Wie kann der Nationalgeschmack durch die Nachahmung der fremden Werke, aus der alten sowohl als neuern Litteratur, entwickelt und vervollkommnet werden? 5

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Unter Nationalgeschmack denken wir uns g e w ö h n l i c h die besondre Art, das Schöne zu empfinden, wodurch sich eine Nation von der andern unterscheidet, so daß man an den Kunstwerken, die sie in jeder Art hervorbringt, einen ganz eigenthümlichen Karakter bemerkt, und z. B. sogleich beim ersten Anblick sagen kann: das ist Egyptisch, Etrurisch, Chinesisch, Gothisch, u. s. w. Das Wesen des Nationalgeschmacks besteht also eigentlich darinn, daß er immer unvermischt geblieben, und sich bloß aus und in sich selbst entwickelt, und i n s e i n e r A r t vervollkommnet habe. Der Nationalgeschmack kann und muß daher, seiner Natur nach, durch die Nachahmung von etwas Fremden weder weiter entwickelt noch vervollkommnet werden, wenn er das, was er ist, Nationalgeschmack, bleiben soll. Nationalgeschmack scheint also hier in dem Sinn genommen zu seyn, daß bloß der Geschmack einer Nation überhaupt, oder ihre Fähigkeit, das Schöne zu empfinden, darunter verstanden werde; und diese kann denn freilich, obgleich auch erst mittelbar, durch Nachahmung des Fremden, im rechten Sinn des Worts, weiter entwickelt und vervollkommnet werden; – weil sie entweder noch keinen festen und eigenthümlichen Karakter hat, oder, wenn sie ihn hatte, freiwillig darauf Verzicht that; wie dieß denn der Fall bei den meisten Europäischen Nationen ist, welche eben durch diese freiwillige Aufopferung ihres ehemaligen eigentlichen Nationalgeschmacks, jeder höhern Art von Bildung und Vervollkommnung, in ihre Empfindungsfähigkeit für das Schöne, den Eingang eröfnet haben. Nun zerfällt aber wiederum der verfeinerte Theil der Nation, welcher sich ausschließend mit den Werken der Litteratur beschäftigt, natürlicher Weise in die hervorbringende und genießende Klasse, wovon sich die eine thätig, die andre leidend verhält.

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Wer zu der hervorbringenden Klasse gehört, muß Genie und Geschmack zugleich, wer zu der genießenden gehört, darf nur Geschmack, oder die Fähigkeit haben, das von dem schaffenden Genie hervorgebrachte Schöne, gehörig zu empfinden. Für diesen genießenden Theil der Nation bedarf es nun, um seine Empfindungsfähigkeit für das Schöne zu entwickeln, und zu vervollkommnen, eigentlich weiter nichts, als der bloßen L e k t ü r e der vortreflichsten Werke der fremden und alten Litteratur, oder solcher vortreflicher Nachahmungen von diesen Werken, welche die Stelle derselben ersetzen können. Faßte also die Frage weiter nichts in sich, als, wie der Geschmack einer Nation, oder ihre bloße Empfindungsfähigkeit für das Schöne, durch die Nachahmung der fremden Werke aus der alten sowohl als neuern Litteratur entwickelt und vervollkommnet werden könne? – so wäre darauf keine andre, als die ganz simple Antwort: daß der Geschmack einer Nation durch vortrefli-che Nachahmungen von vortreflichen Werken aus der alten und neuern Litteratur alsdann entwickelt und vervollkommnet werden könne, wenn sie solche Nachahmungen, deren Daseyn schon vorausgesetzt wird, fleißig lieset. Weil dieses nun aber keiner Beantwortung bedürfte, so scheint es wiederum, als sey in der Preisfrage unter Geschmack zugleich das Genie, als die Hervorbringungskraft des Schönen, mit verstanden, durch dessen vorhergegangene Entwickelung, indem es das empfundne Vortrefliche durch die Nachahmung zu erreichen strebt, alsdann nachher auch, vermittelst der Lektüre, der Geschmack der Nation sich von selbst entwickeln und bilden muß. Die Frage wäre also nun: wie das Genie zu Werke gehe oder zu Werke gehen müsse, um von den vortreflichsten Werken der fremden und alten Litteratur solche vortrefliche Nachahmungen hervorzubringen, die mit ihren Originalen selbst um den Preis wetteifern, und durch deren Verbreitung der Geschmack der Nation zugleich kann entwickelt und gebildet werden. Da aber das Genie immer selbst am besten weiß, wie es bey dem, was es hervorbringt, zu Werke geht und zu Werke gehen müsse; so

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würde die Beantwortung dieser Frage, wenn sie auch beantwortet werden könnte, für das Genie offenbar ohne Nutzen, und für den bloß genießenden Theil, den die Entstehung des Vortreflichen, das er genießt, nicht kümmert, überflüßig, und also die ganze Frage überhaupt der Mühe der Beantwortung nicht zu verlohnen scheinen; wenn es nicht noch einen dritten Theil der Nation gäbe, der zwischen der hervorbringenden und bloß genießenden Klasse in der Mitte steht, und von dieser zu jener gleichsam den Übergang macht. – Dieß ist der b e t r a c h t e n d e oder beschauende Theil, der weder bloß genießt, noch eigentliche Hervorbringungskraft besitzt, sondern sich für den Mangel derselben dadurch schadlos hält, daß er der Hervorbringung des Schönen in ihren geheimen Wegen, und der Empfindung des Schönen in ihren geheimsten Gängen nachspähet. In diesem ruhig betrachtenden oder beschauenden Theile knüpft sich eigentlich das genauere Band zwischen der hervorbringenden und genießenden Klasse, weil Schein und Wiederschein hier gleichsam in einem neuen Brennpunkte zusammentreffen. Für diesen Theil könnte also der Versuch einer Beantwortung der aufgeworfnen Frage nicht nur selbst eine angenehme Beschäftigung des Geistes seyn, sondern durch ihn auch mittelbar der hervorbringenden sowohl, als bloß genießenden Klasse, wichtig werden, weil das Genie eben so gern erkannt, als der Geschmack gerechtfertigt zu seyn wünscht. Allein auch hier müßte die Beantwortung der Frage sich bloß auf das Historische, und, wo sie darüber hinausginge, auf das Negative beschränken; weil das eigentlich Positive, so wie bey allen Werken des Genies, auch bey den genievollen Nachahmungen des Vortreflichen in jeder Art, auf das D e t a i l der wirklichen Ausführung ankommt, welches stets ein Geheimniß bleibt, das nur dem Besitzer nützt, und mitgetheilt nichts fruchten würde; oder man müßte denn glauben, daß eine allgemeine Formel zu erfinden möglich sey, wodurch sich jede schwere Aufgabe zu einem hervorzubringenden vortreflichen Kunstwerke, wie ein mathematisches Problem, auflöste.

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Der Geschmack bildet sich auch, selbst bey der Nachahmung des Fremden, eigentlich immer durch sich selbst. Denn die Wahl des Schö-nen, das nachgeahmt werden soll, hängt ja von der Vorliebe und eigenthümlichen Gemüthsstimmung des nachahmenden Genies ab: – daß es daher thöricht und vermessen seyn würde, wenn jemand auftreten, und einer Nation vorschreiben wollte, nach welchen Regeln sich ihr bis jetzt noch unentwickelter Geschmack in einem gewissen Zeitraume entwickeln und bilden solle. Wenn er sich aber gebildet hat, so kann wohl einer einmal einen Überblick auf die allmähligen Fortschritte seiner Bildung werfen, und dabey sein Nachdenken üben, indem er allerley Betrachtungen anstellt, wie unter andern Umständen der Geschmack einer Nation sich noch eher und leichter hätte entwickeln können; was der Vervollkommnung desselben vorzüglich geschadet und genutzt habe u. s. w. Die Frage also: wie der Geschmack einer Nation durch die Nachahmung des Fremden entwickelt und vervollkommnet werden k ö n n e ? müßte sich zuerst immer wieder in die verwandeln: wie derselbe durch die Nachahmung des Fremden w i r k l i c h entwickelt und gebildet w o r d e n s e y ? – so wie er es nun wirklich geworden ist, kann er es freylich werden; allein er kann es auch noch auf tausend andre Arten, die niemand vorher bestimmen kann. Es käme also, um die Frage nicht bloß historisch zu beantworten, sondern über diesen Gegenstand zugleich sein Nachdenken zu üben, darauf an, einen allgemeinen Begriff aufzusuchen, worin alle die verschiednen Arten der Geschmacksentwickelung durch die Nachahmung des Fremden nothwendig zusammentreffen müßten; und dieß wäre denn freylich kein andrer, als der Begriff von der Nachahmung selbst, dessen genauere Auseinandersetzung hier erfordert würde. Nun muß aber freylich der Begriff von der Nachahmung, wenn er lebendig und wahr seyn soll, nothwendig aus dem Begriff von der wirklichen Handlung des Nachahmens selbst entstanden seyn; und wir haben doch bey der Betrachtung eines vortreflichen Werks, das durch die Nachahmung entstanden ist, nur das Resultat, aber nicht

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die Nachahmung selbst vor Augen; weil diese nothwendig in dem Innersten der Seele dessen, der das Werk hervorbringt, betrachtet werden müßte. Wäre dieß nun unsre eigne Seele, so würden wir uns gedrungen fühlen, statt der Antwort auf die Frage, w i e ein solches Werk hervorge-bracht werden könnte? gerade das Werk selbst zu liefern; oder vielmehr der lebendige Begriff von unsrer eignen nachahmenden Hervorbringungskraft würde sich in dem hervorzubringenden Werke selbst verlieren, und mit ihm eins werden.

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Schriften zum Streit mit Joachim Heinrich Campe 〈Öffentliche Erklärung vom 2. Mai 1789〉 555

Herr Campe in Braunschweig nöthigt mich dazu, über mein Verhältniß mit ihm, als Gelehrten und Buchhändler, mich öffentlich zu erklären. Ich hatte, ehe ich im J. 1786 nach Italien reiste, mit ihm contrahirt, ein Werk über die römischen Alterthümer, nebst einigen andern Arbeiten in seinem Verlage herauszugeben. Noch während meinem Aufenthalt in Rom schickte ich ihm eine kleine Schrift unter dem Titel: ü b e r d i e b i l d e n d e N a c h a h m u n g d e s S c h ö n e n , zu, mit dem Verlangen, dieselbe als eine Vorläuferin meiner übrigen Schriften, die in seinem Verlage herauskommen würden, drucken zu lassen. Herr Campe las diese Schrift, ehe sie gedruckt ward, und fand sie r e i f und d u r c h d a c h t ; sobald sie aber gedruckt und verlegt war, und ihm auf der Michaelismesse nicht gleich wieder baaren Gewinn einbrachte, fand er sie p h a n t a s t i s c h . Es verlohnt sich hier wohl der Mühe, folgende beide Urtheile eines und eben desselben Mannes neben einander zu stellen: Herr Campe, der Gelehrte, schrieb mir am 25sten Aug. 1788 nach Rom: »Ihre Abhandlung scheint mir sehr g e d a c h t zu seyn, und eine R e i f e zu haben, die noch wohl keine Ihrer frühern Schriften hatte. Vielleicht mache ich eine kleine Vorrede dazu, um dieß mein Urtheil ö f f e n t l i c h zu sagen.«

Herr Campe, der Buchh ä n d l e r , schrieb mir am 3ten Decbr. 1788. »Ihre Abhandlung über das Schöne hat gar kein Glück gemacht; die Ursache liegt in dem eigenthümlichen Ihrer p h a n t a s i r e n d e n Philosophie, wobey Ihnen wenig Menschen folgen können, noch weniger folgen mögen. Wird Ihr Buch über die Alterthümer dasselbe Gepräge bekommen, so wird es sicher auch das nemliche Schicksal haben.«

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In einem andern Briefe schrieb mir Hr. Campe wieder: »Wenn Sie eine italienische Sprachlehre nach dem Muster Ihrer englischen schrieben, so glaube ich, daß dieselbe e i n i g e r m a ß e n wieder einbringen würde, w a s i c h a n d e n A n t i q u i t ä t e n w a h r s c h e i n lich verlieren werde.« Derjenige müßte nun kein Gefühl von Ehre haben, und weder auf sich selbst noch seine Arbeiten den mindesten Werth setzen, der den Verlag seiner Schriften in den Händen eines Mannes ließe, welcher von diesen Schriften selbst die verächtlichste Meynung äußert, und sein Urtheil über Werke des Geistes nicht bloß als Kaufmann, sondern auch als D e n k e r , nach dem Gelde umstimmt, was sie ihm die erste Messe unmittelbar in seinen Kasten bringen. Ich habe daher nach den obigen Aeußerungen des Hrn. Campe ihm das mir vorgeschossene Geld mit den Zinsen baar zurück erstattet, und den Verlag jener Schriften einer hiesigen Buchhandlung übertragen; weil derjenige, welcher den Werth von einem Produkt des Geistes, das er der Welt liefert, zuerst nach dem Nutzen abmißt, den es ihm selbst unmittelbar einbringt, nicht mit Geistesproducten, sondern mit der seinen Ohren am angenehmsten klingenden Münze und wuchernden Zinsen wieder bezahlt zu werden verdient. Diese Gesinnung des Herrn Campe, nach welcher er alle wahren Grundsätze vom Schönen und Edlen, das geisterhebende Studium der Alten, alles was nicht u n m i t t e l b a r n ü t z l i c h , und vorzüglich ihm selber nützlich ist, gern verdrängen möchte – das ist es, was mich früher oder später mit ihm entzweyen mußte, weil es mich und meine Arbeiten selbst sowohl, als meine Grundsätze trifft, womit die seinigen freylich nicht bestehen können, und die er eben deswegen gern in das Reich der Phantasien verweisen möchte. Da nun Herr Campe, nachdem er den von mir ihm baar zurück erstatteten Geldvorschuß mit den Zinsen angenommen hat, demohnerachtet die von ihm verlangte Quittung mir verweigert, und statt dessen fortfährt, mich mit unwürdigen Schmähungen in seinen Briefen zu überhäufen, so bin ich durch diese Verweigerung und durch diese Schmähungen genöthigt worden, mich aus den oben angeführten Gründen ö f f e n t l i c h v o n i h m l o ß z u s a g e n , weil ich

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von ihm selbst nichts Handschriftliches habe, wodurch ich gegen seine künftigen Schmähungen und Beschuldigungen gesichert bin. Berlin, den 2ten May 1789. Moritz.

Ueber

eine Schrift des

Herrn Schulrath Campe, 5

und über

die Rechte des

Schriftstellers und Buchhändlers.

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Von

Karl Philipp Moritz.

Berlin, 1789. bei Friedrich Maurer.

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H e r r C a m p e behauptet in seiner Schrift, betitelt: M o r i t z , e i n abgenöthigter trauriger Beitrag zur Erfahrungsseel e n k u n d e , ich sey durch sein Betragen gegen mich nicht berechtiget gewesen, meinen Kontrakt mit ihm aufzuheben. Mein Kontrakt mit ihm lautete vorzüglich auf ein Werk über die römischen Alterthümer, das ich ausdrücklich n a c h m e i n e r e i g e n e n I d e e , keinesweges aber nach seiner Vorschrift auszuarbeiten versprach. Nun betrug sich Herr Campe gegen mich, wie folget, und wie ich dies mit seinen eigenhändigen Briefen beweisen kann: E r d r ä n g t e m i c h z u w i e d e r h o l t e n m a l e n , b e i d e r Ve r f e r t i g u n g m e i n e s We r k s ü b e r d i e A l t e r t h ü m e r , s c h o n i m v o r a u s a u f d i e S c h a d l o s h a l t u n g f ü r d e n Ve r l u s t z u d e n k e n , d e n e r d u r c h d i e s We r k l e i d e n w ü r d e , w e n n i c h e s n a c h m e i n e r I d e e , u n d n i c h t n a c h s e i n e r Vo r s c h r i f t ausarbeitete; denn es würde zu Makulatur werden, w e n n e s von meiner Art Philosophie, u n d n i c h t v i e l m e h r s c h l i c h t e h i s t o r i s c h e D a r s t e l l u n g e n t h i e l t e ! Nach dieser wiederholten Aeußerung des Herrn Campe schickte ich ihm das mir nach und nach vorgeschossene Geld mit den vollen Zinsen baar wieder zurück, und gab das für ihn bestimmte noch nicht vollendete Werk einer hiesigen Buchhandlung in Verlag. Wer hat nun den Kontrakt gebrochen, ich oder er? – Wenn der Buchhändler den Schriftsteller wiederholentlich drängt, entweder sein Werk nach der Vorschrift des Buchhändlers auszuarbeiten, oder auf die Schadloshaltung für den Verlust zu denken, den der Buchhändler durch dies Werk zu leiden vorgiebt; macht er dann nicht eben dadurch dem Schriftsteller die Verfertigung seines Werks unmöglich, der nun schon während der Ausarbeitung seine Ideen von dem Werke abziehen, und sie auf die Schadloshaltung für das Werk richten muß?

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Oder kann der Schriftsteller sich des Gedankens an diese dringend gemachte Schadloshaltung erwehren; und muß ihm nicht bei jeder Zeile, die er schreibt, der Schadloshaltung fordernde, schon im Voraus über Verlust klagende Buchhändler, und das ganze herabwürdigende Betragen dieses Buchhändlers einfallen, der ihn wie einen gedungenen Tagelöhner betrachtet und behandelt, und geflissentlich ihm den Muth und die Heiterkeit des Geistes zu benehmen sucht, welche dem Schriftsteller unentbehrlich ist, dessen Werk seine ganze Denkkraft erfordert; und wenn es nicht mit Begeisterung für den Gegenstand von ihm hinausgeführt werden kann, ihm unter den Händen misrathen und in jeder Zeile sich selbst wieder vernichten muß? Das Gefühl des geringsten Tagelöhners, der sich von seiner Hände Arbeit nährt, würde sich empören, wenn man ihm täglich wiederholte, daß man durch seine Arbeit Schaden litte; und doch bleibt dieser auch bei der unwürdigsten Behandlung noch zur Arbeit fähig, weil die Herabwürdigung zwar seinen Muth darniederschlagen, aber seinen Arm nicht lähmen kann – er behält zu der ihm angewiesenen Thätigkeit doch immer noch das nothwendige Werkzeug frei. – Wo nun aber statt des arbeitgeübten Arms das Nachdenken und die Empfindung selbst in ihrem zartesten Gewebe zum unmittelbaren Werkzeuge der Thätigkeit wird, da trift ja die Herabwürdigung das Werkzeug selber, womit gewirkt werden soll, und das nun weiter keine Unterlage hat, auf die es sich stützen kann. – Dies ist der Fall des Schriftstellers, und dieser sollte seinen Kontrakt nicht als aufgehoben betrachten dürfen, wenn der Buchhändler von ihm verlangt, daß er sein Werk nun nicht mehr nach seinen eigenen Ideen, sondern nach der Vorschrift des Buchhändlers ausarbeiten, wo nicht, auf die Schadloshaltung für den Verlust bedacht seyn solle, den der Buchhändler durch dies Werk zu leiden vorgiebt. Es sollte dem Buchhändler frei stehen, den Schriftsteller, dessen Kontrakt nach einer solchen Erklärung von Seiten des Buchhändlers sich von selbst aufhebt, öffentlich der Treulosigkeit und Wortbrüchigkeit zu beschuldigen? Nun behauptet aber Herr Campe in seiner Schrift S. 26: d a ß i c h einen so zarten schriftstellerischen Ehrpunkt nur af-

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fektirt haben könne, weil er mir, ehe er sich über meine Schriften erkläret, öfter geschrieben, daß ich ihn mit Unwahrheiten hintergangen, ich mich aber durch diese Beschuldigungen niemals für beleidigt erkläret h a b e . Wenn Herr Campe gerechte Beschuldigungen gegen mich hat, warum behauptet er denn gerade in diesem wichtigsten Punkte eine U n w a h r h e i t , die ich ihm durch die ununterbrochene Folge seiner Briefe an mich geradezu wiederlegen kann? – Herr Campe hat mir v o r der Aufhebung meiner Verbindung mit ihm niemals geschrieben, daß ich ihn hintergangen habe, oder sonst irgend eine Schmähung wodurch meine Ehre gekränkt gewesen wäre in seinen Briefen gegen mich geäussert; n a c h d e m aber durch seine Erklärung über meine Schriften meine Verbindung mit ihm sich von selbst aufhob, hat er mich freilich in seinen Briefen mit Schmähungen überhäuft, worüber ich mich öffentlich beklagt habe. – Um also nun zu beweisen, daß ich kein moralisches Ehrgefühl besitze, und daher auch kein schriftstellerisches Ehrgefühl besitzen könne, giebt sich Herr Campe selber Schmähungen Schuld, von denen er mit Unwahrheit behauptet, daß er sie v o r der Aufhebung meiner Verbindung mit ihm in seinen Briefen gegen mich ausgestoßen habe. Die ununterbrochene Folge seiner vorigen Briefe an mich wird gegen diese Beschuldigung zeugen, die er sich selber macht, um mir mein moralisches Ehrgefühl abzusprechen. Er hat freilich Mißtrauen, aber nie mit der geringsten Schmähung begleitet, gegen mich geäußert, und dieß Mißtrauen, wie die Folge seiner Briefe beweißt, jedesmal selbst wieder zurückgenommen. Harte und bedrückende Sachen schrieb Herr Campe mir während meiner Verbindung mit ihm freilich zum öftern, aber niemals Schmähungen. Ich hatte ihm kurz nach meiner Ankunft in Rom eine Probe von meiner Reisebeschreibung zugeschickt, mit der ich bald nachher selbst unzufrieden war, und ihn in einem zweiten Briefe bat, er möchte diese Probe unterdrücken, und mich überhaupt mit der Reisebeschreibung nicht zu sehr übereilen, damit es ein solides und bleibendes Werk würde. – Ehe nun Herr Campe diesen zweiten Brief von mir

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erhielt, schrieb er mir am 15. Jenner folgende zwar harten aber doch nicht schmähenden, nicht einmal unfreundschaftlichen Worte: A l les, mein lieber Freund, kömmt jetzt darauf an, daß das Erste, was von Ihnen erscheinen wird, etwas recht D u r c h d a c h t e s u n d R e i f e s , quoad stilum et materiam s e y , s o n s t ist es mit Ihrer ganzen Reiseunternehmung wahrlich nichts! also lieber etwas langsamer, und um so viel bess e r g e a r b e i t e t . Und nachdem nun Herr Campe meinen zweiten Brief erhalten hatte, schrieb er mir am 4. Merz wieder: I c h b a t S i e in meinem letztern, sich in Ansehung der Reisebeschreibung nicht zu übereilen, weil ich lieber warten, als Schuld daran seyn will, daß Sie unserm Publikum mißfielen. Nun freue ich mich, aus Ihrem letztern gesehen zu haben, daß Sie von selbst auf den nehmlichen G e d a n k e n g e k o m m e n s i n d . – Herr Campe schrieb mir ja also damals nicht, daß ich ihn durch die verzögerte Uebersendung des Manuscripts zu meiner Reisebeschreibung h i n t e r g a n g e n h a b e , sondern giebt zu verstehen, daß er das, was er jetzt erst in seiner Schrift behauptet, auch damals an mich geschrieben habe, blos um seine Behauptung zu beweisen, daß ich den s c h r i f t s t e l l e r i s c h e n E h r p u n k t nur affektirt haben könne, weil ich im Stande gewesen sei, solche Schmähungen, als er mir geschrieben zu haben vorgiebt, geduldig von ihm hinzunehmen. Herr Campe schrieb mir jene Worte: Das Erste, was von mir erschiene, müßte nothwendig e t w a s r e c h t D u r c h d a c h t e s u n d R e i f e s quoad stilum et materiam s e y n , s o n s t w ä r e e s m i t m e i n e r g a n z e n R e i s e u n t e r n e h m u n g n i c h t s ! in einem Briefe, worin er mir zugleich sein Beileid über meinen Armbruch bezeugte, von welchem ich damals noch nicht wieder hergestellt war. Gleich nach meiner Wiederherstellung machte ich mich wieder an die Arbeit, und schrieb Herrn Campe, in acht Tagen würde ich Manuscript zu der Reisebeschreibung schicken. Nach Verlauf der acht Tage war ich nun wirklich im Begrif, das Manuscript abzusenden, ward aber beim Durchlesen desselben unzufrieden mit meiner Arbeit, die doch nun einmal etwas

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Reifes und Durchdachtes quoad stilum et materiam seyn sollte, und behielt sie zurück. Daß nun Herr Campe d i e s e Z u r ü c k b e h a l t u n g meines Manuscripts damals keinesweges für eine Hintergehung gehalten habe, erhellet daraus, daß er mir am 21. Merz schrieb: Ich will Sie nicht drän- gen, mein lieber Freund! ich will lieber warten, als Schuld daran seyn, daß Sie sich übereilen und dann mit Ihrer Arbeit keine Ehre einl e g e n . In einem andern Briefe, vom 18. Februar hatte mir Herr Campe schon geschrieben: D i e R e i s e b e s c h r e i b u n g k ö n n e d o c h z u r O s t e r m e s s e n i c h t m e h r g e d r u c k t w e r d e n , und eben dieser Brief enthielt folgende Stelle, w e n n S i e k ü n f t i g e s F r ü h j a h r m e i n S c h l o ß z i m m e r i n Wo l f e n b ü t t e l b e w o h nen, so werden wir einander um so viel näher seyn, und manches mit einander abhandeln und unternehmen k ö n n e n . So schreibt man doch wahrlich an keinen, den man beschuldigt, daß man von ihm hintergangen sey. – Ist denn nun dadurch daß Herr Campe durch seine Erklärung über meine Schriften seinen Kontrakt mit mir aufgehoben, dasjenige zur Hintergehung geworden, was vorher nicht Hintergehung war? Und wenn ich ihn durch die Uebersendung meines Manuscripts, mit dem ich selbst unzufrieden war, nicht hintergehen wollte, folgt denn daraus, daß ich den schriftstellerischen Ehrpunkt, durch dessen Verletzung meine Verbindung mit ihm sich aufhob, affektirt habe? – Alles beruhte ja nun darauf, daß ich ihm etwas lieferte, das der Mühe des Wartens verlohnte, und dem Stil sowohl als dem Inhalte nach völlig reif und durchdacht war. – Wenn also Herr Campe gerechte Beschuldigungen gegen mich hat, warum dichtet er sich denn selbst eine Beschuldigung gegen mich an, wovon seine eigenen Briefe offenbar zeugen, daß er mir sie nie wirklich gemacht habe? – Herr Campe will aber einmal beweisen, daß ich kein moralisches und folglich auch kein schriftstellerisches Ehrgefühl besitze, und dichtet daher sich eine neue Beschuldigung gegen mich an, indem er in seiner Schrift S. 8 behauptet: I c h h a b e n a c h m e i nem Armbruch ein Geschenk von meinen Freunden zu Berlin, ohne zu erröthen, angenommen, weil ich das

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von ihm geborgte Kapital durch Arbeit nicht wieder a b z u t r a g e n L u s t g e h a b t h a b e . So schreibt Herr Campe jetzt in seiner Schrift, und damals schrieb er mir am 18. Februar und 4. Merz 1787: E r h a b e m i t Ve r g n ü g e n g e h ö r t , d a ß m e i n e B e r l i n e r Freunde m i r z w e i h u n d e r t T h a l e r ü b e r s a n d t h ä t t e n , diese müßten jetzt nothwendig in meinen Händen s e y n , s o n s t w ü r d e e r m i r e t w a s ex propriis ü b e r m a c h e n , s o wenig er es auch jetzt übrig habe. Glaubte Herr Campe nun damals wirklich, daß ich habe e r r ö t h e n müssen, dies Geschenk anzunehmen, so konnte ihm ja die Nachricht davon kein Vergnügen erwecken, und er mußte sich auch diesen Umstand nicht zu Nutzen machen, um mit seinen Vorschüssen auf einmal inne zu halten, sondern mir vielmehr sogleich etwas ex propriis überschicken, um mich nicht in die Verlegenheit zu setzen, jenes Geldgeschenk, über dessen Annahme ich seiner Meinung nach erröthen mußte, doch nun annehmen zu müssen. – Daß ich aber nicht Ursach hatte über dieß Geschenk zu erröthen, davon führe ich die edelmüthige Art zum Beweise an, womit es mir von dem Königlichen Bibliothekarius Herrn Biester mit folgenden Zeilen übersandt wurde: E s i s t k e i n e S c h a n d e u n g l ü c k l i c h u n d k r a n k g e w e sen zu seyn; alle Hiezubeitragende sind Leute von Stande und Ansehen, die keinen andern Dank verlangen, als das eigene Bewußtseyn, einem Landsmanne in der Fremde geholfen zu haben. Lieb soll es mir und uns allen seyn, wenn das Geld Sie schon völlig gesund trift, und Ihnen zur nützlichen Erfüllung des Zwecks Ihrer R e i s e d i e n e n k a n n . Auf diese edelmüthige Weise und zu diesem Zweck übermachte man mir damals jenes Geschenk, und mit folgenden Worten wirft mir nun Herr Campe drei Jahr nachher die Annahme dieses Geschenkes, worüber er mir damals seine Theilnehmung bezeugte, wieder vor: D e r e d l e M a n n , d e r , s o b a l d e r n u r rechtschaffen handeln wollte, kein Allmosen bedurfte, es aber bequemer fand, ein ihm geschenktes Kapital zu verzehren, als ein geborgtes durch Arbeit wieder ab-

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zutragen, nahm das für ihn kollektirte Geld, ohne zu e r r ö t h e n , f r e u d i g a n . – – Da ich nun Herrn Campe schrieb, daß meine italienische Reisebeschreibung durch eine Reise nach Neapel sehr gewinnen würde, und daß zu der Ausarbeitung meines Werks über die Alterthümer, diese Reise, die ich nun ohne ihm beschwerlich zu fallen, thun könnte, ganz unentbehrlich sey, so war Herr Campe so weit entfernt, diese Reise nach Neapel damals für einen Wortbruch an ihm zu halten, und mir Vorwürfe darüber zu machen, daß er mir vielmehr am 4. Merz 1787 mit folgenden Worten schrieb: We n n S i e nach Nea- pel reisen, so vergessen Sie nicht, mir ein Haus zu nennen, an welches ich meine Briefe addressiren soll. Leben Sie wohl, lieber Freund! wir alle lieben Sie, und wünschen Ihnen so viel Glück und Freude, a l s u n s s e l b s t ! – So schrieb Herr Campe damals und nun schreibt er in seiner Schrift S. 8. folgende Worte über meine Reise nach Neapel nieder: S c h w i n d e l n d v o r Ve r g n ü g e n ü b e r d e n u n e r w a r t e t e n Z u f l u ß e i n e s s o l c h e n S c h a t z e s g a b e r s e i n e Ve r pflichtungen gegen mich, gab er seine zehnmal wied e r h o l t e n h e i l i g e n Ve r s p r e c h u n g e n u n d d a s d a b e i v e r pfändete Ding, welches er seine Ehre nannte, allen Winden Preis, und reisete, sobald sein Arm nur wieder g e h e i l t w a r , f r o h e n M u t h e s v o n R o m n a c h N e a p e l . Ich stelle bloß die Worte des Herrn Campe nebeneinander und fälle kein Urtheil in meiner eigenen Sache. – – Was nun den Mann von Ehre anbetrift, welcher Herrn Campe hundert Thaler für mich auszahlen sollte, und nach S. 7 unter bittern Klagen über meine Unzuverläßigkeit ihm versichert hat, daß er nur fünf und dreißig Thaler und auch diese mehr aus Güte als Verbindlichkeit zahlen könne, weil ich meinem Versprechen zuwider, von dem, wodurch diese Summe erst verdient werden sollte, nicht das mindeste geleistet habe; was diesen Mann von Ehre anbetrift, so ist dies niemand anders als Herr Pokels, der während meiner Abwesenheit die Denkwürdigkeiten und das Magazin zur Erfahrungsseelenkunde herausgab; welcher, da er doch den Erwerb für diese Journale durch mich hatte, schon aus Mensch-

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lichkeit verpflichtet war, mir die Hälfte des Honorars wenigstens für die ersten Stücke der Journale zu bezahlen, wozu ich deswegen keine Beiträge liefern konnte, weil ich mir den Arm zerbrochen hatte, und über zwei Monathe krank lag. Daß ich nachher keine Beiträge lieferte, kam daher, weil mir Herr Pokels kein einzigmal, wie doch abgeredet war, diese Schriften zuschickte, und ich unmöglich an einer Schrift zweckmäßig arbeiten konnte, die ich gar nicht zu Gesichte bekam. Demohngeachtet kamen ihm die Beiträge, die sonst an mich geschickt wurden, zu statten, und er hätte mir wenigstens einen Theil des Honorars, daß er beinahe drei Jahr über gezogen, und welches jährlich über dreihundert Thaler betrug, der Billigkeit nach auszahlen müssen, welches er aber nicht gethan hat, sondern bloß die obigen fünf und dreißig Thaler an Herrn Campe entrichtet, und demohngeachtet den Verleger der D e n k w ü r d i g k e i t e n , i m m e r u m d a s Honorarium gedrängt hat, mit dem ausdrücklichen Zus a t z , w i e d i e B r i e f e d e s H e r r n P o k e l s b e w e i s e n , weil sein Verhältniß mit mir ihn dazu nöthige. – Dieß mußte ich nothwendig über den Punkt sagen, daß ich Herrn Campe durch meine Anweisung auf Herrn Pokels mit Unwahrheit hintergangen habe. – In den Briefen des Herrn Campe an mich ist keine einzige den Herrn Pokels betreffende Stelle, worin nur ein Schatten von der Vermuthung geäußert wäre, daß ich Herrn Campen in Ansehung des Herrn Pokels mit Unwahrheit hintergan-gen habe: das ist also eine neue Beschuldigung gegen mich, die Herr Campe sich selbst andichtet, und wovon seine Briefe gegen ihn zeugen werden, daß er mir sie nie wirklich gemacht hat, wie folgende Ausdrücke gleich in dem ersten Briefe beweisen: P o k e l s a r b e i t e t , wie er sagt, f l e i ß i g , b e k ö m m t a b e r , wie er sagt, g e g e n We i n a c h t e n e r s t f u n f z i g T h a l e r f ü r S i e . – Ich kann ja also nicht dafür, daß Herr Pokels die funfzig Thaler, die er seiner eigenen Aussage nach, für mich bekommen mußte, an Herrn Campe nicht ausgezahlt hat. – Herr Campe wußte dieß damals sehr wohl, und war daher auch weit entfernt, mir jemals einen Vorwurf hierüber zu machen. – – Einmal äußerte Herr Campe nun freilich, jedoch in den gelindesten Ausdrücken, auf ein bloßes Gerede

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hin, ein kränkendes Mißtrauen, wegen meiner Buchhändlerverbindungen in Berlin. Daß diese wegen meiner Verbindungen mit Herrn Campe nicht ganz aufhören konnten, versteht sich von selbst, denn das Magazin zur Erfahrungsseelenkunde bei Mylius, die Denkwürdigkeiten bei Unger dauerten ja fort, und von dem Anton Reiser bei Maurer hatte ich ja den vierten Theil schon angekündigt. Dies wußte Herr Campe, da er mit mir kontrahierte, und es verstand sich schon deswegen von selbst, daß ich nicht lediglich für seine Buchhandlung würde arbeiten können. Nun schrieb mir aber Herr Campe am 15. Jenner 1787, verschiedene Buchhändler, denen ich verpflichtet wäre, beklagten sich laut über ihn, daß er mich abgehalten habe, meine Verpflichtungen gegen sie zu erfüllen. – Daß dies nur ein bloßes Gerede war, erhellet schon daraus, weil keiner der Buchhändler, die sich laut beklagt haben sollten, in dem Briefe des Herrn Campe namentlich genannt war, und Herr Campe keinen Grund hatte, mir diesen Namen nicht zu nennen, wenn er ihn wußte. Herr Campe bedient sich aber bei dieser freilich harten Aeußerung seines Mißtrauens, die sich auch in eben dem Briefe befand, worin er mir sein Beileid über meinen Armbruch bezeugte, keines einzigen schmähenden Ausdruckes, sondern sagte ausdrücklich, – i n d e m , w a s e r m i r h i e r v o n s c h r i e b e , s o l l e k e i n Vo r w u r f f ü r m i c h e n t h a l t e n s e y n . – Daß Herr Campe sein Mißtrauen gegen mich zurückgenommen habe, erhellet daraus, daß er mir am 21. Merz mit folgenden Ausdrücken schrieb: I c h b e d a u r e , d a ß m e i n B r i e f vom 15. Jenner Ihnen Unruhe und Mißvergnügen gemacht hat; dies war nicht meine Absicht, und hätte ich vorausgesehen, daß die Sache Sie so sehr afficiren würd e , s o h ä t t e i c h g e s c h w i e g e n . In eben diesem Briefe schrieb mir Herr Campe: I c h w i l l S i e n i c h t d r ä n g e n , l i e b e r Freund, arbeiten Sie mit Ruhe und Geistesfreiheit u. s. w. und am Schluß: I c h u m a r m e S i e m i t u n v e r ä n d e r l i c h e r E r g e b e n h e i t . – – Nun umarmt man doch keinen Treulosen, keinen Wortbrüchigen mit unveränderlicher Ergebenheit, und bei einem Treulosen und Wortbrüchigen ist man unbekümmert darüber, die Sache, die man ihn schreibt, mag ihn afficiren oder nicht. –

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So schrieb mir also Herr Campe damals, und in seiner Schrift stellt er das zurückgenommene Mißtrauen S. 6 wieder an seinen Platz hin, und fügt die Worte hinzu, daß ich ihn h i n t e r g a n g e n habe, indem er Herrn Himburg, dessen unverantwortliches Betragen gegen mich schon hinlänglich gerügt ist, zu seinem Gewährsmann nimmt, und nun mit diesem Gewährsmann gegen mich auftritt. – Er sagt, derselbe habe eine Schrift von mir, die ich nicht meinem Versprechen gemäß vollendet, als F r a g m e n t herausgeben müssen, da diese Schrift doch von mir selbst auf dem Titel nicht anders als F r a g m e n t e genannt worden ist. Daß nun Herr Himburg eine beleidigende Vorrede gegen mich zu diesen F r a g m e n t e n schrieb, beweißt ja eben so wenig, daß Herr Campe zu seinen Beschuldigungen Recht hat, als Herrn Campens Beschuldigungen gegen mich ein Beweiß sind, daß Herr Himburg zu seiner beleidigenden Vorrede berechtigt war, weil Herrn Himburgs Vorrede und Herrn Campens öffentliche Beschuldigungen beide in einerlei Ton, und zwar in einem solchen Tone geschrieben sind, dessen sich derjenige nie bedienen darf, welcher gerechte Beschuldigungen hat. Hat Herr Campe nun gerechte Beschuldigungen gegen mich, warum hebt denn in seiner Schrift, da wo sie eine w a h r e und s c h l i c h t e Darlegung des ganzen Vorgangs zwischen mir und ihm seyn soll, die erste Zeile S. 2 gleich mit einer Unwahrheit an? – Ich erschien ja im August des 1786sten Jahres nicht u n v e r m u t h e t in der Wohnung des Herrn Campe zu Salzdahlen, son-dern er hatte schon vorher bei seiner Anwesenheit in Berlin mir zugeredet, für seine Handlung zu arbeiten, u n d m i c h v o n d e n Berliner Buchhändlern nicht ferner übervortheilen zu l a s s e n . Er hatte mir die Ehre erwiesen, mich an der Bearbeitung des Revisionswerks mit Theil nehmen zu lassen; und unmittelbar vorher ehe ich ihn in Salzdahlen besuchte, schrieb ich ihm, daß ich nun zu ihm kommen, und über ein schriftstellerisches Projekt, das ich hätte, mündlich mit ihm reden würde. Ich erschien ja also nicht g a n z u n v e r m u t h e t in seiner Wohnung zu Salzdahlen; q u a r t i e r t e m i c h a u c h n i c h t b e y i h m e i n – denn ich logierte ja in einem Gasthofe in Braunschweig, und Herr Campe nöthigte mich bei ihm

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zu bleiben, damit wir desto besser Abrede wegen meines Vorschlages nehmen könnten. – Wozu dergleichen kleine Unwahrheiten, die absichtlich so gestellt zu seyn scheinen, um den Schein der Undankbarkeit gleich Anfangs auf mich zu werfen, wenn Herr Campe gerechte Beschuldigungen gegen mich hat, die man geradezu gegen jemanden behaupten kann? – Ich sagte ja Herrn Campen nie, daß ich meine Verbindung mit den Berliner Buchhändlern für ein D i e n s t j o c h hielte, wie er S. 5. in seiner Schrift behauptet; sondern e r suchte mir zu beweisen, daß diese Verbindung für mich ein Dienstjoch wäre, damit ich künftig allein für ihn schreiben sollte. Ich sagte ihm ja nicht, daß ich d ü r f t i g , sondern daß ich einsam und eingezogen gelebt hätte, um meine angefangenen Schriftstellerarbeiten zu vollenden. Ferner sagte ich auch Herrn Campen nicht, d a ß e s v o n i h m abhienge, mir durch Geldvorschüsse zu meiner Reise n a c h R o m b e h ü l f l i c h z u s e y n , sondern daß er sich erklären möchte, ob er meinen Vorschlag für sich vortheilhaft finde, oder nicht, damit ich im letztern Falle keine Zeit verlieren möchte, noch vor meiner Abreise mit einer andern Buchhandlung in Verbindung zu treten; worauf denn Herr Campe meinen Vorschlag annahm, und mir zu hundert Thalern, die ich selbst mitgebracht hatte, noch hundert und funfzig Thaler zu meiner Reise vorschoß. Für diese hundert und funfzig Thaler soll ich mich nun verbindlich gemacht haben, nach vollendeter Reise mich in Braunschweig niederzulassen, und künftig lediglich für die Buchhandlung des Herrn Campe aus Erkenntlichkeit zu arbeiten. Daß ich mich gar nicht verbindlich gemacht haben kann, l e d i g l i c h für die Buchhandlung des Herrn Campe zu arbeiten, erhellet ja schon daraus, weil zwei Journale von mir im Verlage berlinischer Buchhandlungen fortdauerten, wovon mir Herr Campe selbst den 21. Merz 1787 schrieb, s o b a l d i h m H e r r P o k e l s d i e Hälfte des Honorars für die herausgekommenen Stücke des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde, und der Denkwürdigkeiten auszahlte, würde er mir dieses G e l d a l s o b a l d ü b e r m a c h e n . Daß mir Herr Campe freilich die Herausgabe dieser Journale endlich leid machen wollte, erhellet aus

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einem Briefe, den er mir am 17ten Juni 1788 nach Rom schrieb, und worin folgende Worte stehen: d a ß s i e n u n m e h r a u c h f l e i ß i g a n d e n P o k e l s c h e n J o u r n a l e n (Herr Campe nennt sie nicht einmal mehr die meinigen) a r b e i t e n w o l l e n , h ö r e i c h n i c h t gern, weil ich wünschte, Sie widmeten sich jetzt ganz der Arbeit, wobei das deutsche Publikum sie erwartet. Ich rathe recht sehr, daß Sie Ihre Kräfte so viel als m ö g l i c h i s t , konzentriren m ö g e n . Wenn ich nun lediglich für die Buchhandlung des Herrn Campe zu schreiben verpflichtet war, so durfte er mir ja nicht erst r a t h e n , daß ich meine Kräfte so viel als möglich auf die Ausarbeitung dessen, was in seinem Verlage erscheinen sollte konzentriren m ö c h t e , sondern er konnte dieß geradezu von mir fordern. – Was es nun aber mit meiner Aeußerung, nicht mit einem Antrage, nach vollendeter Reise mich in Braunschweig niederzulassen, für eine Bewandniß hat, und wie Herr Campe selbst diese Aeusserung verstanden habe, erhellet aus folgender Stelle in einem Briefe, den er mir am 10ten Juli 1787 nach Rom schrieb: K e h r e n Sie jetzt zurück, so wird die Arbeit einiger Wintermonathe hinreichen, um alles zu ersetzen, was die Reise g e k o s t e t h a t . – – We n n S i e d a n n i m S c h o ß e d e r F r e u n d schaft, der Ruhe und der Zufriedenheit ein paar Meisterstücke werden ausgearbeitet haben, dann werden die Könige und Fürsten sich um Sie zanken, und Sie werden unter mehreren Stellen, wenn Sie eine annehm e n w o l l e n , d i e Wa h l h a b e n . A l s o z u r ü c k ! l i e b e r M o r i t z ! U n s e r e A r m e s i n d n a c h I h n e n a u s g e s t r e c k t . – Diese Stelle beweißt, ohngeachtet des scherzenden Tones, doch hinlänglich, daß Herr Campe keinesweges den Gedanken hegte, und ihn freilich auch nicht hegen konnte, mich wegen Annehmung einer öffentlichen Stelle zu geniren. Denn er war ja nur über einige specielle Schriften mit mir einen Akkord eingegangen. Er hatte mir ja nichts fixirtes bestimmt, kein Jahrgeld ausgesetzt, und hielt ja mit seinen Geldermessen inne, sobald er nur hörte, daß ich nach meinem Armbruch von meinen Freunden aus Berlin ein Geschenk erhalten

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hätte. War nun aber Herr Campe wirklich so freundschaftlich gegen mich gesinnt, daß er sich schon im Voraus auf die Beförderung freuete, wozu ich mir durch die Ausarbeitung meiner Werke für ihn erst den Weg bahnen sollte, so mußte es ihm ja desto lieber seyn, daß ich nun zu der Ausarbeitung dieser Werke noch mehr Aufmunterung durch den unmittelbaren Ruf zu einem öffentlichen Amte erhielt, der das Zutrauen zu mir schon voraussetzte, welches ich mir sonst durch die Ausarbeitung jener Werke erst erwerben sollte. Nun hat mir Herr Campe in seinen Briefen über meinen Ruf nach Berlin zwar nie eine besondere Theilnehmung bezeugt, aber er hat sich auch nie mit einer Silbe noch auf die entfernteste Weise verlauten lassen, als ob er die Annahme dieses Rufes nur im mindesten wie einen Wortbruch an ihm betrachtete. – In seiner Schrift aber schreibt er S. 14 nach andern Beschuldigungen folgende Worte von mir nieder: So standen die Sachen, als er Mittel fand, sich Sr. Exzellenz dem Herrn Staatsminister von Heinitz als einen Kunstkenner empfeh-len zu lassen, und von diesem nicht nur eine Stelle bei der Berliner Kunstakademie, sondern auch Geld und die Erlaubniß noch ein volles Jahr in Rom zu bleiben, erhielt. Damit waren seine Verpflichtungen gegen mich, den er nun nicht mehr brauchte aus seinem weichen Gedächtniß völlig ausgewischt. – Herr Campe dichtet sich also auch noch diese Beschuldigung gegen mich an, wovon seine Briefe gegen ihn zeugen, daß er sie mir nie wirklich gemacht hat. Denn hätte er geglaubt, daß durch Annehmung dieses Rufes meine Verpflichtungen gegen ihn aus meinem Gedächtniß ausgewischt gewesen wären, so hätte er mir ja am 25. August 1788, da er diesen Ruf längst wußte, nicht schreiben können: I h r e A b h a n d l u n g ü b e r d i e b i l d e n d e N a c h a h m u n g d e s S c h ö n e n , s o l l a l s Vo r l ä u f e r i n I h r e s g r ö ß e r n We r k e s a u f d e r M i c h a e l i s m e s s e e r s c h e i n e n . Glaubte nun Herr Campe damals wirklich, daß meine Verpflichtungen gegen ihn, durch die Annehmung des Rufes nach Berlin aus meinem Gedächtniß gewischt waren, wie konnte er denn noch voraussetzen, daß ich ihm das größere Werk liefern würde, wovon meine Abhandlung als Vorläuferin erscheinen sollte. Und war ich wirklich verpflichtet, mich in Braun-

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schweig niederzulassen, so durfte er mich ja durch Winke nicht vor B e r l i n w a r n e n , wie er in eben diesem Briefe that, sondern nur geradezu auf der Erfüllung meines Versprechens bestehen. – Warum dichtet sich aber Herr Campe überhaupt in seiner Schrift ein eigennützigeres und für mich Herabwürdigenderes Betragen an, als er wirklich gegen mich geäußert hat, indem er S. 4 und 5 behauptet, er habe gleich anfänglich, da er über mein Werk über die römischen Alterthümer mit mir kontrahirte, nicht sowohl auf d i e s Werk, als vielmehr auf eine R e i s e b e s c h r e i b u n g gerechnet, welche, wenn sie auch nur ein unterhaltender Roman werden sollte, doch seine Buchhandlung, für den Verlust schadlos halten würde, den sie an den Alterthümern leiden könnte, wovon sich Herr Campe schon damals, wie er vorgiebt, kein wichtiges Werk versprach. Herr Campe wollte mich also, wie er sich jetzt selbst beschuldiget, ein schlechtes Werk schreiben lassen, um dadurch ein anderes an sich, seiner vorgegebenen Meinung nach ebenfalls unbedeutendes Werk, das aber für seine Handlung vortheilhaft wäre, in Verlag zu bekommen. – So verächtlich von meinen Schriften, und so eigennützig in Ansehung des Gewinnstes, den er daraus ziehen wollte, dachte Herr Campe damals wirklich nicht. Ihm schien damals nicht bloß an seinem Vortheil sondern auch an meiner Ehre zu liegen, sonst hätte er mir ja am 4. Merz 1787 in dem Briefe, worin er einen öffentlichen Angrif, den Herr Büsching auf mich gethan hatte, mißbilligte, folgende Worte nicht schreiben können: D i e ß m u ß I h n e n e i n n e u e r S p o r n seyn, alle Ihre Kräfte aufzubieten, damit Ihr erstes B u c h i n I t a l i e n g e s c h r i e b e n , e t w a s s o Vollendetes s e y , daß auch Büsching es zu loben sich gezwungen sehe. – Der öffentliche Angriff des Herrn Büsching aber enthielt gerade den Vorwurf, daß ich zu der Aus-arbeitung eines Werks über die Alterthümer unfähig und unvorbereitet sey; in diesen Vorwurf stimmte ja Herr Campe nun damals nicht mit ein, sondern spornte mich selbst an, diesen Vorwurf durch etwas Vo l l e n d e t e s , das ich in Italien ausarbeitete, zu widerlegen. – Herr Campe mußte mich also doch damals zu der Ausarbeitung von etwas Vo l l e n d e t e m fähig halten, und

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keine so verächtliche Meinung von den, von mir in Verlag genommenen Werken hegen, daß er sich dem innern Werthe nach überhaupt nicht viel davon versprach, aber in Ansehung des Gewinnstes durch das eine sich doch für das andere schadlos zu halten suchte. So dachte Herr Campe damals nicht; er wollte, ich sollte ihm etwas Vo l l e n d e t e s liefern, er wollte, daß das, was ich ihm schriebe r e i f u n d d u r c h d a c h t s e y n und daß ich mit meiner Arbeit E h r e e i n l e g e n s o l l t e . – So schrieb Herr Campe damals, nun aber dichtet er sich in seiner Schrift S. 4 und 5 ein schon damals eigennütziges und für mich herabwürdigendes Betragen gegen mich an, bloß um zu beweisen, daß ich kein moralisches und schriftstellerisches Ehrgefühl besitze, weil ich mir ein solches Betragen, wie es nach seiner Schrift den Anschein hat, von ihm habe gefallen lassen. – Herr Campe schrieb mir also am 15ten Jenner 1787, da ich ihm eine mißrathene Probe meiner Reisebeschreibung, die ich in einem zweiten Briefe selbst zurücknahm, übersandt hatte: A l l e s , m e i n lieber Freund, kömmt jetzt darauf an, daß das Erste, was von Ihnen erscheinen wird, etwas recht Durchd a c h t e s u n d R e i f e s quoad stilum et materiam sey u. s. w. Am 4. May 1787 schrieb er mir: I n m e i n e m L e t z t e r n b a t i c h S i e , sich in Ansehung der Reisebeschreibung nicht zu übere i l e n , u . s . w . In eben dem Briefe mißbilligte Herr Campe einen öffentlichen Angrif, den Herr Büsching auf mich gethan hatte, und setzte hinzu: D a s m u ß I h n e n e i n n e u e r S p o r n s e y n u . s . w . Am 21sten Merz 1787 schrieb er mir: I c h w i l l S i e n i c h t d r ä n gen, lieber Freund! Arbeiten Sie mit Ruhe und Geis t e s f r e i h e i t ; u . s . w . Nun schrieb mir Herr Campe zwar zum öftern auch, wie sauer ihm die Vorschüsse würden, die er mir machte; wie er das Geld dazu habe zusammenborgen müssen, und wie lange es nun dauern würde, ehe er durch den Verkauf meiner Schriften wieder zu seinem Gelde käme – aber er verlangte doch ausdrücklich, und stimmte darin mit meinen eigenen Wünschen vollkommen überein, daß das Erste, was ich in Italien schriebe, etwas dem Stil und dem Inhalt nach vollkommen D u r c h d a c h t e s , R e i f e s und Vo l l e n -

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d e t e s seyn sollte. – Dazu gehörte ja nun vor allen Dingen, d a ß i c h meinen Auffenthalt in Italien erst gehörig benutzen m u ß t e , e h e i c h s c h r i e b : und d a ß i c h d a s j e n i g e w a s i c h schrieb zurückbehalten mußte, sobald ich es nicht reif u n d d u r c h d a c h t f a n d . – Zu der gehörigen Benutzung meines Aufenthalts in Italien, um in Ansehung der Werke, die ich auszuarbeiten übernommen hatte, etwas Vollendetes zu liefern, gehörte ja schlechterdings die Reise nach Neapel, wozu mich nicht Herr Campe durch seine Vorschüsse, sondern meine Berliner Freunde, durch eben das Geschenk in Stand setzten, worüber mir Herr Campe d a m a l s seine Theilnehmung bezeugte, und sogleich mit seinen Vorschüssen inne hielt. – Um etwas Vo l l e n d e t e s zu liefern, dazu gehörte nach meiner Zurückkunft aus Neapel ein längerer Aufenthalt in Rom als ich mir ihn anfänglich vorgesetzt hatte, d a s s a h e i c h s e l b s t e r s t e i n , da ich den letzten Monath vor meiner bestimmten Abreise noch alles durch meinen Armbruch versäumte so viel wie möglich nachzuholen, und alles das nun mit einem male zusammenzufassen suchte, was bisher meiner Aufmerksamkeit noch entgangen war. Ich sahe nun erst vollkommen die Unmöglichkeit ein, je etwas R e i f e s , D u r c h d a c h t e s und Vo l l e n d e t e s über Rom und Italien liefern zu können, wenn ich es jetzt nach weniger als nach einem Jahre und gerade in einem Zeitpunkte verliesse, da mir der Aufenthalt in Rom zu der Ausarbeitung von etwas Vollendetem erst anfing unschätzbar zu werden. Und mein Verleger, der sich auch zugleich meinen Freund nannte, w o l l t e mich ja nicht drängen; er wollte lieber warten, als Schuld daran seyn, daß ich mit meiner Arbeit keine Ehre einlegte; er hatte mir geschrieben, e s s e y m i t m e i n e r g a n z e n R e i s e u n ternehmung nichts, wenn das Erste, was ich schriebe, nicht etwas Reifes und Durchdachtes dem Inhalte und d e m S t i l e n a c h w ä r e : er hatte mich selbst angespornt, etwas Vollendetes zu liefern; ich trug also kein Bedenken ihm zu schreiben: daß ich die letzten Wochen, da ich im Begrif gewesen sey, Rom zu verlassen, geeilt habe, alles Merkwürdige noch einmal mit verdoppelter Aufmerksamkeit zu betrachten, und bei dieser Betrachtung

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gefunden habe, daß ein Aufenthalt von noch wenigen Monathen in Rom, mir zu meiner schriftstellerischen Laufbahn auf mein ganzes Leben nützlich seyn, und daß es mir unmöglich seyn würde, nachher der Reue zu entgehen, wenn ich diese Gelegenheit meinen Geschmack zu bilden und meine Kenntnisse zu vermehren, itzt aus den Händen ließe; und daß der Gedanke an das Versäumte allein schon hinlänglich seyn würde, mir meine Schriften in Deutschland mißlingen zu machen. Da nun aber Herr Campe mir am 10ten Juli 1787 von seinen E n t r e p r i s e n und von dem Ankauf der Waisenhausbuchhandlung geschrieben hatte, wodurch er genöthigt würde, jeden P f e n n i g zu Rathe zu halten, so fügte ich meinem Schreiben noch folgendes hinzu: d a ß i c h z u m e i n e m l ä n g e r n A u f e n t h a l t i n R o m n u r i n s o f e r n Vo r s c h u ß v o n i h m e r w a r t e , a l s e r d i e s e n Vo r s c h u ß z u m e i n e m l ä n g e r n A u f e n t h a l t i n R o m selbst zu seinen Entreprisen mitrechnete, wovon er d e r e i n s t n i c h t S c h a d e n z u h a b e n h o f t e . Auf welches Schreiben von mir, Herr Campe mir zwanzig Ducaten schickte, die ich durch den Herrn Hofrath Reifenstein in Rom ohne einen Brief, bald aber nachher ein Schreiben von Herrn Campe erhielt, worin er den Inhalt des mir nicht zu Händen gekommenen Briefes wiederholte, und mir aufs neue schrieb, daß der Ankauf der Waisenhausbuchhandlung, und eine Druckerei, die er angelegt, alle seine Fonds erschöpft habe, so daß er genöthigt gewesen sey, die zwanzig Ducaten, die er mir übersandt habe, zu borgen. Auf meinen Vorschlag wegen eines kleinen Werkes über die Italiänische Litteratur antwortete mir Herr Campe in diesem Briefe, worin er doch den Inhalt des mir nicht zu Händen gekommenen Briefes wiederholte, gar nicht. – Es kam also nun alles darauf an, daß ich meinen längern Aufenthalt in Rom gehörig benutzte, damit das Erste, was ich nun Herrn Campe aus Rom lieferte, etwas Reifes, Durchdachtes und Vollendetes sey. Dazu gehörte Zeit, und es ließ sich nicht wie bestellte Arbeit machen. Herr Campe hatte nun zwar gesagt: i c h w i l l S i e , m e i n l i e b e r Freund, nicht drängen, arbeiten Sie mit Ruhe und G e i s t e s f r e i h e i t ; aber er drängte mich doch im Grunde dadurch,

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daß er mir immer schrieb, er habe das mir vorgeschossene Geld für mich borgen müssen; um also Musse zu gewinnen, etwas Vo l l e n d e t e s auszuarbeiten, ohne Herrn Campe aufs neue in Verlegenheit zu setzen, Geld für mich zu borgen, wandte ich mich, nicht mit Vorspiegelungen an eine Berlinische Buchhandlung, wie Herr Campe S. 13 in seiner Schrift vermuthet, sondern an meinen vieljährigen Freund, den Herrn Bergrath Standtke in Berlin, der mich durch Darlehn in den Stand setzte, der Forderung des Herrn Campe, ohne ihm beschwerlich zu fallen, ein Genüge zu thun. – Alles kam nun darauf an, nicht Herrn Campe zu wiederholtenmalen zu schreiben, daß ich ihm etwas Vollendetes und Durchdachtes liefern wollte, sondern daß ich es ihm wirklich lieferte. Nun ward ich, während daß ich zu dem Werke über die Alterthümer sammlete und ordnete, und meinen Aufenthalt in Rom benutzte, mit dem ersten, was in Italien von mir erscheinen, und was der Forderung des Herrn Campe und meinem Wunsche nach, dem Stil und dem Inhalte nach völlig reif und durchdacht seyn sollte, binnen einem halben Jahre fertig, und schickte es nach Verlauf des halben Jahres Herrn Campen, dem ich während dieser Zeit nie um Vorschuß geschrieben hatte, zu, und berief mich, in Ansehung des Mißtrauens, das Herr Campe wegen meines langen Stillschweigens in einem Briefe vom 16. April 1788 gegen mich geäußert hatte, auf diese Schrift, welche mich deswegen b e i i h m r e c h t f e r t i g e n w ü r d e , und worüber ich nun voller Erwartung wäre, sein Urtheil zu vernehmen; und Herr Campe, der vom Anfang an etwas Reifes und Durchdachtes von mir verlangt hatte, der eine Probe von meiner Reisebeschreibung, mit der ich selbst unzufrieden ward, auch gemißbilliget, und mich angespornt hatte, etwas Vo l l e n d e t e s zu liefern, den ich also bis jetzt nicht blos als Buchhändler sondern als Gelehrten betrachten mußte, und auf dessen Urtheil über meine Schriften, in diesem Falle alles ankam, ob sie der Mühe seines Wartens verlohnten, schrieb mir am 25. August 1788: I h r e Abhandlung über die bildende Nachahmung des Schön e n s o l l , a l s Vo r l ä u f f e r i n I h r e s g r ö ß e r n We r k s , a u f der Michaelismesse erscheinen. Diese Abhandlung

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scheint mir sehr gedacht zu seyn und eine Reife zu haben, die noch wohl keine Ihrer frühern Schriften hatte. V i e l l e i c h t m a c h e i c h e i n e k l e i n e Vo r r e d e d a z u , u m d i e ß m e i n U r t h e i l ö f f e n t l i c h z u s a g e n . – Da nun auf diesem Urtheile des Herrn Campe alles beruhte, da ich ihm ausdrücklich geschrieben hatte, diese Schrift sollte mich wegen meines langen Stillschweigens bey ihm rechtfertigen, so würde ja Herr Campe, wenn er, wie er jetzt vorgiebt, nur einige Blätter davon gelesen hätte, auch geschrieben haben, und hätte schreiben müssen, das, was ich von Ihrer Abhandlung gelesen habe s c h e i n t m i r s e h r g e d a c h t z u s e y n u. s. w. und nicht: I h r e Abhandlung s c h e i n t m i r s e h r g e d a c h t z u s e y n . Nun stützt sich Herr Campe darauf, daß er nur geschrieben habe: I h r e A b h a n d l u n g scheint m i r s e h r g e d a c h t z u s e y n ; wie würde es denn aber wohl geklungen haben, wenn er geschrieben hätte: I h r e A b h a n d l u n g ü b e r d i e b i l d e n d e N a c h a h m u n g d e s S c h ö n e n ist s e h r g e d a c h t , u n d hat eine Reife, die noch wohl keine Ihrer frühern Schrift e n h a t t e ? – Hätte nun Herr Campe, nachdem er diese Schrift gelesen, sein Mißtrauen wegen meines langen Stillschweigens nicht gänzlich zurückgenommen, wie konnte er denn in eben dem Briefe schreiben: D i e s e S c h r i f t s o l l t e a l s Vorläuferin m e i n e s g r ö ß e r n We r k s e r s c h e i n e n , u n d , w e n n e i n e r m e i n e r F r e u n d e i n R o m e i n e h ü b s c h e V i g n e t t e z u m e i n e m We r k e über die Alterthü- mer zeichnen wollte, so würde er die K o s t e n d e s S t e c h e n s g e r n ü b e r n e h m e n ? Er mußte doch nun wohl überzeugt seyn, daß ich ihm das Werk liefern werde, auf dessen Verzierung er schon bedacht war, und mußte doch nun wohl keine verächtliche Meinung von meinen Schriften hegen, nachdem er, um mir meine Journale leid zu machen, am 17. Juni 1788 schon folgende Worte an mich geschrieben hatte: I c h s o l l t e g l a u b e n , e s w ä r e für Sie j e t z t w o h l s e h r r a t h s a m , a u f d i e M i t h e r a u s g a b e solcher J o u r n a l e Ve r z i c h t z u t h u n , u n d s i e d e m P o k e l s allein zu überlassen. Der Ertrag an Ehre und Geld ist d o c h i n d e r T h a t z u u n b e d e u t e n d . Das f ü r S i e ist in dem

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Briefe des Herrn Campe unterstrichen, und er fügt hinzu: I c h s a g e dies als Freund, und nicht als Buchhändler, der dabei i n t e r e s s i r t s e y n m a g . Auch mußte er meinen längern Aufenthalt in Italien nicht für unzweckmäßig und unnütz halten, da er seinen Brief vom 25sten August 1788 mit den Worten schloß: L e b e n Sie wohl, und kehren Sie bereichert an Kenntnissen zu u n s z u r ü c k Auffallend war es mir freilich, daß Herr Campe, von dem ich seit drei Vierteljahren gar keinen Vorschuß mehr verlangt hatte, denn die mahlerische Reise war ja nur ein Vorschlag, der sich von selbst wieder aufhob, da der Herr Professor und Landschaftsmahler Lüdtke eher als ich nach Berlin reisen mußte; daß Herr Campe also drei Thaler, die ich ihn acht Monathe lang meinem Bruder in Braunschweig monathlich auszuzahlen ersuchte, welches also überhaupt eine Summe von vier und zwanzig Thalern ausmachte, daß mir Herr Campe diese Gefälligkeit in seinem Briefe vom 25sten August 1788 mit folgenden Worten anrechnete: d a ß e s m i r j e t z t s a u e r wird, auch nur einen Thaler zu missen, versichere ich Sie auf Ehre; ich hoffe daher, Sie werden mir auch dies e n D i e n s t i n I h r e m G e d ä c h t n i s s e g u t s c h r e i b e n – Eben so auffallend war es mir, daß Herr Campe in eben diesem Briefe von mir verlangte, i c h s o l l t e i h n b e i m e i n e r R ü c k k e h r n a c h Berlin nicht etwa besuchen, sondern meine Reisebes c h r e i b u n g i n s e i n e m H a u s e a u s a r b e i t e n – und dann am Ende des Briefes eine Aeußerung hinzusetzte, w o d u r c h e r m i c h v o r B e r l i n z u w a r n e n s c h i e n . So unangenehm nun dergleichen Aeußerungen in den Briefen des Herrn Campe mir auch seyn mochten, so richtete mich doch der Gedanke wieder auf, daß ich ihm nun etwas geliefert habe, welches seinem eigenen Urtheile nach r e i f und d u r c h d a c h t war, und wodurch mein ganzes Verhältniß mit ihm, das vom Anfang an auf der Lieferung von etwas Vo l l e n d e t e m beruhte, nun gleichsam gegründet war. Meine neue schriftstellerische Laufbahn war nun eingeleitet, denn Herr Campe wollte meine Abhandlung a l s e i n e Vo r l ä u f e r i n meines größern Werks drucken lassen; man sollte aus dieser Schrift sehen, was man in Ansehung

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meines größern Werks von mir zu erwarten habe. Nur als Vo r l ä u f e r i n jenes größern Werks wollte also Herr Campe meine Schrift drucken lassen, nicht eigentlich um ihrer selbst willen. Wozu hätte sie Herr Campe also drucken lassen, wenn er sie würklich für eine s c h l e c h t e Vorläuferin jenes Werks hielt? Wozu hätte er sie drucken lassen, wenn er v o r d e r M e s s e wirklich glaubte, daß sie nichts als phantasirende Philosophie enthalte, und also jenem Werke, wovon sie doch eine Vorläuferin seyn sollte, zu einer sehr schlechten Empfehlung dienen würde? wozu hätte er sie drucken lassen, wenn er wirklich v o r d e r M e s s e geglaubt hätte, daß mein Buch über die Alterthümer ein schlechtes Buch werden würde, sobald es dasselbe Gepräge und nicht vielmehr schlichte historische Darstellung, als von jener Art Philosophie enthielte? Ich selbst hatte ja nur verlangt, daß er sie als eine Vo r l ä u f e r i n meiner übrigen Schriften, und in so fern er sie hiezu für zweckmäßig hielte, sollte drucken lassen. – Die M e s s e stimmte sein Urtheil um, wie folgende Worte aus seinem Briefe vom 3ten December 1788 klar beweisen. I h r e A b h a n d l u n g ü b e r d a s S c h ö n e h a t g a r k e i n Glück g e m a c h t , u n d i c h w e r d e d e n größten Theil der Auflage ins Makulatur werfen müssen. Es sind bis jetzt nicht mehr als zwei hundert und e i n p a a r E x e m p l a r e d a v o n a b g e s e t z t . Und nun enthielt auf einmal meine Schrift, die vorher reif und durchdacht war, eine phantasirende Art von Philosophie, wobey mir wenig Menschen folgen konnten, und noch weniger folgen m o c h t e n ; und nun sollte mein Buch über die Alterthümer auf einmal schlichte historische Darstellung, und nichts von jener A r t P h i l o s o p h i e enthalten; wo nicht, so sollte ich eine italiänische Grammatik schreiben, um den Herrn Campe für den Verlust schadlos zu halten, den er an den Alterthümern leiden würde. Von dieser Grammattik glaubt er denn, daß sie ihm e i n i g e r m a ß e n wieder ersetzen würde, was er an den Alterthümern wahrscheinlich verlieren werde; und um mich ganz niederzuschlagen, fügt Herr Campe noch das von ihm vorgegebene Mißvergnügen einiger Buchhändler, welches sich dem ganzen Corps sollte mitgetheilt haben, als eine Ursache der schlechten Aufnahme mei-

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ner Schrift, hinzu. Dieß ist der Inhalt von zwey Briefen, wovon ich den einen am 5ten November 1788 während den letzten Tagen meines Aufenthalts in Weimar von Rom nachgeschickt erhielt, und den andern vom 3ten December 1788 bei meiner Ankunft in Berlin vorfand. Da nun Herr Campe m e i n e A r t p h a n t a s i r e n d e P h i l o s o p h i e , wie er sie nannte, in meinen Schriften nicht mehr haben wollte, sondern statt derselben schlichte historische Darstellung verlangte, und mir es doch unmöglich ist, o h n e m e i n e A r t P h i l o s o p h i e zu schreiben, so hob sich in diesem Augenblick mein Kontrakt mit ihm von selber auf. Ich nahm nun Herrn Campe wie er war, und glaubte wirklich, daß es ihm lieb seyn würde, nur ohne Schaden wieder zu seinem Gelde zu kommen, weil er doch meinem s c h r i f t s t e l l e r i s c h e n G l ü c k nicht mehr traute. Ich schrieb ihm daher ganz kaltblütig, da unsere Verbindung durch seine Erklärung über meine Schriften nun aufgehoben sey, so würde ich ihm sein mir vorgeschossenes Geld mit den vollen Zinsen noch binnen einem Jahre in drei Terminen baar wieder zurückstatten; und fügte hinzu, daß ich wegen der Werke, wovon er so viel Schaden und Verlust befürchtete, mit einem hiesigen Buchhändler in Verbindung getreten sey, der mehr Zutrauen als er zu mir und meinen Schriften habe. Nach der Aeußerung des Herrn Campe konnte ihm unmöglich noch ferner an meinen Schriften gelegen seyn, und es mußte ihm nothwendig lieb seyn, wieder ohne Schaden zu seinem Gelde zu kommen. Da ich aber die von ihm verworfenen Schriften nicht selbst zurücknahm, und ihm nicht s t a t t d e r s e l b e n Werke, die mehr m e c h a n i s c h waren, und einen s i c h e r e r n Gewinn brachten, für ihn ausarbeiten wollte, sondern dieselben Werke, die ihm bestimmt gewesen waren, einer hiesigen Buchhandlung in Verlag gab, welche sie sehr bereitwillig annahm, so wurde Herr Campe hierüber so aufgebracht, daß er mir einen Brief schrieb, worin er, so wie in s e i n e r g e d r u c k t e n S c h r i f t , mich der Treulosigkeit, Wortbrüchigkeit und Unredlichkeit beschuldigte, und leugnete, daß seine Erklärung über meine Schriften, ein hinreichender Grund zu der Aufhebung meines Kontrakts mit ihm gewesen sey, indem er sich folgender Worte bediente:

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»Pfui, über den hinreichenden Grund; warum schämen Sie sich noch mir den wahren Grund zu gestehen, den, das Sie das, was Sie mir vor drei Jahren schon verkauft haben, jetzt lieber noch einmal an einen andern verkaufen möchten.« Diesem Briefe war eine Rechnung von den mir n a c h und n a c h vorgeschossenen Geldern nebst der Berechnung der v o l l e n Z i n s e n für die ganze Summe beigelegt, worauf ich Herrn Campen auch die ganze mir vorgeschossene Summe mit den v o l l e n Zinsen baar zurückschickte. Wie ich das Geld schon abgeschickt hatte, erhielt ich einen Brief zur schleunigsten Ablieferung von Herrn Campe, worin die Berechnung der vollen Zinsen für das mir nach und nach vorgeschossene Capital als ein R e c h n u n g s f e h l e r angegeben, und das was zu viel war, von der Summe abgezogen wurde. Nun hatte ich aber das Geld schon abgeschickt, und in der Rechnung des Herrn Campe den Punkt geändert, wo er mir für den Bogen meiner Abhandlung nur 6 Thaler anrechnete, da wir doch übereingekommen waren, daß ich für alles was ich ihm schriebe, und er von mir würklich in Verlag nehmen würde, 10 Thaler Honorar von ihm bezahlt erhalten sollte. Nach diesem Abzuge von der Rechnung von meiner Seite, ließ es denn Herr Campe auch bei den v o l l e n Zinsen bewenden. Nachdem ich also Herrn Campe das mir nach und nach vorgeschossene Geld mit den vollen Zinsen baar überschickt, und er es angenommen hatte, so verlangte ich von ihm eine Quittung, die ausdrücklich enthielte: d a ß e r n u n n i c h t s w e i t e r a n m i r z u f o r d e r n h a b e , weil er durch eine solche Handschrift seine Beschuldigungen von Treulosigkeit und Wortbrüchigkeit allein auf eine reelle Weise zurücknehmen, und ich ins künftige dagegen in Sicherheit gesetzt werden konnte. Statt dieser Quittung schickte mir Herr Campe wiederum eine Anzahl geschriebener Schmähungen, die nun in seiner Schrift S. 33. auch gedruckt stehen. Ich verlangte aufs neue eine Quittung von ihm, die ich gerichtlich vorzeigen könnte, und worin ausdrücklich enthalten wäre, d a ß e r n i c h t s m e h r a n m i r z u f o r d e r n h a b e , und Herr Campe schickte mir nicht die von mir verlangte Quittung, sondern einen Zettel, daß er, nachdem er 327 Thaler 12 Groschen zu Tilgung seiner mir gemachten Vorschüsse von

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mir erhalten, n u n m e h r a u f a l l e f e r n e r n A n s p r ü c h e a n m i c h Ve r z i c h t t h u e , mit dem Zusatze, w e i l e r d a s D a s e y n eines Mannes, wie ich, auf immer zu vergessen wüns c h e . – Nahm er denn nun durch diesen Zettel seine Beschuldigungen von Treulosigkeit und Wortbrüchigkeit gegen mich zurück? Konnte er nun nicht, so oft ihm mein Daseyn, seinen Wünschen zuwieder in Erinnerung gebracht wurde, seine Schmähungen eben so wie er jetzt gethan hat, laut vor der Welt sagen und drucken lassen? und hatte ich etwas Handschriftliches von ihm, wodurch ich von seiner Forderung an mich losgesprochen war, auf die er nur Verzicht gethan haben wollte, um mein Daseyn auf immer zu vergessen? – Konnte er nicht bei jedem ihm bestimmt gewesenen Werke, daß nun in einem andern Verlage von mir erschien, ungeahndet behaupten, um dies Werk habe ihn der Verfasser betrogen? Und konnte ich ihm diese Beschuldigungen, wenn er sie mir selbst aufs neue machen wollte, durch seine Handschrift widerlegen? – An mein Daseyn mußte ja Herr Campe doch wieder erinnert werden, so lange meine Existenz als Schriftsteller fortdauerte. Und ich mußte mich ja je eher je lieber, w e i l i c h n o c h e x i s t i r t e , gegen die Schmähungen in Sicherheit setzen, welche auf mir gehaftet haben würden, wenn ich nicht mehr existirt hätte, und mich gegen keine Schmähung mehr hätte vertheidigen können. – Was blieb mir hiezu für ein Mittel übrig, als das Publikum, vor dem wir doch beide existiren und wirken, zum Schiedsrichter über mein Verhältniß mit Herrn Campe und über meine Gründe zu nehmen, nach welchen ich mich öffentlich von ihm lossagen m u ß t e ? – Und wenn nun Herr Campe mich mit jeder Zeile in seinen Briefen der Treulosigkeit, Wortbrüchigkeit, und eines offenbaren Betrugs an ihm beschuldigte, und diese Beschuldigungen nur mit der g ä n z l i c h e n H i n w e g d e n k u n g m e i n e s D a s e y n s zurüknehmen wollte, und sich also alle diese Beschuldigungen vorbehielt, sobald er auf eine oder die andere Weise an mein Daseyn wieder erinnert wurde; wenn er eben diese Beschuldigungen von Wortbrüchigkeit und Treulosigkeit nicht für Schmähungen, die er zurücknehmen mußte, sondern wie er S. 41. und 42. noch jetzt in

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seiner Schrift behauptet, f ü r h u n d e r t m a l v o n m i r v e r d i e n t e g e r e c h t e Vo r w ü r f e , und f ü r b i t t e r e Wa h r h e i t e n f ü r m i c h , meine Gründe aber mich von ihm loszusagen, wie er ebenfals S. 42. in seiner Schrift behauptet, für h ö c h s t u n v e r n ü n f t i g hielt; konnte er da wohl erwarten, daß ich schweigen würde, wenn ich mich nicht selbst für das hielt, was er mich zu seyn beschuldigte? Und konnte ich denn nun anders sagen, als das derjenige, welcher sein Urtheil über Werke des Geistes nicht blos als Kaufmann, s o n d e r n a u c h a l s D e n - k e r , nach dem Gelde u m s t i m m t , was sie ihm unmittelbar in seinen Kasten bringen, nicht mit Geistesprodukten, sondern mit der seinen Ohren am angenehmsten klingenden Münze wiederbezahlt zu werden verdiente? Hat denn Herr Campe nicht, wie ich aus seinen eigenhändigen Briefen dargethan habe, sein Urtheil über meine Schrift nach dem Gelde umgestimmt, was sie ihm unmittelbar in seinen Kasten brachte, wenn er mir von meiner Schrift, die er am 25sten August 1788 für r e i f und d u r c h d a c h t h i e l t , nun am 3ten December 1788 ausdrücklich schreibt: s i e h a b e g a r k e i n G l ü c k g e m a c h t , er werde den grösten Theil der Auflage ins Makulatur werfen müssen, es wären bis jetzt nicht mehr als 200 und ein paar Exemplare davon abgesetzt, das machte sie sey, (nun nicht mehr reif und durchdacht sondern) phantasirend, und wenn meine Alterthümer eben das Gepräge, und nicht vielmehr schlichte historische Darstellung als von jener Art Philosophie enthielten, so würden sie auch das nehmliche Schicksal haben, und seine Handlung würde, wie er mir am 5ten November 1788 schon geschrieben hatte, schlecht dabei prosperiren; wenn ich ihm aber eine Italienische Grammattik nach dem Muster meiner Englischen, nicht meiner Deutschen für Frauenzimmer schriebe, so würde diese wie er glaubte, e i n i g e r m a ß e n wieder einbringen, was er an den Antiquitäten wahrscheinlich verlieren werde? – Vorher hatten meine Perioden Herrn Campe wohlgeklungen, denn wie er selbst S. 16 in seiner Schrift sagt, schienen ihm schon die ersten Blätter meiner Schrift einen sehr gedachten Inhalt in einer w o h l a u s g e b i l d e t e n Schreibart anzukündigen. – Da er nun aber sogleich nicht mehr als zweihundert und ein paar

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Exemplare davon absetzen konnte, und die Schrift ihm also nicht gleich wieder baare klingende Münze einbrachte, so klangen ihm auch meine Perioden nicht mehr, und der Inhalt meiner Schrift war auf einmal so beschaffen, d a ß m i r w e n i g M e n s c h e n d a b e i folgen konnten, noch weniger dabei folgen mochten. – Verdiente denn Herr Campe nun nicht wirklich, statt mit Geistesprodukten, mit der seinen Ohren am angenehmsten klingenden Münze, und wuchernden Zinsen, die er auch annahm, wieder bezahlt zu werden? – Und war er nicht verpflichtet, seine Beschuldigungen von Treulosigkeit und Wortbrüchigkeit durch die von mir verlangte Handschrift wieder zurückzunehmen, worin er ausdrücklich erklären sollte, daß er n u n n i c h t s w e i t e r a n m i r z u f o r d e r n h a b e ? – Und war ich durch die Verweigerung dieser Handschrift nicht genöthigt, mich öffentlich von ihm loszusagen, wenn ich seine Beschuldigungen von Treulosigkeit und Wortbrüchigkeit nicht immer wollte über mich ergehen lassen, so oft er seinem Wunsch zuwieder, durch die Fortdauer meiner schriftstellerischen Wirksamkeit an mein Daseyn erinnert wurde? – War diese öffentliche Loßsagung, die ich nie, wie Herr Campe S. 42 mit Unwahrheit behauptet, auf einem b e s o n d e r e n B l a t t e gedruckt, an Buchhändler ausgetheilt habe; war diese Lossagung eine mit den gröbsten U n w a h r h e i t e n a u f g e - s t u t z t e S c h m ä h u n g ? – und kann ich die Wahrheit jeder Zeile nicht mit seinen eigenhändigen Briefen darthun? – – Nun schreibt Herr Campe, um sich aus dieser Sache zu ziehen, eine Schrift, unter dem Titel: Moritz, ein abgenöthigter trauriger Beitrag zur Erfahr u n g s s e e l e n k u n d e , und fängt gleich die erste Zeile seiner Beschuldigung gegen mich, d a ß i c h i m A u g u s t d e s 1 7 8 6 s t e n J a h r e s g a n z u n v e r m u t h e t i n s e i n e r Wo h n u n g z u S a l z d a h l e n e r s c h i e n e n s e y , m i t e i n e r U n w a h r h e i t an, an die er eine Folge von Unwahrheiten kettet, welche ich ihm Zeile vor Zeile, aus der u n u n t e r b r o c h e n e n F o l g e s e i n e r e i g e n h ä n d i g e n B r i e f e a n m i c h widerlegt habe, und durch die Vorzeigung dieser Briefe in jedem Augenblick widerlegen kann. – Seine ganze Schrift drehet sich auf der Behauptung, welche S. 26 und 27 steht, daß

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ich einen so zarten schriftstellerischen Ehrpunkt nur affektirt haben könne, weil er mir zum öftern geschrieben, daß ich ihn mit Unwahrheit hintergangen, und ich mich niemals dadurch für beleidigt erklärt habe. – Daß sein Urtheil über meine Schrift bei demjenigen Ve r h ä l t n i ß , worin wir nun schon ins dritte Jahr miteinander standen, ohnmöglich etwas Beleidigendes für mich hätte haben können, und daß ich durch dies Urtheil nur beleidigt zu seyn affektirt habe. – Nun beweisen aber die eigenhändigen Briefe des Herrn Campe an mich, daß ich g e r a d e m e i n e s d r e i j ä r i g e n Ve r h ä l t n i s s e s w e g e n , über sein n a c h d e r M i c h a e l i s m e s s e u m g e ä n d e r t e s U r t h e i l über meine Schrift, höchstbeleidigt zu seyn Ursach hatte; denn er verlangte ja schon am 15ten Jenner 1787 ausdrücklich, daß ich ihm etwas recht Durchdachtes und Reifes quoad stilum et materiam liefern sollte, sonst sey es mit meiner ganzen Reiseunternehmung nichts! Er schrieb mir am 4. Merz 1787, er habe mich in seinem letztern gebeten, mich in Ansehung der Reisebeschreibung nicht zu übereilen u. s. w.; in eben dem Briefe: Herrn Büschings öffentlicher Angrif müsse ein Sporn für mich seyn, etwas Vollendetes zu liefern, u. s. w. Am 21. Merz 1787: Ich will Sie nicht drängen, lieber Freund! Arbeiten Sie mit Ruhe und Geistesfreiheit, u. s. w. Am 17ten Juni 1788: Ich wünschte, Sie widmeten sich jetzt ganz der Arbeit, wobei das deutsche Publikum Sie erwartet, und die Ihren Ruf aufs neue festsetzen oder wankend machen wird. Und endlich am 20sten August 1788: Ihre Abhandlung über die bildende Nachahmung des Schönen scheint mir sehr gedacht zu seyn, u. s. w. Und nun auf einmal am 3ten December 1788: Ihre Abhandlung über das Schöne hat gar kein Glück gemacht, und ich werde den größten Theil der Auflage ins Makulatur werfen müssen; es sind bis jetzt nicht mehr als zwey hundert und ein paar Exemplare davon abgegangen. Das macht Ihre phantasirende Philosophie, wobey Ihnen wenig Menschen folgen können, noch weniger folgen mögen. Wird Ihr Buch über die Alterthümer dasselbe Gepräge bekommen, und nicht vielmehr schlichte historische Darstellung, als von jener A r t P h i l o s o p h i e enthalten, so wird es sicher das nehmliche Schicksal haben; und in dem Briefe vom 5ten November, der

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mir aus Rom nachgeschickt wurde, hatte mir Herr Campe schon geschrieben, daß seine Handlung bei dem Buche über die Antiquitäten leider mehr als wahrscheinlich schlecht prosperiren werde, wenn ich dieselbe nicht durch die Erfüllung eines a n d e r n Wu n s c h e s schadlos hielte, welcher darin bestand, daß ich ihm eine I t a l i e n i s c h e G r a m m a t i k nach dem Muster meiner englischen schriebe, von der Herr Campe glaubte, daß sie e i n i g e r m a ß e n wieder einbringen würde, was er an den Antiquitäten wahrscheinlich verlieren werde; und in dem Briefe vom 3ten December war das alles noch einmal wiederholet. Folgt nun aus meinem dreijährigen Verhältniß mit Herrn Campe und aus seinen eigenhändigen Briefen an mich, vom 15ten Jenner 1787 an, d a ß i c h d u r c h s e i n U r t h e i l ü b e r m e i ne Schrift beleidigt zu seyn, nur affektirt haben könn e ? – – Und wenn ich nun über sein Urtheil in Ansehung meiner Schrift nicht nur Ursach hatte, höchst beleidigt zu seyn, sondern auch durch seine wiederholte Erklärung über meine Schriften, mein Kontrakt mit ihm sich von selbst aufhob, was wird denn aus der Beschuldigung, die Herr Campe, S. 29, in seiner Schrift mit dürren Worten niederzuschreiben wagt: I c h m ü s s e m i c h (weil ich nehmlich doch den schriftstellerischen Ehrpunkt nur affektirt und zum Vorwande gebraucht haben könne) i n d e r d r i n g e n d e n N o t h w e n d i g k e i t befunden haben, meine Handschrift an einen andern zu verkaufen, um das aus meinen Handschriften gelösete Geld zur Tilgung solcher anderweitigen Schulden anzuwenden, welche mich noch mehr als diejenigen d r ü c k t e n , d i e i c h b e i i h m g e m a c h t h a b e ; da ich nun mit gültigen Beweisen und g e r i c h t l i c h darthun kann, daß dem nicht so sey, was wird denn aus dieser Beschuldigung des Herrn Campe, wenn er, S. 28, ausdrücklich behauptet, daß sie nicht bloß Vermuthung, sondern T h a t s a c h e seyn müsse, weil ich, da ich aus Rom zurückgereiset sey, und mich zwei Monathe in Weimar aufgehalten habe, ohne von ihm Geld zu bekommen, ich nothwendig in den äußersten Mangel m ü s s e gerathen seyn, der mich genöthiget haben m ü s s e , das ihm bestimmte Manuscript an eine andere Buchhand-

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lung zu verkaufen; daß dieß T h a t s a c h e sey, davon könne und m ü s s e der Umstand überzeugen, daß ich ihm seine Vorschüsse, die ich ihm binnen vierzehn Tagen wirklich überschickte, erst nur in vierteljährigen Terminen habe übersenden w o l l e n ; und es trete hier der für m e i n e E h r e g l e i c h t r a u r i g e We c h s e l s a t z e i n , d a ß ich ohne Noth, oder durch Noth und Geldmangel gedrungen, meinen Kontrakt mit ihm gebrochen habe; denn der dritte Fall, daß durch seine Erklärung über meine Schriften mein Kontrakt mit ihm sich von selbst aufgehoben, könne deswegen nicht statt finden, weil ich kein moralisches Ehrgefühl besitze, und also auch kein schriftstellerisches Ehrgefühl besitzen könne. – Daß ich nun kein moralisches Ehrgefühl besitze, beweißt Herr Campe durch Schmähungen, d i e n u n e r s t i n s e i n e r S c h r i f t s t e h e n , und die er in seinen Briefen gegen mich ausgestoßen zu haben vorgiebt. – Und nun sagt er, a u s S c h o n u n g wolle er lieber annehmen, daß ich meinen Kontrakt mit ihm a u s N o t h u n d G e l d m a n g e l als ohne Noth gebrochen habe; und um dieß s c h o n e n d e Urtheil auch wahrscheinlich zu machen, rechnet er mir meine Einnahme und Ausgabe nach, und rechnet mir S. 27 nach, daß meine Rückreise aus Rom und ein zweimonathlicher Aufenthalt in Weimar so viel müsse gekostet haben, daß ich bei meiner Ankunft in Berlin, in dem drückendsten Geldmangel m ü s s e gewesen seyn. Was nun meinen Aufenthalt in Weimar anbetrift, wo ich zum öftern des Zutritts zu Personen gewürdiget wurde, denen Herr Campe E h r f u r c h t schuldig ist, so frage ich nur, ob es einem Manne, der seine Nation gute Sitten lehren will, wohl anständig sey, meinen Aufenthalt in Waimar e i n e Q u a r a n t ä n e zu nennen, wie Herr Campe S. 24 in seiner Schrift wirklich zu thun sich nicht entblödet hat. Und ob ich gleich Herrn Campe von meinem Finanzzustande bei meiner Ankunft in Berlin eben so wenig Rechenschaft zu geben brauche, als er befugt ist, mir meine Einnahme und Ausgabe nachzurechnen, so kann ich, und alle meine hiesigen Freunde ihm doch so viel versichern, daß ich bei meiner Ankunft in Berlin weder seiner noch irgend eines andern Buchhändlers b e n ö t h i g t war, um auf eine

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vollkommen anständige Weise zu leben. – Herr Campe behauptet aber S. 27 in seiner Schrift: ich m ü s s e bei meiner Ankunft in Berlin nothwendig in dem drückendsten Geldmangel gewesen seyn, und müsse, da ich s e i n e r g e g e n w ä r t i g e n S c h r i f t z u f o l g e , kein moralisches Ehrgefühl besitze, auch kein Bedenken getragen haben, mein mitgebrachtes ihm bestimmtes Manuscript zu verkaufen, um anderweitige Schulden, die noch drückender als die seinigen gewesen wären, damit zu tilgen. – Nachdem Herr Campe also durch Schmähungen, die er in seinen Briefen gegen mich geäußert zu haben vorgiebt, und durch Beschuldigungen, die er sich selbst, wie die Folge seiner Briefe weißt, gegen mich a n d i c h t e t , in seiner Schrift erst zu beweisen gesucht hat, daß ich kein moralisches und also folglich auch kein schriftstellerisches Ehrgefühl besitze, weil ich solche Schmähungen, als er gegen mich geäußert zu haben vorgiebt, mir habe gefallen lassen, so sagt er: da ich nach den Schmähungen, die ich mir von ihm soll haben gefallen lassen, nun weder moralisches noch schriftstellerisches Ehrgefühl besitzen könne, w o l l e e r l i e b e r a u s Schonung a n n e h m e n , daß ich aus Geldnoth ein beleidigtes Ehrgefühl zum Vorwande genommen habe, um meinen Kontrakt mit ihm zu brechen, als daß ich, ohne durch andere Noth als mein beleidigtes Ehrgefühl selbst gedrungen zu seyn, meinen Kontrakt mit ihm als aufgehoben habe betrachten müssen. Herr Campe will also aus S c h o n u n g lieber annehmen, daß ich aus Geldnoth, die er mir durch Berechnung meiner Einnahme und meines Gehaltes, in Ansehung dessen er s i c h u n r e c h t h a t b e r i c h t e n l a s s e n , zu beweisen sucht, schlecht und ehrlos soll gehandelt haben, das will Herr Campe aus S c h o n u n g gegen mich lieber annehmen, als daß ich ohne durch irgend eine andere Noth als durch seine herabwürdigende Erklärung über meine Schriften gedrungen zu sein, meinen Kontrakt mit ihm als aufgehoben betrachtet habe; und daß ich ohne durch eine andere Noth, als seine n i c h t z u r ü c k g e n o m m e n e n Beschuldigungen von Wortbrüchigkeit und Treulosigkeit, gedrungen zu seyn, mich öffentlich von ihm loßgesagt habe. Aus S c h o n u n g gegen mich, damit ich nicht aus beleidigtem Ehrgefühl, sondern aus Geldnoth gedrungen

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gewesen seyn soll, meinen Kontrakt mit ihm aufzuheben, dichtet sich also Herr Campe alle die Beschuldigungen und Schmähungen gegen mich an, welche von ihm geduldig hinzunehmen, die Geldnoth mich soll gezwungen haben. – Aus S c h o n u n g nennt er seine Schrift über mich e i n e n a b g e n ö t h i g t e n t r a u r i g e n B e i t r a g z u r E r f a h r u n g s s e e l e n k u n d e – Aus S c h o n u n g wirft mir Herr Campe ein Geschenk von meinen Freunden aus Berlin, das mir auf die edelmüthigste Weise übermacht wurde, und worüber er mir damals seine T h e i l n e h m u n g bezeugte, S. 8. in seiner Schrift mit den unwürdigsten Ausdrücken wieder vor. – Und aus S c h o n u n g dichtet er sich also die ganze Reihe von Beschuldigungen gegen mich an, die jetzt erst in seiner Schrift stehen, und wovon die ununterbrochene Folge seiner Briefe an mich beweißt, daß er sie mir nie würklich gemacht habe. Aus eben dieser S c h o n u n g , damit ich meinen Kontrakt nur durch Geldnoth gedrungen müsse g e b r o c h e n , und keine Ursache m ü s s e gehabt haben, durch seine Erklärung über meine Schrift von ihm beleidiget zu seyn, führt er in seiner Schrift S. 18. und 19. aus einer ausführlichen Recension meiner Abhandlung über das Schöne, mit Hinweglassung alles dessen, was zum Lobe dieser Abhandlung gesagt wird, e i n e e i n z i g e t a d e l n d e Stelle an, und fügt hinzu: der einsichtsvolle Mann, welcher diese Abhandlung in der allgemeinen Litteraturzeitung recensirt, habe der Hauptsache nach eben so darüber geurtheilt als Herr Campe. Ich berufe mich aber auf diese Recension in der 154sten Nummer der Jenaischen allgemeinen Litteraturzeitung, und auf eine andere in dem 62sten Stücke der Göttingischen gelehrten Anzeigen von diesem Jahre, in wie ferne mit diesen beiden Urtheilen über diese Schrift, das herabwürdigende Urtheil des Herrn Campe übereinstimme, der mir schrieb: sie enthalte eine phantasirende Philosophie, wobei mir wenig Leser folgen könnten: noch weniger folgen m ö c h t e n ; und wenn mein Buch über die Alterthümer eben das G e p r ä g e , und nicht vielmehr schlichte historische Darstellung als v o n j e n e r A r t P h i l o s o p h i e enthielte, so würde es schlecht damit gehen. Warum hob denn nun Herr Campe gerade das Ende der Recension in der allgemeinen Litteraturzeitung aus, und

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schwieg so geflissentlich von dem Anfange, wo gesagt wird, d a ß selbst das Dunkle, worin einige Theile gehalten sind, zugleich Denkkraft und Empfindung in dem Leser dieser kleinen Schrift beschäftige, und ihr ein außerord e n t l i c h e s I n t e r e s s e g e b e . – Stimmt nun Herr Campe, wie er S. 18. seiner Schrift sagt, der Hauptsache nach mit dem in dieser Recension gefällten Urtheile würklich überein, wie konnte er mir denn am 3ten December 1788 schreiben, daß meine Schrift eine solche Art phantasirender Philosophie enthielte, wobei mir wenig Menschen folgen könnten, n o c h w e n i g e r f o l g e n m ö c h t e n , und welche also, wenn selbst diejenigen, die mir folgen konnten, es der damaligen Meinung des Herrn Campe nach nicht m o c h t e n , zu Makulatur zu werden v e r d i e n t e . – Nachdem nun Herr Campe also hinlänglich bewiesen zu haben glaubt, daß meine Schrift mich gar nicht berechtige, sein n a c h d e r M i c h a e l i s m e s s e u m g e s t i m m t e s U r t h e i l über meine Schrift und seine verächtliche Meinung davon so hoch aufzunehmen; und nachdem er hinlänglich bewiesen zu haben glaubt, daß ich kein moralisches und schriftstellerisches Ehrgefühl besitze, weil ich die Beschuldigungen von Treulosigkeit und Wortbrüchigkeit, die er sich in seiner ganzen Schrift gegen mich andichtet, und wovon die ununterbrochene Folge seiner Briefe beweißt, daß er sie mir nie würklich gemacht hat, mir soll haben gefallen lassen; und also in Ermangelung eines andern Bewegungsgrundes aus Geldnoth müsse gedrungen gewesen seyn, Herrn Campe zu b e t r ü g e n ; nachdem Herr Campe also dies durch die sich selbst angedichteten Schmähungen, die er in seinen Briefen gegen mich ausgestoßen zu haben vorgiebt, hinlänglich glaubt bewiesen, und a l s o m e i n e ö f f e n t l i c h e E h r e u n d g u t e n N a h m e n a u f i m m e r g l a u b t v e r n i c h t e t z u h a b e n , s a g t e r : S. 50. und 52.: er sey nun mit dem allertraurigsten Werke seines Lebens zu Ende; es habe ihm einen Theil seiner Gesundheit und beinahe das Leben gekostet, nicht als ob mein Aufsatz in der allgemeinen Litteraturzeitung ihn so sehr gekränkt habe, nein! diesen habe er mit der größten Ruhe und Gelassenheit gelesen, aber der peinigende Gedanke, der wie ein

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Gespenst vor seiner Seele gestanden, daß er einen jungen fähigen Mann, der mit einigen würklich schätzbaren Talenten, welche die Natur ihm verwilliget, bei einer guten Anwendung derselben viel Gutes hätte stiften können, in einem gewissen Grade, und auf eine Zeitlang wenigstens unglüklich habe machen müssen – dieser jammervolle Gedanke habe sein Innerstes auf eine so gewaltsame Art erschüttert, daß er die paar Tage, die er brauchte, um diese unseligen Blätter zu schreiben, kaum zu überleben hoffen durfte. – Andere Männer von ähnlicher Denkungs- und Handlungsart, mit denen sein jetziger sehr zusammengesetzter Wirkungskreiß ihn von Zeit zu Zeit in Geschäftsverhältnisse bringe, m ö c h t e n s i c h i n d i e s e m Vo r g a n g e s p i e g e l n . – So schreibt Herr Campe, n a c h d e m e r meinen g u t e n N a m e n a u f i m m e r g l a u b t v e r n i c h t e t z u h a b e n , j e z t v o n m i r , und am 15. Jenner 1787 schrieb er m i r s e l b s t n o c h fast mit denselbigen Worten nach Rom, er werde einen Mann, dessen Nahmen ich verschweige, g e r a d e z u m o r a l i s c h t o d t s c h l a g e n . – Ich überlasse es nun einem jeden, der diese meine Schrift gelesen hat, zu entscheiden, in wiefern Herr Campe seine Kunst, d i e L e u t e m o r a l i s c h t o d t z u s c h l a g e n , auch an mir versucht hat.

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In der Schrift des Herrn Campe betitelt: M o r i t z , e i n a b g e n ö thigter trauriger Beytrag zur Erfahrungsseelenkunde, hebt gleich S. 2 die erste Zeile seiner Beschuldigungen gegen mich mit einer Unwahrheit an, woran ein Gewebe von Unwahrheiten gekettet ist, das nur durch die ununterbrochene Folge der eigenhändigen Briefe des Herrn Campe an mich, die ich besitze und gerichtlich vorzeigen kann, wiederlegt werden konnte. – Da ich nun in meiner Schrift betitelt: U e b e r e i n e S c h r i f t d e s H e r r n Schulrath Campe und über die Rechte des Schriftstell e r s u n d B u c h h ä n d l e r s , dies ganze Gewebe von Unwahrheiten aus den Briefen des Herrn Campe, die er wahrscheinlich nicht mehr in meinen Händen glaubte, ohne einen Punkt zu übergehen, w i d e r l e g t h a b e , und mich deswegen auf diese meine Schrift, und die eigene Handschrift des Herrn Campe berufen kann; – so frage ich: ob die deutsche Nation noch ferner einen Mann, als einen b e f u g t e n L e h r e r d e s E r z i e h u n g s g e s c h ä f t e s anerkennen kann, welcher, nachdem er durch ein Gewebe absichtlich nebeneinandergestellter offenbarer Unwahrheiten, S. 51. in seiner Schrift, m i c h glaubt unglücklich und unbrauchbar gemacht zu hab e n , S. 50 und 51 vorgiebt, daß er vor Mitleid über mich, den er so unglücklich gemacht, die Verfertigung seiner Schrift kaum habe überleben können? – Einen Mann, der nachdem er durch a b s i c h t lich nebeneinandergestellte offenbahre Unwahrheit e n meinen guten Namen auf immer glaubt vernichtet zu haben, hinzufügt, andere Männer, mit denen er in Geschäftsverhältnissen stehe, m ö c h t e n s i c h d a r a n s p i e g e l n ; und der mir selbst noch am 15ten Jenner 1787 fast mit den selbigen Worten nach Rom schrieb, e r w e r d e e i n e n M a n n , dessen Nahmen ich verschweige, geradezu moralisch todtschlagen, d i e a n d e r e n m ö c h t e n s i c h d a r a n s p i e g e l n ! – – Einem jeden aber, der meine Schrift gelesen hat, überlasse ich es, zu entscheiden, in wiefern Herr Campe seine Kunst, die Leute moralisch todtzuschlagen, auch an mir versucht hat? Moritz.

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〈Öffentliche Erklärung vom 28. Juli 1789〉 Da ich gegen H e r r n C a m p e n s S c h m ä h u n g e n in einer besondern unter dem Titel: Ueber eine Schrift des Herrn Schulrath Campe und über die Rechte des Schriftstellers und Buchhändlers bey Maurer erschienenen Schrift, mich zu vertheidigen genöthigt gesehn habe; so verweise ich auf dieselbe meine Freunde, und jeden Rechtschaffnen, dem die Rechtfertigung und Erhaltung des guten Namens eines andern lieb ist. Berlin den 28 Julii 1789. Moritz.

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Was uns allein zum wahren Genuß des Schönen bilden kann, ist das, wodurch das Schöne selbst entstand; vorhergegangne ruhige Betrachtung der Natur und Kunst, als eines einzigen großen Ganzen, das, in allen seinen Theilen, sich selber spiegelnd, da den reinsten Abdruck läßt, wo alle Beziehung aufhört, in dem ächten Kunstwerke, das, so wie sie, in sich selbst vollendet, den Endzweck und die Absicht seines Daseyns in sich selber hat. – Göthe. So reift, in die Dunkelheit des Waldes, auf die Wiesenfläche und an des Flusses Krümmungen von seinem Homer begleitet, der vaterländische Dichter. – In staunende Betrachtung ganz versenkt, irrt bald sein Auge von des Himmels Wölbung auf des Gräschens gebogne Spitze, bald blickt er in die spiegelnde Fluth, bald wieder in den weit erhabnern Spiegel, der vor ihm aufgeschlagen, in wiederkehrenden Zeilen Jahre rollen, Sonnen auf und untergehen, Menschen sich zerstören, und einen, der nach langen Jahren, ohne seine Gefährten, in sein Vaterland wiederkehrt, mit allen Stürmen des Schicksals kämpfen läßt. Das alles geht vorbey, geschieht in wenigen Momenten – Das Auge blickt wieder auf, sieht noch dieselbe Himmelswölbung, dieselbe spiegelnde Fluth, desselben Gräschens gebogne Spitze; und das vorüberrollende in Gedanken steht noch da, steht vest. Werdende und vergehende Geschlechter, der immer wirkende, immer duldende Mensch in der ihn umgebenden Natur. – Der neue Sinn erwacht und sieht mit Staunen die Keime des Werdens und Wirkens in allem, was ihn umgiebt. – Das Maaß der Empfindung füllt sich voll, strömt über – der Bildungstrieb ist da – und findet keinen Stoff. –

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Der höchste Stoff der wirkenden Kräfte ist vorweggenommen; das höchste Leben in der zerstörenden Feldschlacht unübertreflich dargestellt. – Der Stoff der duldenden Kräfte ist auch erschöpft – alle die Stürme des Schicksals sind durchkämpft – dulden kann niemand mehr, als der herrliche Odysseus, und standhafter niemand seyn, wie er – und doch sind menschliche Kräfte einmal der Dichtkunst höchster Stoff. – Was bleibt dem strebenden, aufs höchste gespannten Bildungstriebe, als die durch ihr Uebermaß sich selbst zerstörende, in jeder unschuldigen Aeußerung ihrem Untergange unaufhaltsam zueilende Lebenskraft, in ihrem innern Kampfe: so entstand die aller Herzen sich bemeisternde Erzählung von Werthers Leiden, worinn sich nun aufs neue wieder die ganze Menschheit spiegelt. Ein Werk, das unter allem, was die neuere Dichtkunst schuf, der griechischen Einfalt, Würd’, und Wahrheit am nächsten kömmt, und doch, wie mitten aus dem täglichen Leben herausgehoben, von unsrer Welt und unsren Sitten ein daurender Abdruck ist. Sein Stoff, der einzige noch unbenutzte, der dem Homer nachgeschaffen und gleich gebildet, die einzige noch wahre mögliche Epopee unsrer Zeiten ward. So entstand durch die wetteifernde Nachahmung des Shakespear, unser erstes Originaldrama Götz von Berlichingen, wo alles Große, Edle und Schöne aus der Barbarey der mittlern Zeiten, sich von dem Gröbern, Unedlen, und Gemeinen sondernd, und immer näher aneinander rückend, zuletzt ein täuschendes Ganze bildet, und auch ein heller Spiegel des großen Lebens der Natur in allen Zweigen wird. 74

Geßner. Durch vereinten harmonischen Natur und Kunstgenuß entstanden auf ähnliche Weise Geßners Schweizeridyllen, einzig schön und unübertreflich in ihrer Art.

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Rammler. Mit seinem Horaz am Ufer der Spree hinwandelnd, besang der Schöpfer unsrer Ode die Thaten und Schlachten Friedrichs des Einzigen.

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Klopstock. Genährt durch ruhigen stillen Naturgenuß, strömte Klopstock in seiner Frühlingsfeyer und seinen frühen Gräbern, das höchste Maaß von Empfindung aus, wodurch unser innerstes Wesen sanft bewegt und erschüttert wird. Gleim. Selbst froh und heiter um sich blickend, und mit vollen Zügen, die ihn umgebende Natur einathmend, sang der edle Gleim, wetteifernd mit seinem Tyrtäus und Anakreon, in die Herzen der Deutschen Muth und Freude. Vo ß . Genährt durch jenen ruhigen harmonischen Natur und Kunstgenuß konnte Voß durch seine unübertrefliche Uebersetzung des Homers, uns von dem Höchsten der Dichtkunst, in unsrer eignen Sprache, den reinsten Abdruck geben, und in den Marschländern seinen Pfarrer von Grünau mit griechischer Einfalt und Wahrheit dichten. Wieland, Göthe, Lessing. So sind wir von Gottsched bis zu Gellert, von den Bremischen Beyträgen zu den Litteraturbriefen, endlich bis zu der höchsten Feinheit und Grazie von Wielands Musarion, bis zu der griechischen Einfalt, Würd’ und Wahrheit in Werthers Leiden, und zu der alle Nebel des Vorurtheils durchdringenden Klarheit von Nathan dem Weisen emporgestiegen. Wieland. Wieland trug im Feuer seiner mitwirkenden Imagination zuerst den ganzen griechischen Himmel auf unsre rauhe Flur hinüber. Wir wan-

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delten, wenn wir wollten, unter Eichen in Lorbeerwäldern, unter Tannen in Cypreßenhainen. Allein die sanften Täuschungen sollten nur unser Leben würzen, nicht aber zur nährenden Speise werden. Den edlen Nahrungssaft soll unsre eigne, uns selbst umströmende Natur, und fremde Himmelsstriche nur die Würze für unsern Gaumen zollen. – Sobald die Würze zur Speise wird, muß unsre Lebenskraft vertrocknen, wir sterben unserm vaterländischem Boden ab, und finden keine andre Heimath. Die Kunst, als Lebenswürze und nicht als Speise brauchen, darinn besteht ja eben jener harmonische Natur und Kunstgenuß, wobey allein nur der Geschmack sich durch sich selber bilden, die Bildungskraft sich durch sich selbst entwickeln kann. Die Würze bloß zur Würze und nicht zur Speise brauchen, heißt ja nicht ihren Werth verkennen, sondern sie recht nach ihrem Werthe schätzen, indem wir sie über alle das Reizende aber nicht über das Nährende setzen, was mit ihr zugleich genossen wird. Die Würze ist nicht um zu nähren, so wenig das Schöne da ist, um zu nützen; das Schöne, so bald wir es nach dem Nützlichen schätzen, sinkt es von seinem Werth und hebt sich auf: darum eben soll es nicht nach dem Nützlichen, sondern bloß nach sich selbst geschätzt, und mit sich selbst verglichen werden. Wollte nun jemand sagen, die Würze an Speisen sey unnütz und überflüßig, eben weil sie nicht zur Nahrung dient, wozu das hinreicht, was auf unserm vaterländischem Boden wächst – so könnte man auch sagen: der Duft an der Blume sey überflüßig, weil er uns nicht nährt, ihre spielenden Farben sind unnütz, weil sie uns nicht speisen. Als ob wir bloß verdauen, in Nahrungssaft verwandeln, und nicht auch schmecken, riechen, hören, sehen, uns etwas ein und ausbilden, und denken sollten; und als ob das Verdauen und die Verwandlung in Nahrungssaft nicht eben dazu wäre, damit wir öfter die Würze in der Erdbeere schmecken, den Duft in der Blume riechen, Natur und Kunst in unserm Auge spiegeln, mit unserm Ohre vernehmen sollten – um das Schöne von allen Seiten in uns herein, und wenn wir können, verschönert wieder aus uns herauszubilden. –

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Wer kann sagen, wo das bloß Nützliche aufhört, und das bloß Schöne anfängt. – Freylich steht es bey uns, die Gränze zu ziehen, wo wir wollen, in Werken, die von Menschenhänden gemacht, durch Menschenhände zerstörbar sind. Aber können wir auch dem Auge verbieten, daß es Auge, dem Ohre, daß es Ohr sey? dem Regenbogen, daß er glänze? der Blume ihren Duft, der Erdbeere ihren Wohlgeschmack? Lasset unsre große Lehrerinn, die Natur, uns fragen: wo hört der Kreislauf ihrer immer sich aus sich selbst entwickelnden, verjüngenden und verschönernden Bildungen auf, wo hebt er an? Wohin wir blicken, sehen wir eine immerwährende Bildung des Einzelnen zum Ganzen und dieses Ganzen wieder zu einem größern, und immer größern, uns zuletzt undenkbarem Etwas, das unsre stammelnde Zunge, da wo sie den sich immer selbst umwälzenden Begriffen nicht weiter folgen kann, in der letzten Anstrengung ihrer Kraft, das All, das große Ganze, die Natur nennt. Wir fassen sie uns an sie schließend mehr mit Liebe, als mit Gedanken. Fühlen können wir sie, als die Gebährerinn aller Wesen, denken nur als die Gebährerinn unsers Wesens. – Und wollen wir sie uns dennoch denken, wie sie ist, und den Begriff von ihr nicht leer lassen, was können wir ihr höheres wieder geben, und in sie hineinlegen, als das höchste, was sie dem Menschen selber gab, im höchsten Maße; statt der Bildungs- Schöpfungskraft, worinn sie alle übrigen denkbaren Kräfte auf einmal schaffend in sich faßt, und die wir uns nun als den Mittelpunkt ihres Wesens denken, auf den sie sich von allen Seiten stützt, und in welchem ihr eignes großes Daseyn auf sich selber ruht. Wir glaubten sie uns vorzustellen, und haben doch nur uns selbst gedacht – wir wachen aus der Täuschung auf – der Kreislauf unsrer Begriffe schließt sich hier, und geht, wohin er soll, in dankvolle ruhige Empfindung unsers eignen Daseyns – und haben wir Bildungskraft, in einen reinen Abdruck des höchsten uns fühlbaren Schönen, über.

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So bildete unter jedem Himmelsstrich die Natur das Schöne, sich in den reinsten Seelen, in ihren ruhigsten Momenten, spiegelnd – Nichts störte die sanfte Harmonie, sie konnte ewig dauern – wenn nicht der Wechsel der Dinge stets seine Tyranney ausübte. Völker, wo die Künste blühten, wurden weichlich, üppig, entfernten sich vom reinen Naturgenuß immer weiter – durch übertriebnen Genuß in jeder Art des schwächsten Eindrucks fähig, verlohren sie endlich ihre Wiederstehungskraft. – Die Schwerdter der Barbaren drangen ein – das Schöne ward verkannt, verdrängt, zertreten; allein sein edler Saame blieb. – Nach einer langen Pause ruhen die Schwerdter wieder – der Handel blühet – Menschen theilen sich Menschen mit. – Die ruhige Betrachtung stellt sich ein – man horcht wieder auf die Stimme der Natur – der Sinn für das Schöne erwacht – man sucht es unter Schutt und Steinen auf; die kostbaren Ueberreste werden mit Gold und Schätzen aufgewogen – ein Volk regt das andre an – man sucht und schätzt das Schöne bey allen Nationen, unter jedem Himmelsstrich, wo man es findet – die Sitten bilden sich menschlicher; die Barbarey entflieht. Der Nationalgeschmack, Nationalstolz und Eigendünkel hört mit dem Religions- und Nationalhaß und Vorurtheilen, allmälig auf – das, was zu wechselseitiger Bildung geschaffne Völker von einander hielt, wird durch die siegende Vernunft verdrängt. – Die Menschheit tritt wieder in ihre angestammten Rechte, sich mittheilend und sich kennend von Aufgange bis zum Niedergange. Und wo ist eine Nation, die mehr vom Eigendünkel frey, das außer ihr ohne ihr Zuthun schon Hervorgebrachte, sorgfältiger sich zu eigen macht, mehr fremde Sprachen lernt, mehr übersetzt, mehr das, was nicht auf ihrem Boden sproßte, doch ihrer Aufmerksamkeit würdig hält, mehr willig lernt und annimmt, als die unsrige; welche mehr Werth in ihre Menschheit, als in alles setzt, wodurch der Mensch sich von dem Menschen unterscheidet, und welche eben dadurch der edelsten wechselseitigen Mittheilung und Bildung fähig, auch ihrer eignen Achtung und Selbstschätzung werth ist.

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Eine solche Nation muß und kann sich bis zu dem höchsten Grade der Verfeinerung bilden, so bald sie das Edle und Schöne, wo sie es findet, dann erst, wenn durch stille Betrachtung der Sinn für das Schöne sich von selbst eröfnet, ruhig umfassend an sich drückt. Dann muß nothwendig das bildende Genie noch immer mehr durch wetteifernde Nachahmung, und der wählende und prüfende Geschmack durch reinen harmonischen Natur und Kunstgenuß, sich immer mehr durch sich selbst vervollkommnen und entwickeln. In wie fern dieß nun geschehen sey, wissen wir, und schließen aus der Natur der Sache, wie es hat geschehen müssen, und ferner geschehen kann – und dieser ruhige Ueberblick ist alles, was, unbeschadet der guten Sache, hiebey unsrer Wirksamkeit übrig bleibt. Moritz.

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Durch die Betrachtung des Schönen müssen wir uns zu der Betrachtung des Nützlichen wieder zu beleben suchen. Die Betrachtung des Schönen ist leichter, ist G e n u ß . – Die Betrachtung des Nützlichen erfordert mehr Anstrengung, ist edler, ist Thätigkeit. Die Liebe zum Schönen muß nie Liebhaberey, nie unbegrenzte Leidenschaft werden, sonst erniedrigt sie unser Wesen, statt es zu erhöhen. Nachdem Adam dem Engel, in Miltons verlohrnem Paradiese, seine Geschichte bis dahin erzählt hat, wo er in dem Besitz seiner Gattin den höchsten Gipfel irrdischer Glückseligkeit erreicht und empfunden hat, so beschließt er seine Erzählung mit folgenden Worten, die recht eigentlich hieher passen, weil sie gleichsam eine kurze Theorie des Schönen oder i n s i c h s e l b s t Vo l l e n d e t e n sind, und seine Wirkung auf den menschlichen Geist, in sich enthalten: »So hab’ ich meinen Zustand dir geschildert, Und habe die Geschichte meines Lebens Nun bis zum höchsten Gipfel irrdischer Glückseligkeit gebracht, die ich genieße: Doch, muß ich dir bekennen, daß ich zwar An allen Dingen sonst Vergnügen finde; Doch weder der Genuß noch die Entbehrung Bringt heftige Begier noch irgend eine Veränderung in meiner Seel’ hervor; Ich meine den Genuß der Süßigkeiten, Die der Geschmack, Geruch und das Gesicht Gewährt, von Früchten, Kräutern, Pflanzen, Blumen,

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Von schattigten Alleen, und der Vögel Melodischem Gesange – Wie verschieden, Ist mein Gefühl, bin ich bey ihr! – entzückt Berühr’ ich, voll Entzückens seh ich sie. Hier fühlt’ ich Leidenschaft zum ersten Mahl Und wunder seltsam mich bewegt; Bey jedem Genuß sonst standhaft, über die Begier Erhaben, und nur gegen diesem Zauber Des mächt’gen Blicks der Schönheit schwach, entweder Beging Natur hier einen Fehler, weil Sie etwas in mir unvollendet ließ, Das gegen diesen Reiz nicht Probe hielt, Sie nahm vielleicht auch mehr, als sie gesollt, Da sie den Stoff aus meiner Seite stahl. Sie gab ihr wenigstens mehr äußern Schmuck Indem ihr Aeußeres weit mehr als ihr Inneres Vo l l e n d e t ist: – ich weiß es, zu dem höchsten In uns erreichten Endzweck der Natur In dem, was geistige Vollkommenheit Betrift, steht sie auf einer niedern Stufe; Auch trägt sie selbst im Aeußern weniger Das Bildniß dessen, der uns Beyde schuf, Und ihr von jenem Ausdruck weniger Verlieh, der unsre Herrschaft über alle Geschöpfe an uns merkbar macht – doch wenn ich In aller ihrer Liebenswürdigkeit Sie vor mir sehe, wenn ich nah ihr komme, So scheint sie mir s o i n s i c h s e l b s t v o l l e n d e t , So ganz vollkommen, und auch ihren Werth So wohl und richtig in sich selbst zu fühlen, Daß, was sie will, in Worten und in Thaten Mir jedesmal das Beste, Weiseste, Vernünftigste und Klügste scheinet; jede

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Höhere Wissenschaft sinkt eine Stufe In ihrer Gegenwart herab – – Und selbst die Weißheit, im Gespräch mit ihr, Verliert sich in Beschämung und Verwirrung, Und sieht wie Thorheit aus – Vernunft und Ansehn Sind, gleich als ob sie selbst der Zweck der Schöpfung Und zur Gehülfin nicht geschaffen wäre, Ihr willig unterthänig – daß ich alles Zusammenfasse; Größ’ und Seelenadel Erbauen hier sich ihren Thron, und schaffen Ihr eine Würd’ um jeden Reiz, als wenn Sich um sie eine Engelwacht gelagert.« To whom the Angel with contracted brow – Ihm antwortete der Engel, mit finstrer Stirn, auf das was er zuletzt von seiner leidenschaftlichen Empfindung gesagt hatte, die über die Vernunft die Oberhand behielt. – Nie soll die Empfindung für das Schöne ganz in Leidenschaft übergehen, sondern sie sey so lebhaft, wie sie wolle, so soll sie doch der Vernunft untergeordnet bleiben. – Die Vorwürfe welche der Engel dem Adam, über seine zu weit getriebene Huldigung der Schönheit macht, sind eben so schön, als diese Huldigung selbst. Moritz.

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Wenn ich die Ilias las, so konnte ich mich nicht des Gedankens enthalten: Warum hat die neuere Dichtkunst kein Werk, welches ein eben so vollständiges und rührendes Gemählde des politischen und häuslichen Zustandes, der Sitten und ganzen Denkungsart der kultivirten Menschheit unserer Tage darstellt, als das Werk des Griechen? Die Geschichte irgend eines Krieges aus der neuern Epoche hat mir zu diesem Zweck immer ein sehr schicklicher Gegenstand geschienen. – Ich weis nicht, ob Sie bey dem ersten Gedanken der Borussias von dieser Idee ausgegangen sind: aber Ihre ganze Behandlung des gewählten Gegenstandes, und besonders auch der Anruf an die M u s e d e r m i l d e r g e s i t t e t e n M e n s c h h e i t in dem Anfange des Gedichts – scheint es mir zu bestättigen, daß Sie wenigstens den nämlichen Zweck bey dem Werke sich vorgesezt. Ohnlängst kam mir von ungefähr ein allegorisches Gedicht, d i e F r e y h e i t , von dem Englischen Dichter Thomson, vor Augen, wo ich, nach dem Anfange des Gedichts, die Bearbeitung eines ähnlichen Gegenstandes zu finden hoffte; aber ich ward sehr getäuscht: es ist mehr eine Geschichte der Künste, als lebendige, handlungsvolle Darstellung unserer kultivirten Menschheit. Denn die Allegorie schon untersagte dem Dichter jedes lebendige Gemählde, und wirkliche Charaktere.

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Ueber die Wahl des Gegenstandes des Gedichts aus einer neuern, bekannten Geschichte.

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Wenn ich es mir denken könnte, daß das ganze Gedicht Homers blos Gedicht wäre, und durchaus keine wahre Geschichte oder Thatsache, und keine wirklichen Charaktere zum Gegenstande hätte: so würde die Ilias, wenigstens für mein Gefühl, so wie auch gewis für den Beobachter der Geschichte der Menschheit, außerordentlich viel an Interesse verlieren. Aber nach allem, was wir wissen, liegen der Ilias, der Aeneis, dem befreyten Jerusalem, und allen größern und kleinern epischen Gedichten wahre Thatsachen zum Grunde. Denn die Wa h r h e i t erhöht, mehr fast, als alles übrige, die W i c h t i g k e i t einer Sache. Und der Gegenstand einer Epopee muß groß und wichtig seyn. Eine neuere und bekannte Geschichte zu dem Gegenstande des Gedichts zu machen, ist ohne Zweifel gefährlicher. Aber wenn der Dichter seinen Gegenstand so behandelt, wie Milton und Klopstock den ihrigen behandelt haben, (der, da er Wahrheiten der Bibel zum Grunde hatte, ihre Phantasie, wenigstens von Seiten des Plans, sehr einschränkte); wenn er nichts hinzudichtet, als was aus den Sitten, den Handlungen und Gesinnungen der Hauptpersonen des Gedichts, und aus den Thatsachen selbst hervorgeht, und was wir uns allenfalls selbst bey den allgemeinen Ausdrücken: Krieg, Schlacht, Flucht, Ueberfall, während des Lesens der Geschichte eines Krieges, mit unserer Phantasie ausmahlen: Dann verbindet der Dichter Geschichte und Dichtung auf eine untadelhafte, und dem Total-Eindruck des Gedichts nur um so viel vortheilhaftere Art. Grade darin müssen Sie einen Vorzug und wesentlichen Unterschied Ihres Gedichts setzen, daß S i e w i r k l i c h e G e g e n s t ä n d e und T h a t s a c h e n , so wie w i r k l i c h e C h a r a k t e r e , d i c h t e r i s c h d a r s t e l l e n , und daß diese t r e u e D a r s t e l l u n g d e r Wa h r h e i t z u g l e i c h d a s A n sehen der Dichtung hat.

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»Friedrich,« sagen Sie, »soll, wie Gott in seiner Schöpfung, in dem Gedicht überall leben und weben, all-herrschend, all-thätig.« Freylich hätte ich gewünscht, daß die neuere Art, Krieg zu führen, die bekannten Charaktere der Generale, und so manches andere Ihrer Phantasie nicht Hindernisse in den Weg gelegt hätten, die Ulyssen, Nestors und Dio-meden Ihres Achills, nicht blos als seine Arme darzustellen, mit welchen er schlägt, sondern allenfalls als seine Rathgeber sie dann und wann zu zeigen, wie Sie dies in dem VII. Gesange kurz angedeutet. Besonders wünschte ich, daß das charakteristische Gespräch des Laudon und Daun in eben diesem VII. Gesange aus dem Munde eines Seidlitz oder Ziethen gehört würde, oder daß wenigstens auch sie ähnliche Rathschläge mit einander pflegten. Aber freylich w a r e n d i e s e G e n e r a l e n u r F r i e d r i c h s A r m : und die Rathschläge, die der Dichter ihnen in den wichtigsten Vorfällen, an Friedrich in den Mund gelegt hätte, würden zu gleicher Zeit der allbekannten und großen Gesinnungsart Friedrichs, allein zu herrschen, entgegen gewesen seyn, und den Total-Eindruck von seiner Größe und seinem Genie geschwächt haben. Und so viele Verdienste auch Friedrichs Generale um seine Siege haben mögen: so ist doch grade die Größe eines Generals bey Entwerfung eines Plans zum Ueberfall, zum Angriff, durchaus kein dichterisch-darstellbarer Gegenstand: und lange Reden a` la Homere würden in ihrem Munde nur lächerlich gewesen seyn. Einzelne Züge bleiben hier dem Dichter allein übrig. Ich selbst sagte Ihnen schon in unserer leztern Unterredung, daß der siebenjährige Krieg den großen Eindruck, den er auf mich von je her gemacht hat, immer mehr durch die Züge von Leidender oder auch sich anstrengender M e n s c h h e i t i n M a ß e , und durch Friedrichs Charakter; als durch die Größe seiner Generale hervorgebracht hat. Wenn Sie Sitten, Denk- und Handlungs-weise der gegenwärtigen Menschheit darstellen wollten, so suchten Sie diese mit Recht mehr in den kleinern Episoden der in der Schlacht Gefallenen, und in den

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andern eingeflochtenen kleinen Geschichten. Der Mensch von dem geringern Stande, so wie überhaupt der in Familie und häuslichen Verhältnissen lebende Mensch, war immer, und ist noch stets derjenige, der dem Dichter die rührendsten und handlungsvollsten Züge zu charakteristischen Gemählden darbietet. Die Helden des Homer interessiren uns fast durchgängig blos deswegen, weil sie in ihren Sitten mit unserm gemeinen Mann, und seiner ganzen Lebens- und Handlungs-weise so viel ähnliches haben. Diese Charakteristik der gegenwärtigen Menschheit, ihrer sanfteren verfeinerten Gefühle, ihrer ganzen Lebens- und Handlungs-weise, besonders in den häuslichen und Familien-verhältnissen, müssen Sie bey den kleinen Geschichtchen, immer feste im Auge behalten. Denn diese h ä u s l i c h e P o e s i e ist, nach allem, diejenige, die für den größten Theil der Menschen die lebhaftesten Reize hat. – Und wenn einst die Menschheit von Seiten der politischen Verhältnisse, das seyn wird, was sie nach den Absichten des Schöpfers seyn soll: dann werden die Menschen vielleicht keine an-dere Dichter, als Matthison’s oder Hölty’s haben, die ihr Gefühl für die Schönheiten der Natur, für Liebe und häusliches Glück beleben und veredeln. Die stärkern, pathetischen Empfindungen des Heroismus, der Tragödie u. s. f. werden für das ruhige, sanfte, zur patriarchalischen Einfalt zurückgekehrte Menschengeschlecht – zu gewaltsam seyn. – Ich sage Ihnen dies, um Ihren Geschmack für die Familiengemählde, deren Sie in den 7 Gesängen, die vor mir liegen, so manche angebracht, nur mehr zu beleben. Denn durch dergleichen Schilderungen können Sie das Gedicht höchst charakteristisch machen. Voß und Gesner in ihren Idyllen, Klopstok in einzelnen Gemählden und Charakteren der Messiade, und in dem Trauerspiele, der Tod Adams, und noch einige andere unserer Dichter, haben diese Charakteristik des häuslichen Lebens sehr glücklich benuzt. Denn sie scheint im eigenthümlichsten Sinne d e u t s c h e r G e i s t zu seyn. Die Fürsten-charaktere der Russischen Kaiserin Elisabeth, Theresiens von Oesterreich, Augusts von Sachsen, Ludwigs XV. von Frankreich, ein paar Französische Generale, und besonders der Charakter des jungen Peters im X. und XI. Gesange tragen

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ganz das Gepräge unsers Jahrhunderts. Bey den abstechenden Charakteren der beyden Minister Theresiens in dem II. Gesange – wird da der Leser bey dem Philanthropischen Staatsmann, der zuerst spricht, nicht an den Nikodemus in der Messiade denken? Wenigstens hätte Nikodemus, als Staatsmann, die nämlichen Grundsätze und Gesinnungen äußern müssen. Dem verklärten Kleist in dem VIII. und IX. Gesange wollen Sie den Charakter eines menschenfreundlichen Weisen geben, der besonders über die großen Angelegenheiten der Menschheit in Rücksicht ihrer politischen Lage, ihrer Kultur und ganzen künftigen Bildung und Bestimmung, von dem höhern Geist, der ihm erscheint, Aufschlüsse zu haben wünscht? Dieser Charakter wird etwas schwer auszubilden seyn: aber Sie eröfnen sich dadurch einen Weg für Gemählde der Phantasie, die Sie, grade hier, mit verhängtem Zügel durch die Regionen der unsichtbaren Welt und der endlosen Zukunft, als ein wahres Musen-pferd, hinfliegen lassen können. – Daß Sie aber nur ja nicht, wie Lavater in den »Aussichten für die Ewigkeit« ins Ungeheure und Abentheuerliche verfallen! Was Sie »Characte`res en corps« nennen, (die charakteristische Handlungs- und Gesinnungs-art der kriegführenden Nationen) – darin kann ich nichts widersprechendes, oder wenigstens der Darstellung unfähiges finden, wie Herr R–z zu finden scheint. Hat man nicht mit Recht angemerkt, daß auch beym Homer, Griechen und Trojaner, wenn sie en corps agiren, ganz verschieden und charakteristisch handeln? Um so viel eher und leichter kann der Dichter diese Charakteristik en corps, bey so verschiede-nen, und unter so ganz verschiedenen Umständen kämpfenden Nationen, als Preußen, Oesterreicher, Franzosen, Russen, Sachsen sind, anbringen. In der Schlacht bey Prag kämpfen die Preußen aus Stolz und Ehrgeiz; bey Leuthen aus hohem Muth, den ihnen Friedrichs Rede eingehaucht, und aus Verzweiflung; bey Zorndorf aus schrecklicher Rachbegierde; bey Torgau mit aller der Wuth, die einen lezten und entscheidenden Sieg erringen will. Eben so scheinen mir auch die Verwüstungen der Oesterreicher, der Russen, der Franzosen n u n m e h r (der Verstorbene hatte dem Verf. deshalb vorher einige Erinnerungen gemacht) charakteristisch gezeichnet.

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Herr H–z–b. macht die Anmerkung: »daß kein Dichter uns Friedrich mehr gleichsam in seinem charakteristischen Detail darstellen kann, als seine allbekannte Helden- und Regierungs-geschichte.« Das ist sehr wahr. Aber der Dichter, besonders der Epische, darf und kann ja auch nur gewisse einzelne, treffende Züge des Charakters ausheben, und in diesen – Geist und Sitten des Helden darstellen. Selbst Homer, bey aller Charakteristik seiner Helden, würde uns diese doch nie so umständlich, und nach allen kleinsten Zügen haben darstellen können, als es etwa ein Anekdoten-reicher Geschichtschreiber ihrer Regierungs- Kriegs- und Lebensgeschichte gethan haben würde: welches leztere bey Friedrich, dessen Geschichte uns allen so frisch im Andenken schwebt, der wirkliche Fall ist. Gnug, daß die Züge, die der Dichter ausmahlt, den Helden, den Weisen, den Menschenfreund, den großen Regenten, treu und lebendig darstellen. Ueberhaupt muß der Epische Dichter, und Homer selbst, dem Dramatiker überall weichen von der Seite der Charakteristik der handelnden Personen. Denn diese ist das eigentliche Feld des Dramas. Große, handlungsvolle Gemählde, erhabene und treffende Gleichnisse, an einander hängende Reden, geschickte Mischung der mannigfaltigsten Gattungen der Dichtkunst, von dem lyrischen Schwunge an, bis zur Elegie, bis zur Idylle, bis zur feinen Satyre herab, die verschieden-artigsten Leidenschaften des Schauers und des Mitleidens, des Zorns, der Rache und der Liebe, des stillen, ländlichen Lebens, und der mühsamen, trübsalvollen Kriegsarbeiten, rührende Erzählungen jeder Art – das ist das eigentliche Feld des epischen Dichters: hier hat er die mannigfaltigste Gelegenheit, die reine, wahre Menschen-natur lebendig darzustellen, und Züge zu enthüllen, wie sie keine andre Dichtungsart darzustellen erlaubt.

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Plan des Gedichts.

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Den Knoten schürzen Sie, wie der Geschichtschreiber, durch den Tod der Russischen Kaiserin Elisabeth und die Thronbesteigung Peters III. Denn bis zu d e m Punkt hin – gleicht Friedrich dem Herkules, der ein Ungeheuer nach dem andern bekämpft. – Daß Sie in

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dem X. Gesange ihren Held nach einer verlorenen Schlacht, Dresden belagern lassen, (welches, wie Sie selbst gestehen, eine taktische Unmöglichkeit ist) das wird Ihnen nicht nur der Taktiker, sondern vielleicht auch nicht einmal der Kritiker hingehen lassen. – Daß Friedrich in der Schlacht bey Torgau die neu-verbündeten Russen nicht in dem Gefechte selbst braucht, sondern sie aus Gründen des ihm bekannten Hasses der Russen gegen ihn, und andern, die Sie im XII. Gesange anführen, vom Kampf zurückhält, als – »müßige Schauer der Scenen des Bluts«

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war freylich der Handlung des Gedichts gemäs, weil Friedrich’s Heroismus, allein den Kampf zu bestehen, und zu siegen, durch diese fremde Hülfe, geschwächt geschienen haben würde. Da aber die Russen, wegen der bald erfolgenden Thronbesteigung Katharinens, die Friedrich nicht günstig war, doch nie mit und für Friedrich, im Kampf gegen Theresien standen, und ihre Hülfe also gleichsam nur n e g a t i v war; so war’s Ihnen, durch die Geschichte selbst erlaubt, so wie durch die Handlung des Gedichts nothwendig, die Sache so einzuleiten. Das Bild von der allmählichen Erschöpfung Theresens, im XII. Gesange: »Wie zur Zeit des Winters ein ragender Hügel &c.« verstärkt den Eindruck von dem unbezwinglichen Heroismus Friedrichs, und der Stolz, mit welchem er, gegen das Ende des Krieges, die talentvollsten Generale und brauchbarsten Soldaten nach Hause schickt, indem er nunmehr den Sieg gewis glaubt, söhnt mich mit der Handlung des Gedichts und seiner endlichen Auflösung wieder aus, die, so wie die Geschichte des siebenjährigen Krieges sie darstellt, und so wie Sie dieselbe in der vorigen Abschrift des Gesanges mir vorlegten, etwas schlaffes und dem Pathos des Heldengedichts sowohl, als dem Heroismus Friedrichs, nicht ganz angemessenes hatte. Dieser Zug von Friedrichs Benehmen gegen das Ende des Krieges, ist zwar wider die Geschichte; aber er war für die dichterische Handlung, durchaus nothwendig.

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Episoden.

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Man fodert sonst von den Episoden, daß sie unmittelbar aus der Handlung des Gedichts hervorgehen sollen. Von den beyden Episoden des VI. Gesangs, der beschlossenen Vergiftung Friedrichs, und der fanatischen Einweihung des Jesuiten-Zöglings zu derselben, so wie von der entworfenen und vernichteten Verrätherey des Trenk läßt sich dies freylich nicht sagen. Aber da sie beyde in der Geschichte des siebenjährigen Krieges gegründet sind, und da in der erstern, (der beschlossenen Vergiftungsgeschichte) Friedrichs Charakter als Menschenfreund in dem Betragen gegen seine Diener entwickelt wird; in der andern, (der Trenkischen Geschichte), die Gefahr Friedrichs und seines Reiches, so außerordentlich groß und drohend ist: so entstehen diese Episoden zwar nicht unmittelbar aus der Handlung des Gedichts, wirken aber unmittelbar in dieselbige hinein, und verstärken den Total-Eindruck des Ganzen. Die Episode des VIII. und IX. Gesanges, die Sie »die Aussichten des verklärten Kleist« überschrieben, und von welcher Sie mir die Einfügung in das Ganze, den Anfang, Schluß und Uebergang zugeschickt, kann ich deswegen auch nicht ganz beurtheilen. Sie sagen selbst, daß diese Episode mehr aus dem Bedürfnis des Lesers des Gedichts, als aus dem Gedicht selbst hervorgeht: indem Sie sich’s bey dieser Episode zum Zweck gemacht, den über die mannigfaltigen und unseligen Leiden der Menschheit erstaunten Geist des Lesers in den erhabensten und zugleich einzigwahren Gesichtspunkt zu setzen, aus welchem eine aufgeklärte Weltweisheit die menschlichen Dinge, mit Ruhe und mit Vertrauen auf eine ewige, alles-wohlmachende Vorsehung, ansehen kann. Sie berufen sich allerdings mit Recht auf das VI. Buch der Aeneide, wo der Dichter den Aeneas aus eben so viel, und eben so wenig Ursachen, seinen Weg durch die Hölle und durch das Elysium machen lässet, als Sie den Kleist in den Zustand der Verklärung erheben. Die Weißagung der künftigen Größe Friedrichs und Preußens, der Schicksale von Europa, und der vollendeten Ausbildung des mensch-lichen Geschlechts beweist es deutlich, daß Sie zu dieser Episode, außer jener

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philosophischen Absicht, noch besonders durch die nämlichen Bewegungsgründe bestimmt worden, welche den Virgil zu der seinigen leiteten; der seinem August, der Herrschaft der Römer, und den größesten Männern der Nation – Lobpreisungen sagen wollte. Uebrigens haben Sie sich freylich durch diese Episode ein unbegränztes Feld der Dichtung eröfnet. Die Wunder des Himmels und der Hölle, die Unermeslichkeit des Weltalls, die Bewohner der verschiedenen Welten, das Schöpfungssystem u. s. w. – Dieser wahrhaft epische Stoff und großer Gegenstand des Homer, Virgil, Dante und Milton – liegen vor Ihnen. Aber um so viel gefährlicher wird für Sie die Parallele seyn. – Mehr als kühn, scheint’s mir zu seyn, daß Sie auch sogar die Ideen von Zeit und Raum, wie Sie mir schreiben, nach den Begriffen der neuesten Philosophie, in einen dieser Gesänge verweben wollen. A n m e r k . Der Verstorbene hat außer dem Wenigen, oben angezeigten, von dem VIII. und IX. Gesange des Gedichts, die die lezten in der Ausarbeitung waren, nichts gesehen. Reden.

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Herr H–b tadelt, wie ich sehe, die Reden, die Sie den zwey Staatsministern Theresiens, und Friedrich selbst, so wie Trenken, in den Mund ge-legt, weil es zu unsern Zeiten nicht mehr Sitte ist, vollständige Reden zu halten. Aber solche an einander hängende Reden schildern Charakter und Gesinnung der handelnden Personen sehr lebhaft. Daher sie auch von allen epischen Dichtern gebraucht werden. Friedrichs Leben und Thaten,

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in dem XI. Gesang. Wenn Sie sich gleich damit rechtfertigen, daß Friedrichs Lehrer Franzose ist, und als solcher einen bilderreichen Stil liebt; und daß es hier darauf ankam, die Phantasie des jungen Helden zu beflügeln; so gleicht doch das Ganze mehr einem Lobspruch, als einer Erzählung.

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A n m . Dieser Lobspruch war Zweck und Erfordernis des ganzen Gedichts. Friedrichs atheistisches Traumgesicht; und beschlossener Selbstmord nach der Schlacht bey Kunersdorf.

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Herr H–b merkt an, daß Friedrichs Zweifel an Gott und Vorsehung nach einer verlorenen Schlacht, eines Helden nicht ganz würdig wären. Aber Homer würde seinen Helden in einer solchen Situation mit dem Fuß stampfen, mit dem Scepter auf die Erde schlagen lassen u. s. w. Ein Held, der zugleich Weiser ist, äußert seine Empfindung auf die Art, wie es in dem Gedichte dargestellt ist. – Ueberdem sind ja Empfindungen und Betrachtungen dieser Art bey ihm nur vorübergehend, und hindern Friedrichen gar nicht, für sein geschlagenes Heer die gehörigen Anstalten zu treffen. (Siehe den Schluß des III. Gesanges.) Friedrichs beschlossener Selbstmord, ob er sich gleich auf Zeugnisse des Geschichtschreibers gründet, schien mir vorher nicht motivirt gnug. Der Zusatz in dem neuen Manuscript, »daß er nur durch seinen Tod dem Volke den Frieden geben könne« würde mir der stärkste Grund scheinen, wenn ich einsehen könnte, daß es ihm nicht möglich war, den Frieden auch auf eine andre Art zu erlangen. A n m . d . V . Kein Selbstmord läßt sich vor der Vernunft rechtfertigen: mithin auch nicht Friedrichs. Sein Entschlus zu demselben war durch die momentanen Bewegungen der Leidenschaften, des Unmuths über das ihn so grausam verfolgende Schicksal, des Ehrgeizes, der natürlichen Hitze des Temperaments u. s. f. bestimmt. Auch ist’s einzig die neue Hofnung, die sich ihm für das Wohl seines Volkes entdekt, was ihn von dem Entschlus zurückruft. Die Monologen Friedrichs finde ich, in beyden Fällen, nur f ü r d a s T h e a t e r zu lang. Aber der Monolog des epischen Dichters hat nicht

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10

15

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Ueber die Idee einer ernsthaften Epopee unserer Zeit

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213

so enge Grenzen, als der Monolog des Dramatikers. Ueberdem war Friedrich spekulativer Philosoph; und Sie konnten ihn in einer solchen Situation, weitläuftiger und tiefsinniger über Gegenstände der Religion und der Sittenlehre monologisiren lassen, als irgend ein Dichter irgend einen Helden. Wollten Sie unsern Grad der Aufklärung über die wichtigsten Gegenstände der Religion und der Sittenlehren darstellen, so konnten Sie solche Situationen eines solchen Helden am besten dazu nützen.

382

Prosodie und Stilistik

Versuch einer

deutschen Prosodie.

Dem 5

Könige von Preussen gewidmet

von

Karl Philipp Moriz.

Berlin, 10

bei Arnold Wever 1786.

218 〈III〉

IV

Prosodie und Stilistik

Vorbericht. Ich habe es versucht, die prosodischen Regeln unsrer Sprache, welche bisher von unsern guten Dichtern, größtentheils bloß nach einem natürlichen Gefühl des Richtigen, beobachtet worden sind, in ein System zu ordnen; und zu zeigen, in wie fern diese Regeln in der Natur und dem Bau unsrer Sprache gegründet sind. Da wir noch nichts vollständiges hierüber besitzen, und dieser Versuch also der erste in seiner Art ist, so verdient derselbe in Ansehung der Zusätze und Berichtigungen, deren er im Einzelnen noch fähig seyn möchte, vielleicht Entschuldigung und Nachsicht, wenn es mir gelungen seyn sollte, das Ganze nicht aus einem unrichtigen Gesichtspunkte zu fassen.

5

10

Versuch einer deutschen Prosodie

219

Inhalt.

〈V〉

Seite. E i n l e i t u n g . Euphem an Arist. 5

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1 〈225〉

Hat unsre Sprache eigentliche Längen und Kürzen? Unsre Sprache neigt sich mehr zum G e d a n k e n - als zum E m p f i n d u n g s a u s d r u c k . In wie fern kann unsre Sprache einer gewissen Rauhigkeit beschuldigt werden, und woher entsteht diese Rauhigkeit? Uebergang zu dem wesentlichen Unterschiede zwischen der Prosodie der alten und neuern Sprachen, nebst einer Vergleichung einiger Sprachen mit der unsrigen, in Ansehung des Wohlklangs. Ob unsre Sprache überhaupt berechtigt ist, Verse hervorzubringen? Fernere Entwickelung des wesentlichen Unterschiedes zwischen der Prosodie der alten und neuern Sprachen. Die Unbestimmtheit unsers Silbenmaßes. Uebergang zu der Entwickelung der Theorie des Silbenmaßes überhaupt aus dem Unterschiede zwischen G e d a n k e und E m p f i n d u n g . Anwendung dieser Theorie auf Gesang und Tanz. Ob diese Theorie bloß auf den Versbau der alten oder auch auf den Versbau der neuern Sprachen paßt?

ib. 〈225〉

E r s t e r B r i e f . Euphem an Arist.

36 〈241〉

Fernere Entwickelung der Theorie des Silbenmaßes überhaupt aus dem Unterschiede zwischen G e d a n k e und E m p f i n d u n g . Vom Numerus.

ib. 〈241〉 42 〈244〉

6 〈227〉 7 〈228〉

11 〈229〉 16 〈232〉 17 〈233〉 21 〈234〉 VI

23 〈235〉 29 〈238〉 34 〈241〉

220

VII

Prosodie und Stilistik

Von der Cäsur Uebergang zu der Entwickelung der Theorie der m e t r i s c h e n F ü ß e , aus der Theorie des Silbenmaßes überhaupt.

43 〈245〉

Z w e i t e r B r i e f . Euphem an Arist.

53 〈250〉

Fernere Entwickelung der Theorie der metrischen Füße, nebst einer Eintheilung derselben, in so fern sie sich mehr zum Fall oder zum Sprunge neigen. Uebergang zur Vergleichung der metrischen Füße in Ansehung ihrer Harmonie und Disharmonie. Versuch einer Entwickelung der Schönheiten des h o r a z i s c h - s a p p h i s c h e n Ve r s m a ß e s aus der Theorie von den metrischen Füßen. Eine ähnliche Entwickelung in Ansehung des c h o r i a m b i s c h e n und a l k a i s c h e n Versmaßes. Von der M e l o d i e der metrischen Füße, nebst einer fernern Entwickelung des Unterschieds zwischen der Prosodie der alten und neueren Sprachen. Daß alle l y r i s c h e P o e s i e eigentlich gesungen werden müsse, und woher es kömmt, daß mit unsrer lyrischen Poesie der Gesang nicht nothwendig mehr verknüpft ist. Entwickelung der M e l o d i e d e s M e t r u m s in ein paar Klopstockischen Versmaßen. Vom R e i m , als einem Bedürfniß des Ohrs seitdem Gesang und Poesie getrennt sind. Gehörig eingeschränkter Gebrauch des Reims, und in wie fern er unsrer Sprache noch vorzüglich angemessen ist. Noch etwas über die H a r m o n i e d e r m e t r i s c h e n Füße.

50 〈248〉 5

53 〈250〉 60 〈254〉

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77 〈263〉 80 〈264〉

15

83 〈266〉 20

88 〈268〉 91 〈269〉 25

94 〈271〉 96 〈272〉 30

98 〈273〉

Versuch einer deutschen Prosodie

5

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221

D r i t t e r B r i e f . Arist an Euphem.

105 〈276〉

Ein Einwurf in Ansehung des D y d i m e u s . Noch einige Anmerkungen über einige Klopstocksche Versmaße, und über die U n b e s t i m m t h e i t unsers Silbenmaßes überhaupt. Noch etwas über den R e i m , und den nützlichen Gebrauch desselben in unsrer Poesie. Daß es a b w e c h s e l n d e R e i m s t e l l u n g e n eben so wie abwechselnde Silbenstellungen giebt, und was diese Reimstellungen für einen Vortheil in der Z u s a m m e n f a s s u n g e i n e s g r ö ß e r n G a n z e n gewähren.

105 〈276〉

V i e r t e r B r i e f . Euphem an Arist.

115 〈281〉

Beantwortung des Einwurfs in Ansehung des Dydimeus. Uebergang zu dem Beweise von der Bestimmtheit des Silbenmaßes in unserm deutschen Versbau. Wir haben ein bestimmtes Silbenmaß für den Ve r s t a n d , aber nicht eigentlich für das Ohr. Die einzelnen Silben werden in unserm deutschen Versbau nicht durch sich selbst, sondern bloß d u r c h i h r e S t e l l u n g g e g e n e i n a n d e r , in Ansehung ihrer Länge und Kürze, bestimmt. Fernere Vergleichung zwischen unserm Versbau und dem Versbau der Alten. Bei den Alten war die Poesie g a n z E m p f i n d u n g s a u s d r u c k ; bei uns ist sie es nur h a l b , und halb noch G e d a n k e n a u s d r u c k ; darin liegt vorzüglich der Unterschied zwischen ihrem Versbau und dem unsrigen. Unser Vers ist mehr für den Ve r s t a n d , als für das O h r , weil unsre Silben sich nicht durch die Anzahl und Beschaffenheit ihrer einzelnen Laute, sondern bloß durch ihre innere Bedeutung aneinander abmessen.

VIII

106 〈277〉 108 〈278〉

110 〈279〉

ib. 〈282〉 116 〈282〉 118 〈283〉

122 〈285〉 IX

123 〈286〉

124 〈286〉

126 〈287〉

222

X

Prosodie und Stilistik

Die Rücksicht auf die einzelnen Buchstaben bei der Silbenstellung gehört in unserm Versbau zum p o e t i s c h e n Wo h l k l a n g e , der mit dem Silbenmaß nicht verwechselt werden darf. In den mehrsilbigten Wörtern ist das Silbenmaß durch Accent bestimmt, der immer auf die B e g r i f f s s i l b e fällt. Wir messen den Ausdruck der Ideen nicht nach der Anzahl und Beschaffenheit der Buchstaben ab, woraus die Silben bestehen, sondern wir messen die Silben selbst g e g e n e i n a n d e r nach den Ideen ab, welche sie ausdrücken, in so fern diese H a u p t - oder N e b e n i d e e n sind. Unsre prosodischen Regeln gründen sich auf die U n t e r o r d n u n g d e r R e d e t h e i l e , nach ihrem prosodischen Gewicht, oder ihrer bedeutenden Kraft gegeneinander. Würdigung der einzelnen Redetheile nach ihrem prosod. Gewicht. G r u n d dieser Würdigung der einzelnen Redetheile nach ihrem prosodischen Gewicht. In wiefern die L e h r e v o m A c c e n t in die prosodischen Regeln unsrer Sprache eingreift? Der R e d e a c c e n t oder der d e k l a m a t o r i s c h e A c c e n t darf in Ansehung des Silbenmaßes nicht in Betracht gezogen werden, wenn dieß nicht unvermeidlich dadurch zerstört werden soll. Der Wortaccent muß zur Bestimmung unsers Silbenmaßes gleichsam f o r t g e s e t z t werden, indem mehrere einsilbigte Wörter, so wie die Silben eines und eben desselben Wortes zusammengestellt werden um sich einander in Ansehung ihrer Länge und Kürze zu bestimmen. Tabellarische Uebersicht der Unterordnung der Redetheile nach ihrem prosodischen Gewicht.

127 〈288〉 5

131 〈290〉

10

135 〈292〉 15

137 〈293〉 20

169 〈309〉

25

170 〈309〉

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175 〈312〉 184 〈316〉

Versuch einer deutschen Prosodie

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223

Anwendung der prosodischen Regeln auf einige Beispiele.

189 〈319〉

F ü n f t e r B r i e f . Euphem an Arist.

193 〈322〉

Uebergang zu der Untersuchung, in wie fern alle die metrischen Füße, deren sich die Alten bedienten, durch die Silbenstellung in unserm Versbau hervorgebracht werden können. Wie der Spondeus hervorgebracht werden kann. Von der S i l b e n s t e i g e r u n g . Der deutsche Hexameter. Vom S i l b e n f a l l . Abschweifung auf den p o e t i s c h e n Wo h l k l a n g . Ausnahmen in Ansehung des S i l b e n f a l l s . Noch eine wichtige Bemerkung in Ansehung des verkürzenden S i l b e n f a l l s . Wie der v e r k ü r z e n d e S i l b e n f a l l verhindert werden kann? E s , als eine Ausnahme von den übrigen Pronominibus in Ansehung seines prosod. Werthes. Reine Nachahmung des horazisch-sapphischen Silbenmaßes durch die Silbenstellung. Von den Präpositionen u n t e r , w i e d e r , o h n e , u. s. w. in prosodischer Rücksicht. Vollständige Nachahmung des Alkaischen Versmaßes durch die Silbenstellung. N u r , als eine Ausnahme von den übrigens Adverbiis in Ansehung seines prosodischen Werthes. Unvollständige Nachahmungen des sapphischen und alkaischen Silbenmaßes in ein paar Beispielen von Ramler. Das c h o r i a m b i s c h e Versmaß ist unsrer Sprache am angemessensten.

XI

ib. 〈322〉 199 〈325〉 200 〈325〉 203 〈327〉 205 〈328〉 206 〈328〉 212 〈331〉 216 〈333〉 222 〈337〉 227 〈339〉 230 〈341〉 231 〈341〉 XII

232 〈342〉 233 〈342〉 234 〈343〉 236 〈344〉

224

Prosodie und Stilistik

Wie im A n f a n g e e i n e s Ve r s e s zwei aufeinanderfolgende Kürzen zu erhalten sind? Das Resultat aus dem Bisherigen. Nebeneinanderstellung der metrischen Füße, in so fern sie in unsrer Sprache durch den Wortaccent, oder durch die Silbenstellung gebildet werden können. S c h w e r e D a k t y l e n und ihre Wirkung. Was bei einem jeden vorausgesetzt wird, der in unsrer Sprache einen r i c h t i g e n Vers machen will.

241 〈347〉

5

248 〈350〉 251 〈352〉 252 〈352〉

Versuch einer deutschen Prosodie

225

Einleitung.

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〈1〉

Arist. Sie glauben also, daß unsre Sprache wirklich eigentliche L ä n g e n und K ü r z e n , und nicht bloß H ö h e n und T i e f e n habe. E u p h e m . Ich begreife nicht, wie man das Gegentheil hat glauben können; da jeder Ausdruck eines heftigen Affekts uns belehrt, daß die Höhe des Tons eben so wenig an die Länge, wie die Tiefe an die Kürze gebunden ist. Oder haben Sie nie einen Menschen im heftigen Affekt ausrufen hören: Gerechter Himmel!

15

so daß er die Höhe des Tons gerade auf die unbedeutendste Vorschlagssilbe g e setzte, die dem-ohngeachtet kurz blieb, indes die folgende Hauptsilbe lang tönte, ob sie gleich mit einem tiefern Tone ausgesprochen wurde. Wenn der heftige Affekt sagt:

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Natur, du stiefmütterliche!

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setzt er alsdann nicht die Höhe der Stimme auf die ganz kurze Silbe N a , obgleich die folgende lang tönt? und muß er es nicht thun, wenn der Ausdruck ihm entsprechen soll? Versuchen Sie es einmal mit diesem sehr wohlklingenden Verse: Bald weint aus euch der Schmerz –

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Sie verweilen mit der Stimme offenbar länger auf w e i n t als auf b a l d : demohngeachtet wird Ihnen ihre Empfindung sagen, daß Sie die Höhe des Tons auf b a l d setzen müssen. – Haben Sie dieß gethan, so geben Sie genau Acht, ob in den sanften Fortschritten, die nun folgen: weint aus euch der Schmerz,

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Ihre Stimme merklich sinkt oder steigt, oder ob sie nicht vielmehr bloß durch das kürzere oder längere Anhalten auf einer Silbe, diese Fort-schritte bezeichnet? – Ja, ich berufe mich auf ihr Gefühl, ob es

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Prosodie und Stilistik

nicht etwas Melodisches, dem Gesange ähnliches, in den Vers bringt, wenn die Höhe des Tons zufälliger Weise eine an sich kurz ausgesprochne Silbe hebt, indes die Tiefe des Tons eine an sich lang ausgesprochene Silbe niederdrückt. Allein es ist auch der Natur der Sache gemäß, daß die Höhe des Tons sehr oft auf die kurze Silbe fallen muß: denn diese Höhe ist ja Ausdruck des Affekts, und der Affekt wartet nicht mit seinem Ausdruck, bis er an die Hauptsilbe des Worts kömmt; sondern reißt an sich, was ihm am nächsten liegt, und läßt alsdann das folgende ruhig nachtönen. – Die bittende Wehmuth fleht

5

Ve r g e b u n g !

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indem sie die Höhe des Tons gleich auf die erste Silbe hinreißt, die aber auf keine Weise dadurch verlängert wird. Der Affekt kann also der Hauptsilbe wohl den Ton, aber nicht die ihr eigene Länge rauben. A r i s t . R a u b e n , sagen Sie? Also ist doch im ruhigen Zustande der Seele die Höhe des Tons immer mit der Länge, wenn diese noch etwas besonders ist, vergesellschaftet. Das Rauben der Tonhöhe auf die kurze Silbe hin, ist etwas Gewaltsames, wodurch die natürliche Beschaffenheit des Worts verändert wird. E u p h e m . Dem sey, wie ihm wolle, so ist doch aus dem obigen klar, daß die Höhe und die Länge eines Tons in unsrer Sprache wirklich etwas voneinander verschiedenes sind, eben weil durch den Affekt die Tonhöhe von der langen Silbe, ohnbeschadet ihrer Länge, auf eine kurze Silbe hingeraubt werden k a n n . – Aber dieß figürliche r a u b e n haben Sie aufgehascht, um den Sinn einer gewaltsamen Veränderung der natürlichen Beschaffenheit des Worts hineinzulegen, der doch eigentlich nicht darin liegt. Der Affekt ist an sich etwas Gewaltsames; gleichwohl ist seine Sprache in ihrer Art nicht weniger natürlich, als die Sprache des ruhigen Nachdenkens in der ihrigen. – We n n d e r A f f e k t d e r H a u p t s i l b e n e b s t d e r To n h ö h e auch die Länge rauben wollte, dann würde er erst die n a t ü r l i c h e B e s c h a f f e n h e i t d e s Wo r t s v e r ä n d e r n , indem er alsdann die Hauptsilbe wirklich in eine Nebensilbe verwandelte. Die bedeutende Silbe in einem Worte wird also nicht durch die Ton-

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Versuch einer deutschen Prosodie

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höhe, sondern bloß durch das l ä n g e r e Ve r w e i l e n d e r S t i m m e auf derselben von den übrigen herausgehoben. A r i s t . Wir setzen aber gleichwohl gemeiniglich die Tonhöhe auf die bedeutende Silbe, und sind von Kindheit auf dazu gewöhnt. E u p h e m . Wir thun dieß nicht so oft, wie wir es zu thun glauben, indem wir manchmal den Nachdruck der durch das längere Verweilen auf einer Silbe entsteht, mit der Tonhöhe verwechseln. Der Affekt hebt immer mit der Tonhöhe an, und reißt, wie wir schon bemerkt haben, das nächste, was er vor sich findet, an sich. Der Affekt wird z. B. beständig die Tonhöhe auf die Silbe g e in G e l i e b t e r setzen, sobald sich die Rede damit anhebt. Hebt sich aber die Rede mit m e i n an, so bekömmt dieß die Tonhöhe, und in G e - l i e b t e fällt dann freilich die Tonhöhe wieder auf die zweite Silbe. A r i s t . Also doch auf die zweite Silbe, weil diese die b e d e u t e n d e ist, und weil wir, wenn uns sonst nichts hindert, die Tonhöhe immer auf die bedeutende Silbe setzen. E u p h e m . Freilich, wenn der erste Reiz des Affekts vorüber ist; wenn das ruhige N a c h d e n k e n wieder an dessen Stelle tritt; dann häufen wir die Tonhöhe, das Verweilen der Stimme und den Nachdruck auf die b e d e u t e n d e Silbe, w e i l s i c h u n s r e S p r a c h e freilich mehr zum Gedanken- als zum Empfindungsa u s d r u c k n e i g t . Sie schärft die Denkkraft auf einen Hauptpunkt hin, und vernachlässigt daher gewissermaßen das Umstehende. Die weniger bedeutenden Silben kommen dann gegen die bedeutendsten fast gar nicht mehr in Betracht; die Sprache eilet, so schnell sie kann, darüber weg, um auf den bedeutendsten Silben desto länger und mit desto mehr Nachdruck verweilen zu können. Darum läßt sie in diesem ihr eignen Streben nach der b e d e u t e n d s t e n Silbe hin, sich weder durch gehäufte Konsonante, noch durch einen Diphtong oder sonst irgend eine Schwierigkeit in der Aussprache aufhalten. Wir sagen ohne Mühe und Anstoß Durchbrechung,

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Prosodie und Stilistik

und lassen das d u r c h ebenso schnell und überwegeilend hören, wie das g e in Gewöhnung,

8

obgleich das d u r c h wohl noch einmal so viel Zeit zu seiner Aussprache, als die leichte Vorsschlagssilbe g e zu erfordern scheint. A r i s t . Mir däucht es wird wirklich noch einmal so viel Zeit erfordert, um dieß d u r c h , als um die Vorschlagssilbe g e auszusprechen, wenn ich jeden einzelnen Buchstaben gehörig austönen lassen, und weder den Sprachwerkzeugen noch dem Ohre Gewalt anthun will. Darum klingt auch G e w ö h n u n g besser als D u r c h b r e chung. E u p h e m . Sagen Sie nicht b e s s e r sondern s a n f t e r . D u r c h b r e c h u n g klingt eben so gut in seiner Art, wie G e w ö h n u n g in der seinigen. Denn der Klang des Worts D u r c h b r e c h u n g ist mit dem Begriffe, den es ausdrückt, übereinstimmend. Oder kontrastiren die Begriffe von Durchbrechung und Gewöhnung nicht eben so gegen einander, wie der Klang dieser beiden Wörter? A r i s t . Dieß ist doch wohl mehr zufällig: denn man sagt auch

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durchwehen, durchsäuseln,

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wo das d u r c h , weil es wegen der schnellen Aussprache nicht gehörig austönen kann, immer eine gewisse Härte in den Klang des Worts bringt, die doch mit dem Begriffe hier nichts übereinstimmendes hat. E u p h e m . Ich weiß nicht, ob man das Letztere so unbedingt sagen kann? Der Begriff d u r c h bringt seiner Natur nach immer auch in den sanftesten Begriff einige Härte, weil er mit den Nebenideen von etwas Gewaltsamen, Starken und Angreifenden verknüpft ist. Wenn man die Begriffe a n , i n , a u f u. s. w. mit dem Begriff d u r c h in Gedanken vergleicht, so wird dieß noch auffallender. Die Sprache scheint also hier nicht ohne Ursach, die schon an sich rauh klingenden Konsonanten gehäuft zu haben, um das Gewaltsame, das in dem Begriff liegt, gewissermaßen zu bezeichnen.

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A r i s t . Ich will Ihnen dieß zugeben, ob ich gleich dafür halte, daß ein solches Aufsuchen des Bedeutenden in der Sprache, bis in die einfachste Zusammensetzung einzelner Laute, leicht zum Spielenden führen kann; es giebt dergleichen Wörter in allen Sprachen, welche durch ihren Klang gewissermaßen die Begriffe bezeichnen; und die Dichter jeder Nation haben von diesen Wörtern, wo sie konnten, einen zweckmäßigen Gebrauch zu machen gesucht. Die Häufung der Konsonanten kann daher in solchen Fällen, wo in ihr etwas Mahlerisches liegt, sogar eine Schönheit des Ausdrucks seyn. Wenigstens hat diese Anhäufung der Konsonanten in einem Worte wohl an und für sich selber nichts Hartes, s o b a l d d i e z u s a m m e n g e d r ä n g t e n L a u t e Z e i t h a b e n , g e h ö r i g a u s z u t ö n e n ; wie dieß in den alten Spra-chen der Fall war, wo man sich gar nicht an die Bedeutung der Silben kehrte, sondern die Stimme auf der Silbe am längsten verweilen ließ, worauf sie am längsten verweilen mußte, wenn jeder einzelne Laut gehörig austönen, und weder dem Ohre noch den Sprachwerkzeugen die mindeste Gewalt angethan werden sollte. – Bei uns scheint gerade der umgekehrte Fall zu seyn; wir kehren uns weder an das Ohr, noch an die Sprachwerkzeuge, sondern lassen, trotz beiden, auf der b e d e u t e n d s t e n Silbe die Stimme am längsten verweilen, wenn sie auch nach dem Bau der Sprachwerkzeuge in weit kürzerer Zeit könnte ausgesprochen werden, als die unbedeutenderen Silben, die neben der bedeutendsten, so kurz wie möglich ausgesprochen werden, um diese dadurch noch mehr herauszuheben. – Das ist es, was die Härte verursacht. Unsre Sprache ist daher eine vortreffliche Sprache für den Verstand, aber nicht für das Ohr, welches mit einer Menge ganz von einander verschiedner einzelner Laute, die in eine kurze Silbe, wie z. B. d u r c h in D u r c h - b r e c h u n g , zusammengedrängt sind, a u f e i n m a l übertäubt wird, statt daß ihm diese einzelnen Laute, eben so wie die Silben, gleichsam z u g e z ä h l t werden sollten, indem man die Silbe so lange tönen ließe, bis sich die Laute einer nach dem andern o h n e M ü h e aus den Sprachwerkzeugen entwickelten, und sich auf die Weise sanft in unser Ohr einschlichen. – Die Alten zählten wirklich dem Ohre ihre einzelnen

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Laute, eben so wie die Silben, zu: zwei unmittelbar auf einander folgende Konsonanten, oder zwei zu einem Diphthong in einander fließende Vokale machten bei ihnen eine Silbe lang, sie mochte nun im Anfange, in der Mitte, oder am Ende eines Worts, oder allein stehen; sie mochte bedeutend oder unbedeutend seyn; auf Silben wie d u r c h und k e i t , hätte bei ihnen in jeder Zusammensetzung die Stimme verweilen müssen. – Wenn gleich zuweilen zu der besondern Absicht des Dichters mehrere an sich hartklingende Konsonanten zusammengestellt wurden, um etwa den Gegenstand zu mahlen, so mußten sie doch immer gehörig aus-tönen, und dem Ohre zugezählt werden können. Bei uns ist es, wie schon gesagt, gerade umgekehrt, wie bei den Griechen und Römern. Die B e d e u t u n g greift bei uns allenthalben ein, und zerstört Verhältniß, Harmonie und Wohlklang; sie läßt die Stimme über eine unbedeutende Silbe hinschlüpfen, hinschmettern, oder hinrasseln, das Ohr mag dabei zurecht kommen, wie es wolle; in dieser unbedeutenden Silbe mögen nun zwei oder drei oder vier Konsonanten unmittelbar auf einander folgen, oder zwei in einen Diphthong zusammengeflossene Vokale die Stimme mit Gewalt aufhalten, das alles kömmt nicht in Betrachtung , s o b a l d e i n e S i l b e z u f ä l l i g e r We i s e n e b e n e i n e r a n d e r n s t e h t , d i e b e d e u t e n d e r i s t , u. s. w. Andere neuere Sprachen, wie z. B. die Englische und Französische, haben doch noch eine große Anzahl ihrer Konsonanten in der Aussprache unterdrückt, und eine große Anzahl ihrer Diphtongen in einfachtönende Vokale verwandelt. – Wir sprechen alles aus, was wir schreiben, und nehmen uns doch nicht die gehörige Zeit dazu, es auszusprechen. Statt daß wir dieß auf eine sanfte, einschmeichelnde, das Ohr nicht übertäubende Art thun sollten, lassen wir die Zunge über drei oder wohl gar vier Konsonanten, um nur je eher je lieber zu der bedeutenden Silbe zu kommen, hinwegrasseln, daß einem der nicht von Kindheit auf daran gewöhnt ist, nothwendig die Ohren davon gellen müßten, wenn er z. B. hörte, daß man die Silbe d u r c h in D u r c h b r e c h e n , mit eben der reissenden Schnelligkeit, wie die Silbe g e in g e l u n g e n , ausspricht. Ist es denn etwas anders, was die französische Sprache sanfter und wohlklingen-

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der, als die deutsche und englische macht, als weil sie die unangenehme Kollision zwischen der Bedeutung und dem n a t ü r l i c h e n S i l b e n m a a ß zu vermeiden, und das Ohr mit dem Verstande auszusöhnen gesucht hat, indem sie die Diphtongen a u , e i , a i , u. s. w. in einfachtönende Vokale verwandelt, die unmittelbare Folge mehrerer Konsonanten auf einander durch die Verschlingung des letztern häufig verhindert, und das m und n , am Ende zu einem sanftüberfließenden Tone gebildet hat, damit, wenn es sich fügte, daß eine Silbe mit einem Diphtong oder einem doppelten oder dreifachen Konsonant, durch die so oft unvermeidliche Zusammenstellung, mit einer bedeutendern verknüpft, und also k u r z ausgesprochen würde, die dadurch entstehende Härte alsdann nicht so merklich seyn möchte. – Ist nicht eben deswegen selbst die englische Sprache zuweilen sanfter und wohlklingender, wie die deutsche, weil sie so manches verschweigt, was die deutsche mit Mühe und Anstrengung in einer Silbe, die oft durch die Zusammenstellung kurz wird, ausspricht, wie z. B. das gh in night, die Nacht, das der Deutsche so sorgfältig hören läßt damit ja nicht zur Schonung des Ohrs, etwa ein einzelner Laut, auf Kosten der Bedeutung, verlohren gehe? – Was macht den Versbau der Alten so unnachahmlich schön, als eben die sorgfältigste Beobachtung des n a t ü r l i c h e n Silbenmaßes, welches sich auf die Zahl der auszusprechenden einzelnen Laute, oder auf die leichtere oder schwerere Artikulation derselben gründet? Nirgends findet da die Stimme einen Aufenthalt wenn sie über kurz auszusprechende Silben leicht hinwegschlüpft; und wo sie auf einer Silbe verweilt, da thut sie es unwillkürlich, weil sie entweder durch mehrfache Konsonanten gehemmt, oder durch den langtönenden Diphthong schwebend erhalten wird. – Und was bringt selbst in unsre Sprache noch hin und wieder einigen Wohlklang, als die zufällige Beobachtung jener alten Regel des natürlichen Silbenmaßes, wie z. B. in G e l i s p e l , Wo n n e g e s a n g ? E u p h e m . H i n u n d w i e d e r ? e i n i g e n Wo h l k l a n g ? – und das noch z u f ä l l i g e r We i s e ? – Wodurch hat es denn unsre Sprache um Sie verschuldet, daß Sie so bitter gegen sie geworden sind? –

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A r i s t . O ich lasse ihr Gerechtigkeit wiederfahren: sie ist die Sprache des Verstandes, aber nicht die Sprache des Ohrs. Auch dichtet man in ihr mehr für den Verstand, als für das Ohr. E u p h e m . Also doch auch für das Ohr? – wohl! natürlicher Weise. – Denn wofür machte man sonst überhaupt in unsrer Sprache Verse, wenn man sie nicht für das Ohr machte? Aber unsre Sprache kann nach Ihrer Voraussetzung keine andre als rauhe, hart klingende Verse hervorbringen, weil das herrschende Gesetz des B e d e u t e n d e n , das n a t ü r l i c h e , dem Ohr und den Sprachwerkzeugen angemessene Silbenmaaß unvermeidlich zerstört, indem es ganz unmöglich ist, lauter solche Wörter, wie etwa G e l i s p e l , Wo n n e g e s a n g , und ähnliche auszuheben, um einen Vers daraus zusammenzusetzen. – Unsre Sprache wäre also wohl eigentlich gar nicht berechtigt, Verse hervorzubringen, weil für den Verstand keine Verse gemacht werden, und weil das Ohr durch ihre Verse nur beleidigt wird. A r i s t . Berechtigt mag sie immer dazu seyn; denn rauhe Verse sind für ein unverwöhntes oder ungebildetes Ohr immer auch noch Verse. – Aber ich begreife fast nicht, wie unsre Sprache noch hat Verse hervorbringen können, da sie ei-gentlich kein bestimmtes Silbenmaaß hat, und ohne bestimmtes Silbenmaaß sich doch kein Vers, oder immer wiederkehrender gleichmäßiger Silbenfall, denken läßt. E u p h e m . Gut, daß Sie wieder einlenken! Wir waren vom Silbenmaaß, wovon wir anfänglich sprachen, auf den Wo h l k l a n g oder S i l b e n k l a n g abgeschweift. A r i s t . Sehr natürlich! weil Silbenmaaß und Silbenklang von einander unzertrennlich sind. – Jede nach ihren Bestandtheilen wohlabgemessene Silbe ist auch wohlklingend. Wo n n e g e s a n g ist wohlklingender wie Mutter Natur, weil sich in dem letztern zwischen die beiden kurzen Silben in der Mitte zwei Konsonanten drängen, die die schnelle Aussprache der-

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selben hemmen und erschweren. Weil nun bei den Alten so etwas der Regel nach nicht statt fand, so floß Silbenmaaß und Wohlklang bei ihnen in eins zusammen: oder vielmehr die Gesetze des Wohlklangs schrieben ihnen selbst ihr Silbenmaaß vor. Bei ihnen würde die Stimme auf der Silbe t e r , in

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Mutter Natur,

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wegen der Hemmung durch die beiden unmittelbar auf einander folgenden Konsonanten r und n , eben so lange wie auf der Silbe m u t verweilt haben; und wir würden es eben so machen, w e n n w i r m i t unsern Gedanken der Aussprache folgten, und uns ihr g l e i c h s a m ü b e r l i e ß e n , statt daß wir itzt mit dem Gedanken der Aussprache vorgreifen, und auch den Theil der Zeit auf die bedeutende Silbe hinrauben, welcher eigentlich einer folgenden Silbe gebührte, deren einzelne Laute nun nicht gehörig austönen können. Das Zeitmaaß der einen Silbe greift gleichsam widerrechtlich in das Zeitmaaß einer andern ein: daher entsteht das unvermeidlich Harte in unserm Versbau. Könnten wir uns bei der Aussprache unsrer Silben mehr l e i d e n d verhalten, könnten wir, gleichsam von selbst, einen Laut nach dem andern aus den Sprachwerkzeugen sich entwickeln lassen, wie in Wo n n e g e s a n g ,

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so hätten wir das Silbenmaaß der Alten, wir hätten eine Sprache und einen Vers für das Ohr. Allein unser immerwährendes gewaltsames Streben, den Hauptgedanken durch das bedeutendste Wort, und in diesem Worte wieder durch die bedeutendste Silbe auszudrücken, verdirbt alles, sobald es auf Harmonie und Wohlklang ankömmt. Es macht, daß wir gewöhnlich nicht nur die Länge, sondern auch zugleich die Höhe des Tones auf die bedeutende Silbe setzen, so daß die unbedeutende Silbe t e r in M u t t e r beinahe ganz verschlungen wird, indem sie nur schwach und dunkel nachschallt. Wollten wir nun die Silbe t e r , wegen der darauf folgenden beiden Konsonante, auch lang aussprechen, so würden wir dieß wieder g e w a l t s a m e r Weise

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thun, indem wir sie zugleich aus ihrer sonst gewöhnlichen Unbedeutsamkeit herauszuheben suchten: und damit würden wir alles verderben; denn weil wir uns einmal gewöhnet haben, jede Silbe, welche die Tonhöhe und die Länge zugleich hat, für eine bedeutende Silbe zu halten, so würde es uns scheinen, als ob die zweite Silbe in M u t t e r gleiche bedeutende Kraft mit der erstern erhalten hätte; es würde also wider den Verstand gesündigt, ohne daß das Ohr befriedigt würde; denn weil wir die bedeutende Silbe immer l ä n g e r dehnen, als es die Anzahl ihrer Buchstaben erfordert, und sie nun zum Maaßstabe der zweiten lang auszusprechenden Silbe annehmen, so dehnen wir diese auch länger, als wir sollten, und erhalten dadurch zwei z u l a n g e Silben, da wir sonst doch nur eine z u lange hatten, deren Zeitmaaß durch die folgende z u k u r z e Silbe noch einigermaßen wieder i n s G l e i c h g e w i c h t gebracht wurde. Könnten wir uns dazu gewöhnen, die Hauptsilben nie länger, und die Nebensilben nie kürzer auszusprechen, als es die l e i c h t e s t e B i l d u n g i h r e r e i n z e l n e n L a u t e i n d e n S p r a c h w e r k z e u g e n erfordert, oder welches dasselbe ist, k ö n n t e n w i r m i t d e m G e d a n k e n u n d d e r E m p f i n dung der Aussprache folgen, und griffen ihr nicht imm e r v o r , so würden wir auch ein natürliches, bestimmtes Silbenmaaß, wie die Griechen und Römer haben. Alle unsre Längen aber haben den Fehler, daß sie zu lang, und unsre Kürzen, daß sie zu kurz sind. Wenn ich sage:

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Schön ist Mutter Natur deiner Erfindung Pracht! so kann ich mich nicht enthalten, mit dem Gedanken und der Empfindung gleich zu Anfange vorzugreifen, und auf s c h ö n so lange mit der Stimme zu verweilen, daß dem i s t dadurch die Zeit benommen wird gehörig auszutönen: dieß wird nun fast gänzlich verschlungen, um nur gleich auf der folgenden Hauptsilbe wieder desto länger mit der Stimme verweilen zu können, und so fort. Zu dieser willkürlichen Dehnung der Hauptsilbe fühle ich mich desto unwiderstehlicher hingezogen, jemehr ich mit Ausdruck lesen will. Aber ich sehe hier nichts Bestimmtes, nichts, woran ich mich in zweifelhaften Fällen halten

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könnte. Ich kann s c h ö n so lang dehnen als ich will, und über alles, was darauf folgt, bis zur Silbe t u r in N a t u r schnell hinwegeilen, wenn ich will, oder mir die Sache aus einem solchen Gesichtspunkte vorstelle, daß ich M u t t e r nur gleichsam als eine Nebenidee betrachte; in diesem Falle lasse ich vier kurze Silben zwischen zwei langen auf einander folgen. In

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deiner Erfindung Pracht

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verweile ich mit der Stimme auf der Silbe d e i in d e i n e r , weil dieß Wort meiner E m p f i n d u n g wichtig ist; ein andrer, der vielleicht bloß mit dem Verstande ließt, wird als über einen Nebenbegriff darüber hinwegeilen, und nun wird man bis zu der Silbe f i n in E r f i n d u n g drei kurze Silben nach einander hören. Darum wiederhole ich noch einmal: ich begreife nicht, wie bei dieser gänzlichen Unbestimmtheit des Silbenmaaßes unsre Sprache überhaupt noch Verse hat hervorbringen können. E u p h e m . Ehe ich mich, so sehr Sie Recht zu haben scheinen, gegen Sie zu behaupten erkühne, d a ß u n s r e S p r a c h e e i n n a c h den strengsten Regeln genau bestimmtes Silbenmaaß h a t , will ich mich ein wenig bei dem Unterschiede aufhalten, den Sie so eben zwischen einem der mit der Empfindung, und einem andern, der bloß mit dem Verstande ließt, machten: denn dieser Unterschied scheint mir in Ansehung unsers Gegenstandes wichtig zu seyn. Derjenige, welcher bloß mit dem Verstande ließt, soll z. B. folgenden Vers lesen: Und erleichtre meinen Gang Mit Gebet und mit Gesang. Und er wird u n d und e r zu zwei kurzen Silben, l e i c h zu einer langen, t r e m e i n e n zu drei kurzen und G a n g wieder zu einer langen Silbe machen. Und im zweiten Verse wird gerade dasselbe Silbenmaaß statt finden: m i t G e sind kurz, b e t ist lang; u n d m i t G e sind kurz, s a n g ist lang: es folgen also in diesen beiden Versen immer auf zwei kurze eine lange, und dann auf drei kurze wieder eine

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lange Silbe, sobald sie bloß mit dem Verstande und mit der zur Denkkraft gehörigen U n t e r o r d n u n g der Begriffe gelesen werden. Die E m p f i n d u n g aber wird mehr Begriffe g l e i c h a c h t e n , sie hebt die Ideen aus ihrer Unterordnung, die der Verstand gemacht hatte, heraus, und macht sie einander g l e i c h ; und nach dieser Stimmung der Seele folgt in den beiden Versen auf eine lange immer eine kurze Silbe. Das gewaltsame Hinstreben nach der Silbe, die den Hauptgedanken in sich faßt, verwandelt sich in ein sanftes, m i t s i c h s e l b s t g e n ü g s a m e s auf und nieder Wallen. Die Nebenideen, welche vorher nur M i t t e l waren die Hauptidee zu erwecken und hervorstechend zu machen, bekommen nun an und für sich selbst einen Werth, und werden gleichsam in sich zurückgewälzt. In dem Ausdruck

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mein Geliebter eilet der Verstand über m e i n ebenso schnell wie über g e weg, um allen Nachdruck der Stimme auf die Hauptsilbe l i e b zu sparen. Die Empfindung aber v e r t h e i l t d e n E i n d r u c k , w e l c h e n d a s Ganze macht, wieder auf das Einzelne, dieß Einzelne m a g n u n a n s i c h b e d e u t e n d s e y n o d e r n i c h t , sie betrachtet es nur als Unterlage, worauf sie ruhen kann: wie z. B. in 25

Geliebter, wo die Empfindung die erste unbedeutendste Silbe wenigstens durch den Ton heraushebt, da sie ihr keine Länge mittheilen kann. Sie vertheilt auf die Weise den Eindruck, den das Ganze macht, selbst in ein und eben demselben Worte. Sie drängt sich sogar in den einzelnen Worten zu einer Art von Melodie, zu einem harmonischen Silbenfall, d e r d i e R e d e d e m G e s a n g e n ä h e r t . Wenn die Rede bloß als M i t t e l betrachtet wird, um Ideen zu erwecken, so strebt sie unaufhaltsam zu diesen Ideen hin, ohne sich die Mühe zu nehmen, ihre e i n z e l n e n T ö n e g e h ö r i g a u s z u b i l d e n . Sie v e r n a c h l ä s s i g t gleichsam sich selbst, weil sie ihren Zweck mehr a u s s e r s i c h , als i n s i c h hat. Sie unterscheidet die Hauptidee, um dieselbe hervorstechend zu machen, von den Nebenideen; aber unter den Neben-

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ideen selbst macht sie keinen Unterschied mehr, sondern eilt über das mehr und weniger bedeutende gleich schnell hinweg, um ihre ganze Kraft auf dem B e d e u t e n d s t e n ruhen zu lassen, wie in mein Geliebter, 5

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wenn es ohne besondern Ausdruck, oder bloß erzählend, kurz, nicht für die Empfindung, sondern für den Gedanken gesagt wird. Ob schon hier auch die Silben m e i n und g e in Ansehung des Bedeutenden unterschieden sind, so wird doch dieser Unterschied ganz vergessen und beide gleich schnell ausgesprochen, um nur desto länger auf der Hauptsilbe l i e b verweilen zu können. – Die Empfindung hingegen giebt diesem m e i n den Ton wieder, den der Gedanke ihm geraubt hatte. – D i e E m p f i n d u n g d r ä n g t d i e R e d e g l e i c h s a m w i e d e r i n s i c h s e l b s t z u r ü c k , welche der Gedanke, wo möglich, aus sich selbst heraus, und in sich hinüber zu reissen strebt. Die Empfindung setzt den Gedanken schon voraus; oder vielmehr sie ist selbst das Resultat von ihm, und fällt nun auf das zurück, was den Gedanken hervorbrachte, weil ihr dieß das n ä c h s t e ist, um darauf hinzusinken, und den Eindruck, den sie erhielt, g l e i c h m ä ß i g wieder zu v e r t h e i l e n . A r i s t . Warum gleichmäßig? E u p h e m . Dieß ist, was ich eben untersuchen wollte. Die Empfindung setzt voraus, daß der Verstand schon befriedigt ist. Sie eilt also nicht mehr, wie dieser, über die unbedeutenden Silben weg, sondern läßt, so viel wie möglich, eine jede erst gehörig austönen, ehe sie zu der folgenden schreitet. Wenigstens hebt sie jede bedeutende Silbe, die neben einer unbedeutendern steht, so gut wie die b e d e u t e n d s t e oder eigentliche G e d a n k e n s i l b e heraus. Denn da der Verstand einmal befriedigt ist, und die Rede nicht mehr so ängstlich nach der Hauptsilbe hinstreben darf, so haben alle die einzelnen Silben nun für die Empfindung im Grunde g l e i c h e n Werth. Die durch den v o l l e n G e d a n k e n befriedigte Empfindung ruht nun in der Stimme eben so gern auf einer Silbe als auf der andern aus, und w i e g t sich durch die fortschreitenden Töne hindurch. – Alle die

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bedeutenden Silben, welche der Verstand, nach ihrer stärkern oder schwächern Bedeutung einander u n t e r g e o r d n e t hatte, sind nun für die Empfindung g l e i c h geworden. Und nur in das seiner Natur nach Gleiche suchen wir ein Ebenmaaß zu bringen. Das seiner Natur nach U n g l e i c h e leidet kein Ebenmaaß. Die Empfindung sucht sich durch die Stimme auf die einzelnen Silben g l e i c h m ä ß i g oder n a c h e i n e m g l e i c h e n M a a ß zu vertheilen. Sie ruhet auf m e i n g e gern g e r a d e s o l a n g e , wie auf l i e b t e r aus, um durch dieses Gleichmaaß die einzelnen bedeutenden Silben desto auffallender aus ihrer U n t e r o r d n u n g heraus zu heben, und sie n e b e n e i n a n d e r zu stellen. Dieß G l e i c h m a a ß schiebt gleichsam dem Gedanken ein Hinderniß vor, daß er keine Eingriffe thun, und die der Empfindung gleich wichtigen Nebenideen, der Hauptidee nicht wieder unterordnen, und die Stimme darüber wegeilen lassen kann. Dieß immer wiederkehrende gleiche Zeitmaaß zwingt dem Gedanken gleichsam seine Rechte ab, indem es auf eine untergeordnete Idee, wie z. B. m e i n in m e i n G e l i e b t e r , dasselbe Zeitmaaß hinraubt, welches sonst nur der Hauptgedanke a u s s c h l i e ß e n d e r We i s e für sich fordert; ja dies Zeitmaaß greift sogar in den engsten Zusammenhang der Begriffe ein, und raubt oft das für sich, was zu dem unmittelbar folgenden oder vorhergehenden Worte gehört, wie z. B. die Silbe g e in m e i n G e l i e b t e r , welche durch das Zeitmaaß an m e i n hingeraubt wird, da sie doch durch den Gedanken mit l i e b t e r verknüpft ist. Auf die Weise ist der Vers entstanden:

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Mein Ge liebter – Ohne dieß Zeitmaaß würde es der Empfindung unmöglich seyn, über den Gedanken zu herrschen. Dieß Zeitmaaß ist es allein, welches durch seinen unwiderstehlichen Reiz Kraft genug hat, den stets emporstrebenden Gedanken der Empfindung unterzuordnen. Es ist hier mit der Rede fast, wie mit dem G a n g e . Das gewöhnliche Gehen hat seinen Zweck a u s s e r s i c h , es ist bloß M i t t e l zu irgend einem Ziele zu gelangen, und

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nach diesem Ziele strebt es unaufhörlich hin, ohne daß es auf die Regelmäßigkeit oder Unregelmäßigkeit der einzelnen Fortschritte Rücksicht nimmt. Die Leidenschaft aber, der hüpfenden Freude z. B. d r ä n g t a u c h d e n G a n g i n s i c h s e l b s t z u r ü c k , und die einzelnen Fortschritte unterscheiden sich nun nicht mehr dadurch, daß sie immer näher zum Ziele bringen, sondern sie sind sich unter einander alle gleich, weil das Gehen nicht mehr nach irgend einem Ziel gerichtet ist, sondern mehr u m s e i n s e l b s t w i l l e n geschieht. Da nun auf die Weise die einzelnen Fortschritte eine g l e i c h e W i c h t i g k e i t erhalten haben, so ist der Hang unwiderstehlich, d a s s e i ner Natur nach gleich gewordene abzumessen und einz u t h e i l e n ; auf die Weise ist der Ta n z entstanden. – Der Mangel eines ä u s s e r n Z i e l e s , oder eigentlichen Ziels, wohin die körperliche Bewegung strebt, muß nothwendig durch etwas e r s e t z t werden; der fehlende äußere Zweck des Ganges muß in ihn selbst zurückgewältzt seyn; denn etwas an sich ganz zweckloses kann uns nie Vergnügen erwecken. We n n i c h e i n e f o r t s c h r e i t e n d e B e w e gung mache, bloß um sie zu machen, und an dieser forts c h r e i t e n d e n B e w e g u n g , u m i h r e r s e l b s t w i l l e n Ve r g n ü g e n f i n d e n s o l l , so muß ich mir nothwendig irgend einen Grund angeben können, warum ich jedesmal gerade diese und keine andre fortschreitende Bewegung mache. Nun ist k e i n ä u s s e r e s Z i e l da, das meinen Fortschritten ihre Richtung, oder den gehörigen Grad ihrer Schnelligkeit vorschriebe. Die jedesmalige langsamere oder schnellere Bewegung hängt also bloß von sich selber ab, sie muß sich selber ihre G e s e t z e vorschreiben. Auf zwei schnellere Bewegungen, der hüpfenden Freude z. B., folgte etwa eine langsamere, und hierauf das erstemal v i e l l e i c h t z u f ä l l i g e r We i s e wieder zwei schnellere, und dann wieder eine langsamere Bewegung: nun war der Reiz schon unwiderstehlich, dieselbe Bewegung öfter zu wiederhohlen. – Und dieß war der Natur der menschlichen Seele gemäß: weil man sich von der hüpfenden Freude gedrungen fühlte, sich zu bewegen, bloß um sich zu bewegen, so strebte die Seele unwillkürlich nach etwas, wodurch sie das ganz

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Zwecklose und Unabsichtliche dieser Bewegung gleichsam gegen sich selbst rechtfertigen, und sich einen gewissen Grund davon angeben könnte; indes strebte sie vielleicht lange vergeblich, bis etwa z u f ä l l i g e r We i s e eine und eben dieselbe Abwechselung langsamerer und schnellerer Bewegungen mehrere male auf einander folgte. D i e ß i m m e r i n g l e i c h e r O r d n u n g w i e d e r k e h r e n d e fesselte die Aufmerksamkeit der Seele, prägte sich dem Gedächtnisse ein, ward bewundert, nachgeahmt, und wurde zum regelmäßigen künstlichen Tanze. – Eben so drängte nun auch das Uebermaaß der Empfindung zuerst jene artikulirten Töne hervor, welche eigentlich auch keinen Zweck, als sich selber hatten, und zu denen man sich auf keine Weise durch ein äusseres Bedürfniß, sich verständlich zu machen, gedrungen fühlte, sondern die man, so wie die Schritte beim Tanz, gewissermaßen u m i h r e r s e l b s t w i l l e n hervorbrachte. Die Rede wurde durch die über den Gedanken herrschende Empfindung ebenfalls in sich selbst zurückgedrängt, und jede Silbe dadurch an Werth der andern gleich, und zu einem für sich bestehenden Ganzen gemacht, das dem Ohre gleichsam z u g e z ä h l e t , und in Ansehung des Zeitraums, den die Aussprache eines jeden besondern Zusammenflusses von Tönen erfordert, dem Ohre auch z u g e m e s s e n wurde. Die Seele zählte und maß aber anfänglich freilich nur noch zufälliger Weise, ohne daran zu denken, daß sie zählen und messen wollte. – Die Sprache der Empfindung war ein kunst- und regelloser Gesang, den unabgemeßnen wilden Sprüngen der ausbrechenden Freude gleich, bis vielleicht zufälliger Weise, mehrmal nach einander etwa eine lange und zwei kurze, und dann wieder eine lange und zwei kurze Silben sich a n e i n a n d e r m a ß e n , und das in g l e i c h e r O r d n u n g w i e d e r k e h r e n d e ebenfalls die Aufmerksamkeit der Seele fesselte, zur Bewundrung und Nachahmung reizte, sich dem Gedächtnisse einprägte, von nun an mühsam aufgesucht, und allmälig zum künstlichen, regelmäßigen Versbau gebildet ward. A u f d e n g l e i c h e n We r t h d e r e i n z e l n e n S i l b e n a l s o , w e l c h e n sie durch das in sich selbst zurückgedrängte der Rede, die ihren Zweck nun in sich selber und ihrer eignen

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Ausbildung sucht, erhalten, beruht eigentlich das Bedürfniß der Seele, sie abzumessen, zu ordnen, und einzutheilen. A r i s t . Ich habe nichts gegen Ihre Theorie: aber sie scheint mir nur auf den Versbau der alten, nicht aber der neuern Sprachen zu passen. E u p h e m . Sie paßt m i t l e i c h t e n u n d n a t ü r l i c h e n E i n s c h r ä n k u n g e n auch auf den Versbau der Neuern. Doch, hierüber will ich Ihnen meine Gedanken lieber schriftlich mittheilen; denn unsre Materie fängt an, für die mündliche Unterredung z u v o l l zu werden. Wir sind daher unvermerkt in den abhandelnden Ton gefallen, und unser Dialog hat schon lange aufgehört Dialog zu seyn. A r i s t . So wünsche ich denn vorzüglich d e n U n t e r s c h i e d z w i s c h e n u n s e r m Ve r s b a u u n d d e m Ve r s b a u d e r A l t e n von Ihnen deutlich entwickelt zu sehen; und bin auf Ihren Beweiß begierig, d a ß w i r d u r c h g ä n g i g i n u n s r e r S p r a c h e e i n e b e n so bestimmtes Silbenmaaß, wie die Griechen und Röm e r h a b e n : denn diesen Beweiß sind Sie mir bis itzt noch schuldig. E u p h e m . O ich hoffe Ihnen zu beweisen, daß unsre g u t e n Ve r s e auch Verse sind.

Euphem an Arist.

Erster Brief. 25

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Ehe ich zu der eigentlichen Entwickelung des Unterschiedes zwischen unserm Versbau und dem Versbau der Alten schreite, ist es nöthig, daß ich vorher noch Gedanke und Empfindung in mehreren Rücksichten gegen einander stelle, um daraus meine Theorie desto sicherer zu schöpfen.

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Der Gedanke faßt alles zusammen, und wirft es auf die Hauptidee: die Empfindung vertheilt das zusammengefaßte wieder gleichmäßig auf die Haupt- und Nebenideen. Der Gedanke ist die Heraussonderung der Hauptidee, welche durch die mit Fleiß verdunkelten Nebenideen a b s t e c h e n d gemacht wird. Die Empfindung ist der mit allen untergeordneten Ideen a n g e f ü l l t e Gedanke. Der Gedanke hat also L i c h t ; die Empfindung F ü l l e . – Der Gedanke kann sich a u f e i n m a l äußern; die Empfindung kann sich nur n a c h u n d n a c h ihrer Fülle entledigen. – Der Gedanke ist ein Blitz; die Empfindung ist die Regenschwangere Wolke: ihr Erguß ist der langsamere oder schnellere Tr o p f e n f a l l , womit das melodische Zuzählen der Silben so viel Aehnliches hat. Der Gedanke ließe uns das Untergeordnete lieber auf einmal aussprechen, wenn es möglich wäre; die Empfindung läßt die F o l g e gern so merklich wie möglich werden; sie theilet so viel sie kann, um den Eindruck, den sie vom Ganzen hat, so oft wie möglich in jedem Einzelnen zu w i e d e r h o l e n . Jedes Einzelne trägt nun das Gepräge des Ganzen; auf jedes Einzelne fällt das Gewicht des Ganzen; oder vielmehr das Gewicht des Ganzen wird von dem einen Einzelnen auf das andere sanft übertragen. Die Sprache ist einmal mit dem Eindruck des Ganzen geschwängert, der nun, wo er nur irgend kann, sich unwiederstehlich hinsenkt. Sobald also die Sprache der Empfindung in der Poesie allein herrscht, und den Gedanken nur wie von fern durchschimmern läßt, welches bei den Griechen und R ö m e r n d e r F a l l w a r , so t r e n n t und t h e i l e t sie, so viel sie kann, um nicht nur die einzelnen Silben, sondern selbst die einzelnen Laute, wo möglich, dem Ohre z u z u z ä h l e n . Sie hört sich gern, so oft wie möglich, wieder tönen, darum verweilet sie, wo sie kann, auch auf der unbedeutendsten Silbe, nachdem die leichtre oder schwerere Aussprache derselben ihr einen längern oder kürzern Aufenthalt vorschreibt.

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Darum ist die Musik die eigentliche abgezogne Sprache der Empfindung, weil das Melodische, das A u f e i n a n d e r f o l g e n d e ihr Wesen ausmacht. Was dem Gedanken die Artikulationen der Laute sind, das sind der Empfindung die lang-samern oder schnellern Fortrückungen, und das Steigen und Fallen der Töne. Wenn nun die Worte und Silben oder die artikulirten Laute zum Gesange werden, so dienen sie eigentlich bloß den Höhen und Tiefen, und den langsamern und schnellern Fortrückungen, wodurch sich die Empfindung ausdrückt, z u r U n t e r l a g e ; sie werden alsdann eigentlich nicht mehr als artikulirte Laute, sondern bloß als Höhen und Tiefen, und als langsamere oder schnellere Fortrückungen betrachtet. Aber weil doch nun einmal artikulirte Laute und Silben bei diesem redenden Gesange zum Grunde liegen, so werden sie dazu genutzt, um durch ihre künstliche Zusammenstellung, in welcher Längen und Tiefen mit einander abwechseln, einen harmonischen Takt hervorbringen, der dem Eindruck des Ganzen angemessen ist, und dem Ohre schmeichelt. Um aber diese künstliche Zusammenstellung der Silben, in Ansehung ihrer natürlichen Länge und Kürze zu bewerkstelligen, erlaubte man sich bei den Alten die k ü h n s t e n Ve r s e t z u n g e n d e r n a t ü r l i c h e n Wo r t f o l g e . Denn die Sprache war bei ihnen nun nicht mehr Gedanken- sondern ganz Empfindungs-Ausdruck. Die einzelnen Worte sollten dem redenden Gesange nur in Ansehung seines Taktes zur festen Unterlage dienen; Darum kam es nun nicht mehr so sehr auf ihre Stellung in Ansehung der Bedeutung an. Der Gedanke, der auf die Weise nur von fern durchschimmerte, war gleichsam eine Ve r s c h w e n d u n g , aber eine edle Verschwendung, welche eigentlich das wahre Wesen der Dichtkunst ausmacht, die selbst bei dem was eigentlich nur Unterlage, nur Mittel zum Zweck zu seyn scheint, Reichthum und Ueberfluß fordert, so daß man Zweck und Mittel nicht mehr unterscheiden kann. Sie giebt der Empfindung eine Unterlage, die oft noch edler ist, als sie selber; sie reicht den silbernen Apfel in der goldnen Schaale dar.

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Da sich nun der Eindruck des Ganzen in der Empfindungssprache, oder dem redenden Gesange, s o b a l d d i e E m p f i n d u n g , s o w i e b e i d e n A l t e n g a n z h e r r s c h e n d i s t , auf jede einzelne Silbe vertheilt, so hat nun jede Silbe dadurch einen ihr eigenthümlichen von den übrigen unabhängigen Werth bekommen; jede Silbe ist nun an und für sich herrschend, und ein Ganzes, welches wieder seine Bestandtheile, die einzelnen Laute hat, die auch nun gleichsam g e w e i h e t und veredelt worden sind, und daher, einer wie der andre, ihren vollen Ton haben müssen; keine Silbe, kein Laut darf nun mehr durch den andern gedrängt, gedrückt oder eingeengt werden. Jede Silbe wird auf die Weise durch ihre eignen Bestandtheile in Ansehung ihrer Dauer bestimmt. Der harmonische Takt, welcher durch die künstliche Zusammenstellung der einzelnen Silben hervorgebracht ist, kann nun durch nichts mehr verschoben werden. Denn man greift nun, s o b a l d die Empfindungssprache, wie bei den Alten, herrschend ist, den Sprachwerkzeugen nicht mehr durch den Gedanken vor, sondern weil eine jede Silbe mit der andern ein v ö l l i g g l e i c h e s I n t e r e s s e erhalten hat, so geht sie, wie von selber aus dem Organ hervor, und mißt und bestimmt sich selber. Dadurch entsteht das, was man den N u m e r u s nennt, welcher auch in der Prosa statt findet, sobald die Worte in einem Perioden so gegeneinander gestellt sind, daß sie sich dem Ohr auf eine leichte und angenehme Art gleichsam von selber zuzählen, ohne daß dieß jedoch auf eine und ebendieselbe immer wiederkehrende Art, oder nach einem bestimmten M e t r u m oder Silbenmaaß geschiehet. – Dieser Numerus in der Rede täuscht uns oft so, daß wir mehr zu hören glauben, als wir wirklich hören, indem wir auf jede uns zugezählte Silbe den Eindruck legen, den eigentlich nur das Ganze auf uns macht. N u m e r u s und M e t r u m , oder S i l b e n z a h l und S i l b e n m a a ß sind sehr nahe miteinander verwandt. Was sich seiner Natur nach gleich ist, zählt man, sobald es a u ß e r e i n a n d e r ist, und mißt es, sobald es a n e i n a n d e r ist.

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Nun knüpft und reihet in dem Versbau der Alten das Metrum wieder aneinander, was der Numerus getrennt hatte. Eben die Silben, welche der Numerus bloß zuzählt, werden nun durch das Metrum als etwas aneinander geknüpftes oder ineinander überfließendes zugemessen. Dieß aneinanderknüpfende Metrum ersetzt gleichsam die Trennung des Zusammenhangs der Silben nach ihrer Bedeutung, welche durch das Zuzählen derselben entsteht, und läßt einen neuen Zusammenhang an dessen Stelle treten, der oft in den erstern eingreift, und ihn zu zerstören scheint, wie z. B.

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Mein Ge liebter –

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wo das Silbenmaaß die Silbe g e aus ihrem natürlichen Zusammenhange herausreißt, und in einen neuen, ihr vorher fremden Zusammenhang bringt, woraus dasjenige erwächst, was man die C ä s u r oder den Einschnitt nennt, der von jeher mit Recht, als eine der ersten Schönheiten des Versbaues gegolten hat. Denn es kömmt doch beim Versbau vorzüglich darauf an, daß die Rede in sich selbst zurückgedrängt, und jede einzelne Silbe gewissermaßen veredelt wird, welches dadurch geschiehet, wenn sie gleichsam ein d o p p e l t e s Interesse erhält, indem sie in einen doppelten Zusammenhang gebracht wird. Die Silbe g e in G e l i e b t e r ist mir nun nicht mehr bloß wichtig, in so fern sie die Person, die ich anrede, als den Gegenstand meiner Liebe, bezeichnet, und also meinen Gedanken ausdrückt; sondern auch in so fern sie, als eine kurze auf eine lange Silbe folgt, mit welcher sie nun zusammengenommen einen sanften Fortschritt meiner Rede ausmacht, der dem unmittelbar darauf folgenden gleich ist, und durch welchen sich nun meine Empfindung leicht hinüber wiegt. Je öfter nun der Zusammenhang des Silbenmaaßes in den Zusammenhang der Bedeutung eingreift, desto v e r f l o c h t n e r wird das verschiedne Interesse der einzelnen Silben; desto mehr scheint die Rede in sich selbst zurückgedrängt, und bis in ihre kleinsten Zusammensetzungen veredelt zu seyn; desto m e r k b a r e r wird der unwi-

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derstehliche Reiz des Verses; man fühlt sich bei jedem Ruhepunkte, den man macht, d o p p e l t a n g e z o g e n , indem der Zusammenhang nach dem Metrum und der Zusammenhang nach der Idee einander entgegenstreben, so daß uns das erstere immer noch zurückhält, wenn das andere uns schon vorwärts zieht. Wie z. B. bei der Silbe g e , welche durch den Zusammenhang nach dem Metrum an m e i n , und zu gleicher Zeit durch den Zusammenhang nach der Idee an l i e b t e r geknüpft wird, so daß wir uns auf die Weise d o p p e l t und von entgegengesetzten Seiten angezogen fühlen. Dieß doppelte sich selbst entgegenstrebende Anziehen versetzt die Seele in eine ungewohnte Thätigkeit; es läßt ihr keinen Augenblick Ruhe, und reißt uns unwiderstehlich durch den Vers mit sich fort. Das Metrum bildet sich also von selber durch das g l e i c h e I n t e r e s s e , welches die Silben erhalten haben. Wenigstens ist diese G l e i c h h e i t immer vorausgesetzt: denn sobald ich z. B. einen Körper messe, so betrachte ich ihn, w i e a u s e i n e m S t ü c k ; i c h v e r g e s s e d e n U n t e r s c h i e d s e i n e r T h e i l e , und betrachte sie, sie mögen an sich noch so verschieden seyn, doch bloß wie L ä n g e n und Kürzen. In Ermangelung eines andern Maaßstabes aber messe ich einen Körper zuerst mit sich selber; ich hebe nehmlich irgend einen von Natur schon durch einen s c h ä r f e r n A u s s c h n i t t bezeichneten Theil desselben heraus, und sehe nun zu, w i e o f t , o d e r w i e v i e l m a l die Länge desselben in dem Ganzen enthalten ist. So nahm man z. B. vom menschlichen Körper den F u ß , welcher sich durch den schärfsten Ausschnitt von den übrigen Gliedmaßen auszeichnet, und eben daher die bestimmteste Länge hat, zum Maaßstabe des Ganzen an; und sagte nun, dieser Körper enthält so oder so viel Fuß, oder ein Theil von ihm selber ist so oder so vielmal in ihm enthalten. Auch die Länge des Arms bis zum E l l e n b o g e n , wurde wegen des scharfen Ausschnitts, welchen dieser macht, und wegen der bestimmten Länge, welche dadurch entsteht, zum Maaßstabe des Ganzen angenommen, sobald man Körper mit Körper messen wollte.

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Der sich bildende Vers muß ebenfalls in Ermangelung eines andern Maaßstabes, durch den ersten schärfsten Einschnitt in seine Fortrückung welcher durch den Wechsel der langen und kurzen Silben entsteht, sich selbst abmessen. Man kann sich alsdann nicht enthalten zu b e r e c h n e n , w i e o f t ein solcher bestimmter, durch einen schärfern Ausschnitt bezeichneter Theil des Verses, den man auch einen F u ß nennt, in dem Ganzen enthalten ist: woraus alsdann die sogenannten f ü n f f ü ß i g e n , s e c h s f ü ß i g e n Verse u. s. w. entstehen, von denen der erste, mit seinen fünf oder sechs Einschnitten, allen folgenden zum Maaßstabe dienet. Kleinere Einschnitte aber muß ein jeder Maaßstab haben, weil man sonst, wenn an dem, was damit gemessen wird, etwas fehlte oder überflüßig wäre, nie g e n a u wissen könnte, w i e v i e l nun eigentlich fehlte oder überflüßig wäre. Die kleinern Einschnitte messen sich selbst aneinander, und an ihnen zusammengenommen mißt sich wiederum ein Ganzes, das eben so viel Einschnitte hat, und sich zuletzt d u r c h i r g e n d e i n e n a u f f a l l e n d e n S c h l u ß zu einem dem ersten ähnlichen Ganzen bildet. Was man a u f e i n m a l aussprechen kann, oder eine einzelne Silbe, macht keine F o r t r ü c k u n g aus, sie kann mit nichts ihr ähnlichem verglichen, und folglich auch nicht abgemessen werden. Aber zwei auf einander folgende Silben, zu deren Aussprache ich z w e i m a l die Sprachwerkzeuge in Bewegung setzen muß, machen schon eine Fortrückung aus, und indem sie durch die zweimalige Anstrengung des Sprachorgans einen natürlichen Einschnitt zwischen sich selber machen, messen sie sich aneinander ab. Sobald ich mich also dieser natürlichen Fortrückung überlasse, fühle ich mich durch den Trieb zu vergleichen und gegeneinander abzumessen, unwiderstehlich gedrungen, wenigstens die zweite Silbe an die erste heran zu ziehen, um die erste darnach abzumessen, wenn ich diese zweite Silbe auch aus dem nothwendigen Zusammenhange mit dem folgenden Worte herausreißen soll.

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Prosodie und Stilistik

Erfordert nun die erste Silbe etwa noch einmal so viel Zeit zu ihrer Aussprache, als die zweite, so berechne ich, ohne es mir selbst deutlich bewußt zu seyn, daß die Dauer der zweiten Silbe zweimal in der ersten enthalten ist; ich habe also nun die Dauer der ersten wieder a b g e t h e i l t , und habe also selbst in das, was ich auf einmal, oder mit einer einzigen Anstrengung der Sprachwerkzeuge ausspreche, eine Art von E i n s c h n i t t gebracht, den ich mir wenigstens denke, wenn ich ihn gleich nicht durch die Stimme bezeichne. Folgen zwei Silben von gleicher Länge aufeinander, so messen sie sich zwar auch noch gewissermaßen einander ab; allein es findet doch keine Berechnung statt, w i e v i e l m a l die Dauer der einen in der Dauer der andern enthalten ist: denn die Dauer der einen ist in der Dauer der andern immer nur e i n m a l enthalten. Der Maaßstab und die Sache sind eins. Ich mache zwar einen natürlichen Einschnitt zwischen den beiden Silben durch die wiederhohlte Anstrengung des Sprachorgans; aber in dem, was ich auf einmal ausspreche, kann ich in Gedanken keinen Einschnitt machen, und kann es nicht weiter abtheilen. Meine Vorstellung von der b e s t i m m t e n Dauer der Silben ist daher weniger lebhaft und weniger deutlich, als sie es seyn würde, wenn die längere Silbe durch eine kurze, deren Dauer zweimal in der ihrigen enthalten ist, abgemessen würde. Daher würden lauter aufeinanderfolgende, kurze Silben auf das Ohr eine höchst unangenehme Würkung thun. Das ganze Geheimniß des Versbaues besteht daher i n d e n m a n n i c h f a l t i g e n Ve r h ä l t nissen, worin man die kurzen mit den langen Silben auf eine dem Ohre schmeichelnde Art abwechseln läßt. Da also m e s s e n nichts anders heißt, als berechnen, wie vielmal ein bestimmter Abschnitt eines fortlaufenden Ganzen in dem Ganzen enthalten ist, so sieht man leicht, daß nur das Kleinere dem Größern, nicht aber umgekehrt das Größere dem Kleineren zum Maaßstabe dienen könne. Hebt sich nun der Vers mit einer langen Silbe an, auf welche eine kurze Silbe, oder mehrere kurze Silben folgen, so bietet sich mir der

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Maaßstab der langen Silbe, zur gehörigen Zeit, von selber dar. – Indem ich die lange Silbe schon ausgesprochen habe, und nun die darauf folgende kurze dagegen tönen lasse, bekomme ich eine deutliche befriedigende Idee von der bestimmten, verhältnißmäßigen Dauer der langen Silbe. – Ich verhalte mich gleichsam l e i d e n d , indem ich es ruhig abwarte, bis sich die Silbe durch ihren eignen Fall von selbst abmißt. Stelle ich aber die Silben so, daß sich der Vers mit einer kurzen Silbe anhebt, so scheint es fast, als ob ich dem sich selbst bildenden Silbenmaße g e w a l t s a m vorgriffe, indem ich die messende kurze Silbe vor die abzumessende längre Silbe hinreisse, auf die ich nun mit einem desto s t ä r k e r n A n l a u f hineile; weil die kurze Silbe mir nicht eher wichtig werden kann, bis sie erst zum Maaßstabe der längern Silbe gedient hat, die ich noch nicht ausgesprochen habe, und die ich nun so schnell wie möglich auszusprechen eile. Indem ich also die kurze Silbe der längern vorschiebe, bringe ich statt des F a l l s einen S p r u n g zuwege. Der Fall ist sanfter und harmonischer; der Sprung ist rascher und lebhafter. Der Fall hat etwas natürliches und leichtes, weil er sich, wie von selbst ereignet; der Sprung hat etwas heftiges und ungestümes, weil er, wie durch eine verborgne Federkraft bewirkt wird. Nach dieser Voraussetzung getraue ich mir die T h e o r i e d e r m e t r i s c h e n F ü ß e auf eine sehr natürliche und leichte Art zu entwickeln. Bis ich diese Theorie vorausgeschickt habe, welches ich in dem nächsten Briefe thun werde, muß ich Ihnen die Entwickelung des wesentlichen Unterschiedes zwischen dem Versbau der Alten und Neuern, und den versprochnen Beweiß von der Bestimmtheit unsers Silbenmaaßes noch schuldig bleiben.

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Prosodie und Stilistik

Zweiter Brief. Jede Zusammensetzung mehrerer Silben muß sich entweder mehr zum Falle oder mehr zum Sprunge neigen. Zum Falle neigt sie sich, wenn das Lange vorangeht und das Kurze nachtönt; zum Sprunge, wenn das Kurze vorangeht und das Lange nachtönt. Selbst zwei lange Silben neigen sich ihrer Langsamkeit wegen mehr zum Falle, als zum Sprunge, und zwei kurze Silben neigen sich ihrer Schnelligkeit wegen mehr zum Sprunge als zum Falle, ob sie sich gleich in Ansehung ihrer Dauer völlig gleich sind. Nun lassen sich zwei in Ansehung ihrer Dauer verschiedne Silben, auf nicht mehr als zweierlei Art zusammenstellen, so daß entweder die lange Silbe vorangeht und die kurze nachtönt:

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D e r Tr o c h ä u s oder W ä l z e r , welcher auch der C h o r e u s heißt,

 Ž

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oder so daß die kurze Silbe vorangeht, und die lange nachtönt: D e r J a m b u s oder S c h l e u d e r e r

Ž  In diesen beiden einfachen Versetzungen liegen im Grunde alle übrigen Silbenmaße, sie mögen so zusammengesetzt seyn, wie sie wollen, wie in ihrem Keime verborgen. Jede Zusammenstellung von Silben ist entweder j a m b i s c h oder t r o c h ä i s c h ; neigt sich entweder zum Fall oder zum Sprunge. Selbst zwei unmittelbar auf einanderfolgende lange Silben, D e r S p o n d e u s oder Tr i t t

  neigt sich zum Fall, und nähert sich dem Trochäus. Zwei unmittelbar auf einanderfolgende kurze Silben

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Versuch einer deutschen Prosodie

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D e r P y r r h i c h i u s oder L ä u f f e r .

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Ž Ž

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neigt sich zum Sprunge und nähert sich dem Jambus. Von drei Silben lassen sich a c h t verschiedne Zusammenstellungen machen: 1) Drei aufeinander folgende kurze Silben, Der Tr y b r a c h i s oder D r e i g e k ü r z t e

Ž Ž Ž 10

neigt sich wegen seiner Schnelligkeit zum Sprunge, und nähert sich also dem Jambus. 2) Drei auf einander folgende lange Silben: Der M o l o s s u s oder S c h w e r t r i t t

   15

neigt sich zum Fall, und liegt dem Trochäus näher, als dem Jambus. 3) Zwei lange und in der Mitte eine kurze Silbe: Der A m p h y m a c e r oder Z w e i l ä n g i g t e

 Ž 

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welcher auch der K r e t i k u s heißt, neigt sich zum Fall, und ist dem Trochäus verwandt. 4) Das Umgekehrte von diesem: zwei kurze und in der Mitte eine lange Silbe, Der A m p h y b r a c h i s oder Z w e y g e k ü r z t e

Ž  Ž 25

neigt sich zum Sprunge und ist dem Jambus verwandt. 5) Erst eine lange und dann zwei kurze Silben. Der D a k t y l u s oder F i n g e r s c h l a g

 Ž Ž neigt sich wieder zum Fall.

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Prosodie und Stilistik

6) Das Umgekehrte von diesem: erst zwei kurze und dann eine lange Silbe, Der A n a p ä s t oder G e g e n s c h l a g

Ž Ž  neigt sich zum Sprunge, und nähert sich dem Jambus. 7) Erst eine kurze, und dann zwei lange Silben:

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Der B a c h i u s oder S t ü r m e r

Ž   57

ist dem Jambus, und 8) Das Umgekehrte von diesem: erst zwei lange und dann eine kurze Silbe,

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Der P a l i m b a c h i u s oder S c h w e r f a l l

  Ž ist dem Trochäus oder Choreus verwandt. Lassen Sie uns nun die zweisilbigten und dreisilbigten metrischen Füße noch einmal untereinander stellen, um sie, nach dieser Eintheilung, mit einem Blick übersehen zu können. Tr o c h ä u s . Fall. Trochäus oder Wälzer Spondeus oder Tritt Molossus oder Schwertritt Amphymacer od. Zweilängigter Daktylus oder Fingerschlag Palimbachius od. Schwerfall

 Ž       Ž   Ž Ž   Ž

Jambus. Sprung. Jambus oder Schleuderer Pyrrhichius od. Läuffer Trybrachis oder Dreigekürzter Amphybrachis od. Zweigekürzter Anapäst oder Gegenschlag Bachius oder Stürmer

Ž  Ž Ž

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Ž Ž Ž Ž  Ž Ž Ž  Ž  

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Von vier Silben lassen sich sechszehn verschiedne Zusammenstellungen machen: 1) Vier auf einanderfolgende kurze Silben:

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Der P r o c e l e v m a t i k u s oder D o p p e l s c h l a g 5

Ž Ž Ž Ž ist dem Jambus verwandt und neigt sich zum Sprunge. 2) Vier aufeinanderfolgende lange Silben: Der D i s p o n d e u s oder D o p p e l t r i t t

    10

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ist dem Trochäus verwandt und neigt sich zum Fall. 3) Zwei lange und in der Mitte zwei kurze Silben: Der C h o r i a m b u s , welcher aus dem Tr o c h ä u s oder C h o r e u s , und aus dem J a m b u s zusammengesetzt ist, und den man füglich den A u f s p r u n g nennen könnte, weil er vom Falle sich wieder erhebt

 Ž Ž 

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Dieser Fuß ist, weil er sich mit dem Fall anhebt, dem Trochäus oder Choreus näher als dem Jam-bus verwandt, und wegen seines leicht zu berechnenden Verhältnisses einer der wohlklingendsten metrischen Füße: denn die beiden kurzen Silben, welche in der Mitte zusammen stehen, messen nicht nur die vorhergehende erste, sondern auch die nachfolgende letzte lange Silbe auf die natürlichste und leichteste Art ab; oder vielmehr der C h o r i a m b u s mißt sich selber ab, indem er das Lange vor und nach tönen läßt, und das Kurze in die Mitte bringt. Er hat hierin mit dem Amphymacer oder Zweylängigten

 Ž  einige Aehnlichkeit, der sich zwar auch durch die kurze Silbe in der Mitte, aber doch nicht auf eine so v o l l s t ä n d i g e Art, wie der C h o r i a m b u s abmißt.

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Weil in dem Choriambus sich gerade die beiden Hauptfüße, welchen alle übrigen untergeordnet sind, vereinigen, so läßt sich aus ihm vorzüglich die Theorie der metrischen Füße entwickeln, die wir erst nach der Reihe ferner wollen auftreten lassen, um zu sehen, in wie fern sie sich mehr zum Fall oder zum Sprung, mehr zum Jambus oder Choreus neigen. Wir stellen also 4) zusammen; zwei kurze und in der Mitte zwei lange Silben, gerade das Umgekehrte vom C h o r i a m b u s , den A n t i s p a s t oder G e g e n z u g

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Ž   Ž

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der sich, weil er mit dem Sprunge anhebt, mehr zum Jambus neigt, und die gewaltsamste und schwerste, so wie der Choriambus die natürlichste und leichteste, Silbenstellung ausmacht. Er ist ein wahrer G e g e n z u g : denn der Sprung reißt uns vorwärts, indes der Fall uns wieder rückwärts zieht. Wir werden plötzlich in unserm Anlauf gehemmt, und müssen uns zu einem von dem vorhergehenden verschiednen Schritt bequemen: statt aufs neue zu steigen, wozu wir doch eigentlich den Anfang gemacht haben, müssen wir auf einmal plötzlich sinken. Daher entsteht das Harte, Disharmonische und Zwangvolle dieses metrischen Fußes. Es ist uns weit natürlicher, vom Fall wieder aufzuspringen, als auf-zuspringen, um zu fallen. Der Wiederaufsprung nach dem Fall setzt uns in die Lage, w o r i n w i r b l e i b e n w o l l e n ; aber der Fall nach dem Aufsprunge setzt uns in eine Lage, worin wir nicht bleiben wollen. In dem Choriambus wird das S t e i g e n durch den F a l l gleichsam v o r b e r e i t e t ; und das ist der natürliche Gang des Verses; d i e e l a s t i s c h e F e d e r s p r i n g t n i c h t e h e r a u f , a l s b i s s i e v o r h e r n i e d e r g e d r ü c k t i s t . – Das Steigen kann wohl durch das Fallen, aber nicht umgekehrt das Fallen durch das Steigen vorbereitet werden. Denn wir betrachten das Fallen wohl als Mittel zum Steigen, aber nicht das Steigen als Mittel zum Fallen. – Das durch Vo r s c h i e b u n g der kurzen Silbe bewirkte unvorbereitete Steigen in dem Jambus hat daher schon an sich etwas Gewaltsames, welches nun in dem A n t i s p a s t , wo das Steigen, statt

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durch den Fall vorbereitet zu werden, diesen Fall sogar n a c h sich hat, am allermerkbarsten wird. Der Fall oder Trochäus scheint uns da ganz unzweckmäßig zu stehen; er scheint uns nicht eigentlich zum Sprung oder Jambus zu gehören, weil er ihn weder bestimmt, veranlaßt, noch vorbereitet, sondern gleichsam u n n ü t z nachtönt. Dahingegen der Choreus in dem Choriambus den darauf folgenden Sprung oder Jambus vorbereitet, welcher sich daher auch willig an ihn h i n a n s c h m i e g t . Der Choriambus macht daher die größte Harmonie, so wie der Antispast die größte Disharmonie unter den metrischen Füßen aus. Der Amphybrachis oder zweygekürzte

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scheint zwar mit dem Antispast einige Aehnlichkeit zu haben, weil auch das Lange in die Mitte und das Kurze an die beiden Enden gebracht ist; und doch klingt dieser Fuß nicht disharmonisch, wenn wir ihn gegen den zweilängigten oder Amphymacer

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Ž  Ž

 Ž 

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halten: das macht, weil in dem Zweigekürzten oder Amphybrachis das Gewaltsame des Sprunges durch das S i n k e n in der letzten kurzen Silbe, wieder gemildert wird. Denn der Sprung geschieht hier nicht um zu sinken, wie bei dem Antispast, sondern das Sinken in der letzten kurzen Silbe scheint nur der a b g e b r o c h n e A n l a u f zu einem neuen Sprunge zu seyn, der sich gern dem Jambus anschmiegt, und den der Jambus willig aufnimmt, weil er ihn eigentlich nicht in seinem Laufe hemmt, sondern vielmehr den Anfang macht, ihn fortzuführen. Darum hat auch 5) der D i j a m b u s oder D o p p e l w u r f

Ž  Ž  30

für das Ohr nichts Widriges, weil nur der erste Sprung durch keinen Fall vorbereitet ist, sondern durch die Vorschiebung der kurzen Silbe vor die lange bewirkt wird, der folgende Sprung hingegen schon durch ein leichtes Sinken von der langen zu der kurzen Silbe vorbe-

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reitet, und das Gewaltsame desselben eben dadurch gemildert wird. Der D i j a m b u s oder D o p p e l w u r f steigt nicht u m ganz zu sinken, sondern sinkt nur ein wenig, um aufs neue wieder zu steigen; der Antispast hingegen steigt nur, u m eigentlich vollständig zu sinken. Daher kömmt das Zweckwidrige, Disharmonische in dieser Zusammenstellung. Bei dem Choriambus hingegen schließt sich das E n d e d e s F a l l s an den A n f a n g d e s S t e i g e n s , wodurch ein sanfter Wellenschlag entsteht, der das Ohr auf eine ganz vorzügliche Art reizt. Bei dem Amphymacer oder zweilängigten

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 Ž 

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ist das Ende des Falls und der Anfang des Steigens in eine und eben dieselbe Silbe zusammengedrängt: darum ist die Harmonie nicht so vollständig; der Wellenschlag ist kürzer und schärfer, wie bei dem Choriambus. – Bei dem Amphybrachis oder Zweigekürzten

Ž  Ž

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ist das Ende des Steigens und der Anfang des Fallens in eine Silbe zusammengedrängt; darum ist hier keine solche Disharmonie, wie bei dem Antispast. Das Steigen und Fallen verliert sich hier ineinander: der Schluß des Falles ist schon da, ehe man noch den Anfang bemerkt hat, der hingegen bei dem Antispast sehr auffallend gemacht wird, um das Abstechende des Falles gegen das Steigen desto deutlicher merken zu lassen. Bei dem D i j a m b u s oder D o p p e l w u r f ist nun auch immer die lange Silbe das Ende des Steigens und der Anfang des Fallens, so wie die kurze Silbe zugleich der Schluß des Falles und der Anfang des Steigens ist. Er hat daher nicht das Disharmonische des Antispast, aber auch nicht das v o l l e H a r m o n i s c h e des Choriambus. Dagegen nähert sich

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6) der D i c h o r e u s oder D o p p e l f a l l

 Ž  Ž schon mehr der Harmonie des Choriambus, weil er sich auch mit dem Fall anhebt, und nur die eine kurze Silbe, die eigentlich in der Mitte

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stehen, und eine A u f s c h l a g s s i l b e seyn sollte, ans Ende wirft und zu einer S c h l u ß f a l l s s i l b e macht. In dem D i j a m b u s oder D o p p e l w u r f hingegen wird die erste kurze Silbe, die eigentlich in der Mitte stehen und eine S c h l u ß f a l l s - s i l b e seyn sollte, vorweggegriffen und zu einer A u f s c h l a g s s i l b e gemacht, wodurch die B e r e c h n u n g des Ve r h ä l t n i s s e s der Silben gegeneinander schon etwas mehr erschwert wird, oder sich wenigstens nicht so, wie bei dem Dichoreus v o n s e l b e r d a r b i e t e t . Durch den Dijambus wird also die vollständige Harmonie des Choriambus schon mehr, als durch den Dichoreus zerstört; noch mehr aber wird sie durch den J o n i k u s a m i n o r i oder Vo r s c h l ä g e r

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Ž Ž   und den J o n i k u s a m a j o r i oder N a c h s c h l ä g e r

  Ž Ž 15

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zerstört, wovon der erste die beiden kurzen Silben aus der Mitte vorweggreift, und auf die Weise den zusammenklingenden S c h l u ß f a l l und A u f s c h l a g in einen schnellen A n l a u f verwandelt; der letztere sie aber ans Ende wirft, und den harmonischen Schlußfall und Aufschlag in einen schnellen A b l a u f verwandelt. Dieser letztere, der J o n i k u s a m a j o r i oder N a c h s c h l ä g e r (   Ž Ž ) entfernt sich noch mehr von der Harmonie des Choriambus, als der Vo r s c h l ä g e r ( Ž Ž   ). Bei dem Vo r s c h l ä g e r habe ich nehmlich schon das Maaß zu der zweiten langen Silbe noch ehe ich sie ausspreche; denn ich habe die erste lange Silbe schon nach den vorhergehenden beiden kürzern abgemessen, und messe nun die zweite wieder nach der ersten ab. Bei dem N a c h s c h l ä g e r hingegen bekomme ich zu der ersten langen Silbe nicht eher einen Maaßstab, bis ich die zweite darauf folgende lange Silbe erst ausgesprochen habe; darum fühle ich kein Bedürfniß die erste lange Silbe an das folgende mit anzuschließen, und es scheinet, als ob sie zu dem folgenden nicht recht mit gehört. Eben dieß macht auch den P a l i m b a c h i u s oder S c h w e r f a l l

  Ž

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disharmonischer, als den B a c h i u s oder S t ü r m e r Ž  . Am allermeisten zerstört der Antispast die Harmonie des Choriambus: denn er kehrt sein ganzes Verhältniß um, indem er das Einschließende in die Mitte, und das Eingeschlossene an die beiden Enden bringt,

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Ž   Ž statt

 Ž Ž 

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Was zusammen stehen soll, wirft er voneinander, und was voneinander stehen soll, stellt er zusammen, z w e i L ä n g e n z w i s c h e n z w e i K ü r z e n – ein höchst widriges Verhältniß! Denn jede dieser beiden Längen senkt sich natürlicher Weise nach ihrer Kürze hin, wodurch sie sich abmißt, und kann sich also an der benachbarten Länge nicht festhalten; diese Zusammenstellung ist daher höchst gezwungen, und droht immer wieder auseinander zu fallen; dahingegen zwei Längen zwischen zwei Kürzen sehr leicht und natürlich z u s a m m e n f a l l e n , weil sich der Schlußfall und der Aufschlag von selber gegeneinander senken. Unter den viersilbigten metrischen Füßen, die wir bis jetzt nebeneinander gestellt haben, gränzt also der D i c h o r e u s oder D o p p e l f a l l  Ž  Ž am nächsten an die volle Harmonie des Choriam-bus; dann folgt der D i j a m b u s oder D o p p e l w u r f Ž  Ž  ; dann der J o n i k u s a m i n o r i oder Vo r s c h l ä g e r Ž Ž   ; dann der J o n i k u s a m a j o r i oder N a c h s c h l ä g e r   Ž Ž ; und dann der A n t i s p a s t oder G e g e n z u g Ž   Ž . Der P r o c e l e v m a t i k u s oder D o p p e l s c h l a g Ž Ž Ž Ž kann im Grunde nur als ein bloßer verdoppelter Anlauf betrachtet werden, der sich doch am Ende zum Sprunge neigt; und der D i s p o n d e u s oder D o p p e l t r i t t kann nicht anders als wie ein s c h w e b e n d e r G a n g betrachtet werden, der sich doch am Ende zum Falle neigen muß.

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Lassen Sie uns nun diese acht viersilbigten metrischen Füße wieder untereinander und neben einander stellen, um sie mit einem Blick zu übersehen und beurtheilen zu können, in wie fern sie sich mehr zum Sprunge oder zum Falle neigen? 5

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Fall.

Dispondeus oder Doppeltritt Dichoreus od. Doppelfall Jonikus a majori od. Nachschläger Choriambus od. Aufsprung

Sprung.

    Ž  Ž    Ž Ž  Ž Ž 

Procelevmaticus od. Doppelschlag Ž Dijambus od. Doppelwurf Ž Jonikus a minori od. Vorschläger Ž Antispast oder Gegenzug Ž

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Ž Ž Ž  Ž  Ž     Ž

Dieß sind die Zusammenstellungen alle, welche von zwei kurzen und zwei langen Silben möglich sind: allein, weil auch drei kurze und eine lange, und drei lange und eine kurze Silbe, jede noch auf vierlei Art zusammengesetzt werden können, so bekommen wir dadurch acht neue Zusammenstellungen von Silben oder metrische Füße, die sich von den vorhergehenden wesentlich unterscheiden. Diese sind, der P e o n oder T ä n z e r , der aus einer langen und drei kurzen Silben besteht, die wiederum auf viererlei Art unter sich ver-setzt werden; und der E p i t r i t oder D r e i s c h l a g , der aus drei langen und einer kurzen Silbe besteht, die wiederum auf viererlei Art unter sich versetzt werden können, so daß die kurze Silbe in der Ordnung die erste, die zweite, die dritte, oder die vierte ist, und auf die Weise auch der E p i t r i t oder D r e i s c h l a g sich in den ersten, zweiten, dritten und vierten E p i t r i t ; so wie auch der P e o n oder T ä n z e r , sich in den ersten, zweiten, dritten, und vierten P e o n von selbst abtheilet. Der e r s t e P e o n oder Tänzer, bei welchem die lange Silbe voransteht

 Ž Ž Ž

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scheint sich deswegen zwar auch zum Falle zu neigen, im Grunde aber neigen sich doch alle Peone wegen der größern Anzahl der kurzen Silben mehr zum Sprunge. Der Fall, womit sich der erste Peon anhebt, wird durch die folgenden beiden kurzen Silben fast ganz unmerklich gemacht, und dieser metrische Fuß bekömmt dadurch etwas Hartes, weil mehr kurze Silben auf die lange folgen, als zu ihrer Abmessung nöthig sind, und die letzte kurze Silbe sich daher nicht sowohl an das vorhergehende, als an etwas folgendes anzuschließen strebt, wozu sie den Anlauf macht. Eben das ist auch der Fall bei dem

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zweiten Peon Ž  Ž Ž

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wo sich der Pyrrhichius oder Läuffer ebenfalls nicht gut an den Jambus anschließen will, welcher, da er schon einen Aufschlag vor sich hat, keines so langen Ablaufes mehr bedarf. Wenn daher mehrere zweite Peone aufeinander folgen, so verlieren sie sich bald wieder in den ersten Peon, als

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Ž  Ž Ž Ž  Ž Ž Ž  Ž Ž wo man bald anfängt, die Einschnitte so zu machen

Ž  Ž Ž Ž  Ž Ž Ž  Ž Ž Der d r i t t e P e o n , welcher auch der D y d i m e u s heißt,

Ž Ž  Ž

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ist der wohlklingendste: denn in ihm scheint keine Silbe überflüßig zu seyn: der A n l a u f bedarf zum Sprung einer langen Silbe, und die lange Silbe bedarf zum Fall einer kurzen Silbe. Zwei kurze Silben würden sich nicht an sie anschließen, sondern sogleich wieder auf eine folgende längere Silbe einen erneuerten Anlauf machen, wie in dem zweiten Peon Ž  Ž Ž : denn zwei kurze Silben sind schon an sich mehr zum Sprunge als zum Fall geneigt, weil nun in den beiden ersten Silben durch den Jambus der Sprung einmal vorbereitet ist, so können sie der langen Silbe nicht mehr zum F a l l dienen, sondern setzen den einmal angefangnen Sprung, ihrer Natur nach, fort.

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Versuch einer deutschen Prosodie

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Der v i e r t e P e o n Ž Ž Ž  der den Tanzenden zugesungen wurde, klingt auch harmonischer, als der erste und zweite, weil drei aufeinanderfolgenden kurzen Silben der Anlauf immer natürlicher ist, als der Ablauf. Der erste und zweite Peon müssen sich daher auch bald in den vierten Peon verwandeln, wenn mehrere aufeinander folgen, als

Ž  Ž Ž Ž  Ž Ž Ž  Ž Ž wo man bald so abtheilen wird:

Ž  Ž Ž Ž  Ž Ž Ž  Ž Ž. 10

Der e r s t e E p i t r i t oder D r e i s c h l a g

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Ž   

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neigt sich, weil er mit der kurzen Silbe anhebt, zum Sprunge, und hat viele Aehnlichkeit mit dem B a c h i u s oder S t ü r m e r Ž   , den er an Heftigkeit noch übertrift. Er hat an sich nichts Unharmonisches, weil sich an der ersten durch den Vorschlag abgemessenen langen Silbe, die zweite, und an dieser wieder die dritte von selber abmessen. – Es findet in diesem Fuß zwar kein solcher sanfter Wechsel von Steigen und Fallen statt, wie bei dem Dijambus Ž  Ž  oder Dichoreus  Ž  Ž , aber er steigt doch nicht bloß, um desto schwerer und unbehülflicher wieder zu fallen, wie der Antispast Ž   Ž , sondern, wenn er einmal gestiegen ist, so erhält er sich bis zum Schluß im Steigen schwebend, und sein Schluß hat daher nichts dem Anfange widersprechendes. Der z w e i t e E p i t r i t  Ž   verliert sich wieder in dem ersten, sobald mehrere aufeinander folgen, als

 Ž    Ž    Ž   wo man bald so abtheilen wird

 Ž    Ž    Ž   30

Er neigt sich übrigens mehr zum Fall, weil er mit der Länge anhebt, und ist noch harmonischer als der erste Epitrit, weil die kurze Silbe

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Prosodie und Stilistik

nicht vorweggegriffen, sondern in der Mitte zwischen die beiden langen Silben gestellt wird, und auf die Weise zwei Füße bilden hilft, die in diesem verborgen liegen: den Amphymacer oder zweilängigten  Ž  , wenn ich den Epitrit so abtheile  Ž   , und den Bachius oder Stürmer, wenn ich ihn so abtheile  Ž   : das Heftige des Bachius wird durch den mitertönenden Amphymacer gemildert, und das Sanfte des Amphymacer erhält durch den mitertönenden Bachius mehr Nachdruck. Dahingegen in dem ersten Epitrit der Bachius in der dritten langen Silbe noch fortstürmt, ohne durch etwas gemildert oder gehemmt zu werden.

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Der d r i t t e E p i t r i t   Ž  76

neigt sich noch mehr zum Falle, als der zweite Epitrit, weil die kurze Silbe erst nach den beiden langen steht, mit denen sie einen Palimbachius oder Schwerfall   Ž ausmacht, der in diesem Fuße, nebst dem Amphymacer  Ž  verborgen liegt; der erstere nehmlich wenn ich den Epitrit so abtheile   Ž  , und der zweite wenn ich ihn so abtheile   Ž  ; weil aber der Schwerfall oder Palimbachius schon an sich nichts harmonisches hat, so bringt er auch eben keine Harmonie in einen Fuß, in welchem er mit ertönt; der dritte Epitrit ist daher auch weniger harmonisch als der zweite, aber doch nicht so disharmonisch, als

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der v i e r t e E p i t r i t    Ž

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in welchem der M o l o s s u s oder S c h w e r t r i t t    und der P a l i m b a c h i u s oder S c h w e r f a l l   Ž zugleich mit ertönen. Da sich nun diese beide zum Fall neigen, so ist der vierte Epitrit einer der unbehülflichsten und schwerfälligsten unter allen metrischen Füßen; er muß sich daher auch nothwendig wieder zum Sprunge neigen, sobald mehrere zusammen stehen, und alsdann verwandelt er sich unvermerkt wieder in den ersten Epitrit Ž    . Der z w e i t e E p i t r i t  Ž   , welcher auch der K a r i k u s heißt, ist unter den Epitriten bei weitem der wohlklingendste, so wie der dritte P e o n oder D i d y m e u s Ž Ž  Ž unter den Peonen der

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Versuch einer deutschen Prosodie

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wohlklingendste ist. In dem zweiten Epitrit wird nehmlich das Harte des Bachius, der in ihm verborgen liegt, durch den vorantönenden Amphymacer oder Kretikus; und in dem dritten Peon wird das Harte des Anapäst, womit er anhebt, durch den nachtönenden Amphybrachis oder Zweygekürzten g e m i l d e r t . Der z w e i t e E p i t r i t oder K a r i k u s  Ž   und der d r i t t e P e o n oder D i d y m e u s Ž Ž  Ž machen eine sehr schöne Gegeneinanderstellung aus, weil in beiden ganz entgegengesetzte dreisilbigte metrische Füße verborgen liegen. In dem K a r i k u s  Ž   , der K r e t i k u s  Ž   , und B a c h i u s  Ž   ; und in dem D i d y m e u s der A n a p ä s t Ž Ž  Ž , und A m p h y b r a c h i s Ž Ž  Ž . Die Gegeneinanderstellung von

 Ž  

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Ž Ž  Ž

ist also wie die Gegeneinanderstellung von 15

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 Ž  Ž  

Ž  Ž Ž Ž 

Der Anäpast, womit sich der Didymeus anhebt, folgt unmittelbar auf den Bachius, womit sich der Karikus schließt; und auf den beiden Enden stehen auch wieder entgegengesetzte Füße: vorn der Amphymacer, womit sich der Karikus anhebt, und am Ende der Amphybrachis, womit sich der Didymeus schließt. Aus dieser Gegeneinanderstellung scheinet das h o r a z i s c h s a p p h i s c h e Silbenmaaß entstanden zu seyn:

 Ž    Ž Ž  Ž  Ž 25

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Integer vi

tæ scelerisque

purus.

Die erste Hälfte des Verses macht der K a r i k u s oder zweite Epitrit mit einer nachtönenden langen Silbe, und die zweite Hälfte macht der D i d y m e u s oder dritte Peon mit einem nach-tönenden Trochäus: der nachtönende Trochäus macht wieder die Symmetrie gegen den nachtönenden halben Spondeus in der Mitte, welcher den Gang des Verses schwebend erhält, dem der nachtönende Trochäus zum Schlußfall dienet.

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Prosodie und Stilistik

Man theilet diesen Vers sonst gewöhnlich so ab

 Ž    Ž Ž  Ž  Ž Die erstere Eintheilung aber macht ihn durch die symmetrische Gegeneinanderstellung der Füße m e l o d i s c h e r , und wird auch durch die P e n t h e m i m e r i s oder C e s u r n a c h d e r f ü n f t e n S i l b e , welche für die größte Schönheit des sapphischen Verses gehalten wird, bestätigt. Das N a c h t ö n e n der einen langen Silbe bei dem K a r i k u s  Ž    , und der letztern Hälfte des Didymeus Ž Ž  Ž  Ž hat etwas für das Ohr sehr schmeichelhaftes, weil es mit einem a n t w o r t e n d e n E c h o eine gewisse Aehnlichkeit giebt, die auch in der choriambischen Versart statt findet, wo die letzte Hälfte des Choriambus gleich einem solchen a n t w o r t e n d e n E c h o ebenfalls am Schluß des Verses nachtönt: 80

 Ž Ž  Ž 

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Splendidior vitro

Im Anfange wird hingegen dem choriambischen Verse ein Spondeus vorgeschoben, um seinen Gang s c h w e b e n d zu erhalten, oder ihm eine desto stärkere Neigung zum Fall zu geben, von welchem er am Schluß des Verses in einem doppelten Sprunge wieder aufhüpft:

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   Ž Ž  Ž  Plus ju sto placeat cave

Dieß ist wohl die natürlichste Ursach, weswegen der Choriambus gemeiniglich von dem Spondeus und Jambus eingefaßt wird. Auch das A l k a i s c h e Versmaaß, dessen sich Horaz so oft bedient, läßt sich auf die Weise erklären. Es besteht aus vier Strophen, wovon die beiden ersten sich gleich, und aus einem S p o n d e u s , einem B a c h i u s , und zwei D a k t y l e n zusammengesetzt sind.

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Versuch einer deutschen Prosodie

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  Ž    Ž Ž  Ž Ž Cœlo tonantem credidi mus Jovem Regna re: præsens divus ha bebitur

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Wenn man den Spondeus und Bachius, welche aufeinander folgen, wie einen einzigen zweisilbigten Fuß betrachtet, so liegt der Palimbachius oder Schwerfall darin verborgen, sobald man ihn so abtheilt

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  Ž  

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Dieser mitertönende S c h w e r f a l l oder P a l i m b a c h i u s wird durch den B a c h i u s oder S t ü r m e r wieder gehoben; und dieß ist gleichsam ein gewaltsames Aufstehen von einem gewaltsamen Falle, welches der ersten Hälfte des alkaischen Verses etwas ausserordentlich stark und volltönendes giebt, das sich, wegen der gewaltsamen Anstrengung, nun gleichsam wie von selbst zu einem sanften doppelten Fall senkt, der auch in der zweiten Hälfte dieses Versmaßes, in den beiden Daktylen, erfolgt. Die dritte Strophe des alkaischen Verses unterscheidet sich von den beiden ersten nur dadurch daß sie sich statt der beiden Daktylen mit zwei Trochäen schließt:

  Ž    Ž  Ž 20

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Augu stus adjec tis Brit tannis

Diese beiden Trochäen bereiten den völligen Schluß, in der vierten Strophe, vor, welche aus l a u t e r f a l l e n d e n F ü ß e n , nehmlich aus zwei Daktylen und zwei Trochäen besteht. Die beiden Trochäen, womit sich die dritte Strophe schließt, sind an sich kein hinlänglicher Schlußfall, für den hochtönenden Anfang dieser dritten Strophe, den sie mit der ersten und zweiten Strophe völlig gleich hat, darum geben sie dem Verse gleichsam eine N e i g u n g zu der vierten Strophe, welche ihn durch ihren v o l l k o m m n e n S c h l u ß f a l l vollendet:

 Ž Ž  Ž Ž  Ž  Ž 30

Imperi

o gravi

busque Persis.

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Prosodie und Stilistik

also:

   

   Ž

Ž Ž Ž Ž

   

   Ž

   Ž

Ž Ž Ž 

Ž Ž  Ž

 Ž Ž  Ž Ž Ž  Ž

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Cœlo tonantem credidi mus Jovem. regna re: præsens divus ha bebitur Augu stus; adjec tis Brit tannis imperi o, gravi busque Persis. 83

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Von diesen drei Versmaßen, dem s a p p h i s c h e n , c h o r i a m b i s c h e n , und a l k a i s c h e n , hat jedes seine ihm eigenthümliche M e l o d i e , welche sich von selbst durch die abwechselnden Längen und Kürzen bildet. Der C h o r i a m b u s ist der l e i c h t e A u f s p r u n g ; der A l c ä u s könnte der S t u r m f a l l heißen; und der s a p p h i s c h e ist der s c h w e b e n d e h ü p f e n d e Ta n z . In diesem abwechselnden S t e i g e n und F a l l e n nun, in dem höchst einfachen Verhältniß v o n e i n s z u z w e i oder v o n d e r k u r z e n z u d e r n o c h e i n m a l s o l a n g t ö n e n d e n S i l b e liegt also im Grunde das ganze Geheimniß des Versbaues verborgen, der, bei dieser Einfachheit seiner Bestandtheile, dennoch eine so erstaunliche Mannichfaltigkeit in sich begreift. Denn welch eine Menge von Versarten, oder Zusammensetzungen der metrischen Füße giebt es nicht schon, und wie viele ließen sich ihrer nicht noch erfinden! Allein es frägt sich nun freilich: wozu dieser ganze Aufwand von Kunst, wenn er dem Ohre nicht hinlänglich merkbar wird, welches der Fall ist, sobald die Verse, die aus dieser Zusammenstellung der metrischen Füße erwachsen, nicht g e s u n g e n werden. D e n n w a s i s t Ta k t o h n e M e l o d i e , als höchstens ein monotonischer Tr o m m e l s c h l a g , der an sich bald das Ohr ermüdet, wenn auch noch so viel Rhytmus darin ist. Aber so wie in den Kompositionen der Neuern zu der Melodie erst der Takt gesucht wird, so scheint man bei den Alten zu dem Takt die Melodie gesucht zu haben, oder vielmehr die Melodie bildete sich selbst aus dem untergelegten Takt.

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Der Takt aber oder das Metrum war einmal durch die natürliche Länge und Kürze der zusammengestellten Silben festgesetzt, und war also die festeste Grundlage worauf die Melodie gebildet werden konnte, da überdem dieß Metrum oder dieser Takt an sich schon mit dem Inhalt übereinstimmend gewählt wurde. Dieß bleibt also immer ein Hauptunterschied zwischen der lyrischen Poesie der Alten und der Neuern; bei den Alten war die Musik des Verses in den Vers selbst mit hineingewebt, bei den Neuern schmiegt sie sich nur v o n a u ß e n an ihn hinan. Wenn man die Verse der Alten singen will, so darf man nur die Stimme von der kurzen auf die lange Silbe steigen, und von der langen auf die kurze Silbe sinken lassen, und in Ansehung der nöthigen Abwechselungen sein Gefühl zu Rathe ziehen, so wird sich von selbst, schon durch das Silbenmaaß, wenn man nur die Einschnitte am gehörigen Orte beobachtet, eine sehr leichte und natürliche Melodie bilden, die man fast gar nicht verfehlen kann, weil sie in dem Metrum schon verborgen liegt. Zwei kurze Silben vor einer langen bilden einen h ö h e r n Sprung, und eine lange vor zwei kurzen neigt sich zu einem t i e f e r n Fall, als bei der einfachen Zusammenstellung einer kurzen und langen Silbe statt findet. Hierdurch entstehen also größere Intervallen, und es kömmt schon mehr Mannichfaltigkeit in den Gesang des Verses. In Ermangelung einer andern Melodie bildet also das Metrum schon eine Art von Melodie aus sich selber, welche freilich wohl manche Abwechselung leidet; denn wir haben schon im Anfange unsrer Unterredung über diese Materie bemerkt, daß die Höhe des Tons nicht immer an die Länge, noch die Tiefe an die Kürze gebunden ist; sondern daß es oft sogar schon im Reden etwas Melodisches, dem Gesange ähnliches in die Folge der Silben bringt, wenn zufälliger Weise eine an sich kurz ausgesprochne Silbe durch die Höhe des Tons gehoben, und eine an sich lang ausgesprochne Silbe dagegen durch die Tiefe des Tons niedergedrückt wird. Im Reden entsteht dieß dem Gesange Aehnliche daher, weil die Höhe des Tons auf der kurzen Silbe etwas U n g e w ö h n l i c h e s ist,

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und also mehr auffällt, als wenn sie mit der langen Silbe gehört würde, mit welcher wir sie fast immer zugleich vernehmen, und sie daher mit der Länge selbst für eins halten, und gar nicht mehr als etwas von der Rede verschiednes betrachten. Fällt aber im eigentlichen Gesange die Höhe des Tons auf die Kürze, so bringt dieß etwas vorzüglich S a n f t e s und We i c h e s in den Gesang. Das Verhältniß der M e l o d i e gegen den Ta k t , oder der Höhen und Tiefen gegen die Längen und Kürzen ist alsdann gewissermaßen mit den M o l l t ö n e n zu vergleichen. Die Melodie fällt nicht mit dem Takt in eins, sondern verhält sich gleichsam s c h w e b e n d g e g e n i h n . Wenn es nun wahr ist, was Sie einmal gegen mich behaupteten, daß die A c c e n t e d e r G r i e c h e n im Grunde die Melodie des Verses bezeichnen, dessen Takt schon durch die n a t ü r l i c h e L ä n g e und K ü r z e der Silben bestimmt ist; oder daß sie gleichsam die N o t e n zu dem Gesange sind; so scheinen die Griechen das S a n f t e und We i c h e , welches durch das s c h w e b e n d e Ve r h ä l t n i ß d e r M e l o d i e g e g e n d e n Ta k t entsteht, vorzüglich geliebt zu haben. Denn die Höhe des Tons fällt nach dieser Bezeichnung, sehr häufig auf die kurze Silbe, und kann also n i c h t v o l l a u s t ö n e n , sondern muß sich gleichsam a b g e b r o c h e n und noch ehe es Zeit zu seyn scheint zu der langen Silbe heruntersenken, wie in folgendem Verse aus dem Anfange der Odyssee: AytvÄn gar sfeteÂrhsin atasualiÂhsin oÂlonto. Es ist uns natürlicher, auf dem, wohin wir m i t e i n i g e r A n s t r e n g u n g g e s t i e g e n sind, als auf dem, worauf wir ohne Mühe herabsinken, zu verweilen. Bei dem ersten scheint sich unsre g a n z e , und bei dem letztern gleichsam nur unsre h a l b e K r a f t z u äußern: der Ausdruck wird m a t t e r , w e i c h l i c h e r , z ä r t l i c h e r . Daß nun alle l y r i s c h e Poesie eigentlich gesungen werden müsse, ist wohl ausgemacht, weil sie sonst nicht l y r i s c h e , das ist mit Musik verknüpfte Poesie, wäre. Weil wir aber einen zu scharfen Einschnitt zwischen R e d e und G e s a n g gemacht haben, der bei den Alten wahrscheinlich nicht

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statt gefunden hat, so f ä l l t d a s , w a s e i g e n t l i c h a n s i c h v e r knüpft seyn sollte, bei uns wieder auseinander. Wir singen zwar unsre lyrische Poesie ebenfalls, aber der Gesang ist nicht nothwendig mit ihr verknüpft, sondern muß ihr erst besonders angepaßt werden; er ist nicht in sie hineingewebt, sondern muß sich erst von außen an sie anschließen. Wir können daher unsre lyrische Poesie auch s p r e c h e n , und dürfen sie nicht notwendig singen; aber dann ist sie auch nicht eigentlich mehr lyrische oder musikalische Poesie. Die Poesie liegt dann mehr in dem Innern der Gedanken, als in dem Aeußern des Versbaues, welcher seinen eigentlichen Zweck nicht erreicht, und die Rede nicht dem Gesange nähert, oder sie vielmehr durch das mit dem Rhytmus verbundne melodische Steigen und Fallen der Stimme selbst zum Gesange bildet. Unsre C h o r ä l e , deren Melodien sich zum Theil noch aus dem Mönchszeitalter herschreiben, sind eine barbarische Nachahmung der lyrischen Poesie der Alten, in so fern eine und eben dieselbe Melodie auch immer auf dasselbe Metrum paßt, in welchem aber die einzelnen Silben weit über ihre n a t ü r l i c h e L ä n g e gedehnt werden, und also der Melodie in Ansehung ihres Taktes nicht mehr zur festen Unterlage dienen können. Die Sprache hatte sich damals schon so merklich v o n d e m G e s a n g e g e s c h i e d e n , daß der Gesang als etwas von dem Metrum ganz unabhängiges betrachtet wurde, dem zu Gefallen man die einzelnen Silben so lang dehnte, als man wollte: oder vielmehr der Unterschied zwischen L ä n g e n und K ü r z e n fiel hier ganz weg, und statt dessen fanden bloß H ö h e n und T i e f e n statt. Man bildete die natürlichen metrischen Füße, welche in dem Verse liegen ganz willkürlich zu lauter S p o n d e e n , eine Versart, deren sich die Alten schon zum g o t t e s d i e n s t l i c h e n G e b r a u c h bedienten. In unsern übrigen lyrischen Gedichten, welche wirklich gesungen werden, ist nun ebenfalls die Melodie von dem Metrum ganz unabhängig geworden; man dehnt und zieht die einzelnen Silben, wie und wo man will, ohne auf ihre bestimmte Länge oder Kürze die mindeste Rücksicht zu nehmen. Einige K l o p s t o c k s c h e O d e n ausgenom-

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men, welche wirklich nach dem Metrum komponirt sind, wie z. B. die achte im dritten Buche, welche T h u i s k o n überschrieben ist, und sich anhebt: Wenn die Strahlen vor der Dämmrung nun entfliehn, und der Abendstern – Das vorgeschriebne Metrum in dieser Ode bildet schon von selbst eine Melodie, die sich einem beim Lesen fast unwillkürlich aufdringt, und die Rede zum Gesange hinüberzieht.

Ž Ž  Ž  Ž  Ž Ž 

Ž Ž Ž  Ž Ž Ž  Ž Ž Ž Ž  Ž Ž Ž Ž  Ž

Ž Ž Ž 

Ž Ž  Ž

  Ž Ž

Ž Ž  Ž  Ž Ž  Ž   

Wenn die Strahlen vor der Dämmrung nun entfliehn, und der Abendstern Die sanfteren, entwölkten, die erfrischenden Schimmer nun Nieder zu dem Haine der Barden senkt, Und melodisch in dem Hain die Quell ihm ertönt. 92

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In den beiden ersten Strophen wechseln der z w e i t e und d r i t t e P e o n , Ž  Ž Ž und Ž Ž  Ž , der K r e t i k u s Ž  Ž , und D i j a m b u s Ž  Ž  ; in der dritten und vierten Strophe hingegen, wo sich der Vers mehr zum Schluß neigt, wechseln der Trochäus  Ž , d r i t t e P e o n oder D i d y m e u s Ž Ž  Ž und D i j a m b u s Ž  Ž  , auf eine sehr harmonische Art miteinander ab, bis der C h o r i a m b u s  Ž Ž  das Ganze des Verses durch einen v o l l t ö n e n d e n S c h l u ß f a l l vollendet. Folgendes K l o p s t o c k s c h e Versmaß in der Ode, die S o m m e r n a c h t , welche die vierzehnte im dritten Buche ist, neigt sich ebenfalls schon von selbst zur Melodie, oder zum Gesange, wenn man beim Lesen die Stimme nur ein wenig mehr, wie gewöhnlich, steigen und fallen läßt. Der Anapäst wechselt mit dem Didymeus ab, wie folgt:

Ž Ž  Ž Ž Ž  Ž Ž Ž 

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Ž Ž  Ž Ž Ž  Ž Ž Ž  Ž Ž Ž  Ž Ž Ž  Ž Ž Ž  Ž Ž  5

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Wenn der Schimmer von dem Monde nun herab In die Wälder sich ergießt, und Gerüche Mit den Düften von der Linde In den Kühlungen wehn. Der Anapäst ist in dem Didymeus mit enthalten, oder vielmehr er ist im Grunde nur ein am Ende abgebrochner oder um die letzte Silbe verkürzter Didymeus, der nun, weil er die kurze Silbe verlohren hat, einen m ä n n l i c h e n S c h l u ß bildet. Die K l o p s t o c k s c h e n S i l b e n m a ß e lassen sich überhaupt besser s i n g e n als lesen. Wenigstens kann man sich, sobald man im Lesen das Metrum gehörig beobachtet, nicht wohl enthalten, in eine Art von Melodie zu verfallen, die sich von selber darbietet, und fast unwiderstehlich zum Gesange hinüberzieht. Mit dieser Melodie verknüpft thut auch das Metrum erst seine gehörige Wirkung, welche durch die prosaische Deklamation zuweilen ganz verlohren gehen würde. Durch das bloße Lesen wird das oft sehr zusammengesetzte Metrum nicht hinlänglich herausgehoben, und dem Ohr nicht merkbar genug gemacht. Die Abwechselungen der Füße scheinen uns fast so mannigfaltig, wie in der Prosa zu seyn, und das immer wiederkehrende des Verses geht für den unaufmerksamen, und oft auch für den aufmerksamen Zuhörer gänzlich verlohren. Weil es nun aber doch bei Ve r s e n auf dieß i m m e r i n g l e i c h e r O r d n u n g W i e d e r k e h r e n d e , welches durch das bloße Lesen nicht hinlänglich fühlbar gemacht werden kann, am meisten ankömmt; so ist, da man nun einmal Verse b l o ß l e s e n wollte, an die Stelle der zusammengesetzten Silbenmaße, mit Recht der R e i m getreten, der das i m m e r W i e d e r k e h r e n d e , auch ohne Gesang, dem Ohre hinlänglich fühlbar macht, und also doch etwas dem ordentlich abgemeßnen Verse Aehnliches hervorbringt.

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Der Reim ist ein so hart auffallender Schlußfall, daß er auch dem u n g e ü b t e s t e n O h r e unmöglich entschlüpfen kann, für welches alle die feinern Schönheiten des Silbenmaßes verlohren gehen würden. Statt des wiederkehrenden ähnlichen S i l b e n f a l l s , wurde also nun der wiederkehrende S i l b e n k l a n g oder der R e i m , eingeführt, der den Schluß des Verses dem Ohre f i x i r t e , und die Dauer einer Strophe, bis zum Anfange der folgenden, bestimmte. Da man nun aber den Vers einmal durch den Reim fixirt hatte, so bediente man sich in Ansehung des Silbenmaßes der größten Freyheiten, und z ä h l t e die Silben mehr, als daß man sie maß. Der Reim machte nun freilich den Versbau sehr einfach und leicht, aber er machte, daß er auch weniger Werth behielt, und das Eigenthum der Stümper wurde, die sehr bald anfingen, den Reim, der ihnen so leicht ward, zur Hauptsache in der Poesie zu machen. Dies war denn auch der Zeitpunkt, wo die Poesie im Besiz der Zünfte und Handwerksgilden war. Da man nachher die feinern Schönheiten des Versbaues wieder hervorsuchte, so behielt man demohngeachtet den Reim, an den man sich nun einmal gewöhnt hatte, bei; man betrachtete ihn aber von nun an nur noch als eine sehr u n t e r g e o r d n e t e und z u f ä l l i g e Schönheit des Verses, und hütete sich daher sorgfältig, ihm in Ansehung der Wo r t s t e l l u n g , der Gedanken oder des Ausdrucks, irgend etwas aufzuopfern: er mußte ganz ungesucht, s i c h v o n s e l b e r d a r zubieten, und mit in die Strophenfolge zu verflechten scheinen. Auf die Weise haben selbst unsre guten Dichter den Reim beibehalten; und so u n t e r g e o r d n e t macht er in den vortreflichen Kompositionen eines R a m l e r , U z , G l e i m , H a g e d o r n , H ö l t y , Vo ß , B ü r g e r u. s. w. eine gar nicht unangenehme Wirkung auf das Ohr. Da er überdem der deutschen Sprache v i e l l e i c h t m e h r a l s i r gend einer andern Sprache ange- messen ist, weil in ihr, wegen der bedeutenden Kraft ihrer Zusammensetzungen, der Einklang der Silben sehr häufig einen ge-

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wissen Einklang der Begriffe mit sich führt, der oft u n m e r k l i c h b e i d e m R e i m e m i t d u r c h t ö n t . Ein solcher Einklang der Begriffe findet z. B. statt in e n g e n und d r ä n g e n , s c h n e i d e n und s c h e i d e n , e i l e n und w e i l e n ; wo das d r in d r ä n g e n die Idee des E n g e n s , so wie das n in s c h n e i d e n die Idee des S c h e i d e n s verstärkt, das w in w e i l e n aber den Flug der E i l e gleichsam zu haschen und aufzuhalten strebt. Doch dieß ist immer nur etwas Z u f ä l l i g e s , das ich auch für weiter nichts ausgeben will. Indes mag dieser Grund leicht noch einen Gran mehr auf der Wagschale wiegen, die den Ausschlag für die Beibehaltung des Reims in unsrer Poesie geben soll, der freilich wohl nie eine vorzügliche Schönheit seyn kann, weil sich fast alle Abwechselung und Mannichfaltigkeit, die sich bei ihm anbringen läßt, auf den Unterschied zwischen m ä n n l i c h e n und w e i b l i c h e n Reimen beschränkt; und weil es gar keine solche künstliche Zusammenstellung von Reimen, wie von den metrischen Füßen giebt, sondern jeder Reim für sich gleichsam ein abgerißnes Ganze ausmacht, das mit dem übrigen in gar keiner Verbindung steht. Er ist eine bloße w i e d e r h o l t e E r i n n e r u n g f ü r d a s O h r , daß hier nun ein Vers zu Ende ist und ein andrer angeht. – Doch, ich habe über den Reim noch mehr auf dem Herzen, das ich bis zu einer andern Gelegenheit verspare, und für jetzt zu meinen metrischen Füßen zurückkehre, über die ich noch einiges nachzuhohlen habe. Wir haben nehmlich schon bemerkt, daß in den metrischen Füßen auch eine Art von H a r m o n i e statt finden könne, in so fern nehmlich mehrere gewissermassen zugleich tönen, oder der eine in dem andern dunkel mitschallt, und mit ihm zusammengenommen eine Harmonie oder Disharmonie ausmacht. So tönt in dem Amphymacer oder Kretikus  Ž  , der Trochäus, wenn ich ihn so ab-theile  Ž  , und der Jambus, wenn ich ihn so abtheile  Ž  : und dieß ist eine sehr harmonische Zusammenstellung, die nur von dem C h o r i a m b u s  Ž Ž  noch übertroffen wird, weil in diesem der Trochäus und Jambus nicht bloß eingebildet sind, sondern beide wirklich voll austönen.

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Prosodie und Stilistik

Der A m p h y b r a c h i s oder Z w e i g e k ü r z t e Ž  Ž hingegen ist schon weniger v o l l t ö n i g , als der K r e t i k u s  Ž  , der die Längen an beiden Enden, und das Kurze in der Mitte hat: der Kretikus  Ž  schließt sich gleichsam in sich selber zu, oder w ä l z t s i c h i n s i c h s e l b s t z u r ü c k ; dem Amphybrachis Ž  Ž hingegen scheint etwas an seiner Vollständigkeit zu fehlen, und er neigt sich zu einem neuen Sprunge. Weil aber in diesem Fuße der auf den Jambus folgende Trochäus nur eingebildet ist, oder dunkel mitschallt, so wird die Disharmonie nicht merkbar; tönen hingegen beide wirklich voll aus, wie in dem A n t i s p a s t Ž   Ž , so erwächst aus dieser Zusammenstellung eine vollkommne me-trische Dissonanz, deren Ursach ich schon im Vorhergehenden zu entwickeln gesucht habe. Der A n a p ä s t Ž Ž  klingt gegen den D a k t y l u s  Ž Ž h a r t , weil in dem A n a p ä s t eigentlich der P y r r h i c h i u s Ž Ž und J a m b u s Ž  zusammen tönen, die einander z u n a h e l i e g e n , weil sie sich beide ihrer Natur nach zum Sprunge neigen, und also der sanfte Wechsel zwischen Steigen und Fallen bei dem Anapäst Ž Ž  nicht statt findet, der den Daktylus  Ž Ž so harmonisch macht, in welchem der Trochäus  Ž und Pyrrhichius Ž Ž zusammentönen, wovon sich der erste zum Fall, und der letztre schon wieder zum Sprunge neigt. Setz’ ich aber zu dem A n a p ä s t Ž Ž  noch eine kurze Silbe, so mildre ich durch den daraus erwachsenden sanften Fall am Ende die Härte desselben, und aus dieser Mildrung erwächst der d r i t t e P e o n oder D i d y m e u s Ž Ž  Ž , der zwar nicht sehr volltönig ist, aber doch unter allen metrischen Füßen vielleicht den sanftesten Klang hat. Setz’ ich zu dem Daktylus  Ž Ž noch eine lange Silbe, so wird sein Sanftes verstärkt, und aus ihm erwächst der harmonische volltönige C h o r i a m b u s  Ž Ž  , in welchem, nachdem man ihn verschieden abtheilt, der stärkste Fall und der stärkste Sprung, der Daktylus  Ž Ž , und Anapäst Ž Ž  , zusammen tönen. Der B a c h i u s oder S t ü r m e r Ž   ist auch ein harmonischer, der P a l i m b a c h i u s oder S c h w e r f a l l   Ž hingegen, ein ganz

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disharmonischer Fuß. In dem Bachius Ž   tönt der Jambus Ž  und Spondeus   zusammen, wovon der erste springt, und der andre sich schon wieder zum Falle neigt, und also doch ein Wechsel zwischen Steigen und Fallen statt findet; in dem P a l i m b a c h i u s   Ž tönt der S p o n d e u s   und der Tr o c h ä u s  Ž zusammen, die sich beide, und zwar der letztre noch mehr als der erstre, ihrer Natur nach, zum Falle neigen, sie liegen sich daher auch z u n a h e , um harmonisch zusammen tönen zu können. Setz’ ich aber nun zu dem P a l i m b a c h i u s   Ž noch eine lange Silbe, so fällt die Disharmonie auf einmal weg, der angenehme Wechsel ist wieder da; ich lasse den P a l i m b a c h i u s   Ž gleichsam von seinem schweren Falle sich wieder erhohlen, indem ich aus ihm den d r i t t e n E p i t r i t oder D r e i s c h l a g   Ž  bilde. Setz’ ich hingegen zu dem B a c h i u s Ž   noch eine kurze Silbe, so ist auf einmal der disharmonische A n t i s p a s t Ž   Ž da, dessen Disharmonie durch den nunmehr mitertönenden an sich schon disharmonischen P a l i m b a c h i u s oder S c h w e r f a l l   Ž entsteht. In dem C h o r i a m b u s  Ž Ž  tönen der Daktylus  Ž Ž und der Anapäst Ž Ž  , als ganz einander entgegengesetzte Füße, sehr voll zusammen, weil sie m i t i h r e n K ü r z e n zusammenstoßen; der B a c h i u s Ž   und P a l i m b a c h i u s   Ž hingegen stoßen, in so fern sie in dem Antispast Ž   Ž verborgen liegen, m i t i h r e n L ä n g e n zusammen; sie können daher in der Mitte nicht zusammen f a l l e n , sondern fallen vielmehr, der eine rückwärts, der andre vorwärts, v o n e i n a n d e r a b . In dem D i c h o r e u s oder D o p p e l f a l l  Ž  Ž tönen der K r e t i k u s  Ž  und der A m p h y b r a c h i s Ž  Ž welche beide darin verborgen liegen, sehr harmonisch zusammen. Der K r e t i k u s  Ž  greift i n d i e M i t t e des A m p h y b r a c h i s Ž  Ž und dieser wieder in die Mitte des K r e t i k u s  Ž  ein. So nimmt in dem C h o r i a m b u s  Ž Ž  der darin verborgen liegende A n a p ä s t Ž Ž  die beiden kurzen Silben oder die H ä l f t e des Daktylus  Ž Ž , und der Daktylus wieder die beiden kurzen Silben, oder die Hälfte des Anapästs hinweg.

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In dem A n t i s p a s t Ž   Ž hingegen nimmt der darin verborgen liegende B a c h i u s Ž   von dem mitertönenden Palimbachius oder Schwerfall   Ž w e i t ü b e r d i e H ä l f t e weg, und läßt nur den kleinsten Theil, die letzte kurze Silbe davon übrig; und eben so nimmt auch der Schwerfall   Ž dem Bachius Ž   die größte Hälfte weg, und läßt nur den Anfang in der ersten kurzen Silbe davon übrig. Aus dieser höchst u n g l e i c h e n T h e i l u n g entsteht ein schwer zu berechnendes Verhältniß, welches eben die Disharmonie zuwege bringt. Der D i j a m b u s oder D o p p e l w u r f Ž  Ž  hat gerade das u m g e k e h r t e Ve r h ä l t n i ß vom D i c h o r e u s oder D o p p e l f a l l  Ž  Ž ; in ihm liegen ebenfalls der K r e t i k u s  Ž  , und A m p h y b r a c h i s Ž  Ž , n u r u m g e k e h r t , verborgen, und greifen eben so wie bei dem Dichoreus  Ž  Ž , i n d e r M i t t e ineinander ein. Der Unterschied dieser beiden Füße liegt darin, daß der D i c h o r e u s  Ž  Ž stark und männlich beginnt, und mit einem sanften und weichen Schlußfall endigt; der D i j a m b u s Ž  Ž  hingegen sanft und weich beginnt, und mit einem starken und männlichen Schlußfall endigt. Hab’ ich nun genug mit Längen und Kürzen gespielt? und ist es nun einmal Zeit, daß ich von der Anwendung des bisher Gesagten, auf unsern Versbau, schreite? – Ich würde es itzt thun, wenn ich nicht vorher noch einige Winke von Ihnen erwartete.

Dritter Brief.

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Arist an Euphem. Was Sie von der Harmonie der metrischen Füße gesagt haben, scheinet mir nicht recht auf den D i d y m e u s Ž Ž  Ž zu passen; in diesem liegen der Anapäst Ž Ž  Ž und der Amphybrachis Ž Ž  Ž verborgen, und tönen in ihm zusammen. Diese b e i d e n

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Füße aber neigen sich zum S p r u n g e , und müßten also nach Ihrer Behauptung eine h a r t e Zusammenstimmung ausmachen, wovon doch beim Didymeus gerade das Gegentheil statt findet. Die Klopstockischen Oden, von welchen Sie ein paar Beispiele angeführt haben, mögen sich wohl ganz gut, nach dem vorgeschriebenen Metrum, singen oder deklamiren lassen; aber das Metrum ist doch diesen Oden immer nur von a u ß e n h e r angepaßt, wie etwa irgend eine Melodie einem Text angepaßt wird, der auch, wenn man will, nach einer ganz andern Melodie gesungen werden kann. Ich lese freilich Wenn der Schimmer von dem Monde nun herab In die Wälder sich ergießt

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Ž Ž  Ž Ž Ž  Ž Ž Ž  Ž Ž  Ž Ž Ž  15

Aber anstatt: We n n d e r S c h i m m e r Ž Ž  Ž , kann ich ja auch lesen, We n n d e r S c h i m m e r  Ž  Ž ; anstatt v o n d e m M o n d e Ž Ž  Ž , v o n d e m M o n d e  Ž  Ž ; und anstatt n u n h e r a b Ž Ž  n u n h e r a b  Ž  , also

 Ž 20

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 Ž

 Ž

 Ž

 Ž



Wenn der Schimmer von dem Monde nun her ab oder vielmehr, das Metrum verwandelt sich nun in ein kurzes Trochäisches Versmaaß: Wenn der Schimmer Von dem Monde Nun herab In die Wälder Sich ergießt – – Und so auch das andre diesem ähnliche, welches Sie angeführt haben:

Ž Ž  Ž Ž Ž  Ž Ž Ž  Ž Ž  Ž  30

Wenn die Strahlen vor der Dämmrung nun entfliehn, und der Abendstern Hier lese ich ebenfalls:

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Prosodie und Stilistik

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Ž Ž Ž Ž

 Ž  Ž   Ž 

Wenn die Strahlen Vor der Dämmrung Nun entfliehn, Und der Abendstern Und eben nach Ihrer Voraussetzung muß ich so lesen: denn die Poesie ist ja die Sprache der E m p f i n d u n g , und die Empfindung z ä h l t , so viel wie möglich, die Silben zu, und e i l e t n i c h t so wie der Gedanke, nur auf die bedeutende Silbe hin. Lese ich nun aber

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Wenn der Schimmer von dem Monde u. s. w. so findet ja wirklich eben ein solches H i n e i l e n auf die bedeutende Silbe statt, wie in der Prosa; u n d w o d u r c h w i r d n u n d i e s e m H i n e i l e n G r e n z e n g e s e t z t ? – Es könnte ja seyn, daß ich nur auf M o n d e mit der Stimme verweilen wollte, weil mir etwa daran läge, diese Idee vorzüglich abstechend vor den übrigen herauszuheben, und daß ich also über alles Vorhergehende gleich schnell hinwegeilte, und nun so läse:

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Ž Ž Ž Ž Ž Ž  Ž

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Wenn der Schimmer von dem Monde Hier seh ich lauter w i l l k ü r l i c h angenommenes, nichts festes und durch sich selbst bestimmtes. – Um desto begieriger bin ich auf Ihren versprochnen Beweiß von der v ö l l i g e n B e s t i m m t h e i t unsrer Längen und Kürzen in der Poesie. Mir scheint es immer, als sollten wir uns ja nicht unsern Reim zu verleiden suchen, der doch immer ein sehr gutes Hülfsmittel bleibt, den Vers auffallend hörbar zu machen, welcher sich sonst so leicht wieder zur Prosa neigt, und uns oft unter den Händen entschlüpft, wenn wir ihn sicher zu halten glauben.

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Versuch einer deutschen Prosodie

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Der Reim ist bei uns gleichsam das Signal, daß wir auf jeder einzelnen Silbe gehörig mit der Stimme verweilen, und nicht, wie in der Prosa, oder eigentlichen Gedankensprache, nur auf die b e d e u t e n d e Silbe hineilen sollen. Der Reim bildet eine ganze Zeile gleichsam zu einem einzigen langsam und vollaustönenden Worte, welches sich nun an einem andern mit ihm eintönenden Worte abmißt, und sich, ohngeachtet der Entfernung, an dasselbe anschließt. Sprachen, die kein bestimmtes Silbenmaaß haben, müssen sich daher an den Reim halten; denn der Reim faßt alles zusammen, und mißt es nun, i m G a n z e n g e n o m m e n , ohne Rücksicht auf das Einzelne, wieder an einem andern eben so zusammengesetzten Ganzen, ab. Und weil nun durch jeden Reim ein kleiner Theil der Rede, als ein Ganzes dargestellt, und gleichsam in sich selbst zurückgedrängt wird, so entsteht auch durch ihn der Hang, die Silben dem Ohre z u z u z ä h l e n , und jede voll austönen zu lassen, welcher uns sonst beim Lesen nicht natürlich ist, weil uns der Gedanke, auf welchen wir hineilen, immer vorwärts reißt. Auch ist der Reim nicht so ganz etwas monotonisches, da er doch immer mit den Worten selbst abwechselt, und auch mehrere Arten von S t e l l u n g e n leidet, die auf das Ohr eine angenehme Wirkung thun. Daß es eine künstliche und zusammengesetzte R e i m s t e l l u n g , eben so wie eine Silbenstellung giebt, davon hat Ramler vortrefliche Proben geliefert, indem er uns oft den Reim wieder hören läßt, wo wir ihn gar nicht mehr vermutheten, und uns auf eine angenehme Art dadurch überrascht, als: Ihr weichgeschaffnen Seelen, Ihr könnt nicht lange fehlen; Bald höret euer O h r Das strafende G e w i s s e n , Bald weint aus euch der S c h m e r z . Ihr Thränenlosen Sünder bebet; Einst mitten unter Rosen hebet

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Prosodie und Stilistik

Die Reu den Schlangenkamm e m p o r Und fällt mit unheilbaren B i s s e n Dem Frevler an das H e r z . Hier gewährt der Reim noch den Vortheil, daß er die zweite Reihe von Strophen unvermerkt an die erste knüpft, ungeachtet nicht völlig dasselbe Metrum, wie in der erstern darin herrscht. Das bloße Metrum vereinigt nicht leicht mehr, als v i e r S t r o p h e n zu einem Ganzen; weil in diesen noch ein leicht zu berechnendes Verhältniß statt finden kann, das sich bei einer größern Strophenzahl verliert, wo das, was nach der dritten oder vierten Strophe folgt, sich gleichsam abzulösen und für sich wieder ein Ganzes auszumachen scheint, wie in der Klopstockschen Ode, d i e G e n e s u n g d e s K ö n i g e s , welche aus f ü n f z e i l i g e n Versen besteht;

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Laßt dem Erhalter unsers Geliebten uns freudig danken: Du hasts allein gethan, o du des Lebens Herr! und Herr des Todes! Dir sey der Ruhm, der Dank, der Preiß, die Ehre, Großer Erhalter unsers Geliebten! Dieß ist für das wiederkehrende Silbenmaaß ein zu g r o ß e s G a n z e : man muß sich zu sehr anstrengen, um nach der fünften, den f a s t e r l o s c h n e n Eindruck der ersten Strophe wieder zurückzurufen, und auf die Weise das, was in den fünf Strophen oder Zeilen enthalten ist, wie ein Ganzes zu betrachten. Der Reim hingegen erleichtert uns diese Anstrengung, und hält mit leichter Mühe noch ein weit größeres Ganze zusammen, wie z. B. die vortrefflichen S t a n z e n in Wielands O b e r o n . Weil der Reim eine ganze Zeile gleichsam in ein Wort zusammenknüpft, so können durch ihn Z u s a m m e n s t e l l u n g e n v e r s c h i e d e n e r Ve r s a r t e n i m G r o ß e n bewirkt werden, welche das bloße Metrum nicht zusammenhalten würde, wie z. B. folgende Zusammenstellung von f ü n f f ü ß i g e n Zeilen, die erst in v i e r f ü ß i g e , und dann in d r e i f u ß i g e abfallen, in der Ramlerschen Ode a u f einen Granatapfel.

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Sagt Sterbliche den Sphären ihre Zahlen, Und sagt dem wilden Winde seinen Lauf, Und wiegt den Mond, und spaltet Sonnenstrahlen; Deckt die Geburt des alten Goldes auf, Und steiget an der Wesen Kette Bis dahin, wo den höchsten Ring Zevs an sein Ruhebette Zu seinen Füßen hing. Die acht wiederkehrenden Reime in dieser Zusammenstellung sind gleichsam so viele Stifte, welche das Ganze zusammen halten. Jeder einzelne Reim oder Einklang faßt gleichsam das Ganze, das er beschließt, in sich, und ü b e r t r ä g t den Eindruck davon auf das folgende Ganze, welches eben so wieder übertragen wird, bis sich die volle Kraft des Ganzen endlich in der Spitze des Verses oder in dem letzten Schlußfall desselben, der auch wieder ein Einklang ist, zusammendrängt: und dieß ist es eben, worin das wahre Wesen der S t a n z e n , und ihre natürliche Schönheit gegründet ist. Man muß aber freilich den Reim auch hier beständig als etwas U n t e r g e o r d n e t e s betrachten, das an sich mehr Mittel, als Zweck ist. – Der Reim kann wohl dazu dienen, den Gang und die Schönheit eines Verses stärker auffallend zu machen, und die Berechnung des Verhältnisses der Zusammenstellungen zu erleichtern, aber er selbst macht eigentlich an sich nicht die Schönheit des Verses aus. Darum darf ihm auch, wie Sie richtig bemerken, nichts aufgeopfert werden: er muß nur dienen, aber nie herrschen.

Vierter Brief.

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Euphem an Arist. Ihre Gedanken über den Reim enthalten zum Theil schon das, was ich Ihnen über diesen Gegenstand noch zu sagen hatte. Ich will also nur gleich auf Ihre Behauptung kommen, daß das Silbenmaaß in

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Prosodie und Stilistik

unserm Versbau nicht durch sich selbst bestimmt, sondern b l o ß w i l l k ü r l i c h a n g e n o m m e n s e y , welches die doppelte Skansion, deren ein paar von mir angeführte Klopstocksche Oden fähig sind, zu beweisen scheinet. Doch muß ich vorher noch einen kleinen Einwurf, den Sie mir in Absicht auf die Harmonie der metrischen Füße, und insbesondere des D i d y m e u s Ž Ž  Ž machen, zu beantworten suchen, damit ich, ehe wir zu der Hauptsache schreiten, auch in Nebensachen mit Ihnen einverstanden bin. In dem Didymeus Ž Ž  Ž liegen freilich der Anapäst Ž Ž  , und Amphybrachis Ž  Ž , verborgen welche sich ihrer Natur nach beide zum Sprunge neigen, und also an sich keine harmonische Zusammenstellung auszumachen scheinen. Aber der Anapäst Ž Ž  macht an sich einen so starken Anlauf, dem ein darauf folgender sanfter Fall gleichsam zum Bedürfniß wird, daß man nur auf diesen Fall merkt, und statt des Amphybrachis Ž  Ž nur den Trochäus am Ende mitertönen hört, durch welchen eben der harte Anlauf in dem Anapäst wieder gemildert, und das Sanfte und Harmonische dieses metrischen Fußes bewirkt wird. Nun endlich zur Hauptsache! – H a b e n w i r w i r k l i c h i n u n s e r m d e u t s c h e n Ve r s b a u e i n b e s t i m m t e s S i l b e n m a a ß , o d e r n i c h t ? – Versuchen Sie es einmal mit dem sechssilbigten Jambischen Verse, den ich s c h o n e i n m a l a n g e f ü h r t habe:

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Bald weint aus euch der Schmerz; ob Sie diese Jamben wie Trochäen lesen können? 117

 Ž  Ž  Ž Bald weint aus euch der Schmerz, oder ob sich nicht alles bei Ihnen gegen diesen unnatürlichen Zwang der Silben sträubt, und ob nicht das jambische Versmaß, so oft Sie diese Zeilen lesen, sich Ihnen unwiderstehlich aufdringt? Woher kömmt das? Ist es etwa das d e r vor S c h m e r z allein, welches als ein bloßer Artikel, die Länge nicht auf sich duldet? so wollen wir statt dieses d e r einmal ein zweisilbigtes Wort unterschieben, und etwa sagen:

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Versuch einer deutschen Prosodie

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 Ž  Ž  Ž  Bald weint aus euch stiller Schmerz; und der Vers bleibt noch immer unausstehlich für das Ohr: lassen Sie uns aber setzen: 5

 Ž  Ž  Ž  Bald weint stiller Schmerz aus euch; so ist der Vers schon etwas erträglicher geworden, weil die Länge nun wieder auf e u c h fällt; indes bleibt immer noch eine Härte übrig, weil ich sage, b a l d w e i n t  Ž , anstatt b a l d w e i n t Ž  . Setzen Sie:

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Aus euch weint bald der Schmerz;

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so ist der Vers im Anfange wieder unerträglich, und in der Mitte, wenn Sie setzen: Der Schmerz w e i n t bald aus euch. 15

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Ist es denn nun hier das Ohr, oder ist es der Verstand, welcher entscheidet? Für das Ohr könnte a u s eben sowohl eine lange Silbe seyn, wie e u c h , denn in beiden tönt ein Diphtong oder Doppelvokal, der an sich schon die Silbe dehnt. B a l d und w e i n t sind in Ansehung der Buchstabenzahl auch nicht so verschieden, daß sie nicht beide sollten gleich lang können ausgesprochen werden. Und doch fühlen wir uns gedrungen, b a l d gegen w e i n t kurz, und e u c h gegen a u s l a n g auszusprechen. B a l d ist aber nicht an sich kurz, und e u c h nicht an sich lang, wie man sieht, wenn man es in eine andre Verbindung bringt, als: Bald ist nun dein Schmerz vorüber,

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wo b a l d i s t einen Tr o c h ä u s  Ž bildet, der n i c h t w i l l k ü r l i c h a n g e n o m m e n , sondern in der Z u s a m m e n s t e l l u n g von b a l d i s t gegründet seyn muß, weil das Gegentheil davon, wenn ich b a l d i s t in einen Jambus verwandle, und etwa sage: B a l d i s t dein Schmerz vorüber,

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Prosodie und Stilistik

eine unvermeidliche Härte mit sich führt. Eben so widrig und gezwungen, wie es mir klingen würde, wenn ich sagen wollte b a l d w e i n t  Ž , so widrig und hart klingt es mir, wenn ich sage: b a l d i s t Ž  . B a l d w e i n t scheint mir, s e i n e r N a t u r nach, ein Jambus, und b a l d i s t , s e i n e r N a t u r n a c h , ein Trochäus zu seyn. Wenn e u c h neben a u s steht, so dünkt mir, als müßte ich es gegen a u s nothwendig lang aussprechen: steht es hingegen etwa in folgender Verbindung:

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Euch krönt der Lorbeer schon,

Ž  Ž  Ž 

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so kann ich das e u c h , das ich mich gegen a u s lang auszusprechen gedrungen fühlte, gegen k r ö n t nicht anders, als kurz aussprechen; denn wenn ich z. B. sagen wollte: 120

Euch krönt schon der Lorbeer;

 Ž  Ž  Ž so höre ich auf einmal so etwas Disharmonisches, Unnatürliches und Zwangvolles in dem Silbenfall, wodurch mir der Vers unerträglich wird. Ich fühle mich hier gleichsam in einer Klemme: wollte ich den Vers wie Jamben lesen, so müßte ich am Ende sagen d e r L o r b e e r  Ž  , w elches ganz unnatürlich klingen würde; dafür lese ich ihn also immer noch lieber wie Trochäen, und also e u c h k r ö n t  Ž , anstatt e u c h k r ö n t Ž  ; denn es klingt mir doch lange nicht so hart e u c h k r ö n t  Ž , anstatt e u c h k r ö n t Ž  , als d e r L o r b e e r  Ž  , anstatt d e r L o r b e e r Ž  Ž , zu sagen. Folge ich aber meinem Gefühl, so muß ich lesen:

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Ž  Ž Ž  Ž Euch krönt schon der Lorbeer;

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denn ich fühle, daß e u c h sowohl als s c h o n gegen k r ö n t kurz ausgesprochen werden müssen, und daß also dieser Vers schlechterdings nicht wie ein Trochäischer Vers muß gelesen werden, sondern daß er aus einem Jambus und Didymeus besteht. Setze ich:

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Versuch einer deutschen Prosodie

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Krönt euch der Lorbeer schon;

Ž  Ž  Ž 

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so fühl ich eben einen solchen Widerstand, wenn ich diesen Vers wie Jamben lesen will, weil e u c h neben k r ö n t unmöglich lang ausgesprochen werden kann, wenn nicht ein ganz b e s o n d r e r N a c h d r u c k darauf gelegt werden soll, der doch hier nicht darauf liegt. – K r ö n t e u c h d e r fällt wie von selbst zum Daktylus  Ž Ž , und L o r b e e r s c h o n zum Kretikus  Ž  , zusammen; oder ich kann auch statt des Daktylus  Ž Ž und Kretikus  Ž  den C h o r i a m b u s  Ž Ž  und Jambus Ž  hören lassen.

 Ž Ž  Ž  Krönt euch der Lorbeer schon. Wenn w e i n t bei b a l d vor oder nach steht, so fühle ich, daß es gegen b a l d lang ausgesprochen werden muß: 15

Bald w e i n t aus euch der Schmerz – Er w e i n t bald stille Thränen – steht es hingegen etwa bei M a n n oder S o h n , oder sonst einem ähnlichen vielbedeutenderen Worte, so fühle ich mich gedrungen, es kurz auszusprechen, als:

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Und bei seinem Grabe Weint Mann und Weib

 Ž  Ž  Ž Ž  Ž  Weint Sohn und Freund. 25

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Ž  Ž  Hieraus sehe ich, daß in unserm deutschen Versbau die Silben, in Ansehung ihrer Länge und Kürze, n i c h t d u r c h s i c h s e l b s t , s o n d e r n d u r c h ihre Stellung gegeneinander, bestimmt werden; daß aber auch eben durch diese S t e l l u n g ihre Länge und Kürze ganz g e n a u bestimmt werden kann; daß wir also kein andres Silbenmaß

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als durch die S i l b e n s t e l l u n g haben; und daß wir diese Silbenstellung daher auf feste Grundregeln müssen zurückzubringen suchen, um so, wie die alten Sprachen, der unsrigen eine bestimmte Prosodie zu schaffen. I m Ve r s b a u d e r A l t e n e n t s t a n d d a s M e t r u m e r s t durch die künstliche Zusammenstellung kurzer und l a n g e r S i l b e n ; i n u n s e r m Ve r s b a u e n t s t e h t d i e L ä n g e und Kürze der Silben selbst erst durch ihre Zusammenstellung. Das i st nun wohl der hauptsächlichste Unterschied zwischen dem Versbau der alten und neuern Sprachen. – Obgleich auch in dem Versbau der Alten etwas Aehnliches statt fand, in so fern sie sich der P o s i t i o n bedienten, so daß sie nehmlich zwei Silben auf die Weise nebeneinander stellten, daß die erste mit einem Konsonant aufhörte, und die andre mit einem Konsonant anhub, wodurch eine H e m m u n g des Tons entstand, welche die erste Silbe g e g e n d i e z w e i t e verlängerte, da sie sonst an sich kurz gewesen wäre. Allein diese Art von S i l b e n s t e l l u n g bei den Alten, wodurch ihr Silbenmaaß zum Theil auch mit bewirkt wurde, ist denn doch von der unsrigen wesentlich verschieden. Bei uns findet mehr eine Position durch den G e d a n k e n als durch die Buchstaben statt; so wie sich überhaupt selbst unsre Poesie mehr zum Gedanken- als zum Empfindungsausdruck neigt. Bei den Alten war die Poesie ganz Empfindungssprache, und die einzelnen Silben erhielten daher in ihrem Versbau ein gleiches Interesse, und konnten sich durch nichts, als ihre natürliche Länge und Kürze, nachdem sie aus mehr oder weniger einzelnen Lauten bestanden, voneinander unterscheiden. Die Rede war ein völliger Gesang geworden, dem die bestimmte Länge und Kürze der Silben nur zur Unterlage in Ansehung des Taktes diente, und wobei man auf die Bedeutung einer jeden einzelnen Silbe, was ihre Heraushebung durch den Ton anbetrift, gar nicht mehr Rücksicht nahm: denn Takt, Melodie und Gesang mahlen nicht im Kleinen; sie stellen nicht, wie die artikulirten Töne, eine Folge einzelner Begriffe dar, sondern lassen

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das Ganze einer Empfindung, mit seinen feinsten Abstufungen, in sanften und leichten Fortschritten vor unsrer Seele vorübergehn. Bei uns ist die Poesie nur h a l b Empfindungssprache, und halb noch Gedankensprache: denn sie giebt nicht a l l e n , sondern nur a l len bedeutendern Silben neben den unbedeutendern ein gleiches Interesse: da hingegen die Prosa nur die b e d e u t e n d s t e n Silben vorzüglich heraushebt, und alle übrigen gegen diese gleichsam in Schatten stellt, und die Stimme schnell darüber hinwegeilen läßt, als:

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Klimm’ ich zu der Tugend Tempel, wo die prosaische Deklamation über i c h z u d e r die Stimme gleich schnell hinwegeilen läßt:

 Ž Ž Ž

 Ž

 Ž

Klimm’ ich zu der Tugend Tempel. 15

die Melodie des Verses hingegen dem z u , weil es neben dem unbedeutendern d e r steht, ein gleiches I n t e r e s s e mit den übrigen bedeutendern Silben giebt, so daß aus dieser Silbenstellung nun ein wohl abgemeßner Trochäischer Vers entsteht:

 Ž  Ž 20

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 Ž

 Ž

Klimm’ ich zu der Tugend Tempel. Unsre Poesie ist also bei dem Uebergange von der Gedanken- zur Empfindungssprache gleichsam a u f d e m h a l b e n We g e stehen geblieben. Unsre Prosa hebt unter den bedeutenden die b e d e u t e n d s t e Silbe heraus. Unsre Poesie hebt j e d e b e d e u t e n d e r e S i l b e v o r j e d e r u n b e d e u t e n d e r e n heraus. Die Poesie der Alten hebt g a r k e i n e Silbe vor der andern heraus. Hierin ist vorzüglich der Unterschied zwischen der Prosa und Poesie der Neuern, und zwischen der Poesie der Neuern und der Alten gegründet.

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Es kömmt also bei der Bestimmung der Länge und Kürze unsrer Silben nicht im geringsten auf die Buchstaben der einzelnen Laute, woraus sie bestehen, sondern bloß auf ihre Stellung neben einer bedeutenderen oder unbedeutenderen Silbe, an. Wir können uns nicht enthalten, von dem Unbedeutenderen auf das Bedeutendere hinzueilen, und lassen uns durch nichts in diesem Anlauf hemmen. So sagen wir z. B. 127

Und bei seinem Grabe Weint Mann und Weib,

 Ž  Ž  Ž Ž  Ž 

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und machen einen Sprung von w e i n t auf M a n n , indem wir w e i n t nur als einen Vorschlag von M a n n hören lassen, da doch w e i n t nach der Anzahl seiner Laute, wenn diese gehörig austönen sollten, fast noch einmal so viel Zeit als M a n n , zu seiner Aussprache erforderte. Aber M a n n ist nun einmal durch die Stellung gegen w e i n t lang, so wie w e i n t durch die Stellung gegen M a n n kurz ist; und das Silbenmaß ist richtig, wenn es gleich nicht eigentlich s c h ö n ist. Denn freilich f ä l l t d e r Ve r s d a n n b e s s e r i n s O h r , wenn man bei der Silbenstellung auch mit auf die B u c h s t a b e n einige Rücksicht nimmt, und es so einzurichten sucht, daß eine Silbe mit einem Diphtong oder mehreren Konsonanten nicht zu oft als eine kurze Silbe neben einer andern steht, die sich nach der Anzahl und Beschaffenheit ihrer einzelnen Laute, leichter und in kürzerer Zeit aussprechen läßt, und doch nun einmal, bloß der Stellung wegen, länger als die erste gedehnt werden muß. Dieß erfordert der p o e t i s c h e Wo h l k l a n g , der bei den Alten, weil ihr Vers vorzüglich für das Ohr war, mit dem Silbenmaße in eins zusammenfiel, mit welchem er in unsrem Versbau auf keine Weise verwechselt werden darf, weil unser Vers immer noch mehr für den Verstand als für das Ohr ist, und unsre Silben sich nicht durch ihren natürlichen Klang, sondern bloß durch ihre innere Bedeutung aneinander abmessen.

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Wenn wir uns nun bemühen, dasjenige, was in unserm Versbau abgesondert ist, den p o e t i s c h e n Wo h l k l a n g und das r i c h t i g e S i l b e n m a ß , so viel wie möglich wieder miteinander zu vereinigen, um durch diese Vereinigung nicht nur einen r i c h t i g e n , sondern zugleich s c h ö n e n und w o h l k l i n g e n d e n Vers hervorzubringen, so übertreffen wir gewissermaßen die Alten noch in ihrem Versbau, indem alsdann der Verstand und das Ohr z u g l e i c h befriedigt, und weder der Wohlklang dem Gedanken, noch der Gedanke dem Wohlklange aufgeopfert wird, wie in folgenden Versen:

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Ich will vom Weine berauscht, die Lust des Frühlings besingen, Ihr Schönen, eure gefährliche Lust – wo die Silben, welche nach der Bedeutung und Stellung kurz sind, größtentheils auch dem Klange nach kurz, und ihrer Natur nach leichter und schneller auszusprechen sind, als die darauf folgenden langen Silben; in Weine berauscht

 Ž Ž 

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ist nicht die mindeste Härte, weil alle die einzelnen Laute Zeit haben, g e h ö r i g a u s z u t ö n e n , und die Silben n e und b e , welche der Bedeutung nach kurz sind, es auch dem Klange nach sind: Eure gefährliche Lust,

 Ž Ž  Ž Ž 

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ist eben so wohlklingend, weil die Silben r e , g e und l i c h e so wohl der Bedeutung als dem Klange und der Aussprache nach kurz sind. Sie sehen nun leicht, daß dasjenige, was ich von der S i l b e n s t e l l u n g gesagt habe, nur auf die e i n s i l b i g t e n W ö r t e r Bezug haben kann, deren es in unsrer Sprache eine so große Menge giebt, und die bisher eben die größte Schwierigkeit in der Bestimmung unsrer prosodischen Regeln gemacht haben: denn in mehrsilbigten Wörtern kann eigentlich keine Silbenstellung mehr statt finden, weil jede Silbe hier schon ihren angewiesenen Platz hat, den sie nicht mehr

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verändern kann. Doch aber kann auch ein mehrsilbigtes Wort so gegen ein andres Wort g e s t e l l t werden, daß es mit demselben zugleich einen metrischen Fuß bildet: als: Weine berauscht,

 Ž Ž 

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oder die Hälfte eines mehrsilbigten Wortes kann, durch die Zusammenstellung der Schluß des vorhergehenden, und die andre Hälfte der Anfang des folgenden metrischen Fußes werden, als 131

Dem Frev ler an das Herz.

Ž  Ž  Ž 

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Nur ist die Länge und Kürze der Silben in den mehrsilbigten Wörtern durch die Bedeutung einmal fest bestimmt; man verweilet nehmlich auf der Silbe mit der Stimme am längsten, die den H a u p t s i n n des Worts in sich faßt, welche daher in dem Worte die herrschende ist, und der die andern Silben untergeordnet sind, wie z. B. die Silbe g e b in Ve r g e b u n g , welche den Hauptbegriff des G e b e n s in sich faßt, der durch die Silben v e r und u n g nur seine besondere Einkleidung oder Modifikation erhält. Wenn ich die Silbe g e b aus dem Zusammenhange heraus nehme, so gewährt sie mir doch an und für sich noch einen Begriff; die Silben v e r und u n g hingegen sind mir außer der Zusammensetzung ganz b e d e u t u n g s leer. Weil nun in den mehrsilbigten Wörtern dies Silbenmaß einmal so fest bestimmt ist, so wird ein mehrsilbigtes Wort unter einer Anzahl einsilbigter Wörter in unsrer Poesie gleichsam als das S t i m m w o r t betrachtet, welches dem Verse seinen Gang vorschreibt, als

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Wohnst du nicht noch auf einer von den Fluren.

Ž  Ž  Ž  Ž  Ž  Ž Der Grund weswegen ich hier lese Wohnst du nicht noch auf

Ž  Ž  Ž

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liegt bloß darin, daß die Silbe n e r in e i n e r schlechterdings ihrer Natur nach kurz ist, und daß ich auf keine Weise e i n e r Ž  anstatt e i n e r  Ž lesen kann. Wollt’ ich aber Wohnst du nicht noch auf 5

wie Trochäen lesen, so mußte ich auch nothwendig e i n e r Ž  , und von den Fluren

Ž  Ž  sagen, welches sich mir von selbst verbietet: setze ich hingegen Wohnst du nicht noch auf den Fluren, 10

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so werden das Trochäen, was vorher Jamben waren, und ich fühle hier gar keinen Widerstand, weil das zweisilbigte Wort F l u r e n , seiner Stel-lung nach, durch den Trochäischen Silbenfall keinen Z w a n g leidet. Dieß scheint nun bisher eine Regel in unsrer Prosodie gewesen zu seyn, man ließt und macht den Vers so, daß wenigstens die m e h r s i l b i g t e n W ö r t e r durch das angenommene Metrum keinen Zwang leiden, weil es in diesen zu sehr a u f f ä l t , wenn eine der Bedeutung nach nothwendig kurze Silbe lang ausgesprochen wird. Mit den einsilbigten Wörtern aber hat man es nicht so genau genommen, ausgenommen den A r t i k e l , e i n , d e r , d i e , d a s , von dem es auch zu sehr auffallen würde, wenn man ihn gegen ein Hauptwort neben welchem er steht, als eine lange Silbe brauchen wollte, und der daher auch bisher gewissermaßen mit zur S t i m m s i l b e gedient hat, als: bis an den Tod,

Ž  Ž  wo man b i s a n bloß deswegen als einen Jambus zu lesen geneigt ist, weil man d e n To d unmöglich wie einen Trochäus lesen kann; hieße es:

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bis an deinen Tod,

 Ž

 Ž



so würde man nicht den mindesten Anstand finden, eben dieß b i s a n , das vorher ein Jambus war, nun wie einen Trochäus zu lesen. Bis an d e n Tod

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 Ž  Ž hingegen würde, wegen des d e n unerträglich gewesen seyn. Und doch kann auch selbst der Artikel füglich l a n g gebraucht werden, wenn er vor einem mehrsilbigten Worte steht, das sich mit einer k u r z e n Vo r s c h l a g s s i l b e anhebt , die an sich n o c h w e n i g e r B e d e u t u n g , als der Artikel, hat, wie

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der Ge rechte  Ž  Ž.

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Da also der bloße Artikel, als eines der unbedeutendsten einsilbigten Wörter, welches an und für sich außer der Zusammenstellung den w e n i g s t e n Sinn giebt, und deswegen sonst immer k u r z ist, vor einer n o c h u n b e d e u t e n d e r n Silbe, die außer dem Zusammenhange g a r k e i n e n Sinn giebt, doch auch wieder lang gebraucht werden kann, so muß sich eben dieß auch auf die übrigen einsilbigten Wörter, verhältnißmäßig nach ihrer Bedeutung, anwenden lassen; und aus dieser Anwendung müssen alsdann feste prosodische Regeln gezogen werden können. So viel ist nun aus allem klar, daß wir eigentlich n i c h t S i l b e n , s o n d e r n I d e e n g e g e n e i n a n d e r a b m e s s e n , wenn wir Verse machen oder Verse lesen: daß wir aber in der Poesie immer nur Idee gegen Idee abmessen, weil uns die einzelnen Ideen, als Ideen, im Grunde gleich sind, und nur der herrschenden Empfindung z u r U n t e r l a g e dienen müssen, die zwar auf der einen Idee länger als auf der andern verweilet, aber dieß nicht um der Idee, sondern bloß u m d e r S t e l l u n g d e r I d e e n willen, thut. Die Ideen sind ihr mehr in Ansehung ihres Ve r h ä l t n i s s e s g e g e n e i n a n d e r , als an und für

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sich selber wichtig; sie s p i e l t mit den Ideen, indem sie jede an der andern bloß nach ihrer bedeutenden Kraft, im Ganzen genommen, abmißt, ohne auf ihren besondern Inhalt zu sehen; sie ordnet daher die Ideen nach ihren A r t e n , und betrachtet sie bloß als H a u p t i d e e n gegen N e b e n i d e e n , so wie in dem Versbau der Alten die Silben nicht als Gedankenausdruck, sondern bloß als L ä n g e n gegen K ü r z e n betrachtet wurden. In der Poesie der Alten diente also der Ausdruck der Ideen durch die Worte und Silben, als Längen und Kürzen betrachtet, der Empfindung zur Unterlage, und in der Poesie der Neuern dienen ihr die Ideen selbst, in so fern sie als Haupt- und Nebenideen betrachtet werden, zur Unterlage. Statt daß also die Prosodie der Alten sich damit beschäftigte, die Länge und Kürze der Silben, nach der Anzahl und Beschaffenheit ihrer einzelnen Laute, in jeder Zusammenstellung genau zu bestimmen, wird unsre Prosodie sich vorzüglich damit beschäftigen müssen, die Verhältnisse der einzelnen Ideen gegen einander, als Haupt- und Nebenideen, in allen Fällen zu bestimmen, weil die Empfindung in unsrer Poesie den Ausdruck der Ideen nicht nach den Silben, sondern die Silben nach den Ideen abmißt. Da nun das S u b s t a n t i v u m schon an und für sich selbst in jeder Zusammenstellung, die Hauptidee bezeichnet, so steht es in prosodischer eben so wie in grammatikalischer Rücksicht oben an: es kann, wenn es einsilbigt ist, nie eine Nebensilbe werden, und kann daher auch nie kurz gebraucht werden, ausgenommen den Fall, daß es in einem z u s a m m e n g e s e t z t e n Wo r t e seine eigentliche Würde als Substantivum verliert, und zu einer bloßen Anhangssilbe wird, wie in E i c h b a u m , G o l d s t a u b u. s. w. So oft es aber allein steht, und kurz gebraucht wird, ist dieß ein Fehler gegen die Hauptgrundregel unsrer Prosodie: d a s B e d e u t e n d e r e d u r c h d a s l ä n g e r e Ve r weilen mit der Stimme auf demselben, vor dem Unbed e u t e n d e r e n h e r a u s z u h e b e n , und weil nun nichts b e d e u t e n d e r als das Substantivum seyn kann, so versteht es sich von selber daß die Stimme auf dem S u b s t a n t i v u m immer länger, als auf

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dem was vor oder nach demselben steht, verweilen müsse, und daß daher folgender Vers: We n n G o t t meine Thränen siehet, als ein Trochäischer Vers f e h l e r h a f t ist, weil w e n n G o t t schlechterdings kein Trochäus seyn kann, und das Substantivum G o t t zwischen w e n n und m e i n e nothwendig als eine lange Silbe betrachtet werden muß. Ich muß daher lesen:

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Wenn Gott meine Thränen siehet.

Ž 

Ž Ž  Ž

 Ž

Ebenso fehlerhaft ist folgender Vers:

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G o t t s i e h t die Thränen, die ich weine,

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wenn es ein jambischer Vers seyn soll; ich muß ihn nach der prosodischen Regel so lesen: Gott sieht die Thränen die ich weine  Ž Ž  Ž  Ž  Ž. Das einsilbigte Substantivum weicht also in unsrer Silbenstellung keinem andern einsilbigten Worte, es sey von welcher Art es wolle, sondern es behauptet sich immer herrschend, oder läßt sich doch wenigstens nicht unterordnen. Denn w e n n e s s i c h f ü g t , d a ß e i n a n d r e s e i n s i l b i g t e s Wo r t v o n g l e i c h e r b e d e u t e n d e r Kraft, auf dem die Stimme nothwendig auch verweilen muß, neben das einsilbigte Substantivum zu stehen kömmt, so kann das Substantivum doch nie eine kurze Silbe werden, sondern beide Silben tönen alsdann g l e i c h l a n g , u n d e s b i l d e t s i c h a u f d i e We i s e e i n S p o n d e u s , als Er sieht Gott.

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Ž   In diesem Beispiele wäre s i e h t gegen G o t t auch eigentlich kurz, aber weil es gegen das vorhergehende e r lang ist, so erhält es mit der Silbe G o t t einerlei Dauer, und bildet sich mit ihr zum Spondeus.

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Dieß ist es nun, was man in unserm Versbau eine P o s i t i o n d e r G e d a n k e n nennen könnte, wenn nehmlich ein einsilbigtes Wort so gestellt wird, daß es gegen ein folgendes Wort eigentlich kurz seyn müßte, durch das vorhergehende aber demohngeachtet zu einer langen Silbe gemacht wird. Ist aber ein einsilbigtes Wort einmal gegen das Vo r h e r g e h e n d e kurz, so findet keine solche Gedankenposition mehr statt, und es kann durch das darauf folgende Wort nicht mehr zu einer langen Silbe gemacht werden, sondern fällt mit diesem zu einem Daktylus zusammen, als:

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Gott sieht mein Elend

 Ž Ž  Ž

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Der F a l l reißt seiner Natur nach das Längere und Kürzere miteinander fort, und macht es sich einander gleich. Sonst müßte s i e h t gegen m e i n seiner Natur nach lang seyn, und würde es auch seyn, wenn nicht die bedeutendere Silbe G o t t vorhergienge, wodurch das s i e h t einmal eine Neigung zum Fall erhält, von dem es sich nun nicht wieder erheben kann. Diese verschiedne Arten von Silbenstellungen sind nun das einzige Mittel, um nicht willkürlich angenommene, sondern wirkliche S p o n d e e n und P y r r h i c h i e n in unserm Versbau hervorzubringen; Spondeen, wenn wir einer Silbe, welche gegen die darauf folgende kurz ist, eine noch kürzere vorschieben, als: e r s i e h t G o t t Ž   ; und P y r r h i c h i e n , wenn wir einer Silbe, welche gegen die darauf folgende lang wäre, eine andre vorschieben, gegen welche sie wieder kurz ist, als G o t t s i e h t m e i n E l e n d  Ž Ž  Ž . Nächst dem einsilbigten Substantivum folgt das e i n s i l b i g t e A d j e c t i v u m , oder vielmehr, es hat mit dem einsilbigten Substantivum gleichen p r o s o d i s c h e n Werth, und bildet daher allemal mit demselben zwei lange Silben oder einen Spondeus. Unter dem einsilbigten Adjektivum verstehe ich nehmlich hier unser Adjektivum, wenn es als Adverbium gebraucht wird; denn in diesem Falle ist es nur einsilbigt; sobald es mehrsilbigt ist, wird es schon durch sich selbst in

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Ansehung der Länge und Kürze seiner Silben bestimmt, und gehört also nicht hieher. Das e i n s i l b i g t e A d j e k t i v u m a l s o s c h l i e ß t s i c h a n d a s einsilbigte Substantivum an, und behauptet mit dies e m i n d e m Ve r s b a u d e n R a n g u n t e r a l l e n e i n s i l b i g t e n Wörtern, sie mögen seyn von welcher Art sie wollen, und wenn es neben dem Substantivum steht, wie in folgendem Beispiele: daß Gott gut ist,

Ž   Ž

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so kann die Silbe g u t gegen die Silbe G o t t nichts von ihrer Dauer verlieren, sondern hat mit ihr völlig gleichen prosodischen Werth, so daß durch die Silbenstellung in d a ß G o t t g u t i s t , ein nicht willkürlich angenommener, sondern ein wirklicher A n t i s p a s t Ž   Ž entsteht, der durch diese Silbenstellung nothwendig gemacht worden ist. Das einsilbigte Adjektivum mag stehen, wo es wolle, so ist es eben so wie das Substantivum herrschend, als: S c h ö n i s t Mutter Natur, wo s c h ö n i s t einen wirklichen Trochäus bildet. Wenn ich sage: Sanft rollen die Ströme dahin, so kann s a n f t unmöglich als eine kurze Vorschlagssilbe betrachtet werden, und die Silbe r o l l in r o l l e n kann auch unmöglich mit der ganz kurzen Silbe e n einerlei Kürze erhalten, sie wird vielmehr durch diese ganz kurze Silbe in sich selbst zurückgedrängt, und verlängert, so daß sie gegen s a n f t sich unmöglich zum Fall neigen kann, und mit diesem völlig gleichen prosodischen Werth erhält, wodurch auf die Weise wieder z w e i l a n g e S i l b e n zusammengedrängt, und ein Spondeus gebildet wird. Sanft rol len die Ströme dahin.

 

5

Ž Ž  Ž

Ž 

Nach dem Substantivum und Adjektivum folgt nun in prosodischer Rücksicht zunächst das Ve r b u m ; nach dem Verbum die I n t e r j e k -

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t i o n ; nach der Interjektion das A d v e r b i u m ; nach dem Adverbium das H ü l f s v e r b u m ; nach dem Hülfsverbum die K o n j u n k t i o n ; nach der Konjunktion das P r o n o m e n ; nach dem Pronomen die P r ä p o s i t i o n ; und nach der Präposition der A r t i k e l . Diese Rangordnung der Wörter in prosodischer Rücksicht ist so leicht und natürlich, daß man nur sein Gefühl zu Rathe ziehen darf, um sie jedesmal herauszufinden, und das Fehlerhafte in der Silbenstellung zu bemerken. Das S u b s t a n t i v u m und A d j e k t i v u m bleibt also l a n g gegen alles was nur irgend darneben stehen kann, und kann nie, als in zusammengesetzten Wörtern kurz gebraucht werden. Das Ve r b u m ist ebenfalls gegen alles übrige l a n g , nur gegen das S u b s t a n t i v u m und A d j e k t i v u m nicht, wogegen es k u r z wird, oder wenn es lang bleibt, doch das Substantivum und Adjektivum neben sich nicht verkürzen kann sondern nur mit demselben g l e i c h l a n g tönet. Die I n t e r j e k t i o n ist l a n g gegen das Adverbium, Hülfsverbum, die Konjunktion, das Pronomen, die Präposition, und den Artikel; und k u r z nur gegen das Substantivum, Adjektivum und Verbum. Das A d v e r b i u m ist lang gegen das Hülfsverbum, die Konjunktion, das Pronomen, die Präposition, und den Artikel; und k u r z gegen das Substantivum, Adjektivum, Verbum, und die Interjektion. Das H ü l f s v e r b u m ist l a n g gegen die Konjunktion, das Pronomen, die Präposition, und den Artikel; k u r z gegen das Substantivum, Adjektivum, Verbum, die Interjektion, und das Adverbium. Die K o n j u n k t i o n ist l a n g gegen das Pronomen, die Präposition, und den Artikel; und k u r z gegen das Substantivum, Adjektivum, Verbum, die Interjektion, das Adverbium und Hülfsverbum. Das P r o n o m e n ist nur l a n g gegen die Präposition, und den Artikel, und k u r z gegen alles übrige. Die P r ä p o s i t i o n ist nur gegen den Artikel l a n g , und gegen alles übrige k u r z . Der A r t i k e l ist n ur gegen die Vorschlagssilbe l a n g , und gegen alles übrige k u r z .

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Die Vo r s c h l a g s - und A n h a n g s s i l b e n sind an und für sich schon durch ihre nothwendige Stellung gegen die Hauptsilbe k u r z , und können durch keine Zusammenstellung lang werden. Daß aber diese prosodische Schätzung der Silben oder einsilbigten Wörter nach ihrem Verhältniß gegeneinander in Ansehung der Bedeutung, oder nach ihrer g r a m m a t i k a l i s c h e n Unterordnung nicht bloß willkürlich angenommen, sondern in der Natur der Sache gegründet sey, dazu bedarf es weiter keines Beweises, wenn man nur sein Gefühl zu Rathe zieht. Niemand wird z. B. leicht sagen: A c h F r e u n d !  Ž , a c h k o m m !  Ž ; sondern a c h F r e u n d ! Ž  , a c h k o m m ! Ž  , ohne sich des Grundes deutlich bewußt zu seyn, welcher kein andrer ist, als daß die Interjektion gegen das Substantivum und Verbum k u r z ist, da sie sonst gegen alles übrige lang ist, als gegen das Adverbium: a c h d a k ö m m t e r  Ž  Ž ; gegen das Hülfsverbum: a c h , i s t n u n d e i n G r a m e n t f l o h n ?  Ž  Ž  Ž  ; gegen die Konjunktion: a c h , a l s n o c h d a s Ve i l c h e n b l ü h t e  Ž  Ž  Ž  Ž ; gegen das Pronomen: a c h , d u w a r s t m e i n F r e u n d !  Ž  Ž  ; gegen die Präposition: a c h , a u f d i e s e r F l u r ,  Ž  Ž  ; gegen den Artikel; a c h , d e r Ta g e r w a c h t  Ž  Ž  ; gegen die Vorschlagssilbe: a c h v e r z e i h e  Ž  Ž. Wenn auf das i c h nicht etwa ein besonderer Nachdruck gelegt werden soll, so wird niemand w e n n i c h k o m m e Ž   Ž , sondern w e n n i c h k o m m e  Ž  Ž sagen; der Grund hiervon, dessen man sich nicht deutlich bewußt ist, liegt darin, daß die Konjunktion, als ein R e d e t h e i l v o n m e h r B e d e u t u n g , gegen das Pronomen, der Regel nach, l a n g ist; so wie auch gegen die Präposition: w e n n a u s d u n k l e r F e r n e  Ž  Ž  Ž ; w e n n a u s , als ein Jambus würde daher fehlerhaft seyn, als: w e n n a u s d e r M i t t e r n a c h t Ž  Ž  Ž  , wo die Härte, welche durch w e n n a u s Ž  entsteht, sehr deutlich auffällt. Natürlicher Weise ist die Konjunktion auch vor dem Artikel l a n g , w e n n d e r Ta g e r w a c h t  Ž  Ž  ; w e n n d e r G e s a n g e r t ö n t Ž  Ž  Ž  , wäre daher fehlerhaft, weil w e n n d e r schlechter-dings kein Jambus seyn kann, sondern ich muß lesen:

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wenn der Ge sang ertönt.

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Gegen das Substantivum hingegen ist die Konjunktion, als ein Redetheil von geringerer Bedeutung k u r z , als: w e n n G o t t die Thränen siehet Ž  Ž  Ž  ; w e n n G o t t meine Thränen siehet  Ž  Ž  Ž  Ž wäre fehlerhaft, weil w e n n G o t t kein Trochäus seyn kann. Auch gegen das Adjektivum ist die Konjunktion kurz, als: w e n n l a u t d e r D o n n e r r o l l t Ž  Ž  Ž  ; w e n n l a u t d e i n e D o n n e r r o l l e n  Ž  Ž  Ž  Ž wäre fehlerhaft, weil w e n n l a u t kein Trochäus seyn kann. Gegen das Verbum ist die Konjunktion ebenfalls k u r z , als: er h ö r t , w e n n du ihn rufst Ž  Ž  Ž  ; und Gott h ö r t w e n n du rufst Ž  Ž  Ž  , würde fehlerhaft seyn, weil h ö r t w e n n kein Jambus seyn kann; ich muß also lesen: Und Gott hört wenn du rufst.

Ž 

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 Ž Ž

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

Auch gegen die Interjektion ist die Konjunktion nothwendig kurz, als: a c h , w e n n nun der Tag erscheint  Ž  Ž  Ž  ; a c h , w e n n der Tag erscheint Ž  Ž  Ž  würde fehlerhaft seyn, weil a c h w e n n kein Jambus ist, sondern ich muß lesen: ach, wenn der Tag er scheint.

 Ž Ž  Ž 

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Gegen das Adverbium ist die Konjunktion k u r z , als: s o n s t w e n n deine Harf’ ertönte  Ž  Ž  Ž  Ž ; s o n s t w e n n die Harf’ ertönte Ž  Ž  Ž  Ž  wäre fehlerhaft, weil s o n s t w e n n kein Jambus ist; ich muß also lesen: Sonst wenn die Harf’ ertönte.

 Ž Ž  Ž  Ž 30

Endlich ist die Konjunktion auch gegen das Hülfsverbum k u r z , als: ach er i s t , w e n n du ihn suchst, entflohn  Ž  Ž Ž Ž  Ž  ; dein Freund i s t , w e n n du kömmst, verschwun-den Ž  Ž  Ž  Ž  Ž , wäre fehlerhaft, weil i s t w e n n kein Jambus seyn kann: ich muß daher lesen:

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Dein Freund ist wenn du kömmst ver schwunden.

Ž 

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 Ž Ž

 Ž

 Ž

Versuchen Sie es nun auf eben die Weise mit dem Adverbium, dem Hülfsverbum, dem Pronomen, der Präposition und dem Artikel, und bringen Sie einen jeden dieser Redetheile, so wie ich es jetzt mit der Interjektion und Konjunktion gemacht habe, in alle mögliche Stellungen gegen die übrigen Redetheile, um zu sehen, ob und in wie fern sich die allgemeinen prosodischen Regeln in den einzelnen Beispielen bestätigen werden? und ich bin gewiß daß diese Regeln, wenn Sie nur immer ihr Gefühl zu Rathe ziehen, ohne Ausnahme zutreffen werden, weil sie nicht willkürlich angenommen, sondern in der Natur der Sache gegründet sind. Das Substantivum und Adjektivum hat mehr F ü l l e d e s G e d a n k e n , als das Verbum, weil jenes den Begriff v o n d e m G e g e n s t a n d e s e l b s t m i t s e i n e n E i g e n s c h a f t e n , dieß aber nur den Begriff von den M o d i f i k a t i o n e n oder Ve r ä n d e r u n g e n desselben in sich faßt. Das Adverbium hat weniger Gedankenfülle, als das Verbum, weil es nicht eine Veränderung oder Beschaffenheit eines Gegenstandes, sondern nur d i e B e s c h a f f e n h e i t v o n d e r Ve r ä n d e r u n g e i n e s G e g e n s t a n d e s , oder einen Nebenumstand bei dieser Veränderung bezeichnet, als b a l d w e i n t a u s e u c h d e r S c h m e r z , wo w e i n e n irgend eine Ve r ä n d e r u n g an einem Gegenstande, und b a l d nur eine Beschaffenheit oder einen Nebenumstand bei dieser Veränderung bezeichnet, und daher gegen w e i n t mit Recht kurz ist. Das Adverbium hat aber doch wieder mehr Gedankenfülle, als das Hülfsverbum, weil es doch immer irgend eine b e s t i m m t e i n d i v i d u e l l e Beschaffenheit oder einen Nebenumstand bei einer durch das Verbum bezeichneten Veränderung ausdrückt; das Hülfsverbum hingegen nur eine ganz u n b e s t i m m t e u n d a l l g e m e i n e Modifikation der durch das Verbum bezeichneten Veränderung, anzeigt, als: b a l d w i r d n u n d e i n G r a m v e r s c h w i n d e n , wo b a l d ein i n d i v i d u e l l e r und b e s t i m m t e r , w i r d hingegen nur ein ganz a l l g e m e i n e r und u n b e s t i m m t e r Nebenbegriff bei v e r -

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s c h w i n d e n ist, und also w e n i g e r I d e e oder weniger Gedankenfülle als der Begriff b a l d enthält. Der I n t e r j e k t i o n hingegen muß wieder das Adverbium weichen, weil diese m e h r als einen bloßen Nebenumstand oder Beschaffenheit einer durch das Verbum bezeichneten Veränderung, in sich faßt. Die Interjection drückt an sich keine b e s t i m m t e vollständige Idee aus, wie das Substantivum mit dem Adjektivum und Verbum, wodurch der G e g e n s t a n d s e l b s t m i t s e i n e n B e s c h a f f e n h e i t e n u n d Ve r ä n d e r u n g e n bezeichnet wird; aber sie faßt d a s R e s u l t a t e i n e r R e i h e v o n I d e e n in sich, in so fern sich dasselbe in einer G e m ü t h s b e w e g u n g zusammendrängt; die I n t e r j e k t i o n ist nicht der N a h m e , sondern nur der A u s d r u c k dieser Gemüthsbewegung; sie steht daher, in Ansehung der I d e e n f ü l l e , unter dem Substantivum, Adjektivum und Verbum, weil durch diese Redetheile die eigentlichen Hauptbegriffe an und für sich selbst b e s t i m m t bezeichnet werden; aber sie steht über alle den Redetheilen, wodurch bloß N e b e n b e g r i f f e ausgedrückt werden, und also über dem A d v e r b i u m , H ü l f s v e r b u m , d e r K o n j u n k t i o n , d e m P r o n o m e n , d e r P r ä p o s i t i o n , und dem A r t i k e l . Der Begriff, welcher in der Interjektion liegt, erhebt sich also, ohne selbst ein eigentlicher Hauptbegriff zu seyn, über alles, was bloß Nebenbegriff ist. Die K o n j u n k t i o n folgt erst nach dem Hülfsverbum, weil sie noch einen a l l g e m e i n e r n und u n b e s t i m m t e r n Begriff, als dieß bezeichnet. In dem Beispiel: w e n n e r e i n s t k o m m e n w i r d , faßt e i n s t einen b e s t i m m t e r n Nebenbegriff von k ö n n e n , als w i r d , und w i r d wieder einen bestimmtern Nebenbegriff als w e n n , in sich; einst – – kommen. wird – – kommen. wenn – – kommen. W i r d ist mehr Nebenbegriff als e i n s t , und w e n n ist wieder mehr Nebenbegriff als w i r d ; e i n s t drückt doch einen bestimmten individuellen Umstand des Kommens, w i r d aber eine Beschaffen-

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heit des Kommens bloß im Allgemeinen, aus, und w e n n bezeichnet gar nur die z u f ä l l i g e S t e l l u n g d e s B e g r i f f e s von k o m m e n gegen einen andern Begriff von welchem er abhängig wird, und also nicht einmal mehr eine Beschaffenheit der Veränderung selbst, sondern nur eine Beschaffenheit des B e g r i f f e s von der Veränderung, welche durch k o m m e n bezeichnet wird. Die Konjunktion steht also mit Recht u n t e r dem Adverbium und Hülfsverbum, so wie sie ü b e r dem Pronomen, der Präposition, und dem Artikel steht, weil diese a n u n d f ü r s i c h noch weniger B e d e u t e n d e s haben, als die Konjunktion. Was erstlich das Pronomen anbetrift, so giebt es a n u n d f ü r s i c h , und auch d u r c h d i e Ve r b i n d u n g , w o r i n e s s t e h t , keinen Sinn, wenn nicht ein völlig bestimmter Begriff v o r h e r g e g a n g e n ist, den es bloß wieder a u f f r i s c h t , oder ganz i m A l l g e m e i n e n wieder darstellt: denn alles in der Welt kann i c h , d u , oder e r u. s. w. seyn; lassen Sie uns also wieder gegeneinander stellen: einst – – kommen. wird – – kommen. wenn – – kommen. er – – kommen. Hier sieht man deutlich wie die Nebenbegriffe von e i n s t , w i r d , w e n n und e r stuffenweise i m m e r a l l g e m e i n e r werden, und sich gleichsam in eine immer dunklere Ferne zurückziehen, wenn man sie gegen den Hauptbegriff des K o m m e n s hält. E i n s t , w i r d und w e n n sind wenigstens a n u n d f ü r s i c h s e l b s t b e s t e h e n d e Nebenbegriffe, aber e r ist nicht einmal ein für sich bestehender Nebenbegriff, sondern nur ein Begriff von einem Begriffe. Das Pronomen drückt bloß das Ver-hältniß der Person oder Sache in A n s e h u n g d e s R e d e n d e n ganz im A l l g e m e i n e n aus; es heißt ich, du, er, u. s. w. in so fern nehmlich etwas entweder als s e l b s t redend eingeführt, oder z u etwas oder v o n etwas geredet wird. In so fern bei etwas, w o v o n geredet wird, zugleich das ö r t l i c h e Verhältniß in Ansehung des Redenden hinzugedacht wird, heißt es, d i e s e r , d i e s e , d i e s e s u. s. w. in so fern dieß ö r t l i c h e

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Verhältniß, nicht so wohl in Ansehung des Redenden, als vielmehr in Ansehung des Zusammenhanges der Rede, mit bezeichnet werden soll, heißt dasjenige, wovon man redet, w e l c h e r , w e l c h e , w e l c h e s , u. s. w. Bei i c h , d u , e r u. s. w. d i e s e r , d i e s e , d i e s e s u. s. w. w e l c h e r , w e l c h e , w e l c h e s u. s. w. wird also immer der bestimmte Begriff von dem vorausgesetzt, was entweder s e l b s t redet, oder w o z u , oder w o v o n geredet wird. Das Pronomen ist gleichsam nur ein Schatten oder Abdruck von diesem vorhergegangenen Begriffe, und hat daher an sich weniger I d e e n - f ü l l e und folglich auch weniger p r o s o d i s c h e n We r t h , als irgend ein Redetheil, der keinen solchen vorhergegangenen Begriff voraussetzt, von dem er bloß ein Abdruck ist, sondern der w e n i g s t e n s d u r c h d i e Ve r b i n d u n g , worin er steht, schon a n u n d f ü r s i c h s e l b s t einigen Sinn gewährt. Demohngeachtet aber steht nun das Pronomen wieder ü b e r der Präposition und dem Artikel, ob es gleich sonst unter allem übrigen steht: das macht, weil die Präposition und der Artikel im Grunde m i t d e m Wo r t e z u s a m m e n s c h m e l z e n , und an sich fast gar keine ihnen eigenthümliche bedeutende Kraft, und folglich auch nur einen geringen p r o s o d i s c h e n We r t h haben. Wie denn in der lateinischen Sprache z. B. die Präposition und der Artikel, jene oft, und dieser immer, bloß durch die Kasusendungen, und gar nicht besonders, ausgedrückt werden. Die Präposition verhält sich im Deutschen fast so gegen das Verbum, wie der Artikel gegen das Substantivum: sie macht nehmlich mit dem Verbum, so wie dieser mit dem Substantivum, beinahe ein Wort aus. Das Verbum bezeichnet immer irgend eine Ve r ä n d e r u n g eines Gegenstandes, die erst geschiehet, oder schon da ist. Nun muß aber eine jede Veränderung eine R i c h t u n g irgend wohin, und ein jeder Zustand ein Ve r h ä l t n i ß irgend wogegen haben; diese Richtungen und Verhältnisse sind von den Veränderungen und Zuständen selbst unzertrennlich, weil jene ohne diese nicht gedacht werden können. Das G e h e n z. B. muß nothwendig i n etwas, ü b e r etwas, oder a u f etwas, u. s. w. gerichtet seyn, ich kann es mir nicht ohne eine von

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diesen oder ähnlichen R i c h t u n g e n denken. Der Begriff von der Richtung aber v e r l i e r t sich gleichsam in dem Begriffe von der Veränderung. Daher kömmt es nun auch, daß die Präposition, welche den Begriff von der Richtung in sich faßt, mit dem Verbum gleichsam zu e i n e m Wo r t e wird, und also als eine Silbe einzeln und für sich betrachtet, gegen alles Uebrige, was a n u n d f ü r s i c h einen Begriff bezeichnet, wenn es auch nur ein Nebenbegriff, oder, wie das Pronomen, der Abdruck eines Hauptbegriffes wäre, keinen p r o s o d i s c h e n We r t h hat. Daß aber der Artikel, in Ansehung des prosodischen Werthes, noch unter der Präposition steht, kömmt daher, weil er das A l l e r a l l g e m e i n s t e bei den Begriffen, nehmlich bloß ihre w i r k l i c h e i n d i v i d u e l l e D e n k u n g bezeichnet, die an sich eigentlich gar keinen neuen a b g e s o n d e r t e n Begriff gewährt, sondern mit dem w i r k l i c h e n i n d i v i d u e l l e n Begriffe nothwendig zusammen gedacht werden muß. Daher kömmt es, daß der Artikel, der als einzelne Silbe an und für sich betrachtet, die wenigste Bedeutung hat, auch gegen keinen einzigen R e d e t h e i l das Uebergewicht haben kann, und folglich unter allen Redetheilen den geringsten prosodischen Werth hat. Weil bei ihm a l l e i n s o w e n i g g e d a c h t w e r d e n k a n n , so entsteht daher das Bedürfniß, daß er sich an das Substantivum oder Adjektivum, wozu er gehört, immer gleich u n m i t t e l b a r a n s c h l i e ß e n muß; dahin-gegen die Präposition, da sie doch an und für sich einen etwas w e n i g e r a l l g e m e i n e n und unbestimmten Begriff enthält, von ihrem Verbum a b g e s o n d e r t stehen kann. Dem Artikel weicht nichts, als die Vo r s c h l a g s s i l b e in einem Worte, z. B. g e in G e l i e b t e r , v e r in Ve r g e b u n g , u. s. w. welche, wo möglich, noch weniger prosodischen Werth als der Artikel, hat, weil sie von dem Worte ganz u n a b t r e n n l i c h ist, und also gar nicht einmal als ein Redetheil, sondern nur als ein T h e i l e i n e s Wo r t e s betrachtet werden kann. Die Vorschlagssilbe in einem Worte drückt, eben sowohl als die Anhangssilbe, nur eine bloße M o d i f i k a t i o n des Hauptbegriffs aus, die an i h m s e l b s t vorgenommen wird. Nun muß aber die bloße

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Modifikation eines Begriffes dem Begriffe selbst in unsrer Vorstellung u n t e r g e o r d n e t bleiben, wenn der Begriff seine Deutlichkeit nicht verlieren soll; und der allerallgemeinste und unbestimmteste Begriff, der sich nothwendig an einen individuellen Begriff anschließen muß, wenn er gedacht seyn will, hat doch immer noch das Uebergewicht gegen die bloße M o d i f i k a t i o n eines andern Begriffes, die a n i h m s e l b s t vorgeht, und wirklich mit ihm e i n s wird; wie man daraus siehet, daß z. B. der Artikel d i e in d i e Ve r g e b u n g , nicht nur die w i r k l i c h e i n d i v i d u e l l e D e n k u n g des Hauptbegriffs g e b e n , sondern auch seine beiden Modifikationen v e r und u n g mit e i n e m m a l bezeichnet, welches nicht geschehen könnte, wenn diese beiden Modifikationen des Hauptbegriffs mit ihm selbst nicht e i n s ausmachten. Der allgemeine und schwankende Begriff, welchen der Artikel in sich faßt, weicht also jedem andern bestimmtern Begriffe, aber er weicht nicht dem, was irgend einem andern bestimmtern Begriffe bloß u n t e r g e o r d n e t ist, und mit ihm e i n s ausmacht. Aber auch selbst eine Vorschlagssilbe kann gegen eine andre Vorschlagssilbe noch das Uebergewicht haben, wie z. B. in

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 Ž  Ž Ž wo man es fühlt, daß v e r eine bedeutendere Modifikation des Hauptbegriffes bezeichnet, als g e , und daher der Silbe v e r auch einen größern prosodischen Werth beilegt. Die Vorschlagssilben b e und g e scheinen, selbst als Modifikationen des Hauptbegriffs, f ü r s i c h die wenigste Bedeutung zu haben, weil sie sehr oft ganz mit dem Worte zusammenschmelzen, und nicht einmal einzelne Silben bleiben, wie z. B. in dem Worte b l e i b e n , welches eigentlich b e l e i b e n , und g l a u b e n , welches eigentlich g e l a u b e n heißen sollte, so wie man sagt e r l a u b e n , wo der Begriff l a u b e n oder b i l l i g e n nur durch eine andre für sich bestehende Vorschlagssilbe modificirt ist. Es ist merkwürdig, daß in unsrer Sprache die Präposition sehr oft zum Hauptbegriffe erhoben, und die Hauptbegriffe zu bloßen Mo-

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difikationen erniedrigt werden, als Vo r s c h l a g  Ž , wo das s c h l a g , welches doch einen bestimmten und individuellen Begriff in sich faßt, zur Modifikation eines a l l g e m e i n e n Begriffs gemacht wird. Die Ve r ä n d e r u n g wird nicht betrachtet nach den verschiednen R i c h t u n g e n , die sie nehmen kann; sondern eine R i c h t u n g wird betrachtet, nach den mannichfaltigen Veränderungen, welche sich diese R i c h t u n g nehmen, oder sich nach ihr bequemen können. Dieß ist ganz in dem Geist unsrer Sprache, die uns immer zum abstrakten Denken nöthigt, und uns von dem Einzelnen und Wenigumfassenden, auf das Allgemeine und Vielumfassende unwillkürlich hinzieht. Wir wollen in den Wörtern Vo r t r i t , Vo r s c h l a g , Vo r g a n g z. B. uns die Hauptbegriffe von Tr i t t , S c h l a g , G a n g lieber als Modifikationen von dem Begriffe v o r denken, indem wir Substantive zu A n h a n g s s i l b e n von einer Präposition machen, als daß wir v o r eine bloße Modifikation der Begriffe von S c h l a g , Tr i t t , und G a n g seyn ließen. Dieß kömmt bloß daher, weil wir unter der Rubrik v o r , m e h r als unter der Rubrik S c h l a g , z u s a m m e n f a s s e n können, indem es unendlich m e h r Veränderungen giebt, die ich mir unter der einen Richtung v o r denken, als verschiedene Richtungen, die ich mir bei einer und eben derselben Veränderung denken könnte. Kurz, weil es mehr Verba wie Präpositionen giebt. Die Reihe der Präpositionen, womit S c h l a g z. B. zusammengesetzt werden kann, bin ich sehr bald durch, als Vorschlag, Anschlag, Aufschlag, u. s. w. aber nicht sobald die Reihe von Wörtern, welche mit v o r zusammengesetzt werden können. Ich fühle mich daher geneigt, das mannichfaltigere und weniger umfassende, u n t e r das einfachere und mehrumfassendere zu ordnen, und mache die Präposition, die sonst nur ein äußerst untergeordneter Nebenbegriff ist, in der Zusammensetzung eines Wortes, zu einem H a u p t b e g r i f f e . Mache ich die Präposition in der Zusammensetzung eines Worts zum Nebenbegriffe, so entsteht ein ganz a n d r e r S i n n , als wenn ich sie zum Hauptbegriffe mache, als, u m gehen, und einen Ort um g e h e n ; in einem Boot jemanden ü b e r setzen, und ein Buch über s e t -

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z e n ; etwas ü b e r legen, und eine Sache über l e g e n , u. s. w. Bei dem Uebersetzen über einen Fluß ist das ü b e r die herrschende Idee; bei dem Uebersetzen eines Buchs hingegen ist das ü b e r nur eine untergeordnete figürliche Idee, und das s e t z e n oder die w i r k l i che Nebeneinanderstellung des veränderten Ausd r u c k s d e r G e d a n k e n , ist der H a u p t b e g r i f f . Zwischen ü b e r legen und über l e g e n ist eben ein solcher Unterschied; bei dem Ueberlegen einer Sache in meinen Gedanken, ist das über ebenfalls nur eine untergeordnete figürliche Nebenidee, da hingegen das figürliche L e g e n , oder die O r d n u n g , w o r i n i c h m e i n e G e d a n k e n z u b r i n g e n s u c h e , der Hauptbegriff ist. Eben so ist es auch mit u m gehen und um g e h e n : ich um g e h e einen Ort, den ich auch um f a h r e n , um r e i t e n , u. s. w. könnte; hier wird das Gehen als der Hauptbegriff und u m nur als die zufällige Modifikation desselben betrachtet; sage ich hingegen zu jemanden: Sie werden u m gehen, so will ich ihn mehr auf das u m als auf das Gehen aufmerksam machen, und erhebe daher das u m zur Hauptidee, indem ich das G e h e n zur bloßen Modifikation herabsetze; denn ich will bloß die K r ü m m u n g andeuten, welche jemand statt der g e r a d e n L i n i e wählt, um zu irgend einem Ziele zu gelangen. So wie wir nun die Präposition in der Zusammensetzung eines Wortes gern zum Hauptbegriffe erheben, so thun wir dieß auch in Ansehung der v e r n e i n e n d e n E n t g e g e n s e t z u n g , welche durch u n bezeichnet wird; wir sagen u n dankbar, u n freundlich, u n gütig, ob wir gleich auch wieder sagen: un e n d l i c h , un z ä h l i g , un s c h ä t z b a r , u. s. w. Weil unsre Sprache sich überhaupt zum Gedankenausdruck neigt, so suchen wir vorzüglich die G e g e n e i n a n derstellungen so auffallend, wie möglich, zu machen, weil durch die Gegeneinanderstellung das m e i s t e L i c h t gewonnen wird, und die Gegenstände sich am stärksten v e r d e u t l i c h e n . Weil man sich nun v o r z. B. immer im Gegensatz gegen n a c h , i n im Gegensatz gegen a u s , u. s. w. denkt, so kömmt es auch mit daher, daß wir die Präposition in der Zusammensetzung eines Worts so gern zum Hauptbegriff erheben, und also lieber Vo r schlag im Gegensatz

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gegen N a c h schlag, und E i n gang, im Gegensatz gegen A u s gang, sagen; weil die G e g e n e i n a n d e r s t e l l u n g der Begriffe, die wir gern merklich und auffallend machen wollen, hier nicht durch S c h l a g und G a n g , sondern durch v o r und n a c h , e i n und a u s , bewirkt wird. So sage ich also nun auch im Gegensatz gegen dankbar, u n dankbar, und hebe die Silbe u n durch den Ton heraus, weil durch sie die E n t g e g e n s t e l l u n g der Begriffe bezeichnet wird; sie erhält daher auch den p r o s o d i s c h e n We r t h , der sonst eigentlich der Silbe d a n k zukäme, mit welcher doch eigentlich der bestimmteste Begriff verbunden wird. Wenn das Wort u n dankbar v i e r s i l b i g t wird, als: u n d a n k b a r e s Kind, so hebt die Sprache des Affekts oder der pathetische Ausdruck gern auch die Silbe b a r durch den Ton heraus, um den Nachdruck in dem Worte gleichsam zu v e r d o p p e l n : 168

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Undank bares Kind.

 Ž  Ž  In so fern nun die Poesie Sprache der Empfindung, oder des Affekts ist, bedient sie sich ebenfalls dieser Freiheit, daß sie i n e i n e m u n d e b e n d e m s e l b e n Wo r t e z w e i l a n g e S i l b e n annimmt, und auf die Weise die bloßen Modifikationen der Begriffe wieder eine gegen die andre heraushebt. U n ist hier, wegen der G e g e n e i n a n d e r s t e l l u n g , b e d e u t e n d e r oder mehr ausdrückend, als die eigentliche Begriffssilbe d a n k , und b a r ist natürlicher Weise bedeutender, als die Endigungsilbe e s , wodurch nichts als der U e b e r g a n g , oder die nothwendige Verbindung zwischen dem Adjektivum und Substantivum bezeichnet wird. Aber der bloße G e d a n k e n a u s d r u c k hebt diesen letzten Unterschied nicht besonders heraus. Er verkürzet alles übrige gegen die Hauptunterscheidungssilbe u n , und ließt daher: undankbares Kind!

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Wollt’ ich nun aber auch sagen: das un schätzbare Glück,

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so wie ich sage: undankbares Kind  Ž  Ž  , so würde dieß fehlerhaft seyn, weil ich wohl u n d a n k b a r  Ž Ž , aber nicht u n s c h ä t z b a r  Ž Ž sondern u n s c h ä t z b a r Ž  Ž sage, und das Versmaaß also hier den g e w ö h n l i c h e n A c c e n t ganz zerstören würde, indem es die Silbe u n lang machte, die sonst kurz ist, und die Silbe s c h ä t z kurz machte, die sonst lang ist: ein Eingriff, den unsre Sprache, eben so wenig, als irgend einen Eingriff in die natürliche Wortstellung, leidet: denn der Gedankenausdruck bleibt auch in unsrer Poesie immer das herrschende, und darf nie ganz von dem abweichen, wozu sich der Gang unsrer Ideen einmal g e w ö h n t hat. Sie sehen hieraus, wie sehr d i e L e h r e v o m A c c e n t in die p r o s o d i s c h e n R e g e l n unsrer Sprache eingreift. Der Accent ist der Nachdruck, welchen wir auf irgend eine Silbe im gewöhnlichen Reden zu setzen gewohnt sind, und wodurch wir sie vor den übrigen Silben heraus-heben, indem wir l ä n g e r mit der Stimme darauf verweilen. Weil nun dieser Nachdruck fast ohne Ausnahme immer auf die bedeutendste oder eigentliche Begriffssilbe in einem Worte fällt, so dient er dem Silbenmaß gleichsam zur f e s t e n U n t e r l a g e , weil es in Ansehung der m e h r s i l b i g t e n einzelnen Wörter, durch ihn erst bestimmt wird, und ohne ihn schwankend und unbestimmt seyn würde. Allein dieß gilt nur von dem Wo r t a c c e n t , welcher eine S i l b e in einem Worte vor den übrigen heraushebt, der sogenannte R e d e a c c e n t oder d e k l a m a t o r i s c h e Accent, der e i n g a n z e s Wo r t unter den übrigen heraushebt und einen vorzüglichen Nachdruck darauf legt, darf i n A n s e h u n g d e s S i l b e n m a ß e s n i c h t i n Betracht gezogen werden, so lange sich die Poesie durch dasselbe noch von der Prosa unterscheiden, und so lange das Silbenmaß nicht ganz willkürlich seyn soll.

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Denn wie schwankend und unbestimmt der Redeaccent ist, und welchen Abwechselungen er, nach dem jedesmaligen Zustande des Redenden unterworfen ist, sieht man aus folgendem Beispiele: A . Wer? B . E r hat mich beleidigt. A . Nein! B . Er h a t mich beleidigt. A . Dich? B . Er hat m i c h beleidigt. A . Er ist dein Freund! B . Er hat mich b e l e i d i g t . Wie ließen sich nun wohl auf irgend eine Weise prosodische Regeln denken, wenn ein so schwankender Accent als der deklamatorische ist, dem Silbenmaß zur Grundlage dienen sollte? – Der deklamatorische Accent v e r k ü r z t a l l e s ü b r i g e g e g e n d a s B e d e u t e n d s t e , und läßt die Stimme unaufhaltsam und flüchtig darüber hineilen. Sollte sich nun das Silbenmaß nach dem deklamatorischen Accente richten, so müßte es ja mit dem j e d e s m a l i g e n G e m ü t h s z u s t a n d e des Redenden abwechseln, und eben so veränderlich wie dieser Gemüthszustand, oder wie das Verhältniß der gegenwärtigen Ideenreihe gegen irgend eine vorhergegangene Ideenreihe seyn. In E r hat mich beleidigt, ist e r gegen h a t lang, und in, er h a t mich beleidigt, ist es kurz; in, er hat m i c h beleidigt, ist e r sowohl als h a t gegen m i c h kurz; und in, er hat mich b e l e i d i g t , ist l e i d die erste lange Silbe, und alles vorhergehende kurz. Sollte nun auf die Weise etwas dem Verse ähnliches entstehen, so müßte ich einen und eben denselben G e m ü t h s z u s t a n d des Redenden in gleicher Ordnung wiederkehren lassen; ich müßte Leidenschaft gegen Leidenschaft abmessen, und es etwa so einrichten, daß der deklamatorische oder leidenschaftliche Accent immer entweder auf die erste, zweite, dritte oder vierte Silbe fiele u. s. w., als:

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Wenn du mir d a s versprichst Daß ichs er l a n gen soll, Bin ich ver g n ü g t und froh. 5

Ich kann aber eben diese Zeilen auch so lesen, daß ich immer das e r s t e Wo r t durch den deklamatorischen Accent heraushebe, als: We n n du mir das versprichst, D a ß ichs erlangen soll, B i n ich vergnügt und froh.

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Oder das z w e i t e Wo r t : 10

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Wenn d u mir das versprichst, Daß i c h s erlangen soll, Bin i c h vergnügt und froh. Mit jeder dieser verschiednen Lesearten aber w e c h s e l t auch das Versmaaß; nach der dritten ist es j a m b i s c h : wenn d u mir das versprichst Ž  Ž  Ž  ; nach der zweiten d a k t y l i s c h : w e n n du mir das versprichst  Ž Ž  Ž Ž ; und nach der ersten p e o n i s c h : wenn du mir d a s versprichst Ž Ž Ž  Ž Ž . Welche ist nun von allen diesen Lesearten die richtige? oder sind sie alle richtig? Wenn der deklamatorische oder leidenschaftliche Accent auf das Silbenmaaß Einfluß haben dürfte, so wären sie alle richtig. Aber woran kann ich denn wissen, was hier eigentlich für ein Versmaß beobachtet werden soll, wenn es nicht darüber geschrieben ist? Und wenn es darüber geschrieben ist, woran kann ich dann wieder wissen, w a r u m nun gerade dieß, und kein andres Versmaß, vorzugsweise gewählt worden ist, um die untereinanderstehenden Zeilen darnach zu lesen: denn irgend ein G r u n d muß doch seyn: sonst könnt’ ich ja eine jede Prosa n a c h G e f a l l e n wie Jamben, oder Trochäen, oder Daktylen lesen. Aber freilich kann ich kein Versmaß annehmen, daß dem Wortaccent zuwider ist: ich kann z. B. w e n n d u m i r d a s v e r s p r i c h s t nicht wie Trochäen lesen:

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Wenn du mir das versprichst;

 Ž

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 Ž

 Ž

sonst aber kann ich es, wenn ich mich nach dem abwechselnden leidenschaftlichen oder deklamatorischen Accent richten will, wie Jamben, wie Daktylen, wie Anapästen, u. s. w. lesen; das kömmt daher, weil der Wortaccent bestimmt und fest, der Redeaccent aber unbestimmt und willkürlich ist. Ich kann nach dem Redeaccent sagen, w e n n d u m i r  Ž Ž , oder w e n n d u m i r Ž Ž  , oder w e n n d u m i r d a s Ž  Ž  , oder w e n n d u m i r d a s Ž Ž Ž  u . s . w . Aber ich muß nach dem Wortaccent nothwendig immer ver s p r i c h s t Ž  , und kann nie v e r sprichst  Ž sagen. Das Willkürliche kann nicht b e s t i m m e n , kann nicht Gesetz seyn. Der Redeaccent kann in der Bestimmung des Silbenmaßes unmöglich in Betracht kommen, weil er immer erst selbst durch die Willkür des Redenden bestimmt werden muß. Der Wo r t a c c e n t hingegen ist einmal unabänderlich durch sich selbst bestimmt, und kann also auch zur Bestimmung unsers Silbenmaßes dienen: er ist aber wegen der großen Menge der einsilbigten Wörter in unsrer Sprache dazu nicht h i n r e i c h e n d ; w i r m ü s s e n i h n a l s o g l e i c h s a m f o r t z u s e t z e n s u c h e n , indem wir mehrere einsilbigte Wörter, w i e d i e S i l b e n e i n e s Wo r t e s zusammenstellen, und auf die Weise den Wortaccent nachbilden, indem wir zusehen, auf welche Silbe nun in dieser Z u s a m m e n s t e l l u n g der Ton fällt, als: ich bin es, da steht er, er sagt es, erhalten, Vergebung, bestimmen, wo zwischen den z u s a m m e n g e s t e l l t e n einsilbigten Wörtern dieselben Verhältnisse, wie zwischen den Silben der einzelnen Wörter statt finden, sobald ich sie in einem r u h i g e n G e m ü t h s z u s t a n d e ausspreche. Und so wären wir denn nun wieder auf dem Punkte der S i l b e n s t e l l u n g , worauf sich alle die prosodischen Regeln unsrer Sprache gründen.

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Aber wie, wenn nun jene zusammengestellten einsilbigten Wörter nicht in einem r u h i g e n G e m ü t h s z u s t a n d e , sondern mit Leidenschaft ausgesprochen werden? Wird denn nicht jener nachgebildete Wortaccent durch den Redeaccent nun unvermeidlich wieder zerstört? wenn ich z. B. sage: Du bist meine Zuversicht und Stärke;

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so sollte d u b i s t ein Jambus seyn, weil, nach den prosodischen Regeln, das Pronomen gegen das Verbum k u r z ist. Der leidenschaftliche Nachdruck aber welcher auf d u fällt, verwandelt d u b i s t in einen Trochäus; denn wenn es ein Jambus bleibt, wie soll ich da den leidenschaftlichen Nachdruck auf d u hören lassen? Ich antworte auf diesen Einwurf, den Sie mir machen werden, mit meiner e r s t e n Bemerkung, die ich in unserm Gespräche über diese Materie gegen Sie äußerte: daß der Affekt nicht sowohl durch die L ä n g e , als vielmehr durch die H ö h e des Tons bezeichnet werde, und daß die Höhe des Tons auf keine Weise immer an die Länge gebunden sey, sondern füglich auf die Kürze gesetzt werden könne, die demohngeachtet kurz bleibt; wie dieß denn in den mehrsilbigten einzelnen Wörtern so oft der Fall ist, wenn sie mit Affekt ausgesprochen werden, als N a tur! G e rechter! A l l gütiger! wo die Silben n a , g e und a l l , durch den Affekt, der immer das n ä c h s t e an sich reißt, zwar die H ö h e des Tons erhalten, dennoch aber k u r z bleiben, und die folgende Silbe l a n g nachtönen lassen. Da nun in unserm Versbau die zusammengestellten einsilbigten Wörter wie e i n z e l n e m e h r s i l b i g t e W ö r t e r betrachtet werden müssen, so gilt in Ansehung des leidenschaftlichen Accents auch eben das von jenen, was von diesen gilt. Ich betrachte d u b i s t in prosodischer Rücksicht wie ein einsilbigtes Wort, von welchem eben so wie z. B. in g e r e c h t , die erste Silbe n o t h w e n d i g k u r z und die zweite n o t h w e n d i g l a n g ist; der Affekt kann in d u b i s t , eben so wie in g e r e c h t , auf die erste Silbe wohl die H ö h e aber n i c h t d i e L ä n g e des Tons hinreißen, wenn ein b e s t i m m t e s S i l b e n m a a ß bleiben soll. Ich muß daher ohngeachtet des leidenschaftlichen Accents

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lesen, d u b i s t Ž  , so wie ich sage, m e i n F r e u n d ! Ž  , indem ich wegen des Affekts, womit ich rede, die H ö h e des Tons auf m e i n setze, und F r e u n d zwar tiefer aber doch l ä n g e r nachtönen lasse. Selbst bei der Frage kann der Gemüthszustand des Redenden in Ansehung des eigentlichen Silbenmaßes nicht in Betracht kömmen. Ich muß lesen: Bist du es nicht?

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wenn gleich der fragende Accent auf d u fällt, und ich mich daher geneigt fühle zu lesen: bist d u es nicht? Ž  Ž  . Denn das Pronomen ist einmal, in prosodischer Rücksicht, gegen das Verbum k u r z , und kann durch keinen besondern Nachruck, der darauf gelegt wird, gegen dasselbe verlängert werden. Der Nachdruck muß sich daher, in der Poesie, mit der H ö h e d e s To n s allein begnügen. Wenn wir aber in der Prosa, wegen des deklamatorischen Accents, gar kein bestimmtes Silbenmaß beobachten, so haben wir uns einmal gewöhnt, die Höhe des Tons fast immer auf die Länge zu setzen, und wenn wir nun in der Poesie die K ü r z e m i t d e r H ö h e d e s To n s aussprechen wollen, so fühlen wir uns immer geneigt, sie zu gleicher Zeit zu verlängern, wodurch wir denn das Silbenmaß unvermeidlich zerstören. Es gehört daher schon eine gewisse Biegsamkeit der Stimme dazu, welche durch Uebung erlangt werden muß, um Verse, ohne das Silbenmaß zu verletzen, dennoch mit dem gehörigen Nachdrucke zu lesen. Indes ist dieß doch so schwer nicht, wie es manchem vielleicht beim ersten Versuch scheinen möchte. Man darf nur eben das, in Ansehung der zusammengestellten einsilbigten Wörter beobachten, was man in Ansehung einzelner mehrsilbigter Wörter thut, wo man, ohne den Sprachwerkzeugen die mindeste Gewalt anzuthun, im Ausdruck des Affekts die H ö h e mit der K ü r z e schon von selbst verbindet, indem man z. B. sagt: g e rechter Himmel! u m sonst hab’ ich geklagt! wo g e und u m im Ausdruck der Leidenschaft schon im gewöhnlichen Reden, die H ö h e d e s To n s b e i d e r K ü r z e erhalten.

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Wer folgende Zeilen: Fließt unaufhaltsam hin, ihr Zähren, Fließt hin in meinen Jammerton! mit dem Ausdruck des Affekts ließt, der wird gewiß die Höhe des Tons beidemal auf f l i e ß t setzen, ob er gleich, wegen des j a m b i s c h e n Versmaßes, den folgenden Silben ihre Länge nicht rauben kann. Die Länge aber ist hier prosodisch richtig; weil das Adjektivum, auch wenn es als Adver-bium steht, gegen das Verbum l a n g ist, und weil h i n mit f l i e ß e n zusammengenommen, als ein Wort betrachtet wird, in welchem h i n die herrschende oder accentuirte Silbe ist, weil ich sage h i n fließen, und nicht hin f l i e ß e n , eben so wie ich sage a u f stehen, und nicht auf s t e h e n : wenn nun gleich die Präposition von dem Verbum, das damit zusammengesetzt ist, scheinbar wieder getrennt wird; so bleibt sie demohngeachtet gegen dasselbe lang, und ich sage nicht: er s t e h t auf Ž  Ž , sondern, er steht a u f Ž Ž  , nicht: f l i e ß t hin  Ž , sondern, fließt h i n Ž  . Wenn es nun weiter heißt: N i c h t seinen Abschied sollt’ ich hören, S o schnell ist mir sein Geist entflohn – so wird der A u s d r u c k d e r z ä r t l i c h e n We h m u t h die Höhe des Tons ebenfalls auf n i c h t und s o setzen. Aber das jambische Versmaß ist hier nicht rein: denn n i c h t ist gegen s e i n e n nicht kurz, weil das Adverbium mehr prosodischen Werth, als das Pronomen hat: die Silbe s e i in s e i n e n wäre also gegen n i c h t eigentlich kurz, sie wird aber wieder l a n g durch die g a n z k u r z e Silbe n e n , mit welcher sie hier unmöglich g l e i c h l a n g tönen kann: n i c h t s e i ist also ein Spondeus   statt eines Jambus Ž  . S o s c h n e l l hingegen ist ein reiner Jambus Ž  , weil das eigentliche Adverbium gegen das Adjektivum, wenn es als Adverbium steht, immer k u r z ist. Ich sage aber auch s o b a l d , und lasse ein Adverbium gegen das andre kurz tönen. Allein ich betrachte s o hier bloß wie eine Bestimmungssilbe, die mit b a l d eigentlich ein Wort ausmacht. Eben so sage

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ich auch: w i e b a l d ! Ž  , weil ich das w i e als eine untergeordnete Bestimmung des b a l d und nicht als ein für sich bestehendes Adverbium betrachte. W i e und a l s sind daher als b l o ß e Ve r g l e i c h u n g s w ö r t e r immer eine Ausnahme von den übrigen Adverbiis, und werden gegen die Konjunktion und das Pronomen kurz, als: s o g r o ß w i e d u Ž  Ž  , wenn, wie der Blitz  Ž Ž  , größer noch als du  Ž  Ž  . W i e und a l s sind hier keine eigentlichen Adverbia mehr, weil sie nicht sowohl unmittelbar zu dem Verbum selbst, als vielmehr zu einem Worte gehören, das an sich schon dem Verbum untergeordnet ist. Eben so muß auch von der Konjunktion, die Konjunktion u n d in Ansehung ihres prosodischen Werthes, ausgenommen werden, den sie verliert, so bald sie z. B. zwischen zwei Pronomina zu stehen kömmt, als d u und i c h  Ž  , wo sie nicht sowohl mehrere Sätze, als vielmehr bloß mehrere W ö r t e r miteinander verbindet, die unter einen Satz gebracht werden sollen. Bezieht sich aber die Konjunktion u n d auf das Verbum selbst, so behauptet sie ihren Platz so gut wie eine jede andere Konjunktion, und das Pronomen steht unter ihr, als und er sprach zu mir  Ž  Ž  . Lassen Sie uns in folgender Gegeneinanderstellung die Unterordnung der Redetheile, in Ansehung der Länge und Kürze der Silben, noch einmal mit einem Blick übersehen.

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Ve r b u m . Ve r b u m . Interjektion. Interjektion. Interjektion. Adverbium. Konjunktion. Konjunktion.

kurz. lobt sind ach o ach bald wenn wenn,

lang. Gott! schön Gott! schön! seht! weint Gott ach!

Substantivum. Adjektivum. Substantivum. Adjektivum. Ve r b u m . Ve r b u m . Substantivum. Interjektion.

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Konjunktion. Hülfsverbum. Hülfsverbum. Hülfsverbum. Hülfsverbum. Pronomen. Pronomen. Pronomen. Präposition. Präposition.

wenn ist wird wird, ist du du du auf auf

einst Gott seyn ach! schon Gott siehst wirst Gott dich

Adverbium. Substantivum. Ve r b u m . Interjektion. Adverbium. Substantivum. Ve r b u m . Hülfsverbum. Substantivum. Pronomen.

Substantivum. Substantivum. Adjektivum.

lang. Gott Gott schön

kurz. sieht wird ist

Ve r b u m . Hülfsverbum. Ve r b u m .

lang. kurz. Interjektion. ach! wie Adverbium. Interjektion. ach! wenn Konjunktion. Interjektion. ach! du Pronomen. Adverbium. sonst, als Konjunktion. Konjunktion. als du Pronomen. Hülfsverbum. wirst du Pronomen. Hülfsverbum. wird auf Präposition. Pronomen. wer in Präposition. Präposition. auf der Artikel. Folgende tabellarische Uebersicht kann vielleicht die jedesmalige Anwendung der prosodischen Regeln, bei der Prüfung des Silbenmaßes, noch mehr erleichtern, womit es im Grunde gar keine Schwierigkeit hat, wenn man sich nur die Unterordnung der Redetheile, nach ihrem prosodischen Werth gehörig vor Augen zu stellen sucht:

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Prosodie und Stilistik

Substantivum. Adjektivum. Ve r b u m . Interjektion. Adverbium. 186

Das Substantiv. u. Adjektivum ist Das Verbum ist

lang lang

Die Interjekt. ist

kurz lang

Das Adverb. ist.

kurz lang kurz

Das Hülfsverb. ist

lang kurz

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Die Konjunkt. ist

lang kurz

Das Pronom. ist

Die Präposit. ist

lang kurz

lang

Hülfsverbum. Konjunktion. Pronomen. Präposition. Artikel. gegen alle übrigen Redetheile. gegen die Interj. das Adverb. das Hülfsverb. die Konjunkt. das Pron. die Präp. und den Artikel. nur gegen das Subst. u. Adjekt. gegen das Adverb. Hülfsverb. die Konj. das Pronom. die Präp. und den Artikel. gegen das Subst. Adjekt. und Verbum. gegen das Hülfsverb. die Konj. das Pronom. die Präp. und den Artikel. gegen das Subst. Adjekt. Verbum u. die Interj. gegen die Konjunkt. das Pronom. die Präposition und den Artikel. gegen das Subst. Adjekt. Verbum, die Interjekt. und das Adverbium. gegen das Pronom. die Präpos. u. den Artikel. gegen das Subst. Adjekt. Verbum, die Interjekt. das Adverb. und Hülfsverbum. gegen die Präposition u. den Artikel. gegen das Subst. Adjekt. Verbum, die Interjekt. das Adverb. Hülfsverb. und die Konjunktion. nur gegen den Artikel.

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kurz

Der Artikel ist

lang

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kurz

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gegen das Subst. Adjekt. Verbum, die Interjekt. das Adverb. Hülfsverb. die Konjunktion und das Pronomen. nur gegen die kurze Vorschlagssilbe eines Worts. gegen alle übrigen Redetheile.

Wenn der Artikel nicht als Artikel, sondern als Pronomen steht, so hat er mit diesem gleichen prosodischen Werth, und steht alsdann über der Präposition, als: Der auf Golgatha starb.

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 Ž  Ž Ž  Und wenn der Artikel e i n als Zahlwort steht, so hat er mit dem Substantivum und Adjektivum gleichen prosodischen Werth, als: es ist ein Gott; 15

Ž    wäre e i n der Artikel, so müßte ich lesen: es ist ein Gott.

Ž  Ž  20

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Wenn daher e i n gegen irgend einen Redetheil lang gebraucht wird, so scheint es nicht der Artikel, sondern das Z a h l w o r t zu seyn, und wenn man es sich demohngeachtet wie den Artikel d e n k e n m u ß , so entsteht dadurch im Vers eine Härte, die nicht sowohl das Ohr als den Ve r s t a n d beleidigt, als: so ste het ein Berg Got tes.

Ž 

Ž 

Ž 

Ž

Nach dem richtigen Silbenmaß muß ich diesen Vers lesen: so stehet ein Berg Gottes.

Ž  Ž Ž   Ž 30

Und wenn ich ihn so lese, und seine Füße nicht zu Jamben z w i n g e n will, so ist der Vers wirklich schön, weil in seinem Schluß durch den Antispast Ž   Ž etwas Mahlerisches liegt, das mit der

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G r ö ß e des Gegenstandes übereinstimmt. Der schwerfällige disharmonische Antispast Ž   Ž e i n B e r g G o t t e s , wird durch den leichtern und harmonischern Amphybrachis Ž  Ž s o s t e h e t , der aber auch die L ä n g e i n d e r M i t t e hat, gleichsam vorbereitet, und diese beiden Füße machen hier eine sehr treffende und mahlerische Zusammenstellung aus. Und warum soll denn auch der Vers gerade wie lauter Jamben gelesen werden? Die Versart kann ja j a m b i s c h seyn, ohne daß jeder Vers gerade aus lauter reinen Jamben bestehen darf. Wie untermischt waren nicht bei den Alten das jambische und andere Versmaße? Sie hatten anapästische Verse, worin zuweilen kein einziger Anapäst vorkam. Und warum sollen wir nun nicht die vortrefflichsten Verse unsrer vortrefflichsten Dichter auf alle Weise zu retten suchen, und die Freiheit, welche sie sich in irgend einer Versart verstattet haben, nicht gelten lassen, wenn überdem der Vers dadurch, so wie hier, an Energie und Schönheit des Ausdrucks gewinnt? Mag sich denn das jambische Versmaaß doch durch den Spondeus, Daktylus, Anapäst, Bachius und Schwerfall, der Absicht des Dichters gemäß*), hindurchwälzen, wie es wolle, wenn es nur immer zu sich selbst wieder zurückkehrt, als: Es stehet ein Berg Gottes Den Fuß in Ungewittern, Das Haupt in Sonnenstrahlen. Wenn die folgenden vortrefflichen U z i s c h e n Verse r e i n e Jamben seyn sollten, so würden sie für unser richtig bestimmtes Silbenmaß unvermeidlich verlohren gehen: denn sie sind mit Daktylen und andern Füßen untermischt, die sich besonders im Anfange der Verse einfinden, wo sie dem jambischen Versmaß am stärksten entgegen streben:

*) D e r A b s i c h t d e s D i c h t e r s g e m ä ß : – denn der Dichter muß es wenigstens immer selbst wissen, ob er einen Spondeus, Daktylus, Anapäst u. s. w. statt eines Jambus oder eines andern metrischen Fußes gesetzt hat.

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Mit sonnenrothem Angesichte F l i e g’ i c h z u r Gottheit auf! Ein Strahl von ihrem Lichte F ä l l t a u f mein Saitenspiel, Das nie erhabner klang. – Durch welche Töne wälzt mein h e i l i g e r Gesang. W i e e i n e Fluth von furchtbaren Klippen Sich strömend fort, und braußt von meinen Lippen! F l i e g’ i c h kann kein Jambus seyn, weil das Verbum gegen das Pronomen seiner Natur nach lang ist; eben so wenig kann f ä l l t a u f ein Jambus seyn, da die Präposition noch weniger prosodischen Werth hat, als das Pronomen, und also gegen das Verbum auf keine Weise lang seyn kann; l i g e r in h e i l i g e r kann schlechterdings kein Jambus seyn, sondern ist ein Pyrrhichius, der aus zwei gegen die Hauptsilbe g l e i c h u n b e d e u t e n d e n Nebensilben besteht; w i e e i kann ebenfalls kein Jambus seyn, weil e i n e hier nicht das Zahlwort, sondern der Artikel ist: da nun das Adverbium gegen den Artikel nothwendig l a n g ist, so kann w i e gegen e i in e i n e unmöglich kurz seyn; aber e i in e i n e kann auch wieder gegen w i e unmöglich kurz seyn, weil es gegen die g a n z k u r z e Silbe n e nothwendig l a n g ist; w i e e i ist daher ein durch die Silbenstellung nothwendig gemachter Spondeus. Freilich wäre es nun wohl gut, wenn in der eigentlichen l y r i s c h e n Poesie, die Dichter sich dieser Freiheiten so sparsam, wie möglich bedienten. Indes müssen wir das Vortreffliche, was wir nun einmal in dieser Art besitzen, dennoch nach seinem Werthe schätzen, und es unsrer Kritik und unserm geläuterten Geschmack, wo wir nur können, zu erhalten suchen, weil wir einmal noch nichts bessers aufzuweisen haben, und weil die meisten unter den neuesten Produkten unsrer deutschen Muse von den ältern wie Messing vom Golde überwogen werden. Ich wollte noch versuchen, zu zeigen, wie alle die metrischen Füße, deren sich die Alten bedienten, in unserm deutschen Versbau, durch

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die S i l b e n s t e l l u n g , mit leichter Mühe hervorgehoben werden können. Dieß soll in meinem nächsten Briefe geschehen!

Fünfter Brief. Euphem an Arist.

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Wer sich durch die verwickelte Theorie der metrischen Füße mühsam durchgearbeitet hat, und nun am Ende seiner Untersuchungen steht, für den muß die unter dem Nahmen S p o n d a so bekannte Klopstocksche Ode, ein doppeltes Interesse haben; er fühlt sich geneigt für diese mannichfaltigen Zusammenstellungen von Längen und Kürzen, in welcher die Zauberkraft des Rhytmus schlummert, sich wie für w i r k l i c h e We s e n zu interessiren, und eine dieser Zusammenstellungen, die er für unsern Versbau vergeblich sucht, mit dem Dichter zu erseufzen, und ihr wie dem entflohnen Schatten einer Geliebten vergeblich nachzurufen, bis es etwa irgend einem Spötter einfällt, durch die Bemerkung, daß die erseufzte Geliebte nichts als z w e i n e b e n e i n a n d e r g e s t e l l t e L ä n g e n   sind, das Werk der Phantasie plötzlich zu zerstören, und selbst dem Begeisterten über den sonderbaren Gegenstand seiner Sehnsucht ein Lächeln abzuzwingen: O Sponda! rufet nun in dem Hain Des ruinenentflohenen Griechen Gefährt, Sponda! dich such’ ich zu oft, ach! umsonst; Horche nach dir, finde dich nicht! Der Dichter, welcher sich an den ruinenentflohenen Griechen anschließt, um seinen harmonischen Silbenfall nachzubilden, wozu ihm S p o n d a (der Spondeus   ) so unentbehrlich ist, fährt fort:

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Wo, Echo, wallt ihr tönender Schritt? In welche Grott’ entführtest du sie, Sprache mir? Echo, du rufst sanft mir nach:

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Aber auch dich höret sie nicht. Nun drängen alle G e n i e n d e r e n t z ü c k t e n H a r m o n i e (die metrischen Füße) sich um den Dichter her, und klagen mit ihm um S p o n d a ; einige aber sind auch eifersüchtig über die Wehmuth des Dichters um Sponda, und Stolz funkelt in ihrem Blicke. Es drängten alle Genien sich Der entzückten Harmonie um ihn her, Riesen auch klagten mit ihm, aber Stolz Funkelt’ im Blick einiger auch.

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Der Daktylus  Ž Ž macht zuerst seine Rechte geltend, daß er in dem h o m e r i s c h e n Hexameter die Oberhand habe, und also auch im deutschen Hexameter oft statt des Spondeus ertönen wolle: Erhaben trat der Daktylos her: Bin ich Herrscher nicht im Liede Mäons? Rufe den Sponda nicht stets, bilde mich Oft zu Homers fliegendem Hall. Der Trochäus oder Choreus  Ž , und der Kretikus  Ž  , erheben nun ihre Stimme: der Choreus  Ž führt für sich an, daß er in unserm Versbau oft Sponda’s s c h w e b e n d e n Gang habe, welches wirklich der Fall, in allen den Wörtern, die sich auf eine lange Silbe endigen, und in allen zusammengesetzten Wörtern, ist, als in Wa h r h e i t , To n f a l l , L a u t m a ß , u. s w., wo sich der Trochäus, der dadurch gebildet wird, wenn man ihn gegen einen Trochäus, wie L i e b e  Ž , r o l l e n  Ž u. s. w. hält, gewissermaßen dem Spondeus   nähert, indem er sich nicht ganz zum Fall niedersenkt, sondern sich gleichsam s c h w e b e n d erhält. Der K r e t i k u s  Ž  ist mit Recht stolz auf seinen Gang, und weicht nur dem C h o r i a m b u s  Ž Ž  , nicht aber dem Spondeus   , an Harmonie und Wohlklang; beide der Choreus  Ž , und Kretikus  Ž  lassen also ihre Stimme vernehmen: Und hörte nicht Choreos dich stets?

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Hat er nicht oft Sponda’s schwebenden Gang? Geht sie denn, Kretikos tönt’s, meinen Gang? Dir Choriamb weich’ ich allein! Durch diese Anspielung wird der Choriambus  Ž Ž  aus seinem Schlummer geweckt:

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Da sang der Laute Silbergesang Choriambos: ich bin Smintheus Apolls Liebling! mich lehrte sein Lied Hain und Strom, Mich, da es flog nach dem Olymp.

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Es ist ein artiges Spiel, daß der Choriambus d e r L a u t e S i l b e r g e s a n g heißt, und S i l b e r g e s a n g  Ž Ž  selbst ein Choriambus ist, so wie m i c h , d a e s f l o g  Ž Ž  n a c h d e m O l y m p  Ž Ž . Der Anapäst Ž Ž  , der Jambus Ž  , der Bachius Ž   , der Didymeus Ž Ž  Ž , und die übrigen Peone, fangen nun alle an, laut zu werden, um den Dichter über den Verlust von Sponda zu trösten, und sich ihm dafür geltend zu machen. Der Anapäst Ž Ž  beruft sich auf den P i n d a r , daß ihn dieser zu seinem Lieb-ling gewählt habe; der Jambus stützt sein Ansehen darauf, daß er vorzüglich von den t r a g i s c h e n Dichtern gebraucht sey; und der Bachius Ž   , daß er nie mit dem Daktylus  Ž Ž und Choriambus  Ž Ž  im lyrischen Gedicht zugleich ertöne; der Dydimeus Ž Ž  Ž und die übrigen Peone  Ž Ž Ž , Ž  Ž Ž , Ž Ž Ž  , berufen sich auf ihre S c h n e l l i g k e i t , wodurch sie den Flug des Dithyramben mit sich fortreißen. Der Anapäst hebt an: Erkohr nicht Smintheus Pindarus mich Anapäst, da er der Saite Getön Lispeln ließ? – Jambus, Apolls alter Freund, Hielt sich nicht mehr, zürnt’, und begann: Und geh nicht ich den Gang des Kothurns: Wo… Bacheos schritt im lyrischen Tanz:

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Stolze, schweigt! Ha, Choriamb töntest du, Daktylos, du, tönt’ ich nicht mit?

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Mit leichter Wendung eilten daher Didymeos, und Peone daher: Flöge Thyrs’ und Dithyramb schnell genug, Rissen ihn nicht wir mit uns fort? Aber dem Dichter gnügt das nicht: er seufzt immer noch nach Sponda, und schickt den Pyrrhichius Ž Ž , den L ä u f f e r , nach ihr aus, der sie in dem Haine suchen soll.

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Ach Sponda! rief der Dichter, und hieß In den Hain nach ihr Pyrrhichios gehn. Flüchtig sprang, schlüpft’ er dahin! Also wehn Blüthen im May Weste dahin. Soll diese feine Allegorie vielleicht eine Anspielung auf das Geheimniß der S i l b e n s t e l l u n g seyn, wodurch wir allein den S p o n d e u s , so wie alle übrigen metrischen Füße, hervorbringen? denn wirklich ist es der Pyrrhichius Ž Ž , oder der Fall des vorhergehenden Daktylus  Ž Ž , durch welchen sich im deutschen Hexameter ein v o l l e r Spondeus bildet, als: Hoch aus den Wolken er t ö n t G o t t deine ge waltige Stimme.

 Ž Ž  Ž Ž

 Ž Ž  Ž Ž  Ž Hier ist t ö n t G o t t ein r e i n e r Spondeus   : denn Gott kann 25

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 

gegen t ö n t nicht kurz seyn, weil das Substantivum gegen das Verbum nothwendig lang ist, und t ö n t kann wieder gegen Gott nicht kurz seyn, weil es durch die v o r g e s c h o b n e k u r z e S i l b e , einmal nothwendig lang ist. Ohne eine solche v o r g e s c h o b n e k u r z e S i l b e wenigstens kann nun im Anfange eines Verses nicht leicht ein reiner Spondeus hervorgebracht werden, auf welchen wieder ein Spondeus oder ein Daktylus folgte; ausgenommen wenn ich R e d e t h e i l e v o n g l e i c h e m p r o s o d i s c h e n We r t h e nebeneinander stelle, welches doch der Sinn nur selten leidet, als:

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H e r r ! G o t t ! g r o ß ist dein Name;

 

 Ž Ž

 Ž

g r o ß , s c h ö n , edel ist’s Brüdern ver zeihen.

   Ž Ž

 Ž Ž  Ž Ich kann zwar auch einen S p o n d e u s   hervorbringen, indem

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  Ž   Ž

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ich einen Redetheil folgen lasse, der gegen den vorhergehenden eigenlich kurz wäre, aber dessen erste Silbe durch eine g a n z k u r z e Endsilbe, e , e n u. s. w. nothwendig lang gemacht wird, als: Sanft rollen, Gott siehet. 10

Aber diese Art von Spondeus taugt nicht zum Hexameter, wo wegen des folgenden Daktylus  Ž Ž , immer drei lange Silben müssen zusammengebracht werden. Und dieses kann dadurch geschehen, wenn man einer Silbe, die gegen die folgende eigentlich kurz wäre, eine noch kürzere Vorschlagssilbe vorschiebt, wodurch sie nothwendig lang gemacht wird, als a u f d i c h h o f f t Ž   . Das Pronomen d i c h ist kurz gegen das Verbum h o f f t , aber es ist wieder lang gegen die Präposition a u f , und weil es durch diese einmal zuerst verlängert ist, so kann es durch das Verbum nicht wieder verkürzt werden. Hieße es hingegen h o f f t a u f d e n , so wäre a u f gegen das vorhergehende Verbum einmal kurz, und könnte durch den nachfolgenden Artikel, wogegen es eigentlich lang ist, nicht wieder verlängert werden; h o f f t a u f d e n würde daher ein Daktylus  Ž Ž seyn. Sollen nun drei oder vier oder mehrere Längen zusammengestellt werden, so müssen entweder Redetheile von e i n e r l e i p r o s o d i s c h e m We r t , oder sie müssen in steigender Ordnung aufeinander folgen: Auf dich hofft stark, Gott! meine ge ängstete Seele.

Ž  

 

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 Ž Ž  Ž Ž  Ž

Hier folgt auf die Präposition das Pronomen, auf das Pronomen das Verbum, auf das Verbum das Adjektivum, und auf dieß das Substantivum: jeder dieser Redetheile ist gegen den auf ihn folgenden eigentlich kurz, wird aber durch den vorhergehenden noch kürzern wieder lang gemacht.

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Von dir ist schon laut donnernd das Urtheil er schollen.

Ž  

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 

 Ž Ž

 Ž Ž

 Ž

Hier folgt auf die Präposition das Pronomen, auf das Pronomen das Hülfsverbum, auf das Hülfsverbum das Adverbium, auf das Adverbium das Adjektivum, und auf dieß das Ver-bum, welches zwar dagegen eigentlich kurz wäre, dessen erste Silbe d o n aber durch die kurze Endsilbe wieder nothwendig lang gemacht wird. Und auf die Weise sind nun, vermittelst der S t e i g e r u n g d e r R e d e t h e i l e , vier Längen zusammengestellt, an welche sich noch die fünfte, welche durch die kurze Endsilbe in d o n n e r n d bewirkt wird, anschließt. Weil aber so viel aufeinanderfolgende Längen nothwendig aus lauter e i n s i l b i g t e n W ö r t e r n bestehen müssen, so ist ihre Zusammenstellung schwer; indes ist sie doch möglich, und würde in unserm deutschen Hexameter, auch nur sparsam angebracht, von vortrefflicher Wirkung seyn. Unser deutscher Hexameter sollte fast aus lauter Daktylen bestehen, die nur hie und da einmal durch einen wirklichen Spondeus unterbrochen würden, wod u r c h d e r Ve r s v o l l t ö n i g w ü r d e ; d e n n d e r Tr o c h ä u s macht ihn doch im Grunde matt und schleppend; und unsre deutschen trochäischen Hexameter sind im Grunde nichts, als sechsfüßige mit Daktylen unterm i s c h t e Tr o c h ä e n , d i e a n s i c h e i n e r e c h t g u t e Ve r s a r t seyn mögen; aber Hexameter sind sie nicht. Der Dichter folge also bei dem Bau des deutschen Hexameters dem einladenden Ruf des Daktylus  Ž Ž :

     Bilde mich Oft zu Homers fliegendem Hall! 30

Denn wenn auch gleich der Choreus  Ž oft den schwebenden Gang des Spondeus hat, so kann er doch nie ein wirklicher Spondeus werden, sondern senkt sich beständig zum Fall, wovon ihn die stärkere Anzahl der einzelnen Laute, woraus die Silbe besteht nicht empor

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Prosodie und Stilistik

halten kann. In unserm Versbau fällt mit der Wichtigkeit des Begriffes zugleich unwiderstehlich das Silbenmaß; wollen wir dieß also nicht sinken lassen, so müssen wir die B e g r i f f e sich gleichsam e i n a n d e r d i e Wa g e h a l t e n d zu stellen suchen. In einem einzelnen mehrsilbigten Worte aber ist dieß unmöglich, weil sich der B e g r i f f s i l b e die übrigen von selbst unterordnen, und keine der über ihr stehenden das völlige Gleichgewicht halten kann. G e s i c h t s k r e i s e und G e r i c h t s d o n n e r können daher nicht wie Antispaste Ž   Ž sondern müssen wie s c h w e r e Peone Ž  Ž Ž betrachtet werden. Denn wenn die Silben einmal im Fall begriffen sind, so verliert sich der Unterschied zwischen dem Kurzen und Kürzern, und beides wird unwiderstehlich durch d e n F a l l m i t f o r t g e r i s s e n . Doch leidet diese Regel auch ihre Einschränkungen, weil wir sonst der Kürzen, verhältnismäßig gegen die Längen, zu viel bekommen würden. Wir müssen daher einige Ausnahmen festzusetzen suchen, die nicht willkürlich angenommen, sondern in der Natur der Sache gegründet sind. Es kömmt nehmlich in Ansehung des v e r k ü r z e n d e n S i l b e n f a l l s vorzüglich darauf an, wie sich die f a l l e n d e S i l b e gegen die vorhergehende, a l s R e d e t h e i l , verhält? Drückt sie eine bloße Modifikation der Begriffssilbe in einem und ebendemselben Worte aus, so kann sie eigentlich nie gegen die Begriffssilbe lang werden, wenn sie auch gleich wegen der Anzahl ihrer einzelnen Laute mehr Zeit, als diese, zu ihrer Aussprache erforderte; Wa h r h e i t e n  Ž Ž bleibt immer ein Daktylus, nur gehört er nicht unter die wohklingendsten; auch ist es immer besser wenn solche Wörter wie Wa h r h e i t , U n m u t h , Wo h l k l a n g , u. s. w. zu Tr o c h ä e n , als wenn sie durch Hinzufügung noch einer kurzen Silbe zu Daktylen gebraucht werden; denn in U n m u t h z u d ä m p f e n  Ž Ž  Ž z. B. ist U n m u t h z u ein hart klingender Daktylus, ob man gleich nicht sagen kann, daß er u n r i c h t i g ist. Hier ist nun der Punkt, wo die prosodischen Regeln in die Lehre vom p o e t i s c h e n Wo h l k l a n g e eingreifen, auf den ich jetzt eine

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kleine Abschweifung machen will. Alle die zweisilbigten Wörter, welche sich auf b a r , h a f t , h e i t , l e i n , s a l , s a m , s c h a f t und t h u m endigen, als f r u c h t b a r , z a g h a f t , K i n d h e i t , B ü c h l e i n , Tr ü b s a l , m ü h s a m , F r e u n d s c h a f t , R e i c h t h u m , lassen sich besser zu Trochäen, als zu Daktylen brauchen; wenn sie zu Daktylen gebraucht werden, so muß die hinzugefügte kurze Silbe sich wenigstens m i t e i n e m Vo k a l anfangen, als:

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Reichthum und Ehre  Ž Ž  Ž , F r e u n d s c h a f t i m To d e  Ž Ž  Ž ; Wa h r h e i t z u l e h r e n  Ž Ž  Ž hingegen würde äußerst hart klingen. Eben dieß gilt nun auch von den z u s a m m e n g e s e t z t e n W ö r t e r n , die den Accent auf der ersten Silbe haben, als U n m u t h , Tr o s t g r u n d , A u f r u h r , welche sich auch besser zu Trochäen, als zu Daktylen brauchen lassen; wenn sie aber zu Daktylen gebraucht werden, wenigstens immer eine kurze Silbe, die mit einem Vokal anhebt, nach sich erfordern, als: U n m u t u n d K l a g e  Ž Ž  Ž , Tr o s t g r u n d i m To d e  Ž Ž  Ž , A u f r u h r i m I n n e r n  Ž Ž  Ž ; in Tr o s t g r u n d d e s We i s e n  Ž Ž  Ž würde Tr o s t g r u n d d e s ein schlechterdings unerträglich harter Daktylus seyn. Die zweisilbigten Wörter hingegen, welche sich auf l i c h , s a l , z i g u n d ß i g endigen, als f r e u n d l i c h , We c h s e l , h i t z i g , f l e i ß i g , lassen sich eben so gut zu Daktylen als zu Trochäen brauchen, ohne daß sie im erstern Fall gerade nothwendig eine kurze Silbe, die sich mit einem Vokal anhebt, nach sich erfordern; in We c h s e l d e s S c h i c k s a l s  Ž Ž  Ž ist We c h s e l d e s ein reiner und wohlklingender Daktylus, ob es gleich überhaupt den Wohlklang vermehrt, wenn man, so oft wie möglich, auf eine Silbe die sich auf einen Konsonant endigt, eine die sich mit einem Vokal anhebt, folgen läßt. Alles was nun von den zweisilbigten Wörtern in Ansehung des poetischen Wohklangs gilt, das gilt auch von den d r e i s i l b i g t e n m i t e i n e r k u r z e n Vo r s c h l a g s s i l b e , als G e w o h n h e i t , B e -

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t r ü b n i ß , e n t s e t z l i c h u. s. w. Denn die kurze Vorschlagssilbe verändert nichts in dem Verhältniß der folgenden Silben gegen einander, ob sie gleich das Wort um eine Silbe vermehrt; und wird nun das Wort am Ende um eine Silbe vermehrt, so kann auch diese in dem Verhältniß der beiden vorhergehenden Silben gegeneinander nichts verändern, als G e w o h n h e i t e n Ž  Ž Ž , e n t s e t z l i c h e Ž  Ž Ž ; die Silbe h e i t kann gegen die Silbe w o h n in Gewohnheit, unmöglich lang werden, ob sie gleich gegen die kurze Silbe e n offenbar lang ist. Einen Fall giebt es indes wo in einem und ebendemselben Worte zwei Längen nebeneinander gestellt werden können, der als eine Ausnahme von der Regel zu betrachten ist, wenn nehmlich auf die fallende Silbe selbst noch zwei kurze Silben folgen, als f r e u n d s c h a f t l i c h e Wa r n u n g   Ž Ž  Ž ; hier ist die Silbe s c h a f t , welche gegen f r e u n d kurz ist, durch die darauf folgenden b e i d e n K ü r z e n nothwendig lang; oder vielmehr, dasjenige, wodurch sie verkürzt wird, wird von dem ü b e r w o g e n , wodurch sie verlängert wird; sie erhält daher mit der Silbe f r e u n d gleichen prosodischen Werth, und f r e u n d s c h a f t l i c h e n bildet daher einen wahren J o n i k u s a m a j o r i oder N a c h s c h l ä g e r   Ž Ž . Es giebt in unsrer Sprache Wörter, welche in keiner Zusammenstellung irgend eines poetischen Wohlklanges fähig sind, als S c h w a t z h a f t i g k e i t  Ž Ž  , welches seiner Natur nach ein Choriambus ist, der aber wegen der in der Mitte gehäuften Konsonanten, allen seinen Wohlklang verliert; eben so wie der Choriambus, welcher in G e r e c h t i g k e i t s l i e b e Ž  Ž Ž  Ž , gehört wird, und der noch schwerfälliger, als der vorhergehende, ist, weil die Silbe k e i t s sogar gegen die B e g r i f f s s i l b e l i e in L i e b e kurz wird, da sie sonst ihrer Natur nach eigentlich lang ist, weil sie am Ende eines Worts nie unmittelbar nach der Begriffssilbe, sondern immer erst nach einer noch unbedeutendern Modifikationssilbe gesetzt wird, als F r e u n d l i c h k e i t  Ž  , G e r e c h t i g k e i t Ž  Ž  , gegen die Silben f r e u n d und r e c h t in dieser Zusammenstellung würde k e i t k u r z seyn, aber gegen l i c h und i g ist es lang.

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Eben so sind nun auch die Silben h e i t , u n g , b a r , h a f t , s c h a f t und t h u m lang, sobald sie nicht unmittelbar nach der Begriffssilbe stehen, und sobald die darauf folgende Silbe gegen die, welche wieder auf sie folgt, kurz ist, als: Tr o c k e n h e i t u n d L e e r e  Ž  Ž  Ž ; Belei digung zu rächen Ž  Ž  Ž  Ž ; wunder bar ge macht  Ž  Ž  ; tugend haft zu wandeln  Ž  Ž  Ž ; Rechen schaft zu geben  Ž  Ž  Ž . Ist aber die folgende Silbe gegen die wieder auf sie folgende lang, als z. B. g e in g e b e n , w a n in w a n d e l n u. s. w. so werden auch die Silben h e i t , k e i t , u n g , s c h a f t , u. s. w. wieder kurz, als R e c h e n schaft geben  Ž Ž  Ž , tugendhaft wandeln  Ž Ž  Ž , Beleidigung rächen Ž  Ž Ž  Ž . Lang sind die Silben h e i t , k e i t , u n g , u. s. w. beständig, wenn sie nicht unmittelbar nach der Begriffssilbe stehen, und das Wort am Ende um eine Silbe vermehrt wird, als S e l i g k e i t e n  Ž  Ž , B e l e i d i g u n g e n Ž  Ž  Ž ; die Silben k e i t und u n g ragen hier zwischen den g a n z k u r z e n Silben i g und e n gleichsam wieder wie neue Begriffssilben hervor, da sie doch im Grunde nur eine H a u p t m o d i f i k a t i o n der Begriffssilbe bezeichnen. Hieher gehören auch die Wörter S o n d e r l i n g , K ö n i g i n , u. ähnliche, wenn sie am Ende um eine Silbe vermehrt werden, als S o n d e r l i n g e  Ž  Ž , K ö n i g i n n e n  Ž  Ž ; aber nicht F ü r s t i n n e n Ž  Ž , sondern F ü r s t i n n e n  Ž Ž , so wie ich sage L e n k u n g e n  Ž Ž , J ü n g l i n g e  Ž Ž , weil hier die Silben i n , u n g und i n g u n m i t t e l b a r nach der Begriffssilbe stehen, gegen welche sie unmöglich lang seyn können. Doch ich kehre nach dieser Abschweifung wieder zu den Ausnahmen zurück, welche in Ansehung des v e r k ü r z e n d e n S i l b e n f a l l s festzusetzen sind. Eine davon ist schon das angeführte Beispiel f r e u n d s c h a f t l i c h e , wo die fallende Silbe s c h a f t durch die darauf folgenden b e i d e n K ü r z e n wieder empor gehalten, und der Silbe f r e u n d in Ansehung ihrer Dauer gleich gesetzt wird, da sonst in einem und ebendemselben Worte eigentlich nie zwei Längen nebeneinander statt finden können.

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Lassen Sie uns nun die übrigen Fälle durchgehen, in welchen die fallende Silbe emporgehalten, und der ihr vorangehenden Länge gleich gemacht werden kann: einen von diesen Fällen hab’ ich ebenfalls berührt; es ist nehmlich der, wenn die f a l l e n d e S i l b e die erste eines zweisilbigten Worts ist, das sich mit einer g a n z k u r z e n Silbe endigt, wodurch die erste n o t h w e n d i g lang gemacht wird, als: sanft rollen   Ž , Gott siehet   Ž . In Ansehung der einsilbichten Wörter aber ist nun zu bemerken, daß einige sich ihrer Natur nach, gar nicht, andre m e h r , u n d a n d e r e w e n i g e r z u m F a l l n e i g e n . Zu denen, die sich gar nicht zum Fall neigen, gehören das S u b s t a n t i v u m , A d j e k t i v u m ; zu denen die sich weniger zum Fall neigen, gehören das Ve r b u m , die I n t e r j e k t i o n , und das A d v e r b i u m , als Redetheile, die in Ansehung des prosodischen Werths, mit dem Substantivum und Adjektivum gleichsam den e r s t e n R a n g behaupten; zu denen, die sich mehr zum Fall neigen, gehören das H ü l f s v e r b u m , d i e K o n j u n k t i o n , d a s P r o n o m e n , d i e P r ä p o s i t i o n , und d e r A r t i k e l , als Redetheile, oder prosodische Silben, vom z w e i t e n Range. Fügt es sich nun, daß eine p r o s o d i s c h e S i l b e v o m e r s t e n R a n g e , also Verbum, Interjektion, oder Adverbium, die fallende Silbe ist, so kann diese leicht emporgehalten, oder durch e i n e darauf folgende Kürze, der vorangehenden Länge gleich gemacht werden, als: sanft rollt der Strom hin   Ž  Ž, Gott, ach! wie groß   Ž , ach! schon ertönt   Ž .

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Ist aber eine p r o s o d i s c h e S i l b e v o m z w e i t e n R a n g e , also ein Hülfsverbum, Konjunktion, Pronomen, Präposition, oder Artikel, die fallende Silbe, so kann sie in ihrem Fall, zu welchem sie sich schon

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ihrer Natur nach neigt, nicht so leicht emporgehalten werden, sondern wird mit einer ihr nachfolgenden Kürze zugleich durch den Fall unwiderstehlich fortgerissen, so daß sie ihre Länge gegen dieselbe nicht mehr behaupten kann, sondern mit ihr g l e i c h k u r z wird, als: Nun i s t die Zeit ent flohn  Ž Ž  Ž , Ach! w e n n der Tag kömmt

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Bin i c h ver lassen  Ž Ž  Ž, Wenn a u f den Hügeln  Ž Ž  Ž, Als d e r Ver laßne  Ž Ž  Ž. Der v e r k ü r z e n d e S i l b e n f a l l aber kann die L ä n g e nur der Kürze gleich machen, wenn sie v o r und nicht wenn sie n a c h derselben steht, als w e r a u f d i c h h o f f t  Ž   . Hier läßt sich das Pronomen d i c h , welches durch die v o r a n g e h e n d e Präposition einmal l a n g ist, durch den Silbenfall nicht mit verkürzen, sondern wird der folgenden langen Silbe, gegen die es sonst eigentlich kurz wäre, an Dauer gleich. In Ansehung des Silbenfalls ist nun noch folgendes vorzüglich zu bemerken: wenn sich einer der höhern Redetheile, auf welchen eine kurze Silbe folgt, mit einer g a n z k u r z e n S i l b e , e r , e n , oder e , u. s. w. endigt, so wird diese Endsilbe in dem S i l b e n f a l l v e r schlungen, und in prosodischer Rücksicht betrachtet, a l s o b s i e g a r n i c h t d a w ä r e , als: Wenn der Schimmer von dem Monde nun herab, Die Silbe e r in S c h i m m e r hat hier nicht die Kraft, die folgende Silbe, welche doch eigentlich das prosodische Uebergewicht gegen sie hat, zu verlängern, weil sie durch den Silbenfall verschlungen und u n k r ä f t i g gemacht wird, und die folgende Silbe, weil sie eine Präposition, und also eine p r o s o d i s c h e S i l b e v o m z w e i t e n R a n -

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g e ist, sich schon von selbst gegen das vorhergehende Substantivum zum Fall neigt. Hier habe ich also erst Ihrem Einwurfe in Ansehung der angeführten Klopstockschen Silbenmaße begegnen können, die ich w e g e n d e s v e r k ü r z e n d e n S i l b e n f a l l e s nicht wie Trochäen lesen kann, ausgenommen d e n e r s t e n A n f a n g : w e n n d e r , welcher ein Trochäus bleibt, weil nichts v o r h e r g e h t , wodurch w e n n verkürzt und mit dem Artikel d e r , gegen den es seiner Natur nach lang ist, gleich schnell fortgerissen würde. Der Anfang der folgenden Verse muß immer an das Ende des ersten angeschlossen werden, um den f o r t l a u f e n d e n Silbenfall zu rechtfertigen; und so lese ich nun nicht willkürlich, sondern nach festen und bestimmten prosodischen Regeln:

 Ž Ž Ž

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Ž Ž Ž Ž

   

Ž Ž Ž Ž

Ž Ž Ž Ž

Ž  Ž Ž Ž  Ž  Ž Ž  Ž Ž  Ž 

Wenn der Schimmer von dem Monde nun herab In die Wälder sich ergießt, und Gerüche Mit den Düften von der Linde In den Kühlungen wehn – Hiermit will ich aber gar nicht läugnen, daß die Klopstockischen Silbenmaße nicht zuweilen w i l l k ü r l i c h sind, wie z. B. folgende Silbenstellung, in der Ode d i e h ö c h s t e G l ü c k s e l i g k e i t : welcher Gedank hebt ihn, denket er dich!

 Ž Ž 

 

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 Ž Ž 

Hier kann die fallende Silbe h e b t , als ein Verbum, oder als eine prosodische Silbe vom ersten Range, gegen das vorangehende Substantivum, durch eine darauf folgende Kürze wohl emporgehalten werden; aber die darauf folgende Kürze selbst, das Pronomen i h n , wird durch keine darauf folgende Kürze wieder vom Fall emporgehalten, sondern vielmehr durch das Verbum d e n k t , als eine prosodische Silbe vom ersten Range, aufs neue niedergedrückt, und kann

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daher auf keine Weise lang seyn; der Spondeus   h e b t i h n , ist daher kein wirklicher, sondern ein bloß willkürlich angenommener Spondeus. Folgende Silbenstellung hingegen am Schluß der Ode ist nach den prosodischen Regeln völlig richtig: es ist nur Glück seligkeit auch.

Ž 

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 

 Ž Ž 

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Hier findet jene S t e i g e r u n g d e r R e d e t h e i l e statt, wodurch die Zusammenstellung mehrerer Längen am besten bewirkt werden kann: auf das Pronomen folgt das Hülfsverbum, auf das Hülfsverbum das Adverbium, und auf dieß das Substantivum, also immer ein höherer Redetheil auf einen niedrigern, und die Silbe s e e l in G l ü c k s e e l i g k e i t wird auch, ob sie gleich gegen die vorangehende Begriffsilbe des Wortes f ä l l t , durch die darauf folgenden z w e i K ü r z e n wieder emporgehalten, und erhielt mit der Silbe G l ü c k eine gleiche Dauer. Durch den v e r k ü r z t e n S i l b e n f a l l können also füglich d r e i u n d m e h r e r e k u r z e S i l b e n nebeneinander gestellt werden, wie in dem folgenden Klopstockschen Versmaß zu der Ode, der S c h l a c h t g e s a n g , die im dritten Buche der Oden die zwölfte ist:

 Ž Ž Ž

Ž Ž Ž Ž

 Ž Ž Ž

Ž   

 Ž Ž Ž

Ž  Ž Ž

 Ž Ž 

Ž Ž  Ž

   Ž  Ž Ž  Ž Ž Ž  Ž

Mit herab zu großer Thaten Ernst! Z u d e r u n sterblichen Rettung Ruhm! D i e a m G e birg u n s b e i d e m Strom stolz erwarten, U n d i m G e filde der Schlacht mit dem Donner in dem Arm stehen, O Tyrannenknechte sind sie nur! u. s. w. Die hier nebeneinandergestellten Kürzen sind lauter p r o s o d i s c h e Silben vom zweiten Range, die in Ansehung ihres pros o d i s c h e n We r t h s n i e d e r w ä r t s s t e i g e n , als z u d e r u n , Präposition, Artikel, Vorschlagssilbe; d i e a m G e , Pronomen, Prä-

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Prosodie und Stilistik

position, Vorschlagssilbe; u n s b e i d e m , Pronomen, Präposition, Artikel; u n d i m G e , Konjunktion, Präposition, Vorschlagssilbe. In der S i l b e n s t e i g e r u n g , wenn man mehrere Längen, und in dem S i l b e n f a l l , wenn man mehrere Kürzen nebeneinander stellen will, liegt also das Geheimniß unsers Versbaues. Die Steigerung aber und der Fall richten sich immer nach dem prosodischen Werth der Redetheile. Der verkürzende Silbenfall muß vor dem Schluß des einen Verses auf den Anfang des andern übertragen werden, wenn er sich nicht wieder verlieren soll. – Wenn k u r z , l a n g , l ä n g e r , und n o c h l ä n g e r aufeinander folgen, so wird alles was nach k u r z steht gleich lang, und wenn l a n g , k u r z , k ü r z e r , und n o c h k ü r z e r aufeinander folgen, so wird alles, was nach l a n g steht, gleich kurz, als: Nun i s t m i r a u f d e r Welt keine Hoffnung ge blieben;

 Ž Ž

Ž Ž   Ž  Ž Ž  Ž wo neben den Daktylus  Ž Ž ein Anapäst  Ž Ž gestellt ist, und

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auf die Weise v i e r k u r z e S i l b e n , i s t m i r a u f d e r nebeneinandergestellt sind, die durch das absteigende Verhältniß H ü l f s v e r b u m , P r o n o m e n , P r ä p o s i t i o n und A r t i k e l , und also durch den natürlichen Silbenfall hervorgebracht werden. Sie können mir einwerfen, daß wir uns durch diesen festgesetzten Silbenfall das trochäische Versmaß verleiden, welches sich nothwendig immer von seinem Fall wieder erheben muß; und wo wir denn Trochäen her bekommen werden, wenn v o n d e m M o n d e , i n d i e W ä l d e r u. s. w. keine Dichoreen  Ž  Ž sondern Didymeen Ž Ž  Ž seyn sollen? – Ich antworte hierauf, daß i n d i e W ä l d e r z. B. allerdings ein eigentlicher Dichoreus  Ž  Ž ist, sobald man es für sich allein betrachtet, und daß es nur durch die Zusammenstellung zum Didymeus Ž Ž  Ž wird; in folgender Zusammenstellung ist es ein vollkommner Dichoreus  Ž  Ž Von dem Donner Tönt der Nachhall in die Wälder.

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 Ž  Ž

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 Ž  Ž

Der v e r k ü r z e n d e S i l b e n f a l l findet hier nicht statt, weil das Substantivum N a c h h a l l sich nicht wie S c h i m m e r oder M o n d e auf eine ganz kurze Silbe endigt, die in dem Silbenfall v e r s c h l u n g e n werden könnte. Die Silbe h a l l in N a c h h a l l steht als bloße Anhangssilbe zwar allen übrigen Redetheilen, in Ansehung des prosodische Werths, nach; aber sie hat demohngeachtet zu viel Gewicht, als daß sie so betrachtet werden könnte, als ob sie gar nicht da stände; jede folgende Silbe wird daher gegen sie lang, wenn sie nicht durch noch eine folgende wieder verkürzt wird, oder eine bloße Vorschlagssilbe ist, als N a c h h a l l e r t ö n e t  Ž Ž  Ž . Um den v e r k ü r z e n d e n S i l b e n f a l l , wo man will, zu verhindern, darf man also nur Wörter mit l a n g t ö n e n d e n A n h a n g s s i l b e n , als N a c h h a l l , Wa h r h e i t , m ü h s a m , u. s. w., auswählen, als:

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Wahrheit zu ver künden,

 Ž  Ž  Ž

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wo die Silbe h e i t den Silbenfall verhindert, und macht, daß z u gegen v e r lang bleibt, und also ein trochäisches Versmaß entsteht, da hingegen: Liebe zu verkünden

 Ž Ž Ž  Ž

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schon kein reines trochäisches Versmaß ist, weil die g a n z k u r z e Endsilbe e in L i e b e , den verkürzenden Silbenfall nicht verhindern kann, wodurch z u gegen v e r seine Länge verliert, und also ein Trochäus  Ž in einen Pyrrhichius Ž Ž verwandelt wird. Auch muß wenn das Versmaß einmal trochäisch ist, der Silbenfall nicht von dem Schluß des einen Verses auf den Anfang des folgenden übertragen werden, weil sonst Pyrrhichien Ž Ž unvermeidlich seyn würden, als Und erleichtre meinen Gang M i t G e bet und mit Gesang,

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225

Prosodie und Stilistik

wo m i t g e ein Pyrrhichius Ž Ž seyn würde, sobald es gegen G a n g gestellt würde, und nicht für sich einen ganz neuen Anfang machte: u n d m i t würde auch durch den Silbenfall kurz seyn wenn u n d nicht von den übrigen Konjunktionen ausgenommen, und gegen das Pronomen sowohl als die Präposition kurz wäre, sobald es nicht eigentlich zum Verbum gehört, als i c h u n d d u  Ž  , a u f u n d a b  Ž . Sobald ich: Auf den Höhen, in den Thälern wie einen fortlaufenden Vers lese, so sind dieß keine reine Trochäen, sondern i n d e n wird durch den verkürzenden Silbenfall in einen Pyrrhichius Ž Ž verwandelt; setze ich aber die Zeilen ab: Auf den Höhen, In den Thälern, und übertrage den Silbenfall nicht auf die zweite Zeile, so erhalte ich wieder reine Trochäen. In Rosen a u f d e n Weg gestreut Und des Harms vergessen, ist a u f d e n kein Trochäus, sondern ich muß lesen, Rosen auf den Weg gestreut.

 Ž

226

Ž Ž 

5

10

15

20

Ž 

Das folgende hingegen: Eine kurze Spanne Zeit Ward uns zugemessen, sind lauter reine Trochäen, woran es uns nie fehlen kann, weil wir eine so große Menge Wörter haben, die schon von selbst natürliche Trochäen bilden, als L i e b e , F r e u d e , s a n f t e , g u t e , u. s. w. In der Ramlerschen Ode an die Liebe, die sich anhebt: Liebe, die du Götter oft um Schäfer tauschest, sind die Trochäen  Ž häufig mit Pyrrhichien Ž Ž untermischt, wie z. B. gleich in der ersten Zeile:

25

30

Versuch einer deutschen Prosodie

339

Liebe die du Götter,

 Ž Ž Ž Ž 

5

10

15

20

wo d i e d u durch den verkürzenden Silbenfall hingerissen, gleich kurz wird, obgleich d i e d u beides Pronomina und also Silben von g l e i c h e m p r o s o d i s c h e n R a n g e sind. So wie in der Silbensteigerung, oder im Anfange ein e s Ve r s e s , z w e i S i l b e n v o n g l e i c h e m p r o s o d i s c h e n Range zwei Längen ausmachen, so machen sie in dem Silbenfall zwei Kürzen aus. Dieß letztre aber findet nur bei den prosodischen Silben vom zweiten Range, bei dem Hülfsverbum, der Konjunktion, dem Pronom e n , d e r P r ä - p o s i t i o n u n d d e m A r t i k e l s t a t t , von welchen eigentlich nur das Pronomen unmittelbar nebeneinander stehen kann; denn zwei Hülfsverba, zwei Konjunktionen, zwei Präpositionen und zwei Artikel, können nicht wohl zusammenstehen. Die Pronomina haben alle unter sich gleichen prosodischen Werth, ausgenommen das Pronomen e s , welches unter der Präposition steht, und nicht mehr, als der Artikel gilt, weil es gleichsam nur wieder ein Abdruck des Pronomens, so wie dieses ein Abdruck eines vorhergegangenen Substantivums ist, als: Bist du es in den Wolken,

227

 Ž Ž  Ž  Ž

25

30

wo e s den noch allgemeinern Begriff von d u ausdrückt, welches an sich selbst schon einen allgemeinen Begriff bezeichnet, so daß e s wie ein Pronomen von einem Pronomen zu betrachten ist; daher ist es denn auch gegen das eigentliche Pronomen d u , und gegen die folgende Präposition i n nothwendig kurz. Und wenn dieß e s auch an und für sich ein eigentliches Pronomen und der Abdruck eines vorhergegangenen Hauptbegriffs ist, als: Hast du es ihm ent deckt,

 Ž Ž

 Ž



228

340

Prosodie und Stilistik

so hat es doch einen s c h w ä c h e r n B e g r i f f , als die übrigen Pronomina, weil es gar keine Persönlichkeit, sondern nur einen ganz allgemeinen S a c h b e g r i f f bezeichnet; daher macht es also mit Recht eine Ausnahme von den übrigen Pronominibus, und ist gegen dieselben und gegen die Präposition, in jeder Zusammenstellung kurz, als:

5

Hast du es in die Luft gestreut.

 Ž Ž 

Ž 

Ž

Wenn sich sonst zwei Pronomina im Anfange eines Verses, oder in der Silbensteigerung zusammenfinden, so machen sie, wie schon gesagt, zwei Längen aus, als:

10

Du des sen Au gen flos sen,

 

Ž 

Ž 

Ž

wo d u d e s kein Jambus seyn kann, weil das eine Pronomen gegen das andre nie kurz wird: in 229

15

Die, welche Dich gebahr,

  Ž  Ž  ist d i e w e l ebenfalls ein Spondeus   , weil d i e und w e l c h e beides Pronomina, und d i e und w e l daher Silben von gleichem prosodischen Werthe sind. Dieß ist also wiederum eine neue Art, wie gleich vom Anfange eines Verses an, auch ohne eine kurze Vorschlagssilbe, und also ohne Silbensteigerung, der Spondeus hervorgebracht werden kann, als: Der du gern den Ver wundeten heilest.

 

 Ž Ž

 Ž Ž

 Ž

20

25

Sobald d e r d u hingegen in den Silbenfall gerathen, werden sie kurz, als: Gott, der du gern.

 Ž Ž  Wir haben also dreierlei Wege, mehrere Längen zusammenzubringen: durch die S i l b e n s t e i g e r u n g , durch den e m p o r g e h a l t -

30

Versuch einer deutschen Prosodie

5

10

15

20

25

30

341

n e n S i l b e n f a l l ; und durch die Z u s a m m e n s t e l l u n g g l e i c h e r R e d e t h e i l e ; und dürfen also die von dem Dichter erseufzte Sponda nicht vergeblich aufsu-chen, sondern können, wenn wir wollen, die Versmaße der Alten ganz r e i n in unserm Versbau nachahmen, wie z. B. s a p p h i s c h e : Bäche rollt sanft hin unter grünen Zweigen Wo des Hains Nacht itzt in den schwülen Tagen Eure Fluth sanft kühlt und die leisen Wellen murmelnd sich brechen.

 Ž    Ž Ž  Ž    Ž Ž  Ž    Ž Ž 

   Ž

Ž Ž Ž Ž

   

230

Ž Ž Ž Ž.

Will man diese Verse wie Trochäen lesen: Bäche rollt sanft hin Unter grünen Zweigen, Wo des Hains Nacht itzt Eure Fluth sanft kühlt Und die leisen Wellen Murmelnd sich brechen; so empfindet man das u n e r t r ä g l i c h H a r t e u n d G e z w u n g n e , welches sich verliert, sobald man sie nach dem sapphischen Versmaß ließt. Die Längen aber sind hier theils durch die Zusammenstellung prosodischer Silben von glei-chem Werth, und theils durch den emporgehaltnen Silbenfall vermittelst prosodischer Silben vom ersten Range, zusammengebracht worden, und sind nicht willkürlich angenommen, sondern durch die Silbenstellung nothwendig. U n t e r ist nach h i n als ein Pyrrhichius Ž Ž gebraucht worden, und kann es a l s e i n e z w e i s i l b i g t e P r ä p o s i t i o n , füglicher, als irgend ein andrer Redetheil, der zwei Silben hat. Zuerst deswegen, weil die Präposition von allen Redetheilen, die zwei Silben haben, d e n g e r i n g s t e n p r o s o d i s c h e n We r t h hat; und dann auch des-

231

342

232

Prosodie und Stilistik

wegen, weil wir uns einmal gewöhnt haben, die zweisilbigten Präpositionen in der Zusammensetzung mit Verbis sehr häufig wie zwei Kürzen auszusprechen, als u n t e r s t ü t z e n , w i d e r s p r e c h e n , u. s. w.; und weil es uns nun überdem an reinen Pyrrhichien Ž Ž , die es an und für sich selbst sind, im Anfange eines Verses fehlt, so thun wir wohl, wenn wir die zweisilbigten Präpositionen g e g e n , w i d e r , u n t e r , o h n e , ü b e r , u. s. w. entweder als natürliche Pyrrhichien Ž Ž annehmen, oder uns wenigstens die Freiheit lassen, daß wir uns ihrer nach Gefallen als Trochäen  Ž oder Pyrrhichien Ž Ž bedienen können, ausgenommen in der Zusammensetzung mit den Verbis, wo der Nachdruck nicht auf die Präposition, sondern auf das Verbum fällt, und wo die zweisilbigte Präposition immer wie zwei Kürzen betrachtet werden muß. Auch das A l k a i s c h e Ve r s m a ß läßt sich, durch die Silbenstellung, v o l l s t ä n d i g in unserm Versbau nachahmen, als:

5

10

15

Der wel cher nie freund schaftliche Bande brach,

 

Ž  

 Ž Ž

 Ž 

stets sei nen Eid hielt, nimmer von Treue wich;

 

Ž  

 Ž Ž

 Ž 

der nur genießt einst seines Lebens

 

Ž  

20

 Ž  Ž

süßeste Frucht, den Tri umph des Greises.

 Ž 233

 Ž Ž

 Ž

 Ž

N u r sollte gegen d e r , welches hier nicht der Artikel, sondern das Pronomen ist, als ein Ad- verbium zwar lang seyn, aber es ist von den übrigen Adverbiis, so wie u n d von den übrigen Konjunktionen, und e s von den übrigen Pronominibus, ausgenommen, wenn es nicht sowohl zu dem Verbum gehört, als vielmehr eine bloße Bestimmung eines untergeordneten Redetheils ist; alsdann erhält es mit diesem untergeordneten Redetheile gleichen prosodischen Werth. Dieser Unterschied des einen n u r von dem andern wird durch folgende Beispiele deutlicher werden:

25

30

Versuch einer deutschen Prosodie

343

Wer nur auf dich vertraut

Ž 

Ž 

Ž 

Der nur genießt sein Le ben.

  5

10

15

Ž 

Ž 

Ž

Das erste n u r gehört zu v e r t r a u t , das zweite gehört zu d e r ; darum kann d e r gegen dieß n u r nicht kurz seyn, sondern tönet gleich lang mit ihm. Den ersten Satz kann ich ändern; wer auf dich n u r v e r t r a u t ; aber nicht so den zweiten Satz: der g e n i e ß t n u r sein Leben: denn der zweite Satz soll nicht so viel sagen, daß einer sein Leben n u r g e n i e ß t und es nicht nützt, son-dern daß d e r a l l e i n sein Leben genießt, welcher, u. s. w. Indessen sind die unvollständigen Nachahmungen des alkaischen sowohl als des sapphischen Versmaßes, in unserm Versbau, leichter, und nicht ohne Wohlklang, wie in folgender metrischen Uebersetzung einer horazischen Ode von Ramler: Ich sah den Bachus Afterwelt sag’ es nach!

Ž 

Ž  Ž

 Ž Ž

234

 Ž Ž

Vom fer nen Felsen hallte sein hohes Lied;

Ž  20

Ž  Ž

 Ž Ž

 Ž Ž

Drya den sah’ ich, und mit spitzen

Ž 

Ž  Ž

 Ž

 Ž

Ohren bock füßige Faunen lauschen.

 Ž Ž  Ž Ž 25

30

 Ž

 Ž

Man sieht, es fehlt an L ä n g e n ; darum muß der Jambus Ž  die Stelle des Spondeus   , und der Amphybrachis Ž  Ž die Stelle des Bachius Ž   vertreten: der Spondeus und Bachius aber, womit sich dieser Vers anhebt, sind es eben, die ihn so stark und voll-tönend machen; daher mußte er in dieser unvollkommnen Nachahmung nothwendig verlieren. Folgende Nachahmung des sapphischen Silbenmaßes in der R a m l e r s c h e n Uebersetzung der horazischen Ode an die Leyer des Merkurius, ist noch unvollständiger, weil die drei aufeinander folgenden Längen, die in diesem Verse eben das Abstechende ausmachen, und ihm seinen vorzüglichen Wohlklang geben,

235

344

Prosodie und Stilistik

 Ž    Ž Ž  Ž  Ž verloren gehen: Geh wo hin dich Schen kel und Winde führen,

 Ž

 Ž 

Ž Ž  Ž

 Ž

Nun die Nacht dich schützt und die Liebe, geh mit

 Ž

 Ž 

Ž Ž  Ž

5

 Ž

Aller Sterne Bei stand und weihe deiner

 Ž

 Ž 

Ž Ž  Ž

 Ž

Gattin ein Grabmal!

 Ž Ž  Ž

236

Im Grunde hört man hier nichts wie mit Daktylen untermischte Trochäen, da überdem der männliche Abschnitt nach der fünften Silbe, den Horaz gebraucht hat, nach der Absicht des Verfassers, wegfällt, weil wir keine reine Pyrrhichien Ž Ž besitzen, womit wir die andre Hälfte des Verses anfangen könnten. Allein die Pyrrhichien Ž Ž , welche wir durch den verkürzenden Silbenfall erhalten, sind demohngeachtet wirkliche Pyrrhichien, wie in dem Verse:

10

15

Nun die Nacht dich schützt u n d d i e Liebe geh mit

237

wo u n d d i e gegen die vorhergehende Silbe s c h ü t z t ein untadelhafter Pyrrhichius Ž Ž ist. Das C h o r i a m b i s c h e Versmaß scheint unsrer Sprache am angemessensten zu seyn, die sich immer gern vom F a l l z u m S p r u n g e erhebt, oder in welcher sich die aufeinanderfolgenden Längen nicht gut lange empor halten können, ohne sich zum Fall zu neigen, von welchem sie denn wiederum so schnell wie möglich, emporzusteigen streben: daher sind das jambische, trochäische, daktylische, und choriambische Versmaß für den deutschen Versbau die leichtesten und natürlichsten, welche sich, ohne sehr gesuchte künstliche Zusammenstel-lungen von Silben, gleichsam wie von selbst darzubieten scheinen, als: Schön ist Mutter Natur deiner Erfin dung Pracht,

 Ž

 Ž Ž 

 Ž Ž  Ž 

20

25

30

Versuch einer deutschen Prosodie

345

Auf die Fluren verstreut schöner ein froh Gesicht

 Ž

 Ž Ž 

 Ž Ž 

Ž 

Das den großen Ge danken

 Ž 5

 Ž

10

15

20

 Ž Ž

 Ž

Deiner Schöpfung noch ein mal denkt.

 Ž Ž 

Ž 

Die häufigen Wörter in unsrer Sprache mit ganz kurzen Endsilben, als l i e b e n , g e b e n , und mit ganz kurzen Vorschlagssilben, als g e l i e b t , v e r t r a u t , machen uns die Bildung des choriambischen Versmaßes durch die Silbenstellung äußerst leicht. Wir sollten uns daher dieses Versmaßes, das unsrer Sprache so angemessen ist, am häufigsten bedienen, da es nicht nur eines der schönsten und wohlklingendsten ist, sondern auch noch den Vortheil gewährt, daß es, wegen der Gewalt, womit es die Silben gegeneinander zwängt, auch für das ungeübteste Ohr, den bestimmten Gang des Verses auffallend macht. Bei der Bildung des choriambischen Silbenmaßes in unserm Versbau ist noch das zu bemerken, d a ß e s d e n v e r k ü r z e n d e n S i l benfall ausschließt, welcher nach einem Choriambus  Ž Ž  n i e s t a t t f i n d e n k a n n , weil der Choriambus gleichsam in sich selbst zusammenfällt, und, als ein für sich bestehendes Ganze, in sich selbst vollendet wird, so daß die letzte lange Silbe, womit er sich schließt, zu der Bestimmung des folgenden nichts beiträgt, als:

238

Du, vom Himmel gesandt! du, des Romu lischen 25

 Ž

 Ž Ž 

 Ž Ž 

Ž 

Volkes Genius! ach! lange schon fern von uns,

 Ž

30

 Ž Ž 

 Ž Ž 

Ž 

aus R a m l e r s Uebersetzung einer horazischen Ode an den Augustus, wo d u d e s , als prosodische Silben vom zweiten Range, gegen g e s a n d t nothwendig zwei Kürzen wären, sobald der verkürzende Silbenfall statt fände; allein der Choriambus  Ž Ž  s c h l i e ß t s i c h g l e i c h s a m i n s i c h s e l b e r z u , oder bildet sich allein durch sich selbst. Seine beiden Längen entstehen durch die beiden Kürzen in der

239

346

Prosodie und Stilistik

Mitte; und die beiden Kürzen in der Mitte entstehen wieder durch die Längen, wodurch sie eingeschlossen werden. Der Choriambus  Ž Ž  bedarf also keines andern neben ihm gestellten metrischen Fußes zu seiner Bildung, und hat auch auf die Bildung eines neben ihm stehenden metrischen Fußes keinen Einfluß; darum ist d u vor d e s , als das Pronomen gegen den Artikel, l a n g , ob es gleich gegen die Silben s a n d t in g e s a n d t eigentlich kurz wäre. Durch zwei aufeinanderfolgende Choriamben bilden sich also immer in der Mitte der beiden Choriamben zwei aufeinanderfolgende Längen, als:

5

10

Du vom Himmel ge s a n d t d u des Romu lischen,

 Ž

 Ž Ž  Ž  wo s a n d t d u einen Spondeus   bildet, da es in jeder andern Silbenstellung nur ein Trochäus  Ž seyn würde. 240

 Ž Ž 

Aber das choriambische Versmaß erfordert auch, wenn es rein seyn soll, vom A n f a n g e einen Spondeus   , und dieser bildet sich nicht so leicht, sondern muß durch eine künstliche Silbenstellung, entweder durch die Steigerung der Redetheile, oder durch den emporgehaltnen Silbenfall, oder durch die Zusammenstellung gleicher Redetheile, bewirkt werden, welches zufälliger in folgendem Verse aus R a m l e r s Ode an Melpomenen geschehen ist:

15

20

Wem dein Auge Mel pomene,

   Ž Ž  Ž  wo w e m d e i n , als zwei Pronomina, oder Silben von gleichem prosodischen Werth, einen wirklichen Spondeus bilden, der sich aber in dem darauf folgenden Verse wieder verliert:

25

Einmal bei der Geburt gütig gelä chelt hat,

 Ž

241

 Ž Ž 

 Ž Ž  Ž 

wo die Silbe m a l in e i n m a l sich nothwendig zum Fall neigt, und einen Trochäus  Ž bildet, welcher sich in unserm Versbau freilich immer ungesucht darbietet, dahingegen zwei aufeinan-derfolgende Längen schon eine künstliche Silbenstellung erfordern.

30

Versuch einer deutschen Prosodie

5

10

15

20

25

347

Zwei aufeinanderfolgende Kürzen bieten sich auch oft von selber dar, als f r e u d i g e r  Ž Ž , A h n d u n g e n  Ž Ž ; aber im Anfange eines Verses sind sie schwer zu erhalten, wenn es nicht folgender Weise geschehen kann. Man setzet nehmlich einen ganz k l e i n e n und u n b e t r ä c h t l i c h e n S i l b e n f a l l voran, der gegen den folgenden g r ö ß e r n und s c h w e r e r n fast gar nicht wie ein Silbenfall betrachtet werden kann. Der größte und schwerste Silbenfall ist nehmlich von der nothwendig und in jeder Stellung langen Silbe, auf die nothwendig und in jeder Stellung kurze Silbe, also von dem Substantivum oder Adjektivum auf die ganz kurze Vorschlags- oder Anhangssilbe, die nie lang seyn kann, als L i e b e  Ž , g u t e r  Ž , r o t h G e  Ž in r o t h Gewölk  Ž  . Je näher nun die Silben, ihrem prosodischen Werthe nach, zusammenrücken, desto kleiner wird auch verhältnißmäßig der Silbenfall. Der kleinste Silbenfall ist daher von dem Artikel auf die Vorschlagssilbe, weil der Artikel selbst n u r u m e i n e S t u f e über der Vorschlagssilbe steht, als d e r G e r e c h t e  Ž  Ž . Man fühlt hier das Mißverhältnis des einen Silbenfalles zu dem andern; und weil der Silbenfall von d e r g e gegen den Silbenfall von r e c h t e so ä ußerst unbeträchtlich ist, so fühlt man sich geneigt, d e r g e gar nicht wie einen S i l b e n f a l l , sondern wie e i n e n b l o ß e n A n l a u f oder wie z w e i a u f e i n a n d e r f o l g e n d e K ü r z e n zu betrachten, s o b a l d d e r G a n g d e s Ve r s e s n i c h t t r o c h ä i s c h i s t ; welches man aus der Folge desselben siehet, als:

242

der Ge rechte duldet,

 Ž  Ž  Ž

30

wo ich nun d e r g e wie einen Trochäus  Ž oder Silbenfall betrachte, weil sich alles folgende in diesem Vers zum S i l b e n f a l l neigt, und ich mich geneigt fühle, den Anfang des Verses mit der Folge desselben harmonisch, und gleichsam d a r i n e i n g r e i f e n d zu machen. Ist aber der Gang des Verses nicht trochäisch, oder neigt er sich mehr zum Sprung, als zum Fall, so fühlen wir uns von dem kleinern

243

348

Prosodie und Stilistik

Silbenfalle zum größern so schnell fortgerissen, daß dieser kleinere Silbenfall gegen den größern gar nicht mehr in Betracht kömmt, und zu einem b l o ß e n A n l a u f wird, als: der Gerechte der im Tode,

Ž Ž  Ž Ž Ž  Ž

5

Durch d i e s e F o r t s e t z u n g der Folge eines größern Silbenfalles auf einen kleinern, bekömmt der Vers eine Neigung zum Sprunge, wodurch jeder folgende kleinere Silbenfall sich wieder im Verhältniß gegen den auf ihn folgenden größern Silbenfall ganz natürlich in einen bloßen Anlauf verwandelt; und in dieser Rücksicht läßt sich auch der A n f a n g in dem Klopstockschen Versmaße,

10

We n n d e r Schimmer von dem Monde nun herab,

Ž Ž  Ž

244

Ž Ž  Ž

 Ž 

sehr gut als zwei aufeinanderfolgende Kürzen vertheidigen; der kleinere Silbenfall von der Konjunktion zum Artikel, wird von dem großen Silbenfall von der Hauptbegriffs- zur Anhangssilbe, verschlungen, weil der Gang des Verses in der Folge, w e g e n d e s v e r k ü r z e n d e n S i l b e n f a l l e s , wodurch v o n d e m wieder kurz wird, sich mehr zum Sprunge als zum Falle neigt, u n d m a n d e n A n f a n g mit dem folgenden gern harmonisch, und in dasselbe eingreifend macht. Indes kann diese Art der Verwandlung des Silbenfalles in einen bloßen Anlauf sich doch nicht füglich weiter, als auf die p r o s o d i s c h e n S i l b e n v o m z w e i t e n R a n g e , also auf das Hülfsverbum, die Konjunktion, das Pronomen, die Präposition, und den Artikel erstrecken, welche in dem Fall, auch im Anfange eines Verses in zwei Kürzen, oder in einen bloßen Anlauf verwandelt werden können, sobald ein g r o ß e r S i l b e n f a l l darauf folgt, und der G a n g d e s Ve r s e s a n s i c h n i c h t t r o c h ä i s c h i s t , oder sich zum Fall neigt. Indes ist es gut wenn alsdann der Silbenfall, welcher in einen Anlauf verwandelt werden soll, immer so klein wie möglich ist, in

15

20

25

30

Versuch einer deutschen Prosodie

5

10

15

20

25

30

349

Wenn der Schimmer von dem Monde nun herab In die Wälder sich ergießt, und Gerüche Mit den Düften von der Linde In den Kühlungen wehn; ist w e n n d e r fast schon ein zu starker Silbenfall, nehmlich von der Konjunktion auf den bloßen Artikel, um in einen Anlauf verwandelt zu werden; v o n d e m ist schon leichter, weil der Silbenfall kleiner, nehmlich nur von der Präposition auf den Artikel ist; n u n h e r a b ist hingegen ein eigentlicher Kretikus  Ž  , weil n u n ein Adverbium, und also eine prosodische Silbe vom ersten Range ist, die zum bloßen Anlauf schon zu viel Gewicht hat; i n d i e ist wiederum leichter, als s i c h e r in s i c h e r g i e ß t , wo das Pronomen, u n d e r , wo die Konjunktion auf einmal zur bloßen Vorschlagssilbe abfällt; m i t d e n , v o n d e r , i n d e n sind hingegen lauter Abfälle, die so klein als möglich sind, weil zwischen der Präposition und dem Artikel keine Stufe mehr liegt, und diese Redetheile in Ansehung ihres prosodischen Werths am nächsten aneinander gränzen. Das Resultat aus allem bisherigen ist: d a ß d i e L ä n g e n u n d Kürzen der Silben in unsrer Sprache, nicht nach der Anzahl und Beschaffenheit der Buchstaben oder einzelnen Laute, woraus sie bestehen, sondern bloß nach i h r e m p r o s o d i s c h e n We r t h , a l s R e d e t h e i l e v o n m e h r oder minderer Bedeutung betrachtet, bestimmt werden können; und daß also die prosodischen Regeln unsrer Sprache lediglich aus der Grammatik geschöpft werden müssen, in so fern dieselbe die Beschaffenheit der einzelnen Redetheile, und ihre Unterordnung, nach dem Gewicht ihrer Bedeutung, lehrt, und also der Prosodie einer jeden Sprache, die sich wie die unsrige, mehr zum Gedanken- als zum Empfindungs-Ausdruck neigt, zur Grundlage dient. Es wird die Begeisterung des wahren Dichters nicht hemmen, wenn er, indem er einen Vers macht, S u b s t a n t i v u m und Ve r b u m , I n t e r j e k t i o n und K o n j u n k t i o n , u. s. w. gegen ein-ander

245

246

247

350

Prosodie und Stilistik

abwägen soll, eben so wenig wie es die Begeisterung der griechischen und römischen Dichter hemmte, daß sie, um Verse zu machen, fast jeden einzelnen Buchstaben, Laut gegen Laut, Vokal gegen Vokal, und Konsonant gegen Konsonant, abwägen mußten. Eine solche Arbeit muß dem guten Dichter durch Uebung schon mechanisch geworden seyn; und da sich unsre prosodischen Regeln nicht auf Willkür und Ansehen, sondern auf ein natürliches Gefühl gründen, so sind sie um desto leichter zu beobachten, und sind auch von unsern guten Dichtern, ohne in ein System gebracht zu seyn, größtentheils bloß nach diesem natürlichen Gefühl, bisher beobachtet worden. Und nun lassen Sie uns nochmals die metrischen Füße jeder Art, insofern sich dieselben mehr zum Falle oder zum Sprunge neigen, nebeneinanderstellen, um zu sehen, in wie fern sie in unsrer Sprache, durch den Wortaccent, sich entweder schon von selbst bilden, oder doch durch die Silbenstellung gebildet werden können: 248

5

10

15

Zwei- und dreisilbigte metrische Füße. Jambus. Sprung. Jambus oder Schleuderer

Trochäus. Fall. Trochäus oder Wälzer

 Ž

Ž 

Liebe.

gerecht.

Spondeus oder Tritt

20

Pyrrhichius od. Läufer

 

Ž Ž

dankt! preißt! über all Molossus oder Schwertritt Trybrachis od. Dreigekürzter

  

25

Ž Ž Ž

dankt, preißt Gott! ei ligeres Amphybrachis od. Zweilängigter Amphymacer od. Zweigekürzter

 Ž 

Ž  Ž

Zärtlichkeit. Gerüche. Daktylus oder Fingerschlag Anapäst oder Gegenschlag

 Ž Ž

Ž Ž 

freudiger.

übersteigt.

30

Versuch einer deutschen Prosodie

Palimbachius od. Schwerfall

5

Bachius oder Stürmer

  Ž

Ž  

laut donnern.

zu dir schreit.

Viersilbigte metrische Füße. (Zwei lange und zwei kurze Silben.) Fall. Dispondeus oder Doppeltritt

    10

351

249

Sprung. Procelevmatikus od. Doppelschlag

Ž Ž Ž Ž

dankt, preißt Gott laut! gü tigeres Ge schick Dichoreus od. Doppelfall Dijambus od. Doppelwurf

 Ž  Ž

Ž  Ž 

Klagestimme mit Ungestüm. Jonikus a majori oder Nachschläger Jonikus a minori oder Vorschläger

  Ž Ž 15

20

25

30

Ž Ž  

freundschaftliche. unterjocht Volk. Choriambus od. Aufsprung Antispast oder Gegenzug

 Ž Ž 

Ž   Ž

Wonnegesang.

des Fluchs Donner.

Viersilbigte metrische Füße. (Drei lange und eine kurze, und drei kurze und eine lange Silbe.) Sprung. Fall. Zweiter Peon oder Tänzer Zweiter Epitrit od. Dreischlag (Karikus)  Ž   Ž  Ž Ž dich erhört Gott. geflügelte. Dritter Epitrit oder Dreischlag Dritter Peon oder Tänzer (Dydimeus)

  Ž 

Ž Ž  Ž

ach! welche Kluft. Vierter Epitrit oder Dreischlag

überschütten. Vierter Peon oder Tänzer

   Ž

Ž Ž Ž 

Strom laut donnernd.

flüch tigerer Tanz.

250

352

Prosodie und Stilistik

Erster Peon oder Tänzer

251

252

Erster Epitrit oder Dreischlag

 Ž Ž Ž

Ž   

eiligeres

auf dich hofft stark

Wa l d s t r ö m e , F e l s k l ü f t e , We h k l a g e , A b g r ü n d e , u. s. w. bilden metrische Füße, die sich dem Palimbachius oder Schwerfall   Ž nähern, ob es gleich eigentlich Daktylen sind; wenn sie daher in einem Verse zusammengestellt werden, so machen sie den Gang des Verses außerordentlich schwerfällig, wie den folgenden Klopstockschen: Da Waldströme durch Felsklüfte sich hervorwälzten, und folgenden: O Wehklage, die aufsteigend vom Abgrunde, wo der schwerfällige Gang des Verses sehr viel zum Inhalte passendes Mahlerische hat, so wie die folgenden Verse aus dem zwanzigsten Gesange der M e s s i a d e : Wehklage, und bang Seufzen vom Graunthale des Abgrunds her Sturmheulen, und Strombrüllen, und Felskrachen, das laut niederstürzt, Und Wutschrein, und Rachausrufen, erscholl dumpf auf! D a s l a u t n i e d e r Ž   Ž , und e r s c h o l l d u m p f a u f Ž   Ž sind wirkliche Antispasten, dahingegen S t u r m h e u l e n  Ž Ž , S t r o m b r ü l l e n  Ž Ž , und F e l s k r a c h e n  Ž Ž , nur s c h w e r e D a k t y l e n sind, die am gehörigen Orte angebracht, von außerordentlicher Wirkung seyn können. Unsre Sprache hat also, theils durch den Wo r t a c c e n t , und theils durch die S i l b e n s t e l l u n g , ein festes und bestimmtes Silbenmaß; weil aber die Silben, welche nicht Theile eines Worts, sondern ganze Wörter für sich sind, bloß nach ihrem prosodischen Werth, als Redetheile betrachtet, in Ansehung ihrer Länge oder Kürze, bestimmt werden können, so muß derjenige, welcher in unsrer Sprache einen r i c h t i g e n Vers machen will, wenigstens d a s A l l g e m e i n e d e r G r a m m a t i k , und d i e U n t e r o r d n u n g d e r R e d e t h e i l e n a c h i h r e m p r o s o d i s c h e n G e w i c h t , verstehen.

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Grundlinien zu

meinen Vorlesungen über 5

den Styl.

von K. P. Moritz.

Berlin, 1791. bei Friedrich Vieweg dem ältern.

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Prosodie und Stilistik

1) Der Styl oder die Schreibart, in so fern man sich etwas Unterscheidendes oder Karakteristisches darunter denkt, ist bloß in der E i g e n t h ü m l i c h k e i t d e r Vo r s t e l l u n g s a r t e i n e s j e d e n g e gründet, in so fern sich dieselbe durchgängig im Ausdruck zeigt. 2) Das Karakteristische und Unterscheidende des Styls läßt sich natürlicher Weise nicht lehren sondern nur beobachten. Dasjenige aber, worinn eine jede gute Schreibart mit der andern, sie mag übrigens von derselben noch so verschieden seyn, übereinstimmen muß, ist, daß der Gedanke deutlich und lichtvoll durch die Worte bezeichnet werde.

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3) Zu dem Ende kommt alles darauf an, das Licht auf den Hauptgedanken zu konzentriren, damit die Aufmerksamkeit nicht zerstreut, sondern gehörig vertheilt werde. Aus diesen einfachen Grundsätzen leiten sich alle Regeln des guten Styls natürlich von selber ab.

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4) Die erste allgemeine praktische Regel in Ansehung der guten Schreibart ist: seine Aufmerksamkeit, s o v i e l w i e m ö g l i c h , vom Ausdruck ab, und auf den Gedanken hinzulenken, damit dieser erst recht helle werde, weil sich alsdenn der Ausdruck, ohne unser a b s i c h t l i c h e s Zuthun, von selber bildet.

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5) Die zweite allgemeine praktische Regel in Ansehung der guten Schreibart ist: die Wahl der Worte beständig dem Gedanken nachzusetzen, und lieber einen gutgefaßten Gedanken f ü r s e r s t e nachlässig auszudrücken, als durch einen zu lange gesuchten Ausdruck den Zusammenhang der Begriffe zu verlieren.

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6) Man muß sich für jeden Gegenstand, worüber man, wenn es auch nur zur Uebung ist, etwas niederschreibt, s e l b s t i n t e r e s s i r e n , und, indem man schreibt, die Sache selbst zu seinem Hauptaugen-

Grundlinien zu meinen Vorlesungen über den Styl

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merk machen, worüber man sich zugleich seine Ideen zu entwickeln sucht.

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7) Auf die Richtigkeit in der Vorstellung kömmt bei der guten Schreibart alles an: denn wenn z. B. der Redner und Dichter durch ihre Darstellung auch zu täuschen suchen, so müßen sie für sich selber doch über die wahre Beschaffenheit der Sache hinlänglich nachgedacht, und für sich selbst eine richtige Vorstellung davon haben, weil sie sonst nicht ihre Zuhörer, sondern sich selber täuschen würden.

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8) Man muß daher bei der Uebung im Ausdruck der Gedanken nicht zu früh nach der dichterischen und rednerischen Darstellungsart streben, wenn man nicht der richtigen Vorstellungsart von den Dingen, a u f w e l c h e r d o c h a l l e s b e r u h t , dadurch schaden will. Einem künftigen Dichter wird nie eine frühe Uebung im Denken, aber einem künftigen Denker wird immer eine voreilige Uebung im Dichten schaden. 9) Um gut zu schreiben, muß die Aufmerksamkeit immer auf den Hauptgegenstand gerichtet seyn, und so wenig wie möglich auf Nebendinge abschweifen. Daher muß man sich so oft man schreibt, für den Hauptgegenstand seines Denkens selbst interessiren, und auf die deutliche Entwickelung seiner Vorstellung davon sich schon im Voraus freuen: denn nur da-durch kann die Aufmerksamkeit gefesselt, und das Abschweifen derselben auf Nebendinge verhindert werden. 10) Einbildungskraft und Gedächtniß müssen bei dem Gedankenausdruck immer der Urtheilskraft untergeordnet seyn: denn wenn die Einbildungskraft oder das Gedächtniß mehr Nebenideen herzuführen, als nöthig sind, um die Hauptsache in ihr gehöriges Licht zu stellen, so wird die Uebersicht des Ganzen erschwert, und die Urtheilskraft in ihrer Thätigkeit gehemmt. 11) Fast jede Abweichung von der guten Schreibart entsteht daher, wenn man bei dem Nachdenken über eine Sache, entweder der Einbildungskraft oder dem Gedächtniß zu viel Raum verstattet, und sich dadurch von der richtigen Vorstellungsart entfernt, indem man mehr

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Prosodie und Stilistik

Vergnügen an den Worten, die man niederschreibt, als an der Deutlichkeit der Begriffe selber findet. 12) So lange man noch nicht im Stande ist, beim Nachdenken über einen Gegenstand m i t w e n i g e n Wo r t e n die Hauptsache zu bezeichnen, hat man auch den Hauptgesichtspunkt für das Ganze noch nicht ausgefunden. 13) Die Urtheilskraft thut ihren Ausspruch immer mit wenigen Worten: die V i e l h e i t d e r Wo r t e entsteht daher, wenn die Einbildungskraft und das Gedächtniß, im Reden oder Schreiben, nicht gehörig in Schranken gehalten werden. 14) Die V i e l h e i t d e r Wo r t e kann nicht anders vermieden werden, als dadurch, daß man beim Vortrag einer Sache durch Nebenideen sich nicht zerstreuen, und von dem Hauptgegenstande sich nicht unmerklich ableiten läßt. 15) Um eine Sache die man vortragen und sich selber deutlich machen will, zu ü b e r s e h e n , muß man dieselbe a n f ä n g l i c h nicht zu sehr im Einzelnen, oder gleichsam nicht in zu großer Nähe betrachten, weil sonst die Aufmerksamkeit zu sehr auf die Theile geheftet wird und zuletzt das Ganze nicht mehr umfassen kann. 16) Der ganze Umfang einer Sache ist erst die Sache selbst; diesen Umfang muß man gewissermaßen erst mit einem Blick zu umfassen gesucht haben, ehe man noch unterscheiden kann, w a s z u r S a c h e gehört, oder nicht gehört? 17) Wem nun beim mündlichen oder schriftlichen Vortrage um die Sache selbst zu thun ist, der wird nicht mehr und nicht weniger Worte brauchen, als zu der Auseinandersetzung der Sache selbst nöthig sind, wobei wiederum alles darauf beruht, den Hauptgedanken in sein gehöriges Licht zu stellen. 18) Wer beim mündlichen oder schriftlichen Vortrage seine Gedanken nie von der Hauptsache abschweifen läßt, d e n k t r i c h t i g ; wer die Richtung seiner Ideen schnell verändern kann, d e n k t l e b h a f t ; wer aber bloß seine Ideen schnell verändern kann, d e n k t g a r nicht.

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Vorlesungen über

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praktische Anweisung zu

einer guten Schreibart in Beispielen aus den vorzüglichsten Schriftstellern 10

von

Karl Philipp Moritz, Königl. Preußischem Hofrath und Professor, ordentlichem Mitgliede der Königl. Akademie der Wissenschaften und des Senats der Akademie der bildenden Künste 15

zu Berlin.

Erster Theil Berlin, 1793. bei Friedrich Vieweg, dem ältern.

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Prosodie und Stilistik

Inhalt Vorbericht.

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Erste Vorlesung. Schädlichkeit der Verwechslung der Begriffe vom Mechanischen und Geistigen in Ansehung des Styls. Ursach dieser Verwechslung. Die Regeln in Ansehung des Styls müssen auf Beobachtungen zurückgeführt werden. Nutzen dieser Beobachtungen.

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Zweite Vorlesung. Versuch einer nähern Bestimmung des Begriffs vom Styl in Rücksicht auf die gewöhnlichen Eintheilungen desselben. – Die Lebhaftigkeit des Styls durch die Gedankenfülle, in einem Beispiel aus Göthens Schriften. – Der Einzige Weg, wie das Vortrefliche und Schöne in der Schreibart nachgeahmt werden kann.

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Dritte Vorlesung. Von der Vermeidung des Versmäßigen oder der Wiederkehr des Gleichlautenden in der Prosa, in einigen Beispielen. – Von der Ründung des Perioden in einem Beispiele. – Von der Fertigkeit seine Gedanken durch den Ausdruck, und den Ausdruck durch den Gedanken zu prüfen. – Von der klugen Auswahl desjenigen, was zur Sache gehört, in einer horazischen Epistel.

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Vierte Vorlesung. Worauf es bei der Uebersicht einer Sache ankömmt. – Wie man anfangen soll, über eine Sache zu schreiben? – Prüfung des Anfanges oder Einganges zu diesen Vorlesungen über den Styl. – Etwas über den Nutzen und den Gebrauch der Regeln.

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Fünfte Vorlesung. Zergliederung des Gedankenausdruckes in zwei Briefen des jüngern Plinius. – Wie solche Beispiele nachgeahmt werden können? – Einige Einwürfe gegen die Kürze im Ausdruck. – Widerlegung dieser Einwürfe.

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Sechste Vorlesung. Ueber ein poetisches Gemählde von Göthe – warum und in wie fern die Aufstellung und Zergliedrung eines solchen Gemähldes in ein Werk über den Styl gehört?

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Siebente Vorlesung. Von den rednerischen Figuren – wodurch sich die Sprache der Empfindung unterscheidet? – von der Wiederhohlung – von der Inversion – vom bildlichen Ausdruck – Beispiele.

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Achte Vorlesung. Fortsetzung der Entwickelung und Berichtigung des Begriffs vom bildlichen Ausdruck, in Beispielen – Hölty – Ramler –

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Neunte Vorlesung. Vom Gleichniß – zwei Beispiele aus Homers Odüssee – ein mißrathenes Gleichniß aus einem neuern Schriftsteller. –

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Zehnte Vorlesung. Fortsetzung der Entwickelung und Berichtigung des Begriffs vom Gleichniß – wie bei dem Gleichniß der eine Begriff den andern gleichsam beseelt und Leben einhaucht – Beispiele aus Kleists Frühling – aus einer neuern Reisebeschreibung – aus Göthens Schriften – aus Geßners Idyllen. –

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Eilfte Vorlesung. Von demjenigen, was man die höhere Schreibart nennt – wie dieser Begriff mißverstanden wird – von der Sparsamkeit in dem Gebrauch vielsagender Ausdrücke – vom Unterschiede des Ausdrucks, in so fern er mehr das Geistige oder Physische von einem und demselben Begriff bezeichnet.

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Zwölfte Vorlesung. Wie die deutsche Sprache insbesondere zu den Ausdrücken der höhern Vorstellungsart sich allein in sich selber bildet, und das Fremdartige nicht duldet, zu dessen Aufnahme sie hingegen immer geschmeidiger wird, je mehr die Vorstellungsart bis zum Niedrigkomischen herabsteigt.

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Dreizehnte Vorlesung. Vorbereitung zu dem Kapitel vom Geschäftsstyl, in einigen Beispielen.

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Vierzehnte Vorlesung. Fortgesetzte Prüfung eines Kontrakts, in Ansehung des Ausdrucks.

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360 〈III〉

IV

V

Prosodie und Stilistik

Vorbericht. Um gut zu schreiben, hilft es nichts, eine Menge einzelner Regeln zu wissen, weil man während dem Schreiben nicht Zeit hat, das Register, welches alle diese Vorschriften enthält, jedesmal erst in Gedanken durchzulaufen, und sich nun gerade der Regel deutlich bewußt zu werden, die sich auf den gegenwärtigen Fall paßt. Man muß vielmehr im Stande seyn, sich aus einem H a u p t g r u n d s a t z e auf jeden besondern Fall die Regel selbst zu bilden; und eine zweckmäßige Anweisung zu einer guten Schreibart muß nicht sowohl das Gedächtniß mit unnützen Vorschriften überhäufen, als vielmehr den Verstand schärfen, und das eigne Nachdenken üben, daß es nach einem sichern Maaßstabe für einen richtigen Gedanken den besten Ausdruck wählen lerne. Da nun aber bei der Wahl des Ausdrucks so viel darauf ankömmt, daß die Richtigkeit des Gedanken vorher gehörig geprüft worden, so kann es keine brauchbare Anweisung zu einer guten Schreibart geben, die nicht zugleich eine Anweisung zu einer richtigen Vorstellungsart, oder eine Art von praktischer Logik in sich enthielte. Denn der Ausdruck kann sich nur mit dem Gedanken, und die Gabe, sich deutlich zu machen, kann sich nur mit der Denkkraft selber und ihrer Entwickelung bilden; ich kann daher von einer guten Schreibart gar nicht reden, wenn ich nicht erst auf die richtige Vorstellungsart aufmerksam bin, die dem schönen und wahren Ausdruck nothwendig vorangehen muß, und woraus ich seine Güte allein beurtheilen kann. Wa s w i r k l i c h s c h ö n g e s a g t s e y n s o l l , m u ß a u c h v o r her schön gedacht seyn; sonst ist es leerer Bombast und Wo r t g e k l i n g e l , d a s u n s t ä u s c h t . – Um diesen Satz gehörig ins Licht zu setzen, ihn durch Beispiele zu erklären, und dadurch gleichsam zum Anschauen zu bringen, dahin zwecken vorzüglich diese Vorlesungen ab. – Denn wenn man einen allgemeinen Satz an vielen einzelnen Beispielen prüft, und sich von seiner Wahrheit zum öftern überzeugt, so

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wird das Gefühl davon so scharf, daß man ihn auch selber praktisch anwenden lernt, ohne sich dieser Anwendung deutlich bewußt zu seyn. Wer sich beim Schreiben der Regeln, nach welchen er schreibt, noch deutlich bewußt ist, wird sich nie mit Leichtigkeit und Wärme ausdrücken, sondern Zwang und Trockenheit wird in jeder Zeile herrschen, weil alles Interesse für die Sache verlohren gehen muß, wenn man seine Gedanken erst darauf richtet, den Ausdruck nach Regeln abzumessen. Die Sache, worüber man schreibt, muß immer den ersten Platz in der Seele einnehmen; die Regel, nach welcher man schreibt, muß gleichsam nur im Hintergrunde der Denkkraft liegen, und sich nicht unter die lebhaften herrschenden Ideen mischen, wenn diese nicht dadurch gestört und geschwächt werden sollen. Wie das nun möglich ist, kann man nicht eher wissen, als bis es bei einem durch Uebung wirklich geworden ist; diese Uebung besteht aber darin, daß man anfänglich an häufigen einzelnen Beispielen den Gedanken mit dem Ausdruck vergleichen, und einen durch den andern prüfen lernt, und alsdann selber den Versuch macht, für seine eigenen Gedanken den besten Ausdruck zu wählen, indem man genau Achtung giebt, ob sie uns, nachdem sie in Worte gekleidet sind, noch eben so vorkommen, als vorher, da sie noch dunkel in unsrer Seele lagen. Dazu sollen nun diese Vorlesungen eine praktische Anweisung enthalten; und unter den Beispielen aus den vorzüglichsten Schriftstellern, welche in Ansehung der Gedanken und des Ausdrucks hier entwickelt sind, ist auch vorzüglich und mit Be-dacht auf Dichterschönheiten Rücksicht genommen worden, weil diese mit der höchste Maaßstab für eine gute Schreibart sind, und derjenige, welcher irgend eine erhabene Dichterschönheit innig und wahr empfindet, auch bei dem geringsten Aufsatze sich mit mehr Interesse und Lebhaftigkeit ausdrücken wird, als ein anderer, der für die Schönheiten der Dichtkunst gar keinen Sinn hat. –

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IX

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Prosodie und Stilistik

Ein lebhafter Ausdruck aber ist allenthalben schön, und auch die trockensten Geschäfte können durch die Art ihrer Bearbeitung interessant und wichtig werden. Der Ausdruck braucht deswegen gar nicht dichterisch zu seyn, sondern er behält aus dem Gebiete der Dichtkunst nur die Lebhaftigkeit und das Interesse bei, und schließt die Phantasie mit ihren gaukelnden Träumen aus. Lebhaftigkeit und Interesse aber können schlechterdings nicht ohne Ordnung und Bestimmtheit statt finden, weil Unordnung der Gedanken und Unbestimmtheit des Ausdrucks auch allemal die Aufmerksamkeit schwächen, und von dem Hauptgegenstande abziehen. Die Lebhaftigkeit des Ausdrucks besteht eben darin, daß man mit mehr G e s c h w i n d i g k e i t , als gewöhnlich, seine Gedanken zu ordnen weiß, und eben daher bei der Uebersicht eines großen Ganzen sich nicht so leicht verwirrt. Eben diese Gabe aber muß der Dichter, der uns durch ein selbsterfundenes Ganze interessiren will, im hohen Maaße besitzen, und der Geschäftsmann muß in seiner Art ihm diese Kunst abzulernen suchen, um bei den verwickeltsten Geschäften, die oft die Dichtkunst selber nicht son-derbarer verflechten könnte, doch immer eine U e b e r s i c h t d e s G a n z e n zu behalten. Der sogenannte Geschäftsstyl, und dasjenige, was man unter der schönen und zierlichen Schreibart begreift, liegen daher gar nicht so himmelweit auseinander, als man noch häufig glaubt. Der unbedeutendste Aufsatz empfiehlt sich eben so wie das erhabenste Gedicht durch die natürliche Darstellung und leichte Uebersicht eines Gegenstandes, auf welchen die Aufmerksamkeit der Seele, durch die Worte, worin man den Gedanken kleidet, geheftet werden soll.

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Erste Vorlesung.

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Schädlichkeit der Verwechslung der Begriffe vom Mechanischen und Geistigen in Ansehung des Styls. Ursach dieser Verwechslung. Die Regeln in Ansehung des Styls müssen auf Beobachtungen zurückgeführt werden. Nutzen dieser Beobachtungen.

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Wenn irgend etwas der freien Entwickelung der Geisteskräfte geschadet, den Gesichtskreis für das Große und Schöne verengt, und das Gefühl dafür aus seinem Gleise gebracht hat, so sind es die unzähligen Versuche, dasjenige zu lehren, was sich nicht lernen läßt. Gleichsam als ob ein Werk des Geistes, das einmal hervorgebracht ist, mit irgend einer mechanischen Erfindung zu vergleichen wäre, welche nun nach gegebenen Regeln unzählige-mal vervielfältiget werden kann, und zu einem neuen Zweige der Industrie wird. Da doch im Grunde jedes Produkt des Geistes für sich eine ganz eigene individuelle Erfindung ist, deren Individualität gerade ihren eigentlichen Werth ausmacht, und bei der die Klasse, worunter man sie bringt, immer nur das Zufällige ist. Dadurch, daß man die Werke des Geistes in den Theorien mit solcher Sorgfalt und Emsigkeit in Klassen ordnet, zieht man sie eben wieder zu dem Mechanischen herab, und richtet seine Aufmerksamkeit von dem Wesentlichen auf das Zufällige.

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Prosodie und Stilistik

Man sucht die Werke des Geistes ordentlich aufzureihen, und hält alsdann den selbst gesponnenen Faden, den man durchzieht, wohl gar für die Regel, nach welcher sie gemacht sind. Was aus der innern Harmonie des Werkes selbst erwächst, sucht man aus den Bedürfnissen der Gattung zu erklären, zu welcher man es zählt. Man begnügt sich auf die Weise mit der äußern Form, und kommt dem Geiste des Werks nicht auf die Spur. Weil man nun aber das Wesentliche mit der äußern Form verwechselt, so führt dieß leicht auf den Gedanken, daß sich das Geistige eben so wie das Mechanische lehren lasse. Was als bloße Beobachtung seinen Werth hat, macht man nun zur Regel; was eine zufällige Reihe von Bemerkungen bleiben sollte, muß sich in eine vollständige Theorie verwandeln. Nirgends ist nun das Geistige mit dem Mechanischen mehr verwechselt worden, als bei der Lehre vom Styl, und nicht leicht blieb ein Begriff seit den ältesten Zeiten so schwankend und unbestimmt, wie dieser. Dieß ist sehr natürlich, weil Gedanke und Ausdruck so nahe aneinander grenzen, daß man des Irrthums kaum gewahr wird, wenn man beide mit einander verwechselt. Und doch verleitet diese Verwechselung zu vielen Ungereimtheiten, wenn man das im Ausdruck sucht, was in der ganzen Entwickelungsart der Ideen, oder in der Sache selbst liegt. Wer von der Sache, worüber er schreibt, die richtigen Begriffe hat, dessen Ausdruck wird auch dem Gegenstande selbst angemessen seyn, und wem diese richtigen Begriffe fehlen, dessen Schreibart werden keine Regeln des Styls verbessern. Daß Voltär kein guter Geschichtschreiber war, kam gewiß nicht daher, weil er etwa die Regeln des historischen Styls nicht wußte, sondern weil die Eigenthümlichkeit seiner Vorstellungsart nicht zu der Bearbeitung der Geschichte paßte, deren vorzügliche Eigenschaft die G l a u b w ü r d i g k e i t ist, welche darunter leidet, sobald man bemerkt, daß bei dem Geschichtschreiber die Phantasie zu lebhaft mitwirkt.

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Auch würde der ernste kalte Geschichtforscher selber sich vielleicht dem mühsamen oft trockenen Geschäfte nicht unterziehen, wenn ihm Voltärs Witz und Einbildungskraft zu Theil geworden wäre. Daß es aber eine eigne historische Schreibart geben soll, worüber Regeln statt finden, ist höchst ungereimt, weil das e i g e n t h ü m l i c h Gute oder Fehlerhafte bei einem Geschichtschreiber tiefer, als in dem Ausdruck liegt. Der Ausdruck soll mir bei dem guten Geschichtschreiber nur Veranlassung geben, dem Eigenthümlichen in seiner Vorstellungsart von den Dingen nachzuspüren, und an dem originellen Gepräge seines Geistes mich zu ergötzen; auch werde ich nicht eher den Werth von irgend einem einzelnen Ausdrucke zu schätzen wissen, bis ich die Quelle selbst erst kenne, aus der er sein Daseyn hat. Dem schlechten Geschichtschreiber wird der Tadel einzelner unangemessener Ausdrücke, wovon dieser etwa für die Geschichte zu schwülstig, ein anderer zu gemein oder zu kriechend ist, nichts helfen, wenn seine Begriffe von dem Endzweck der Geschichte noch schwankend sind, oder wenn die ganze Anlage seiner Denkkraft ihn nicht zu diesem Geschäft bestimmte. Dazu verleiten insbesondre die Theorien, das jeder sich zu jedem Geschäft, zu welchem eine ganz eigne Anlage erfordert wird, und wozu ihn bloß Phantasie oder Zufall führen, berufen dünkt, weil er Anweisung und Regeln vor sich zu finden glaubt; da hingegen die sorgfältige Zergliederung bei den vorzüglichsten Werken des Geistes in psychologischer Rücksicht, Darstellung der Schwierigkeiten, welche der Urheber zu überwinden hatte, des Ideenumfangs, den er zu dem Werke mitbringen muß-te, und des Originellen, das nur bei ihm statt findet, gewiß manchen Unberufenen abschrecken, oder doch veranlassen würde, vorher seine Kräfte zu prüfen, ehe er sich in den Wettkampf einläßt. So abweichend von den gewöhnlichen Begriffen dieß auch klingen mag, so giebt es doch im strengsten Sinne gar keine Regeln des Styls. Denn man denkt sich doch unter Styl das E i g e n t h ü m l i c h e , wor-

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an man die Schreibart eines ieden wieder erkennet, und wodurch sie eigentlich erst zur Schreibart wird; nun aber finden ja über das E i g e n t h ü m l i c h e keine Regeln statt. Alles was sich darüber sagen läßt, beschränkt sich auf einzelne B e o b a c h t u n g e n , welche zur Selbstbeobachtung und Selbstprüfung Veranlassung geben können. Auch wird man doppelt dabei gewinnen, wenn man die Lehre vom Styl immer mehr von den Regeln auf den Weg der Beobachtung zurück zu führen sucht. Man wird die innere Vollkommenheit der Geisteswerke, über welche man Beobachtungen anstellt, immer mehr schätzen lernen, und zugleich auf den leisesten Anklang aufmerksam werden, der irgend eine in uns schlummernde Geistesanlage wecken kann, da hingegen auch die anschauendere Vorstellung von der Vollkommenheit, uns lehren wird, mit dem Genuß am Schönen uns zu begnügen, wo unsere Kräfte nicht zureichen, es selbst hervorzubringen. Das eigentliche beobachtende Studium der Werke des Geistes, und das Eindringen in ihre innern Vollkommenheiten, ist auf keine Weise unzweckmäßig, gesetzt daß man auch nie ähnliche Versuche wagen sollte; denn in dem geringsten Aufsatze, den man entwirft, wird sich der Nutzen davon zeigen, weil durch die Aufmerksamkeit auf das E i g e n t h ü m l i c h e in den fremden Werken, die Nachahmungssucht immer mehr verdrängt wird, und das E i g e n t h ü m l i c h e in unserer eigenen Vorstellungsart allmälig sich entwickeln kann, wodurch erst der Ausdruck sein Gepräge erhält, und der Styl sich bildet. Dasienige, was dem Ausdruck allein übrig bleibt, wenn seine Grundlage, der Gedanke vollständig ist, beschränkt sich auf das Mechanische der Wortstellung und des Perio-denbaues, auf die Vermeidung des Eintönigen, der Härten und des Uebelklangs; und was auf die Weise die Lehre vom Versbau in der Poesie ist, das ist die Lehre vom Periodenbau in der Prosa. Auf diesen mechanischen Theil der Schreibart sollte man eigentlich die Regeln nur beschränken, und grade hierüber findet man die wenigsten Regeln; da man hingegen über dasjenige, was bei der Schreibart zu dem Gedanken gehört, eine Menge Regeln gemacht

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hat, die freilich leicht auszusinnen waren, weil sie sich in kein Detail einlassen, aber eben deswegen auch in der Anwendung gar keinen Nutzen haben. Alles was man im A l l g e m e i n e n von der Klarheit, Deutlichkeit, und Lebhaftigkeit im Ausdruck sagt, sind im Grunde leere Worte. Es muß von einer bestimmten Sache die Rede seyn, wovon ich selbst erst richtige und deutliche Begriffe habe, und alsdann den Ausdruck mit dem Gedanken vergleichen kann. Die Klarheit und Deutlichkeit liegt ja in den Begriffen, und man kann wohl jemanden über irgend eine Sache seine Begriffe aufklären, aber die Klarheit in den Begriffen überhaupt kann man ihm nicht besonders beibringen, sondern man muß die Sachen, die er sich deutlich vorstellen soll, selber einzeln mit ihm durchgehen, und seine Begriffe darüber zu berichtigen suchen; dieß allein ist eine zweckmäßige Uebung der Denkkraft, die sich, wenn sie nur selbst erst auf die rechte Bahn gebracht ist, auch bald einen deutlichen und lichtvollen Ausdruck bildet. Allgemeine Regeln lassen sich hierüber gar nicht geben, aber B e o b a c h t u n g e n lassen sich an einzelnen Beispielen machen, wie manchmal durch die unrechte Wahl oder Stellung eines einzigen Worts ein ganzer Gedanke verdunkelt werden kann; wie selbst durch das Mechanische in der Schreibart, den schicklichen Periodenbau, Vermeidung der Eintönigkeit, der Härten und des Uebelklanges, zugleich die Deutlichkeit mit befördert, und durch die entgegengesezten Fehler der Gedanke verdunkelt wird; und wie dieß alles demohngeachtet wieder in der eigentlichen Vorstellungs- und Denkart des Schreibenden seinen Grund hat. Daß man aber auch das Erhabene, das Rührende, und das Pathos mit zu dem Begriff vom Ausdruck gezogen hat, dadurch sind unzählige mißlungene poetische Versuche veranlaßt, wo man durch hochtönende Worte und Phrasen etwas einem Werke der Dichtkunst Aehnliches hervorzubringen glaubte. Freilich muß der Ausdruck des Pathetischen mit demselben harmonisch seyn, aber das Pathos liegt nicht in dem Ausdruck, sondern in

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der ganzen Gemüthsstimmung des Redenden, insofern uns dieselbe durch den Ausdruck sichtbar wird. Das Pathos ruhet auf einer tiefen Grundlage, wovon die Worte nur wiedertönen, und gleichsam nur den ersten Anstoß zu der darauf folgenden Stimmung der Seele geben. Wem das wahre Pathos im Ausdruck gelingt, der weiß es nicht; er ist in seinen Gegenstand viel zu vertieft, als daß er auf Schmuck der Rede, auf Wahl der Worte sein Augenmerk richten sollte; so wie nun aber die Empfindung überwallt, schwebt unwillkürlich das Wort auf seinen Lippen, und schlägt die mitertönende Saite bei jedem Zuhörer sympathetisch an. Ja, die ganze Stärke des Ausdrucks beruht gewissermaßen darauf, daß einer die Kraft besitze, die Aufmerksamkeit im hohen Grade vom Ausdruck ab, und auf den Gedanken hinzulenken, so daß die Worte gleichsam unwillkürlich, wie von selbst erfolgen; dann ist auch ieder Laut gewiß ein treuer Widerhall des leisesten Gedanken; die Rede bedarf dann keines erborgten Schmucks; ihr Inhalt selbst ist ihre schönste Zierde. Der Gedanke verliert schon seinen ersten Schimmer, während wir auf den Ausdruck sinnen, und nur in den glücklichen Momenten, wo beide sich ungesucht zusammenfinden, entsteht ein schönes Ganze, das Jugend und Leben athmet, und dessen Reitz unnachahmlich ist. Da nun das Interesse des Gegenstandes schon sehr darunter leidet, wenn man für den Gedanken erst den Ausdruck mühsam sucht, was für Produkte müssen dann entstehen, wenn, wie es auch wohl geschieht, zu dem Ausdruk erst der Gedanke gesucht wird. Wenn man, nicht etwa so voll von seinem Gegenstande, daß der gewöhnliche Ausdruck nicht hinlänglich ist, zu dem poetischen sich gedrungen fühlt; sondern weil man gern etwas Poetisches ausarbeiten oder im poetischen Styl sich üben will, nun erst nach einem Stoffe dazu sich umsieht. Oder wenn man, nicht etwa von einer Reihe wichtiger Ereignisse und Begebenheiten so hingerissen, daß man unwillkürlich sie wieder darzustellen strebt, eine Geschichte ausarbeitet, sondern erst irgend einen Stoff aus der Geschichte aufsucht, um sich im historischen Styl

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zu üben; oder wenn man wohl gar den Ausdruck des Pathetischen zu seinem Augenmerk wählt, und noch den Gegenstand nicht weiß. So lächerlich dieß auch klingt, so ist es dennoch öfter, als man glaubt, der Fall; und das Daseyn einer unzähligen Menge mißlungener poetischer Versuche, hat in diesem verkehrten Bestreben seinen Grund, wo man mit dem Ausdruck anfängt, und mit dem Gedanken endigt, das Mittel zum Zweck, den Grund zur Folge macht. Da man doch erwägen sollte, daß man nicht fähig ist, über irgend einen Gegenstand gehörig zu schreiben, für welchen man sich nicht selber auf eine oder die andere Weise interessiret; und daß also jede Uebung im Styl mit der Uebung im Denken unzertrennlich verknüpft ist, und ohne diese mehr schadet, als nützet. Woher entsteht die Sucht zu schreiben anders, als weil man sich schon im Voraus auf den Schimmer der Oberfläche freuet, wozu der Grund noch fehlt. Oder weil man schon an der glänzenden Nebeneinanderstellung einer Reihe von Ausdrücken sich ergötzt, wozu man den Faden erst sucht, der sie verbinden soll. Man könnte bei so manchen Versuchen in Poesie und Prosa die Stellen aufzählen, wo man offenbar siehet, daß der Ausdruck dem Gedanken voranging, oder daß der Verfasser um des Ausdrucks willen erst den Gedanken suchte. Dieß wäre aber nicht zu tadeln, wenn es mit der Lehre vom Styl, so wie man sie vorgetragen findet, seine Richtigkeit hätte; oder wenn die Klarheit, die Deutlichkeit, das Rüh-rende, das Erhabne oder das Pathos, wirklich im Ausdruck läge. Daß dem nun nicht so sey, muß bei dem Nachdenken über den Styl, immer deutlicher einleuchten, je mehr man über das Eigenthümliche desselben zweckmäßige Beobachtungen anstellt, je sorgfältiger man hiebei auf das vollständige Detail der wirklichen Darstellung sich einläßt; und je weniger man durch nichtssagende allgemeine Aussprüche sich die Mühe des gründlichen Nachdenkens zu ersparen sucht.

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Zweite Vorlesung.

Versuch einer nähern Bestimmung des Begriffs vom Styl in Rücksicht auf die gewöhnlichen Eintheilungen desselben. – Die Lebhaftigkeit des Styls durch die Gedankenfülle, in einem Beispiel aus Göthens Schriften. – Der Einzige Weg, wie das Vortrefliche und Schöne in der Schreibart nachgeahmt werden kann.

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Die Eintheilung der Schreibart in die höhere, mittlere und niedere oder vertrauliche, hat ebenfalls zu einer Menge überflüssiger und ganz unzweckmäßiger Regeln Veranlassung gegeben. Freilich findet, nach Beschaffenheit der Gegenstände, eine höhere, mittlere und niedere oder vertrauliche Schreibart statt; aber diese ist nur ein Gegenstand der Beobachtung, und es lassen sich schlechterdings keine Vorschriften darüber geben. Daß z. B. in Geschäftsaufsätzen die höhere Schreibart selten statt findet, kömmt ja nicht daher, weil die Regeln des Styls, sondern weil die Sache selbst es verbietet, und gilt auch n u r i n s o f e r n die Sache es verbietet; denn in Geschäftsaufsätzen kann da, wo zufälligerweise die Materien sich zusammendrängen, und ein großer Gesichtspunkt für eine Sache sich von selbst darbietet, das wahre Pathos eben so wohl, wie in der höchsten Poesie, statt finden. Wenn dieß aber nur selten der Fall ist, so liegt das ja nicht daran, weil zu Geschäften eine besondere sogenannte m i t t l e r e Schreibart erforderlich wäre, sondern diese mittlere Schreibart ist bloß eine natürliche F o l g e von dem gewöhnlichen Gange der Geschäfte, welcher die Aufmerksamkeit zertheilet, und selten einen höhern Schwung des Geistes zuläßt. Eben so ist es auch mit dem Witze: der falsche Witz taugt nirgends, eben so wenig in poetischen, als in Geschäftsaufsätzen. Der wahre Witz aber findet allenthalben eine gute Statt; denn ein wesentliches Erforderniß dessel-ben, besteht mit darin, daß er am g e h ö r i g e n O r t e angebracht sey.

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Daß er nun aber in Geschäftsaufsätzen nur selten eine Stelle findet, kömmt nicht daher, weil er, wegen der erforderlichen Schreibart, nicht darin angebracht werden d ü r f t e , sondern weil er theils wegen der Wichtigkeit, und theils auch wegen der Trockenheit der Sachen, nur selten auf eine schickliche und ungekünstelte Weise, darin angebracht werden k a n n . Demohngeachtet aber wird der witzige Kopf, der tiefe Denker, und der Kenner des Schönen, auch immer noch aus dem trocknen Geschäftsaufsatze, wo nur irgend eine Veranlassung sich darbietet, der Sache unbeschadet, hervorleuchten. Durch das Eigenthümliche in der Bearbeitung wird sich die Schreibart nicht nur von selbst verschönern, sondern auch der Gegenstand zugleich tiefer erschöpft werden, wenn irgend eine eigenthümliche Kraft der Seele sich in der Beobachtung desselben ungehindert entwickeln kann. Die Grenzen wird alsdann die Sache selbst schon vorschreiben. Denn das Schwülstige, Gesuchte, und Gekünstelte im Ausdrucke entsteht ja nur vorzüglich daher, wenn einer die Aufmerksamkeit seiner Seele mehr auf die Worte als auf den Gegenstand richtet, und eine gewisse Kraft oder Nachdruck in die Worte legen will, die in dem Gegenstande selbst nicht liegt, oder die er doch selbst nicht darin empfindet. Man merkt aber sehr bald den Unterschied, wenn ein figürlicher Ausdruck von warmer Imagination gebildet, den ganzen Gedanken aufhellt, und der Rede selber ein höheres Leben giebt; und wenn ein herbeigezogenes, gekünsteltes, und gesuchtes Bild, ohne Einklang, Geist, und Leben, immer nur einzeln dasteht, und bei dem Leser weder das Herz noch den Verstand beschäftigt. Wie leicht aber wird der Jüngling verführt nach solchem erborgten Schmuck der Rede zu haschen, wenn er sich die höhere Schreibart, wie eine besondere Gattung des Ausdrucks, und nicht vielmehr wie den zufälligen aber wahren Nachklang einer höher gestimmten Empfindung denkt. Der geheime Grund des Gesuchten und Gekünstelten in der Schreibart liegt aber ge-meiniglich darin, daß man beim Schreiben

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durch irgend ein hochtönendes Wort, w e l c h e s m a n s i c h s e l b e r i n G e d a n k e n v o r s a g t , erst seine Empfindung zu stimmen sucht, statt daß die Empfindung die Worte stimmen sollte. Darum kann man nicht genau genug die Grenzlinie zwischen Sache und Ausdruck ziehen, damit man nicht durch Wort und Bild sich täusche. Der Sprachgebrauch ist in Ansehung des Worts S c h r e i b a r t oder S t y l so äußerst schwankend, daß dieß so häufig vorkommende Wort in jeder Rücksicht einer nähern Bestimmung bedarf. Man sagt: eine witzige Schreibart, eine pathetische Schreibart, und dann auch wieder eine lebhafte, eine matte, eine trockne Schreibart, – unmöglich kann aber S c h r e i b a r t in diesen verschiedenen Bedeutungen immer einen und eben denselben Begriff bezeichnen. Wenn ich sage eine witzige oder lebhafte Schreibart, so muß ich mir unter Schreibart nothwendig und vorzüglich die ganze Vorstellungsart mit denken, denn darin liegt ja das Witzige und das Pathos eigentlich, und der Buchstabe deutet es nur an. Man sagt ja niemals: dieser Ausdruck ist witzig, sondern, dieser Gedanke oder dieser Einfall ist witzig; und nicht dieser Ausdruck, sondern diese Vorstellung ist rührend oder pathetisch; darum heißt es auch d e r A u s d r u c k d e s P a t h e t i s c h e n , d e s R ü h r e n d e n , u. s. w. und eben so wenig, wie es nun an sich pathetische und witzige Ausdrücke gibt, eben so wenig kann auch das Witzige oder Pathetische im eigentlichen Sinne eine besondere Schreibart ausmachen, die man die witzige oder pathetische Schreibart nennen könnte. S c h r e i b a r t ist in dieser Verbindung ein sehr unschickliches Wort, daß der Sprachgebrauch eingeführt hat. W i t z , P a t h o s – und S c h r e i b a r t stehen in einem disharmonirenden Gegensatze: W i t z und P a t h o s bezeichnen die tiefste Grundlage, S c h r e i b a r t nur die Oberfläche. Daß man nun diese Oberfläche als die Hauptsache betrachtet, wovon witzig, pathetisch u. s. w. gleichsam nur Eigenschaften seyn sollen, ist eben die falsche Vorstellungsart, wo-durch so mancher verleitet worden ist, dem Witz im Ausdruck nachzujagen, wozu sich in seiner Vorstellungskraft selber keine Quelle fand.

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Die kindischen Wortspiele selber scheinen daher vorzüglich ihren Ursprung zu haben, daß man den Witz im Ausdruck suchte. Lebhaftigkeit und Trockenheit aber finden schon eher in Ansehung des Ausdrucks statt. Ein sehr interessanter Gedanke kann durch den Ausdruck matt werden, wenn eine zu große Anzahl Worte, die das Gedächtniß fassen soll, die Aufmerksamkeit auf den Gedanken selber schwächen. So kann auch eine gewöhnliche und alltägliche Wahrnehmung zuweilen bloß durch die Kürze des Ausdrucks, der sie darstellt, einen neuen Reitz erhalten. Ueber die Nichtigkeit des menschlichen Lebens z. B. ist so viel gepredigt worden, daß dieser Gedanke dadurch ganz alltäglich und gewöhnlich geworden ist; wie hebt er sich aber wieder, wenn alles, was über diesen Gegenstand nur gesagt werden kann, so nahe z u s a m m e n g e d r ä n g t wird, daß die Sprache gleichsam sich selber ihre Grenze bezeichnet, wo sie über gewisse Dinge verstummen muß, wenn nicht alles, was sie nun noch ferner darüber sagen will, bloß eine matte Wiederhohlung desjenigen seyn soll, was schon gesagt ist. Wir beobachten also in dem folgenden Beispiele, wie der so oft wiederhohlte Gedanke, d a ß d a s L e b e n d e s M e n s c h e n n u r e i n Tr a u m s e y , allmälig ein neues Interesse erhält; jemehr man sieht, daß es dem Schriftsteller nicht sowohl darum zu thun war, etwas Schönes oder Auffallendes zu sagen, als vielmehr seine innersten Gefühle, wo möglich, auszusprechen: »Daß das Leben des Menschen nur ein Traum sey, ist manchem schon so vorgekommen, und auch mit mir zieht dieß Gefühl immer herum.« Hier ist alles ungeschmückt; die Darstellung hebt mit dem unwillkürlichen Ausbruch der Empfindung an, welchen nun das Nachdenken sich zu entwickeln strebt, bis es über seiner vergeblichen Anstrengung ermüdend, den Versuch ganz aufgiebt, und gleichsam sich selber, in den Traum, woraus es sich empor arbeiten wollte, wieder zurücksinken läßt.

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Es ist gleichsam ein wiederhohlter Ansatz der Denkkraft, der Sache näher zu kommen, bis zuletzt die Unmöglichkeit, weiter zu dringen, den Gedanken hemmt, und die Sprache verstummen läßt. »Wenn ich die Einschränkung so ansehe, in welche die thätigen und forschenden Kräfte des Menschen eingespert sind;« Ansatz: »wenn ich sehe, wie alle Wirksamkeit darauf hinausläuft, sich die Befriedigung von Bedürfnissen zu verschaffen, die wieder keinen Zweck haben, als unsere arme Existenz zu verlängern;« Ansatz: »und denn, daß alle Beruhigung über gewisse Punkte des Nachforschens nur eine träumende Resignation ist, da man sich die Wände, zwischen denen man gefangen sitzt, mit bunten Gestalten, und lichten Aussichten bemahlt; –« Hemmung: »Das alles, Wilhelm, macht mich stumm.« Das letztere Bild, welches die undurchdringliche Scheidewand darstellt, wo unser Denken aufhört, und auf welcher alles, was wir j e n s e i t zu sehen glauben, nur täuschende Bilder d i e ß s e i t s sind, ist auch das letzte, was die Sprache von dem Gedanken, der hier nun seine Endschaft erreicht hat, ausdrücken kann; wo alles, was nun noch folgen könnte, bloß eine matte Wiederhohlung des Vorhergehenden seyn müßte, welches nun eben durch den vielsagenden Schluß: d i e ß a l l e s , W i l h e l m , m a c h t m i c h s t u m m , weit lebhafter bezeichnet wird, als es auf irgend eine andre Art hätte bezeichnet werden können. In einer Anweisung zur Beredsamkeit, nach dem gewöhnlichen Zuschnitt, würde man diese wiederhohlte Gedankenanstrengung oder Gedankenansatz mit der plötzlichen Hemmung, auch wohl bald zu den R e d e f i g u r e n zählen, und ihr einen eigenen Nahmen geben, ohne zu erwägen, daß der Schriftsteller wahrlich an keine Redefigur dachte, da er diesen Gedanken so wahr und innig, aus der Tiefe seiner Empfindung niederschrieb; und daß die ganze schöne Bildung des Ausdrucks eben dadurch ent-standen ist, weil der Schriftsteller die

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ganze Aufmerksamkeit seiner Seele nur auf die Entwickelung seiner Empfindung richtete, und deswegen weil ihm um die Sache zu thun war, so wenig Worte wie möglich brauchte, um die Aufmerksamkeit nicht zu zerstreuen. Da nun der Gedanke nach außen zu sich auf allen Seiten beschränkt findet, so kehrt er in sich selbst zurück; und als er sich auch da gehemmt sieht, erliegt die Denkkraft in ihrer Anstrengung; und dieß Erliegen der Denkkraft selbst macht nun hier den schönsten und wahrsten Schluß des Gedanken aus, indem er ihn am v o l l s t ä n d i g s t e n darstellt, weil er seine G r e n z e n bezeichnet. Ansatz: »Ich kehre in mich selbst zurück, und finde eine Welt.« Hemmung: »Wieder mehr in Ahndung und dunkler Begier, als in Darstellung und lebendiger Kraft.« Hemmung: »Und da schwimmt alles vor meinen Sinnen, und ich lächle dann so träumend weiter in die Welt.« Hiemit ist nun erschöpft, was über den Gegenstand, d a ß d a s L e b e n d e s M e n s c h e n n u r e i n Tr a u m s e y , gedacht und gesagt werden kann. Und dieß kann n u r e i n m a l so schön und wahr gesagt werden. Wer dieß nun nachahmen und eben dasselbe anders sagen wollte, würde es schlechter sagen müssen, weil hier die Schönheit des Ausdrucks gerade darin besteht, daß alles so und nicht anders auf einander folgen kann, wie es wirklich folgt; und daß diese Folge gar nicht zufällig, sondern in der Natur der Sache gegründet ist. Daß bei dem w a h r e n Ausdruck die Lippe verstummt, wo die Denkkraft nicht weiter vordringen kann, ist nicht zufällig, sondern nothwendig, und wenn dieß Verstummen gerade zu selbst mit ausgedrückt wird, so hat der Ausdruck eben dadurch seine höchste Wahrheit erhalten. – Man sieht deutlich, daß es dem Schriftsteller nicht um Worte, sondern um die Sache zu thun ist, weil er da lieber schweigt, wo die Fortsetzung von Worten leer seyn würde.

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Daß aber der von außen gehemmte Gedanke, der nicht ruhen kann, zuletzt noch in sich selbst zurückgedrängt wird, ist ebenfalls n o t h w e n d i g , und da er auch hier nichts Fertiges und Vollendetes findet, worauf das übrige abzwecken könnte, s o h ö r t d a s D e n k e n a u f – aber das Leben dauert fort – »Und da schwimmt alles vor meinen Sinnen, und ich lächle dann so träumend weiter in die Welt.« Um schön und musterhaft zu schreiben, und seine Gedanken lebhaft auszudrücken, kömmt es aber vorzüglich darauf an, mit so wenig Worten, wie möglich, so v i e l wie möglich zu bezeichnen, und wenn man daher eine Sache, wovon eine ganze Abhandlung hindurch die Rede ist, mit einem einzigen Perioden erschöpfen könnte, so würde dieß natürlicher Weise die vorzüglichste Art des Ausdrucks seyn. Nun müssen wir aber bei jedem Gegenstande des Denkens mit unserer Denkkraft gleichsam immer von neuem ansetzen, um der Sache näher zu kommen. Bei jedem neuen Ansatz dieser Art aber müssen wir uns den H a u p t g e g e n s t a n d immer wieder lebhaft vorstellen, und ihn uns selbst durch das, was wir darüber sagen, deutlicher zu machen suchen. Jeder Versuch dieser Art ist ein Bestreben, die Sache in so k u r z e n Wo r t e n w i e m ö g l i c h zusammenzufassen, und im Grunde d a s s e l b e , was man über die Sache denkt, immer noch besser zu sagen, als man es schon gesagt hat, indem man versucht, die Worte selbst, wenn es möglich wäre, in Gedanken zu verwandeln. Diese A n s t r e n g u n g aber macht, daß man sich nie wiederhohlt, sondern, indem man immer dasselbe auszudrücken strebt, es doch immer auf eine n e u e Art versucht, wodurch man der Sache näher kommt. Auf die Weise erneuert nun die Denkkraft so lange ihre Versuche, bis sie sich selber ein G e n ü g e gethan hat. Und die einzelnen Perioden sind daher bloß dasjenige, wodurch die wiederhohlten Bestrebungen der Denkkraft, den Gegenstand des Denkens zu umfassen, ihre Spur bezeichnen.

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Die Worte sind also eigentlich ein Zeichen der Eingeschränktheit der Denkkraft, die sich vermittelst derselben aufs neue an das, was sie sich zum Ziele setzt, erst wieder erinnern, und es sich vergegenwärtigen muß; so daß sie stets von neuem ihr Geschäft wieder anzufangen genöthigt ist, bis sie alles, was zur Sache gehört, erschöpft hat. Je weniger Ansätze nun aber die Denkkraft zu machen nöthig hat, um ihren Gegenstand zu erschöpfen, jemehr sie mit einem einzigen Ausdrucke zusammenfassen, und dem Leser deutlich vor Augen stellen kann, desto vortreflicher ist die Schreibart. Eine solche Schreibart kann aber nicht sowohl durch Uebung im Schreiben, als vielmehr durch Uebung im Denken, nachgeahmet werden. Denn die Vortreflichkeit der Schreibart erwächst ja nur aus der Fülle der Gedanken, welche man gerne zusammenhalten, und so wenig wie möglich durch Worte vereinzeln und zerstückeln will. Wenn nun eine solche Fülle von Gedanken nicht vorhergeht, so wird man sich vergeblich bemühen etwas Schönes und Vortrefliches zu sagen; denn wo nichts zusammenzudrängen ist, da kann auch der Ausdruck nicht gedrängt und voll seyn. Um etwas so schön und wahr zu sagen, wie in der zum Beispiel angeführten Stelle, muß zu dem Ausdruck der ganze I d e e u m f a n g herzugebracht werden, wovon allein die Schmucklosigkeit und Bescheidenheit im Ausdruck eine Folge ist. Denn je begrenzter dieser I d e e u m f a n g ist, desto geschmückter und prunkvoller wird der Ausdruck seyn, weil die Thätigkeit der Seele doch irgend einen Spielraum haben will, und nun am Ausdruck schnitzelt und künstelt, weil sie an dem Gegenstande selber nicht hinlängliche Beschäftigung findet. Nur derjenige, welcher tief die Scenen des Lebens durchempfunden, und wessen Geist über kleinliche und eitle Bestrebungen sich zu erheben gelernt hat, ist vermögend mit so viel Natur und Wahrheit, wie in dem angeführten Beispiele, über den Traum des Lebens Betrachtungen anzustellen. Wer also einen solchen Schriftsteller nachahmen will, der muß es dadurch thun, daß er durch Erhebung seines Geistes die Größe der

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Denkart und Vorstellungsart sich zu eigen zu machen sucht, wodurch sich bei jenem Gedanke und Ausdruck erst bildete, und wovon der Ausdruck nur eine Spur ist, und nur in so fern Werth hat, als er uns in den Geist des Schriftstellers, und in den Reichthum seiner Gedanken und Empfindungen blicken läßt.

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Dritte Vorlesung.

Von der Vermeidung des Versmäßigen oder der Wiederkehr des Gleichlautenden in der Prosa, in einigen Beispielen. – Von der Ründung des Perioden in einem Beispiele. – Von der Fertigkeit seine Gedanken durch den Ausdruck, und den Ausdruck durch den Gedanken zu prüfen. – Von der klugen Auswahl desjenigen, w a s z u r S a c h e g e h ö r t , in einer horazischen Epistel.

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Indem ich über den Styl schreibe, muß ich in jedem Augenblick selber die Anwendung von demjenigen machen, was ich schreibe. Ich muß daher auf mich selber aufmerksam seyn, und die Schwierigkeiten beobachten, welche zum öftern den Fluß der Worte im Schreiben hemmen, weil in dem Gefühle dieser Schwierigkeiten, und in der Ueberwindung derselben doch eigentlich die Kunst zu schreiben besteht, und ich von dieser Kunst nur in so weit Rechenschaft geben kann, als ich sie selbst besitze. Ich führe zu dem Ende ein Beispiel aus meiner ersten Vorlesung an, welches zu denen gehört die am häufigsten vorkommen; es ist folgende Stelle: »Denn man denkt sich doch unter Styl das Eigenthümliche, woran man die Schreibart eines jeden wieder erkennet, und wodurch sie eigentlich erst zur Schreibart wird, nun aber finden ja über das Eigenthümliche keine Regeln statt.«

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Hier hatte ich erst gesetzt: »nun finden a b e r ü b e r das Eigenthümliche keine Regeln statt.« a b e r ü b e r konnte unmöglich zusammen stehn bleiben; ich setzte also: »nun finden ü b e r das Eigenthümliche a b e r keine Regeln statt.« Dieß klang beinahe so als ob a b e r ein Substantivum, und von einem eigenthümlichen A b e r die Rede gewesen wäre. Ich änderte daher: »aber nun finden über« u. s. w. Allein das a b e r im Anfange macht hier einen zu starken Einschnitt, weil kein anderer Periode angeht, sondern der letzte Satz sich an den vorhergehenden hinanfügen soll. Nachdem ich nun i n d e r G e s c h w i n d i g k e i t , das a b e r auf diese dreierlei Arten versetzt hatte, blieb ihm zuletzt die rechte Stelle nach n u n übrig: »nun a b e r finden ü b e r « u. s. w. Aber auch hier schien mir das a b e r und ü b e r noch zu nahe zusammen zu stehen; indem ich nun das Wörtchen j a einschob, glückte es mir das a b e r und ü b e r gehörig von einander zu trennen, ohne doch den Gedanken zu schwächen, der vielmehr an Lebhaftigkeit dadurch gewann, und der letzte Ausdruck blieb also: »nun aber finden ja über das Eigenthümliche keine Regeln statt.« Wir wollen itzt alle diese Versuche zum Gegensatze untereinander stellen: »nun finden a b e r ü b e r das Eigenthümliche keine Regeln statt.« »nun finden ü b e r das Eigenthümliche a b e r keine Regeln statt.« » a b e r nun finden ü b e r das Eigenthümliche keine Regeln statt.« »nun a b e r finden ü b e r das Eigenthümliche keine Regeln statt.« »nun a b e r finden j a ü b e r das Eigenthümliche keine Regeln statt.« Als ein zweites Beispiel führe ich noch folgende Stelle aus meiner ersten Vorlesung an: »Das Daseyn einer Menge mißlungener poetischen Versuche, hat in diesem verkehrten Bestreben seinen Grund, wo man mit dem Aus-

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druck anfängt, und mit dem Gedanken endigt, das Mittel zum Zweck, den Grund zur Folge macht.« Hier hatte ich erst gesetzt: »Das Daseyn einer Menge mißlungener poetischen Versuche l ä ß t sich aus diesem verkehrten Bestreben erklären.« Die Ausdrücke, die hier aufeinanderfolgen, und wovon jeder zwei kurze und in der Mitte eine lange Sylbe hat, verursachen schon durch den gleichen Silbenfall eine unausstehlich wiedrige Eintönigkeit: 37

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Ž  Ž aus diesem verkehrten Bestreben erklären. Dazu kömmt noch daß in v e r k e h r t e n B e s t r e b e n e r k l ä r e n , das e und ä immer in der Hauptsilbe hervortönt, und daß dadurch die Aufmerksamkeit von dem Gedanken abgelenkt, und auf den immer wiederkehrenden Laut gezogen wird, welches in der Prose auf alle Weise vermieden werden muß. Ich setze also: »Das Daseyn einer Menge mißlungener poetischen Versuche e r klärt sich aus diesem verkehrten Bestreben.« Allein der Silbenfall ist noch immer zu versmäßig, und erregt mehr Aufmerksamkeit, als er in der gewöhnlichen Prose erregen soll.

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erklärt sich aus diesem verkehrten Bestreben. Auch macht das vortönende ä und e in den e r k l ä r t , v e r k e h r t e n , und B e s t r e b e n immer noch einen wiedrigen Gleichlaut, obgleich diese Wörter nicht mehr unmittelbar aufeinander folgen. Ich sehe also wohl, ich muß das Wort e r k l ä r e n selbst, wo möglich, mit einem andern vertauschen, wodurch der Gedanke nicht geschwächt,

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und doch die Eintönigkeit in der Wortfolge und dem Silbenfall vermieden wird. Ich setze also: »Hat in dem verkehrten Bestreben s e i n e n Grund.« Nun folgen zwar noch dreimal zwei kurze und in der Mitte eine lange Silbe aufeinander:

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hat in dem verkehrten Bestreben, aber durch den Schlußfall

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seinen Grund, Wo man gerade umgekehrt zwei lange und in der Mitte eine kurze Silbe vernimmt, wird nun die vorhergehende Eintönigkeit wieder gehoben; der Silbenfall verliert auf einmal das unangenehme Ve r s m ä ß i g e , weil der Wiederkehr des Gleichlautenden durch das ganz Entgegengesetzte vorgebeugt wird, und nun die Rede wieder ihren g e w ö h n l i c h e n a b w e c h s e l n d e n Gang geht. Nun heißt es also: »Hat in diesem verkehrten Bestreben seinen Grund, wo man mit dem Ausdruck anfängt, und mit dem Gedanken endigt, das Mittel zum Zweck, den Grund zur Folge macht.« Hier wollte ich erst den Perioden schließen: »Indem man das Mittel zum Zweck macht.« Nun schien es aber dem Perioden an einem ordentlichen S c h l u ß f a l l zu fehlen; – er klang als ob er plötzlich a b g e b r o c h e n wäre: »Indem man das Mittel zum Zweck macht.« Es scheint hier mehr dem Klange des Perioden, als dem Ausdruck des Gedanken an seiner Vollständigkeit zu fehlen. – Hier aber ist eben der Punkt, wo das Mechanische im Ausdruck mit dem Gedanken selber auf das innigste verwebt ist. – Wenn der Periode nicht gehörig austönt, so ist es, als ob dem Nachdenken die Zeit benommen würde,

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auf seinem Gegenstande ruhig zu verweilen. – Es ist nicht bloß das Ohr, sondern das Nachdenken selber, welches durch den volltönenden Perioden befriedigt seyn will. Ich suche daher einen Ausdruck, welcher, ohne dem Gedanken zu schaden, dem Perioden seine Ründung giebt; nun finde ich eine ähnliche Beziehung zwischen G r u n d und F o l g e , wie zwischen Mittel und Zweck, ohne daß es doch gänzlich dieselbe wäre; diese beiden Beziehungen nebeneinander gestellt, klären sich selbst einander auf, und der Zusatz: »Den Grund zur Folge macht« giebt dem letzteren Theil des Perioden eine harmonische Uebereinstimmung mit dem Vorhergehenden, in Ansehung der D a u e r d e s f o r t s c h r e i t e n d e n S i l b e n f a l l s , welcher gleichsam die fehlenden Momente herbeiführt, die zu der ruhigen Darstellung des Gedanken noch erfordert wurden. Wenn es nun eine Kunst zu schreiben gibt, so muß sie vorzüglich in der Fertigkeit bestehen, sich in jeden Augenblick, wo man schreibt, in die Stelle des Lesers zu versetzen, und gleichsam v e r g e s s e n z u können, daß man das alles selbst schon weiß, was man geschrieben hat. Daher sind auch diejenigen, welche sich in dieser Kunst üben wollen, anfänglich genöthigt, ihre Aufsätze wegzulegen, und sie erst nach einiger Zeit wieder anzusehen, um die Darstellung der Gedanken, als eine f r e m d e A r b e i t zu betrachten und beurtheilen zu können. Jemehr man in der Fertigkeit zu schreiben zunimmt, desto kleiner kann auch der Zwischenraum seyn, in welchem man fähig ist, die Darstellung seiner eigenen Gedanken zu beurtheilen, bis man endlich dahin kömmt, daß s i c h z u l e t z t d e r G e d a n k e i n d e m A u s d r u c k u n m i t t e l b a r s p i e g e l t , indem der Gedanke selbst den Ausdruck prüft, wodurch er sich auf dem Papiere darstellt, und indem man gleichsam durch diese Darstellung auf den Gedanken selbst die Probe macht. Dieß setzt aber schon eine v o r z ü g l i c h e U e b u n g i m D e n k e n voraus, ohne welche man nicht im Stande seyn wird, Gedanken und

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Ausdruck mit einander zu v e r g l e i c h e n und beide miteinander abzuwägen. Denn um den Ausdruck zu prüfen, muß man den Gedanken an sich selbst g l e i c h s a m o h n e Wo r t e durchschauen, weil man sich gewissermaßen über die Worte wegsetzen, und sich die S a c h e s e l b s t deutlich vorstellen muß, wenn man die Worte gehörig beurtheilen will. Wer dieß nicht kann, der dreht sich immer in einem Zirkel von Worten herum, und kömmt nie z u r S a c h e . Die S a c h e s e l b s t aber ist der eigentliche Gegenstand des Denkens, in so fern man sich denselben a n s c h a u l i c h , ohne Worte, vorstellt, und der also selbst mehr als alle Worte ist, weil diese nur erst in Beziehung auf ihn wichtig werden, und Zweck und Bedeutsamkeit erhalten. Ohne sich weiter darüber erklären zu können, – unterscheidet man doch immer die S a c h e wovon die Rede ist, von den Worten die darüber gesagt werden, und durch den Ausruf: z u r S a c h e ! sucht man den Schwätzer von seiner Ausschweifung in Worten zurückzubringen. Die S a c h e s e l b s t ist dasjenige, was man nicht mit einem einzigen Worte aussprechen kann, sondern mit allen den Worten auszusprechen sucht, die man über die Sache sagt. Wem nun aber um die Sache nicht zu thun ist, der sagt die Worte nur um der Worte willen, und bei dem hohlt nur ein Wort das andre. In Ansehung des Praktischen gilt bloß der gute Rath, daß man sich unaufhörlich bestreben müsse, nichts zu sagen, als was zur Sache gehört; in Ansehung des Theoretischen kann man nur beobachten, in wie fern dasjenige, was gut gesagt ist, immer zur Sache abzweckt, und in wie fern dasjenige, was schlecht gesagt ist, z u n i c h t s a b z w e c k t . Von dem, was sehr gut gesagt ist, mag die folgende Epistel des Horaz zum Beispiele dienen, worinn derselbe seinen Freund Septimius dem jungen Tiberius, empfiehlt, welcher dem August in der Regierung folgte.

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Es ist wohl der Mühe werth, den feinen Wendungen nachzuspähen, wodurch die letzte nachdrückliche Empfehlung, n i m m i h n a u f m e i n Wo r t f ü r b r a v u n d g u t ! diese ganze Epistel hindurch vorbereitet wird, in welcher jedes Wort mit der größten Behutsamkeit gewählt und gewogen ist.

Septim ist wohl der einzge, Claudius, der das Geheimniß ausgefunden hat wieviel ich bei dir gelte: Wenigstens indem er mich ersucht und durch sein Bitten mich nöthigt, dir von ihm zu sprechen, und ihn dir als einen zu empfehlen, der des Herzens und Hauses Nerons, wo der Zutritt nur Verdiensten offen ist, nicht unwerth sey, indem er also mich für einen deiner Vertrauten hält, so sieht und weiß er freilich was ich vermag weit besser, als ich selbst. Nun hab ich alles zwar hervorgesucht den Auftrag von mir abzulehnen: doch aus Furcht, er könnte denken, daß ich meinen Credit aus bloßem Eigennutz verläugne, und mich ärmer stellte, als ich wirklich sey: so blieb mir endlich nichts, als mit dem Vorzug der Stirne eines Mannes von Lebensart mir durchzuhelfen. Solltest du indessen die einem Freund zu lieb hintangesetzte Scham verzeihlich oder gar verdienstlich finden! so schreibe diesen in die Zahl der Deinen, und nimm ihn, auf mein Wort, für gut und brav! Wielands Uebersetzung.

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Hier ist kein Wort überflüssig; durch die liebenswürdigste Bescheidenheit mit dem edelsten Selbstgefühl verknüpft, empfiehlt der Empfehlende sich selbst, und durch den feinsten Scherz bringt er ein ernsthaftes Anliegen an den rechten Mann. So groß die Feinheit und die Kunst ist, welche in dieser Zusammensetzung herrscht, so ungekünstelt scheint das Ganze. Es hebt halb scherzhaft und halb ernsthaft mit der feinen bescheidenen Wendung an: »Septim muß besser wissen als ich selbst, wie viel ich bei dir gelte, weil er so sehr mit Bitten in mich dringt, daß ich ihn dir empfehlen soll.« Man vergleiche nun mit diesem trocknen Auszuge des ersten Gedanken die feine und ungekünstelte Darstellung desselben in der Epistel des Horaz. Die artigste Wendung, die man sich denken kann, ist nun die bescheidne Ve r l e g e n h e i t , in welcher sich der Empfehlende seinem Vorgeben nach befindet, daß er, wenn er es wagt, seinen Freund zu empfehlen, den Vorwurf der Unbescheidenheit, und wenn er es ablehnet, den Vorwurf des Eigennutzes von seinem Freunde, befürchten müsse; daß er sich also hier nicht anders, als mit ein wenig Unverschämtheit zu helfen wisse. Damit nun aber die Bescheidenheit nicht zu weit getrieben werde, so tritt noch am Schluß des Briefes, gerade zur rechten Zeit, die Sprache des Selbstgefühls und edlen Zutrauens wieder in ihre Rechte: »Solltest du die einem Freunde zu Liebe hintangesetzte Bescheidenheit verzeihlich oder gar verdienstlich finden: so schreibe diesen in die Zahl der Deinen, und nimm ihn auf mein Wort für brav und gut!« In kürzern und abgewogenern Worten läßt sich nicht leicht ein Gegenstand zusammenfassen, als diese Empfehlung eines Freundes an einen Großen, die im Grunde ernst und nachdrücklich seyn sollte, und bei welcher doch jeder Schein von zu großer Anmaßung oder Absichtlichkeit auf das sorgfältigste vermieden werden mußte, wenn sie ihrer Wirkung nicht verfehlen sollte.

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Daß es dem, der dieß schrieb, um die S a c h e zu thun war, sieht man aus jeder Wendung, die er nimmt; und eben diese feinen Wendungen, w e l c h e d o c h i m G r u n d e d u r c h d a s B e d ü r f n i ß d e r S a c h e e n t s t a n d e n , machen die Schönheit dieses Briefes aus; denn da die Worte an sich und durch ihre Vielheit keinen Werth haben, so ist es nur die Z w e c k m ä ß i g k e i t in ihrer Wahl und Stellung, die wir bewundern. Der halb scherzhafte Ton, welcher durchgängig in diesem Briefe herrscht, macht, daß der Ausdruck der Bescheidenheit nicht kriechend, und die Freimüthigkeit nicht anmaßend wird; wie denn überhaupt diese halb scherzhafte Wendung wodurch man die Sache so wenig wie möglich von ihrer feierlichen Seite darstellt, am sichersten ihre Wirkung thut; denn dieß giebt gleichsam nur einen leichten Anstoß zu eignem Nachdenken und eignem Handeln, und erreicht gerade durch seine wenige Anmaßung am ersten seinen Zweck. Wer nun Horazens Schreibart nachahmen will, der muß erst von ihm die Lebensklugheit lernen, und sich zu eigen machen, worauf sich diese leichte, kunstvolle und doch ungekünstelte Schreibart gründet. Aus dieser wird sich denn, bei demjenigen, welcher nicht ohne natürliche Anlage ist, eine eigenthümliche Schreibart bil-den, welche, gleich der Horazischen, ein Abdruck richtiger Urtheilskraft und feiner Empfindung ist. Wer seine Gedanken so zweckmäßig darstellen konnte, der mußte im höchsten Grade die Fertigkeit besitzen, den Ausdruck selber durch den Gedanken unmittelbar zu prüfen, und ganz von der Sucht befreit seyn, etwas vorzüglich Schönes oder Witziges s a g e n z u w o l l e n . Dieser kurze Brief ist daher auch ein treffendes Gemählde von dem Geiste des Verfassers, und dem hohen Grade von feiner Bildung, welchen eine solche Sprache voraussetzt, und ohne welche es stets vergeblich seyn würde, dieselbe nachzuahmen. Denn je weniger bedeutend, und je leichter hingeworfen die einzelnen Ausdrücke scheinen, desto sprechender ist das G a n z e , dessen Zusammensetzung durch die Lebhaftigkeit der Gedanken, durch die deutliche Vorstellung von der Lage der Sache, und durch ein richtiges Gefühl des Schicklichen entstanden ist.

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Das Studium eines solchen Aufsatzes wird also vorzüglich dadurch nützlich, daß durch die Bemerkung der feinen Züge in demselben, das Gefühl des Schicklichen bei dem Leser selbst ge-schärft, und der schöne Abdruck eines gebildeten Geistes der Seele gleichsam eingeprägt wird. U n m i t t e l b a r e Nachahmung der S c h r e i b a r t wird immer steif und sklavisch seyn; von der Schönheit des Originals wird jede Spur in ihr verlöschen; sie wird sich nie aus dem Staube empor heben, und sicher ihres Zwecks verfehlen.

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Worauf es bei der U e b e r s i c h t einer Sache ankömmt. – Wie man a n f a n g e n soll, über eine Sache zu schreiben? – Prüfung des Anfanges oder Einganges zu diesen Vorlesungen über den Styl. – Etwas über den Nutzen und den Gebrauch der Regeln. Um einen Gegenstand, worüber man schreiben will, gehörig zu ü b e r s e h e n , muß man ihn anfänglich nicht zu sorgfältig im Einzelnen, oder gleichsam nicht in z u g r o ß e r N ä h e , betrachten, weil sonst die Aufmerksamkeit zu sehr auf die Theile geheftet wird, und zuletzt das Ganze nicht mehr umfassen kann. Man muß viel mehr die einzelnen Theile zuerst nur flüchtig durchgehen, und sie gleich-sam nur obenhin betrachten, um gleich anfänglich wenigstens einen ohngefähren Begriff von dem ganzen U m f a n g e der Sache zu bekommen, weil sonst alles noch so sorgfältige Nachdenken über jeden einzelnen Punkt zu nichts hilft, und man der Sache dadurch um keinen Schritt näher kömmt, wenn man auch von jedem einzelnen Umstande an sich die deutlichste Vorstellung hätte, und einen nach dem andern noch so richtig aufzählen könnte.

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Wenn man also nur erst o h n g e f ä h r den ganzen Umfang der Sache einmal gefaßt hat, so kann man sich alsdann schon in die sorgfältigere Betrachtung und Erwegung der einzelnen Umstände wieder einlassen, und nach und nach durch die deutlichere Vorstellung des Einzelnen, den noch schwankenden und ohngefähren Begriff, den man vom Ganzen gefaßt hatte, zu berichtigen suchen. Diese Leichtigkeit einen Gegenstand zu umfassen, ist es eben, was man die Gabe der P e n e t r a t i o n oder eine durchdringende Urtheilskraft nennt, welche g e w i s s e r m a ß e n auch durch Uebung erlangt werden kann, wenn man die Aufmerksamkeit der Seele nur von den Theilen auf das Ganze zu heften sucht, und das Einzelne mit Fleiß in seiner Vorstellung verdunkelt, um sich dadurch den Ueberblick des Ganzen zu erleichtern. Denn so wie man ein Gemählde, um es im Ganzen zu übersehen, auch in der gehörigen E n t f e r n u n g betrachten muß, weil die zu große Annäherung des Auges den Ueberblick des Ganzen unmöglich macht; so muß auch die Aufmerksamkeit der Seele auf dem Gegenstande des Denkens gleichsam nicht zu dicht aufliegen, sondern ihn mehr seitwärts und flüchtig zu fassen suchen, weil man sonst über dem letztern immer das erstere schon wieder vergessen hat, und niemals das Z u s a m m e n g e h ö r i g e z u s a m m e n f a ß t . Man muß also die Aufmerksamkeit auf das Einzelne sogar mit Fleiß zu s c h w ä c h e n suchen, um das Ganze gehörig zu übersehen. Man schwächt aber die Aufmerksamkeit auf das Einzelne vorzüglich dadurch, d a ß m a n D i n g e v o n v e r s c h i e d e n e r A r t z u s a m m e n d e n k t ; so denke ich mir z. B. Einen Baum, ein Pferd, eine Stadt – und wenn ich diese drei Begriffe in meiner Vorstellung zusammenfassen will, so kann von jedem einzelnen nur eine sehr o b e r f l ä c h i g e Idee statt finden, weil sie von so verschiedener Art sind, daß nur ein schwacher Faden von Aehnlichkeit sie in meiner Einbildungskraft zusammenhält. Es sind alle drei körperliche sichtbare Gegenstände; von allen dreien läßt sich ein Bild entwerfen; der Baum bringt die Pflanzenwelt, das Pferd die lebende Welt, die Stadt die Bildung des Menschen, und

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seine Werke, meinem Gedächtniß in Erinnerung; j e v e r s c h i e d e ner die Art der Gegenstände ist, die ich mir zusammendenke, desto größer ist der Umkreis, den meine Ideen dadurch erhalten. Um also eine Sache in ihrem ganzen Umfange zu übersehen, ist es nöthig, sich ihre v e r s c h i e d e n a r t i g s t e n T h e i l e , so viel wie möglich zusammen zu denken, weil man alsdann auch alles dasjenige, was dazwischen liegt, obgleich nur dunkel, mit begreift, und also gleichsam schon einen anschaulichen Be-griff von der Sache hat, ehe man noch anfängt, sie im Einzelnen zu zergliedern. Dieß mag nun zugleich als eine Vorbereitung zu der folgenden Betrachtung gelten: wie man a n f a n g e n soll, über eine Sache zu schreiben? Wenn man nehmlich über eine Sache sprechen oder schreiben will, so kommt es zuerst darauf an, daß man nicht zu unvorbereitet anfange, und auch nicht zu weit aushohle. Da ich selber in diesem Werke über den Styl schreibe, so muß ich zuerst meine eigene Arbeit prüfen, und sehen ob ich bei dem Eingange dieser Schrift nicht zu weit ausgehohlt, oder zu unvorbereitet angefangen habe. Indem ich über den Styl schreiben wollte, mußte meine Absicht vorzüglich seyn, zuerst die Vorstellungen, welche mir unrichtig schienen, zu berichtigen, und ich mußte also auch damit den Anfang machen. Nun hätte ich gleich mit dem folgenden Perioden auf der fünften Seite anfangen können: »Nirgends ist das Geistige mit dem Mechanischen mehr verwechselt worden, als bei der Lehre vom Styl, und nicht leicht blieb ein Begriff, seit den ältesten Zeiten, so schwankend und unbestimmt wie dieser.« Allein es schien nothwendig zu seyn, von dem Unterschiede zwischen dem Mechanischen und Geistigen ü b e r h a u p t vorher ein paar Worte zu sagen, um diesen vorausgesetzten Unterschied alsdann auf die Lehre vom Styl desto leichter anwenden zu können, und sich

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auf die Weise zu der ganzen kommenden Gedankenfolge gleichsam den Weg zu bahnen. Um nun aber diese Arbeit auch von der Seite des Nutzens zu betrachten, mußte, wo möglich, gleich bei der ersten Periode auf den Schaden aufmerksam gemacht werden, welcher aus den irrigen Begriffen erwächst, die durch diese Abhandlung berichtigt werden sollen. Dieß brachte mich denn nothwendiger Weise auf den Perioden zurück, womit sich diese Schrift anfängt, und welcher mir, nachdem ich einige andre Eingänge versucht hatte, zu dem Anfange dieser ganzen Abhandlung am schicklichsten vorkam: »Wenn irgend etwas der freien Entwicklung der Geisteskräfte geschadet, den Gesichtskreis für das Große und Schöne verengt, und das Gefühl dafür aus seinem Gleise gebracht hat, so sind es die unzähligen Versuche, dasjenige zu lehren, was sich nicht lernen läßt.« Hätte ich nun, statt daß hier sogleich in Ansehung des N u t z e n s von der Berichtigung der Begriffe die Rede ist, mit einer ordentlichen vollständigen Auseinandersetzung der Begriffe vom Geistigen und Mechanischen den Anfang machen wollen, so scheint es mir, als würde ich zu weit ausgehohlt, und die Aufmerksamkeit des Lesers nicht schnell genug auf den Hauptgegenstand meiner Schrift gelenkt haben. Ob ich nun aber nicht einen bessern Anfang zu meiner Schrift hätte wählen können, kann ich selber nur in so fern entscheiden als ich meinen Gegenstand ü b e r s e h e ; wer aber diesen Gegenstand besser übersieht, als ich, wird auch den Gesichtspunkt, aus welchem ich ihn betrachte, tadeln können; wie denn überhaupt derjenige, welcher über den Styl schreibt, seinem Beurtheiler die unmittelbarsten Waffen gegen sich selber in die Hände giebt. Daß man im Reden und Schreiben weder zu weit aushohlen, noch zu unvorbereitet anfangen müsse, ist eine Regel, die sich leicht aussprechen und ins Gedächtniß fassen, aber schwer in Ausübung bringen läßt.

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Wer gewohnt oder seiner eigenthümlichen Vorstellungsart nach, geneigt ist, zu weit auszuhohlen, wird, um diesen Fehler zu vermeiden, oft in den entgegengesetzten verfallen, und auch die g e h ö r i g e Vorbereitung zu dem Gedanken weglassen. Wer aber die ersten Versuche macht, einen Gedanken vorzubereiten, wird oft zu weit aushohlen, und bei dem Eingange selber schon von seinem Hauptgegenstande sich verirren. Hier kömmt daher alles auf gehörige Prüfung und Beurtheilung eines Dritten an, oder vielmehr, daß man selbst sich übe, seinen eigenen Aufsatz, nach einiger Zeit, wie die Arbeit eines Fremden zu betrachten, und ohne Nachsicht und Schonung gegen sich selbst zu seyn. Eine gewisse Folge des zu weit Ausgehohlten bei irgend einem Aufsatze ist der Mangel an Interesse, womit man ihn lieset; man ist in Versuchung, die Schrift wieder aus der Hand zu legen, ehe man noch weiß, wozu sie abzweckt; man ermüdet zu sehr über dem Eingange, als daß man an der nähern Betrachtung der Sache selber noch Vergnügen finden sollte. Wer hingegen ohne alle Vorbereitung anfängt, wird sehr oft seines Zwecks verfehlen. Denn unsre jedesmalige Gedankenreihe, will nicht gerne plötzlich unterbrochen seyn. Darum fängt man gern mit etwas allgemeinern Sätzen an, weil diese in der jedesmaligen Gedankenreihe des Lesers nicht eine so gewaltsame Unterbrechung verursachen, als wenn man gleich mit dem b e s o n d e r n Falle, den man vortragen will, dazwischen eindringt, und dadurch in der Ideenfolge, welche gerade in dem Augenblicke bei dem Leser die herrschende ist, eine unangenehme und wiedrige Störung macht. Ein anders ist es, wenn man eine solche plötzliche Störung der zufälligen herrschenden Ideenfolge selbst zur Absicht hat. Und überhaupt, wenn ja auf einer Seite gefehlt werden muß, ist es immer besser, zu plötzlich, als zu langsam z u r S a c h e zu kommen; denn selbst das unangenehm Ueberraschende ist doch immer noch dem Langweiligen vorzuziehen.

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Die allgemeine Regel aber, welche sich hierüber geben läßt, hat wenigstens den Nutzen, d a ß m a n d a d u r c h z u r S e l b s t p r ü f u n g v e r a n l a ß t w i r d ; und dieß ist auch fast der einzige Nutzen, den die Regeln des Styls im allgemeinen überhaupt haben können, weil die besondere Anwendung derselben immer erst durch den Ort und die Umstände bestimmt wird. Die Regeln sollen nur im Ganzen die Aufmerksamkeit auf den Ausdruck schärfen, und gleichsam nur den Gedanken, daß man sich zweckmäßig ausdrücken will, immer wieder in Erinnerung bringen; was wir alsdann in den einzelnen Fällen zu thun haben, muß uns unser eigenes Gefühl des Schicklichen, welches durch jene Erinnerung nur wieder angeregt ist, am besten und sichersten lehren. Dieß Gefühl des Schicklichen aber, wird durch die Regeln, welche man durch Lektüre und Beobachtung sich selbst gebildet hat, geschärft. Der unmittelbare Vortrag dieser Regeln muß also auch von der Art seyn, daß sie während dem Lesen gleichsam erfunden werden, und dem Leser dadurch auf alle Weise Veranlassung zum eignen Denken gegeben wird. Dieß ist nöthig hier zu bemerken, damit man sich bei diesen Vorlesungen über den Styl nicht getäuscht finde, indem man etwa Regeln zu finden glaubte, durch deren u n m i t t e l b a r e Anwendung man schon seine Schreibart bilden könnte. Die folgende alte Regel des Horaz, in dessen Briefe an die Pisonen, ist im Ganzen sowohl auf poetische, als auf prosaische Aufsätze anwendbar: »Ihr die ihr schreiben wollt, vor allen Dingen, Wählt einen Stoff dem ihr gewachsen seyd, Und wäget wohl vorher, was eure Schultern, Vermögen oder nicht, ehe ihr die Last Zu tragen übernehmt. Wer seinen Stoff, So wählte, dem wirds an Gedanken und Klarheit nie, auch nie an Ordnung fehlen;

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und unter manchem Vortheil, der durch Ordnung gewonnen wird, ist sicher keiner von den kleinsten, d a ß m a n i m m e r w i s s e , w a s zu sagen ist, doch vieles, was sich auch noch sagen ließe, itzt zurückbehalte, und für den Platz, wo mans bedarf, verspare.« Wielands Uebersetzung. Nicht minder merkwürdig, als diese Stelle selbst, ist die folgende Anmerkung des Uebersetzers. »Eine vortrefliche Regel für den Lehrling, der einen Genius hat, der ihn die Regel verstehen und anwenden lehrt! aber unbrauchbar für jeden andern, und so ists mit allen Regeln!« Freilich muß der Genius bei der u n m i t t e l b a r e n Anwendung, diese Regel verstehen und anwenden lehren. Um aber fürs erste nur zu b e o b a c h t e n , wie diese Regel von Mei-stern in der Schreibart ausgeübt ist, darüber läßt sich wohl noch ein Fingerzeig geben. Nach Beispielen dürfen wir nicht weit suchen, wir finden sie auf jeder Seite bei eben dem Schriftsteller, der die Regel giebt. Ein vorzügliches Muster aber bleibt auch hier die in der dritten Vorlesung angeführte Epistel des Horaz, in welcher er seinen jungen Freund empfiehlt, und gerade die Hauptsache, die doch seinen Gedanken natürlicher Weise am n ä c h s t e n war, bis auf die letzte Zeile verspart, indem er alles das v o r h e r g e h e n läßt, was in seinen Gedanken, bei reiferer Ueberlegung der Sache, erst n a c h und n a c h entstehen konnte. Wir wollen in dieser Rücksicht den Ideengang des Verfassers zu verfolgen suchen: »Ich muß den jungen Septim empfehlen. Bei dem argwöhnischen Tiberius könnte ich leicht dadurch anstoßen. Wie zieh’ ich mich aus dieser Verlegenheit?

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Mir kann es sehr schaden, wenn ich mir merken lasse, daß mein Einfluß etwas gilt. Dem jungen Septim kann es nicht schaden, wenn er mir auch einen größern Einfluß zutraute, als ich habe. Der beste Ausweg ist, die Schuld auf ihn zu schieben. – Ueber seinen festen Glauben an meinen großen Einfluß selbst zu lächeln. – Aber er will sich nicht abweisen lassen; er glaubt ich verstelle mich nur; und gebe eigennütziger Weise meinen Einfluß für geringer aus, als er würklich ist. – Und also weiß ich mir nun nicht weiter zu helfen; ich muß schon in sein Ansuchen willigen; und lieber ein wenig unverschämt, als unfreundschaftlich scheinen. Das alles mit der Mine der Offenherzigkeit geradezu gesagt, muß die beste Entschuldigung für eine gewagte Empfehlung seyn. –«

Man vergleiche nun diesen Ideengang mit der Epistel selber, um die Kunst des Verfassers in der Darstellung und ungekünstelten Anordnung seiner Ideen zu studiren. Denn der f r e m d e G e n i u s hat auch eine mittheilende Kraft, wenn man sorgfältig seine Spur verfolgt, und durch langen Umgang mit ihm vertrauter zu werden suchet. Dann erhält man allmälig einige Aufschlüsse über den immer noch dunklen Gegenstand der richtigen Wahl der Worte, und des zweckmäßigen Ausdrucks der Gedanken; denn der Geist des Schriftstellers kann nur zur ächten Nachahmung beseelen; und den todten Buchstaben der Regel belebt nur das lebendige Beispiel.

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Zergliederung des Gedankenausdruckes in zwei Briefen des jüngern Plinius. – Wie solche Beispiele nachgeahmt werden können? – Einige Einwürfe gegen die Kürze im Ausdruck. – Widerlegung dieser Einwürfe. Der jüngere Plinius wurde von einem seiner Freunde aufgefordert, diejenigen von seinen Briefen, welche er vorzüglich ausgearbeitet hätte, zu sammlen und bekannt zu machen. Er beantwortet diese Aufforderung seines Freundes in einem Briefe, der selbst ein Muster von Kürze und schöner Bestimmtheit im Ausdruck ist, und welcher nun in der Sammlung seiner Briefe voran steht. Erstlich führt er die Aufforderung seines Freundes wörtlich an: »Du hast mir oft zugeredet, daß ich meine Briefe, die ich mit einiger Sorgfalt ausgearbeitet hätte, sammlen und bekannt machen möchte.« Mit eben so wenig Zeilen beantwortet er nun auch diese Aufforderung seines Freundes: »Ich habe sie gesammlet; aber nicht nach der Zeitfolge (denn ich wollte ja keine Geschichte daraus zusammensetzen) sondern so wie sie mir in die Hände gefallen sind.« Diese kurze Gegeneinanderstellung von Aufforderung und Befolgung, ist nun n o c h k ü r z e r in den Gegensatz von z w e i Wo r t e n zusammengedrängt; Rath – Befolgung Dieser Gegenstand wird wiederum unter einem Hauptbegriffe vereinigt, welcher den Gedanken eben durch seine Kürze, und Bündigkeit interessant macht: »Es kömmt nun darauf an, daß dich dein Rath, und mich die Befolgung desselben nicht gereue!«

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Der einzige Ausdruck: n i c h t g e r e u e , bringt diese ganze kurze Gedankenfolge so nahe und so enge zusammen, daß dadurch die Kürze selbst gleichsam noch kürzer, und der Schluß gewissermaßen epigrammatisch wird, welches immer geschieht, w e n n z w e i B e griffe, die im Gegensatze stehen, unter einen Hauptbegriff gebracht werden, der auf den einen so gut wie auf den andern paßt. »Wenn die Sammlung meiner Briefe schlecht geräth, so wird es dich eben so sehr gereuen, daß du mir dazu gerathen hast, als es mich gereuen wird, daß ich deinen Rath befolgt habe.« Dieser Zwischensatz, der sich von selbst versteht, ist ausgelassen; die Zeitwörter r a t h e n und b e f o l g e n sind in Hauptwörter verwandelt, um sie desto näher aneinander rücken zu können, und das Ganze auf die drei Begriffe zurückzuführen: Rath – Befolgung – gereuen »Daß dich dein Rath, und mich die Befolgung desselben nicht gereue.« Ein ähnliches Beispiel finden wir in eben dieser Sammlung, wo der jüngere Plinius seinem Freunde schreibt: »Deine Verse sind unnachahmlich schön.« Wir wollen nun sehen, wie dieser Gedanke in verschiedne Gegensätze gebracht ist, die, so wie in dem vorigen Briefe, durch die nächste und gedrängteste Zusammenstellung am Ende einen beinahe epigrammatischen Schluß erhalten: Erster Gegensatz: »Wenn ich deine Verse wetteifernd nachahmen will, so finde ich erst wie schön sie sind.« Zweiter Gegensatz: »Denn so wie Mahler gemeiniglich desto unglücklicher im Treffen sind, je vollkommner die Schönheit in den Zügen ist, die sie darstellen wollen, so bleibt auch hier mein Original mir unerreichbar.« Dritter Gegensatz:

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»Um desto mehr fordre ich dich auf, recht viel solcher Verse zu schreiben, die jeder gerne nachahmen möchte, und niemand oder nur wenige nachahmen können.« Durch diese drei Gegensätze ist nun der Gedanke: »Deine Verse sind unnachahmlich« bis zu dem schönen Schluß hindurch geführt, welcher das Ganze unter die drei Begriffe: nachahmen wollen – vermögen, und diese drei Begriffe wieder unter den Begriff der Schönheit zusammen knüpft. Der Gegensatz ist immer: »Ich möchte deine Verse nachahmen; ich vermag es nicht. – Der Mahler möchte sein Original vollkommen darstellen; er vermag es nicht – Jeder möchte gern deine Verse nachahmen; niemand oder wenige vermögen es.« Das n a c h z u a h m e n w ü n s c h e n und e s n i c h t v e r m ö g e n , hat Beides in der Schönheit des Originals seinen Grund. Diese Gegeneinanderstellung dreifach wiederholt, und immer verstärkt, war das feinste Lob, was der Verfasser des Briefes, seinem Freunde über seine Verse sagen konnte. Dieß Lob selbst aber erhält erst, so wie der ganze Gedanke, seine völlige Wirkung, durch die Aufmuntrung, mehr solcher Verse zu machen, woran die Nachahmung verzweifelt. Hätte es in dem letzten Gegensatze nur geheißen: »Du machst solche Verse, die jeder nachzuahmen wünscht, und niemand oder nur wenige nachahmen können,« so hätte noch ein anderer Schluß des Briefs folgen müssen. Der Brief hätte dann bloße B e m e r k u n g e n enthalten, und man hätte keinen Zweck gesehen, w o z u er eigentlich geschrieben wäre. Die nachdrückliche, und mit einem so feinen Lobe verknüpfte Aufmunterung am Ende giebt diesem sehr kurzen Briefe dennoch einen vollständigen Schluß, und ersetzt die Kürze desselben gleich-

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sam durch die Feinheit und Artigkeit der Wendung, welche diese kleine Lobrede nimmt. Ohne eine solche Wendung hätte der Dichter sich nicht geschmeichelt finden können, daß ihn sein Freund so kurz abfertigte! denn der Verfasser dieses Briefes schreibt selbst in einem andern Briefe, wo er einem seiner Freunde ein Werk zur Durchsicht überschickt: »Er wünsche, daß sein Freund doch seine Bemerkungen hinzufügen möchte, weil der Verfasser sich dann ehr überzeugen könne, daß dem Beurtheiler das Uebrige gefallen habe, sobald dieser nur zu erkennen gebe, daß ihm einiges mißfallen habe.« Solche kurze Schreiben, wie die beiden angeführten vom jüngern Plinius, müssen daher auch durch B ü n d i g k e i t , das ist durch eine auffallende Verknüpfung der Gedanken, und durch eine sinnreiche Wendung am Schluß, ihre Kürze gleichsam ersetzen; wenn sie für den Freund dem man doch etwas angenehmes sagen will, nicht beleidigend seyn sollen. Denn ein Freund will nie gern von uns zu kurz abgefertigt seyn, sondern lieber, daß wir ihm etwas Ueberflüssiges, als zu wenig sagen. Was daher dem Freunde mit kurzen Worten gesagt wird, muß auch etwas sehr angenehmes, freundschaftliches und schöngedachtes, enthalten. Das S c h ö n g e d a c h t e liegt aber in den beiden angeführten Beispielen, in dem n a t ü r l i c h e n Gegensatze, der dem ohngeachtet nicht g e w ö h n l i c h ist, sondern wo sich die Gedanken auf eine s e l t n e r e Art und in einer r e i c h e r n Verbindung, wie sonst gemeiniglich, zusammenfinden. Da nun das Schöne aber hier vorzüglich in der Ideenverbindung liegt, so können solche Beispiele auch auf andre vorkommende Fälle angewandt, und gradezu nachgeahmt werden, als: »Bei diesem gefährlichen Geschenke, das du mir giebst, kömmt es nun darauf an, daß dich die Gabe, und mich die Annahme derselben nie gereuen möge«. Die Nachahmung jener Wendung findet alsdann nicht sowohl des Ausdrucks, als vielmehr der Sache wegen statt; und es ist im Grunde

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nur eine allgemeine Vorstellungsart, welche auf einen besondern Fall angewandt wird. Dergleichen Wendungen lassen sich nicht immer neu erfinden, und sie können und dürfen daher auch mehr als einmal gebraucht werden. So kann auch die Wendung in dem zweiten Briefe gewiß auf mancherlei Art nachgeahmt werden, ohne daß eine solche Nachahmung zu tadeln wäre, als: »Du hast an ihm einen mächtigen, liebenswürdigen, und klugen Freund; dessen Freundschaft jeder besitzen möchte, und nur wenige besitzen können.« Eigentlich ist dieß nicht sowohl Nachahmung, als vielmehr bloße Veranlassung zu einem neuen Gedanken durch die Erinnerung an eine allgemeine Form, welche sich aus dem Gelesenen dem Gedächtniß eingeprägt hat. Das Nachahmungswerthe in der Form aber liegt besonders in der eignen Art, einen Gedanken kurz zusammenzufassen, und ihn dadurch unter einen hellern Gesichtspunkt zu bringen. Eben dieser Plinius, von dem die beiden angeführten Beispiele sind, ist sonst kein Vertheidiger der Kürze im Ausdruck, sondern macht vielmehr in einem seiner Briefe, worin er einem Freunde sein Landgut ziemlich ausführlich beschreibt, folgende Einwürfe dagegen: »Kurz, denn warum soll ich dir nicht mein Urtheil oder meinen Irrthum eröfnen? ich halte es für die erste Pflicht des Schriftstellers, daß er die Ueberschrift seines Aufsatzes lese, und sich immer wieder frage, ob er auch von seinem Gegenstande nicht abgewichen sey? Aber der Schriftsteller muß auch wissen, daß, wenn er nur von seiner Materie nicht abweicht, es alsdann auch nicht möglich ist, daß er weitschweifig werde, daß er aber unausstehlich langweilig werde, sobald er etwas Fremdes nicht zur Sache gehöriges herbeizieht. Mit wie viel Versen haben nicht Homer und Virgil, dieser die Waffen des Aeneas und jener des Achilles beschrieben, und beide sind demohngeachtet nicht langweilig, weil sie nur das ausführen, was sie angefangen haben.

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Mit welcher Sorgfalt und Genauigkeit bemerkt und zählt Aratus die kleinsten Sterne; und doch überschreitet er hierin das Maß nicht; denn dieß ist bey ihm ja keine Abschweifung, sondern es ist sein Werk, und seine eigentlich bestimmte Beschäftigung. Indem ich dir nun, um Kleineres mit Größern zu vergleichen, mein Landgut durch meine Beschreibung gleichsam vor Augen zu stellen suche, und von dieser Materie gar nicht abweiche, so ist auch mein Brief, welcher beschreibt nicht w e i t l ä u f t i g , sondern mein Landgut, welches beschrieben wird; aber ich muß nun auch zu dieser Beschreibung wieder zurückkehren, damit ich nicht, wieder mein eignes Gesetz, bei dieser Ausschweifung mich zu lange aufhalte.« Plinius scheint hier freilich mehr eine scherzhafte Wendung in seinem Briefe zu nehmen, als daß er etwas gegen die Kürze im Ausdruck hätte, wovon er selber so vortreffliche Beispiele gegeben hat. Er führt auch gerade ein Beispiel von dem b e s c h r e i b e n d e n Ausdruck an, bei dem die Kürze am wenigsten statt findet, weil nicht sowohl die Gedanken, als vielmehr die Gegenstände selbst unmittelbar dadurch bezeichnet werden, und keiner davon ausgelassen werden darf, wenn nicht eine Lücke in der Beschreibung entstehen soll. Bei dem Ausdruck der Gedanken hingegen kann durch eine geschickte Zusammenstellung bewirkt werden, daß man sich vieles als nothwendig mitdenken muß, was nicht ausdrücklich gesagt, und doch in dem Gesagten enthalten ist. Wider die übertriebne Kürze aber redet Plinius in einem Briefe an den Tacitus sehr nachdrücklich mit folgenden Gründen: »Ich gebe es zu, daß man sich der Kürze befleißigen müsse, wenn die Sache es zuläßt; wo dieß nicht der Fall ist, da g e i t z t und k a r g t man mit den Worten, wenn man verschweigt, was ausdrücklich gesagt werden sollte. Auch ist das schon Geitz und Kargheit mit Worten, wenn man nur beiläufig und kurz berührt, was durch Wiederholung eingeprägt, und gleichsam dem Gedächtniß eingegraben werden sollte. Viele Sachen erhalten durch die l ä n g e r e D a u e r ihrer Behandlung gleichsam mehr Nachdruck und Gewicht; und so wie der Baum

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nicht auf einen Schlag fällt, so wird auch das Gemüth oft durch den wiederhohlten Angriff des Redenden erst bewegt. Alles macht nicht auf alle einen gleichen Eindruck; die Urtheile und Gesinnungen sind verschieden; ein jeder wird durch dasjenige am meisten eingenommen was er etwa selbst vorher gedacht hat. Man muß daher für die Denkungskraft eines jeden etwas in Bereitschaft haben; und was die Dauer der Rede anbetrift, so wird nur derjenige einen Stachel in dem Gemüthe der Zuhörer zurücklassen, der ihn nicht bloß einsticht, sondern e i n b o h r t . « Daß nun ohngeachtet aller dieser Einwürfe die höchstmögliche Kürze des Ausdrucks dennoch das erste Gesetz sey, leuchtet schon daraus ein, weil derjenige, welcher sich genöthigt siehet, durch Umschweife zum Ziele zu gelangen, doch für sich selber in seinen Gedanken den kürzesten Weg dazu wissen muß, weil er sonst nicht bestimmen könnte, wie weit er unter den gegenwärtigen Umständen davon abweichen müsse. Wer sich für sich selber beständig übt, in wenigen Worten viel zusammenzufassen, der wird auch bei der längsten Rede den Leitfaden nicht verlieren, der ihn nach jeder kleinen Abschweifung, welche die Umstände nöthig machen, doch immer sobald wie möglich wieder zur Hauptsache zurückführt. Und die längste Rede, in welcher noch so viel Wiederholungen vorkommen muß doch, nach den Umständen, auch wieder die kürzeste seyn; weil eine einzige Wiederholung zu viel den Eindruck eben so sehr wieder schwächt, als die nöthigen Wiederholungen ihn verstärkt hatten. Die Weitläuftigkeit der Rede muß nothwendig in dem Bedürfniß des Zuhörenden, und nicht in dem Bedürfniß des Redenden liegen, wenn sie nicht tadelswerth werden soll. Und wenn eine lange und ausführliche Rede schön bleiben soll, so muß ihre Verkürzung in den Gedanken des Redenden ihr gleichsam wie im verjüngten Maßstabe zum Grunde liegen, und das Ganze muß hiernach in allen seinen Theilen verhältnißmäßig geordnet seyn.

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Die U e b u n g muß immer darauf hinausgehen, m i t w e n i g Wo r t e n v i e l z u s a g e n ; denn dadurch allein wird ein Reichthum von Gedanken herbeigezogen, der hernachmals s o b a l d m a n w i l l , auch mit vielen Worten gesagt werden kann, weil dieß letztre weit leichter ist, als das erste. Auch ist in Ansehung des angeführten Einwurfs gegen die Kürze, noch der Unterschied zwischen der mündlichen und geschriebenen Rede zu bemerken, weil es scheinet, daß jene Einwürfe vorzüglich nur die erstre treffen. In der mündlichen Rede kann manche Wiederholung und manches Ueberflüssige den Umständen nach erlaubt seyn, was in der schriftlichen Rede nicht statt finden darf, die nicht wie das ausgesprochene Wort in die Luft verfliegt, sondern die der Leser, so oft er will, sich selber mit Muße und Nachdenken wiederholen kann. Und hier könnte man doch wohl nur den Geitz mit Worten eine solche Kürze nennen, wodurch die Mittheilung der Gedanken wirklich gehindert würde. Wenn man aber hiebei erwägt, daß ein Gedanke, in die wenigsten Worte zusammengefaßt, gerade am v o l l s t ä n d i g s t e n mitgetheilet wird, weil er sich in einer kürzern Dauer auf einmal der Seele darstellt, so sollte man die Kürze des geschriebenen Ausdrucks sobald ihm wirklich ein Gedanke zum Grunde liegt, auch niemals, tadelswerth finden, sondern ihn vielmehr wie ein Ideal betrachten, das niemand leicht erreichen kann, nach welchem aber doch ein jeder in seinem Maße streben sollte. Aus den Schriftstellern, welche ihren Reichthum von Gedanken in die wenigsten Worte zusammengedrängt haben, hat man einzelne Stellen, wie goldne Sprüche ausgewählt, und sie, als die schönste und bedeutendste Zierde an die Spitze der abhandelnden Schriften gestellt, die oft in mehrern Bänden, den Sinn des Denkspruchs noch nicht erschöpfen, der ihren Titel schmückt.

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Sechste Vorlesung.

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Ueber ein poetisches Gemählde von Göthe – warum und in wie fern die Aufstellung und Zergliedrung eines solchen Gemähldes in ein Werk über den Styl gehört? Der Begriff von der Macht des A u s d r u c k s ist wohl nirgends erhabener ausgesprochen, und dieser Ausspruch zu gleicher Zeit durch die herrlichste Probe erwiesen worden, als in dem folgenden poetischen Gemählde von Göthe, das in der beschreibenden Gattung immer ein unerreichbares Muster bleiben wird. Die Vorbereitung zu diesem Gemählde macht das unverhaltne, geradezu bezeichnete Selbstgefühl des Mahlers: »Ich könnte jetzt nicht zeichnen, nicht einen Strich, und bin nie ein größerer Mahler gewesen, als in diesen Augenblicken.« Hier ist die höchste Naivität und Einfalt des Ausdrucks, der auf einmal alles sagt, was in der Seele des Dichters schlummerte, welcher, ehe er noch sein Gemählde zu entwerfen anhebt, es schon in seiner ganzen Kraft und Fülle in seinem Busen fühlt, und dieß Gefühl zuerst ausspricht, dem er nun den Beweiß unmittelbar hinzufügt, indem er sich, den wunderbaren Eindruck, welchen die umgebende Natur auf ihn macht, zu entwickeln, und seine innigsten Empfindungen durch den harmonischsten Silbenfall und den bedeutendsten Klang der Worte, sich selber und dem Leser vernehmbar zu machen sucht. »Wenn das liebe Thal um mich dampft, und die hohe Sonne an der Oberfläche der undurchdringlichen Finsterniß meines Waldes ruht, und nur einzelne Strahlen sich in das innere Heiligthum stehlen, und ich dann im hohen Grase am fallenden Bache liege, und näher an der Erde tausend Gräs-chen mir merkwürdig werden; wenn ich das Wimmeln der kleinen Welt zwischen Halmen, die unzähligen Gestalten der Würmchen, der Mückchen, näher an meinem Herzen fühle, und fühle die Gegenwart des Allmächtigen, der uns nach seinem Bilde

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schuf, das Wehen des Allliebenden, der uns, in ewiger Wonne schwebend, trägt und erhält; mein Freund, wenns dann um meine Augen dämmert, und die Welt um mich her und Himmel ganz in meiner Seele ruht, wie die Gestalt einer Geliebten, dann sehn’ ich mich oft und denke, ach, könntest du dem Papier das einhauchen, was so voll so warm in meiner Seele lebt, daß es würde der Spiegel deiner Seele, so wie deine Seele ist der Spiegel des lebendigen Gottes!« Was nun diesem, so wie andern Naturgemählden dieses Dichters einen so hohen Reitz giebt, scheint vorzüglich die Kunst oder Wahl zu seyn, womit die einzelnen Züge gestellt und geordnet sind, daß sie sich wie von selber zu einem vollendeten Ganzen bilden. Zuerst wird mit wenigen Zügen ein U m r i ß um das Bild entworfen, dann s e n k t sich die Darstellung von ihrer Höhe immer tiefer bis zu dem kleinsten Gesichtskreise des Auges, zu dem Grashalm am Boden nieder; je tiefer sich die Darstellung n i e d e r s e n k t , jemehr das Bild sich im K l e i n e n ausmahlt, desto inniger und lebhafter wird die Empfindung, die dann gleichsam aus ihrem M i t t e l p u n k t e sich wieder erhebt, und die Darstellung wieder s t e i g e n läßt, so wie sie vorher sich niedersenkte, bis zuletzt ein g r o ß e r U m r i ß sich wieder um das Ganze zieht, und eine das Ganze umfassende Empfindung zuletzt das Bild v o l l e n d e t .

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Umriß. »Wenn das liebe Thal um mich dampft, und die hohe Sonne an der Oberfläche der undurchdringlichen Finsterniß meines Waldes ruht,« Niedersenkung.

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»und nur einzelne Strahlen sich in das innere Heiligthum stehlen,« 85

Niedersenkung. »und ich dann im hohen Grase am fallenden Bache liege,« Niedersenkung. »und näher an der Erde tausend Gräschen mir merkwürdig werden,«

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Niedersenkung. »wenn ich das Wimmeln der kleinen Welt zwischen Halmen, die unzähligen Gestalten der Würmchen, der Mückchen näher an meinem Herzen fühle,« 5

Erhebung. »und fühle die Gegenwart des Allmächtigen, der uns nach seinem Bilde schuf,« Erhebung.

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»das Wehen des Allliebenden, der uns in ewiger Wonne schwebend, trägt und erhält.« Großer Umriß. »Mein Freund, wenns dann um meine Augen dämmert, und die Welt um mich her, und Himmel ganz in meiner Seele ruht, wie die Gestalt einer Geliebten;«

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Vo l l e n d u n g . »Dann sehn’ ich mich oft und denke; ach könntest du dem Papier das einhauchen, was so voll so warm in deiner Seele lebt, daß es würde der Spiegel deiner Seele, wie deine Seele ist der Spiegel des lebendigen Gottes!« Das Bild schließt sich wie es anhub, mit dem unmittelbaren Ausdruck der Empfindung: Anfang. »Ich bin nie ein größerer Mahler gewesen, als in diesen Augenblicken« – –

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Schluß. »Könntest du dem Papier das einhauchen, was so voll, so warm in deiner Seele lebt!«

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Gerade mit diesem Wunsche und mit jenem Selbstgefühl zusammengenommen ist hier der Ausdruck der getreueste Spiegel der Seele, welchen vielleicht je eine Feder entworfen hat; und möge dies Bild einem jeden, der Empfindungen an den Schönheiten der Natur erkünstelt, und Gefühle aussprechen will, die er nicht hat, zur Verzweiflung aufgestellt seyn! Denn das siehet ein jeder wohl ein, daß der Dichter, als er sein Gemählde entwarf, nicht an Umriß, Niedersenkung, Erhebung, oder Vollendung dachte, sondern daß nur durch das Bestreben, treu und wahr seine Empfindung auszusprechen, jener Umriß, jenes harmonische Fallen und Steigen, und jene reitzende Vollendung sich bildete. Denn Schönheit und Wahrheit sind unzertrennlich miteinander verknüpft. Die höchste Wahrheit des Ausdrucks bildet ihn auch schön, weil sie ihn der Natur nachbildet. Und alles Bestreben nach Schönheit des Ausdrucks wird vergeblich seyn, wenn das Bestreben nach Treue und Wahrheit ihm nicht vorangegangen ist; wenn die Seele nicht sorgsam auf den innern Einklang gelauscht hat, durch welchen sie mit der umgebenden Natur zusammenstimmend, allein das Herz bewegen kann. Dieß ist jene Sehnsucht, dem Papier unmittelbar einzuhauchen, was in der Seele lebendig dasteht, und unter dem Buchstaben nur zu leicht verschwindet. Das Auge schaut umher und durchwandelt die Gegend – Es heftet sich auf den Boden, und beschränkt sich auf den Fleck, wo es den Grashalm unterscheidet. – Es blicket wieder auf, und spiegelt Himmel und Erde. – Es giebt nichts Erhabeners als die Nebeneinanderstellung dieser Erscheinungen der Natur in ihrem größten und in ihrem kleinsten Umfange. Und die Mahlerey vom Großen ins Kleine, vom Weiten und Fernen ins Nahe und Enge ist so sehr der Natur gemäß, daß sie durch die Täuschung der perspektivischen Darstellung die Natur selbst zu seyn scheint.

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Die Schönheit und Wahrheit im Ausdruck aber muß wohl vorzüglich darin ihren Grund haben, daß einer sich mit einer gewissen Ruhe der Seele den Eindrücken der schönen Natur überläßt, und die F o l g e derselben durch die Darstellungssucht bey ihm nicht unterbrochen wird. Denn eben diese ununterbrochene Folge der Eindrücke macht, daß das Bild wegen seiner täuschenden Aehnlichkeit mit der Natur, uns in Bewunderung und Erstaunen versetzt. Wer nun aber eine solche Ruhe der Seele besitzt, bey dem fehlet es gemeiniglich an Darstellungstrieb oder Kraft, und wer diese hat, bey dem findet sich selten der erforderliche Grad von Ruhe der Seele; darum kann es nur wenige Dichter geben. Der Darstellungstrieb muß sich dem ruhigen Eindruck unterordnen, und die glücklichen Momente abwarten; dazu gehört eine große Kraft der Seele, die in solchen Augenblicken immer wachsam seyn muß, daß über dem Verlangen nach der schönen Darstellung die Wahrheit der Empfindung nicht verloren gehe, und wiederum über dem Vergnügen an der Empfindung selber die Darstellung nicht vergessen werde. Die wahre Darstellung ist daher gewissermaßen ein R i n g e n mit der Natur, die doch immer mächtiger ist, und sich von dem menschlichen Geiste weder in Worte noch Umrisse bringen läßt; daher kömmt denn auch noch der allerwahrste Zug zu dem Gemählde unsers Dichters: »ich gehe darüber zu Grunde, ich erliege unter der Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen.« Den Zustand, welcher zu einem Abdrucke der Seele, wo der Darstellungstrieb der Empfindung niemals vorgreift, erfordert wird, schildert der Dichter in der folgenden Stelle, welche der nächsten Vorbereitung zu seinem Gemählde noch vorangeht: »Eine wunderbare Heiterkeit hat meine ganze Seele eingenommen, gleich den süßen Frühlingsmorgen die ich mit ganzem Herzen genieße. Ich bin so allein, und freue mich meines Lebens, in dieser Gegend, die für solche Seelen geschaffen ist, wie die meine. Ich bin so

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glücklich, mein Bester, s o g a n z i n d e m G e f ü h l v o n r u h i g e m D a s e y n v e r s u n k e n , daß meine Kunst darunter leidet.« Hierauf folgt nun eben die Stelle: »ich könnte jetzt nicht zeichnen, nicht einen Strich, und bin niemals ein größrer Mahler gewesen, als in diesen Augenblicken.« Unter der Fülle des Genusses leidet wirklich die Kunst, und indem der Darstellungstrieb dem Genuß untergeordnet ist, so strebt er, um gleichsam den Genuß nicht zu lange zu unterbrechen, nach dem leichtesten und unmittelbarsten Ausdruck durch die Sprache; die Umrisse verwandeln sich in Worte; der Zeichner oder Mahler wird zum Dichter. – Man wird nicht leicht ein Werk der Poesie finden, wo der Darstellungstrieb selber sich so getreu mit dargestellt hätte, als in diesem poetischen Gemählde, in welchem gleichsam das Innerste der Seele sich darzulegen strebt. Sehen wir nun auf das Gemählde selbst zurück, so finden wir daß der Dichter die F o l g e in demselben nicht ungestraft hätte verändern dürfen; denn weil es nicht wie ein wirkliches Gemählde auf einmal dasteht, so beruht hier das meiste auf der Folge, in welcher der Dichter die Eindrücke in der Seele des Lesers entstehen läßt. Es wäre unmahlerischer gewesen, wenn der erste Umriß weggelassen wäre, und der Dichter gleich angefangen hätte: »wenn ich im hohen Grase am fallenden Bache liege u. s. w.« Das Bild muß aus der Ferne der Einbildungskraft und Empfindung immer n ä h e r kommen, und nicht umgekehrt aus der Nähe sich entfernen. Erst seine Lage und dann die Eindrücke zu beschreiben, ist lange nicht so darstellend, als erst die Eindrücke und dann die Lage zu schildern, welche durch die Eindrücke und Umgebung erst Interesse erhält. Derjenige wird die Natur am besten beschreiben, wer sie so empfindet, daß sie mit ihm selber gleichsam ein Ganzes ausmacht, indem er sich in sie versenkt, und mit ihr auf das innigste verwebt fühlt; eine solche i n n i g e A n s c h l i e ß u n g deuten die folgenden schönen Züge an:

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»wenn das l i e b e Thal um mich dampft« – »an der undurchdringlichen Oberfläche m e i n e s Waldes« – – »und die Welt um mich her und der Himmel ganz in m e i n e r Seele ruht, wie die Gestalt einer Geliebten« – Was für ein reines Organ und was für ein heller ausgebildeter Spiegel der Seele aber wird zu einer solchen Beschreibung vorausgesetzt. In den Augenblicken, wo eine solche Beschreibung glücken soll, muß das einzelne Selbstbewußtseyn, sich gleichsam in dem M i t b e w u ß t s e y n des großen Ganzen der Natur verlieren, wovon das denkende und empfindende Organ durchströmt wird. Von einer solchen Stimmung der Seele, die schon da seyn muß, ehe man noch an die Darstellung denkt, kann eine solche Schilderung nur die Folge seyn. Wer eine solche Darstellung versucht, ohne daß ein solcher Zustand vorhergegangen ist, der muß eben so unwahr werden, wie einer, der bey ganz gemeinen und gewöhnlichen Schicksalen, dennoch einen Roman von seinem Leben erzählen wollte. Die Wahrheit der Empfindung aber haucht jedem einzelnen Ausdruck Leben ein, und macht, daß Wort und Bild sich immer entgegen kommen: »das dampfende Thal« »die hohe Sonne« – »die undurchdringliche Oberfläche der Finsterniß des Waldes« – »die einzelnen Strahlen, die sich in das innere Heiligthum stehlen« – »der Dichter im hohen Grase am fallenden Bache liegend« – Jeder einzelne Zug in dem Gemählde tritt mit lebendigen Farben, im frischen Glanze hervor; und die Folge der Worte selber hat eine Art von Zauberkraft, weil der folgende Eindruck den vorhergehenden niemals stört oder verdrängt, sondern vielmehr mit ihm eins wird, so daß zuletzt alles i n e i n a n d e r s t e h t , und der Eindruck eines G e m ä h l d e s wirklich in der Seele hervorgebracht wird. In einem Werk über den Styl aber ist es gar nicht unzweckmäßig, ein Werk der erhabensten Poesie zum Muster aufzustellen.

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Denn wenn man ein solches Muster aufmerksam betrachtet, und die Schönheiten desselben, im Einzelnen und im Ganzen empfinden lernt, so bleibt immer eine Spur in der Seele davon zurück, welche durch die alltäglichen und gewöhnlichen Eindrücke nicht ganz wieder verwischt werden kann, und unsrer ganzen Vorstellungsart selber gleichsam einen höhern Schwung giebt. Wer einmal erhabne Dichterschönheiten mit Wahrheit empfinden gelernt hat, den wird eine a l l g e m e i n e Rückerinnerung an dieselben auch bis zu dem unbedeutendsten Aufsatze begleiten, wo jene erhabne Schönheit, die hier nicht unmittelbar statt finden kann, dennoch, in Anstand und Zierlichkeit verwandelt, ihren Platz behauptet. Wer also, ohne selbst nach dem Ruhm des Dichters zu streben, bloß seine Schreibart zu bilden sich bemüht, ist gewiß nicht auf dem unrechten Wege dazu, wenn er das Gefühl an den erhabenen Schönheiten der Dichtkunst sich zu entwickeln sucht. Das dichterische Schöne ist nicht wesentlich, sondern nur dem Grade nach, von dem bloß anständigen und zierlichen Ausdruck verschieden; und es kommt immer auf den Gegenstand an, in wiefern derselbe Erhabenheit, Schönheit, oder nur Zierlichkeit im Ausdruck zuläßt. Durch den poetischen Ausdruck wird die Schreibart im Ganzen hinaufgestimmt und veredelt, und eine Sprache erhält erst m i t t e l b a r ihre eigentliche Bildung durch die Werke der Dichtkunst, welche darin aufgestellt werden.

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Siebente Vorlesung.

Von den rednerischen Figuren – wodurch sich die Sprache der Empfindung unterscheidet? – von der Wiederhohlung – von der Inversion – vom bildlichen Ausdruck – Beispiele.

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So unnütz und zwecklos es ist, die einzelnen Schönheiten des Ausdrucks, welche man unter der Benennung r e d n e r i s c h e r F i g u r e n begreift, in den Anweisungen zum Styl, durch Regel und Vorschrift l e h r e n zu wollen, so angenehm und zweckmäßig ist es doch, bei dem Lesen guter Schriftsteller auf diese Schönheiten aufmerksam zu seyn, und zu b e o b a c h t e n , auf wie mannichfaltige Weise der emporstrebende Gedanke den oft zu ungeschmeidigen Ausdruck nach sich bildet und umschafft, so daß der Mangel an neuen Ausdrücken, durch neue und ungewöhnliche Stellungen der alten, oder durch einen neuen und ungewöhnlichen Gebrauch derselben, ersetzt wird. Nur müssen diese Beobachtungen nicht in der A b s i c h t angestellt werden, um etwa die Schönheiten, die man bemerkt, bei der ersten Gelegenheit wieder anzubringen; sondern durch die Empfindung derselben, und durch das Bewußtseyn dieser Empfindung i m G a n z e n , müssen sich ähnliche Schönheiten in unserm Ausdruck bilden, ohne daß wir an jene insbesondere zurück denken. Jede Schönheit der Rede muß überhaupt tiefer als im Ausdruck gesucht, und der Ausdruck nur als eine F o l g e der vorhergehenden Stimmung die Seele durch den ganzen Gedanken, betrachtet werden; sonst ist man in Versuchung, die Schale für den Kern zu nehmen, und mit leerem Spielwerk Zeit und Mühe zu verderben. Was man rednerische Figuren nennt, ist eigentlich die Sprache der E m p f i n d u n g , der es an Worten fehlt, und die sich auf mancherley Weise zu helfen sucht, um diesen Mangel zu ersetzen; indem sie z. B. das Gesagte w i e d e r h o h l t , um dadurch anzuzeigen, daß sie m e h r a u f e i n m a l sagen wolle, als die bekannten Worte hier auszudrücken vermögen. Die Sprache der Empfindung aber unterscheidet sich von der Sprache des Verstandes vorzüglich dadurch, daß sie nicht aus einander setzt, sondern z u s a m m e n f a ß t , und also a u f e i n m a l v i e l auszudrücken, und mehr nur im Ganzen a n z u d e u t e n , als im Einzelnen ausführlich zu bezeichnen sucht. – Die Sprache der Empfindung gibt nur gleichsam den ersten Anklang, und läßt die Gedanken des andern das Fehlende hinzusetzen. Die ruhige Urtheilskraft z. B. sagt:

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Das hätte niemand gedacht! Die lebhaftere Empfindung sagt dieß n i c h t g a n z a u s , sondern deutet es bloß durch die Frage an: wer hätte das gedacht? – Die Antwort: niemand! wird weggelassen, und gerade dadurch wird nun der Ausdruck gleichsam n a c h t ö n e n d , oder n a c h k l i n g e n d , weil dasjenige weggelassen ist, wodurch der Sinn geschlossen, und mit dem Ausdruck auch der Gedanke zu Ende gewesen wäre. Der roheste Mensch, so wie der größte und gebildetste Redner, verwandelt bey dem leidenschaftlichen Ausdruck zum öftern sein Urtheil in eine Frage, wo er sich auf die Einsicht des andern beruft und stützt; und der Redner kann auch hier durch die Beobachtung der rohen Ausbrüche der Leidenschaft mehr als aus den Anweisungen zur Beredsamkeit lernen. Denn der größte Redner darf in dem Feuer, womit er seine Reden entwirft, eben so wenig an rednerische Figuren denken, die er anbringen will, als der ungebildetste Mensch in dem Ausbruch der Leidenschaft sich derselben bewußt ist. Der Redner mag nun in seiner eigenen oder in der Seele eines andern reden, so muß doch sein Ausdruck nothwendig das Resultat von der Seelenstimmung seyn, in welche er sich versetzt hat. Die rednerischen Figuren aber können ja bei dem Redner die erforderliche Seelenstimmung nicht hervorbringen, sondern müssen selber dadurch hervorgebracht worden seyn, wenn sie auf den Zuhörer wirken sollen. Am leichtesten kann z. B. die W i e d e r h o h l u n g gemißbraucht werden, wozu man vorzüg-lich dadurch verleitet wird, daß man sie als eine rednerische Figur, oder als eine Verschönerung der Rede an und für sich selbst betrachtet. – Wie kann aber die Wiederhohlung eines und eben desselben Ausdrucks an und für sich wohl schön seyn? – Wenn sie uns gefällt, so ist es nur deswegen, weil sie uns irgend eine Gemüthsbewegung des Redenden verräth, die sich bei der unordentlichen Folge seiner Gedanken nicht anders, als durch eine solche Wiederhohlung zu äußern vermag.

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Eine solche Wiederhohlung nun eine Figur zu nennen, die man der Verschönerung der Rede wegen zuweilen mit Fleiß anbringen müsse, scheint eben so ungereimt zu seyn, als wenn jemand eine zornige oder traurige Miene, ohne alle Veranlassung, für eine Verschönerung des Gesichts ausgeben, und dergleichen Mienen als eine Kunst nach Regeln lehren wollte. Man kann daher behaupten, daß die Wiederhohlung des Ausdrucks an und für sich selber nie eine Schönheit der Rede sey, daß sie vielmehr in der Sprache der Leidenschaft nur geduldet werde; und daß nur die Wichtigkeit des Gegenstandes diese Art von S c h w ä c h e des Ausdrucks, welcher unter dem Gedanken gleichsam erliegt, wieder ersetzet und den Zuhörer befriedigt. Man könnte zwar einwerfen, daß man eine solche anscheinende Schwäche des Ausdrucks, um den Gegenstand zu heben, mit Fleiß suche, und daß eben hierin die rednerische Figur bestehe; allein ich antworte, dieß ist ja eigentlich der Nachtheil der sogenannten Figuren in der Redekunst, daß man durch falsche Mittel den Gegenstand zu heben sucht, statt daß der Gegenstand den Ausdruck erheben sollte. Nichts ist ekelhafter, als solche Wiederhohlungen, denen man das Bestreben ansieht etwas Wichtiges und Vielbedeutendes sagen zu wollen, und einen hohen Grad von lebhafter Rührung und Empfindung auszudrücken, die man nicht hat. Man glaubt, der Zuhörer soll denken, was er so oft wiederholen hört, müsse doch auch wohl der Mühe werth seyn, wiederhohlt zu werden. Es gelingt auch wohl zuweilen, daß man auf die Weise durch den Ausdruck sich selbst und andre täuscht, indem man selbst etwas Starkes, Erschütterndes zu sagen, oder der andre wirklich etwas dergleichen zu hören glaubt. Wenn nun eine solche leere Täuschung der Zweck des Schriftstellers wäre, so müßte freilich der Gebrauch der sogenannten Redefiguren mit sorgsamen Fleiß erlernet werden, um bei dem Pöbel damit zu glänzen; wer aber den Vernünftigen gefallen will, der muß diese Redefiguren, wenn er sie erlernt hat, gewiß erst wieder zu vergessen suchen, ehe er über einen Gegenstand zu schreiben anhebt.

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Zu den Beförderungsmitteln der Lebhaftigkeit des Ausdrucks rechnet man auch die I n v e r s i o n , welche darin besteht, daß man um einen Begriff besonders herauszuheben, die gewöhnliche Wortfolge verändert, als anstatt: Ich sollte von Dir lernen! Von D i r sollte ich lernen? oder L e r n e n sollt’ ich von Dir? Wer einigermaßen lebhaft denkt und schreibt, dem entschlüpfen alle Augenblick dergleichen Inversionen, ohne daß er seine Aufmerksamkeit eigentlich darauf richtet; denn diese Inversion ist eben so natürlich, wie der Ton der Stimme, wodurch man das Bedeutende vor dem Unbedeutendern herauszuheben sucht. Wer nun aber ordentlich bei sich dächte: hier muß ich wohl einmal eine Inversion anbringen, um meinem Ausdruck mehr Lebhaftigkeit zu geben; wie steif und abgeschmackt müßte nicht dessen ganze Schreibart werden? Und doch sind es auch hier die gewöhnlichen Regeln des Styls und der Beredsamkeit, welche zu einer solchen Schreibart die nächste Veranlassung geben, indem man jene in der Sprache des Affeckts so natürliche Umkehrung der gewöhnlichen Wortfolge unter die r e d n e r i s c h e n F i g u r e n zählt, die man kunstmäßig lernen soll, um sich zierlich auszudrücken. Man kann behaupten, daß der Mißbrauch dieser Umkehrung der Wortfolge bloß daher entsteht, weil man sie unter einem besondern Kunstnahmen, als eine eigene Zierde oder Schönheit des Ausdrucks mit aufgeführt, und Regeln und Vorschriften darüber gegeben hat; denn der geringste aus dem Pöbel wird in der Sprache der Leidenschaft keine Inversion ohne Anlaß und Bedeutung machen, die man hin-gegen in manchen Schriften, die zierlich geschrieben seyn sollen, sehr häufig findet. Die Inversion entsteht ja eben dadurch, wenn die Aufmerksamkeit mehr auf die Sache, als auf das Wort gerichtet ist; wenn das lebhaftere Interesse für die Sache das Wort voranreißt, was in dem ruhigen Gange der Ideen erst langsam nachzufolgen pflegt.

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Ist nun aber bei der Inversion die Aufmerksamkeit zuerst auf den Ausdruck gerichtet, so muß dadurch nothwendig eine unerträgliche Affectation entstehen; und es muß scheinen, als ob einer sich die Miene geben wolle, daß er immer etwas wichtiges und bedeutendes sage, weil ihm die gewöhnliche Wortfolge nicht genügt, sondern immer auf irgend ein Wort von ihm ein ganz besonderer Nachdruck gelegt wird, indem er es den übrigen Worten, auf die es sonst erst folgen müßte, voranstellt. Wenn hingegen Medea in dem Monodrama sagt:

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Hier lag ich sonst; Sonst lag ich hier Und flehte Segen Auf Jasons Haupt; Nun lieg ich hier, Hier lieg ich nun – Und flehe Rache Auf Jasons Haupt – So ist es die abwechselnde vollständige Erinnerung an die Z e i t und an den O r t , welche durch die bloße umgekehrte Wortfolge hier lebhaft dargestellt wird. Denn einmal ist der Begriff von der Z e i t , das andre mal der Begriff von dem O r t e der herrschende, und beide verdrängen sich gleichsam einander. Durch alle dergleichen Hülfsmittel wird also mehr angedeutet, als ausdrücklich gesagt wird, wenn es z. B. heißt: D i c h sollt ich loben? anstatt: ich sollte Dich loben? so liegt darin, daß das D i c h aus seiner Stelle gerückt, und vorangesetzt ist, schon der Begriff, daß die Person, die ich anrede, ihrer bekannten Eigenschaften wegen, entweder meines Lobes nicht werth oder nicht bedürftig sey.

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Hieße es: Loben sollt ich Dich? so ist die Voransetzung von L o b e n schon ein Zeichen, daß ich ohngefähr damit sagen will, du verdienst eher meinen Tadel, als mein Lob! Wenn man irgend ein Wort im uneigentlichen Sinne braucht, so geschieht es im Grunde deswegen, um m e h r a u f e i n m a l auszudrücken, als man mit den eigentlichen Worten hätte bezeichnen können. Denn der bildliche Ausdruck ist immer zwiefach bedeutend, oder erweckt einen zwiefachen Begriff, indem ich mir außer der eigentlichen Sache, die durch das Bild angedeutet wird, doch auch das Bild selber mit hinzudenke, so daß auf die Weise das Wort, welches sonst immer nur ein Zeichen eines Begriffes ist, in sich selber wieder einen besondern Begriff einschließt, wodurch nun der Hauptbegriff noch mehr hervorgehoben wird. »Auf die Unwissenheit ausländischer Sachen, w i e a u f e i n e m w e i c h e n P o l s t e r g e l e h n e t , sieht eine Nation auf jede andre Nation mit ruhiger Selbstzufriedenheit herab.« Zimmermann vom Nationalstolze. Hätte es hier nun, ohne bildlichen Ausdruck ohngefähr so geheißen: »Je träger eine Nation ist, sich um ausländische Sachen zu bekümmern, mit desto mehr Selbstzufriedenheit, sieht sie auf jede andre Nation herab.« So ist freilich im Grunde dasselbe gesagt; durch den bildlichen Ausdruck aber werden alle Begriffe in eine nähere Verbindung und in ein lebhafteres Spiel gebracht; es sind die Begriffe: Unwissenheit ausländischer Sachen, Trägheit, Selbstzufriedenheit.

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A u f e i n e m w e i c h e n P o l s t e r h i n g e l e h n t , drückt den Begriff von Trägheit bildlich aus, und dieses Bild faßt nun zugleich den Begriff des A n g e n e h m e n und Ve r f ü h r e r i s c h e n der Trägheit in sich, wodurch die Unwissenheit gepflegt, und die Selbstzufriedenheit genährt wird. Er lehnt sich auf seine Unwissenheit, wie auf einem w e i c h e n P o l s t e r , bezeichnet sehr nachdrücklich, wie jemand sich m i t F l e i ß in seiner Unwissenheit zu erhalten sucht, um seine Selbstzufriedenheit nicht zu verlieren, und zugleich den Zustand von Behaglichkeit, worin er sich dabey befindet; welches alles durch keine Umschreibung so lebhaft und anschaulich, als durch das Bild selbst bezeichnet werden kann. Bei dem Worte Tr ä g h e i t denkt man sich bloß den Begriff von der Trägheit; bei dem w e i c h e n P o l s t e r denkt man sich erstlich den Begriff von der Trägheit, die hier dadurch angedeutet wird, und zweitens den Begriff von dem weichen Polster selber, worauf man der Trägheit nachhängt. Das w e i c h e P o l s t e r ist hier nur ein Zeichen von einer Sache, und giebt doch als Zeichen für sich selbst wieder einen Begriff; es ist kein bloßes willkürliches Merkmal, sondern zugleich ein B i l d von der Sache, die es bezeichnet. Darum kann man auch sagen, daß die figürlichen Ausdrücke gleichsam eine neue Sprache sind, wodurch der Mangel an natürlichen und bedeutenden Zeichen, in der gewöhnlichen Sprache ersetzt wird. Denn der menschliche Geist strebt immer dahin, daß nicht nur die bezeichneten Sachen, sondern das Zeichen selbst wieder einen eignen Sinn und Bedeutung haben soll, damit man sich eine Ursach angeben könne, w a r u m gerade dieß Zeichen zu dieser Sache gewählt sey. Bei den meisten Worten der Sprache aber bleibt dieser Hang des menschlichen Geistes unbefriedigt; die Wörter Geist und Seele, Baum und Vogel z. B. und unzählige andere, spricht man aus, ohne sich einer Ursach bewußt zu seyn, warum man gerade durch diesen und keinen andern Laut die angedeuteten Sachen bezeichnet. – Darum gefallen auch schon die Wörter vorzüglich, welche nur einigermaßen durch

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ihren Laut mit den bezeichneten Sachen übereinstimmen, als r i e s e l n , s ä u s e l n , w e i c h , Wo n n e , w o h l , u. s. w. Dergleichen Wörter haben schon an sich etwas poetisches, weil man sie nicht als bloß willkührliche Zeichen betrachtet, sondern in ihrem Klange selbst schon etwas Abbildendes wahrnimmt. »Seine Hoffnung scheitert« sagt doppelt so viel, als »Seine Hoffnung ist verschwunden,« oder: »Ihm bleibt keine Hoffnung übrig« – Denn weil die Hoffnung nicht wirklich oder im eigentlichen Sinn scheitern oder Schiffbruch leiden kann, so wird schon dadurch die Vorstellung nothwendig, daß S c h e i t e r n hier nur ein Bild sey, welches das gänzliche Aufhören aller Hoffnung andeutet; und doch denkt man sich nun den ganzen Begriff des Scheiterns mit hinzu, ohne daß dadurch eine Verwirrung in unsrer Vorstellung entstände, weil der Begriff des Scheiterns in den Grenzen des Bildes bleibt, während daß der Begriff der Hoffnung in der Wirklichkeit statt findet. Es gehört eine außerordentliche Kühnheit der Denkkraft dazu, um sich eines solchen bildlichen Ausdrucks zuerst zu bedienen; da man sonst nur gewohnt war, von einem Schiffe zu sagen, daß es scheitert, nun auf einmal dasselbe Wort von einem ganz abgezogenen Begriffe, der von dem Begriff eines Schiffes so weit entfernt ist, zu gebrauchen! Aber dadurch eben, daß z. B. die Begriffe H o f f n u n g und S c h e i t e r n im eigentlichen Sinne gar nicht neben einander bestehen können, erhält eben der bildliche Ausdruck seinen Nachdruck und seine Stärke, oder wird viel-mehr erst zum bildlichen Ausdrucke, indem er nur als a n d e u t e n d , und nicht in seinem vollständigen Sinne auf den vorhergehenden Ausdruck bezogen werden kann, und dennoch in seinem vollständigen Sinne dunkel gedacht wird, so daß die Seele statt eines einfachen, einen doppelten Begriff erhält. Bei dem Scheitern eines Schiffes denkt man sich lebhafter als bei irgend einem andern Ereigniß, daß alle H o f f n u n g verlohren ist; nun ist es zwar eine kühne Versetzung, zu sagen: d i e H o f f n u n g

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s c h e i t e r t ; aber diese Begriffe fügen sich dennoch an einander, weil man sie einmal mit einander zu denken gewohnt ist.

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Fortsetzung der Entwickelung und Berichtigung des Begriffs vom bildlichen Ausdruck, in Beispielen – Hölty – Ramler –

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Von einem Greise sagt man: »der Abend seiner Tage« Weil man nun weiß, daß die Tage zusammen genommen, keinen gemeinschaftlichen Abend, sondern jeder einzelne Tag nur seinen wirklichen Abend hat, so stimmt sich die Seele auf einmal, den Begriff vom Abend hier nur als Anklang oder als Andeutung auf die Annäherung von dem Ende des Lebens, zu betrachten. In der Beziehung der Begriffe, welche der Verstand macht, muß hier von dem Bilde des Abends alles das zurück bleiben, was nicht Ende oder Annäherung des Endes bezeichnet; allein die Einbildungskraft nimmt, unbeschadet der Urtheilskraft, das vollständige Bild vom Abend auf, und läßt es gleichsam durch die Region des Verstandes durchschimmern. Dadurch wird nun der trockne Begriff vom E n d e des Lebens und der Annäherung desselben, gleichsam in eine schöne Umgebung eingehüllt, wodurch das Unangenehme dieses Begriffs auf eine bewundernswürdige Weise gemildert wird. Man fühlt sich von der ganzen wohlthätigen Natur umschlossen, in welcher der Abend nicht minder schön als der Morgen ist. – Die untergehende Sonne, die Dämmerung, die Annäherung der sanften Ruhe – welche reizende Bilder, die sich an den Begriff vom Abend knüpfen, und die nun alle auf die Vorstellung vom Alter und dem

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herannahenden Ende des Lebens, mit übertragen werden, wenn bei dem Greise die Zeit des hinwelkenden Alters, der Abend seiner Tage heißt. Wie hebt sich der Ausdruck auf einmal, wenn es heißt: »Die Rosen ihrer Wangen« anstatt »Die Röthe ihrer Wangen«. Da die Vorstellung von den Wangen den Begriff von der wirklichen Rose ausschließt, so ist R o s e freilich nur ein Bild, das auf die Röthe der Wangen deutet; aber welch eine Menge von schönen Nebenbegriffen erweckt nicht dieses Bild! – die Sanftheit der Röthe; die Weichheit der Blätter; der süße Duft; das Aufblühen der Jugend; ihr schnelles Hinwelken; alle diese Ideen, die in der Seele schlummern, werden durch den schönen bildlichen Ausdruck auf einmal angeklungen, und vermählen sich mit dem Begriffe von der Farbe der Wangen, der alle diese ihr gleichartigen Vorstellungen willig mit in sich aufnimmt. Durch das Bild von der Rose wird der Ausdruck r o t h e Wa n g e n von einem bloß physischen Begriff zu einem geistigen erhöhet, welcher mit der Vorstellung von Jugend und Unschuld verknüpft ist. In der zärtlichen Ballade Adelstan und Rößchen von Hölty, erscheint Rößchens Schatten ihrem Verführer um Mitternacht: Ein Mädchen tritt ihm vors Gesicht Ins Leichentuch gehüllt – Ach Röschen ists, das arme Kind, Das Adelstan berückt; D i e R o s e n i h r e r Wa n g e n sind Vom Tode w e g g e p f l ü c k t – Wie mildert hier nicht das Bild von den Rosenwangen die schreckliche Vorstellung von der bleichen Todtenfarbe, und giebt zugleich die natürlichste Veranlassung zu der Fortsetzung des Bildes, da mit der Rose ohnedem schon der Begriff des Hinwelkens, des Abpflückens so nahe verknüpft ist. –

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Auch die Vorstellung von Jugend und Unschuld, die ein Raub der Verführung wurden, flicht sich hier wieder mit ein, und bringt die jammervolle Geschichte des unglücklichen Mädchens gleichsam in einem Augenblick wieder vor die Seele. – Leben und Tod, Blühen und Verwelken konnte in keinen rührendern Gegensatz gebracht werden, als hier durch das Bild von dem S c h a t t e n d e r A b g e s c h i e d e n e n , und den a b g e p f l ü c k t e n R o s e n d e r Wa n g e n . Je mehr mit der Hauptidee verwandte Nebenideen ein bildlicher Ausdruck a u f e i n m a l erregt, desto schöner ist er; denn die Schönheit desselben besteht eben in der F ü l l e des Gedanken, den er bezeichnet, oder vielmehr den ersten Anklang dazu giebt. Durch den Ausdruck d i e J u g e n d d e s J a h r e s , tragen wir, indem wir den Frühling bezeichnen, unser eignes Gefühl von innerer Lebenswärme und Wirksamkeit auf die ganze Natur über, und verknüpfen die Erinnerung an dieß Gefühl mit dem trocknen Begriff von Z e i t , der nun auf einmal dadurch gleichsam beseelt und belebt wird; denn obgleich die Jugend in Ansehung eines bestimmten Zeitraums eigentlich nur auf den Anfang desselben deutet, so trägt doch die Einbildungskraft das vollständige Bild der Jugend in den Begriff von Z e i t mit hinüber, und läßt es gleichsam im dunkeln Hintergrunde hervorschimmern, damit es die Hauptidee nicht verwirre oder störe. Durch den Ausdruck d e r F r ü h l i n g d e s L e b e n s , tragen wir nun umgekehrt den Begriff von der Lebenskraft und Fülle der ganzen verjüngten Natur in das Gefühl von unserm eigenen Daseyn. – Auf diese Weise wechseln wir gleichsam Begriffe und Empfindungen mit der uns umgebenden Natur, indem wir uns als ein Bild von ihr, und sie wiederum als ein Bild von uns betrachten, und also immerwährenden Stoff zum bildlichen Ausdruck haben. In einer Ramlerischen Ode auf den Winter heißen die Schrittschuhe, S c h u h e v o n S t a h l , w o r i n d e r M a n n d e r f r e u n d l i c h e n Ve n u s d e r B l i t z e G e s c h w i n d i g k e i t b a r g . –

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Dieß ist ein überaus glückliches und wohlgewähltes Bild, weil dadurch eine Menge verwandter Ideen auf einmal zusammen strömen, die auf die Seele eine äußerst angenehme Wirkung thun. Zu dem Begriff des Stahls gesellt sich natürlicher Weise die Vorstellung des S c h m i e d e n s , wodurch er hervorgebracht wird; die Vorstellung des Schmiedens aber ist in der griechischen Mythologie durch die Dichtung von Vulkan und Venus zu einem der angenehmsten Bilder für die Einbildungskraft geworden, wo es scheint, daß die Phantasie gerade in die raucherfüllte Werkstatt des Vulkan die Göttin der Liebe und der Schönheit ihm als Gattin zuführte, um durch diesen lebhaften Kontrast die spielenden Ideen auf eine angenehme Art zu beschäftigen. Der neuere Dichter hat daher diesen Umstand aus der Mythologie, um seinem Bilde mehr Reiz zu geben, sorgfältig benutzt, indem er den Gott Vulkan den Mann d e r f r e u n d l i c h e n Ve n u s nennt. Denn Vulkan soll hier nicht in seiner Wildheit und Ungestüm, sondern als eine wohlthätige Gottheit dargestellt werden, welcher den Knaben angenehme Spielwerke zum Winterzeitvertreibe verfertigt; indem er nun der Mann der freundlichen Venus heißt, so wird gleichsam sein ganzer Charakter selbst dadurch gemildert, und das ganze Bild auf einmal dadurch sanfter und schöner. Auf die Weise zieht der ganz gemeine Begriff von einem S c h r i t t s c h u h in der Phan-tasie des Dichters die reizendsten Bilder aus der Mythologie herbei, und verwandelt sich dadurch selbst zu einem schönen poetischen Bilde, welches nun auch noch den Zusatz des Wunderbaren erhält, indem es heißt, daß Vulkan in diese Schuhe von Stahl d e r B l i t z e G e s c h w i n d i g k e i t v e r b o r g e n h a b e . – Die mythologischen Dichtungen sagen vom Vulkan, daß er die Blitze oder vielmehr die geflügelten Donnerkeile des Jupiters schmiedete; seine hohe Göttermacht setzte ihn also in den Stand, die Schuhe von Stahl mit der Geschwindigkeit der Blitze zu begaben, die er, weil sie sich bei dem Gebrauch erst offenbart, darin v e r b a r g – Nun ist die Geschwindigkeit der Blitze die h ö c h s t e Geschwindigkeit, die uns i n d i e S i n n e f ä l l t , und das Wort B l i t z mit dem

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Begriffe von Geschwindigkeit verknüpft, macht allemal einen sehr lebhaften Eindruck auf die Seele, weil es durch die treffendste Zusammenstellung den Begriff gewissermaßen in die Sache selbst verwandelt, und das, was ein bloßes Zeichen der Gedanken seyn soll, an sich selber wieder einen Gedanken in sich faßt. Und hier scheint mir die Bemerkung nicht überflüssig, daß das Wort B l i t z selber schon in seinen einzelnen Lauten etwas sehr Bedeutendes und mit der bezeichneten Sache übereinstimmendes habe – denn so wie die weichen und mit Leichtigkeit auszusprechenden Konsonante b l mit dem zartesten Vokal i , schon an sich ein Bild der Schnelligkeit sind, so scheint das t z am Ende eine unwillkürliche Nachahmung des plötzlich Abgebrochenen und Gehemmten, wodurch der Begriff der Schnelligkeit verstärkt, und auch in Ansehung der D a u e r d e r Z e i t , durch den hemmenden Laut, natürlich bezeichnet wird. Dieß ist aber die höchste Macht der Sprache, wenn sie selbst bis in ihre einzelnen Laute bedeutend wird, und nichts Willkürliches an ihr bleibt – das Zeichen selbst wird in diesem Fall wieder zur Sache, und der Gedanke erhält dadurch eine Lebhaftigkeit und Fülle, wodurch zugleich mit dem Verstande das Gemüth auf eine angenehme Art in Bewegung gesetzt wird. B l i t z z. B. soll in dem bildlichen Ausdrucke nicht den eigentlichen Blitz, sondern die Ge-schwindigkeit andeuten; dieß thut es für den Verstand, der nun die Idee von dem wirklichen Blitze ausschließt, welche demohngeachtet von der Einbildungskraft wieder aufgenommen wird, und dem Verstandes-Begriffe gleichsam zur Unterlage dienet; auf die Weise wirken also schon B i l d und G e d a n k e vereint auf die Seele; nun aber kömmt bei dem Worte B l i t z noch selbst der Laut hinzu, wodurch es vermittelst des Gehörs mahlerisch und bedeutend wird; es ist also hier d e r To n , d a s B i l d , und d e r G e d a n k e , welche sich wechselsweise einander beleben, und gleichsam das Organ der Sprache selbst beseelen, woher denn auch die wunderbaren Eindrücke entstehen, die bei dem wohlgewählten bildlichen Ausdruck das Gemüth bewegen.

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Das E i s heißt in der angeführten Ode d e r d i a m a n t n e S c h i l d d e s S t r o m s , d e r a l l e P f e i l e d e r S o n n e v e r h ö h n e t . – Auch dieß Bild hat wegen seiner innern Uebereinstimmung sowohl als wegen seiner Uebereinstimmung mit der bezeichneten Sache, eine außerordentliche Schönheit. – Es bringt auf einmal einen heitern Wintertag vor die Seele, wo die Sonne, ohngeachtet der ungehinderten Wirkung ihrer Strahlen, dennoch nicht vermögend ist, das Eis zu zerschmelzen, welches gleichsam ihr zum Trotz sich selber noch in dem Schimmer ihrer Strahlen härtet, und wo also die Vergleichung mit dem undurchdringlichen Diamant gerade die treffendste ist, um die Härte zu bezeichnen, welche den alles zerschmelzenden Sonnenstrahlen widersteht – allein das Bild erhöht sich, und erhält noch mehr Wirksamkeit und Leben durch den Gegensatz von S c h i l d und P f e i l , wodurch die Begriffe von Wirkung und Gegenwirkung auf einmal in die lebhafteste Beziehung mit einander gebracht werden, die nur möglich ist, und an das Ganze sich zugleich ein schönes mythologisches Bild, von dem f e r n h i n t r e f f e n d e n S o n n e n g o t t mit Bogen und Pfeil, anschließt. Es ist der schöne Einklang der einzelnen Bilder, welcher dieß Gemählde so reizend macht – die Begriffe von u n d u r c h d r i n g l i c h e r Härte sind durch die Bilder vom Diamant, Schild und Pfeil, als dem alles durchdringenden Strahl der Sonne, gleichsam stufenweise erhö-het, und durch alle diese Bilder hindurchgeführt, bis zu dem Ausdruck des Ve r h ö h n e n s , der dem Begriffe dieser undurchdringlichen Härte gleichsam noch das Gepräge menschlicher Empfindung aufdrückt, und dadurch dem Eindrucke dieses Bildes auf das Gemüth noch einen leichtern Eingang verschafft, und es näher an die Empfindung anschließt. Die Vorstellung von dem Strome, der über diese felsenfeste Decke hinrollt, macht noch einen lebhaften Kontrast mit dem Ganzen, wozu denn wiederum die mythologische Dichtung sich gesellt, welche alle diese Gegenstände gern persönlich darstellt, und doch auch diese persönliche Darstellung immer noch so schwankend läßt, daß die Vorstellung von den wirklichen Gegenständen in der Natur nicht darun-

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ter leidet, sondern unter den Bildern von Flußgott, Sonnengott, u. s. w., welche die Phantasie sich schafft, immer noch durchschimmert. – So sind auch hier die Gegenstände nicht z u persönlich dargestellt, und dadurch wird das Bild selbst noch schöner und reizender, indem man sich die leblosen Dinge, bald wie lebende und wirkliche Wesen, und dann doch auch wieder in ihrer natürlichen und wahren Gestalt, fast zu gleicher Zeit vorstellt. Wirklichkeit und Dichtung spielen in solchen Bildern unmerklich in einander, und beschäftigen daher m e h r e r e F ä h i g k e i t e n u n d K r ä f t e d e r S e e l e a u f e i n m a l , welches eben ihre vorzügliche Schönheit ausmacht. – Das ganze Bild von dem diamantnen Schilde des Stroms, der alle Pfeile der Sonne verhöhnt, bezeichnet die Natur des Eises, und ist also eine b e d e u t e n d e Benennung desselben, da hingegen das Wort E i s nur ein w i l l k ü r l i c h e r Nahme ist. Durch die bildliche U m s c h r e i b u n g verwandeln sich also die bloß willkürlichen Laute gleichsam in Begriffe; darum wird die ganze Vorstellung lebhafter und anziehender.

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Neunte Vorlesung.

Vom Gleichniß – zwei Beispiele aus Homers Odüssee – ein mißrathenes Gleichniß aus einem neuern Schriftsteller. – 25

Wenn der eigentliche Begriff durch das Bild nicht bloß angedeutet, sondern ausdrücklich mit benannt wird, so wird das Bild zum Gleichnisse. Wenn es z. B. hieße: gleich einem diamantnen Schilde, der die Pfeile der Sonne höhnet, deckt das Eis den Strom; so wäre die anspielende bildliche Umschreibung zu einer wirklichen Vergleichung

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geworden, und der Ausdruck wäre ermattet, weil dieß Bild, als ein figürlicher Nahme des Eises, der Einbildungskraft Gnüge thut, als Vergleichung aber zu wenig sagt und die Seele leer läßt. Denn durch das g l e i c h w i e will der Ve r s t a n d schon mit beschäftigt seyn; es soll nicht bloß ein Bild, sondern einen Gedanken mit herbei führen, und durch die Vergleichung die urtheilende Kraft der Seele in Bewegung setzen; wo also dieses fehlt, da ist die Vergleichung matt und zwecklos; man sieht keinen Grund, weswegen man nicht von der Sache ohne alle Umschweife redet; und das Gleichniß scheint alsdann nicht sowohl der Sache zu Liebe angebracht, als vielmehr ein erborgter Schimmer zu seyn, wodurch der Redner glänzen will. Die Sucht nach Gleichnissen, welche in dem gezierten Ausdruck mancher Schriftsteller herrscht, scheint aber auch vorzüglich daher ihren Ursprung zu nehmen, daß man die Vergleichung an und für sich selber, durch den falschen Begriff von einer rednerischen Figur verleitet, für eine Schönheit der Rede hält, da sie doch erst zur Schönheit wird, wenn sie ein wirkliches Bedürfniß des Redenden ist, dem der eigentliche Ausdruck für die Fülle seiner Begriffe nicht Gnüge leistet, und der durch sein g l e i c h w i e nur einigermaßen das noch auszusprechen sucht, was in seiner Seele schlummert, und der Ausdruck nicht fassen kann. Nur durch die Vorstellung dieses B e d ü r f n i s s e s blicken wir auf den tiefsten Grund der Seele des Dichters und Redners, und das ist es, was uns bei einem schönen poetischen Gleichnisse so viel Vergnügen gewährt, da hingegen ein bloßes müssiges Spiel der Einbildungskraft, die Seele, deren Urtheilskraft mit beschäftigt seyn will, sehr bald mit Widerwillen und Ueberdruß erfüllt. Durch nichts zeichnen sich daher auch unsre schlechten, geschmacklosen Schriftsteller des verfloßnen Jahrhunderts so sehr aus, als durch übel gewählte und unzweckmäßig angebrachte Gleichnisse, die hergebrachter maßen und gleichsam handwerkmäßig die Poesie verzieren mußten. – Ein solches Gleichniß war es, welches Friedrich dem Großen unter andern den Geschmack an der deutschen Litteratur verleidete, als er in einem deutschen Panegyr zum Lobe einer

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Fürstin die Stelle laß: s i e g l ä n z e w i e e i n K a r f u n k e l a m R i n ge der gegenwärtigen Zeit. In den homerischen Gleichnissen athmet in jeder Zeile das Bestreben, die Fülle der Gedanken bildlich auszusprechen, welche der eigentliche Ausdruck nicht erschöpfen kann. So erzählt Homer, wie Ulysses, nachdem er auf der Insel der Phäacier ans Land gestiegen ist, zwischen zwei verschlungenen Gebüschen sich ein Lager von Blättern bereitet:

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er bettete sich mit seinen Händen ein Lager Hoch und breit; denn es deckten so viele Blätter den Boden, Daß zween Männer daneben, und drei sich hätten geborgen Gegen den Wintersturm, auch wenn er am schrecklichsten tobte. Freudig sah das Lager der herrliche Dulder Odüsseus, Legte sich mitten hinein und häufte die rasselnden Blätter. Vo ß . Indem nun der Dichter seinen Helden, vor allen Menschen verborgen, unter den Blättern schlummern läßt, so macht es einen rührenden Kontrast, wenn man sich den Schlummernden, als den berühmten Feldherrn, den Vollbringer glänzender Thaten, den Zerstörer von Troja, denkt, und der Dichter nun in die Zukunft schauet, die noch mit so großen Ereignissen schwanger ist, wenn dieser Schlummerer erwacht, und mit dem rächenden Donner die frevelnden übermüthigen Freier der Penelope strafen wird – dieß alles ist in dem folgenden schönen und treffenden Gleichniß eingehüllt: Also verbirgt den Brand in seiner Asche der Landmann Auf entlegenem Felde, von keinem Nachbar umwohnet, Hegt er den Saamen des Feuers, um nicht in der Ferne zu zünden: Also verbarg sich der Held in den Blättern. – Glücklicher konnte gewiß kein vergleichendes Bild von dem Dichter gewählt werden, um eine Menge von Ideen und Erinnerungen in der Seele auf einmal rege zu machen.

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Es ist der glimmende Funken, welcher Verderben und Zerstörung um sich her verbreiten kann, sobald er zündet, und zur um sich greifenden lodernden Flamme wird. – So ist es der schlummernde Ulysses, welcher die blühende Troja in Schutt und Graus versenkte, und bei seiner Rückkunft in Ithaka eine schreckliche Rache an seinen Feinden nahm. – Drum verbirgt der Landmann auf entlegenem Felde in der Asche den Funken, damit er nicht zünden soll. – Nicht nur die Einbildungskraft, sondern auch die urtheilende Kraft der Seele, wird hier durch den treffenden Vergleichungspunkt zwischen Bild und Sache beschäftigt, und in ein lebhaftes Spiel gebracht. – Es ist ein Anklang zu einer Menge von Ideen, die z w i s c h e n dem Bilde und der Sache liegen, und nun nicht besonders dürfen ausgedruckt werden, weil sie durch ein nothwendiges Gesetz des Denkens und der Einbildungskraft herbeigezogen und mit gedacht werden müssen. Wie sehr würde daher der Ausdruck ermatten, wenn die zwischen liegenden Ideen, welche ich hier bloß, um die Wirkung des Gleichnisses psychologisch zu entwickeln, angeführt habe, von dem Dichter selbst mit dargestellt wären, und von ihm selber noch die Ursache angegeben wäre, warum er das Vergleichende mit dem Verglichnen verbindet. Eine solche rechtfertigende Erklärung eines Gleichnisses findet man häufig bei schlechten oder mittelmäßigen Dichtern und Rednern. Diese Erklärung ist allemal verwerflich: denn bedarf das Gleichniß einer Erklärung, um verstanden zu werden, so taugt es an sich nichts; bedarf es ihrer nicht, so ist die Erklärung sehr überflüssig, und die ganze Kraft des Ausdrucks, welche das Gleichniß bewirkte, wird wieder dadurch gehemmt und vernichtet. Da sich nun Ulysses nackt und hülfesuchend aus seinem Lager von Blättern hervorarbeitet, um die Königstochter Nausikaa mit ihren Jungfrauen um Mittleid anzuflehen; so hüllt der Dichter die Noth

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und Armuth seines Helden in das folgende Gleichniß ein, wodurch er ihn selbst in dem hülflosesten Zustande noch furchtbar erscheinen läßt: 5

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der edle Odysseus Brach mit der starken Faust sich aus dem dichten Gebüsche Einen laubichten Zweig, des Mannes Blöße zu decken; Gieng dann einher, wie ein Leu des Gebirgs, voll Kühnheit und Stärke, Welcher durch Regen und Sturm hinwandelt, die Augen im Haupte Brennen ihm; furchtbar geht er zu Rindern oder zu Schaafen, Oder zu flüchtigen Hirschen des Waldes; ihn spornt der Hunger Selbst in verschloßne Höf’, ein kleines Vieh zu erhaschen: Also gieng der Held, in den Kreis schön’ lockigter Jungfrauen Sich zu mischen, so nackend er war – ihn spornte die Noth an. Furchtbar erschien er den Mädchen, vom Schlamm des Meeres besudelt; Hierhin und dorthin entflohn sie, und bargen sich hinter die Hügel.

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Armuth und Hülflosigkeit konnte die Dichtkunst nicht besser, als durch dieß schöne Bild bekleiden. Bei dem Löwen, den der Hunger zum Raube anspornt, erscheint selbst die Noth mit Kühnheit und Stärke in furchtbarer Majestät umgeben. – Er wandelt durch Regen und Sturm hin – Die Augen im Haupte brennen ihm – So können den Held die Schläge des Schicksals nicht niederbeugen. – Er kämpfte um sein Leben mit Sturm und Ungewitter, und da er es zur Beute davon trug, war er dennoch nackend und hülflos und in Gefahr, ein Raub des Elendes zu werden – darum scheuet er nichts, um seinem widrigen Schicksal sich entgegen zu stämmen. – Wie hebt und veredelt sich nun durch das Gleichniß die Vorstellung von dem nackenden schiffbrüchigen Mann, der vom Schlamm des Meeres bedeckt, um Mitleid und Hülfe flehet!

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So wie – der Leu’ des Gebirges voll Kühnheit und Stärke Durch Regen und Sturm hinwandelt – – furchtbar zu Rindern oder zu Schafen Oder zu flüchtigen Hirschen des Waldes geht, Also ging der Held in den Kreis schön’ lockigter Jungfrauen Sich zu mischen – 135

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Wie mildert sich durch diesen letztern Zusatz selbst das Gleichniß wieder! Die Mädchen fliehen, gleich den aufgescheuchten Rehen, und verbergen sich hinter die Hügel – weil ihnen Ulysses vom Schlamm des Meeres bedeckt, furchtbar erscheint – Aber es ist nur der Anschein von Furchtbarkeit, ohne die Schädlichkeit – Von dem Gleichniß haftet gerade nur so viel als nöthig ist, um die Vorstellung von der Hülflosigkeit zu überkleiden. Der Begriff von der Hülflosigkeit wird durch das Gleichniß veredelt, und wechselseitig wird das Gleichniß wieder durch den Begriff von der Hülflosigkeit gemildert – die Begriffe spielen gleichsam durch einander, und das Bild und die Sache klären sich einander auf. Ohne dieß schöne Gleichniß würde der Dichter schwerlich vermieden haben, seinen Held in einem halb lächerlichen Lichte erscheinen zu lassen, indem die jungen Mädchen vor einem nackenden, mit Schlamm bedeckten Menschen, wie vor einem Ungeheuer, fliehen – durch das Bild aber wird ihre Flucht reizend, ohne daß der Gegenstand ihrer Furcht verächtlich wird. – Hätte nun der Dichter die innere Seelenstärke seines Helden, womit er allen Stürmen des Schicksals Trotz bietet, mit dem e i g e n t l i c h e n A u s d r u c k e noch so stark zu schildern gesucht, so würde doch alles, was er von dem Muth und der Standhaftigkeit desselben gesagt hätte, nicht die lebhafte Idee erweckt haben, welche hier durch das Bild hervorgebracht wird. Denn die Weißheit des Menschen zusammengenommen mit dem Muth und der Stärke des Löwen, giebt eine größere Fülle des Gedan-

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ken, als die Begriffe von Muth und innerer Seelenstärke, in so fern beide ein Resultat der menschlichen Weißheit sind, an und für sich gewähren können. Ueberhaupt sind die p h y s i s c h e n Begriffe lebhafter als die moralischen, und die Sprache muß sie zusammen nehmen, wenn sie die Gedanken und Empfindungen, die in der Seele schlummern, mit dem Ausdruck erschöpfen will. Man muß also das Gleichniß nicht als eine Zierde oder Verschönerung betrachten, die man irgendwo absichtlich anzubringen sucht; sondern es muß sich von selber aus dem B e d ü r f n i ß des Ausdrucks bilden, der zu dem, was er sagen will, schlechterdings ein Bild nöthig hat, an welches sich a u f e i n m a l eine Menge Ideen knüpfen, die, wenn sie einzeln und nach einander aufgezählt werden sollten, schon durch ihre Vereinzelung ihre bedeutende Kraft verlieren würden. Ein auffallendes Beispiel von einem ganz mißrathenen Gleichnisse findet sich in einem neuern Schriftsteller, der die majestätischen Säulen in der Vorhalle des Pantheons in Rom, mit B a u m s t ä m m e n vergleicht, die zu g l e i c h e r Z e i t aus dem Boden entsprossen und aufgewachsen wären. Das G l e i c h z e i t i g e in dem Wachsthum der Bäume soll also auf die g l e i c h e H ö h e der Säulen deuten; welche doch bei der Betrachtung ihrer Schönheit nur sehr wenig in Betracht kommen kann; denn sie sind ja nur deßwegen gleich hoch, weil sie gerade dieselbe Decke tragen, und also einerlei Bestimmung haben; da aber die Schönheit dieser Säulen vorzüglich in dem wohlabgemessenen Verhältniß ihrer Höhe zu ihrem Umfange besteht, wobei der Begriff vom zufälligen Wachsthum ganz hinwegfällt, so kann man sich nichts armseligers denken, als die Vergleichung dieser Säulen mit B a u m s t ä m m e n . – Umgekehrt würden Baumstämme die zufälligerweise einen schönen verhältnißmäßigen Wuchs, in Ansehung ihres Umfanges und ihrer Höhe, von der Natur erhalten hätten, durch die Vergleichung mit der emporstrebenden Säule erhoben werden können, wenn nicht der Auswuchs von Aesten und Zweigen das Bild wieder vernichtete.

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Die Vorstellung einer Reihe von Säulen aber kann wahrlich nicht dadurch erhoben werden, wenn man sie mit einer Reihe Baumstämme vergleicht, die von e i n e r l e i A l t e r sind. Die Säule selber ist gewissermaßen ein Bild vom Baume, dessen Stamm, durch die Kunst bearbeitet, statt Aesten und Zweigen, das auf ihm ruhende Gebälke trägt; der Baum aber kann nicht wieder zum Bilde der Säule dienen. Ein anderes ist es, wenn ich sage: e i n Wa l d v o n S ä u l e n ; hier drückt Wa l d nur die M e n g e d e r i n d i c h t e n R e i h e n s t e h e n d e n S ä u l e n aus, ohne daß die einzelnen Bäume, als Bäume, damit verglichen würden. – Man überträgt von dem Gleichniß nicht mehr, als nöthig ist, um den Begriff, den man ausdrücken will, gehörig aufzuklären; das übrige läßt man gleichsam im Hintergrunde der Einbildungskraft stehen, und begnügt sich, wenn es nur dem Hauptbegriffe nicht widerspricht. Wer aber eine Reihe Säulen mit Baumstämmen vergleicht, bei dem sieht man offenbar, daß es ihm nur darum zu thun ist, ein Gleichniß anzubringen, um durch ein s o w i e seinem Ausdruck eine besondere Zierde zu geben. Denn aus dem B e d ü r f n i ß , seine Empfindungen auszudrücken, kann diese Vergleichung nicht entstanden seyn, weil sonst der Beschreiber an den Säulen nichts so schön und bewundernswürdig müßte gefunden haben, als daß sie von g l e i c h e r H ö h e s i n d , und alle a u f r e c h t s t e h e n .

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Fortsetzung der Entwickelung und Berichtigung des Begriffs vom Gleichniß – wie bei dem Gleichniß der eine Begriff den andern gleichsam beseelt und Leben einhaucht – Beispiele aus Kleists Früh-

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ling – aus einer neuern Reisebeschreibung – aus Göthens Schriften – aus Geßners Idyllen. –

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Das Gleichniß und die Sache müssen wie Seele und Körper sich zusammen finden; das eine muß dem andern Leben einhauchen; der geistige Begriff muß mit dem physischen überkleidet, und dieser durch den geistigen beseelt werden. So werden die tobenden Leidenschaften mit den Stürmen verglichen, die das Meer aufregen; aber man vergleicht nicht umgekehrt die Stürme mit den Leidenschaften. Ein aufgebrachtes Volk wird mit dem tobenden Meere verglichen; aber man vergleicht nicht umgekehrt das tobende Meer mit einem aufgebrachten Volke. Es ist in diesen Beispielen der physische Begriff, welcher den moralischen überkleidet, und ihm gleichsam zum K ö r p e r dienet. In dem folgenden Beispiele aus Kleists Frühlinge ist zwar der physische Begriff das Verglichne, und der moralische das Vergleichende: – – Die Nachtviole läßt immer Die stolzen Blumen den Duft verhauchen: sie schließet bedächtig Ihn ein, und hoffet am Abend den ganzen Tag zu beschämen. E i n B i l d n i ß großer Gemüther, die nicht wie die furchtsamen Helden, Ein Kreis von Bewunderern spornt: die, tugendhaft, wegen der Tugend, Im stillen Schatten verborgen, Gerüche der Gütigkeit ausstreuen. – Aber hier wird auch das Gleichniß gewissermaßen umgekehrt – g r o ß e G e m ü t h e r werden nicht als ein Bildniß von dem Veilchen, sondern das Veilchen, als ein Bildniß großer Gemüther dargestellt, und das physische, von dem hier die Rede ist, wird also nicht eigentlich verglichen, sondern vielmehr selbst zum Gleichniß von dem Moralischen umgebildet, wodurch diese Schilderungen aus der physischen Welt gleichsam beseelt werden.

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Von eben der Art ist das folgende Bild in Dupaty’s Briefen über Italien, wenn er von den Säulen spricht, welche die Vorhalle des Pantheons bilden: »Ich finde etwas Belebtes an ihnen, das mich sonderbar täuscht; einen zierlichen Wuchs, eine edle Höhe, und ein majestätisches Haupt, um welches der Akanth seine so prächtigen und so biegsamen Blätter zu einer Krone geschlungen hat. Wie die Krone der Könige dient auch diese, das erhabne Haupt, auf welchem sie prangt, zu schmücken, und die ungeheure Last, die es beschwert, zu verbergen.« – Hier ist ebenfalls der moralische Begriff nicht sowohl das Vergleichende als vielmehr selbst das Verglichne; und die Säule mit ihrer Krone, wovon eigentlich die Rede ist, wird zum Bildniß der Königswürde, wovon nicht die Rede ist, sondern von der die Vorstellung hier nur, um den körperlichen Begriff zu beseelen, herbeigebracht ist. Das Bild ist treffend: die Krone schmückt, und verbirgt die ungeheure Last, die das erhabne Haupt beschwert – gerade das korinthische Säulenkapitäl, wo unter dem Gebälke sich die zarten Stengel in sich selber biegen, vollendet das Ansehen von L e i c h t i g k e i t , womit diese Säule, bei ihrem schlanken Wuchse, der auf ihr ruhenden Last entgegen zu streben scheint. Bei dem vorher angeführten Gleichnisse, wo diese Säulen mit Baumstämmen verglichen wurden, konnte unmöglich der eine Begriff den andern beseelen und Leben einhauchen; denn sie lagen viel zu nahe an einander, als daß auf einmal zwei Gedankenregionen in der Seele dadurch hätten in Bewegung gesetzt werden können, worin doch eben die Kraft und Wirkung von dem Gleichniß liegt. Wenn der physische Begriff d a s G a n z e u m f a ß t , so hebt er sich über den moralischen empor, der ihm zum Gleichniß dient, wie in dem folgenden Beispiele, aus dem schon angeführten Gemählde von Göthe: »Wenn Erd’ und Himmel ganz in meiner Seele ruht, wie die Gestalt einer Geliebten.« –

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Hier wird durch das Bild dem Unermeßlichen ein bestimmter Umfang gegeben, wodurch es zu einem Gegenstande des Anschauens und der Empfindung wird. – Das Bild wird hier selber zum Gedanken, der durch dasselbe erst seine Vollendung erhält. – Das erhabne Gefühl, womit der Geist des Menschen die große Natur umfaßt, konnte nicht inniger und lebhafter bezeichnet werden, als durch die Vergleichung mit jener Empfindung, welche durch die geliebten Züge eines menschlichen Antlitzes in der Seele hervorgebracht wird. Dieß Gefühl konnte gewiß nicht schöner ausgesprochen werden, als durch die Zusammenstellung dieses großen Ganzen der Natur, mit der zarten Bildung des Antlitzes, worin es sich v e r j ü n g t , und aus den sanften Zügen uns vertraulich entgegen lächelt. – Unter die Ausnahmen, wo das Gleichniß u m g e k e h r t ist, und eben deswegen eine ganz besondere Wirkung auf die Seele macht, gehört auch die folgende Stelle von Göthe: »Wenn ich zu meinem Fenster hinaus an den fernen Hügel sehe, wie die Morgensonne über ihn her den Nebel durchbricht und den stillen Wiesengrund bescheint, und der sanfte Fluß zwischen seinen entblätterten Weiden sich zu mir herschlängelt, o wenn da diese herrliche Natur so starr vor mir steht, w i e e i n l a k i r t B i l d c h e n « – – Sonst vergleicht man das Bild mit der Natur, indem man die Gegenstände durch den Ausdruck belebt, und z. B. sagt: der Fluß rauscht auf dem Gemählde, die Berge dämmern in der Ferne. – Hier ist die Natur selbst mit dem Bilde verglichen, um dem zu großen Ganzen, das die Einbildungskraft gern umfassen will, einen kleinen und besondern Umfang zu geben, und den m a h l e r i s c h e n Eindruck davon durch einen z u s a m m e n f a s s e n d e n Ausdruck zu bezeichnen. Durch dieß Gleichniß ist der sinnliche Eindruck von der umgebenden Welt bis zu dem Bilde auf dem Netzhäutchen zurück geführt, und aus der innersten Imagination durch den treffendsten Ausdruck wieder dargestellt.

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Welche sanfte Ruhe athmet die folgende Schilderung eines Greises in Geßners Schäfergedichten: »Ein Greis war Menalkas; achtzig Jahre waren schon über sein Haupt hingeflogen; silbern war sein Haar auf seiner Scheitel, und um sein Kinn, und ein Stab sicherte seinen wankenden Fußtritt. Und wie der, der nach den Arbeiten eines schönen Sommertages vergnügt an der Kühlung des Abends sitzt, den Göttern dankt, und so den stillen Schlaf erwartet, so waren seine übrigen Tage den Göttern heilig; denn er hatte gearbeitet und Gutes gethan, und erwartete gelassen und froh den Schlummer im Grabe.« Das Gleichniß ist hier von der minder lebhaften Art, weil das Verglichne und das Vergleichende zu nahe zusammen liegt, als daß Ideen aus ganz verschiednen Regionen dadurch auf einmal rege gemacht würden. Der, welcher nach den Arbeiten eines schönen Sommertages vergnügt an der Kühlung des Abends sitzt, u. s. w. könnte ja auch der Greis selber seyn, von dem die Rede ist, wenn nicht gleich darauf gesagt würde, daß seine übrigen Tage den Göttern und der R u h e heilig waren. Die Vergleichung erhält nur dadurch ihr Interesse, daß die ruhigen Tage des Alters mit der K ü h l e d e s A b e n d s verglichen werden; denn der Begriff von der R u h e n a c h d e r A r b e i t wird durch das Gleichniß im Grunde nicht gehoben, weil das Vergleichende und das Verglichne diesen Begriff mit einander gemein haben. Der Unterschied liegt nur darin, daß dort von einem einzelnen Tage, und hier vom ganzen Leben die Rede ist. Ferner liegt das Interesse des Gleichnisses in der Zusammenstellung der Begriffe vom Schlaf, nach welchem sich der ermüdete Arbeiter sehnt, und dem Schlummer im Grabe, welchen gelassen und froh der Greis erwartet. Die Vergleichung des Greises mit einem ermüdeten Arbeiter aber ist der schwächste Theil des Gleichnisses, weil die Begriffe zu nahe zu-sammen liegen, und der Greis auch im eigentlichen Sinne, als ein ermüdeter und ausruhender Arbeiter zu betrachten ist.

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Weil aber der ganze Ausdruck hier Stille und Ruhe athmen soll, so scheint auch der Dichter absichtlich eines von den minder lebhaften Gleichnissen gewählt zu haben, damit der Eindruck des Ganzen harmonisch sey. Die bildlichen Ausdrücke in dieser Darstellung berühren auch nur gleichsam die Oberfläche der Einbildungskraft, »achtzig Jahre waren über sein Haupt h i n g e f l o g e n « – » s i l b e r n war sein Haar auf seiner Scheitel und auf seinem Kinn« – »gelassen und froh erwartete er den S c h l u m m e r im Grabe.« – Dieß sind alles keine neuen und schimmernden Bilder, die auf die Seele, im Verhältniß gegen das Uebrige, einen zu starken Eindruck machten; sondern sie sind alle zu der sanften Wirkung, die sie auf die Seele thun, übereinstimmend; die Töne sind gleichsam gedämpft, so daß kein einziger vor den übrigen etwa zu laut wird, und eine zu lebhafte Erschütterung bewirkt. Die Bilder fügen sich leicht und ohne Mühe zusammen: »ein G r e i s war Menalkas« Durch diesen Anfang wird das Bild von dem schneeweißen H a u p t e erweckt, und vorbereitet, und schon steigt auch dieß Bild empor »achtzig Jahre waren über sein H a u p t hingeflogen« Sein graues Haar war also die Spur, die sie zurückließen – We i ß und g l ä n z e n d verwandelt sich in den Begriff von s i l b e r n – dasjenige was in der Wirklichkeit ein Hinwelken und ein M a n g e l ist, wird in der Einbildungskraft und Darstellung zu Fülle und Reichthum; das graue Haar wird ein Schmuck der ehrenvollen Scheitel, und erhält einen kostbaren Werth, indem es die Vollendung eines schönen Lebens bezeichnet. Der physische Begriff von der edlen Masse verwebt sich hier mit dem moralischen; und so wie in der wirklichen Welt das kostbare Metall den Werth der Dinge bezeichnet, welcher vorzüglich in unsern Begriffen liegt, so bestimmt auch hier der Ausdruck s i l b e r n den Begriff von dem Werth einer Sache, die physisch betrachtet, fast

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gar nichts ist – und nur im moralischen Sinne als Bezeichnung von so vielem, was man sich hinzudenkt, zu etwas kostbarem sich verwandelt – » s i l b e r n war sein Haar auf seiner Scheitel und um sein Kinn.« G e l b und g l ä n z e n d veredelt die erhöhte Einbildungskraft in G o l d , um den Begriff des Haares auch in der M a s s e zu veredeln – wie in der folgenden Stelle aus eben der Idylle, woraus das vorhin angeführte Beispiel genommen ist: »Einst saß er (Menalkas) so im Vorhaus an der Sonne, und Alexis, sein Enkel, stund allein bei ihm. Ein schöner Jüngling, jetzt hatte er dreizehn Frühlinge gesehen; der jugendlichen Gesundheit Rosenfarbe glühte auf seinen Wangen, und in g o l d n e n L o c k e n wallte sein Haar.« – Die Dichtkunst theilet hier durch wohlgewählte Bilder dem Greisen und dem Knaben-alter, jedem seine besondern Reize zu; das Alter erscheint nicht minder liebenswürdig als die Jugend, und durch die glückliche Verwebung physischer und moralischer Begriffe, durch Bild und Gleichniß, werden wechselseitig die Lücken ausgefüllt, welche die Wirklichkeit bemerken läßt, die aber in der schönen Darstellung verschwinden, wenn das in der Natur getrennte sich wieder zusammen findet, und in der Einbildungskraft ein reizendes vollendetes Ganze wird. –

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Von demjenigen, was man die höhere Schreibart nennt – wie dieser Begriff mißverstanden wird – von der Sparsamkeit in dem Gebrauch vielsagender Ausdrücke – vom Unterschiede des Ausdrucks, in so fern er mehr das Geistige oder Physische von einem und demselben Begriff bezeichnet.

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Der Begriff von einer h ö h e r n S c h r e i b a r t , abgesondert von dem Begriff der höhern Vorstellungsart, wovon sie nur eine F o l g e seyn soll, ist höchst ungereimt. Die Sprache soll mit ihrem Gegenstande sinken oder sich erheben; und es giebt daher, an und für sich betrachtet, gar keine höhere oder niedere Schreibart. Auch ist nichts lächerlicher, als in der höhern oder niedern Schreibart sich absichtlich üben zu wollen, indem es ja vorher drauf ankömmt, zu welcher Vorstellungsart von den Dingen man die meiste Fähigkeit oder Anlage besitzet, die man sich nicht selber geben kann, und aus und nach welcher doch allein die Schreibart sich bilden muß. In den Lehrbüchern über den Styl aber scheint die Vorstellung zu herrschen, als ob eine jede Art des Styls in eines jeden Gewalt wäre, und durch Regeln füglich erlernt werden könnte, und als ob insbesondere derjenige, welcher über den Styl schreibt, von jeder Art des Ausdrucks selber vollkommen Herr und Meister wäre; da es doch schon zu den besondern Vorzügen des Geistes gerechnet wird, wenn einer nur in einer einzelnen Art nicht gewöhnliche Talente zeigt. Der falschen Vorstellungsart, wo man das in dem Ausdruck sucht, was in der Sache liegt, kann nicht genug entgegen gearbeitet werden, weil der Nachtheil davon, in Ansehung der Verstimmung des menschlichen Denkens und Empfindens so groß ist, und eine unzählige Menge mißlungener Geistesproducte nur daher ihren Ursprung haben. Welch eine Menge geschmackloser Schriften voll Schwulst und Bombast, ist nicht bloß durch den falschen Begriff von einer sogenannten höhern Schreibart veranlaßt worden, wo man hochtrabende Ausdrücke zusammengestellt hat, und nun auch etwas Hohes und Erhabenes gesagt zu haben, sich fälschlich einbildet. Und was das Schlimmste ist, so täuscht sich in diesem Fall nicht nur der Schriftsteller, sondern auch selbst der Leser, welcher durch eben diesen falschen Begriff verleitet, das Bedürfniß des Gedanken, den der Ausdruck bezeichnen soll, nach und nach verliert, und an dem leeren Wortgeklingel auf eine kindische Weise sich ergötzt.

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Der erhabne Gedanke muß die Ausdrücke nach sich ziehen, und alle zusammen genommen im schönen Verhältniß nach sich bilden, so daß kein Mißlaut die Harmonie des Ganzen stört. – Das Gefühl von der Würde und Erhabenheit des Gegenstandes wird jedes Wort zurück-drängen, womit irgend ein unedler oder gemeiner Nebenbegriff verknüpft ist. – Der Gedanke möchte sich für das Erstaunenswürdige, Seltnere und Ungewöhnliche, auch gern eine neue Sprache bilden, wo durch die zu gemeinen und gewöhnlichen Ausdrücke, die man schon zu so vielen geringfügigen Sachen gebraucht hat, der erhabne Gegenstand, von dem man redet, gleichsam nicht entweihet würde. Da nun aber eine ganz neue Sprache, die man sich zu diesem Endzweck bilden wollte, nicht verständlich seyn würde, so sucht man z. B. v e r a l t e t e oder selten gewordene Ausdrücke, mit Fleiß wieder auf, um durch deren Einmischung den gewöhnlichen Ausdruck zu heben; oder man sucht durch Z u s a m m e n z i e h u n g und Ve r k ü r z u n g dem gemeinen Ausdruck gleichsam mehr Gedankenvolles und Bedeutendes zu geben, indem er mit weniger Lauten, als gewöhnlich ist, dieselben Begriffe bezeichnet, und dadurch in w e n i g e r M o m e n t e n , mehr Ideen, als man gewohnt ist, vor die Seele bringt. So wie man nun aber zu dem Ausdruck des Seltnen und Ungewöhnlichen keine ganz neue Sprache bilden darf, um nicht unverständlich zu werden, so schreibt sich auch der Gebrauch ungewöhnlicher Wörter, und die Zusammenziehung und Verkürzung des gewöhnlichen Ausdrucks selber dadurch ihre Grenzen vor, daß unter dem Bestreben, ungewöhnliche Dinge auch nicht mit gemeinen Ausdrücken zu sagen, niemals d i e Ve r s t ä n d l i c h k e i t leiden müsse, welches bei manchen unsrer Dichter, die das Erhabne, was sie nicht empfinden, dennoch ausdrücken wollen, sehr oft der Fall ist. Um dem Ausdruck des Erhabnen, seine Kraft nicht zu benehmen, kommt alles auf dessen E r s p a r u n g an; und nur, wem diese Ersparung Bedürfniß ist, hat wirklich etwas zu sagen; denn wer mit hohen Ausdrücken prahlend und verschwenderisch um sich wirft, dem kosten sie sicher keinen Aufwand an Empfindung und Gedanken, und

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wenn sie auf noch so mannichfaltige Weise zusammengesetzt werden, so stehen sie doch eben so unbenutzt und unbedeutend da, wie in einem Wörterbuche. Freilich giebt es Ausdrücke, die nur für die höhere Vorstellungsart passen, und eine Art poetischer Worte, die den ganzen übrigen Zusammenhang der Rede gleichsam nach sich s t i m m e n ; so daß, wenn ich mich einmal eines solchen Ausdrucks bedient habe, nun auch das übrige, was ich noch sagen will, mit demselben harmonisch tönen muß. Wo ich z. B. einmal gesagt habe, e m p o r s c h a u e n , anstatt i n d i e H ö h e s e h e n , oder d e n B l i c k z u r E r d e s e n k e n , anstatt n i e d e r s e h e n ; da darf ich nun nicht etwa fortfahren: e r l i e ß d e n K o p f h ä n g e n , oder, e r l i e f w e g , sondern es muß in dem einmal angegebenen Tone fortgehen, e r s e n k t e s e i n H a u p t d a r n i e d e r , und e r e i l t e h i n w e g , wenn anders der Ausdruck nicht absichtlich komisch werden soll. Darin liegt nun aber eben der Fehler, daß man zum öftern durch ein solches poetisches Wort, als etwa e m p o r s c h a u e n , d a h i n r a u s c h e n , u. s. w. seine Empfindung, zu dem, was man sagen will, erst zu stimmen sucht, indem man absichtlich etwas Schönes oder Erhabenes sagen will; da man sich hinge-gen solcher Ausdrücke nie eher bedienen sollte, als wenn sie den Gedanken und der Empfindung erst zum eigentlichen B e d ü r f n i ß geworden sind, und die gewöhnlichern Ausdrücke nicht mehr zureichen. Eben weil solche Wörter, als e m p o r s c h a u e n , Wo n n e g e f i l d e , und dergleichen, den ganzen übrigen Ausdruck nach sich stimmen, so muß man sie nicht eher brauchen, als bis eine solche Fülle und Uebermaaß an Empfindung und Gedanken vorhanden ist, wodurch ein solcher Ausdruck n o t h w e n d i g gemacht wird; denn nichts ist ja lächerlicher, als nach erhabnen Ausdrücken streben, wenn man im Grunde nichts zu sagen hat. Nun giebt es aber in unsrer Sprache für die höhere Vorstellungsart eine ziemliche Anzahl Benennungen, wodurch der feinere und abgezogene Begriff von einer Sache bezeichnet wird, die außerdem noch

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einen andern gewöhnlichen Nahmen hat, der mehr das Physische oder Körperliche in dem Begriffe ausdrückt. Wenn es z. B. in einer poetischen Darstellung hieße: d e r m a g r e To d , anstatt d e r h a g r e To d , so findet man das Unpassende und Unedle in dem Ausdruck; m a g e r drückt den eigentlich physischen Theil des Begriffes aus; man denkt sich darunter im eigentlichen Sinne das Gegentheil von f e t t . In dem Worte h a g e r wird der Begriff von seinem Körper oder von seinen physischen Bestandtheilen gleichsam entblößt; Es bleibt nur die allgemeine, geistige Idee zurück; drum kann ich auch sagen, ein h a g e r e s G e r i p p e , aber nicht ein m a g e r e s G e r i p p e , weil mit m a g e r der Begriff von F l e i s c h unzertrennlich verknüpft ist. Ein h a g e r e r G r e i s giebt gar kein unedles Bild; die Hagerkeit und das Alter passen sich zusammen, und machen eben so wenig eine widrige oder unnatürliche Erscheinung, wie im Winter der entblätterte Baum. Aber dann muß dieser physische Begriff auch gleichsam nur angedeutet, oder leise bezeichnet werden, welches durch den Ausdruck h a g e r geschieht; da es hingegen ein sehr niedriges Bild geben würde, wenn man sagen wollte, e i n m a g e r e r G r e i s , weil m a g e r den physischen Begriff zu grob bezeichnet, und man sich nur einen alten Mann darunter denkt, d e r g a n z v o m F l e i s c h g e f a l l e n i s t . Will man hingegen das Physische absichtlich bezeichnen, so würde der Ausdruck h a g e r wieder unrecht angebracht seyn, als wenn man z. B. sagen wollte: eine h a g e r e K u h , anstatt eine m a g e r e K u h ; denn in diesem Fall ist nur v o n d e m M a n g e l a m F l e i s c h hauptsächlich die Rede; da hingegen der Ausdruck h a g e r die Magerkeit gleichsam nur in so fern bezeichnet, a l s s i e i n d i e A u g e n f ä l l t , und dadurch ein Bild in der Seele hervorgebracht wird. Eben so sind die Wörter K o p f und H a u p t unterschieden; der Ausdruck H a u p t bezeichnet den Kopf als den öbersten oder e r h a b e n s t e n Theil des Körpers; K o p f bezeichnet diesen Theil in seinem eigentlichen k ö r p e r l i c h e n Umfange.

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Der Ausdruck K o p f würde daher unedel seyn, wenn vom geistigen die Rede ist, und es würde sonderbar klingen, wenn man sagen wollte: Der Lorber, welcher seinen Kopf umkränzt, anstatt: Der Lorber, welcher sein Haupt umkränzt. Denn hier ist ja von keiner physischen Bedeckung des Kopfs die Rede, sondern von einer symbolischen Umkränzung, die selber auf etwas G e i s t i g e s , auf die Begriffe von Ruhm und Ehre deutet. Eben so lächerlich würde es aber auch klingen, wenn man sagen wollte: d e n H u t a u f s H a u p t s e t z e n , anstatt d e n H u t a u f d e n K o p f s e t z e n , in so fern von der bloßen Bedeckung des Kopfes die Rede ist; da man hingegen sagt, d i e K r o n e a u f s H a u p t , und nicht a u f d e n K o p f s e t z e n , weil man hier nicht an die Bedeckung, sondern an Hoheit und Würde denkt. Man sagt, d e n K o p f a b h a u e n , und nicht d a s H a u p t a b h a u e n , weil der Begriff hier ganz physisch ist. – Man sagt aber auch, e i n S c h w e r d t s c h l a g t r e n n t e d a s H a u p t v o m K ö r p e r ; weil der gröbere körperliche Begriff des A b h a u e n s sich hier in den feinern und geistigern Begriff des Tr e n n e n s verwandelt hat, so konnte auch K o p f in H a u p t verwandelt werden, und der ganze Ausdruck verwandelt sich g l e i c h m ä ß i g . – Wie lächerlich würde es klingen, zu sagen, wenn von Königen die Rede ist, d i e g e k r ö n t e n K ö p f e , anstatt d i e g e k r ö n t e n H ä u p t e r ; wenn aber in Schakespears Makbeth aus dem Zauberkessel der g e k r ö n t e K o p f eines Kindes emporsteigt, so hat der Ausdruck K o p f nichts Anstößiges, weil hier von einem Kopfe, nicht in der erhabnen geistigen Bedeutung, sondern im eigentlichen Sinne die Rede ist. Daß das H a u p t immer den höhern geistigern Begriff bezeichnet, sieht man auch schon aus der Zusammenstellung; weil es sehr sonderbar klingen würde, wenn man z. B. K o p f m a n n statt H a u p t m a n n , K o p f s a c h e für H a u p t s a c h e sagen wollte; und H a u p t w e h für K o p f w e h würde eben so lächerlich klingen, weil hier wieder nur vom physischen die Rede ist.

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Wir wollen in einem Beispiele die Stufenleiter der Empfindung durch den Ausdruck durchzuführen versuchen, wir sagen:

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Felder, Gefilde, selige Gefilde, Wonnegefilde, Elysische Gefilde. Wenn diese Ausdrücke etwas sagen sollen, so muß bei einem jeden derselben die Einbildungskraft und Empfindung um einen Grad höher hinauf gestimmt seyn. Durch den Ausdruck G e f i l d e , wird der Begriff von F e l d e r n , die einzeln und zerstreut liegen, in eine einzige Vorstellung zusammen gefaßt, wodurch sich eben das Bild verschönert. G e f i l d e ist daher an sich schon ein poetisches Wort; es bezeichnet gleichsam einen feinen abgezogenen Begriff des Feldes, wenn es z. B. heißt:

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Die Felder sind nun alle leer Die Scheuren alle voll,

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So denkt man sich unter F e l d e r , die eigentlichen einzelnen Abtheilungen des Bodens, auf welchen das Korn wächst; unter G e f i l d e hingegen stellt man sich ein G a n z e s einer G e g e n d vor, wo der Begriff von Ackerfeld untergeordnet ist, und das Angenehme einer bebauten fruchtbaren Gegend allein in der Einbildungskraft zurück bleibt. Darum lassen sich nun auch mit Gefilde die feinen geistigen Begriffe s e l i g , Wo n n e , E l y s i s c h , u. s. w. verbinden; da es hingegen sonderbar klingen würde, wenn man sagen wollte: selige Felder, Wonnefelder, Elysische Felder,

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Weil der Begriff, den wir mit F e l d e r n verknüpfen, für jene feinen und geistigen Vorstellungen gleichsam zu wenig abgezogen, oder zu grob und körperlich ist, indem sich zu viele Nebenbegriffe von A c k e r b a u , A c k e r t h e i l u n g , u. s. w. unzertrennlich damit verknüpfen. Durch die Ausdrücke s e l i g e G e f i l d e , Wo n n e g e f i l d e , u. s. w. wird etwas mehr als irrdisches bezeichnet, das der Einbildungskraft vorschwebt, die sich in Scenen hinträumt, die sie nie in der Wirklichkeit findet – da nun aber diese Scenen alles wirkliche, was man sieht, übertreffen sollen, so müssen auch die Empfindungen dabei alles, was man gewöhn-lich empfindet, weit übertreffen, und alles übrige, was daher zu solchen Ausdrücken, wie Wo n n e g e f i l d e und ähnlichen passen soll, muß von ganz unbeschreiblicher Schönheit seyn, weil die Wirklichkeit gleichsam nicht zureicht, um die Einbildungskraft zu füllen, und dem Uebermaß von Empfindung Gnüge zu thun – Da dieß nun bei so wenigen Sterblichen der Fall ist, so erhellet daraus, was für ein trauriger Mißbrauch von dergleichen Ausdrücken gemacht wird.

Zwölfte Vorlesung.

Wie die deutsche Sprache insbesondere zu den Ausdrücken der höhern Vorstellungsart sich allein in sich selber bildet, und das Fremdartige nicht duldet, zu dessen Aufnahme sie hingegen immer geschmeidiger wird, je mehr die Vorstellungsart bis zum Niedrigkomischen herabsteigt. Unsere Sprache hat mit fremden Einrichtungen, Gewohnheiten, Sitten und Gebräuchen auch eine große Anzahl fremder Wörter aufgenommen, die bei ihr gewissermaßen das Bürgerrecht erhalten haben;

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allein es ist merkwürdig, daß diese sonst üblichen Wörter dennoch für die höhere oder poetische Vorstellungsart größtentheils erst durch die Verdeutschung anpassend gemacht werden, als H e e r oder K r i e g s h e e r für A r m e e , K r i e g e r für S o l d a t , u. s. w. Man kann sagen, je mehr die W ü r d e des Gegenstandes zunimmt, desto mehr nimmt die F r e i h e i t im Ausdruck ab; und vorzüglich scheint dieß der deutschen Sprache eigenthümlich zu seyn, welche sich vom ausgelassensten Komischen bis zum strengsten Ernst verhältnißmäßig in immer geringerem Grade z. B. den Gebrauch aus fremden Sprachen entlehnter Wörter verstattet. Die erhabenste menschliche Rede ist diejenige welche von göttlichen Dingen handelt, und den Geist von der Erde zum Himmel emporheben soll; es ist der Vortrag der Religionswahrheiten, welcher mit dem höchsten Grade von Ernst und Würde verknüpft seyn soll, und gerade dieser ist auch in unserer Sprache der höchste Probierstein des edlern und unedlern Ausdrucks. Um ein Wort unsrer Sprache in Ansehung seiner Reinheit und Würde auf das strengste zu prüfen, darf man nur den Versuch machen, ob man sich desselben bei dem Vortrage heiliger Wahrheiten bedienen darf oder nicht? und wenn er da die Probe hält, so ist er auch gewiß brauchbar, um irgend eine höhere poetische Vorstellungsart zu bezeichnen. Nach diesem Probierstein finden wir nun, daß der Ausdruck des Erhabensten, in unsrer Sprache, gar keine aus fremden Sprachen entlehnten Wörter duldet. – Wer würde es z. B. wagen, sich solcher Wörter, als I n t e r e s s e , R ä s o n n e m e n t , k o n s e q u e n t , H y p o t h e s e , u. s. w. die doch sonst schon in unserer Sprache aufgenommen sind, bei dem feyerlichen Vortrage der Religionswahrheiten zu bedienen? – Man wird einwerfen, daß vielleicht bloß die allgemeine Verständlichkeit, welche hier immer der Hauptzweck ist, die Vermeidung aller solcher Ausdrücke erfordere; allein würde man es denn wohl wagen, sich z. B. solcher Wörter, als A r m e e , S e k r e t ä r , P r o v i a n t , u. s. w. die doch gewiß allgemein verständlich sind, bei dem religiösen Vortrage zu bedienen? Und ist es also nicht die höchste

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Reinheit unsrer Sprache selber, wodurch sie erst in ihrer eigentlichen angestammten Würde, und in ihrem unbeflecktesten Glanze erscheint? – So wie nun unsere Sprache von dem höchsten Ernst, womit sie von göttlichen Dingen redet, bis zu dem niedrigsten Possenspiel herabsteigt, wird sie immer unbeschränkter in dem Gebrauch des Fremden, und darf sogar das F e h l e r h a f t e in der Sprache selber, als eine der niedrigsten Arten des Komischen, mit in sich aufnehmen, wie es z. B. von dem Nachtwächter im Wandsbecker Boten heißt:

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Und nun war das sein Methodus Er that das Horn aufs Maul und bluß, Und dann pflegt er zu sagen, Das Klock hat zehn geschlagen, u. s. w. Das Wort Armee aber z. B., welches doch einmal das Bürgerrecht in unsrer Sprache erhalten hat, verträgt sich demohngeachtet in derselben nicht mit der höhern oder poetischen Vorstellungsart, wo das deutsche Wort K r i e g s h e e r oder H e e r allein der Würde des ganzen Gedankenzusammenhanges angemessen ist. Wie würde es z. B. klingen, wenn man sagen wollte, d i e A r m e e d e r I s r a e l i t e n , oder im Poetischen, d i e A r m e e d e r Tr o j a n e r o d e r d e r G r i e c h e n , anstatt d a s H e e r d e r Tr o j a n e r o d e r d e r G r i e c h e n ! da man doch sonst gewohnt ist, zu sagen, die Preußische, die Russische Armee, u. s. w. H e e r , K r i e g s h e e r , ist der allgemeine Begriff, der auf alle Völker und Zeiten paßt; bei A r m e e denkt man sich schon das ganze Detail der neuern Zeiten, neues Kostüm, und eine Menge specieller Einrichtungen mit, wodurch der Begriff von seiner Größe und Allgemeinheit verliert, und eben deswegen mit der höhern oder poetischen Vorstellungsart nicht zusammenpassen will. Wir brauchen im Grunde keinen einzigen fremden Ausdruck, der einmal in unsere Sprache aufgenommen ist, ganz zu verstoßen; denn mit der komischen und humoristischen Vorstellungsart paßt im Grunde alles zusammen, und sie weiß alles, sogar bis auf die Sprach-

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fehler zu benutzen; nur müssen wir darauf bedacht seyn, daß wir statt der entlehnten, auch ächte deutsche Ausdrücke in Bereitschaft haben, so bald die Sprache sich wieder heben, und Ernst und Würde behaupten soll. Der überlegte oder vorher bedachte Ausdruck des Rührenden und Erhabenen erfordert im Deutschen die höchste Sprachreinigkeit. Da hingegen ein Ausdruck, der ganz von den Regeln der Sprachreinigkeit abweicht, dennoch rührend und erhaben seyn kann, in so fern er bloß die Gesinnung des Redenden bezeichnet, und bei diesem vorausgesetzt werden kann, daß er nicht Muße oder Fähigkeit gehabt habe, auf den Ausdruck seine Aufmerksamkeit zu richten. Um eine Sache zu erklären und deutlich zu machen, ist die Freiheit der Sprache unbegrenzt, in so fern nehmlich das Erklären selbst die Hauptsache ist, und dasjenige, was zu diesem Zweck gesagt wird, bloß als M i t t e l betrachtet werden soll. Denn in dieser Rücksicht kömmt nun auf das Gesagte gar nichts weiter an, sobald nur der Begriff, welchen man erwecken will, einmal dadurch hervorgebracht ist; wie dieß bei dem mündlichen Unterricht wirklich der Fall ist. Sobald aber ein und eben derselbe Begriff durch eben dieselben Ausdrücke öfter wieder erweckt werden soll, wie es beim schriftlichen Unterricht der Fall ist; so ist auch die Sprache schon beschränkter, und es ist eine strengere Auswahl nöthig, weil der Ausdruck nun bleibend geworden ist, und für sich eine Art von Selbstständigkeit erhalten hat. Demohngeachtet findet auch hier noch eine große Freiheit im Ausdruck statt, weil man sich alles erlauben kann, was dazu dienet, um den Begriff in sein gehöriges Licht zu stellen. Nur müssen zugleich die Ausdrücke, welche erklären sollen, auch selber wieder gehörig erklärt werden, wenn sie sonst nicht schon üblich und allgemein verstanden sind. Der unterrichtende Vortrag ist daher gerade derjenige, durch welchen unsere Sprache am füglichsten bereichert werden könnte, wenn man die bedeutendsten Provinzialismen, veralteten Ausdrücke, u. s. w. welche der Wiederaufnahme werth sind, nach und nach mit

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ihren Erklärungen und Umschreibungen, diesen Vorträgen einwebte, ihren Nutzen zur Bestimmung der Begriffe deutlich einleuchtend, und den Leser unvermerkt damit vertraut machte. Nur versteht sich, daß derjenige, welcher sich einer solchen Sprachbereicherung unterzieht, von dem ganzen schon vorhandenen Reichthum aller üblichen und allgemein verstandenen Ausdrücke eine vollständige Uebersicht, und diesel-ben hinlänglich in seiner Gewalt haben müsse, um nicht ohne Noth oder Bedürfniß zu solchen Ausdrücken seine Zuflucht zu nehmen, die selbst erst wieder erklärt und in Umlauf gebracht werden müssen. Es kann nicht oft genug erinnert werden, daß die Sprache bloß durch das B e d ü r f n i ß , seine Gedanken und Empfindungen auszudrücken, ihren Werth erhält, und daß selbst auch die Aufnahme und Erklärung nicht üblicher Wörter, eine feine Unterscheidungskraft voraussetzt, die noch weiter geht als alles dasjenige, was man in der gewöhnlichen oder üblichen Sprache gelesen oder gehört hat; und da nun schon viel dazu erfordert wird, um alle diejenigen feinen Unterschiede mit dem Verstande zu fassen, die in der üblichen Sprache schon bestimmt sind, so kann jenes Bedürfniß so oft nicht eintreten, wenn der Ideenkreis nicht schon einen mehr als gewöhnlichen Umfang hat. Weil es aber angenehm ist und Beifall verschafft, so möchte mancher gern etwas Ungemeines und Ungewöhnliches sagen, ohne vorher etwas Ungemeines gedacht zu haben, und stellt sich daher, als ob er zu ungewöhnlichen Ausdrücken seine Zuflucht zu nehmen genöthigt werde, um den tiefen Fond seiner Gedanken zu erschöpfen. Nichts ist lächerlicher, als eine solche Affektation, und doch ist nichts häufiger, weil die meisten Menschen, natürlicher Weise, gemein und alltäglich denken, und dennoch viele unter ihnen aus bloßer Nachahmungssucht gern etwas Besonderes sich Auszeichnendes sagen möchten. Doch ich komme auf den Punkt von der Reinigkeit des Ausdrucks zurück, um über diesen schwierigen Gegenstand, wo möglich, etwas allgemeingeltendes zu bestimmen.

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Wer das Sieb zu stark schüttelt, ist in Gefahr mit der Spreu die Körner zu verstreuen; und wer die Sprache zu sehr säubern will, wird ihr am Ende Kraft und Nachdruck rauben. – Denn man erwägt hiebei nicht, daß durch die Säubrung der Sprache von allen Provinzialismen, und fremden oder veralteten Ausdrücken zugleich die Nüancirung oder Zusammenfassung von Begriffen verlohren geht, welche eben durch diese Ausdrucke bezeichnet werden. So wie es nehmlich, im strengsten Sinne, keine ganz gleichbedeutenden Wörter in einer und derselben Sprache giebt, so kann man auch gewissermaßen behaupten, daß die Benennungen einer und derselben Sache, in mehrern Sprachen, nicht ganz gleichbedeutend sind. Der Deutsche z. B. benennt das G e l d von seiner Gültigkeit oder innerm Werthe; der Engländer vom Gepräge (money); der Franzose von der Masse (argent); der alte Römer pecunia, von dem Vieh, worin der erste Reichthum bestand, und das man auf die ältesten Münzen prägte. Der Deutsche benennt die Uhr von der Stunde (hora), der Franzose von dem Stundenzeiger (montre), der Engländer bildlich (watch), von der Wachsamkeit des Wächters, der die Stunden zählt. Man lernt daher mit jeder neuen Sprache nicht nur neue willkürliche Zeichen, sondern zugleich eine neue Vorstellungsart, wodurch die Gegenstände von mehrern Seiten er-scheinen, und die ganze Ideenmasse bereichert wird. Eben daher aber ist auch die Aufnahme fremder Ausdrücke in eine Sprache, so bald es auf eine genaue Entwickelung der Ideen ankömmt, oft unentbehrlich; und die Reinigkeit des Ausdrucks muß in diesem Falle der Deutlichkeit und Bestimmtheit nachstehen; obgleich auch dieses seine Grenzen hat, welches einige Beispiele am besten erläutern werden: Nüance. Dieser Ausdruck bezeichnet einen feinen Unterschied, bei einem fast unmerklichen Uebergange, womit der Begriff von der g e n a u e s t e n und sorgfältigsten Beobachtung unzertrennlich verknüpft ist.

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Dieser Ausdruck ist durch keinen andern zu ersetzen; sage ich z. B. anstatt Nüancen, d i e f e i n e n U n t e r s c h i e d e der Farben, so habe ich die u n m e r k l i c h e n U e b e r g ä n g e noch nicht bezeichnet, und füge ich diesen Ausdruck hinzu, so habe ich doch die G e n a u i g k e i t der Beobachtung noch nicht angedeutet, die hierbei vorausgesetzt wird, und wovon das Wort N ü a n c e zugleich den Begriff mit in sich faßt. Und nehme ich alle die angeführten Ausdrücke zusammen, um das Wort N ü a n c e durch Umschreibung zu ersetzen, so wird durch eben diese Umschreibung der Begriff, welchen jenes Wort in wenige Laute z u s a m m e n f a ß t , gleichsam zerstückt, und verliert dadurch so viel von seiner Lebhaftigkeit, daß er sich selber kaum ähnlich bleibt, und wenigstens in dem Zusammenhange, in welchen er gebracht wird, nun nicht mehr dieselbe Wirkung thut, weil die umschreibenden Worte an sich wieder so viele Nebenideen herbeiführen, daß der umschriebene Gedanke darunter erliegt, und die ganze Vorstellung matt und kraftlos wird. Demohngeachtet ist N ü a n c e kein Wort für die Empfindungssprache; denn es würde sich komisch ausnehmen, wenn in irgend einem Werke der ernsten oder zärtlichen Poesie von Nüancen die Rede seyn sollte. Aber hier findet auch das Bedürfniß einer so b e s t i m m t e n B e z e i c h n u n g des Begriffes nicht statt. Die Empfindungssprache deutet die Begriffe nur an, und bedarf daher der genau bestimmenden und ihren Sinn ganz erschöpfenden Ausdrücke so nothwendig nicht, als die Sprache des Verstandes. Daß aber das Wort N ü a n c e , s c h o n s e i n e s a u s l ä n d i s c h e n K l a n g e s w e g e n , nicht zur Empfindungssprache paßt, ist eben eine Eigenthümlichkeit der deutschen Sprache, indem das aus fremden Sprachen aufgenommene, immer mit einem Begriff von Wissenschaft, Gelehrsamkeit, oder Weltton verknüpft ist, der sich mit der einfachen ungekünstelten Sprache der Empfindung, die noch keine hoch getriebene wissenschaftliche Kultur voraussetzt, nicht verträgt.

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Bei der englischen Sprache z. B. ist dieß der Fall nicht, weil sie einmal so viel aus fremden Sprachen aufgenommen hat, daß die fremden Ausdrücke gar keinen Grad einer höhern wissenschaftlichen Kultur mehr voraussetzen, sondern von dem gemeinsten Menschen gebraucht und verstanden werden.

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Das Wort I n t e r e s s e bezeichnet eine so nahe T h e i l n e h m u n g an etwas, daß man darüber gewissermaßen sich selbst v e r g i ß t , und sich in den Gegenstand selbst v e r w e b t fühlt. Kein Wort in unserer Sprache bezeichnet diesen Begriff so ganz und einfach als das fremde Wort I n t e r e s s e , welches in seiner Zusammensetzung nichts Ueberflüssiges und nichts Fehlendes hat, und eben dadurch so nachdrucksvoll und bedeutend wird. – Denn es ist gerade das Z w i s c h e n oder v e r w e b t s e y n an sich selber, welches unmittelbar dadurch ausgedruckt wird. Wenn ich also z. B. sage: D i e s e r R o m a n g e w i n n t f ü r m i c h I n t e r e s s e – was heißt das anders, als, ich fühle mich in das Schicksal der Personen v e r w e b t , ich bin gleichsam z w i s c h e n ihnen, als ob ich mit einer Person im Spiele wäre. Das ist gewiß mehr als bloße Theilnehmung an dem Schicksale dieser oder jener Person. Eine der einzelnen Personen kann meine Theilnehmung im höhern Grade erregen, der ganze Roman aber erhält für mich Interesse. Eben dieß ist der Fall bei einem Schauspiele: es gefällt mir, wenn es mit meiner Empfindung harmonisch ist; es rührt mich, wenn etwa Erinnerungen von ähnlichen Scenen bei mir erweckt werden; aber es interessirt mich erst, wenn ich mich selbst gleichsam darüber vergesse, und mit allen meinen Gedanken und Empfindungen selbst z w i s c h e n den spielenden Personen b i n . I n t e r e s s a n t sagt daher auch weit mehr, als anziehend – eine anziehende Physiognomie z. B. beschäftigt bloß meine Empfindung, eine interessante Physiognomie beschäftigt zugleich mein Nachdenken. – Ich habe die größte Neigung, die Schicksale einer Person zu

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erfahren, und in ihre Gedanken und Empfindungen verwebt zu seyn, deren Physiognomie mich interessirt; ich finde diese Physiognomie der Mühe werth, jedem einzelnen Zuge nachzuspähen, und dadurch auf das Innere der Seele zu blicken. – W i c h t i g drückt auch den Begriff i n t e r e s s a n t nicht aus; eine jede Sache, die mich interessirt, wird mir freilich auch wichtig; und jede wichtige Sache muß mich auch im Grunde interessiren. – Aber durch das Wort w i c h t i g wird nicht sowohl mein Gemüthszustand, als vielmehr die Beschaffenheit der Sache angedeutet, wovon dieser Gemüthszustand eine Folge ist. Jedes interessante Buch z. B. wird für den, der es ließt, auch wichtig, und jedes wichtige Buch, muß den, der es ließt und versteht, interessiren. Wenn ich nun sage ein w i c h t i g e s Buch, so bezeichne ich dessen Beschaffenheit, sage ich ein i n t e r e s s a n t e s Buch, so bezeichne ich mit der Wichtigkeit desselben zugleich den Gemüthszustand, der in mir dadurch hervorgebracht wird. – Ob also gleich der Ausdruck w i c h t i g dem Worte i n t e r e s s a n t unter allen noch am nächsten kömmt, so sieht man doch leicht, daß derselbe dieß so sehr bedeutende Wort auf keine Weise ganz ersetzen kann, und daß derjenige, welcher dieß Wort aus unserer Sprache verbannen will, gewiß nicht den gehörigen Begriff damit verknüpft, wodurch es unentbehrlich wird. Ich kann daher auch nicht sagen, ein w i c h t i g e s S c h a u s p i e l , weil das Interesse, wodurch es mir, während der Vorstellung, wichtig wird, nur auf Täuschung beruhet, und weil also hier keine Realität ist, auch der Begriff von Wichtigkeit nicht statt findet. Der Ausdruck v i e l v e r s p r e c h e n d , wodurch man i n t e r e s s a n t hat übersetzen wollen, drückt ebenfalls die Beschaffenheit des Gegenstandes, aber nicht den Gemüthszustand aus, welcher dadurch hervorgebracht wird. Was viel verspricht, interessirt mich freilich, und was mich interessirt, davon verspreche ich mir viel – wenn ich daher ein interessantes Buch anfange zu lesen, oder anfange, ein interessantes Schauspiel

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zu sehen, so kann ich wohl sagen: das ist ein vielversprechendes Buch, ein viel versprechendes Stück; habe ich aber das Buch ausgelesen, und ist das Stück zu Ende, ohne daß Beides am Interesse verlohren hat, so kann ich auch den Ausdruck v i e l v e r s p r e c h e n d anstatt i n t e r e s s a n t gar nicht mehr brauchen. – Und auch schon im Anfange bediene ich mich des Ausdrucks vielversprechend nur, wenn i n t e r e s s a n t noch zu viel sagen würde; sobald ich wirklich interessirt werde, ist v i e l v e r s p r e c h e n d schon zu wenig, weil ich nicht nur die Beschaffenheit der Sache, sondern auch den Gemüthszustand bezeichnen will, der in mir dadurch hervorgebracht ist. – Eine interessante Physiognomie sagt daher schon mehr, als eine vielversprechende Physiognomie. Man glaubt Interesse durch N u t z e n übersetzen zu können, indem man z. B. sagt, s e i n e i g n e r N u t z e n l e i d e t d a r u n t e r , anstatt sein Interesse leidet darunter. – Allein Interesse sagt mehr als Nutzen; s e i n I n t e r e s s e l e i d e t d a r u n t e r , heißt, seine Beziehungen, in so fern er bei dieser Sache v e r f l o c h t e n , oder m i t e i n e r P e r s o n i m S p i e l i s t , leiden darunter. – Von dem Landmann, dessen Aecker das Wild verwüstet, kann ich sagen, s e i n N u t z e n l e i d e t d a r u n t e r , aber nicht sein I n t e r e s s e l e i d e t d a r u n t e r ; denn I n t e r e s s e würde schon einen Zusammenhang, eine Verbindung voraussetzen, in welcher er sich befunden hätte, und auf eine nachtheilige Weise davon abgeschnitten würde. Das Interesse der Höfe kann gewiß nicht übersetzt werden, d e r N u t z e n d e r H ö f e , denn was heißt Interesse hier anders, als ihr Eingreiffen in einander, ihre Beziehungen auf einander, in so fern sie jedem einzelnen zum Vortheil gereichen. – Ich kann daher von irgend einem Hofe sagen, s e i n I n t e r e s s e l e i d e t d a r u n t e r , weil hier Z u s a m m e n h a n g , Ve r b i n d u n g , Ve r f l e c h t u n g und B e z i e h u n g e n vorausgesetzt werden, von welchem allen der Ausdruck Interesse den Begriff in sich faßt. – So unentbehrlich nun aber die Wörter I n t e r e s s e und i n t e r e s s a n t in der Prosa sind; so unpassend sind sie demohngeachtet in unserer Sprache für den poetischen Ausdruck. –

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Denn weil sie ebenfalls schon gewissermaßen eine f r e m d e w i s s e n s c h a f t l i c h e K u l t u r voraussetzen, die in unsre Sprache erst übertragen ist, so sind sie für den Ausdruck der Empfindung schon nicht mehr einfach und ungekünstelt genug. Auch bedarf die Poesie oder Empfindungssprache solcher genau bestimmten Ausdrücke nicht, wie die Prosa, und kann also statt des fremden sich immer eines ursprünglichen deutschen Ausdrucks bedienen, wenn auch der Begriff dadurch nicht ganz ausgedrückt, sondern nur a n g e d e u t e t wird; denn eben diese Kunst, die Begriffe nicht ganz auszumahlen, macht ja das Eigenthümliche der Empfindungssprache aus, wodurch sie gleichsam in der Seele nachtönend und nachklingend wird, indem sie die Saiten, welche ihre Musik in sich selber haben, nur sanft berührt.

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Diese f r e m d e n Wörter, sind demohngeachtet sowohl in unsrer Poesie als Prosa unentbehrlich geworden, und machen also von den übrigen fremden Wörtern, in so fern sie nicht für den Ausdruck der Empfindung passen, schon eine Ausnahme. Denn wie unpoetisch ist nicht das deutsche Wort U e b e r e i n s t i m m u n g gegen den schönen Ausdruck H a r m o n i e , der schon an sich dem Ohre schmeichelt, und auch, wie es scheint, den Begriff weit voller und reiner anklingt, als der deutsche Ausdruck, bei dessen Bestandtheilen, ü b e r , e i n , und S t i m m u n g wir uns doch lauter deutliche Begriffe denken. Allein kömmt es nicht vielleicht eben daher, daß U e b e r e i n s t i m m u n g für die Empfin-dungssprache, die Begriffe z u d e u t l i c h bezeichnet; daß dieser Begriff zu sehr in seine Bestandtheile zergliedert wird, und eben daher von seiner Fülle und Kraft verliert? In den Bestandtheilen des griechischen Ausdrucks ist durchgängig der Begriff des Zusammenfassens und der Einheit herrschend; es ist nur e i n Wort, und sind nicht drei Worte, die einen einzigen Begriff ausdrücken. –

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Dieser Ausdruck ist daher unserer Poesie noch unentbehrlicher, als unserer Prosa; eben so wie das Wort M e l o d i e , worunter man sich den kunstvollen Wechsel der Töne denkt, durch keinen umfassenden Ausdruck in unserer nordischen Sprache bezeichnet werden kann. Wie schwach der Begriff oder vielmehr die Empfindung davon war, sieht man daraus, daß e i n e b e s t i m m t e M e l o d i e durch den allgemeinen und schwankenden Ausdruck We i s e in unsre Sprache übertragen worden ist. Das griechische Wort schmeichelt an sich schon dem Ohre, und schon seine einzelnen Laute sind ausdrucksvoll; woher es denn auch wohl kömmt, daß die griechischen Wörter, welche in unsre Sprache aufgenommen sind, von den übrigen fremden Wörtern eine Ausnahme machen, und größtentheils für die Empfindungssprache vorzüglich passend sind. Denn man halte nur einmal z. B. die Wörter M e l o d i e und i n t e r e s s a n t , in Ansehung ihres Klanges, neben einander, um den auffallenden Unterschied lebhaft zu fühlen. Das griechische Wort P h i l o m e l e ist unsrer zärtlichen Poesie unentbehrlich geworden; denn es bezeichnet gleichsam einen ernstern melancholischern Begriff, als das deutsche Wort N a c h t i g a l l , welches dem Ausdruck der heitern Freude angemeßner ist, so daß wir nun für einen und eben denselben Gegenstand zwei Benennungen von verschiedener Bedeutung haben. Auch ist schon der Klang des Wortes Philomele lieblich, worauf bei den poetischen Ausdrücken nicht die letzte Rücksicht genommen werden muß. Solche Wörter aber, die schon durch ihren Klang die Sache bezeichnen, und schon in ihren einzelnen Lauten etwas ausdruckvolles und Bedeutendes haben, finden in jeder Sprache ihr angestammtes Bürgerrecht, und sind eigentlich nirgends fremd. – Musik. Dieß Wort ist auf keine Weise durch To n k u n s t zu übersetzen; denn To n k u n s t bezeichnet einen andern Begriff; es ist dasjenige, wodurch die Musik erst hervorgebracht wird.

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Wie würde es daher auch klingen, wenn man sagen wollte: d i e To n k u n s t d e r S p h ä r e n , anstatt, die Musik der Sphären? Wir haben kein ursprünglich deutsches Wort, welches dasjenige, was durch die Tonkunst hervorgebracht wird, besonders bezeichnete, und sind also genöthigt, das fremde Wort M u s i k beizubehalten, wenn wir den Begriff, den es ausdrückt, nicht halb oder schwankend bezeichnen wollen. M u s i k heißt ja die Uebereinstimmung und Folge durch Kunst hervorgebrachter Töne; Es ist also nicht sowohl die Tonkunst, als vielmehr die K u n s t t ö n e selber, welche durch das Wort M u s i k bezeichnet werden. Für den wissenschaftlichen Theil der Musik scheint sich der Nahme To n k u n s t , und für den wissenschaftlichen Musikus der Nahme To n k ü n s t l e r noch am besten zu passen, weil hier von der eigentlichen Kunst, die Töne zu ordnen, und also mehr von der Ursach als von der Wirkung die Rede ist. Das Wort M u s i k ist auch für die Empfindungssprache brauchbar, weil es an sich einen einfachen Begriff bezeichnet, und überdem schon so sehr der Sprache einverleibt ist, daß es nicht etwa wie die Wörter I n t e r e s s e , i n t e r e s s a n t , N ü a n c e , u. s. w. irgend einen Grad von einer höhern wissenschaftlichen Kultur voraussetzt, sondern von dem gemeinsten Menschen gebraucht und verstanden wird. Man sieht, daß es bei dem Gebrauche der fremden Wörter, vorzüglich auf die Begriffe ankömmt, die dadurch bezeichnet werden, und daß jeder einmal aufgenommene fremde Ausdruck eine genaue Prüfung verdient, ehe man ihn ganz aus unsrer Sprache wieder verbannen will. Die Bemühungen sind aber demohngeachtet lobenswerth, alle diese fremden Ausdrücke, so viel wie möglich, durch deutsche zu übertragen, weil es gewisse Ideenverbindungen und Vorstellungsarten giebt, worin die fremden Ausdrücke nicht mehr passen wollen, und die deutschen Umwandlungen derselben, wenn sie auch den Begriff nicht ganz und bestimmt ausdrücken, dennoch gute Dienste thun.

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Eine solche Umwandlung, die manchmal im gemeinen Leben höchst lächerlich klingen würde, kann im Pathetischen Ausdruck von sehr guter Wirkung seyn; man sollte daher bei der Beurtheilung eines umgebildeten Worts, immer auf die verschiedenen Vorstellungsarten Rücksicht nehmen, zu deren Ausdruck es brauchbar seyn kann oder nicht; denn es giebt fast keinen Ausdruck, der nicht in einer gewissen Ideenverbindung parodirt oder lächerlich gemacht werden könnte. Wörter, die ganz ohne Noth, und aus bloßer Affectation in unsre Sprache aufgenommen sind, oder sich vielmehr darin eingeschlichen haben, unterscheidet man leicht; als P l a i s i r anstatt Ve r g n ü g e n ; p r o m e n i r e n anstatt s p a t z i e r e n g e h e n ; r e k o m m a n d i r e n anstatt e m p f e h l e n , u. s. w. Indeß muß man auch hier mit der gänzlichen Verbannung behutsam verfahren; denn z. B. der Ausdruck Q u a l i t ä t scheint unsrer Sprache ganz überflüssig, weil wir den Ausdruck B e s c h a f f e n h e i t haben; und doch machen Q u a l i t ä t und Q u a n t i t ä t schon durch ihren ähnlichen Laut einen Gegensatz, der sich durch B e s c h a f f e n h e i t und V i e l h e i t nicht ganz übertragen läßt; und um sich, besonders in der Sprache des Unterrichts, mit Kürze und Deutlichkeit auszudrücken, wird man jene beiden fremden Ausdrücke oft nicht wohl entbehren können, ohne eine pedantische Umschreibung zu machen.

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Ve r a l t e t e A u s d r ü c k e .

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Unter den veralteten Ausdrücken giebt es einige, die auf keine Weise mehr anwendbar sind, weil ihre Bedeutung sich ganz und gar geändert hat, wie z. B. der alte Ausdruck s c h l e c h t anstatt s c h l i c h t – e r l e b t e s c h l e c h t u n d r e c h t , anstatt s c h l i c h t oder einfach und aufrichtig. – Bei diesem Ausdruck hat sich die Bedeutung gerade umgekehrt; und es zeigt, wie sehr das Gerade und Schlichte, bei der Verfeinerung der Sitten, in Verachtung gekommen seyn müsse, da man das S c h l e c h t e mit demselben Nahmen benennt, der sonst das Schlichte und Einfache bezeichnet hat.

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So ist auch der veraltete Ausdruck M a u l anstatt M a u l t h i e r , auf keine Weise mehr anwendbar, weil die gegenwärtige allgemein angenommene Bedeutung dieses Worts nicht mehr davon hinweg gedacht werden kann, und also immer ein lächerlicher Zusammenfall der Begriffe entstehen würde, wenn man sich des Worts M a u l anstatt Maulthier bedienen wollte. Ein anders aber ist es z. B. mit dem Ausdruck h e i s c h e n anstatt fordern; das Wort ist zwar veraltet, aber nicht auf die Weise, daß ihm ein anderer Begriff untergeschoben wäre; vielmehr verstärkt es den Begriff von F o r d e r n bis zum Pathetischen, und kann daher sehr wohl in die Empfindungssprache wieder aufgenommen werden, da es die kältere Prosa und die Sprache des gewöhnlichen Lebens hat veralten lassen, vielleicht eben deswegen, weil es den Begriff des Forderns, für die verfeinerten Sitten, durch seine bedeutenden Laute zu hart und nachdrücklich bezeichnete. Das Wort f a s t ist in der Bedeutung, wo es s e h r heißt, veraltet, und wer z. B. sagen wollte, e r i s t f a s t r e i c h anstatt e r i s t s e h r r e i c h , so würde er sich unverständlich ausdrücken. Dieser veraltete Ausdruck ist daher auch nicht mehr anwendbar, weil der neuere Begriff den ehemaligen ganz verdrängt hat. Hingegen ist das veraltete Wort a f t e r anstatt nach allerdings wieder aufzunehmen, weil der Begriff des Verächtlichen oder Unächten damit verknüpft ist, der durch nach nicht ausgedrückt werden kann, als A f t e r k ö n i g , A f t e r w e i s e , der einen König oder Weisen affektirt, auf eine lächerliche Weise nachahmet oder vielmehr n a c h äfft. – In diesem Sinn aber ist auch a f t e r nur beizubehalten, weil es die Begriffe verwirren würde, wenn man es geradezu anstatt n a c h setzen wollte, als z. B. A f t e r w e l t anstatt N a c h w e l t , wo sich bei dem Ausdruck A f t e r w e l t , der Begriff von etwas Verächtlichem oder einer ausgearteten Welt mit aufdrängen würde, welche Vorstellung doch hier gar nicht statt finden soll.

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O b anstatt ü b e r oder w e g e n . Man kann in Ansehung der veralteten Ausdrücke überhaupt die Regel festsetzen, daß keiner derselben wieder aufzunehmen ist, womit man eine ganz andere Bedeutung zu verknüpfen gewohnt ist. Deswegen kann auch z. B. das veraltete o b anstatt w e g e n oder ü b e r schlechterdings nicht statt finden, weil bei dem häufigen Gebrauch dieses Worts der neuere Begriff, den man damit verknüpft, den alten so sehr verdrängt hat, daß man ihn immer erst mit einigem Zwange wieder zurückrufen muß, wenn das Wort in seiner veralteten Bedeutung genommen werden soll. »ob der Menge staunen« Anstatt ü b e r die M e n g e s t a u n e n , klingt immer hart und gezwungen, weil der Begriff, den man durch das veraltete Wort ausdrücken will, zu untergeordnet und unbedeutend ist, als daß seinetwegen eine Abweichung von der gewöhnlichen Sprache der Mühe werth wäre. Diese Härte wird in der Poesie noch durch die Einsilbigkeit und Klanglosigkeit dieses Worts vermehrt, auf welches gemeiniglich der einsilbigte Artikel folgt, o b d e r , o b d e m , u. s. w. wodurch wir also ohne Noth die Rauhigkeit unserer Sprache vermehren, da hingegen ü b e r und w e g e n sich leicht und biegsam in den Gang der Rede schmiegen. Minne. Es fehlte uns wirklich in unserer Büchersprache an einem Ausdruck, um das Zärtliche und Tändelnde in der Liebe, im Gegensatz gegen den hohen und ernsten Begriff, welcher oft damit verknüpft wird, besonders zu bezeichnen. Einige unserer vorzüglichsten Dichter haben daher nicht ohne Grund das veraltete Wort M i n n e der Wiederaufnahme werth gefunden, welches schon durch seinen Klang mit dem Begriff vom Tändelnden und Zärtlichen übereinstimmt, und selbst durch sein veraltetes Gepräge, an Unschuld und Einfachheit der Sitten, und an die zärtlichen Minnesinger oder Sänger der Liebe in den vorigen Zeiten, zurückerinnert.

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Bei dem Ausdruck M i n n e denkt man sich gleichsam alles Ernste und Pathetische von der Liebe hinweg, und nur das reizende Kindische und Spielende bleibt zurück. Dieß sieht man daraus, weil M i n n e in der ernsten Sprache gar nicht statt findet, und es z. B. ganz ungereimt klingen würde, wenn man sagen wollte, die M i n n e zu Gott oder zur Tugend, anstatt die Liebe zu Gott oder zur Tugend.

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A n h e b e n und B e g i n n e n anstatt a n f a n g e n .

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Diese veralteten Ausdrücke sind nun schon durchgängig in die Büchersprache wieder aufgenommen, und unentbehrlich geworden. Man kann nehmlich durch die Wörter a n h e b e n , b e g i n n e n und a n f a n g e n , drei verschiedene Nüancen eines und eben desselben Begriffes bezeichnen. Unter B e g i n n e n denkt man sich mehr das w e r d e n , unter A n h e b e n das Z u n e h m e n , und unter A n f a n g e n bloß die Z e i t . Der Streit hub an; Der Streit begann; Der Streit fieng an. Wenn ich sage, d e r S t r e i t f i e n g a n , so deute ich mehr auf den Z e i t p u n k t , wo er zuerst ausbrach; sage ich, der Streit begann, so deute ich auf seine E n t s t e h u n g ; will ich aber auf das Z u n e h m e n des Streits vorzüglich aufmerksam machen, so sage ich, d e r S t r e i t hub an. Der Streit fieng am Morgen an; Der Streit begann über ein mißverstandenes Wort; Der Streit hub an, und man gieng voll Erbitterung auf einander loß, u. s. w. Hiemit ist nun nicht gesagt, daß man mit ängstlicher Genauigkeit sich dieser Wörter gerade so und nicht anders bedienen müsse, sondern daß man sich ihrer mit diesem feinen Unterschiede bedienen könne, wenn es einem darum zu thun ist, die Nüancirungen der Begriffe zu bezeichnen, und daß daher die veralteten Ausdrücke a n -

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h e b e n und b e g i n n e n gar nicht überflüssig sind, sondern auf alle Weise der Wiederaufnahme werth waren.

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Bider. Dieß veraltete Wort, das der Wiederaufnahme schon längst gewürdigt ist, aus unsrer Büchersprache verbannen zu wollen, ist unverzeihlich. Man untersuche doch erst, ob es einen eben so viel sagenden Ausdruck im Deutschen giebt, den man an die Stelle von b i d e r setzen könnte? Fromm, rechtschaffen, tugendhaft, aufrichtig, tapf e r drücken alle nur einen Theil des Begriffes aus, welcher in dem einzigen Ausdruck b i d e r zusammengefaßt wird, wodurch eigentlich auch das Italienische galant huomo am füglichsten zu übersetzen ist. Ein f r o m m e r , r e c h t s c h a f f e n e r M a n n hat eine viel allgemeinere Bedeutung; denn b i d e r bezeichnet vorzüglich den alten angestammten d e u t s c h e n M u t h u n d Ta p f e r k e i t ; man müßte also ungefähr sagen: e i n g e r a d e r , r e c h t s c h a f f n e r M a n n , v o n a l t e m d e u t s c h e n M u t h b e s e e l t , um B i d e r m a n n zu umschreiben. Allein durch eine solche Umschreibung ermattet ja schon der Nachdruck und die Lebhaftigkeit des Begriffes, welchen ein einziges Wort in wenigen Lauten bezeichnet, die gewiß allgemein verständlich sind; denn wem ist der Sinn unbekannt, welcher mit dem Worte Bidermann verknüpft wird? Und um die Begriffe vermittelst der Sprache in unserer Gewalt zu haben, bedürfen wir ja eben so nothwendig solcher Ausdrücke, wodurch mehrere Begriffe zusammengefaßt, als solcher, wodurch dieselben auf das genaueste bestimmt, und in ihren Abstuffungen von einander unterschieden werden. Darum gehört es gewiß zu dem Reichthum unsrer Sprache, wenn sie einen zusammengesetzten Begriff nicht wieder durch eine Zusammensetzung von Worten bezeichnen darf, sondern ihn durch einen einzigen Ausdruck vollständig darzustellen vermag; und solche Ausdrücke, wie b i d e r und B i d e r m a n n müssen daher auf alle Weise beibehalten, und ihrem innern Werth gemäß geschätzt werden.

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Fehde. Bei diesem Ausdruck erinnert man sich an die Zeiten zurück, wo die kleinen Herren in Deutschland sich einander bekriegten oder befehdeten, und wo eine solche Fehde gleichsam wie ein Duell oder Zweikampf im Großen betrachtet wurde. Es hat sich daher mit diesem Worte in neuern Zeiten eine Art von komischen Sinn verknüpft; man nennt z. B. einen Streit, den Gelehrte mit einander führen, eine l i t t e r ä r i s c h e F e h d e , indem man den Begriff von jenen Zeiten, wo die kleinen deutschen Edelleute sich noch einander den Krieg ankündigten, damit verknüpft; und in diesem Sinne ist das Wort F e h d e sehr wohl beizubehalten; für den ernsthaften Ausdruck hingegen würde es deswegen nicht passend seyn, weil selbst der alte Begriff, den es ausdrückt, bei der jetzigen Verfassung seine Wichtigkeit und Ernsthaftigkeit verlohren hat.

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Heimath. Dieser veraltete Ausdruck verknüpft mit dem Begriff von Vaterland noch die Vorstellung von der h ä u ß l i c h e n Ruhe und Glückseligkeit, der durch das schöne Wort h e i m in unserer Sprache angedeutet wird. Wo man zu Hause ist, wenn man sich ruhig und wohl befindet, das nennt man seine H e i m a t h ; h e i m k e h r e n , h e i m g e h e n , anstatt z u H a u s e k e h r e n , sind daher schöne veraltete Ausdrücke, die mit Recht in unserer poetischen Sprache wieder aufgenommen sind, wo besonders der herrnhutische Ausdruck: e r i s t h e i m g e g a n g e n , anstatt e r i s t g e s t o r b e n , dem Begriffe, der damit verknüpft ist, eine außerordentliche Sanftheit giebt, und die Seele in eine wehmuthsvolle, und doch ruhige Stimmung versetzt. Darum faßt auch das Wort Heimath gleichsam einen Reichthum von dunkeln Begriffen und Empfindungen in sich, wodurch es eine Zierde und Schönheit unserer Sprache wird, die nur der verschmähen kann, der nie mit der ganzen Fülle der Empfindung ein solches Wort in seiner einfachen und schönen Bedeutung ausgesprochen hat, sondern bei dem die Idee die herrschende war, daß es doch ein veralteter Ausdruck oder Archaismus sey!

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Diese angeführten Beispiele können einigermaßen zeigen, wie man bei dem Gebrauch und der Wiedereinführung veralteter Ausdrücke verfahren müsse. Man sieht wohl, daß es hierbei vorzüglich auf den Begriff ankömmt, den man ausdrücken will; daß man diesen erst sich selber deutlich entwickelt, und in seiner ganzen Stärke gedacht haben müsse, wenn man aus dem Schatze des Alterthums unserer Sprache einen glücklichen Ausdruck dafür wählen will. Wer nun ohne ein solches Bedürfniß nach veralteten Ausdrücken hascht, in dessen Sprache wird man bald das Gesuchte und die Affektation bemerken, womit man scheinen will, etwas Ungemeines und Ungewöhnliches zu sagen. Veraltete Ausdrücke aber, die einmal von guten Schriftstellern gut gebraucht sind, muß man, zur Bereicherung unserer Sprache, auf alle Weise in Umlauf zu bringen suchen, damit das Ungewöhnliche sich nach und nach verlieret. Provinzialismen. Wie durch Provinzialismen unsere Sprache bereichert werden könne, davon haben einige unserer vorzüglichsten deutschen Schriftsteller Beispiele gegeben, die statt aller Regeln dienen, oder aus denen man sich, wenn man will, selbst Regeln bilden kann. Lessing. In Lessings Nathan dem Weisen, heißt es von dem Patriarchen: e r h a t a u s g e g a t t e r t , anstatt, er hat ausgekundschaftet oder ausspionirt. A u s g a t t e r n aber ist ein Provinzialismus, der den Begriff des Ausspionirens und Auskundschaftens schon selbst durch den Laut des Worts verstärkt, und die höchste Geschäftigkeit und Wachsamkeit dabei anzeigt, die gleichsam alle Oefnungen durchspäht, um etwas, das in ihre Schlinge fallen soll, zu entdecken. Und da die deutlich ausgedrückten Begriffe von ausspioniren und auskundschaften auf den Patriarchen in Person nicht passen, so kömmt der dunklere Begriff, welcher mit a u s g a t t e r n verknüpft ist, hier gerade zu statten, um die eigennützige immer geschäftige Wachsamkeit des Patriarchen im Allgemeinen zu bezeichnen.

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In einer andern Scene von diesem Drama ist zwischen dem Tempelherrn und Nathan von dem Tadel oder Vorwurfe die Rede, womit eine Nation die andere, aus religiösen Vorurtheilen, belegt. Nun aber ist kein Wort geschickter, um den Ta d e l i n K l e i n i g k e i t e n auszudrücken, als der provinzielle Ausdruck m ä k e l n , welcher von M a k e l , (Flecken) abgeleitet ist, und dessen der Verfasser sich hier sehr glücklich bedient, um den ungegründeten Tadel selbst wieder in einem verächtlichen und tadelnswerthen Lichte darzustellen. Nathan. Nur muß der eine nicht den andern m ä k e l n . Nur muß der Knorr den Knubben hübsch vertragen, Nur muß ein Gipfelchen sich nicht vermessen, Daß es allein der Erde nicht entschossen. Tempelherr. Sehr wohl gesagt! – doch kennt ihr auch das Volk, Das diese M e n s c h e n m ä k e l e i zuerst Getrieben? Wißt ihr, Nathan, welches Volk Zuerst das auserwählte Volk sich nannte? Wir hatten wirklich kein Wort in unsrer Büchersprache, welches den Tadel in Kleinigkeiten, oder den tadelnswerthen Tadel in einem einzigen Ausdruck bezeichnet hätte. Und doch ist dieß eine ganz eigne Anwendung und besondere Bestimmung des Begriffes vom Ta d e l , den wir nicht entbehren können, und wodurch also auch der provinzielle Ausdruck m ä k e l n in unsrer Büchersprache nothwendig wird. Göthe.

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In einem der Briefe in Werthers Leiden erzählt der Verfasser von einer alten adelichen Dame: »In ihrer Jugend soll sie schön gewesen seyn, und ihr Leben so weggegaukelt, erst mit ihrem Eigensinn manchen armen Jungen gequält, und in reifern Jahren sich unter den Gehorsam eines alten Officiers g e d u k t haben, u. s. w.«

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Das provinzielle Wort d u k e n bezeichnet die freiwillige Erniedrigung gegen das vorhergehende stolze Emporragen so nachdrücklich und mahlerisch, daß der ganze Ausdruck dadurch an Lebhaftigkeit gewinnt, weil mehrere Nebenbegriffe dadurch herbeigezogen werden, welche durch Ausdrücke aus der gewöhnlichen Büchersprache unberührt geblieben wären. Wenn es z. B. hieße: in reifern Jahren soll sie sich unter den Gehorsam eines alten Offiziers b e g e b e n haben; oder g e d e m ü t h i g t haben, so würde der erste Ausdruck zu wenig und der andere zu viel sagen, und der ganze Ausdruck wäre für die launigte Art der Darstellung zu kalt oder zu ernsthaft geworden. Kurz, einem jeden wird sein Gefühl sagen, daß der provinzielle Ausdruck hier gerade an seiner rechten Stelle steht, und daß es Schade seyn würde, wenn er aus der Büchersprache verbannt seyn sollte; da er überdem wegen der Aehnlichkeit mit t a u c h e n allgemein verständlich ist, und sich das Bild des Schwanenhalses, der sich einzieht und verkürzt, bei diesem Worte von selber darstellt. In einem andern dieser Briefe heißt es, da von einer Sache die Rede ist, die leicht zum Stadtgeschwätz werden könnte: »Und nun fügte sie noch alle dazu, was weiter würde g e t r ä t s c h t werden, und die schlechten Kerls alle darüber triumphiren würden, u. s. w. « Es ist hier mit einer Art von Unwillen und Aerger von dem zu besorgenden Stadtgeschwätz die Rede; der Unwille aber greift vorzüglich gern nach provinziellen Ausdrücken, um sich durch dieselben lebhafter auszuschütten, als es oft durch die Büchersprache geschehen kann. Nun ist der Ausdruck t r ä t s c h e n , welcher so viel sagt, als: ein Gerede gleichsam auseinander treiben, es auf eine unausstehliche Weise in die Länge ziehen, und gar nicht damit aufhören können, schon durch seinen Klang mahlerisch und darstellend, und bezeichnet auf eine lebhaftere Weise, als irgend ein Wort in der Büchersprache, Verachtung und Unwillen gegen das sich verbreitende Geschwätz, welches dieser Ausdruck gleichsam n a c h a h m e n d abbildet. –

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Als Werther seinen Geburtsort besucht hatte, schreibt er an seinen Freund: »Ich hatte beschlossen auf dem Markte zu wohnen, gleich neben unserm alten Hause. Im Vorbeigehen bemerkte ich, daß die Schulstube, wo ein ehrlich altes Weib unsre Kindheit z u s a m m e n g e p f e r c h t hatte, in einen Kram verwandelt war, u. s. w.« Die provinziellen Ausdrücke haben größtentheils die besondere Eigenschaft, daß sie durch ihren L a u t schon bezeichnend sind; dieß ist auch der Fall bei dem Worte z u s a m m e n - p f e r c h e n , welches den stärksten Grad des Zusammendrängens und Zusammenpressens, der mit Gewaltsamkeit verknüpft ist, durch die Anhäuffung der hart ausgestoßenen Konsonante nachdrücklich bezeichnet. Durch einen mißverstandnen Begriff von Verfeinerung der Sprache sind dergleichen Wörter nach und nach ausgeschlossen worden, weil man sie für die edlere gesittete Sprache gleichsam für zu nachdrücklich und bezeichnend hielt. Um das Grobe zu vermeiden, verfiel man ins Fade, und es war hohe Zeit, daß einige unter den deutschen Schriftstellern, denen man Genie und Geschmack gewiß nicht absprechen konnte, sich zuerst über diesen affektirten Wortekel hinwegsetzten, und sich der nachdruckvollen Provinzialismen, die selber schon durch ihren Klang die Sache bezeichnen, dreist bedienten; besonders da, wo es ihnen Bedürfniß war, den leidenschaftlichen Ausdruck in der eigentlichen Umgangssprache, lebendig darzustellen. So erzählt Werther in einem der vorhergehenden Briefe, seinem Freunde, wie Lotte einen alten Prediger besucht: »Sie lief hin zu ihm, nöthigte ihn, sich niederzusetzen, indem sie sich zu ihm setzte; brachte viel Grüße von ihrem Vater, herzte seinen garstigen schmuzigen jüngsten Buben, das Q u a k e l c h e n seines Alters u. s. w.« Der provinzielle Ausdruck Q u a c k e l e i anstatt Tändelei, ist allgemein bekannt; er bezeichnet das Kindische, Spielende im höchsten Grade; Q u a k e l c h e n , ein Kind, womit der Alte gleichsam wieder k i n d i s c h wird, ist daher ein so bedeutungsvoller Ausdruck, als man ihn in der Büchersprache gewiß nicht findet. Von den Ausdrücken, die

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Freude seines Alters, und die Tändelei seines Alters, hätte der erste Ausdruck zu viel und der andre zu wenig gesagt, und die Lebhaftigkeit des Begriffes wäre verlohren gegangen. Das Diminutivum mildert wieder den Begriff des Verächtlichen, der sonst mit dem Ausdruck q u a k e l n verknüpft ist, und Q u a k e l c h e n ist also in jeder Rücksicht ein Wort, das in dieser Ideenverbindung und Darstellung unentbehrlich war, und mit einem Begriff verknüpft ist, den kein anderes Wort so treffend und artig bezeichnet hätte.

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Wieland.

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Da der einzelnen angeführten Beispiele, um dem selbst beobachtenden Leser einen Wink zu geben, genug sind, so verweise ich nur noch auf Wielands vortrefliche Uebersetzung von Horazens Satyren und Episteln, wo man häufige Beispiele von einer sehr glücklichen Einwebung provinzieller Ausdrücke findet, welche zum glücklichen Ersatz der Eigenthümlichkeiten und besondern Schönheiten des Originals nicht wenig beitragen.

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Neugebildete Wörter.

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Zu neuen Wortbildungen ist unsere Sprache recht eigentlich geschaffen; sie ist unzähliger Zusammensetzungen aus sich selber fähig, die lange noch nicht erschöpft sind; und für Begriffe, die sich künftig entwickeln, wird auch immer eine neue Quelle von Wortbildungen übrig bleiben. Allein die Bildung irgend eines neuen Wortes setzt voraus, daß einer Begriff und Sprache vollkommen in seiner Gewalt habe, um das eine nach dem andern abzumessen und beurtheilen zu können. Eine Menge neuer Wortbildungen zeigen, daß bei ihren Urhebern selbst der Begriff, den sie bezeichnen wollten, schwankend war, und daß eben daher ihre Wahl eines neuen Ausdrucks mißrathen mußte. Eine Sprache in seiner Gewalt haben, heißt vorzüglich, daß man geübt sey, sie den Begriffen gehörig anzupassen; wessen Begriffe nun aber selbst nicht bestimmt und geordnet sind, hat eigentlich keine

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Sprache in seiner Gewalt, und wenn er gleich ein ganzes Wörterbuch auswendig wüßte. Die Bildung neuer Wörter ist daher zugleich ein Prüfstein des philosophischen Scharfsinnes, und verdient, wo sie unternommen wird, g l e i c h a n f ä n g l i c h die größte Aufmerksamkeit, weil sonst der große Haufe sich eben so leicht bequemt, ein Wort von ächtem als von unächtem Gepräge aufzunehmen, welches letztere denn so leicht nicht wieder auszutilgen steht, wenn es, wie eine gestempelte falsche Münze, einmal im Umlauf ist. Beispiele mögen auch hier statt aller Regeln und Vorschriften dienen. Ich führe sie aus den neuesten Versuchen eines beliebten deutschen Schriftstellers an, und lege mein Urtheil darüber der eignen Prüfung meiner Leser vor:

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Konsequent. 15

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Dieser Ausdruck ist von Campe durch f o l g e r e c h t , wie es mir scheint, glücklich übertragen. F o l g e r e c h t ist analogisch richtig; denn wir sagen: s e n k r e c h t , l o t h r e c h t , w a g e r e c h t . Auch bezeichnet es den unterliegenden Begriff noch bestimmter, als der fremde Ausdruck, weil r e c h t die f e s t e R i c h t u n g ausdrückt, in welcher eine Folge von Handlungen z. B. auf ihr Ziel abzweckt. Man handelt nicht f o l g e r e c h t , heißt, die Folge von Handlungen hat keine feste Richtung auf ihren Zweck hin, sondern sie schwankt hin und her, und weicht von ihrem Ziele ab. – Fassade.

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Dieser schöne fremde Ausdruck ist von Campe durch A n t l i t z s e i t e übertragen; diese Verdeutschung kann aber deswegen nicht wohl statt finden, weil die Bestandtheile des Wortes A n t l i t z s e i t e zwey Begriffe bezeichnen, die sich im Grunde einander aufheben. A n t l i t z schließt nehmlich den Begriff von S e i t e aus; denn unter S e i t e denke ich mir nur n e b e n b e i , unter A n t l i t z aber dasjenige, was gerade vor mir, oder meinem Gesichte zugekehrt ist. Der fremde Ausdruck F a s s a d e trägt den Begriff des A n t l i t z e s von mir selber

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auf den Gegenstand hinüber, gleichsam als ob ich nicht nur das Gebäude, sondern das Gebäude auch mich wieder ansähe. – Ich kann also wohl sagen, der T h e i l des Gebäudes, der dem Antlitz zugekehrt ist; aber nicht eigentlich die S e i t e ; denn die Seite unterscheidet sich ja eben dadurch, oder heißt deswegen Seite, weil sie nicht vorn, und absichtlich dem Auge zugekehrt ist. – Daher enthält auch selbst der Ausdruck Vo r d e r s e i t e gewissermaßen einen Widerspruch in sich. Bloß zu sagen, d a s A n t l i t z d e s H a u s e s würde wieder zu feierlich und poetisch klingen. Der fremde Ausdruck F a s s a d e heißt eigentlich so viel als A n t l i t z u n g ; die Bildung dieses Wortes aber findet im Deutschen nicht statt; wir müssen also F a s s a d e , des schönen und mahlerischen Begriffes wegen, der damit verknüpft ist, beibehalten, und dieß um so mehr, da das Wort keinen undeutschen Klang hat, und die tönende Harmonie des deutschen Ausdrucks nicht dadurch gestört wird. Für die ernste und zärtliche Poesie aber klingt demohngeachtet auch dieser Ausdruck noch zu fremd. – Für die lebhaft wirkende Phantasie ist es aber auch ein leichtes, solche Ausdrücke durch reizende Umschreibungen zu ersetzen. –

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Friseur.

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Dieser fremde Ausdruck ist von Campe durch H a a r k r ä u ß l e r übertragen. In der komischen Poesie, wo von geringfügigen Dingen oft mit einer gewissen angenommenen Feierlichkeit die Rede ist, würde dieser Ausdruck sehr gut zu brauchen seyn. Wenn man aber im gemeinen Leben statt F r i s e u r sich des Ausdrucks H a a r k r ä u ß l e r bedienen wollte, so würde es anfänglich immer scheinen, als wolle man den Lockenzaubrer zum Besten haben, weil man sein Geschäft mit einem neuen ungewohnten Nahmen benennt, der sogar, um es recht vollständig zu bezeichnen, aus zwei Wörtern zusammengesetzt ist; da hingegen das ausländische F r i s e u r der Geringfügigkeit der Sache angemeßner scheint, weil man sich unter den Bestandtheilen dieses Wortes nichts deutlich denkt,

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sondern nur im Ganzen und gleichsam o b e n h i n den Begriff damit bezeichnet. Das Wort H a a r k r ä u ß l e r klingt wie die pedantische und steife deutsche Nachahmung der leichten französischen Mode; es kann daher, wie gesagt, nur im komischen Sinne gebraucht werden, und würde immer komisch klingen, wenn man es ernsthaft brauchen wollte. Hypothese.

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Dieses wissenschaftliche griechische Wort ist nicht glücklich durch Wa g e s a t z übertragen. Wa g e s a t z drückt nur einen Theil des Begriffes aus, den wir mit dem Ausdruck H y p o t h e s e verknüpfen, nehmlich die bloße U n g e w i ß h e i t bei einer Voraussetzung. Der griechische Ausdruck stellt hingegen selbst die Voraussetzung wie eine U n t e r l a g e dar, worauf man eine Folge b a u e t , die g e w i ß ist, so bald die Unterlage fest bleibet. Die Ungewißheit liegt also nur in der Voraussetzung und nicht in der Folgerung; daher ist sie auch nicht der Haupttheil des Begriffes, welcher durch den Ausdruck von u n t e r und s e t z e n am treffendsten bezeichnet wird. Wenn daher H y p o t h e s e übersetzt werden soll, so ist das schon einmal angenommene Vo r a u s s e t z u n g dem neugebildeten Wa g e s a t z auf alle Weise vorzuziehn. Honorarium.

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Dieser Ausdruck ist von Campe durch E h r e n s o l d verdeutscht; allein durch das fremde Wort, will man eben aus Achtung und Schonung den Begriff von Lohn oder Sold vermeiden, wenn von Dingen die Rede ist, die sich eigentlich nicht nach der baaren Bezahlung schätzen lassen. Der Ausdruck zerstört also die ganze Feinheit des Begriffes, den wir mit dem fremden Ausdruck verknüpfen; daß nehmlich durch das Honorarium irgend eine Geistesarbeit mehr nur g e e h r t , als eigent-

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lich b e z a h l t wird; und daß man die Bezahlung in diesem Falle nur als ein Zeichen der Werthschätzung einer solchen Arbeit betrachten will. Der Ausdruck S o l d , wobei man sich sogar eine bestimmte Löhnung, und also noch mehr als bloße Bezahlung denkt, ist also hier ganz unschicklich, und diese Verdeutschung eines fremden Ausdrucks ist ganz mißrathen. Alternative. Dieser fremde Ausdruck ist von dem angeführten Schriftsteller, wie es mir scheint, sehr glücklich durch We c h s e l f a l l übertragen. In diesem neugebildeten Worte widerspricht der eine Bestandtheil desselben dem andern nicht, sondern stimmt mit ihm harmonisch zusammen. Denn mit dem Begriff des We c h s e l s ist an sich und im Allgemeinen schon der Begriff von Z u f ä l l i g k e i t verknüpft, der hier die Idee noch vollständiger macht, als sie selbst durch den fremden Ausdruck bezeichnet wird. Ueberdem hat das neugeschaffene deutsche Wort einen leichten und angenehmen Klang, und nichts Hartes und Ungewöhnliches in seiner Bildung, so daß es Eigensinn seyn würde, wenn man, da wir einmal dieß Wort besitzen, sich des fremden Ausdrucks noch ferner bedienen wollte.

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Vorbereitung zu dem Kapitel vom Geschäftsstyl, in einigen Beispielen. In einem wohlbekannten schätzbaren Werke über die neue preußische Justizreform, wo ein paar sehr interessante Prozesse, mit allen ihren Verwickelungen, dennoch in lichtvoller Ordnung durchgeführt

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sind, finden sich vortreffliche Beispiele von Kürze und Bestimmtheit im Ausdruck, womit diese Art von Gegenständen behandelt ist. Ich führe aus den Akten des einen Prozesses, wo über die Ansprüche des Klägers auf das hinterlassene Vermögen seiner mit ihm verlobten Braut, entschieden werden soll, nur das folgende Beispiel an, um bei den einzel-nen juristischen Ausdrücken, welche hier beibehalten sind, zu untersuchen, in wie fern und mit welchen Gründen diese Beibehaltung zu rechtfertigen ist: »So viel den ersten Klagepunkt anlangt, hat Beklagter (der Bruder der Verstorbnen) g e s t ä n d l i c h den in Anspruch genommenen Nachlaß seiner Schwester in Besitz, und es hat derselbe die Richtigkeit der zwischen seiner Schwester und dem Kläger errichteten Ehepakten eingeräumt, nach welchen dem Kläger das Recht zusteht, deren Erbschaft zu fordern: Solchergestalt kömmt es nun darauf an, ob Beklagter hinlängliche Gründe a n und a u s f ü h r e n kann, weshalb dessen Schwester auf Wiederaufhebung dieser Ehepakten zu dringen berechtigt gewesen?« Was erstlich den Ausdruck g e s t ä n d l i c h anbetrifft, so hat derselbe freilich eben keine ähnlichen Wortbildungen im Deutschen, die ihm zum Muster dienten, für sich, wenn man nicht etwa n a c h r i c h t l i c h , a u g e n s c h e i n l i c h u. s. w. als gewissermaßen ähnliche Wortbildungen anführen will. Demohngeachtet aber läßt sich die Beibehaltung dieses Ausdrucks schon damit rechtfertigen, daß ihn in einem juristischen Aufsatze, schon wegen des Zusammenhanges, worin er sich befindet, ein jeder, der auch keine juristischen Kenntnisse besitzt, dennoch nicht mißverstehen kann. Denn wer würde wohl in dem obigen Beispiele: Beklagter hat g e s t ä n d l i c h den Nachlaß seiner Schwester in Besitz, sich unter g e s t ä n d l i c h etwas anders denken, als, s e i n e m e i g n e n G e s t ä n d n i ß g e m ä ß , oder n a c h s e i n e m e i g n e n G e s t ä n d n i ß , welches nur in das Beiwort g e s t ä n d l i c h zusammengedrängt ist, wodurch der Ausdruck wirklich leichter und bequemer wird.

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Da nun also dieser Ausdruck e i n m a l a n g e n o m m e n , und auch für solche, die keine Rechtsgelehrten sind, den Vortrag nicht undeutlich macht, vielmehr seiner Kürze wegen, dazu abzweckt, daß man nicht durch überflüssige Worte aufgehalten werde, um bald zur Hauptsache zu kommen, so ist kein Grund vorhanden, weswegen man ihn verbannen, und mit mehrern Worten umschreiben sollte. Wenn die Wörter nach der Analogie oder M u s t e r w o r t b i l d u n g immer genau geprüft werden sollten, so würde man manche jetzt einmal allgemein verstandnen Ausdrücke wieder ausmerzen müssen, ohne sie so leicht wieder ersetzen zu können. Die einmal bewährte a l l g e m e i n e Ve r s t ä n d l i c h k e i t eines Ausdrucks aber ist immer schon an sich von großer Wichtigkeit, gesetzt, daß er auch in Ansehung seiner Form nach ähnlichen Wortbildungen zu tadeln wäre, oder daß sich gar keine ähnliche Wortbildung fände, die ihm zum Muster diente. Und hier kann man wohl sagen, daß selbst ein analogisch unrichtiger Ausdruck, über den sich einmal alle Stimmen vereinigt haben, im Grunde mehr G ü l t i g k e i t hat, als ein noch so analogisch richtiges Wort, das zwar hier und da gebraucht, dessen allgemeine Verbreitung aber durch den Zufall verhindert worden ist. Man hat z. B. die analogische Unrichtigkeit von dem Ausdruck e n t s p r e c h e n häufig erwiesen, welche sogar ins Lächerliche fällt, wenn man die ganz verschiedene Bedeutung von dem Ausdruck e n t s a g e n dagegen stellt, wo es gerade den entgegen gesetzten Sinn geben würde, wenn es hieße: e n t s p r i c h s t d u d e m Te u f e l u n d a l l e n s e i n e n We r k e n , anstatt, e n t s a g s t d u d e n Te u f e l u. s. w. Demohngeachtet aber hat sich der Ausdruck e n t s p r e c h e n bis jetzt allgemein behauptet; die Stimmen haben für ihn entschieden, und der Sprachlehrer muß sich dieser S t i m m e n m e h r h e i t unterwerfen, wenn er mit seinem richtigern Ausdruck nicht allein stehen will, und seine Sprachrichtigkeit selber nicht eine Sonderbarkeit scheinen soll.

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Da nun aber die Stimmenmehrheit nicht immer so genau prüft, sondern sich eben so leicht auf die Seite des richtig gebildeten als des unrichtigen Ausdrucks lenkt, so ist dasjenige, was dem Sprachlehrer übrig bleibt, vorzüglich f ü r d i e Z u k u n f t zu wachen, daß ein neu gebildeter Ausdruck gleich bei seinem Entstehen gehörig geprüft, und entweder gebilligt oder verworfen werde. Da nun aber die Stimme eines einzelnen Sprachlehrers, wenn sie auch noch so triftige Gründe anführte, nicht entscheidend ist; weil sie nicht Aufmerksamkeit genug auf sich zieht, so fühlt man hier vorzüglich das Bedürfniß, daß es im Mittelpunkte von Deutschland, ein anerkanntes, mit den vorzüglichsten deutschen Schriftstellern in Verbindung stehendes, Tribunal geben möchte, dessen Aussprüche über Wort- und Sprachbildung, mit den gehörigen Gründen unterstützt, auch ein entscheidendes Gewicht haben müßten, weil alsdann die deutsche Nation, durch die Zustimmung ihrer vorzüglichsten und beliebtesten Schriftsteller, eigentlich selber den Ausspruch thäte. Dieser Wunsch ist nun, durch die patriotischen Bemühungen des Königlichen Staatsministers Grafen von Herzberg Excellenz, als Kurators der Akademie der Wissenschaften zu Berlin, zum Theil schon in Erfüllung gegangen. Ich kehre nach dieser Ausschweifung zu meinem angeführten Beispiele zurück, wo noch der Ausdruck: ob Beklagter hinlängliche Gründe a n - und a u s f ü h r e n könne u. s. w., vorzügliche Aufmerksamkeit verdient, weil er dasjenige durch Kürze und Bestimmtheit ersetzt, was ihm an Zierlichkeit und Schönheit abgeht. Denn eine Härte bleibt diese Wo r t z e r s t ü c k e l u n g immer, wenn so wie hier, mehrere Partikeln oder Theile von Wörtern sich auf ein einziges Hauptwort beziehen, das nun dadurch selber gleichsam zu mehrern Wörtern wird, ob es gleich nur einmal da steht, und es klingt nichts komischer, als die folgenden Abkürzungen eines berühmten deutschen Statistikers, der sich um die Schreibart nicht viel bekümmert: Tugend- Sitt- und Ehrsamkeit; Holl- Eng- und Deutschland, anstatt, Holland, England und Deutschland.

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In dem angeführten Beispiele aber kommt es gerade darauf an, die n o t h w e n d i g e Verbindung zweier Sachen, nehmlich des A n f ü h r e n s und des A u s f ü h r e n s der Gründe, wo möglich in einen gedrengten Ausdruck, zusammen zu fassen, wodurch dieser Nebenbegriff bei der Sache dennoch in seiner Wichtigkeit bezeichnet wird. Und hierbei ist überhaupt zu bemerken, daß besonders in juristischen Aufsätzen, jeder Ausdruck, w o d u r c h m a n Wo r t e s p a r t , vorzüglich empfehlungswerth ist, weil bei der Verwicklung der Sachen, welche gemeiniglich statt findet, alles darauf ankömmt, daß man durch Nebenbegriffe nicht aufgehalten werde, um zur Hauptsache zu kommen, und daß also die Nebenbegriffe so kurz, wie möglich, bezeichnet werden, gesetzt, daß dieß auch zuweilen auf Kosten der Zierlichkeit geschehen müßte, welche bei Aufsätzen dieser Art denn doch der Deutlichkeit untergeordnet bleiben muß. Ich führe noch eine Stelle aus den Akten eben dieses Prozesses, wo über die Aechtheit einer Handschrift des Klägers entschieden werden soll, zum Beispiel an: »Kläger deklarirt, daß er sich keinen Augenblick besinnen werde, diese Schrift eidlich zu d i f f i t i r e n , wogegen von Beklagtem erwiedert wird, daß er den Kläger zum Diffessionseide nicht gestatten könne, sondern darauf antragen müsse, daß eine Vergleichung der Handschriften durch Sachverständige angestellt werde.« D e k l a r i r e n ist ein allgemein verstandner Ausdruck; nur ist er im Deutschen nicht schön; denn e r k l ä r e n sagt eben dasselbe. Demohngeachtet aber ist mit e r k l ä r e n eine Zweideutigkeit verknüpft; es heißt nehmlich sowohl s e i n e n E n t s c h l u ß k u n d t h u n , als auch, e i n e S a c h e d e u t l i c h m a c h e n . Mit d e k l a r i r e n ist diese Zweideutigkeit nicht verknüpft; denn es heißt bloß, seinen Entschluß kund thun, oder entscheidende Antwort geben. Sollte dieß vielleicht ein Grund seyn, weswegen man in der Aktensprache das Wort d e k l a r i r e n beibehielt? – Allein da sich doch aus dem Zusammenhange leicht ergiebt, ob das Wort e r k l ä r e n den Begriff von Entschluß oder von Belehrung ausdrückt, so scheint dieser fremde Ausdruck nicht unentbehrlich zu

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seyn; und wenn es hieße: Kläger giebt die Erklärung, anstatt, Kläger deklarirt, so hätte man an Schönheit und Zierlichkeit des Ausdrucks gewonnen, und an Kürze nicht viel verloren. Der Ausdruck d i f f i t i r e n , welcher das G e g e n t h e i l v o n e i n g e s t e h e n bezeichnet, setzet, um vollkommen verständlich zu seyn, schon lateinische Sprachkenntniß voraus; denn er ist noch nicht einmal, so wie deklariren, in die Sprache des gemeinen Lebens aufgenommen; wenn sich also dieser Ausdruck auf eine schickliche Art ersetzen ließe, so würde die Sprache sowohl als die Sache offenbar dadurch gewinnen. Denn jeder Begriff aus irgend einer Wissenschaft, den man durch die Sprache der gemeinen Fassungskraft näher bringt, ist ein offenbarer Gewinn für den Schatz der umlaufenden und zur Wirksamkeit reifenden Ideen. Der Ausdruck d i f f i t i r e n aber faßt freilich viele Begriffe zusammen; er setzt voraus, daß ein G e s t ä n d n i ß von mir erwartet wird, und bezeichnet nun, daß ich, statt dieß Geständniß zu leisten, vielmehr das Gegentheil von dem, was mir Schuld gegeben wird, behaupte, und also die Anklage gänzlich ableugne. Hätten wir ein Wort a b g e s t e h e n , oder u n g e s t e h e n , so wie wir e i n g e s t e h e n haben, so würde dieß ohngefähr den Sinn ausdrücken. Da es uns aber an einem solchen Ausdruck fehlet, so ist man in dem obigen Aufsatze, in so fern es doch immer mehr auf die Sache, als auf die Worte ankam, bei dem hergebrachten juristischen Ausdruck geblieben, dessen Bedeutung denn doch auch der Ungelehrte aus dem Zusammenhange wohl noch einigermaßen errathen kann. Daß man nun auch den Eid, womit etwas diffitirt wird, nur einen Diffessionseid nennen darf, um diese Art sogleich zu klassifiziren, macht auch eine größere Bequemlichkeit im Ausdruck, so bald man diese Wörter einmal versteht. Und diese Bequemlichkeit und Leichtigkeit führt eben in Versuchung, daß man sich oft noch solcher Ausdrücke bedient, die vielen Menschen unverständlich sind, wenn nur diejenigen, welche zusammen die Geschäfte betreiben, darüber einverstanden sind, und sich

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einander mit Leichtigkeit und Bequemlichkeit ihre Gedanken deutlich machen können. Wer sieht aber nicht ein, daß dieß immer weiter führt, und zuletzt sich eine Sprache bilden muß, die nur die Eingeweihten verstehen, welche dadurch eine Anzahl Begriffe, die den übrigen Menschen, die dadurch interessirt sind, auch zu wissen nöthig wären, ausschließend in ihre Gewalt bekommen, und eben daher auch über dasjenige, was einmal an diese Begriffe geknüpft ist, unter sich, nach Belieben schalten können. Das Bestreben muß daher, so wie es bei der preußischen Justizreform unter der Leitung eines C a r m e r s geschieht, beständig dahin gehen, daß so viel wie möglich, durch allgemein verständliche Ausdrücke, der Schatz von Begriffen, die allgemein im Umlauf sind, immer vermehrt, und die Zahl der weniger allgemein verständlichen Ausdrücke immer vermindert werde. Wenn dieß aber a u f e i n m a l geschehen sollte, so würde unter dem Ausdruck die Sache zu sehr leiden; über dem Bestreben allgemein verständlich zu werden, würden die Sachverständigen, an die hergebrachten Ausdrücke lange Dienstjahre hindurch gewöhnt, sich unter einander selber mißverstehen; die gute Sache würde dadurch in übeln Ruf kommen, und man würde sich nur desto fester an den Schlendrian wieder ketten. Das einzige, was man thun kann, ist daher, allmälig einen Ausdruck nach dem andern in die allgemein verständliche Sprache zu übertragen, und diese Uebertragung unvermerkt in Umlauf zu bringen; ja die alten Ausdrücke beizubehalten, wo die Sache selber zu verwickelt ist, als daß man sich nicht aller Hülfsmittel bedienen sollte, um sie wenigstens den Sachverständigen gehörig ins Licht zu stellen, wenn es nicht möglich ist, oder zu umständlich seyn würde, sie für die gemeinen Begriffe vollkommen auseinander zu setzen; und überhaupt nie anders auf die Reformation des Ausdrucks zu denken, als wo es unbeschadet der Sache geschehen kann, denn sobald diese dadurch aufgehalten und erschwert wird, oder sonst auf irgend eine Weise darunter leidet, wird das ganze Unternehmen in einem lächerlichen

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Lichte erscheinen, und da die menschliche Trägheit sich zu der Beibehaltung des einmal hergebrachten, oder dem Schlendrian ohnedem schon hinneigt, so wird man nicht unterlassen, jeden Nachtheil der etwa aus einer übertriebenen Reformationssucht in Ansehung des Ausdrucks, entstehen könnte, noch zu vergrößern, um einen Grund mehr zu haben, die ganze Sache als verwerflich, und als eine unnöthige und überflüssige Neuerung darzustellen. Von dem Beklagten heißt es nun in dem angeführten Beispiele, daß er den Kläger zum Diffessionseide nicht gestatten k a n n . – Diese ganze undeutsche Wortfügung, welche hier noch der hergebrachten Sprache zu Liebe, und um ihr gleichsam ihren Tribut zu zahlen, beibehalten ist, könnte wohl freilich durch eine richtigere Wortfolge übertragen werden; und wenn es hieße, B e k l a g t e r k a n n d e m K l ä g e r d e n D i f f e s s i o n s e i d n i c h t g e s t a t t e n , oder i h n n i c h t z u m D i f f e s s i o n s e i d e k o m m e n l a s s e n , so würde weder der Sinn noch die Kürze des Ausdrucks auf irgend eine Weise darunter leiden. Wer also auf die immerwährende Beibehaltung solcher Ausdrücke und Wortfügungen, wie dieser, in der Aktensprache dringen, und ihre Verbannung hindern wollte, den müßte man nothwendig eines hartnäckigen Eigensinns, oder einer Beschränktheit der Begriffe beschuldigen, die aus ihrem gewohnten Gleise, auch nicht in Kleinigkeiten, verdrängt seyn wollen. Mehrere hergebrachte juristische Ausdrücke sind ein Beweiß, wie sehr man, vielleicht wegen zu großer Aufmerksamkeit auf die Sache, den Ausdruck vernachlässigt hat. Denn wenn es z. B. heißt: d e r k l ä g e r i s c h e A s s i s t e n z r a t h , anstatt d e s K l ä g e r s A s s i s t e n z r a t h , so ist doch wahrlich durch den undeutschen Ausdruck k l ä g e r i s c h weder in Ansehung der Kürze noch der Deutlichkeit des Begriffes das mindeste gewonnen; sondern es ist dieß eine bloße Sprechunart, die einer dem andern, ohne darüber zu denken, nachgesagt hat. Der undeutsche und ganz unrichtige Ausdruck k l a g b a r w e r d e n , anstatt e i n e K l a g e a n b r i n g e n , entstellt den Vortrag in einem sonst gut geschriebenen juristischen Aufsatze. Denn auch hier

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gewinnt man auf Kosten der Sprachrichtigkeit weder an Kürze noch Deutlichkeit; vielmehr muß derjenige, welcher nicht geübt ist, juristische Schriften zu lesen, sich ordentlich zwingen, um mit diesen Worten den rechten Sinn zu verbinden. Denn nach dem richtigen deutschen Ausdruck würde man gerade das Gegentheil darunter verstehen: e r i s t k l a g b a r , würde nicht heißen, e r k l a g t , sondern e r ist selbst in einem Zustande, wo er angeklagt werden kann. Ich führe noch aus einem sächsischen Formularbuche einen Kaufkontrakt zum Beispiel an, um das Wohlbedächtige und Vorsichtige in dem Ausdrucke von dem Ueberflüssigen und Unnöthigen zu unterscheiden. »Zu wissen sey hiermit, denen es nöthig, daß heute zwischen N. N. Verkäufern eines, und N. N. Käufern andern Theils, nachstehender b e s t ä n d i g e r und unwiderruflicher Erbkauf wohlbedächtig abgehandelt und geschlossen worden.« B e s t ä n d i g ist gewiß überflüssig; denn ein Erbkauf, der unwiderruflich ist, muß auch wohl beständig seyn. Daß hingegen dieser Kauf w o h l b e d ä c h t i c h a b g e h a n d e l t und b e s c h l o s s e n worden, scheinen nöthige Bestimmungen zu seyn, um jeden Gedanken von Uebereilung dabey gänzlich aufzuheben. Was also im gemeinen Leben pedantisch klingen würde, wenn man bei einer Sache, die beschlossen ist, immer noch hinzufügen wollte, mit welcher Ueberlegung sie beschlossen ist, das ist hier, w o a u f d e n Wo r t e n d i e S a c h e b e r u h t , auf keine Weise wider die Zierlichkeit und Schönheit der Schreibart; sondern vermehrt noch die Würde des Ausdrucks, bei welchem hier jedes Wort sein Gewicht hat, und auf die Zukunft entscheidend ist. In so fern aber die Sache selbst eine solche genaue Bestimmung und Umständlichkeit erfordert, kann man auch nicht sagen, daß in dieser Art von Geschäften ein besonderer Styl oder eine eigenthümliche Schreibart beobachtet werden müsse, die eigenes Studium erfordert. Sondern es beruht alles darauf, daß man die Wichtigkeit und Beschaffenheit der Sache wohl einsehe, und dieser Einsicht gemäß sei-

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nen Ausdruck nach dem Bedürfniß des Gegenstandes zu bilden wisse, dieser sey nun, welcher er wolle. Da nun aber gerade hier am meisten auf den Worten beruht, so ist es fast kein Wunder, daß die Worte mit der Zeit gleichsam ein zu großes Recht erhalten haben, und diejenigen, welche sich damit beschäftigten, dieses Recht noch weiter zu vergrößern suchten, um dadurch in ihrem Gebiete immer mächtiger zu werden. – Doch ich kehre zu meinem Beispiele zurück: »Nehmlich es verkauft erwehnter N. sein auf der breiten Gasse belegenes Haus u. s. w. mit allem dem, so darin E r d - W i e d - N i e d K l a m m e r - und N a g e l f e s t i s t , u. s. w.« Ob nicht in dem W i e d - N i e d - K l a m m e r - und N a g e l f e s t die Ausführlichkeit und Bestimmtheit auch ein wenig zu weit getrieben ist, lasse ich dahin gestellt seyn; wenigstens scheint das W i e d und N i e d sich wohl vorzüglich durch die Gleichheit des Klanges zusammen gefunden zu haben, so wie H a n d e l und Wa n d e l , und ähnliche Ausdrücke. Denn die menschliche Trägheit r e i m t gerne, und man findet in allen Predigten und Formularen, aus den Zeiten der Dunkelheit und der Trägheit des Denkens häufig solche Ausdrücke zusammen, die nur der Reim oder Gleichklang verbindet, und die dadurch unzertrennlich geworden sind, sie mögen sich in den Zusammenhang der übrigen Rede passen, und darin nothwendig seyn oder nicht. – Der Kaufkontrakt lautet nun weiter, wie folget: »Wie solches alles von Verkäufern Hrn. N. bis anhero besessen, genutzet und gebraucht worden, oder g e n u t z e t und g e b r a u c h t w e r d e n k ö n n e n ; mit allen Rechten und Gerechtigkeiten u. s. w. a l l e r m a ß e n er N. und vorige Besitzer solches geruhig inne gehabt, besessen, g e n u t z e t und g e b r a u c h t haben, oder auch hätten n u t z e n , g e n i e ß e n und g e b r a u c h e n k ö n n e n o d e r m ö g e n , nichts im Geringsten davon ausgeschlossen, sondern mit allem und jeden seinen Ein- und Zubehörungen, wie es in seinen R e i n e n und S t e i n e n , Mauern und Vierung gelegen ist, u. s. w.«

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Ich überlasse es Sachverständigen zu beurtheilen, ob bei dem Ausdruck b e s i t z e n , n u t z e n und b r a u c h e n , das b r a u c h e n nicht überflüssig ist, da das stärkere n u t z e n schon vorhergehet, und alles was ich nutze, doch auch gewiß von mir gebraucht wird. – Von den beiden Ausdrücken, w i e e s h ä t t e g e n u t z t u n d g e b r a u c h t w e r d e n k ö n n e n , und m i t a l l e n R e c h t e n u n d G e r e c h t i g k e i t e n , scheint der eine überflüssig zu seyn; weil völlig einerlei dadurch gesagt wird. Doch lasse ich auch hierüber Rechtsverständige entscheiden. Das m ö g e n aber ist wohl schwerlich zu vertheidigen, eben weil es w e n i g e r sagt, als das k ö n n e n , welches vorhergeht, und also hier unmöglich ernsthaft in Betracht kommen kann. M ö g e n faßt nehmlich bloß den Wu n s c h des Nutzens, Genießens und Gebrauchens in sich, da K ö n n e n hingegen das R e c h t oder die M a c h t dazu bezeichnet; nun kann es doch aber bei diesem Kaufkontrakt unmöglich auf den Wu n s c h ankommen, was der vorige Besitzer gern hätte nutzen, genießen und gebrauchen m ö g e n . – Ist aber das Wort m ö g e n in der veralteten Bedeutung genommen, wo es so viel heißt als k ö n n e n ; so klingt es nicht viel besser, als ob ich sagen wollte: i h m i s t d a s H a u p t u n d d e r K o p f a b g e schlagen worden. E i n und Z u g e h ö r u n g ist so wie das vorher erwähnte G r ü n d e a n - u n d a u s f ü h r e n , keine unzweckmäßige Bequemlichkeit des Ausdrucks, um die Sache, die man bezeichnen will, kurz und bestimmt zu fassen. Nur würde E i n - und Z u b e h ö r i g doch wohl richtiger und besser seyn, als E i n - und Z u - g e h ö r u n g ; und überhaupt können dergleichen Wortkettungen wohl nur statt finden, wenn man der Sache zu Liebe einige Zierde des Ausdrucks aufopfert; denn schön sind diese Zusammenziehungen nie, weil sie das Wort an sich gleichsam zu sehr herabsetzen, indem man der Zeitersparung wegen h a l b i e r t , und also für die Schönheit des Ausdrucks zu Sprachökonomisch verfährt, wie in dem schon angeführten H o l l E n g - und D e u t s c h l a n d , statt Holland, England und Deutschland. – Ich kehre wieder zu unserm Kaufkontrakt zurück, und führe nur noch folgende Stelle daraus an:

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»Es hat auch Hrn. Verkäufers Eheweib Frau N. mit Bewilligung ihres Herrn Kuratoris in diesen Kauf dergestalt gewilligt, daß sie wegen ihres Ehegeldes, Gegenvermächtniß u. s. w. weder jetzt noch künftig, n o c h z u e w i g e n Zeiten, auf des Hrn. N. Verkäuffers Garten und Zugehör nicht das Geringste z u s u c h e n , z u f o r d e r n u n d z u b e g e h r e n b e r e c h t i g t u n d b e f u g t s e y n w i l l , zu welchem Ende sie denn mit ebenmäßigen Konsens ihres Hrn. Kuratoris alle Rechtswohlthaten, so dem weiblichen Geschlechte zu Gute verwendet, nachdem sie derselbigen genugsam erinnert, selbige auch von ihr wohl verstanden worden, beständig und kräftiglich v e r z i e h e n u n d b e g e b e n hat, u. s. w.« Die e w i g e n Z e i t e n , auf welche die Ehefrau auf ihre Ansprüche Verzicht thut, sind nun wohl gewiß überflüßig. J e t z t und k ü n f t i g faßt alles Nöthige in sich, und die e w i g e n Z e i t e n sind gewiß aus einer übertriebenen Bedachtsamkeit und Vorsicht das erstemal hinzugesetzt worden. Die Ehefrau will ferner n i c h t d a s G e r i n g s t e s u c h e n , z u fordern und zu begehren berechtigt und befugt seyn. Der stärkere Ausdruck f o r d e r n , welcher hier in die Mitte stehet, schließt die beiden s u c h e n und b e g e h r e n schon in sich, und macht sie eben daher überflüßig. Auch kommt es hier gar nicht auf das Suchen und Begehren, sondern nur auf das wirkliche Fordern an, worauf die Ehefrau Verzicht thut. Das bloße Begehren reicht gleichsam noch nicht an die Berechtigung, und gehört also auch eigentlich in keinen Kaufkontract. Man sieht aber offenbar, daß man hier, um allen Ausflüchten vorzubeugen, den Ausdruck des n i c h t f o r d e r n z u d ü r f e n , auf alle mögliche Weise verstärken wollte, und also auch, um recht sicher zu gehen, das S u c h e n und B e g e h r e n selbst auf die Zukunft mit ausschließen wollte, welches doch durch keine Rechtsformel, wenn sie auch noch so bündig ist, im Grunde verhindert werden kann. Man sieht also, wie die zu große Vorsichtigkeit und Genauigkeit auch zum Pedantischen und Lächerlichen bei dieser Art Aufsätze, hat führen können.

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Auch klingt es sonderbar, daß die Ehefrau weder zu suchen, noch zu fordern, berechtigt und befugt seyn w i l l , da das Berechtigen nicht mit in ihren Willen steht, und überhaupt auch schon das b e r e c h t i g t und b e f u g t seyn, mit dem Wo l l e n eigentlich nichts zu thun hat; durch diesen Kontrakt hört ja eben der freie und ungezwungene Wille auf. Dadurch, daß die Ehefrau für jetzt und künftig auf alle Forderungen Verzicht thut, ist sie ja nun zu keiner Forderung mehr berechtigt und befugt; sie möchte es übrigens seyn wollen oder nicht.

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Vierzehnte Vorlesung. Fortgesetzte Prüfung eines Kontrakts, in Ansehung des Ausdrucks.

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Aus dem schon erwähnten sächsischen Formularbuche führe ich noch folgenden Pachtkontrakt zum Beispiel an, wo man, ohngeachtet des steifen und pedantischen im Ausdruck, doch manches nicht überflüssig finden wird: »Zu wissen, daß zwischen Hrn. D. N. allhier an einem, und N. Gärtnern am andern Theil, nachfolgender Pachtkontrakt unter gesetztem Dato abgehandelt und vollzogen worden.« Das z u w i s s e n versteht sich freilich von selber, und ich sehe nicht ein, warum man nicht gleich unmittelbar sagen könnte: »Zwischen dem Hrn. Doktor N. und dem Gärtner N. ist folgender Pachtkontrakt heute a b g e h a n d e l t und vollzogen worden.« A b g e h a n d e l t wird freilich zwar nicht gewöhnlich in dem Sinne, wie hier gebraucht; es paßt sich aber sehr gut, um den Begriff, der hier ausgedrückt werden soll, zu bezeichnen. Denn es ist von einer Sache die Rede, worüber man Ve r h a n d l u n g gepflogen hat, und die nun a b g e t h a n ist, welches beides durch a b h a n d e l n zusammengefaßt wird.

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Das a n e i n e m u n d a n d e r n T h e i l könnte wohl füglich wegbleiben; da schon der Begriff des Kontrakts selber voraussetzt, daß die Personen, welche ihn schließen, jede für sich besonders betrachtet, und nicht mit einander verwechselt werden dürfen. Aus allen dergleichen Ausdrücken leuchtet eine übertriebene Behutsamkeit und Bedachtsamkeit hervor, welche das Maas überschreitet, indem sie nichts will fehlen lassen. Das Gefühl des Verhältnißmäßigen der Sache zu dem Ausdruck, war es eben, wodurch sich der schöne und edle Styl der Alten bildete, deren freyer und entschlossener Geist aus jedem Worte, das sie sprachen und schrieben, hervorleuchtete. Doch ich kehre zu meinem Beispiel zurück: »Es verpachtet E i n g a n g s g e d a c h t e r Hr. D. N. seine zu N. h a b e n d e und außer dem Gute gelegenen zwei Gärten, nehmlich den sogenannten Lustgarten zwischen N. N. und den Berggarten auf dem heiligen Berge, von jetzige Ostern a. c. bis wieder dahin 1741, und also auf 4 Jahr dergestalt und also, daß Oberwähnter sich dieser Gärten bedienen, alles daselbst wachsende Obst und Gartenfrüchte in seinen Nutzen verwenden, auch die Mistbeete u. s. w. nach seinem Gefallen anbauen und gebrauchen möge, w i e e s e i n e m h a u ß w i r t h l i chen Gärtner gebühren mag.« Das E i n g a n g s g e d a c h t e r ist gewiß überflüssig; denn es kann doch hier unmöglich von einem andern Doktor N. die Rede seyn, als von dem, welcher mit dem Gärtner den vorliegenden Pachtkontrakt geschlossen hat. Eine solche übertriebene Vorsicht aber ist lächerlich, da der Fall nie eintreten kann, daß ein andrer Doktor N., von dem hier nicht die Rede ist, jemals an die Stelle des wirklich gedachten eingeschoben werden könnte. Offenbar fehlerhaft ist aber nun der Ausdruck: s e i n e z u N . h a b e n d e n G ä r t e n ; und man sieht hieraus, mit welcher übertriebnen Aengstlichkeit in Ansehung der Sachen, und mit welcher Nachläßigkeit im Ausdrucke diese und ähnliche Formulare verfertigt sind. Wenn es heißt s e i n e Gärten, so ist doch das wohl hinlänglich, um den wirklichen Besitz zu bezeichnen, und h a b e n d e n macht zu dem

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Begriffe des Besitzes wahrlich keinen Zusatz, sondern verwirrt vielmehr den Sprachgebrauch, und setzt einen unverzeihlichen Mangel an Kenntniß der Muttersprache voraus, welche nur bei dem ungebildeten Pöbel statt findet, der sich eine w o h l r u h e n d e oder w o h l s c h l a f e n d e Nacht wünscht, gleichsam als ob die N a c h t selber ruhen und schlafen, und hier die Gärten selbst h a b e n sollten, statt daß sie g e h a b t w e r d e n ; welcher letzte Ausdruck aber nicht statt finden kann. Denn wie würde es klingen, wenn man sagen wollte: seine von ihm zu N. g e h a b t w e r d e n d e zwei Gärten. H a b e n kann schlechterdings nicht leidend gedacht werden, da h a b e n keine wirkliche Handlung, sondern nur ein Verhältniß oder ein Zustand ist, worin sich eine Sache mit ihrem Besitzer befindet. Ich kann z. B. sagen: d i e S a c h e w i r d g e h a l t e n , weil h a l t e n eine wirkliche Handlung ist, die auf die Sache übergeht, und wogegen sie sich leidend verhält; aber nicht: die Sache wird gehabt; daher sagt man auch statt dessen: die Sache ist in seinem Besitz, sie gehört ihm. Der Ausdruck d e r g e s t a l l t und a l s o wäre wohl nicht ganz zu verwerfen, wenn sehr viele genaue Bestimmungen folgen, auf welche die ganze Aufmerksamkeit durch einen solchen d o p p e l t e n Ausdruck gerichtet werden soll. D e r g e s t a l l t würde gleichsam mehr auf die ä u ß e r e F o r m und a l s o auf die i n n r e Art und Weise, aufmerksam machen; wenigstens sind die beiden Ausdrücke nicht ganz gleichbedeutend. A l s o hat freilich nur in der veralteten Schreibart den Sinn, den es hier hat, da es sonst so viel als d a r u m oder d e s w e g e n heißt, und hier das bloße s o nur durch das hinzugefügte a l verstärkt und nachdrücklicher gemacht wird. D e r g e s t a l t bezeichnet hier die eigentliche F o r m bei der Sache, worauf es hier gerade mit ankömmt. – Man kann also diese beiden Ausdrücke wohl gelten lassen, wenn die ganze Aufmerksamkeit auf die A r t u n d We i s e , w i e d a s , was i n e i n e r g e w i s s e n F o r m g e s c h i e h e t , gerichtet werden soll.

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Der Pachtkontrakt lautet ferner: »Wie nun Abmiether sich von allen und jeden Obstbäumen der Nutzung in erwähnten Garten anzumaßen hat, so ist er inzwischen keinesweges berechtiget, nach eignem Gefallen Bäume auszuheben, oder umzuschlagen, noch auch, dafern derselben einige eingehen sollten, vor sich zu behalten, sondern selbige Herrn Verpachtern zu überliefern, und nur das Schnittholz an den Weinstöcken und Bäumen an sich zu nehmen; nicht minder ist letzterer verbunden, an die Stelle der ausgegangenen Bäume aus der Baumschule andere zu setzen, oder es Herrn Verpachtern, daß er auf seine Kosten andere setzen lassen könne, anzusagen.« In mentionirten anstatt e r w ä h n t e n Gärten, läßt sich gar nicht vertheidigen, und wird auch von keinem Verfasser eines juristischen Aufsatzes, der auf litterarische Bildung einigen Anspruch macht, mehr gebraucht werden. Sich die Nutzung irgend einer Sache a n z u m a ß e n haben, anstatt dazu b e r e c h t i g t s e y n , ist ebenfalls ein nicht zu entschuldigender Wortmißbrauch, weil a n m a ß e n gewöhnlich in einem ganz andern Sinne als hier gebraucht wird, und mit dem Begriffe von Ungerechtigkeit verknüpft ist, der hier erst ganz davon hinweggedacht werden muß, wenn es kein Mißverstand werden soll. Das a n m a ß e n scheint hier nur deswegen gebraucht zu seyn, weil gleich darauf b e r e c h t i g e n folgt, und dieser Ausdruck nicht zweimal gesetzt werden sollte. Allein wenn das erstemal b e r e c h t i g e n gebraucht worden, so hätte das zweitemal d ü r f e n füglich gesetzt werden können. Und dann ist der Wortbau abscheulich, wenn es heißt: w i e n u n A b m i e t h e r u. s. w. sich die Nutzung anzumaßen hat, s o i s t e r i n z w i s c h e n k e i n e s w e g e s b e r e c h t i g e t u. s. w.; wozu hier das inzwischen? und was soll das w i e n u n , und s o ? da es offenbar heißen muß: » O b g l e i c h der Abmiether zu der Nutzung aller und jeder Obstbäume in den erwähnten Gärten berechtiget ist; s o darf er d e n n o c h keinesweges nach eigenem Gefallen Bäume ausheben, u. s. w.«

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Was ist denn das für eine Sprache, in welcher o b g l e i c h durch w i e n u n , und d e n n o c h durch i n z w i s c h e n ausgedrückt wird? Was findet denn hier für eine Vergleichung statt, d a ß d e r A b m i e ther eben so wie er zu der Nutzung der Obstbäume berechtigt ist, inzwischen zu ihrer Aushebung nicht ber e c h t i g t s e y n s o l l ; welch ein Unsinn oder vielmehr Nichtsinn liegt in diesen Worten, so wie sie hier in Verbindung gestellt sind! Eine ganz unrichtige und schiefe Wortstellung findet sich noch am Schlusse dieses Perioden: daß nehmlich der Abmiether verbunden seyn soll, an die Stelle der ausgegangnen Bäume aus der Baumschule andre zu setzen, o d e r e s H e r r n Ve r p a c h t e r n , d a ß e r a u f s e i ne Kosten andre setzen lassen könne, anzusagen. Was denn anzusagen? Hier ist ja noch nichts genennt; und es müßte nothwendig heißen: wenn v o n d e n B ä u m e n w e l c h e a u s g e h e n s o l l t e n , so ist der Abmiether verbunden, entweder an die Stelle der ausgegangnen Bäume selbst andre zu setzen, oder dem Herrn Verpachter sogleich davon Nachricht zu geben, damit dieser auf seine Kosten andre setzen lassen könne. Man sieht aus diesen allen wohl ein, daß zu Geschäften im Grunde keine andre Sprache, als zu allen übrigen Gegenständen des Denkens erfordert wird, eben weil Geschäfte ein Gegenstand des vernünftigen Denkens, und von diesem die Worte nur der Ausdruck sind. Das h e r g e b r a c h t e Fehlerhafte in der Geschäftssprache läßt sich, aus den schon angeführten Gründen, nicht auf einmal abschaffen, aber die Richtung des menschlichen Denkens muß doch, so viel es Zeit und Umstände nur erlauben, immer dahin streben, daß diesen Mißbräuchen entgegengearbeitet werde, weil dadurch für die menschlichen Angelegenheiten wirklich mehr gewonnen wird, als es anfänglich scheint, wenn man erwägt, wie viel von den Begriffen, und wie viel bei diesen wieder von den dazu gewählten Worten abhängt. Was den Fortschritten einer guten Schreibart in Geschäften am meisten schadet, ist die traurige Scheidewand zwischen den Fakultisten und Belletristen, welche leider noch immer statt findet.

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Den Belletristen fehlt es an Sachkenntniß, den Fakultisten an Sprache; und beide suchen sich durch wechselseitige Verachtung für ihre Unkunde schadlos zu halten. Jetzt ist man nun auf einem guten Wege, sich einander zu nähern. Denn je mehr die Achtung für eine gute und edle Schreibart die Oberhand gewinnt, desto mehr wird ein rühmlicher Ehrgeiz die Geschäfts-männer anspornen, mit ihren Sachkenntnissen den Ausdruck zu verbinden, der sie erst geltend macht, und ihnen zugleich eine Art von glänzendem Gepräge giebt. Die Belletristen aber würden nun bei diesem Wetteifer durch die Geschäftsmänner ganz verdrängt und in Dunkel gestellt werden, wenn sie sich nicht auch bestreben wollten, mit ihrer Stärke im Ausdruck richtige Sachkenntnisse zu verbinden, wodurch sie jenen das Gleichgewicht halten. Auf jeden Fall ist es zur Bildung des Geistes und Entwickelung der Denkkraft nöthig, daß die Schreibart vorzüglich geschätzt werde; denn wenn man erst dahin kömmt, daß man nur auf die Sache und gar nicht mehr auf die Schreibart siehet, so bleiben gar keine Grenzen mehr; man verliert sich in einen Ocean von Gegenständen, und uns bleibt zuletzt kein Kompaß mehr zu der Richtung der Gedanken übrig. Die Schreibart hebt sich gleich, so wie das eigentliche Handeln in die Darstellung übergeht – ein dramatischer Dichter, der einen interessanten Auftritt aus dem Leben nimmt, um ihn in schöner Nachahmung wieder darzu-stellen, wird freilich jedes Wort genauer abwägen, als es von den Personen geschehen konnte, mit denen sich jener Auftritt im wirklichen Leben ereignete. Denn bei dem Dichter sind nun, da die wirkliche Begebenheit vorüber ist, die Wo r t e wodurch sie wieder dargestellt wird, die Hauptsache. So ist es auch mit der Geschichte, wenn sie vorbei ist; sie ist nun nicht mehr in den Fesseln der Wirklichkeit, und schleift sich gleichsam ab, da sie durch die Erzählung in die bloße Erscheinung übergeht.

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Die Geschäfts- und Staatsverhandlungen u. s. w. sind gleichsam noch die Geschichte im We r d e n oder in der W i r k l i c h k e i t , mit allen anklebenden Schlacken, die nur durch die Zeit erst abgeschliffen werden können, oder vielmehr durch das gänzliche Vorbeiseyn der Sache sich von selbst ablösen. Das ist nun wohl die Ursach, daß man die Geschäftssprache, als etwas besonders betrachtet hat, weil man zwischen der darstellenden Schreibart, und derjenigen, womit man selbst Geschäfte betreibt, einen zu scharfen Einschnit machte. Freilich ist ein auffallender Unterschied dazwischen, wenn ich jemandem ein ihn betreffendes Testament, oder etwas aus einem eleganten Schriftsteller zur Unterhaltung vorlese; beides aber hat doch zur Absicht, deutliche und leicht zu fassende Begriffe zu erwecken; und das Testament und das Buch müßten in dieser Rücksicht einerlei Eigenschaften haben, wenn das eine die Zuhörer unterhalten, und das andre der aufgeregten und auf eignen Vortheil sich gründenden Wißbegierde Gnüge leisten solle. Die Worte, womit man Geschäfte ausrichtet, werden ihres Zwecks gewiß desto weniger verfehlen, jemehr sie darstellend sind, und die Sachen anschaulich machen. Bei den Worten, womit man bloß unterhalten will, findet eben dieß Erforderniß statt; der Unterschied liegt nur darin, daß bei diesen bloß das Vergnügen, und bei jenen Vergnügen und Nutzen zugleich in Anschlag kömmt. Diejenigen Verhandlungen in Staatssachen, z. B. welche zu der Zeit, da sie wirksam seyn sollten, am besten und zweckmäßigsten abgefaßt waren, werden auch da noch, wo sie als Aktenstücke in der Geschichte wieder vorkommen, eine Zierde des Vortrags seyn, und um so mehr selbst den Worten nach beibehalten werden können, je weniger Ueberflüssiges und Unzweckmäßiges darin enthalten, und je mehr der Ausdruck im Einzelnen und im Ganzen der Wichtigkeit der Sache angemessen ist.

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Man kann freilich wohl sagen, daß durch die Verwickelung der menschlichen Verhältnisse im bürgerlichen Leben, auch der Knäuel der Geschäfte selbst immer verworrener wird, und daß dieses denn auch auf die Schreibart natürlicher Weise Einfluß hat. Man muß aber hierbei auch erwägen, daß wechselseitig eine weitschweifige und verworrene Schreibart die Geschäfte selbst wieder ohne Ende ausspinnt, und Schuld ist, daß zuletzt der Verstand aus den Labyrinthen von Materialien, die nur das Gedächtniß aufhäuft, den Faden nicht wieder finden kann. Es ist gewiß ausgemacht, daß eine lichtvolle und deutliche Schreibart auch den Gang der Geschäfte verkürzt, und daß die menschlichen Verhältnisse selber dadurch wieder in ein einfacheres Geleis kommen werden, wenn man im Ernst sich bemühen wird, durch den Schwall von Worten nicht mehr die Sachen zu verwirren, sondern mit keinem Worte mehr Nachsicht zu haben, das nicht an seiner Stelle von gehörigem Gewicht und Bedeutung ist, und nicht seinen Platz mit völligem Rechte behauptet. Denn es ist ja in die Augen leuchtend, daß man dann leichter und schneller zum Ziele kömmt, wenn der Gedanke durch nichts Unnöthiges und Ueberflüßiges mehr aufgehalten wird, und daß also jedes Wort, welches man beim Ausdruck erspart, Gewinn für den Gedanken und folglich auch für die Sache ist. Um junge Leute, die zu Geschäften erzogen werden, in einer zweckmäßigen Schreibart zu üben, müßte nur derjenige den Preis erhalten, der über einen und denselben Gegenstand unter allen übrigen sich am kürzesten und bestimmtesten ausgedrückt hätte, ohne dadurch der Deutlichkeit zu schaden; und man könnte gewiß sagen, daß einer, der diese Kraft besitzt, auch im Stande ist, irgend ein verwickeltes Ganze mit Leichtigkeit zu übersehen und zu ordnen. Eine solche Aufgabe wird gewiß der beste Probierstein der Köpfe seyn; denn hier kann sich einer durch nichts Fremdes, durch keine erborgten Floskeln helfen, sondern es kömmt darauf an, daß er den Gegenstand, den er bearbeiten soll, nicht nur mit dem Gedächtniß, sondern mit der U r t h e i l s k r a f t wohl gefaßt habe, und nun in so

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wenigen Worten, wie möglich, den Ausdruck seiner Gedanken zusammendränge, um eben durch diese Ersparung von Worten der Sache selbst um desto näher zu kommen. Mit mehr Worten, und mit dem Fluß einer sogenannten Beredsamkeit sich nachher über dieselbe Sache auszubreiten, wird einem solchen sehr leicht werden, der einmal die Materie in seiner Gewalt hat, weil er im Stande war, sie in wenigen Worten zusammen zu faßen. Denn wo viel eingewickelt ist, da läßt sich auch viel auswickeln, und wo wenige Worte viel Bedeutung haben, da lassen sich auch diese wenigen Worte, wenn es darauf ankömmt, sehr leicht in viele verwandeln. Umgekehrt läßt sich aber nicht schließen, daß wer etwas mit vielen Worten zu sagen weiß, nun auch, sobald er will, sich in die Kürze fassen könne. Denn dies letztere erfordert vorzügliche Seelenkraft, und eben so viel Uebung im D e n k e n als im S c h r e i b e n : daß aber beides mit einander verknüpft seyn müsse, ist eben der Hauptgrundsatz, von welchem wir bei diesen Vorlesungen ausgegangen sind.

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Vorlesungen über

den Styl oder 5

praktische Anweisung zu

einer guten Schreibart in Beispielen aus den vorzüglichsten Schriftstellern 10

von

Karl Philipp Moritz, weil. Königl. Preußischem Hofrath und Professor, ordentlichem Mitgliede der Königl. Akademie der Wissenschaften und des Senats der Akademie der bildenden Künste 15

zu Berlin.

Zweiter Theil. Berlin, 1794. bei Friedrich Vieweg, dem ältern.

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Inhalt Vorrede 〈von D. Jenisch〉.

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Erste Vorlesung. Versuch einer Entwickelung des Periodenbaues.

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Zweite Vorlesung. Fortsetzung der Entwickelung des Periodenbaues.

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Dritte Vorlesung. Unterschied zwischen Vorstellung und Darstellung.

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Vierte Vorlesung. Von dem Unterschiede zwischen Wort und Sache.

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Fünfte Vorlesung. Von der Vermeidung des Zweideutigen im Ausdruck.

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Sechste Vorlesung. Nebeneinanderstellung verschiedner Proben einer guten und schlechten Schreibart.

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Fortsetzung von D. Jenisch.

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Vorrede 〈von D . J e n i s c h 〉

〈III〉–X

〈Vgl. S. 1355–1357〉

Erste Vorlesung. 5

〈1〉

Versuch einer Entwickelung des Periodenbaues. Garve.

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»Es ist gewiß, daß in unserer Maschine eine Kraft liegt, sich selbst wiederherzustellen, wenn sie in Unordnung ist, und daß alsdann alle ihre Bewegungen, selbst die, durch welche die gefährlichsten oder schmerzhaftesten Symptomen der Krankheit veranlaßt werden, darauf abzielen. Wenn aber diese Bewegungen ihren Zweck erreichen sollen, so ist es nothwendig, daß sie nicht gestört werden. Je mehr Ruhe allen Fibern, Nerven und Gefäßen alsdann gelassen wird; desto mehr können sie die Materie der Krankheit, die sich in Ihnen gehäuft hat, überwältigen und fortschaffen; oder desto schneller können sie, wenn sie bloß abgespannet sind, ihren Ton wieder erlangen. Nichts aber befördert diese Ruhe mehr, nichts kommt der wohlthätigen Wirksamkeit der Maschine zu ihrer Wiedergenesung mehr zu Hülfe, als Geduld und Ruhe der Seelen.« Der Periodenbau ist hier ein getreues Bild von der allmäligen Entwickelung schöner und ruhiger Gedanken; keine gewaltsame Einschiebung unterbricht die Folge; durch keinen raschen Sprung wird von dem einen Gedanken zum andern ein plötzlicher Uebergang gemacht, alles wird gehörig vorbereitet, und stellt und ründet sich allmälig, wie die Frucht am Baume, welche zum Abfall reif ist.

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Prosodie und Stilistik

Der erste Theil des Perioden: »Es ist gewiß, daß in unserer Maschine eine Kraft liegt, sich selbst wieder herzustellen, wenn sie in Unordnung ist;« hat zu dem zweiten Theile eine verhältnißmäßige Länge; das heißt, er ist kurz und abgebrochen genug, um einen vollständigen Schluß des Perioden vorzubereiten und erwarten zu lassen, und ist doch auch nicht zu kurz und abgebrochen, um in den zweiten Theil sanft überzugehen, und mit ihm ein schönes Ganze zu bilden. Der zweite Theil des Perioden »und daß alsdann alle Bewegungen, u. s. w.« füllt sich durch den eingefügten Satz »selbst die, u. s. w.« so daß der Schluß »darauf abzielen u. s. w.« nun eine Gedankenfülle in sich enthält, wo ein einziges Wort allein die vorher entwickelten Begriffe wieder in sich zusammen faßt, und sie, indem es ausgesprochen wird, noch einmal vor die Seele bringt. Der kurze Periode, welcher nun folgt: »Wenn aber – bis, nicht gestört werden,« macht, wegen seiner Kürze und Einfachheit eine schöne Vorbereitung zu dem folgenden längern und zusammen gesetztern Perioden: »Je mehr Ruhe u. s. w.« bis: »ihren Ton wieder erlangen.« Ob nun gleich bei e r l a n g e n ein Punktum steht, so können wir doch den folgenden Perioden: »Nichts aber befördert u. s. w.« als eine Fortsetzung oder als den völligen Schluß des vorhergehenden betrachten. Und dieser Schluß des Ganzen hat einen vorzüglichen schönen Silbenfall. »Nichts befördert diese Ruhe mehr, nichts kommt der wohlthätigen Wirksamkeit der Maschine zu ihrer Genesung mehr zu Hülfe, als Geduld und Ruhe der Seele.« Es kömmt nun darauf an, zu entwickeln wie?

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etwas schön gedachtes schön gesagt wird. Geduld heilt Krankheit und körperliche Schmerzen. – Dieser Gedanke ist von dem angeführten Schriftsteller gewiß schön gesagt; worin liegt die Schönheit? – Der Hauptbegriff G e d u l d wird so gestellt, daß auf ihn das stärkste Licht fallen muß; die übrigen Begriffe sind ihm alle verhältnißmäßig untergeordnet, und zwecken alle dahin ab, um diesem die größte Klarheit und Deutlichkeit zu geben. Zuerst wird zu dem Ende der Begriff von Heilung und Genesung entwickelt: »Es ist gewiß, daß in unsrer Maschine eine Kraft liegt, sich selbst wieder herzustellen u. s. w.« Der Begriff von Geduld wird dagegen gestellt. »Wenn aber diese Bewegungen (der Maschine zu ihrer Wiederherstellung) ihren Zweck erreichen sollen, so ist es nothwendig, d a ß s i e nicht gestört werden.« Der allgemeine Begriff wird nun anschaulicher gemacht; der Gedanke wird gleichsam verkörpert: »Je mehr Ruhe allen F i b e r n , N e r v e n und G e f ä ß e n alsdann gelassen wird u. s. w.« Der Begriff von K r a n k h e i t in so fern entweder eine schadende Materie sich angehäuft hat, oder durch Abspannung die Nerven ihren Ton verlohren haben, wird mit Fleiß auseinander gesetzt, um durch diesen vollständig entwickelten untergeordneten Begriff, den Hauptbegriff in ein desto volleres Licht zu setzen. »Nichts kommt der wohlthätigen Wirksamkeit der Maschine zu ihrer Wiedergenesung mehr zu Hülfe, als Geduld und Ruhe der Seele.« Wenn dieß nun gleich im Anfange wäre gesagt worden, so würde es seine Wirkung sehr verfehlt haben. Es mußte bis zuletzt aufgespart, und erstlich die untergeordneten Begriffe vollständig entwickelt werden, um das Licht von diesen auf den Hauptbegriff zu sammlen.

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Das Geheimniß etwas schön gedachtes auch schön zu sagen, liegt also vorzüglich darin, daß man den Ausdruck des Hauptgedanken gehörig a u f z u s p a r e n und ihn gerade an den Ort zu stellen wisse, wo er die meiste Wirkung thut. Man muß zu dem Ende die Seelenkraft besitzen, oder sich vielmehr in der Fertigkeit üben, das Bild seiner Gedanken gleichsam u m z u k e h r e n , damit, wenn dieses Bild sich in der Seele des Lesers spiegelt, es wieder von der rechten Seite erscheine. Was sich uns in unserer Gedankenvorstellung zuerst aufdrängt, ist nicht immer das, was wir auch zuerst sagen müssen, wenn ein Bild unserer Gedanken in einem andern erweckt werden soll. Uns ist eine Vorstellung vorzüglich lebhaft; wir verfolgen die Reihe von untergeordneten Vorstellungen, wodurch sie es geworden ist, und wenn wir nun unsern Gedanken niederschreiben, so fangen wir da an, wo unsere Betrachtung aufgehört hat, und steigen gleichsam die Leiter wieder hinauf, die wir hinab gestiegen sind, weil wir nun nicht mehr unsern eignen Gedanken für uns selber entwickeln, sondern schon hinlänglich damit bekannt sind, und nun in der Seele des Lesers ein Ideenspiel hervorbringen wollen, das demjenigen ähnlich tönen soll, welches in unserer Seele schon ausgeklungen hat. Alles kommt nun darauf an, daß den Nebenbegriffen kein zu starkes Licht gegeben werde, wodurch sie den Hauptbegriff verdunkeln würden, und daß sie doch gerade so vollständig entwickelt sind, als es nöthig ist, um den Hauptbegriff gehörig vorzubereiten, und seine Folge n o t h w e n d i g zu machen. In dem angeführten Beispiele durfte von der inwohnenden Kraft unserer Maschine sich selbst wiederherzustellen, gerade nur so viel gesagt werden, als nöthig war, um überzeugend darzuthun, daß Geduld das vorzüglichste Heilmittel sey. Der ganze Periode konnte sich daher nicht zweckmäßiger anheben, als mit dem Begriffe von der G e w i ß h e i t dieser inwohnenden Kraft, welche G e w i ß h e i t selber einer der vorzüglichsten Bewegungsgründe zum Ausharren und zur Geduld ist.

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»Es ist gewiß, daß in unsrer Maschine eine Kraft liegt, sich selbst wiederherzustellen, wenn sie in Unordnung ist.« Von dem Bestreben der Maschine sich selbst wieder herzustellen, wird gerade nur das berührt, was auf den Begriff des D u l d e n s die nächste Beziehung hat; »und daß alsdann alle ihre Bewegungen, selbst die, durch welche die gefährlichsten oder schmerzhaftesten Symptomen der Krankheit veranlasset werden, darauf abzielen.« Der Gedanke, daß alle Bewegungen der Maschine in einem kranken Zustande auf ihre Wiederherstellung abzielen, wäre hier m ü ß i g gewesen, wenn nicht durch den Zusatz s e l b s t d i e , u. s. w. dieser Gedanke auf einmal Zweckmäßigkeit und eine unverkennbare Beziehung auf den Hauptbegriff erhalten hätte. Denn wenn selbst die gefährlichsten und schmerzhafte-sten Symptomen der Krankheit, welche durch das Bestreben der Maschine veranlaßt worden, auf ihre Wiederherstellung abzielen, so ist es um so vernünftiger mit Geduld und Ruhe der Seele den Erfolg abzuwarten. Nun darf aber von der Kraft der Maschine, sich selbst wiederherzustellen, nicht ferner die Rede seyn, wenn die Aufmerksamkeit der Seele von dem Hauptzweck nicht abgezogen werden soll. Zu diesem muß nun der Uebergang gemacht werden. »Wenn die Bewegungen der Maschine sich selbst wieder herzustellen, ihren Zweck erreichen sollen, so ist es nothwendig, daß sie n i c h t g e s t ö r t werden.« »Nicht gestört werden« ist der allgemeine Begriff, worunter eben so wohl, wie der Begriff von Geduld und Ruhe der Seele, auch Schlummer, Schlaf, Unthätigkeit, u. s. w. paßt. Dieser allgemeine Begriff wird also erst noch vorausgeschickt, um den besondern Begriff von Geduld und Ruhe der Seele vorzubereiten, damit er in der allgemeinen Vorstellung gleichsam wie in einer sanften Hülle liege, und nicht zu abgesondert und für sich allein dastehe. Der Uebergang zu dem besondern Begriff von Geduld und Ruhe der Seelen, wird aber auch nach dem n i c h t g e s t ö r t w e r d e n , durch den Begriff der R u h e ü b e r h a u p t vorbereitet.

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»Je mehr R u h e allen Fibern, Nerven, und Gefäßen alsdann gelassen wird, u. s. w.« Auf die Weise liegt nun der Begriff von G e d u l d und R u h e d e r S e e l e gleichsam in einer d o p p e l t e n Hülle von allgemeinern Vorstellungen, und wird dadurch desto sanfter eingewickelt. Man versuche es, und lasse diese Uebergänge und Einwickelungen des Hauptbegriffs weg, so wird er einem dürren Aste gleichen, statt daß er jetzt wie ein schöner Baum in der fruchtbaren Erde gewurzelt steht. Der Schluß des Ganzen ist eine Zurückweisung auf den Anfang, wodurch nun alles was dazwischen liegt noch einmal z u s a m m e n g e f a ß t wird. »Nichts befördert mehr die Ruhe, welche die Fibern, und Nerven u. s. w. zur Wieder-herstellung nöthig haben, n i c h t s k o m m t d e r wohlthätigen Wirksamkeit der Maschine zu ihrer Wied e r g e n e s u n g m e h r z u H ü l f e , als Geduld und Ruhe der Seele.« Der Anfang war: »Es ist gewiß, daß in unsrer Maschine eine Kraft liegt, sich selbst wieder herzustellen, u. s. w.« Der Schluß des Perioden ist gleichsam ein Bild des Ganzen in verjüngtem Maaßstabe; die wesentlichsten Begriffe desselben Wiedergenesung; Ruhe überhaupt die dazu nothwendig ist; – Geduld und Ruhe der Seele; drängen sich hier so nahe wie möglich zusammen, und wirken nun, nachdem sie einzeln ihre Kraft schon geäußert haben, noch einmal vereint auf die Seele. Wo auf die Weise der Schluß den Anfang wieder in sich aufnimmt, dieß kann man füglich einen G e d a n k e n p e r i o d e n nennen, weil nehmlich hier erst ein Kreis oder Umlauf von Begriffen vollendet ist, und ein anderer wieder anhebt. In einem Gedankenperioden kann es mehrere Wortperioden geben, unter denen ein jeder für sich eigentlich kein Ganzes ausmacht, und nur dadurch, daß die Stimme sich erhebt und sinkt, eine Art von

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Ründung oder Vollendung in sich selbst erhält, die aber nicht hindert, daß der Faden des Gedanken ununterbrochen fortgeht. – Der Schlußfall der Stimme, welcher durch das Punctum bezeichnet wird, schreibt dem Wo r t p e r i o d e n seine Grenzen vor. Der Wortperiode, muß eben durch seine Unvollständigkeit, von dem vollständigen Gedankenperioden gleichsam ein Bild im Kleinen seyn; er muß eine gewisse Fülle und Ründung haben, und ein schönes Ebenmaaß muß in seinen Theilen herrschen. Diese Fülle und dieß Ebenmaaß würde darunter leiden, wenn wir in dem angeführten Beispiele den ersten Perioden etwa auf folgende Weise umändern wollten. »In unsrer Maschine liegt gewiß eine Kraft, sich selbst wieder herzustellen u. s. w.« anstatt »Es ist gewiß, daß in unserer Maschine eine Kraft liegt, u. s. w.« Wir stellen die folgenden vier Glieder des Satzes untereinander Es ist gewiß, daß in unserer Maschine eine Kraft liegt, sich selbst wieder herzustellen, wenn sie in Unordnung ist. – Die ersten beiden Glieder bilden mit den beiden letztern eine Art von Symmetrie, die verlohren gehen würde, wenn wir sagen wollten: »gewiß liegt in unserer Maschine, u. s. w.« Das erste Glied: e s i s t g e w i ß , wäre nun nicht mehr da, und das schöne Verhältniß zwischen den beiden D o p p e l g l i e d e r n wäre verschwunden. Hier scheint es nun, daß in dem Ausdruck etwas bloß mechanisches von dem Gedanken unabhängiges liege. – Allein das Band zwischen Gedanken und Ausdruck ist so zart, daß es selbst da sich knüpft, wo es kaum noch merkbar ist. Es kömmt dem Gedanken selbst zu statten, wenn das Ende des Wortperioden voll und langtönend ist, und nicht zu kurz und jähling abbricht, wenn wir auch die Worte, auf denen die Stimme, ehe wir sie sinken lassen, verweilen muß, ohne Rücksicht auf ihre bedeutende Kraft, nur bloß als U n t e r l a g e des Gedanken betrachten, der eine

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hinlängliche Anzahl Momente verlangt, um ohne Uebereilung ausgedacht zu werden. Indem also der Begriff von m ü s s e n und d ü r f e n in einen ganzen Satz: »so ist es nothwendig« gewickelt wird, so gewinnt die Denkkraft, so wie Stimme und Athemzug, dadurch eine neue Pause, wodurch die Folge und Entwickelung der Begriffe bedächtiger, langsamer, und ruhiger von statten geht, und diese kurze Wortperiode dennoch zu einem wirklichen Perioden oder Kreislauf wird, der seinen Anfang, seine Fortsetzung und seinen Schlußfall hat. Der Schluß des ganzen Gedankenperioden könnte nun heißen: »Geduld und Ruhe der Seele befördern am meisten jene Ruhe, und kommen der wohlthätigen Wirksamkeit der Maschine zu ihrer Wiederherstellung am meisten zu Hülfe« statt daß es jetzt heißt: »Nichts befördert die Ruhe mehr, nichts kommt der wohlthätigen Wirksamkeit der Maschine zu ihrer Wiedergenesung mehr zu Hülfe, als Geduld und Ruhe der Seele.« Warum ist der Gedanke auf diese letzte Art schöner ausgedrückt? Weil der Hauptbegriff ans Ende gestellt ist, und also nun die ganze Aufmerksamkeit der Seele durch alles Vorhergehende gleichsam stufenweise in Anregung gebracht, nur auf diesen Hauptgedanken zusammengedrängt wird, und ohne durch etwas von ihm abgezogen zu werden, auf ihm allein ausruhen, und ohne Störung auf ihm verweilen kann. Wäre der Hauptbegriff in diesem Perioden, so wie auf die erstere Art v o r a n g e s t e l l t worden, so wäre die Aufmerksamkeit durch das noch folgende wieder zerstreuet. Der ganze Gedankenperiode hätte sich mit dem Nebenbegriff geschlossen, und der Hauptbegriff wäre gleichsam im Schatten zurückgeblieben. Zwischen Gedanken und Ausdruck hätte ein Mißlaut obgewaltet, und die Schönheit und Volltönigkeit des Schlusses, die eben in dem passenden Verhältniß des Ausdrucks zu dem Gedanken liegt, wäre gänzlich verschwunden.

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Wenn nun in dem Schlußperioden die Lebhaftigkeit des Ausdrucks noch hätte vermehrt werden sollen, so hätte es heißen können: »Was befördert wohl mehr diese Ruhe, was kommt der wohlthätigen Wirksamkeit der Maschine zu ihrer Wiedergenesung wohl mehr zu Hülfe, als Geduld und Ruhe der Seele?« Man ziehe nur sein Gefühl zu Rathe, ob dieser lebhafte Schluß mit dem ruhigen Ideengange in diesem ganzen Gedankenperioden wohl harmonisch seyn würde? Diese Frage setzt schon die Sprache des Affekts voraus, welche hier auf keine Weise herrschend seyn, sondern der nachdenkenden Vernunft und ruhigen kalten Ueberlegung Platz machen soll. Nicht auf Rührung oder Ueberredung, sondern auf Ueberzeugung zweckt diese Kette von Vernunftschlüssen ab, und es würde also mit der ganzen Art des Vortrages nicht übereinstimmend seyn, wenn dem Leser am Schluß, durch die Frage, sein Urtheil gleichsam a b g e z w u n g e n werden sollte, da es sich vielmehr aus der Natur der Sache von selbst ergeben muß, und keiner Frage weiter bedarf.

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Fortsetzung der Entwickelung des Periodenbaues. Lessing.

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»Ich lenke wieder in meinen Weg, wenn ein Spatziergänger anders einen Weg hat. Was ich von körperlichen Gegenständen überhaupt gesagt habe, daß gilt von körperlichen Schönheiten um so viel mehr. Körperliche Schönheit entspringt aus der übereinstimmenden Wirkung mannigfaltiger Theile, die sich auf einmal übersehen lassen. Sie erfordert also, daß diese Theile neben einander liegen müssen, und da Dinge, deren Theile neben einander liegen, der eigentliche Gegen-

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stand der Mahlerei sind, so kann sie, und nur sie allein körperliche Schönheit nachahmen. Der Dichter, der die Elemente der Schönheit nur nach einander zeigen konnte, enthielt sich daher der Schilderung körperlicher Schönheit, als Schönheit gänzlich. Er fühlte es, daß diese Elemente nach einander geordnet, unmöglich die Wirkung haben können, die sie, neben einander geordnet haben; daß der konzentrirende Blick, den wir nach ihrer Enumeration auf sie zugleich zurücksenden wollen, uns doch kein übereinstimmendes Bild gewähret; daß es über die menschliche Einbildung gehet, sich vorzustellen, was dieser Mund und diese Nase, und diese Augen zusammen für einen Effekt haben, wenn man sich nicht aus der Natur oder Kunst einer ähnlichen Komposition solcher Theile erinnern kann. Und auch hier ist Homer das Muster aller Muster. Er sagt: Nireus war schön; Achilles war noch schöner; Helena besaß eine göttliche Schönheit. Aber nirgends läßt er sich in die umständliche Schilderung dieser Schönheiten ein. Gleichwohl ist das ganze Gedicht auf die Schönheit der Helena gebauet. Wie sehr würde ein neuer Dichter darüber luxurirt haben.«

Hier sind keine sanften Uebergänge, sondern rasche Sprünge. »Ich lenke wieder in meinen Weg, wenn ein Spatziergänger anders einen Weg hat. Was ich von körperlichen Gegenständen überhaupt gesagt habe, u. s. w. »Körperliche Schönheit entspringt aus der übereinstimmenden Wirkung mannigfaltiger Theile, u. s. w. Und da Dinge, deren Theile neben einander liegen, der eigentliche Gegenstand der Mahlerei sind, u. s. w.« U n d d a D i n g e u. s. w. ist hart und nachläßig in Ansehung des Ausdrucks – man siehet wie untergeordnet hier der Periodenbau und der Wohllaut ist – alles eilt gleichsam auf die Entwickelung des Gedanken hin – um diesen recht ins Licht zu setzen, wird nicht darauf

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Rücksicht genommen, ob eine Einschiebung in den Satz denselben nicht zu rasch oder zu unverhältnißmäßig gegen seine übrigen Theile, unterbricht; sondern die Schreibart ist hier ganz ein Bild der feurigen Rede, die, ohne lange zu wählen, den Gedanken, der die Sache noch mehr aufzuklären scheint, sogleich an den ersten den besten Platz hinstellt. »Da Dinge, deren Theile neben einander liegen, der eigentliche Gegenstand der Mahlerei sind, so kann sie u n d n u r s i e a l l e i n , körperliche Schönheit nachahmen. Der Dichter u. s. w. enthält sich der Schilderung körperlicher Schönheit, als Schönheit gänzlich.« Hier bricht der rasche Gedankenausdruck wieder kurz und schroff ab, und verschmähet eine sanfte Zurundung des Perioden. »Er fühlt es, daß diese Elemente nacheinander geordnet, unmöglich die Wirkung h a b e n können, die sie, neben einander geordnet, haben.« Eine offenbare Vernachlässigung des Ausdrucks ist hier das doppelte h a b e n und wiederum der schroffe Schluß: »Schönheit, als Schönheit, gänzlich.« so auch: »die sie, neben einander geordnet, haben.« Das h a b e n so wie oben das g ä n z l i c h schmiegt sich nicht sanft an den Bau der Rede an, sondern fällt gleichsam davon ab. – Nun folgen einzelne Sätze, die sich alle mit d a ß anfangen: »daß der konzentrirende Blick u. s. w.« »daß es über die menschliche Einbildungskraft geht, u. s. w.« Der Schluß des Perioden: »wenn man sich nicht aus der Natur oder Kunst, u. s. w.« beschließt nur den letzten einzelnen Satz, und beziehet sich nicht auf den g a n z e n vorhergehenden Perioden der daher auch gewissermaßen unvollendet bleibt, oder vielmehr gar nicht wie ein Periode zu betrachten ist. Zu dem folgenden Perioden macht wieder ein rascher Sprung den Uebergang:

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»Und auch hier ist Homer das Muster aller Muster.« »Er sagt u. s. w. « »Aber nirgends u. s. w.« »Gleichwohl u. s. w.« »Wie sehr u. s. w.« Bei diesen vier Anfängen finden keine sich aneinander kettende sanfte Redefugen statt. Die Gedanken sind geradezu neben einander gestellt, so wie sie in der Seele aufstiegen; und das Ganze hat mehr die Form des mündlichen, feurigen Gespräches, als einer mit Kunst und Sorgfalt ausgearbeiteten Darstellung der Gedanken durch die Schrift. In Ansehung der Wahl der Worte ist daher auch wenig Sorgfalt beobachtet; die Ausdrücke K o n z e n t r i r e n , E n u m m e r a t i o n , K o m p o s i t i o n , l u x u r i r e n , sind ohne Bedenken aufgenommen, so wie einer etwa in dem raschen Gange des Gesprächs, sich des ersten besten fremden Ausdrucks bedient, wovon man etwa glaubt, daß er jemandem in diesem Augenblicke die Sache am deutlichsten ins Licht setzen könne. Lessings Prosa neigt sich immer gewissermaßen zum Dialog, worin er seine größte Stärke und Uebung hatte. Zum Beispiele führe ich aus dem Laokoon noch den folgenden Perioden an. »Aber verliert die Poesie nicht zu viel, wenn man ihr alle Bilder körperlicher Schönheit nehmen will? – Wer will ihr die nehmen? Wenn man ihr einen einzigen Weg zu verleiden sucht, auf welchem sie zu solchen Bildern zu gelangen gedenkt, indem sie die Fußstapfen einer verschwisterten Kunst aufsucht, in denen sie ängstlich herumirret, ohne jemals mit ihr das gleiche Ziel zu erreichen: verschließt man ihr darum auch jeden andern Weg, wo die Kunst hinwiederum ihr nachstehen muß?« Hier herrscht eine offenbare Vernachlässigung des Ausdrucks in den unmittelbar auf einander folgenden Sätzen: »indem sie, u. s. w.« »in denen sie, u. s. w.« Es folgen fünf Eintheilungen und kleine Sätze auf einander:

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»wenn man, u. s. w.« »auf welchem, u. s. w.« »indem sie, u. s. w.« »in denen sie, u. s. w.« »ohne jemals, u. s. w.« Diese gehäuften eingeschobenen Sätze, machen den Perioden schwerfällig und die Mitte desselben unverhältnißmäßig zu seinem, kurzen und raschen Anfange und Schlusse. Ich führe noch den folgenden Perioden an: »Eben der Homer, welcher sich aller stückweisen Schilderungen körperlicher Schönheiten so geflissentlich enthält, von dem wir kaum einmal im Vorbeigehen erfahren, daß Helena weisse Arme und schönes Haar gehabt; eben der Dichter weiß demohngeachtet uns von ihrer Schönheit einen Begriff zu machen, der alles weit übersteigt, was die Kunst in dieser Absicht zu leisten im Stande ist. Man erinnere sich der Stelle, wo Helena in die Versammlung des trojanischen Volks tritt, u. s. w.« Dieß ist kein Periode; es ist der freie ungebundene Gang des Gesprächs, und man glaubt den Schriftsteller r e d e n zu hören, indem man ihn lieset. Da jeder Gedanke, der sich dem Verfasser aufdrängte, eben so niedergeschrieben wurde, wie er ihn mündlich würde ausgesprochen haben, so mußte er den Anfang des Satzes e b e n d e r H o m e r noch einmal mit einer kleinen Veränderung e b e n d e r D i c h t e r , wiederholen, weil sich zu viele Nebenideen zwischen den Hauptgedanken gedrängt hatten, welche die Aufmerksamkeit zerstreuet hätten, wenn sie durch die Wiederholung e b e n d e r D i c h t e r nicht wieder auf die Hauptsache wäre gelenkt worden. Es hätte heißen können: »Eben der Homer, welcher sich aller stückweisen Schilderungen körperlicher Schönheiten so geflissentlich enthält, weiß demohngeachtet uns von der Schönheit der Helena einen Begriff zu machen, u. s. w. –«

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Nun wird aber gleichsam gesprächweise zwischen gesetzt: »Eben der Homer (von dem wir kaum einmal im Vorbeigehen erfahren, daß Helena weiße Arme und schönes Haar gehabt).« Dieser Zwischensatz ist zu hingeworfen und unverhältnißmäßig für den ernsten Gang des Perioden; er schneidet die Ideenreihe gleichsam ab, welche nun durch das e b e n d e r D i c h t e r erst von neuen muß wieder angeknüpft werden. Ein solches vorsetzliches Abschneiden und Wiederanknüpfen einer Ideenreihe findet in der mündlichen Unterredung statt, wovon der Ausdruck hier ein getreues Bild ist. – In allen diesen Perioden herrscht mehr der Ton der freundschaftlichen Anrede an einen Einzelnen. – Die Worte sind hier nicht abgewo-gen, sondern es ist der volle ungehemmte Erguß der Rede. – Man redet in einem andern Tone mit dem Freunde oder mit sich selbst; in einem andern mit der Welt oder mit dem Publikum. Vor sich selber und vor dem Freunde thut man sich keinen Zwang an; man läßt seinen Worten, so wie seinen Gedanken freien Lauf – man verschweigt nichts von dem, was sich in der Seele empordrängt – man sagt den ersten Gedanken, der sich einem aufdrängt, auch zuerst – hohlt ohne Bedenken nach, was man etwa vergessen zu haben glaubt, und ist nicht sehr bekümmert, um die Stelle, die ein Wort im Zusammenhange der Rede findet; wenn es nur einmal gesagt ist, oder nur einmal dasteht. – Man tritt absichtlich vor dem Publikum oder der Nachwelt auf, und der Gedanke erscheint im Feierkleide – die Rede schmücket sich mit ihren Zierden aus – der Ausdruck wird abgewogen, und im harmonischen Silbenfalle werden die Worte der lauschenden Menge zugezählt.

Engel. »Wenn wir gut und bei vorzüglichen Kräften groß sind; so sind wir es überall, auf dem Throne, im Pallast, in der Hütte, nur durch eine Tugend.

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Der Unterschied an Ausbreitung, an Wirkung, an Glanz und an Herrlichkeit ist unendlich; aber im Grunde und im Wesen ist es die nehmliche Kraft, womit eine Lampe ihren engen Raum, und womit eine Sonne die Welt, erleuchtet.« Wollten wir es wagen diesen Perioden umzukehren, mit dem Bilde anzufangen und mit der Sache zu schließen; wie viel würde von seiner Schönheit verlohren gehen, wenn gleich der Gedanke eben so richtig dargestellt, und durch die Einbildungskraft vor die Region des Verstandes gebracht würde, statt, daß er jetzt zuerst vor den Verstand und dann vor die Einbildungskraft gestellet wird. Der umgekehrte Periode würde ohngefähr wie folget lauten: »Im Grunde und im Wesen ist es die nemliche Kraft, womit eine Lampe ihren engen Raum, und womit eine Sonne die Welt er-leuchtet. Der Unterschied an Glanz und an Herrlichkeit, an Ausbreitung und an Wirkung ist unendlich; aber wenn wir gut und bei vorzüglichen Kräften groß sind; so sind wir es überall, auf dem Throne, im Pallast, in der Hütte, nur durch eine Tugend.« Wie viel schöner steigt nun in dem von dem Schriftsteller gewählten Bau des Perioden der Begriff von der Sache zu dem majestätischen Bilde empor, womit sich das Ganze schließt. »Wenn wir gut, u n d b e i v o r z ü g l i c h e n K r ä f t e n groß sind.« Durch das b e i v o r z ü g l i c h e n K r ä f t e n ist das Ganze schon vorbereitet – im Gut seyn, liegt schon das Groß seyn – oder vielmehr gut ist groß, sobald vorzügliche Kräfte eine große Wirksamkeit und Ausbreitung möglich machen. Der Begriff steigt von dem höhern zum niedrigern herab: wenn wir groß und gut sind; »so sind wir es überall, a u f d e m T h r o n e , i m P a l l a s t , i n d e r H ü t t e , nur durch eine Tugend.« Der niedrigste Begriff ist mit Sorgfalt dem Hauptbegriffe am nächsten gebracht. » I n d e r H ü t t e , nur durch eine Tugend.« Nicht:

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»in der Hütte, im Pallast, auf dem Throne, nur durch eine Tugend.« Denn darauf soll die Aufmerksamkeit eigentlich gelenkt werden, daß i n d e r n i e d r i g s t e n H ü t t e dieselbe Tugend und Größe der Seele wohnen könne, welche den Thron bekleidet, darum sind H ü t t e und Tu g e n d , nicht ohne Absicht am nächsten zusammengestellt, und der Gedanke wird heller dadurch, daß die Begriffe: Thron, Pallast, Hütte, herabsteigen, als wenn sie heraufsteigend neben einander gestellt wären. Der Uebergang von der Sache zu dem Bilde wird so sanft wie möglich durch den folgenden Zwischensatz gemacht: »der Unterschied an Ausbreitung, an Wirkung, an Glanz und an Herrlichkeit, ist unendlich.« A u s b r e i t u n g und W i r k u n g bezieht sich mehr auf die v o r h e r g e h e n d e Sache, G l a n z und an H e r r l i c h k e i t m e h r auf das folgende Bild. – Die Ordnung der Worte könnte also auch hier, ohne dem Ganzen zu schaden, nicht umgekehrt werden. Wenn aber der ganze Periode umgekehrt mit dem Bilde angefangen, und mit der Sache beschlossen würde, so würde auch bei diesem U e b e r g a n g e eine umgekehrte Stellung der Worte schicklicher seyn, wenn es hieße: »der Unterschied an Glanz und an Herrlichkeit, an Ausbreitung und an Wirkung ist unendlich.« Nun bemerken wir noch, wie durch das letzte Bild derselbe Gedanke, der schon gesagt ist, im Grunde noch einmal, nur schöner als das erstemal, gesagt wird. Der Sinn wäre im Grunde erschöpft gewesen, wenn der Gedankenperiode mit Tu g e n d aufgehört hätte. Es ist schon ein vollständiger Gedanke, wenn es heißt: »Wenn wir gut, und bei vorzüglichen Kräften groß sind; so sind wir es überall, auf dem Throne, im Pallaste, in der Hütte, nur durch eine Tugend.« Nun wirkt aber nichts lebhafter auf den Geist, als treffende Vergleichungen zwischen der physischen und moralischen Welt; weil

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durch diese der Verstand und die Einbildungskraft zu gleicher Zeit in Bewegung gesetzt werden. Und da nun die Einbildungskraft weit mehr umfaßt als der Verstand, so gewährt auch der Schluß mit dem Bilde eine größere Gedankenfülle. »Es ist nur e i n e Tugend, durch die wir überall, auf dem Throne, im Pallaste, in der Hütte, gut und groß sind. Es ist dieselbe Kraft, womit eine Lampe ihren engen Raum, und womit eine Sonne die Welt erleuchtet.« Durch dies erhabene Bild wird der ganze vorhergehende Gedanke in allen seinen Theilen gleichsam noch einmal ausgesprochen. Es ist die unendliche Verschiedenheit an Ausbreitung und Wirkung, an Glanz und Herrlichkeit. – Dieselbe Tugend, wodurch wir gut, und bei vorzüglichen Kräften, groß sind – wodurch wir ü b e r a l l gut und groß seyn können, auf dem Throne, im Pallaste, in der Hütte. Dieß alles wird in dem majestätischen Bilde zusammengefaßt – der große Abstand wird auf das sinnlichste bezeichnet, und auf einmal das Niedrigste zu dem Höchsten mit einem einzigen großen Gedankenausdruck hinaufgehoben. Woher kömmt es nun, daß der Ausdruck des Gedanken auf einmal seine ganze Erhabenheit verlieren würde, wenn es hieße: »womit eine Sonne die Welt, und womit eine Lampe ihren engen Raum, erleuchtet.« Der Gedanke selber, sollte man glauben, würde durch diese umgekehrte Wortstellung nicht u n r i c h t i g ; und doch kommt es einem vor, als ob man bei dieser umgekehrten Wortstellung gar nicht mehr dasselbe sagte. Der Ausdruck neigte sich nun statt zum Erhabenen vielmehr zum Komischen, wenn man die Sonne, welche die Welt erleuchtet zuerst, und darnach die Lampe, die ihren kleinen Raum erhellet, nennt. – Das Große und Erhabene will zuletzt b e n e n n t seyn, und leidet nichts Kleines und Niedriges mehr nach sich – Das größte Wort soll auch das l e t z t e Wort seyn, damit der volle Eindruck in der Seele

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bleibe, und das Große nicht gegen das Kleine wieder in den Hintergrund zurück treten dürfe.

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Dritte Vorlesung. Unterschied zwischen Vorstellung und Darstellung.

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Bei einem bloßen Gegenstande des Nachdenkens, wo man sich selber nur seine Gedanken deutlich zu entwickeln sucht, ist die Vorstellung in der Seele des Schreibenden und die Darstellung durch Worte, auf dem Papiere im Grunde eines und eben dasselbe. Sobald aber das Schreiben in Handeln übergeht, und wir durch den schriftlichen Ausdruck unserer Vorstellungen noch einen andern Zweck zu erreichen suchen, als die bloße Entwickelung unserer Ideen; so unterscheidet sich auch die Darstellung von der Vorstellung. So wie die Gegenstände in der Perspektive eine ganz andere Stellung und Richtung gegeneinander, als in der Wirklichkeit, erhalten, so muß auch in der D a r s t e l l u n g oft ein Begrif oben angestellt werden, der in der Vorstellung ganz unten an stand, und umgekehrt. Bei mir selber, z. B. ist der Hauptgedanke an sich wichtig genug; bei dem, welcher meine Schrift lieset, muß ich ihn oft durch Nebenumstände erst wichtig zu machen, und durch untergeordnete oder entferntere Vorstellungen zu heben suchen. Kein Gedanke ist eigentlich an sich wichtig oder unwichtig, sondern wird es erst durch den Zusammenhang von Ideen, in welchen er sich befindet oder gebracht wird. Wer so eben die Nachricht erhält, daß er durch einen Prozeß sein Vermögen verlohren hat, dem wird eine scherzhafte Einladung zu einer Lustparthie sehr abgeschmackt vorkommen.

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Und wer selbst in Lebensgefahr schwebt, dem wird die glückwünschende Ankündigung von einer reichen Erbschaft die er gethan hat, sehr gleichgültig seyn. Bei der Darstellung kommt also alles darauf an, in was für einen Zusammenhang wir den Gedanken, der uns wichtig ist, in einer fremden Vorstellungsart, bringen.

Ich stelle mir einen Gegenstand zu meiner eigenen Betrachtung vor – Ich suche durch den Ausdruck der Rede oder Schrift meine Vorstellung wieder darzustellen – Ich stelle mir den Zustand meines Denkens und Empfindens nicht unmittelbar sondern gleichsam erst durch die Vorstellungsart eines andern wieder vor – Auf die Weise wird meine Vorstellung zur Darstellung – Soll nun diese Darstellung allgemein interessant seyn, so muß ich mir selber den Gegenstand, d u r c h d a s I n t e r e s s e d e r M e n s c h h e i t , vorzustellen suchen. Dieß muß insbesondere der Dichter – in seiner Darstellung muß oben anstehen, was a l l g e m e i n e Theilnehmung erweckt, und das besondre muß sich stufenweise unterordnen. In den darstellenden Werken spiegelt sich die Menschheit, weil sich alles an die a l l g e m e i n e Vorstellungsart knüpft – Ueberhaupt muß ich meine Gedanken an das Interesse desjenigen zu knüpfen suchen, von dem ich wünsche gelesen zu werden. Ein andres ist es also, wenn ich ein Buch; ein andres, wenn ich einen Brief schreibe. In jedem Falle aber stelle ich mir meine eigenen Gedanken, um sie interessant zu machen, durch eine fremde Vorstellungsart wieder vor. Ich habe meinen Zweck erreicht, wenn es mir gelingt, die Sache, die ich mir denke, einem andern eben so wichtig zu machen, als sie mir selber vorkömmt. – Dieß kann aber nur geschehen, wenn ich sie an dasjenige kette, was jenem das wichtigste ist, wodurch denn eben die einzelnen Umstände

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oft eine ganz andere Gegeneinander-stellung erhalten, als sie in meiner Vorstellung, und in dem Zusammenhange meiner eigenen Ideen hatten.

Durch das folgende Beispiel wollen wir den Unterschied zwischen Vorstellung und Darstellung uns anschaulich zu machen suchen:

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Ein Sohn wünscht seinem Vater zu dessen Geburtstage Glück. Darstellung der einzelnen und zerstreuten Gedanken. Theuerster Vater, An dem Morgen Ihres Geburtstages schreibe ich Ihnen mit der innigsten Empfindung meines Herzens, wie sehr ich fühle was ich Ihnen zu verdanken habe, und wie theuer mir Ihre Liebe ist. Welche Sorgfalt haben Sie für meine Erziehung, für mein künftiges Glück getragen! Ich müßte das undankbarste Herz haben, wenn ich Ihnen nicht alles nur mögliche Angenehme wünschen sollte, wodurch auch Sie Ihres Lebens ganz genießen. Ich kenne Ihre zärtliche Sorgfalt und Liebe für mich, und weiß daß mein Glück jederzeit ein Zuwachs des Ihrigen ist. Was kann also wohl anders mein Vorsatz und Bestreben seyn, als daß ich mich auf alle Weise ihrer Liebe immer würdiger zu machen suche, wenn ich Ihren Lehren folgsam, mein eigenes Glück befördere, woran Sie so vielen Theil nehmen. Indem ich mich Ihrer väterlichen Erlaubniß bediene, in dem Tone der Zärtlichkeit an Sie schreiben zu dürfen, bin ich mit kindlicher Ehrfurcht. u. s. w.

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Ein Sohn will seinem Vater zu dessen Geburtstage Glück wünschen. Vo r s t e l l u n g in den Gedanken des Schreibenden. 5

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Ich habe meinem Vater sehr viel zu danken. Von der Fortdauer seines Lebens hängt zum Theil mein Glück ab. Zu meinem Besten wünsche ich, daß er lange leben möge! Ich wünsche aber, daß er selbst auch für sich Vergnügen haben möge. Ich weiß, daß ihm mein gutes Betragen vorzügliches Vergnügen macht; Ich kann ihm also nichts besseres sagen, als daß dieß ein Sporn für mich seyn soll, dahin zu streben, daß ich ihm auf alle Weise Freude mache, welches zugleich mir selber am meisten zum Nutzen gereichen wird.

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Vo r s t e l l u n g in den Gedanken des Schreibenden.

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Ich will mich an den Herrn von * um Hülfe wenden. Wird sich dieser meiner noch erinnern? Ich muß mich ihm auf jeden Fall wieder in Erinnerung bringen. Daß dieß durch die Erzählung meiner Unfälle geschehen muß, ist freilich unangenehm. Bei einem Manne, wie der Herr v. * muß ich dieß nur gerade zu gestehen, ohne mich deßwegen weiter zu entschuldigen; die beste Entschuldigung muß in meiner Erzählung selbst liegen. – Daß ich Zutrauen zu ihm habe, muß die Aufrichtigkeit meiner Erzählung am besten beweisen; ich darf es ihm also vorher nur mit wenigen Worten sagen. So entsteht der vertrauliche Eingang des Briefes.

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Ve r f o l g d e r G e d a n k e n r e i h e . Um Hülfe zu erlangen, muß ich gleich anfänglich nicht zu hülflos und hofnungslos erscheinen. Ich muß, um bei den Herrn von * auf mich Aufmerksamkeit zu erregen, zuerst den Umstand anführen, daß ich einst durch den Tod meines Vaters ein ansehnliches Vermögen besitzen werde, und noch nicht das mindeste davon erhalten habe. Und nun kann die Erzählung meiner Unfälle nach der Reihe folgen.

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Darstellung (Ein Brief an den Herrn von Voltaire.)

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Sie haben seit Langem nicht von mir reden hören, und es ist unangenehm, mich Ihnen durch die Erzählung meiner Unfälle wieder in Erinnerung zu bringen. Indeß kenne ich die Gesinnungen Ihres Herzens zu gut, um nicht Zutrauen zu Ihnen zu haben. Mein Vater lebt noch fortdauernd; er ist achtzig Jahr alt, äusserst entkräftet, und geschwächt. Ich werde über 100000 Livres im Vermögen besitzen, und habe noch keinen Thaler davon erhalten. Mein Stand ist mit Schwierigkeiten verknüpft. Ich muß dazu Unterstützung haben; ich habe darauf gerechnet; sie sind mir alle abgegangen. Ich habe lange und heftige Krankheiten ausgestanden. Meine Gesundheit ist endlich wieder hergestellt. Aber indeß haben meine Kunden aufgehört. Ich hatte damals mit einer reichen, devoten Hausbesitzerin zu thun. Ich wandte viel in ihrem Hause an, um mich einzurichten. Sie warf mich aber unmenschlich heraus, und alle mein angewandtes Geld und meine Einrichtungen waren dahin. Endlich warf sich der arme Herr von F** an mich. Ich glaubte daß seine Sachen gut ständen. Ich unterstützte ihn. Meine Krankheiten hatten mir die Hälfte meiner Kunden entzogen; und ich verlor auch noch die andere Hälfte, weil ich mich nur mit dem Herrn von F** beschäftigte. Ich schmeichelte mir, daß, wenn ich ihn aus der Verlegenheit zöge, ich mir Ehre erwerben, und seine Dankbarkeit mich hinlänglich entschädigen würde. Allein nichts von beiden erfolgte. Indeß habe ich mich drei Monate lang nach einer Wohnung umgesehen. Ich habe am 23sten Dec. eine gemiethet; aber seit dem Tage wird noch daran gearbeitet. Ich bin also seit einem halben Jahr ohne Haus, ohne Zimmer, und folglich ohne Arbeit. Urtheilen Sie, mein Herr, über meine Lage. Von meinem Vater kann ich nicht einen Thaler bekommen. Ist man sein ganzes Leben hindurch hartherzig gewesen, so wird man auch im achtzigsten Jahre nicht milde und großmüthig. Der vormalige General-Einnehmer

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Die mir fehlende Unterstützung, die mein Stand erfordert! – Meine Krankheit. Der Verlust meiner Kunden, welcher daraus entstanden ist. Der Verlust meiner Wohnung, wo ich mich mit vielen Kosten eingerichtet hatte. Der Verlust meiner Kunden durch die Uebernehmung der Sache des Herrn von *, worauf ich rechnete und getäuscht ward. Daß ich seit einem halben Jahre ohne Wohnung, und also gänzlich in Unthätigkeit gerathen bin.

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Nun muß ich die Sachen so stellen wie sie natürlich auf einander folgen. Siehe den Brief von da an: mein Stand ist mit Schwierigkeiten verknüpft, u. s. w. bis, ohne Haus, ohne Zimmer, und folglich ohne Arbeit.

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Ve r f o l g d e r G e d a n k e n r e i h e .

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Nun ist es aber auch Zeit, wiederum nicht zu hofnungslos zu erscheinen. Ich muß auf meinen Vater und dessen Hartherzigkeit zurückkommen. Ich muß den Umstand mit der Wohnung in sein gehöriges Licht setzen, daß der Vermiether meiner neuen Wohnung dieselbe nun erst in gehörigen Stand setzen läßt. Daß ich noch hinlängliche Meublen habe. Daß mir Praxis gewiß nicht fehlen wird. Daß es mir aber nur jetzt an dem Gelde fehlt, womit ich mich in meiner neuen Wohnung wieder einrichten muß.

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Herr D**, von dem ich gemiethet habe, hat mich warten lassen; allein er hat 4000 Livres angewandt, um mich gut einzurichten, und ich werde desto besser wohnen. Ich habe Meublen die für mich hinreichend sind. Es fehlet mir also blos an einigem Gelde, sie hinbringen zu lassen, einige Schulden zu bezahlen, die ich seit einem halben Jahre habe machen müssen, und an einigem Vorschusse, um mein Kabinet zu eröfnen und so lange zu leben, bis ich wieder Praxis habe, die gewiß nicht ausbleiben wird. Ich habe immer sagen hören, mein Herr, daß es den Unglücklichen erlaubt sey, sich ein wenig zu rühmen. Indem ich mich dieses Vorrechts bediene, das ich nur zu sehr durch meine Lage, die schrecklich ist, erlangt habe, kann ich mich rühmen, daß ich keinen von den Advokaten zu fürchten habe, die jetzt praktisiren. Habe ich Unterstützung, so fange ich gleich meine Geschäfte wieder an. Ich stehe als Advokat in gutem Ruf. In einem Jahre kann meine Praxis ansehnlich werden. Mein Vater wird mir auch endlich das hinterlassen, was er nicht mit sich nehmen kann. Bekomme ich keine Unterstützung so ist meine Wohnung mir unnütz. Ich kann nicht wieder beim Parlement erscheinen, und bin unwiederbringlich verlohren. Denn ich tauge zu nichts anderm. Ich will mich mit meiner Frau verbürgen. Ich will selbst Wechsel ausstellen; wenn man mir dazu die nöthige Zeitfrist erlaubet. Werden Sie, mein Herr, mich verlassen? Werden Sie die Freundschaft vergessen, die Sie vormals für mich gehabt haben? Ich bin einer ihrer ältesten Diener. Der Vertheidiger Oedips muß nicht im Elende mitten unter den schönsten Hofnungen umkommen. Er braucht nur ein wenig geholfen zu werden: Sie werden sich einen Advokaten machen, und wenn er gut wird, so ist die Handlung Ihrer nicht unwerth. Bisher haben Sie so mannichfaltige Sachen in allerlei Fächern gethan, daß vielleicht Ihnen diese noch allein fehlt. Ich erwarte alles von Ihnen. Die Zeiten sind schrecklich, weil keiner sich aus Talenten etwas macht. Sie allein kennen sie alle, Sie begünstigen sie. Glauben Sie, daß ich zu etwas fähig bin, so werden Sie mich sicherlich nicht verlassen. Mein Glück hängt also von dem Urtheile ab, das Sie über

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mich fällen werden. Ich erwarte Ihre Entscheidung mit Vertrauen. Ich wohne bei Hrn. Dubris, beim Palais Royal. In Erwartung, daß Sie mich in Stand setzen werden, den Hafen zu erreichen, rechne ich darauf, daß Sie mich mit einer Antwort beehren werden. Ich bin mit der größten Hochachtung u. s. w.

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Vom Unterschiede zwischen dem mündlichen und schriftlichen Ausdrucke.

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Wenn ein Brief ein bloßer Abdruck der mündlichen Rede wäre, so bedürfte es keiner besondern Anleitung dazu. Man dürfte sich nur immer in die Lage versetzen, daß man wirklich vor der Person stände, an die der Brief gerichtet ist, und dann geradezu jeden mündlichen Ausdruck niederschreiben, dessen man sich unter diesen Umständen ohngefähr bedient haben würde. Eben so pedantisch und abgeschmackt aber, wie es klingen würde, wenn man z. B. ein mündliches Gesuch in Form eines Briefs anbringen wollte; so ungereimt würde es wiederum seyn, wenn man sich in einem Briefe der kürzern abgebrochenern und nachläßigern Wendungen bedienen wollte, die man sich im mündlichen Ausdruck erlauben muß, wenn der Vortrag nicht unnatürlich, gezwungen und ausstudiert, oder wie auswendig gelernt klingen soll. Zwischen dem niedergeschriebenen und mündlichen Ausdrucke im gemeinen Leben findet überhaupt ein wesentlicher Unterschied statt, der sich vorzüglich darauf gründet, daß die Schrift fest und bleibend ist, die mündliche Rede aber gewissermaßen noch schwankend und unbestimmt bleibt. Das Wort von den Lippen wird von dem Hauche der Luft verweht; das geschriebene Wort kann sich Jahrhunderte hindurch erhalten, und was an und für sich selbst bleibend seyn soll, darauf wird immer mehr Fleiß verwandt, als auf dasjenige was nur von kurzer Dauer ist, oder keinen Werth mehr behält, wenn es seinen Zweck erreicht hat.

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Gut geschriebene Briefe bewahrt man auf, wenn die Personen, die sie geschrieben haben, schon längst verstorben sind, und uns gar nichts angehen. Wir interessiren uns hier blos für die gute Schreibart; das heißt: für die schöne Ordnung der Gedanken, die in solchen Briefen herrscht, wenn auch der Inhalt weiter gar kein Interesse für uns hätte. Man kann sagen, daß die gewöhnliche mündliche Rede unmittelbarer Ausdruck der Gedanken sey, dahingegen bei demjenigen, was man niederschreibt, gleichsam ein mittelbarer Ausdruck der Gedanken statt findet, indem man nicht nur auf den Gedanken, sondern auf den Ausdruck desselben zu gleicher Zeit denkt; oder vielmehr den Gedanken schon voraussetzt, und seine vorzügliche Aufmerksamkeit auf den Ausdruck desselben richtet. Daher müssen bei dem, was man mit A b s i c h t niederschreiben will, die Gedanken vorher schon geordnet seyn, damit man nun Zeit hat, auf den Ausdruck selbst wieder zu denken. Freilich gewinnt der Gedanke auch wieder durch den Ausdruck an Deutlichkeit, und jede Stylübung ist daher auch eine Uebung im Denken; man kann auch die Worte nie besser stellen, ohne zugleich die Gedanken besser zu ordnen. So wie man durch jede richtige Wahl des Worts für einen Gedanken, auch den Gedanken selbst lebhafter macht. Ueberhaupt ist es schwer zu bestimmen, was zwischen Ausdruck und Gedanken für eine Grenzlinie sey, weil man sich eins ohne das andre nicht wohl vorstellen kann.

Vierte Vorlesung. Von dem Unterschiede zwischen Wort und Sache. 30

Ich verstehe von dem, was ich höre oder lese, nur die Worte, das heißt, ich weiß, was jedes einzelne Wort bedeutet. –

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Ich verstehe die Sache, das heißt, ich weiß, was alle Worte zusammengenommen bedeuten. Sobald ich die Sache verstehe, brauche ich mich der einzelnen Worte gar nicht besonders mehr zu erinnern. – In dieser Abhandlung z. B. ist die Rede vom Styl als S a c h e , nicht als Wort, betrachtet. – Indem ich nun anfange über diesen Gegenstand nachzudenken, stelle ich mir den Ausdruck der Gedanken, in Ansehung des Nützlichen, aus dem höchsten Gesichtspunkte der Vervoll-kommung des menschlichen Geistes, u. s. w. vor; auf die Weise suche ich mich selber für diese Materie zu i n t e r e s s i r e n , und meine Aufmerksamkeit von dem Worte auf die Sache zu lenken. Indem ich nun das, was andre über diese Materie schon gedacht haben, mir zuerst vorstelle, lese ich von Figuren, von geründeten Perioden, vom Wohlklange, u. s. w. und finde eine Menge von Regeln zusammengestellt, die man unmöglich so schnell wie man sie beim Schreiben brauchen würde, mit dem Gedächtniß durchlaufen kann. Wenn also dieß alles brauchbar werden soll, so muß es nothwendig auf einen einzigen leicht zu fassenden Gedanken zurückgeführt werden, den ich mir beim Schreiben, ohnbeschadet meiner Aufmerksamkeit auf die Sache immer vergegenwärtigen kann. Ist nun die Frage: was wird zu einer guten Schreibart erfordert? und ich antworte: richtige Wahl und Stellung der Worte, – Wohlklang des Perioden, u. s. w. so verwechsele ich die Folge mit der Ursach. Die richtige Wahl und Stellung der Worte wird nicht zu der guten Schreibart erfordert, sondern macht selbst die gute Schreibart aus. Was zu einer guten Schreibart nothwendig erfordert wird, ist: Die richtigste und lebhafteste Vorstellung von der Sache selbst, worüber ich schreibe, mit dem Bestreben, d e n H a u p t g e d a n k e n in sein hellstes Licht zu stellen. Aus diesem Bestreben erfolgt die richtige Wahl und Stellung der Worte, Ründung der Perioden, u. s. w. von selber. – Damit nun aber das Bestreben den Hauptgedanken in sein hellstes Licht zu stellen, zu der Beförderung einer guten und schönen Schreibart wirksam werde,

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muß die Entwickelung der Sache, worüber ich schreibe, nicht allein ein Gegenstand meines Nachdenkens sondern auch meines Wu n s c h e s werden, ich muß mich dafür interessiren. Wenn dieß aber geschehen soll, so muß ich das Fremde, was über diese Materie gedacht ist, nicht bloß mit dem Gedächtniß und der Einbildungskraft auffassen, sondern es mir durch die Urtheilskraft selber zu eigen machen. Im Anfange ist also der Nahme der Sache gleichsam nur der Stift, woran sich unsere Ideen festhalten, indem wir uns alles das, was man mit diesen Nahmen verbindet, lebhaft vorstellen, und untersuchen, in wie fern die Begriffe davon mit einander übereinstimmen, oder sich einander aufheben und zerstören. – Das Wort deutet also die Sache nur an, deren Begrif oder eigentlicher Umfang durch das Nachdenken darüber erst ausgemacht werden soll. Es kann über eine Sache schon lange gedacht seyn, ohne daß deswegen der Begriff davon erschöpft wäre. Denn das Nachdenken über eine Sache zieht erst die zu ihr gehörigen Begriffe herbei, und füllt allmälig die Lücken aus, welche in dem Umfange unserer Vorstellungen von dieser Sache, noch vorhanden sind. Die Worte sind nur die Veranlaßung zum weitern Denken, und nicht das Ziel desselben. Und wenn Worte in Gedanken verwandelt werden sollen, so muß die Aufmerksamkeit der Seele durch das Wort nur die R i c h t u n g auf den Gegenstand erhalten, der dadurch angedeutet wird, und sich nicht um das Wort selber drehen. Ein anders ist es, wenn z. B. in grammatischer Rücksicht von dem Worte S t y l seiner Entstehung, Abstammung, Gebrauch, u. s. w. die Rede wäre. Alsdann steht die Sache selbst im Hintergrunde der Aufmerksamkeit, und das Wort an sich ist gewissermaßen zur Sache geworden. Um von den bloßen Worten zur Sache zu kommen, muß ich alles, was ich über irgend einen Gegenstand weiß oder gelesen habe, und was meine Einbildungskraft noch dazu herbeiführt, mir so lebhaft und in einem so kurzen Zeitraume wie möglich vorzustellen suchen. Dadurch wird meine Denkkraft rege, und sucht die Lücken auszu-

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füllen, indem der Begriff welcher auf die Weise in der Seele entsteht eine Art von Bildung oder O r g a n i s a t i o n erhält. Denn die Urtheilskraft duldet die Ideen nicht lange a l s g l e i c h g ü l t i g neben einander, sondern sucht sehr bald die wichtigsten herauszuheben, indem sie gleichsam in der Geschwindigkeit mit allen den Versuch macht, bis sie auf diejenige trift an welche sich die übrigen am leichtesten und bequemsten knüpfen, ohne daß eine davon abfällt. Um mit unserm Nachdenken zur Sache zu kommen, müssen wir also den ganzen Vorrath von Ideen der dazu gehört, vermittelst des Gedächtnisses, nach ihren B e s t a n d t h e i l e n , und vermittelst der Einbildungskraft nach ihrem U m f a n g e uns lebhaft vorstellen, und alsdann vermittelst der Urtheilskraft uns jeden Theil in Beziehung auf alle übrigen denken, um denjenigen herauszufinden, in welchem die meisten Beziehungen zusammentreffen, und welcher daher den schicklichsten Schlußpunkt für das Ganze macht. Es kömmt also freilich darauf an, daß man im Stande sey, z u g l e i c h e r Z e i t seine Aufmerksamkeit auf einen Theil zu richten, und doch das Ganze dabei nicht aus den Augen zu verlieren, welches geschieht, wenn die Denkkraft zu eingeschränkt, oder das Ganze zu groß und unübersehbar ist, als daß es von irgend einer Denkkraft leicht umfaßt werden könnte. Wenn das Ganze, das wir überschauen wollen, für unsere Denkkraft zu groß ist, so werden wir, indem wir den rechten Gesichtspunkt dafür suchen, immer hin und her schwanken, indem wir auf der einen oder andern Seite, die Sache nicht übersehen. Ein Mittel giebt es freilich, um eine große Sache zu übersehen, wenn man sich nehmlich weit genug davon abstellt; dann ist es aber wiederum schwer, die Theile gehörig zu unterscheiden, und dieß ist alsdann ein neues Hinderniß, den Gesichtspunkt auszufinden. Wir müssen also prüfen wie viel unser Gedächtniß zusammenfassen kann, ohne von dem einmal aufgefaßten etwas wieder fallen zu lassen. Denn es hilft uns nichts, wenn wir auch alle Materialien zu einer Sache niedergeschrieben vor uns liegen haben, sobald unser

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Gedächtniß nicht im Stande ist, das Niedergeschriebene, beim Lesen selbst zusammen zu fassen. Es ist daher eine gute Prüfung der Anlage zum Denken, wenn man jemanden etwas lesen läßt, und Achtung giebt, w i e l a n g e er fortlesen kann, ohne das erste vergessen zu haben, oder den Faden zu verlieren, auf welchen die Folge der Vorstellungen sich reihen muß. Man kann zwar nicht eher über eine Sache urtheilen, bis man erst mit dem Gedächtniß und der Einbildungskraft seinen Gegenstand völlig umfaßt hat. – So lange man aber die Sache nur noch b l o ß mit dem Gedächtniß und der Einbildungskraft gefaßt hat, wird man nicht im Stande seyn, ü b e r dieselbe etwas zu sagen oder zu schreiben, sondern was man davon sagt oder schreibt, wird immer nur eine bloße Wiederhohlung der Materialien selber seyn, die man vorgefunden hat, welches der Fall bei einer großen Anzahl von Schriftstellern ist, die dem Titel ihrer Schriften nach, ü b e r eine Sache schreiben, in der That aber nur dasselbe wieder niedergeschrieben haben, was im Einzelnen schon davon vorhanden war, ohne daß sie durch wirksame Urtheilskraft sich ihren Stoff zu eigen gemacht hätten. Um uns in Stand zu setzen, über eine Sache zu urtheilen, muß das Gedächtniß alles in Bereitschaft halten, was zur Sache gehört, ohne irgend einen Umstand aus der Acht zu lassen, und die Einbildungskraft muß alles, was das Gedächtniß umfaßt, uns vergegenwärtigen. Die Theile, woraus das Ganze besteht, müssen sich nun einander gehörig unterordnen; bei einigen wird das Ganze mehr zufällig, bei andern nothwendiger, und bei der Hauptsache am nothwendigsten gedacht; diesen Unterschied zu bestimmen ist eben das Geschäft der Urtheilskraft, denn die Einbildungskraft trift in der Vergesellschaftung der Ideen keine eigentliche Wahl und Ordnung. Nach den Gesetzen der Einbildungskraft findet sich dasjenige, was man sich einmal zusammengedacht hat, immer wieder zusammen, es mag nun zur Sache gehören oder nicht. Daher sind eben die überflüssigen Formeln in dem Kanzlei- und Kurialstyle entstanden, weil man darin lange Zeit hindurch, nicht sowohl mit der Urtheilskraft,

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als vielmehr bloß mit der Einbildungskraft und dem Gedächtniß zu Werke ging, und das was einmal durch Zufall zusammen gekommen war, eine Art von Unzertrennlichkeit erhielt, die es in jeden Zusammenhang mit einführte, es mochte nun hinein gehören oder nicht. Die sich selbst gelassene Einbildungskraft heftet sich auf nichts Einzelnes, sondern schweift umher. Die Urtheilskraft aber geht Schritt vor Schritt, oder nach der Reihe, alles einzeln durch, und unterscheidet sorgfältig die bloßen einzelnen Ideen oder T h e i l e eines Begriffes, von dem v o l l s t ä n d i g e n Begriffe, oder der Sache selber. Erst mit der Ueberzeugung von der Vo l l s t ä n d i g k e i t des Begriffes, thut sie den Ausspruch: dies ist nun die Sache! Hier gehen die bloßen Ideen wieder in die Wirklichkeit über; die Urtheilskraft faßt hier festen Fuß; und Einbildungskraft und Gedächtniß werden nun gewissermaßen ihrer Dienste entlassen, weil die Sache einmal mit dem Ve r s t a n d e gefaßt ist. Ich verstehe die Sache heißt also, ich brauche sie nicht mehr auswendig zu wissen, oder sie an bestimmte Worte zu knüpfen, um sie im Gedächtniß zu behalten. Wenn man daher zu sehr auf die bloßen Materialien seine Aufmerksamkeit richtet, so ist man in Gefahr, den U m f a n g , in welchen sie gehören, aus dem Gesichte zu verlieren. – Die Einbildungskraft schweift von einem aufs andere, und das Einzelne fügt sich nicht in einander, denn für die Theile eines Ganzen, das wir nicht übersehen können, giebt es auch für uns keinen Vereinigungspunkt. Entfernen wir aber, um das Ganze desto besser zu übersehen, unsere Aufmerksamkeit zu sehr von dem Einzelnen so bleibt uns am Ende nichts, als das leere Wort, welches den Umfang, der Sache bloß von aussen her, so wie der Rahmen das Bild, bezeichnet. Zum deutlichen und richtigen Denken aber wird erfordert, daß der Umfang einer Sache nicht von aussen her durch das bloße Wort und dessen Erklärung, sondern v o n i n n e n durch sich selbst, bestimmt werde. – Das Wort, womit ich die Sache, worüber ich denken will, benenne, deutet dieselbe eigentlich nur an, und bestimmt ihren Umfang nur

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schwankend und ungewiß. Meine Begriffe aber von dem eigentlichen Umfange der Sache, sollen durch mein Nachdenken darüber erst bestimmt werden. Mit allem unserm Nachdenken über den Styl, z. B. und mit allen Umschreibungen, sprechen wir im Grunde nur ein und eben dasselbe Wort aus: D e r S t y l i s t – d e r S t y l . Das heißt: am Schluß unsers Nachdenkens verbinden wir erst mit dem Worte den vollständigen Begriff, den wir im Anfange nur durch das Wort andeuteten, ohne ihn selber noch gefaßt zu haben. Indem ich also über eine Sache nachdenke, gehe ich alles durch, was in dem Vorrathe meiner Ideen dazu gehört, und indem ich dieß alles auf einen Hauptgedanken zurückführe, und von diesem Hauptgedanken immer ausgehe, bildet sich der U m f a n g der Sache aus dem Mittelpunkte derselben. Ich gehe immer von der Hauptsache aus, und diese läßt mich nie weiter gehen, als bis dahin, wo ich den Faden verlieren würde, wenn ich die Grenze überschreiten wollte; ich kehre also wieder zur Hauptsache zurück, und gehe aufs neue wieder aus. – Auf die Weise bestimmt sich nun der U m f a n g eines Gegenstandes unsers Denkens auf dem Punkte, wo die Hauptsache wäre vergessen worden, wenn wir noch weiter zu ir-gend einer Nebensache davon abschweifen wollten. In so fern der Gegenstand meines Nachdenkens kein Punkt sondern ein U m f a n g ist, kann ich mich ihm nicht auf einmal, sondern nur allmälig nähern. Je öfter ich also von der Hauptsache zu den umliegenden Nebensachen den Weg gemacht, mich durch alle Punkte des Umfanges durchbewegt, und diesen Umfang mit meinen Ideen selbst beschrieben habe, desto mehr habe ich mich der Sache selbst, das ist, i h r e m g a n z e n U m f a n g e , genähert. Jede der Nebensachen aber, worauf ich verweile, giebt meiner Denkkraft eine erneuerte Richtung auf die Hauptsache; wenn ich nun alle diese Richtungen durchgegangen bin, so habe ich erst den Gegenstand meines Denkens erschöpft.

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Sich mit seinem Nachdenken der Sache nähern, heißt also; sich der Vo l l s t ä n d i g k e i t des Begriffes nähern. Denn der v o l l s t ä n d i g e Begriff von der Sache, das ist, die Hauptsache mit allen, mit ihr verknüpften Nebensachen zusammengenommen, ist erst die Sache selber. Wer nun sein Hauptaugenmerk auf die S a c h e richtet, sucht gewiß so viel wie möglich die Worte zu ersparen; und eben durch diese weise Ersparung der Worte, indem wo möglich keine Silbe mehr gesetzt wird, als nöthig ist, um auf den Hauptgedanken das stärkste Licht zu werfen, bildet sich der Ausdruck schön. – Denn alles Zufällige, wovon wir den Grund nicht einsehen, warum es sich in irgend einem Zusammenhange befindet, beschäftiget die Thätigkeit unsrer Seele nicht, und hat für uns keinen Reiz. – Das N o t h w e n d i g e aber, wovon uns der Zweck und die Absicht einleuchtend ist, ergötzt und erfreuet uns, wenn wir es bemerken. Daher gereicht schon das bloße Hinwegnehmen alles Ueberflüssigen an und für sich selber zur Verschönerung eines Gegenstandes, und dieß gilt auch in Ansehung der Worte, bei denen schon die Hinweglassung alles Ueberflüssigen selber zur Schönheit wird. In den Worten an und für sich selber findet eigentlich nie ein Mißlaut statt, als in so fern die Gedankenfolge selber dadurch gestört, oder die Aufmerksamkeit auf den Hauptgegenstand gehindert wird. Dieß kann aber schon durch den bloßen Ueberfluß der Silben in irgend einem Wort geschehen, durch welches nur eine sehr untergeordnete Idee bezeichnet werden soll, auf der die Aufmerksamkeit, a u c h d e r Z e i t n a c h , nicht zu lange verweilen darf, wenn sie ihr Ziel nicht aus den Augen verlieren will. Man schließt daher einen Perioden nicht sowohl bloß des Ohrs, als vielmehr des Verstandes wegen, gerne mit einem vielsilbigten Worte; weil sich die Denkkraft dadurch gleichsam zu einem neuen Ansatze vorbereitet, indem sie auf der vorhergehenden Schlußidee mit Wohlgefallen ausruhet. Die Vielheit der Worte aber entsteht eben daher, wenn das Gedächtniß und die Einbildungskraft zu wirksam sind; denn die Urtheilskraft thut ihren Ausspruch gern mit wenigen Worten.

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Das Gedächtniß braucht viele Worte, weil es die Materialien zum Denken enthält, die alle besonders bezeichnet werden sollen. Die Einbildungskraft kann sich ebenfalls nicht kurz fassen, weil sie nicht auswählt, sondern vielmehr die ähnlichen Ideen so wie sie nebeneinander liegen, ohne Unterschied, herbeizieht. So lange wir daher noch zu viele Worte brauchen, schreiben wir immer noch bloß mit der Einbildungskraft, und dem Gedächtniß. – Wir erinnern uns bloß, und stellen Ideen neben einander, ohne eigentlich zu urtheilen. Nun bildet sich aber aus dem bloßen Erinnern und Nebeneinanderstellen der Ideen etwas dem Urtheil ähnliches. Man läßt nehmlich bloß die Einbildungskraft würken und aus dem Gedächtnißvorrath die verwandten Ideen herbeiziehen, deren bloße Nebeneinanderstellung man nun, wegen der zufälligen Aehnlichkeit die unter ihnen herrscht, für eine Art von n o t h w e n d i g e r Verbindung hält, und sich auf die Weise einbilden kann, über eine Sache wirklich g e d a c h t zu haben, worüber man bloß geredet oder geschrieben hat. Einbildungskraft und Gedächtniß aber pflegen sehr häufig im Handeln sowohl als im Reden und Schreiben die Stelle der Urtheilskraft einzunehmen, woher es denn auch kömmt, daß man so sehr am Alten und Hergebrachten klebt, wobei die bloße Erinnerung und eine gewisse Verwandschaft oder Vergesellschaftung der Ideen hinlänglich ist, um in dem gewohnten Gleise fortzugehen und die Denkkraft selber jede Anstrengung ersparen, und sich ganz ruhig verhalten kann.

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Prosodie und Stilistik

Fünfte Vorlesung Von der Vermeidung des Zweideutigen im Ausdruck.

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Schon in dem Bau unsrer Sprache, liegen mancherlei Veranlaßungen zu Zweideutigkeiten, worauf man im Schreiben vorzüglich seine Aufmerksamkeit richten muß, um sich nicht zu einem dunkeln und irre führenden Ausdruck verleiten zu lassen. Denn weil man selber immer schon weiß, wovon die Rede ist, so täuscht man sich gar leicht, indem man sich nicht in die Stelle des Lesenden versetzt, sondern die Gewißheit seines eigenen Urtheils ihm unterschiebt. Insbesondre kann dieß in den Fällen statt finden, wo der Nominativ und Akusativ nicht unterschieden sind, als: d i e F r a u siehet die Schwester, die Schwester, siehet d i e F r a u , d a s K i n d ruft das Lamm, das Lamm ruft d a s K i n d , S i e hat die Frau gefragt, die Frau hat s i e gefragt. Aber auch durch die B e z i e h u n g s w ö r t e r können sehr leicht Zweideutigkeiten veranlaßt werden, wenn dasjenige, worauf sie sich beziehen sollen, nicht gehörig herausgehoben wird, so daß eines für das andere genommen werden kann, und derjenige, der einen solchen Satz ließt, den Sinn desselben erst aus dem Zusammenhange errathen muß. Gesetzt aber auch, daß der Sinn, ohngeachtet der Zweideutigkeit, aus dem Zusammenhange schon einleuchtet, so macht die Zweideutigkeit dennoch einen Uebelstand in Ansehung des Ausdrucks, der wie eine Vernachlässigung aussieht, und eben daher tadelnswerth ist; als: »Gott hat den Menschen zu seiner Glückseligkeit geschaffen.«

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Hier ist wohl einleuchtend genug, daß s e i n e n sich auf Menschen und nicht auf Gott bezieht; demohngeachtet, ist der Ausdruck fehlerhaft, weil er auch für denjenigen verständlich seyn muß, bei dem man gar keinen von den zur Auf-klärung nöthigen Begriffen voraussetzen kann, oder vielmehr weil der Ausdruck immer den Gedanken und nie der Gedanke den Ausdruck erklären soll. Die folgenden Beispiele von Zweideutigkeiten im Ausdruck werden dies noch mehr ins Licht setzen.

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Beispiele 10

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von Zweideutigkeiten. Z e r s t r e u t – wird im eigentlichen, oder uneigentlichen Sinne gebraucht; es heißt entweder – nicht an einem Orte sondern hin und her zerstreut seyn – oder, mit seinen Gedanken beschäftigt seyn. »Die Gesellschaft war so z e r s t r e u t , daß mein Vortrag kein Gehör finden konnte.« War die Gesellschaft nicht beisammen auf einem Fleck? oder war sie mit fremden Gedanken beschäftigt? – Der Ausdruck z e r s t r e u t darf hier nicht gebraucht werden, weil er sowohl im eigentli-chen, als im uneigentlichen Sinne genommen werden kann. Ein einzelner kann nur in seinen Gedanken zerstreut, oder mit seinen Gedanken abwesend seyn; eine Gesellschaft aber kann auch im eigentlichen Sinne zerstreut oder von einander abgesondert seyn; Es muß also entweder heißen: Die Gesellschaft war so zertheilt, u. s. w. oder: Die Gesellschaft war so sehr mit andern Gedanken beschäftigt, u. s. w.

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Prosodie und Stilistik

g e w i s s e Mittel, kann heißen: zuverläßige, untrügliche, Mittel oder auch: solche Mittel die ich jezt gerade nicht nennen will oder nicht nennen darf – Wenn ich also mündlich sage: »ich habe gewisse Mittel in Händen.« so kann ich durch den Ton der Stimme schon den Sinn von dem Ausdruck g e w i s s e bezeichnen. setze ich den Ton auf g e w i s s e , so heißt das so viel, als: zuverläßige, untrügliche Mittel, setze ich aber den Ton auf Mittel, so sagt g e w i s s e weiter nichts, als solche Mittel, die ich jezt gerade nicht nennen will, oder nicht nennen darf. Im Schreiben aber muß ich mich des zweideutigen Ausdrucks ganz enthalten, und z. B. setzen: »ich habe untrügliche Mittel in Händen.« oder: »ich habe Mittel in Händen, die ich jetzt nicht nennen will, oder nicht nennen darf.« eine Sache ü b e r s e h e n , kann heißen, eine Sache aus der Acht lassen, und kann auch heißen, eine Sache überblicken, oder sich eine Uebersicht davon verschaffen: Wenn ich also sage: »ich habe Ihren Entwurf ü b e r s e h e n . « so ist die Zweideutigkeit unvermeidlich. heißt es aber: »ich habe Ihren Entwurf v o r l ä u f i g übersehen,« so findet die Zweideutigkeit schon so leicht nicht mehr statt. Wenn es heißt: »Von dem Thurme oder von dem Berge kann man die ganze Stadt übersehen«

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so findet gar keine Zweideutigkeit statt; denn unmöglich kann man hier mit ü b e r s e h e n den Begriff von a u s d e r A c h t l a s s e n verknüpfen. Wenn es heißt: »Ich habe diesen einen Punkt übersehen« so wird man mit ü b e r s e h e n sogleich den Begriff von a u s d e r A c h t l a s s e n verknüpfen, weil bei einem einzelnen Punkte keine U e b e r s i c h t statt findet. Man sieht aus diesen Beispielen; wo man die zweideutigen Worte, unbeschadet der Deutlichkeit, brauchen darf, und wo man sie vermeiden muß. In dem Gebrauch der Beziehungswörter muß man sehr aufmerksam und behutsam seyn, um Zweideutigkeiten zu vermeiden. »Ihr Freund hat seinem Vater gemeldet, daß s e i n Bruder am Rande des Grabes steht, und daß er von seiner Standhaftigkeit alles hofft.« Hier ist eine doppelte Zweideutigkeit. Ist s e i n B r u d e r der Bruder des Vaters oder der Bruder des Freundes? Ist s e i n e S t a n d h a f t i g k e i t die Standhaftigkeit des Bruders, oder die Standhaftigkeit des Vaters? Ist s e i n B r u d e r der Bruder des Freundes, und s e i n e S t a n d h a f t i g k e i t die Standhaftigkeit des Vaters, so müßte es etwa heißen: »Der Bruder ihres Freundes steht am Rande des Grabes – dieß hat der Letztere seinem Vater gemeldet, von dessen Standhaftigkeit er alles hofft.« – In dem folgenden Beispiele, kann die Zweideutigkeit durch eine sehr kleine Umänderung vermieden werden. »Er that alles an seinem kranken Freunde was nur irgend zu seinem Vergnügen gereichen konnte.«

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Prosodie und Stilistik

Die Frage ist: zu seinem eigenen oder zu des Freundes Vergnügen? heißt es nun: »Er that alles an seinem Freunde, was nur irgend zu d e s s e n Vergnügen gereichen konnte.« so ist auf einmal die Zweideutigkeit vermieden. Wenn es heißt: »Er schrieb seinem Bevollmächtigten, er habe mit seinem Bruder gesprochen.« so weiß man nicht, ob von dem Bruder des Bevollmächtigten oder von dem Bruder des Schreibenden die Rede ist? heißt es aber: »Er schrieb seinem Bevollmächtigten, er habe mit d e s s e n Bruder gesprochen.« so findet keine Zweideutigkeit mehr statt. Ist aber von dem Bruder des Schreibenden die Rede, so muß man den ganzen Satz lieber anders wenden, als etwa: »Da er mit seinem Bruder gesprochen hatte, gab er dem Bevollmächtigten, dem er sich anvertraut hatte, sogleich hiervon Nachricht.«

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Wenn es heißt: »Der Sohn meines Freundes, von dem ich Ihnen vor kurzem schrieb« so weiß man nicht, ob ich von dem Sohne oder von dem Freunde geschrieben habe – Habe ich von dem Sohne geschrieben, so setze ich lieber: »meines Freundes Sohn, von dem ich Ihnen vor kurzem schrieb.« Habe ich von dem Freunde geschrieben, so gebe ich lieber dem Satze eine andere Wendung, und sage etwa: »Ich habe Ihnen vor kurzem von meinem Freunde geschrieben, dessen Sohn, u. s. w.«

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»Er hat das Gemählde gezeichnet, und seine Frau in Kupfer gestochen.« anstatt »Er hat das Gemählde gezeichnet, und seine Frau h a t e s in Kupfer gestochen.« Im erstern Falle würde dies so viel heißen, als, der Zeichner des Gemähldes habe auch seine Frau in Kupfer gestochen.

»Die Schönheit, die die Tugend ehrt.« Wird die Schönheit von der Tugend, oder die Tugend von der Schönheit geehrt? – Man muß um die Zweideutigkeit zu vermeiden, dem Satze eine ganz andere Wendung geben, als etwa: »die Schönheit, der die Tugend huldigt,« oder: »die Tugend, der die Schönheit huldigt« so findet keine Zweideutigkeit mehr statt.

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»Er beschrieb die Gegend sehr reitzend.« Ist die Gegend oder die Beschreibung reitzend? – Ist die Gegend reitzend, so müßte es etwa heißen: »er beschrieb die Gegend als vorzüglich reitzend.« Ist die Beschreibung reitzend so mußte es heißen: »er beschrieb auf eine reizende Art die Gegend.« Wenn es heißt: »Sie können mich nicht beleidigen.« so kömmt alles auf den Ton an, womit diese Worte gesagt werden. Im sanften Tone gesagt, bedeuten sie, daß ich zu sehr jemandes Freund bin, als daß ich von ihm beleidigt werden könnte. Im unsanften Tone gesagt, bedeuten sie so viel, als: »Ihre Beleidigungen verachte ich.«

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Prosodie und Stilistik

Noch die folgenden Beispiele des Zweideutigen verdienen hier bemerkt zu werden. Geßner. »Menalkas trieb die Kühe brüllend durch den bethauten Hein.« Der Ausdruck läßt hier unentschieden, ob Menalkas brüllte, oder ob die Kühe brüllten?

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Geßner. »Die Heerd’ erquickt das junge Frühlingsgras.« Dies klingt, als ob das junge Frühlingsgras von der Heerde; und nicht die Heerde von dem jungen Frühlingsgrase erquickt würde. 81

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Dusch an Doris. »Wollte der Himmel uns einen Wunsch gewähren, so sollte kein Auge den Verlust des andern beweinen.« Wird dieser Ausdruck im eigentlichen Sinne genommen, so heißt er so viel, als: Wollte der Himmel uns einen Wunsch gewähren, so sollte keiner von uns e i n ä u g i g werden.

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Sechste Vorlesung

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Nebeneinanderstellung verschiedner Proben einer guten und schlechten Schreibart.

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Zwei Proben vom Geschichtsstyl. Dem G a l l i e n u s schrieb voll Unwillen das Volk all sein Ungemach zu, und der bei weitem größte Theil desselben war wirklich Folge seiner lüderlichen Sitten und nachläßigen Staatsverwaltung.

Das aufgebrachte Volk schrieb alle seine Drangsale auf Rechnung des G a l l i e n u s ; und wirklich war der größte Theil derselben die Folge der ausschweifenden Sitten und sorglosen StaatsVerwaltung dieses Fürsten.

Die erste Probe. 15

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D r a n g s a l ist besser als U n g e m a c h , wenn von den Leiden eines ganzen Volks die Rede ist. U n g e m a c h drückt mehr den kleinlichen Begriff von Unbequemlichkeit, als den großen Begriff von Volksunterdrückung aus. Das a u f g e b r a c h t e Vo l k ist besser gesagt, als d a s Vo l k v o l l U n w i l l e n . U n w i l l e n sagt, eben so wie U n g e m a c h , in dieser Verbindung zu wenig; unwillig ist man über Ungemach oder Unbequemlichkeit, aufgebracht wird ein Volk durch Drangsale und Unterdrückung. A u f R e c h n u n g s c h r e i b e n anstatt z u s c h r e i b e n drückt den Gedanken bestimmter aus, und giebt zugleich dem Perioden einen volleren Schluß. Z u s c h r e i b e n veranlaßt die Zweideutigkeit, als ob Gallienus das Ungemach selbst erlitten hätte. A u f R e c h n u n g

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Prosodie und Stilistik

s c h r e i b e n , sagt eigentlich, daß das Volk wegen seiner Drangsale den Gallienus, der Schuld daran war, zur Rechenschaft forderte. Der Periode ist äußerst schwerfällig und unbehülflich; unverhältnißmäßig lange und kurze Glieder desselben, die zum Theil nur aus ei-nem Worte bestehen, wechseln auf eine unangenehme Weise mit einander ab: Dem Gallienus schrieb voll Unwillen das Volk all sein Ungemach zu. Die zweite Probe. In der zweiten Probe hingegen besteht der Periode aus drei verhältnißmäßig zu einander passenden Gliedern: Das aufgebrachte Volk schrieb alle seine Drangsale auf Rechnung des Gallienus. Hier ist zusammengesetzt was zusammen gehört; das s c h r i e b und z u steht nicht mehr zerstückt und einzeln da, sondern ist den aufeinanderfolgenden Sätzen mit eingewebt. Was nun kömmt, ist ein Zusatz zu dem Perioden ohne welchen derselbe an sich schon vollständig gewesen wäre, aber nun noch einen Anhang erhält, der mit ihm eins ausmacht. L ü d e r l i c h e S i t t e n , in der ersten Probe ist ein unedler und unpassender Ausdruck. Man sagt: ein lüderlicher Mensch, eine lüderliche Lebensart; aber lüderliche Sitten ist schon dem Sprachgebrauch nicht gemäß. Der Ausdruck a u s s c h w e i f e n d e S i t t e n in der zweiten Probe ist sowohl edler als auch dem Gedanken anpassender. S o r g l o s e Staatsverwaltung, ist besser als n a c h l ä ß i g e Staatsverwaltung; n a c h l ä ß i g sagt in dieser Verbindung zu wenig; – des Ausdrucks n a c h l ä ß i g bedient man sich, wenn vom Mangel an Fleiß in kleinen Geschäften, s o r g l o s aber, wenn vom Mangel an Aufmerksamkeit in wichtigen Geschäften die Rede ist.

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In der ersten Probe macht d e s s e l b e n eine Zweideutigkeit, weil es, der grammatischen Bedeutung nach, sowohl auf U n g e m a c h als auf Volk gezogen werden könnte. In der zweiten Probe hingegen kann das d e r s e l b e n nur auf D r a n g s a l e gezogen werden. »war wirklich Folge s e i n e r lüderlichen Sitten, u. s. w.« Der bloßen grammatischen Bedeutung nach kann s e i n e ebenfalls sowohl auf das Volk als den Fürsten bezogen werden. Wenn sich nun gleich die wahre Bedeutung aus dem Zusammenhange leicht errathen läßt, so macht doch eben dieß e r r a t h e n m ü s s e n beim Lesen schon einen widrigen Eindruck. Daher ist in der zweiten Probe statt s e i n e r , d i e s e s F ü r s t e n , gesetzt, wodurch aller Anschein von Zweideutigkeit gehoben, und der Ausdruck schöner und bestimmter wird. Hierzu kömmt noch, daß durch diesen Zusatz der Schluß des Perioden selbst vollständiger, und der Periode mehr geründet wird, als in der ersten Probe. Schluß des Perioden in der ersten Probe. »Folge seiner lüderlichen Sitten und nachläßigen Staatsverwaltung.«

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Schluß des Perioden in der zweiten Probe. »Die Folge der ausschweifenden Sitten und sorglosen Staatsverwaltung dieses Fürsten.«

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Prosodie und Stilistik

Probe einer gesuchten und gezwungnen Schreibart im belehrenden Vortrage. Aus einem Buche das den folgenden Titel führt:

Joseph. Prophetisches Symbol von Jesus, dem Nazarenser, König der Juden. Ein Buch zum Genuß für denkende Christen von Kultur und poetischem Gefühl. Vo n J o h . J a k . S t o l z , P r e d i g e r i n B r e m e n .

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»Ich habe schon einigemal das mir Bedeutungsvolle Wort Pressentiment gebraucht. – Ich verstehe unter Pressentiment ein höchst lebhaftes, inniges, zuverläßiges Gefühl, oder eine lebendige Intuition gewisser, abwesender oder zukünftiger Dinge, welche die Sinne des äußern Menschen nicht berühren, durch körperliche Organe nicht empfunden, und durch keine der gewöhnlichen Operationen der Seelenkräfte erkannt werden können. Ein geringerer schwächerer Grad von Pressentiment ist Ahndung. Ein sehr hoher Grad von Pressentiment ist Vision, da die Seele das Abwe-sende oder Zukünftige so lebendig, bestimmt und detaillirt vor sich sieht, wie wenn es würklich körperlich gegenwärtig wäre. Der Mensch als das Gott verwandteste Wesen, das nach dem Bilde Gottes geschaffen ist, enthält vielleicht die Quintessenz des ganzen Universums. Er ist vielleicht ein Extrakt und Einbegriff alles dessen, was in der sichtbaren und unsichtbaren Welt existiert, hat von allem etwas homogenes in seiner Natur. Und so ließe es sich denken, daß das ganze Universum auf ihn einfließen könnte. Gewiß ist dieß wenigstens dem, der das Zeugniß der heiligen Schrift für wahr hält, daß der Mensch ein Organ für die Einwirkungen der unsichtbaren, höhern Geisterwelt ist; diese Verbindung und Homogenität der menschlichen Natur mit dem Universum wär ich geneigt, für die Hauptquelle oder den Urgrund der Pressentiments zu halten. Allein so wie zu allen Einwürkungen körperlicher Gegenstände auf körperliche Organe, intellektueller Gegenstände auf intellektuelle

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Organe, moralischer Gegenstände auf moralische Organe, gewisse vereinigende Elemente oder vermittelnde Wesen nöthig sind, welche die Einwirkungen veranstalten, anbahnen, erleichtern, leiten, bestimmen, so ist dieses wahrscheinlich auch beim Pressentiment nöthig. Höhere unsichtbare Wesen sind vermuthlich die Mittelspersonen, durch deren Berührung das Pressentiment gewirkt, oder doch angebahnt, erleichtert, geleitet und bestimmt wird. Abwesende oder z u k ü n f t i g e Dinge, die durch keine gewöhnliche Operation der Seele erkennbar sind werden etwa durch Engel in ein s o l c h e s Ve r h ä l t n i ß – und die Seele des Menschen in eine solche Lage und Stimmung gesetzt, daß Pressentiment daraus werden kann. – – Nicht bei allen Menschen ist diese Kraft und Fähigkeit gleich stark, gleich entwickelt und gleich entwickelbar, sondern es gilt auch hier der allgemeine Wahrheitssatz: der Berufenen sind viele; aber wenige sind auserwählt. Eine feine, zarte, reine, mit wenigern irrdischen Theilen durchdrungene elastische Organisation hat einen ungleich größern Grad von Stärke und Entwickelungsfähigkeit des Pressentiments als eine grobe, rohe, sehr irrdische, zähe, schlaffe Organisation. Jene ist der Einwirkung abwesender und zukünftiger Dinge und des vermittelnden Einflusses höherer Geister unendlich empfänglicher als diese, deren mit abwesenden und zukünftigen Dingen, und mit höhern Geistern korrespondirende Organe von einer harten, undurchdringlichen Kruste bedeckt scheinen.« u. s. w. Man siehet, der Verfasser will etwas Auffallendes und Besonders sagen, und drehet sich daher in diesem ganzen Aufsatze um ein Wort (Pressentiment) wobei er sich selber eigentlich nichts deutlich denkt, und daher einen Aufwand von vielen andern Worten macht, die er zusammenhäuft, damit es den Anschein habe, als ob er das Hauptwort dadurch wirklich erkläre. Das Pressentiment wird g e w i r k t , oder doch a n g e b a h n e t , e r l e i c h t e r t , g e l e i t e t oder b e s t i m m t ; welch eine Menge nichtssagender Ausdrücke, wovon einer den andern wieder aufhebt; denn wenn das Pressentiment b e s t i m m t wird, wird es ja nicht bloß g e l e i t e t oder a n g e b a h n e t .

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Prosodie und Stilistik

Auch siehet man offenbar, wie der Verfasser unter den f r e m d e n Ausdrücken, deren er sich so häufig ganz ohne Noth bedient, die Unbestimmtheit seiner Ideen zu verstecken sucht. Das ausländische P r e s s e n t i m e n t verstattet den leeren Worten einen freiern Spielraum, als das deutsche Vo r g e f ü h l , welches gleich anfänglich zu bestimmtern Begriffen den Ton würde angegeben haben.

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Probe einer schwülstigen Schreibart. Aus einer neuern Schrift, über das Erhabene. 10

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»Wer von dem Erhabnen schreiben will muß es oft schmecken und immer schmackhaft finden; er muß es besser kennen, als Sphärengesang, als Geister- und Elfen-Tänze, und alle die Dinge zwischen Himmel und Erde, wovon der Schwärmer und der Dichter nur weiß. Ihm muß die Natur Amme seyn, und die Einsamkeit seine Geliebte. An ihrem Busen muß er gesehn haben, wie der Nebel der Welt die Dinge verkleinert, vergrößert oder verhüllt; in ihren Umarmungen muß er gelernt haben, das Gesicht von der Maske, das Mädchen von der Schürze, die Erziehung vom Affentanz, den Kopf von der Perücke zu trennen, zu sehen die Heiligen ohne Glorie, aber auch den Narren ohne Kappen. – Vieles, was ich schrieb, ist freiwilliger Erguß einer schwärmenden Phantasie, der keine Antichambre die Flügel beschnitt, und kein tändelndes Getümmel toller Höflinge; die kein sausender Zirkel glücklicher Damen lähmte mit ihrem ewigen Frühlinge im Gesichte, die Einsamkeit stärkte und kräftiger Selbstgenuß. Alles, was ich schrieb, das spricht mein Herz und spricht es nur zu erwärmten Herzen. Und wenn dieß Buch in Vergessenheit sinkt, wenn der Sturm der Zeit meinen Nahmen verwehet u. s. w.«

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Probe einer matten poetischen Schreibart.

Brief an einen Freund. 5

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Wird er sich noch fernhin winden unser schöner Weg, Den wir gern noch lange mit einander wandern, Oder ruft uns bald der Trennung fern gewünschter Steg, Daß wir unsre Wallfahrtspfade einsam gehen sollen? Kommen wird der Scheideweg. Wir haben uns vielleicht Unsers Weges bunten Faden weit hinausgesonnen, Plötzlich steht die ernste Pflicht dann und gebeut uns nicht Uns die Hand, und ach! er war uns kürzer zugesponnen; Dann verfärbt sich unsrer Jugend morgenrother Tr a u m In des Tages ernstern, k ä l t e r e n G e s c h ä f t s g e d a n k e n . Viel der Last am Tage dann und Ruhe wird uns kaum, Wenn wir in des A l t e r s A b e n d s c h a t t e n wanken. Frage jetzt noch nicht, ob wir dann Wasser oder Wein Trinken, Brod mit Salze oder Braten essen, lachen Oder weinen werden, laß es, w i e e s s e y n soll, seyn, Und alles nur, wie wir es machen können, machen u. s. w.

Probe einer unübereinstimmenden Schreibart.

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»Der Fürst ließ ihm eine seinen Verdiensten angemessene Belohnung z u f l i e ß e n .« anstatt »Der Fürst gewährte ihm eine seinen Verdiensten angemessene Belohnung.«

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Prosodie und Stilistik

Der Ausdruck z u f l i e ß e n l a s s e n paßt nicht zu dem vorhergehenden s e i n e n Ve r d i e n s t e n a n g e m e s s e n . – Z u f l i e s s e n l a s s e n drückt eine Gnadenbezeugung aus Mitleid aus, wovon hier nicht die Rede ist.

Probe einer unbescheidnen anmaßenden und geschmacklosen Schreibart.

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»Da ich acht Sprachen studiert habe, um in deren keiner von philosophischen Dingen Uebersetzungen lesen zu dürfen; so habe ich vieles gelesen, was zur eigentlichen Bildung des Menschenverstandes gehört, was aber d e s - h a l b , w e i l m i t U e b e r s e t z u n g e n s i c h n u r solche Leute abzugeben pflegen, die aus Eifer für Deklination, Conjugation, Syntax, Etymologie etc. alles unberührt lassen, was die Erforschung der eigentlic h e n G e d a n k e n e i n e s S c h r i f t s t e l l e r s betrift – mehr als zu oft, besonders bei den Alten, gar nicht beobachtet ist.«

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Eine ähnliche Probe. Von einem jungen Arzt. N o c h v i e l Ve r d i e n s t i s t ü b r i g . A u f , h a b ’ e s n u r : d i e We l t wird’s kennen!! Ich bin dem medicinischen Publiko nicht mehr so ganz unbekannt. Man kennt mich aus einigen Abhandl u n g e n , ü b e r d e r e n We r t h i c h n i c h t e n t s c h e i d e n k a n n ; die der Hofrath Baldinger aber doch seinem bekannten Magazin einzuverleiben würdigte. Diese zeigen meh-

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rentheils den Gang und die Art meines Studii der Wissenschaften, für die ich mit solchem Enthusiasmus eingenommen bin, daß ich ein feierliches Gelübde h i e r v o r d e r g a n z e n We l t a b l e g e , n i c h t e h e r z u r u h e n , a l s b i s i c h s o v i e l z u r m e h r e r n Ve r v o l l k o m m u n g d e r Arzeneikunde beigetragen habe, als Gott mir Kräfte d e s G e i s t e s u n d K ö r p e r s v e r l e i h t , u. s. w.

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Probe eines unbehülflichen und unverständlichen Perioden.

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»So daß die Aussage derjenigen, welche behaupten, daß astronomische Träumereien, und die eben daher fließende Warnung, daß er sich vor seinen nächsten Verwandten, ja gar vor seinem eigenen Sohne hüten sollte, ihn in diesem Stücke so unentschlüssig gemacht, ungemein wahrscheinlich wird.«

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Probe einer weitschweifigen und dunklen Schreibart.

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»Wenn man es dem persönlichen Charakter F e r d i n a n d s I . und M a x i m i l i a n s I I . grossentheils zu verdanken hatte, daß es unter ihnen so ziemlich ruhig in Deutschland geblieben war: so schien jener R u d o l p h s I I . das nämliche zu gewähren. Eben so Frieden- und Ruheliebend, und noch mehr entfernt von persönlichen Religionsstreitigkeiten – schien er dazu gemacht zu seyn alles in seinem bisherigen Gleise zu erhalten.«

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Prosodie und Stilistik

Probe einer weitschweifigen und abgeschmackten Schreibart. Aus Raffs Weltgeschichte für Kinder.

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»Aengstlich nachzuforschen, wer wohl die ersten, die ältesten Einwohner Italiens gewesen, und wo sie hergekommen seyn möchten, sind Possen und Kleinigkeiten, um die wir uns nicht bekümmern können. Denn es ist sicher nie der Mühe werth, sich im Zirkel von alten Völkern, deren Entstehung und Geschichte immer dunkel und fabelhaft bleiben wird, lange herum zu drehen. Wer daher geradezu und mit Zuversicht sagen wollte: Italien ist in diesem oder jenem Jahre von K u n z oder H i n z , und der K u n z i n n oder H i n z i n n zuerst besetzt, und nach und nach bevölkert worden, der würde was Unerweisliches behaupten, und sich bei verständigen Personen lächerlich machen. Denn man weiß es schlechterdings nicht gewiß, wer diese Halbinsel zuerst besetzt habe.«

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Einzelne Probe vom bildlichen Ausdrucke.

»Das Laster im Purpur« anstatt »ein lasterhafter Fürst.« »Der melodische Wald« anstatt »der Wald, wo die Vögel singen.« »Ein froher Tag« anstatt »ein Tag, an welchem man froh ist.«

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»Das philosophische Jahrhundert« anstatt »das Jahrhundert worin die Philosophie sich ausbreitet.« »Die Sterblichen« anstatt »die Menschen«. »Er ist ein Titus« anstatt »ein gütiger Beherrscher« »Im Frühlinge wenn die Rose sich entfaltet« anstatt »Im Frühlinge, wenn die R o s e n sich entfalten.« »Tausend Herzen schlagen dem Menschenfreunde dankbar entgegen« anstatt »viele Herzen schlagen dem Menschenfreunde dankbar entgegen.«

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Proben vom kühnen und regellosen bildlichen Ausdruck.

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Zimmermann. 20

»Die Brille der Eigenliebe sitzt beinahe jeder Nation auf der Nase.«

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»Die Narrheit ist die Königin der Welt; wir alle tragen mehr oder weniger ihre Livrey, ihre Ordensbänder, ihre Ordenskreuze, und ihre Schellen.«

»Wir leben in der Dämmerung einer großen Revolution, in den Tagen einer zweiten S c h e i d u n g v o n L i c h t u n d F i n s t e r n i ß – die

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Prosodie und Stilistik

Wolken des Irrthums, und der Furcht zerstreuen sich; des langen Zwanges müde wirft man die K e t t e n der alten Vorurtheile ab, um von den verlornen Rechten der Vernunft und der Freiheit wieder Besitz zu nehmen. Das allenthalben verbreitete L i c h t , der allenthalben angewandte philosophische Geist, die daher vorhandene größere Kenntniß des Fehlerhaften in der angenom-menen Denkungsart und kurzweg das S t u r m l a u f e n auf die Vorurtheile der Zeit, zeuget eine Dreistigkeit im Denken, die oft in eine strafbare Frechheit ausartet, u. s. w.«

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»Ueber alle große Angelegenheiten des Menschen, treten Bücher an das Licht, die rührend für das Herz sind, und einleuchtend für den Verstand. Alles wird d u r c h g e b e u t e l t , alles ist in der G ä h r u n g , alles verkündigt eine Reformation in der Philosophie des gemeinen Lebens, die sich hie und da mit l a n g s a m e n S c h r i t t e n zeigt, aber auch zuweilen wie die e n t w o l k t e S o n n e auf einmal alle S c h a t ten verdrängt.«

Der bildliche Ausdruck neigt sich hier zum Komischen, der Begriff von einer ganzen Nation und die Brille der Eigenliebe, die ihr auf der Nase sitzt, macht einen lächerlichen Abstich. –

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In dem folgenden Bilde: Die Narrheit ist die Königinn der Welt etc., wird der Aus-druck bitter scherzend, weil das Bildliche mit dem Eigentlichen vermischt ist, und in einander greift. Die Narrheit wird als die Königinn der Welt und Ordensbänder und Ordenskreutze als die Beweise der Gunst geschildert, woran man ihre Lieblinge erkennt; weil nun durch wirkliche Ordensbänder und Kreuze der Eitelkeit und Thorheit so manches Opfer gebracht wird, so ist die Zusammensetzung mit L i v r e y und S c h e l l e n desto bitterer.

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Das folgende Bild steigt verhältnißmäßig – Wir leben in der D ä m m e r u n g einer großen Revolution. – In den Tagen einer zweiten S c h e i d u n g v o n L i c h t u n d F i n sterniß. Die Wo l k e n des Irrthums und der Vorurtheile z e r t h e i l e n sich. – Nun aber wird das angefangene Bild durch ein fremdartiges unterbrochen: Des langen Zwangs müde wirft man die K e t t e n der alten Vorurtheile ab, um die verlornen Rechte der Vernunft und Freiheit wieder in Besitz zu nehmen. Nach dieser Unterbrechung wird das angefangene Bild wieder fortgesetzt: Das allenthalben verbreitete L i c h t , der allenthalben angewandte philosophische Geist, die daher rührende größere Kenntniß des Fehlerhaften in der angenommenen Denkungsart – Nun kömmt wieder auf einmal ein ganz fremdartiges Bild, womit sich dieser Periode ziemlich abgebrochen schließt: Und kurz weg das S t u r m l a u f e n auf die Vorurtheile der Zeit, zeugt eine Dreistigkeit im Denken, die oft in strafbare Frechheit ausartet.

Der folgende Periode fängt mit dem eigentlichen Ausdrucke an: Ueber alle große Angelegenheiten der Menschen treten Bücher an das Licht, rührend für das Herz und einleuchtend für den Verstand. Nun wird die Sprache plötzlich, und zwar auf eine etwas auffallende und sonderbare Weise, wieder Bildniß. Alles wird d u r c h g e b e u t e l t , alles ist in der G ä h r u n g ; alles verkündigt eine Reformation in der Philosophie des gemeinen Lebens – Nun tritt wieder ein ganz fremdartiges Bild auf: die sich hie und da mit l a n g s a m e n S c h r i t t e n zeigt, –

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Prosodie und Stilistik

Nun schließt ein neues wiederum dem vorigen ganz fremdartiges Bild den Perioden: »aber auch zuweilen, wie die e n t w ö l k t e S o n n e , auf einmal allen S c h a t t e n v e r d r ä n g t .« Man siehet aus den angeführten Beispielen, wie die Bildersprache dieses Verfassers sich an keine Regeln bindet, sondern immer ihren Gegenstand verfolgend, die Vergleichungen nur im Vorbeigehen aufgreift, und, gleich einem Strom, was der Einbildungskraft zufällig in den Weg kömmt, mit sich fortreißt. –

Probe einer geordneten und regelmäßigen bildlichen Schreibart.

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Mendelssohn.

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»Hier sitze ich einsam in der Grotte, die du deinen Liebling nennst und warte auf das e r - q u i c k e n d e A u g e d e r We l t . Welch ein prächtiger E i n z u g ! mit welchem Glanze erscheinen die Vorboten der e i n z i e h e n d e n M a j e s t ä t ! und wie schön wechselt diese feurige Gestalt mit dem e r n s t h a f t e n G e s i c h t e der braunen Nacht ab! ich weiß nicht, ob ein anderer als ein Jüngling vermögend sey, alle diese Schönheit zu fühlen.« »Die Jugend gleicht einem aufgehenden Frühlingsmorgen. Alles ist belebt, ein reges Feuer dringt durch alle Nerven, und kein Wachender senkt sich vorsetzlich i n d i e A r m e des Schlafes. Die a r b e i t e n d e Natur ermuntert die Geschöpfe zum Leben und zu Beschäftigungen. Sobald aber die Nacht ihren f i n s t e r n S c h l e i e r um unsern Horizont wälzt, und die g e s c h ä f t i g e H a n d der Natur vor unsern Augen verbirgt; so siehet man den größten Haufen sich nach der Hülfe des Schlafs sehnen. Das Bewußtseyn wird ihnen eine beschwerliche Last.

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Vorlesungen über den Styl. Zweiter Theil

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Sie wünschen lieber eine Zeit lang nicht zu fühlen, daß sie sind, als das Leere zu empfinden, daß sich von der Natur auf ihre Seele a u s b r e i t e t , oder noch unglücklicher, Kummer und Sorgen in ihrer Seele h e r u m z u w ä l z e n , die mit der einbrechenden Nacht in ihr erwachen.«

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Probe einer leicht hingeworfenen Schreibart. Wieland.

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»Kein Mensch in der Welt, kann alles, was er will, es sey denn, daß er weise genug ist, nichts zu wollen, als was er kann. Eine ganze große Nation kann freylich mit vereinigten Kräften ungeheure Würkungen hervorbringen, aber denn liegt die Schwierigkeit im Wollen, oder in der Schwierigkeit ihr den Willen zu machen.« – Das ist kein geründeter, sondern ein hingeworfener Periode. Er bricht zu kurz ab, und es fehlt ihm am Ende an der gehörigen Fülle. Die einzelnen Glieder dieses Perioden nehmen ab, statt zuzunehmen. – Das erste Glied ist das längste, und läßt einen Reichthum der Rede erwarten, welche Erwartung durch die Folge nicht befriedigt wird. Man sieht aber auch aus allen wohl, daß der Verfasser hier absichtlich keine Periode bilden, sondern seine Gedanken nur hinwerfen wollte. »Eine ganze große Nation kann freilich mit vereinigten Kräften ungeheure Wirkungen hervorbringen. – D a n n a b e r liegt die Schwierigkeit im Wollen, oder in der Schwierigkeit ihr den Willen zu machen.« – Durch das d a n n hängt dieser Periode sehr schwach zusammen. – Durch ein o b g l e i c h oder z w a r wäre der Anfang an das Ende viel fester angeschlossen worden, wenn es ein ordentlicher Periode hätte seyn sollen. Es war aber dem Verfasser hier, wie schon gesagt nicht um

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Prosodie und Stilistik

die Bildung eines Perioden, sondern nur um die Aeußerung seiner Meinung zu thun, die er nicht langsam und feierlich, wie in der Büchersprache, sondern, wie in der Umgangssprache, in kurzen und schwach gebundenen Sätzen vorträgt. 5

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Probe einer ungekünstelten und natürlichen Schreibart. (Aus Werthers Leiden.)

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In den folgenden Beispielen herrscht die natürlichste Nachbildung der affektvollen mündlichen Rede, die man sich denken kann. »Du kennst den Nußbaum u. s. w.« Statt zu erzählen daß sie abgehauen sind, werden sie beschrieben: »Die herrlichen Nußbäume! die mich, Gott weiß, immer mit dem größten Seelenvergnügen erfüllten! wie vertraulich sie den Pfarrhoff machten! wie kühl, wie herrlich die Aeste waren! u. s. w.« Nun wird über die z u l e b h a f t e n Erinnerungen die Erzählung selbst beinahe vergessen: »Ich sage dir, dem Schulmeister standen die Thränen in den Augen, da wir gestern davon redeten, daß sie abgehauen worden« u. s. w. Der Aerger und Unwillen erzählt nicht gut und ordnungsmäßig – Ehe wir noch erfahren, daß die neue Pfarrerin die Bäume hat umhauen lassen, läßt der Erzähler seinen Unmuth und Verdruß gegen sie aus. »Das ganze Dorf murret, und ich hoffe, die Frau Pfarrin soll es an Butter und Eiern, und übrigem Zutrauen spüren, was für eine Wunde sie ihrem Orte gegeben hat. Denn sie ist es, u. s. w.«

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Probe einer weitschweifigen und dunklen Schreibart, mit einer Menge eingeschobner Sätze.

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»Die Hamburgische Ausgabe, die so heißt, weil Hamburg ihr Verlagsort ist, die aber auch als eine Lauenburgische, weil sie in Lauenburg gedruckt worden, angeführt wird, und die vermuthlich durch Veranstaltung und unter der Aufsicht des großen F a b r i c i u s hervorgetreten ist, die Hamburgische Ausgabe des Verzeichnisses der T h u a n i s c h e n Bibliothek hat C o l e r , wie auch J u g l e r bemerkt, als sehr fehlerhaft nachgedruckt, verdächtig machen wollen.«

Probe einer satyrischen Schreibart,

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von der niedrigern Gattung. 15

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»Ob ich, sagte der fette Mann, es meinem Amte, das ich als ordentlicher Professor und Doktor der Theologie seit vielen Jahren bekleide, oder meiner außerordentlichen Scharfsichtigkeit zuzuschreiben habe, weiß ich nicht: aber so viel weiß ich, daß beinah kein Tag vergeht, an welchem ich nicht schriftlich und mündlich, wegen brauchbarer und wohlfeiler Subjekte zur Besetzung lediger Informator- und Hofmeisterstellen, fast von ganz Deutschland angegangen würde. Ich diene meinem Nächsten gern, ich hoffe, ich kann das von mir ohne Ruhmredigkeit sagen. Es ist aber doch eine verzweifelt verdrießliche Sache, für seine Dienste nichts als unzufriedene Klagen und Vorwürfe zum Danke zu bekommen. – Die Welt wird freilich von Tag zu Tag immer klüger, und niemand kann sich darüber mehr freuen als ich; ich wünschte nur, daß sie nicht zugleich auch eigensinniger würde. Keinem Menschen kann ich es mehr recht machen, ich mag mir auch

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Mühe geben, so viel als ich will. Denn wahrhaftig! der bedachtsamste Pferdehändler kann beim Einkauf seiner Thiere kaum vorsichtiger zu Werke gehen, als ich bei der Wahl der Informatoren. Ich begucke sie jedesmal von vorne und hinten, von oben und unten; ich sehe ihnen auf den Mund, ob sie nicht etwa zu viel essen; ich probire den Rücken, ob er auch gelenkig genug ist; ich widerspreche ihnen jedes Wort, um zu bemerken, ob sie weich oder hartnäckig sind, u. s. w. Und nicht genug! nunmehr schicke ich sie erst noch in die Nebenstube zu meiner Frau, wo sie aufs neue alle Schulen durchmachen müssen. Ich will meine Frau nicht rühmen, man möchte sonst nur denken, daß ich mir auf meine kluge Wahl viel einbildete, von welcher Eitelkeit ich doch, Gottlob! weit entfernt bin; indessen muß ich ihr doch die Gerechtigkeit wiederfahren lassen, daß in der ganzen Stadt sich keine Frau besser auf alles versteht, was sich schickt und nicht schickt. Ich berufe mich desfalls auf meinen Beutel, für welchen ihre zärtlichen Begriffe von Schicklichkeit eine wahre Staupe sind; ungeachtet meiner hübschen Einnahme ist er doch immer so leer als der Beutel eines Poeten, und reicht kaum zu, d e n n o t h w e n d i g e n U e b e r f l u ß , wie sie’s nennt, zu bestreiten. – Doch ich komme vom Texte, u. s. w.«

Probe einer würdigen und edlen Schreibart, aus einem Erbauungsbuche.

»Sich Gott als einen rächenden beleidigten Gott zu denken, ist ein entehrender Gedanke. Er kann auch nicht einen Schein der Schwachheit haben. Wie können wir glauben, daß er durch unsere Fehler und Sünden beleidigt, ja gar zum Zorn und zur Rache gereizt werden könne. So wenig ein Mensch durch die kraftlose Empörung eines Wurms beleidigt werden kann, so wenig kann es Gott durch das Widerstreben eines Menschengeschlechts, das zusammengenommen nur ein Wurm in seiner unendlichen Schöpfung ist. Zorn und Rache sind

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sehr große Unvollkommenheiten. Lehrte uns Gott nicht sie zu vermeiden? gab er uns nicht das Gebot unsre Feinde zu lieben? und dieser Gott sollte des Zorns und der Rache fähig seyn! Nein, Ewiger, du kannst nicht zürnen und Rache üben, weil du über jede Unvollkommenheit und Schwachheit erhaben bist. Du siehst mitleidig auf deine Geschöpfe herab, wenn sie den Weg der Tugend verlassen, und sich ins Elend stürzen, du suchst sie durch Wohlthaten zum Nachdenken zu bringen.«

Probe des Niedrigen und Pöbelhaften im Ausdruck, aus Robert und Florinde oder das Opfer des Ehrgeizes, ein Trauerspiel von J. Cornelius. 1785.

Bianka. Unmensch! hätt’ ich dir nie eine Tochter gebohren!! Alonso. Fluch der Stunde, in der du sie mir gebahrst! Du hättest mir eben so lieb den leidigen Teufel gebohren. Bianka. Um dir eine treue Kopie von dir selbst zu liefern; nicht so? Alonso. Jezt schweige! es fängt an zu kochen. u. s. w.

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Probe des Kindischen und Spielenden im Ausdruck, aus Raffs Geographie für Kinder.

»Sechszehn Königreiche, und doch nur eilf Könige? Wie geht denn das zu? Ganz natürlich. Besinnt euch einmahl, wie es wohl zu gehen möge! Ach, nun fällt mirs bey! Es haben vielleicht einige Könige zwei Königreiche zusammen? Richtig, so ist es!«

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Probe des Gekünstelten im Ausdruck, aus Hottingers Kritik von Meiners Briefen über die Schweiz. 10

»Ein Gebirg, bloß weil es den Nahmen der Jungfrau trägt, macht den Verfasser so warm, daß er das Gebirg wirklich für eine Schöne ansieht, mit Rosenbekränzter Stirn, blendenden Busen, der von Sonnenstrahlen geküßt wird. Ziemlich lose stürzt des Herrn Professors Einbildungskraft unter dem Saum des Gewandes der gigantischen Jungfrau.«

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Probe einer fehlerhaften Parenthese.

»Wenn ich glauben darf, (doch – w a r u m s o l l t e i c h d a s n i c h t d a i c h s c h o n s o v i e l e B e w e i s e d a v o n h a b e , ) daß Sie mein Freund sind.« Der Satz ist durch die Einschiebung zu sehr zerschnitten. Man erfährt erst nach der Einschiebung wovon die Rede ist. –

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Dieß ist aber fehlerhaft, weil man erst am Ende und gleichsam zu spät erfährt, warauf man die Einschiebung beziehen soll. Das d a v o n hat gar keinen Sinn, wenn man nicht erst das folgende: »daß Sie mein Freund sind« hinzunimmt. Man sieht hieraus offenbar, daß die Einschiebung zu früh gemacht ist, und daß Sie erst nach »daß Sie mein Freund sind« stehen müßte, weil doch alsdann der eigentliche Schluß des Satzes erst folgt, als: »Wenn ich glauben darf, daß Sie mein Freund sind, (doch warum sollte ich das nicht, da ich so viele Beweise davon habe!) so, u. s. w.

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Probe von Gallizismen.

Das hat er nicht einmal a b e r (sondern) zehnmal gesagt; Er hat es nicht gethan, als um nur zu zeigen, anstatt Er hat es bloß gethan um zu zeigen. Er hat mich glauben machen, anstatt: Er hat gemacht, daß ich glaubte. Das Wetter, indem es mich verhinderte auszugehen, anstatt: Indem mich das Wetter verhinderte auszugehen. Die Ehre habend, Sie zu kennen, bin ich so frei; anstatt da ich die Ehre habe, u. s. w. Einer unserer sonst guten Uebersetzer machte einmal einen Versuch die französische Partici-pialkonstruktion der Kürze wegen in unsere Sprache einzuführen; allein diese Neuerung wurde nicht nachgeahmet, und er fand damit keinen Beifall. Auch entwickelte hier Adelung die Gründe, weswegen diese Konstruktion in dem Bau unserer Sprache nicht statt finden könne. Die Konstruktion:

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Prosodie und Stilistik

Er hat mich glauben machen, anstatt: er hat gemacht, daß ich glaubte; ist schon von einigen guten deutschen Schriftstellern gebraucht worden, und es kömmt nur darauf an, daß sie eingeführt und gangbar werde, weil sie eben mit keiner Härte verknüpft, und für den deutschen Ausdruck nicht unpassend ist.

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Weitschweifigkeit im Geschäftsstyl.

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Eine der größten Sprach- und Schreibunarten ist die Nebeneinanderstellung des fremden Ausdrucks mit seiner deutschen Uebersetzung, so daß beide Wörter, gleichsam als wenn sie zwei Begriffe bezeichneten, nicht durch o d e r sondern durch u n d verbunden werden. In dem fehlerhaften Kanzleistyl findet man auch häufig dergleichen Zusammensetzungen, als: dahin verweisen und remittiren, die Kosten kompensiren und aufheben. Diese Unart des Ausdrucks grenzt beinahe ans Kindische, wie bei einem Lehrer auf einer Universität, welcher seine Vorlesungen anhub: wir sind subsistirt und stehen geblieben, und wollen nun pergiren und fortfahren. Bei den Uebungen im Geschäftsstyl muß ein Hauptaugenmerk seyn, alles Ueberflüssige und nicht zur Sache Gehörige abzuschneiden, und sich insbesondere vor den gleich bedeutenden Ausdrücken in Acht zu nehmen. Denn die Menge der Geschäfte selbst erfordert ja die gemessenste Kürze im Ausdruck, wenn man sich die Uebersicht der Sache nicht selbst erschweren will.

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Weil in dem Geschäftsstyle die Worte von solcher Wirksamkeit sind, daß auf einem einzigen Ausdruck oft eine sehr wichtige Sache beruht, so ist freilich Bestimmtheit und Deutlich-keit eine Haupterforderniß bei dieser Gattung von schriftlichen Aufsätzen; und Zweideutigkeit und Dunkelheit müssen auf alle Weise vermieden werden. Durch das z u ä n g s t l i c h e Bestreben aber, sich deutlich und bestimmt auszudrücken, hat man sich in dem Geschäftsstyle zu mancher unnützen Wiederholung, Weitschweifigkeit und Umständlichkeit verleiten lassen. Indem man nehmlich durch mehrere gleich bedeutende Wörter einen Begriff noch deutlicher zu machen, und ihn recht vollständig zu bestimmen suchte, bewirkte man gerade das Gegentheil. –

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Vom unbestimmten Ausdruck.

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Einige Leute scheuen sich, bestimmt j a oder n e i n zu sagen: sie sind so erstaunlich höflich, daß sie um das j a oder n e i n beständig einen Umweg suchen, gleichsam als ob sie durch einen zu bestimmten Ausspruch anstoßen würden. Statt n e i n zu sagen bitten sie jedesmal um Vergebung, und statt j a zu sagen, haben sie beständig die Ehre – so wie der Venezianer, wenn man ihn z. B. frägt; ob dieß das große Arsenal sey? mit der Antwort in Bereitschaft ist: per ubbedirla.

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(Ihnen gehorsamst aufzuwarten!) Ob dieß die Brücke Rialto sey? – per ubbedirla.

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(Ihnen gehorsamst aufzuwarten!) Jemand, der z. B. genöthigt ist, eine Einladung abzuschlagen, kleidet das n e i n in die folgende Formel:

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Prosodie und Stilistik

»Da es mir meine Geschäfte durchaus unmöglich machen, mein Haus, wäre es auch nur auf eine Stunde, zu verlassen, so dürfte ich wohl nicht die Ehre haben können, ihre Einladung anzunehmen« – anstatt: »so kann ich nicht die Ehre haben, Ihre Einladung anzunehmen.« Der Nachsatz ist mit dem Vordersatze nicht übereinstimmend. – Der Vordersatz enthält den vollständigen Grund der Unmöglichkeit, die Einladung an-zunehmen; und der Nachsatz läßt es wieder u n g e w i ß , ob man die Einladung noch werde annehmen können, oder nicht. Noch lächerlicher ist das folgende Beispiel eines unbestimmten Ausdrucks: »Mein Vater scheint sich erholt zu haben, da er nun weit mehr als sonst bei Kräften ist.« Wenn er weit mehr als sonst bei Kräften ist, so hat er sich ja wirklich erhohlet, und scheint sich nicht bloß erhohlet zu haben. Eine übertriebene Bescheidenheit aber ist Ursach, daß einige Leute sich fast immer des Ausdrucks s c h e i n e n anstatt seyn bedienen. Sie wollen niemals ein entscheidendes Urtheil äußern, sondern immer nur sagen, wie ihnen die Sache vorkommt. So lobenswerth nun eine solche Bescheidenheit an sich ist, so tadelnswerth und lächerlich wird sie, wenn man sie übertreibt, und z. B. bei ganz unbedeutenden und gleichgültigen Dingen, aus bloßer Höflichkeit sein Urtheil zurückhält. –

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Die Formel: wie soll ich Worte finden.

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»Wie soll ich Worte finden!« ist eine eben so abgenutzte als abgeschmackte Formel. Wer die Sache, wovon er redet, gehörig einsieht, der findet auch sicher Worte, um seine Gedanken darüber auszudrücken. – Und wer schreiben will, muß nothwendig mit dem Verstande schreiben, weil die Empfindung stumm ist. Indeß kann man diese Formel in so fern gelten lassen, als sie zum Zeichen dient, daß man von der ersten übertäubenden Empfindung sich zu erhohlen sucht, und nun allmählig zum ruhigen Nachdenken kömmt.

Noch eine Probe vom zweideutigen Ausdruck.

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»Sein Freund schrieb ihm, er habe das große Loos gewonnen.« Wer hat das große Loos gewonnen, der Freund oder der an den geschrieben wird? Hat es der Freund gewonnen, so muß es heißen: er erhielt von seinem Freunde die Nachricht, daß derselbe das große Loos gewonnen habe. Hat es der gewonnen, an welchen geschrieben wird, so muß es etwan heißen: er erhielt die Nachricht, daß er das große Loos gewonnen habe, in einem glückwünschenden Briefe, von seinem Freunde.

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Prosodie und Stilistik

Von der Bestimmtheit im Ausdruck. Eine Eigenthümlichkeit der deutschen Sprache.

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Die deutsche Sprache hat das Eigenthümliche, daß sie ihre Deklinationen und Konjugationen mehr durch g a n z e W ö r t e r als durch bloße Biegungslaute bezeichnet, wodurch sie zwar an Deutlichkeit aber nicht an Kürze gewinnt. Die deutsche Sprache setzt das alles ausdrücklich und mit ganzen Worten hin, was in der lateinischen und griechischen Sprache, z. B. immer durch die einsilbigen oder Biegungslaute angedeutet wird. Wo z. B. in jener Sprache bloß der Ablativ oder der Genetiv steht, da werden im Deutschen die Präpositionen selbst gesetzt, welche das Verhältniß ganz genau und bestimmt bezeichnen, als: A u s Furcht v o r der Strafe, A u s Begierde n a c h Ehre. Bei dem Verbum wird im Deutschen das persönliche Pronomen i c h , d u , e r immer ausdrücklich gesetzt, nicht: Liebe, liebst, liebt sondern: i c h liebe, d u liebst, e r liebt. So eben wird bei dem Verbum auch die künftige und vergangene Zeit nicht durch Biegungslaute, sondern durch ganze Wörter, h a b e n und w e r d e n bezeichnet. Nur das Imperfektum wird durch den Biegungslaut gebildet. Der Gebrauch der Präpositionen im Deutschen, dient oft dazu, Zweideutigkeiten zu vermeiden, denn wenn man z. B. sagt: »die Liebe Gottes,« so kann dieß so viel heißen, als: die Liebe Gottes zu den Menschen, oder: die Liebe der Menschen zu Gott. Sobald wir anstatt, die Liebe Gottes, setzen: die Liebe zu Gott, oder, die Liebe gegen Gott, so findet keine Zweideutigkeit mehr statt.

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Von der Heraushebung des Hauptbegriffes.

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Durch die Formeln vorzüglich um so mehr nicht nur sondern auch eröfnet man sich gleichsam ein neues Gedankenfeld – Die Aufmerksamkeit wird dadurch auf den Hauptgedanken mehr zusammengedrängt – das Wichtigere wird aus der Masse des Unwichtigeren herausgehoben, und mit der Ordnung welche dadurch erwächst, entsteht auch Reichthum und Fülle der Ideen, wo vorher Armuth und Leerheit war. Wer etwas sagt, ohne irgend einen Hauptbegriff herauszuheben, der stokt und ist auf einmal fertig, und weiß nun keine Worte mehr zu finden; Gedanken und Ausdruck ist zu Ende. Jemand will zum Beispiele für eine Wohlthat danken, und sagt: Ich statte Ihnen für diese Wohlthat meinen Dank ab! – Legt er nun den Nachdruck der Stimme auf i c h und hebt diesen Begriff heraus, so wird seine Aufmerksamkeit auf das Verhältniß zwischen ihm und seinem Wohlthäter gerichtet: Ich, der ich Ihnen schon so sehr verpflichtet bin, der Ihnen das nie vergelten kann, u. s. w. Fällt der Ton der Stimme auf I h n e n und wird dieser Begriff herausgehoben, so eröfnet diese Heraushebung eine neue Quelle von Ideen: I h n e n , meinem großmüthigen uneigennützigen Wohlthäter, der sein Glück darin findet, anderer Glück zu schaffen, u. s. w. Wird der Begriff von Wo h l t h a t herausgehoben, so verweilt die Aufmerksamkeit wiederum auf der edlen großmüthigen Art, w i e diese Wohlthat erzeigt ist, gerade in dem rechten Zeitpunkte, u. s. w.

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Wird D a n k zum Hauptbegriffe erhoben, so findet die Sprache der Empfindung Platz: Wie nun der feurige Wunsch für das Wohl des Menschenfreundes, der mir geholfen hat, bei mir an die Stelle der Wiedervergeltung treten muß, und wie ich nur durch diesen Wunsch und diese Gesinnung mir selber eine Genüge leiste, u. s. w. Nun können diese Hauptbegriffe in einander spielen, und ein Ganzes bilden, nachdem sie erst einzeln herausgehoben sind, und aus einem jeden eine neue Ideenfülle geschöpft ist. Auf die Weise steht uns bloß durch das Herausheben der Hauptbegriffe ein immerwährender Gedankenreichthum zu Gebothe. –

Die Verneinung »auf keine Weise« und die Bejahung »auf irgend eine Weise« dienen sehr um den Nachdruck der Rede zu verstärken, a l s : anstatt »dieß ist nicht« »dieß ist auf keine Weise der Fall« oder »dieß findet auf keine Weise statt«

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Probe einer Weitschweifigkeit im Ausdruck durch unnöthige Umschreibungen. 25

»Jede Handlung, wodurch Sie mir bisher bewiesen haben, daß Sie mein Freund sind:« anstatt:

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»jeder bisherige Beweiß Ihrer Freundschaft.« »Die Spielsucht, welche die Menschen ins Verderben bringt« anstatt: »die verderbliche Spielsucht.« »Eine Wunde, die ihm den Tod brachte« anstatt »eine tödliche Wunde.« »Eine Nachricht die ihn in Schrecken versetzte.« anstatt »Eine schreckliche Nachricht.« Fortsetzung von

D. Jenisch.

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