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German Pages 219 Year 2010
Franz Brentano Schriften zur Ethik und Ästhetik
F R A N Z B R E N TA N O SÄMTLICHE VERÖFFENTLICHTE SCHRIFTEN Zweite Abteilung Schriften zur Ethik und Ästhetik Herausgegeben von Thomas Binder und Arkadiusz Chrudzimski Band III
Wissenschaftlicher Beirat Mauro Antonelli, Mailand Wilhelm Baumgartner, Würzburg Johannes Brandl, Salzburg Wolfgang Huemer, Parma Andrea Göb, Würzburg Robin Rollinger, Salzburg Werner Sauer, Graz
Franz Brentano
Schriften zur Ethik und Ästhetik Mit einem Vorwort der Herausgeber zur Ausgabe der veröffentlichten Schriften und einer Einleitung von Andrea Göb
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2010 ontos verlag P. O. Box 15 41, D-63133 Heusenstamm www.ontosverlag.com ISBN 13: 13: 978-3-86838-091-0 2010 No part of this book may be reproduced, stored in retrieval systems or transmitted in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopying, microfilming, recording or otherwise without written permission from the Publisher, with the exception of any material supplied specifically for the purpose of being entered and executed on a computer system, for exclusive use of the purchaser of the work
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Inhalt Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Andrea Göb: Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI Editorische Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXXI
Der neueste philosophische Versuch in Frankreich . . . . . . . . . . . . 1 Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Das Genie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Das Schlechte als Gegenstand dichterischer Darstellung . . . . . 129 Das Recht auf den Selbstmord . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Vorwort der deutschen Uebersetzung [Vorwort zu Alexander Herzen, Wissenschaft und Sittlichkeit. Lausanne, 1895] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Epikur und der Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
Vorwort der Herausgeber Die vorliegende Ausgabe von Brentanos gesammelten Schriften zur Ethik und Ästhetik ist der dritte Band einer neuen Edition der Werke Franz Brentanos. Diese Edition unternimmt es zum ersten Mal, alle Schriften, die von Brentano selbst publiziert wurden, in einer handlichen, zehnbändigen Studienausgabe dem Leser zugänglich zu machen. Dazu gehören neben seinen bahnbrechenden systematischen Werken wie der Psychologie vom empirischen Standpunkte und Vom Ursprung der sittlichen Erkenntnis auch seine wichtigen Studien zu Aristoteles, dem Brentano insgesamt vier Monographien widmete, sowie viele kleinere bedeutende Aufsätze zur Psychologie (und speziell zur Sinnespsychologie), zur Geschichte der Philosophie und zu anderen Themen. Die nicht-philosophischen Schriften Brentanos (darunter neben kirchengeschichtlichen und juristisch-politischen Werken auch Abhandlungen zur Schachtheorie, Rätsel und Lyrik) sollen in einem Ergänzungsband publiziert werden, um damit die Persönlichkeit des großen Denkers abzurunden. Auf zwei Einschränkungen sei hingewiesen: 1. Nicht aufgenommen wurde unter die Druckschriften Brentanos Gutachten zur päpstlichen Unfehlbarkeit, da dieses nur in einem nicht von Brentano selbst besorgten Privatdruck vorliegt, von dem lediglich ein einziges Exemplar überliefert ist. 2. Diese Ausgabe vereint die Druckschriften, soweit sie den Herausgebern bekannt sind. Es kann nicht mit völliger Gewissheit ausgeschlossen werden, dass Brentano noch weitere Schriften veröffentlicht hat. Als Beispiel sei hier auf eine im Oktober 1876 in der Wiener Neuen Freien Presse von Brentano anonym publizierte Rezension hingewiesen, die den Herausgebern nur durch einen Zufall bekannt wurde und die in vorliegendem Band erstmals als Werk Brentanos veröffentlicht wird. Wenig wahrscheinlich ist es allerdings, dass es sich bei einem solchen „verschollenen“ Werk um eine bedeutendere philosophische Schrift handeln sollte; dass auch in Zukunft die eine oder andere bisher unbekannte Gedicht- oder Rätselpublikation Brentanos entdeckt werden könnte, ist aber durchaus vorstellbar. Die Druckschriften werden wie folgt auf die zehn geplanten Bände verteilt, wobei die Texte in Sammelbänden chronologisch angeordnet sind: 1. Band: Psychologie vom empirischen Standpunkte Von der Klassifikation der psychischen Phänomene 2. Band: Schriften zur Sinnespsychologie
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Vorwort der Herausgeber
3. Band: Schriften zur Ethik und Ästhetik 4. Band: Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles 5. Band: Die Psychologie des Aristoteles, insbesondere seine Lehre vom ǥǧǬǪǨǧǡǟǫǡǢǧǪ 6. Band: Aristoteles Lehre vom Ursprung des menschlichen Geistes 7. Band: Aristoteles und seine Weltanschauung 8. Band: Kleinere Schriften zu Aristoteles 9. Band: Vermischte Schriften 10. Band: Nicht-philosophische Schriften Die Neuausgabe der veröffentlichten Schriften basiert ausschließlich auf den Erstpublikationen. Bei Texten, die in inhaltlich wie auch immer veränderter Form wiederholt publiziert wurden, werden alle Varianten vollständig abgedruckt. Da es sich um keine Edition mit kritischem Anspruch handelt, wurde auf textkritische und erläuternde Anmerkungen weitgehend, wenn auch nicht vollständig, verzichtet (dass die Texte dennoch akribisch mit den Originaltexten verglichen wurden, versteht sich von selbst). Genauere editorische Hinweise zu den einzelnen Texten finden sich in den jeweiligen Bänden zwischen Einleitung und Haupttext. Eine besondere Erwähnung verdient die Handhabung der Rechtschreibung. Da Brentanos Texte sowohl vor als auch nach der II. Berliner Orthographischen Konferenz von 1901 publiziert wurden, und da auch in den nachfolgenden Jahrzehnten die Rechtschreibung immer wieder „reformiert“ wurde, schien es wenig sinnvoll, diese auf einem bestimmten Stand zu vereinheitlichen: die Texte werden also allesamt in der historischen Form abgedruckt, in der sie ursprünglich publiziert wurden. Jedem Band wird eine Einleitung vorangestellt, die den aktuellen Stand der Forschung reflektiert; schließlich sollen ein Sach- und ein Personenregister den thematischen Zugang erleichtern. Die Hauptmotivation für diese Edition liegt sicher darin, dass diese sowohl für die Geschichte der Philosophie als auch für die systematische Forschung so wichtigen Schriften schon seit Jahren aus dem Buchhandel verschwunden und damit nur noch schwer zugänglich sind. Zum Teil sind sie seit ihrer Erstveröffentlichung nicht mehr verlegt worden, zum Teil liegen sie aber auch in Ausgaben vor, die weder zeitgemäßen editorischen Standards noch dem aktuellen Stand der philosophischen Forschung entsprechen. Da die Herausgeber der festen Überzeugung sind, dass das Studium der Philosophie Brentanos auch heute nicht nur wichtig, sondern außerordentlich lohnend ist, soll die Lücke mit dieser Ausgabe geschlossen werden. Selbstver-
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ständlich können die 10 Bände dieser Edition den Reichtum an Einzelfragen und Lösungsansätzen nicht präsentieren, die Brentanos Philosophieren in mehr als 50 Jahren intensiver Forschertätigkeit geprägt haben – diese Aufgabe muss einer kritischen Edition des äußerst umfangreichen Nachlasses vorbehalten bleiben, die aufgrund der damit verbundenen großen editorischen Herausforderungen bedauerlicherweise noch immer auf sich warten lässt. Bei den vorliegenden von Brentano selbst veröffentlichten Schriften handelt es sich aber dennoch um jene Werke, die seine Bedeutung für die Philosophie zuallererst begründet haben. Juli 2010
Thomas Binder, Arkadiusz Chrudzimski
Einleitung Andrea Göb 1. Franz Brentano (1838–1917) gilt als Gründungsvater der „Österreichischen Wertlehre“. Diese eigenständige Schule, deren geistiges Zentrum im Wien des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu lokalisieren ist, entwickelte einen Wertbegriff, der subjektiv ist ohne subjektivistisch zu sein: das wertende Subjekt ist zwar der Ausgangspunkt der Untersuchung, aber es wird angenommen, dass es übersubjektive Kriterien für die Richtigkeit von individuellen Werturteilen gibt. Das Werk Brentanos umfasst verschiedene Themengebiete. Neben der Psychologie, der Metaphysik und der Theologie bildet die Ethik einen Schwerpunkt und – damit in Zusammenhang stehend – die Ästhetik, die Brentano allerdings weniger weit ausgearbeitet hat. Brentano begründet seine Theorie ethischer und ästhetischer Werte psychologisch und etabliert damit einen neuen Zugang zur Wertproblematik. Sein Einfluss war weitreichend: zunächst auf die „engere“ Brentano-Schule bzw. seine direkten Schüler und „Enkelschüler“, allen voran Anton Marty, Carl Stumpf, Oskar Kraus und Alfred Kastil, darüber hinaus aber auch auf die „weitere“ BrentanoSchule, zu der so bedeutende Philosophen wie Alexius Meinong, Christian von Ehrenfels, Thomas G. Masaryk und Edmund Husserl zählen. Seine Bedeutung für die Phänomenologie und die Tradition der österreichischen Philosophie ist kaum zu unterschätzen. Die Frage, welche Dinge Wert haben, was Wert überhaupt ist und wie sichere Erkenntnis von Werten möglich ist, spielt für die Ethik, aber auch für die Ästhetik und andere Wissenschaften wie die Ökonomik eine zentrale Rolle. Die Interdisziplinarität dieser Fragestellung fand in Wien, einem der bedeutendsten Zentren von Forschung und Kultur des 19. Jahrhunderts fruchtbaren Nährboden. Und so ist es nicht verwunderlich, dass zur gleichen Zeit als Brentano die Wertfrage für die Ethik zu lösen versuchte, sich auch die Ökonomen dieses Themas annahmen und zu ähnlichen Ergebnissen kamen. Die „Austrian Economics“, allen voran deren Begründer Carl Menger, stellen (im Zusammenhang mit einer Theorie der Bedürfnisse) ebenfalls den psychischen Akt der Bewertung in den Vordergrund und nicht
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eine objektive materielle Beschaffenheit des Gegenstandes, wie dies die klassische ökonomische Wertlehre tut. 2. Die Neuausgabe von Franz Brentanos Schriften zur Ethik und Ästhetik basiert auf den von ihm zu Lebzeiten veröffentlichten Aufsätzen. Eine systematische Abhandlung zu diesen Gebieten im Sinne eigenständiger Monographien aus Brentanos Feder existiert leider nicht. Es gibt lediglich Vorlesungsskripte, aus denen ersichtlich wird, wie Brentano Ethik und Ästhetik konzipiert und in welchem Zusammenhang sie mit den anderen Teilen seines Werkes, allen voran der Psychologie, stehen. Diese Manuskripte sind oft fragmentarisch, wurden mehrfach überarbeitet und verändert und waren von Brentano nicht zur Publikation vorgesehen. Diese in Brentanos Nachlass befindlichen Vorlesungsmanuskripte waren zwar die Grundlagen für frühere Editionen zu Ethik und Ästhetik, wurden aber von den Herausgebern so stark bearbeitet, dass sie in vielen Aspekten den Originalen Brentanos nicht entsprechen.1 Eine historisch-kritische Neuausgabe dieser Vorlesungen ist daher anzustreben. Die hier vorliegenden kurzen Abhandlungen und Vorträge behandeln spezielle Aspekte und Fragen aus dem Bereich der Ethik und der Ästhetik und sind auf die jeweilige Leser- bzw. Hörerschaft zugeschnitten. Sie können allein stehen, können aber auch als Exemplifikationen von Brentanos empirisch-analytischer Philosophie betrachtet werden. Die Ethik behandelt die Frage, welches Handeln sittlich ist. Nach Brentano ist das Handeln sittlich, das die richtigen Zwecke bzw. die richtigen Mittel zur Erlangung derselben anstrebt. Wie die Erkenntnis der richtigen Zwecke möglich ist, untersucht er in dem Vortrag „Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis“, den er 1889 vor der Wiener Juristischen Gesellschaft hielt. In dieser Schrift sind die Kerngedanken seiner Ethik formuliert, die großen Einfluss auf die zeitgenössische Moralphilosophie hatten. 1902 erschien 1
Gemeint sind hier vor allem die von Alfred Kastil und Franziska Mayer-Hillebrand unter dem Titel Grundlegung und Aufbau der Ethik (Brentano, 1952) herausgegebenen Vorlesungen über praktische Philosophie und die von Mayer-Hillebrand edierte Ästhetik-Vorlesung, die in dem Band Grundzüge der Ästhetik (Brentano, 1959) enthalten ist. Der wissenschaftliche Nachlass von Franz Brentano wird an der Houghton Library der Harvard University (Cambridge, MA) aufbewahrt, eine vollständige digitale Kopie davon befindet sich im Franz Brentano-Archiv der Forschungsstelle für österreichische Philosophie (Graz).
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unter dem Titel „The Origin of the Knowledge of Right and Wrong“ die erste Übersetzung ins Englische (Brentano, 1902). George E. Moore bekam das Werk, kurz nachdem er seine „Principia Ethica“ beendet hatte, zu lesen. Im Vorwort erwähnt er Brentano und schreibt, dass dessen Ansichten ihm näher seien als die irgendeines anderen Moralphilosophen. Ein Jahr später erschien Moores Rezension, die er mit folgenden Worten einleitet: This is a far better discussion of the most fundamental principles of Ethics than any others with which I am acquainted. Brentano himself is fully conscious that he has made a very great advance in the theory of Ethics. (Moore, 1903, 115)
Im Vorwort zu Alexander Herzens Vortrag „Sittlichkeit und Wissenschaft“ beklagt Brentano die Ungerechtigkeit gegenüber dem weiblichen Teil der Bevölkerung, während er in „Das Recht auf den Selbstmord“ die These vertritt, dass Selbstmord unter gewissen Bedingungen, nämlich dann, wenn er einem höheren Zweck dient, legitim sein könne. Der kurze Text „Epikur und der Krieg“ ist die Antwort auf einen 1916 unter diesem Titel erschienenen Artikel in der Internationalen Rundschau, in dem Brentano der These entgegentritt, dass eine theistische Weltanschauung einem überzogenen Patriotismus Vorschub leiste. Die Ästhetik untersucht, was mit Berechtigung als schön und unschön empfunden werden kann und gibt Anleitung für die praktische Umsetzung, die Schaffung von Schönem. Die hier abgedruckten Texte beschäftigen sich mit zwei spezifischen Aspekten der Ästhetik: In „Das Genie“ geht es um die Frage, ob Menschen mit genialen Fähigkeiten Dinge nur graduell besser können, oder ob eine prinzipielle Verschiedenheit vorliegt. In „Das Schlechte als Gegenstand der dichterischen Darstellung“ behandelt Brentano das vermeintliche Paradoxon, dass das Schlechte Gegenstand der höchsten literarischen Ausdrucksform, nämlich der Tragödie ist, nicht aber das Gute. 3. Die Ethik und die Ästhetik gehören für Brentano ebenso wie die Logik zu den praktischen Disziplinen. Unter praktischer Disziplin subsumiert Brentano Disziplinen, die nicht allein auf die Fundierung einer theoretischen Basis zum Erwerb neuer Erkenntnisse abzielen, sondern sich auch in einem außerhalb ihrer selbst
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liegenden Zweck gründen, und letztlich zu praktischen Handlungsanweisungen führen. Den praktischen Disziplinen ist gemeinsam, dass sie auf der Analyse der psychischen Phänomene aufbauen, die zu den Schwerpunkten von Brentanos philosophischer Arbeit zählt. Brentano verbindet damit auch den Anspruch auf eine Neubegründung der Philosophie auf der Basis psychologischer Forschung, der für sein Schaffen kennzeichnend ist. Die Psychologie ist für ihn die Grundlage und der Ausgangspunkt, da Urteile über ethische und logische Richtigkeit und ästhetische Schönheit in erster Linie psychische Akte sind, die ihrer Struktur nach untersucht und verstanden werden müssen, um etwas über die Begriffe „gut“, „wahr“ und „schön“ aussagen zu können. In dem Vortrag „Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis“ baut er seine Analyse der Möglichkeit des Erkennens von „richtig“ und „falsch“ auf den Ergebnissen seiner Vorlesung über „deskriptiven Psychologie“ auf und gibt einen kurzen Überblick über die grundliegenden Thesen. Unter einem psychischen Akt versteht Brentano ein Phänomen, das im Gegensatz zu physischen Phänomenen intentional auf ein Objekt gerichtet ist: „Kein Hören ohne Gehörtes, kein Glauben ohne Geglaubtes, kein Hoffen ohne Gehofftes, kein Streben ohne Erstrebtes, keine Freude ohne etwas, worüber man sich freut, und so im übrigen.“ (UsE, 39)2 Die Objekte müssen nicht real bestehen, sie können auch vorgestellt oder erinnert sein. Der psychische Akt3, z. B. das Vorstellen eines Baumes, wird in der inneren Wahrnehmung als Einheit wahrgenommen. Brentano unterscheidet an diesem Akt zwei Momente: das primäre Bewusstsein ist transitiv auf den Gegenstand gerichtet. Dieser ist das intentionale Objekt, hier der Baum. Das sekundäre Bewusstsein ist reflexiv auf das primäre Bewusstsein gerichtet. Da aber das sekundäre Bewusstsein kein isoliertes psychisches Phänomen, sondern bloß ein Moment des primären Bewusstseins bildet, bezieht sich letztlich jeder psychische Akt nebenbei (en parergo) auf sich selbst. Während man sich einen Baum vorstellt, nimmt man sich selbst als einen Vorstellenden wahr. Das Objekt des primären Aktes wird dabei im sekundären 2 3
Die Seitenzahlen der mit Siglen zitierten Schriften beziehen sich auf diesen Band. Zu den Siglen vgl. das Literaturverzeichnis Brentano versteht unter psychischen „Akten” sämtliche psychische Phänomene. Der Begriff bezieht sich also nicht nur auf psychische Aktivität und entspricht daher nicht dem, was landläufig unter „Akt“ verstanden wird. Er soll hier dennoch beibehalten werden, da er ein elementarer Begriff in Brentanos Terminologie ist.
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Bewusstsein als intentionales Korrelat miterfasst, also als vorgestellter Baum. Das intentionale Korrelat ist Teil des sekundären Bewusstseins. Ontologisch gesehen ist es allerdings von anderer Qualität: während der psychische Akt „allein real“ ist, gehört das intentionale Korrelat zu den nicht-realen Entitäten, die Brentano zu der Zeit, aus der die Schriften, die in diesem Band versammelt sind, stammen, akzeptierte, später aber als bloße Gedankendinge, entia rationis, verwarf. 4. Brentano unterscheidet drei Klassen von psychischen Phänomenen: Vorstellung, Urteil und Emotion. Die Einteilung der Klassen liegt in der Natur der Phänomene begründet, nämlich in der „Beziehung zum Inhalte“, die sich wesentlich voneinander unterscheiden. Die drei Weisen der Bezugnahme liefern positive Kriterien für die Festlegung der drei Klassen. Die Vorstellung ist die Grundlage aller psychischen Aktivitäten. Ein psychischer Akt besteht aus mindestens einer Vorstellung. Auf ihr bauen sowohl das Urteil als auch die Emotion auf. Das Urteil ist ein anerkennendes oder verwerfendes Bezugnehmen auf das vorgestellte Objekt. Neben der äußeren und inneren Wahrnehmung gehört auch die Erinnerung zu dieser Klasse. Es handelt sich um eine gänzlich andere Bezugsweise zum Objekt als bei der Vorstellung, da nun der Gegenstand, auf den intentional Bezug genommen wird, entweder anerkannt oder verworfen wird. Es gibt also eine Polarität. Urteile können blind oder evident sein. Evidente Urteile sind solche, die mit Berechtigung getroffen werden, während blinden Urteilen dieses Merkmal fehlt. Die dritte Klasse schließlich umfasst die Emotionen. Brentano spricht hier von Lieben und Hassen. Diese Klasse ist die am wenigsten einheitliche: sie umfasst Phänomene des Liebens, des Interesses, Wünsche, Hoffnungen und Willensakte und die entsprechenden „negativen“ Akte. Trotz dieser Heterogenität liegt für Brentano eine dieser Klasse von Phänomenen gemeinsame Art und Weise des Bezugnehmens zum Objekt zu Grunde. Die dritte Klasse ist ebenfalls durch eine Polarität der Akte gekennzeichnet: entweder liegt ein positiver oder ein negativer Gefühlsakt vor. Urteil und Emotion sind komplexe psychische Akte, die aufeinander aufbauen (supraponierte Akte) und sich gegenseitig beinhalten können. So liegt
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einem Urteil immer auch eine Vorstellung zugrunde; einer Emotion mindestens eine Vorstellung, oft auch ein Urteil. Den drei Klassen lassen sich die drei praktischen Disziplinen zuordnen. Die Klasse der Vorstellung bringt keine Erkenntnisse, ist aber die Basis für Erkenntnisse über das Schöne und Hässliche und somit Ausgangspunkt für die Ästhetik. Die zweite Klasse trifft Aussagen über das Wahre und das Falsche und ist daher Grundlage für die Logik. Die dritte Klasse schließlich ist die Quelle der Erkenntnis des Guten und des Schlechten und damit Basis für die Ethik. Brentano war ein ausgesprochen guter Kenner der Philosophiegeschichte. Neben intensiven Aristoteles-Studien bei Adolf Trendelenburg in Berlin hat er sich ebenso gründlich mit der Scholastik und dem englischen und schottischen Empirismus beschäftigt. Das Spektrum seiner Untersuchungen reicht dabei von der Metaphysik über die Mathematik und Theologie bis eben zu den „praktischen“ Gebieten der Ethik und Ästhetik. Brentano entwickelt eine empirisch-analytische Methode, die, wie er in den Habilitationsthesen fordert, die gleiche Wissenschaftlichkeit und Nüchternheit haben soll wie die naturwissenschaftliche Methode. Jede „spekulative“ Philosophie lehnt er daher ab. Die Basis allen Wissens liegt für Brentano in der Erfahrung, wobei er darunter sowohl innere als auch äußere Erfahrung versteht. Man kann also Brentanos methodischen Ansatz als empirisch bezeichnen, da er sich auf die der eigenen Erfahrung zugängliche Erkenntnis bezieht (ein Ansatz, der in der Phänomenologie umgedeutet und weitergeführt wurde). Die Grundlage dieser Erkenntnis sind evidente, innere Wahrnehmungen. Eine Transformation in allgemeine Sätze ist möglich, weil sie sich auf einen gesicherten Erkenntnisgrund bezieht: in der Analyse der evidenten inneren Wahrnehmung können die Strukturen dieser Wahrnehmung erkannt und verallgemeinert werden. Grundlage sind zwar individuelle Wahrnehmungen, aber in ihnen finden die allgemeinen, apriorischen Gesetze ihren Ausdruck und werden mitwahrgenommen. Die Gesetze bilden quasi deren Abstraktion. Der deskriptive Aspekt steht in deutlichem Gegensatz zu einer konstruierten Strukturierung des Psychischen. Ontologisch gesehen erkennt das Subjekt in sich selbst, indem es sich zum Objekt der Beobachtung macht, die realen Gesetze psychischer Aktivität. Die Evidenz (bzw. ein Analogon der Evidenz in der Ethik und Ästhetik) spielt in Brentanos Psychologie eine zentrale Rolle. Die Evidenz ist eine Eigenschaft der Urteile, nämlich ihre unmittelbare Einsichtigkeit. Ein evi-
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dentes Urteil bildet den Gegenpol zu einem blinden Urteil. Blinde Urteile werden instinktiv gefällt und sind Folge eines blinden Drangs. Ein blindes Urteil kann durchaus mit großer Entschiedenheit gefällt werden; der Drang, ein Urteil in einer gewissen Weise zu fällen, ist aber kein Garant für dessen Wahrheit. Aus diesem Grund muss das blinde Urteil durch einen zusätzlichen Beweis gerechtfertigt werden. Um ein evidentes Urteil handelt es sich erst dann, wenn es sich als voll berechtigt offenbart.4 Der Unterschied zwischen blindem und evidentem Urteil lässt sich begrifflich nicht voll erfassen, sondern muss letzten Endes erfahren worden sein: „Jeder erfährt den Unterschied zwischen der einen und anderen Urteilsweise in sich; in dem Hinweis auf diese Erfahrung muß, wie bei jedem Begriff, die letzte Verdeutlichung bestehen“ (UsE, 43). Evidente Urteile werden mit völliger Sicherheit getroffen. Es gibt keine Grade oder Intensitätsstufen der Evidenz und man kann auch nicht von einem Evidenz-„Gefühl“ sprechen, da es sich nicht um einen eigenständigen Gefühlsakt handelt, sondern um einen distinktionellen Teil des Urteils. Brentano unterscheidet zwei Arten von evidenten Urteilen: assertorische evidente Urteile beziehen sich ausschließlich auf die innere Wahrnehmung; apodiktische evidente Urteile beziehen sich auf Axiome. Nur im ersten Fall spricht Brentano von einer Tatsachenerkenntnis. Es handelt sich um das Anerkennen der eigenen psychischen Tätigkeit (sekundäres Bewusstsein). Auch wenn über einen Gegenstand X, den eine Person Y sieht, keine evidenten Urteile möglich sind, so ist zumindest das von der Person Y gefällte Urteil: „Ich sehe X“, unumstößlich. Es besteht Identität des Objektes der Erkenntnis mit dem erkennenden Subjekt. Der einen „Gegenstand Erkennende“ nimmt sich, während er den Gegenstand erkennt, nebenbei als einen „Gegenstand Erkennenden“ wahr. Die Erkenntnis der eigenen psychischen Tätigkeiten ist evident und von niemandem anfechtbar. Die Selbstzuschreibung psychischer Phänomene ist andererseits aber auch nicht beweisbar. Sie bezieht sich allein auf den Erkenntnisbereich des wahrnehmenden Subjektes und schließt die Beobachtung seitens eines äußeren Betrachters aus. Bei den apodiktischen Urteilen handelt es sich eigentlich um negative Urteile. Sie beziehen sich auf Axiome und postulieren die Unmöglichkeit bestimmter Aussagen. Es handelt sich um analytische Urteile, die durch die Vorstellung der Begriffe motiviert sind. Diese Art von Urteil geht über das bloße Verwerfen wie im einfachen negativen Urteil hinaus, da hier die gene4
Vgl. Brentano, 1968, 3f.
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relle Unmöglichkeit, die in den begrifflichen Strukturen implizit enthalten ist (z. B. ein rundes Dreieck) ausgesagt wird. Logischen Kriterien genügende Ableitungen aus unmittelbar evidenten Urteilen sind mittelbar evident. Für die Ethik und die Ästhetik ist folgende Eigenschaft apodiktischer Urteile wichtig: evidente apodiktische Urteile erheben Anspruch auf interpersonale Gültigkeit. Fällt eine Person mit Evidenz ein Urteil, so wird dies zum Maßstab für die Richtigkeit des Urteils einer anderen Person. Nicht alle wahren Urteile sind notwendigerweise evident. Auch blinde Urteile können wahr sein, nämlich dann (und nur dann), wenn sie mit evidenten Urteilen mit demselben Inhalt übereinstimmen würden. Brentano sucht nach einem Fundament für seine Wertlehre, das zwar die Emotionen als Ausgangspunkt nimmt, aber dennoch ein objektives Kriterium bietet, das es ermöglicht, die Richtigkeit der Emotionen zu beurteilen. Dieses objektive Kriterium ist nun eben das emotionale Analogon der Evidenz, die evidenzartige (evidentoide) Einsicht in die Richtigkeit der Emotionen. Sie entspringt letztlich der eigenen Erfahrung und ist analog zur Evidenz auf dem Gebiet der Urteile. Das Urteil der inneren Wahrnehmung, z. B. dass ich sehe, wird bei Brentano gleichgesetzt mit der inneren Wahrnehmung, dass ich richtig liebe, weil ich Gewissheit habe, dass ein Hassen des Objektes falsch wäre. Die Strukturen der psychischen Phänomene haben gesetzesartigen Charakter und unterliegen logischen Regeln wie z. B. dem Satz des Widerspruches. Brentano verlagert damit die Fragestellung von der Ebene der Werte („Was ist gut?“) auf eine Metaebene („Wie ist Erkenntnis über das Gute möglich?“). „Gut“ ist dabei, analog zu „wahr“, eine Nominalbestimmung für „erstrebenswert per se“ oder „erstrebenswert als Mittel“. Das Evidenzkriterium für die Richtigkeit von Urteilen wird in seiner analogen Form zum entscheidenden Kennzeichen von Brentanos ethischer und ästhetischer Wertlehre, weil es einen inhaltlich unabhängigen Maßstab für die Beurteilung von Emotionen und den Wert von Vorstellungen bietet. Brentano schafft die Grundlage für eine Werttheorie, die zwar einerseits ihren Ausgangspunkt in emotive Akte legt, andererseits aber nicht in den Subjektivismus verfällt und Werturteile für relativ befindet. Er lehnt daher alle Ansätze ab, die allein „Lust“ oder „Nutzen“ als Indikator für richtiges Verhalten heranziehen. Die Erkenntnis des Guten ist nach Brentano ebenso möglich wie die Erkenntnis des Wahren. Sie ist die Bedingung für sittliches Handeln. Nur wenn das Gute erkannt wird, kann es auch angestrebt werden. Als Gut bestimmt er das, „was wert ist, um seiner selbst willen geliebt zu werden“ (UsE, 45).
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Durch die Rückverlagerung der Wertfrage in die psychischen Akte kommt Brentanos ethischer Wertbegriff ohne weitere metaphysische Annahmen aus. Der evidenzähnliche Charakter, mit dem sich emotive Akte als richtig charakterisiert ausweisen, bildet den Ausgangspunkt für den Anspruch auf Allgemeingültigkeit und das Fundament für die Ethik. Da es nach Brentano möglich ist, gesicherte Erkenntnis des Guten zu erlangen, ist es auch möglich, auf diesem Fundament eine Ethik zu entwickeln. Die psychologische Wertlehre kann daher als die theoretische Grundlage der praktischen Disziplin Ethik verstanden werden. Für die Ethik ist bedeutsam, dass moralische Normen nicht äußeren (z. B. göttlichen) Ursprungs sind und auch nicht auf bloßen Emotionen beruhen, sondern auf der Angemessenheit bzw. Richtigkeit von Emotionen. Brentano spricht von einem „natürlichen Vorzug“ (UsE, 36) oder einem „inneren Vorzug“ (ebd.) des Sittlichen. Damit versucht Brentano ein „natürliches“ Sittengesetz ausfindig zu machen, dass für alle Menschen zu allen Zeiten und an allen Orten Gültigkeit beanspruchen kann. 5. Für Brentanos Ethik ist der Schritt von der theoretisch-deskriptiven Analyse des Wertungsaktes, also von der Frage nach der Erkenntnis des Guten hin zur Fundierung einer normativen Regel für das richtige Verhalten, nämlich das „Beste unter dem Erreichbaren“ zu wählen, wesentlich. Es ist daher notwendig, feststellen zu können, was von den verschiedenen guten Objekten das Beste ist. „Besser“ ist der Ausdruck eines besonderen psychischen Aktes, nämlich des Vorziehens: „[…] ‚besser‘ ist das, was wert ist mit größerer Liebe geliebt zu werden“ (UsE, 45). „Größer“ bezieht sich hier nicht auf die Quantität bzw. Intensität des Aktes, ist also nicht utilitaristisch zu verstehen. Was intensivere Gefühle auslöst, ist nicht zwangsläufig das Bessere. „Besser zu sein“ ist in erster Linie eine Funktion der Qualität des Objektes, während die Intensität (also die Quantität) des Gefühles, die ein Objekt auslöst, nicht zwangsläufig mit der „Güte“ des Objektes korreliert. Mit „größerer Liebe“ meint Brentano hier eine besondere Form des Liebens, nämlich beziehendliches Lieben. Auch in Grundlegung und Aufbau der Ethik heißt es: „Wenn ich ein Gut A mehr liebe als ein Gut B, so heißt das nicht, daß ich es intensiver liebe, sondern daß ich es vorziehe“ (Brentano, 1952, 147). Das Vorziehen ist nicht nur für die ethische, sondern auch für die ästhetische Wertlehre von großer Bedeutung, weil dadurch eine Präferenzordnung der Werte auf-
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gestellt werden kann. Es handelt sich dabei um ordinale Werteskalen, denn das Vorziehen kann nicht auf messbare Quantitäten (eben die Intensität) zurückgeführt werden, es ist also nicht „messbar“: Wie lächerlich aber würde sich einer erst machen, wenn er behauptete, seine Lust beim Rauchen einer guten Zigarre, 127mal oder 1077mal zu sich selbst addiert, gebe genau das Maß an Lust, welche er beim Anhören einer Beethovenschen Symphonie oder beim Anblick einer Raphaelischen Madonna in sich erfahre. (UsE, 49)
Auch beim Vorziehen gibt es „als richtig charakterisiertes“ und blindes Vorziehen sowie assertorisches und apodiktisches Vorziehen, das zu Vorzugsaxiomen führt. Blindes Vorziehen beruht wie andere blinde Emotionen auf Gewohnheit, Trieben und Vorurteilen. Dies bedeutet aber nicht, dass durch blinde Urteile nicht oft dieselben Dinge vorgezogen würden wie durch als richtig charakterisierte Vorzugsakte. Das Vorziehen steht immer in einem spezifischen Kontext, der durch die Objekte des Vorzugsaktes bestimmt ist. Im einheitlichen Vorzugsakt inbegriffen sind zwei einfache Gemütsbewegungen, die jeweils die Objekte zum Gegenstand haben. Aus diesen Akten kann allerdings das Phänomen des Vorziehens nicht erklärt werden, d. h. es gibt keinen Wertmaßstab, der beide Liebesakte vergleichbar machen kann. Das Vorziehen richtet sich auf die Relation, die zwischen ihnen besteht. Um es wirklich zu verstehen, muss es, wie die Evidenz, erfahren worden sein. Brentano entwickelt in seiner Schrift „Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis“ verschiedene Vorzugsaxiome, aus denen hervorgeht, dass gewisse Dinge von Natur aus vorzugswürdig sind: das Gute wird dem Schlechten vorgezogen, die Existenz des Guten seiner Nichtexistenz und mehr des Guten bzw. das intensivere Gut wird weniger des Guten bzw. weniger intensivem vorgezogen (vgl. UsE, 46ff.). Das Wählen ist ein Spezialfall des Vorziehens, das sich durch zwei Merkmale auszeichnet: es enthält ein Entscheiden und es muss sich auf etwas durch eigenes Handeln Erreichbares beziehen. Während das Vorziehen als theoretische Gemütsbewegung angesehen werden kann, sind Wollen und Wählen praktische Akte, die in sich vielschichtige Strukturen aufweisen. Wählen bezieht sich auf mindestens zwei Wahlmöglichkeiten, welche zunächst zu eruieren sind und gegeneinander abgewogen werden müssen. Das Wählen beinhaltet mehrere Emotionen und Urteilsakte und berücksichtigt Erfahrungswerte und Wahrscheinlichkeiten. Zunächst muss festgestellt
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werden, wie weit die eigene Einflusssphäre reicht, d. h. was als mögliche Wahloption überhaupt in Betracht kommt. Diese Möglichkeiten müssen dann auf ihre Folgen hin untersucht werden. Beide Überlegungen beziehen sich auf eigene Erfahrungswerte und können nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit angegeben werden. Die Grundlage der Wahl ist daher unsicher und von Erkenntnissen über die Welt und ihre Zusammenhänge abhängig. Unter diesen Bedingungen muss ein Vergleich getroffen werden, dessen Ziel es ist, das Bessere bzw. das Beste zu bestimmen. Das vergleichende Vorziehen macht ersichtlich, welche die beste unter den zuvor als mögliche Handlungsoptionen eruierten Alternativen ist. Diese soll aktiv gewählt und zum Motiv des Handelns werden. Wichtig ist, dass es sich nicht um eine rein kognitive Entscheidung handelt: es liegt vielmehr ein emotionaler Akt, nämlich ein beziehendes Lieben oder ein richtiges Vorziehen vor, das die Grundlage dieser Entscheidung bildet. Dabei muss zwischen dem Vorzugsakt und der Wahlentscheidung selbst unterschieden werden. Dass ein richtiges Vorziehen stattgefunden hat heißt nämlich nicht, dass das als Bestes erkannte auch tatsächlich gewählt wird. Allenfalls motiviert es die Wahlentscheidung. Es ist hier aber nur ein distinktioneller Teil des psychischen Phänomens des Wählens. Daraus ergibt sich eine Bestimmung des Begriffs der Sittlichkeit, der den Übergang in den Bereich der Ethik bildet: „Nur wenn diese als richtig charakterisierte Bevorzugung die Wahlentscheidung determiniert, d. h. wenn sie ihr Motiv ist, kann diese als sittlich richtig gelten“ (Brentano, 1952, 221). In der Praxis zeigt sich aber, dass oftmals blindes Vorziehen zum motivierenden Moment der Handlung wird. Es entsteht ein Konflikt zwischen instinktiver, gewohnheitsmäßiger Bevorzugung und als richtig charakterisierter Bevorzugung. Bei der Entwicklung der Vorzugsaxiome zeigen sich die theoretischen, apriorischen Strukturen der intrinsischen Werte. Sie sind der zentrale Teil von Brentanos Werttheorie. In ihnen kommt zum Ausdruck, was „richtiges Vorziehen“ ist und wie die Begriffe „gut“, „besser“ und „Wert“ zu verstehen sind. Für die Ethik als praktische Wissenschaft ist entscheidend, dass das als gut Erkannte auch tatsächlich verwirklicht wird. Dieses bezeichnet Brentano als das „höchste praktische Gut“. Der Bereich, in dem Gutes verwirklicht werden kann, umfasst „[n]icht allein das eigene Selbst: die Familie, die Stadt, der Staat, die ganze gegenwärtige irdische Lebenswelt, ja die Zeiten ferner Zukunft können dabei in Betracht kommen“ (UsE, 49). Dies ist der Bereich, in dem das Handeln einen direkten Einfluss auf die Realisierung des
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Guten hat. Es ist der Bereich, in dem ein Wählen verschiedener konkreter Alternativen möglich ist. Eine wesentliche Bedingung ist somit die Erreichbarkeit des höchsten praktischen Gutes. Was theoretisch als gut erkannt wurde, soll, soweit das möglich ist, auch umgesetzt werden. Die Wahl zwischen verschiedenen Optionen soll dabei von dem moralischen Imperativ „Wähle das Beste unter dem Erreichbaren“ (UsE, 38) geleitet werden. Das höchste praktische Gut ist mit dem „Besten unter dem Erreichbaren“ gleichzusetzen. Der moralische Imperativ könnte also auch lauten: „Maximiere das praktische Gut!“ Brentano bestimmt das praktische Gut als „das größtmögliche Maß von seelischen Gütern bei allen in unsere Einflußsphäre fallenden beseelten Wesen“ (Brentano, 1952, 222). Das Gute ist unabhängig von der Person: Gerechtigkeit für Person X ist genauso wertvoll wie Gerechtigkeit für Person Y, weil Gerechtigkeit an sich ein Wert ist. Ziel muss es sein, das größtmögliche Wohl zu erreichen, unabhängig von der Person. „Das gleiche Gute, wo immer es sei (also auch im andern), wird nach seinem Werte (also überall gleich) zu lieben sein, [...]“ (UsE, 50). Wie in Brentanos Vorwort zu Alexander Herzens Schrift „Wissenschaft und Sittlichkeit“ deutlich wird, gilt dies explizit auch für Frauen, eine Einstellung, die zu dieser Zeit nicht selbstverständlich war. Die Gleichheit der Personen ist allerdings von der Sorge im Sinne einer aktiven Förderung zu unterscheiden, wie Brentano in seiner Ethikvorlesung zeigt: Das eigene Wohl bzw. das Wohl der Angehörigen besitzt als Grundlage für die eigene Handlungsfähigkeit einen anderen Stellenwert. Alles andere wäre kontraproduktiv und […] würde, weit entfernt das allgemeine Beste zu fördern, es vielmehr wesentlich beeinträchtigen. Es ergibt sich daraus, daß jeder zu sich selbst eine andere Stellung hat als zu allen anderen, und unter diesen wieder den einen mehr, den anderen weniger zu fördern in der Lage ist. […] So begegnet man dann auch in jeder vernünftigen Moral der Mahnung, sich zunächst um sich selbst zu kümmern. Jeder kehre vor seiner eigenen Tür. (Brentano, 1952, 224f.)
Die Selbstsorge soll allerdings nicht aus Egoismus betrieben werden, weil das eigene Gut grundsätzlich als wertvoller bewertet wird, sondern soll ebenfalls im Zeichen des höchsten Gutes stehen. Die „richtige Teilung der Arbeit im Interesse des höchsten praktischen Gutes“ (ebd., 225) bedeutet, dass es am zielführendsten ist, wenn sich zunächst jeder um sein eigenes Wohl küm-
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mert, weil er selbst die vollständigste Information über seine Befindlichkeit besitzt (vgl. ebd., 348). Daraus leitet Brentano auch das Recht auf Eigentum ab. Das Individuum muss in der eigenen Sphäre über Güter verfügen können, um das höchste praktische Gut fördern zu können: Die persönliche Freiheit und Arbeitsteilung, welche die Ethik fordert, scheint mir ohne die ausschließliche Verfügung des einzelnen über einen gewissen sachlichen Besitz nicht durchführbar. Schon zur Erhaltung des leiblichen Lebens bedarf es ihrer, sie ist aber auch eine Voraussetzung für den Erwerb seelischer Güter. (Ebd., 362)
Die Förderung des Guten ist der richtige Lebenszweck und die oberste Handlungsmaxime und hat direkten Bezug zum Glücklichsein: „Und da man einen, der diese [primären] Güter in hohem Maße besitzt, einen Glücklichen nennt, so kann man das höchste praktische Gut auch als das höchstmögliche Glück des weitesten, unserer Einwirkung zugänglichen Kreises von Lebewesen definieren“ (ebd., 222). Damit klärt sich nun auch das Verhältnis von höchstem praktischen Gut und Glück. Intrinsisch Gutes zu realisieren setzt Brentano mit Glück gleich. Glück ist aber nicht die Motivation, intrinsisch Gutes anzustreben, sondern eine Begleiterscheinung, die sich einstellt, wenn man das erreicht, was man um seiner selbst willen gewollt hat. Das Streben nach dem Guten ist sowohl moralische Pflicht als auch der richtige Weg, um glücklich zu werden. 6. Man kann nun fragen, welche konkreten Ziele bzw. Werte anzustreben sind. Brentanos Wertlehre ist pluralistisch: es gibt nicht einen speziellen Wert oder einen Katalog von Werten, sondern verschiedene Werte, die nebeneinander stehen. Das Maximum wird erreicht, wenn unterschiedliche Werte verwirklich werden: das alleinige Streben nach Erkenntnis ist ebenso unbefriedigend wie das einseitige Streben nach Gerechtigkeit oder Liebe. Stattdessen sollen verschiedene Werte in einem harmonischen Verhältnis – in einer organischen Einheit – stehen, nur dann wird das höchste Gut realisiert. Brentano unterlässt die materiale Ausdeutung der Werte und beschränkt sich darauf, die allgemeine Struktur von Werturteilen und die Verhältnisse von Werten aufzuzeigen.
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Das primär Gute ist das, was um seiner selbst willen angestrebt wird, das sekundär Gute dagegen ist das Mittel zum primär Guten. Daher haben Handlungen, die auf die sekundären Güter gerichtet sind, ebenfalls sittlichen Charakter. Während die primären Werte sich auf psychische Güter beziehen, d. h. zum einen auf die psychischen Akte selbst, zum anderen auf immaterielle Vorstellungen und Begriffe (wie z. B. Gerechtigkeit), fallen unter die sekundären Güter auch materielle Objekte. Physische Dinge besitzen keinen primären Wert, sie sind gut für etwas und somit immer relativ. Sie beziehen ihren Wert aus ihrer Nützlichkeit in einem spezifischen Kontext. Es ist, wie Brentano in „Epikur und der Krieg“ zeigt, fatal, wenn sekundäre Güter wie primäre Güter behandelt werden, wenn etwa der Staat zum primären Gut gemacht wird, obwohl er nur Mittel sein kann: „In diesem heute nur allzusehr verbreiteten Wahn liegt eine der seltsamsten Verkehrungen der Ordnung von Mittel und Zweck, da ja gewiß nicht der Mensch wegen des Staates, sondern der Staat wegen der Menschen da ist, indem jener sich gar nicht als etwas in sich selbst Gutes, sondern nur als etwas Nützliches darstellt“ (EK, 167). Auch psychische Phänomene selbst besitzen unterschiedlichen Wert. Für die Wertlehre auf der Basis psychischer Phänomene, die Brentano entwickelt, sind Gefühle der Dreh- und Angelpunkt. Aus diesem Grund sind sie als Vorbedingung intrinsisch wertvoll. Erst durch sie ist es möglich, Gutes und Schlechtes zu erkennen, höchste Güter als handlungsleitende Motive zu haben und somit überhaupt sittlich zu agieren. Dabei fließen verschiedene Faktoren ein: die Qualität des Objektes, die Quantität des Gefühles und dessen Korrektheit usw. Der Wert einer Emotion wird maßgeblich über die Qualität des Objektes bestimmt. Noetische Gemütstätigkeiten sind wertvoller als sinnliche Lust: „Wer wollte den Genuß beim Rauchen einer guten Zigarre mit dem Genuß, mit der edlen Freude beim Anhören einer Beethovenschen Symphonie oder beim Anblick einer Raphaelischen Madonna vergleichen?!“ (Brentano, 1952, 186). Sinnliche Lust ist zwar auch etwas in sich Gutes (sogar wenn es die Lust an etwas Schlechtem ist), aber den höheren Freuden nicht gleichwertig. Auch die Korrektheit der Gemütsbewegung spielt eine Rolle. Eine korrekte Gemütsbeziehung ist besser als eine falsche. Dies gilt sowohl für die positive als auch für die negative Emotion. Hass ist zwar an sich weniger wertvoll als Liebe, aber wenn er als richtig charakterisiert gilt, ist er dennoch wertvoll. Nicht nur weil er eine Vorstellung enthält, sondern auch weil die Richtigkeit selbst intrinsisch gut ist. Es handelt sich also um ein gemischtes Gut: „So ist denn die richtige Gemüts-
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bewegung in allen ihren Formen ein Gut, wenn auch unter Umständen kein ungemischtes, die unrichtige ein Übel, aber eines mit Beimischung von Gutem, wenn sie den Charakter des Liebens und besonders, wenn sie den der Freude hat“ (ebd., 187). Auch eine unrichtige Emotion besitzt einen Wert, da sie zumindest eine Vorstellung enthält. Grundsätzlich gilt, dass eine positive Emotion einer negativen vorzuziehen ist. Freude ist besser als Trauer, Liebe ist besser als Hass. Die Kombination dieser drei Kriterien führt zu gemischten Gütern, die sowohl Gutes als auch Schlechtes enthalten und immer wieder aufs Neue gegeneinander abgewogen werden müssen. Der Gesamtwert ergibt sich nicht aus der Summation, sondern liegt im inneren Verhältnis begründet. 7. Diese Überlegungen veranlassen ihn auch zur Untersuchung des „Schlechten als Gegenstand der Dichtung“. Für die praktische Anwendung im Bereich der Ästhetik, nämlich in Form der Untersuchung eines literarischen Werkes, stellt sich die Frage, ob nicht die Darstellung eines schönen oder guten Motivs das Werk an sich erhöht bzw. warum der Wert der Tragödie gerade darin liegt, dass Schlechtes dargestellt wird. Dies liegt für Brentano darin begründet, dass der höchste Gegenstand der Tragödie die „Weltentwickelung in der Geschichte“ (SGdD, 145) bzw. die darin verwickelten Einzelschicksale sind. Die Erhabenheit schicksalhafter Verwicklungen wird gerade durch die Darstellung von Leid und Ungerechtigkeit, die ja eigentlich minderwertige Gegenstände sind, besonders hervorgehoben: Die Naturtreue in der Darstellung der Typen des menschlichen Glückes wie der menschlichen Natur verlangt also das, was wir wirklich bei den Tragikern finden. Weit entfernt, daß uns der Tragiker in der Weise, wie er verfährt, ein geringeres Objekt böte, gewährt er uns vielmehr nur so in genügendem Umfange den Einblick in das Erhabendste, was überhaupt Kunst zu veranschaulichen vermag. (Ebd., 147)
Das Erleben eines schönen oder unschönen Gegenstandes ist ebenfalls in erster Linie ein psychischer Akt und keine Ableitung einer von außen konstruierten Norm. Das Schöne als außerhalb des menschlichen Empfindens liegende Idee, wie es in der idealistischen Ästhetik gesehen wird, lehnt Brentano ab. Aber auch das Ansinnen der stärker physiologisch orientierten Psy-
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chologen, allen voran Gustav Theodor Fechner, das Schöne rein empirisch, durch die Suche nach den einfachsten Elementen des Objektes zu finden, findet bei Brentano keinen Anklang (Brentano, 1959, 22). Das Empfinden von Schönheit bezieht sich für ihn in gleicher Weise auf einfache wie auch auf komplexe Werke und ist eine Funktion des psychischen Aktes selbst und nicht des Inhaltes. Das Schöne ist also keine Norm und auch keine objektivierbare Eigenschaft der Dinge.5 Wahrnehmbar ist das Schöne nur in der Vorstellung konkreter Gegenstände. Deshalb ist nicht die Analyse der Gegenstände, sondern die des ästhetischen Urteils über die Vorstellungen Aufgabe der Ästhetik. Die induktive Analyse einer größeren Anzahl von als schön empfundenen Gegenständen kann nach Brentano nicht zur näheren Beschreibung des Schönen beitragen, und schon gar nicht zu einem Begriff, aus dem dann durch Deduktion Prognosen erstellt werden. Brentano bezeichnet diese Vorgehensweise als zu sehr „von oben“, während der richtige Weg für ihn der Weg „von unten“ ist, der in der Analyse der Betrachtung der vollkommen schönen Werke anhebt. Auch hier liegt also der Untersuchung die innere Wahrnehmung zu Grunde. In ihr sind die Strukturen der komplexen ästhetischen Bewertung enthalten und zugänglich. Ästhetische Bewertungen unterscheiden sich darin von Urteilen, dass ihnen, wie den ethischen Bewertungen, ein Gefühl zu Grunde liegt, das sich hier allerdings auf eine Vorstellung richtet. Das heißt aber nicht, dass es sich um einen subjektiven Bewertungsvorgang handelt. Analog zur Evidenz beim Urteil spricht Brentano hier davon, „dass die besonders wertvolle Vorstellung, die uns geboten wird, ein wirkliches und wirklich richtiges, ja noch mehr, ein als richtig charakterisiertes Wohlgefallen in uns erweckt.“ (Brentano, 1959, 17). Dieses Analogon der Evidenz, bzw. die evidentoide, also evidenzähnliche Gewissheit ist Teil des psychischen Phänomens und dient als Indikator für die Richtigkeit des Wohlgefallens. So ist auch hier eine Aussage über apriorische Gesetzmäßigkeiten aufgrund innerer, evidenter Wahrnehmung mög5
Der Bezug zwischen dem psychischen Akt des Gefallens und dem ontologischen Status des Objekts des Gefallens ist problematisch. Der frühe Brentano hält an einer Beziehung zwischen dem Gefühl und der objektiven, auslösenden Eigenschaft und damit an einem objektiven Moment noch fest. Damit besteht eine Art Korrespondenz zwischen Empfindung und Objekt. Im Zusammenhang mit seiner späten reistischen Ontologie setzt er die Betonung stärker auf die Qualität der psychischen Phänomene. Das Abrutschen in eine subjektivistische Theorie wird durch den evidenten Charakter der Wahrnehmung verhindert. Vgl. Pasquerella (1992/1993), 236.
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lich. Das Gefallen an einer Vorstellung geht mit der Einsicht der Richtigkeit dieses Gefallens einher. Eine apriorische Ästhetik verlangt Brentano jedoch nicht, für ihn steht der praktische Aspekt im Vordergrund. Brentano bezeichnet seine Ästhetik als „empirisch“. Empirische Ästhetik heißt analog zur Ethik, dass der Untersuchungsgegenstand das real gegebene Wohlgefallen ist, das sich durch die intentionale Struktur auf ein Objekt bezieht. Die spezielle Bedeutung von empirisch ähnelt eher der aristotelischen Analyse als dem naturwissenschaftlichen Begriff von (experimentell-) empirisch. Ontologische Relevanz schreibt Brentano somit nur dem empfindenden Subjekt zu. Sein Urteil wird in Bezug zu einem evident Urteilenden gesetzt, wodurch sich eine Aussage über die Korrektheit dieses Urteils machen lässt. Schönheit wird dem Objekt nicht als Eigenschaft zugeschrieben, sondern bezieht sich auf die Angemessenheit des Wohlgefallens an der Vorstellung des Objektes. „Schön“ ist damit ebenso wenig ein reales Prädikat wie „gut“. Wie für die Ethik ist auch für die Ästhetik wichtig, dass ihre theoretische Untersuchung und Fundierung auch zu einer praktischen Umsetzbarkeit führt: die Erkenntnisse über Wohlgefallen und Missfallen sind vor allem hinsichtlich der praktischen Künste wichtig. Die Fähigkeit, geniale Leistungen zu erbringen, untersucht Brentano in seiner Schrift Das Genie. Er kommt zu dem Schluss, dass Genialität in Wissenschaft und Kunst nicht auf einer besonderen Fähigkeit beruht oder gar „unbewusstes Denken“ im Spiel ist, sondern vielmehr ein gewisses ästhetisches Grundempfinden gepaart mit Gewohnheit und Übung vorliegt: Hienach erweist sich der Abstand zwischen Genie und gemeinem Talent geringer, als man häufig glaubt. Und in der That besteht zwischen dem einem und anderen keine Kluft, sondern wir finden Zwischenformen, und jeder größere Unterschied erscheint durch Übergänge vermittelt. (G, 126)
Da während Brentanos Lebenszeit nur die hier abgedruckten Artikel veröffentlicht wurden, die systematische Aufbereitung und Publikation seiner Ästhetik aber ausblieb, beschränkte sich die Wirkung auf die unmittelbaren Besucher seiner Ästhetik-Vorlesung. So fanden Brentanos Ideen über Husserl Eingang in die Phänomenologie, über Ehrenfels wirkten sie insbesondere auf die Gestalttheorie. Bei der Ästhetik, der Logik und der Ethik liegt dieselbe Grundstruktur vor. Gegenstand der Untersuchung ist das psychische Phänomen, das die evidente Erkenntnis des „Schönen“, des „Wahren“ und des „Guten“ liefert.
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Die Analyse der Grundstruktur, also der Phänomene an sich, ist Aufgabe der Philosophie. Mit deren Erkenntnissen können die anderen speziellen Fragestellungen angegangen werden. Diese analogen Strukturen der philosophischen Disziplinen entsprechen den drei Klassen psychischer Phänomene: die Ästhetik (das Schöne) der Vorstellung, die Ethik (das Gute) dem Gemütsakt, die Logik (das Wahre) dem Urteil.
Verzeichnis der zitierten und weiterführender Literatur Baumgartner, W., Pasquerella, L. (2004). Brentano’s Value Theory: Beauty, Goodness and the Concept of Correct Emotion.. In: D. Jaquette (ed.), The Cambridge Companion to Brentano. Cambridge: Cambridge University Press, 220–236. [Brentano, F.] (1876). Der neueste philosophische Versuch in Frankreich. In: Neue Freie Presse, 29. September 1876, 4; 6. Oktober 1876, 4. In diesem Band, 1–17. Brentano, F. (1889). Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis. Leipzig: Duncker & Humblot. Um mehrere Abhandlungen erweiterter Neudruck mit Einleitung u. Anmerkungen hrsg. v. O. Kraus, Leipzig: Meiner 21921; Meiner 31934; Hamburg: Meiner 41969. In diesem Band, 19–98 (Abk.: UsE). Brentano, F. (1892a). Das Genie. Leipzig: Duncker & Humblot. In diesem Band, 99–127 (Abk.: G). Brentano, F. (1892b). Das Schlechte als Gegenstand dichterischer Darstellung. Leipzig: Duncker & Humblot. In diesem Band, 129–155 (Abk.: SGdD). Brentano, F. (1893). Das Recht auf Selbstmord. In: Deutsche Zeitung, 6. September 1893, 4. In diesem Band, 157–160. Brentano, F. (1895). Vorwort zu A. Herzen, Wissenschaft und Sittlichkeit. Lausanne: Payot, III–VI. (2. Aufl. Berlin: Verein Jugendschutz, 1897). In diesem Band, 161–164. Brentano, F. (1902). The Origin of the Knowledge of Right and Wrong. English translation by C. Hague. Westminster: Archibald Constable & Co., Ltd. Brentano, F. (1916). Epikur und der Krieg. In: Internationale Rundschau. Zürich, 15. Januar 1916, 45–47. In diesem Band, 165–169 (Abk.: EK). Brentano, F. (1952). Grundlegung und Aufbau der Ethik. Hamburg: F. Meiner (Unveränderter Nachdruck 1978). Brentano, F. (1959). Grundzüge der Ästhetik. Aus dem Nachlass herausgegeben und eingeleitet von Franziska Mayer-Hillebrand. Hamburg: F. Meiner (Unveränderter Nachdruck 1988). Brentano, F. (1968). Psychologie vom empirischen Standpunkt. Dritter Band: Vom sinnlichen und noetischen Bewußtsein. Mit Anmerkungen hrsg. v. O. Kraus. Neu eingeleitet u. revidiert v. F. Mayer-Hillebrand. Hamburg: F. Meiner (Unveränderter Nachdruck 1974). Chisholm, R. M. (1986). Brentano and Intrinsic Value. Cambridge: Cambridge University Press. Fabian, R., Simons, P. (1986). The Second Austrian School of Value Theory. In: B. Smith / W. Grassl (eds.), Austrian Economics: Historical and Philosophical Background. New York: New York University Press, 37–101. Kraus, O. (1901). Zur Theorie des Wertes. Eine Bentham-Studie. Halle a. S.: Max Niemeyer.
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McAlister, L. (1982). The Development of Franz Brentano’s Ethics. Amsterdam Rodopi. Moore, G. E. (1903). Review of The Origin of the Knowledge of Right and Wrong. In: International Journal of Ethics, Vol. 14, No. 1. (Oct. 1903), 115–123. Pasquerella, L. (1992/1993). Brentano and Aesthetic Intentions. In: Brentano Studien IV, 235–249. Reimherr, A. (2007). Carl Menger und Franz Brentano – Ursprünge der österreichischen Werttheorie. In: Brentano Studien XI, 13–39. Smith, B. (1986). Austrian Economics and Austrian Philosophy. In: B. Smith / W. Grassl (eds.), Austrian Economics: Historical and Philosophical Background. New York: New York University Press, 1–36.
Editorische Vorbemerkung Wie schon im Vorwort der Herausgeber erwähnt, bietet dieser Band eine Besonderheit, die eine spezielle Erwähnung verdient: Der diesen Band eröffnende Text „Der neueste philosophische Versuch in Frankreich“ wird hier erstmals als ein Text Brentanos veröffentlicht. Natürlich handelt es sich auch hier um einen bereits veröffentlichten Text, aber die Erstveröffentlichung 1876 im Abendblatt der Wiener Neuen Freien Presse erfolgte unter dem Pseudonym „B. L.“. Dass es sich hier wirklich um einen Text von Brentano handelt, zeigt ein kurzer Blick auf die Auffindungsgeschichte. Bei der Durchsicht und Erfassung des Nachlasses von Alfred Kastil1, der sich im ehemaligen Sommerhaus Brentanos in Schönbühel bei Melk befindet, wurden auch zahlreiche Originalmanuskripte entdeckt. Bei den meisten davon handelt es sich lediglich um kurze Notizen. Unter den wenigen längeren zusammenhängenden Texten fand sich auch ein Manuskript, das eine kritische Besprechung des Werkes La Civilisation et ses Lois. Morale Sociale von Theophile Funck-Brentano darstellt. Da dieses Manuskript trotz zweier alternativer Anfänge und zahlreicher Korrekturen über weite Strecken eine Reinschrift ist, war es offenbar für eine Publikation gedacht. Aber an welchem Ort? In der Bibliographie der Primärschriften Brentanos2 findet sich jedenfalls kein Hinweis. Die Lösung des Rätsels fand sich dann einige Jahre später im Schweizerischen Blonay im Nachlass von J. C. M. Brentano3. Dort tauchten nämlich die entsprechenden Zeitungsausschnitte mit der anonymen Rezension aus der Neuen Freien Presse auf, die sich dann unschwer dem Manuskript aus Schönbühel zuordnen ließen. 1
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Alfred Kastil (1874–1950) war einer der Prager Schüler von Anton Marty, Brentanos engstem Weggefährten. Von 1909 bis 1933 Inhaber eines philosophischen Lehrstuhls an der Universität Innsbruck war er neben Oskar Kraus die treibende Kraft bei der Herausgabe zahlreicher Schriften aus dem Nachlass Brentanos, die in der Philosophischen Bibliothek des Felix Meiner-Verlages erschienen. Vgl. Wilhelm Baumgartner, Franz-Peter Burkard: „Franz Brentano Bibliographie“. In: W. L. Gombocz, R. Haller, N. Henrichs (Hrsg.), Internationale Bibliographie zur österreichischen Philosophie 1892/1983. Amsterdam/Atlanta (1990), S. 54–74. J. C. M. Brentano (1888–1969), auch Gio oder John Brentano genannt, war der einzige Sohn von Franz Brentano. Gio Brentano war Physiker, widmete sich aber gemeinsam mit seiner Frau Sophie (geb. van Seembruggen) Zeit seines Lebens der Verbreitung der Schriften seines Vaters. Nach seiner Emeritierung an der Northwestern University (Evanston, Ill.) verbrachte er seine letzten Lebensjahre in der Schweiz.
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Editorische Vorbemerkung
Noch ein weiterer Aspekt verdient hier kurz Erwähnung. Wie der Doppelname des Autors des rezensierten Werkes verrät, besteht eine familiäre Beziehung zu den Brentanos. Diese kam dadurch zustande, daß der gebürtige Luxemburger Theophile Funck (1830–1906)4 Brentanos Schwester Sophie (1839–1916) heiratete. Aus dem Jahr 1862 existiert ein Foto, das den jungen Brentano gemeinsam mit der Schwester Sophie, mit Joseph Merkel, dem Hauslehrer der Brentanos und mit Theophile Funck zeigt. Dass Brentano auf der letzten Seite des Manuskriptes noch notiert: „Über Theos Morale Social“ dokumentiert ebenfalls die familiären Beziehungen. Wie der Leser feststellen wird, ist die Rezension selbst stellenweise aber durchaus kritisch, ja der Schluß schon fast polemisch zu nennen. Darüber, ob das der Grund ist, dass die Besprechung anonym erschienen ist, läßt sich aber nur spekulieren. So viel zum „Neuesten Versuch“. Zur vorliegenden Edition des umfangreichsten Textes dieses Bandes, Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis [UsE ], des neben der Psychologie vom empirischen Standpunkte wohl bekanntesten Werkes Brentanos, sind zwei Punkte anzumerken. Die am meisten verbreitete Edition des Ursprungs sittlicher Erkenntnis ist sicher die bei Meiner erschienene von Oskar Kraus. Hatte Kraus in der 2. Auflage von 1921 noch zahlreiche Anmerkungen gekürzt oder überhaupt weggelassen5, so hat er diese, nachdem jene Auslassungen von „beachtenswerter Seite“ getadelt worden waren,6 für die 3. Auflage wieder hergestellt, aber auch diesmal wieder, wie er zugibt, nicht vollständig; vor allem die ausführlichen Auseinandersetzungen Brentanos mit Windelband und Sigwart, die das engere Gebiet der Ethik überschreiten, wurden gekürzt oder weggelassen. Diese 3. Auflage 4
Funck, der später mit seiner Frau nach Paris übersiedelte, war ab 1873 Professor an der École libre des sciences politiques und Mitbegründer des Collége libre des sciences économiques et sòciales. Eines der drei Kinder der FunckBrentanos war Frantz Funck-Brentano, ein bekannter französischer Schriftsteller.
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Vgl. Oskar Kraus, „Einleitung“. In: Franz Brentano, Von Ursprung sittlicher Erkenntnis. Zweite Auflage. Nebst kleineren Abhandlungen zur ethischen Erkenntnistheorie und Lebensweisheit herausgegeben und eingeleitet von Oskar Kraus. Leipzig: Meiner (1921), S. XII. Vgl. Oskar Kraus, „Zur Einleitung“. In: Franz Brentano, Von Ursprung sittlicher Erkenntnis. Mit Unterstützung der Brentano-Gesellschaft herausgegeben, eingeleitet und mit Anmerkungen und Register versehen von O. Kraus. Dritte, neuerlich um Erstveröffentlichungen aus dem Nachlaß vermehrte Auflage. Leipzig: Meiner (1934), S. XVI.
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Editorische Vorbemerkung
Der Beginn des in Schönbühel aufgefunden Manuskriptes „Der neueste philosophische Versuch in Frankreich“. Kastil hat an einigen Stellen Brentanos mit Bleistift geschriebenen Text mit schwarzer Tinte überschrieben, „um die Lesbarkeit zu verbessern“.
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Editorische Vorbemerkung
von 1934 wurde 1955 und 1969 unverändert neu gedruckt. Die vorliegende Ausgabe dagegen gibt den vollständigen Text der Erstveröffentlichung von 1889 mit allen Anmerkungen wieder. Allerdings haben sich – und hiermit sind wir beim zweiten Punkt angelangt – die Herausgeber nach einigen Diskussionen doch zu einer Abweichung von der Erstauflage entschlossen und die von Brentano als Beilage bezeichnete Abhandlung „Miklosich über subjektlose Sätze“ nicht abgedruckt. Die Gründe dafür sind zum einen inhaltlicher Natur: Die Abhandlung ist definitiv kein Text zur Ethik oder zur Wertlehre, und wo er sich erläuternd mit UsE sittlicher Erkenntnis berührt, behandelt Brentano Fragen der Urteilstheorie. Zum anderen dürfte Brentano ganz einfach die Möglichkeit genutzt haben, einen kaum zugänglichen Text besser zu präsentieren. In Anmerkung 23 zu UsE schreibt er: „Durch Unverstand verirrte [die Abhandlung] sich als Feuilleton in die Wiener Zeitung. Da sie dort gewiß niemand gesucht hat, will ich sie hier, am Ende, als Beilage anfügen“7. Die Abhandlung über Miklosich wird in den Vermischten Schriften, dem neunten Band von Brentanos Sämtlichen veröffentlichten Schriften erscheinen. Eine kurze Anmerkung sei auch noch zum „Vorwort der deutschen Übersetzung“ von Alexander Herzens Wissenschaft und Sittlichkeit erlaubt. Die Schrift Herzens, die sich mit dem Verfall der männlichen Sexualmoral im ausgehenden 19. Jahrhundert befasst, war offensichtlich auch im deutschen Sprachraum sehr populär. Das erklärt, warum nicht nur die in Lausanne publizierte Erstauflage von 1895 zweimal nachgedruckt (1896 und 1897), sondern auch die 1901 in Berlin veröffentlichte 2. Auflage gleich dreimal (1904, 1908 und 1910) neu gedruckt wurde. Die beiden Auflagen unterscheiden sich vor allem dadurch, dass in der letzteren dem Vorwort Brentanos noch ein weiteres markiges Vorwort von Adolf Harnack, dem Rektor der Berliner Universität, beigesellt wird, der es im Gegensatz zu Brentano nicht unterläßt, eine Beziehung zwischen der Sexualmoral und der Zukunft des Vaterlandes herzustellen. Es bleibt die bemerkenswerte Tatsache, dass dieser kleine Text jener Text Brentanos ist, der zu seinen Lebzeiten die meisten Nachdrucke erfahren hat. Nun zu den editorischen Richtlinien im Einzelnen. Alle Texte werden unverändert in der jeweiligen Rechtschreibung abgedruckt. Es werden in der Regel keine Versuche gemacht, die Schreibung von Namen oder Begriffen und die Zitierweise zu vereinheitlichen, außer die Schreibweise ist selbst 7
S. 68 der vorliegenden Ausgabe.
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innerhalb eines einzelnen Textes nicht konsistent; in den Beiträgen des vorliegenden Bandes fallen etwa die völlig uneinheitlichen Titel der zitierten englischsprachigen Literatur auf. Ebenfalls völlig uneinheitlich ist Brentanos Verwendung von eckigen bzw. runden Klammern, wenn er Auslassungen oder Ergänzungen von Zitaten markiert. Da alle diesbezüglichen Stellen aber ohne weiteres verständlich erscheinen, haben die Herausgeber auch hier auf eine Vereinheitlichung verzichtet. Sperrungen der Originaltexte werden generell in Kursive umgewandelt. Kursivschrift von Namen wird hingegen ebenso generell entfernt wie Kapitälchen. Lateinische bzw. fremdsprachige Phrasen sind in Brentanos Publikationen häufig auch typographisch ausgezeichnet. Wenn etwa der Grundtext in Fraktur gesetzt ist, dann sind die erwähnten Bezeichnungen oder Phrasen in einer Antiqua gesetzt. Diese Auszeichnungen werden in der vorliegenden Ausgabe ebenfalls kursiv wiedergegeben. Wenn es sich allerdings bei solcherart ausgezeichneten Textstellen um längere Passagen handelt, wird zugunsten einer besseren Lesbarkeit auf den kursiven Text verzichtet (vgl. z. B. Fußnote 7 auf S. 151). So weit es ihr Umfang erlaubt, werden Endnoten oder Anmerkungen zu durchgehend nummerierten Fußnoten umgewandelt. In diesem Band wurde bei der Abhandlung über „Das Schlechte als Gegenstand dichterischer Darstellung“ so verfahren; die Anmerkungen in UsE sprengen dagegen den Umfang jeder Fußnote und wurden deshalb als Endnoten belassen (in diesem Fall hat Brentano den Endnoten sogar noch einige Fußnoten hinzugefügt). Bei allen Verweisen Brentanos auf eigene Schriften werden die Seitenzahlen an die vorliegende Ausgabe angepasst. Soweit Brentano selbst Anweisungen zur Berichtigung von Druckfehlern gibt, werden diese selbstverständlich berücksichtigt. Auf einen getrennten Abdruck der Schriften zur Ethik einerseits und zur Ästhetik andererseits wurde verzichtet: Die Texte sind chronologisch nach dem Zeitpunkt der Erstpublikation angeordnet.
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Bibliographische Angaben zu den jeweiligen Erstdrucken: 1.
2. 3. 4. 5. 6.
7.
„Der neueste philosophische Versuch in Frankreich“. In: Neue Freie Presse. Abendblatt. Wien. Teil 1: 29. September 1876 (Nr. 4345), 4; Teil 2 und Schluss: 6. Oktober 1876 (Nr. 4352), 4. [Veröffentlicht unter dem Pseudonym „B. L.“] Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis. Leipzig: Duncker & Humblot, 1889. Das Genie. Leipzig: Duncker & Humblot, 1892. Das Schlechte als Gegenstand dichterischer Darstellung. Leipzig: Duncker & Humblot, 1892. „Das Recht auf den Selbstmord“. In: Deutsche Zeitung. Wien, 6. September 1893 (Nr. 7792), 4. „Vorwort der deutschen Uebersetzung.“ In: Alexander Herzen, Wissenschaft und Sittlichkeit. Lausanne: Payot, 1895. [Unveränderte Neudrucke 1896 und 1897. Eine Neuauflage der Schrift Herzens mit einem zusätzlichen Vorwort von Adolf Harnack erschien 1901 in Berlin im Verlag des „Verein Jugendschutz“; diese Neuauflage wurde mit geringfügigen Änderungen 1904, 1908 und 1910 wieder abgedruckt.] „Epikur und der Krieg“. In: Internationale Rundschau. Zürich, 15. Januar 1916, 45–47.
Der neueste philosophische Versuch in Frankreich (La civilisation et ses lois, morale sociale par Th. Funck-Brentano, professeur de droit des gens à l’école libre des sciences politiques. Paris, E. Plon et Comp., 1876)
[I.] Das Volk, welches in Descartes der modernen Speculation den ersten Anstoß gegeben, schien lange Zeit wie durch eine Frühgeburt erschöpft. Die Niederlande, England, Deutschland führten in Spinoza, Locke, Leibnitz und ihren Nachfolgern die Philosophie zu weiterer Entwicklung; Frankreich sah müßig zu oder spielte nur mit den Ideen, die es dem Auslande entlehnte, mannichfach combinirte und mit rednerischem Schmucke umkleidete. Aber unmöglich konnte eine begabte Nation, die in allen anderen Fragen für Europa den Ton anzugeben liebt, sich auf dem höchsten Gebiete für immer mit einer so bescheidenen Rolle begnügen. Und so ist in der That in neuester Zeit in A. Comte ein Denker aufgetreten, dem weder der begeisterte Eifer für die erhabensten Fragen, noch auch die scharfsinnige Kraft zur Verkettung der Ideen fehlte, welche den wahrhaft großen Philosophen über die Masse niedriger Geister emporheben. Mill scheut sich nicht, ihn Descartes und Leibnitz an die Seite zu stellen, ja er nennt ihn diesen überlegen, „wenn nicht“, sagt er, „innerlich, zum mindesten darum, weil es ihm vergönnt war, über eine gleiche geistige Kraft in einer vorgeschritteneren Cultur-Epoche zu verfügen.“ Immerhin ward auch Comte zu seinen Lebzeiten wenig beachtet. Für seine Landsleute war sein barbarischer und, wie sie sich ausdrückten, „deutscher“ Styl ein Hinderniß, das nur Wenige (z. B. Littré) zu überwinden wussten. „Der Styl ist der Mensch“, das hat in Frankreich seine volle praktische Wahrheit. Bei anderen Völkern wirkten theils die Vorurtheile, die sich mehr und mehr gegen die französische Philosophie im Allgemeinen gebildet hatten, theils Extravaganzen von Comte’s späteren Speculationen seinem Erfolge entgegen. Dennoch hat zuletzt seine Lehre, besonders in England, zahlreiche Anhänger gewonnen. Heute liegt uns abermals das Werk eines französischen Forschers vor, welches auch jenseits der Grenzen seiner Heimat in hohem Maße auf Beachtung Anspruch hat: „Die Civilisation und ihre Gesetze, soziale Moral von Th. Funck-Brentano.“ Der Titel des Werkes ist für dasselbe in hohem Grade charakteristisch. Doppelt, wie er ist, erscheint er auf den ersten Blick paradox, denn die eine Fassung scheint sich mit der andern nicht zu decken. Die Darlegungen socialer Moral beschäftigen sich gemeiniglich wenig mit Untersuchungen über die Cultur und ihre Gesetze. Nur der eigenthümliche Standpunkt des Verfassers bringt die verschiedenen Aufgaben zur Einheit. Man könnte die
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fünf Bücher, in welche das Werk zerfällt, als ebenso viele Beiträge zur Philosophie der Geschichte bezeichnen. Das erste Buch spricht von den Sitten und Gesetzen. Hier zeigt sich vielfach der Einfluß von Montesquieu, und mehr noch lebt darin etwas von den Ideen unseres großen Savigny. Doch alles ist aus Einem Gusse, und der Verfasser prägt auch dem Fremden den ihm eigenthümlichen persönlichen Stempel auf. Ein ursprüngliches Recht gibt es nicht; das Recht entsteht erst mit dem Bewußtsein der Pflicht; das ursprüngliche Recht sind Zähne und Krallen der Tiger und Löwen. Zum Pflichtgefühle gelangt der Mensch in der Gesellschaft; mit der Sprache bilden sich hier die Sitten aus, und auf die Sitten gründet sich das Gesetz, wie auf die Sprache die Grammatik sich gründet. Daß die Gesetze schlecht seien, rechtfertigt nicht den Ungehorsam, der auf die Auflösung der Gesellschaft hinarbeitet. Kein Gesetz ist absolut schlecht. „Jeder folge den Sitten seines Volkes; sie stellen das Vaterland in seiner intellectuellen und moralischen Entwicklung dar; außer ihnen ist der Mensch nur ein armer Wilder.“ Der Verfasser bespricht nun in drei ausgedehnten Capiteln die Liebe der Familie, des Besitzes und des geselligen Verkehrs und Anschlusses an Andere, in welchen er mehr als in der Nothwendigkeit und den Bedürfnissen des Lebens die Vorbedingungen der gesellschaftlichen Entwicklung sieht. In Bezug auf Ehe und Eigenthum zeigt er sich streng conservativ. Die Forderung der Aufhebung der Ehe und der Emancipation der Frauen werden als Angriffe auf die erste Grundlage der Gesellschaft mit beredter Entrüstung zurückgewiesen und die Nothwendigkeit der Vererbung des Vermögens von Eltern auf Kinder mit beachtenswerthen Gründen zu erweisen gesucht. Eine Harmonie zwischen moralischem und materiellem Fortschritt ist nöthig. Das lehrt die Erfahrung im Großen wie im Kleinen. Büßt ein Volk plötzlich seinen Wohlstand ein, so ist auch sein geistiger und sittlicher Verfall unvermeidlich. Umgekehrt wirkt aber auch die unverhältnißmäßig rasche Bereicherung auf die höheren Güter der Cultur nachtheilig ein. Die höchste Gefahr für die moderne Gesellschaft ist darum die übergroße Beweglichkeit der Vermögen. Sind die Liebe zu Familie und Besitz die ersten Vorbedingungen der Gesellschaft, so ist das Bedürfnis nach Anschluß an unseresgleichen die nächste Grundlage der eigentlich sogenannten öffentlichen Sitten. Auf Grund von Familien-Ueberlieferungen bilden sich nunmehr National-Traditionen. Mit ihnen wächst die intellectuelle und moralische Einheit der
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Völkerschaft. Es entstehen verschiedene Verfassungen, nicht in Folge verschiedener Ansichten über die Principien der Regierung, sondern als einfache Wirkungen der Entwicklung, welche die öffentlichen Sitten genommen haben. Jede Verfassung ist gut, welche der Entwicklung der Sitten entspricht. Jede verlangt besondere Tugenden. Jede trägt aber auch, da die Sitten einer Nation im Verlaufe der Zeit sich ändern und verfallen, nothwendig den Todeskeim in sich. Der Verfasser wendet sich zunächst der Betrachtung der öffentlichen Sitten der Monarchien zu. Er zeigt die Entwicklung des Königthums, sowie dessen natürliche Tendenz, persönlich und willkürlich zu werden. Ebenso bespricht er dann die Sitten der Aristokratien. Sie treten in der Geschichte später auf als die absoluten Monarchien und verfallen durch die Uneinigkeit der Großen, wenn Veränderungen Bedürfnis geworden sind. Neuerer und Conservative bekämpfen sich. Der Fremde wird zu Hilfe gerufen. Die Nation selbst verfällt oder ein Führer triumphirt an der Spitze der populären Partei. Der Adel besteht dann noch fort. Mehr und mehr politisch unfähig, klammert er sich um so zäher an seine Rechte, die zu bloßen Vorurtheilen geworden sind. Es folgt die Betrachtung der Sitten der Timokratien, wo der Reichthum den politischen Einfluß bestimmt. Auch sie lassen in ihrem Bestande eine Periode aufsteigender Entwicklung und eine Periode unterscheiden, wo die Erfahrung der Mißstände zu Revolutionen und Reformbestrebungen führt. Hier vorzüglich entbrennt die sociale Frage. An ihr wird England zu Grunde gehen. An letzter Stelle kommt die Untersuchung über die öffentlichen Sitten in den Demokratien. Dem Verfasser schwebt hier vorzüglich Frankreich vor Augen. Die Demokratie ist die letzte Form der socialen Entwicklung bei den Völkern, bei welchen der Zusammenhang stark genug ist, um alle inneren und äußeren Stürme zu überdauern. Manche Völker kommen zu ihr erst im Zustande der Erschöpfung. Was dann entsteht, ist nicht die wahre Demokratie. Diese entspringt aus gemeinsamer Einsicht und Liebe des allgemeinen Besten. In directem Verhältnisse zur Kraft und Allgemeinheit dieser Tugenden steht das Ansehen der Institutionen. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit finden dann ihre richtige Fassung und Verwirklichung. Was die Demokratie zum Verfalle führt, ist die Vervielfältigung der Bedürfnisse, die Lockerung der Familiensitten, an welche das Verzehren der gemeinsamen Traditionen sich knüpft, und die Abnahme der Arbeitsamkeit. Es kommt die Epoche der Sophisten und Redner, die absurde Rechte predigen und chimärische Institutionen befürworten. Das Volk schlürft gierig das süße Gift. Das falsche Ideal ist für dasselbe die intellectuelle Anarchie, die
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der politischen vorhergeht. Der Despotismus ist unentbehrlich geworden. Er ist die letzte Regierungsform für Nationen, die Alles, sogar das Verlangen, sich selbst zu regieren, verloren haben. Die wahre Verfassung aller modernen Staaten ist die von königlichen Republiken. Aus der Verbindung eines republikanischen mit einem monarchischen Elemente, der römischen Provinzial- und Municipalräthe mit der militärischen Organisation der Barbaren sind sie entsprungen, und allgemein zeigt sich in ihnen die Tendenz nach einförmiger und gleichheitlicher Gesetzgebung und einer centralen Leitung, welche den Bedürfnissen ihres Bestandes entsprechend controlirt und getheilt ist. In dieser Tendenz liegt an und für sich ein beträchtlicher Fortschritt im Vergleiche zu den älteren Civilisationen. Aber wenn sie nur Folge der Vervielfältigung unserer intellectuellen Daten und nicht zugleich der erhöhten Kraft unserer Sitten ist, so sind wir zu raschem Verfalle verurtheilt. In Wahrheit scheint es dem Verfasser, daß wir auf abschüssigem Wege uns befinden. Die letzten beiden Capitel des Buches beschäftigen sich darum mit der Frage, wie eine Besserung der gesellschaftlichen Zustände herbeigeführt werden könne. Man erwartet gewöhnlich alles Heil von einer Reform der Gesetze und der Verfassung. Aber dem Verfasser gewinnen die Gesetze nur durch die entsprechenden Sitten Kraft und Leben. Ohne gute Sitten macht man keine guten Gesetze. Wurzelt das Gesetz nicht in den Sitten, so ist es ein todter Buchstabe. Droht die Autorität des Gesetzes zu erlöschen, so können sich die Nationen nur durch eines retten, nämlich durch Zurückgehen auf die ersten Ursachen des Uebels und durch Besserung ihrer Sitten. „Es gibt nur Einen Quell der Größe für Nation und Individuum: die intellectuelle Einigung der Bürger und die Energie ihrer Affectionen.“ Dieser Gedanke, den der Verfasser schon in der Einleitung ausspricht und der sich als roter Faden durch das ganze Werk hindurchzieht, ist es, den er auch hier mit Nachdruck geltend macht. Sind die häuslichen und öffentlichen Sitten im Erlöschen oder durch Sophisten und politische Redner verderbt, so gibt es nur ein Rettungsmittel: nicht Despotismus – er vollendet nur die allgemeine Corruption – sondern Einvernehmen und Einigung der politischen Parteien. „Wer Partei sagt, sagt Irrthum.“ „Die Pflicht, sich mit seinesgleichen zu verständigen, ist die höchste des menschlichen Geschlechtes.“ Einigung, Verständigung ist aber nur auf Grund tieferer politischer Einsicht möglich. Ohne Erhebung zu höherem politischen Wissen, welches in letzter Analyse aus der gründlichen Erforschung der Reciprocität unserer Pflichten
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sich ergibt, sind die modernen Völker gerade in Folge ihres Reichthums und ihrer politischen Entwicklung dem Untergange geweiht. So fällt denn der Schwerpunkt der Reformfrage ganz in das Gebiet der Wissenschaft, und wir folgen mit gesteigertem Interesse dem Verfasser zu den Untersuchungen des zweiten Buches, welches von den Glaubensüberzeugungen und Wissenschaften handelt. In der Geschichte der Entwicklung des Glaubens und Wissens scheint der Verfasser drei große Perioden zu unterscheiden: die Zeit der ursprünglichen Religionen, die griechischrömische und die christlich-mahomedanische Zeit. In der ersten wird noch nirgends ein Princip der exacten Wissenschaft losgelöst; der Glaube umfaßt die ganze Natur. Zum religiösen Glauben führt die Unkenntniß der Gesetze; die Beschränktheit der Erklärungsmittel ließ jedes außerordentliche Phänomen die großartigsten Verhältnisse annehmen. Das Priestertum aber entstand, indem man Andere zur Deutung der Visionen und Verscheuchung der Phantome zu Hilfe rief. Der Fetischismus der Wilden wurde bei Hirten und Ackerbauern zum Naturalismus entwickelt. Die Verwirrung, welche mehr und mehr hinsichtlich der Attribute der Götter zu entstehen drohte, führte zu den ersten Versuchen von Theogonien und Kosmogonien. Egypten stieg schließlich in seinem Ammon-Re zum Begriff eines höchsten unerforschlichen Gottes auf, welcher die Quelle der gesammten Ordnung ist. Aehnlich kamen die Assyrier zu ihrem Gotte Assur, während Phönicien, durch die Interessen des Handels und der Industrie völlig absorbirt, sich in seinen religiösen Anschauungen nicht weiter entwickelte. Auch die Religionen der Perser, der indischen Arier und der Juden gehören noch dieser Periode an. Dieses Volk hatte das besondere Glück, mit der Cultur aller vorgeschritteneren Nationen, der Egypter, Phönicier und Babylonier, in Berührung zu kommen. In Folge davon bewahren seine heiligen Bücher am wenigsten Spuren der fetischistischen Zeit. Der Gott des Moses ist aber im Wesentlichen der verborgene Gott, den schon Egypten verehrte. Als die ursprünglichen Religionen nicht weiter harmonisch sich fortbilden konnten, entstand eine Fülle individuell verschiedener Auffassungen, die mehr und mehr zur Desorganisation und schließlich zu einem Rückfalle in den Fetischismus führte. In der zweiten Periode, der griechisch-römischen, macht sich bereits eine Wissenschaft unabhängig vom Glauben bemerklich. Die griechische Religion war ein Anthropomorphimus, der die Gottheit vom Phänomen trennte. Von keiner Priesterclasse getragen, waren die Glaubensüberzeugungen außerordentlich veränderlich. So wurden Theogonien und Kosmogonien
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versucht, und von diesen Versuchen ging man zur ersten wissenschaftlichphilosophischen Forschung über. Der Verfasser zeichnet in großen Zügen die Fortbildung, welche die Philosophie von Heraklit und Parmenides bis zu Sokrates, Platon und Aristoteles erfuhr, und zeigt, wie auch die Mathematik, Astronomie, Physik, Medicin, Moral, Politik, Zoologie und Botanik damals die ersten Schritte machten. Dann betrachtet er den Verfall des griechischen Glaubens und Wissens, den Rom nicht hemmte, sondern nur zur Vollendung brachte. Was den griechischen Glauben zum Verfalle führte, waren seine übergroße Verwicklung und seine Ausschreitungen. Die Ursache des Verfalles der antiken Wissenschaft lag nicht, wie manche meinen, in dem Verfalle des Glaubens, dem gegenüber sie eine selbstständige Stellung gewonnen hatte, sondern, zunächst wenigstens, in ihr selbst, nämlich, wie der Verfasser ausführlich zu erweisen sucht, in der irrigen Annahme, daß die allgemeinen Begriffe das Wesen der Dinge darstellten. Immerhin trug indirect auch der Verfall des religiösen Glaubens zum Verfalle der Wissenschaft bei, und die Weisen vollendeten, indem sie den Glauben ihres Volkes bestritten, die Zerstörung der letzten Bedingungen des Fortschritts, nämlich der intellectuellen Einheit der Massen. Da erscheint das Christenthum. Der Verfasser, obwol, wie man sieht, nichts weniger als sein gläubiger Anhänger, erhebt mit Wärme die Vorzüge der Lehre Christi. Sie war in jenem Augenblicke der höchste Ausdruck alles Fortschrittes und aller Sehnsucht in den durch die gesellschaftliche Krisis angehäuften Leiden. Wer immer nach festen sittlichen Anschauungen und tröstlichen Hoffnungen ein Bedürfniß fühlte, schloß sich der Lehre an. Aber bald mussten Meinungsverschiedenheiten und Streitigkeiten entstehen, und da war es Rom, das, wie es nie den Geist der Untersuchung gekannt hatte, auch jetzt keinen Speculationen sich hingab, aber seinen praktischen und legislativen Geist in den Streit der Parteien hineintrug und so seine Oberherrlichkeit über die Nationen wiedergewann. Den Verfall der antiken Civilisation konnte aber die Ausbreitung des Christenthums nicht hemmen. Er schritt weiter fort, bis neue Völker kamen, welche die den Griechen und Römern verlorene Frische der Gedanken und Unbefangenheit des Gemüthes bewahrt hatten. Solche Völker waren die Araber und die durch die Völkerwanderung über das Römerreich sich ergießenden Barbaren. Der Verfasser zeigt, warum die Araber nach einer kurzen Blüthe raschem Verfalle zueilten. Namentlich stand ihre geringe Zahl zu ihrer weiten Verbreitung in allzu unglücklichem Verhälnisse. Günstiger waren die Bedingungen der germanischen Stämme. Und in der That erhob sich in den von ihnen
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überflutheten Ländern eine neue Cultur. Im Mittelalter wird der Grund dafür gelegt. Aehnlich wie Comte und Littré weiß der Verfasser ihm mehr, als es sonst üblich ist, gerecht zu werden, ja er nennt es geradezu die größte Epoche der Geschichte. Was ihn zu dieser Behauptung führt, der Wenige zuzustimmen geneigt sein dürften, ist leicht ersichtlich. Am Ende des Mittelalters beginnt bereits die Desorganisation des christlichen Glaubens, und durch sie geht jene geistige Einigung verloren, welche nach dem Verfasser dem Fortschritte der Cultur vor Allem wesentlich ist. „Die Reformation ist an und für sich der erste Einhaltspunkt des modernen Geistes.“ Doch das Mittelalter brachte nicht blos die Glaubenslehre zu einem Punkte, wo sie nicht weiter zu entwickeln war, es überliefert uns auch alle Elemente einer Wiedergeburt der Wissenschaft. Auf diesem Felde folgt also erst jetzt die schönste Blüthe. Nichtsdestoweniger trug dieselbe den Keim des Todes in sich, und schon heute beginnt sie zu welken. Der Verfasser sucht zu zeigen, wie die Wissenschaft schon jetzt keine wesentlichen Fortschritte mehr macht. Schreitet sie aber nicht weiter fort, so muß sie und wird sie verfallen. Ihr Zustand ist bereits analog dem Zustande der antiken Wissenschaft, da sie ihren Höhepunkt überschritten hatte. Der Verfall der Kirche aber hat bereits riesige Verhältnisse angenommen. Kleinlich und äußerlich ist sie geworden und ist auf dem besten Wege, zu dem Zustande der alten Theokratien zurückzukehren. Indem sie selbst den Anspruch auf wissenschaftliche Wahrheit erhebt, will sie die wahre Wissenschaft hemmen. Indessen dürfen wir nicht glauben, daß der Verfasser auf Grund solcher Anschauungen zum Kampfe gegen die Kirche auffordern werde. Im Gegentheile! Trotz des Verfalls, meint er, sollen wir die Kirche ehren und nicht etwa blos als eine großartige sociale Erscheinung, sondern vorzüglich darum, weil ihre Existenz eine historische und sociale Nothwendigkeit ist. „Die Schnelligkeit der Fortschritte der Völker und der Entdeckungen der Menschen steht in directem Verhältnisse zu ihrer intellectuellen Einigung. Nur durch Einigung und Eintracht können wir in der Politik, im Glauben und in der Wissenschaft uns erheben.“
II. Das Gute, das in den Sitten des Volkes, die Wahrheit, die in der Wissenschaft sich verwirklicht, sind nicht die einzigen Blüthen der Civilisation. Es kommt zu ihnen das Schöne in den Werken der Kunst und Literatur.
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Mit ihnen beschäftigt sich der dritte Band. Immer edel und gewählt, erhebt sich hier die Sprache des Verfassers zu höherer rednerischer Vollendung. Er fühlt die Größe seines Gegenstandes. Ja über alle Erzeugnisse der Cultur, selbst über die der Wissenschaft, scheint ihm die Kunst in ihren Werken zu siegen. „Die Kunst,“ sagt er, „ist der Mensch in der vollsten Offenbarung seines Wesens.“ Bei ihr verweilt er denn auch am Längsten und bemüht sich durch scharfsinnige Vergleiche der verschiedenen Kunstepochen die allgemeinen Bedingungen ihrer Entwicklung und ihres Verfalles klarzulegen und die Eigenthümlichkeiten einer jeden begreiflich zu machen. Das Schöne ist nicht blos, wie Platon wollte, der Glanz der Wahrheit, es ist die Wahrheit in ihrer Vollgewalt. Es findet sich dort, wo ein mächtiger Eindruck uns also ergreift, daß die verklungenen Rhythmen und Harmonien unseres Wesens neu erwachen und uns wie in eine bessere Welt versetzen. Die Empfindung des Schönen entwickelt sich wie Sitte, Glaube und Wissenschaft, und derselbe Drang zur Mittheilung, der die Sprache erzeugt, schuf auch Kunst und Literatur. Die drei constitutiven Elemente der Kunst sind Technik, Ideenreichthum und Größe der Gemüthsbewegungen. Je mehr technische Kenntniß, Entwicklung der Idee und Größe der Gemüthsbewegungen in innerster Harmonie sich finden, um so höher wird die Kunst sich erheben, um so vollkommener werden die Werke sein, die sie schafft. Der Verfasser folgt nun der Kunst auf dem Wege ihrer historischen Entwicklung. Er wirft einen Blick auf die Wilden, wo die Armuth selbst die Sprache bilderreich macht und die Bedeutung der Gesten den Tanz zur großen Kunst erhebt. Dann zeigt und erklärt er die Eigenthümlichkeit der Kunst bei den Barbarenvölkern, wie einst Celten und Germanen sie waren, bei welchen die Individuen bereits eine weit tiefere intellectuelle und moralische Uebereinstimmung verbindet, als sie bei den wilden Stämmen gefunden wird. Sie spiegelt sich in ihren wie auch immer rohen Kunstversuchen. Auf die barbarischen folgen die heroischen Epochen. Sie beginnen da, wo die Privat-Tugenden zu öffentlichen Tugenden sich erheben. Die religiösen, militärischen und politischen Traditionen durchdringen und beleben sich. Da hebt sich die Civilisation und mit ihr die Kunst wie ein Sonnenaufgang. Die Zeiten des Mahabharata und der Ilias, der französischen Epopéen, des Cid, der Gudrun, der Nibelungen und des Lohengrin gehören hieher. Der Verfasser verweilt länger, um diese Dichtungen unter sich und mit den gleichzeitigen Leistungen auf dem Gebiete anderer Künste zu vergleichen. Dann schildert er in ähnlicher Weise den Verfall der heroischen Epoche und seine mannichfachen Erscheinungen. In Wahrheit ist dieser Verfall nur ein
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Uebergang der Jugend zum reifen Alter; durch ihn wird die Glanzperiode der Kunst angebahnt. Diese Epoche der Kunst bezeichnet den Höhepunkt des Lebens der Völker in jeder Richtung; auf dem Gebiete der Kunst wird der Fortschritt nur darum besonders auffallend, weil sie, bis dahin blos instinctiv geübt, nun durch die Kraft der Reflexion unterstützt wird. Die Glanzperiode selbst läßt wieder drei Epochen unterscheiden. In der Mitte steht die Epoche des vollen Glanzes, der, kaum erreicht, auch wieder verloren wird. Er ist dann gegeben, wenn die Energie der Affectionen, die Entwicklung der Ideen und die technische Erfahrung zu voller Harmonie gekommen sind. Kaum ist diese gefunden, so suchen Sinn und Gefühl, durch die Gewohnheit für ihre Reize abgestumpft, in neuen Accorden eine lebhaftere Befriedigung. Dem Verfasser scheint die moderne Kunst nirgends so sehr wie in seinem Vaterlande zu dieser vollkommenen Harmonie gelangt zu sein, während er in der ersten Epoche des Glanzes Italien, in der letzten Deutschland die Superiorität zuerkennt. Sein Urtheil ist darum nicht minder parteiisch; namentlich kommt, wie so oft bei französischen Kritikern, Shakespeare nicht zu seinem Rechte, während Corneille und Racine überschwenglich gepriesen werden. Auffallender noch ist seine Ungerechtigkeit gegen Italien und Spanien. Bei Poussin, Claude Lorrain und sogar bei dem schwächlichen Lefueur schwillt sein Mund von Lob über, während er selbst bei Schöpfungen eines Rafael zu bemängeln weiß. Unter solchen Umständen dürfen wir Deutschen uns trösten, wenn auch Goethe und Schiller ihn nur wenig zufriedenstellen. Wir rühmten früher an dem Verfasser den Muth, mit welchem er den Vorurtheilen auch bei seinen Landsleuten schonungslos entgegentritt. Er thut dies überall, wo er sie erkennt. Aber es zeigt sich hier, daß er gewissen „Idolen“ seiner Nation, um mit Bacon zu reden, selbst und in ganz erstaunlichem Maße huldigt. Immerhin folgt man dem Verfasser auch da, wo man ihm am wenigsten zustimmen kann, mit ungemindertem Interesse, und auch in diesem Theile seiner Betrachtungen ist ein Reichthum treffender Bemerkungen eingestreut. Daß die Kunst nach der Ansicht des Verfassers gegenwärtrig dem Verfalle sich zuneigt, ergibt sich schon aus dem Gesagten. In dem letzten Capitel des Buches macht er auf dessen Symptome und Ursachen aufmerksam. Vielleicht wird es auch nicht an Solchen fehlen, die ihm hier Recht geben, und nur das scharfe Urtheil über die sogenannte Zukunftsmusik wird ihm von ihren enthusiastischen Verehrern verargt werden. Nach unserem Philosophen hätte das „Axiom“ Wagner’s zu Bayreuth offenbar richtiger gelautet: „und wenn Sie wollen, so haben Sie eine Kunst – gehabt.“
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Oft wol hatten wir auch schon im bisherigen Verlaufe der Darstellung Gelegenheit, den umfassenden Geist des Verfassers zu bewundern; aber nirgends zeigt es sich auffallender, wie weitentlegene Gebiete er mit einheitlichem Blick zu umspannen weiß, als am Beginne des vierten Buches. Eben noch schwelgten wir in dem Genusse der Kunstwerke aller Zeiten, und nun werden wir in die Werkstätte des Arbeiters versetzt und treten aus dem Feenreiche dichterischer Träume in die nüchterne Wirklichkeit des Lebens und zu den kalten Berechnungen von Gewinn und Verlust heran. Freilich, wer von Gesetzen der Civilisation spricht, der kann die Frage über Arbeit und Reichthum, zu welcher sich nun der Verfasser wendet, nicht unerörtert lassen. Die Civilisation schritt fort in dem Maße, in welchem die Menschen arbeiten lernten. Anfangs wurde die ganze Last der Arbeit von den Männern auf die Frauen, später von den höheren auf die niederen Kasten gewälzt. Wo, wie in Griechenland und Rom und bei den modernen Völkern eine freiere Bewegung gestattet wurde, bildeten sich die Corporationen aus. Das vierzehnte Jahrhundert war die Zeit ihrer höchsten Blüthe, und diesem Umstande ist der mächtige Aufschwung zuzuschreiben, den Kunst und Wissenschaft im fünfzehnten Jahrhundert genommen haben. Alle politischen und religiösen Revolutionen, welche sich nicht auf eine Umbildung der Arbeit beziehen, sind Convulsionen ohne Bestand und Fruchtbarkeit. Wenn die französische Revolution eine so hohe Bedeutung erlangte, so lag der Grund darin, daß eine neue Umbildung der Arbeit sich vorbereitet hatte. Auch heute gährt es unter den Arbeitern, und Viele glauben, wir seien bei einer neuen Umbildung der Arbeit und einer socialen Revolution angelangt, welche der des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts verglichen werden dürfe. Haben sie Recht? Oder drohen uns vielleicht trotz aller unserer Fortschritte in Industrie und Handel die Klagen und Unruhen unserer Arbeiter mit dem Lose, welches zuletzt Athen und Rom getroffen hat? Ehe der Verfasser diese Frage beantwortet, wendet er sich einer Reihe von Streitfragen auf national-ökonomischen Gebiete zu. Er verwirft die Theorien der Oekonomisten und Socialisten in gleicher Weise, da beide auf derselben Täuschung beruhen, daß die Entwicklung der Arbeit und der Reichthümer das Elend tilgen werde. Im Widerspruche damit scheint die Geschichte zu zeigen, daß Reichthum und Elend solidarisch auftreten. Je mehr eine Nation sich entwickelt und thätig ist, um so mehr wird durch ihre Entwicklung Elend erzeugt, wenn dieselbe nicht eine in allen Richtungen gleichmäßige ist. Ein Volk, welches nicht zugleich in seiner intellectuellen Energie, seinem moralischen Werthe, seinen Sitten und Institutionen wie in seinen Reicht-
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hümern fortschreitet, ist verloren. Es tritt eine Discrepanz ein zwischen dem wahren Werthe und demjenigen, welcher durch das Maß des allgemeinen Verlangens bestimmt wird. Die Interessen der Kapitalien stellen nun oft in Wahrheit einen Nichtwerth dar. Die Arbeit hört auf ein Vermögen zu größerer Arbeit zu erzeugen, und dann verbraucht, trotz des augenblicklichen Scheines glänzender Erfolge, das Volk seine Kraft nutzlos und endet mit seinem Ruine. Denn gute Arbeiter in industrieller und moralischer Hinsicht sind mehr als das Kapital die wahre Ersparniß der Nation. Nichts kann sie ersetzen. Die reichen oder privilegirten Classen können der Reihe nach sich corrumpiren; erstreckt sich aber das Uebel bis zur Arbeiterclasse, so gibt es kein Heilmittel mehr. Legt die Nation den Dingen ihren wahren Werth bei, so beschleunigt die freie Concurrenz die Fortschritte; thut sie es nicht, so kann auch die Protection den Verfall nur für Augenblicke aufhalten. Uebrigens ist freie Concurrenz wie Protection, unbedingt als Princip aufgestellt, unvernünftig. Die Handelspolitik von Colbert, die jedes Ding nach seinem wahren Werthe zu messen, da zu schützen, dort zu befreien, dort zu ermuthigen suchte, ist noch heute die einzig ernste. Alles Andere sind erbärmliche Entitäten, die des Mittelalters würdig sind. Aber das Wesentlichste für die Besserung der ökonomischen Lage eines Landes bleibt, daß man auf die tieferliegenden Wurzeln des Uebels zurückgeht, daß man die Fähigkeit der Nation für die Arbeit hebt und ihren Trieben und Leidenschaften eine bessere Richtung gibt. Dann ist auch das Malthus’sche Gesetz ein eitles Schreckgespenst. Wo die Familien-Affectionen stark sind, da geben sie eine Kraft zur Arbeit, welche die Production fast immer die Bedürfnisse des Augenblicks übersteigen läßt, und ebenso eine Kraft zur Enthaltung, so weit die Verhältnisse sie als Tugend erscheinen lassen. Nach einer Fülle von Betrachtungen, welche sich durch größere philosophische Vertiefung von der vulgären Behandlung national-ökonomischer Probleme vortheilhaft unterscheiden, wendet sich der Verfasser wieder den Arbeiter-Unruhen der Gegenwart zu. Gar sehr scheinen diejenigen ihm zu irren, welche in ihren Forderungen eine Analogie zu denen der arbeitenden Classen des Mittelalters sehen. Ständen unsere Arbeiter einer ungerechten Gesetzgebung und Verhältnissen wie im elften Jahrhunderte gegenüber, und hätten sie, statt unklarer Gefühle, Sitten, auf welche eine bessere Gesetzgebung sich gründen ließe, so wäre der Vergleich zulässig. Aber sie haben eine weise Gesetzgebung vor sich und sind wie die anderen Classen der großen intellectuellen und moralischen Bande verlustig geworden. Die Kritik der
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Revolutionäre trifft allerdings in letzter Instanz die reichen Classen, deren Intelligenz und Moralität statt auf die Höhe der neuen Bedürfnisse und Anforderungen der Arbeiter zu steigen, nur immer tiefer sinkt. Aber nimmermehr wird unser verdorbenes Proletariat die Welt refomiren; dazu sind junge und jungfräuliche Racen nöthig. Das letzte Buch führt den Titel: „Frieden und Krieg“; es spricht aber fast ausschließlich von diesem. Der Krieg, sagt der Verfasser, zerstört nur; der Frieden strebt nur, zu erheben. Aber nur der Krieg hat bis jetzt über alle Schwierigkeiten triumphirt, die sich durch die friedliche Entwicklung aufgehäuft haben. Seine Ursache ist die Unversöhnlichkeit der Gegensätze, die selbst freilich nur Folge der intellectuellen und moralischen Beschränktheit der beiden Parteien ist. Sehr verschieden ist die Wirkung der Kriege, je nachdem sie in Zeiten des Fortschrittes oder Rückganges der Völker fallen. In Zeiten des Fortschrittes erregen sie alle Gefühle, auf welchen die gesellschaftliche Entwicklung beruht, und das Volk geht geeinigter und mächtiger daraus hervor. Die großen Kriege sind Nationalkriege. Sie haben immer die Fusion verschiedener Nationen in eine einzige zum Ziele. Glücklich sind sie nur dann, wenn die moralische Kraft vorhanden ist, welche zur Absorbirung der besiegten Nation befähigt. Sonst sind die unterworfenen Nationen eine Geißel. Der Geist der Nationen allein entscheidet schließlich über die wahre Bedeutung der Siege wie der Niederlagen. Am allerbeklagenswerthesten sind die Kriege, die unternommen werden, wenn eine innerlich erschütterte Regierung durch siegreiche Eroberungszüge nach Außen das verlorene Ansehen wiederzugewinnen sucht. Geschwächte Regierungen können sich nur halten, indem sie die Nation selbst als Feind behandeln und sich prätorianische Garden bilden. Die einzige Quelle der Kraft der Völker im Kriege ist die intellectuelle und moralische Einigung, und dieselben Elemente, welche das Genie der Künstler und Dichter erzeugen, erzeugen auch das der Krieger. Unser Kriegswesen scheint in neuester Zeit einen mächtigen Aufschwung genommen zu haben. Der Schein schwindet, wenn man den Thatsachen näher tritt. Was gibt den modernen Armeen ihr imponirendes Ansehen? Nicht der Geist, der sie beseelt – widerwillig zieht der Bürger von seinem Herde fort – sondern die Masse; die Zahl muß den Geist ersetzen. Aber dieser Ersatz ist nur ephemer und enthält in sich einen größeren Verlust, nämlich den der Harmonie zwischen Militär-Organisation und friedlicher Arbeit, ohne welche die Kriegstüchtigkeit des Staates keinen Bestand haben kann.
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Der Verfasser wirft schließlich noch einen Blick auf die Bürgerkriege, die zwar alle eine Verbesserung der Organisation anstreben, in Wahrheit aber nur zum Theile zu innerer Organisation, zum Theile dagegen zu socialer Desorganisation führen. Dies gilt von den Bürgerkriegen in Zeiten des Verfalles. Der Fortbestand des Alten ist unmöglich geworden. Aber nicht blos die Conservativen, auch die Vertreter des Fortschritts streben nach Unmöglichem. Der Sieg gibt nur Ursache zu neuen Conflicten. Schließlich entscheidet die Armee, die allein einen Rest von Einheit bewahrt hat. Aber gerade dieses wird nun für sie selbst der Grund zur Desorganisation. Religiöse Bürgerkriege entstehen zur Zeit des abnehmenden Glaubens und führen zu einer Schwächung. Die inneren religiösen Streitigkeiten sind der erste Schritt zu intellectuellem und moralischem Verfalle. Ein genialer Mensch mag dann eine Glaubensformel finden, die in ihrer Einfachheit die Gegensätze zu versöhnen weiß und die Basis einer künftigen Civilisation werden kann. Aber die Völker bleiben erschöpft. Nie hat eine Civilisation durch den religiösen Glauben ihre Wiedergeburt gefunden. Wir sehen, so verschieden die Fragen sind, die der Verfasser behandelt, dieselben Grundgedanken werden überall bestimmend. Geistige und sittliche Einigung führen zum Fortschritte, und wo sie sich löst, wird der Verfall unvermeidlich. Und die Culturvölker des Abendlandes stehen vor diesem Verfalle, den Niemand hindern kann. Also auch die neueste französische Philosophie ist ein Pessimismus, der freilich von unserm deutschen Pessimismus wesentlich verschieden ist. Der deutsche ist nicht viel mehr als Phantasterei und Willkür; der französische macht historische Gesetze geltend, die er durch eine, wenn auch vielleicht nicht über jeden Zweifel erhabene, doch immerhin wissenschaftliche Induction gefunden hat. Dem deutschen ist der Lauf der ganzen Welt ein fortgesetzter Sturz von Unglück in Unglück; der französische im Gegentheile ist von einem steten Fortschritte der Weltgeschichte überzeugt, nur hebt sich die Entwicklung in einer Wellenlinie, und unsere Zeit muß in die Tiefe sinken, damit die kommende zu einer bisher noch unerreichten Höhe sich erhebe. Darum hat dieser Pessimismus auch nicht das Lähmende, das die blasirte deutsche Speculation neuesten Datums für Jeden haben muß, der ihr auf seine Ueberzeugungen wahren Einfluß gestattet. Im Gegentheile sucht der Verfasser die erschlaffende Energie neu zu wecken. Sein ganzes Werk ist im Grunde ein Mahnruf zur Reform, namentlich zu jener elementaren und, wie er sagt, leichten Reform, auf die schließlich Alles zurückläuft: Vereinfachung der Bedürfnisse und Steigerung der Arbeitsamkeit. Durch sie kommt das
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Volk von selbst zu den ersten und mächtigsten Affectionen zurück. Mit den solideren Sitten wird eine tiefere politische Wissenschaft möglich, welche die Gesetzgebung reformirt, während andererseits das Einvernehmen der Bürger erleichtert wird, die Traditionen sich fester erhalten und das Bewußtsein der Solidarität Aller wächst. Nichtsdestoweniger kann der Verfasser sich hinsichtlich der heutigen Culturvölker düsterer Ahnungen nicht erwehren. Nur für die Menschheit im Großen hegt er Hoffnungen, die keine Wolke trübt. Es dünkt ihm nur zu wahrscheinlich, daß der Leuchter von uns weggerückt werden und daß ein neues Volk sich erheben wird, welches unsere Fortschritte sich aneignet und durch Feuer und Schwert unseren Verirrungen ein Ziel setzt. Und welches wird dieses Volk sein? Wir haben schon öfter gesehen, wie der Verfasser seine Philosophie nicht von allen Vorurtheilen seiner Nation zu befreien weiß. In der Antwort, die er am Schlusse seines Werkes auf diese Frage gibt, tritt dies fast deutlicher noch als irgend sonst hervor. Das Volk, das er im Auge hat, ist kein anderes als das, mit welchem die Franzosen schon so viel geliebäugelt haben: die Slaven. Sie nur, meint er, seien ein wahrhaft junges Volk und voll von Zukunft. Sie haben in sich die moralischen und intellectuellen Mittel, die zu ihrer Entwicklung nöthig sind. Aber freilich müssen sie dabei die wirkliche Civilisation zu Hilfe nehmen; und auf diesem Wege wenigstens will der Patriotismus des Verfassers den Ruhm auch der künftigen Civilisation seinem Volke vindiciren. Neben dem seinigen verschwinden ihm alle anderen Culturvölker Europas, und so kennt er nur zwei Hypothesen: entweder Frankreich regenerirt sich noch einmal und die letzte Epoche der französisch-nationalen Entwicklung mischt sich mit der ersten großen Periode der slavischen Civilisation, oder Frankreich gelangt zu keiner Wiedergeburt; dann vollzieht sich der Uebergang von der französischen zur slavischen Civilisation durch Katastrophen der traurigsten Art. Immerhin ruft er: „Eines kündigt die gesammte Geschichte an: einer franco-slavischen Civilisation wird die Zukunft der Welt gehören.“ Nun, wir in Oesterreich wissen besser als der Verfasser, wieviel daran fehlt, daß die Civilisation der Slaven in naher Aussicht stände. Uebrigens könnten schon die Bedingungen, an welche er selbst sie knüpft, genugsam dazu dienen, allzu schwärmerische Hoffnungen zu ernüchtern. Vor Allem sollen nämlich die Slaven nicht unter Rußland zu ihrer neuen Stellung als Culturvolk gelangen, und ferner sollen sie erst dann in sich die Mittel zu der großartigen Entwicklung finden, welche ihnen der Verfasser in Aussicht stellt, wenn sie eine neue Sprache und eine neue Religion sich gebildet
Der neueste philosophische Versuch in Frankreich
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haben. Ist ihre jetzige Sprache wirklich für die Hebung ihrer Cultur ein so großes Hinderniß, so dürfte der Rath, die nächstliegende Cultursprache sich anzueignen, minder abenteuerlich, ja, wenn beherzigt, wahrhaft praktisch fruchtbar sein. B. L.
Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis
Vorwort Was ich hier vor ein größeres Publikum bringe, ist ein Vortrag, den ich am 23. Januar 1889 in der Wiener Juristischen Gesellschaft hielt. Er führte den Titel „Von der natürlichen Sanktion für recht und sittlich“. Diesen habe ich, um den Inhalt deutlicher hervortreten zu lassen, vertauscht, sonst aber kaum eine Änderung getroffen. Nur zahlreiche Anmerkungen wurden hinzugefügt, und ein früher schon veröffentlichter Aufsatz „Miklosich über subjektlose Sätze“ beigegeben.* In welcher Weise er sich mit scheinbar so fern abliegenden Untersuchungen berührt, wird man in ihrem Verlauf von selbst erkennen. Den Anlaß zu dem Vortrag gab eine Einladung, die Baron von Hye als Obmann der Gesellschaft an mich gerichtet hatte. Es war sein Wunsch, daß was Ihering in seiner Rede „Über die Entstehung des Rechtsgefühls“ vor wenigen Jahren hier besprochen, im selben Kreise auch von anderem Standpunkt beleuchtet werden möge. Man würde irren, wenn man um des zufälligen Anstoßes willen den Vortrag für ein flüchtiges Werk der Gelegenheit hielte. Er bietet Früchte von jahrelangem Nachdenken. Unter allem, was ich bisher veröffentlicht, sind seine Erörterungen wohl das gereifteste Erzeugnis. Sie gehören zum Gedankenkreise einer „Deskriptiven Psychologie“, den ich, wie ich nunmehr zu hoffen wage, in nicht ferner Zeit seinem ganzen Umfange nach der Öffentlichkeit erschließen kann. Man wird dann an weiten Abständen von allem Hergebrachten, und insbesondere auch an wesentlichen Fortbildungen eigener, in der „Psychologie vom empirischen Standpunkt“ vertretener Anschauungen genugsam erkennen, daß ich in meiner langen litterarischen Zurückgezogenheit nicht eben müßig gewesen bin. Auch in diesem Vortrage wird dem Philosophen von Fach manches sofort als neu auffällig sein. Dem Laien mag sich bei der Raschheit, mit der ich ihn von Frage zu Frage führe, manche Klippe, die umschifft, mancher Abgrund, der umgangen werden mußte, zunächst ganz und gar verbergen; wenn irgendwer, mußte ich, bei so gedrängter Kürze, eines Wortes von Leibniz gedenken und wenig auf widerlegen, viel auf darlegen bedacht sein. Bei einem Blick in die Anmerkungen – obwohl sie, hierfür alles zu leisten, einer hundertfältigen Vermehrung bedürften – wird dann auch ihm etwas mehr *
Die Gründe, warum diese Abhandlung nicht hier, sondern in Bd. 9 von Brentanos Veröffentlichten Schriften publiziert werden soll, werden oben in der editorischen Vorbemerkung näher erläutert.
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von den Abwegen offenbar, die so viele verlockten und den Ausgang aus dem Labyrinth nicht finden ließen. Bis dahin wäre es mir nur willkommen – ja ich würde darin die Krone meines Strebens sehn – wenn ihm alles Gesagte so selbstverständlich erschiene, daß er mir dafür nicht einmal zum Danke sich verpflichtet glaubte. Keiner hat die Erkenntnisprincipien der Ethik so bestimmt, wie es hier auf Grund neuer Analysen geschehn mußte; keiner insbesondere, der das Gefühl bei der Grundlegung beteiligt glaubte, so principiell und vollständig mit dem ethischen Subjektivismus gebrochen. Nur Herbart nehme ich aus. Aber er verirrt sich ins Ästhetische, und alsbald finden wir ihn soweit vom Wege abgekommen, daß er – in der theoretischen Philosophie der unversöhnliche Feind des Widerspruchs – in der praktischen Philosophie es verträgt, wenn die höchsten, allgemeingültigen Ideen miteinander in Konflikt geraten. Immerhin bleibt seine Lehre in gewisser Hinsicht der meinigen wahrhaft verwandt, während von andern Seiten andere berühmte ethische Versuche sich mannigfach mit ihr berühren. In den Anmerkungen wird auch einzelnes schärfer bestimmt, dessen genaueste Durchführung für den Vortrag zu langwierig geworden wäre. Manchem schon erhobenen Einwurf trete ich entgegen, manchem zu erwartenden Bedenken suche ich vorzubeugen. Auch hoffe ich, man werde sich für einige historische Beiträge interessieren; so namentlich für die Untersuchungen über Descartes, wo ich seine Lehre von der Evidenz auf ihre Ursachen zurückführe und auf zwei sehr bedeutende Gedanken hinweise, welche, der eine mißkannt, der andere kaum bemerkt, beide nicht genügend gewürdigt worden sind. Ich meine seine Grundeinteilung der psychischen Phänomene und seine Lehre von der Beziehung der Liebe zur Freude und des Hasses zur Traurigkeit. Mit mehreren hochangesehenen und von mir gewiß nicht am wenigsten geschätzten Forschern der Gegenwart stoße ich polemisch zusammen; am härtesten wohl mit solchen, deren vorgängiger Angriff mir die Verteidigung aufnötigt. Ich hoffe, sie betrachten es nicht als eine Verletzung ihrer Ansprüche, wenn ich der Wahrheit, der wir gemeinsam dienen, nach Kräften zu ihrem Rechte zu verhelfen suche. Auch darf ich versichern, daß nur, wenn ich selbst freimütig spreche, auch jedes aufrichtige Wort des Gegners immer von Herzen willkommen ist. Franz Brentano
Inhalt Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis. Ein Vortrag Seite 1. Wert der Geschichte und Philosophie für die Jurisprudenz; die neuen Vorschläge zur Reform der juridischen Studien in Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2. Unser Thema; Beziehung zu Iherings Vortrag in der Wiener Juristischen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 3. Zweifacher Sinn des Ausdrucks „natürliches Recht“. . . . . . . . . . . . . 32 4. Punkte der Übereinstimmung mit Ihering; Verwerfung des „jus naturae“ und „jus gentium“; vorethische politische Satzungen . . . . 32 5. Gegensatz zu Ihering. Es giebt ein allgemeingültiges, natürlich erkennbares Sittengesetz. Relative Unabhängigkeit der Frage . . . . . 33 6. Der Begriff „natürliche Sanktion“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 7. Vielfache Verkennung desselben durch die Philosophen . . . . . . . . . 34 8. Gewöhnlich sich entwickelnder Drang des Gefühls als solcher ist keine Sanktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 9. Motive der Hoffnung und Furcht als solche sind noch nicht Sanktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 10. Der Gedanke an das Willensgebot einer höheren Macht ist nicht die natürliche Sanktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 11. Die ethische Sanktion ist ein Gebot ähnlich der logischen Regel . . . 36 12. Der ästhetische Standpunkt. Sowenig in der Logik, sowenig kann er in der Ethik der richtige sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 13. Kants kategorischer Imperativ eine unbrauchbare Fiktion . . . . . . . . 37 14. Notwendigkeit psychologischer Voruntersuchungen . . . . . . . . . . . . 37 15. Kein Wollen ohne letzten Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 16. Die Frage: welcher Zweck ist richtig? ist die Hauptfrage der Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
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17. Der richtige Zweck ist das Beste unter dem Erreichbaren; Dunkelheit dieser Bestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 18. Vom Ursprung des Begriffes des Guten; er stammt nicht aus dem Gebiete der sogenannten äußern Wahrnehmung . . . . . . . . . . . 38 19. Der gemeinsame Charakterzug alles Psychischen . . . . . . . . . . . . . . . 39 20. Die drei Grundklassen der psychischen Phänomene: Vorstellung, Urteil, Gemütsbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 21. Die Gegensätze von Glauben und Leugnen, Lieben und Hassen . . . 40 22. Von den entgegengesetzten Verhaltungsweisen ist immer eine richtig, eine unrichtig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 23. Der Begriff des Guten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 24. Scheidung des Guten im engern Sinn von dem um eines andern willen Guten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 25. Liebe beweist nicht immer Liebwürdigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 26. Blindes und einsichtiges Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 27. Analoger Unterschied auf dem Gebiete des Gefallens und Mißfallens; Kriterium des Guten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 28. Vielheit des Guten; Fragen, die sich hieran knüpfen . . . . . . . . . . . . 45 29. Ob unter dem „Besseren“ das zu verstehen sei, was mit mehr Intensität geliebt zu werden verdiene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 30. Richtige Bestimmung des Begriffes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 31. Wann und wie erkennen wir, daß etwas in sich selbst vorzüglich ist? Der Fall des Gegensatzes, des Mangels, der Addition zu Gleichem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 32. Fälle, wo die Frage unlösbar ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 33. Ob der Hedoniker in dieser Beziehung im Vorteil sein würde . . . . . 48 34. Warum sich die Mängel weniger, als man besorgen sollte, nachteilig erweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 35. Das Bereich des höchsten praktischen Gutes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 36. Die harmonische Entwickelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 37. Die natürliche Sanktion von Rechtsgrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
Inhalt
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38. Die natürliche Sanktion für positive Sittengesetze . . . . . . . . . . . . . . 51 39. Die Macht der natürlichen Sanktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 40. Wahre und falsche Relativität ethischer Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . 51 41. Ableitung bekannter specieller Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 42. Warum andere Philosophen auf anderen Wegen zum gleichen Ziele gekommen sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 43. Woher die allgemein verbreiteten ethischen Wahrheiten stammen. Unklarheit über Vorgänge im eigenen Bewußtsein . . . . . 53 44. Spuren des Einflusses der einzelnen hervorgehobenen Momente . . . 54 45. Niedere Strömungen, die einen Einfluß üben . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 46. Man muß sich hüten den Unterschied ethischer und pseudoethischer Entwickelung zu verkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 47. Wert solcher Entwickelungen in der vorethischen Zeit: Herstellung socialer Ordnung; Bildung von Dispositionen; Gesetzesentwürfe für die legislative ethische Gewalt; Verhütung von schablonisierendem Doktrinarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 48. Segensreiche Einwirkungen, die noch fort und fort von dieser Seite geübt weiden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 49. Nochmals von der Reform der juridisch-politischen Studien . . . . . . 59
Anmerkungen 13. Zur Verteidigung meiner Charakteristik von Herbarts ethischem Kriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 14. Über Kants kategorischen Imperativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 16. Die Nikomachische Ethik und Iherings „Grundgedanke“ in seinem Werke „Der Zweck im Recht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 17. Von den Fällen geringerer Chancen beim Streben nach höherem Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 18. Von der Abhängigkeit der Begriffe von konkreten Anschauungen. . . 62 19. Der Terminus „intentional“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 21. Die Grundeinteilung der psychischen Phänomene bei Descartes. . . 63
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22. Windelbands Irrtum hinsichtlich der Grundeinteilung der psychischen Phänomene; kurze Abwehr mannigfacher auf meine „Psychologie vom empirischen Standpunkt“ gemachter Angriffe; Land, on a supposed improvement in formal Logic; Steinthals Kritik meiner Lehre vom Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 23. Zur Kritik von Sigwarts Theorieen vom existentialen und negativen Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 24. Descartes über die Beziehung von „Liebe“ zu „Freude“ und „Haß“ zu „Traurigkeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 25. Von den Begriffen der Wahrheit und Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 26. Von der Einheit des Begriffes des Guten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 27. Von der Evidenz; die „clara et distincta perceptio“ bei Descartes; Sigwarts Lehre von der Evidenz und seine „Postulate“ . . . . . . . . . . . 79 28. Vom ethischen Subjektivismus. – Das Versehen des Aristoteles in betreff der Erkenntnisquelle des Guten; Parallele zwischen seinem Irrtum hinsichtlich der Gemütsthätigkeit und der Lehre Descartes’ von der clara et distinca perceptio als Vorbedingung des logisch gerechtfertigten Urteils; spätere Anklänge an diese Lehre 83 29. Von den Ausdrücken „gut gefallen“ und „schlecht gefallen“. . . . . . . 87 31. Ausgezeichneter Fall eines konstanten geometrischen Verhältnisses psychischer Werte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 32. Fälle, in welchen etwas zugleich gefällt und mißfällt . . . . . . . . . . . . 88 33. Feststellung allgemeiner Gesetze von Wertschätzung auf Grund einer einzigen Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 34. Gewisse Momente der ethischen Erkenntnistheorie sind für die Theodicee mehr als für die Ethik selbst von Wichtigkeit . . . . . . . . . 89 35. Erläuterung der Weise, wie etwas in gewissen Fällen als das Vorzügliche erkannt wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 36. Die zwei in ihrer Art einzigen Fälle, in welchen uns aus dem Charakter der Bevorzugung die Vorzüglichkeit klar wird. . . . . . . . . 89 39. Gauß über die Messung von Intensitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 40. Gegen übergroße Erwartungen von dem sogenannten psychophysischen Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
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41. Abwehr des Vorwurfs zu großer ethischer Strenge . . . . . . . . . . . . . . 91 42. Die Nächstenliebe im Einklang mit der größeren Fürsorge für das Eigene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 43. Warum die Beschränktheit menschlicher Voraussicht den ethischen Mut nicht lähmen darf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 44. Zur Kritik von Iherings Auffassung des Rechtsbegriffes und seiner Beurteilung älterer Bestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 45. Von der interimistischen ethischen Sanktion verwerflicher Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 60. Selbstwiderspruch Epikurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 64–65. Belege für das Gesetz der Addition zu Gleichem; Zeugnisse dafür in der Lehre der Stoa, bei den theistischen Hedonikern und in dem Verlangen nach Unsterblichkeit; Helmholtz . . . . . . . . . 96 67. Die großen Theologen sind Gegner der Willkür des gottgegebenen Sittengesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 68. Die Lehre von dem Unterschied zwischen blindem und evidentem Urteil bei J. St. Mill . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Die im Verzeichnis fehlenden Nummern enthalten nur litterarische Nachweisungen.
Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis Ein Vortrag
1. Die Einladung zu einem Vortrage, welche die Juristische Gesellschaft an mich ergehen ließ, verpflichtete mich um so mehr als sie in kräftigen Worten einer Überzeugung Ausdruck gab, die leider im Schwinden begriffen scheint. Hörte man doch jüngst von Vorschlägen zur Reform der juridischen Studien (und sie sollten sogar von Universitätskreisen ausgegangen sein), die geradezu meinten, man könne die Wurzeln, welche die Jurisprudenz in das Gebiet der praktischen Philosophie und in das der vaterländischen Geschichte senkt, abschneiden, ohne daß der Organismus wesentlichen Schaden leiden würde. Was die Geschichte betrifft, so ist, ich gestehe es, dieser Rat mir zunächst völlig unbegreiflich; was aber die Philosophie anlangt, so kann ich ihn nur etwa damit entschuldigen, daß die Männer, die gegenwärtig die juridischen Lehrstühle einnehmen, einen tiefen, traurigen Eindruck von den Verirrungen jüngst vergangener Decennien empfangen haben. So soll ein persönlicher Vorwurf sie nicht treffen. Thatsächlich aber waren jene Ratschläge ganz ebenso weise, wie wenn eine medizinische Fakultät aus ihrem obligaten Studienplan die Zoologie und die Physik und Chemie zu streichen beantragen wollte. Wenn Leibniz in seiner Vita a se ipso lineata von sich erzählt: „ich gewahrte, daß mir aus meinen vorausgegangenen Studien der Geschichte und Philosophie eine große Erleichterung zur Erlernung der Rechtswissenschaft erwuchs“; und wenn er in seinem Specimen difficultatis in jure, die Vorurteile der zeitgenössischen Juristen beklagend, ausruft: „o daß doch die Rechtsbeflissenen von ihrer Verachtung der Philosophie zurückkämen und einsähen, daß ohne Philosophie die meisten Fragen ihres Jus ein Labyrinth ohne Ausgang sind“: was würde er, wenn er heute auferstände, zu diesen rückläufigen Reformbewegungen sagen? 2. Der würdige Obmann der Gesellschaft, der einen so frischen, freien Sinn für die wahren wissenschaftlichen Bedürfnisse seines Standes sich gewahrt hat, äußerte mir auch über das zu wählende Thema seine besonderen Wünsche. Die Frage nach dem Bestand eines natürlichen Rechtes, sagte er, sei ein Gegenstand, der in dem Kreise der Juristischen Gesellschaft eines vorzüglichen Interesses sich erfreue, und er selbst sei begierig zu sehen, in welcher Weise ich zu den Ansichten, die Ihering vor einigen Jahren hier ausgesprochen1, Stellung nehmen werde. Gerne willigte ich ein, und habe darum als Thema meines Vortrags die natürliche Sanktion für recht und sittlich bezeichnet, indem ich dadurch zugleich andeuten wollte, in welchem Sinne allein ich an ein natürliches Recht glaube.
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3. Denn eine zweifache Bedeutung kann hier mit dem Worte „natürlich“ verknüpft werden: 1. kann es soviel sagen wie „naturgegeben“, „angeboren“, im Gegensatze zu dem, was erst durch Ableitung oder Erfahrung in geschichtlicher Entwickelung erworben wird; 2. kann es, im Gegensatze zum willkürlich, durch positiven Machtspruch Bestimmten, die Regel bedeuten, welche an und für sich und ihrer Natur nach als richtig und bindend erkennbar ist. Ihering hat in dem einen und andern Sinn das natürliche Recht verworfen2. Ich meinerseits stimme mit ebenso kräftiger Überzeugung in dem einen Punkt ihm bei, als ich in dem andern ihm widerspreche. 4. Ich bin vollkommen mit Ihering einig, wenn er nach dem Vorgange von John Locke alle angeborenen Moralprincipien leugnet. Noch mehr, mit ihm glaube ich weder an das barocke jus naturae, i. e. quod natura ipsa omnia animalia docuit, noch an das jus gentium, an ein Recht, welches durch die allgemeine Übereinstimmung der Völker als natürliches Vernunftrecht gekennzeichnet ist, wie die römischen Rechtslehrer es faßten. Man braucht in die Zoologie und Physiologie nicht eben tief hineingeblickt zu haben, um die tierische Lebewelt nicht mehr bei der Aufstellung sittlicher Normen als Kriterium zu benützen, wenn man auch nicht gerade mit Rokitansky soweit gehen wird, das Protoplasma mit seinem aggressiven Charakter für ein ungerechtes und böses Princip zu erklären. Was aber jenen gemeinsamen Rechtskodex aller Völker anlangt, so war der Glaube daran ein Wahn, der in der antiken Welt sich halten mochte; die moderne Zeit, die bei erweitertem ethnographischen Horizont die barbarischen Sitten zum Vergleich heranzieht, kann dagegen in jenen Satzungen nicht mehr ein Produkt der Natur, sondern nur noch ein den vorgeschritteneren Völkern gemeinsames Kulturprodukt erkennen. In allem dem bin ich also mit Ihering einverstanden; und ich stimme ihm auch wesentlich bei, wenn er behauptet, es habe Zeiten ohne jeden Anflug von ethischer Erkenntnis und ethischem Gefühl gegeben; jedenfalls war damals nichts der Art ein Gemeingut. Ja ich erkenne unbedenklich an, daß dieser Zustand auch dann noch fortdauerte, als größere Gesellschaften mit staatlicher Ordnung sich gebildet hatten. Wenn Ihering zu diesem Behufe auf die griechische Mythologie und ihre Götter und Göttinen ohne jedes moralische Denken und Fühlen
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hinweist, indem er meint, aus dem Leben der Götter könne man auf das Leben der Menschen in der Zeit der Mythenbildung schließen3, so bedient er sich eines Beweismittels, das schon Aristoteles in seiner Politik in ähnlicher Weise verwertete4. Also auch dies müssen wir ihm zugeben, und werden darum auch nicht mehr leugnen, daß die ersten politischen Satzungen mit unterstützender Strafgewalt ohne jeden Einfluß eines ethischen Rechtsgefühls festgestellt worden sind. Es giebt also keine natürlichen sittlichen Vorschriften und Rechtssätze in dem Sinne, daß sie uns mit der Natur selbst gegeben, daß sie uns angeboren wären; in dieser Hinsicht haben Iherings Ansichten unsern vollen Beifall. 5. Aber nun tritt die andere, viel wichtigere Frage an uns heran: giebt es eine unabhängig von aller kirchlichen und politischen und überhaupt von aller socialen Autorität durch die Natur selbst gelehrte sittliche Wahrheit? giebt es ein natürliches Sittengesetz in dem Sinne, daß es, seiner Natur nach allgemeingültig und unumstößlich, für die Menschen aller Orte und aller Zeiten, ja für alle Arten denkender und fühlender Wesen Geltung hat, und fällt seine Erkenntnis in das Bereich unserer psychischen Fähigkeiten? – Hier sind wir an der Stelle, wo ich mich mit Ihering veruneinige. Dem „Nein“, das er auch hier spricht, setze ich ein entschiedenes „Ja“ entgegen. Und wer von uns hier im Rechte sei, das wird hoffentlich unsere heutige Untersuchung über die natürliche Sanktion für sittlich und recht ins klare setzen. Jedenfalls ist mit der Entscheidung der vorigen Frage, wie auch immer Ihering selbst das Gegenteil zu glauben scheint5, dieser in gar keiner Weise präjudiciert. Es giebt angeborene Vorurteile; diese sind natürlich im ersten Sinne: aber es fehlt ihnen die natürliche Sanktion; sie haben, wahr oder falsch, zunächst keine Gültigkeit. Es giebt andererseits viele Sätze, die, auf natürlichem Wege erkannt, als unumstößlich feststehn, allgemeingültig für alle denkenden Wesen, die aber, wie z. B. schon der pythagoreische Lehrsatz, nichts weniger als angeboren sind, sonst hätte nicht der beglückte erste Entdecker dem Gotte seine Hekatombe geopfert. 6. In dem Gesagten habe ich klar genug zu erkennen gegeben, wie ich, wenn ich von natürlicher Sanktion spreche, den Begriff der Sanktion fasse. Dennoch wird es gut sein noch einen Augenblick zu verweilen, um eine andere, ungenügende Fassung auszuschließen. „Sanktion“ heißt „Festigung“. Ein Gesetz kann nun in einem doppelten Sinn gefestigt werden:
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1. indem es als solches festgestellt wird, wie wenn die Bestätigung eines Gesetzentwurfs durch die höchste legislative Autorität ihm Gültigkeit verleiht; 2. indem es durch Beifügung von Straf-, vielleicht auch Lohnbestimmungen wirksamer gemacht wird. In dem letzteren Sinn hat man in der antiken Zeit von Sanktion gesprochen, wie z. B. Cicero6 von den leges Porciae sagt: „neque quicquam praeter sanctionem attulerunt novi“ oder Ulpian7: „interdum in sanctionibus adjicitur, ut, qui ibi aliquid commisit, capite puniatur“. In dem ersteren ist bekanntlich in der modernen Zeit das Wort üblicher; man nennt ein Gesetz „sanktioniert“, wenn es durch die allerhöchste Bestätigung Gültigkeit erlangt hat. Offenbar setzt die Sanktion im zweiten Sinn die im ersten Sinne voraus, und diese ist das Wesentlichere; denn ohne sie wäre das Gesetz gar nicht wahrhaft Gesetz. Und eine solche natürliche Sanktion wird darum auch vor allem Bedürfnis sein, wenn überhaupt etwas von Natur als recht oder sittlich gelten soll. 7. Vergleicht man nun damit, was die Philosophen über die natürliche Sanktion des Sittlichen gesagt haben, so bemerkt man leicht, wie sie oft das Wesentlichste übersahen. 8. Manche meinen, sie hätten für eine gewisse Verhaltungsweise eine natürliche Sanktion gefunden, wenn sie nachwiesen, daß ein gewisser Drang des Gefühls, so zu verfahren, sich in dem Menschen zu entwickeln pflege; wie z. B., da jeder andern diene, um Gegendienste zu empfangen, zuletzt sich eine Gewohnheit herausbilde, solche Dienste zu leisten, auch wo an gar keine Vergeltung gedacht werden könne8. Das wäre dann die Sanktionierung der Nächstenliebe. Aber diese Behauptung ist gänzlich verfehlt. Ein solcher Drang wäre wohl eine Kraft, die wirkt, doch nimmermehr eine Sanktion, die gültig macht. Auch die lasterhafte Neigung entwickelt sich nach denselben Gesetzen der Gewohnheit und übt als Drang oft die unbeschränkteste Herrschaft aus. Der Drang des Geizigen, der ihn für die Anhäufung von Reichtümern die größten Opfer bringen und die härtesten Grausamkeiten begehen läßt, ist gewiß keine Sanktion seines Verhaltens. 9. Auch Motive der Hoffnung und Furcht, daß ein gewisses Betragen, z. B. eine Berücksichtigung des allgemeinen Besten, uns anderen und Mäch-
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tigen angenehm oder unangenehm machen werde, hat man oft als Sanktion dafür bezeichnen wollen9. Aber es ist offenbar, daß die feigste Kriecherei, die servilste Speichelleckerei dann auch einer natürlichen Sanktion sich rühmen könnten. Thatsächlich bewährt sich die Tugend am meisten da, wo weder Einschüchterungen noch Verheißungen sie von dem rechten Wege ablenken. 10. Manche sprechen von einer Erziehung, welche der Mensch, der ja zu den Lebewesen gehört, die in Gesellschaft zu leben pflegen, durch die, mit welchen er umgehe, empfange. Wiederum und wiederum wird eine Forderung, ein Gebot: du sollst! an ihn gerichtet. Es liegt in der Natur der Sache, daß gewisse Handlungen ganz besonders oft und allgemein von ihm gefordert werden. Und da bildet sich denn eine Association zwischen der Handlungsweise und dem Gedanken: „du sollst!“. Dabei mag es sein, daß er sich als die gebietende Macht die Gesellschaft, in welcher er lebt, oder auch unbestimmter etwas Höheres als die eigene, einzelne menschliche Person, also, man könnte sagen, etwas in gewisser Weise Übermenschliches denkt. Dieses für ihn daran geknüpfte Soll wäre nun die Sanktion des Gewissens10. Es läge also hier die natürliche Sanktion in der auf natürlichem Wege sich entwickelnden Überzeugung von dem Gebot eines mächtigeren Willens. Aber es ist offenbar, daß in einer solchen Überzeugung von dem Gebot eines Mächtigeren noch nichts gegeben ist, was den Namen der Sanktion verdient. Sie hat auch derjenige, welcher sich in den Händen eines Tyrannen oder einer Räuberbande weiß. Mag er Folge leisten, mag er Trotz bieten: ihr Gebot ist nicht, was der geforderten Handlung eine Sanktion, ähnlich der des Gewissens, erteilte. Auch wenn er gehorcht, gehorcht er aus Furcht, nicht weil er das Gebot als zu Recht bestehend betrachtete. Nein, der Gedanke, es sei von jemand geboten, kann die natürliche Sanktion nicht sein. Bei jedem Gebot eines fremden Willens erhebt sich die Frage: ist es berechtigt oder unberechtigt? Und die Frage richtet sich dann nicht auf ein anderes, vielleicht von noch größerer Macht unterstütztes Gebot. Denn dann würde sie wiederkehren, und wir würden von dem Gebot zu einem Gebot, dem Gebot zu folgen, und dann zu einem dritten Gebote gelangen, welches dem Gebot, dem Gebote zu folgen, zu gehorchen geböte, und so fort ins unendliche. Also, wie der Drang eines Gefühls und die Furcht und Hoffnung auf Vergeltung, so kann auch der Gedanke an ein Willensgebot unmöglich die natürliche Sanktion für recht und sittlich sein.
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11. Doch es giebt Gebote auch noch in einem wesentlich andern Sinne; Gebote in der Bedeutung, in welcher man von Geboten der Logik spricht für unser Urteilen und Schließen. Nicht von dem Willen der Logik (die offenbar keinen Willen hat) noch von dem Willen der Logiker (denen wir in gar keiner Weise Treue geschworen haben) ist dabei die Rede. Die Gebote der Logik sind natürlich gültige Regeln des Urteilens, d. h. man hat sich darum an sie zu binden, weil das diesen Regeln gemäße Urteilen sicher, das von diesen Regeln abweichende Urteilen dem Irrtum zugänglich ist; es handelt sich also um einen natürlichen Vorzug des regelgemäßen vor dem regelwidrigen Denkverfahren. Um einen solchen natürlichen Vorzug und eine darin gründende Regel, nicht aber um ein Gebot fremden Willens wird es sich also auch bei dem Sittlichen handeln müssen. Und das ist, was Kant, aber auch die Mehrzahl der großen Denker vor ihm energisch betont haben, was aber trotzdem noch immer von vielen – und leider auch gerade von Anhängern der empirischen Schule, der ich selbst angehöre – nicht recht verstanden oder gewürdigt wird. 12. Worin aber soll dieser eigentümliche Vorzug des Sittlichen, der ihm die natürliche Sanktion giebt, liegen? Manche dachten ihn sozusagen äußerlich; sie glaubten, es sei der Vorzug schöner Erscheinung. Die Griechen nannten das edle, tugendhafte Betragen ȋĕd ȁǸȂȓȄ, das Schöne, und den vollkommenen Ehrenmann den ȁǸȂȆȁɎǺǸǿȓȉ; doch hat von den antiken Denkern keiner diesen ästhetischen Standpunkt maßgebend gemacht. Dagegen hat unter den Modernen in England David Hume11 von einem moralischen Schönheitssinn gesprochen, der über sittlich und unsittlich entscheide, und in jüngerer Zeit, unter den Deutschen, Herbart12 die Ethik als einen Zweig der Ästhetik untergeordnet. Ich will nun nicht leugnen, daß der Anblick der Tugend eine erfreulichere Erscheinung als die der sittlichen Verkehrtheit ist. Aber unmöglich kann ich zugeben, daß hierin der einzige und wesentliche Vorzug des sittlichen Verhaltens bestehe. Es wird vielmehr ein innerer Vorzug sein, der das sittliche Wollen vor dem unsittlichen auszeichnet, ähnlich wie es ein innerer Vorzug ist, der das wahre und einsichtige Urteilen und Schließen von den Vorurteilen und Fehlschlüssen unterscheidet. Auch hier läßt sich nicht leugnen, daß ein Vorurteil, ein Fehlschluß etwas Unschönes, ja oft etwas lächerlich Beschränktes an sich haben, was den von der Minerva so schlecht Begünstigten in unvorteilhaftester Positur vor uns erscheinen läßt: aber wer möchte darum die logischen Regeln unter die ästhetischen zählen und die Logik zu einem Zweig der Ästhetik machen13? Nein, der eigentliche logische Vorzug
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ist kein Vorzug ästhetischer Erscheinung, sondern eine gewisse innere Richtigkeit, welche dann einen gewissen Vorzug der Erscheinung mit sich führt. Und so wird es denn auch eine gewisse innere Richtigkeit sein, welche den wesentlichen Vorzug gewisser Akte des Willens vor andern und entgegengesetzten und den Vorzug des Sittlichen vor dem Unsittlichen ausmacht. Der Glaube an diesen Vorzug ist ein ethisches Motiv; die Erkenntnis dieses Vorzugs das richtige ethische Motiv, die Sanktion, welche dem ethischen Gesetze Bestand und Gültigkeit verleiht. 13. Aber wie sollen wir fähig sein zu solcher Erkenntnis zu gelangen? Hier liegt die Schwierigkeit, um deren Lösung man sich lange Zeit vergeblich bemühte. Noch Kant schien es, als ob keiner vor ihm das wahre Ende des Fadens gefunden habe, um von ihm aus den Knäuel zu entwirren. Sein kategorischer Imperativ sollte es sein. Aber er war vielmehr wie das Schwert, das Alexander zückte, um den gordischen Knoten zu durchhauen. Mit einer solchen offenbaren Fiktion läßt sich die Sache nicht richten14. 14. Um uns den Einblick in den wahren Ursprung ethischer Erkenntnis zu eröffnen, wird es nötig sein etwas von den Resultaten neuerer Forschung auf dem Gebiete der deskriptiven Psychologie Kenntnis zu nehmen. Die Beschränktheit der Zeit nötigt mich, mich sehr kurz zu fassen, und ich habe Grund zu fürchten, es werde unter ihrer Knappheit die Vollkommenheit der Darstellung leiden. Dennoch muß ich gerade hier Ihre besondere Aufmerksamkeit erbitten, damit nicht das Wesentlichste dem Verständnis verloren gehe. 15. Als Subjekt des Sittlichen und Unsittlichen bezeichnet man den Willen. Was wir wollen, ist vielfach ein Mittel zu einem Zweck. Dann wollen wir, und gewissermaßen noch mehr, diesen Zweck. Der Zweck mag selbst oft Mittel zu einem ferneren Zwecke sein; ja bei einem weitschauenden Plane erscheint oft eine ganze Reihe von Zwecken, immer einer dem andern als Mittel zu- und untergeordnet. Immerhin wird ein Zweck da sein, der vor allem und um seiner selbst willen begehrt wird; ohne diesen eigentlichsten und letzten Zweck fehlte alle Triebkraft; wir hätten die Absurdität eines Zielens ohne Ziel. 16. Die Mittel, die wir ergreifen, um zu einem Zwecke zu gelangen, können verschieden und können bald die richtigen, bald unrichtige Mittel sein.
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Richtig werden sie dann sein, wenn sie wirklich zu dem Zwecke zu führen geeignet sind. Aber auch die Zwecke, und zwar die eigentlichsten und letzten Zwecke, können verschieden sein. Es ist ein Irrtum, der besonders im achtzehnten Jahrhundert auftauchte – heutzutage ist man davon mehr und mehr zurückgekommen – daß jeder dasselbe, nämlich seine eigene höchstmögliche Lust anstrebe15. Wer glauben kann, der Märtyrer für seine Überzeugung, der sich mit vollem Bewußtsein den entsetzlichsten Todesqualen aussetzt, – und es gab auch solche, die nicht auf jenseitige Vergeltung hofften – sei dabei nur von der Begier nach möglichst großer Lust getrieben: der hat eine höchst mangelhafte Vorstellung von den Thatsachen; sonst fürwahr müßte er jeden Maßstab für die Intensität von Lust und Schmerz verloren haben. Also das steht fest: auch die letzten Zwecke sind verschieden; auch zwischen ihnen schwebt die Wahl; und sie ist – da der letzte Zweck ein für alles maßgebendes Princip ist – die wichtigste unter allen. Was soll ich erstreben? welcher Zweck ist richtig, welcher unrichtig? das ist darum, wie schon Aristoteles hervorhebt, die eigentlichste und hauptsächliche Frage der Ethik16. 17. Welcher Zweck ist richtig? für welchen soll sich unsere Wahl entscheiden? Wo der Zweck feststeht und es sich nur um die Wahl von Mitteln handelt, werden wir sagen: wähle Mittel, die wirklich zu dem Zwecke führen! Wo es sich um die Wahl von Zwecken handelt, werden wir sagen: wähle einen Zweck, der vernünftigerweise für wirklich erreichbar zu halten ist. Aber diese Antwort genügt nicht; manches Erreichbare ist vielmehr zu fliehen als zu erstreben: wähle das beste unter dem Erreichbaren! das wird also allein die entsprechende Antwort sein17. Aber sie ist dunkel; was heißt das, „das beste“? was nennen wir überhaupt „gut“? und wie gewinnen wir die Erkenntnis, daß etwas gut und besser ist als ein anderes? 18. Um diese Fragen in befriedigender Weise zu beantworten, müssen wir vor allem den Ursprung des Begriffs des Guten aufsuchen, der, wie der Ursprung aller unserer Begriffe, in gewissen konkret anschaulichen Vorstellungen liegt18. Wir haben anschauliche Vorstellungen physischen Inhalts; sie zeigen uns sinnliche Qualitäten, in eigentümlicher Weise räumlich bestimmt. Aus diesem Gebiet stammen die Begriffe der Farbe, des Schalles, des Raumes und
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viele andere. Der Begriff des Guten aber hat nicht hier seine Quelle. Es ist leicht zu erkennen, daß er, wie der des Wahren, der ihm als verwandt mit Recht zur Seite gestellt wird, den anschaulichen Vorstellungen psychischen Inhalts entnommen ist. 19. Der gemeinsame Charakterzug alles Psychischen besteht in dem, was man häufig mit einem leider sehr mißverständlichen Ausdruck Bewußtsein genannt hat, d. h. in einem subjektischen Verhalten, in einer, wie man sie bezeichnete, intentionalen Beziehung zu etwas, was vielleicht nicht wirklich, aber doch innerlich gegenständlich gegeben ist19. Kein Hören ohne Gehörtes, kein Glauben ohne Geglaubtes, kein Hoffen ohne Gehofftes, kein Streben ohne Erstrebtes, keine Freude ohne etwas, worüber man sich freut, und so im übrigen. 20. Wie bei den Anschauungen mit physischem Vorstellungsinhalt die sinnlichen Qualitäten, so zeigen bei denen mit psychischem Inhalt die intentionalen Beziehungen mannigfaltige Unterschiede. Und wie dort nach den tiefgreifendsten Unterschieden der sinnlichen Qualitäten (die Helmholtz Unterschiede der Modalität genannt hat) die Zahl der Sinne, so wird hier nach den tiefgreifendsten Unterschieden der intentionalen Beziehung die Zahl der Grundklassen der psychischen Phänomene festgestellt20. Danach giebt es drei Grundklassen. Descartes in seinen Meditationen21 hat sie zuerst richtig und vollständig aufgeführt; aber auf seine Bemerkungen wurde nicht genügend geachtet, und sie waren bald ganz in Vergessenheit geraten, bis in neuester Zeit die Thatsache unabhängig von ihm wieder entdeckt wurde. Sie darf wohl heutzutage als hinreichend gesichert gelten22. Die erste Grundklasse ist die der Vorstellungen im weitesten Sinne des Wortes (Descartes’ ideae). Sie umfaßt die konkret anschaulichen Vorstellungen, wie sie uns z. B. die Sinne bieten, ebenso wie die unanschaulichsten Begriffe. Die zweite Grundklasse ist die der Urteile (Descartes’ judicia). Diese hatte man vor Descartes mit den Vorstellungen in einer Grundklasse geeinigt gedacht; ja nach ihm verfiel man zum andern Male in diesen Fehler. Man meinte nämlich, das Urteil bestehe wesentlich in einem Zusammensetzen oder Beziehen von Vorstellungen aufeinander. Das war eine gröbliche Verkennung seiner wahren Natur. Man mag Vorstellungen zusammensetzen und aufeinander beziehen wie man will, wie wenn man sagt ein grüner Baum, ein goldener Berg, ein Vater von 100 Kindern, ein Freund der
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Wissenschaft: solange und sofern man nichts weiteres thut, fällt man kein Urteil. Auch ist es zwar richtig, daß dem Urteilen sowie auch dem Begehren immer ein Vorstellen zu Grunde liegt; nicht aber, daß man dabei immer mehrere Vorstellungen wie Subjekt und Prädikat aufeinander beziehe. Solches geschieht wohl, wenn ich sage: Gott ist gerecht; nicht aber, wenn ich sage: es giebt einen Gott. Was unterscheidet also die Fälle, wo ich nicht bloß vorstelle, sondern auch urteile? – Es kommt hier zu dem Vorstellen eine zweite intentionale Beziehung zum vorgestellten Gegenstande hinzu, die des Anerkennens oder Verwerfens. Wer Gott nennt, giebt der Vorstellung Gottes, wer sagt: es giebt einen Gott, dem Glauben an ihn Ausdruck. Ich darf nicht länger hier verweilen und kann nur versichern, daß wenn irgend etwas, dieser Punkt heute jeden Zweifel ausschließt. Von sprachlicher Seite hat Miklosich die Resultate der psychologischen Analyse bestätigt23. Die dritte Grundklasse ist die der Gemütsbewegungen im weitesten Sinn des Wortes, von dem einfachsten Angemutet- oder Abgestoßenwerden beim bloßen Gedanken bis zu der in Überzeugungen gründenden Freude und Traurigkeit und den verwickeltsten Phänomenen der Wahl von Zweck und Mitteln. Aristoteles schon hatte alles das als ʒȈǼȅȀȉ zusammengefaßt. Descartes sagte, die Klasse begreife in sich die voluntates sive affectus. Wenn in der zweiten Grundklasse die intentionale Beziehung ein Anerkennen oder Verwerfen war, so ist sie in der dritten ein Lieben oder Hassen oder (wie man sich ebenso richtig ausdrücken könnte) ein Gefallen oder Mißfallen. Ein Lieben, ein Gefallen, ein Hassen, ein Mißfallen haben wir in dem einfachsten Angemutet- und Abgestoßenwerden, in der siegreichen Freude und verzweifelnden Traurigkeit, in der Hoffnung und Furcht und ebenso in jeder Betätigung des Willens vor uns. „Plait-il?“ fragt der Franzose; „es hat Gott gefallen“ liest man auf den Todesanzeigen; und das „Placet“, das man bestätigend unterschreibt, ist der sprachliche Ausdruck des entscheidenden Willensdekretes24. 21. Wenn wir die Phänomene der drei Klassen miteinander vergleichen, so finden wir, daß die beiden letzten eine Analogie zeigen, die bei der ersten fehlt. Wir haben einen Gegensatz der intentionalen Beziehung; beim Urteil Anerkennen oder Verwerfen; bei der Gemütsthätigkeit Lieben oder Hassen, Gefallen oder Mißfallen. Beim Vorstellen findet sich nichts Ähnliches. Ich kann wohl Entgegengesetztes vorstellen, wie z. B. Schwarz und Weiß; ich kann aber nicht dasselbe Schwarz in entgegengesetzter Weise vorstellen, wie
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ich es in entgegengesetzter Weise beurteile, je nachdem ich daran glaube oder es leugne; und mit dem Gemüt mich entgegengesetzt zu ihm verhalte, je nachdem es mir gefällt oder mißfällt. 22. Hieran knüpft sich eine wichtige Folgerung. Von den Thätigkeiten der ersten Klasse kann man keine richtig oder unrichtig nennen. Dagegen wird bei der zweiten Klasse in einem jeden Fall von den zwei entgegengesetzten Beziehungsweisen des Anerkennens und Verwerfens die eine richtig, die andere unrichtig sein, wie von alt her die Logik geltend macht. Und Ähnliches gilt dann natürlich auch bei der dritten Klasse. Von den zwei entgegengesetzten Verhaltungsweisen des Liebens und Hassens, Gefallens und Mißfallens ist in jedem Falle eine, aber nur eine, richtig, die andere unrichtig. 23. Hier sind wir nun an der Stelle, wo die gesuchten Begriffe des Guten und Schlechten, ebenso wie die des Wahren und Falschen, ihren Ursprung nehmen. Wir nennen etwas wahr, wenn die darauf bezügliche Anerkennung richtig ist25. Wir nennen etwas gut, wenn die darauf bezügliche Liebe richtig ist. Das mit richtiger Liebe zu Liebende, das Liebwerte, ist das Gute im weitesten Sinne des Wortes. 24. Dieses scheidet sich dann, da alles, was gefällt, entweder um seiner selbst oder um eines andern willen gefällt, was dadurch bewirkt oder erhalten oder wahrscheinlich gemacht wird, in das primär Gute und in das sekundär Gute, d. h. in das, was gut ist in sich selbst, und in das, was gut ist um eines andern willen, wie dies insbesondere beim Nützlichen der Fall ist. Das in sich Gute ist das Gute im engeren Sinn. Es allein kann dem Wahren an die Seite gestellt werden. Denn alles, was wahr ist, ist wahr in sich, wenn es auch mittelbar erkannt wird. Wenn wir im folgenden von „gut“ sprechen, so haben wir, wenn wir nicht ausdrücklich das Gegenteil bemerken, immer ein in sich selbst Gutes im Auge. So wäre der Begriff des Guten geklärt26. 25. Aber nun die noch wichtigere Frage: wie erkennen wir, daß etwas gut ist? Sollen wir sagen: was immer geliebt wird und geliebt werden kann, ist liebwert und gut? Offenbar wäre dies nicht richtig; und es ist schier unbegreiflich, wie manche trotzdem in solchen Irrtum verfallen sind. Der eine liebt, was der andere haßt; und nach einem bekannten psychologischen Gesetz, an welches wir heute schon einmal rührten, geschieht es oft, daß
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einer, was er zunächst nur als Mittel zu anderem begehrt hat, aus Gewohnheit schließlich um seiner selbst willen begehrt; wie denn der Geizhals dazu kommt, in sinnloser Weise Reichtümer anzuhäufen und sich selbst dafür zu opfern. Also das wirkliche Vorkommen der Liebe bezeugt keineswegs ohne weiteres die Liebwürdigkeit, wie ja auch das wirkliche Anerkennen keineswegs ohne weiteres die Wahrheit beweist. Ja man möchte sagen, jenes sei noch sichtlicher; da es kaum vorkommt, daß einer, der etwas anerkennt, es zugleich selbst für falsch hält, während es nicht selten geschieht, daß einer sich, während er etwas liebt, selber sagt, daß es solche Liebe nicht verdiene. „Scio meliore proboque, Deteriora sequor.“ Wie also sollen wir erkennen, daß etwas gut ist? 26. Die Sache scheint rätselhaft, aber das Rätsel findet eine sehr einfache Lösung. Blicken wir, um die Antwort vorzubereiten, noch einmal vom Guten auf das Wahre hinüber! Nicht alles, was wir anerkennen, ist darum wahr. Wir urteilen vielfach ganz blind. Manche Vorurteile, die wir sozusagen mit der Muttermilch eingesogen, stehen uns wie unleugbare Principien fest. Zu andern eben so blinden Urteilen haben alle Menschen von Natur eine Art instinktiven Drang, wie sie z. B. blindlings der sogenannten äußeren Wahrnehmung und dem frischen Gedächtnis vertrauen. Was so anerkannt wird, mag oft wahr sein; es könnte aber zunächst auch ebensogut falsch sein, denn das anerkennende Urteil ist durch nichts als richtig charakterisiert. Dies ist dagegen bei gewissen andern Urteilen, die man im Unterschied von jenen blinden „einleuchtende“, „evidente“ Urteile genannt hat, der Fall, wie beim Satze des Widerspruchs und bei jeder sogenannten innern Wahrnehmung, die mir sagt, daß ich jetzt Schall- und Farbenempfindungen habe und das und das denke und will. Worin besteht nun der wesentliche Unterschied zwischen jener niederen und dieser höheren Urteilsweise? ist es ein Unterschied des Überzeugungsgrades oder etwas anderes? Ein Unterschied des Überzeugungsgrades ist es nicht; die instinktiven und blind-gewohnheitsmäßigen Annahmen sind oft nicht im allermindesten vom Zweifel angekränkelt, und manche wird man
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sogar dann nicht los, wenn man schon ihre logische Unberechtigung einsieht. Aber sie werden in dunklem Drang gefällt; sie haben nichts von der Klarheit, welche der höheren Urteilsweise eigen ist. Wirft man die Frage auf: warum glaubst du denn das eigentlich?, so wird ein vernünftiger Grund vermißt. Würde man dieselbe Frage bei einem unmittelbar evidenten Urteil aufwerfen, so wäre wohl auch hier keine Begründung zu geben; aber die Frage würde angesichts der Klarheit des Urteils gar nicht mehr am Platze, ja geradezu lächerlich erscheinen. Jeder erfährt den Unterschied zwischen der einen und andern Urteilsweise in sich; in dem Hinweis auf diese Erfahrung muß, wie bei jedem Begriff, die letzte Verdeutlichung bestehen. 27. Das alles ist der Hauptsache nach allgemein bekannt27 und wird nur von wenigen und nicht ohne große Inkonsequenz bestritten. Viel weniger hat man die Thatsache eines analogen Unterschieds zwischen höherer und niederer Thätigkeit auf dem Gebiete des Gemütes, des Gefallens und Mißfallens, beachtet. Unser Gefallen und Mißfallen sind oft, ganz ähnlich wie die blinden Urteile, nur instinktive oder gewohnheitsmäßige Triebe. So ist es bei der Lust des Geizigen an der Anhäufung des Geldes; so bei der mächtigen Lust und Unlust, welche sich den Menschen wie den Tieren an das Erscheinen gewisser sinnlicher Qualitäten in der Empfindung knüpfen; und dabei verhalten – wie es namentlich bei Geschmäcken auffällig ist – verschiedene Species und auch Individuen sich oft in entgegengesetzter Weise. Viele Philosophen, und darunter sehr bedeutende Denker, haben diese Weise des Gefallens, welche nur den niedrigeren Erscheinungen der Klasse eigen ist, allein beachtet und haben es ganz übersehen, daß es auch ein Gefallen und Mißfallen höherer Art giebt. David Hume z. B. zeigt sozusagen in jedem Worte, daß er gar keine Ahnung von der Existenz dieser höheren Klasse hat28. Ja wie allgemein ein solches Übersehen stattfand, das zeigt sich darin, daß die Sprache keinen gebräuchlichen Namen für sie bietet29. Das Faktum steht nichtsdestoweniger fest; erläutern wir es kurz durch ein paar Beispiele! Wir haben, sagten wir eben, von Natur ein Gefallen an gewissen Geschmäcken und einen Widerwillen gegen andere; beides rein instinktiv. Wir haben aber auch von Natur ein Gefallen an klarer Einsicht und ein Mißfallen an Irrtum und Unwissenheit. „Alle Menschen“, sagt Aristoteles in den schönen Eingangsworten zu seiner Metaphysik30, „begehren von Natur nach dem Wissen.“ Dies Begehren ist ein Beispiel, das uns dient. Es ist ein Gefallen von jener höheren Form, die das Analogon ist von der Evidenz auf
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dem Gebiete des Urteils. In unserer Species ist es allgemein; würde es aber eine andere Species geben, welche, wie sie in Bezug auf Empfindungsinhalte anders als wir bevorzugt, im Gegensatze zu uns den Irrtum als solchen liebte und die Einsicht haßte: so würden wir gewiß nicht so wie dort sagen: das ist Geschmackssache, „de gustibus non est disputandum“; nein, wir würden hier mit Entschiedenheit erklären, solches Lieben und Hassen sei grundverkehrt, die Species hasse, was unzweifelhaft gut, und liebe, was unzweifelhaft schlecht sei in sich selbst. – Warum hier so und anders dort, wo der Drang gleich mächtig ist? – Sehr einfach! Dort war der Drang ein instinktiver Trieb; hier ist das natürliche Gefallen eine höhere als richtig charakterisierte Liebe. Wir bemerken also, indem wir sie in uns finden, daß ihr Objekt nicht bloß geliebt und liebbar und seine Privation und sein Gegensatz gehaßt und haßbar sind, sondern auch, daß das eine liebenswert, das andere hassenswert, also das eine gut, das andere schlecht ist. Ein anderes Beispiel! Wir geben, wie der Einsicht vor dem Irrtum, so, allgemein gesprochen, der Freude (wenn es nicht gerade eine Freude am Schlechten ist) vor der Traurigkeit den Vorzug. Wenn es Wesen gäbe, welche hier umgekehrt bevorzugten, so würden wir dies, und mit Recht, als ein verkehrtes Verhalten bezeichnen. Es sind eben auch hier unsere Liebe und unser Haß als richtig charakterisiert. Einen dritten Fall bietet die richtige und als richtig charakterisierte Gemütsthätigkeit selbst. Wie die Richtigkeit und Evidenz des Urteils, so zählt darum auch die Richtigkeit und der höhere Charakter der Gemütsthätigkeit selbst zu dem Guten, während die Liebe zum Schlechten selber schlecht ist31. Und um auch in Bezug auf das Gebiet des Vorstellens die entsprechenden Erfahrungen nicht unberührt zu lassen, so zeigt sich hier auf dieselbe Weise, daß jedes Vorstellen in sich selbst etwas Gutes ist und daß mit jeder Erweiterung des Vorstellungslebens – von allem, was sich von Gutem oder Schlechtem daran knüpfen mag, abgesehen – das Gute in uns vermehrt wird32. Hier also und aus solchen Erfahrungen einer als richtig charakterisierten Liebe entspringt uns die Erkenntnis, daß etwas wahrhaft und unzweifelhaft gut ist, in dem ganzen Umfange, in dem wir einer solchen fähig sind33. Denn das allerdings dürfen wir uns nicht verhehlen: wir haben keine Gewähr dafür, daß wir von allem, was gut ist, mit einer als richtig charakterisierten Liebe angemutet werden. Wo immer dies nicht der Fall ist, versagt unser Kriterium, und das Gute ist für unsere Erkenntnis und praktische Berücksichtigung soviel wie nicht vorhanden34.
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28. Aber nicht eines, vieles ist, was wir so als gut erkennen. Und daher bleiben die Fragen: welches ist unter dem Guten und insbesondere unter dem erreichbaren Guten das Bessere? und welches das höchste praktische Gut, damit es als Zweck maßgebend werde für unser Handeln? 29. Fragen wir also zunächst: wann ist etwas besser als etwas anderes und wird als besser von uns erkannt? und was heißt das überhaupt: das „Bessere“? Die Antwort ist offenbar vorbereitet; doch nicht so, daß nicht ein naheliegender Irrtum auszuschließen bliebe. Wenn „gut“ das ist, was wert ist, um seiner selbst willen geliebt zu werden, so scheint „besser“ das, was wert ist, mit größerer Liebe geliebt zu werden. Aber ist dem wirklich so? – Was soll das sagen: „mit größerer Liebe“? – Räumliche Größe?, daran denkt man wohl nicht; nach Schuhen und Zollen wird man ein Gefallen und Mißfallen nicht leicht messen wollen. Die Intensität des Gefallens, wird einer vielleicht sagen, die nenne ich die Größe der Liebe. Danach würde also das Bessere das sein, was mit intensiverem Gefallen gefallen soll. Aber das wäre eine Bestimmung, in welcher, näher besehen, die größten Ungereimtheiten beschlossen lägen. Danach wäre in jedem einzelnen Falle, wo man sich über etwas freut, nur ein gewisses Maß der Freude gestattet; während ich doch meinen sollte, es könne unmöglich verwerflich sein, wenn man sich über etwas, was wirklich etwas Gutes ist, so sehr als möglich und, wie man zu sagen pflegt, von ganzem Herzen freue. Schon Descartes bemerkt, der Akt der Liebe (wenn überhaupt auf Gutes gerichtet) könne nie zu intensiv sein24. Er hat offenbar recht. Im anderen Falle, bei der Endlichkeit unserer psychischen Kraft, welche Behutsamkeit wäre nicht geboten! So oft man sich über etwas Gutes freuen wollte, müßte man immer ängstlich Umschau halten über alles, was es sonst noch Gutes giebt, damit man ja das Maß der Proportion zur Gesamtkraft in keiner Beziehung verletze. Und wenn einer an einen Gott glaubt und unter ihm das unendliche Gut, das Ideal aller Ideale versteht, so müßte er, da er ihn wenn auch von ganzer Seele und mit allen seinen Kräften, doch immer nur mit einem endlich intensiven Akte der Liebe lieben kann, alles andere Gute mit unendlich kleiner Intensität oder – da dies unmöglich ist – eigentlich gar nicht lieben. Das alles ist offenbar absurd. 30. Und doch muß man sagen, das Bessere sei dasjenige, was mit Recht mehr geliebt werde, was mit Recht mehr gefalle; aber in ganz anderem Sinne. Das „mehr“ bezieht sich nicht auf das Intensitätsverhältnis zweier Akte, sondern
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auf eine besondere Species von Phänomenen, die zur allgemeinen Klasse des Gefallens und Mißfallens gehört, nämlich auf die Phänomene des Vorziehens. Es sind dies beziehende Akte, die in ihrer Eigentümlichkeit jedem aus der Erfahrung bekannt sind. Auf dem Gebiete des Vorstellens giebt es nichts Analoges. Auf dem Gebiete des Urteils haben wir wohl neben den einfachen, subjektlosen Urteilen prädicierende Urteile und in ihnen beziehende Akte; aber diese Ähnlichkeit ist eine sehr unvollkommene. Das Ähnlichste, was hier vorkommt, ist wohl die Entscheidung über eine dialektisch vorgelegte Frage: ist das wahr oder falsch?, wo dem einen vor dem andern eine Art Vorzug gegeben wird. Doch immer nur wie einem Wahren vor einem Falschen, nie wie einem mehr vor einem minder Wahren. Was wahr ist, ist eben alles gleich wahr, was gut ist aber, nicht alles gleich gut, und das „Bessere“ besagt nichts anderes als das gegenüber anderem Guten Vorzügliche, also das, was etwas Gutem um seiner selbst willen mit richtiger Bevorzugung vorgezogen wird. Ein etwas weiterer Sprachgebrauch gestattet es übrigens, auch das Gute gegenüber einem Schlechten oder schlechthin Indifferenten, ja ein Schlechtes gegenüber dem noch Schlechteren „besser“ zu nennen. Es ist – sagen wir dann – zwar auch nicht gut, aber doch besser als jenes. Das also in Kürze zur Erklärung des Begriffs des Besseren. 31. Und nun zur Frage: wie erkennen wir, daß etwas wirklich das Bessere sei? Die einfache Erkenntnis als gut und schlecht vorausgesetzt, scheinen wir – die Analogie legt es nahe – diese Einsicht aus gewissen Akten des Vorziehens, die als richtig charakterisiert sind, zu schöpfen. Denn wie die einfache Bethätigung des Gefallens, ist auch das Vorziehen teils niederer Art d. h. triebartig, teils höherer Art und, analog dem evidenten Urteil, als richtig ausgezeichnet. Doch sind die betreffenden Fälle so beschaffen, daß mancher, und vielleicht mit besserem Rechte, sagen möchte, daß hier analytische Urteile das Mittel des Fortschritts würden und daß die Bevorzugungen, statt Erfahrungsquelle der Vorzüglichkeit, vielmehr darum als richtig charakterisiert seien, weil sie die schon erkannte Vorzüglichkeit maßgebend werden ließen35. Hierher gehört offenbar vor allem (1.) der Fall, wo wir etwas Gutes und als gut Erkanntes etwas Schlechtem und als schlecht Erkanntem vorziehen. Dann aber (2.) ebenso der Fall, wo wir die Existenz eines als gut Erkannten seiner Nichtexistenz vorziehen oder die Nichtexistenz eines als schlecht Erkannten seiner Existenz vorziehen.
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Dieser Fall begreift eine Reihe von wichtigen Fällen unter sich; so den Fall, wo wir ein Gutes rein für sich dem gleichen Guten mit Beimischung von Schlechtem, dagegen ein Schlechtes mit Beimischung von Gutem diesem selben Schlechten rein für sich vorziehen. Und weiter gehören darunter auch noch die Fälle, wo wir das ganze Gute einem Teil des Guten, dagegen einen Teil des Schlechten dem ganzen Schlechten vorziehen. Schon Aristoteles hebt es hervor, daß bei Gutem die Summe immer besser sei als der einzelne Summand. Ein solcher Fall von Summierung liegt auch vor bei längerer Dauer. Die gleiche Freude, welche eine Stunde währt, ist besser als die, welche im Augenblick erlischt. Wer dies, wie Epikur, wenn er uns über die Sterblichkeit der Seele trösten will, leugnet, den kann man leicht zu noch auffallenderen Ungereimtheiten führen. Auch die Pein einer Stunde würde ja dann nicht schlechter als die Pein eines Augenblicks sein. Und somit ergäbe sich aus beiden Sätzen zusammen, daß ein ganzes Leben voll Freude mit einem einzigen Augenblick der Pein einem ganzen Leben voll Pein mit einem einzigen Augenblick der Freude nicht vorzuziehen wäre. Das aber ist etwas, wovon wie jede gesunde Vernunft, so insbesondere und ausdrücklich gerade auch Epikur das Gegenteil behauptet. Ein dem vorigen innigst verwandter Fall ist (3.) der, wo ein Gutes einem andern Guten vorgezogen wird, welches zwar nicht einen Teil von ihm bildet, aber einem seiner Teile in jeder Hinsicht gleich ist. Nicht bloß zu demselben, auch zu einem in jeder Hinsicht gleichen Guten ein Gutes fügend, bekommt man in der Summe ein Besseres. Analoges ergiebt sich, wenn man zu einem gleichen Schlechten ein anderes Schlechtes hinzugefügt denkt. Also z. B. wenn einer ein schönes Gemälde einmal ganz, ein anderes Mal in ganz gleicher Weise nur einem Teile nach zu sehen bekommt, so ist das erste Sehen in sich genommen etwas Besseres. Oder wenn einer einmal etwas Gutes vorstellt, ein anderes Mal es nicht bloß (und zwar ganz ebenso vollkommen) vorstellt, sondern auch liebt, so ist diese Summe psychischer Akte etwas Besseres. Zu diesem dritten Falle gehörig und im besonderen noch erwähnenswert sind auch die Fälle des Gradunterschiedes. Ist ein Gutes einem andern, also z. B. eine Freude einer andern, in jeder sonstigen Beziehung ganz gleich, das eine aber intensiver als das andere: so ist die Bevorzugung, die das Intensivere vorzieht, als richtig charakterisiert; das Intensivere ist das Bessere. Umgekehrt zeigt sich, daß das intensivere Schlechte, also z. B. die intensivere Pein, das Schlechtere ist. Der Grad der Intensität entspricht nämlich ihrem Abstande vom Nullpunkte, und der Abstand der stärkeren Intensität vom
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Nullpunkte setzt sich aus ihrem Abstande von der schwächeren Intensität und dem Abstande dieser vom Nullpunkte zusammen. Man hat es also (was bestritten wurde) wirklich mit einer Art Addition zu thun. 32. Vielleicht denkt mancher bei sich, die drei Fälle, die ich da vorgeführt, seien so selbstverständlich und unbedeutend, daß er sich wundern müsse, warum ich überhaupt dabei verweile. Selbstverständlich sind sie nun allerdings, müssen es aber auch wohl sein, da wir ja hier von dem, was Grundlage werden soll, handeln. Schlimmer wäre es, wenn sie unbedeutend wären, denn – gestehe ich es nur offen – ich habe kaum einen weiteren Fall beizufügen; in allen oder doch den allermeisten Fällen, die nicht darunter begriffen sind, versagt uns gänzlich jedes Kriterium36. Nehmen wir ein Beispiel! Jede Einsicht, sagten wir, ist etwas in sich Gutes, und jede edle Liebe ist ebenso etwas Gutes in sich. Beides erkennen wir klar. Aber wer sagt uns, ob dieser Akt der Einsicht oder jener Akt edler Liebe in sich das Bessere sei? – Es hat allerdings nicht an Leuten gefehlt, die hier aburteilten; ja manche haben sogar behauptet, sicher sei jeder Akt edler Liebe in sich selbst ein so hohes Gut, daß er, in sich genommen, besser sei als alle wissenschaftliche Einsicht insgesamt. Meines Erachtens ist dies nicht bloß nicht sicher, sondern geradezu absurd. Denn der einzelne edle Liebesakt bleibt, so wertvoll er immer sei, ein endliches Gut. Ein gewisses endliches Gut aber ist auch jede Einsicht. Und wenn ich diese endliche Größe in beliebiger Menge zu sich selbst addiere, so muß die Summe jedes gegebene endliche Maß von Güte einmal überschreiten. Platon und Aristoteles waren umgekehrt geneigt, die Akte der Erkenntnis in sich betrachtet im allgemeinen höher zu stellen als die Akte ethischer Tugend; auch dies gewiß unberechtigt, und ich erwähne es nur, weil dieser Gegensatz der Ansichten ein bestätigendes Zeichen für das Versagen des Kriteriums ist. Wie so vielfach auf psychischem Gebiete37, sind uns auch hier eigentliche Maßbestimmungen unmöglich. Wo nun die innere Vorzüglichkeit nicht ausfindig zu machen ist, da gilt, was wir in ähnlicher Lage von der einfachen Güte sagten, – sie ist für unsere Erkenntnis und praktische Berücksichtigung soviel wie nicht vorhanden. 33. Es giebt Leute, welche im Gegensatze zu dem, was die Erfahrung mit Evidenz erkennen läßt, behaupten, nur Lust sei ein Gut in sich, und die Lust sei das Gute. Nehmen wir einmal an, diese Ansicht sei richtig, würde sich daran, wie manche glaubten und insbesondere Bentham zu ihrer Empfehlung
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geltend machte38, der Vorteil knüpfen, daß uns dann durchweg eine relative Wertbestimmung der Güter gelänge, indem wir nun nur homogene Güter hätten, welche eine Messung aneinander gestatteten? – Jede intensivere Lust wäre ein größeres Gut als eine minder intensive, und die doppelt so intensive an Güte gleich zwei halb so intensiven; so käme dann Klarheit in alles. Es bedarf nur eines Augenblickes der Überlegung, um den Wahn solcher Hoffnungen zu zerstören. Kann man wirklich erkennen, eine Lust sei doppelt so groß als eine andere? – Schon Gauß39, der sich doch auf das Messen verstand, hat dem widersprochen. Nie setzt sich eine intensivere Freude aus zwölf minder intensiven, die als gleiche Teile in ihr unterscheidbar wären, wie der Schuh aus zwölf Zollen zusammen. So verhält sich’s also selbst in einfacheren Fällen. Wie lächerlich aber würde sich einer erst machen, wenn er behauptete, seine Lust beim Rauchen einer guten Cigarre, 127 mal oder auch 1077 mal zu sich selbst addiert, gebe genau das Maß der Lust, welche er beim Anhören einer Beethovenschen Symphonie oder beim Anblick einer Raphaelischen Madonna in sich erfahre40! Ich glaube, ich habe genug gesagt, und brauche nicht auch noch auf die Schwierigkeit, die Intensitäten von Lust und Pein aneinander zu messen, hinzuweisen. 34. Also nur in so beschränktem Umfange schöpfen wir aus unsern Erfahrungen eine Erkenntnis des in sich Besseren. Ich begreife wohl, wie einer, der dies zum erstenmal erwägt, in Besorgnis gerät, die mächtigen Lücken, die hier bleiben, müßten praktisch im höchsten Grade störend werden. Doch wenn wir weiter schreiten und das Wenige, was wir haben, rüstig ausbeuten, so werden wir finden, wie die fühlbarsten Mängel sich glücklicherweise als praktisch unschädlich erweisen. 35. Aus dem, was wir von Fällen eines als richtig charakterisierten Bevorzugens anführten, ergiebt sich nämlich der wichtige Satz, daß das Bereich des höchsten praktischen Gutes die ganze unserer vernünftigen Einwirkung unterworfene Sphäre ist, soweit in ihr ein Gutes verwirklicht werden kann. Nicht allein das eigene Selbst: die Familie, die Stadt, der Staat, die ganze gegenwärtige irdische Lebewelt, ja die Zeiten ferner Zukunft können dabei in Betracht kommen. Das alles folgt aus dem Satze der Summierung des Guten. Das Gute in diesem weiten Ganzen nach Möglichkeit zu fördern, das ist offenbar der richtige Lebenszweck, zu welchem jede Handlung geordnet werden soll; das ist das eine und höchste Gebot, von dem alle übrigen abhangen41. Die Selbsthingabe, und unter Umständen die Selbstaufopferung, wird
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sonach Pflicht; das gleiche Gute, wo immer es sei (also auch im andern), wird nach seinem Werte (also überall gleich) zu lieben sein42, und Mißgunst und scheeler Neid sind ausgeschlossen. 36. Und nun fließt, da alles engere Gute zu dem Guten dieses weitesten Kreises in Zweckbeziehung zu bringen ist, aus utilitarischen Erwägungen auch Licht in jene dunkeln Gebiete, wo uns früher für jede Wahl der Maßstab fehlte. Wenn Akte der Einsicht z. B. und Akte edler Liebe sich in ihrem innern Wert nicht aneinander messen ließen, so ist es jetzt klar, daß jedenfalls keine der beiden Seiten auf Kosten der andern gänzlich vernachlässigt werden darf. Hätte einer alle Erkenntnis und keine edle Liebe, hätte ein anderer alle edle Liebe und keine Erkenntnis: keiner von beiden würde imstande sein seine Vorzüge im Dienste des immer noch größeren kollektiven Guten zu verwenden. Eine gewisse harmonische Entwickelung und Bethätigung aller unserer edlen Anlagen scheint also unter diesem Gesichtspunkt jedenfalls das zu Erstrebende43. 37. Und weiter kommen wir, nachdem wir schon so manche Liebespflicht gegen das höchste praktische Gut hervorkeimen sahen, nun auch an den Ursprung der Rechtspflicht. Die Vereinigung, welche eine Teilung der Arbeit möglich macht, kann allein die Bedingung für die Erreichung des höchsten praktischen Gutes, wie wir es erkannt haben, werden. So ist denn der Mensch ethisch bestimmt zum Leben in der Gesellschaft. Und leicht ist’s nachweisbar, wie hier, damit nicht jeder für jeden mehr störend als fördernd werde, Grenzen des freien Waltens einer jeden Persönlichkeit bestehen müssen44, und wie diese Grenzen (wie immer sich hier manches aus bloßer natürlicher Erwägung ergiebt) doch einer genaueren Bestimmung durch positive Determination und einer weiteren Sicherung durch die unterstützende öffentliche Gewalt bedürfen. Und wie auf diese Weise die natürliche Erkenntnis den Bestand positiven Rechts im allgemeinen fordert und sanktioniert, so kann sie auch im besondern Forderungen erheben, von deren Erfüllung das Maß des Segens, den die Rechtsordnung bringt, wesentlich abhängt. In dieser Weise also giebt oder versagt die höchste Krone, welche die Wahrheit trägt, den Werken positiver Gesetzgebung ihre Sanktion, und aus ihr ziehen sie ihre wahre bindende Kraft45. Denn, wie schon der alte Philosoph von Ephesus in einem seiner sinnschweren sibyllenähnlichen Sprüche sagt, „alle menschlichen Gesetze nähren sich von dem einen göttlichen“46.
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38. Außer den Satzungen, welche die Rechtsgrenzen betreffen, giebt es in jeder Gesellschaft noch andere positive Bestimmungen, welche die Weise angehen, wie man sich innerhalb seiner Rechtssphäre zu benehmen, wie man über seine Freiheit und sein Eigentum zu verfügen habe. Die öffentliche Meinung billigt Fleiß, Generosität und Ökonomie, jedes an seiner Stelle, und mißbilligt Trägheit, Geiz, Verschwendung und vieles andere. Im Gesetzbuch finden sich die Vorschriften nicht, aber im Herzen des Volkes stehen sie geschrieben. Und auch Lohn und Strafe fehlen bei dieser Art von positiven Geboten nicht; sie bestehen in den Vorteilen und Nachteilen guten und schlechten Rufes. Hier haben wir sozusagen einen positiven Kodex der Sittlichkeit, der den positiven Rechtskodex ergänzt. Auch dieses positiv Sittliche kann richtige und irrige Bestimmungen enthalten. Um wahrhaft verpflichtend zu sein, muß es mit den Regeln zusammenstimmen, die, wie wir zuvor sahen, durch die Vernunft als Liebespflichten gegen das höchste praktische Gut sich erkennen lassen. Und so haben wir denn wirklich die gesuchte natürliche Sanktion für recht und sittlich gefunden. 39. Ich verweile nicht dabei, wie diese Sanktion sich mächtig erweist. Ein jeder sagt sich gewiß lieber: ich betrage mich richtig, als: ich handle verkehrt. Und keinem, der etwas als besser erkennt, ist dieser Umstand bei seiner Wahl ganz und gar gleichgültig. Bei einigen indes ist es wenigstens annähernd der Fall, während für andere dieses Moment von vorzüglichstem Gewichte ist. Schon die Beanlagung ist verschieden, und vieles kann durch Erziehung und eigene ethische Führung vervollkommnet werden. Genug, die Wahrheit spricht, und wer immer aus der Wahrheit ist, höret ihre Stimme. 40. Bei der Vielheit untergeordneter Regeln, welche der Griffel der Natur selber in die Gesetzestafeln eingräbt, sind, wie wir sahen, utilitarische Rücksichten maßgebend. Da wir nun in verschiedenen Lagen über verschiedene Mittel verfügen, so werden auch für verschiedene Lagen verschiedene specielle Vorschriften gelten müssen. Sie können geradezu entgegengesetzt lauten, ohne natürlich, da sie ja für verschiedene Umstände berechnet sind, deshalb wahrhaft widersprechend zu sein. In diesem Sinne also wird eine Relativität des Ethischen mit Recht behauptet. Ihering hat sie hervorgehoben47, aber nicht, wie er zu meinen scheint, als einer der ersten. Vielmehr war die Lehre alther bekannt und wurde schon von Platon in seiner Republik geltend gemacht48. Aristoteles hat sie in der
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Ethik und mit größtem Nachdruck in der Politik betont49. Auch die Scholastiker hielten sie fest, und in moderner Zeit haben selbst Männer von so energischen ethischen und politischen Überzeugungen wie Bentham50 sie nicht geleugnet. Wenn die Fanatiker der französischen Revolution sie verkannten, so sind doch die Besonnenen unter ihren Mitbürgern auch damals solchem Wahne nicht verfallen. Laplace z. B. in seinem Essai philosophique sur les probabilités giebt der wahren Lehre gelegentlich Zeugnis und erhebt warnend seine Stimme51. Und so hat der ausgezeichnete Forscher, der uns den Geist des römischen Rechts erschlossen und dem wir auch als Verfasser des Zweckes im Recht in vieler Beziehung gewiß zum Danke verpflichtet sind, genau betrachtet hier nichts gethan als die Lehre getrübt, indem er sie mit einer wesentlich andern und falschen Relativitätslehre konfundierte. Nach dieser würde kein Satz der Ethik, auch nicht der, daß man das Beste des weitesten Kreises beim Handeln maßgebend machen solle, ausnahmslose Gültigkeit haben. In der Urzeit und auch später, lange Jahrhunderte hindurch, wäre, wie er ausdrücklich behauptet, ein solches Verfahren ebenso unsittlich gewesen wie in spätern das entgegengesetzte. Wir müßten, in die Zeiten der Menschenfresserei zurückblickend, mit den Menschenfressern und nicht mit dem sympathisieren, der etwa, innerlich seiner Zeit vorauseilend, schon damals die allgemeine Nächstenliebe gepredigt hätte52. Das sind Irrtümer, welche nicht bloß durch die philosophische Reflexion auf die Erkenntnisprincipien der Ethik, sondern auch durch die Erfolge unserer christlichen Missionäre schlagend widerlegt werden. 41. So wäre denn die Bahn zu dem uns vorgesetzten Ziele durchschritten. Zeitweilig führte sie uns durch fremde, wenig betretene Gebiete; zuletzt aber mochten die Resultate, zu welchen wir gelangten, uns wie alte Bekannte anmuten. Indem wir Nächstenliebe und Selbstaufopferung für Vaterland und Menschheit als Pflicht erklärten, wiederholten wir nur, was rings um uns verkündet wird. Und so würden wir denn auch, wenn wir noch mehr ins einzelne gingen, Lug und Verrat und Mord und Unzucht und so vieles andere, was als ethisch verwerflich gilt, mit dem Maßstab der von uns dargelegten Erkenntnisprincipien gemessen, das eine als unrecht, das andere als unsittlich verdammenswert finden. Das alles dürfte uns gewissermaßen anheimeln, wie einen Seefahrer die vaterländische Küste, wenn er nach glücklich vollbrachter Reise sie auftauchen sieht, und der Rauch aufsteigt aus der altgewohnten Esse.
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42. Und gewiß, wir dürfen uns darüber freuen. Die sichere Klarheit, mit der sich alles das ergiebt, ist für das Gelingen unseres Unternehmens ein gutes Zeichen. Denn dieses Moment, die Weise, wie es sich ergiebt, ist natürlich dabei das allerwesentlichste. Ohne sie, was hätten wir hier vor anderen voraus? Auch Kant z. B., der ganz anders über die Erkenntnisprincipien der Ethik lehrte, sehen wir im weiteren Verlauf vielfach zu den bekannten Aufstellungen gelangen. Aber was bei ihm vermisst wird, ist der strenge Zusammenhang. Schon Beneke hat gezeigt, wie man mit dem kategorischen Imperativ in der Weise, wie Kant ihn handhabt, für denselben Fall Entgegengesetztes und somit alles und nichts beweisen könne53. Wenn Kant nun trotzdem so vielfach glücklich bei richtigen Sätzen ankommt, so müssen wir dies wohl darauf zurückführen, daß er schon vorher solche Meinungen hegte. Wie ja auch Hegel, wenn er nicht andersher gewußt hätte, daß der Himmel blau ist, es gewiß nicht dialektisch a priori deduciert haben würde. Brachte er es doch ebensogut fertig, die damals geltende Siebenzahl der Planeten darzuthun, die heutzutage längst von der Wissenschaft überschritten ist. Diese Erscheinung also wäre leicht in ihren Ursachen verständlich. 43. Aber etwas anderes scheint rätselhaft. Wie kommt es, daß die gangbaren öffentlichen Meinungen in Bezug auf sittlich und recht selber in so vielen Beziehungen als richtig sich erweisen? Wenn ein Denker wie Kant die Quellen, aus welchen wirkliche ethische Erkenntnis fließt, nicht gefunden hatte: wie können wir glauben, daß das gewöhnliche Volk dahin gelangt sei, um aus ihnen zu schöpfen? Wenn aber dieses nicht, wie konnten sie, der Prämissen entbehrend, die Folgerungen gewinnen? Hier kann die Erscheinung offenbar nicht daraus, daß die richtige Ansicht schon früher festgestanden, begriffen werden. Doch auch diese Schwierigkeit löst sich in sehr einfacher Weise, wenn wir erwägen, wie gar vieles in unserm Erkenntnisschatze sich findet und in neuen Erkenntnissen fruchtbar erweist, ohne daß wir uns den Proceß zu deutlichem Bewußtsein bringen. Sie müssen, wenn ich dies sage, in mir nicht einen Anhänger der famosen Philosophie des Unbewußten vermuten. Ich spreche hier nur von unleugbaren und altbekannten Wahrheiten. So hat man oft bemerkt, daß die Menschen Jahrtausende hindurch schon richtige Schlüsse gezogen hatten, ohne sich durch Reflexion ihr Verfahren und die Principien, welche die formelle Gültigkeit der Folgerung bedingen, zur Klarheit zu bringen. Ja als Platon zuerst darauf reflektierte, konnte es ihm begegnen, daß er eine ganz falsche
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Theorie aufstellte und meinte, man habe es bei jedem Schlusse mit einem Processe der Wiedererinnerung zu thun54. Was man auf Erden wahrnehme und erfahre, rufe Erkenntnisse ins Gedächtnis zurück, die man in einem vorirdischen Leben erworben. Heutzutage ist dieser Irrtum verschwunden. Aber immer noch tauchen falsche Theorieen über die Erkenntnisquellen der Syllogistik auf; wie denn z. B. Albert Lange55 sie in Raumanschauungen und synthetischen Sätzen a priori, Alexander Bain56 in der Erfahrung sucht, daß die Schlußmodi Barbara, Celarent u. s. w. sich bis jetzt in jedem Fall als richtig bewährt haben: lauter krasse Irrtümer über die bedingenden unmittelbaren Einsichten, die aber doch nicht ausschließen, daß Platon und Lange und Bain im allgemeinen nicht anders als andere Menschen argumentieren; trotz ihrer Verkennung der wahren Erkenntnisprincipien bleiben nämlich doch diese Principien in ihnen selber wirksam. Ja, was greife ich in die Ferne? Man mache nur die Probe mit dem ersten besten gemeinen Mann, der eben eine richtige Folgerung zieht, und fordere ihn auf, die Prämissen des Schließens anzugeben! Er wird es gewöhnlich nicht vermögen und vielleicht ganz falsche Angaben darüber machen. Wird ja auch derselbe, wenn man ihn einen ihm geläufigen Begriff definieren läßt, meist die gröbsten Fehler begehen und so wiederum zeigen, wie er sein eigenes Denken nicht richtig zu beschreiben fähig ist. 44. Indessen, wie immer der Weg, der zur ethischen Erkenntnis führt, den Laien und auch den Philosophen vielfach im Nebel lag, so müssen wir doch, da der Proceß ein komplizierter ist, und viele Momente dabei zusammenwirken, erwarten, daß Spuren auch von der Wirksamkeit jedes einzelnen von ihnen für sich in der Geschichte sich aufzeigen lassen werden. Und dies wird mehr noch als die Übereinstimmung in den Endergebnissen für die richtige Theorie eine Bewährung sein. Nun wohl, auch diese – wenn die Zeit es nur gestattete – in welcher Fülle vermöchte ich sie zu bieten! Wer ist z. B., der nicht die Freude (wenn es nicht gerade eine Freude an Schlechtem ist), wie wir es thaten, für etwas evident Gutes erklären würde? Hat es doch nicht an Ethikern gefehlt, welche die Lust und das Gute schlechtweg für identische Begriffe erklären wollten57. Aber ihnen gegenüber gaben andere für den inneren Wert auch der Einsicht Zeugnis, und diese werden den Unbefangenen auf ihrer Seite haben. Manche Philosophen wollten die Erkenntnis sogar geradezu als vornehmstes Gut über alles andere emporheben58. Doch erkannten diese dabei auch jedem Tugendakte einen gewissen inneren Wert zu; und andere thaten dies in dem
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Maße, daß sie nur in der Bethätigung der Tugend das höchste der Güter erblicken wollten59. Nach der einen Seite hätten wir also der Bestätigungen wohl genug. Doch nun auch, was die Principien des Bevorzugens anlangt: wie oft sehen wir nicht dem Princip der Summierung Rechnung getragen, wie wenn gesagt wird, das Maß des Glückes des ganzen Lebens, nicht das des Augenblickes komme in Betracht60. Und wieder, die Grenzen des Ichs überschreitend, wenn z. B. Aristoteles sagt, die Glückseligkeit eines Volkes erscheine als ein höherer Zweck als die eigene Glückseligkeit61; und so sei auch bei einem Kunstwerke und bei einem Organismus, und ähnlich wieder bei einem Hauswesen der Teil immer wegen des Ganzen; alles sei hier geordnet „zum Gemeinsamen“ („ǼɾȉdȋˆdȁȆȀȄȓȄ“)62. Ja bei der Gesamtheit der Schöpfung macht er denselben Grundsatz maßgebend. „Worin“, fragt er63, „haben wir für alles Geschaffene das Gute und Beste, das sein Endzweck ist, zu erblicken? – Ist es ihm immanent oder transcendent?“ Und er antwortet: „beides!“ und bezeichnet als transcendenten Zweck den göttlichen Urgrund, dessen Ähnlichkeit alles erstrebt, als immanenten aber das Ganze der Weltordnung. Das gleiche Zeugnis für das Princip der Summierung könnten wir dem Mund der Stoiker entnehmen64. Ja es kehrt wieder in jedem Versuch einer Theodicee von Platon bis Leibniz und weiter herab65. Aber auch in den Bestimmungen unserer Volksreligion tritt seine Wirksamkeit deutlich zu Tage. Wenn sie uns die Weisung giebt, wir sollten den Nächsten lieben wie uns selbst, was lehrt sie anderes, als daß bei der richtigen Bevorzugung das Gleiche (sei es eigenes, sei es fremdes) mit gleichem Gewicht in die Wage falle? woraus die unterordnende Hingabe des einzelnen an das kollektive Ganze folgt; wie denn der Erlöser, das ethische Ideal des Christentums, für das Heil der Welt sich zum Opfer bringt. Und wenn gesagt wird: liebe Gott über alles! (wie auch Aristoteles sagt, Gott sei mehr noch das Beste zu nennen als das Ganze der Welt)66, so liegt auch da eine besondere Anwendung des Princips der Summierung vor. Denn was denkt man unter Gott anderes als den Inbegriff alles Guten in unendlicher, überschwänglicher Steigerung? So zeigen sich die beiden Sätze der Nächstenliebe wie sich selbst und der Liebe Gottes über alles so innig verwandt, daß wir nicht mehr überrascht sind, die Worte beigefügt zu finden, das eine Gebot sei dem andern gleich. Das Gebot der Nächstenliebe – man beachte wohl – wird nicht dem der Gottesliebe untergeordnet und aus ihm abgeleitet; sie ist nach der christlichen Anschauung nicht darum richtig, weil Gott sie fordert, er fordert sie
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vielmehr darum, weil sie natürlich richtig ist67; und diese Richtigkeit wird in derselben Weise und in derselben Klarheit, sozusagen durch denselben Lichtstrahl der natürlichen Erkenntnis offenbar. Da hätten wir denn schon genugsam Zeichen von der bildenden Wirksamkeit der einzelnen von uns hervorgehobenen Faktoren und hierin einerseits eine Bekräftigung unserer Theorie und andererseits im wesentlichen die Erklärung jener paradoxen Anticipation philosophischer Resultate. 45. Doch wir dürfen nicht glauben hiemit alles gesagt zu haben. Nicht jede Meinung über sittlich und recht, die heutzutage in der Gesellschaft gilt, und die, wenn man die Ethik fragt, auch durch sie als richtig sanktioniert wird, ist jenen lauteren und edeln Quellen, die auch im verborgnen strömend ergiebig waren, entflossen. Viele solche Ansichten sind auf logisch ganz unberechtigtem Wege zu stande gekommen und nahmen, wenn man die Geschichte ihrer Entstehung untersucht, ihren Ursprung aus niederen Trieben, aus selbstischen Gelüsten durch Umbildungen, welche diese nicht etwa durch höhere Einflüsse, sondern einfach durch den instinktiven Drang der Gewohnheit erfuhren. Es ist wirklich wahr, was so viele Utilitarier hervorheben, daß der Egoismus es empfiehlt sich anderen gefällig zu erweisen, und daß ein solches Verhalten, fort und fort geübt, schließlich zu einer für die ursprünglichen Zwecke blinden Gewohnheit wird. Es geschieht dies vornehmlich infolge unserer geistigen Beschränktheit, der sogenannten Enge des Bewußtseins, welche es uns nicht gestattet neben dem, was zunächst in Frage kommt, die ferneren und letzten Zwecke immer deutlich vor Augen zu haben. So mag denn mancher wirklich dazu geführt werden, in blindem, gewohnheitsmäßigem Drange mit einer gewissen Selbstlosigkeit auch das Wohl anderer zu lieben. Es ist weiter wahr, was einige im besondern geltend machten, daß es in der Geschichte oft vorkommen mußte, daß ein Übermächtiger einen Schwachen egoistisch sich unterwarf und diesen unter dem Einflusse der Gewohnheit mehr und mehr zum willigen Knechte sich erzog. Und in dessen Sklavenseele wirkte dann zuletzt ein „ǸʞȋˆȉdɢȍǸ“ mit blindem, aber nicht minder mächtigem Drang, wie ein treibendes „du sollst“, als wäre es eine Offenbarung der Natur über gut und böse. Bei jeder Verletzung eines Befehls fühlte er sich, wie ein wohldressierter Hund, beunruhigt und innerlich gequält. Hatte ein solcher Gewaltiger sich viele unterworfen, so mochte sein wohlberatener Egoismus ihn dazu bestimmen Gebote zu geben, die dem Bestande seiner Horde förderlich waren. Sie wurden ebenso sklavisch seinen Leuten zur Gewohn-
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heit und sozusagen zur Natur wie andere. Und so mochte die Rücksicht auf das Ganze dieser Gesellschaft nach und nach jedem Unterthan etwas werden, wozu er sich mit dem eben beschriebenen Gefühle gedrängt fand. Zugleich erkennen wir leicht, wie bei seiner steten Fürsorge für die Seinigen in dem Tyrannen selbst Gewohnheiten sich bilden mußten, welche der Berücksichtigung der Wohlfahrt dieses Kollektivs günstig waren. Ja er mochte schließlich ebenso wie der Geizige, der sich für die Erhaltung seines Schatzes hinopferte, dahin kommen, für die Erhaltung seiner Bande bereitwillig zu sterben. – Bei dem ganzen beschriebenen Proceß, wenn er sich so vollzieht, haben die ethischen Erkenntnisprincipien nicht den geringsten Einfluß. Der Drang, welcher auf solche Weise entsteht, und die Meinungen, welche infolgedavon für oder gegen ein gewisses Verhalten sich aussprechen, haben nicht das mindeste mit der natürlichen Sanktion zu thun und entbehren jeder ethischen Würde. Aber man begreift sehr wohl – und namentlich wenn man nun auch noch den Fall erwägt, wo Horde mit Horde in Beziehung tritt und freundliche Rücksichten auch hier sich als vorteilhaft zu erweisen beginnen –, wie der Weg dieser niederen Dressur zu Meinungen führen kann, ja vielfach früher oder später, man darf wohl sagen, führen muß, die mit Lehrsätzen, welche aus der wahren Schätzung des Guten fließen, zusammenstimmen. 46. So trifft ja auch die blinde, rein gewohnheitsmäßige Erwartung des Ähnlichen in ähnlichen Fällen, wie sie die Tiere und auch wir selbst tausendfach üben, nicht selten mit dem Ergebnisse zusammen, welches eine nach den Grundsätzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung vollzogene Induktion in gleicher Lage liefern würde; ja die Ähnlichkeit der Resultate hat selbst Leute von psychologischer Bildung68 öfter dahin geführt, den einen und andern Proceß, obwohl sie himmelweit voneinander abstehen und der eine ganz blind sich vollzieht, während der andere von der Evidenz der Mathematik durchleuchtet ist, geradezu für identisch zu nehmen. So müssen denn auch wir uns wohl davor hüten, in solchen pseudo-ethischen Entwickelungen ein verborgenes Wirken der wahren ethischen Sanktion zu vermuten. 47. Wie mächtig aber auch dieser Abstand ist, so haben doch auch jene niederen Processe ihren Wert. Die Natur – man hat es oft hervorgehoben69 – hat sehr wohl daran gethan, vielfach durch instinktive Triebe, wie Hunger und Durst, für uns zu sorgen und nicht alles unserer Vernunft zu überlassen. Dies bewährt sich auch in unserem Falle.
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In jenen ältesten Zeiten, bei welchen ich – Sie begreifen vielleicht jetzt besser, mit welchem Rechte – Ihering zugab, daß sie schier jeden Anflug von ethischem Denken und Fühlen vermissen ließen, geschah doch Großes für die Vorbereitung wahrer Tugend. Die öffentliche Ordnung, wie auch immer zunächst durch den Antrieb niederer Beweggründe hergestellt, wurde die Vorbedingung für die freie Entfaltung unserer edelsten Anlagen. Auch konnte es nicht gleichgültig sein, wenn unter dem Einflusse jener Dressur gewisse Leidenschaften gemäßigt und gewisse Dispositionen anerzogen wurden, welche es leichter machten, dem wahren sittlichen Gebot in derselben Richtung Folge zu leisten. Catilinas Tapferkeit war gewiß nicht die wahre Tugend der Tapferkeit, wenn Aristoteles mit Recht sagt, diese habe nur der, welcher in Gefahr und Tod gehe „ȋȆ̯d ȁǸȂȆ̯d ɣȄǼȁǸ“, „wegen des Sittlichschönen“70. Auf seinen Fall hätte Augustinus hinweisen können, wenn er sagte: „virtutes ethnicorum splendida vitia!“ Aber wer möchte verkennen, daß es einem solchen Catilina, nach der Bekehrung, infolge seiner früher erworbenen Dispositionen leichter geworden wäre, auch im Dienste des Guten das Äußerste zu wagen? So war der Boden für die Aufnahme wahrhaft ethischer Anregungen empfänglich gemacht, und es lag darin eine mächtige Ermutigung für diejenigen, welche zuerst zu ethischen Erkenntnissen durchdrangen und die Stimme der natürlichen Sanktion in sich hörten, für die Wahrheit Propaganda zu machen. Aristoteles schon bemerkt in diesem Sinne, man könne nicht jeden zum Hörer der Ethik brauchen. Durch Gewohnheiten gut geführt müsse derjenige sein, welcher über Recht und Sittlichkeit hören solle. Bei anderen, meint er, sei alle Mühe verschwendet71. Ja noch mehr kann ich jener nicht prähistorischen, aber doch prämoralischen Zeit von Verdiensten für die Erkenntnis von natürlichem Recht und natürlicher Sittlichkeit nachrühmen. Die gesetzlichen Ordnungen und Sitten, welche damals sich bildeten, haben aus früher entwickelten Gründen dem, was die Ethik fordert, so vielfach sich angenähert, daß dieser eigentümliche Fall von Mimikry viele über den Mangel tiefergehender Verwandtschaft täuschte. Was dort ein blinder Drang, hier die Erkenntnis des Guten zum Gebot erheben läßt, trifft oft inhaltlich vollständig zusammen. Die legislative ethische Gewalt fand darum in jenen auch schon kodifizierten Gesetzen und Sitten sozusagen Gesetzesentwürfe vor sich, die sie mit etlichen Abänderungen ohne weiteres sanktionieren konnte. Sie waren um so wertvoller, als sie – was unter utilitarischem Gesichtspunkte gefordert erscheint – den besonderen Verhältnissen der Völker angepaßt waren. Und der Vergleich der einen Verfassung mit der andern mußte dies hervortreten lassen und hat frühzeitig
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dazu beigetragen, zu jener wichtigen Erkenntnis der wahren Relativität auch des natürlichen Rechtes und der natürlichen Sittlichkeit zu führen. Wer weiß, ob es sonst selbst einem Aristoteles hätte gelingen können, sich in dem Grade, wie er es that, von jedem schablonisierenden Doktrinarismus freizuhalten! Soviel also von jenen vorethischen Zeiten, um auch ihnen die schuldige Anerkennung nicht zu versagen. 48. Immerhin, es war damals Nacht, wenn auch eine Nacht, in welcher der kommende Tag sich vorbereitete; und der Anbruch des Morgens, er ist sicher der herrlichste Sonnenaufgang, der sich in der Weltgeschichte vollzieht. Ich sage, sich vollzieht; nicht, sich vollzogen hat; denn noch sehen wir das Licht mit den Finsternissen ringen. Die wahrhaft ethischen Motive sind, wie im Privatleben, so in der Politik, nach außen und nach innen, bei weitem nicht überall maßgebend. Diese Kräfte erweisen sich – um mit dem Dichter zu sprechen – noch immer nicht genug entwickelt, um den Bau der Welt zusammenzuhalten. Und so erhält denn, und wir dürfen ihr dafür dankbar sein, die Natur das Getriebe durch Hunger und durch Liebe und, müssen wir hinzusetzen, durch jene anderen dunkeln Strebungen, von welchen wir sahen, wie sie sich aus selbstsüchtigen Gelüsten entwickeln können. 49. Von ihnen und ihren psychologischen Gesetzen muß darum der Jurist, wenn er wahrhaft seine Zeit begreifen und förderlich auf sie einwirken will, ebenso wie von den Lehren des natürlichen Rechtes und der natürlichen Sittlichkeit Kenntnis nehmen, die, wie unsere Betrachtung zeigte, nicht das erste gewesen sind, sondern – soweit man überhaupt auf eine Realisierung des vollen Ideales hoffen darf – das letzte in der Geschichte sittlicher und rechtlicher Entwickelung sein werden. So zeigen sich die innigen Beziehungen der Jurisprudenz und Politik zur Philosophie, von welchen Leibniz sprach, in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit. Platon hat das Wort gesprochen, es werde nicht gut werden im Staate, bis der wahre Philosoph König werde oder die Könige in rechter Weise philosophierten. In unserer konstitutionellen Zeit werden wir uns besser so ausdrücken, daß wir sagen, mit den vielen Mißständen unseres staatlichen Lebens könne es nicht zum Besseren sich wenden, wenn man nicht, statt den Juristen das Wenige zu nehmen, was sie bei den bestehenden Einrichtungen zu philosophischer Bildung anregt, vielmehr endlich einmal kräftig dafür sorge, daß sie wirklich eine ihrem erhabenen Berufe genügende philosophische Bildung empfangen.
Anmerkungen* 1
Vgl. Über die Entstehung des Rechtsgefühles. Vortrag von Dr. Rudolf von Ihering. – Gehalten in der Wiener juristischen Gesellschaft am 12. März 1884. (Allgem. Juristenzeitung, 7. Jahrg. Nr. 11 ff. Wien 16. März–13. April 1884.) Ferner ist zu vergleichen v. Ihering, Der Zweck im Recht, 2 Bde. Leipzig 1877–1883.
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Für den ersten Punkt vgl. Allgem. Juristenzeitung, 7. Jahrg. S. 122 ff., Zweck im Recht II. S. 109 ff.; für den zweiten Punkt Allgem. Juristenzeitung, 7. Jahrg. S. 171, Zweck im Recht II. S. 118–123. Verworfen wird hier, daß es irgend eine ethische Regel von absoluter Gültigkeit gebe (S. 118, 122 f.); bekämpft wird jede, wie Ihering sie nennt, „psychologische“ Behandlungsweise der Ethik (S. 121), wonach sich die Ethik „als Zwillingsschwester der Logik“ darstellen würde (S. 123).
3
Allgem. Juristenzeitung, 7. Jahrg. S. 147; vgl. Zweck im Recht II. S. 124 ff.
4
Arist. Polit. I, 2. p. 1252 b 24.
5
Vgl. z. B. Allgem. Juristenzeitung, 7. Jahrg. S. 146.
6
Rep. 2, 31.
7
Dig. I, 8, 9.
8
Zu den zahlreichen Anhängern dieser Meinung gehört als einer der vorzüglichsten Vertreter J. St. Mill in seinem „Utilitarianism“, Chapt. 3.
9
Auch hier ist unter anderen J. St. Mill zu nennen. Diese Motive der Furcht und Hoffnung wären nach ihm die äußeren; jene früher beschriebenen, durch Gewohnheit herausgebildeten Gefühle die innere Sanktion (ebend. Chapt. 3).
10
Vgl. hiefür insbesondere eine Erörterung in James Mills Fragment on Mackintosh, die J. St. Mill in der 2. Auflage der Analysis of the phen. of the hum. mind II p. 309 ff. abdruckt, und die geistvollen Abhandlungen von Grote, die A. Bain unter dem Titel: Fragments on Ethical Subjects by the late George Grote F. R. S., being a selection from his posthumous papers, London 1876, veröffentlicht hat; namentlich Ess. I: On the origin and nature of ethical Sentiment.
11
D. Hume, An Enquiry concerning the Principles of Moral (zuerst London 1751).
12
Herbart, Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie § 81 ff. Gesamtausgabe I S. 124 ff.
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Alle eckigen Klammern in den Anmerkungen stammen nicht von den Herausgebern, sondern von Brentano selbst.
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Dieser Vergleich mit der Logik dürfte mich am besten gegen den Vorwurf schützen, als ob ich hier die Herbartische Lehre in falschem Lichte erscheinen lasse. Würde das logische Kriterium in Geschmacksurteilen bei der Erscheinung regelgemäßen und regelwidrigen Denkverfahrens liegen, so würde es, verglichen mit dem, was es thatsächlich ist (der innern Evidenz des regelgemäßen Verfahrens), äußerlich zu nennen sein. Ähnlich ist darum auch das Kriterium der Herbartischen Ethik treffend als ein äußerliches zu bezeichnen, wie energisch auch die Herbartianer betonen mögen, daß in dem Geschmacksurteil, welches bei dem Anblick gewisser Willensverhältnisse von selbst entstehe, ein innerer Vorzug dieser Verhältnisse sich offenbare.
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In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten führt uns Kant den kategorischen Imperativ in folgenden Fassungen vor: „handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde;“ und: „handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte.“ In der Kritik der praktischen Vernunft lautet er: „handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“, d. h., wie Kant selbst erklärt, daß die Maxime, zum allgemeinen Gesetz erhoben, nicht zu Widersprüchen führen und so sich selbst aufheben würde. Das Bewußtsein von diesem Grundgesetz wäre nach Kant ein Faktum der reinen Vernunft, die sich dadurch als gesetzgebend (sic volo, sic jubeo) ankündigte. Doch schon Beneke bemerkt (Grundlinien der Sittenlehre II, S. XVIII – 1841 –; vgl. seine Grundlegung zur Physik der Sitten, ein Gegenstück zu Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1822), daß es vielmehr nichts als eine „psychologische Dichtung“ sei, und heutzutage ist wohl kein Urteilsfähiger mehr hierüber im Zweifel. Bezeichnend ist, daß selbst Philosophen, wie Mansel, der für Kant die allerhöchste Verehrung hat, zugeben, daß der kategorische Imperativ eine Fiktion und schlechterdings unhaltbar sei. Der kategorische Imperativ hat zugleich den andern und nicht geringeren Fehler, daß man, selbst wenn man ihn zugesteht, schlechterdings zu keinen ethischen Folgerungen gelangt. Die Ableitungen, die Kant versucht, mißlingen ihm, wie Mill (Utilitarianism, Chapt. 1) mit Recht sagt, „in fast grotesker Weise“. Sein Lieblingsbeispiel einer Ableitung, dasjenige, womit er sowohl in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten als auch in der Kritik der praktischen Vernunft sein Verfahren erläutert, ist folgendes: Darf man, fragt er, ein Gut, das einem ohne Schein oder sonstiges Indicium anvertraut ist, für sich behalten? Er antwortet: Nein! Denn, meint er, niemand würde einem, wenn die gegenteilige Maxime zum Gesetz erhoben würde, unter solchen Umständen noch etwas anvertrauen. Das Gesetz wäre also ohne Möglichkeit der Anwendung; also unausführbar; also aufgehoben durch sich selbst. Man erkennt leicht, daß die Argumentation Kants falsch, ja absurd ist. Wenn infolge des Gesetzes gewisse Handlungen unterlassen werden, so übt es eine Wirkung; es ist also noch wirklich und keineswegs durch sich selbst aufgehoben. Wie lächerlich wäre es, wenn einer in analoger Weise folgende Frage behandeln würde: Darf ich einem, der mich zu bestechen sucht, willfahren? – Ja! Denn dächte ich die entgegengesetzte Maxime zum allgemeinen Naturgesetz erhoben, so würde niemand mehr einen zu bestechen versuchen; folglich wäre das Gesetz ohne Anwendung; also unausführbar und somit aufgehoben durch sich selbst.
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Vgl. J. St. Mill, System der deduktiven und induktiven Logik IV Kap. 4 § 6 (gg. Ende); ebendas. VI Kap. 2 § 4 und anderwärts, wie z. B. in seinem „Utilitarianism“, seinen Essays über Religion und seiner Abhandlung über Comte und den Positivismus, II. Teil.
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Man vgl. mit dem im Vortrage Gesagten das erste Kapitel der Nikomachischen Ethik, und man wird finden, daß Iherings „Grundgedanke“ bei seinem Werke „Der Zweck im Recht“ (I S. VI), nämlich, „daß es keinen Rechtssatz gebe, der nicht einem Zwecke seinen Ursprung verdanke“, so alt als die Ethik selber ist.
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Es kann Fälle geben, wo der Erfolg gewisser Bestrebungen zweifelhaft ist und von zwei Wegen, die sich öffnen, der eine ein Besseres, aber mit geringerer Wahrscheinlichkeit, der andere ein minder Gutes, aber mit größerer Wahrscheinlichkeit, in Aussicht stellt. Hier kommt das Wahrscheinlichkeitsverhältnis bei der Wahl mit in Betracht. Wenn A dreimal besser ist als B, aber B zehnmal mehr Chancen hat, erzielt zu werden als A, so wird der praktisch Weise den Weg zu B vorziehen. Denken wir uns ein solches Verfahren durchgängig unter ähnlichen Umständen eingehalten, so würde damit (nach dem Gesetz der großen Zahlen) bei hinreichender Vervielfältigung der Fälle im ganzen das Bessere verwirklicht werden. Somit entspricht das Verhalten noch immer unverkennbar dem im Text ausgesprochenen Princip: wähle unter dem Erreichbaren das Beste. Die ganze Bedeutung dieser Bemerkung wird durch den Verlauf der Untersuchung noch mehr ins Licht gestellt werden.
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Schon Aristoteles war diese Wahrheit bekannt (vgl. z. B. De Anim. III, 8). Das Mittelalter hielt sie fest, drückte sie aber nicht glücklich aus, in dem Satze: nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu. Die Begriffe „Wollen“, „Schließen“ werden nicht aus sinnlichen Anschauungen gewonnen; man müßte denn den Begriff „sinnlich“ so allgemein fassen, daß aller Unterschied von „sinnlich“ und „übersinnlich“ sich verwischte. Sie stammen aus Anschauungen psychischen Inhalts. Ebendaher stammen die Begriffe „Zweck“, „Ursache“ (wir bemerken z. B. zwischen unserm Glauben an die Prämissen und unserm Glauben an den Schlußsatz eine ursächliche Beziehung), „Unmöglichkeit“ und „Notwendigkeit“ (wir gewinnen sie aus Urteilen, welche etwas nicht einfach assertorisch, sondern, wie man sich auszudrücken beliebt, apodiktisch anerkennen oder verwerfen) und viele andere, welche manche Moderne, denen die Erforschung des wahren Ursprungs mißlang, als von vornherein gegebene Kategorieen betrachten wollten. (Beiläufig bemerkt, ist es mir wohl bekannt, daß Sigwart und, von ihm bestimmt, auch andere in jüngster Zeit die Besonderheit der apodiktischen gegenüber der assertorischen Urteilsweise in Abrede stellen. Es ist dies aber ein psychologischer Irrtum, den als solchen zu erweisen hier nicht des Ortes ist; vgl. unten Anm. 27 S. 79.)
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Auch von dieser Lehre finden sich die ersten Keime bei Aristoteles, vgl. insbes. Metaph. Δ 15 p. 1021 a 29. Der Terminus „intentional“ stammt, wie so manche andere Bezeichnung wichtiger Begriffe, von den Scholastikern her.
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Eingehender findet man die Frage nach dem Einteilungsgrunde erörtert in meiner „Psychologie vom empirischen Standpunkte“ (1874, Buch II Kap. 6; vgl. ebend. Kap. 1 § 5), deren betreffende Ausführungen ich trotz mancher Abweichung im einzelnen der Hauptsache nach auch heute noch für richtig halte.
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Meditat. III. Nunc autem ordo videtur exigere, ut prius omnes meas cogitationes (alle psychischen Akte) in certa genera distribuam … Quaedam ex his tanquam rerum imagines sunt, quibus solis proprie convenit ideae nomen, ut cum hominem, vel chimaeram, vel coelum, vel angelum, vel Deum cogito; aliae vero alias quasdam praeterea formas habent, ut cum volo, cum timeo, cum affirmo, cum nego, semper quidem aliquam rem ut subjectum meae cogitationis apprehendo, sed aliquid etiam amplius quam istius rei similitudinem cogitatione complector; et ex his aliae voluntates sive affectus, aliae autem judicia appellantur. Seltsamerweise hat diese klare Stelle Windelband (Straßb. philos. Abhandl. S. 171) nicht abgehalten, Descartes die Lehre zuzuschreiben, das Urteilen sei ein Wollen. Was ihn dazu verführt, ist eine Erörterung in der vierten Meditation über den Einfluß des Willens bei der Bildung des Urteils. Schon Scholastiker wie Suarez hatten diesen Einfluß ultriert, und Descartes geht in der Übertreibung der Abhängigkeit soweit, daß er jedes (auch das evidente) Urteilen als ein Werk des Willens betrachtet. Aber „das Urteil bewirken“ und „das Urteil sein“ bleibt offenbar noch immer Zweierlei. Und obwohl darum Descartes auch an unserer Stelle seine Ansicht von dem Einflusse des Willens durchblicken läßt – denn wahrscheinlich weist er nur um ihretwillen dem Urteil den dritten Platz unter den Grundklassen der psychischen Phänomene an –, so sagt er doch ohne Widerspruch: aliae voluntates – aliae judicia appellantur. Verfänglicher sind ein paar Stellen in späteren Schriften, nämlich in den drei Jahre nach den Meditationen veröffentlichten Principia Philosophiae (I, 32.) und in den abermals drei Jahre später geschriebenen „Notae in Programma quoddam, sub finem Anni 1647 in Belgio editum, cum hoc Titulo: Explicatio mentis humanae sive animae rationalis, ubi explicatur quid sit, et quid esse possit.“ Besonders die Stelle in den Principien könnte zu der Meinung führen, Descartes müsse seine Ansicht geändert haben, und es ist zum Verwundern, daß Windelband sich nicht vielmehr auf sie als auf die Stelle in den Meditationen berief. Da heißt es: Ordines modi cogitandi, quos in nobis experimur, ad duos generales referri possunt: quorum unus est, perceptio sive operatio intellectus; alius vero, volitio sive operatio voluntatis. Nam sentire, imaginari et pure intelligere, sunt tantum diversi modi percipiendi; ut et cupere, aversari, affirmare, negare, dubitare, sunt diversi modi volendi. Auf den ersten Blick scheint diese Lehre der in der dritten Meditation so deutlich zu widersprechen, daß man, wie gesagt, kaum umhin kann auf die Vermutung zu kommen, Descartes müsse in der Zwischenzeit seine These von den drei Grundklassen aufgegeben haben und sei nun aus der Skylla in die Charybdis geraten; die alte Konfusion des Urteils mit der Vorstellung vermeidend, konfundiere er es nun mit dem Willen. Doch bei aufmerksamerer Erwägung aller Umstände wird man Descartes von diesem Vorwurf freisprechen und zwar aus folgenden Gründen: 1.) deutet nicht das geringste Zeichen darauf hin, daß Descartes ein Bewußtsein davon habe, daß er den in seinen Meditationen ausgesprochenen Überzeugungen untreu geworden sei. 2.) Noch mehr, im Jahre 1647 (drei Jahre nach den
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Schriften zur Ethik und Ästhetik Meditationen und kurz vor Abfassung der Notae zum Programma) erscheinen die Meditationen in einer von Descartes revidierten Übersetzung, und – sieh da! – er ändert an der entscheidenden Stelle in der dritten Meditation nicht das mindeste. „Entre mes pensées“, heißt es, „quelques unes sont comme les images des choses, et c’est à celles-là seules que convient proprement le nom d’idée; … D’autres, outre cela ont quelques autres formes; … et de ce genre de pensées, les unes sont appelées volontés ou affections, et les autres jugements.“ 3.) In den Principien selbst und zwar unmittelbar darauf (I no. 42) sagt er, alle unsere Irrtümer hingen von unserm Willen ab (a voluntate pendere), aber er ist dabei doch soweit davon entfernt das „Irren“ für ein Wollen zu nehmen, daß er sagt, daß niemand sei, der irren wolle (nemo est qui velit falli). Und noch bezeichnender dafür, daß er das Urteil nicht, wie das Begehren und Fliehen, als die innere Willensbethätigung selbst, sondern nur als ein Werk des Willens denkt, ist es, wenn er sofort hinzufügt: „sed longe aliud est velle falli, quam velle assentiri iis, in quibus contingit errorem reperiri“ etc. Er sagt nicht vom Willen, ähnlich wie daß er begehre, daß er affirmiere, zustimme, sondern daß er die Zustimmung wolle; wie auch nicht, daß er wahr sei, sondern daß er nach der Wahrheit verlange („veritatis assequendae cupiditas … efficit, ut … judicium ferant“). Über die wirkliche Ansicht Descartes’ kann also kein Zweifel sein; seine Lehre hat hier nicht die geringste Umwandlung erlitten. Es bleibt darum nur die Aufgabe, sich mit seiner offenbar veränderten Ausdrucksweise zurecht zu finden. Und diese lösen wir, glaube ich, unfehlbar in folgender Weise. Descartes, obwohl er Wille und Urteil als zwei verschiedene Grundklassen erkennt, findet doch, daß für sie, gegenüber der Grundklasse der Ideen, einiges gemeinsam sei. In der dritten Meditation hebt er (man vgl. die oben angeführte Stelle) als dies Gemeinsame hervor, daß sie, ein Vorstellen als Fundament enthaltend, noch eine andere, besondere Form hinzufügten. In der vierten Meditation tritt als ein anderer gemeinsamer Zug das hervor, daß der Wille über sie entscheide; er könne nicht bloß die eignen, er könne auch die Akte des Urteils setzen und suspendieren. Dieses Gemeinsame ist es nun, worauf es ihm in dem ersten Teil der „Principien“ Nr. XXIX–XLII vorzüglich, ja allein ankommen mußte. Daher faßt er sie, im Gegensatz zu den Ideen als operationes intellectus, unter dem Namen operationes voluntatis zusammen. In den „Notae zum Programma“ nennt er sie, deutlich in demselben Sinn, determinationes voluntatis. „Ego enim, cum viderem, praeter perceptionem, quae praerequiritur et judicemus, opus esse affirmatione vel negatione ad formam judicii constituendam, nobisque saepe esse liberum ut cohibeamus assensionem, etiamsi rem percipiamus, ipsum actum judicandi, qui non nisi in assensu, hoc est in affirmatione vel negatione consistit, non retuli ad perceptionem intellectus sed ad determinationem voluntatis.“ Ja er scheut sich in den „Principien“ nicht, diese zwei Klassen von modi cogitandi beide modi volendi zu nennen, indem der Zusammenhang genugsam zu zeigen schien, er wolle damit nur sagen, daß sie zur Domäne des Willens gehörten. Noch eine weitere Stütze findet diese Erklärung durch den Vergleich mit der scholastischen Terminologie, mit der Descartes als Jüngling vertraut wurde. Sie pflegte nicht bloß die Regung des Willens, sondern auch die unter der Herrschaft des Willens geübte Handlung als actus voluntatis zu bezeichnen. Demgemäß zerfiel dieser dann in zwei Klassen, den actus elicitus voluntatis und den actus impe-
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ratus voluntatis. Ähnlich faßt Descartes diejenige Klasse, welche nach ihm nur als actus imperatus des Willens möglich ist, mit seinem actus elicitus zusammen. Um einen gemeinsamen Grundcharakter der intentionalen Beziehung handelt es sich also bei dieser Zusammenfassung nicht. So klar dies alles sich nun für denjenigen herausstellt, der allen Momenten sorgsam Rechnung trägt, so scheint doch Spinoza, wahrscheinlich mehr durch die Stelle in den „Principien“ als durch die von Windelband angezogene in den „Meditationen“ verleitet, diesem in dem Mißverständnis der Cartesianischen Lehre vorausgegangen. Eth. II, prop. 49 faßt er selber nun wirklich und im allereigentlichsten Sinne die affirmatio und negatio als volitiones mentis, und kommt dann schließlich durch eine weitere Konfusion dazu, auch zwischen der Klasse der ideae und jener der voluntates den Unterschied zu verwischen. „Voluntas et intellectus unum et idem sunt“ lautet nun die These, die mit der Dreiteilung von Descartes auch die alte Aristotelische Zweiteilung über den Haufen wirft. Spinoza hat hier wie gewöhnlich nichts gethan, als die Lehren seines großen Meisters korrumpiert. 22
Ich will damit nicht sagen, daß die Einteilung gegenwärtig allgemein anerkannt sei. Man würde nicht einmal den Satz des Widerspruchs für gesichert erklären dürfen, wenn man, um dies zu thun, die allgemeine Zustimmung abwarten wollte. In unserm Falle ist es sehr begreiflich, wenn alteingewurzelte Vorurteile nicht sofort aufgegeben werden. Aber daß auch unter solchen Verhältnissen keine einzige bedeutende Objektion vorgebracht werden konnte, dient der Lehre gewiß am meisten zur Bestätigung. Manche – wie z. B. Windelband – geben es auf, das Urteil mit der Vorstellung in einer Grundklasse zu begreifen, glauben es dagegen der Gemütsthätigkeit subsumieren zu können. Sie fallen so in den Fehler, den einst Hume bei seiner Untersuchung über die Natur des Glaubens (belief ) begangen hatte, zurück. Das Bejahen soll nach ihnen ein Billigen, ein Wertschätzen im Gefühle, das Verneinen ein Mißbilligen, ein Sich-abgestoßen-fühlen sein. Trotz einer gewissen Analogie ist die Verwechslung schwer begreiflich. Es giebt Leute, welche die Güte Gottes und die Bosheit des Teufels, das Wesen des Ormuzd und das Wesen des Ahriman mit gleicher Überzeugung anerkennen, während sie doch das Wesen des einen über alles schätzen, von dem des andern sich nicht anders als abgestoßen fühlen. Da wir die Erkenntnis lieben und den Irrtum hassen, so ist es allerdings richtig, daß uns Urteile, die wir für richtig halten (und dies gilt von allen denen, welche wir selber fällen), aus diesem Grunde lieb sind (daß wir sie also im Gefühle irgendwie wertschätzen). Aber wer möchte sich dadurch verleiten lassen, die geliebten Urteile selbst für Betätigungen der Liebe zu nehmen? Die Verwechslung wäre schier ebenso grob, als wenn einer Weib und Kind und Geld und Gut deshalb, weil sie Gegenstände seiner Liebe sind, von dieser seiner darauf bezüglichen Thätigkeit nicht unterschiede. Vgl. auch, was ich oben (Anm. 21) gegen Windelband bemerkt habe, wo er, Descartes mißverstehend, ihm dieselbe Lehre zuschreibt; ferner Anm. 26 (über die Einheit des Begriffes des Guten) sowie was Sigwart in seiner Logik I, 2. Aufl. S. 156 ff. in der Anmerkung zum Teil sehr treffend gegen Windelband geltend macht. Denjenigen, welcher nach allem dem noch nach weiteren Argumenten für den Unterschied der zweiten und dritten
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Schriften zur Ethik und Ästhetik Grundklasse verlangen sollte, erlaube ich mir zum voraus auf meine „Deskriptive Psychologie“ zu verweisen, von der ich im Vorwort als einem nahezu vollendeten Werke spreche, und die nicht als eine Fortsetzung, wohl aber als eine Fortentwickelung meiner „Psychologie vom empirischen Standpunkte“ erscheinen wird. Hier gegenüber Windelband nur noch folgende Bemerkungen: 1. Es ist, wie er sich bei abermaliger Lesung meiner Psychologie I S. 220* selbst überzeugen wird, falsch und ein starkes Versehen, wenn er S. 172 (sogar mit Anführungszeichen) mich selber zugestehen läßt, die Bezeichnung „Liebe und Haß“ sei für die dritte Grundklasse nicht recht geeignet. 2. Es ist falsch und eine ganz unberechtigte Supposition, wenn er mir S. 178 die Meinung zuschreibt, daß die Einteilung der Urteile nach der Qualität die einzig wesentliche sei, die den Urteilsakt selbst betreffe. Das gerade Gegenteil ist meine Überzeugung. So halte ich z. B. (allerdings im Gegensatz zu Windelband) den Unterschied zwischen assertorischen und apodiktischen (vgl. dazu Anm. 27 S. 82) und wiederum den Unterschied zwischen evidenten und blinden Urteilen für den Urteilsakt selbst betreffend und sehr wesentlich. Noch andere, ja sogar einen zwischen einfachen und zusammengesetzten Urteilsakten, könnte ich namhaft machen. Denn nicht jeder zusammengesetzte Urteilsakt kann in lauter einfache Elemente aufgelöst werden, wie ja Ähnliches – das wußte schon Aristoteles – auch von manchen Begriffen gilt. Was ist Röte? – Rote Farbe. – Was Farbe? – Farbige Qualität. Man sieht, die Differenz enthält in beiden Fällen den Gattungsbegriff; die Ablösbarkeit des einen logischen Teils vom andern besteht nur einseitig. Eine ähnliche einseitige Ablösbarkeit, sage ich, kommt nun auch bei gewissen zusammengesetzten Urteilen vor. J. St. Mill hat darum ganz unrecht, wenn er Ded. und ind. Log. I, 4 § 3 die alte Scheidung der Urteile in einfache und zusammengesetzte lächerlich findet und meint, man verfahre hier nicht anders, als wenn man die Pferde in einzelne Pferde und Gespanne von Pferden scheiden wollte; würde doch sonst gegen die Scheidung der Begriffe in einfache und zusammengesetzte dasselbe Argument gültig sein müssen. 3. Es ist falsch, aber ein Irrtum, dem fast allgemein gehuldigt wird, und von dem auch ich, als ich den ersten Band der Psychologie schrieb, mich noch nicht befreit hatte, daß der sogenannte Grad der Überzeugung eine Intensitätsstufe des Urteilens sei, welche mit der Intensität von Lust und Schmerz in Analogie gebracht werden könnte. Hätte Windelband diesen Irrtum mir vorgehalten, so würde ich ihm ganz und vollkommen recht geben. Nun aber tadelt er mich, weil ich eine Intensität nur in analogem, nicht aber in gleichem Sinne bei der Überzeugung anerkennen wollte, und weil ich die angebliche Intensität der Überzeugung und die wahrhafte Intensität des Gefühls der Größe nach für unvergleichbar erklärte. Da haben wir eine der Folgen seiner verbesserten Auffassung des Urteils. Wäre der Überzeugungsgrad meines Glaubens, daß 2 + 1 = 3 sei, eine Intensität, wie mächtig müßte diese dann sein! Und wenn nun gar dieser Glaube mit Windelband (S. 186) zu einem Gefühl gemacht, nicht bloß dem Gefühl analog
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Die Seitenangaben beziehen sich hier und in der Folge auf den 1. Band dieser Ausgabe: F. Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkte. In: F. Brentano. Sämtliche veröffentlichte Schriften. Bd. 1. Hg. v. Th. Binder & A. Chrudzimski. Frankfurt et. al.: ontos 2008, S. 1–289.
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gedacht werden dürfte, wie zerstörend für unser Nervensystem müßte die Heftigkeit der Gefühlserschütterung werden! Jeder Arzt würde vor dem Studium der Mathematik als etwas Gesundheitzerrüttendem warnen müssen. (Vgl. über den sog. Überzeugungsgrad die Ansicht von Henry Newman in der interessanten, in Deutschland kaum beachteten Schrift „An Essay in aid of a grammar of assent“.) 4. Wenn Windelband S. 183 sich wundert, wie ich in den Sätzen „Gott ist“, „ein Mensch ist“, „ein Mangel ist“, „eine Möglichkeit ist“, „eine Wahrheit ist“ (d. h. „es giebt eine Wahrheit“) u. s. w. das Wörtchen „ist“ für gleichbedeutend nehmen könne, ja dieses Verkennen der mannigfachen Bedeutung des Seins bei dem Verfasser der „Mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles“ seltsam findet (S. 184, Anm. 1): so kann ich nur erwidern, daß, wer hierin nicht die einfache Konsequenz meiner Auffassung vom Urteil erblickt, diese Lehre kaum erfaßt haben dürfte. Was aber Aristoteles anlangt, so fällt es ihm gar nicht ein, das „ɢȊȋȀȄ“, welches den Ausdruck der Vorstellung zum Ausdruck des Urteils ergänzt, und das „ʒȄd ʯȉd ɎȂǾǿǴȉ“, wie er es nennt, ähnlich wie das „ʒȄ“ im Sinne einer Realität in verschiedene Kategorieen und in ein ʒȄd ɞȄǼȈǺǼǶ˿ und ʒȄd ǻȌȄdzȃǼȀ zu zerlegen. Das könnte nur ein solcher thun, welcher, wie Herbart und so manche andere nach ihm, die Begriffe des Seins im Sinne der absoluten Position und im Sinne der Realität nicht auseinanderzuhalten wüßte. (Vgl. die folgende Anm.) 5. Ich habe soeben gesagt, daß es einfache und zusammengesetzte Urteile gebe und daß manche zusammengesetzte Urteile nicht ohne Rest in einfache auflösbar seien. Hierauf muß man wohl achten, wenn man die sprachliche Rückführung von Urteilen, die in andern Formeln ausgesprochen werden, auf die existentiale Formel versucht. Selbstverständlich sind nur einfache, d. h. wahrhaft einheitliche Urteile auf sie rückführbar; und ich glaube, man dürfe mich darum für entschuldigt halten, wenn ich in meiner Psychologie dies nicht ausdrücklich hervorzuheben für nötig hielt. Gilt diese Restriktion allgemein, so gilt sie natürlich auch bei der kategorischen Formel. Die formalen Logiker wollen in den Sätzen von kategorischem Bau, die sie mit A, E, I und O bezeichnet haben, streng einheitliche Urteile ausdrücken. Diese sind also alle auf die Existentialformel rückführbar (vgl. meine Psychologie I S. 236). Nicht aber wird dasselbe gelten, wenn in einem Satze von kategorischem Bau, wie es die Vieldeutigkeit sprachlicher Wendungen mit sich bringt (vgl. unt. S. 120 die Anm. zur Beilage*), eine Vielheit von Urteilen enthalten ist. In einem solchen Fall kann die existentiale Formel wohl der Ausdruck eines dem zusammengesetzten Urteile äquivalenten einheitlichen Urteils, aber nicht dieses Urteils selbst werden. Dies hätte Windelband berücksichtigen müssen, wo er (a. a. O. S. 184) den Satz „die Rose ist eine Blume“ bezüglich seiner Rückführbarkeit auf den Existentialsatz untersucht. Er hat ganz recht, wenn er gegen seine Reduktion auf den Satz: „Es giebt keine Rose, welche nicht eine Blume wäre“ protestiert; nur hat er nicht ebenso recht, wenn er dieselbe mir zuschreibt. Weder an der von ihm angezogenen Stelle noch irgendsonst habe ich sie gemacht und halte sie für ebenso falsch wie die von Windelband versuchte und jede von irgendwelchem andern noch zu versuchende. Das in dem Satze ausgesprochene Urteil ist nämlich hier aus zweien, von *
Vgl. dazu oben die Anmerkung der Herausgeber auf S. 21 bzw. die editorische Vorbemerkung.
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Schriften zur Ethik und Ästhetik welchen das eine die Anerkennung des Subjekts ist (sei es daß dies für die Rose im gewöhnlichen Sinne, sei es daß es für „das Rose Genannte“, „das unter Rose Verstandene“ als solches supponiert), zusammengesetzt, was, wie wir eben bemerkten, nicht in jedem Falle, wo ein Satz von der Fassung „alle A sind B“ ausgesprochen wird, ebenso gilt. Das hat leider auch Land übersehen, der einzige meiner Kritiker, dem es gelungen ist, meine von Windelband (S. 191) als „mysteriös“ bezeichneten Andeutungen zur Reform der elementaren Logik in ihrem notwendigen Zusammenhang mit dem Principe zu begreifen und fehlerfrei aus ihm abzuleiten. (Vgl. Land, On a supposed improvement in formal Logic, in den Abhandlungen der Königl. Niederländischen Akademie der Wissenschaften, 1876.) Ich schließe mit einem Kuriosum, das uns jüngst Steinthal in seiner Zeitschrift für Völkerpsychologie (XVIII, S. 175) lieferte. Da lese ich mit Verwunderung: „Brentanos Verwirrung, indem er Urteilen von Vorstellen und Denken (!) völlig trennt und ersteres als Anerkennung oder Verwerfung mit Liebe und Haß zusammenbringt (!!), wird augenblicklich gelöst, wenn man ein solches (?) Urteilen, als ein ästhetisches, vielmehr Beurteilen (!) nennt.“ Wahrscheinlich hat Steinthal in meine Psychologie keinen Blick geworfen und wohl nur Windelbands Referat darüber gelesen, aber auch dies so flüchtig, daß er mir hoffentlich dankbar sein wird, wenn ich hiermit seine Zeilen an diesen zur Korrektur weiterbefördere.
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Miklosich, Subjektlose Sätze 2. Aufl., Wien 1883. Zur Orientierung über den Inhalt dieser wertvollen Abhandlung mag eine Anzeige dienen, die ich seiner Zeit für die Wiener Abendpost geschrieben hatte. Durch Unverstand verirrte sie sich als Feuilleton in die Wiener Zeitung. Da sie dort gewiß niemand gesucht hat, will ich sie hier, am Ende, als Beilage anfügen.* Inzwischen ist Sigwarts Monographie „Die Impersonalien“ erschienen, worin er Miklosich bekämpft. Marty hat sie, und früher schon den betreffenden Abschnitt von Sigwarts Logik, in der Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie einer treffenden Kritik unterzogen, über die Sigwart ohne allen verständlichen Grund sich höchlich entrüstet zeigt. „Il se fache“, sagen die Franzosen, „donc il a tort“. Daß Sigwarts Auffassung in wesentlichen Stücken wirklich verfehlt sei, das giebt eigentlich selbst Steinthal zu, obwohl er in seiner Zeitschrift (XVIII S. 170 ff.) dem Verfasser der Monographie in dichten Wolken Weihrauch spendet, ja in der Vorrede zur vierten Auflage seines „Ursprung der Sprache“ sogar einem Benehmen Beifall zollt, das jeder wahre Freund des verdienstvollen Mannes zu beklagen Grund hat. Nach dem hohen Lob, das man im Eingang vernommen, fühlt man sich am Ende der Kritik etwas enttäuscht. S. 177– 180 verwirft Steinthal die Theorie Sigwarts, was die grammatische Seite anlangt. Es bliebe danach die psychologische Theorie Sigwarts als das eigentlich Gelungene übrig. Aber die psychologische Seite ist nicht die, für welche Steinthals Würdigung Autorität haben dürfte; es müßte denn einer auch folgende Bemerkung ernst zu nehmen geneigt sein: „Gewiß muß jeder bei dem Satze: ,Da bückt sich’s hinunter mit liebendem Blick‘ (Schillers Worte im ,Taucher‘) an die Königstochter denken; aber nicht sie steht vor mir, sondern subjektlos ein Sich-hinunter-bücken, und nun
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Vgl. dazu oben die Anmerkung der Herausgeber auf S. 21 bzw. die editorische Vorbemerkung.
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fühle ich um so lebendiger mit ihr. Nach meiner [Steinthals] Psychologie würde ich sagen, die Vorstellung der Königstochter schwingt, aber tritt nicht ins Bewußtsein.“ Das ist wohl mehr, als woran ein Weiser genug hat. I. Die psychologische Theorie Sigwarts zeigt sich in ihrer ganzen Schwäche, wo er von dem Begriff „Existenz“ Rechenschaft zu geben sucht. Von diesem hat schon Aristoteles erkannt, daß er durch Reflexion auf das bejahende Urteil gewonnen werde. Aber Sigwart, wie die meisten modernen Logiker, unterläßt es seine Winke zu benützen. Statt zu sagen, zu dem Existierenden gehöre alles das, wofür das anerkennende Urteil wahr ist, ergeht sich Sigwart ein um das andere Mal und zuletzt wieder in seiner zweiten Auflage der Logik, S. 88–95 in langen Erörterungen über den Begriff des Seins und den Existentialsatz, die, in falschen Bahnen sich bewegend, zu keinerlei Klarheit führen können. „Sein“ soll nach Sigwart eine Relation ausdrücken (S. 88. 95); fragt man aber: welche? so scheint es für einen Augenblick (S. 92), daß es eine „Relation zu mir, dem Denkenden“ sein solle. Aber nein, der Existentialsatz behauptet gerade, „daß das Seiende auch sei, abgesehen von seiner Beziehung zu mir und einem andern denkenden Wesen“. Diese Relation ist es also nicht. Aber welche andere soll es nun sein? Erst S. 94 scheint dies deutlicher hervorzutreten. Das Verhältnis soll (allerdings wird dazugefügt „zunächst“) „die Übereinstimmung („Identität“, ebend.) des vorgestellten Dinges mit einer möglichen Wahrnehmung (einem „Wahrnehmbaren“, ebend., „etwas, was von mir wahrgenommen werden kann“, ebend. S. 90 Anm.) sein“. Nun erkennt jeder sofort, daß dieser Begriff der Existenz zu eng ist, wie denn z. B. wohl behauptet werden könnte, es gebe vieles, was nicht wahrnehmbar sei, z. B. eine Vergangenheit und eine Zukunft, einen leeren Raum und überhaupt einen Mangel, eine Möglichkeit, eine Unmöglichkeit u. s. w. u. s. w. Und so ist’s nicht zum Verwundern, wenn Sigwart selbst den Begriff zu entschränken sucht. Aber er thut dies in einer mir schwer verständlichen Weise. Zuerst scheint es, als wolle er sagen, es sei, damit etwas zum Existierenden zähle, nicht nötig, daß es von mir, es genüge, wenn es von irgend einem wahrgenommen werden könne. Oder was sonst sollte es heißen, wenn Sigwart nach dem eben Gesagten – es war von der Übereinstimmung des vorgestellten Dinges mit einer möglichen Wahrnehmung die Rede – fortfährt: „Was existiert, steht nicht bloß in dieser Beziehung zu mir, sondern zu allem andern Seienden“? Sigwart dürfte ja doch kaum geneigt sein, jedem Seienden die Fähigkeit zu jeder Wahrnehmung zuzusprechen. Vielleicht wollte er indes nur sagen, was existiere, stehe zu jedem andern Seienden in der Existenzbeziehung; und dann könnte man etwa aus dem unmittelbar folgenden entnehmen, daß diese wenig sagende Bestimmung dahin gehe, daß Existenz die Fähigkeit zum Wirken und Leiden ausdrücke. („Was existiert … steht in Kausalverhältnissen zu der übrigen Welt“; ähnlich S. 91, Anm.: das Existierende ist etwas, was „Wirkungen auf mich und anderes ausüben kann“.) Schließlich aber gewinnt es auch noch eine gewisse Wahrscheinlichkeit, daß Sigwart sagen wolle, existierend sei das, was wahrgenommen oder als wahrnehmbar erschlossen werden könne; denn er fügt bei: „daraufhin“ (wegen dieser Kausalverhältnisse) „kann auch von dem Wahrnehmbaren eine bloß erschlossene Existenz behauptet werden.“
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Schriften zur Ethik und Ästhetik Daß aber dies alles gleichmäßig verwerflich ist, ist unschwer zu erkennen. Denn 1. „die Existenz von etwas erschließen“ heißt nicht soviel wie „seine Wahrnehmbarkeit erschließen“. Wenn z. B. die Existenz von Atomen und leeren Räumen durch Schlüsse gesichert wäre, so darum doch noch lange nicht ihre Wahrnehmbarkeit für uns oder irgend welches andere Wesen. Und wenn einer auf die Existenz eines Gottes schließt, aber darauf verzichtet, den Gedanken anthropomorphistisch zu „beleben“, so wird er darum nicht glauben, daß Gott für eine Kreatur oder auch nur für sich selber wahrnehmbar sein müsse. 2. Es wäre von diesem Standpunkt ein Widersinn, wenn einer sagte: „Ich bin überzeugt, daß es vieles giebt, dessen Existenz weder jemals von jemand wahrgenommen noch auch erschlossen werden kann.“ Denn es würde heißen: „Ich bin überzeugt, daß vieles wahrgenommen oder als wahrnehmbar erschlossen werden kann, was doch nicht wahrgenommen und nicht erschlossen werden kann.“ – Wer könnte hier verkennen, wie weit Sigwart von dem wahren Begriffe der Existenz abgeirrt wäre! 3. Wenn Sigwart den Begriff der Existenz in der angezogenen Stelle sogar so entschränken wollte, daß er meinte, existierend sei dasjenige, was entweder wahrnehmbar oder aus Wahrnehmbarem zu erschließen oder doch zu Wahrnehmbarem in irgendwelchem ursachlichem Verhältnis befindlich sei: so wäre darauf – wenn anders eine solche monströse Bestimmung des Existenzbegriffes noch einer Widerlegung bedürfen sollte – zu erwidern, daß auch dieser Begriff noch immer zu eng wäre. Wenn ich z. B. sage: es giebt vielleicht einen leeren Raum, aber mit Sicherheit kann dies nie von jemand erkannt werden, so gestehe ich zu, daß dem leeren Raum vielleicht Existenz zukomme, aber ich leugne auf das bestimmteste, daß er wahrnehmbar oder aus Wahrnehmbarem zu erschließen sei. In einem Verhältnis der Ursache oder Wirkung aber kann der leere Raum (der ja doch kein Ding ist) jedenfalls zu nichts Wahrnehmbarem stehen. Wir hatten also wiederum einen Widersinn als Interpretation einer keineswegs absurden Behauptung. Wie verkehrt der Existenzbegriff von Sigwart analysiert wird, erweist sich recht einfach auch an folgendem Satze: ein wirklicher Centaure existiert nicht, ein vorgestellter Centaure aber existiert, und zwar so oft, als ich ihn vorstelle. Wem hier nicht der Unterschied des ʒȄdʯȉdɎȂǾǿǴȉ, d. h. im Sinne des Existierenden, vom ȓȄd im Sinne des Dinglichen (Wesenhaften) klar wird, dem würden, fürchte ich, auch die reichsten Illustrationen durch andere Beispiele kaum mehr zum Verständnis verhelfen. Doch erwäge man kurz auch noch folgendes: nach Sigwart soll die Erkenntnis der Existenz von etwas in der Erkenntnis der Übereinstimmung eines Vorstellungsinhaltes mit – da ich nicht genau verstehe, was, sagen wir – „NN“ bestehn. Was gehört nun dazu, um die Übereinstimmung von etwas mit etwas anderem zu erkennen? Offenbar die Erkenntnis von allem dem, was dazu gehört, damit wirklich diese Übereinstimmung gegeben sei. Dazu gehört nun aber 1.) daß das eine sei, 2.) daß das andere sei und 3.) daß zwischen ihnen das Verhältnis der Identität bestehe; denn was nicht ist, ist weder einem anderen gleich noch von ihm verschieden. Aber die Erkenntnis schon des ersten Stückes für sich ist die Erkenntnis einer Existenz. Also ist die Erkenntnis der beiden übrigen Stücke nicht mehr dazu erforderlich, daß irgendwelche Existenz erkannt werde, und Sigwarts Theorie führt zu einem Widerspruch. Vgl. mit dem hier Erörterten Sigwarts Pole-
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mik gegen meine Psychologie, Buch II, Kap. 7 in der Schrift „Die Impersonalien“ S. 50 ff. und Logik I, 2. Aufl. S. 89 f. Anm., sowie auch Martys Polemik gegen Sigwart in den Artikeln „Über subjektlose Sätze“ in der Vierteljahrsschrift für wissenschaftl. Philosophie VIII, 1 und ff.1 II. Wenn Sigwart das Wesen des Urteils im allgemeinen verkennt, so kann er natürlich das des negativen Urteils im besonderen nicht begreifen. Er verirrt sich soweit, ihm die Gleichberechtigung als Species neben dem positiven Urteil abzusprechen; kein verneinendes Urteil soll direkt, sein Objekt vielmehr immer ein vollzogenes oder versuchtes Urteil sein. (Logik I, 2. Aufl. S. 150.) Mit dieser Behauptung tritt Sigwart in Gegensatz zu wichtigen psychologischen Bestimmungen, die ich im Vortrag verwerte. Somit scheint es geboten, hier seinen Angriff abzuwehren. Zu dem Behufe will ich zeigen: 1. daß die Lehre Sigwarts schlecht begründet ist; 2. daß sie in eine heillose Verwirrung hineinführt; wie denn Sigwarts bejahendes Urteil ein verneinendes, Sigwarts verneinendes Urteil, wenn überhaupt ein Urteil und nicht bloß der Mangel eines solchen, ein positives ist, und sein positives eigentlich ein verneinendes involviert, und was dgl. mehr ist. 3. endlich will ich – was dank den ausführlichen Mitteilungen Sigwarts möglich scheint – die Genesis seines Irrtums darlegen. 1. Zunächst fragt bei einer so neuen, so auffallend abweichenden Behauptung wohl jeder nach der Begründung. Als solche wird (S. 150) vor allem geltend gemacht, daß das verneinende Urteil keinen Sinn hätte, wenn nicht der Gedanke der positiven Beilegung eines Prädikats vorausgegangen wäre. – Allein was soll dies heißen? Entweder liegt hier eine klare petitio principii vor, oder es kann nicht mehr sagen wollen, als daß eine Verknüpfung von Vorstellungen vorausgegangen sein müsse. Geständen wir nun dies (obwohl es, wie ich in meiner Psychologie nachgewiesen, nicht richtig ist) für einen Augenblick zu, so wäre, da Sigwart selbst (S. 89 Anm. u. ö.) anerkennt, daß eine solche „subjektive Verknüpfung von Vorstellungen“ noch kein Urteil sei, daß vielmehr ein gewisses Gefühl von Nötigung dazukommen müsse, noch immer sein Satz nicht erwiesen. In dem folgenden (S. 151) wird ein Argument beigefügt, dessen logischen Zusammenhang ich ebensowenig begreife. Es wird richtig bemerkt, daß wir an und für sich ein Recht hätten unabsehbar viele Prädikate von etwas zu verneinen, und ebenso richtig beigefügt, daß wir diese negativen Urteile trotzdem nicht alle 1
Ich hatte die Kritik von Sigwarts Existenzbegriff bereits geschrieben, als ich auf eine Note zu Logik I, 2. Aufl. S. 390 aufmerksam wurde, die mich nicht veranlaßt, etwas an dem Geschriebenen zu ändern, wohl aber sie zum Vergleiche hier aufzunehmen. „Das ‚Seiende‘ überhaupt“, sagt Sigwart, „kann nicht als wahrer Gattungsbegriff zu dem einzelnen Seienden betrachtet werden; es ist begrifflich betrachtet nur ein gemeinschaftlicher Name. Denn da ‚Sein‘ für uns ein Relationsprädikat ist, kann es kein gemeinschaftliches Merkmal sein, es müßte denn gezeigt werden, daß dieses Prädikat in einer dem Begriffe alles Seienden gemeinsamen Bestimmung wurzle.“ Ich fürchte, der Leser wird sowenig wie ich dadurch über den Existenzbegriff bei Sigwart zur Klarheit gelangen, wohl aber vielleicht noch besser begreifen, warum all mein Ringen danach erfolglos geblieben ist.
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Schriften zur Ethik und Ästhetik wirklich fällten. Und nun – welch ein Schluß wird aus diesen Prämissen gezogen? Etwa der, daß also der Umstand, daß ein gewisses negatives Urteil berechtigt sei, für sich allein noch nicht genüge, um das Eintreten des Urteils zu erklären? – das wäre anstandslos zuzugeben. Aber Sigwart schließt ganz anders; er erlaubt sich zu behaupten, es gehe daraus hervor, daß die fehlende Mitbedingung die sei, daß man die entsprechende positive Behauptung noch nicht versucht habe. Ein kühner Sprung, wahrhaftig! bei welchem meine Logik wenigstens nicht zu folgen vermag. – Und wie, wenn einer weiter früge: warum werden denn die betreffenden positiven Urteile nicht alle wirklich versucht? – Die scheinbarste Antwort, wenigstens was die Beispiele („dieser Stein liest, schreibt, singt, dichtet; die Gerechtigkeit ist blau, grün, fünfeckig, rotiert“), die Sigwart vorführt, anlangt, ist wohl die, daß man es darum unterlasse, weil man das negative bereits mit evidenter Sicherheit gefällt habe; denn dies erklärt hier wohl am besten, warum keine „Gefahr“ besteht, „daß jemand dem Stein oder der Gerechtigkeit diese Prädikate beilegen wollte“. Zieht aber einer vor zu antworten, die Enge des Bewußtseins mache, daß man unendlich viele positive Urteile zugleich versuche, unmöglich: so lasse ich mir auch diese Auskunft gefallen; nur fragt sich, ob dann nicht dieselbe Berufung schon früher und direkt hätte angewandt werden sollen; gebraucht doch Sigwart selbst für die möglichen negativen Urteile den Ausdruck „unabsehliche Menge“. Auch ist es (schon Marty hebt es hervor) ein seltsamer Irrtum, wenn Sigwart behauptet, daß im Gegensatz zu dem, was für das negative Urteil gelte, „von jedem Subjekt nur eine endliche Anzahl von Prädikaten bejaht“ werden könne. Wie? kann man nicht z. B. mit allem Rechte sagen, eine ganze Stunde sei größer als eine halbe, größer als eine Drittel-, größer als eine Viertelstunde, und so fort ins unendliche? – Wenn ich nun trotzdem alle diese Urteile im einzelnen nicht wirklich fälle, so wird dies wohl seine guten Gründe haben, und vor allem schon den, daß die Enge des Bewußtseins damit unverträglich ist. Derselbe dürfte aber dann auch in betreff der negativen Urteile mit bestem Erfolg angewandt werden. Etwas später begegnen wir einem dritten Argument, bei dem ich, da ich es in meiner Psychologie Buch II, Kap. 7 § 5 bereits zum voraus widerlegt habe, ganz kurz verweile. Wenn das negative Urteil ein direktes und dem affirmativen als Species koordiniertes wäre, so müßte, meint Sigwart (S. 155 f.), wer im affirmativen kategorischen Satz die Bejahung, im negativen konsequenterweise die Leugnung des Subjekts involviert denken, was doch nicht der Fall sei. Die letztere Bemerkung ist richtig, die erstere Behauptung aber ganz unstichhaltig; ja sie enthält einen Widerspruch in sich selbst. Denn gerade darum, weil im Bestand eines Ganzen der Bestand eines jeden zu ihm gehörigen Teils involviert ist, genügt es dazu, daß ein Ganzes nicht mehr bestehe, wenn auch nur einer seiner Teile mangelt. Und so haben wir denn schließlich nur noch einer sprachlichen Erwägung, durch welche Sigwart seine Ansicht zu stützen glaubt, zu gedenken. Ein Zeugnis dafür soll nach ihm auch darin liegen, daß das Zeichen des negativen Urteils durchweg eine Komplikation mit dem Zeichen der Affirmation enthalte; das Wörtchen „nicht“ wird ja zum Zeichen der Kopula hinzugefügt. – Blicken wir, um das, was sich thatsächlich hier findet, zu würdigen, für einen Augenblick auf das Gebiet der Gemütsbewegungen hinüber. Sigwart ist wohl mit mir und aller Welt darin einverstanden, daß gefallen und mißfallen, sich freuen und trauern, lieben und hassen u. s. w. einander koordiniert sind. Dennoch findet sich in einer
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ganzen Reihe von Ausdrücken der Namen für die Abneigung im Gemüte dependent von dem Namen für die Zuneigung gebildet: z. B. „Neigung“, „Abneigung“; „gefallen“, „mißfallen“; „Lust“, „Unlust“; „Wille“, „Widerwille“; „froh“, „unfroh“; „glücklich“, „unglücklich“; „lieb“, „unlieb“; „schön“, „unschön“; „angenehm“, „unangenehm“; sogar „ungut“ wird gebraucht. Die Erklärung dafür ist, glaube ich, für den Psychologen trotz der Koordination nicht schwer; sollte da wirklich eine Erklärung für die uns vorliegende, so eng verwandte Erscheinung beim Ausdruck des negativen Urteils, auch unter Annahme der Koordination, gar so schwer sich finden lassen? In der That, es muß schlimm um eine Sache stehn, wenn Denker wie Sigwart bei so principiell wichtigen und zugleich so ungewöhnlichen Behauptungen zu so schwachen Argumenten ihre Zuflucht nehmen. 2. Sigwarts Gründe für seine Lehre vom negativen Urteil haben sich also sämtlich als hinfällig erwiesen. Und so mußte es ja sein; denn wie könnte eine Lehre sich als wahr erweisen lassen, die alles in die größte Verwirrung bringen würde? Sigwart sieht sich dazu gedrängt, zwischen positivem und bejahendem Urteil zu unterscheiden; und das bejahende – man höre und staune über die neue Terminologie! – ist nach ihm, genau besehn, ein verneinendes. S. 150 heißt es wörtlich: „das ursprüngliche Urteil darf gar nicht das bejahende genannt werden, sondern wird besser als das positive bezeichnet; denn nur dem verneinenden gegenüber und sofern sie die Möglichkeit einer Verneinung abweist, heißt die einfache Aussage A ist B eine Bejahung“ u. s. w. – Sofern sie „abweist“? – was heißt das anders als „sofern sie verneint“? Also wirklich nur Verneinungen würden nach diesem seltsamen neuen Sprachgebrauch Bejahungen zu nennen sein! Das heißt denn doch – und namentlich wenn man auch noch sagt, der Satz A ist B sei manchmal eine solche Verneinung (man vergl. nur die eben citierten Worte) – den Sprachgebrauch mehr als nötig und erträglich in Verwirrung bringen. Aber nicht bloß die Bejahung ist – wie sich herausstellt – nach Sigwart eigentlich eine Verneinung; sondern, so paradox es klingt, seine Verneinung erweist sich, genau besehn, als ein positives Urteil. Sigwart protestiert zwar gegen die, welche wie Hobbes alle Verneinungen als positive Urteile mit negativen Prädikaten fassen wollen. Aber wenn nicht dies, so müssen sie nach ihm positive Urteile mit positiven Prädikaten sein; denn ihr Subjekt, lehrt er, sei jedesmal ein Urteil, ihr Prädikat aber der Begriff ungültig. S. 160 sagt er in der Anmerkung, die Negation hebe die Vermutung auf und spreche ihr die Gültigkeit ab, und diese Worte für sich würden es allerdings nahelegen zu glauben, Sigwart nehme hier eine besondere Funktion des Absprechens, konträr der Funktion des Zusprechens, an. Aber nein! eine negative Kopula (vgl. S. 153) soll es ja nach ihm nicht geben. Was in aller Welt soll man sich nun unter dem „Absprechen“ denken? Soll es das einfache „Aufhörenlassen“ des positiven Urteils über die entsprechende Materie, also (nach Sigwart) der Wegfall des Gefühls der Nötigung sein, das zuvor mit einer Begriffsverknüpfung gegeben war? Unmöglich! denn dieses Wegfallen würde einen Zustand herbeiführen, in welchem, weder anerkannt noch geleugnet, die Vorstellungsverknüpfung zurückbliebe. Wie oft wird uns nicht etwas, was uns gewiß war, ungewiß, ohne daß wir es darum leugnen! – Was ist nun dieses Leugnen? Können wir vielleicht sagen, daß es nach Sigwart ein Sich-genötigt-fühlen zum Aufheben sei, wie das Anerkennen ein Sich-genötigt-fühlen zum Setzen? Wir müßten
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Schriften zur Ethik und Ästhetik dann sagen, daß wir, solange wir ein negatives Urteil fällten, immer das positive Urteil zu fällen versuchten und uns doch gehindert fühlten es zu thun. – Aber dies Bewußtsein hat auch der, welcher sich des bloßen Mangels an positiver Begründung klar bewußt ist; wer bringt es denn fertig etwas zu glauben, was er zugleich für ganz unbegründet hält? Von keinem, zumal wenn man Sigwarts Definition des Urteils als Maßstab anlegt, wird das denkbar sein; also jeder in solchem Falle beim Versuche sein Mißlingen erfahren. Wir haben demnach hier immer noch nicht das negative Urteil vor uns. – Bedeutet das Absprechen keine negative Kopula, so muß es also offenbar als ein Fall des Zusprechens des Prädikats „falsch“, als seine Ineinssetzung (um mit Sigwart zu sprechen) mit dem als Subjekt in Frage kommenden Urteil zu betrachten sein. Dieses „falsch“ kann auch nicht einfach soviel heißen als „nicht wahr“, denn „nicht wahr“ kann ich von unzähligen Dingen aussagen, bei welchen das Prädikat „falsch“, wie es gewissen Urteilen zukommt, nicht am Platze ist. Wenn nur Urteile wahr sind, so kommt allem, was kein Urteil ist, das Prädikat „nicht wahr“, aber darum keineswegs das Prädikat „falsch“ zu. „Falsch“ müßte also als ein positives Prädikat gefaßt werden; und so hätten wir denn faktisch, so gewiß das bloße Nicht-überzeugt-sein keine Leugnung ist, von dem principiell verfehlten Standpunkt Sigwarts aus keine Wahl, wir müßten jedes negative Urteil für ein positives Urteil mit einem positiven Prädikate erklären. Da hätten wir also ein zweites und größeres Paradoxon. Aber nun tritt noch ein drittes hervor, was die Verwirrung vollendet. Untersucht man nämlich, wie Sigwart das Wesen des Urteils im allgemeinen faßt, so kann man aufs deutlichste nachweisen, daß sein einfaches positives Urteil selbst wieder ein negatives involviert. Nach ihm gehört nämlich zu jedem Urteil außer einer gewissen Vorstellungsverknüpfung ein Bewußtsein der Notwendigkeit unseres Einssetzens und der Unmöglichkeit des Gegenteils (vgl. bes. S. 102), ja das Bewußtsein einer solchen Notwendigkeit und Unmöglichkeit für alle denkenden Wesen (vgl. ebend. u. S. 107) – was, nebenbei gesagt, freilich ebenso falsch ist wie Sigwarts ganze Auffassung vom Wesen des Urteils überhaupt. Alle Urteile ohne Ausnahme nennt darum Sigwart um dieser Eigentümlichkeit willen apodiktisch und will zwischen assertorischem und apodiktischem Urteil keinen Unterschied gelten lassen (vgl. S. 229 ff.). Ich frage nun: haben wir hier nicht deutlich ein negatives Urteilen involviert? Oder was für einen Sinn hätte es noch, wenn man Sigwart von einem „Bewußtsein der Unmöglichkeit des Gegenteils“ sprechen hört? Und noch mehr! ich habe schon in meiner Psychologie (S. 236) nachgewiesen, wie alle allgemeinen Urteile negativ sind; denn von der Allgemeinheit überzeugt sein heißt nichts anderes als überzeugt sein, daß keine Ausnahme besteht; wenn diese Negation nicht hinzukommt, helfen die weitgehendsten Anhäufungen positiver Behauptungen nicht, um den Glauben an Allgemeinheit zu konstituieren. Wenn also hier von einem Bewußtsein, daß man allgemein so denken müsse, gesprochen wird, so liegt darin aufs neue ein Beleg für das, was ich behaupte, daß nämlich nach Sigwarts Urteilslehre das einfachste positive Urteilen ein negatives Urteilen involvieren müßte. Und nun sollten wir doch zugleich glauben, daß das negative Urteil, wie S. 159 f. ausgeführt wird, relativ spät entstanden, und darum, wie auch aus andern Gründen, unwürdig sei dem positiven als ebenbürtige Species zur Seite gestellt zu werden? – Sigwart hätte uns dies gewiß nicht zumuten können, wenn er alles das, was ich hier entwickelte, und was man, je sorgfältiger man
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es erwägt, um so deutlicher in seinen oft schwierig verständlichen Aufstellungen eingeschlossen finden wird, sich zum Bewußtsein gebracht hätte. Natürlich, daß man auch auf Aussprüche hinweisen kann, worin Sigwart von dem oder jenem, was ich hier im einzelnen deducierte, das Gegenteil sagt; denn das ist, wo alles in solcher Unklarheit geblieben ist, und wo die Klärung die mannigfachsten Widersprüche zu Tage treten läßt, nicht anders zu erwarten. 3. Zeigen wir schließlich auch noch die Genesis des Irrtums, in welchem ein so angesehener Logiker, nachdem er das Wesen des Urteils verkannt, bei einer verhältnismäßig einfachen Frage sich verstricken konnte. Das Proton Pseudos bestand in dem von der älteren Logik ererbten Wahne, zum Wesen des Urteils gehöre eine Beziehung von zwei Vorstellungen aufeinander. Diese Beziehung hatte schon Aristoteles als Verbinden und Trennen (ȊȔȄǿǼȊȀȉdȁǸ˄dǻȀǸǶȈǼȊȀȉ) bezeichnet, freilich indem er sich der unvollkommenen Konvenienz der Ausdrücke bewußt war; sagt er doch geradezu, man könne in gewisser Weise auch beide Beziehungen als Verbinden (ȊȔȄǿǼȊȀȉ) bezeichnen (vgl. De Anim. III, 6). Die scholastische und die moderne Logik hielten an den Ausdrücken „verbinden“ und „trennen“ fest; die Grammatik aber bezeichnete beide Beziehungen als „Verbindung“ und nannte das Zeichen dafür „Kopula“. Sigwart macht nun ernst mit den Ausdrücken „verbinden“ und „trennen“, und so erscheint ihm eine negative Kopula wie ein Widersinn (vgl. S. 153), das positive Urteil aber als Voraussetzung des negativen, da man, ehe die Verbindung hergestellt ist, sie nicht trennen kann. Und so konnte es ihm begegnen, daß ihm ein negatives Urteil ohne vorausgegangenes positives geradezu als sinnlos erschien (vgl. S. 150 und die obigen Ausführungen). Infolge davon finden wir ihn in einer Lage, welche den bedeutenden Forscher dazu bringt, die energischsten aber hoffnungslosesten Anstrengungen zu machen; das negative Urteil ist nicht mehr begreiflich. In einer Anmerkung S. 159 f. giebt er uns als ein Ergebnis solcher Bemühungen, bei welchem er schließlich selbst sich beruhigen zu können glaubt, eine merkwürdige Schilderung des Vorganges, wie wir zum negativen Urteil kämen. Sie läßt dem Aufmerksamen seine successiven Versehen, jedes an seinem Punkt, sozusagen in die Augen springen. Da, wo er zum negativen Urteil zu gelangen glaubt, hat er es längst schon anticipiert. Er geht aus von der richtigen Bemerkung, daß unsere ersten Urteile überhaupt positiver Art gewesen seien. Diese Urteile seien mit Evidenz und mit aller Zuversicht gefällt worden. „Nun greift jedoch“, fährt er fort, „unser Denken über das Gegebene hinaus; vermittelt durch Erinnerungen und Associationen, entstehen Urteile, die zunächst ebenso mit dem Gedanken gebildet werden, daß sie das Wirkliche ausdrücken“, [d. h. nach andern Äußerungen Sigwarts, daß auch sie mit dem Bewußtsein objektiver Gültigkeit die Vorstellungen verknüpfen, denn dies gehört nach § 14 S. 98 zum Wesen des Urteils] „z. B. wenn wir das Bekannte am bekannten Orte zu finden erwarten oder von einer Blume voraussetzen, daß sie riecht. Aber nun ist ein Teil des so Vermuteten mit dem unmittelbar Gewissen im Widerstreit“ [hier unterläßt Sigwart zu zeigen, wie wir, da wir noch nicht im Besitze von negativen Urteilen und negativen Begriffen sind, etwas als „widerstreitend“ zu erkennen vermögen; ja die Schwierigkeit tritt noch schärfer hervor, wenn er fortfährt:] „wir werden uns, wenn wir das Erwartete nicht finden, des Unterschieds zwischen dem bloß Vorgestellten und dem Wirklichen bewußt.“ [Was heißt
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Schriften zur Ethik und Ästhetik hier „nicht finden“? Gefunden hatte ich es auch vorher nicht; offenbar finde ich aber nun, daß das, was ich mit dem andern verbunden wähnte, ohne jenes ist, was ich nur thun kann, indem ich das eine anerkenne, das andere leugne, als nicht mit ihm seiend erkenne. Ferner, was heißt hier „Unterschied“? Die Verschiedenheit erkennen heißt erkennen, daß von zweien eines nicht das andere ist. Was heißt „bloß Vorgestelltes“? Offenbar „Vorgestelltes, welches nicht zugleich auch Wirkliches ist“. Sigwart bemerkt aber, scheint’s, immer noch nicht, daß er die negative Urteilsfunktion sich bereits hat vollziehen lassen. Er fährt fort:] „Dasjenige, dessen wir unmittelbar gewiß sind, ist ein anderes als das,“ [d. h. wohl: es ist nicht dasselbe, ja es ist unmöglich vereinbar mit demjenigen,] „was wir anticipierend geurteilt haben; und jetzt“ [also nachdem wir, und weil wir alle diese negativen Urteile schon gefällt haben] „tritt die Negation ein, welche die Vermutung aufhebt und ihr die Gültigkeit abspricht. Damit tritt ein neues Verhalten ein, sofern die subjektive Kombination von dem Bewußtsein der Gewißheit getrennt wird; es wird die subjektive Kombination mit einer gewissen verglichen und ihr Unterschied von dieser erkannt; daraus entspringt der Begriff der Ungültigkeit.“ Das letzte sieht schier einer Nachlässigkeit des Ausdrucks gleich; denn wenn „ungültig“ soviel heißen soll wie „falsch“ und nicht soviel wie „ungewiß“, so kann es nicht aus dem Unterschied zwischen einer Kombination ohne Gewißheit und einer Kombination, die gewiß ist, sondern nur aus dem Gegensatz einer verworfenen Kombination zu einer anerkannten entnommen werden. In Wahrheit ist das widerstreitende anerkennende Urteil aber gar nicht dazu nötig. Der Widerstreit, die Unvereinbarkeit der Merkmale in einem Wirklichen erhellt schon auf Grund der Begriffsverknüpfung der einander widerstreitenden Merkmale, welche, wie ich nochmals wiederhole, nach Sigwart selbst (S. 89 Anm. und S. 98 ff.) noch kein Versuch zu positivem Urteil genannt werden kann. Mag auch dieser dann und wann bei einer widerstreitenden Materie gemacht werden; immer geschieht es sicher nicht. Wenn z. B. einer mir die Frage vorlegt: Giebt es ein regelmäßiges Tausendeck von tausend und ein Seiten?, so mache ich, wenn ich, wie es wohl bei den meisten der Fall sein wird, schon vorher mir darüber klar gewesen bin, daß ich überhaupt nicht sicher sein könne, daß es ein regelmäßiges Tausendeck gebe, gewiß nicht erst den Versuch zu urteilen, d. h. nach Sigwart mit Zuversicht anzunehmen, daß es ein regelmäßiges Tausendeck von tausend und ein Seiten gebe, ehe ich auf Grund des Widerstreits der Bestimmungen negativ urteile, daß es keines gebe. Das Verneinen, das Absprechen, das Sigwart selbst, wie sich häufig verrät (vgl. z. B. S. 152, ja sogar S. 150), doch im Grunde trotz seines Kampfs gegen eine negative Kopula als eine in ihrer Natur ebenso besondere Funktion des Urteilens anerkennt und anerkennen muß wie das Annehmen oder Zusprechen, ist darum auch dem Umfange seiner Anwendung nach keineswegs so beschränkt, wie Sigwart irrtümlich behauptet. Es ist falsch, daß, wo etwas abgesprochen wird, dieses immer nur das Merkmal „gültig“ sei. Selbst einem Urteil kann bald Gültigkeit bald Sicherheit bald Apriorität und anderes mehr abgesprochen werden. Und ebenso kann das Subjekt bei der Funktion in freiester Weise wechseln. Man kann wie einem Urteil Sicherheit und Gültigkeit, auch einer Bitte Bescheidenheit, und so überhaupt, allgemein ausgedrückt, einem A ein B absprechen. Sigwart selbst thut es gewiß so gut wie jeder andere. Ja unwillkürlich spricht er zuweilen richtiger, als seine Theorie es erlaubt, und bezeugt sozusagen instinktiv die Wahrheit;
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wie z. B. S. 151, wo er erklärt, nicht daß nur von Urteilen das Prädikat gültig, sondern „daß von jedem Subjekt … eine unabsehliche Menge von Prädikaten verneint werden könne“. Das ist sicher richtig, und eben darum wird es denn auch bei der alten Koordination der zwei Species sein Bewenden haben. 24
Der Entdeckung, daß jeder Akt der Liebe ein „Gefallen“, jede Bethätigung des Hasses ein „Mißfallen“ sei, war Descartes, als er das zweite Buch seiner inhaltreichen kleinen Schrift über die Affekte schrieb, ganz nahe. Im zweiten Buche (Des Passions II, art. 139) sagt er: „Lorsque les choses qu’elles“ (l’amour et la haine) „nous portent à aimer sont veritablement bonnes, et celles qu’elles nous portent à haïr, sont veritablement mauvaises, l’amour est incomparablement meilleure que la haine; elle ne saurait être trop grande, et elle ne manque jamais de produire la joie.“ Und damit stimmt es, wenn er wenig später (art. 140) bemerkt: „La haine, au contraire, ne saurait être si petite qu’elle ne nuise, et elle n’est jamais sans tristesse.“ Indes gebraucht man im gemeinen Leben die Ausdrücke „Freude“ und „Trauer“, „Lust“ und „Unlust“ nur da, wo das Gefallen und Mißfallen einen gewissen Grad von Lebhaftigkeit erreichen. Eine scharfe Grenze bei dieser unwissenschaftlichen Scheidung besteht nicht; doch mögen wir uns, so wie sie eben ist, nach wie vor im Gebrauche daran halten. Es genügt, daß die Ausdrücke „gefallen“ und „mißfallen“ durch eine solche Schranke nicht beengt sind.
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Ausdrücke „wahr“ und „falsch“ gebrauchen wir in mehrfachem Sinne; einmal nennen wir so die wahren und falschen Urteile; dann aber (die Bedeutung etwas modificierend) auch Gegenstände, wie wenn wir sagen „ein wahrer Freund“, „falsches Geld“. Ich brauche kaum zu bemerken, daß ich, wenn ich hier im Vortrag die Worte „wahr“ und „falsch“ gebrauche, nicht die erste und eigentliche, sondern eine auf die Gegenstände übertragene Bedeutung damit verbinde. Wahr ist so das, was ist; falsch das, was nicht ist. Wie Aristoteles sagte: „ʒȄdʯȉdɎȂǾǿǴȉ“, so könnte man auch sagen „ɎȂǾǿǴȉdʯȉdʒȄ“. Von der Wahrheit im eigentlichsten Sinne hat man oft gesagt, sie sei die Übereinstimmung des Urteils mit dem Gegenstande (adaequatio rei et intellectus, sagten die Scholastiker). Dieser Ausspruch, in gewissem Sinne richtig, ist doch im höchsten Grade mißverständlich und hat zu schweren Irrtümern geführt. Man deutete die Übereinstimmung als eine Art Identität zwischen etwas, was in dem Urteile oder in der diesem zu Grunde liegenden Vorstellung enthalten sei, mit etwas außerhalb des Geistes Befindlichem. Aber dies kann der Sinn hier nicht sein; „übereinstimmen“ heißt hier vielmehr soviel als „konvenient sein“, „in Einklang stehen“, „passen“, „entsprechen“. Es ist, wie wenn einer auf dem Gebiete der Gemütsthätigkeit sagen wollte, die Richtigkeit der Liebe und des Hasses bestehe in der Übereinstimmung der Gemütsthätigkeit mit dem Gegenstande. Wohl verstanden, wäre auch dies unzweifelhaft richtig; wer richtig liebt und haßt, dessen Gemüt verhält sich den Gegenständen adäquat, d. h. es verhält sich konvenient, passend, entsprechend: dagegen wäre es offenbar abgeschmackt, wenn einer glaubte, es finde sich bei der richtigen Liebe und dem richtigen Hasse eine Identität zwischen ihnen, oder auch den ihnen zu Grunde liegenden Vorstellungen, auf der einen und irgend etwas außerhalb des Gemütes auf der andern Seite, die
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Schriften zur Ethik und Ästhetik bei unrichtigem Verhalten des Gemütes fehle. Mit manchem andern hat auch dieses Mißverständnis dazu beigetragen, die Lehre vom Urteil in jene traurige Verwirrung zu bringen, aus welcher Psychologie und Logik sich heute so mühsam herausarbeiten. Die Begriffe der Existenz und Nichtexistenz sind die Korrelate der Begriffe der Wahrheit (einheitlicher) affirmativer und negativer Urteile. Wie zum Urteil das Beurteilte, zum affirmativen Urteil das affirmativ, zum negativen das negativ Beurteilte gehört: so gehört zur Richtigkeit des affirmativen Urteils die Existenz des affirmativ Beurteilten, zur Richtigkeit des negativen die Nichtexistenz des negativ Beurteilten; und ob ich sage, ein affirmatives Urteil sei wahr, oder, sein Gegenstand sei existierend; ob ich sage, ein negatives Urteil sei wahr, oder, sein Gegenstand sei nichtexistierend: in beiden Fällen sage ich ein und dasselbe. Ebenso ist es darum wesentlich ein und dasselbe logische Princip, wenn ich sage, in jedem Falle sei entweder das (einheitliche) affirmative oder negative Urteil wahr, oder, jegliches sei entweder existierend oder nichtexistierend. Hiernach ist z. B. die Behauptung der Wahrheit des Urteils, daß ein Mensch gelehrt sei, das Korrelat der Behauptung der Existenz seines Gegenstandes, „ein gelehrter Mensch“, und die Behauptung der Wahrheit des Urteils, daß kein Stein lebendig sei, das Korrelat der Behauptung der Nichtexistenz seines Gegenstandes, „ein lebendiger Stein“. Die korrelaten Behauptungen sind hier, wie überall, untrennbar eins. Es ist wie bei den Behauptungen, daß A > B und daß B < A sei, daß A B bewirke und daß B von A bewirkt werde.
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Der Begriff des (in sich selbst) Guten ist hiernach ein einheitlicher im strengen Sinne, und nicht, wie Aristoteles (infolge einer Verirrung, auf die wir noch zu sprechen kommen werden) lehrte, bloß in analoger Weise einer. Auch deutsche Philosophen verkannten die Einheit des Begriffes. So Kant und jüngst wieder Windelband. Verführerisch mochte für Deutsche ein Mangel unserer gewöhnlichen Sprache werden, die dem „Guten“ keinen überall gleichmäßig üblichen Ausdruck entgegenstellt, sondern seinen Gegensatz bald als schlimm bald als übel bald als böse bald als arg bald als abscheulich bald als schlecht bezeichnet u. s. w. Da konnte es denn, wie gar oft in ähnlichen Fällen, geschehen, daß man mit dem gemeinsamen Namen auch eines gemeinsamen Begriffes zu entbehren glaubte. Und fehlte ein solcher auf der einen Seite, so mußte er auch auf der andern fehlen, und der Ausdruck „gut“ ein äquivoker Name sein. Von allen erwähnten scheint mir (und auch Philologen, die ich zu Rate zog, waren derselben Ansicht) der Ausdruck „schlecht“ noch am meisten, wie das lateinische „malum“, in voller Allgemeinheit dem Guten gegenüber verwendbar, und so werde ich ihn im folgenden mir zu gebrauchen erlauben. Daß ich an einem gewissen gemeinsamen Charakter der intentionalen Beziehung von Liebe und Haß festhalte, schließt nicht aus, daß ich daneben Besonderheiten für einzelne Fälle anerkenne. Wenn darum auch „schlecht“ ein wahrhaft allgemeiner einheitlicher Klassenbegriff ist, so mögen doch in seinem Bereiche specielle Klassen unterschieden werden, von welchen die eine passend als „böse“, die andere als „übel“ u. s. w. zu bezeichnen ist.
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Der Unterschied der evidenten von den blinden Urteilen ist etwas zu Auffallendes, um nicht irgendwie beachtet zu werden. Selbst der skeptische Hume ist weit davon entfernt, ihn in Abrede zu stellen. Die Evidenz kommt nach ihm (Enqu. on hum. understand. IV) einerseits den analytischen Urteilen (zu welchen auch die Axiome der Mathematik und die mathematischen Demonstrationen gehören sollen) und andererseits gewissen Wahrnehmungen, nicht aber den sogenannten Erfahrungssätzen zu. Hier leite nicht die Vernunft, sondern in völlig unvernünftiger Weise die Gewohnheit; der Glauben sei hier instinktiv und mechanisch (ebend. V). Aber eine Thatsache bemerken heißt noch nicht sie sich in ihrem Wesen klar und deutlich machen. Ist das Wesen des Urteils bis in die neueste Zeit fast allgemein mißkannt worden, wie sollte das der Evidenz richtig verstanden worden sein? Ja hier hat selbst Descartes sein Scharfblick verlassen. Wie sehr ihm die Erscheinung in die Augen fällt, dafür zeuge eine Stelle aus den Meditationen: „Cum hic dico me ita doctum esse a natura (er spricht von der sogenannten äußern Wahrnehmung) intelligo tantum spontaneo quodam impetu me ferri ad hoc credendum, non lumine aliquo naturali mihi ostendi esse verum, quae duo multum discrepant. Nam quaecunque lumine naturali mihi ostenduntur (ut quod ex eo quo dubitem sequatur me esse, et similia) nullo modo dubia esse possunt, quia nulla alia facultas esse potest, cui aeque fidam ac lumini isti, quaeque illa non vera esse possit docere; sed quantum ad impetus naturales jam saepe olim judicavi me ab illis in deteriorem partem fuisse impulsum cum de bono eligendo ageretur, nec video cur iisdem in ulla alia re magis fidam”. (Medit. III). Daß Descartes die Evidenz nicht aufgefallen sei, daß er den Unterschied zwischen Einsicht und blindem Urteil nicht bemerkt habe, kann man hienach gewiß nicht sagen. Aber er, der die Klasse des Urteils von der des Vorstellens scheidet, läßt doch den auszeichnenden Charakter der Evidenz, den die einsichtigen Urteile haben, in der Klasse des Vorstellens zurück. Sie soll in einer besondern Auszeichnung der Perception d. i. der Vorstellung bestehn, die dem Urteil zu Grunde liegt. Ja Descartes geht soweit dieses Vorstellen geradezu ein „cognoscere“, ein „Erkennen“ zu nennen. Ein Erkennen also und doch kein Urteilen! – Das sind rudimentäre Glieder, welche uns nach dem Fortschritt, den die Lehre vom Urteil durch Descartes gemacht, an eine überwundene Lebensstufe der Psychologie erinnern; nur mit dem Unterschied gegenüber ähnlichen Erscheinungen in der Entwicklungsgeschichte der Arten, daß diese Glieder, in keiner Weise angepaßt, im höchsten Grade störend werden, ja alle ferneren Bemühungen Descartes’ für die Erkenntnistheorie erfolglos machen. Er bleibt, um mit Leibniz zu sprechen, „im Vorzimmer der Wahrheit“ (vgl. hier auch Anm. 28 gg. Ende). Nur so wird Descartes’ clara et distincta perceptio, von welcher selbst man so schwer eine klare und deutliche Vorstellung gewinnt, in ihrer eigentümlichen Zwitterhaftigkeit vollkommen verständlich. Zu helfen ist hier nur, wenn man das, was die Einsicht gegenüber anderen Urteilen auszeichnet, als innere Eigentümlichkeit in dem Akte des Einsehens selber sucht. Freilich haben manche, die sie hier suchten, sie dennoch nicht gefunden. Wir sahen (vgl. Anm. 23), wie Sigwart das Wesen des Urteils faßt. Es gehört, lehrt er, dazu ein Beziehen von Vorstellungen aufeinander und nebstdem ein darauf bezügliches Gefühl des Genötigtseins (vgl. § 14 und § 31, bes. 4 u. 5). Ein solches besteht darum immer, auch im Falle des blindesten Vorurteils. Es ist dann anor-
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Schriften zur Ethik und Ästhetik mal, wird aber (wie Sigwart ausdrücklich erklärt) für normal und allgemeingültig gehalten. Und was ist nun im Unterschiede von diesem Falle im Falle der Einsicht gegeben? Sigwart sagt, seine Evidenz bestehe in diesem selben Gefühle (vgl. z. B. § 3), welches aber dann nicht bloß für normal und allgemeingültig gehalten werde, sondern auch normal und allgemeingültig sei. Mir scheint, das Bedenkliche dieser Theorie springt in die Augen; sie ist aus vielfachem Grunde verwerflich. 1. Die Eigentümlichkeit der Einsicht, die Klarheit, Evidenz gewisser Urteile, von der ihre Wahrheit untrennbar ist, hat wenig oder nichts mit einem Gefühle der Nötigung zu thun. Mag es sein, daß ich augenblicklich nicht umhin kann so zu urteilen: in dem Gefühl einer Nötigung besteht das Wesen jener Klarheit nicht; und kein Bewußtsein einer Notwendigkeit, so zu urteilen, könnte als solches die Wahrheit sichern. Wer beim Urteilen an keinen Indeterminismus glaubt, der hält alle Urteile unter den Umständen, unter welchen sie gefällt werden, für notwendig, aber – und mit unleugbarem Rechte – darum doch nicht alle für wahr. 2. Sigwart, indem er das Bewußtsein der Einsicht in einem Gefühle der Denknotwendigkeit finden will, behauptet, dieses Bewußtsein eigener Nötigung sei zugleich ein Bewußtsein der Notwendigkeit für alle Denkenden, welchen dieselben Gründe vorliegen. Wenn er aber meint, die eine Überzeugung knüpfe sich hier zweifellos an die andere, so ist dies ein Irrtum. Warum doch sollte, wenn der eine auf gewisse Data hin ein Urteil zu fällen genötigt ist, jeder andere Denkende, dem sie ebenso gegeben sind, derselben Nötigung unterliegen? Offenbar könnte nur die Berufung auf das Kausalgesetz, welches unter gleichen Vorbedingungen gleiche Wirkungen fordert, den logischen Zusammenhang vermitteln. Seine Anwendung in unserem Falle wäre aber eine ganz fehlerhafte; denn sie involvierte das Übersehen der besonderen psychischen Dispositionen, die, obwohl sie gar nicht direkt ins Bewußtsein fallen, nebst den bewußten Daten als Vorbedingungen in Betracht kommen und bei verschiedenen Personen sehr verschieden sind. Hegel und seine Schule haben, durch Paralogismen beirrt, den Satz des Widerspruchs geleugnet, Trendelenburg, der Hegel bekämpft, hat seine Gültigkeit wenigstens restringiert (vgl. s. Abhandlungen über Herbarts Metaphysik). Die allgemeine Unmöglichkeit den Satz innerlich zu leugnen, die Aristoteles behauptet hat, ist demnach heute nicht mehr zu verteidigen; für Aristoteles selbst aber, der den Satz mit Evidenz einsah, war gewiß seine Leugnung unmöglich. Was einer einsieht, ist allerdings wie für ihn so für jeden andern, der es in derselben Weise einsieht, sicher. Auch kommt dem Urteile, dessen Wahrheit einer einsieht, immer Allgemeingültigkeit zu; d. h. es kann von dem, was er einsieht, nicht ein anderer das Gegenteil einsehen, und jedermann irrt, der das Gegenteil davon glaubt. Auch mag, da was ich hier sage zum Wesen der Wahrheit gehört, wer etwas als wahr einsieht, erkennen, daß er es als eine Wahrheit für alle zu betrachten berechtigt ist. Aber es hieße sich einer starken Begriffsverwechslung schuldig machen, wenn man aus einem solchen Bewußtsein der Wahrheit für alle das Bewußtsein einer allgemeinen Denknötigung machen wollte. 3. Sigwart verwickelt sich in eine Menge von Widersprüchen. Er behauptet und muß behaupten – wenn er nicht den Skeptikern weichen und seine ganze Logik fahren lassen will, daß die evidenten von den nicht evidenten Urteilen nicht bloß verschieden, sondern auch im Bewußtsein unterscheidbar seien. Es müssen
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also die einen, nicht aber die andern als normal und allgemeingültig erscheinen. Aber wenn die evidenten wie die nicht evidenten Urteile das Bewußtsein der Allgemeingültigkeit mit sich führen, so scheinen die einen zunächst wie die andern sich darzubieten, und nur etwa nachträglich (oder auch gleichzeitig aber nebenher) und in Reflexion auf irgendwelches Kriterium, das man als Maßstab daran heranbrächte, könnte der Unterschied entdeckt werden. Wirklich finden sich Stellen bei Sigwart, wo er von einem Bewußtsein der Übereinstimmung mit den allgemeinen Regeln spricht, das die vollkommen evidenten Urteile begleite (vgl. z. B. I. 2. Aufl. § 39 S. 311). Aber abgesehen davon, daß dies der Erfahrung widerspricht – man hat längst vor der Entdeckung des Syllogismus mit aller Evidenz syllogistisch geschlossen –, ist es auch schon darum zu verwerfen, weil es, da die Regel selbst gesichert werden muß, entweder zu einem Regreß ins unendliche oder zu einem circulus vitiosus führen würde. 4. Einem andern Widerspruche, den ich bei Sigwart konstatiere, (obwohl er, auch nach seiner irrigen Fassung des Wesens des Urteils und des Wesens der Evidenz, meines Erachtens, noch vermeidlich gewesen wäre) begegnen wir in seiner Lehre vom Selbstbewußtsein. Die Erkenntnis: ich bin, soll nur evident und ohne Bewußtsein der Denknotwendigkeit und der Notwendigkeit für alle stattfinden. (Nicht anders wenigstens vermag ich die Worte I. 2. Aufl. S. 310 zu verstehen: „Die Gewißheit, daß ich bin und denke, ist die absolut letzte und fundamentale, die Bedingung alles Denkens und aller Gewißheit überhaupt; hier kann nur von der unmittelbaren Evidenz die Rede sein, man kann nicht einmal sagen, daß dieser Gedanke notwendig ist, sondern er ist vor aller Notwendigkeit. Und ebenso unmittelbar und evident ist die Gewißheit des Bewußtseins, daß ich dieses und dieses denke; sie ist mit meinem Selbstbewußtsein unauflöslich verflochten, das eine mit dem anderen gegeben.“) Dies erscheint nach seinen früher betrachteten Lehren wie eine contradictio in adjecto, die keine Verteidigung zuläßt. 5. Weitere Widersprüche zeigen sich bei Sigwarts sehr eigentümlicher und bedenklicher Lehre von den Postulaten, die er den Axiomen entgegenstellt. Letztere sollen auf Grund eigentlicher Denknotwendigkeit, erstere nicht aus rein intellektuellen Motiven, sondern aus psychologischen Motiven anderer Art, aus praktischen Bedürfnissen, als gewiß angenommen werden (I. 2. Aufl. S. 412 f.). Das Kausalgesetz z. B. ist nach ihm kein Axiom, sondern ein bloßes Postulat; wir nehmen es als gewiß an, weil wir finden, daß wir, ohne dasselbe zu statuieren, die Natur nicht würden erforschen können. Indem Sigwart das Kausalgesetz in solcher Weise annimmt, also nur aus gutem Willen als wahr statuiert, daß Gleichförmigkeit des Werdens unter gleichen Bedingungen durchweg in der Natur bestehe, hält er es offenbar für wahr ohne Bewußtsein der Denknotwendigkeit, was doch, wenn alles Fürwahrhalten ein Urteilen ist, sich mit seiner Wesensbestimmung des Urteils nicht verträgt. Ich sehe für Sigwart hier nur den einen Ausweg, zu sagen, an das, was er als Postulat für „gewiß“ (!) annehme, wie z. B. an das Kausalgesetz in der Natur, glaube er nicht; dann aber wird er auch kaum ernstlich darauf hoffen. 6. Dieser Punkt wird noch bedenklicher, wenn man an das zuvor (unter 2) Erörterte zurückdenkt. Das Bewußtsein allgemeiner Denknotwendigkeit gehört nach Sigwart zwar nicht zum Postulat, wohl aber zum Axiome (vgl. unter 5). Aber das Bewußtsein dieser allgemeinen Denknotwendigkeit könnte Sigwart mit einigem Schein nur etwa auf Grund des allgemeinen Kausalgesetzes in dem
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Schriften zur Ethik und Ästhetik Bewußtsein der eigenen Denknötigung uns offenbar werden lassen. Und nun ist dieses Kausalgesetz selbst bloßes Postulat; es entbehrt der Evidenz. Offenbar ist also auch die allgemeine Denknotwendigkeit bei den Axiomen Postulat, und somit verlieren sie das Wesentlichste, was sie nach Sigwart vor den Postulaten auszeichnet. Hierzu mag es dann recht wohl stimmen, wenn Sigwart (§ 3) den Glauben an die Zuverlässigkeit der Evidenz ein „Postulat“ nennt. Wie aber der Ausspruch bei solcher Interpretation mit allem übrigen zusammenstimmen könnte, vermag ich nicht zu fassen. 7. Sigwart stellt (§ 31) den Unterschied von assertorischen und apodiktischen Urteilen in Abrede, weil jedem Urteile das Gefühl der Notwendigkeit der Funktion wesentlich sei. Sonach hängt diese Behauptung ebenfalls mit seiner irrigen Grundanschauung vom Urteil zusammen; er identificiert scheint’s das Gefühl, das er manchmal Gefühl der Evidenz nennt, mit dem Charakter des Apodiktischen. Es wäre aber sehr zu mißbilligen, wenn man die modale Besonderheit mancher Urteile, wie z. B. des Satzes des Widerspruchs, gegenüber andern, wie z. B. dem Selbstbewußtsein, daß ich bin, übersähe; beim ersten handelt es sich um „notwendig wahr oder falsch“, beim andern nur um „thatsächlich wahr oder falsch“, obwohl beide im gleichen Sinn des Wortes evident sind und sich in Ansehung ihrer Sicherheit nicht unterscheiden. Nur aus Urteilen wie die ersteren, nicht aber aus solchen wie die letzteren schöpfen wir die Begriffe der Unmöglichkeit und Notwendigkeit. Daß Sigwart, auch was diese Bekämpfung des apodiktischen Urteils als besonderer Klasse betrifft, gelegentlich gegen sich selbst Zeugnis giebt, erhellt aus dem schon oben (unter 4) Erwähnten. Die Erkenntnis: ich bin, nennt er gegenüber der Erkenntnis eines Axioms die einer einfach thatsächlichen Wahrheit (ebend. S. 312). Hier spricht er besser, als seine allgemeinen Aufstellungen es ihm noch gestatten. Sigwarts Lehre von der Evidenz ist also wesentlich irrig. Wie nicht von Descartes, so kann freilich gewiß auch von ihm nicht gesagt werden, daß er das Phänomen nicht bemerkt habe; man muß ihm sogar nachrühmen, daß er mit größtem Eifer es zu analysieren versuchte. Es begegnete ihm aber scheint’s, was vielen bei psychologischer Zergliederung begegnet ist, daß er im Eifer der Analyse am richtigen Punkt nicht Halt machte und Phänomene von sehr verschiedenem Charakter noch aufeinander zurückzuführen suchte. Ein Irrtum hinsichtlich des Wesens der Evidenz ist für den Logiker begreiflicherweise folgenschwer. Man darf wohl sagen, daß wir hier an das tiefstliegende organische Leiden von Sigwarts Logik gerührt haben, wenn man dieses nicht in der Verkennung des Wesens des Urteils überhaupt erblicken will. Wieder und wieder zeigen sich üble Folgen, wie z. B. in dem Unvermögen Sigwarts, die wesentlichsten Anlässe unserer Irrtümer zu begreifen. Man vgl. Logik I. 2. Aufl. S. 103 Anm., wo er mit auffallender Einseitigkeit dem Mangel an Ausbildung unserer Sprache die Hauptschuld beimißt. Übrigens haben manche andere hervorragende Logiker der neuesten Zeit vor Sigwart hier sicher nichts voraus. Wie es sich, um nur noch auf ein Beispiel zu verweisen, mit der Lehre von der Evidenz bei dem trefflichen J. St. Mill verhält, darüber vgl. man unten Anm. 68 S. 97. Aus der großen Unklarheit über das Wesen der Evidenz, welche schier allgemein besteht, ist es auch erklärlich, wenn man sehr gewöhnlich von einem „mehr
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oder weniger evident“ sprechen hört. Auch Descartes und Pascal gebrauchen solche Ausdrücke, die doch als völlig unpassend sich erweisen. Was evident ist, ist sicher; und die Sicherheit im eigentlichen Sinne kennt keine Unterschiede des Grades. In jüngster Zeit freilich hörten wir sogar (und allen Ernstes) in der Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie die Meinung äußern, daß es evidente Vermutungen gebe, die trotz ihrer Evidenz recht wohl falsch sein könnten. Es ist unnötig zu sagen, daß ich dies für widersinnig halte; wohl aber mag ich das Bedauern aussprechen, daß Vorlesungen von mir aus der Zeit, da ich noch Überzeugungsgrade für Urteilsintensitäten hielt, zu solchen Verirrungen den Anlaß gegeben zu haben scheinen. 28
Vgl. die schon erwähnte Abhandlung Humes, An Enquiry concerning the Principles of Moral. Hier haben andere Gefühlsmoralisten, wie Beneke und Überweg, der sich an ihn anschließt (vgl. die Darstellung der Benekeschen Ethik in seinem Grundriß der Geschichte der Philosophie III), mehr als Hume gesehen. Und noch näher kommt der Sache Herbart, wenn er von evidenten Geschmacksurteilen spricht (nur daß diese eigentlich keine Urteile, sondern Gefühle sind, und darum auch nicht evident, sondern nur etwa dem Evidenten analog genannt werden sollten) und wenn er das Schöne dem bloß Angenehmen entgegensetzt und jenem im Unterschied von diesem Allgemeingültigkeit und unleugbaren Wert zuschreibt. Leider bleibt noch immer Falsches beigemischt, und Herbart verliert sofort für immer die richtige Fährte, so daß seine praktische Philosophie in ihrem Verlauf viel weiter als die Lehre Humes von der Wahrheit abkommt. Diejenigen, welche den Unterschied zwischen dem als richtig charakterisierten und nicht als richtig charakterisierten Gefallen ganz und gar übersehen, können in entgegengesetztem Sinne fehlen. Die einen fassen die Sache so, als sei alles Gefallen, die andern so, als sei kein Gefallen als richtig charakterisiert. Nach den letzteren ist der Begriff des Guten als des mit Recht Gefallenden ganz aufgegeben; „begehrenswert“ im Unterschied von „begehrbar“ ist ein Wort ohne Sinn. Den ersteren bleibt „begehrenswert“ wohl als ein besonderer Begriff bestehen, so daß es keine Tautologie ist, wenn sie sagen: nichts ist in sich begehrbar, außer insofern es in sich begehrenswert, in sich gut ist. Offenbar müssen sie, konsequent, dieses behaupten und haben es wirklich gelehrt. Die extremen Hedoniker gehören alle hierher, aber mit ihnen auch viele andere; im Mittelalter z. B. findet sich die Lehre selbst bei dem von Ihering wieder in seiner Größe gewürdigten Thomas von Aquino. (Vgl. z. B. Summ. theol., 1a qu. 80. qu. 82, art. 2 ad 1 u. ö.) Aber auch so ist diese Meinung den Thatsachen gegenüber nicht festzuhalten ohne eine subjektivistische Fälschung der Begriffe des Guten und Schlechten, ähnlich der, welche einst Protagoras an den Begriffen der Wahrheit und Falschheit beging. Wie nach diesem Subjektivisten auf dem Gebiete des Urteils jeder das Maß von allem ist, so daß oft, was für den einen wahr, für den andern zugleich falsch sein müßte: so sind die Vertreter der Meinung, nur Gutes könne geliebt, nur Schlechtes gehaßt werden, eigentlich genötigt anzunehmen, daß auf diesem Gebiete jeder für alles maßgebend sei, für das Gute dafür, daß es in sich gut, für das Schlechte dafür, daß es in sich schlecht sei, so daß oft etwas zugleich in sich gut und schlecht sein würde; in sich gut für alle, die es um seiner selbst willen lieben, in sich schlecht für alle, die es um seiner selbst willen hassen. Dies ist absurd, und
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Schriften zur Ethik und Ästhetik die subjektivistische Fälschung des Begriffs des Guten ebenso verwerflich, als die subjektivistische Fälschung des Begriffs der Wahrheit und der Existenz bei Protagoras verwerflich war, obwohl der subjektivistische Irrtum auf dem Gebiete des mit Recht Gefallenden und Mißfallenden viel leichter Platz greift und bis heute die meisten ethischen Systeme inficiert. Mancher spricht ihn, wie noch jüngst Sigwart (Vorfragen der Ethik S. 6), offen aus; mancher auch fällt hinein, ohne sich selbst seinen Subjektivismus zu klarem Bewußtsein zu bringen2. Wie gesagt ist, wer einmal die Meinung angenommen hat, nichts könne gefallen, außer insofern es wirklich in sich gut, nichts mißfallen, außer insofern es wirklich schlecht sei, auf einem Weg, der konsequent zum Subjektivismus führen müßte. Dies zeigt sich, sobald einer zugiebt (was freilich zunächst geleugnet werden könnte), daß ein entgegengesetzter Geschmack, hier Lust dort Widerwille, an das gleiche Empfindungsphänomen geknüpft sei. Es könnte sich einer hiergegen dadurch zu schützen suchen, daß er darauf hinwiese, wie trotz der Gleichheit des äußern Reizes die subjektiv korrespondierende Vorstellung einen wesentlich verschiedenen Inhalt haben kann. Aber diese Auffassung widerlegt sich in den Fällen, wo wir selbst wiederholt dieselbe Erscheinung erleben und, infolge der Fortentwicklung unseres Lebensalters oder infolge geänderter Gewohnheit (vgl. ob. Vortrag, 25 S. 41), im Gemüte anders dadurch bewegt werden, Widerwillen statt Lust oder umgekehrt Lust statt Widerwillen in uns erfahren. So bleibt kein Zweifel darüber, daß wirklich ein entgegengesetztes Verhalten des Gemüts auf dieselbe Erscheinung sich richten kann. Auch wo Vorstellungen uns instinktiv abstoßen,
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Vielleicht werden insbesondere solche, welche lehren, daß allgemein für jeden seine eigene Erkenntnis, Lust und Vollkommenheit überhaupt ein Gut, und ihre Gegensätze schlecht, alles übrige aber in sich selbst indifferent sei, dagegen protestieren, wenn ich sie den Subjektivisten beizähle. Es scheint ja auch, oberflächlich betrachtet, als stellten sie eine für alle gleichmäßig gültige Güterlehre auf. Allein bei einigermaßen achtsamer Erwägung findet man, daß diese Lehre auch nicht in einem einzigen Falle ein und dasselbe allgemeingültig für gut erklärt. Mein Wissen z. B. ist nach ihr für mich liebwert, für jeden andern indifferent in sich, wie umgekehrt das Wissen jedes andern, in sich selbst betrachtet, für mich indifferent ist. Seltsam berührt es, wenn man, wie es oft geschieht, theistische Denker eine solche subjektivistische Güterlehre für alles kreatürliche Lieben und Wollen aufstellen, für Gott aber die Annahme machen sieht, daß er ohne Unterschied der Personen jede Vollkommenheit nach einer Art objektivem Maßstabe schätze, was dann mittels des Gedankens an den ewigen Richter dazu dienen soll, den principiellen Egoismus in seinen praktischen Konsequenzen unschädlich zu machen. Von dem berühmten Streite zwischen Bossuet und Fénelon kann man sagen, daß der große Bischof von Meaux einen Subjektivismus vertrat. Die Thesen Fénelons wurden schließlich, obwohl er gewiß weder eine unedle noch unchristliche Moral vertreten hatte, sogar von Rom aus verurteilt, doch ging man nicht soweit, seine Lehre als häretisch zu verwerfen. Und in der That, man hätte auch jene schönen, innigen Zeilen verdammen müssen, die manche der heiligen Theresa zuschreiben, und die in unvollkommener lateinischer Übersetzung in viele katholische Gebetbücher übergegangen sind, geschweige daß je eine kirchliche Censur sie bemängelt hätte. Ich gebe sie hier in direkter Übertragung aus dem Spanischen wieder:
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und doch zugleich ein höhergeartetes Gefallen in uns erregen (vgl. Anm. 32 S. 88), zeigt sich dasselbe unverhüllt. Endlich sollte man von dem, welcher glaubt, daß jeder Akt einfachen Gefallens richtig sei und nie einer dem andern widerspreche, erwarten, daß er auch hinsichtlich der Akte des Vorziehens Ähnliches lehren werde. Aber hier ist das Gegenteil so offenbar, daß die Vertreter der Ansicht immer, in eigentümlichem Kontraste, es aufs bestimmteste ausgesprochen haben, daß verschiedene entgegengesetzt, und der eine richtig, der andere unrichtig, bevorzugten. Blicken wir von den mittelalterlichen Aristotelikern auf ihren Meister selbst zurück, so scheint seine Lehre eine andere. Aristoteles erkennt an, daß es ein rich„Nicht Hoffnung auf des Himmels sel’ge Freuden Hat Dir, mein Gott, zum Dienste mich verbunden, Nicht Furcht, die ich vor ew’gem Graus empfunden, Hat mich bewegt der Sünder Pfad zu meiden. Du Herr bewegst mich, mich bewegt Dein Leiden, Dein Anblick in den letzten, bangen Stunden, Der Geißeln Wut, Dein Haupt von Dorn umwunden, Dein schweres Kreuz und – ach! – Dein bittres Scheiden. Herr, Du bewegest mich mit solchem Triebe, Daß ich Dich liebte, wär’ kein Himmel offen, Dich fürchtete, wenn auch kein Abgrund schreckte; Nichts kannst Du geben, was mir Liebe weckte; Denn würd’ ich auch nicht, wie ich hoffe, hoffen, Ich würde dennoch lieben, wie ich liebe.“ Man hat die Lehre des Thomas von Aquin oft so dargestellt, als ob sie reiner Subjektivismus wäre. Es ist wahr, daß vieles bei ihm ganz subjektivistisch klingt. (Man vgl. z. B. Summ. theol. 1a q. 80, art. 1, insbesondere die Objektionen und Lösungen, sowie die Stellen, wo er bei jedem die eigene Glückseligkeit für das letzte und höchste Ziel erklärt und selbst von den Heiligen im Himmel behauptet, daß jeder, und mit Recht, mehr seine eigene als die Seligkeit aller andern verlange.) Aber daneben findet man Aussprüche, worin er über den Subjektivismus sich erhaben zeigt, wie z. B. wenn er (wie vor ihm Platon und Aristoteles, und nach ihm Descartes und Leibniz) erklärt, daß jedes Seiende als solches gut sei, und zwar nicht bloß gut als Mittel, sondern, was die reinen Subjektivisten (wie jüngst erst Sigwart, Vorfr. d. Eth. S. 6) ausdrücklich leugnen, gut in sich selbst. Und wieder, wenn er erklärt, daß falls einer – was freilich ein Fall der Unmöglichkeit sei – einmal zu wählen haben sollte zwischen seinem eigenen ewigen Verderben und einer Verletzung göttlicher Liebe, es das Richtige sein würde, die eigene ewige Unseligkeit vorzuziehen. Es trifft hier das sittliche Gefühl des christlichen Abendländers mit dem des heidnischen Hindu zusammen, wie es sich in einer etwas seltsamen Erzählung von einem Mädchen kundgiebt, das für das Heil der übrigen Welt seiner eigenen ewigen Seligkeit entsagt; und wieder mit dem eines positivistischen Denkers wie Mill, wenn er erklärt: lieber als vor einem nicht wahrhaft guten Wesen anbetend mich beugen „to hell I will go.“ Ich kannte einen katholischen Geistlichen, der Mill um dieses Ausspruchs willen bei der Wahl ins Parlament seine Stimme gab.
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Schriften zur Ethik und Ästhetik tiges und ein unrichtiges Begehren (ʒȈǼȅȀȉd ʎȈǿ˂d ȁǸ˄d Ȇʞȁd ʎȈǿ˃) gebe, und daß das Begehrte (ʎȈǼȁȋˇȄ) nicht immer das Gute (ɎǺǸǿˇȄ) sei. (De Anim. III, 10.) Ebenso erklärt er bezüglich der Lust (ɯǻȆȄ˃) in der Nikomachischen Ethik, nicht jede sei gut; es gebe eine Lust am Schlechten, welche selbst schlecht sei (Eth. Nikom. X, 2). In der Metaphysik unterscheidet er eine niedere und höhere Art von Begehren (ɞȇȀǿȌȃǶǸ und ǹȆȔȂǾȊȀȉ); was die höhere um seiner selbst willen begehre, sei in Wahrheit gut (Metaph. Δ, 7 p. 1072 a 28). Eine gewisse Annäherung an die richtige Anschauung dürfte hier bereits erreicht sein. Interessant ist es insbesondere, daß (was ich erst nachträglich bemerkte) schon er den ethischen Subjektivismus mit dem logischen des Protagoras zusammenstellt und beide gleichmäßig verwirft. (Metaph. K, 6 p. 1062 b 16 und 1063 a 5.) Dagegen scheint es nach den nächstfolgenden Zeilen, als ob Aristoteles der allerdings begreiflichen Versuchung erlegen sei, zu glauben, wir erkännten das Gute als gut, unabhängig von der Erregung der Gemütsthätigkeit (ebend. 29; vgl. De Anim. III, 9 u. 10). Damit hängt es wohl auch zusammen, wenn er Eth. Nikom. I, 4 leugnet, daß es einen einheitlichen Begriff des Guten (und zwar, wohlverstanden, des in sich selbst Guten) gebe (vgl. darüber Anm. 26 S. 78), vielmehr meint, es bestehe für das Gute des vernünftigen Denkens, des Sehens, der Freude u. s. w. nur eine Einheit der Analogie; und wenn er an einem andern Orte (Metaph. E, 4 p. 1027 b 25) sagt, das Wahre und das Falsche seien nicht in den Dingen, wohl aber das Gute und das Schlechte; d. h. wohl, jene Prädikate (z. B. wahrer Gott, falscher Freund) würden den Dingen nur in Bezug auf gewisse psychische Akte, die wahren und falschen Urteile, beigelegt, diese dagegen kämen ihnen nicht ähnlich, bloß in Bezug auf eine gewisse Klasse psychischer Betätigung zu: – was alles, so unrichtig es ist, doch als notwendige Folge mit jenem ersten Irrtume zusammenhängt. Besser stimmt es mit der wahren Lehre vom Ursprung unseres Begriffs und unserer Erkenntnis des Guten, wenn er Eth. Nikom. X, 2 gegen die Annahme, daß die Freude nicht zu dem Guten gehöre, als Argument gelten läßt, daß alles nach ihr begehre, und beifügt: „denn wenn nur die unvernünftigen Wesen danach begehrten, so enthielte die Verwerfung dieser Begründung wohl eine gewisse Berechtigung, wenn nun aber auch die vernünftigen es thun, wie sollte sich noch etwas dagegen sagen lassen?“ Doch läßt sich auch dieser Ausspruch mit seiner falschen Ansicht vereinigen. Von dieser Seite betrachtet, erscheint der Gefühlsmoralist Hume ihm gegenüber im Vorteil, welcher mit Recht betont: wie soll man erkennen, daß etwas zu lieben ist, ohne die Erfahrung der Liebe? Ich sagte, die Versuchung, der Aristoteles erlegen, erscheine begreiflich. Sie entspringt daraus, daß mit der Erfahrung der als richtig charakterisierten Gemütsthätigkeit auch die Erkenntnis der Güte des Objekts immer zugleich gegeben ist. Da kann es denn leicht geschehen, daß man das Verhältnis verkehrt und meint, man liebe hier infolge der Erkenntnis und erkenne die Liebe als richtig an der Übereinstimmung mit dieser ihrer Regel. Es ist nicht ohne Interesse, den Fehler, den hier Aristoteles in betreff der als richtig charakterisierten Gemütsthätigkeit begeht, mit jenem zu vergleichen, dem wir bei Descartes hinsichtlich des als richtig charakterisierten Urteils begegnet sind (vgl. Anm. 27 S. 79). Der eine ist dem andern wesentlich analog; in beiden Fällen wird der auszeichnende Charakter, statt in dem als richtig charakterisierten Akte
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selbst, vielmehr in der Besonderheit der ihm zu Grunde liegenden Vorstellung gesucht. In der That scheint mir in der Abhandlung „Des Passions“ aus vielen Stellen ersichtlich, daß Descartes selbst die Sache hier ganz ähnlich wie Aristoteles und wesentlich analog seiner Lehre vom evidenten Urteile gedacht habe. Dem Irrtume Descartes’ bezüglich des Charakteristischen der Evidenz kommen heutzutage viele nahe (wenn man nicht lieber sagen will, daß sie ihn implicite geradezu teilen), wenn sie die Sache sich so vorstellen, als halte man sich bei jedem evidenten Urteil an ein Kriterium. Dieses müßte dann irgendwie vorher gegeben sein; entweder als erkannt – das würde aber ins unendliche führen – oder (und das bleibt eigentlich allein übrig) als in der Vorstellung gegeben. Auch hier kann man sagen, daß die Versuchung zu solchem Mißgriff naheliege, und sie mag auch auf Descartes beirrend eingewirkt haben. In den Irrtum des Aristoteles fällt man weniger; aber wohl nur darum, weil man überhaupt das Phänomen der als richtig charakterisierten Gemütsthätigkeit weniger als das des als richtig charakterisierten Urteils in Betrachtung gezogen hat. Wenn man jenes in seinem Wesen verkannte, so hat man dieses oft nicht einmal genügend bemerkt, um es in seinem Wesen zu mißdeuten. 29
Wenn ich erklärte, daß die Sprache des gewöhnlichen Lebens keine passenden Bezeichnungen für die Besonderheit der als richtig charakterisierten Thätigkeiten des Gemütes biete, so wollte ich damit nicht in Abrede stellen, daß gewisse Ausdrücke an sich recht wohl geeignet, ja wie dafür geschaffen scheinen. So insbesondere die Ausdrücke „gut gefallen“ und „schlecht gefallen“ in ihrem Unterschiede von dem einfachen „gefallen“ und „mißfallen“. Aber wenn es sich auch empfehlen dürfte, sie als wissenschaftliche Termini in dieser Weise enger abzugrenzen, so dürfte doch in der gewöhnlichen Sprache kaum eine Spur von solcher Schranke zu finden sein. Man sagt allerdings vielleicht nicht gern: das Gute gefällt ihm schlecht, das Schlechte gefällt ihm gut. Aber man sagt doch: dem einen schmeckt dies, dem andern jenes gut u. s. w.; man wendet also das Wort „gut gefallen“ ohne Bedenken auch da an, wo ein Gefallen in der niedrigst instinktiven Form gegeben ist. Freilich ist der Ausdruck Wahrnehmung schier in ebensolcher Weise herabgewürdigt worden. Eigentlich nur für Erkenntnisse passend, wurde er bei der sogenannten äußeren Wahrnehmung auch auf Fälle eines blinden und in wesentlichen Beziehungen irrigen Glaubens angewandt und bedürfte infolgedavon, um als terminus technicus wissenschaftlich verwertbar zu sein, einer wesentlichen und wesentlich seinen Umfang beschränkenden Reform der üblichen Terminologie.
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Metaph. A, 1. p. 980 a 22.
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Um ein Mißverständnis und die daran notwendig sich knüpfenden Bedenken auszuschließen, bemerke ich zu dem, was ich im Texte mit wenigen Strichen angedeutet, noch folgendes. Damit ein Akt der Gemütsthätigkeit in sich selbst rein gut zu nennen sei, dazu gehört: 1. daß er richtig sei, 2. daß er ein Akt des Gefallens, nicht ein Akt des Mißfallens sei. Fehlt ihm das eine oder andere, so ist er bereits in gewisser Beziehung in sich selbst schlecht; die Schadenfreude ist schlecht aus dem ersten, der Schmerz beim Anblick der Ungerechtigkeit aus dem zweiten Grunde. Fehlt ihm beides, so ist er noch schlechter, entsprechend dem Princip der Sum-
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Schriften zur Ethik und Ästhetik mierung, von welchem später im Vortrage die Rede sein wird. Demselben Princip entsprechend wächst in dem Falle, wo die Gemütsthätigkeit gut ist, die Güte des Aktes mit seiner Steigerung, während in analoger Weise in den Fällen, in welchen der Akt rein schlecht ist oder wenigstens in irgendwelcher Beziehung an dem Schlechten teil hat, die Schlechtigkeit des Aktes mit seiner Intensität zunimmt. Im Falle der Mischung wachsen und schwinden, offenbar einander einfach proportional, Güte und Schlechtigkeit. Das auf der einen oder andern Seite sich findende Plus muß so beim Wachsen der Intensität des Aktes immer größer, bei ihrer Abnahme immer kleiner werden. Und so könnte der Überschuß des Guten in ihm, trotz dessen Unreinheit, unter Umständen als ein sehr großes Gut und umgekehrt der Überschuß des Schlechten, trotz der Beimischung des Guten, als etwas sehr Schlechtes bezeichnet werden (vgl. Anm. 36).
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Es kann geschehen, daß ein und dasselbe uns zugleich gefällt und mißfällt. Einmal kann es vorkommen, daß uns etwas in sich mißfällt, aber uns gefällt als Mittel zu etwas anderem (oder umgekehrt); dann aber kann es sich treffen, daß etwas uns instinktiv abstößt, während es zugleich mit höherer Liebe von uns geliebt wird. So mögen wir einen instinktiven Widerwillen gegen eine Empfindungsvorstellung haben, welche uns doch zugleich (wie ja jede Vorstellung als solche gut ist), eine willkommene Bereicherung unseres Vorstellungslebens ist. Aristoteles schon sagt: „Es kommt vor, daß Begehrungen zueinander in Gegensatz treten. Dieses geschieht, wenn die Vernunft (ȂˇǺȆȉ) und das niedere Begehren (ɞȇȀǿȌȃǶǸ) entgegengesetzt sind.“ (De Anim. III, 10.) Und wiederum: „Es siegt aber bald das niedere Begehren (ɞȇȀǿȌȃǶǸ) über das höhere (ǹȆȔȂǾȊȀȉ), bald dieses über jenes; wie“ (nach der antiken Astronomie) „eine Himmelssphäre die andere, reißt ein Begehren das andere mit sich fort, wenn der Mensch die feste Herrschaft über sich verloren hat.“ (Ebend. 11.)
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Liebe und Haß können, wie auf einzelne Individuen, so auf ganze Klassen sich richten. Schon Aristoteles macht darauf aufmerksam. Wir zürnen, meint er, zwar nur dem einzelnen Diebe, der uns bestohlen, und dem einzelnen Sykophanten, der unsere Arglosigkeit getäuscht, hassen aber den Dieb und den Sykophanten im allgemeinen (Rhetor. II, 4). Auch Akte des Liebens und Hassens, denen in solcher Weise ein allgemeiner Begriff unterliegt, sind oft als richtig charakterisiert. Und natürlich muß dann mit der Erfahrung des betreffenden Aktes der Liebe oder des Hasses mit einem Schlage und ohne jede Induktion besonderer Fälle die Güte oder Schlechtigkeit der ganzen Klasse offenbar werden. So kommt man z. B. zur allgemeinen Erkenntnis, daß die Einsicht als solche gut ist. Man begreift, wie nahe die Versuchung liegt, bei solchen Erkenntnissen einer allgemeinen Wahrheit ohne die anderwärts bei Erfahrungssätzen erforderliche Induktion von Einzelfällen die vorbereitende Erfahrung der als richtig charaktererisierten Gemütsthätigteit ganz zu übersehen und das allgemeine Urteil für eine unmittelbare synthetische Erkenntnis a priori zu erklären. Bei Herbart deutet seine sehr merkwürdige Lehre von einer plötzlichen Erhebung zu allgemeinen ethischen Principien, wie mir scheint, darauf hin, daß er etwas von diesem eigentümlichen Vorgange bemerkt hat, ohne sich doch darüber ganz klar zu werden.
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Man erkennt leicht, wie wichtig dieser Satz für die Theodicee werden kann. Was die Ethik anlangt, möchte man fürchten, daß sie dadurch in ihrer Sicherheit stark gefährdet, ja vielleicht ganz und gar aufgehoben werde. Wie sich diese Besorgnis als eitel erweist, dafür vgl. unten Anm. 43 S. 92 f.
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Es scheint mir sogar aus dem Begriffe des Vorziehens durch Analyse erkennbar, 1. daß jedes Gute ein Vorzug sei, d. h. daß es als berechtigtes Moment beim Vorziehen in die Wage falle; 2. ebenso daß jedes Schlechte ein berechtigtes Gegenmoment bilde; und darum auch noch 3. daß man in Fällen wie den angegebenen, teils unmittelbar, teils durch eine Addition, bei welcher das Gute und Schlechte als Größen mit entgegengesetzten Vorzeichen in Rechnung kommen, das für das richtige Vorziehen gültige Übergewicht, d. h. die Vorzüglichkeit, das Bessersein des einen gegenüber dem andern, konstatieren könne. Hiernach bedarf es also, genau besehen, nicht der besonderen Erfahrung des als richtig charakterisierten Vorzugsaktes, sondern nur der Erfahrung der einfachen als richtig charakterisierten Akte des Gefallens und Mißfallens, um für die vorgeführten Fälle zur Erkenntnis des Besseren zu gelangen. Und darum sagte ich, nicht daraus, daß unsere Bevorzugung als richtig charakterisiert sei, schöpften wir hier die Erkenntnis der Vorzüglichkeit, sondern die betreffenden Bevorzugungen seien darum als richtig charakterisiert, weil die Erkenntnis der Vorzüglichkeit dabei maßgebend werde. Ich wollte aber damit nicht sagen, daß nicht derselbe auszeichnende Charakter, den wir zuvor bei gewissen Akten einfachen Gefallens hervorgehoben, auch hier wirklich vorhanden sei.
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Um hier ganz genau zu verfahren und eigentlich erschöpfend zu sein, hätte ich im Vortrage noch zwei andere und recht wichtige Fälle erwähnen müssen. Der eine ist der Fall, wo es sich um eine Lust am Schlechten, der andere der, wo es sich um eine Unlust am Schlechten handelt. Wenn wir fragen: ist die Lust an Schlechtem gut?, so antwortet schon Aristoteles und in gewisser Weise unzweifelhaft richtig: nein! „Niemand“, sagt er in der Nikomachischen Ethik (X, 2 p. 1174 a 1), „würde wünschen sich an Schändlichem zu freuen, auch wenn ihm sicher verbürgt würde, daß nie ein Leid darauf folgen sollte.“ Die Hedoniker, zu denen so edle Männer wie Fechner (vgl. seine Schrift über das höchste Gut) gehörten, sprechen sich dagegen aus. Ihre Lehre ist verwerflich, und ihre Praxis – schon Hume bemerkt es – zum Glücke viel besser als ihre Theorie. Dennoch liegt auch in ihrer Ansicht ein Körnchen Wahrheit. Die Lust am Schlechten ist als Lust ein Gut, und nur zugleich als unrichtige Gemütsthätigkeit etwas Schlechtes, und darf, wenn auf Grund dieser Verkehrtheit als etwas überwiegend Schlechtes, doch nicht als etwas rein Schlechtes bezeichnet werden. Indem wir sie also als schlecht verabscheuen, üben wir eigentlich einen Akt der Bevorzugung, in welchem die Freiheit von dem einen Schlechten vor dem Besitze des andern Guten den Vorzug erhält. Und wenn wir dabei den Abscheu als richtig erkennen, wird dies nur dadurch möglich, daß diese Bevorzugung eine als richtig charakterisierte Bevorzugung ist. Ähnlich verhält es sich, wenn wir fragen, ob die als richtig charakterisierte Unlust am Schlechten ein Gut sei, z. B. da wo es einem edeln Herzen schmerzlich ist, wenn es die Unschuld unterdrückt sieht, oder da wo einer, auf sein eige-
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Schriften zur Ethik und Ästhetik nes früheres Leben zurückblickend, beim Bewußtsein einer schlechten Handlung Reue fühlt. Hier zeigt sich die Lage in jeder Beziehung der vorigen entgegengesetzt. Ein solches Fühlen gefällt darum überwiegend, aber nicht rein; es ist kein reines Gut zu nennen, wie die edle Freude es wäre, wenn man das Gegenteil von dem vor sich sähe, worüber man trauert, weshalb denn auch die Ratschläge von Descartes (vgl. Anm. 24 S. 77), man solle doch lieber in äquivalenter Weise seine Aufmerksamkeit und Gemütsthätigkeit dem Guten zuwenden, ihre Berechtigung nicht eigentlich verlieren. Alles dies erkennen wir klar. Wir haben also auch hier wieder eine als richtig charakterisierte Bevorzugung als Quelle einer Erkenntnis von Vorzüglichkeit. Im Vortrag erlaubte ich mir – um nicht zu viel Komplikation hineinzubringen – bei der Besprechung der Bevorzugungen von diesen Fällen zu schweigen. Und ich konnte mir dies um so eher gestatten, als es praktisch zu demselben Resultate führen würde, wenn man (wie es Aristoteles in betreff der schändlichen Freude gethan) den als richtig charakterisierten Haß der einen und die als richtig charakterisierte Liebe der andern Klasse als Phänomene einfacher Abneigung und Zuneigung betrachten wollte. Man sieht leicht, daß sich aus diesen besondern Fällen von möglicher Bestimmung eines Größenverhältnisses zwischen Güte und Schlechtigkeit von Lust und Unlust auf der einen und von Richtigkeit und Unrichtigkeit auf der andern Seite (vgl. für sie auch Anm. 31 S. 87 f.) keine Hoffnung schöpfen läßt, die im Vortrage bezeichneten, weitklaffenden Lücken in allgemeiner Weise auszufüllen.
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Vgl. meine Psychologie vom empirischen Standpunkte Buch II, Kap. 4.
38
E. Dumont, Traités de législation civile et pénale, extraits des manuscripts de J. Bentham; insbes. im Abschnitt, der den Titel führt Principes de législation, chap. 3 sect. 1 gegen Ende, chap. 6 sect. 2 gegen Ende und chap. 8 und 9.
39
S. Rudolph Wagner, Der Kampf um die Seele vom Standpunkt der Wissenschaft. Sendschreiben an Herrn Leibarzt Dr. Beneke in Oldenburg. Göttingen 1857. S. 94 Anm.: „Gauß äußerte, der Verfasser“ (eines gewissen psychologischen Werkes) „spräche von Mangel an genauen Messungen psychischer Phänomene; aber es wäre schon gut, wenn man nur grobe habe; damit könne man schon etwas anfangen, man habe aber keine. Es fehle hier die Conditio sine qua non aller mathematischen Behandlung, nämlich wenn und insoferne die Verwandlung einer intensiven Größe in eine intensive“ (lies extensive) „möglich sei. Das sei doch die erste unerläßliche Bedingung; dann käme es noch auf andere an. Gauß sprach bei dieser Gelegenheit auch über die gewöhnliche inkorrekte Definition von Größe als einem Ens, das sich mehren oder mindern lasse; man müsse sagen ein Ens, das sich in gleiche Teile teilen lasse …“
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Das psychophysische Gesetz Fechners, selbst wenn es gesichert wäre, während es mehr und mehr Zweifel und Widerspruch hervorruft, würde nur für die Messung der Intensität des Inhalts gewisser anschaulicher Vorstellungen, nicht aber für die Messung der Stärke von Gemütserregungen, wie Freude und Leid, als Anhalt benützt werden können. Man hat Versuche gemacht, nach begleitenden unwill-
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kürlichen Bewegungen und andern äußerlich zu Tage tretenden Veränderungen das Maß von Gemütsbewegungen zu bestimmen. Sie kommen mir vor, wie wenn einer aus dem Wetter das genaue Datum des Monatstages berechnen wollte. Das direkte innere Bewußtsein, so unvollkommen seine Angaben sind, bietet hier noch immer mehr. Man schöpft dann wenigstens an der Quelle selbst, während man es dort mit einem durch mannigfache Einflüsse getrübten Wasser zu thun hat. 41
Sigwart, Vorfragen der Ethik (S. 42), betont, man müsse vom menschlichen Willen nicht mehr verlangen, als was er zu leisten im stande sei. Die Äußerung, die aus dem Munde eines so entschiedenen Indeterministen (vgl. Logik II, S. 592) besonders wunder nehmen mag, hängt mit seiner subjektivistischen Auffassung des Guten zusammen, von welcher aus ein logisch normaler Weg zum Frieden aller, die guten Willens sind, meines Erachtens sich nicht bietet. (Man vgl. z. B. die Weise, wie Sigwart selbst S. 15 vom Egoismus zur Rücksicht auf das Allgemeine hinübergleitet.) Aber auch von andern hört man solche Worte. Und hiernach könnte man wirklich Bedenken tragen, ob das erhabene Gebot, alle seine Handlungen zum höchsten praktischen Gute zu ordnen, das richtige ethische Princip sein möge. Denn sehen wir ab von den Fällen mangelnder Überlegung, die selbstverständlich nicht in Betracht kommen, so schiene die Forderung solch voller Selbsthingabe noch immer allzustrenge, giebt es doch keinen, der, wenn er sich aufrichtig ins Herz blickt – und sollte er sich auch noch so sorgsam ethisch führen –, nicht häufig mit Horaz von sich sagen müßte: „Nunc in Aristippi furtim praecepta relabor, Et mihi res, non me rebus subjungere conor.“ Dennoch ist das Bedenken unbegründet, und ein Vergleich mag dazu dienen, dies anschaulich zu machen. Es ist gewiß, daß kein Mensch im stande ist, jeden Irrtum zu vermeiden; aber, ob vermeidlich ob unvermeidlich, jeder Irrtum bleibt ein Urteil, wie es nicht sein soll, und den indispensabeln Forderungen der Logik entgegen. So wenig nun hier die Logik durch die Denkschwäche, so wenig wird dort die Ethik durch die Willensschwäche des Menschen sich abhalten lassen dürfen, von ihm zu fordern, daß er das erkannte Gute liebe und das erkannte Bessere vorziehe, und also das höchste praktische Gut hinter nichts anderem zurücksetze. Würde es sogar (was nicht richtig ist) für eine bestimmte Klasse von Fällen nachgewiesen sein, daß in ihnen alle Menschen ausnahmslos es nicht über sich gewännen, dem höchsten praktischen Gute treu zu bleiben, so gäbe dies noch immer nicht die geringste Berechtigung, die ethische Grundforderung fallen zu lassen. Es bliebe auch dann noch evident und unabänderlich wahr und die einzig und allein richtige Regel, hier wie überall dem Besseren gegenüber dem minder Guten den Vorzug zu geben. J. St. Mill fürchtet, dies werde zu endlosen Selbstanklagen führen, und die steten Vorwürfe würden jedem das Leben verbittern. Dies ist aber sowenig in der Regel eingeschlossen, daß es vielmehr, leicht nachweisbar, durch sie ausgeschlossen ist. Goethe hat es recht wohl erkannt.
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Schriften zur Ethik und Ästhetik „Nichts taugt Ungeduld“ – nämlich Ungeduld gegenüber der eigenen Unvollkommenheit, sagt er in einem seiner keineswegs laxen Sprüche, – „Noch weniger Reue;“ – das Versenken in die Gewissenspein, wo der frische, freudige Vorsatz allein dienen würde – „Jene vermehrt die Schuld, „Diese schafft neue.“ In demselben Sinne fand ich einmal von der Hand des frommen Abtes Haneberg, späteren Bischofs von Speier, in einem Album die Worte eingetragen: „Sonne dich mit Lust an Gottes Huld, „Hab’ mit allen, – auch mit dir Geduld!“
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Man muß sich wohl davor hüten, aus dem Principe der Liebe des Nächsten wie sich selbst die Folgerung zu ziehen, daß jeder für jeden andern eben so sorgen müsse wie für sich selbst; was, weit entfernt das allgemeine Beste zu fördern, es vielmehr wesentlich benachteiligen würde. Es ergiebt sich dies aus der Erwägung des Umstandes, daß man zu sich selbst eine andere Stellung hat als zu allen andern, und unter diesen wieder dem einen mehr, dem andern weniger zu helfen und zu schaden in der Lage ist. Wenn Menschen auf dem Mars leben sollten, so kann und soll der erdbewohnende Mensch ebenso ihnen Gutes wünschen, nicht aber ebenso für sie Gutes wollen und erstreben, als für sich und etliche seiner Mitgenossen auf Erden. Hiemit in Zusammenhang stehen die Mahnungen, denen man in jeder Moral begegnet, sich zunächst um sich selbst zu kümmern: „ǺȄ̼ǿȀd ȊǸȌȋˇȄ“, „kehre vor der eigenen Thüre!“ u. s. w. Die Forderung, zunächst für Weib, Kind, Vaterland zu sorgen, tritt auch überall auf. Und auch das „sorge nicht für morgen“ in dem Sinne, in welchem es wirklich einen weisen Ratschlag enthält, fließt daraus als Konsequenz. Daß mein morgiges Glück mir nicht so lieb sein solle wie mein gegenwärtiges, ist darin nicht eingeschlossen. Auf diese Weise geprüft, erweisen sich auch die kommunistischen Thesen als unberechtigt, die man aus dem schönen Grundsätze der allgemeinen Bruderliebe mit unlogischer Überstürzung ableiten wollte.
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Störender dürfte der Umstand genannt werden, daß wir die entfernteren Folgen unserer Handlungen oft nicht zu ermessen im stande sind. Allein auch dieser Gedanke wird, wenn wir das allgemeine Beste lieben, unsern Mut nicht lähmen. Von allen Folgen, die schlechterdings gleichmäßig unerkennbar sind, kann man sagen, daß die eine soviel Chancen für sich habe als die andere. Nach dem Gesetze der großen Zahlen wird also im ganzen ein Ausgleich stattfin-
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den, wobei dann, was wir berechenbar Gutes schaffen, als Plus auf der einen Seite bleibt und so, als wäre es allein, unsere Wahl rechtfertigt. Unter demselben Gesichtspunkte erledigt sich, wie ich schon im Vortrage selbst (S. 44) andeutete, das Bedenken, welches sich ähnlich an die Ungewißheit, ob wir von allem, was gut ist, auch als gut angemutet werden und es so als gut zu erkennen und gebührend zu berücksichtigen vermögen, knüpfen könnte. 44
Daß es sich bei den Rechtsgrenzen wesentlich um Verfügungssphären für den einzelnen Willen handle, wurde, wie von Philosophen (man vgl. dafür z. B. Herbarts Idee des Rechts), so auch von bedeutenden Juristen häufig hervorgehoben. Ihering in seinem Geist des römischen Rechts III, 1 (S. 320 Anm.) belegt dies mit mannigfachen Citaten. Für Arndts z. B. in seinem Lehrbuch der Pandekten ist Recht „Herrschaft des Willens in Ansehung eines Gegenstandes“; für Sintenis ist es „der zum Gesamtwillen erhobene Wille einer Person“. Windscheid definiert es als „einen gewissen Willensinhalt, von dem die Rechtsordnung in einem konkreten Fall ausspricht, daß er allem andern Willen gegenüber zur Geltung gebracht werden dürfe“. Puchta, der den Gedanken vielleicht am mannigfachsten zum Ausdruck bringt, sagt in seinen Pandekten § 22: „als Subjekte eines solchen in der Potenz gedachten Willens heißen die Menschen Personen … Persönlichkeit ist also die subjektive Möglichkeit eines rechtlichen Willens, einer rechtlichen Macht“. Ebend. (§ 118 Note b) bemerkt er in betreff des Mangels der Persönlichkeit: „das Princip des neueren (Rechts) ist Unfähigkeit über das Vermögen zu disponieren“; und Ähnliches enthalten viele andere seiner Äußerungen. Da nun aber diese juristischen Autoritäten ihre Aufmerksamkeit ausschließlich auf die Rechtspflichten konzentrieren und auf die ethische Frage, wie der einzelne Wille in seiner Rechtsspäre zu walten habe, nicht eingehen, so hat Ihering ihre Meinung dahin gedeutet, daß sie die Übung des Wollens in sich selbst, die Freude der einzelnen Personen an ihrer Willensbethätigung als das wahre, höchste Gut und als den eigentlichsten und letzten Zweck betrachteten, auf den die Gesetzgebung abziele; „Endzweck alles Rechts ist für sie das Wollen“ (ebend. S. 320, 325); „der Zweck des Rechts besteht ja einmal (nach ihnen) in der Willensmacht, der Herrschaft“ (S. 326), und man begreift wohl, daß er die so aufgefaßte Theorie verdammt (S. 327), ja daß es ihm gelingt, sie lächerlich zu machen. „Dieser Auffassung zufolge“, sagt er S. 320, „ist demnach das ganze Privatrecht nichts als eine Arena für den Willen, sich darauf zu bewegen und zu üben, der Wille ist das Organ, durch welches der Mensch das Recht genießt, der Rechtsgenuß besteht darin, daß er die Freude und Herrlichkeit der Macht empfindet, die Genugthuung hat, einen Willensakt vollzogen, z. B. eine Hypothek bestellt, eine Klage cediert und damit sich als Rechtspersönlichkeit dokumentiert zu haben. Welch ein armseliges Ding wäre es aber um den Willen, wenn die nüchternen und niedern Regionen des Rechts das eigentliche ‚Gebiet seiner Thätigkeit‘ bezeichneten!“ Gewiß, die schwersten Vorwürfe der Absurdität und Lächerlichkeit wären wohlverdient, wenn jene Gelehrten, welche den nächsten Zweck der Rechtsbestimmungen in eine Abgrenzung von Verfügungssphären des Willens setzten, die Rücksicht auf den letzten sittlichen Zweck, nämlich die Förderung des höchsten praktischen Gutes, damit hätten leugnen wollen. Es liegt aber gar nichts vor, was diese Insinuation rechtfertigte, und so dürfte denn hier mit besserem Grund
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Schriften zur Ethik und Ästhetik ein Lächeln dem Eifer des Angriffs gelten, der wahrlich nur gegen Windmühlen seine Streiche führt. Auch wäre, was Ihering an die Stelle setzen will, gewiß ein schlechter Ersatz. Indem er nämlich (was er als Verfasser des Zweckes im Recht vielleicht heute nicht mehr in gleicher Weise glaubt) die von der Rechtsordnung der einzelnen Person zugewiesene Sphäre als einfach ihrem Egoismus überlassene Sphäre betrachtet, kommt er zu der Definition: „Recht ist rechtliche Sicherheit des Genusses“ (S. 338), wo er viel besser sagen würde: Recht ist rechtliche Sicherheit des ungestörten freien Waltens der einzelnen Kraft zur Förderung des höchsten Gutes. – Ist denn die Ungerechtigkeit etwas, was die Unsittlichkeit erschöpft? Nein; die Rechtspflichten haben Grenzen; der Pflicht überhaupt untersteht dagegen all unser Thun, wie dies ja auch unsere Volksreligion nachdrücklich hervorhebt, z. B. wenn sie sagt, daß der Mensch von jedem unnützen Wort einst Rechenschaft geben müsse. Außer jenem ersten Einwand, der auf bloßem Mißverstand der Absicht beruht, hat Ihering auch noch einige andere erhoben, die wesentlich durch Unvollkommenheiten des Sprachgebrauchs veranlaßt sind. Wenn die Rechtsordnung wesentlich darin besteht, daß den einzelnen Willen gewisse Grenzen der Bethätigung angewiesen werden, damit nicht jeder jeden in seinem Wirken zum Guten störe, so kann demjenigen, der keinen Willen hat oder hatte oder haben wird, auch keine Rechtssphäre zugehören. Ich sage „hat oder hatte oder haben wird“, denn auf Vergangenheit und Zukunft muß offenbar Rücksicht genommen werden. Ein Verstorbener wirkt ja oft bis in die fernste Zukunft, und Comte durfte sagen: „die Lebenden werden mehr und mehr von den Toten beherrscht“. Und ebenso wird es die Sachlage mit sich bringen, daß man bei manchen Fragen die Entscheidung naturgemäß der Zukunft überläßt, also sich der Herrschaft zu Gunsten eines künftig herrschenden Willens begiebt. Diese Erwägung indes löst zwar manches Paradoxon, das Ihering (S. 320–325) urgiert; aber nicht alle. Bei einem von Geburt aus unheilbar Blödsinnigen kann man offenbar gar kein Willensvermögen, dem die Rücksicht aufs höchste praktische Gut eine Sphäre überlassen möchte, namhaft machen; es giebt also nach unserer Anschauung für ihn, eigentlich genommen, keinerlei Rechtssphäre: und doch hört man allgemein von einem Recht, das er auf sein Leben habe, sprechen; ja wir bezeichnen ihn unter Umständen als Eigentümer eines großen Vermögens, oder sprechen ihm wohl gar das Recht auf eine Krone und königliche Herrschaft zu. Prüft man die Verhältnisse genau, so findet man, daß es sich hier zwar nirgends um eine wahre Rechtssphäre des der Verantwortlichkeit unfähigen Subjektes, wohl aber um Rechtssphären anderer handelt, wie z. B. um die eines Vaters, der für ein blödes Kind fürsorgend letztwillig über sein Vermögen bestimmte und durch staatliche Gesetze in seiner Willensherrschaft über seinen Tod hinaus geschützt wird, oder aber (wie z. B. in dem Falle, wo das Leben des Blödsinnigen nicht angetastet werden darf ), abgesehen von der Verletzung einfacher Liebespflicht, die dies involvieren würde, um die Rechtssphäre des Staates selbst, der keinem andern den tödlichen Eingriff in ein Leben gestattet; unterwirft er doch manchmal auch den Versuch zum Selbstmord einer Strafe. Ein dritter Einwand Iherings, nämlich daß bei einer Abgrenzung der Rechte nach Willenssphären auch die unsinnigsten Willensverfügungen rechtliche Geltung haben müßten (S. 325), bietet nach dem Gesagten kaum mehr eine Schwie-
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rigkeit. Gewiß wird manche thörichte Willensverfügung zu gestatten sein. Würde sie der Staat nicht zu dulden haben, so besäße nur er allein noch ein endgültiges Verfügungsrecht, alle Privatrechte wären dahin. Solange nicht bloß Unterthanen, sondern auch Regierungen der Thorheit zugänglich sind, erscheint eine solche Allverstaatlichung gewiß nicht angezeigt. Daß aber, wie überhaupt die sekundären ethischen Bestimmungen Ausnahmen erleiden, und insbesondere vielfältig Expropriationen der Privateigentümer nötig werden, auch unsinnige Verfügungen oder Verfügungen, die evidentermaßen allen Sinn und Bezug zum höchsten praktischen Gut verloren haben, manchmal staatlich umgestoßen werden können, ist klar und ohne jeden Widerspruch zuzugeben. Die Rücksicht aufs höchste praktische Gut entscheidet hier wie bei jeder andern sogenannten Kollision der Pflichten. 45
Daß ein an und für sich naturwidriges, schlechtes Gesetz, so sehr es vom ethischen Standpunkt zu mißbilligen, und so dringend seine Abänderung zu fordern ist, dennoch in vielen Fällen durch die Vernunft eine interimistische Sanktion empfängt, ist längst erkannt und, wie z. B. von Bentham in den Traités de Législation civ. et pén., klargelegt worden. Im Altertum ist Sokrates, der sich der Speisung im Prytaneum für würdig hielt, für diese Überzeugung gestorben. Die positive Gesetzgebung schafft trotz aller Mängel einen Zustand, der besser als Anarchie ist, und da jeder Ungehorsam gegen das Gesetz seine Kraft im allgemeinen zu beeinträchtigen droht, so mag unter diesen durch das Gesetz selbst erzeugten Verhältnissen vorläufig für den einzelnen auch vom Standpunkt der Vernunft das als die richtige Handlungsweise sich ergeben, was, davon abgesehen, keineswegs zu billigen wäre. Das alles folgt widerspruchslos aus der Relativität der sekundären ethischen Regeln, von welchen später gehandelt wird. Ich füge bei, daß Irrungen in den Gesetzen der positiven Sittlichkeit (zu denen der Vortrag alsbald übergeht) unter Umständen eine ähnliche Berücksichtigung erheischen. Man darf aber auf der andern Seite nicht übersehen, daß es hier Grenzen giebt und daß der Satz: „man soll Gott mehr gehorchen als den Menschen“ nicht in seiner freien, erhabenen Größe beeinträchtigt werden darf.
46
Heraklit von Ephesus (500 v. Chr.), der älteste unter den griechischen Philosophen, von dem wir reichere Fragmente besitzen.
47
Ihering, Der Zweck im Recht II S. 119 u. ö.
48
Politeia I, cap. 5.
49
Eth. Nikom. V, 14 p. 1137 b 13. Polit. III und IV.
50
Vgl. den Discours préliminaire zu den Traités de Législation, sowie ebendaselbst den Abschnitt De l’influence des temps et des lieux en matière de législation.
51
Philosophischer Versuch über die Wahrscheinlichkeiten von Laplace, nach der sechsten Auflage des Originals übersetzt von N. Schwaiger, Leipzig 1886, S. 93 f.
96
Schriften zur Ethik und Ästhetik (Anwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung auf die moralischen Wissenschaften).
52
Vgl. Allgemeine Juristenzeitung VII S. 171; Zweck im Recht II S. 118, 122 f.
53
Grundlegung zur Physik der Sitten. Vgl. oben Anm. 14 S. 61.
54
Man vgl. z. B. den Dialog Menon.
55
Friedr. Alb. Lange, Logische Studien, ein Beitrag zur Neubegründung der formalen Logik und der Erkenntnislehre. Iserlohn 1877.
56
Alex. Bain, Logic, part first. Deduction. London 1870. p. 159 f.
57
Z. B. Bentham und wohl schon im Altertum Epikur.
58
Z. B. Platon und Aristoteles und diesem folgend Thomas v. Aquin.
59
Z. B. die Stoiker und im Mittelalter die Scotisten.
60
Dies hat auch Epikur (so wenig es mit seiner oben S. 47 besprochenen Äußerung im Einklange steht) nicht geleugnet.
61
Eth. Nikom. I, 1.
62
Metaph. ƌ 10.
63
Ebendaselbst.
64
Sie machten die Beziehung zu dem größeren Ganzen als Argument dafür geltend, daß das praktische Leben (des Politikers) höher stehe als das theoretische.
65
Ebenso kehrt dieses Zeugnis für das Princip der Summierung wieder, so oft bei einer in ihrer Wurzel egoistisch-eudämonistischen Anschauung (wie z. B. bei Locke und bei Fechner in seiner Schrift vom höchsten Gute; vgl. auch für Leibniz Trendelenburg, Histor. Beitr. II S. 245) Gott zum Aufbau der Ethik zu Hülfe genommen wird. Dieser, argumentiert man, liebt jedes seiner Geschöpfe, und darum ihre Gesamtheit mehr als jedes einzelne, und billigt und belohnt darum die Aufopferung des einzelnen für die Gesamtheit, während er die selbstsüchtige Schädigung mißbilligt und straft. Auch in dem Verlangen nach Unsterblichkeit zeigen sich oft Wirkungen des Princips der Summierung. So sagt Helmholtz (Über die Entstehung des Planetensystems, Vortrag, gehalten in Heidelberg und Köln 1871), wo er diesem Verlangen frohe Aussichten öffnen will: „Es kann der einzelne (wenn, was wir erringen, das Leben unserer Nachkommen veredeln wird) … den Gedanken, daß der Faden seines eigenen Bewußtseins einst abreißen werde, ohne Furcht ertragen. Aber mit dem Gedanken an eine endliche Vernichtung des Geschlechts der Lebenden und
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damit aller Früchte des Strebens aller vergangenen Generationen konnten auch Männer von so freier und großer Gesinnung wie Lessing und David Strauß sich nicht versöhnen.“ Wenn sich nun naturwissenschaftlich ergiebt, daß die Erde einmal unfähig wird, lebende Wesen zu tragen, so kehrt, meint er, das Bedürfnis nach Unsterblichkeit unabweisbar wieder, und man fühlt sich gedrängt Umschau zu halten, wo sich für ihre Annahme etwa eine Möglichkeit erschließe. 66
Metaph. ƌ, 10.
67
Dies ist die stehende Lehre der großen Theologen wie z. B. des Thomas von Aquin in seiner Summa Theologica. Nur gewisse Nominalsten, z. B. Robert Holcot, lehrten eine volle Willkür der göttlichen Gebote. Vgl. meinen Aufsatz über die „Geschichte der kirchlichen Wissenschaften im Mittelalter“ in der Kirchengeschichte von Möhler (herausgegeben von Gams 1867) II. 526 ff., wobei ich aber die Berichtigung der Druckfehler, welche das dem Werke am Schlusse beigegebene „Register“ S. 103 f. enthält, nicht zu übersehen bitte.*
68
In Zeiten, wo die Psychologie noch weniger vorgeschritten war und die Forschungen auf dem Gebiete der Wahrscheinlichkeitsrechnung den Proceß der vernünftigen Induktion noch nicht genügend aufgeklärt hatten, konnte es selbst einem Hume begegnen, daß er in diese grobe Verwechslung fiel. Vgl. sein Enqu. on human understanding chapt. 5 und 6. Auffallender ist es, daß noch James Mill und Herbert Spencer hier nicht im geringsten über Hume hinausgekommen sind (vgl. Anal. of the phen. of the human mind II, cap. 9 und Anm. 108), ja daß selbst der feine J. St. Mill, obwohl ihm der Essai philos. sur les probabilités von Laplace vorlag, dadurch nicht zu einem klaren Verständnisse des wesentlichen Unterschiedes zwischen dem einen und andern Verfahren geführt wurde. Es hängt dies mit seiner Verkennung des rein analytischen Charakters der Mathematik und der Bedeutung des deduktiven Verfahrens überhaupt zusammen; hat er doch, daß der Syllogismus zu neuen Erkenntnissen führe, geradezu geleugnet. Wer alle Mathematik auf Induktion basiert, kann unmöglich das Induktionsverfahren mathematisch rechtfertigen. Es wäre für ihn ein circulus vitiosus. Daß hier Jevons’ Logik richtigere Wege wandelt, steht außer Frage. Manchmal ist es, als ob auch in Mill eine Ahnung von dem mächtigen Unterschiede aufdämmere, wie wenn er in einer Anmerkung zur Analysis of the phenom. of the human mind (Vol. II. p. 407) die Theorie seines Vaters kritisierend sagt: „Wenn das Glauben nur eine unlösbare Association ist, so ist das Glauben eine Sache der Gewohnheit und des Zufalls, und nicht der Vernunft. Sicherlich ist eine auch noch so feste Association zwischen zwei Ideen kein genügender Grund [von ihm selbst unterstrichen] des Glaubens, keine Einsicht [evidence] daß die entsprechenden Thatsachen in der äußeren Natur vereinigt sind. Die Theorie scheint jeden Unterschied zwischen dem Glauben des Weisen, der durch Evidenz geleitet wird und mit den wirklichen Successionen und Coexistenzen der Thatsachen der Welt zusammenstimmt, und dem Glauben von Narren aufzuheben, der durch irgendwelche zufällige Association, welche dem Geiste die Idee einer Succession
*
Vgl. Bd. 10 dieser Ausgabe: F. Brentano, Nicht-philosophische Schriften [in Vorbereitung].
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Schriften zur Ethik und Ästhetik oder Coexistenz suggeriert, mechanisch produciert wird; ein Glauben, den treffend der gemeinübliche Ausdruck kennzeichnet: etwas glauben, weil man es sich in den Kopf gesetzt hat.“ – Das alles ist vortrefflich. Aber es wird seines wesentlichsten Wertes wieder beraubt, wenn wir J. St. Mill in einer späteren Anmerkung (S. 438) sagen hören: „Es muß ihm (dem Verfasser der Analysis) zugestanden werden, daß eine Association, welche stark genug ist, alle Ideen auszuschließen, die ihrerseits sie selbst ausgeschlossen haben würden, eine Art von mechanischem Glauben erzeugt, und daß die Processe, durch welche dieser Glaube berichtigt oder in vernünftige Schranken gewiesen wird, alle in dem Erwachsen einer Gegenassociation bestehen, welche die Tendenz hat, die Idee einer Enttäuschung der ersten Erwartung entstehen zu lassen, und daß, je nachdem die eine oder andere in dem besonderen Falle überwiegt, der Glauben besteht oder nicht besteht, genau so als wenn der Glaube und die Association ein und dasselbe Ding wären u. s. w.“ Hier ist vieles, was Bedenken erregt. Wenn von Ideen, die sich gegenseitig ausschließen, die Rede ist, so könnte man fragen, was das für Ideen seien. Nach einer anderen Äußerung Mills (a. a. O. I, p. 98 f. Anm. 30) kennt er „keinen Fall von absoluter Inkompatibilität von Gedanken außer den zwischen den Gedanken der Gegenwart und der Abwesenheit ein und desselben“. Aber sind auch nur diese inkompatibel? Mill selbst lehrt uns anderwärts das extreme Gegenteil, indem er meint, es sei zugleich mit der Vorstellung des Seins immer auch die Vorstellung des Nichtseins gegeben (ebend. p. 126 Anm. 39. „Wir sind uns“, sagt er, „der Gegenwart eines Dinges nur im Vergleich mit seiner Abwesenheit bewußt“). Doch alles dies beiseite: wie seltsam, daß es Mill hier entgeht, daß er den ganzen auszeichnenden Charakter der Evidenz wieder verloren gehen läßt und nichts als die von ihm mit gebührender Geringschätzung behandelte blindmechanische Urteilsbildung übrigbehält!! Der Skeptiker Hume steht hier viel höher, indem er wenigstens das einsieht, daß bei solcher empiristischer Auffassung des Induktionsprocesses dem vernünftigen Bedürfnisse nicht genügt wird. Sigwarts Kritik der Millschen Induktionslehre (Logik II S. 371) enthält hier sehr viel Wahres, nur hat er, indem er zu seinen Postulaten greift, gewiß nicht das bei Mill Ungenügende durch etwas wahrhaft Befriedigendes ersetzt.
69
Vgl. Hume, Enqu. on human understanding V, 2 gegen Ende.
70
Eth. Nik. III, 10. Vgl. die feinen Erörterungen des folgenden Kapitels über die fünf Weisen falscher Tapferkeit.
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Eth. Nik. I, 2.
Das Genie Vortrag gehalten im Saale des Ingenieur- und Architektenvereins in Wien
Hochgeehrte Versammlung! 1. Die Welt ist groß und vieles in ihr, was unsere Wißbegierde anregt. Leider finden wir es oft trauriger Art; und so war es ein schmerzliches Interesse, welches der Vortrag der vergangenen Woche in Anspruch nahm, da ein beredter Mund uns das Reich des Verbrechens schilderte. Ich, der ich heute den Kreis der Vorlesungen schließe, darf nicht wieder bei so düsteren Erscheinungen verweilen. Vom Genie will ich sprechen, und ihm entspringen die Werke, die vor andern die Lust und der Stolz der Menschheit sind. So, hoffe ich, wird unsere Betrachtung nicht ganz unerquicklich sein, auch wenn sie nicht in jedem Sinne befriedigen sollte. Denn sowohl anderes macht mich besorgt, als insbesondere die Kürze der Stunde und die Mannigfaltigkeit dessen, was hier eine Erklärung fordert. Vor allem werden Sie eine Begriffsbestimmung erwarten. Denn der Ausdruck „Genie“, dem gewöhnlichen Leben entstammt, ist verschwommen, und die ihn schärfer begrenzten, haben dies nicht alle in gleicher Weise gethan. In einem freilich zeigen sie sich einig; jeder sagt, daß unter einem Genie ein ungewöhnliches, ganz überragendes Talent zu verstehen sei. Fragt man aber worin, fragt man in welcher Weise ein Geist ausgezeichnet sein müsse, um auf den Namen Anspruch zu haben, so treten sofort die Meinungen auseinander. Der eine wendet den Ausdruck auf den verschiedensten Gebieten an, hier rühmt er eine Entdeckung, dort ein Kunstwerk als genial; und auch von einem genialen Feldherrnblick, ja von einem genialen Zug auf dem Schachbrett hört man ihn reden; einem andern dagegen scheint in der Mehrzahl dieser Fälle der Name mißbraucht; nur das Gebiet der schönen Kunst, meint er, sei wahrhaft ein Reich des Genies zu nennen. Was aber die Weise der Thätigkeit anlangt, so ist der Abstand der Meinungen ebenso groß oder doch jedenfalls nicht geringer. Der eine glaubt das mächtigste Genie, dem bescheidensten Talent gegenüber gestellt, doch immer nur dem Grade nach überlegen, während ein anderer behauptet, auch der Art nach müsse es davon verschieden sein; denn nur so werde begreiflich, daß ihm oft mühelos gelinge, wonach, selbst mit aller Anstrengung ringend, das gewöhnliche Talent vergeblich trachte. „Das Genie“, schreibt der englische Psychologe Maudsley, „verhält sich zum gemeinen Sterblichen, wie der Schmetterling, der fliegt und von Honig sich nährt, zur Raupe, die kriecht und von Blättern lebt. Es ist nicht, wie der gewöhnliche Mensch, eine Sinnesmaschine, die Beobachtungen registriert, sondern ein Instrument, auf dem die Melodien der Natur wie Sphären-
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musik ertönen, zum Labsal und zum Entzücken derjenigen, deren Ohr sie zu vernehmen fähig ist.“ Diese Thatsache, fügt er bei, sei unliebsam, da sie der Eitelkeit des gemeinen Mannes wenig schmeichle, aber sie bleibe darum nicht minder sicher und unleugbar. In Deutschland hat bekanntlich eine Philosophie Anhang gewonnen, die neben dem bewußten ein unbewußtes Denken lehrt. In der Natur und auch im Menschen will sie es finden und allerhand absonderliche, ja manche schier göttliche Eigenheiten legt sie ihm bei. Selbstverständlich hat sie nicht versäumt, die Leistungen des Genies damit in Verbindung zu bringen, indem sie dieselben für Produkte eines unbewußten Denkens erklärte. Und damit war dann wiederum gesagt, daß das Genie vor der nicht genialen Begabung nicht dem bloßen Grade, daß es vielmehr der Art nach vor ihr sich auszeichne. Ist dieses nun wirklich der Fall, oder erscheint ein bloßer Unterschied des Grades zur Erklärung der Erscheinungen genügend? – So viele Fragen über das Genie aufgeworfen worden sind, keine ist von tiefer greifendem Interesse. Und darum möge sie vorzüglich es sein, die uns heute beschäftigt. 2. Wir sagten, das Genie werde von manchen auf das Gebiet der Kunst beschränkt, Philosophen von großem Namen glaubten dies thun zu sollen; der gemeine Sprachgebrauch dagegen hatte weder früher in solchen Grenzen sich gehalten, noch ließ er sich später jemals durch sie binden. Sicher nun ist auf diesem Gebiete wenigstens das Volk souverän; wendet es den Ausdruck auf ausgezeichnete Begabung auch zu andersartigen Leistungen an, so muß, wer dieselbe Sprache mit ihm spricht, sich wohl fügen: aber anderseits ist es wohl von vornherein klar, daß die ausgezeichnete Befähigung für wesentlich Verschiedenes selbst auch wesentlich verschieden sein müsse; der Begriff des Genies wird also da, wo es sich nicht um dieselbe Gattung handelt, nicht derselbe, sondern nur etwa ein analoger sein können. Und hieraus folgt, daß wir die Frage nach der auszeichnenden Eigentümlichkeit des sogenannten Genies bei den verschiedenen Klassen gesondert werden aufwerfen müssen. Statt einer Frage haben wir dann viele; aber diese vielen sind bestimmt, während jene eine verschwommen gewesen ist; auch jede Schwierigkeit ist nun schärfer erkennbar, und Ordnung und Methode kommen in die Untersuchung. Naturgemäß beginnt man mit dem leichteren; und so wollen wir zunächst in betreff eines Spieles die Frage aufwerfen. Sehen wir zu, wie es sich mit der Genialität verhält, die man gewissen Meistern auf dem Schachbrett zuzuschreiben pflegt, wie unterscheidet sich ihre Thätigkeit von der des gewöhn-
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lichen Kenners? – Die Entscheidung fällt uns wohl nicht schwer; denn sicher machten ein Philidor und Morphy ihre genialsten Kombinationen im allgemeinen ganz in derselben Art wie jeder andere Spieler; aber dem Grade nach war ihr Kombinationsvermögen ein entwickelteres, ihr Anschauungsvermögen ein lebendigeres, und das gab ihnen einen Überblick über die mittelbare Kraftwirkung der Figuren, wie er andern auch entfernt nicht möglich ist. Ähnliches gilt, leicht ersichtlich, auch für ungleich wichtigere Fälle, und namentlich auf wissenschaftlichem Gebiete, wo die Selbstschilderung hochberühmter Forscher dafür Bürgschaft leistet. Als einst Newton gefragt wurde, wie er es doch angestellt, um durch so reiche und herrliche Entdeckungen die Wissenschaft zu erweitern, war seine Antwort, er habe es erreicht durch Unablässigkeit des Nachdenkens. Und dies in der That war seine Weise, bis er die Rastlosigkeit seines Sinnens und Grübelns mit geistiger Erschlaffung büßen mußte. Wo er stand und ging, überall begleiteten ihn seine Probleme; was irgend ihm begegnete, berührte sich auch mit ihnen, und so haben oft Zufälle des Lebens ihm den Faden, der zur Lösung führte, in die Hand gespielt. Bekannt ist die Geschichte jener Entdeckung, welche vor allen seinen Ruhm begründet hat. Auf freiem Felde sich ergehend, sann Newton über die Keplerschen Gesetze und die Erklärung der merkwürdigen Eigenheiten des Planetenlaufes nach, als plötzlich ein Apfel vor ihm niederfiel. Und wenn er höher gehangen hätte, frug er sich, wäre er nicht auch dann gefallen? – Ja! – Und wenn er noch höher, und so hoch gehangen hätte, wie der Mond, wäre er nicht auch dann gefallen? – Ja! – Warum also fällt der Mond selbst nicht zur Erde? – So trug er das große Erklärungsprincip, den Gedanken der Gravitation, hinauf in das Reich der Sterne; und offenbar ist dies ganz die Art und Weise, wie auch uns Gedanken zu kommen und Beziehungen sich zu knüpfen pflegen. Ähnlich auch sprechen andere große Forscher sich aus, Archimedes z. B., dieser Newton des Altertums, verfährt nicht anders, wie der in der modernen Zeit. Auch er lebt und webt in seinen Aufgaben, und trägt sie oft lange mit sich umher, bis ein Zufall ihm zur Lösung des Rätsels den Anlaß giebt. So war es, als einst König Hiero ihn seine goldne Krone auf ihre Echtheit prüfen ließ. Lange wußte Archimedes nicht, wie er die Sache anfassen solle. Endlich einmal, im Begriffe ein Bad zu nehmen, sieht er, indem er niedersteigt, das Wasser in der Wanne sich heben. Da kommt ihm der lösende Gedanke: der Körper, den man in eine Flüssigkeit taucht, muß soviel an Gewicht verlieren, als das der Flüssigkeit beträgt, die er verdrängt. Aus dem specifischen Gewicht der Krone ließ sich bestimmen, ob sie von lauterem
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Golde sei. Und Archimedes selbst, wird erzählt, war über seine Entdeckung so erfreut, daß er heraussprang, wie er war, mitten auf den Markt, und rief: „Ich hab’s gefunden! ich hab’s gefunden!“ Das also ist, was die Geschichte der großen wissenschaftlichen Entdeckungen uns lehrt. Und wie sich erwarten läßt, steht, was die hervorragenden Forscher, wenn sie einmal unsere Frage selbst in Betrachtung zogen, über die Natur des wissenschaftlichen Genies ausgesagt, aufs schönste damit im Einklang. So protestiert Bonnet gegen die Behauptung, daß das Genie durch unmittelbare Intuition erkenne, wo andere der Vermittelung bedürftig seien. Nur einer geringeren Zahl von Mittelbegriffen würde es nach ihm ob seiner eminenten Geisteskraft benötigen. Es muß nicht, meint er, erst jeden Knäuel entwirren, um bereits den laufenden Faden mit dem Blick verfolgen zu können. Nicht minder energisch widerspricht Buffon einer solchen Annahme. Ja, er behauptet geradezu, daß das Genie in nichts als in einer vorzüglichen Befähigung zur Geduld bestehe. Freilich klingt das Wort paradox und muß vernünftig gedeutet werden, wenn es nicht als starke Übertreibung bezeichnet werden soll. Man wird unter der besonderen Anlage zur Ausdauer nicht bloß die besondere Befähigung zur Verlängerung der Arbeit, sondern auch die zur Vertiefung in dieselbe verstehen und die einzelnen Faktoren geltend machen müssen, welche die Ausdauer leicht machen. Das besondere Interesse an der Wahrheit, das lebendige Gefühl für Klarheit und Erkenntnis werden hier vorzüglich hervorzuheben sein. Mit dem, was die französischen Forscher urteilten, stimmt, was einer der berühmtesten deutschen Denker uns lehrt. Auch Kant leugnet auf das entschiedenste, daß die wissenschaftlichen Geister ersten Ranges unbewußt thätig, oder in ihrem Denken anders als dem Grade nach vor andern ausgezeichnet seien. „Newton“, sagt er in seiner Kritik der ästhetischen Urteilskraft, „könnte alle seine Schritte, die er von den ersten Elementen der Geometrie an bis zu seinen großen Erfindungen zu thun hatte, nicht allein sich selbst, sondern jedem andern ganz anschaulich und zur Nachfolge bestimmt vormachen … Im Wissenschaftlichen also ist der größte Erfinder vom mühseligsten Nachahmer und Lehrlinge nur dem Grade nach … (nicht specifisch) unterschieden.“ Nach solchen Aussprüchen, was bedarf es weiterer Belege? Zuversichtlich dürfen wir behaupten, daß auf dem Gebiete der Wissenschaft wenigstens die geniale Thätigkeit von der nichtgenialen immer dem Grade nach, nie specifisch unterschieden sei, und es bleibt uns demnach nur noch das Gebiet der schönen Kunst als Gegenstand der Untersuchung übrig.
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3. Immerhin würden wir irren, wenn wir uns schmeichelten, wir seien der Lösung unserer Aufgabe bereits nahe gerückt, da vielmehr die Schwierigkeiten hier erst recht beginnen. Die Verhältnisse sind wesentlich neue, ein Analogieschluß nicht genugsam gerechtfertigt. Und so finden wir z. B. Kant, der auf dem Gebiete der Wissenschaft kein Genie im Sinne eines von den übrigen specifisch unterschiedenen Talents anerkennen wollte, auf dem Gebiete der schönen Kunst der entgegengesetzten Ansicht huldigen. Freilich konnte er hier nicht ebenso aus eigner Erfahrung schöpfen; und wer nicht geneigt ist, sich durch apriorische Argumente imponieren zu lassen, dürfte darum seinem Votum hier geringere Bedeutung beimessen. Sicher fällt das, was uns geniale Künstler selbst bald über unsere Frage im allgemeinen, bald und insbesondere über ihre eigene Produktionsweise mitteilen, schwerer in die Wage. Aber auch ihre Äußerungen enthalten vieles, was für die Bejahung der Frage zu sprechen scheint. Sie schildern ihr Verfahren wie in grellem Gegensätze zu kritischer Besonnenheit. Ohne Überlegung, sagen sie, und bewußtlos entstehe in ihnen das Werk oder doch das Wesentliche des Werkes. Sehr beredt äußert sich z. B. Jean Paul. In langen Erörterungen über das Genie sich ergehend, betont er das Bewußtlose seines Schaffens mit besonderem Nachdruck und vergleicht es einem Nachtwandler, der in der Bewußtlosigkeit des Schlafes zu den Höhen klimme, von welchen er, erwacht, sofort herabstürzen müßte. Doch auch Jean Paul wird vielleicht mancher nicht als vollwichtigen Zeugen zulassen; nicht als ob er nicht den Namen eines künstlerischen Genies verdiente, wohl aber, weil er nicht genugsam ein nüchterner Beobachter gewesen sei, um an der Treue des Berichtes jeden Zweifel auszuschließen. Auch sonst oft seien ja seine Schilderungen extravagant und würden unwahr in ihrer Übertreibung. Darum wird es besser sein, auf solche geniale Künstler zu achten, welche mit ihren anderen hohen Vorzügen auch die Gabe treuer Beobachtung zu vereinigen wußten. Und wenn irgend einer, ist Goethe hiefür ein Beispiel. Das Überspannte, Überschwängliche in Jean Paul fand vor ihm keine Gnade. Einmal, so wird erzählt, kam er in die Stube seines Enkels und fand auf dessen Pult ein Blatt, auf dem eine Stelle aus Jean Paul geschrieben stand, die also lautete: „Der Mensch lebt nur zwei und eine halbe Minute: eine Minute lächelt er, eine Minute seufzt er, die dritte würde er genießen, aber in ihrer Mitte stirbt er.“ Und mißfällig dadurch berührt, schrieb er sofort darunter die Worte:
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„Ihrer sechzig hat die Stunde; Mehr als tausend hat ein Tag; Söhnchen, nimm daraus die Kunde, Was ein Leben leisten mag!“ In sich selbst sehr hübsch gesagt, ist dieser Spruch namentlich auch für den Gegensatz der beiden genialen Männer charakteristisch. Aber so vielfach Goethe mit Jean Paul sich in Widerstreit findet, in unserer Frage scheint er völlig mit ihm in Einklang. Eine Menge von Aussprüchen ständen zu Gebote, worin Goethe nicht anders als Jean Paul von einer Bewußtlosigkeit des genialen Schaffens spricht. Die Thatsache ist bekannt; ich will darum nur eine Stelle anführen, die, ebenso kurz als nachdrücklich, in einem Antwortschreiben an Schiller sich findet, der auch seinerseits eine gewisse Bewußtlosigkeit im Wirken des Dichters behauptet hatte. „Das Bewußtlose mit dem Besonnenen vereinigt“, so hatte Schiller sich geäußert, „macht den poetischen Künstler aus.“ Goethe antwortet nicht einfach billigend, sondern erklärt, man müsse nach seiner Meinung noch weiter gehen. „Ich glaube“, schreibt er, „daß alles, was das Genie als Genie thut, unbewußt geschehe. Der Mensch von Genie kann auch verständig handeln, nach gepflogener Überlegung, aus Überzeugung; das geschieht aber alles nur so nebenher. Kein Werk des Genies kann durch Reflexion und ihre nächsten Folgen verbessert, von seinen Fehlern befreit werden.“ Was so von genialen Dichtern berichtet wird, stimmt recht wohl zu dem, was große Meister in anderen Gattungen der Kunst von sich erzählen. Mozart sagt in einem Briefe, daß die musikalischen Ideen ihm ohne sein Zuthun zuströmten, er wisse nicht woher; und ebensowenig gehe er irgendwie mit Bewußtsein darauf aus, ihnen das eigentümlich Mozart’sche zu geben, ja er würde in Verlegenheit sein, zu sagen, worin es bestehe. Eine ganze Sammlung ähnlicher Äußerungen von Schriftstellern und Künstlern hat jüngst Fischer in seiner Abhandlung „Über das Bewußtsein“ zusammengestellt. Selbst aus dem Altertum fehlt es nicht an bestätigenden Zeugnissen. So wird uns insbesondere Äschylus, der gewaltigste unter den griechischen Tragikern, als ein bewußtlos wirkendes Genie geschildert. Sophokles sagte von ihm, er thue das Richtige, aber ohne es zu wissen, und der Peripatetiker Chamäleon, der sein Leben beschrieb, berichtet, Äschylus habe seine Tragödien wie im Rausche gedichtet. Aristoteles unterscheidet in seiner Poetik von den mit besonnener Kunst bildenden Dichtern diejenigen, welche, außer sich geraten, in selbstvergessender Ekstase ihr Werk schaffen,
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und Platon will nur die letzteren als wahre Dichter gelten lassen. Wiederholt kommt er in seinen Dialogen darauf zu sprechen. „Alle vorzüglichen Dichter von Heldengesängen“, heißt es z. B. in seinem Ion, „erzeugen alle diese herrlichen Dichtungen nicht nach Regeln der Kunst, sondern begeistert und entzückt; so desgleichen auch die vorzüglichen Liederdichter; wie die Korybanten nicht besonnenen Mutes tanzen, so schaffen auch die Liederdichter nicht besonnenen Mutes diese schönen Lieder; sondern wenn sie in den Wohlklang und Takt kommen, stürmen auch sie dahin, und verzückt, wie verzückt, in nicht besonnenem Zustande, die Bacchantinnen den Flüssen Milch und Honig entschöpfen, bringt das auch, wie sie selbst erklären, der Geist der Liederdichter hervor. Denn fürwahr, die Dichter sagen uns, daß sie, gleich den Bienen, auch herumflatternd wie diese, aus honigströmenden Quellen, aus gewissen Gärten und Hainen der Musen ihre Lieder zusammentragen und uns bringen. Und sie sagen die Wahrheit, denn der Dichter ist ein luftiges, leichtbeschwingtes, heiliges Wesen, und nicht eher im Stande zu dichten, bis er, in Begeisterung außer sich geraten, seine Besinnung verliert.“ In dieser außerordentlichen Weise also entstehen nach dem übereinstimmenden Bericht aller Zeiten die genialen Kunstwerke. Und man begreift hiernach wohl, wie sie nicht bloß von andern, sondern ganz besonders von den Meistern selbst, wie eine Art Wunder betrachtet, auf göttliche Eingebung zurückgeführt wurden. „In uns lebet ein Gott“, ruft Ovid, „und erregt uns, daß wir erglühen.“ Ebenso sagt Euripides, daß ein Gott in ihm sich offenbare. Und wenn Homer und andere Dichter des Altertums die Muse anflehen, so meint Platon wenigstens, daß dies nicht etwa leere Phrase sei, sondern in dem Bewußtsein geschehe, sie vermöchten nichts ohne besondere göttliche Hilfe. Jedenfalls aber scheint nach alledem nicht bloß ein gradueller, sondern ein specifischer Unterschied, ja in mancher Beziehung geradezu ein voller Gegensatz zwischen dem Schaffen des genialen und nicht genialen Künstlers gegeben. Und wie dies direkt aus den Äußerungen der Meister hervorgehen möchte, so scheint es auch indirekt in der Eigentümlichkeit ihrer Werke seine Bestätigung zu finden. Auch das größte Genie zeigt sich in seinen Werken nicht ganz vollkommen, und die Weise, wie sich bei ihm Vorzüge und Mängel, Freiheit und Beschränkung verbinden, ist höchst bedeutsam. Jedes Genie hat sein eigentümliches Gebiet; nicht bloß giebt es kein Universalgenie im vollen Sinne des Wortes, sondern meist hat die Genialität auch in der einzelnen Kunstgattung engere Grenzen. So war z. B. Pindar ein genialer Lyriker und nichts weiter.
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Ja noch mehr zeigt sich das Genie beschränkt. Es hat eine Eigenart, von der es nicht lassen kann, und die allen seinen Werken den Stempel aufdrückt. Schon Platon fiel dies auf, und er fand darin eine Bestätigung seiner Ansicht, daß das Genie nicht mit bewußtem Kunstverstande schaffe. In Wahrheit zeigt es sich dadurch den instinktartig wirkenden Tieren wie z. B. den Vögeln ähnlich, von welchen jeder seine eigene Art hat das Nest zu bauen und unfähig ist, in der Bauart eines andern etwas zu leisten; eben weil er nicht verständig schafft. Denn sonst, warum sollte die Schwalbe nur gerade das Nest der Schwalbe und nicht auch das Finkennest bauen lernen? Aber wie sich das Genie in dieser Hinsicht in einer besonderen Beschränkung zeigt, so nach einer anderen Seite in einer besonderen Freiheit. Die Erfahrung hat in der Kunst gewisse Regeln aufstellen lassen, an die der nichtgeniale Künstler sich bindet, obwohl darunter manche, auf unvollkommener Induktion beruhend, nicht wesentlich ist. Das Genie durchbricht kühn solche Schranken und weist oft einen neuen Weg, der zum Ziele führt, obwohl er weit abliegt von allem Hergebrachten oder die bisher betretenen Bahnen durchkreuzt. Sein Fehler ist in diesen Fällen nur ein scheinbarer, die verletzte Regel war bloßes Vorurteil, und dies Vorurteil hat ihn nur darum nicht beeinflußt, weil er ohne Reflexion auf die Regeln sein Werk hervorbrachte. Ein geniales Werk enthält aber oft auch wirkliche Fehler und steht, was Korrektheit anlangt, hinter manchem nicht genialen weit zurück. Nur verbindet es damit zugleich Vorzüge, die alle Mängel überwiegen. Und auch diese Thatsache scheint nicht dafür zu sprechen, daß die genialen Werke Werke der Reflexion sind; denn die Reflexion, der Regeln bewußt, wird leichter jeden Verstoß vermeiden, als dem Werke alle positiven Vorzüge geben, die erforderlich sind, um es ästhetisch wirksam zu machen. 4. Ohne Nachsinnen, mühelos entstehen die Werke des Genies und sind zugleich die vorzüglichsten von allen! Ist das nicht wunderbar? – Wenn wir nicht an den übernatürlichen Einfluß einer Gottheit glauben wollen – und die eben besprochene, man darf sagen, gesetzliche Beschränktheit und die häufige Verunstaltung durch unbestreitbare Fehler dürften uns kaum dieser Auffassung geneigter machen – werden wir nicht wenigstens anerkennen müssen, daß die geniale Thätigkeit auf dem Gebiet der Kunst von der gewöhnlichen vollständig verschieden sei, und daß, wenn kein Gott den Dichter besucht, er selbst, als mit höher gearteten Kräften ausgestattet, wie eine Art Übermensch verehrt zu werden verdiene?
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Doch auch diese Annahme erscheint noch immer allzu befremdlich. Nicht bloß unsere Eitelkeit und unser Neid, wie Maudsley meinte, sträuben sich dagegen, auch unser Wahrscheinlichkeitsgefühl findet sich dadurch verletzt. Jedenfalls ist es des Versuches werth, auch auf dem Gebiete der Kunst die Thätigkeit des Genies so zu fassen, daß sie nur dem Grade, nicht der Art nach verschieden, aus den allgemeinen psychischen Gesetzen begreiflich wird. Dies allein ist ja auch eine wahre Naturerklärung, eine Rückführung des besondern Falls auf allgemeine Gesetze; die Schöpfungen des Genies aus dem Unbewußten erklären, heißt schier so viel, als mit Zöllner die vierte Dimension zum Verständnis Slade’scher Gauklerkünste zu Hilfe rufen. So wollen wir denn das Unternehmen wagen. Dabei aber wird es gut sein, wenn wir uns vor allem der methodischen Regeln erinnern, die einst Descartes aufstellte, und von welchen wir auch zuvor schon unausgesprochen Gebrauch machten. Descartes lehrt, man solle jede Aufgabe so weit nur möglich teilen und jeden Teil für sich behandeln, vom Einfacheren und Leichteren zum Zusammengesetzteren und Schwierigeren fortschreitend. Wie können wir dies in unserm Falle thun? Jedes Kunstwerk ist, wenn wir Aristoteles glauben dürfen, eine gewisse Nachahmung der Natur. Doch gilt dies gewiß nicht von jedem in gleichem Maße oder in gleicher Weise. Beim Maler, wenn er eine Landschaft aufnimmt, beim Bildhauer, wenn er den Kopf eines Cäsaren in Marmor wiedergiebt, ist die Naturnachahmung unverkennbar. Anders ist es bereits, wenn Raphael uns ein historisches Gemälde, oder gar wenn Schwind uns ein Märchenbild entwirft; und wieder bei freien dichterischen Werken eines Dramatikers, eines Epikers und insbesondere eines Lyrikers, der in dem Lied seine subjektiven Empfindungen ergießt. Und mehr noch dürfte einer bei der Architektur und Musik geneigt sein, der Naturnachahmung jeden bedeutenderen Anteil abzusprechen. An diesen Unterschied, den die Kunstwerke hinsichtlich der Nachahmung zeigen, rührt Goethe, da er sagt: „Die Würde der Kunst erscheint bei der Musik vielleicht am eminentesten, weil sie keinen Stoff hat, der abgerechnet werden müßte. Sie ist ganz Form und Gehalt und veredelt alles, was sie ausdrückt.“ Immerhin findet auch der Musiker seine Töne im einzelnen von der Natur gegeben vor, und er nimmt auch Rücksicht auf den natürlichen Ausdruck der Klage und des Jubels, auf das Rauschen des Wassers, das Sausen des Windes, das Abnehmen der Töne in der Ferne und verwertet alles dies nachahmend mit Erfolg in seinen großartigsten Werken. Irgendwie bleibt es also wohl für jedes Kunstwerk wahr, daß es Nachahmung ist. Doch sind wir
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nach dem Gesagten darum nicht minder berechtigt, die Kunstwerke in zwei Klassen zu scheiden, in solche, welche durch Wahrnehmung oder Gedächtnis direkt der Natur entnommen, und in solche, die von der Phantasie des Künstlers sozusagen schöpferisch gebildet sind. In beiden Arten finden sich Werke des Genies, hier und dort kann man also unsere Frage gesondert aufwerfen, und wir thun es, indem wir zunächst den einfacheren Fall, wo das Kunstwerk direkt aus der Natur geschöpft wird, in Erwägung ziehen. 5. Direkt aus der Natur geschöpft? – nun ja, das sind diese Werke; aber doch nicht so, als ob sie einfache Reproduktion des naturgegebenen wären, denn sonst würden wir kein wahres Kunstwerk vor uns haben. Eine gewisse Freiheit muß auch hier bethätigt, eine gewisse Abstraktion auch hier geübt werden. Das Wesentliche allein muß dargestellt, der Totaleindruck, das ästhetisch Bedeutende in dem, was vorliegt, müssen festgehalten werden, während alles andere vernachlässigt wird. Was nicht mit mir ist, heißt es auch auf ästhetischem Gebiete, das ist wider mich. Das eigentlich Wirksame, von dem vielen Nebensächlichen befreit, wird durch das Herausheben selbst wesentlich in seiner Wirksamkeit erhöht. Wenn das nicht geschähe, wie kläglich bliebe das Kunstwerk hinter der Natur zurück, mit welcher es ohnehin oft schwer genug zu ringen hat! Aber nun, indem der Künstler verfährt, wie ich sagte, kann es einen gewissen Ersatz, für das was es nicht geben kann, ja eine gewisse Überlegenheit über das Vorbild in der Natur gewinnen. Das echte direkt aus der Natur geschöpfte Kunstwerk wirkt oft wie eine Offenbarung, es erschließt zum erstenmal eine Schönheit, die dann erst, von dem geklärten Blick auch unvermittelt in der Natur selbst erkannt und beseligend empfunden wird. Das ist was jeder große Künstler weiß. Einzelne, die ihr Beruf dazu führte, andere als Lehrer zu unterweisen, haben sich auch sehr klar und nachdrücklich darüber ausgesprochen. So der englische Meister Sir Josuah Reynolds, ein mehrfach ausgezeichneter Geist, der zugleich zu den größten Portraitmalern und zu den vornehmsten Förderern der Ästhetik auf dem malerischen Gebiete zählt. In seiner Rede über das Genie in der Malerei äußert er sich also: „Es ist nichts, so wenig es dem ersten Anschein nach verspricht, was nicht, unter den Händen eines geistreichen Malers zu einer gewissen Würde erhoben, Gedanken veranlassen und Empfindungen erregen könnte. Was man von Virgil gesagt, daß er selbst den Dünger mit Anstand auf den Boden zu werfen wisse, läßt sich auch auf Tizian anwenden. Was er nur berührte, so
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gering es seiner Natur nach, so gemein es durch die Gewohnheit war, bekleidete er durch eine Art von Zauberei mit Größe und Wichtigkeit.“ Und durch welche Mittel haben Tizian und andere Meister dies vermocht? Haben sie vielleicht eine Schminke aufgetragen, haben sie eine der Natur fremde Schönheit in sie hineingelegt? Nicht doch! Sie haben nichts hineingelegt, aber sie haben, was unverstanden in ihr lag, entdeckt und durch jene künstlerische Abstraktion, von der wir sprachen, allgemein verständlich gemacht. „Es giebt“, sagt Reynolds, „in allen wichtigen Gegenständen große charakteristische Züge, die stark auf die Sinne wirken, und daher die Einbildungskraft fesseln. Diese charakteristischen Unterschiede bestimmen die Totalwirkung. Sie sind aber keineswegs, wie manche Leute sich vorstellen, der Inbegriff aller einzelnen kleinen Verschiedenheiten, und die geflissentliche Zusammenstellung dieser ist durchaus nicht das Mittel dieselben darzustellen. Sie sind, um mich einer Vergleichung aus dem bürgerlichen Leben zu bedienen, in ihrer Art eben das, was bei den Rechtsgelehrten die entscheidenden Punkte oder die auf jene Punkte sich beziehenden Hauptumstände heißen. Die ausführliche Behandlung, die den Ausdruck des Charakteristischen nicht im mindesten fördert, ist noch schlimmer als nur unnütz; sie ist sogar schädlich, da sie die Aufmerksamkeit zerstreut und von der Hauptsache abzieht … Wenn uns bloß die allgemeine Wirkung von einer geschickten Hand vorgestellt wird, so sieht man, daß sie den Gegenstand auf eine weit lebhaftere Art ausdrückt, als die genaueste Ähnlichkeit aller Kleinigkeiten thun würde … Wenn wir mit kritischem Auge die Manier derjenigen Künstler, die wir für Muster halten, untersuchen, so werden wir finden, daß sie ihren Werken den großen Ruhm nicht deshalb verdanken, weil sie sie aufs sorgfältigste ausgeführt, oder auf die kleinen Nebendinge die äußerste Sorgfalt verwandt haben, sondern wegen jenes vielumfassenden Blicks, der das ganze Objekt auf einmal überschaut, und wegen der Energie der Kunst, die dessen charakteristische Wirkung durch einen angemessenen Ausdruck liefert … Ich erinnere mich eines Landschaftsmalers in Rom, der wegen der Mühseligkeit, mit der er seine Sachen vollendete, unter dem Namen Studio bekannt war; denn er glaubte, daß die höchste Vortrefflichkeit der Kunst darin bestehe, so daß er sogar, wie er sagte, einmal den Versuch gemacht hatte, jedes einzelne Blatt an einem Baume nachzubilden.“ „Dieses Gemälde“, sagt Reynolds, „habe ich zwar nie gesehen, bin aber überzeugt, daß ein Künstler, der bloß auf den allgemeinen Charakter der Gattung, die Ordnung der Äste und die Massen des Laubwerks Rücksicht nimmt, in wenigen Minuten eine richtigere Ähnlichkeit der Bäume hervor-
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bringen wird, als dieser Maler in ebensoviel Monaten. Ein Landschaftsmaler sollte allerdings jeden Gegenstand, den er malt, wenn ich mich des Ausdrucks bedienen darf, anatomisch studieren, sobald er aber seine Kenntnisse anwenden soll, muß er, als ein geistvoller Künstler, sie so entwickeln, daß er die allgemeine Wirkung zeigt, indem er den Grad von Härte und Weichheit, welchen die Dinge in der Natur haben, beibehält; denn er will nur die Einbildungskraft, nicht die Wißbegierde unterhalten … Wenn er seine Sache versteht, so wird er nicht bloß wissen, was er andeuten, sondern auch, was er weglassen soll.“ So Reynolds. Er bestätigt offenbar, was wir sagten. Auch wo aus der Natur geschöpft wird, gilt es nicht, eine einfache Kopie herzustellen; es kommt darauf an, das Wesentliche, das ästhetisch Bedeutende herauszugreifen. Wenn das ein Werk nicht thut, so ist es weder das Werk eines Genies, noch überhaupt eines Künstlers, sondern eines geistlosen Abschreibers. Goethe bemerkt darum sehr treffend: „Man sagt: studiere Künstler die Natur! Es ist aber keine Kleinigkeit, aus dem Gemeinen das Edle zu entwickeln“; was er dann näher dahin erklärt, daß er unter dem Gemeinen „das zufällig Wirkliche“ verstehe, „an dem wir weder ein Gesetz der Natur, noch der Freiheit für den Augenblick entdecken“. Also das Unwesentliche, das an sich Bedeutungslose, fällt im echten Kunstwerk weg, und das eigentlich Charakteristische, das Gesetz, tritt darum deutlicher und unmittelbarer ins Bewußtsein. Darin sind Goethe und Reynolds einig. Wie kommt nun, frage ich, ein solches Werk zustande? und zunächst, wie wird es von dem, der nicht Genie ist, hervorgebracht? – Zielbewußt tastet der Künstler, der nicht das Glück hat, ein Genie zu sein, und sucht bald so, bald anders den Weg sich zu bahnen. Er bessert nach, er feilt, und bildet so nach und nach ein Werk, das die künstlerischen Anforderungen befriedigt. Gelingt es nicht, wie viele Anstrengungen er auch macht, so erinnert er sich an Regeln, welche auf viele gelungene und mißlungene Versuche gegründet sind; und will auch das nicht helfen, so denkt er an ein Beispiel: Wie hätte, fragt er sich, ein Rembrandt, wie ein Rubens, das angegriffen? Und so kommt er nach und nach auf das Rechte, und ein schöner Erfolg krönt sein langes, mühevolles Ringen. Nicht jeder Künstler aber bedarf der Anwendung aller dieser Mittel. Mancher findet, indem er sich forschend in die charakteristischen Eigentümlichkeiten und Schönheiten der Natur vertieft, ohne jeden Gedanken an die Weise, wie ein anderer den Gegenstand behandelt haben würde, was und wie er es wiedergeben soll. Ja, selbst der Regeln, braucht er nicht zu gedenken; sein vielleicht feinerer Geschmack versucht und prüft solange,
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bis er selbständig das Entsprechende herausgefühlt hat. Wenn wir diesen Künstler mit dem früheren vergleichen, so erscheint er bereits genial. Wenn jener fremde Kunstweisen imitiert, so arbeitet dieser original. Wenn jener aus Regeln deduziert, so ist dieser sich selbst Regel. Es liegt eine gewisse Unmittelbarkeit in seiner Verfahrungsweise. Immerhin ist ein noch glücklicherer Fall denkbar; derjenige nämlich, wo er sozusagen findet, ohne nur zu suchen, wo er auf den ersten Blick das Charakteristische und Eigentümlichschöne als das ästhetisch und künstlerisch Wirksame in dem Naturgebilde erfaßt. Dann ist das Kunstwerk wenigstens in seiner Phantasie, im wesentlichen wie mit einem Schlage fertig, und es ist nur noch Sache der Technik, es auch draußen in die Wirklichkeit treten zu lassen. Ist so die künstlerische Konzeption nicht bloß originell und unmittelbar, sondern auch spontan entstanden, so ist ihre Entstehung, das wird jeder zugeben, im vollsten Sinne genial zu nennen. Wer in dieser Weise seine künstlerische Idee bildet, bildet sie im eminentesten Maße als Genie. Wie aber erscheint ein solcher Fall begreiflich? Ist die Thätigkeit gleicher oder verschiedener Art, wie in den früheren Fällen? kommen dieselben Fähigkeiten, nur höher entwickelt, oder kommen ganz neue, von höherer Art, in Anwendung? – Unleugbar giebt die Plötzlichkeit des Gelingens dem Werke einen gewissen Schein von Inspiration, und, wenn nicht von Eingebung, könnte einer von unbewußtem Denken zu sprechen versucht sein. Was die andern mit Bewußtsein und Mühe thaten, könnte er sagen, das mußte doch auch von seiner Seite geschehen, und hat er nicht bewußt, so muß er unbewußt es gethan haben; es geht also ein unbewußtes Denken vorher, welches das leistet, was anderwärts durch bewußtes Denken geleistet wird. Allein bei etwas nüchterner Überlegung zeigt sich, daß der Vorgang auch anders aufgefaßt werden kann, und daß wir recht wohl mit der Annahme eines bloß graduellen Unterschiedes ausreichen, indem wir diesem Künstler keine andere auszeichnende Gabe, als eine sehr feine Empfindlichkeit für das ästhetisch Wirksame zuschreiben. In dieser Hinsicht sind die Menschen von Natur sehr verschieden – man denke nur an den weiten Abstand, der von Geburt an Menschen von musikalischem Gehör von den völlig unmusikalischen trennt – und die Übung, welche die Anlage zur Entwicklung bringt, mag die Unterschiede noch mächtig erweitern. Je mehr jemand für den Eindruck des Ästhetisch-Wirksamen empfänglich ist, um so mehr wird es, auch wo es in der Natur vorkommt, von ihm empfunden und durch die Empfindung herausgehoben, so daß alles Gleichgültige dahinter zurücktritt. Und ist es einer im allerhöchsten Maße, so wird es von ihm schon beim ersten Blick
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mit größter Lebendigkeit erfaßt, und das Gleichgültige wird in nichts seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen vermögen, es ist wie nicht vorhanden. Mit leichtem Griffe und voller Sicherheit faßt er das Wesentliche heraus, und die flüchtigste Skizze zeigt es schon in seiner Reinheit und bringt es kräftig zur Geltung. Und mögen dann in der weitern Ausführung auch mancherlei Fehler sich einschleichen, und mag vieles nachlässig behandelt und technisch mangelhaft sein: der Hauptsache nach bleibt das Werk ein Kunstwerk, wie es sein soll; das, was die Seele eines Kunstwerks ist, wohnt ihm inne und erhebt es weit über ein geist- und lebloses Produkt, bei dem Fleiß und wohlgeschulte Technik alle diese Fehler vermieden haben. Also noch einmal: so wenig hier an Eingebung im wahren Sinne zu denken ist, so wenig muß ein unbewußtes Denken, das zum bewußten hinzukäme, angenommen werden, da vielmehr von der Arbeit ein Teil entfällt. Und warum kann er entfallen? Eben wegen der graduellen Superiorität der Fähigkeit für jene andere und wesentlichste Leistung, indem der Künstler für das Ästhetisch-Wirksame in der Natur so empfänglich ist, daß es ihm sofort augenfällig wird, und die künstlerische Abstraktion sich von selbst vollzieht. Soviel von dem einfacheren der beiden Fälle, die wir bei Kunstwerken unterschieden haben. Wir sehen, trotz des entgegengesetzten Scheins sind bei dem Genie hier noch wesentlich dieselben Fähigkeiten, die sich bei andern thätig finden, beteiligt. 6. Wenden wir uns nun zu dem komplizierteren Fall! Wie ist es, wo ein Kunstwerk als Produkt einer sogenannten schöpferischen Phantasie entsteht? – Man wird es nach der vorausgegangenen Betrachtung vielleicht von vornherein wahrscheinlich finden, daß sich bei ihm uns Ähnliches ergeben werde; dennoch bedarf es einer besonderen Untersuchung, und unleugbar erzeugt gerade hier manches einen entgegengesetzten Schein, zu dessen Lösung die eben angewandten Mittel für sich nicht wohl ausreichen. Sowohl um dies deutlicher zu machen, als auch um das richtige Verständnis anzubahnen, wollen wir dieselbe Methode befolgen, wie früher. Wir fragen zunächst: wie produziert der nichtgeniale Künstler ein solches Werk? Vor allem stellt er sich die Aufgabe. Da kommt ihm denn ein Gedanke nach den gewöhnlichen Gesetzen des Vorstellungslaufs. Aber der Gedanke taugt nicht eben viel; er wird verworfen. Er denkt weiter und kommt auf etwas Anderes, was er nun teilweise genügend, teilweise aber noch immer ungenügend findet. Er sinnt auf Mittel, es zu bessern und zu ergänzen, und da es noch immer nicht recht vorwärts will, erinnert er sich an gewisse Regeln,
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die man ihm auf Grund vielfacher Erfahrung gegeben hat. Ja noch mehr, er sieht, wenn die Sache gar zu schwierig wird, sich nach Vorbildern um, er fragt, wie der, wie jener etwas Ähnliches in Angriff genommen habe, er entlehnt vielleicht aus fremden Kunstwerken, imitiert hier den einen, dort den anderen Zug und füllt dadurch die störende Lücke aus. Schließlich kommt er zu einem Werke, das, mehr oder minder vollkommen befriedigend, immerhin von einer gewissen wahrhaft künstlerischen Wirksamkeit ist. So, sage ich, bringt der Künstler, den wir nicht genial nennen, sein Werk zur Vollendung. Zur Bestätigung kann ich Ihnen ein merkwürdiges Beispiel in dem Berichte vorführen, den einer der größten nichtgenialen Künstler selbst über die Weise seines Arbeitens gegeben hat. Lessing (denn auf keinen geringeren zielten meine Worte) giebt uns in einer Stelle der Hamburger Dramaturgie folgende Selbstschilderung: „Ich bin“, sagt er, „weder Schauspieler, noch Dichter. Man erweist mir zwar manchmal die Ehre, mich für den letzteren zu erkennen. Aber nur, weil man mich verkennt. Aus einigen dramatischen Versuchen, die ich gewagt habe, sollte man nicht so freigebig folgern. Nicht jeder, der den Pinsel in die Hand nimmt und Farben verquistet, ist ein Maler. Die ältesten von jenen Versuchen sind in den Jahren hingeschrieben, in welchen man Lust und Leichtigkeit so gern für Genie hält. Was in den neueren Erträgliches ist, davon bin ich mir sehr bewußt, daß ich es einzig und allein der Kritik zu verdanken habe. Ich fühle die lebendige Quelle nicht in mir, die durch eigene Kraft sich emporarbeitet, durch eigene Kraft in so reichen, so frischen, so reinen Strahlen aufschießt; ich muß alles durch Druckwerk und Röhren aus mir heraufpressen. Ich würde so arm, so kalt, so kurzsichtig sein, wenn ich nicht einigermaßen gelernt hätte, fremde Schätze bescheiden zu borgen, an fremdem Feuer mich zu wärmen und durch die Gläser der Kunst mein Auge zu stärken. Ich bin daher immer beschämt oder verdrießlich geworden, wenn ich zum Nachteil der Kritik etwas las oder hörte. Sie soll das Genie ersticken; und ich schmeichelte mir, etwas von ihr zu erhalten, was dem Genie sehr nahe kömmt. Ich bin ein Lahmer, den eine Schmähschrift auf die Krücke unmöglich erbauen kann. „Doch freilich, wie die Krücke dem Lahmen wohl hilft, sich von einem Orte zum andern zu bewegen, aber ihn nicht zum Läufer machen kann, so auch die Kritik. Wenn ich mit ihrer Hülfe etwas zustande bringe, welches besser ist, als es einer von meinen Talenten ohne Kritik machen würde, so kostet es mich soviel Zeit, ich muß von anderen Geschäften so frei, von unwillkürlichen Zerstreuungen so ununterbrochen sein, ich muß meine ganze Belesenheit so gegenwärtig haben, ich muß bei jedem Schritte alle
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Bemerkungen, die ich jemals über Sitten und Leidenschaften gemacht, so ruhig durchlaufen können, daß zu einem Arbeiter, der ein Theater mit Neuigkeiten unterhalten soll, niemand in der Welt ungeschickter sein kann, als ich … „… Ich bin mißtrauischer gegen alle erste Gedanken, als De la Casa und der alte Shandy nur immer gewesen sind. Denn wenn ich sie auch schon nicht für Eingebungen des bösen Feindes, weder des eigentlichen, noch des allegorischen halte, so denke ich doch immer, daß die ersten Gedanken die ersten sind, und daß das Beste auch nicht einmal in allen Suppen obenauf zu schwimmen pflegt. Meine ersten Gedanken sind gewiß kein Haar besser, als jedermanns erste Gedanken, und mit jedermanns Gedanken bleibt man am klügsten zu Hause.“ So beschreibt Lessing selbst seine künstlerische Thätigkeit. Mit einer bewunderungswürdigen Klarheit und Aufrichtigkeit hat der große Kritiker gesprochen. Ja, indem er uns ungescheut gewisse Mängel seiner Anlage offenbart, zeigt er uns zugleich eine Seelengröße, um derentwillen er vielleicht noch mehr Bewunderung verdient. Und wenn nun dies nach seinem so unzweifelhaft treuen Bericht die Weise des nichtgenialen Künstlers ist, wie verfährt im Unterschiede von ihm der geniale? – Das wollen wir jetzt darzulegen suchen. 7. Von den Mitteln, die ich eben aufzählte, bedarf der Künstler offenbar nicht aller in allen Fällen. Manchmal z. B. kommt einer gewiß recht gut mit seinem Werke zustande, ohne irgend etwas zu entlehnen. Auch des Gedankens an eine Regel nötigt er vielleicht nicht, indem seine Empfindlichkeit selbst ihm genugsam als solche dient. Sein Gefühl leitet ihn und läßt ihn dieses verwerfen, läßt ihn jenes festhalten, sei es definitiv, sei es provisorisch und mit dem Bewußtsein, daß noch mancherlei nachzubessern bleibe. Immerhin mögen wir auch hier einen Fall von langer, mühseliger Arbeit vor uns haben, und wiederholte Versuche, von denen viele von der überwachenden Kritik als mißlungen verworfen werden. Und darum ist auch ihm gegenüber noch immer ein weiterer Fall denkbar, der ungleich idealer erscheinen würde, nämlich der, wo ohne jede Nachhülfe sofort vollkommen das Ganze der Phantasie sich darböte, so daß es wie ein Geschenk von höherer Hand dem Künstler in den Schoß fiele. Wenn wir den Berichten vertrauen, welche wir zuvor mitteilten, müssen wir annehmen, daß wirklich solches vorgekommen ist, und das Werk darum das Ansehen einer Eingebung hatte. Ein solches wird dann vor anderen ein Werk des Genius zu nen-
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nen sein, wie denn Kant wenigstens meint, man habe den Ausdruck „Genie“ darum gewählt, weil man geglaubt habe, es sei ein Genius, der einen besuche und durch seine göttliche Macht ohne eigenes Zuthun das Vollkommene erreichen lasse. Goethe hatte solche Augenblicke, wenn er uns erzählt, daß ihm die Verse so rasch zuströmten, daß seine Feder nicht mehr zu folgen vermochte. Wie wenig da eine revidierende Kritik mit- oder nachhalf, beweist der Umstand, daß er einmal im Traum ein ganz artiges Gedichtchen komponierte, das er, erwacht, aus der Erinnerung unverändert aufgezeichnet hat. Also gegeben ist auch dieser Fall, und es bleibt nur die Frage, wie der Vorgang hier näher zu bestimmen und aus allgemeinen psychischen Gesetzen zu begreifen sei. Denken wir zurück an die früher von uns behandelte und offenbar bereits in etwas ähnliche Aufgabe, wo wir nach der Erklärung der genialen Entstehung von Kunstwerken verlangten, die direkt aus der Natur geschöpft sind! Der Geschmack, sagten wir, zu hoher Vollkommenheit entwickelt, fühle schnell, fühle sogleich, ohne jedes Tasten das Typische, das ästhetisch Bedeutende heraus. Die Abstraktion, welche die geistvolle Nachbildung der Natur, die den Wettkampf um die Schönheit mit ihr aufnehme, von der geistlosen Abschrift unterscheide, sei dadurch wie von selbst gegeben. Unser Fall erscheint wohl in wesentlicher Beziehung als ein anderer. Jetzt liegt ja nichts vor, was sich abstrahieren ließe, jetzt muß das Schöne durch schöpferische Phantasie gebildet werden. Daß nun da sofort die Bilder kommen, wie sie für den Geschmack wünschenswert sind, ist im höchsten Grade auffallend. 8. Vielleicht meint einer, es lasse sich dies mit der großen Lebendigkeit und dem Reichtum der Phantasie bei manchen Künstlern in Zusammenhang bringen. Ihre Phantasie ist beweglicher, und mit ihr sind es Stimmungen und Affekte. Balzac sagt von sich, daß er, wenn er auf dem Trottoir einen Mann vor sich gehen sehe, der ein Loch im Rockärmel habe, sich sofort so lebhaft in ihn hinein versetze, daß er unwillkürlich an den eigenen Ärmel greife, um es zu verdecken. Auch andere berichten Ähnliches über die Lebendigkeit ihrer Phantasie und die volle Anschaulichkeit, mit welcher sich ihnen Bild um Bild in äußerster Raschheit entwickelt. Und mit den Bildern wogen bei ihnen in raschester Bewegung die Gefühle. Wenn nun auch die Ideen, welche ihnen zuströmen, nicht alle ästhetisch wertvoll sind, so sind in ihrem Reichtum doch auch ästhetisch dienliche beschlossen. Und jene besondere Empfänglichkeit, welche, wie wir gesehen, das Genie auszeichnet, schöpft sie dann, mit der ihr eigenen Sicherheit, sofort aus der Fülle heraus.
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Ist nun wohl diese Darlegung der Bedingungen für die freie geniale Schöpfung befriedigend? – Gewiß ist es unleugbar, daß alles, was eben von besonderen Gaben gewisser Künstler gesagt wurde, nicht unwesentlich in Betracht kommt. Und daraus begreift sich, warum auch der Wein für den Poeten und Musiker nicht gleichgültig ist, wie denn schon Horaz lehrt: „daß ein Gedicht, beim Wasser verfaßt, nicht könne gedeihen“; und ebenso, daß die Jugend mit ihrer enthusiastischen Erregbarkeit manchem wahre Blüten der Dichtung entlockt, der in höheren Jahren zum prosaischen Philister verdorrt, und wiederum, daß oft die Leidenschaft einem sonst armen Mund Beredsamkeit verliehen hat. Und doch dürfte der bloße Hinweis auf Lebendigkeit der Phantasie und Empfänglichkeit des Gefühls zur Erklärung nicht genügen. Wenn unter den reich zuströmenden Bildern beim genialen Künstler wie bei andern die meisten unbrauchbar wären, aber, rasch kommend und gehend, endlich einmal auch etwas mit sich führten, was der wache ästhetische Sinn dann sofort als brauchbar erhaschte, so wäre das noch keineswegs ein Vorgang, der den Berichten, wie sie uns gegeben sind, entspräche. Wer würde versucht sein, an göttliche Eingebung zu denken, wenn ihm nur ein großer Kramladen von Phantasien beschert würde, in welchem sein Gefühl sich unter vielerlei Mißfälligem das ihm Beliebende herauszuwählen hätte? Nein! als erstes und einziges – so wird uns versichert – bietet sich dem Götterliebling oft etwas so Schönes, wie es ein anderer niemals findet. Und noch mehr! Wenn wir dem genialen Künstler außer der besondern Empfindlichkeit für das sich bietende Schöne nur noch den Vorzug eines größeren Formenreichtums zuschreiben wollten, so würde ihm nicht bloß nicht jede Wahl in vielen Fällen erspart sein, sondern er würde auch kaum je anders als nach langem, geduldigem Harren der ersehnten Erscheinung habhaft werden. Ist doch das Schöne selten, so zwar, daß nach aller Wahrscheinlichkeit auch die weiteste Phantasie meist nur eine Fülle von künstlerisch Unbrauchbarem umfassen wird, wenn nicht etwas ist, was das Auftreten des ästhetisch Wertvollen vor anderem begünstigt. Dies gilt allgemein und in gesteigertem Maße bei größeren Kompositionen. Daher Goethes Wort: nichts sei fürchterlicher, als Einbildungskraft ohne Geschmack. Bei jeder Kunst, namentlich aber bei denjenigen, welche, wie die Musik, am wenigsten nachahmen, ist das Gesagte aufs leichteste einleuchtend zu machen. Man vergleiche nur einmal die Zahl aller möglichen Kombinationen der Töne, so mannigfach nach Höhe und Stärke und Klangfarbe verschieden, mit der Zahl der künstlerisch wirksamen Tonverbindungen; man wird sehen, daß
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die bloße Fülle und Lebendigkeit der Phantasie nicht genügt, die Leichtigkeit der Komposition eines Mozart oder Schubert zu begreifen. Wir werden also bei ihnen nicht bloß eine besonders reiche und lebendige, wir werden eine Phantasie annehmen müssen, welche durchgängig oder ganz überwiegend gerade ästhetisch Wertvolles bringt. In der That zeigt die Erfahrung, daß jeder Mensch besondere Eigentümlichkeiten der Ideenverbindung hat, wie eine eigene Art von Gang und eine eigene Art von Schrift, so auch eine eigene Art von Bewegung des Denkens. Gewiß wird sie bei dem einen der künstlerischen Produktion günstiger, beim andern ihr ungünstiger sein. Und wollen wir den Fällen des Genies gerecht werden, so werden wir annehmen müssen, daß sie bei gewissen künstlerisch Hochbegabten eine so glückliche sei, daß die Ideen wie von selbst in einer ästhetisch vollendeten Art auftreten. Soweit ist nun die Sache gewiß richtig und durch die beobachteten Thatsachen erwiesen. Nur ist damit noch gar wenig gesagt. Es drängt sich die Frage auf, woher denn dieser wunderbare Vorzug stamme? Man verlangt nach einem tiefer liegenden Erklärungsgrund. 9. Vielleicht wird ihn mancher in der besondern physiologischen Beschaffenheit des Gehirns nachzuweisen streben. Aber ein solcher Versuch wäre bei dem heutigen Stand der Wissenschaft mindestens verfrüht. „Wer eilt“, möchte ich hier mit Meynert sagen, „steht gar nicht mehr innerhalb der Wissenschaft.“ Wir also wollen uns bescheiden, wenn uns mit Hilfe gewisser psychologischer, wie auch immer inexakter und noch weiterer Erklärung bedürftiger Gesetze die Rückführung auf etwas tiefer liegende Wahrheiten gelingt. So sage ich denn, daß jene Phantasie darum so glücklich ist, weil sie eine gebildete ist; und wenn einer zweifelnd fragt, was ich damit meine, ob ich glaube, daß diese wunderbare Eigentümlichkeit einfach Produkt des Fleißes sei und in Proportion stehe zur vorangegangenen Belehrung und Übung, so antworte ich: keineswegs! vielmehr ist der Faktor, welcher für die Bildung der Phantasie vor allem bedeutend wird, kein anderer als der, welcher uns schon früher das geniale Entstehen derjenigen Kunstwerke begreiflich machte, die wir als direkt aus der Natur geschöpft bezeichnet haben; also die lebendige Empfänglichkeit, vermöge deren das ästhetisch Wirksame einen besonders mächtigen Eindruck macht. Die Behauptung, daß gerade in diesem Faktor auch hier der vornehmste Grund der s. g. Genialität liege, kann kaum überraschen; finden wir doch
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dasselbe Genie in beiden Klassen genial sich bethätigend. Von Rubens besitzen unser Belvedere und unsere Liechtenstein-Galerie gar manches genial ausgeführte Portrait, aber, mit der nämlichen Leichtigkeit und Genialität entworfen, auch die freiesten Kompositionen. Das Gleiche gilt von Tizian und andern großen Meistern. Da bleibt denn doch kein Zweifel, daß zwischen dem einen und anderen genialen Schaffen ein innerer Zusammenhang besteht. Entsprang das Werk dort aus der besonderen ästhetischen Empfindlichkeit, so muß diese es auch gewesen sein, welche, von Jugend auf thätig, die Phantasie zur Produktion freier künstlerischer Gebilde so wunderbar erzogen hat. Aber wie sollen wir aus dieser Gabe die Bildung der Phantasie uns verständlich machen? – Dazu bedarf es einer weiter ausholenden Erörterung. Der Verlauf unserer Vorstellungen zeigt sich von gewissen Gesetzen beherrscht, die mehr minder einem jeden bekannt sind. Manchmal kommt ein Gedanke, dessen Auftreten uns Wunder nimmt. Das ist dann ähnlich, wie wenn ein Ereignis in der Natur uns befremdet, indem es den bekannten empirischen Gesetzen zu widersprechen scheint. Wie hier, so suchen wir auch dort eine Erklärung, wir fragen uns, wie wir darauf gekommen, und nach einigem Nachdenken pflegen wir vermittelnde Glieder zu entdecken, und unser Befremden weicht, indem wir erkennen, wie aus einem Gedanken naturgemäß der andere sich ergab. Zu diesen Gesetzen gehört unter andern die Thatsache, daß, wenn eine Vorstellung, die uns kommt, unser Wohlgefallen, unser Interesse erregt, die Teilnahme des Gemütes einen gewissen Einfluß übt, der dahin zielt, sie festzuhalten. Diese Thatsache ist von vorzüglicher Wichtigkeit; die Psychologie weist nach, wie in ihr der Keim der Herrschaft des Willens über den Ideengang liege. Würden die Vorstellungen, ob interessant, ob uninteressant, ununterschiedlich uns kommen und vergehen, so würde unser Gemüt überhaupt keinen Einfluß auf den Fortgang unseres Denkens gewinnen; kein freiwilliges Festhalten, kein absichtliches Fliehen eines Gedankens wäre möglich; wir wären ein willenloses Spielzeug für die Wellen unseres Vorstellungslebens. Ein anderes Gesetz ist, daß das Auftreten einer Vorstellung ihre Wiederkehr vorbereitet. Namentlich wenn sie häufig aufgetreten ist, kehrt sie leicht und oft noch nach langen Jahren wieder; sie hat sich, wie man sagt, bleibend dem Gedächtnis eingeprägt. Auch bei diesem Einprägen ist aber die Teilnahme, die man an der Vorstellung nimmt, nicht gleichgültig. Hören wir etwas, ohne uns dafür zu interessieren, so pflegen wir es nicht zu behalten; ja, haben wir etwas hundertmal gehört und nicht darauf acht gegeben, so mag es noch immer geschehen, daß es uns dann spurlos entschwunden ist.
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Und noch mehr; die Lust an einer Vorstellung, das Interesse, das wir an ihr nehmen, bereiten nicht bloß ihre Wiederkehr vor, sondern sie begünstigen auch das Eintreten anderer, ihr ähnlicher Vorstellungen. Alle Gebiete unseres Seelenlebens sind der Gewohnheit unterworfen, und so offenbart sie auch auf dem der Vorstellung ihre Macht. Der Gewohnheit aber entspricht es, daß man sich ähnlich benimmt in ähnlichen Fällen. Wenn wir über etwas uns erzürnt haben, werden wir, wenn wir nochmals darauf kommen, infolge davon uns vielleicht noch einmal darüber ärgern, aber zugleich auch überhaupt zum Zorne geneigter sein. Ähnliches finden wir auf dem Gebiete der zärtlichen Leidenschaften; und auch auf dem Gebiet des Urteils machen wir ganz entsprechende Erfahrungen. Wir erwarten gewohnheitsmäßig Ähnliches in ähnlichen Fällen, ohne irgendwie nach der logischen Berechtigung oder Nichtberechtigung zu fragen. Und so bereiten denn auch auf dem Gebiete der Ideen die Vorstellungen, die uns kommen, nicht bloß ihre Wiederkehr, sondern auch das Eintreten von ähnlichen Vorstellungen gewohnheitsmäßig vor; ja die altüberlieferten „Gesetze der Ideenassociation“ sind, wie schon Aristoteles mit tieferem Blicke als spätere Forscher erkannte, eigentlich samt und sonders nur Fälle eines allgemeineren Gesetzes der Gewohnheit. Damit hängen sehr interessante Erscheinungen zusammen, und unter andern auch die, auf welche Hume hinwies, indem er, im Gegensatze zu dem, was man gemeiniglich annimmt, bemerkte, daß manchmal als Phantasie ein Element auftrete, das nie zuvor in einer Sinnesempfindung enthalten gewesen sei, z. B. eine Farbe, die wir nie gesehen, oder ein Ton, den wir nie gehört hätten. Denken Sie sich, es habe jemand eine Melodie oft in einer gewissen Tonart spielen hören, ein gewisser Ton dagegen sei niemals in seiner Erfahrung vorgekommen. Nun höre er die Melodie abermals, aber in einer Tonart spielen, in der sie notwendig einmal zu dem Tone, den er noch nie gehört, führen würde, doch ehe es dazu komme, breche das Spiel ab: wird er nicht imstande sein, die Melodie fortführend, den bis dahin unbekannten Ton selbst in seiner Phantasie zu erzeugen? – Sie werden, und mit Recht, dies kaum in Zweifel ziehen. Doch nicht auf solche seltenere Vorkommnisse brauchen wir hinzuweisen; schon die alltäglichsten Erlebnisse zeigen klar, daß auch auf dem Gebiet der Ideen nicht bloß Gleiches durch Gleiches, sondern auch Ähnliches durch Ähnliches vorbereitet wird. Wir erfahren, daß mancher sich nicht sowohl eine gewisse Ideenverbindung, als eine gewisse Art, Ideen zu verbinden, angewöhnt hat. Nachdem er z. B. oft Witze gemacht, kommen ihm infolge davon auch später solche Einfälle. Nachdem er lange mit jemand verkehrt
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hat, dem eine gewisse Art, sich auszudrücken, eigentümlich war, nimmt er selbst durch den Verkehr etwas von seinem Stile an. Ich sah schon manches Töchterlein, das in auffallendster Weise, aber ganz unabsichtlich, seine Mutter kopierte. Es wurden nicht die Worte wiederholt, aber die allgemeine Art und Weise war ganz unverkennbar dieselbe. Auch hier stehen wir vor einem unbestreitbaren Faktum. Wenn nun die Teilnahme, welche eine Idee oder Ideenverbindung erweckt, für ihre Wiederkehr von Bedeutung war, so wird sie natürlich auch bei der Vorbereitung ähnlicher Vorstellungen von Gewicht sein. Und ist dies klar geworden, so hoffe ich daraufhin das Phänomen, das jetzt unserer Untersuchung vorliegt, und das so rätselhaft und vielen wie ein Wunder erscheint, begreiflich machen zu können. Jenes besondere Gefühl für das ästhetisch Wirksame, von dem ich sprach, wird nämlich ganz ähnlich, wie die Teilnahme des Gemütes überhaupt, seinen Einfluß offenbaren. Es wird vor allem zur Folge haben, daß, was ästhetisch zusagt, festgehalten wird. Daher die besondere Vertiefung in das Schöne, wo es von außen entgegentritt, die uns oft bei großen Künstlern auffällt. Man erzählt von Dante, daß er einst in einen Bücherladen getreten sei, nicht in der Absicht, ein Buch zu kaufen oder in Verlag zu geben, vielmehr um den Zug des römischen Kaisers zu erwarten, der vorüberkommen sollte. Der Augenblick verzögerte sich, und da die neuerschienenen Dichtungen des Franziskaners Iacopone auf dem Ladentische lagen, begann Dante darin zu blättern und fand sich mehr und mehr von ihrer Schönheit gefesselt. Lange hatte er dabei verweilt, als es ihm doch endlich seltsam dünkte, daß der Zug noch immer auf sich warten lasse. Da er aber seine Verwunderung äußerte, lachte man über ihn, denn mit Sang und Klang und unter dem lauten Jubel der Menge waren Kaiser und Heer in seiner nächsten Nähe vorübergezogen. Nichts hatte die Vorstellungen, die sein ästhetisches Gefühl erregten, auch nur augenblicklich zu verdrängen vermocht. Doch mehr noch, auch auf das Gedächtnis wirkt die ästhetische Empfindlichkeit mächtig ein. Es ist eine bekannte Thatsache, daß dem Unmusikalischen, auch wenn er sonst nicht an Gedächtnisschwäche leidet, schon die einfachste Melodie nachzusingen unmöglich ist, während der mit Gehör, d. h. mit musikalischem Gefühl Begabte sie sofort in der Erinnerung bewahrt. Gewiß besteht hier ein causaler Zusammenhang. Und dies findet sich bestätigt, wenn wir sehen, daß bei Menschen von eminenter Empfindlichkeit für Schönheiten der Tonverbindung auch das musikalische Gedächtnis nicht selten in einem staunenswerten Maße entwickelt ist. Aus dem Leben
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Mozarts wird erzählt, daß er als vierzehnjähriger Knabe in der Osterwoche zu Rom das neunstimmige Miserere Allegris hörte, welches damals ausschließlicher Besitz der päpstlichen Kapelle war und bleiben sollte. Niemand durfte während des Anhörens eine Note davon niederschreiben, und den Musicis der Kapelle war unter Strafe der Exkommunikation verboten, eine Stimme davon aus der Kapelle wegzutragen, zu kopieren oder jemandem zu geben. Aber Mozart gegenüber erwies sich diese Vorsicht nicht als genügend. In seinem Geiste trug er die Musik mit sich hinaus und zeichnete, nach Hause gekommen, sofort fehlerfrei das ganze gewaltige Tonwerk auf. Ähnlich nun wie solche Förderung des Gedächtnisses muß sich nach den Gesetzen der Gewohnheit, welche wir zuvor namhaft gemacht, an das erhöhte ästhetische Gefühl unter Umständen noch die weitere glückliche Folge knüpfen, daß auch die Einbildungskraft ästhetisch gebildet wird. Die Ideenverbindungen, die später kommen, werden durch die früheren, die das Interesse in so hohem Maße erregten, vorbereitet, sie werden in ihrem allgemeinen Charakter ihnen ähnlich sein und darum, spontan auftretend, oft die Eigentümlichkeiten an sich tragen, die für ein Kunstwerk wesentlich sind. Auf diese Weise wird demnach die oft staunenerregende Leichtigkeit der künstlerischen Produktion auch bei Werken der freiesten schöpferischen Phantasie begreiflich. Die sogenannten Eingebungen des Genies sind also auch hier, wie keine Wunder, so auch keine Produkte unbewußten Denkens, das nach anderen Gesetzen, als denen des bewußten Denkens verlief. Sie sind die Früchte der Gewohnheit, der Übung, auf einem Boden, der, vermöge seiner Vorzüglichkeit, nach den gewöhnlichen psychischen Gesetzen notwendig besonders fruchtbar sich erweisen mußte; sie entspringen aus jenem besonderen Gefühl für das ästhetisch Wirksame. Und darum ist es auch, wie es uns von vornherein unwahrscheinlich erschien, wirklich kein Zufall, wenn jene s. g. genialen Eingebungen nur solchen zu Teil werden, welche wir mit einer eminenten Empfänglichkeit für die Schönheiten des betreffenden Gebiets ausgestattet sehen. Das also die Erklärung. 10. Und daß sie wirklich die richtige sei, das bewährt sich noch durch viele Erscheinungen, die daraus begreiflich werden. Ich habe Ihre Geduld schon zu lange in Anspruch genommen, sonst würde ich noch etwas verweilen, um zu zeigen, wie aus dem Gesagten der Fortschritt nicht bloß in den successiven genialen Leistungen ein und desselben Individuums, sondern auch in
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den genialen Schöpfungen einander folgender Künstler sich erklärt; – eine Thatsache, über die Kant sich nicht wenig wunderte. Ich würde ferner zeigen, wie es verständlich wird, daß jeder geniale Künstler seine Eigentümlichkeit hat, und wie zugleich diese Eigentümlichkeit sich ändern kann, sodaß sie successiv als eine wesentlich verschiedene erscheint. Weiter noch, wie auf das geniale Produkt des Einzelnen, das, was man Genie der Zeit genannt hat, von Einfluß sein kann, wie dies unter andern auch Goethe hervorhebt. „Je mehr das Jahrhundert selbst Genie hat, destomehr ist der Einzelne gefördert“. Und ebenso, wie auf die Eigentümlichkeit eines Genies die Eigentümlichkeit eines andern Genies in der Art einzuwirken vermag, daß man versucht wird, den Künstler wie einen Nachahmer zu betrachten, während er nur durch die Berührung mit ihm in gewisser Weise ihm congenial geworden ist. In vorzüglichem Maß bemerken wir dies ja bei Raphael und fast mehr noch bei unserm Goethe, der bald einem Shakespeare, bald wieder einem Homer und anderemale noch andern großen Dichtern, dem einen mehr, dem andern minder, congenial sich zeigt. – Das alles sei nur angedeutet, denn leicht gelingt die Ausführung dem eigenen Nachdenken. 11. Dagegen kann ich mir nicht versagen, am Schlusse dieses Erklärungsversuchs der genialen Leistungen auf dem Gebiete der Kunstwerke freischöpferischer Phantasie noch einmal die zu erklärende Erscheinung in der Selbstschilderung eines der genialsten Meister vorzuführen, die Sie jetzt, im Lichte der vorangegangenen Untersuchung, vielleicht verständlicher, obwohl noch immer staunenerregend finden werden. Ich denke hier an Mozart, der, in einem sehr merkwürdigen Briefe über vieles andere, was ästhetisch interessiert, insbesondere aber über seine Art zu produzieren sich ausspricht. Ein gewisser Baron hatte ihm ein paar Flaschen guten Weins zugeschickt und dadurch Mozart in die beste Stimmung versetzt. Auch etliche musikalische Werke eigener Komposition hatte er beigelegt und ihn um sein Urteil darüber gebeten. Mozart, um zu zeigen, wie dankbar er sei, sucht allen Wünschen des adeligen Herrn nach Möglichkeit gerecht zu werden. Nachdem er in andern Punkten es gethan und dabei seinem Freimut nichts vergeben hat, kommt er auf das, worum es dem Manne hauptsächlich zu thun war, zu sprechen. Der Baron wollte nämlich wissen, wie Mozart es mache, so wunderbare Kompositionen zustande zu bringen und ihnen den eigentümlich mozartischen Charakter zu geben. Hören Sie, wie Mozart antwortete. „Nun komme ich“, sagt er, „auf den allerschwersten Punkt in Ihrem Briefe und den ich lieber gar fallen ließ, weil mir die Feder für so was nicht zu Wil-
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len ist. Aber ich will es doch versuchen, und sollten Sie nur was zu lachen darin finden. Wie nämlich meine Art ist beim Schreiben und Ausarbeiten von großen und derben Sachen nämlich? – Ich kann darüber wahrlich nicht mehr sagen, als das; denn ich weiß selbst nicht mehr und kann auf weiter nichts kommen. „Wenn ich recht für mich bin und guter Dinge, etwa auf Reisen im Wagen, oder nach guter Mahlzeit beim Spatzieren, und in der Nacht, wenn ich nicht schlafen kann, da kommen mir die Gedanken stromweis und am besten. Woher und wie, das weiß ich nicht, kann auch nichts dazu. Die mir nun gefallen, die behalte ich im Kopf und summe sie wohl auch vor mich hin, wie mir Andere wenigstens gesagt haben. Halt’ ich das nun fest, so kömmt nur bald Eins nach dem Andern bei, wozu so ein Brocken zu brauchen wäre, um eine Pastete daraus zu machen, nach Kontrapunkt, nach Klang der verschiedenen Instrumente etc. etc. etc. Das erhitzt mir nun die Seele, wenn ich nämlich nicht gestört werde; da wird es immer größer; und ich breite es immer weiter und heller aus; und das Ding wird im Kopf wahrlich fast fertig, wenn es auch lang ist, so daß ichs hernach mit Einem Blick, gleichsam wie ein schönes Bild oder einen hübschen Menschen im Geist übersehe, und es auch gar nicht nacheinander, wie es hernach kommen muß, in der Einbildung höre, sondern wie gleich alles zusammen. Das ist nun ein Schmauß! Alles das Finden und Machen geht in mir nur wie in einem schönstarken Traume vor: aber das Überhören, so alles zusammen, ist doch das Beste. „Was nun so geworden ist, das vergesse ich nicht leicht wieder, und das ist vielleicht die beste Gabe, die mir unser Herr Gott geschenkt hat. Wenn ich nun hernach einmal zum Schreiben komme, so nehme ich aus dem Sack meines Gehirns was vorher, wie gesagt, hinein gesammelt ist. Darum kömmt es hernach auch ziemlich schnell aufs Papier; denn es ist, wie gesagt, eigentlich schon fertig und wird auch selten viel anders, als es vorher im Kopf gewesen ist. Darum kann ich mich auch beim Schreiben stören lassen; und mag um mich herum mancherlei vorgehen: ich schreibe doch, kann auch dabei plaudern, nämlich von Hühnern und Gänsen, oder von Gretel und Bärtel u. dgl. „Wie nun aber über dem Arbeiten meine Sachen überhaupt eben die Gestalt oder Manier annehmen, daß sie mozartisch sind, und nicht in der Manier irgend eines Andern: das wird halt eben so zugehen, wie daß meine Nase eben so groß und herausgebogen, daß sie mozartisch und nicht wie bei andern Leuten geworden ist! Denn ich lege es nicht auf Besonderheit an, wüßte die meine auch nicht einmal näher zu beschreiben; es ist ja aber wohl
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bloß natürlich, daß die Leute, die wirklich ein Aussehen haben, auch verschieden voneinander aussehen, wie von außen, so von innen. Wenigstens weiß ich, daß ich mir das Eine so wenig als das Andere gegeben habe. „Damit lassen Sie mich aus für immer und ewig, bester Freund, und glauben Sie ja nicht, daß ich aus anderen Ursachen abbreche, als weil ich nichts weiter weiß. Sie, ein Gelehrter, bilden sich nicht ein, wie sauer mir schon das geworden ist. Andern Leuten würde ich gar nicht geantwortet haben, sondern gedacht: mutschi, buochi quittle? Etsche malappe Mumming“1. 12. Hiermit schließt Mozart seine Darlegung und hiermit schließe auch ich meine Erörterung derjenigen künstlerischen Werke, die man am meisten als Schöpfungen des Genies bezeichnet hat, und fasse das Resultat unserer ganzen Betrachtung zusammen. Welches ist die Antwort auf unsere Frage? – Wir haben die verschiedenen Gebiete durchmustert, wo man von genialen Erscheinungen spricht. Den weiten Abstand, der den Schachspieler vom Dichter und musikalischen Komponisten trennt, haben wir durchmessen, überall war die Antwort die gleiche. Keine Eingebung eines höheren Geistes haben wir in ihnen zu erblicken; immer führt die tiefere Untersuchung auf Fähigkeiten, die, der Art nach übereinstimmend, in allen Menschen gefunden werden, und auf Ideenverbindungen, die nach denselben Gesetzen wie bei uns erfolgen. Es giebt kein unbewußtes Denken, welches beim Genie zum bewußten hinzukäme. Im Gegenteil finden wir das Genie in gewissen Fällen nur weniger denkend sich bethätigen, indem es eines Teiles der Arbeit, nämlich der kritischen Nachbesserung, wegen der Vorzüglichkeit der ersten Gedanken überhoben ist. Hienach erweist sich der Abstand zwischen Genie und gemeinem Talent geringer, als man häufig glaubt. Und in der That besteht zwischen dem einen und andern keine Kluft, sondern wir finden Zwischenformen, und jeder größere Unterschied erscheint durch Übergänge vermittelt.
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Dieser Brief ist, wie Jahn nachweist, zweifellos an einigen Stellen überarbeitet, doch aller Wahrscheinlichkeit nach in seinem wesentlichen Gehalte echt. Jahn selbst (vgl. O. Jahn, Mozart III, Leipzig 1858, S. 505) glaubt, daß ein Brief von Mozarts Hand zu Grunde gelegt worden. Goethe ist entzückt von den treffenden und nicht bloß von der Musik sondern auch „von allen übrigen Künsten“ gültigen Bemerkungen, die offenbar nur aus der Erfahrung des großen Tondichters geschöpft werden konnten.
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13. Aber fern sei es von mir, durch diesen Nachweis die geniale Gabe in Ihren Augen herabsetzen oder den Enthusiasmus, den große Männer in Ihnen erregt haben, kühlen zu wollen. Im Gegenteil, wenn ihr Denken, wenn ihr Schaffen der Art nach wesentlich wie das unsrige war, so läßt dies mehr, als die verbreitete irrige Auffassung jene bevorzugten Geister als die unseren erscheinen. Und für das Eigene, für das Verwandte liebt ja das Herz am meisten mit freudiger Begeisterung zu schlagen. Wir freuen uns, daß Goethe ein Deutscher war; wir freuen uns, daß Mozart ein Österreicher war, wir sind stolz auf sie als die unsrigen. Aber das wäre ein Wahn, wenn sie nicht vor allem Menschen wie wir, sondern eine Art von Übermenschen gewesen wären, oder ein fremdes x spukend alles Große in ihren Werken gewirkt hätte. Was Göttliches in ihnen war, lebt auch in uns, wenn es auch nicht in so heller Flamme lodert, und es ist eben das, was uns an ihnen Wohlgefallen finden läßt. Denn hier, wenn irgendwo, gilt das Wort des Dichters mit voller Wahrheit: „Wär’ nicht das Auge sonnenhaft, Wie könnten wir das Licht erblicken? Lebt’ nicht in uns des Gottes eigne Kraft, Wie könnt’ uns Göttliches entzücken?“
Das Schlechte als Gegenstand dichterischer Darstellung Vortrag gehalten in der Gesellschaft der Litteraturfreunde zu Wien
Hochgeehrte Versammlung! 1. Die Gesellschaft der Litteraturfreunde hat mich zu einem Vortrage geladen; sie rief einen Philosophen, und ich kann nicht wohl annehmen, daß sie anderes wünschte, als daß er als Philosoph in ihrer Mitte erscheine. Wie aber soll dies geschehen? Wollten Sie etwa nur hören, zu was für Aufschlüssen über dieses, jenes Problem ich in Stunden einsamer Betrachtung gelangt zu sein glaube? – Damit wäre Ihnen wohl wenig gedient; denn was für einen Wert könnte es haben, wenn die bunte Fülle mannigfach sich widersprechender Meinungen, von welchen die Geschichte der Philosophie erzählt, Ihnen um ein paar arme Kleinigkeiten vermehrt würde? Soll der Abend irgendwie gewinnbringend sein, so werde ich nicht bloß Ihnen über meine Philosophie berichten, ich werde vor und mit Ihnen selbst zu philosophieren versuchen müssen. In der That hat jeder, der kein absoluter Philister ist, – und ein Freund des Schönen in der Litteratur, wie könnte der ein Philister sein? – etwas vom Philosophen in sich, und daran werde ich mich halten. 2. Alles Philosophieren – schon Platon und Aristoteles haben es erkannt – entspringt aus dem Staunen. Man stößt auf eines der großen Rätsel, an welchen die Welt so reich ist, und wenn man nicht stumpfen Geistes ist, so verwundert man sich darüber und begehrt mit unruhigem Herzen nach seiner Lösung. So wird man Philosoph und erzeugt auch wohl andere Philosophen; denn, wo es zu keiner Lösung kommt, da vererben sich Frage und Staunen von Geschlecht zu Geschlechte. Auch mit Bezug zur schönen Litteratur gilt, was ich sage. Paradoxe Erscheinungen, welche schon die Alten in Aufregung setzten, haben noch heute keine allgemein befriedigende Erklärung gefunden. Und eine solche hatte ich im Auge, als ich ankündigte, ich wolle das Schlechte als Gegenstand dichterischer Darstellung zum Vorwurf unserer Betrachtung nehmen. Der Dichter, wie jeder Künstler, sucht uns Vorstellungen von vorzüglichem Werte zu erwecken und uns diesen Wert recht fühlbar zu machen. Nun ist unter den Vorstellungen in mehrfacher Rücksicht die eine der anderen innerlich überlegen. Die anschaulichere ist wertvoller als die minder anschauliche, die reichere – namentlich wenn sie ob dem Reichtum nichts an Klarheit und Übersichtlichkeit verliert – wertvoller als die ärmere, und
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wiederum die Vorstellung des Besseren wertvoller als die des minder Guten und des Schlechten. Gerade auch dieser letzte Satz scheint unzweifelhaft1. Wenn dem nun so ist, so müssen wir erwarten, daß es auch im Hinblick auf die Erzeugnisse der Dichtkunst sich bewähren werde. Es wird allerdings nicht ausgeschlossen erscheinen, daß einzelne Male ein Dichter auch Schlechtes uns vor Augen führt; aber im großen und ganzen, und insbesondere auch in jenen Werken, welche wir am allerhöchsten schätzen, – da sollte man denn doch meinen, müsse weitaus überwiegend das Gute den Gegenstand dichterischer Darstellung bilden. Was aber finden wir thatsächlich? Ist es nicht vielmehr das gerade Gegenteil? Wenn wir zunächst auf die Werke der Gegenwart achten, auf die Romane, welche die meisten Auflagen erleben, auf die Schauspiele, welche vor anderen Parterre und Loge füllen und zu rauschendem Beifall hinreißen, so beschäftigen sie sich überwiegend mit mißgestalteten Charakteren, ja mit widerlich pathologischen Zuständen. Wie sollte man nun dies mit dem Gesetze, daß die Vorstellung des Besseren allgemein gesprochen die wertvollere sei, in Einklang bringen können? Vielleicht antwortet einer, diese Erscheinung dürfe uns nicht eben sehr beirren; sie sei nur Folge einer augenblicklichen Entartung des Geschmackes, wie sie bei dem steten Fluß aller Dinge, und insbesondere bei der Unmöglichkeit wahrhaft ruhigen Bestandes auf dem Gebiete des Lebendigen, notwendig von Zeit zu Zeit eintreten müsse. Auch die Darstellung des Schlechten komme manchmal sozusagen in die Mode. Der Geschmack in seinem proteusartigen Wechsel verwandele sich in eine Art von haut gout. Und leider sei dies gerade gegenwärtig der Fall; am Gesunden gleichsam übersättigt, wende man sich mit Vorliebe dem widerlich Krankhaften zu; man beweist dadurch aber nichts anderes, als daß man eben selbst ein krankhaftes Gelüsten habe. Hoffentlich werde die Epidemie nicht lange dauern, und bildende wie redende Kunst bald wieder Werke erzeugen, wie sie allein den Namen der „schönen Kunst“, der „schönen Litteratur“ entsprächen. 1
Dem entspricht es, wenn die alten Griechen den sittlich und geistig hochstehenden Mann nicht bloß als einen guten, sondern auch als einen durch seine Güte schönen, als einen ȁǸȂȆȁɎǺǸǿˇȉ betrachteten. Auch wir Moderne pflegen eine edle That als eine schöne That zu bezeichnen. Und eine verbreitete Philosophenschule, die Herbart als ihren Meister verehrte, wollte neuerlich das Wesen des Sittlichen geradezu als die eigentümliche Schönheit gewisser Willensverhältnisse begreifen.
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Was man da sagt, dem dürfte wohl eine gewisse Wahrheit innewohnen; und insbesondere kann man kaum widersprechen, wenn geltend gemacht wird, daß der Geschmack manchmal auf Abwege gerate, und daß darum die Erscheinungen einer einzelnen Epoche, und ob es selbst unsere eigene wäre, für sich allein nicht maßgebend werden dürften. Aber was finden wir denn, wenn wir, über das uns Nächstliegende hinaus, auf das Ganze der Litteraturgeschichte; und was, wenn wir im besonderen auf jene Epochen blicken, welche allgemein als die goldenen Zeiten der Dichtkunst gefeiert werden? – Seltsamerweise scheint auch in ihnen das Schlechte in ganz überwiegendem Maß den Gegenstand dichterischer Darstellung zu bilden. Und das dürfte dann doch als eine ernste, ja vielleicht unüberwindliche Objektion gegen die These, daß die Vorstellung des Wertvolleren, allgemein gesprochen, selbst die wertvollere sei, betrachtet werden. Machen wir uns die Thatsache im Hinblick auf die zwei Gattungen, die schon Aristoteles als die vorzüglichsten der Dichtkunst bezeichnete, nämlich die Tragödie und Komödie anschaulich. Zunächst, wie steht es mit der Komödie? – Der Komiker liebt das Lächerliche vorzuführen. Dieses aber scheint etwas Verkehrtes. Man sagt: „lächerlich dumm“, „lächerlich feig“, „lächerlich plump“; nicht aber: „lächerlich verständig, tapfer, gewandt“ oder dgl. Der komische Dichter zeigt uns Niedriges, Tölpel, Trunkenbolde, Thoren, Schelme, Mißverständnisse und neckische Zufälle, welche den Klügsten zu Schanden machen. Auch der komische Maler thut ähnliches, sei es ein humoristischer Niederländer, wie Teniers, sei es ein satirisch-karikierender Franzose in einem illustrierten Pariser Witzblatte. So haben manche – und schon Platon und Aristoteles gehörten zu ihnen – das Lächerliche geradezu als eine Klasse des Häßlichen fassen wollen. Und auch Schopenhauer, der es als eine plötzlich erkannte Subsumtion unter einen falschen Begriff definieren will, so eigentümlich neu seine Bestimmung erscheinen mag, hat es dadurch doch ebenso klar als etwas Schlechtes und Verkehrtes gekennzeichnet. Auch sagt Aristoteles, daß die Komödie uns schlechtere Menschen darstelle, als sie uns im Leben zu begegnen pflegten; und, wenn nicht allgemein, dürfen wir dies doch jedenfalls für die Werke des genialsten Komikers der attischen Bühne, ja vielleicht aller Zeiten, nämlich für die des Aristophanes, als zutreffend erachten. Doch weiter! Wenn es so mit der Komödie sich verhält, wie steht es denn mit der Tragödie, von der Aristoteles sagt, daß sie uns bessere Menschen als das gemeine Leben zur Anschauung bringe? – Es scheint, daß weder dieses in uneingeschränktem Sinne gemeint sein kann, noch überhaupt es hier
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leichter ist, die Erscheinungen mit dem höheren Wert der Vorstellung des Bessern in Einklang zu bringen. Der Tragiker schildert uns nicht allein Tugend und andere edle Thätigkeiten, Akte der Weisheit und staatslenkenden Klugheit und Kraft, sondern auch, und überwiegend, lasterhafte Verworfenheit und verderbliche Verblendung, ja die Nacht des Wahnsinns. Und wenn er uns Tugend zeigt, so zeigt er sie oft in Leiden und Untergang, wie z. B. Sophokles die Antigone, und Euripides den edeln Hippolytos; also auch in diesem Falle Schlechtes, wenn man – wie es ja von uns geschehen muß – das Wort in seinem vollen Umfang nimmt, wo es alles das mitbegreift, was uns mit Recht unlieb ist und, wo es sich verwirklicht, uns mit Recht betrübt. Würde uns in diesem Sinne die Tragödie nicht ganz überwiegend Schlechtes bieten, wie wäre es gekommen, daß das Wort „tragisch“ als eine Bezeichnung für schweres, tief ergreifendes Unglück verwandt wird, und daß unsere deutsche Sprache den griechischen Namen Tragödie geradezu durch Trauerspiel wiedergiebt? – Wollte man den Ausdruck „tragisch“ ähnlich wie den Ausdruck „komisch“ auf Bildwerke übertragen, so würde man darum gewiß am meisten solche Gemälde tragisch nennen, welche uns den Zorn des Achilleus, die Sündflut, Schreckensscenen aus der Zeit der Revolution, den leidenden Erlöser am Ölberg, an der Geißelsäule, im Gerichtshof, am Kreuz, oder auch anderer heroischer Männer Tod zur Anschauung brächten. Und nach dem allem, was sollen wir sagen? Scheint es nicht, als ob die Tragödie noch viel mehr als die Komödie sich im Widerspruche mit dem zeige, was sein müßte, wenn in Rücksicht auf die Güte, das Lieb- und Wünschenswerte dessen, was vorgestellt wird, die Vorstellung selbst eine Zu- und Abnahme ihres Wertes erführe? – In der That wurde die Tragödie, mit dem hohen Wert, den man ihr beilegte, früher schon und mehr noch als die Komödie als ein schwer zu erklärendes Paradoxon angestaunt. Und jedenfalls kann die Ausrede, daß die reiche Aufnahme dessen, was uns normaler Weise widerstrebt, in den Gegenstand dichterischer Darstellung sich aus einem verderbten haut gout begreife, bei Erscheinungen von so allgemeiner Wahrheit unmöglich mehr als berechtigte Erklärung zugelassen werden. So faßt uns denn jetzt, wo wir mit raschem Blicke das rätselhafte Phänomen abermals in seiner ganzen Größe überschaut haben, wohl auch abermals ein gerechtes Staunen. Und damit haben wir dann den ersten Schritt zum Philosophieren glücklich gemacht. Wir müssen nun aber sehen, wie es uns gelingen werde, weiter zu schreiten, bis zu dem Punkt, wo das Rätsel
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sich löst, und das Staunen der Unwissenheit in dem beglückenden Gefühl gewonnenen Verständnisses untergeht. 3. Leider beengt die Stunde und verpflichtet uns, auf das Allerwesentlichste uns zu beschränken. Und so werde ich zwar keine der beiden Kunstgattungen ganz unberücksichtigt lassen können, aber doch mit vorzüglicher Sorgfalt bei der höheren verweilen; denn ist hier die Schwierigkeit gelöst, so wird, a majori ad minus schließend, wohl keiner mehr ihre allgemeine Lösbarkeit bezweifeln. Daß die Tragödie der Komödie gegenüber die höhere Kunstgattung sei, wird allgemein anerkannt. Man kann ihr Verhältnis etwa in folgender Weise2 bestimmen. Die tragische Kunst ist die im eminenten Sinne ernste Kunst; die komische die scherzende. Hat sie einen ernsteren Gehalt, so giebt sie ihn doch spaßend und spielend, und ist nur insofern komisch. Die tragische Vorstellung ergreift, imponiert; die komische dagegen macht gewissermaßen frei und entlastet. Jene sucht zu einer Arsis, diese zu einer Thesis der Seele zu führen. Sie strebt nicht, wie die tragische Vorstellung, nach einer Erhebung, bei welcher das Gemüt in seinen tiefsten Tiefen erregt wird; sie durchbricht vielmehr ernstere Gedankenreihen und löst mächtigere Bewegungen sozusagen in einem Wellenspiele auf, das nur die Oberfläche kräuselt. Unterhaltung, hohes Wohlgefallen mögen beide gewähren, aber nur die Unterhaltung, die der Komiker giebt, wird eigentliche Erholung sein, und nur das Wohlgefallen, das er erweckt, wird sich als Lachen äußern. Die tragische Kunst liebt daher den großen Stil, führt Heroengestalten vor; die komische thut das Gegenteil, oder wenn sie den großen Stil versucht und Helden- und Göttergestalten auftreten läßt, so thut sie es nur, um jenen zu parodieren und über diese sich lustig zu machen. 2
Ich bitte den Leser, nicht mit mir zu rechten, wenn ich den Begriff des Tragischen hier etwas anders, und weiter fasse, als es üblich ist. Wichtiger als eine genaue Übereinstimmung mit dem Herkömmlichen erscheint die Übereinstimmung mit den wesentlichen Klassenunterschieden, die in der Natur selbst vorgezeichnet sind. Nicht das klägliche Geschick, die Großheit der dargestellten Persönlichkeit und ihres Erlebnisses, der Kothurn sozusagen, auf welchem Held und Schicksal dahinschreiten, bezeichnen den tiefgreifendsten Unterschied einer Klasse von Dramen gegenüber denen, welchen dieser erhabene Charakter fehlt. Das Leiden ist freilich ein sehr häufiges Annex, das ich im Vortrag in dieser seiner Häufigkeit verständlich zu machen suche.
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Man begreift hiernach die höhere Würde des Tragischen; aber auch daß das Komische neben ihm sein Recht hat, so gewiß es gut ist, daß die Seele zwischen Arsis und Thesis wechselt, und jede der beiden durch ästhetischen Reiz veredelt wird. Es geht aber zugleich daraus hervor, daß das Tragische nicht einfach gleich dem Traurigen, das Komische nicht schlechthin gleich dem Verkehrten oder Lächerlichverkehrten ist. Da diese nun doch thatsächlich eine so große Rolle darin spielen, so fragt man sich umsomehr, worin dies seinen Grund habe? Wie gesagt ist die Frage, soweit sie die Tragödie anlangt, die ungleich wichtigere, sie ganz besonders hat die Forscher in Verlegenheit gesetzt, und mit ihr hauptsächlich wollen wir uns darum beschäftigen. Was das komische Gebiet anlangt, so bieten sich dagegen leicht gewisse erklärende Gesichtspunkte dar. 4. Die Komödie ist der Thesis der Seele geweiht. Diese Thesis aber vollzieht sich selbstverständlich insbesondere leicht bei der Hinwendung zum Geringen, Niedrigen. Bald spöttisch, bald auch mit einem wohlwollenderen Gefühl der Superiorität blickt man auf das Schwache, Kindische, Gemeine. Schon indem man es in seiner Niedrigkeit schaut, fühlt man sich selbst in dem Augenblick relativ erhaben. Man wird heiter gestimmt. Und tritt das Niedrige plötzlich und in überraschendem Kontrast hervor, so äußert sich die Heiterkeit in einem Lachen, welches durch die Rückwirkung angenehmer Mitempfindungen, welche die Erschütterung des Zwerchfells erregt, das wohlgefällige Gefühl noch steigert. Das Bedürfnis sich zu erheitern und einmal wieder von Herzen zu lachen, macht also die Vorführung des Schlechten in der Komödie in dem erwähnten weiten Umfange begreiflich. Zugleich aber ist hier noch anderes zu beachten. Welche Fülle von Verkehrtem auch in der Komödie vorgeführt werden mag, gewöhnlich kommt doch die Handlung zu einem wünschenswerten Abschlusse. Wie viel dies für unsere Frage bedeutet, wird durch das Sprichwort: „Ende gut alles gut“, das Shakespeare einem seiner Lustspiele zur Aufschrift gab, genugsam ausgesprochen. Einzelne Fälle freilich scheinen dem entgegen, wie z. B. Molière’s George Dandin und sein Misanthrop. Mir wenigstens gelingt es nicht, mich darüber zu erlustigen, wenn ich lese, wie der arme Dandin, von seinem adeligen Gemahl betrogen, an seinem Recht und Glück verzweifelnd, sich ums Leben bringen will, oder der moralisch überempfindliche Alcest, mit seinen besten Freunden und aller Welt zerfallen, die Gesellschaft der Menschen flieht. Viel-
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leicht kam – Molière pflegt sehr mit diesem Moment zu rechnen – die Darstellung auf der Bühne dem lustigen Effekt zu Hilfe; oder das Temperament des Parisers besaß damals – wie ja auch heute noch – ungleich mehr als das meine vom esprit moqueur, und dieser reagierte schon auf die so gegebene Anregung. Jedenfalls aber gilt für diese Komödien, was auch vom Reineke Fuchs und ähnlichen Fabeldichtungen gesagt werden muß, daß das klare Hervortreten der Nutzanwendung, wenn auch das „fabula docet“ nicht ausdrücklich beigefügt erscheint, das eigentlich Abschließende in dem Gedichte ist. Und insofern dieser Abschluß gut und erwünscht ist, erhält wieder das Sprichwort „Ende gut alles gut“ seine rechtfertigende Anwendung. Wie lebhaft man sich auf diese Weise befriedigt, und wie mächtig dazu bestimmt fühlen kann, den ganzen, im übrigen so übel verlaufenden Fall als etwas wünschenswertes und erfreuliches zu begrüßen, das bezeugt der Misanthrop selbst, wo Molière ihn in der Ewartung einer handgreiflich ungerechten Verurteilung alles Ernstes sagen läßt: „J’aurai le plaisir de perdre mon procès.“ Ja noch mehr: „Je voudrai m’en coûtat il grand’ chose Pour la beauté du fait avoir perdu ma cause.“ Also auch in diesen Fällen kann, recht verstanden, von einem glücklichen Abschlusse gesprochen werden. 5. Außerdem ist aber für unsere Frage immer im Auge zu behalten, daß der besondere Wert einer Vorstellung nicht einzig und allein von der Güte dessen, was vorgestellt wird, bedingt ist. Wenn eine komische Vorstellung Niedriges zum Inhalt hat, und dies (wie auch Aristoteles anerkennt) in gewissem Betracht ihren Wert verringert, so mag und wird der Komödien-dichter, wenn er ein wahrer Meister ist, doch dafür sorgen, daß sie aus anderen Rücksichten besonders wertvoll bleibe. Insbesondere wird sie, trotzdem sie uns Niedrige zeigt, gehaltvoll sein können, indem das, was uns vorgeführt wird, einen typischen Charakter hat. Der Dichter macht uns in dem einzelnen prägnanten Fall eine ganze Klasse von Erscheinungen, er macht uns ein specifisches Gesetz, ja vielleicht mit ihm und in ihm auch allgemeinere psychologische Naturgesetze, die, wie hier das psychisch Niedrigste, andere Male
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das Höchste beeinflussen, offenbar, oder er macht uns in dem Typus einer Regelwidrigkeit, den er uns vor Augen stellt, die Regel selbst anschaulich. Beidemal haben wir einen großen Gehalt in spielender Form. Man kann sagen, daß sich hierauf der Unterschied von Humor und Satire zurückführen lasse. Jener macht das psychologische Naturgesetz, diese die (ethische, logische, ästhetische oder was immer sonst betreffende) Regel anschaulich. Vom Humoristen sieht man sich oft gern, vom Satiriker immer nur ungern gezeichnet. Der Humorist zeigt uns eben unsern Fehler als etwas natürlich Begreifliches und darum Verzeihliches; der Satiriker dagegen als etwas Chokantes, ja in seiner Verkehrtheit schier Unglaubliches. Je mehr er die Regelwidrigkeit uns empfindlich machen will, umsomehr unterläßt er daher zu zeigen, wie die Natur selbst uns dazu führt. Daher jener eigentümliche Gegensatz zwischen einem Shakespeare, der als Komiker vornehmlich Humorist, und einem Molière, der (ähnlich wie im Altertum Plautus und Terenz) vorzüglich Satiriker ist. Es fällt sofort auf, daß Molière die Fehler, die er schildert, relativ sehr wenig erklärt. Er giebt nur eine Statik, nicht eine Dynamik der menschlichen Charaktere. Wie die Personen zuerst auftreten, so verlassen sie auch zuletzt noch die Bühne. Nichts aber wäre verkehrter, als ihm daraus, unter Hinweis auf Shakespeare, einen Vorwurf zu machen, da vielmehr die einschneidende Kraft der Molièreschen Satire wesentlich hiedurch bedingt ist. Aber wie groß auch in dieser Hinsicht der Gegensatz zwischen dem einen und andern Dichter sein mag, darin, sehen wir doch, stimmen beide überein, daß, wenn sie erheiternd bei Verkehrtem und Niedrigem uns verweilen lassen, sie dem Ganzen der Vorstellung, wie durch einen wünschenswerten Abschluß der Handlung, so auch durch anderes, und insbesondere durch einen bedeutenden Gehalt einen hohen Wert zu geben wissen. Und so haben wir denn wohl genug gesagt, um, was die Komödie betrifft, die ohnehin nicht die höchste Gattung des Dramas zu sein beansprucht, das erhobene Bedenken zu erledigen. 6. Wenden wir uns jetzt dem zweiten und wesentlicheren Teil unserer Aufgabe zu! Wie läßt sich das Prinzip, daß die Vorstellung des Besseren, allgemein gesprochen, wertvoller sei als die des minder Guten und Schlechten mit dem, was die tragische Bühne uns tatsächlich bietet, in Einklang bringen? Die Lösung des Rätsels erscheint hier besonders darum erschwert, weil die Tragödie als die höchste Gattung der Dichtung gilt. Die Tragödie will zu einer Arsis der Seele führen; sie will uns erheben. Man möchte also in der
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tragischen Darstellung die höchsten, edelsten, seligsten, wir können sagen, die gottverwandtesten Erscheinungen erwarten. Weit davon entfernt zeigt sie uns ganz überwiegend Jammer, Untergang – und oft der Trefflichsten – und Leidenschaft, Verbrechen, Wahnsinn. Dazu kommt noch ein anderes Paradoxon. Während in der Komödie, bei aller Verkehrtheit des Einzelnen, das Ganze wenigstens eine Art von befriedigendem Bilde gewährt, scheint dies hier nicht, oder doch nur in den seltensten Fällen gegeben. Die Ereignisse führen meist zu einer tiefschmerzlichen Katastrophe; der Beschauer verläßt das Haus mit trauererfüllter Seele. 7. Es giebt eine Theorie des Trauerspiels, welche, von großen Denkern begründet, noch heute hoch in Ansehn steht, und die, wenn sie richtig wäre, die eben berührte Schwierigkeit etwas gemildert erscheinen ließe. Ich meine die berühmte Lehre von der tragischen Schuld. Schon Aristoteles forderte, daß der Held, den das Verderben treffe, zwar kein gemeiner Verbrecher, bei dem die Teilnahme ersterbe, aber doch ein Übelthäter sein müsse, damit nicht sein Leiden, als ein geradezu grausames Geschick, unser Gefühl empöre. Seitdem, und bis auf unsere Tage, wird die Behauptung vielfach wiederholt. Aber dieser Lehrsatz, mehr aus psychologischer Reflexion als aus direkter Beobachtung entnommen, ist mit dem, was die Kunstgeschichte wirklich zeigt, sicher unvereinbar. Schon Corneille, unfähig seine eigenen Erfahrungen damit in Einklang zu bringen, suchte ihn umdeutend zu beseitigen. Und wenn er unter dem Gesichtspunkt philologischen Verständnisses dabei den Tadel Lessings vollauf verdient, so gebührt ihm ob seiner dichterischen Einsicht umsomehr unser hohes Lob. Nicht bloß seine Werke, sondern auch einige der herrlichsten Schöpfungen schon der attischen Bühne selbst widersprechen der Regel, und ebenso klar zeigen Shakespeares wunderbarste Dichtungen sich damit unverträglich. Ein paar Beispiele dürften diese Ihnen vielleicht auffällige Behauptung außer Zweifel setzen. Wenn irgend ein Werk des Sophokles unsere Bewunderung verdient, so ist es gewiß seine Antigone, die einst Athen zu solcher Begeisterung hinriß, daß man den Dichter jeder Auszeichnung würdig hielt und ihn sogar neben Perikles zum Feldherrn gegen Samos wählte. Nun wohl! Die Heldin dieses Stückes stirbt, sie wird lebendig begraben, nicht infolge eines Frevels, den sie verübt, sondern infolge einer der edelsten, selbstlosesten Handlungen. Sie verfällt dem schrecklichen Lose, weil sie in Wort und That der Über-
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zeugung Ausdruck giebt, daß das göttliche Gebot mehr als das menschliche auf Gehorsam Anspruch habe. Kein Christ und auch kein Freidenker, der echt menschlich sittlich fühlt, kann ihr hier entgegen sein; wie denn Goethe in den Gesprächen mit Eckermann erklärt, daß das Recht ganz auf ihrer, das Unrecht ganz auf Kreons Seite sich finde, s. g. Staatstugend im Widerspruch mit der Tugend im allgemeinen, sei nicht Staatstugend sondern Staatsverbrechen. Ich erinnere mich allerdings eines Professors, der in seinen Vorträgen die Sache anders als Goethe beurteilte. Kreon, meinte er, habe wohl durchaus unrecht, Antigone aber zugleich recht und unrecht gehabt: recht, insofern sie bei dem Konflikte zwischen göttlichem und menschlichem Gesetze dem göttlichen Gehorsam leistete; unrecht aber, insofern sie ebendadurch gegen das menschliche Gesetz verstieß. Auf diese Art brachte er dann die Tragödie mit dem angeblichen Erfordernis einer tragischen Schuld glücklich in Übereinstimmung. Sie werden indes, fürchte ich, seinen Scharfsinn kaum bewundern, und am Ende gar glauben, seine Worte hätten nur gezeigt, daß der gelehrte Herr, wie aufs Tragische, auch aufs Komische sich wenig verstanden habe, indem er nicht bemerkte, wie er mit solcher Weisheit sich lächerlich machte3. 3
Vielleicht verfällt jemand, der in dem Benehmen der Antigone schlechterdings etwas Tadelnswertes suchen will, auf den Gedanken, ihr eine gewisse Härte, die sie in dem einleitenden Gespräch Ismene gegenüber zeigt, zum Vorwurfe zu machen. Vielleicht meint er sogar, Ismene solle uns nach der Absicht des Dichters das Bild echt weiblich sich bescheidender Tugend gegenüber dem männisch sich selbst überhebenden Charakter der Schwester darstellen. Einen solchen erlaube ich mir wiederum auf Goethe zu verweisen, der (a. a. O.) mit seinem überlegenen Verständnisse die Motive des Dichters ganz anders erklärt, und gerade daraufhin der Scene die größte Bedeutung beimißt. „Da Sophokles uns das hohe Innere seiner Heldin auch vor der That zeigen wollte, so mußte noch ein anderer Widerspruch [als Kreon]* da sein, woran sich ihr Charakter entwickeln konnte, und das ist die Schwester Ismene. In dieser hat der Dichter uns nebenbei ein schönes Maß des Gewöhnlichen gegeben, woran uns die ein solches Maß weit übersteigende Höhe der Antigone desto auffallender sichtbar wird.“ Es ist wahr, manches Wort der Antigone scheint herber, als Ismene es verdient; aber in diesem Nichtverstehn der schwächeren Schwester verräth sich wieder die innere Hoheit; die Ungleichheit macht das Verständnis unmöglich. Auch bedenke man die Erregung des Augenblicks. Eben erst hat sie Kunde erlangt von der Schmach, die ihren Bruder getroffen, und eben steht sie im Begriff zur Abwehr dieser Schande ein Wagnis zu unternehmen, von dessen Größe der entsetzliche Ausgang genugsam Zeugnis giebt. Wer wollte da wegen eines in der Aufwallung gesprochenen Wortes ernstlich mit ihr rechten? *
Die Ergänzung in eckigen Klammern stammt von Brentano.
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Als ein weiterer Beleg soll uns ein Stück des Euripides dienen. Dieser gewaltige Tragiker, der in seiner ganzen Weise Sophokles so vielfach eigenartig fremd gegenübersteht, zeigt gerade da, wo er sein Vorzüglichstes, seinen Hippolytos schafft, mit unleugbarster Klarheit, daß ihn die Regel von der tragischen Schuld ebensowenig wie jenen beengt. Sie kennen gewiß im wesentlichen den Verlauf der Handlung, wenigstens aus der Nachbildung, die Racine in seiner Phädra giebt. Die Fabel ist dieselbe; nur ist, wie der Unterschied der Benennung andeutet, bei Racine Phädra, bei Euripides Hippolytos die Hauptfigur, was ich hervorhebe, weil die Theorie der tragischen Schuld nur für die Hauptfigur zu gelten Anspruch macht. Aber Euripides nicht anders, ja noch viel mehr als Racine, zeigt ihn als unschuldig und mit jeder Tugend geschmückt, als einen reinen, hochherzigen Jüngling, dessen heiligem Andenken zu Trözene in ewig wiederkehrender Feier die Jungfrauen eine Locke ihres Haares weihen. Und gerade seine Tugenden, seine Keuschheit, seine Treue werden sein Verderben; vom Fluche des getäuschten Vaters getroffen, sehen wir ihn in jammernswerter Weise untergehen4. Und nach so klaren Zeugnissen aus dem Altertum, nun auch eines aus der Neuzeit, von dem wir sagen dürfen, daß es ihnen ebenbürtig zur Seite stehe; nämlich Shakespeares bewundertes Trauerspiel „Romeo und Julie“. Dieses Werk, meine ich, müsse jedem, der die Absicht des Dichters nicht völlig mißversteht, was Shakespeare betrifft, die Augen öffnen. Wir haben hier die lockige Unschuld vor uns. Kein Verbrechen lastet auf dem liebevollen und liebenswürdigen jungen Paare. Die Kirche hat segnend ihre Hände zu rechtmäßiger Ehe verbunden. Und doch raubt das bitterste Verhängnis ihnen erbarmungslos Glück und Leben. Heimlich und gegen den Willen der Eltern haben sie sich vermählt. Aber nicht unkindlicher Sinn, nur der Eltern gegenseitiger leidenschaftlicher Haß hat sie dazu getrieben. Vielleicht wird ein Pedant dennoch hier ein Verbrechen wittern, das Sühne fordert. Aber wie völlig würde er die Meinung des Dichters verkennen! Da 4
Es bedarf kaum der Bemerkung, daß die Vernachlässigung der Kypris durch Hippolyt, die im Anfange des Stückes den Diener ob der möglichen Erbitterung der Göttin besorgt macht, von dem Dichter nicht als eine wahre Schuld gedeutet wird. Kypris erscheint in dem Stücke nicht als eine edle und verehrungswürdige, sondern vielmehr als eine schändliche Gestalt, so zwar, daß Theseus am Ende geradezu in die Worte ausbricht: „Stets bleib’, o Kypris, Deiner Schmach ich eingedenk.“
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ist kein Wort, worin sich ein Gefühl der Mißbilligung verriete. Vielmehr fühlt der Dichter und erweckt auch in uns nur die höchste Sympathie für den Jüngling und das Mädchen, die in ihrer Liebe über die Schranken des Familienhasses sich hinwegsetzen und in ihrem Tode sie siegreich stürzen; denn die feindlichen Väter reichen, von allzuspäter Reue ergriffen, über den Leichen der Liebenden sich die Hände zur Versöhnung5. Weg also mit dieser Theorie der tragischen Schuld! Sie besteht in der Poesie so wenig als in der bildenden Kunst, wo sie doch wohl schon durch jedes Gemälde eines gekreuzigten Christus genugsam widerlegt wird. Von ihr, unhaltbar wie sie ist, kann uns also auch in unserer Verlegenheit keine Hilfe kommen.
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Soll ich noch ein anderes Beispiel aus Shakespeare erbringen, so trage ich kein Bedenken, sogar seinen Julius Cäsar als solches geltend zu machen. Das Stück sollte eigentlich den Namen „Marcus Brutus“ führen; denn er ist, wie auch allgemein anerkannt wird, der wahre Held des Trauerspiels. Freilich wird mancher meinen, wenn in irgend einem Falle, so sei gerade hier die tragische Schuld ersichtlich; Brutus sei ja der vornehmste von Cäsars Mördern. Aber wie mancher auch des Brutus That als eine Unthat verdammen mag, Shakespeare hat es nicht gethan. Er folgt sichtlich der Auffassung des Plutarch, der den Brutus in dieser, wie in allen seinen Handlungen, nur von den edelsten Trieben geleitet sieht. Cäsars Erscheinung schreckt ihn nicht; die Androhung des Wiedersehens bei Philippi beantwortet er mit dem männlich würdigen Worte: „Gut, ich soll dich wiedersehn.“ Ehe er sich in sein Schwert stürzt, spricht er in edelem Stolz: „Ich habe Ruhm von diesem Unglückstage, Mehr als Octavius und Marc Anton Durch diesen schnöden Sieg erlangen werden.“ Und die Feinde selbst müssen seiner makellosen Tugend huldigen. „Dies war der beste Römer unter allen“, sagt Marc Anton, … „Nur er verband aus reinem Biedersinn Und zum gemeinen Wohl sich mit den Andern. Sanft war sein Leben, und so mischten sich Die Element in ihm, daß die Natur Aufstehen durfte, und der Welt verkünden: Dies war ein Mann!“ Und Octavius: „Nach seiner Tugend laßt uns ihm begegnen, Mit aller Achtung und Bestattungsfeier“ u. s. w.
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Und zudem würde die Theorie, auch wenn sie begründeter wäre, kaum ausgereicht haben, durch den Hinweis auf das Gut einer gewissen Harmonie zwischen Schuld und Unglück, das die Tragödie zeigt, alle die Übel, die, teils in dem innern Verderben, teils in dem äußern Wehgeschick uns dargestellt werden, zu kompensieren, so daß in der Hinordnung zu diesem Zwecke ihre Zulassung gerechtfertigt erschiene. Wir müssen also nach anderen Erklärungsgründen forschen. 8. Da das, was in der Tragödie vorgestellt wird, so wenig wünschenswert und erfreulich erscheint, so legt dies den Gedanken nahe, daß jene Erklärungsgründe nicht sowohl in der Vorzüglichkeit des Gegenstandes, als in der Rücksicht auf ein besonderes Bedürfnis des Publikums zu suchen seien, dem nur durch solcherlei Vorstellungen entsprochen werde. In der That hatte sich ja bei der Komödie ein ähnlicher Gesichtspunkt als einer der fruchtbarsten erwiesen, um uns das weite Bereich, das dem Schlechten, dem Niedrig-verkehrten in ihr eingeräumt wird, erklärlich zu machen. Sollte etwa der Mensch, wie er zeitweise ein Bedürfnis fühlt, sich zu erheitern, und sich nach der Komödie sehnt, um einmal recht von Herzen zu lachen, auch zeitweise ein Bedürfnis fühlen nach etwas, was ihn schmerzlich aufregt, und sich nach der Tragödie sehnen wie nach etwas, was dies in wirksamster Weise vollbringt, und sozusagen ihm dazu verhilft, einmal recht von Herzen zu weinen? – Wir rühren hier an einen Gedanken des Aristoteles, der hinsichtlich der Tragödie nicht sowohl von einer Arsis, als von einer Katharsis der Seele spricht. Katharsis bedeutet Reinigung. Lessing glaubte darum, daß Aristoteles hier eine sittliche Besserung im Auge habe. Wir wissen heute, daß er ihn mißverstanden hat. Vielmehr dachte Aristoteles an eine Reinigung der schwülen Seele, in welcher so zu sagen elektrische Kräfte in latentem Zustand angesammelt sind, durch den Gewittersturm von Mitleid und Grauen. Der Ausbruch dieser Affekte sei mit einer eigentümlichen Art von Lust verbunden, und die Seele fühle sich nach ihm erleichtert und gewissermaßen genesen. In dem, was der feine Denker hier sagt, liegt gewiß viel Wahrheit. Doch ist seine Lehre so fragmentarisch auf uns gekommen, daß ich nicht weiß, wie weit wir seinem Gedanken in der vollen Ausführung beizupflichten vermocht hätten. Halten mir uns an der Sache selbst, so scheinen mir hier in Analogie zu dem, was von einem besonderen Bedürfnisse nach den Reizen der Komödie galt, namentlich zwei Fälle zu unterscheiden.
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Man kann, wenn man in wenig heiterer Stimmung ist, nach den Scherzen des Komikers verlangen, um sich aufzuheitern. Und man kann, gerade weil man schon in heiterer Stimmung ist, sich besonders disponiert fühlen, den Komiker als eine gleichgestimmte Seele aufzusuchen, um durch seine Scherze der eigenen Heiterkeit noch vollends die Krone aufzusetzen. Ähnlich, sage ich, mögen wir zwei Zustände besonderen Bedürfnisses unterscheiden, denen die schmerzlichen Erregungen der Tragödie entsprechen. Der eine ist gegeben, wenn lange kein Affekt, wie die, welche die Trauerspiele erregen, in uns gewaltet hat. Das Vermögen dazu verlangt so zu sagen wieder nach einer Bethätigung, und nun bringt sie das Trauerspiel, und wir fühlen die Aufregungen zwar schmerzlich, aber doch zugleich wie eine wohlthuende Stillung des Bedürfnisses. Weniger an mir selbst als an andern, die z. B. den Zeitungsbericht über eine neue Mordthat mit Begier verschlangen, glaube ich hundertfach solche Beobachtungen gemacht zu haben. Der andere Zustand ist dem eben geschilderten in gewisser Weise entgegengesetzt. Eine Lage, die besonders disponiert, ist nämlich auch dann gegeben, wenn man bereits in tiefem Leide ist, und insbesondere, wenn man im eigenen Leben ähnliches Traurige erlitten hat, wie das, was auf der Bühne spielt. Trauernde lieben traurige Melodien, wie Heitere heitere Gesänge lieben. So giebt es auch ein Austrauern des Schmerzes am Herzen des tragischen Dichters. Und die Farben seiner Poesie verklären dann wohlthuend das eigene Leiden. Indem ich dies sage, gedenke ich persönlicher Erfahrungen. So war einmal durch solche, die ich für Freunde genommen, mein Vertrauen schwer getäuscht worden. Da griff ich zum Philoktet des Sophokles, wo dem Helden ein ähnliches Schicksal widerfährt. Nie zuvor hatte ich die Wirkung des Stückes so mächtig empfunden; Thränen füllten meine Augen, und ich fühlte sie als Wohlthat. Diese Disposition ist vielleicht eine edlere, die andere dagegen dürfte sich als die allgemeiner verbreitete bezeichnen lassen. Doch mit alledem, was ich da ausführte, ist zwar wohl etwas gesagt, aber es ist doch gewiß nicht entfernt ausreichend, um die aufgeworfene große Frage gebührend zu beantworten. Wenn die Tragödie, trotz der Fülle des Schlechten, das sie in ihre Vorstellung aufnimmt, als die höchste Gattung der Dichtkunst begreiflich werden soll, so müssen noch andere und tiefer liegende Momente gesucht werden. Es muß unter dem dreifachen Gesichtspunkt: erstens des besonderen Wertes des Gegenstandes,
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zweitens der Möglichkeit vollkommener künstlerischer Fassung und Bearbeitung, und drittens der Empfänglichkeit des Zuschauers dadurch bewegt zu werden, sich herausstellen, daß in jedem Betracht die tragische Kunst richtig verfährt, indem sie dem unverdienten Leiden, dem Verbrechen, der Verirrung und anderem Übel einen so breiten Raum gewährt. 9. Fassen wir zunächst die Frage unter dem ersten Gesichtspunkt ins Auge. Der innere Wert der Vorstellung, sagten wir, wachse mit dem Werte des Gegenstandes. Welches ist nun der erhabenste Gegenstand einer Vorstellung, welche eine künstlerische Behandlung zuläßt? – Offenbar kann es kein transcendenter; es muß ein Gegenstand möglicher Erfahrung sein. Und da ist denn klar, daß das höchste Objekt die Weltentwickelung in der Geschichte ist, dieses gewaltige Ereignis, in das wir alle verflochten sind, und in dem der erleuchtete Sinn das Walten der Gottheit verehret. Der Mensch aber ist der vorzügliche Träger der Weltgeschichte, und aus den Schicksalen der Menschen setzt sie sich zusammen. Die Erscheinungen also, welche in die menschliche Natur und das menschliche Schicksal und die weitgreifenden Wirkungen desselben den tiefsten Blick gewähren, sind der höchste Vorwurf der Kunst. Das aber sind die Erscheinungen der heroischen Menschen und ihrer Kämpfe; und diese also muß die tragische Kunst uns anschaulich machen, wenn sie uns das Höchste bieten will. Und sie muß es thun mit poetischer Naturtreue und muß es thun mit einer gewissen Vollständigkeit hinsichtlich der wesentlichen Formen der Erscheinung. Sie wird uns also diese Heroen in Verirrungen wie auf rechtem Wege, in Leiden und Untergang wie in Glück und Erhebung zeigen. Dabei wird für das Maßverhältnis, in welchem sie das eine oder andere bringt, wohl hauptsächlich die Zahl der wesentlichen Formen, die Mannigfaltigkeit der Typen, die darunter gehören, bestimmend sein. Nun ist offenbar, was die Typenzahl anlangt, die Zahl der Typen der Verirrungen und Verderbnisse unvergleichlich größer. Es giebt eine Gesundheit und viele Krankheiten; und die Störung in einem edeln Organe kann bei der Wechselbeziehung aller zu einer eigentümlichen Zerrüttung des ganzen Organismus führen, so daß der hoch entwickelte Fall symptomatisch in fernabliegenden Erscheinungen sich verrät. Es giebt eine Wahrheit und viele Irrtümer; und der Irrtum in einem wesentlichen Punkte kann in eigentümlich verderblicher Weise unser ganzes Denken infizieren. Ebenso giebt eine leidenschaftliche Verirrung dem ganzen innern Menschen einen besonde-
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ren Charakter, dessen Eigentümlichkeit der Dichter uns in einer typischen Gestalt anschaulich macht. Etwas Ähnliches, wie hinsichtlich der Charaktere, gilt hinsichtlich der Schicksalslose der Menschen bezüglich der Frage, ob was sie thun und was sie leiden in gerechtem Verhältnisse stehe. Es ist dies nie oder höchst selten der Fall; und so auch nicht bei heroischen Naturen. Will also der Dichter das Walten des Schicksals mit Naturwahrheit und, in der Mannigfaltigkeit seiner Werke, mit einer gewissen Totalität anschaulich machen, so kann er nicht immer jene poetische Gerechtigkeit üben, die manche unvernünftig genug verlangt haben6.
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Wenn Aristoteles eine tragische Schuld als notwendig erachtet, so ist er doch weit davon entfernt, sie darum zu fordern, damit das Leiden des Helden als eine gerecht verhängte Strafe sich darstelle. Im Gegenteil meint er, der Held solle trotz des begangenen Fehlers eines so harten Loses unwürdig (ɾȄdzȅȀȆȉ) erscheinen, weil uns unverdientes Mißgeschick wirksamer zum Mitleid bewege. Indessen bin ich selbst weit davon entfernt, zu bestreiten, daß poetische Gerechtigkeit vom Dichter gefordert werden könne und solle. Ja nicht bloß in Bezug auf die Hauptfigur, sondern in aller und jeder Beziehung scheint sie mir unerläßlich. Nur glaube ich, daß sie in etwas ganz anderem bestehe, als worin man sie sucht. Ein vergleichender Blick auf das, was wir in andern Künsten finden, mag hier am meisten aufklärend wirken. Kann nicht auch ein Maler gerecht und ungerecht sein? – Gewiß! Aber nicht, wenn er Unschuldige leiden läßt, werden wir sagen, daß er gegen die künstlerische Gerechtigkeit verstoße, sondern, wenn er, statt mit der Unschuld und dem Edeln überhaupt zu sympathisieren und dem Beschauer die gleichen erhabenen Gefühle einzuflößen, sich dafür fühllos zeigt, oder gar das Schlechte in irgendwelchem Sinne in seinem Werte mit einem falschen, berückenden Schein umkleidet. Gar mancher Dichter hat ähnlich gegen die Gerechtigkeit sich vergangen, und dann stets zum Nachteil seines Werkes auch in ästhetischer Hinsicht. Die größten Tragiker zeigten sich dagegen immer auch in dieser Beziehung bewundernswert. Wir sprachen von Antigone, die Sophokles uns schildert, wie sie dem unverdientesten Wehe anheimfällt. Und doch, wie übt er nicht Gerechtigkeit gegenüber dieser edelsten seiner Gestalten! – In allen – jene kritischen Pedanten, von denen wir gesprochen, vielleicht nicht einmal ausgenommen – weiß er Liebe und Bewunderung zu wecken. Und ob sie Kreon gegenüber unterliege, sie, nur sie triumphiert, und die Sache, die ihr heilig ist, triumphiert in allen Herzen. Ihr Untergang erhöht die Teilnahme, und ebenso thut es der in Wahrheit rührendste Augenblick, wo sie, von allen verurteilt, schier an sich selbst zu zweifeln beginnt; wo sie sich gewissermaßen selbst verläßt, und so dem Gefühle aller zur Pflicht macht, lebendiger noch für sie einzutreten. Und alsbald erfaßt auch Kreon selbst ob seinem „gerechten“ Spruch ein Grauen. Er widerruft; er möchte alles ungeschehen machen; und seine härteste Buße ist, daß er ohnmächtig vor einer Thatsache steht, für deren Verwirklichung er noch eben seine ganze Willenskraft und Königsmacht einsetzte.
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Der tragische Dichter mag trotz der Ungerechtigkeit, von welcher die Welt voll ist, eine erhabene Weltansicht, den Glauben an ein göttliches Walten sich wahren und jedes Leben Teil einer gerechten, heiligen Weltordnung begreifen. Ja er soll es, und es wird wohl thun, wenn er es bei seinem Werke durchfühlen läßt. Aber er wird nicht den natürlichen Gang des Schicksals und die Formen des Schicksale, wie sie die Geschichte zeigt, fälschen. Der Tragiker wird nicht, wie der Komödiendichter in seinem Stücke ein Weltganzes in spielender Kleinheit geben. Er giebt eine ernste Pars pro Toto, dessen erhabene Majestät er uns aufs mächtigste fühlen läßt. Jenes wäre ein schlechter Ersatz; wir hätten eine kleinliche Providenz, die immer gleich mit der Zuchtrute und dem Prämienbüchlein hinterdrein liefe. Viel erhabener ist der wirkliche Weltverlauf mit seinen Zulassungen von Verbrechen und unschuldigen Leiden; ein größeres Ganze bestimmt, und tausend Jahre sind hier wie ein Tag. Die Reinheit der Motive wird dadurch am meisten möglich, und auch im Trauerspiel am meisten sichtbar und überzeugend. Die Naturtreue in der Darstellung der Typen des menschlichen Glückes wie der menschlichen Natur verlangt also das, was wir wirklich bei den Tragikern finden. Weit entfernt, daß uns der Tragiker in der Weise, wie er verfährt, ein geringeres Objekt böte, gewährt er uns vielmehr nur so in genügendem Umfange den Einblick in das Erhabenste, was überhaupt Kunst zu veranschaulichen vermag. 10. Etwas ähnliches ergiebt sich unter dem Gesichtspunkte, von dem aus wir an zweiter Stelle unsere Frage beleuchten wollten, nämlich unter dem der Möglichkeit vollkommener künstlerischer Fassung und Bearbeitung. Dazu ist nötig die Anlehnung an die Natur. Der Maler bedarf des Studiums der Natur, sonst werden Kopf, Landschaft, Faltenwurf, kurz alles und jedes manieriert, flach, schal, interesselos. Auch der Dichter bedarf der Modelle, der Zeichnungen nach dem Leben; sonst giebt er kein wahres Leben. Man erwäge auch folgendes. Das echte, gehaltvolle künstlerische Werk macht, das wußte schon Aristoteles, das Gesetz im einzelnen Falle anschauIn diesem Sinne ist auch Shakespeare durchwegs ein Muster poetischer Gerechtigkeit. Eichendorff, bei dem ich mich überhaupt freute hinsichtlich der besprochenen Frage den erleuchtetsten Anschauungen zu begegnen, hat dies in seiner Abhandlung „Zur Geschichte des Dramas“ rühmend hervorgehoben. Weder Romeo und Julie, noch Julius Cäsar, noch irgend ein anderes von Shakespeare’s Werken bildet eine Ausnahme; Licht und Schatten finden sich in ihnen allen aufs gerechteste verteilt.
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lich; und oft und mit Recht wurde gesagt, daß ein doppelter Weg zu ihm führe. Der Künstler geht entweder vom Konkreten aus und übt an ihm künstlerische Abstraktion, oder er geht aus vom Allgemeinen und giebt der Idee die versinnlichende Umkleidung. Von Goethe wissen wir, daß er den ersten, von Schiller, daß er den letzteren Weg zu gehen pflegte. Der erstere aber ist derjenige, welcher erfahrungsgemäß und leicht begreiflicher Weise mit dem meisten Erfolg betreten worden ist. Die eigentümlichen Schwächen, die Schiller in seinen Werken zeigt, ihr Mangel an treuer Objektivität und empirischer Fülle hängen wesentlich mit seiner Methode zusammen. Alle diese Erwägungen zeigen uns, daß uns in glücklicher und lebensvoller Darstellung der Dichter nur solche Ereignisse bieten kann, wie sie bei der jetzigen Weltlage im wesentlichen auch in der Erfahrung gegeben werden. Wohl soll uns die Tragödie die Vorstellung von dem Herrlichsten geben, das wir kennen und ahnen, von der Größe der menschlichen Natur und der Erhabenheit der Gottheit und ihres ewigen Waltens. Aber soll sie uns dieses Walten an einem etwa denkbaren Abschlusse der Weltgeschichte, soll sie uns die menschliche Natur zu vollendeter Tugend und Seligkeit erhoben zeigen? – Das kann sie nicht, und das soll sie darum auch nicht. Sie zeigt uns den Menschen, wie er jetzt lebt und strebt; wie das Edle in ihm mit dem Unedlen und wie seine Kraft, nach außen gekehrt, mit den feindlichen Mächten des Lebens ringt, und wie all sein Wollen doch nur eine flüchtige Welle ist im Meere der Unendlichkeit. Der Geist Gottes aber schwebt über den Wassern. Der Gang der Kunst, besonders aber die Geschichte der bildenden Kunst, zeigen, daß sie, wenn sie kühn damit anhebt, Überirdisches darstellen zu wollen, später zum Irdischen herabsteigt. Dies ist kein künstlerischer Niedergang, vielmehr kommt sie erst so aufsteigend zu ihren herrlichsten Erzeugnissen. Sie wird wohl in gewissem Sinne realistischer, aber solange dieser Realismus ein Ideal-Realismus, kein gemeiner Realismus ist, liegt darin eine entschiedene Vervollkommnung. Dem Idealen, dem Schönen ist es nicht abträglich, sondern nur zuträglich, daß der Künstler nunmehr an einem Stoffe, den er wahrhaft zu beherrschen vermag, sein Genie bethätigt. Und soviel von dem zweiten Punkte. Nach dem bisherigen ist es also, wie mir scheint, bereits aus doppeltem Grunde dargethan, warum die Kunst großen Stils ihre Vorwürfe so wählt, wie sie es wirklich thut. Sie bildet uns die Typen heroischer Charaktere und Schicksale heraus, wie sie dieselben in der Welt wirklich findet; und so sind ihr die traurigen Stoffe zu Werken großen Stils, wenn wir nach Typen zählen, jedenfalls zahlreicher gegeben.
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11. Nun aber noch ein Wort von dem dritten Gesichtspunkte aus, den wir als wesentlich bezeichnet haben. Ein weiterer Erklärungsgrund für das besprochene Verfahren des Tragikers sollte sich noch in Rücksicht auf die Empfänglichkeit derer ergeben, für welche der Künstler schafft. Er führt Heroengestalten vor, mit welchen wir sympathisieren und durch das lebhafteste Interesse verbunden sein sollen. Damit ihm dies gelinge, müssen wir dieselben begreifen; und dies ist durch den Abstand der heroischen Persönlichkeit von der des gewöhnlichen Zuschauers wesentlich erschwert. Da zeigt sich nun vor allem die poetische Naturtreue wieder ganz besonders unerläßlich, damit das fremde vermöge seiner allgemein menschlichen Wahrheit zugleich als eigenes erkannt werde, und alles früher geforderte kehrt wieder. Noch anderes aber ist unter diesem Gesichtspunkte zu bemerken. Es ist eine Thatsache der Erfahrung, daß das Leiden im allgemeinen mehr als das Glück unsere Teilnahme herausfordert. Die Natur hat dies weislich so eingerichtet, weil dort Änderung not thut, Hilfe angesprochen wird, während hier die an und für sich gute Lage von selbst und so zu sagen nach dem Gesetz der Trägheit fortbesteht. Das macht sich nun auch in der Kunst recht fühlbar. Man vergleiche nur eine traurige mit einer jubelnd triumphierenden Tonweise, oder man vergleiche die Wirkung, die ein Gemälde auf uns übt, welches uns einen Christus am Kreuze zeigt, mit dem, was uns bewegt, wenn wir auf einem anderen ihn sehen, wie er mit der Auferstehungsfahne siegreich emporschwebt. Gewiß fühlen wir uns dort viel mächtiger ergriffen; und wenn dies teilweise unter dem früheren Gesichtspunkte sich erklärt, so ist der Unterschied doch sicherlich und zu wesentlichem Teil auch auf unsere größere Erregbarkeit beim Anblick der Not und des Leidens zurückzuführen. Finden wir die Unschuld verkannt, die Tugend mißachtet, Geist und Verdienst unbillig zurückgesetzt, so regt sich in uns ein Drang, ihnen Ersatz zu leisten; und haben wir nichts anderes zu bieten, so spenden wir ihnen wenigstens den Tribut unserer wärmeren Liebe und Verehrung. Wenn mir hören, daß der große Laplace zum Pair von Frankreich, zum Grafen und Marquis ernannt wurde, so läßt uns das ziemlich kalt; wenn wir aber erfahren, wie Kepler, der nicht Geringeres vollbracht, nichts von solchem Lohn geerntet hat, ja erbarmungslos dem Hunger preisgegeben wurde, und wie seine beschränkten Mittel ihm nicht einmal den Besitz eines Exemplars seiner eigenen, unsterblichen Werke gestatteten, so fühlt unser Herz
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sich mächtig bewegt, und wir sehen sein Verdienst in einem Glanze strahlen, den alle seine großen Titel Laplace nicht zu geben vermocht haben. Und wenn wir, statt auf das Leiden der Trefflichen, auf das der Schuldbeladensten blicken, so zeigt sich noch immer Ähnliches. Wie oft hat es nicht jeder von uns erfahren! Ein Verbrechen wird verübt, und mächtig und allgemein regt bei der Kunde sich das Gefühl der Entrüstung. Der Verbrecher wird gefangen; er soll gerichtet werden: da keimt sofort das Mitleid; man beginnt an Milderungsgründe zu denken; man studiert das, was vorausgegangen; man begreift besser infolge der Teilnahme und nimmt wieder mehr teil, weil man besser begreift. Auch bringt das Leiden den Heros, der sonst unnahbar stand, uns näher. Insofern er leidet, ist er schwach; insofern er schwach ist, ähnelt er uns Schwachen, und wir fühlen für ihn mehr in der Art, wie wir für uns selber fühlen. Pascal bemerkt einmal in seiner geistvoll tiefen Weise, es scheine ihm von symbolischer Bedeutung, daß der auferstandene Christus sich nur an seinen Wundmalen habe berühren lassen. So, glaube ich, erkennen wir unter dem dritten Gesichtspunkte dasselbe, was uns die beiden früheren Betrachtungen erklärt haben, als vollauf gerechtfertigt. Fragt man im besonderen, warum die Tragödie nicht allein dem Leiden reichlich Raum gewähre, sondern gemeiniglich auch mit einem Ereignisse schließe, das uns tief schmerzlich erschüttert; so ergiebt sich gerade auch hiefür jetzt die Antwort leicht; denn das Stück endet so am meisten mit einer Arsis, während es sonst mit einer Art Thesis schließen würde. Und ist dieses auch nicht unbedingt unstatthaft, wie die Eumeniden des Äschylus, der Philoktet des Sophokles, sein Ödipus in Kolonos und mit ihnen so manches andere antike und moderne Meisterwerk anschaulich zeigen, so begreift man doch, daß der Dichter häufiger das Gegenteil bevorzugt hat. Doch auch noch andere Momente kommen unter dem Gesichtspunkte der Empfänglichkeit in Rechnung; und insbesondere dürfte sich die folgende vielleicht sogar mehr als die eben durchlaufene Betrachtung sofort einem jeden in ihrer Bedeutung fühlbar machen. Der tragische Dichter, sagten wir, zeige uns heroische Naturen und ihre Kämpfe. Diese im besondern darum, weil im Kampf am meisten die Kräfte sich offenbaren. Der Maler, der uns in seinem Werke nur eine Scene bietet, mag für solchen Kampf den Augenblick vollen Triumphes wählen; er zeigt uns die Göttin, die siegreich den Apfel emporhält; er zeigt uns Judith mit dem Haupte des Holofernes in Händen. Aber der tragische Dichter, selbst
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wenn er uns Kämpfe schildert, die von glücklichem Ausgang gekrönt werden, darf uns nicht den Augenblick des Sieges allein darstellen; er muß uns den Verlauf des Streites selbst vor Augen führen. Die Tragödie fordert eine beträchtliche Länge. Schon Aristoteles hebt dies als wesentlich hervor, und gewiß mit gutem Rechte; denn mehr und mehr lebt sich der Beschauer in das Ereignis hinein und wird davon im Gemüte ergriffen. Aber diese Länge verlangt dann Wechselfälle der Lage, indem sonst das Gefühl sich vielmehr nur abstumpfen würde. Und wiederum sagt uns die Psychologie, daß dies bei den freudigen Empfindungen mehr noch und schneller als bei den traurigen der Fall sein müßte. Wir folgen darum dem zweifelnden Streben des Forschers mit dauernderem Interesse, als wir bei der entdeckten Wahrheit zu verweilen vermögen7. Die Entwickelung des Kampfes, das Schwanken des Sieges, wie immer zuletzt die Würfel fallen mögen, werden also hauptsächlich das sein, wobei der Tragiker verweilt. Damit aber ist gesagt, daß feindliche Gewalten in der Tragödie einander entgegentreten müssen. Es mag Tragödien geben ohne traurigen Ausgang; aber es kann keine geben ohne herben tragischen Konflikt, dessen Erschütterungen in der Seele noch bis zum Ende nachzittern. Und ob das Gute 7
Man kennt den Ausspruch von Lessing, worin er dem Streben nach Wahrheit vor ihrem Besitze den Vorzug giebt. Weniger bekannt ist, daß dieser Gedanke von Pascal stammt, dem Lessing ihn wie so manches andere Gute entlehnte. Ich teile die Stelle, die überhaupt für unsere Frage Interesse hat, nicht nach der ältesten Ausgabe von Bossut, sondern nach der neuemendierten von Havet (Art. VI Nr. 34) mit. „Rien ne nous plait que le combat, mais non pas la victoire. On aime a voir les combats des animaux, non le vainqueur acharné sur le vaincu. Que voulait-on voir, si non la fin de la victoire? Et dès qu’elle arrive on en est soûl. Ainsi dans le jeu, ainsi dans la recherche de la vérité. On aime a voir dans les disputes le combat des opinions; mais de contempler la vérité trouvée, point du tout. Pour la faire remarquer avec plaisir, il faut la voir faire naître de la dispute. De même, dans les passions, il y a du plaisir a voir deux contraires se heurter; mais quand l’une est maîtresse, ce n’est plus que brutalité. Nous ne cherchons jamais les choses, mais la recherche des choses. Ainsi dans la comédie, les scènes contentes sans crainte ne valent rien, ni les extrêmes misères sans espérance, ni les amours brutaux, ni les sévérités âpres.“ Man wird in dem, was Pascal hier sagt, zugleich einen Grund mehr dafür finden, warum, im allgemeinen wenigstens und für den Beginn und längeren Verlauf des Stückes, bei der Tragödie gilt, was Aristoteles sagt, daß uns in dem Helden kein vollendet verderbter Verbrecher vorgeführt werde. Daß aber auch diese Regel nicht ausnahmslose Giltigkeit habe, beweist Shakespeares Richard III., wo äußere Kämpfe, und von innern höchstens der mit den Furien, die im Traume ihn ängstigen, das Interesse wach halten.
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auch schließlich den Sieg erringe, zeitweilig jedenfalls haben wir ob seinem drohenden Untergang gebebt. Wir haben von Kämpfen des Helden nach außen, wir haben von Kämpfen in seinem Innern gesprochen, die der Dichter uns zeige. Sind es innere Kämpfe, die er uns vorführt, wie es z. B. wesentlich im Othello und im Hamlet der Fall ist, so muß uns ein Gemüt vom Zweifel zerrissen, das Edle in des Helden Brust von mächtiger Versuchung angefochten, wenn nicht Leidenschaft in wildem Kampf mit anderer Leidenschaft erscheinen. Jedenfalls wird das Bild, das wir schauen, weit entfernt sein von jener Vollkommenheit seligen Friedens, wo die Tugend und Klarheit in vollgesicherter Herrschaft thronen. Ist es aber ein Kampf nach außen, und wäre es selbst ein Kampf, wo der Held für das Gute, und schließlich siegreich für das Gute ringt, so wird er doch eben zu ringen und ringend zu leiden haben, und das Böse ebenso anschaulich vor uns stehen wie das Gute und wieder und wieder, in seiner Übermacht, uns das Ärgste dafür fürchten lassen. Immer also und immer wieder finden wir auch unter dem Gesichtspunkte der Empfänglichkeit des Beschauers neue Gründe, warum das Schlechte, warum das Traurige einen gar beträchtlichen Teil jedes tragischen Dichtwerks in Anspruch nehmen. Ich erwähne noch eines. Die Wechselfälle des Glückes, durch welche der Dichter unser Gefühl besonders frisch erhält, sind doppelter Art. Unglück kann in Glück, Glück in Unglück sich verkehren. Besonders wirksam werden Fälle sein, wo der Umschlag plötzlich erfolgt. Solches kann nun wohl in der einen wie in der anderen Richtung geschehen; besonders häufig aber trifft es sich, daß ein trauriges Schicksal rasch hereinbricht. Ein Brand zerstört in einer Stunde, was vielleicht Jahre nicht wieder aufbauen werden. „Und das Unglück“, sagt der Dichter, „schreitet schnell.“ Daher wird die tragische Peripetie häufiger vom Glück zum Unglück, als umgekehrt, stattfinden. Aristoteles erwähnt nur einer zweifachen Klasse von Tragödien; einer, bei welcher ein doppelter Umsturz, vom Glück zum Unglück, und dann vom Unglück zum Glück, und einer anderen, bei welcher nur ein einfacher Umsturz, und zwar der vom Glück zum Unglück statthabe. Immerhin zeigen Dramen wie Wilhelm Tell – und auch im Altertum fehlt es nicht an großen Beispielen –, daß wirkungsvolle Tragödien auch mit einer im wesentlichen einheitlichen Peripetie vom Unglück zum Glücke möglich sind. Daß sie seltener sind, wird uns aber nach allem, was gesagt wurde, nicht mehr wundern.
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13. Ich muß nun schließen, und freilich thue ich es mit dem Bewußtsein, daß meine Darlegung der Gründe, warum der tragische Dichter uns so viel Übles und Beklagenswertes bringt, und dies mit der Würde des Trauerspiels, als der höchsten Gattung der Dichtkunst, vollauf verträglich, ja durch sie gefordert ist, nichts weniger als erschöpfend genannt werden kann. Wie das einzelne geniale Kunstwerk durch keine wissenschaftliche Zergliederung jemals in seiner vollen lebendigen Kraft verständlich gemacht werden kann, so wird eben, und noch weit weniger, das eigentümliche Leben einer ganzen Kunstgattung durch die ästhetische Analyse in dem Reichtum seiner Beziehungen klar gelegt werden können. Was immer aber noch beigefügt werden möchte, würde den von uns erbrachten Gründen nichts von ihrem Gewichte nehmen, und so schmeichle ich mir, daß das Paradoxon, welches uns zur Untersuchung anregte, nicht mehr als solches für uns bestehe. Aristoteles sagt, der Philosoph beginne mit dem Staunen über eine rätselhafte Thatsache, er ende aber mit einem in gewisser Weise entgegengesetzten Zustande; denn nichts würde den, welcher die paradoxe Erscheinung einmal in ihren Gründen begriffen, mehr Wunder nehmen, als wenn das, was ihn anfänglich Wunder nahm, nicht wäre. Was mich betrifft, so hat sich mir dies für unsern Fall bewahrheitet. Was unmöglich schien, erscheint mir jetzt als notwendig gefordert, und zu gutem Teil durch eben das Gesetz bedingt, welches es unbegreiflich zu machen drohte. Möchte auch bei Ihnen eine solche philosophische Peripetie eingetreten sein, und darum die der langwierigen Untersuchung geschenkte Aufmerksamkeit Ihnen nicht ganz verloren erscheinen! 14. Freilich sieht sich unter meinen geehrten Zuhörern vielleicht auch dann noch mancher enttäuscht. Er hatte, da er die Ankündigung las, sich Hoffnung gemacht, etwas über das modernste Theater, über Ibsen und die Berliner freie Bühne zu hören. Aber ich hoffe, Sie werden es dem Philosophen nicht allzusehr verargen, wenn er lieber bei dem allgemeineren Problem verweilte. Noch mehr! Was der heutige Tag erzeugt, ist vielleicht – und namhafte Stimmen behaupten es – etwas Anormales; jene Erscheinungen, von welchen wir gesprochen, sind es sicher nicht. Das aber giebt ihnen eine größere Wichtigkeit. Und auch für die Würdigung der Erscheinungen neuester Zeit können sie darum aufklärend wirken. An dem Geraden, sagt in dieser Beziehung ein
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alter Denker, erkennen wir nicht bloß das Gerade, sondern auch die Krümmung als Abweichung von ihm. Soll ich aussprechen, was wir nach meiner Meinung finden würden, wenn wir so prüfend an die neuesten Produkte heranträten, so sage ich: Gewiß vieles, was anormal genannt werden muß. In Frankreich giebt es eine Malerschule, von der man sagt, sie halte es für die Aufgabe der Kunst zu zeigen, wie häßlich die Welt sei. Bei manchem Stück moderner Poesie möchte man glauben, es läge ihm eine ähnliche Auffassung zu Grunde. Das wäre eine beklagenswerte Verirrung. Auch für den Künstler, und ganz besonders für ihn, gilt Goethes Wort: „Wonach soll man am Ende trachten? Die Welt zu kennen und sie nicht verachten.“ Aber nicht allem, was der neuen Richtung angehört, möchte ich solches vorwerfen, und insbesondere auch nicht, wie manche Kritiker es thun, die Wahl der physisch und psychisch pathologischen Stoffe, auf welche sie sich wirft, unbedingt verdammen. Eichendorff wagt es zu behaupten, es gebe nichts in der Welt, was der innern Poesie entbehre, und was nicht eine glückliche Stunde des Lyrikers uns als sangbar zu erweisen vermöge. „Schläft ein Lied in allen Dingen, Die da träumen fort und fort, Und die Welt hebt an zu singen. Triffst du nur das Zauberwort.“ Wenn dies, so dürfte doch wohl gar manchem solchen Stoffe ein Dichtergenie mit seiner Zauberkraft auch ein gutes Drama zu entlocken vermögen. Und ich glaube, die Erfahrung unserer Tage hat dies bereits, und hat es reichlich bewährt. Auch wäre es umsonst, wollte ich mit meinem Worte den Stürmen Befehle erteilen; und auch kein anderer Kritiker wird der Josua sein, der Sonne und Mond Halt gebietet. Wollen wir mit unserer Kritik fördernd auf den Lauf der Dinge einwirken, so müssen wir es machen wie die, welchen die Aufgabe wird, einen Strom zu regulieren. Wenn sie weise sind, so erforschen sie die natürliche Tendenz des Stromes und helfen ihr nach, indem sie nur wilde Ausschreitungen hemmen. Sind gewisse Auswüchse beseitigt, so wird man sicher auch das Drama, das sich mit diesen Modestoffen beschäftigt, als etwas erkennen,
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was eines Idealrealismus fähig ist, und was trotz aller Aufnahme des Schlechten, das Gute in dem Gegenstande der Darstellung überwiegen lassen kann. Wessen Geschmacke aber die neue Richtung so ganz entschieden widerstrebt, daß ihn auch dies mit der Verwandlung, die unser Theater erfahren, nicht genug versöhnen kann, der mag sich immerhin auch noch etwas anderes zum Troste sagen. Wenn der Neuerungstrieb das Interesse an der Produktion von Dramen in jenem alten, großen Stil verschwinden ließ und sich diesen modernen Formen zuwandte, so wird eine Übersättigung, wie sie für jene eingetreten ist, sich auch für diese, und noch viel schneller, fühlbar machen; und eine kommende Zeit mag dann wieder eine Bühne von der edlen Erhabenheit eines Äschylus und eines Shakespeare schauen. Die gegenwärtige Bühne aber gehört notwendig dem Dichter, der mit dem gegenwärtigen Geschmacke Fühlung hat. Denn das Publikum ist nun einmal als eine Art Mitarbeiter dem Dramatiker unentbehrlich. Es spendet ihm nicht bloß belebenden Beifall, es belehrt ihn auch durch die Eindrücke, die es empfängt. Oft haben die Dichter über das Publikum geklagt und sind auch wirklich durch es behindert worden. Aber immer war doch das Hindernis zugleich die unentbehrlichste Hilfe. Die Taube, um eines Kant’schen Gleichnisses mich zu bedienen, wird durch die Luft im Fluge gehemmt; aber doch wird ihr durch sie erst das Fliegen möglich gemacht. Aus diesem und anderen Gründen scheint nur darum die neue Richtung allein der Zeit angepaßt und in ihr lebensfähig zu sein. Und so dürfen Dichter wie Ibsen nach einem ehrfurchtsvollen Blicke auf die großen Alten mit einer gewissen Zufriedenheit wohl auch auf die Werke des eigenen Genius schauen. „Lieben Freunde“, mögen sie mit Schiller sagen, „es gab schön’re Zeiten Als die unsern, – das ist nicht zu streiten! … Doch es ist dahin, es ist verschwunden, Dieses hochbegünstigte Geschlecht. Wir, wir leben! Unser sind die Stunden, Und der Lebende hat Recht.“
Das Recht auf den Selbstmord
Schönbühel bei Melk a. d. Donau, 2. September [1893] Hochgeehrte Redaction! Sie wünschen von mir zu hören, was ich über die Erlaubtheit des Selbstmordes denke, und meine Hochachtung vor Ihrem geschätzten Blatte verbietet mir, Ihre Aufforderung abzuweisen, obwohl ich nichts als altbekannte Wahrheit mitzutheilen habe. Das Leben eines Menschen, der noch imstande ist, sich durch die Rücksicht auf Gut und Böse bestimmen zu lassen – und nur in Bezug auf einen solchen hat die Frage Bedeutung – ist zweifellos ein Gut; aber es ist nicht das höchste der Güter. Daher ist es, allgemein gesprochen, gewiß zu missbilligen, wenn er selbst seinem Leben ein Ende macht; im einzelnen Falle dagegen kann die Selbsttödtung erlaubt, ja als ein Act der Tugend erscheinen: dann nämlich, wenn ein höheres Gut als das eigene Leben in Frage steht. Wenn in Walter Scott’s „Ivanhoe“, Rebecca, von dem Tempelritter bedroht, entschlossen ist, sich lieber in den Abgrund zu stürzen, als ihm in die Hände zu fallen, so hat sie nicht blos die Sympathien des edlen Dichters, sondern auch die jedes ethisch gebildeten Lesers für sich. Und die christliche Kirche selbst, wenn sie im allgemeinen die Selbsttödtung verbietet, verdammt doch nach der Lehre der vorzüglichsten Theologen keineswegs die Jungfrau, die, in der Gefahr, entehrt zu werden, sich das Leben nimmt. Man sieht also, es gilt von dem Verbot der Selbsttödtung, was von jedem secundären Moralgesetze gilt; es erleidet Ausnahmen, indem nur das Grundgesetz der ganzen Moral, daß man nämlich das höchste praktische Gut keinem anderen Gegenstande nachsetzen dürfe, eine unbedingt allgemeine Giltigkeit hat. Auch hier spreche ich wieder im Einklang nicht blos mit der Lehre der vorgeschrittensten philosophischen Wissenschaft, sondern auch jener Religion, welche seit Jahrhunderten das Bekenntniß der gebildetsten Völker und sicher allen anderen Religionen, von denen die Geschichte weiß, ethisch überlegen ist. Denn das Christentum kennt nur ein unmittelbares, höchstes Gebot und glaubt, daß dieses für die Giltigkeit aller anderen im einzelnen Falle maßgebend sei. „Von ihm hängen ab das Gesetz und alle Propheten.“ Wenn Einer verlangt, ich möge die Fälle aufzählen, in welchen ich die Selbsttödtung für erlaubt halte, so muthet er mir Größeres zu, als ich oder ein anderer Moralist zu leisten vermöchte; eine fruchtbare Phantasie könnte deren unzählige ersinnen. Um aber doch den Charakter dieser Fälle noch
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etwas anschaulicher zu machen, will ich es nicht unterlassen, noch ein zweites Beispiel anzufügen. Nehmen wir an, es sei jemand in dem Besitze eines ihm anvertrauten Geheimnisses, von dessen Wahrung die Rettung seines Herrn und Kaisers und das Heil seines Volkes abhänge; er falle nun in die Hände der Feinde; er wisse, daß diese ihm mit den entsetzlichsten Folterqualen das Geständnis zu entlocken suchen würden; und er sehe mit moralischer Gewißheit voraus, daß er zu schwach sein würde, dieser Versuchung zu widerstehen: ich sage, wenn dieser aus keinem anderen Motiv, als um die volle Sicherheit zu haben, daß sein Kaiser und Vaterland vom drohenden Verderben bewahrt bleiben, sich selber tödtet, so finde ich, weit entfernt, ihn ethisch zu verdammen, daß er als edler Patriot zu bewundern ist. Und indem ich dies sage, glaube ich, daß Wenige mir widersprechen werden. Zum Schlusse noch eine Bemerkung. Wenn die Selbsttödtung, allgemein gesprochen, ethisch verwerflich ist, so folgt daraus noch nicht, daß der Staat mit Strafen gegen solche einschreiten solle, die eines Selbstmordversuches sich schuldig machen. Wer den Tod sucht, für den wird die Androhung von Strafen, wie sie der Staat verhängt, nicht genugsam abschreckend wirken, unter denen ja die Todesstrafe selbst als das äußerste Strafmaß zu gelten pflegt. Hiermit empfehle ich mich einer geehrten Redaction und zeichne hochachtungsvoll Dr. Franz Brentano
Vorwort der deutschen Uebersetzung [Vorwort zu Alexander Herzen, Wissenschaft und Sittlichkeit. Lausanne, 1895]
„Das ist ein vorzügliches kleines Werk! – das ist ein Büchlein, wie wir es brauchen! – das soll auch unserer deutschen Jugend nicht vorenthalten sein!“ – So sprach ich zu mir selbst, als eine glückliche Fügung mich mit dem Vortrage „La Science et la Moralité“ von Alexander Herzen bekannt gemacht hatte. Sofort suchte ich den Verfasser auf und bat um die Erlaubnis zu einer deutschen Uebersetzung.1 Da erfuhr ich, daß eine solche bereits in gelungener Weise ausgeführt, ja schon unter der Presse sei. Was das von mir bezeigte Interesse anlange, sagte der Verfasser, so werde er mir dankbar sein, wenn ich durch ein begleitendes Wort die Schrift dem deutschen Leser einführe. Es ist selbstverständlich, daß ich einer so ehrenden Aufforderung mich nicht entziehe; noch dazu, wo es sich um so großes handelt; denn keine vielleicht von den besonderen ethischen Fragen ist für die Gegenwart von größerem Belang, als die hier behandelte. Nicht bloß die Veredlung des jungen Mannes, auch die Verbesserung der sozialen Stellung des Weibes hängt nach meiner Ueberzeugung innigst damit zusammen. Jedermann weiß, daß die Lage der Frauen gar viel zu wünschen übrig läßst; sie ist Gegenstand allgemeiner Teilnahme geworden, und die edelsten Geister bemühen sich aufs ernstlichste, für die vorhandenen Mißstände eine entsprechende Abhülfe zu finden. Sehr häufig aber kommen sie dabei auf Vorschläge, welche den tiefgreifenden, schon auf der Stufe des Tieres deutlich erkennbaren, psychischen Unterschieden zwischen männlicher und weiblicher Beanlagung nicht gebührend Rechnung tragen. Vollkommen jedenfalls und gründlich kann hier nicht geholfen werden, außer im Zusammenhang mit einer Hebung der Sittlichkeit im geschlechtlichen Sinne. Die ethische Verwilderung der Männerwelt, die nicht bloß edeln Dichtern, wie Björnson und Tolstoi, sondern, wie man hier sieht, auch Männern nüchternster Wissenschaft zu schwerer Klage Anlaß giebt, enthält (um einen Ausdruck von Bentham zu gebrauchen), zweifellos ein fortwährendes, schreiendes Unrecht gegen die „Condition“ des weiblichen Teils der menschlichen Gesellschaft. Das war denn auch einer von den Gedanken, die ich immer nachdrücklich geltend machte und ins volle Licht zu setzen mich bemühte, so oft ich vom Lehrstuhle herab die Frage besprach; und niemals während meiner zwanzigjährigen Lehrthätigkeit in Wien habe ich es versäumt, ihr in der „Prak1
Vom Original sind binnen Jahresfrist vier Auflagen (je 1000 Exemplare) vergriffen worden. Wie ich höre, steht auch die Uebertragung ins Englische und Russische unmittelbar bevor.
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Schriften zur Ethik und Ästhetik
tischen Philosophie“ eine längere Erörterung zu widmen. Mehr als einmal ist es nach solchem Vortrage begegnet, daß ein junger Mann ergriffen zu mir trat, um für das, was ich da belehrendes gesprochen, seinen besondern Dank mir auszudrücken. Nun wird meine Stimme dort nicht mehr erschallen, und so ist es mir denn ein wahrer Trost, zu denken, daß die Schrift, die ich hier empfehle, der zur Wiener Universität neu zuströmenden Jugend einen wesentlichen Ersatz dafür bieten werde. Auch jenen aber, die mich noch gehört, dürfte die Lesung sowohl interessant, als förderlich sein. Hatte ich meinerseits Betrachtungen eingewoben, denen sie bei Herzen nicht ebenso begegnen, so wird ihnen dafür hier von berufenster Seite gar manches ausgeführt, was ich immer nur kurz erwähnte, und in dem Maße und mit der Eindringlichkeit, wie der Physiologe, gar nicht darzulegen vermocht hätte. Descartes hat seinerzeit die Ueberzeugung ausgesprochen, daß die Medizin die Wissenschaft sei, von welcher sich die Moral die größte Förderung versprechen dürfe. Eine Zeit lang – man gedenke nur der vielen auch im Vortrag berührten ethisch verderblichen Ratschläge! – mochte es scheinen, als ob das gerade Gegenteil sich verwirklichen wolle. Aber eine Schrift, wie die von Herzen, zeigt uns das Wort des weit vorschauenden Denkers, dessen prophetische Kraft die Zukunft noch vielfach bewähren wird, schon heute in schönster Erfüllung. Und so wandere denn, von meinen besten Grüßen und wärmsten Segenswünschen begleitet, die meisterhaft gefaßte Rede Herzens meiner lieben deutschen Heimat zu! Lausanne, 6. August 1895
Franz Brentano
Epikur und der Krieg
Die „Internationale Rundschau“ hat unter dem gleichen Titel kürzlich einen Artikel gebracht, der insofern meinen vollen Beifall findet, als er betont, dass auch vom Standpunkt des extremsten Egoismus Kriegsgelüste unter keinen Umständen gebilligt werden können. Der Verfasser erkennt auch mit Klarheit die Absurdität derjenigen, welche den Staat gegenüber dem einzelnen, als ein höheres Lebewesen, für dessen glückliches Gedeihen die niederen ihr Gut und Blut hinzugeben haben, betrachtet wissen wollen, und welche deshalb auch behaupten, es sei als ein minderes Übel anzusehen, wenn ein ganzes Volk seines Glückes beraubt und den unsäglichsten Leiden preisgegeben wird, als wenn der Staat sich nicht in voller Macht erhalte, ja, aufhöre, dieselbe des weiteren noch zu vermehren. In diesem heute nur allzusehr verbreiteten Wahn liegt eine der seltsamsten Verkehrungen der Ordnung von Mittel und Zweck, da ja gewiss nicht der Mensch wegen des Staates, sondern der Staat wegen der Menschen da ist, indem jener sich gar nicht als etwas in sich selbst Gutes, sondern nur als etwas Nützliches darstellt. Ein Patriotismus, der so weit geht, dies zu verkennen, kann nicht als Tugend bewundert werden; wir müssen ihn vielmehr geradezu als eine moralische Verirrung verdammen, ähnlich dem Verhalten eines Geizhalses, welcher der Ansammlung von Reichtümern, als wären diese ein wahres Gut, ja, höheres Gut in sich, sein persönliches Glück aufopfert. Allein, wenn es verdienstlich genannt werden kann, eine in unserer Zeit vielverkannte Wahrheit aufs neue mit Nachdruck hervorgehoben zu haben, so ist es aufs höchste zu bedauern, wenn einer, wie der Verfasser des Artikels es getan, mit der Behauptung, dass vom egoistischen Standpunkt solche Ausschreitungen verurteilt werden müssten, noch die andere verbindet, dass man den Anhängern einer theistischen Weltanschauung Schuld geben müsse, sie veranlasst zu haben oder zu begünstigen. Der Verfasser hat auch nicht das Geringste vorgebracht, was einem Beweis dafür ähnlich sähe, wenn nicht etwa dies, dass jede Lehre, welche ein göttliches Prinzip annimmt, indem sie das Gebiet der Erfahrung überschreite, zum reinen Unsinn werde, oder, wie der Verfasser sich ausdrückt, ganz irrational sei; bei solchen Verirrungen ins Unsinnige habe man sich auch über jene widersinnige Verkehrung von Zweck und Mittel, die zu einer Art Staatsfetischismus führt, nicht mehr zu verwundern. Indem er gegenüber allen theistischen Denkern einer so verächtlichen Sprache sich zu bedienen wagt, erweist er sich, als mit der Geschichte der Philosophie wenig vertraut; er müsste sonst wissen, dass gerade die bedeutendsten und scharfsinnigsten Denker des Altertums wie der neueren Zeit,
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Schriften zur Ethik und Ästhetik
ein Anaxagoras, Plato, Aristoteles, wie ein Descartes, Locke, Leibniz und in gewisser Weise auch der jetzt so viel gepriesene Kant, obwohl er das Transzendente für unerforschlich hält, zu den Theisten zählen. Selbst Albert Lange, der Verfasser der „Geschichte des Materialismus“, sieht sich genötigt, anzuerkennen, dass wir die grossen Entdeckungen, die schon im Altertum auf dem Gebiete der exakten Wissenschaften gemacht worden sind, nicht Materialisten, sondern sämtlich Spiritualisten zu danken haben; und ähnlich bekennt Romanes, der Psychologe des Darwinismus, dass er mit äusserster Verwunderung bemerkt habe, wie von den zeitgenössischen Forschern, welche sich in England am meisten durch mathematischen Scharfsinn auszeichneten (er nennt neben Maxwell und Lord Kelvin noch eine ganze Reihe der berühmtesten Professoren von Cambridge), fast alle theistischer Überzeugung waren; um zu zeigen, wie Ähnliches von grossen Forschern auf dem Gebiet der exakten Wissenschaften auch in Deutschland gilt, braucht man nur Johannes Müller, Liebig, Schwann, Pflüger und Helmholtz zu nennen. Mit dem Beweise unseres Verfassers, mit dem es auch sonst sehr locker bestellt sein würde, steht es also auch aus diesem Grunde herzlich schlecht. Es ist aber auch im praktischen Interesse der Sache des Friedens höchlich zu beklagen, wenn einer, der sich zu seinen Freunden bekennt, beleidigende Angriffe gegen andere unter ihnen macht, denn dies heisst, die Kräfte zersplittern, wo es gilt, sie möglichst zusammenzuhalten. Franklin, als er alle, die das Gute zu tun bestrebt sind, zu einer geselligen Verbindung zu führen suchte, die er als die „Society of the doers of good“ bezeichnete, gab uns, indem er im übrigen an den grössten Divergenzen der Meinungen keinen Anstoss nahm, ein Beispiel für die auch in unserem Falle gebotene Toleranz. Gegen sie verstösst der Verfasser in um so auffälligerer Weise, als wir gerade in unserer Zeit kaum irgend jemand mit grösserem Eifer um die Herstellung des Friedens sich bemühen sehen, als Benedikt XV, das Oberhaupt der katholischen Kirche. Das Christentum ist seinem ganzen Geiste nach eine Religion des Friedens, und dieser Charakter bleibt ihm noch heute, wenn es auch durch die Unvernunft der Menschen wiederholt zu Kriegen in vermeintem religiösem Interesse gekommen ist. Und so konnte dies denn auch durch die Unvernunft von Anhängern einer egoistischen Moral sehr wohl und noch viel häufiger geschehen. Gerade in unseren Tagen liegt die Wurzel, aus welcher alles Unglück entsprungen ist, gewiss nicht in religiösen Überzeugungen, sondern in egoistischen Antrieben. Würde ich nicht fürchten, in einen ähnlichen Fehler der Intoleranz gegenüber solchen zu verfallen, die mit mir in
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der Liebe des Friedens einig sind, so würde ich nicht bloss den Nachweis hiefür mit Leichtigkeit erbringen, sondern auch zeigen, wie der Vorwurf irrationaler Philosophie, statt den theistischen Denkern, vielmehr vor allem den Anhängern Epikurs gemacht werden muss, der sich in seiner Oberflächlichkeit schier mehr als jeder andere Philosoph die sichtlichsten Blössen gegeben hat.
Sachregister A priori 53f., 76, 88, 105 Ablösbarkeit siehe Teil Abstraktion 110, 117 – künstlerische A. 111, 114, 148 Adaequatio rei et intellectus 77 Adel 5 Addition siehe Summierung Analogie 40, 43, 46, 66, 78, 83, 86, 102 Analogieschluss 105 Analogon der Evidenz siehe Evidenz Analytisch 46, 79, 97 Anarchie 5, 95 Anerkennen und Verwerfen (Bejahen und Verneinen, Leugnen) als Urteilsmodi 40ff., 62, 68f., 71–74 – Bejahen und Verneinen als Billigen und Missbilligen (Hume) 65 – Verneinen bei Sigwart 72f., 76f. Angemutet- und Abgestoßenwerden 40, 44, 93 Anschauung (anschauliche Vorstellung) 90, 131 – A. physischen und psychischen Inhalts 38f., 62 – A. als Ursprung aller Begriffe 38 – A. im Gegensatz zu den (unanschaulichen) Begriffen 39 – Raumanschauung 54 – Anschauungsvermögen (bei einem Genie) 103 – A. in der Kunst 133f., 138, 145ff., 150, 152 Apodiktisch und assertorisch 62, 66, 74, 82 Arbeit 12ff. Arbeiterklasse 13 Arbeitsteilung 50
Aristokratie 5 Arsis siehe auch Thesis 135f., 137, 143, 150 Assertorisch siehe apodiktisch Assoziation 35, 75, 97f., 121 Ästhetik 110 – Ä. als Moralprinzip 36f. – Ethik als Zweig der Ä. (Herbart) 36 Ästhetisch 22, 68, 146 – ä. Analyse 153 – ä. Empfindlichkeit 113, 116, 118, 120, 122 – ä. Gefühl 122f. – ä. Regeln 138 – ä. Reiz 136 – ä. Sinn 118 – ä. wertvoll 117ff. – ä. wirksam (bedeutend) 108, 110, 112ff., 117, 119, 122f. Ausdruck (der psychischen Phänomene) 40, 67, 73 Autorität (legislative, juristische) 6, 33f., 93 Axiom 11, 79 – A. und Postulat (Sigwart) 81f.
Begehren 40, 43, 64, 86, 88 Begriff – allgemeine B. 8 – B. des Besseren 46 – B. des Guten, Schlechten, Wahren, Falschen 41 – die letzte Verdeutlichung der B. liegt in der entsprechenden Erfahrung 43 – einfache und zusammengesetzte B. 66 – negative B. 75
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Sachregister
– unanschauliche B. 39 – Ursprung aller B. in der Anschauung 38f., 62 Bejahen siehe Anerkennen und Verwerfen Besitz 4 Bessere, das 38, 45–49, 51, 62, 89, 91, 132ff., 138 – das B. und die Akte des Vorziehens 46 Beste, das 5, 34, 52, 55, 92 – das B. unter dem Erreichbaren (der richtige Zweck) 38, 62 Bevorzugen siehe Vorziehen Bewusstlosigkeit des genialen Schaffens 105f. Bewusstsein – B. als synonym mit der intentionalen Beziehung 39 – Erkenntnis ohne deutliches B. 53 – Enge des B. 56, 72 Beziehung siehe Intentionale Beziehung Beziehender Akt 46 siehe auch Vorziehen
Christentum 7ff., 52, 55, 84f., 140, 159, 168 Clara et distincta perceptio (Descartes) 79
Demokratie 5 Deskriptive Psychologie siehe Psychologie Despotismus 6 Dinglich siehe Existierend
Egoismus 56, 84, 91, 94, 96, 167f. Ehe 4 Einbildungskraft 111f., 118, 123
Einsicht 36, 43f., 46, 48, 50, 54, 79f., 88, 97, 139 Ekstase, schöpferische 106 Emanzipation siehe Frauen Empfindlichkeit, ästhetische siehe ästhetisch Empfindung 42f., 84, 109f., 113, 121, 151 Empfindungsinhalt 43 Empfindungsvorstellung 88 Erkenntnis 32f., 37f., 44, 46, 48ff., 53f., 56, 58f., 65, 70, 81f., 84, 86–90, 97, 104 Erkenntnisprinzipien der Ethik 22, 52f., 57 Erkenntnistheorie 79 Ethik 22, 36, 52f., 56, 58, 60f., 89, 91, 96 – Die Hauptfrage der E. (= welcher Zweck ist richtig?) 38 Ethisch 32f., 37, 48, 50ff., 55, 57f., 59, 60ff., 84, 86, 88, 91, 93, 95, 138, 159f., 163f. – e. Erkenntnis 32, 37, 53f., 58 – Relativität des E. 51 – pseudo-e. 57 – siehe auch vorethische Zeiten Eudämonismus 96 Evident 22, 43, 54, 63, 66, 72, 79–83, 87, 91 Evidenz 48, 57, 61, 80ff., 87, 97f. – Analogon der E. auf dem Gebiet der Gemütsphänomene 43f., 46, 83 – E. der Vermutung (Meinong) 83 – E. des Urteils 44, 75, 79 – E. hat keine Grade 83 – E. impliziert Sicherheit 83 – E. impliziert Wahrheit 80 – E. und das Gefühl der Nötigung (Sigwart) 79f., 82
Sachregister
Existentiale Urteilsformel (Existentialformel, Existentialsatz) siehe Urteil Existenz und Nichtexistenz 46, 69ff., 84 – Begriffe der E. und Nichtexistenz als Korrelate der Richtigkeit affirmativer und negativer Urteile 78 – siehe auch Sein Existierende, das 69f., 78 – das E. im Gegensatz zum Dinglichen (Wesenhaften) 70 – siehe auch Sein
Familie 4f., 13, 49 Fetischismus 7 siehe auch Staatsfetischismus Folgerung siehe auch Schließen, Schluss 41, 53f., 61, 92 Frauen 12 – Emanzipation der F. 4 – Kondition der F. 163 – psychische Unterschiede zwischen F. und Männern 163 Freude 22, 39f., 44f., 47, 49, 54, 77, 86, 90, 93 siehe auch Schadenfreude Frieden 14, 91, 168f. Furcht und Hoffnung 34f., 40, 60 Gebot 35f., 49, 51, 55f., 58, 91, 97, 106, 140, 159 – G. der Logik 36 Gedächtnis 42, 54, 110, 120, 122f. Gefallen und Missfallen 40f., 44ff., 72f., 77, 84, 87f. – als richtig charakterisiertes G. und M. 83, 89 – G. und M. höherer und niederer Art 43f., 46, 85, 87
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– G. und M. höherer Art als Analogon der Evidenz 43 – instinktives G. und M. 43f., 87 – richtiges und unrichtiges G. und M. 41 – siehe auch Gemütsbewegung, Liebe und Hass Gefühl 11, 13f., 22, 57, 60, 65ff., 71, 73, 104, 109, 116ff., 122ff., 135f., 139, 142, 146, 150ff. – G. der Nötigung und Evidenz 79f., 82 – Drang des G. 34f. – ethisches (sittliches) G. 32f., 85 – Rechtsgefühl 33 – G. können im analogen Sinne evident sein 83 Gefühlsmoralist 83, 86 Gegenstand – existierender und nichtexistierender G. 78 – transzendenter G. und G. möglicher Erfahrung 145 – Übereinstimmung der Gemütstätigkeit mit dem G. 77 – Übereinstimmung des Urteils mit dem G. 77 – vorgestellter G. 40 – „wahrer“ und „falscher“ G. – G. der künstlerischer Darstellung 111f., 131–134, 143ff., 155 Gegenständlich – innerlich g. gegeben 39 Gemüt 41, 43, 73, 77f., 84, 86, 120, 122, 135, 151f. Gemütsbewegung (Gemütstätigkeit) 10, 40, 65, 72, 89ff. – als richtig charakterisierte G. 44, 86ff. – G. höherer und niederer Art 43
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Sachregister
– Übereinstimmung der G. mit dem Gegenstand 77 – siehe auch Gefallen und Missfallen, Liebe und Hass Genial 15, 101f., 104–108, 113–120, 123f., 126f., 133, 153 Genie 14, 101f., 104–110, 112–117, 119f., 123f., 126, 148, 154f. Gerechtigkeit, poetische (künstlerische) 146f. Gesellschaft 4, 6, 8, 14, 32, 35, 50f., 56f., 136, 163 Gesetz – das psychophysische G. (Fechner) 90 – G. der Gewohnheit 34, 121, 123 – G. der großen Zahlen 62, 92 – G. der Ideenassoziation 121 – G. der Trägheit 149 – G. des Vorstellungsverlaufs 114, 120ff. – G. im ethischen und rechtlichen Sinn 3f., 6f., 12ff., 33f., 37, 50f., 58, 61, 94f., 140 – G. im psychologischen und naturwissenschaftlichen Sinn 41, 59, 103, 109, 112, 114, 117, 119f., 123, 126, 137f., 147 – Grundgesetz und sekundäre G. der Moral 159 – Kausalgesetz 80ff. – Maxime des Handels als allgemeines Naturgesetz (Kant) 61 Gesetzgebung 6, 13, 16, 50, 61, 93, 95 Gewissen 35, 92 Glauben – religiöses G. 7ff., 15
– G. als Urteil (Annerkennen, Überzeugung) 39f., 62, 65f., 74, 79, 87, 97f. Glück 55, 85, 92, 141, 145, 149, 152, 167 siehe auch Unglück Gott 7, 32f., 40, 45, 50, 55, 65, 70, 84ff., 95ff., 107f., 117f., 125, 127, 135, 140f., 145, 147f., 167 – G. als der Inbegriff alles Guten 45, 55 Grammatik 4, 68, 75 Gute, das 42, 44–49, 54f., 57f., 62, 65, 83f., 86–94, 132, 138, 151f., 155, 167f. – Begriff des G. ist streng einheitlich und nicht bloß analog 78 – das G. im engeren Sinne (das in sich G., das primär G.) 41 – das G. im weitesten Sinne (das sekundär G.) 41 – das G., die Wahrheit und das Schöne 9 – Definition des G. 41 – Ursprung des Begriffs des G. 38f., 41 – siehe auch Schlechte, das
Hass siehe Liebe und Hass Hedoniker 83, 89 Hoffnung siehe Furcht und Hoffnung Idee im Sinne Descartes’ (= Vorstellung) 39 Ideenassoziation 97, 121 Imperativ, kategorischer, 37, 53, 61 Indifferent 46, 84 Induktion 57, 88, 97f., 108 Innerlich gegenständlich gegeben siehe Gegenständlich
Sachregister
Intensität – I. der Gemütsbewegungen 38, 45, 47ff., 66, 88 – I. des Inhalts der Vorstellung 90 – Überzeugungsgrad ist keine I. der Überzeugung (des Urteils) 66, 83 „Intentional“ (Terminus) 62 Intentionale Beziehung 39f., 65, 78 – Grundklassen der i. B. 39 Intuition 104 „Ist“ des Existenzurteils 67
Jus gentium 32 Jus naturae 32 Kategorischer Imperativ siehe Imperativ Katharsis 143 Kausalgesetz siehe Gesetz Kausalverhältnis 96 Kirche 9, 159, 168 Kommunismus 92 Komödie 133–139, 143, 147 Kopula 72–76 Kosmogonie 7 Krieg 14f., 167f. Kriterium 32, 44, 48, 61, 81, 87 Kultur 3f., 7, 9f., 17, 32 Kultursprache 17 Kulturvolk 15f. Kunst 9–12, 101f., 104–109, 111, 115, 118, 132f., 135, 142, 144f., 147ff., 153f. Kunstgattung 107, 135, 153 Künstler 105–108, 110–114, 116ff., 122, 124, 131, 148f., 154 Kunstwerk 11, 55, 101, 107, 112–115, 117, 119, 123f., 153 – K. als Nachahmung der Natur 109f.
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– K. als Produkt der schöpferischen Phantasie 110, 114
Leiden 8, 82, 134f., 139, 144–147, 149f., 167 – L. und Wirken 69 Leidenschaft 13, 58, 116, 118, 121, 139, 152 Leugnen (als Urteilsmodus) siehe Anerkennen und Verwerfen Liebe und Hass (als Modi der Gemütsbewegung) 22, 40ff., 44f., 48, 50, 65f., 68, 77f., 84, 86, 88 – als richtig charakterisierte L. und als richtig charakterisierter H. 44, 90 – richtige L. und richtiger H. 41 – siehe auch Gefallen und Missfallen, Gemütsbewegung Logik 36, 41, 60f., 67ff., 72, 75, 78, 80, 82, 91 Logisch 36, 43, 56, 61, 71, 78, 80, 86, 91f., 121, 138 – l. Teil 66 Lust siehe auch Unlust 38, 43, 48f., 54, 66, 73, 77, 84, 86, 89f., 101, 115, 121, 143 Lustspiel 136
Mangel 49, 67, 69, 71 Mitempfindung 136 Mittel (zum Zweck) siehe Zweck Modalität – M. im Sinne von Helmholtz 36 – M. bei den Urteilen 82 Möglichkeit siehe auch Notwendigkeit, Unmöglichkeit 67, 69 Monarchie 5 Moral 3, 8, 14, 32, 84, 92, 159, 164, 168 – prämoralische Zeit 58
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Sachregister
Motiv 34, 60, 81, 140, 147, 160 – ethisches M. 37, 59 – richtiges ethisches M. 37
– deskriptive Ps. 21, 37, 66 Psychologisch 40f., 57, 59–62, 68f., 71, 81f., 119, 137f., 139
Nächstenliebe 34, 52, 55, 92
Qualität
Nation 3–8, 11–14, 16 Naturalismus (als Religionsform) 7 Naturtreue, poetische 145, 147, 149 Negation 64f., 73f., 76 Negativ – n. Begriff 75 – n. Kopula 73–76 – n. Prädikat 73 – n. Urteil siehe Urteil Nichtexistenz siehe Existenz Notwendigkeit 74, 80ff. – Begriff der N. 62 – Denknotwendigkeit 80ff. – N. und Tatsächlichkeit 82 Nützliche, das 41, 167
Patriotismus 16, 160, 167 Pein siehe auch Schmerz 47, 49, 92 Peripetie 152f. Pessimismus 15 Pflicht 4, 6, 50, 52, 94, 146 – Kollision der P. 95 – Liebespflicht 50f., 94 – Rechtspflicht 50, 93f. Phänomen 7, 40, 46, 82, 84, 87, 90, 122, 134 – Klassen der psychischen Ph. 22, 39f., 63 Phantasie, künstlerische 110, 113f., 116–121, 123f. Psychisch 22, 33, 39, 45, 47f., 62f., 80, 86, 90, 109, 117, 123, 137, 154, 163 – intentionale Beziehung charakteristisch für das Ps. 39 Psychologie 78f., 97, 120, 151
– Q. des Urteils 66 – sinnliche Q. siehe Sinnlich
Raum 38, 45, 54, 69f. Realismus und Idealrealismus in der Kunst 148, 155 Recht und sittlich 21, 31, 33ff., 51, 53, 56 Recht, das 4, 32, 50ff., 58, 62, 93ff. – natürliches R. 31f., 58f. – Rechtsgefühl 33 – Rechtspflicht 50, 93f. – Vernunftrecht 32 – siehe auch Jus Redner, politische 5f. Reflexion 11, 52f., 69, 81, 106, 108, 139 Reform 5ff., 15, 31, 68 Reformation 9 Regel 32, 51, 60, 81, 86, 91, 138f., 151 – logische R. (R. des Urteilens) 36 – methodische R. von Descartes 109 – R. der Kunst 107f., 112ff., 116 – sekundäre ethische R. 95 Relativität des Ethischen 51f., 59, 95 Religion 7f., 10, 12, 15f., 55, 94, 159, 168 Republik 6 Revolution 5, 12 – Französische R. 12, 52, 134 Richtig (und unrichtig) 51, 54ff., 95 – als r. charakterisiert 42, 44, 46f., 49, 83, 86–90
Sachregister
– der Natur nach r. 32 – r. Bevorzugung (Vorziehen) 46f., 49, 55, 89 – r. ethische Motive 37 – r. ethisches Prinzip 91 – r. Lebenszweck 49 – r. Mittel 37f. – r. Urteile und Gemütsbewegungen 41, 65, 77f., 85f., 89 – r. Zweck 38 Richtigkeit (und Unrichtigkeit) 56, 90 – R. des Urteils 44, 78 – R. der Gemütsbewegung 44 – innere R. 37 – R. als Übereinstimmung mit dem Gegenstand 77
Sanktion 21, 31, 33–37, 50f., 57f., 60, 95 Schadenfreude 87 Schachspiel 101f., 126 Schlechte, das 44, 46f., 54, 83, 86–89, 131–134, 136, 138, 143f., 146, 152, 155 – Ursprung des Begriffs des Sch. 41 – siehe auch Gute, das Schließen 36, 54 – Begriff des Sch. 62 – siehe auch Folgerung Schluss siehe auch Folgerung 53f., 62, 70, 72, 105 Schmerz siehe auch Pein 38, 66, 87, 144 Schön 36, 47, 73, 125, 132 Schöne, das 9f., 36, 58, 83, 113, 117f., 122, 131, 148 Schönheit 110ff., 117, 122f., 132 Schönheitssinn, moralischer 36 Schuld, tragische 139–142, 146
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Seiende, das 67, 69, 71, 85 Sein 67, 69, 71 – S. ist eindeutig 67 – siehe auch Existenz, Existierende Selbstaufopferung 49, 52 Selbstbewusstsein (Sigwart) 81f. Selbstmord (Selbsttötung) 94, 159f. Sicherheit siehe auch Evidenz 76, 82f., 89, 114, 117, 160 Sinnlich – s. Qualitäten 38f., 43, 66 – s. Anschauung 62 – s. und übersinnlich 62 Sitten 4ff., 9f., 12f., 16, 32, 58, 116 Sittengesetz 33 Sittlich 4, 8, 15, 21, 31–36, 51ff., 56, 58f., 85, 132, 140, 143 – der letzte s. Zweck 93 – s. Wahrheit 33 Sittliche, das 34, 36f., 51, – das S. und das Schöne 132 Sittlichkeit 51, 58, 95, 163 – natürliche S. 58f. Sittlichschön 58 Slaven 16 Sophisten 5f. Sprache 4, 10, 16f., 40, 43, 46, 67, 73, 78, 82, 87, 94, 102, 134 Staat 6, 14, 32, 49, 59, 94f., 140, 160, 167 Staatsfetischismus 167 Stoiker 55, 96 Subjekt – grammatisches S. 40, 68, 72ff., 76f. – S. der ethischen Handlung 37, 93f. Subjektisches Verhalten 39 Subjektivismus, ethischer 22, 83–86, 91 Subjektlos 46, 68
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Sachregister
Summierung (des Guten und Schlechten) 47ff., 55, 89, 96 Syllogismus 81, 97 Syllogistik 54
Talent 101, 105, 115, 126 Tatsächlich und notwendig siehe Notwendigkeit Technik (künstlerische) 10, 113f. Teil 47, 49, 90, 109 – logischer T. 66 – einseitige Ablösbarkeit der logischen T. 66 – logische T. der Urteile 66 – das Bestehen der T. ist wesentlich für das Bestehen des Ganzen 72 Theodizee 55, 89 Theogonie 7 Thesis siehe auch Arsis 135f., 150 Timokratie 5 Toleranz 168 Tradition 4f., 10, 16 Tragisch 134ff., 138ff., 144f., 147, 150–153 Tragische Schuld siehe Schuld Tragödie 106, 133–136, 138, 140, 143f., 148, 150ff. Trauer 72, 77, 90 Trauerspiel 134, 139, 141f., 144, 147, 153 Traurige, das 136, 144, 148f., 151f. Traurigkeit 22, 40, 44 Tugend 5, 10, 13, 35f., 48, 54f., 58, 134, 140ff., 148f., 152, 159, 167
Übereinstimmung – Ü. der Völker 32 – Ü. der Gemütstätigkeit mit dem Gegenstand 77
– Ü. des Urteils mit dem Gegenstand 77 – Ü. des vorgestellten Dinges mit einer möglichen Wahrnehmung 69f. – Ü. mit den Regeln 81, 86 – Überzeugungsgrad 42, 66f. – Ü. ist keine Intensitätsstufe des Urteilens 66, 83 Unbewusst 53, 102, 104, 106, 109, 113f., 123, 126 Unglück 15, 134, 143, 152, 168 siehe auch Glück Unlust siehe auch Lust 73, 77, 89f. Unmöglichkeit – Begriff der U. 62 Unrichtig siehe Richtig Unrichtigkeit siehe Richtigkeit Unsittlich 36, 52 Unsittliche, das 37 Unsittlichkeit 94 Unsterblichkeit 96f. Ursache – Begriff der U. 62 – U. und Wirkung 72 Urteil 36, 39, 42, 62, 68, 74, 80, 88, 91, 98, 121 – allgemeine U. sind alle negativ 74 – als richtig charakterisiertes U. 42, 86f. – analytisches U. 46, 79 – assertorisches und apodiktisches U. 62, 66, 74, 82 – bejahendes (affirmatives) U. und Existenz 69, 78 – blindes U. 42f., 66, 79 – einfache (einheitliche) und zusammengesetzte U. 66f. – einleuchtendes U. 42 – einsichtiges U. 79f.
Sachregister
– evidentes U. 42–46, 66, 79ff., 87 – existentiales U. 67 – Geschmacksurteil 61, 83 – Intensität des U. siehe Intensität – klares U. 43 – negatives U. nach Sigwart 71–76 – negatives U. und Nichtexistenz 78 – niedere und höhere Urteilsweise 42f. – prädizierendes U. 46 – subjektloses U. 46 – U. als Anerkennung oder Verwerfung 40 – U. als Descartes’ judicia 39 – U. als eine neue intentionale Beziehung zum vorgestellten Gegenstand 40 – U. als Gemütsbetätigung (Hume, Windelband) 65 – U. als Verbinden und Trennen (Aristoteles) 75 – U. ist keine Zusammensetzung von Vorstellungen 39f., 75 – U. setzt eine Vorstellung voraus 40 – U. und Wollen bei Descartes 63f. – Wahrheit und Falschheit des U. siehe auch Wahrheit, Übereinstimmung 77, 86 Utilitaristisch 50f., 58
Verdeutlichung (eines Begriffs) siehe Begriff Verfassung 5f., 58 Vermutung, evidente (Meinong) 83 Verwerfen siehe Anerkennen und Verwerfen
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Vorethische Zeiten 59 Vorstellung 46f., 63ff., 67–71, 74f., 77, 79, 84, 87, 98, 131 – anschauliche V. siehe Anschauung 38f., 90 – einfache und zusammengesetzte V. 39 – Empfindungsvorstellung 88 – jede V. ist in sich etwas Gutes 44, 88 – unanschauliche V. (Begriff) 39 – Verlauf der V. siehe Gesetz – V. als Descartes’ ideae 39 – V. als Grundlage für Urteil und Begehren (Gemütsbewegung) 40 – V. physischen und psychischen Inhalts 38f. – Wert einer V. siehe Wert Vorstellungsinhalt 39, 70, 84 Vorurteil 3, 5, 11, 16, 31, 36, 42, 65, 79, 108 – angeborenes V. 33 Vorziehen (Bevorzugen) 46f., 55, 62, 85, 89, 91 – als richtig charakterisiertes V. (analog dem evidentem Urteil) 46f., 49, 89f. – V. als eine besondere Klasse der Gemütsbewegungen 46 – V. als ein beziehender Akt 46
Wahrheit (wahr, das Wahre) 9f., 41f., 67, 78, 80, 88, 104, 151 – Definition der W. 41 – Existenz und Nichtexistenz als Korrelate der W. der Urteile 78 – notwendige und tatsächliche W. 82 – sittliche (ethische) W. 33 – subjektivistische Auffassung der W. (Protagoras) 83f.
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Sachregister
– Ursprung des Begriffs der W. 39, 41 – W. als Übereinstimmung 77 – W. hat keine Grade 46 – W. impliziert durch Evidenz 80 – W. und Falschheit in Bezug auf Urteile und Gegenstände 77 Wahrnehmung 54, 69f., 79, 87, 110 – äußere W. 42, 79, 87 – innere W. 42 Wahrscheinlichkeit 41, 62 Wert 12f., 48ff., 54, 57f., 83, 144ff. – W. einer Vorstellung 131–134, 137f., 145 Wertvoll, ästhetisch 117ff. Wesenhaft siehe Existierend Widerwille 43, 73, 84, 88 Wille 35ff., 40, 61, 81, 91, 93ff., 132, 141, 146 – Herrschaft des W. über den Ideengang 120
– W. und Urteil bei Descartes 63ff. Willensschwäche 91 Wirken und Leiden siehe Leiden Wirkung und Ursache siehe Ursache Wissenschaft 7–10, 12, 15f., 31, 48, 53, 87, 96f., 103ff., 119, 153, 163f., 168 – philosophische W. 159 – politische W. 16 – Rechtswissenschaft 31
Zivilisation 6, 8ff., 12, 15f. Zweck 45, 55f., 62, 93, 143 – Begriff des Z. 62 – der richtige Z. (= das Beste unter dem Erreichbaren) 38 – Z. und Mittel 37f., 40, 167 – eigentlicher, letzter Z. 37f. – der richtige Lebenszweck 49 – welcher Z. ist richtig (= die Hauptfrage der Ethik) 38 – Zweckbeziehung 50
Personenregister Allegri, Gregorio 123 Alexander der Grosse 37 Anaxagoras 168 Archimedes 103f. Aristophanes 133 Aristoteles 8, 33, 38, 40, 43, 47f., 51, 55, 58f., 62, 65ff., 69, 75, 77f., 80, 85–90, 96, 106, 109, 121, 131, 133, 137, 139, 143, 146f., 151ff., 168 Arndts, Carl Ludwig 93 Aischylos (Äschylus) 106, 150, 155 Augustinus, Aurelius 58 Bacon, Francis 11 Bain, Alexander 54, 60, 96 Balzac, Honoré 117 Baumgartner, Wilhelm XXIX, XXXI Benedikt XV 168 Beneke, Friedrich Eduard 53, 61, 83 Beneke, Friedrich Willhelm 90 Bentham, Jeremy 48, 52, 90, 95f., 163 Binder, Thomas 66 Bjørnson, Bjørnstjerne 163 Bonnet, Charles 104 Bossuet, Jacques Bénigne 84 Bossut, Charles 151 Brentano, Johann Christian Michael XXXI Brentano, Sophie (geb. van Seembruggen) XXXI Brentano, Sophie XXXII Buffon, Georges-Louis Leclerc de 104 Burkard, Franz-Peter XXXI
Catilina, Lucius Sergius 58 Chamäleon (von Herakleia) 106 Chisholm, Roderick M. XXIX
Chrudzimski, Arkadiusz 66 Cicero, Marcus Tullius 34 Colbert, Jean-Baptiste 13 Comte, Auguste 3, 9, 62, 94 Corneille, Pierre 11, 139
Dante Alighieri 122 De la Casa, John 116 Descartes, René 3, 22, 39f., 45, 63ff., 77, 79, 82f., 85ff., 90, 109, 164, 168 Dumont, Etienne 90 Eckermann, Johann Peter 140 Ehrenfels, Christian von XI Eichendorff, Joseph von 147, 154 Epikur 47, 96, 169 Euripides 107, 134, 141
Fabian, Reinhard XXIX Fechner, Gustav Theodor XXVI, 89f., 96 Fénelon, François 84 Fischer, J. C. 106 Franklin, Benjamin 168 Funck-Brentano, Frantz XXXII Funck-Brentano, Théophile XXXIf., 3–17
Gams, Pius Bonifacius 97 Gauß, Karl Friedrich 49, 90 Goethe, Johann Wolfgang 11, 91, 105f., 109, 112, 117f., 124, 126f., 140, 148, 154 Gombocz, Wolfgang L. XXXI Grassl, Wolfgang XXX Grote, George 60 Haller, Rudolf XXXI
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Personenregister
Haneberg, Daniel Bonifaz von 92 Harnack, Adolf XXXIV, XXXVI Havet, Eugène Auguste Ernest 151 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 53, 80 Helmholtz, Hermann von 39, 96, 168 Henrich, Norbert XXXI Heraklit von Ephesus 8, 50, 95 Herbart, Johann Friedrich 22, 36, 60f., 67, 80, 83, 88, 93, 132 Herzen, Alexander XIII, XXII, XXIX, XXXIV, XXXVI, 161, 163f. Hieron II. von Syrakus 103 Hobbes, Thomas 73 Holcot, Robert 97 Homer 107, 124 Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 91, 118 Hume, David 36, 43, 60, 65, 79, 83, 86, 89, 97f., 121 Husserl, Edmund XI, XXVII Hye, Anton 21
Iacopone da Todi 122 Ibsen, Henrik Johan 153, 155 Ihering, Rudolf von 21, 31ff., 51, 58, 60, 62, 83, 93ff. Jacquette, Dale XXIX Jahn, Otto 126 Jean Paul (Johann Paul Friedrich Richter) 105f. Jevons, William Stanley 97 Kant, Immanuel 36f., 53, 61, 78, 104f., 117, 124, 155, 168 Kastil, Alfred XIf., XXXI, XXXIII Kelvin, Lord (Sir William Thomson) 168
Kepler, Johannes 103, 149 Kraus, Oskar XI, XXIX–XXXII
Land, J. P. N. 68 Lange, Friedrich Albert 54, 96, 168 Laplace, Pierre-Simon 52, 95, 97, 149f. Lefueur, David 11 Leibniz, Gottfried Wilhelm 3, 21, 31, 55, 59, 79, 85, 96, 168 Lessing, Gotthold Ephraim 97, 115f., 139, 143, 151 Liebig, Justus von 168 Littré, Émile 3, 9 Locke, John 3, 32, 96, 141, 168 Lorrain, Claude 11 Mackintosh, James 60 Malthus, Thomas Robert 13 Mansel, Henry Longueville 61 Marty, Anton XI, XXXI, 68, 71f. Masaryk, Thomas Garrigue XI Mayer-Hillebrand, Franziska XII, XXIX Maxwell, James Clerk 168 McAlister, Linda XXX Meinong, Alexius XI Menger, Carl XI Meynert, Theodor 119 Miklosich, Franz XXXIV, 21, 40, 68 Mill, James 60, 97 Mill, John Stewart 3 60ff., 66, 82, 85, 91, 97f. Moore, George Edward XIII, XXIX Morphy, Paul Charles 103 Maudsley, Henry 101, 109 Möhler, Johann Adam 97 Molière (Jean-Baptiste Poquelin) 136ff. Montesquieu, Charles-Louis de Secondat 4
Personenregister
Moses 7 Mozart, Wolfgang Amadeus 106, 119, 123–127 Müller, Johannes Peter 168
Newman, Henry 67 Newton, Isaac 103f.
Ovid (Publius Ovidius Naso) 107 Pascal, Blaise 83, 150f. Pasquarella, Lynn XXVI, XXIXf. Perikles 139 Pflüger, Eduard 168 Philidor, André Danican 103 Pindar 107 Platon 8, 10, 48, 51, 53ff., 59, 85, 96, 107f., 131, 133, 168 Plautus, Titus Maccius 138 Plutarch 142 Poussin, Nicolas 11 Protagoras 83f., 86 Puchta, Georg Friedrich 93 Pythagoras 33 Racine, Jean 11, 141 Raphael 49, 109, 124 Reimherr, Andrea XXX Rembrandt van Rijn 112 Reynolds, Joshua 110ff. Rokitansky, Carl von 32 Romanes, George John 168 Rubens, Peter Paul 112, 120 Savigny, Friedrich Carl von 4 Schiller, Friedrich 11, 68, 106, 148, 155 Schopenhauer, Arthur 133 Schubert, Franz 119 Schwaiger, Norbert 95 Schwann, Theodor 168
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Schwind, Moritz Ludwig von 109 Scott, Walter 159 Shakespeare, William 11, 124, 136, 138f., 141f., 147, 151, 155 Sigwart, Christoph XXXII, 62, 65, 68–76, 79–82, 84f., 91, 98 Sintenis, Carl Friedrich Ferdinand 93 Slade, Henry 109 Smith, Barry XXX Sokrates 8, 95 Sophokles 106, 134, 139ff., 144, 146, 150 Spencer, Herbert 97 Spinoza, Baruch 3, 65 Steinthal, Chajim Heymann 68f. Strauß, David 97 Stumpf, Carl XI Suarez, Francisco 63
Teniers, David 133 Terenz (Publius Terentius Afer) 138 Teresa von Ávila 84 Thomas von Aquin 83, 85, 96f. Tizian (Tiziano Vecellio) 110f, 120 Tolstoi, Lew Nikolajewitsch 163 Trendelenburg, Friedrich Adolf XVI, 80, 96
Ueberweg, Friedrich 83 Ulpian (Domitius Ulpianus) 34 Virgil (Publius Vergilius Maro) 110 Wagner, Richard 11 Wagner, Rudolph 90 Windelband, Wilhelm XXXII, 63, 65–68, 78 Windscheid, Bernhard 93 Zöllner, Johann Karl Friedrich 109