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German Pages 714 [716] Year 1979
FRIEDRICH MEINECKE WERKE · BAND IX
FRIEDRICH MEINECKE WERKE
Herausgegeben im Auftrage des Friedrich-Meinecke-Institutes der Freien Universität Berlin
von
HANS H E R Z F E L D , CARL HINRICHS f WALTHER HOFER, EBERHARD KESSEL GEORG KOTOWSKI
In Zusammenarbeit von K. F. K O E H L E R V E R L A G , S T U T T G A R T R. O L D E N B O U R G V E R L A G , M Ü N C H E N SIEGFRIED TOECHE-MITTLER VERLAG, DARMSTADT
FRIEDRICH MEINECKE
Brandenburg · Preußen Deutschland Kleine Schriften zur Geschichte und Politik
Herausgegeben und eingeleitet von E B E R H A R D KESSEL
K. F. KOEHLER VERLAG STUTTGART 1979
H A N S HERZFELD zum 85. Geburtstag am 22. Juni 1977
ISBN 3-8742-5131-4 © 1979 K. F. Koehler Verlag, Stuttgart Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Gesamtherstellung: Greiserdruck, Rastatt
INHALT
Einleitung des Herausgebers
VII Erste
Gruppe
A u s DER FRÜHZEIT DER BRANDENBURGISCH-PREUSSISCHEN GESCHICHTE UND DER STAATSRÄSON Das Stralendorffsche Gutachten und der Jülicher Erbfolgestreit (1886) . . Der Regensburger Reichstag und der Devolutionskrieg (1888) Reformpläne für die brandenburgische Wehrverfassung zu Anfang des siebzehnten Jahrhunderts (1888) Niccolo Machiavelli (1923) Luther über christliches Gemeinwesen und christlichen Staat (1920) . . . Petrus Valckeniers Lehre von den Interessen der Staaten (1928) Des Kronprinzen Friedrich Considerations sur l'etat present du corps politique de l'Europe (1917) Bielfeld als Lehrer der Staatskunst (1927) Zweite
3 60 85 112 142 162 174 201
Gruppe
REFORM UND RESTAURATION Vaterländische und religiöse Erhebung am Anfang des 19. Jahrhunderts (1900) Stein und die Erhebung von 1813 (1913) Freiherr vom Stein (1931) Fichte als nationaler Prophet (1908) Wilhelm von Humboldt und der deutsche Staat (1920) Boyen und Roon (1895/96) Das Zeitalter der Restauration (1906) Dritte
211 242 249 266 279 297 320
Gruppe
DER DEUTSCHE NATIONALSTAAT Preußen und Deutschland im 19. Jahrhundert (1906) 1848. Eine Säkularbetrachtung (1948) Josef von Radowitz (1921) Die Tagebücher des Generals von Gerlach (1893) Gerlach und Bismarck (1894) Bismarcks Anfänge (1904/06
331 345 364 377 402 416
VI
Inhalt
Bismarcks Jugend (1909) Bismarcks Eintritt in den christlich-germanischen Kreis (1903) Drei Generationen deutscher Gelehrtenpolitik. Friedrich Theodor Vischer- Gustav Schmoller - M a x Weber (1922)
426 442 476
Vierte Gruppe ZUR ZEITGESCHICHTE
Die deutschen Erhebungen von 1813,1848,1870 und 1914 (1914) . . . . Landwehr und Landsturm seit 1814 (1915/16) Probleme des Weltkriegs (1916) Geschichte und öffentliches Leben (1916) Staatskunst und Leidenschaften (1916) Die deutsche Freiheit (1917) Verständigungsfriede und Heeresleitung (1918) Der nationale Gedanke im alten und neuen Deutschland (1919) Die geschichtlichen Ursachen der deutschen Revolution (1919) Die deutsche November-Revolution. Ursachen und Tatsachen (1929) . .
509 532 558 573 578 586 603 608 624 648
PERSONENREGISTER
682
E I N L E I T U N G DES HERAUSGEBERS
Die kleinen Schriften eines Gelehrten bilden die Begleitmusik zu seinem wissenschaftlichen Lebenswerk, die dessen Ergebnisse präludiert und variiert, auch wohl einmal in eine kontrapunktische Nebenmelodie übergeht, die dann abbricht. In Vorarbeiten werden die wissenschaftlichen Grundlagen für die Hauptwerke geschaffen, in Reden, Vorträgen und Essays ihre Inhalte popularisiert, erläutert und ausgesponnen, in Beiträgen zu Sammelwerken fremde Anregungen aufgenommen, in Festschriften wird nahestehenden Fachgenossen gehuldigt und wohl auch einmal ein ferner liegendes Thema aufgegriffen, dabei je nach Temperament und Einstellung der Aktualität einer Frage nachgegangen. Das ist ein heterogenes Material, und dennoch bei einem bedeutenden Vertreter seines Fachs zusammengehörig, vom Mittelpunkt seiner Persönlichkeit aus gesehen, und insofern gewissermaßen ein Abbild seines Denkens und Strebens das ganze Leben hindurch, auf dem sich natürlich auch die Veränderungen dieses Lebens, die Zeitumstände sowohl wie das Wachsen und Reifen der eigenen Erkenntnisse abzeichnen müssen. So ist dieses Opus der kleineren Schriften von besonderem Reiz und besonderem Wert, und zwar um so mehr, je stärker der Autor in seiner Zeit verwurzelt und allen ihren Veränderungen aufgeschlossen gegenübergestanden hat, je heller sein Auge in die Gegenwart geblickt und je umfassender sein Geist gearbeitet hat. Die einzelnen Arbeiten müssen, wie Meinecke einmal gesagt hat, »sich ganz von selbst zu einem Ganzen runden, wenn man sie sammelt«', jedenfalls - so möchten wir hinzufügen - , wenn das Zentrum der Persönlichkeit sie trägt. Das aber ist bei Friedrich Meinecke der Fall gewesen, und so ist es eine unbestreitbare Aufgabe für die Gesamtausgabe seiner Werke, eine solche Sammlung noch vorzunehmen, soweit diese kleineren Arbeiten nicht schon in den anderen Bänden der Ausgabe mit speziellem Inhalt ihren Platz gefunden haben. Der Bereich dessen, was dafür in Frage kommt, ist noch sehr groß; er umfaßt das ganze spezielle Arbeitsgebiet des politischen Historikers, und zwar sowohl in den wissenschaftlichen Abhandlun1
Preußen und Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert (1918) S. III.
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Einleitung des Herausgebers
gen, wie den zusammenfassenden, weite Ausblicke eröffnenden, mehr populären Schriften und Vorträgen, die bis in die historisch-politische Publizistik hinüberreichen und sozusagen den Reflex der historischen Erkenntnis auf die Zeitereignisse bieten. Meinecke hat noch selbst während des Zweiten Weltkriegs auf Anregung des Lektors des damaligen Verlages Koehler & Amelang in Leipzig, Dr. Hellmut Köster, eine derartige Sammlung geplant, wie er denn überhaupt für solche Anregungen offen war oder auch von sich aus die Initiative dazu ergriffen hat, so daß schon verschiedene, mehr oder weniger umfangreiche Ausgaben kleiner Schriften von ihm vorliegen, die heute vergriffen sind: die erste, von Arnold Reimann angeregt, für dessen »Deutsche Bücherei« Bd. 93 schon 1907, nur rund 100 Seiten stark, unter dem Titel »Von Stein zu Bismarck«; ihr folgten unter dem Eindruck von Krieg und Revolution die speziell auf die politisch-historische Publizistik abgestellten Sammlungen »Die deutsche Erhebung von 1914« 1914, »Probleme des Weltkriegs« 1917 und »Nach der Revolution« 1919, neben und nach denen die größeren, gerade auch das wissenschaftliche Werk mit umfassenden Publikationen erschienen: »Preußen und Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert« 1918 (noch vor Kriegsende mit Vorwort vom Oktober 1917) und »Staat und Persönlichkeit« 1933 (Vorwort vom Herbst 1932), schließlich »Preußisch-deutsche Gestalten und Probleme« 1940. Diese Sammlungen haben sich zum Teil überschnitten; einige haben grundsätzlich nur Titel, die in den anderen nicht wiederabgedruckt waren, aufgenommen; daneben tauchen andere Titel wiederholt auf, je nach Absicht und Thematik der Sammlung und des Augenblicks. Vor allem die letzte, »Preußisch-deutsche Gestalten«, hat bis auf die frühesten Aufsätze zurückgegriffen, und die im Nachlaß überlieferte Titel-Liste der für die Zeit nach dem Krieg geplanten neuen Auswahl läßt erkennen, daß es sich dabei um eine stark erweiterte Neufassung dieser Sammlung handeln sollte, während die geistesgeschichtlichen und historiographischen kleinen Schriften anderen speziellen Publikationen vorbehalten wurden. Dafür wurde der Titel gewählt »Preußisch-deutsches Schicksal«, und als Leser war an ein Publikum gedacht, das die dargebotenen älteren Schriften als für sie in der Situation nach dem Krieg gemünzte Essays aufnehmen würde. Das wurde unter den veränderten Verhältnissen nach 1945 allerdings unmöglich. Für die nunmehr zu beendende Gesamtausgabe stellt sich die Aufgabe anders. Nach der Neuauflage der drei ideengeschichtlichen
Einleitung des Herausgebers
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Hauptwerke, der Sammlung der historiographischen, geschichtsphilosophischen und autobiographischen Schriften, der Neuerschließung der Tagespublizistik und des Briefwechsels kommt es darauf an, die noch ausstehenden kleinen Schriften zusammenzufassen und dabei möglichst alles aufzunehmen, was den wissenschaftlichen Lebensweg Meineckes von der Dissertation an bis zu den letzten Äußerungen über das Jahr 1848 belegt. Das bedeutet dann auch gleichzeitig eine Ergänzung der in Band II der Gesamtausgabe von Georg Kotowski zusammengebrachten Tagespublizistik nach der essayistischen Seite hin, soweit die umfangreicheren politisch-historischen Schriften hierfür in Frage kamen. Dabei mußte freilich von vornherein auf absolute Vollständigkeit verzichtet werden, die rein umfangmäßig die Grenzen eines einzigen Bandes überschritten hätte, außerdem vielfach Wiederholungen oder nur geringfügige Variationen mit sich gebracht haben würde. Die Auswahl und Anordnung bot mancherlei Schwierigkeiten. Bei allen Arbeiten und Artikeln der historisch-politischen Thematik, und nicht nur der publizistischen, sondern auch der wissenschaftlichen, spielt in einem Zeitraum von 65 Jahren, der Meineckes schriftstellerische Tätigkeit umgreift, der Zeitpunkt der Abfassung eines jeden Stückes eine wichtige Rolle, die es zu beachten gilt. So grundsätzlich verschieden die aktuell politische Publizistik von der wissenschaftlichen Untersuchung oder dem Essay erscheint, so kann doch beides sogar ineinander übergehen, und die rigorose Trennung beider Bestandteile dürfte kaum möglich sein. Man konnte dabei nicht einfach eine Gliederung des Materials nach der Chronologie der Themen, aber auch nicht nach der Chronologie der Entstehungszeiten vornehmen. Es galt beides miteinander zu kombinieren. Das läßt sich insofern machen, als sowieso Meineckes politisch-historische Publizistik, wie schon Kotowskis Sammlung in Bd. II unserer Ausgabe deutlich gemacht hat, der Spätzeit seit 1910 und insbesondere der Kriegs- und Nachkriegszeit angehört. Hier kommt es also primär auf die Abfassungszeit an, und die betreffenden Essays sind unter dem Oberbegriff »Zur Zeitgeschichte« sinngemäß in einer besonderen Gruppe zusammengefaßt, während die anderen kleinen Schriften in drei Gruppen entsprechend der Chronologie der Themen gegliedert sind, die sich entsprechend der Schwerpunktverlagerung in Meineckes Arbeitsgebieten sogar einigermaßen der Chronologie der Abfassungszeiten anpassen läßt. So sind dafür drei Gruppen gebildet worden: 1. Aus der Frühzeit der Brandenburg-Preußischen Geschichte und der Staats-
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Einleitung des Herausgebers
räson, 2. Reform und Restauration, 3. Der deutsche Nationalstaat. In diesen insgesamt vier Gruppen können die entsprechenden kleinen Schriften politisch-historischen Inhalts sinngemäß zusammengefaßt werden, und in ihnen spiegelt sich Meineckes wissenschaftliches Lebenswerk durch alle Abwandlungen seiner Zeit in seinem langen Leben eindrucksvoll wider. Meinecke ist entsprechend der Wissenschaftslage der Zeit und der Fragestellung der klassischen deutschen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts ausgegangen von dem Zeitalter der Gegenreformation im 16. und 17. Jahrhundert und entsprechend seiner altmärkischen Herkunft zugleich von der brandenburg-preußischen Geschichte. Das ist die seiner Zeit von Ranke in den Mittelpunkt des historischen Interesses gerückte Werdezeit des »modernen Staates«, und nicht zufällig sind manche der Altersgenossen Meineckes in der Historikerzunft in ihren Arbeiten von dieser Epoche ausgegangen, ehe sie sich neueren und zeitgeschichtlichen Stoffen zuwandten, wobei dann freilich einiges erfolgreich Begonnene mit dem ersten Bande unvollendet liegengeblieben ist (wie der Coligny, Moritz von Sachsen oder die Geschichte der Tudors). Für Meinecke stand der brandenburg-preußische Staat im Vordergrund des Interesses und damit unter dem nationalen Aspekt die Frage nach dessen Bedeutung für den deutschen Nationalstaat. Das führte ihn zu Reinhold Koser, der - aus dem preußischen Editionsund Archivdienst kommend - seit 1880 als Privatdozent, seit 1884 als außerordentlicher Professor in Berlin lehrte, als Meinecke als junger Student 1882 im Herbst dort seine germanistischen und historischen Studien begann und nach einer zweisemestrigen Unterbrechung in Bonn auch fortsetzte. Aus Kosers Seminar ging Meineckes Dissertation hervor, mit der er 1886 seinen Doktor machte: die Untersuchung über das Stralendorffsche Gutachten, die wie billig nun auch am Anfang des vorliegenden Bandes die Reihe seiner kleineren Arbeiten zur politischen Geschichte eröffnet. Denn es ist keine umfangreiche Doktorarbeit, so wie heutzutage die ehrgeizigen Adepten der Wissenschaft sie vorzulegen suchen, sondern ganz bescheiden im alten Stil ein Beleg sauberer methodischer Arbeit, wie sich überhaupt Meinecke zeitlebens eine Hochachtung vor exakter Methode bewahrt hat, obwohl oder vielmehr gerade weil er im Alter mehr und mehr in die Ideengeschichte geraten ist, und es war, wie er in seinen Erinnerungen bekennt, damals in den Berliner Studentenjahren sein Hauptanliegen, »das kritische Handwerk gründlich zu erlernen« 2 . Nachträglich frei-
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lieh hat er es bedauert, daß er nicht lieber seine zweite größere Seminararbeit über den Devolutionskrieg, die weitaus breitere Aspekte eröffnete, zur Ausarbeitung für eine Dissertation ausgeweitet hätte, aber er meinte, er wäre damals doch noch zu stark im borussischen Vorurteil befangen gewesen. Das war allerdings das Erbteil, das Johann Gustav Droysen der unmittelbar folgenden Generation hinterlassen hatte. Trotzdem war man aber bereits im Begriff, sich davon abzuwenden, und nicht nur in Bayern, wo Stieve den ersten Nachweis der Fälschung jenes angeblichen Gutachtens von Stralendorff erbracht hatte, sondern gerade auch in Preußen, und Meinecke selbst hat eben mit der genaueren Datierung der Fälschung jene Abwendung selbst vollzogen, einfach aus dem Geist unvoreingenommen forschender Wissenschaft, aus dem heraus dann Droysens eigener Schüler Erdmannsdörfer in seinem großen Hauptwerk über die deutsche Geschichte von 1648-1740 (1892/93) die endgültige und grundlegende Wende vollzog. Meinecke ist dem, wie die anderen Forscher seiner Zeit, unverzüglich gefolgt, nur immer tiefer eindringend in die Problematik von Preußen und Reich, und die Anfangsarbeiten aus der Frühzeit zeigen ihn uns Schritt für Schritt auf dem Wege dahin. Das 17. Jahrhundert war doch nicht Meineckes ureigenstes und eigentliches Gebiet, und gerade der nationalgeschichtliche Aspekt hat ihn alsbald von diesen Anfängen fortgezogen; er ist erst später auf Umwegen von ganz anderen Fragen her unter dem Blickwinkel der Staatsräson in die Gefilde der frühen Neuzeit zurückgekommen, wobei er nun aber über das Preußische und das 17. Jahrhundert weit hinaus gegriffen hat bis auf Luther und Machiavelli 3 . Dazwischen aber lag das weite Feld der deutschen Geschichte, das ihn unwiderstehlich in seinen Bann gezogen hat. So haben sich die Richtungen seines wissenschaftlichen Lebenswegs mannigfach abgewandelt und bilden doch eine Einheit, die sich uns in diesen verschiedenartigen kleinen Schriften lebendig vor Augen stellt. Die Staatsräson war ja auch die Maxime des preußischen Staates gewesen, doch fällt die Gestalt Luthers ganz aus dieser Anschauungswelt heraus, was für ihn als Kind eines gläubig protestantischen Elternhauses ein besonders wichtiges Problem war, und schließlich stellte das Hinüberwachsen und Nebeneinanderfortbestehen von Territorial- und Nationalstaat in Deutsch2 3
»Erlebtes« Werke VIII, 71. Vgl. die Aufsätze über Machiavelli und Luther unten S.112 ff. und 142 ff.
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Einleitung des Herausgebers
land eine Fülle von Fragen mit unbestreitbarer Aktualität. Der Dualismus von Österreich und Preußen und das Problem der Hegemonie des preußischen Staates führte Meinecke unmittelbar hinüber in die G e schichte des 19. Jahrhunderts und in die Aktualität der Gegenwart, die unter den Nachwirkungen der Bismarckschen Reichsgründung stand. Den ersten Anstoß in dieser Richtung gaben bezeichnenderweise Archivfunde: die Akten der Mainzer Zentralkommission zur Untersuchung revolutionärer Umtriebe, die auf Grund der Karlsbader Beschlüsse vom 20. September 1819 eingesetzt worden war. Hier eröffneten sich Einblicke in die politischen Bewegungen des durch die Ergebnisse der Befreiungskriege im nationalen Sinne enttäuschten deutschen Bürgertums. Das war zugleich Meineckes erste »ideengeschichtliche« Untersuchung, die ihn tief in die Problematik der Restaurationszeit nach den hohen Aufflügen des Geistes der Reform und Befreiung hineingeführt hat 4 . U n d gleichzeitig erhielt er von seinem Archiv-Chef Heinrich von Sybel zwei Anregungen, die den nächsten Arbeiten eine neue Richtung gaben, nämlich (November 1889) die von dem damaligen Kriegsminister von Verdy im Interesse der von ihm geplanten Armeereform gewünschte Boyen-Biographie zu übernehmen und (1891) die jüngst erschienenen Tagebücher Leopold von Gerlachs, des langjährigen Generaladjutanten Friedrich Wilhelms IV. zu besprechen. Das führte ihn tief in das Zeitalter der Reform und Befreiung und der Restauration hinein, von der aus sich das spätere 19. Jahrhundert mit seinem Realismus und der Problematik der Bismarckschen Reichsgründung vor ihm auftat. In liebevoller Versenkung drang er in das Wesen der behandelten Persönlichkeiten ein und suchte sie aus ihren eigenen Voraussetzungen zu begreifen. Zugleich erfaßte er den Unterschied der Zeiten, und obwohl er noch ganz in der Saturiertheit des Bismarck-Reiches lebte, ergab sich doch sofort für ihn die Frage, wie aus dem Idealismus der Reformzeit und dem Konservatismus der Gerlachs eine neue Welt erwachsen konnte, und ob nicht in ihr Gefahren lagen, die zunächst durch den Erfolg der kleindeutschen Reichsgründung verdeckt wurden. Sybel fand allerdings Gerlach durch Meinecke zu positiv charakterisiert (»der alte Intrigant«, sagte er zu Meinecke), und der Freund O t t o Krauske gebrauchte den Vergleich mit einer ganz feinen dünnwandigen Porzellantasse, die man sich zu
4 »Die deutschen Gesellschaften und der Hoffmannsche Bund« Stuttgart J . G. Cotta 1891. 79 S. Hier wegen ihres großen Umfangs nicht mit aufgenommen.
Einleitung des Herausgebers
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benutzen scheut s . Die beiden Aufsätze erschienen 1892 und 1894 in der Historischen Zeitschrift und führten nun schon unmittelbar zu den Anfängen Bismarcks hinüber'. Der »Boyen« dagegen, in zwei Bänden 1896 und 1899 herausgekommen, nach Meineckes späterem Urteil etwas zu stoffgebunden und mit polemischer Auseinandersetzung belastet, ließ ihn »sehnsüchtig zurückschauen zu den leuchtenden Gedanken der Reformzeit, in denen sich Staat und Humanitätsideal miteinander vermählten und in denen jedem Stande die Stätte wurde, wo er, gebend und nehmend, lehrend und lernend, sich ausleben konnte« \ Und die Verschiedenheiten der beiden preußischen Kriegsminister aus der Reformzeit und der Reorganisation unter Wilhelm I. kontrastierend zusammenfassend, hat er gleichzeitig beim Erscheinen des ersten Bandes das Hauptergebnis des Ganzen vorweggenommen: ein Essay, den Meinecke selbst immer wieder in seine Aufsatzsammlungen mit aufgenommen hat, damit dokumentierend, daß er ihn für gültig bis in die Gegenwart gehalten hat 8 . Das Jahr 1819 mit der Entlassung Boyens, Humboldts und Beymes wurde für ihn das Epoche-Jahr der preußisch-deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts. Von hier aus gewann er die Konzeption seines ersten großen ideengeschichtlichen Hauptwerks »Weltbürgertum und Nationalstaat« (Ende 1907 erschienen mit dem Erscheinungsjahr 1908)', neben dem die knappe populär gehaltene Monographie »Das Zeitalter der deutschen Erhebung« (1906)10 einherging und zu dem als drittes, auf äußere Anregung hin, materialreich ergänzend der »Radowitz« hinzutrat", da ihm die Familie den gesamten Nachlaß zur Verfügung stellte (1913). Das war begleitet von einer Fülle von Reden und Vorträgen, Rezensionen und kleineren und umfangreicheren Abhandlungen und Essays, die zugleich schon weiterführende Themen anschlugen: Stein und Fichte, 1848 und Bismarck, Staat und Parteien und Deutungen des 5 Erlebtes, Werke VIII, 107 und mündliche Erzählung Meineckes. 6 Die beiden Aufsätze unten S. 377 ff. und S. 402 ff. 7 Leben Boyens Bd. II (1899) 390. 8 »Boyen und Roon« unten S. 297 ff. Die anderen die Biographie begleitenden Abhandlungen und Rezensionen sind hier nicht mit aufgenommen, siemüßten, falls der »Boyen« noch neu herausgegeben werden kann, dabei ihre Berücksichtigung finden. 9 Bd. V der Gesamtausgabe mit der Einleitung von Hans Herzfeld, 1962. 10 Wiederholt neu herausgegeben und in unserer Ausgabe der »Werke« deshalb nicht noch einmal aufgenommen, weil eine von S. A. Kahler mit einem Geleitwort versehene Sonderausgabe (1957) zur Verfügung steht. 11 Eine Neuausgabe in einem weiteren Band der »Werke« wird angestrebt.
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Einleitung des Herausgebers
Gesamtablaufs des Jahrhunderts. Und dahinter die Frage, die ihn noch viel weiter führen sollte: »Wo stammt überhaupt unsere historischpolitische Denkweise, unser Sinn für die Individualität auch der überindividuellen menschlichen Verbände her?. . .« I2 . Das war die Sprengkraft der Idee, die in Meinecke lebte und ihn von Stufe zu Stufe der Erkenntnis führte. Doch wurde dies geruhsame Wachstum wissenschaftlichen Arbeitens jäh unterbrochen durch Weltkrieg und Revolution, wodurch sich Meinecke gleich manchen seiner Fachgenossen aufgerufen fühlte, seine Wissenschaft zu den Tagesereignissen zu befragen und auf sie anzuwenden. Dadurch haben seine kleinen Schriften eine ausgesprochene Wendung zur Zeitgeschichte erfahren, die aber außerdem auch befruchtend und die Fragestellung beeinflussend auf seine großen Werke sich ausgewirkt haben, obwohl sie doch in ihrem von weither angelegten großen Zuge blieben. Der rein stimmungsmäßige Umschwung im Kriege und nach seinem unglücklichen Ausgang ist ja unverkennbar und macht nun gerade diese Erzeugnisse seiner Essayistik und Publizistik zur vergänglichsten Literaturgattung, und doch mußte sie im Interesse des Gesamtwerks mit aufgenommen werden, ebenso wie die rein politische Publizistik schon in dem von Georg Kotowski bearbeiteten Band II der Gesamtausgabe mit den »Politischen Schriften und Reden« gesammelt worden ist. Meinecke ist doch zugleich das lebendigste Beispiel des anscheinend »weltfremden« Gelehrten, der zutiefst in und mit seiner Zeit gelebt hat, dadurch natürlich auch ihren Irrtümern ausgesetzt, aber er hat sich dabei die »höhere Warte« seiner Wissenschaft über den Zeitläuften bewahren können und sich aus der Kraft seiner historisch-politischen Denkweise heraus immer wieder neu orientiert. Das führen uns die sich stärker an der Gegenwart orientierenden kleinen Schriften deutlich vor Augen. Dabei wirft die Thematik der »Idee der Staatsräson« (1924) 13 und der »Entstehung des Historismus« (1936)'" ihre Schatten voraus und verbindet sich jeweils mit der Aktualität der Fragestellung. Auch die älteren Themen tauchen wieder auf, zuletzt die Revolution von 1848 im Jubiläumsjahr 1948", natürlich mit deutlichem Gegenwartsbezug, aber die Einordnung mußte doch in die Gruppe »der deutsche Nationalstaat« vorgenommen werden. Aus der älteren brandenburg-preußi12
»Weltbürgertum und Nationalstaat« in Bd. V der »Werke« S. 169.
13
»Werke« Bd. I hrsg. von Walther Hofer.
14
»Werke« Bd. III hrsg. von Carl Hinrichs.
15
Unten S. 345 ff.
Einleitung des Herausgebers
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sehen Geschichte hat er freilich nichts wieder vorgenommen. Es sind die Themen der Reformzeit und des 19. Jahrhunderts bis in den Ersten Weltkrieg hinein, die immer wieder anklingen. Die Arbeitskraft wird nach dem Ersten Weltkrieg in steigendem Maße auf die großen ideengeschichtlichen Hauptwerke konzentriert, bei denen dann als Nebenfrüchte oder vielleicht auch als höchte Sublimierung historischer Einsicht weniger die politische Geschichte als die Staatstheorie und Geschichtsphilosophie betroffen sind ". Das gehört natürlich alles im Grunde zusammen, und der Leser der in dem vorliegenden Bande vereinigten Stücke wird sich dessen bewußt bleiben müssen und dann auch über die Unterschiede im einzelnen hinweg die Einheit des Ganzen wahrnehmen können. Allerdings enthält der Band gewissermaßen einen Appell an das »Preußische«, kann aber den aufmerksamen Leser nicht darin täuschen, daß Meinecke gerade aus seinem wohlverstandenen Preußentum heraus die Bedenken und Gefahren einer Entartung, wie er sie in der Altersschrift »Die deutsche Katastrophe« hellsichtig gedeutet hat", sehr früh bemerkt hat. Der Umbruch von 1819, Notwendigkeiten und Grenzen des Machtstaats, die sozialen Schwächen des preußischen und deutschen Staates: dies und anderes klingt frühzeitig an; und wenn ihn der Kriegsausbruch von 1914 und die nationalistische Welle des Ersten Weltkriegs zu starken Worten und einem zunächst glaubensstarken Optimismus emporriß, so hat er doch den Geist der Mäßigung aus der Haltung des Historismus heraus bewahrt und etwa an Bethmann Hollweg 1916 betont, »daß er den echten, rechten Sinn für die Staatsräson und für das vernünftige Gleichmaß von Können und Wollen in der Politik besitzt. . . « G e r a d e in der Innenpolitik erhoffte er von der Begeisterung und Opferbereitschaft des Volkes den Ausgleich der sozialen Gegensätze und die Überwindung des »Parteiengeistes«": Hoffnungen, die an der Realität des Kriegsverlaufs und der Unzulänglichkeit der Staatsmänner und Heerführer scheiterten. Aber er hoffte eben auf die »Einsicht in das Notwendige«, und daß sie sich einstellen würde infolge des Zwangs der Realität 20 . Solche Äußerungen geben selbstverständlich keine wissenschaftlichen Erkenntnisse 16 17
Diese Schriften alle in Bd. IV und VII der »Werke«. Zuerst Wiesbaden 1946, jetzt mit in Bd. VIII der »Werke«.
18 19
»Probleme des Weltkriegs« unten S. 571. Vgl. ζ. B . unten S. 575 »Geschichte und öffentliches Leben«.
20
Vgl. den Brief an Walter Goetz v. 22. Oktober 1915 »Werke« Bd. VI 73.
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Einleitung des Herausgebers
wieder, aber sie sind Stellungnahmen zur Gegenwart auf Grund historischer Einsicht und historischen Verständnisses und sind uns als solche, gerade in ihrer ganz speziellen Zeitbedingtheit, lebendige Zeugnisse der damaligen Denkweise. Sie enthalten jeweils aus dem Moment geborene Zielvorstellungen und Wünsche, an deren Realisierbarkeit der Autor naturgemäß bei der Niederschrift und Veröffentlichung keinen Zweifel äußern konnte (auch wenn er vielleicht schon Bedenken hegen mochte), um seinen Appell an die Öffentlichkeit oder an bestimmte Kreise nicht von vornherein unwirksam zu machen. Das ist besonders deutlich etwa bei dem Beitrag zu der Festschrift für Adele Gerhard von 1918 21 , der einen Appell an die deutsche Heeresleitung für einen Verständigungsfrieden enthielt, der doch wenig Aussicht auf Erfolg hatte. Vielleicht hat Meinecke zuweilen die mögliche Wirkung seines geschriebenen und gesprochenen Wortes in der Politik überschätzt, und doch muß man es ihm als ein Positivum anrechnen, daß er seine Stimme erhoben und nicht resigniert hat bis zuletzt: »dum spiro spero« hat er unter die Danksagung nach seinem 91. Geburtstag am 30. Oktober 1953 gesetzt. Die Sammlung und Auswahl hatte die verschiedenartigsten Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Vor allem kam es darauf an, die einigermaßen vergessenen frühen Arbeiten Meineckes als die Keimzelle seiner späteren Werke aufzunehmen, auch wenn er selbst in seiner persönlichen Bescheidenheit niemals daran gedacht hätte, daß man an ihnen noch Interesse nehmen könnte. Insofern ist überhaupt unsere Einstellung zu seinen Schriften eine andere, als die seinige gewesen ist, und wir wollen ihn gerade auch in seinen kleinen Schriften aus den Voraussetzungen seiner Zeit und Umwelt kennenlernen, aus denen sein wissenschaftliches Lebenswerk herausgewachsen ist. Ausgeschieden wurden alle Miszellen und reinen Quellen-Mitteilungen, ferner alles, was in die Hauptwerke übergegangen ist, auch Wiederholungen mit anderen kleinen Schriften, wobei freilich manchmal Zweifel aufkommen konnten, welche von mehreren Fassungen genommen werden sollte, schließlich ausgesprochen polemische Artikel, wenn nicht besondere Gründe für die Aufnahme sprachen, und Rezensionen, soweit sie nicht in der Form von Aufsätzen mit eigener Aussagekraft abgefaßt sind, wie sie auch Meinecke selbst schon in seine 21
»Verständigungsfriede und Heeresleitung« unten S. 603.
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Aufsatzsammlungen eingereiht hat. Von der zeitgeschichtlich-politischen Publizistik hätte man noch mehr bringen können. Hier schien die Beschränkung auf Beispiele angezeigt, und die Schriften über die Gebietsfragen sind nicht berücksichtigt worden, obwohl sie natürlich alle unter historischem Aspekt abgefaßt worden sind. Ferner sind die Beiträge zu Sammelwerken in der Regel fortgelassen worden, wenn sie dort vollständig integrierte Bestandteile darstellen, so etwa die Beiträge zur Cambridge Modern History, für die sich zudem im Nachlaß keine deutschsprachige Fassung feststellen ließ22. Im allgemeinen wurde jeweils die letzte Fassung als Druckvorlage verwendet, und nur an einzelnen Stellen etwas eingefügt, was dort vermerkt worden ist. Dabei Rechtschreibung und Interpunktion normalisiert, Einfügungen in eckigen Klammern, Wortlaut des Herausgebers in Kursivdruck. Jedes Stück ist mit einer Vorbemerkung versehen, die Angaben über die früheren Druckorte und, wenn notwendig, noch einige Erläuterungen enthält. Register und Korrektur haben Frau Dr. Gisela Kessel und Herr Studienrat Volker Schneider (Hermeskeil) besorgt, wofür besonders gedankt sei. Bei der Sammlung des Materials haben Frau Ursula Meinecke, die in Nachfolge ihrer Mutter, Frau Geheimrat Meinecke, die Betreuung des Nachlasses übernommen hat, sowie das nunmehr wieder Geh. Staatsarchiv genannte Dahlemer Archiv, speziell Herr Archivdirektor Dr. Benninghoven und Frau Dr. Cecile Lowenthal-Hensel, wichtige Hilfe geleistet. Ihnen möchte ich ebenso wie dem Verlag für die Herstellung des Bandes und den Mitherausgebern für ihre Beratung herzlich danken, ganz besonders dem Nestor in unserem Herausgeber-Gremium, Herrn Professor Dr. Dr. h.c. Hans Herzfeld, dem dieser Band zu seinem 85. Geburtstag am 22. Juni 1977 gleichzeitig als Festgabe dargebracht wurde.
22 Dabei handelt es sich um 1. The Germanic Federation 1815-1840 in: Cambridge Modern History vol. X (1907) Chapter XI, und 2. Liberalism and nationality in Germany and Austria 1840-1848· ib. vol. XI (1909) Chapter III. Die Bibliographie von Annemarie Reinold in der Historischen Zeitschrift Bd. 174 (1952) S. 510 verzeichnet nur den zweiten dieser Beiträge.
ERSTE GRUPPE
Aus der Frühzeit der Brandenburg-Preußischen Geschichte und der Staatsräson
Das Stralendorffsche Gutachten und der Jülicher Erbfolgestreit Phil. Diss. Univ. Berlin 1886 (Potsdam 1886) 61 S., zugleich in den Märkischen Forschungen Bd. XIX (1886). Der Diss.-Druck enthält noch außer der lateinisch geschriebenen Vita mit den Namen der akademischen Lehrer in Bonn und Berlin die damals üblichen Thesen mit den Namen der Opponenten und einer Danksagung am Schluß an Koser für die Förderung der Arbeit, Sybel als Generaldirektor der Staatsarchive und Philippi als Referent am Archiv. Die sechs Thesen, von denen Meinecke in seinen Erinnerungen (Werke VIII 75 f.) sagt: sie »waren auch nicht viel wert', sind insofern von Interesse, als sie zeigen, wie weit gefächert die Studien des jungen Studenten und Doktoranden gewesen sind. Sie reichen von Tacitus' Germania über Tritheims Hirsauer Annalen (deren Angaben über den Schotten David reine Erfindung seien), die diplomatischen Berichte Blumenthals aus Wien 1667, die Flugschrift Media pads nostro in Imperio conservandas etc. von 1668, die Prinzessin von Ahlden bis zu dem Mystiker David von Augsburg, den er sich von Scherer als Prüfungsthema in der Germanistik ausgebeten hatte.
Es ist jetzt nachgewiesen, daß die von Droysen 1 behandelte und mitgeteilte österreichische Denkschrift von 1705 und das sogenannte Testament Karls V. von Lothringen von 1687, beides Schriftstücke, welche in hohem Grade geeignet sind, die habsburgische Politik zu kompromittieren, Fälschungen sind2. Bereits aus dem Dreißigjährigen Kriege haben wir ein ähnliches Machwerk in dem sogenannten Altringerschen Gutachten von 1629 3 . Wir gewinnen damit den interessanten Ausblick auf eine Reihe von Fälschungen, die uns die verschiedenen Phasen der österreichischen Politik wie in einem verzerrenden Hohlspiegel zeigen und die Tiefe des Mißtrauens eröffnen, welchem diese in jenen Tagen begegnen mußte, wenn man ihr derartige Dinge unterzuschieben wagen konnte. Schon die Analogie dieser Fälschungen könnte dazu auffordern, das angeblich von dem Reichsvizekanzler Lippold v. Stralendorff aus dem Jahre 1609 herrührende Gutachten über die jülichsche Erbfolge, wel1
Gesch d. Preuß. Pol. IV, 4. (1870) S. 239 ff.
2
Koser, Das politische Testament Karls V. von Lothringen. Hist. Zsch. 48 (1887),
45 ff. 3
Grünbaum, Publicistik des Dreißigjährigen Krieges von 1626-1629 p. 110 ff.
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Aus der Frühzeit der Brandenburg-Preußischen Geschichte
ches Droysen zuerst kritisch behandelt und herausgegeben hat 4 und welches immer als ein Beweis für den perfiden Geist der habsburgischen Politik gegolten hat, auf seine Echtheit zu untersuchen, die durch den Umstand, daß sogar ein österreichischer Publizist des 18. Jahrhunderts es für echt angesehen hat, natürlich noch nicht gesichert ist 5 . Als Droysen vor nunmehr bald drei Dezennien an die Frage herantrat, hatte er überhaupt erst den Wust des trüben Materials zu säubern, welches damals für dieselbe zu Gebote stand. Er hatte es hauptsächlich mit der Notiz G. G. Küsters in der Bibliotheca Hist. Brandenburgica IV. 54 zu tun, wonach Thomasius jenes Gutachten gefälscht hätte. Es ward Droysen leicht, dem gegenüber zu beweisen, daß das Gutachten auf jeden Fall aus dem Anfang des 17. Jahrhunderts stammt, und dieser Teil seiner Ausführungen bleibt ohne Frage bestehen. Er zog aber nicht die Möglichkeit in Erwägung, daß wir es vielleicht mit einer schon damals begangenen Fälschung zu tun haben könnten. Diese Lücke in der Beweisführung Droysens veranlaßte Stieve zu erneuter Prüfung der Frage'. Er kommt zu dem Resultate, daß wir es hier allerdings mit einem gefälschten Machwerk zu tun haben, wahrscheinlich von einem kurbrandenburgischen Rate im Sommer 1609 verfaßt, um Kursachsen von der Seite des Kaisers abzuziehen. Gewiß haben nicht alle Einwände Stieves gegen die Echtheit des Gutachtens die gleiche Überzeugungskraft; man wird viele für irrelevant, manche für gänzlich hinfällig erklären müssen 7 . Aber es bleiben der schwerwiegenden Momente, die gegen die Echtheit sprechen,
4 Abhandlungen der sächs. Gesellsch. der Wissenschaften VIII. 361 ff. Die Abhandlung allein in Droysens »Abhandlungen zur neueren Geschichte.« 5 Fritsch in der »Politischen Historie der Staatsfehler, welche die europäische Machten in Betrachtung der Häuser Bourbon und Brandenburg begangen.« 1746. Preußische Staatsschriften aus der Regierungszeit Friedrich II. 2, 48. 6 Sitzungsberichte der philosoph. philolog. u. histor. Classe der Münchener Akademie der Wissenschaften. 1883. p. 437 ff. 7 Teils belanglos, teils auf irrigen Voraussetzungen begründet sind die meisten der p. 464 f. erhobenen Einwände. Daß ζ. B. England mit der Union sowohl wie mit den possidierenden Fürsten Fühlung hatte, zeigen die Briefe und Akten zur Gesch. d. Dreißigjährigen Krieges II, 106a; 271; 383a. 3; 422a. 3; 467. Und daß zwischen den Hansestädten und Kurbrandenburg kein gespanntes Verhältnis, wie Stieve will, sondern im Gegenteil ein sehr gutes bestanden haben muß, geht ebenfalls aus denselben hervor (ef. II, 44 ff.; 248a.; III, 12; 50; 96; 315).
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genug übrig, und es fällt leicht, sie zu stützen und zu vermehren durch andere Zeugnisse. Anders steht es mit den positiven Ausführungen Stieves. Am Schlüsse derselben muß er selbst bekennen, daß er »aus den ihm bisher bekannt gewordenen Akten keine Stütze für seine Annahme beizubringen vermöge«. So bedarf dieser Teil seiner Argumentation noch der Kontrolle auf Grund der hier in Betracht kommenden Akten des Berliner Geheimen Staatsarchivs. Es sei mir zunächst gestattet, noch einmal auf die Gründe Stieves gegen die Echtheit einzugehen, soweit sie mir teils einer anderen Fassung bedürftig, teils einer Erweiterung und Verstärkung fähig erscheinen, ohne indeß dabei dem Gange der Stieveschen Beweisführung streng zu folgen. I. Lange, heißt es im Gutachten, haben die Ketzer auf eine Macht im Reiche gehofft, die Österreich die Spitze zu bieten im Stande wäre. Kursachsen hat diese Erwartungen nicht erfüllt. Neuerdings aber hat sich mit Brandenburg eine unvermutliche Änderung zugetragen, hauptsächlich durch die Besitznahme der Jülichschen Erbschaft. Mit lebhaften Farben werden Brandenburgs Machtmittel geschildert, sein Recht auf die Jülicher Lande wird unumwunden zugestanden, aber dringend gemahnt, dem noch »ungefasten Werke« Einhalt zu tun. Mit zum Teil recht gehässigen Ratschlägen dafür schließt das merkwürdige Schriftstück. Verschiedene Redewendungen im Texte, die Droysen p. 387 anführt, weisen darauf, daß das Gutachten in Prag entstanden sein will, und die Stellen, auf die er p. 391 weist, zeigen deutlich, daß der Verfasser sich als kaiserlicher Rat einführt und nicht etwa nur als ein beliebiger Katholik. Die Prüfung der Echtheit kann sich also auf die Frage beschränken, ob das Gutachten für die Feder eines kaiserlichen Rates ein begreifliches und mögliches Produkt ist. Schon der Eindruck der ersten Lektüre erweckt mancherlei Bedenken. Stieve findet p. 455 den Gedankengang der Einleitung bereits verdachterregend und den beinahe übermütigen Ton derselben wenig passend zu den echten Zeugnissen für die damalige sorgenvolle Stimmung der katholischen Kreise. Niemand unter den Ketzern, meint der Verfasser, habe bis jetzt dem von Gott begnadigten Hause Österreich
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die Spitze bieten können, und »je näher sie nun zu diesem Werk gezielet, je ferner sie darvon kommen.« Auf p. 464 aber meint Stieve: »Ein Rath oder Anhänger des Kaisers würde sich doch gescheut haben, in § 27 zu sagen: Und ist kein Zweifel, daß dieses Haus leichtlich bei diesem Zustand fallen und hinfüro die zu fürchten und denen zu dienen könnte gezwungen werden, so ihm bishero zu dienen eine Ehre geachtet und solches höchlichen fürchten müssen.« Das richtige dürfte Stieve in dem ersten Einwand getroffen haben. Es ging allerdings damals ein pessimistischer Zug speziell durch die österreichisch gesinnten Kreise, hervorgerufen durch die jammervolle Regierungsweise des geisteskranken Kaisers und die innern Zwistigkeiten in der Familie der Habsburger. »In exitium Austriacae domus et eversionem priscae fidei conspirabitur«, schrieb Daniel Eremita, der eben damals im Sommer 1609 im Gefolge der florentinischen Gesandtschaft in Prag weilte 8 . Und in dem aufgefangenen Briefe Erzherzog Leopolds an Erzherzog Ferdinand vom 5. Dezember 1609 heißt es: »Wollten E. L. unserem Haus, wie ich nicht zweifele, ab imminente interitu helfen etc.«' Ich habe indeß hier nicht den offenbaren Widerspruch in der Beweisführung Stieves, sondern den nicht minder offenbaren in der Darstellung des Gutachtens im Auge. Er wird allerdings dadurch gemildert, daß es am Schluß jener siegesgewissen Einleitung doch noch heißt: Nun aber »hat sich bei dem andern Kurhause Brandenburg eine sothane unvermuthliche Veränderung schleunig begeben, daß nunmehr es sich fast ansehen läßt, als sollten die Lutherischen dadurch fast mehr können behaupten, als sie vordem verhoffen mögen.« Man mag es vielleicht eher einen krassen Licht- und Schatteneffekt nennen, aber auch als solcher würde er in einem echten Gutachten auffallen. In einer Fälschung dagegen ist er überaus erklärlich. Was dem Fälscher so leicht passiert: Indem er sich aus seiner eigenen natürlichen Gedankenwelt in eine fremde hineinfingiert, neigt er zu Ubertreibungen, und
8 Danielis Eremitae Belgae Iter Germanicum in Le Bret, Magazin z. Gebrauch der Staaten- und Kirchengeschichte. 1772 II p. 328 ff. 9 Ritter, Sachsen u. d. Jülicher Erbfolgestreit. Abh. d. k. bayer. Ak. d. W . Histor. CI. X I I , p. 63. Übrigens gelangte nicht eine Abschrift, wie Ritter p. 33 meint, in die Hände der possidierenden Fürsten, sondern das Original selbst nebst einer Reihe anderer Schreiben. (Berl. Arch. 35 a. 17.)
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indem er beide Sphären nicht von einander zu scheiden vermag, gerät er in Widersprüche und fällt aus der Rolle. Wenn wir von diesem Gesichtspunkte aus die Gedanken und Urteile des Gutachtens näher in das Auge fassen, so stoßen wir gleich auf eine ganze Reihe ähnlicher Widersprüche und Unebenheiten. Stieve selbst hat auch einige von ihnen bemerkt und spricht über sie, wenn auch in anderm Zusammenhange; wie mir scheint in keinem glücklichen. So fragt er p. 465, wie ein Katholik in § 34 und 35 gerühmt haben solle, »daß Polen dem Hause Brandenburg wegen der preußischen Lehenschaft so sehr gewogen« sei, und daß die dortigen Protestanten demselben »gleichsam als leibeigen verkauft und verbündlich gemacht« seien, wenn er in § 47 wußte, daß die Polen die in Preußen im Schwang gehende Meuterei schürten und so das Land in ihre eigne Hand zu bringen hofften. Soll ein Nichtkatholik etwa eher im Stande gewesen sein, solchen Widerspruch zu begehen? N u r bei einem Fälscher, wie gesagt, scheint es mir leicht erklärlich, und da in unserm Falle ein überzeugter Katholik allerdings nicht der Fälscher gewesen sein kann, so komme ich in der Sache auf dasselbe hinaus, wie Stieve. Höchst befremdlich im Munde eines Katholiken findet auch Stieve p. 463 die Bemerkung in § 25: »daß der jetzige Kurfürst seiner Religion wegen noch wenig Erklärung gethan und also beide die Lutherischen und Zwinglianer sich obligat gemacht.« Er hält es für wenig wahrscheinlich, daß ein Katholik diese Tatsache so verwertet haben würde, da die Folgerung näher gelegen habe, daß der Kurfürst sich durch seine Haltung beide Parteien verfeinde. Ich finde wieder die Fragestellung falsch. Für einen Protestanten, der aus innerster Herzensmeinung heraus schrieb, wäre es doch noch viel auffälliger, von jener zweideutigen Haltung des Kurfürsten, die auf ihn selbst unmittelbar mit wirken mußte, in der Weise zu sprechen. Schrieb er aber als Fälscher, dachte er sich aus seiner eigenen natürlichen Anschauungsweise in eine entgegengesetzte hinein, so ist es nicht mehr als natürlich, daß er in solche Trugschlüsse und schiefen Urteile verfiel. Nicht unbemerkt ist von Stieve auch der Widerspruch geblieben, der zwischen der unumwundenen und rückhaltlosen Anerkennung der Unbestreitbarkeit des brandenburgischen Rechtes im § 41 und den Erörterungen in § 51-56 besteht, wo doch wieder Gründe gegen die brandenburgischen Ansprüche geltend gemacht werden, und zwar Einwände, wie sie wirklich auch von kaiserlicher Seite erhoben wurden. Selbst diese nur als Scheingründe aufzufassen, möchte ich nicht
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mit Stieve p. 466 wagen. Die Worte des § 56: »aus dem allen, verhoffet man, erscheinen könne, daß Kais. Maj. mit Grund und Fug dem Brandenburger die Fürstenthum, deren obgedacht, abstricken könne«, sprechen entschieden dagegen. So steht auch die starke Herausstreichung der brandenburgischen Machtmittel in den §§ 9 ff. in auffallendem Gegensatz zu § 40, wo auf einmal wieder gesagt wird, die brandenburgische Macht sei doch noch ein »ungefastes Werk«, das noch leicht hintertrieben und aufgehalten werden könne. Speziell zu § 22, wo es heißt, aus den Marken sei unschwer eine stattliche Reiterei aufzubringen, wollen die Worte in § 4 9 gar nicht passen: »Im Kurfürstenthum weiß man, daß wenig Kriegsleut darin gefunden werden.« Und nicht minder befremden muß es, wenn man in § 16 liest, daß »all diese Lande zu besonderen Conföderationen, dazu auch weidlich gethan worden, sehr wohl gelegen« seien, wenn in §§ 31-33 die voraussichtlichen Allianzen Brandenburgs mit Frankreich, England und anderen Mächten erörtert werden, und wenn es dann in § 49 wieder heißt: »und ist über das zu rechten Verbindung anderer Potentaten keine gewisse Veranlassung vorhanden.« Für sich genommen würden ja diese auffallenden Stellen einen durchschlagenden Beweis der Fälschung noch nicht ergeben, aber sie erregen den Verdacht und fordern zu weiterer Prüfung auf, vor allem zur Vergleichung mit den echten Kundgebungen der kaiserlichen Politik und mit den sonst bekannten und authentisch überlieferten Ansichten und Meinungen der kaiserlichen Räte.
II. Wir haben als Quellen zur Erkenntnis der Motive und Absichten der kaiserlichen Politik in der Jülicher Frage nach dem Tode des letzten Herzogs einmal die öffentlichen Schritte der Regierung, dann die Mitteilungen fremder Gesandten, und schließlich als wertvollstes Material anderweitig überlieferte, zweifellos originale Gutachten der kaiserlichen Räte. Bereits Droysen p. 383 gab Nachricht von einem Gutachten des Reichshof rats aus dem Sommer 1608 über die jülichsche Erbfolge, von dem Philipp Eger, »brandenburgischer Rath und Bestallter am kaiserli-
Das Stralendorffsche Gutachten und der Jülicher Erbfolgestreit chen H o f e von Haus
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darüber anzustellen,
» w o h e r diese v o r i g e
Reichshofraths angezogene concilia ( s i c ) . . . m ö c h t e n a u s k o m m e n und ihnen c o m m u n i c i r t w o r d e n sein«11. 10 Nach einem Schreiben des Markgrafen Ernst an Markgraf Johann Georg vom 24. Dec. 1609 (Berl. Arch.) hätte dieser ihm schon am 11. Nov. 1609 aus Jägerndorf eine Abschrift des Gutachtens von 1608 zugesandt. Auszug desselben bei Ritter a. a. O . pag. 20. 11 Reichshofrathsprotokolle in causa successionis Juliacensis vom 12. Februar 1610 bis 8. Juli 1647. Cop. im Berl. Arch. R. 35 b 27/28. Aus dem Inhalt des bis jetzt unbekannt gebliebenen Gutachtens vom September 1609 (Berl. Arch. R. 35 a. 4) teile ich noch folgendes mit: Auf die von den possidierenden Fürsten (in dem Instrumentum Provocationis vom 25. Juli und dem Schreiben an den Kaiser vom 20. August. Meyer, Londorpius suppletus 1, 491 ff.) erhobenen Einwendungen und Vorstellungen hin werden den Räten die Fragen vorgelegt: 1) O b die erlassenen Mandate rechtmäßig und durchzuführen sind; 2) Wie man weiter gegen die Fürsten verfahren solle; 3) O b hierdurch der Kaiser ein Präjudiz für Ansprüche des Reichs schaffe. Sie antworten ad 1), daß die Mandate zu Recht bestehen, da der Kaiser die rechtmäßige Obrigkeit und oberster Lehnsherr der Lande sei, »und da gleich I. M. wegen des heiligen Reichs Interesse die Lehen als verfallen und eröffnet mit Recht besprechen und dem heiligen Reich wieder einverleiben wollten, in quo quidem causa (casu corr. Pruckmann) de jure communi pares curiae inter dominum et vasallum judices sunt competentes, wird doch solches von denen Rechtslehrern dahin eingezogen und verstanden, wann aus anderen Ursachen und Fällen zwischen dem Lehenherrn und vasallo Streit einfällt. Wann aber feudum propter generationem finitam vel tempus extinctum dem Lehenherrn heimgefallen und eröffnet, ist unnöthig einige pares curiae darzuzuziehen und zu erfordern, sondern kann und mag der Lehenherr et quidem sine ulla dubitatione Imperator ex suprema potestate ohne Ersuchen oder Niedersetzunge parium curiae, auch unerwartet ihres Urtels und Bescheids gestracks die Güter apprehendiren, annehmen und zu sich bringen.« . . . Auch hat der Kaiser volles Recht, »ob verisimilem futuri scandali timorem . . . atque armorum suspicionem ex officio pluribus haeredibus adipiscendam possessionem contendentibus inhibere ne accedant, sed ab armis abstineant fructusque interim percipiendos sequestrare.« . . . Die possessio war nicht, wie die Fürsten vorgeben, vacans, sondern die Räte führten die Landesregierung
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Aus dem Inhalt eines weiteren echten Gutachtens der kaiserlichen Räte ist uns ein Satz erhalten durch die Erwähnung in den »Exceptiones nullitatis, contrarietatis et impossibilitatis cum eventualiter annexis exceptionibus recusatoriis«, der Protestschrift Brandenburgs gegen die erneuten Citationen v o m 9. N o v e m b e r , deren Beilagen jene obigen gemäß der Regimentsordnung; der Kaiser hat ihnen auch befohlen, die Regierung fortzusetzen. Die Besitzergreifungsakte der Fürsten sind ungenügend und ungültig und »veri actus turbationis«; die Huldigung der Stände ist erzwungen worden etc. Auch durch den Dortmunder Vergleich ist der metus armorum nicht geschwunden, da auch andere Prätendenten erklärt, daß sie ebenfalls an die Wahrung ihres Rechts denken müßten, wenn nicht der Kaiser als höchste Obrigkeit die Regierung bis zur rechtlichen Entscheidung übernähme. . . . ad 2) Beide Fürsten können wegen ihres Gebahrens an den kais. Hof zitiert werden; weil sie aber dazu von ihren Principalen keine Vollmacht haben könnten, wäre »mit solcher Citation noch etwas zurückzuhalten.« Dagegen die Räte und Stände, welche sich ihnen angeschlossen, soll der Fiskal persönlich citiren und gegen sie rechtlich vorgehen, ad 3) Alles was der Kaiser zur Erhaltung der Ruhe bisher getan, benimmt nichts seinen und des Reiches Rechten; es wäre vorzuschlagen, daß der Fiskal »in termino primae citationis den 24. Septembris nächstkunftig . . . jus et interesse imperii deducirt und rechtliche Entscheidung begehrt hätte; dadurch, quando fiscalis agit«, würde auch die kaiserliche Jurisdiction weniger Anstoß erregen. (Randbemerkung: »In allerwege zu coloriren, daß Sachsen nicht offendirt werde.«) Das Gutachten ist also abgefaßt zwischen dem Eintreffen des Schreibens der possidierenden Fürsten vom 20. August und dem 24. September 1609. Schon am 9. Oktober 1609 meldet der brandenburgische Gesandte Johann Koppen aus Prag, daß der Leibarzt des Kaisers, Herr Athenstedt, gar eilends zu ihm gekommen sei und ihm im höchsten Vertrauen berichtet habe, »wie daß der Hegenmüller ihm fast mit Frohlocken offenbaret, daß die geheimden Räthe auf Begehren des Kaisers ein Consilium in den gülichschen Sachen zu Papier bracht und dem Kaiser allbereits ubergeben, des Inhalts, man solle den Kurfürsten zu Brandenburg und alle, so demselben in dieser Sachen Vorschub thäten, in die Acht und vogelfrei erklären.« Der Inhalt des Gutachtens entspricht nun freilich nicht den schreckenerregenden Andeutungen, welche Koppen gemacht worden waren, aber es erscheint mir doch sehr wahrscheinlich, daß Athenstedt dieses Gutachten, von dem er selbst noch keine genaue Kunde haben mochte, meint. Offenbar hat dann Johann Siegmund in seinem Schreiben an den Kaiser vom 16. Nov. 1609 (Konz. Pruckmanns im Berl. Arch. Londorp I. 86. cf. Droysen p. 391) die Mitteilungen Köppens im Sinne, wenn er schreibt: »Sintemaln ich dessen eigentliche begründte Anzeig und Nachricht habe, daß sich der meiste und vornehmste Theil Kais. Maj. Räthe wider mich zu Häuf gerottet, auch ein schriftlich Bedenken ubergeben und E. Kais. Maj. darinnen wider Recht, Pilligkeit und Fug mich mit Acht und Uberacht noch ferners zu beschweren und zu verfolgen gerathen.« Man kann vielleicht schließen, daß man in Berlin, als man dies schrieb, noch nicht das Gutachten selbst in Händen hatte. Dies wäre dann zwischen dem 15. Nov. 1609 und dem Januar 1610 in die Hände der brandenburgischen Räte gelangt.
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Gutachten bildeten12. Hier heißt es: »Ja, ob es Noth thäte, könnte auch ferneres beigebracht werden, daß noch andere mehr Bedenken von den Reichshofräthen geben vorhanden, darinnen diese Wort ausdrucklich zu lesen: »Intrepide concludimus, feuda haec inasculina ideoque Caesareae Majestati seu domino feudi immediato aperta esse nec Saxoni vel Brandenburgico competere.« Eins fiel bei der Vergleichung mit der in den echten Gutachten sonst üblichen Form bereits Droysen p. 388 auf: Sie alle berufen sich auf eine bestimmte Beauftragung oder Veranlassung. Unserem Gutachten fehlt aber jede Adresse. Die echten Gutachten umgrenzen ferner auf das Bestimmteste ihr Thema und beschränken sich auf die Beantwortung der kurzen, präzisen Fragen, die man den Räten vorgelegt. Davon ist in dem unseren nicht die Rede. Es holt weit aus und behandelt die Frage »gleichsam ab ovo, wie eine völlig neue.« Droysen und noch schärfer Stieve p. 445 fragen, für wen ein solches Gutachten bestimmt gewesen sein könne. Für den Kaiser Rudolf II. auf keinen Fall. »Es ist gewiß«, schreibt Pruckmann einmal an die brandenburgischen Gesandten in Prag 13 , »daß S. M. (solche) lange Predigt allbereits vor langen Jahren, da sie noch viel junger, nicht dulden noch leiden können, geschweige dann anitzo, da sie propter aetatem noch viel mehr morosiores sein.« Eher könnte es für den Geheimen Rat bestimmt gewesen sein. Stieve, der sich hier speziell gegen die durch einige Handschriften bezeugte Autorschaft Stralendorffs wendet, meint, daß dieser als Mitglied des Geheimen Rates seine Ansichten weit bequemer und wirksamer mündlich hätte entwickeln können. Bequemer gewiß, aber ob wirksamer? Warum sollte sich Stralendorff oder ein anderer kaiserlicher Rat von einem schriftlichen Gutachten, das noch einmal die ganze 12 Konz, von Pruckmanns Hand und Cop. im Berl. Arch. Praes. Prag 5. Febr. 1610. Ich entnehme diese u. a. Daten einem Registerband der kaiserlichen Kanzlei, der unter dem Titel Designatio Actorum in Sachen Die Güllich-, Clev- und Bergische Succession betr. im Berl. Geheimen Staatsarchiv (R. 35 b 1) sich befindet und der die am kaiserlichen Hofe eingelaufenen und erlassenen Juliacensia von 1590, reichhaltiger erst von 1605 an, bis 1680 meist mit kurzen Inhaltsangaben verzeichnet. Wenn wie Stieve p. 441 meint, die kaiserlichen Akten selbst wirklich zu Grunde gegangen sind, so wäre dies Register trotz seiner Unvollständigkeit immerhin ein wertvoller Ersatz dafür. 13 20. Juni 1609. Or. Berl. Arch. Ähnlich der Bericht Christians v. Anhalt über seine Gesandtschaft an den Kaiser Sept. 1609. Briefe u. Akten 2. 392: Der Kaiser pflege weitläufige Schriften nicht zu lesen.
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Frage in großem Stil und von allgemeineren Gesichtspunkten aus behandelte, nicht größere und tiefere Wirkung versprochen haben, als von einem mündlichen Vortrage? Das Gutachten geht zurück bis auf die Zeit vor dem Augsburger Religionsfrieden und beleuchtet von da aus die politischen Hoffnungen und Wünsche der Protestanten. Wurde nicht durch diesen Rückblick in die Vergangenheit die Bedeutung des gegenwärtigen politischen Konflikts auf das schärfste hervorgehoben und beleuchtet? Dies Bedenken Stieves würde also noch nicht durchschlagen. Anders steht es, wenn wir den Inhalt jener echten Gutachten mit dem unseren vergleichen und damit verbinden, was uns sonst über die Anschauungen der kaiserlichen Politik bekannt ist. Zunächst muß in das Auge fallen die Beurteilung der von den verschiedenen Prätendenten erhobenen Erbansprüche. Wir sahen bereits oben p. 7, daß unser Gutachten einen Widerspruch begeht in der Erörterung der brandenburgischen Ansprüche, indem es einmal dieselben unumwunden anerkennt und dann doch wieder § 51-55 ausführt, daß die brandenburgische Kurfürstin als Erbin des geächteten Herzogs von Preußen jeder weiteren Ansprüche für verlustig erklärt werden könne. Wirklich erhebt auch das echte Reichshofratsgutachten von 1608 gegen das brandenburgische Recht den Einwand, daß der Herzog von Preußen in Acht und Bann gestorben sei. Von der entschiedenen, unumwundenen Anerkennung jenes Rechtes dagegen, welche in den Worten des Gutachtens liegt: »Kein Recht (kann) sein, kein Schein ersehen noch erfunden werden, ja fast kein Mittel kann vorgeschlagen werden, dadurch zu Wege zu bringen, daß Brandenburg dabei nicht sollte gelassen werden« - von dieser Anschauung waren die kaiserlichen Räte doch weit entfernt. Das oben mitgeteilte Bruchstück eines ihrer Gutachten spricht es kurz und deutlich aus: Feuda haec . . Caesareae Majestati. . aperta esse nec Saxoni vel Brandenburgico competere. Damit stimmt der Venetianer Cavalli durchaus überein, wenn er am 6. Juli 1609 berichtet: »Di giä si scopriva, che l'Imperator intendesse, che quel feudo fosse devoluto.« M Auch nach den Berichten der sächsischen Gesandten sah man am kaiserlichen Hofe die Jülicher Lande für heimgefallene Mannlehen an' 5 . Und ganz entsprechend melden auch die brandenburgi14 15
Die ganze Stelle aus seinem Bericht bei Stieve p. 467. Ber. v. 10. Juni u. 5. August bei Ritter a. a. O . p. 29.
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sehen Gesandten Götze und Sartorius am 18. Juni aus Prag": »Und haben (wir) in Vertraulichkeit diese Nachrichtung bekommen, daß Ihr. Kais. Maj. sich selbst für den fürnehmsten Interessenten censiren wollen.« Versteckter, aber darum nicht minder deutlich zeigt auch das Gutachten des Reichshofrats vom September 1609 die Absicht der kaiserlichen Politik, die reiche Erbschaft als verfallenes Lehen an sich zu bringen. Daß die allgemeine Stimmung am kaiserlichen Hofe gegen das brandenburgische Recht sei, berichten übereinstimmend die sächsischen" wie die brandenburgischen 18 Gesandten. Speziell Stralendorff spricht ihm bei den verschiedensten Gelegenheiten und gegenüber so verschiedenen Parteien, wie Kurmainz, Neuburg" und Sachsen20 jedes Fundament ab; und das sei, so behauptet er noch auf dem Prager Fürstentage im Mai 1610, allezeit seine Meinung gewesen 2 '. Weniger konsequent sind die kaiserlichen Räte scheinbar in der Beurteilung des sächsischen Rechtes. Die brandenburgischen Gesandten melden am 11. Juli, daß die sächsischen Ansprüche am kaiserlichen Hofe »nicht wenig erhöht würden.« Und nach den Berichten der sächsischen Gesandten hat Leuchtenberg Sachsen für den »vornehmsten Interessenten« und Stralendorff das sächsische Recht für das beste von allen erklärt 22 . Aber schon das Reichshofratsgutachten von 1608 erhebt allerlei Einwände gegen das sächsische Recht, und das Bruchstück jenes anderen Gutachtens bestreitet dasselbe kurzweg. Der scheinbare Widerspruch ist hier leicht erklärlich. Die den sächsischen Herzögen und Kurfürsten einst gegebenen Privilegien Friedrichs III. und Maximilians konnten nur dann geltend gemacht werden, wenn man die Jülicher Lande als Mannlehen ansah. Und wiederum konnte auch der Kaiser nur unter dieser Voraussetzung die Lande als heimgefallene Lehen einziehen. So mußte den kaiserlichen Räten notwendig das sächsische Recht als das verhältnismäßig beste 16 17 18 19 20 21 22
Berl. Arch. Bei Ritter a. a. O. p. 29. Bericht vom 11. Juli. Berl. Arch. Stieve p. 450 f. Bericht Gerstenbergs v. 4. Juli bei Ritter a. a. O. Gindely, Rudolf II. 2, 114. Ber. v. 10. Juni, 1. Oct. 1609,2. Jan. 1610 bei Ritter a. a. O. cf. Gindely a. a. O.
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gegenüber den anderen Hauptinteressenten, die sich durchweg auf die weibliche Erbfolge beriefen, erscheinen. In diesem Sinne äußerte auch der Landgraf v. Leuchtenberg im September 1609 zu dem sächsischen Gesandten, da sowohl Sachsen wie der Kaiser so kräftige Ansprüche erhöben, könnten beide sich vielleicht abfinden". Wie schlägt nun dieser unter den kaiserlichen Räten verbreiteten Anschauung, daß die Jülicher Lande Mannlehen seien, unser Gutachten ins Gesicht, wenn es in § 42 sagt: »Denn daß alle diese Lande feuda foeminea sein . . ., kann bei keinem Verständigen einigen Zweifel mehr haben«, und wenn es in § 58 gegen die sächsischen Ansprüche einwendet: »Entweder ist die kaiserliche Begnadigung so zu verstehen, wenn Gülch zugleich in männlichem und weiblichem Geschlecht und Stämmen abgehen werde . . . oder aber Kais. Maj. ist unberichtet geblieben, daß dieses nicht Mannlehen, sondern feuda foeminea wären.« Ist es denkbar, daß ein kaiserlicher Rat in so schroffer Weise sich dem Standpunkt seiner übrigen Kollegen entgegensetzte, ohne auch nur den geringsten Versuch zu machen, auf diese Kardinalfrage näher einzugehen und seine Ansicht zu motivieren? Aber noch mehr gibt uns die Vergleichung der echten Gutachten und anderer Zeugnisse mit den Ausführungen unseres Diskurses in die Hand. Das Gutachten sagt in § 42 und 43, die jüngeren Schwestern Maria Eleonorens hätten zu Gunsten dieser auf die Jülicher Lande »renuncirt« und »acquiescirten«, - also auch die Markgräfin von Burgau. Mit Recht hebt Stieve p. 468 diesen Widerspruch mit den Tatsachen hervor. Das Reichshofratsgutachten von 1608 betont es, daß die Markgräfin von Burgau niemals in die Erbverordnung des Vaters, der die jüngeren Schwestern mit Geld abfinden wollte, gewilligt habe. Und nach dem Tode des letzten Herzogs, am 22. April 1609 bereits zeigte der Markgraf von Burgau dem Kaiser ausdrücklich an, daß seine Gemahlin nicht verzichtet habe, und bat für sie um die Investitur und die Immission in das Erbe 24 . Keiner der Interessenten hat damals so eifrig am kaiserlichen Hofe gedrängt und agitiert, wie gerade er. Die Designatio Actorum verzeichnet aus den Monaten April bis Juni nicht weniger als sieben Schreiben des Markgrafen an den Kaiser, in denen er nicht müde wird, sich über das Vorgehen der possidierenden Fürsten zu beklagen und um schärfere Maßregeln gegen sie zu bitten. Da ist es
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Ritter a. a. O . Designatio Actorum etc.
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ausgeschlossen, daß ein kaiserlicher Rat von Acquiesciren und Renunciren Burgaus sprechen konnte. Wenden wir uns zum Schluß von der Erörterung der Erbansprüche zu der Behandlung einer andern rechtlichen Frage, für die uns die echten Gutachten und die Schritte der kaiserlichen Politik eine nicht minder sichere Kontrolle an die Hand geben. Das Gutachten sagt in § 34, daß »Brandenburg possessionem legitimis mediis apprehendirt und so lange manutenirt und geschützt werden müsse, bis zu Recht ein anderer in petitorio sein jus ausgeführt habe.« Natürlich behaupteten Brandenburg und der Pfalzgraf von Neuburg, daß ihre Besitzergreifung rechtmäßig sei, und daß »ein jeder bei seiner inhabenden Possession so lang unturbirt gelassen werden soll, bis ein anders mit ordentlichem Rechten wider ihm erhalten oder ausgeführt wurd.« 25 Aber die kaiserliche Politik basierte von vorn herein eben auf dem Widerspruch gegen die Besitzergreifungsakte Brandenburgs und Neuburgs. Nach ihrer Auffassung - das zeigt das Gutachten der Reichshofräte vom September 1609 deutlich26 - war die Regierung nach dem Tode des letzten Herzogs auf Grund der Regimentsordnung von 1591 vorläufig auf die Räte desselben übergegangen, der Besitz also nicht vakant, mithin die Besitzergreifungsakte der Prätendenten rechtlich ungültig. Demgemäß befahl der Kaiser schon am 2. April den Räten, die Regierung fortzusetzen und keinen der Interessenten zuzulassen27, und die Mandate vom 24. Mai, 7. und 11. Juli forderten von den possidierenden Fürsten Wiederherstellung des status quo und bestritten entschieden die Berechtigung ihrer Besitzergreifung und des auf Grund derselben getroffenen Vergleichs. So besteht also auch in diesem Punkte ein arger Widerspruch zwischen den wirklichen Anschauungen und Kundgebungen der kaiserlichen Politik und den Ausführungen des Gutachtens. Und was Stieve p. 467 gegen die rückhaltlose Anerkennung der brandenburgischen Erbansprüche einwendet, hat auch hier seine Geltung. Nehmen wir immerhin einen kaiserlichen Rat an, der in der Beurteilung der brandenburgischen Besitzergreifung einen von der Majorität seiner Kollegen abweichenden Standpunkt einnahm - mußte er dann nicht notwendig auf die Frage eingehen und seinen Standpunkt gegenüber 25
Copia Berichts beider Kur- und Fürsten Brandenburgs und Pfalz Neuburg
Gewalthaber an underschiedliche Potentaten etc. abgegangen. 26
s. o. p. 10 Anm. 2.
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Meyer, Londorpius suppletus 1, 466.
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dem offiziellen begründen? Auch der Einwand, daß der Verfasser ja selbst später in § 61 und 62 zum Einschreiten des Kaisers gegen die Besitzergreifung Brandenburgs auffordere, und daß ein kaiserlicher Rat gar wohl im Herzen die Rechtmäßigkeit der brandenburgischen Erbansprüche und der brandenburgischen Besitzergreifung habe zugeben und doch nach außen hin dieselbe bekämpfen können, wird kaum das Bedenkliche der Sache mildern. Denn ist es glaublich, daß der Verfasser seine Herzensmeinung so unumwunden ausdrücken und damit seine Heuchelei so kraß an den Tag legen sollte, wo ihm doch äußerlich ganz bestechend klingende Gründe zu Gebote standen, um sie zu bemänteln. Warum will er perfid erscheinen, wo er es doch vermeiden kann?
III. Die letzten Zweifel an der Tatsache der Fäschung werden schwinden, wenn wir die Zeit untersuchen, in der das Gutachten, wenn es echt ist, geschrieben sein muß. Den terminus post quem sucht Droysen aus den Worten des Gutachtens in § 13, Pfalz-Neuburg sei von Brandenburg contentiert, und § 43, Neuburg acquiesciere, zu bestimmen, indem er meint, daß sie die Kenntnis des Dortmunder Vertrages vom 9. Juni 1609 voraussetzten. Ohne Zweifel hat nun Stieve p. 443 f. Recht: Jene Worte können unmöglich unter dem frischen Eindruck des Dortmunder Vertrages geschrieben sein, in welchem beide Fürsten sich über gemeinsamen Besitz und gemeinsame Regierung der jülichschen Lande verständigten. Aber vielleicht schrieb der Verfasser schon vor dem Bekanntwerden des Dortmunder Vertrages in Prag auf ein Gerücht hin, welches den Ausgang der Verhandlungen zwischen Brandenburg und Neuburg so darstellte, als habe letzteres wirklich sich abfinden lassen. Es fragt sich also, wann man am kaiserlichen Hofe die Nachricht vom Dortmunder Vertrage empfing. In Dortmund weilte in den Tagen, als dort Markgraf Ernst von Brandenburg und Pfalzgraf Wolfgang Wilhelm von Neuburg unterhandelten, Hans Reichard v. Schönberg, einer der kaiserlichen Kommissare, die gleich nach dem Tode des letzten Herzogs von Jülich nach dem Niederrhein abgeordnet waren. Der Bericht, in dem er dem Kaiser den Abschluß des Dortmunder
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Vergleiches meldet, datiert vom 19. Juni und kam am 29. Juni in Prag an29. Aber aus Schönbergs Relation, von der die damals in Prag weilenden brandenburgischen Gesandten Siegmund v. Götze und Andreas Sartorius im höchsten Geheimnis Abschrift nahmen", geht hervor, daß der Prager Hof bereits durch seinen vorhergehenden Bericht Kunde von den in Dortmund gepflogenen Verhandlungen erhalten. Schönberg erwähnt nämlich, daß er dem Kaiser bereits berichtet, wie er sich auf Anrufen der Räte und Stände zum Kurfürsten von Köln nach Arnsberg begeben. Er habe das auch für eine »Hochnothdurft« gehalten, weil die Fürsten zu Dortmund, das nur fünf Meilen von Arnsberg entfernt, beisammen gewesen, und weil er den Kurfürsten von Köln selbst habe bewegen wollen, nach Dortmund zu gehen. Zweifelsohne hat aber Schönberg, wenn er dem Kaiser in seinem vorhergehenden Bericht, - es ist der vom 6. Juni 30 - seine Reise nach Arnsberg meldete, auch von deren Zweck Meldung getan, und somit wußte man in Prag schon am 16. Juni, an dem jener Bericht eintraf, daß in Dortmund Ausgleichsverhandlungen zwischen Brandenburg und Neuburg vor sich gehen sollten und inzwischen schon Statt gefunden haben mußten. Daraufhin also mochte ein kaiserlichen Rat in dem Glauben, daß Neuburg wirklich sich werde »contentiren« lassen, von den Dortmunder Verhandlungen schon als einem fait accompli sprechen. Und es könnte dann das Gutachten in Prag zwischen 16. und 29. Juni geschrieben sein. Aber auch diese Entstehungszeit ist nicht zu halten. Durchaus zutreffend ist, was Stieve p. 442 f. ausführt. Es handelt sich um den Ratschlag, den der Discurs in § 62 gibt: »Daraufhin müßten edictales citationes ergehen und beide Parteien vorbeschieden werden.« Solche Zitationen aber wurden schon am 24. Mai ausgefertigt; am 28. Mai den kreisausschreibenden Fürsten und am 29. Mai dem kaiserlichen Kommissar Schönberg zur Publikation zugeschickt". In der Tat händigte Schönberg in Dortmund am 11. Juni den beiden Fürsten die Zitation ein32, und am 12. Juni übersandte Kurfürst Christian II. von Sachsen 28 Designatio Actorum. 29 Relation Götze's und Sartorius' vom 9. Juli 1609, Berl. Arch. cf. Briefe und Akten zur Geschichte des 30jährigen Krieges 2, 282 A. 5. 30 Designatio Actorum. 31 Das. 32 Stieve p. 443. Br. u. A. 2, 281.
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als ausschreibender Fürst des obersächsischen Kreises dem Kurfürsten von Brandenburg ein Exemplar derselben. 33 Unmöglich kann nach dem 24. Mai also ein dem kaiserlichen Hofe nahe Stehender noch geraten haben, »edictales citationes« ergehen zu lassen. Um nun überhaupt noch eine Zeit ausfindig zu machen, in der das Gutachten geschrieben sein kann, müßten wir annehmen, daß nicht nur bereits vor dem 16. Juni, sondern auch schon vor dem 24. Mai Gerüchte in Prag umliefen über eine Verständigung zwischen Brandenburg und Neuburg. Noch weiter zurück führt uns aber eine Erwägung, die Stieve p. 454 nur streift, wenn er es auffällig findet, daß im Gutachten »von der nach des Herzogs Ableben geschehenen Beauftragung dreier Kommissare und von den diesen erteilten Befehlen mit keinem Wort die Rede ist.« Nun sagt aber das Gutachten in § 61: »Allein muß Ihre Maj. nicht säumen, anfangs ihren ansehnlichen commissarium mit voller Macht ins Land zu schicken.« Man gewinnt notwendig daraus den Eindruck, daß bisher noch keine Kommissare entsandt seien. Aber bereits am 2. April hatten Hans Reichard v. Schönberg und der Reichshofrat Hans Heinrich v. Neuhausen den Auftrag bekommen, als Kommissare nach den Jülicher Landen zu gehen 34 , und im Mai 35 ward ihnen Graf Johann Georg von Hohenzollern nachgeschickt. Wenn auch Neuhausen der kaiserlichen Kommission nicht Folge leistete36, so traf doch Schönberg schon am 9. Mai in Düsseldorf ein, um sich mit den Räten und Ständen über eine vom Kaiser einzusetzende Regierung zu verständigen.37 Von seiner Wirksamkeit in den Landen vernehmen wir genug3", und seine Berichte mußten für den kaiserlichen Hof die Hauptquelle sein für die 33 Orig. u. Begleitschreiben im Berl. Arch. In Prag selbst wurden die Zitationen freilich erst am 19. Juni publiziert. Bericht der brandenburg. Gesandten Siegmund v. Götze und Andreas Sartorius vom 20. Juni 1609, Berl. Arch. cf. Stieve p. 442. 34 Designatio Actorum etc. Beglaubigungsschreiben des Kaisers für Schönberg und Neuhausen an die jülichschen etc. Räte und Stände, 2. April 1609, Cop. Berl. Arch. 35 Die Designatio Actorum verzeichnet schon unter dat. 3. April eine kaiserliche Kommission für den Grafen v. Zollern, aber erst dat. 8. Mai die Beglaubigungsschreiben für ihn, (cf. B. u. A. 2, 254 A.) und unter praes. 19. Juni eine Erklärung des Grafen wegen der Jülichschen Kommission dat. 31. Mai. 36 Er entschuldigt sich dat. 7 praes. 12. April und auf eine erneute Aufforderung vom 23. April abermals am 27. April praes. 9. Mai. Designatio Actorum. 37 B. u. A. 2, 232. 38 Das. 281. Schönbergs Relation vom 19. Juni.
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Vorgänge am Niederrhein. Ein kaiserlicher Rat, sollte man meinen, mußte ihn erwähnen, wenn er auf die Entsendung von Kommissaren zu sprechen kam. Aber man möchte einwenden, das Gutachten spreche von einem »ansehnlichen Commissarius mit voller Macht«, der Festungen einnehmen, Kriegsvolk werben und Mandate erlassen solle. Mag das auch auf Schönberg nicht passen, so hatte doch der Graf v. Zollern den Auftrag, die Regierung der Lande im Namen des Kaisers zu übernehmen. Er kam auch in der Tat, kassierte kraft seiner kaiserlichen Kommission alle Akte der Fürsten 39 und beanspruchte »gleichsam eine oberherrliche Direction« 40 . Ein kaiserlicher Rat konnte wirklich vielleicht der Meinung sein, daß auch dies noch nicht genüge, daß einer der Erzherzöge vielmehr die geeignetste Persönlichkeit für die Vertretung des Kaisers in den Jülicher Landen sei, aber er durfte dann auf keinen Fall von der Kommission des Grafen v. Zollern ganz schweigen und die Sache so darstellen, als ob überhaupt in der Beziehung noch nichts geschehen sei. Selbst wenn wir nun zugeben wollten, daß der Verfasser an jener Stelle die Kommission Schönbergs und Neuhausens mit Fug hätte übergehen können, daß seine Worte dann also zwischen die Entsendung Schönbergs und die des mit voller Regierungsgewalt ausgerüsteten Grafen v. Zollern fallen könnten, so war doch dieser bereits vor der am 8. Mai erfolgten Ausstellung seiner Credentialen designiert. Auch die Annahme, daß ihm ursprünglich in der Kommission vom 3. April vielleicht nur dieselben Kompetenzen zugedacht waren, wie den beiden anderen Kommissaren, schafft dies Hindernis nicht aus dem Wege. Das Gutachten kann auf keinen Fall vor dem 8. Mai entstanden sein. Um ganz davon zu schweigen, wie auffallend in einer so frühen Zeit die Angaben über die »Contentirung« Neuburgs sich ausnehmen würden, - so verbieten es schon zwei Stellen des Gutachtens. In § 58 wird die sächsische Gesandtschaft und ihr Anbringen bei dem Kaiser erwähnt. Am 8. Mai aber wurde überhaupt erst in Dresden der darauf bezügliche Antrag an den Kaiser konzipiert. 41 . Und dann weiß der Verfasser schon in § 23 von dem Tode des Herrenmeisters v. Sonnenburg, der erst am 15. Mai 1609 erfolgt ist.42 39
Markgraf Ernst an Johann Siegmund 9. Juli. B. u. A. 2, 290.
40 Wolfgang Wilhelm und Markgraf Ernst an den Kaiser 7. Juli. Druck im Düsseid. Arch. cf. B. u. A. 2, 291 A. 3. 41
Ritter, Sachsen u. d. Jülicher Erbfolgestreit, a. a. O. p. 24 u. 61 Α. 1.
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Droysen gab p. 382 den 5. Mai als Todestag an nach Winterfeld, Geschichte des
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Das Gutachten kann, wenn es in Prag von einem kaiserlichen Rate geschrieben sein soll, nicht vor dem 15. Mai und auch nicht nach dem 8. Mai 1609 geschrieben sein. - Damit ist ihm der zeitliche Boden unter den Füßen entzogen. IV. An der Tatsache der Fälschung ist nun wohl nicht mehr zu zweifeln. Damit ergibt sich die Aufgabe, Entstehungszeit, Ursprung und Zweck des Gutachtens zu untersuchen, um es überhaupt historisch verwerten zu können. Stieve versucht auch diesen positiven Aufbau. Er geht von der Voraussetzung aus, daß das Gutachten, welches Brandenburgs Macht so ungeheuerlich übertreibe und für dessen Ansprüche so leidenschaftlich Partei nehme, auch nur auf kurbrandenburgischer Seite entstanden sein könne. Dies angenommen, wird man ihm ohne weiteres beistimmen müssen, daß das Gutachten, welches behauptet, Neuburg sei »contentirt« und »acquiescire«, nicht in der Umgebung des am Niederrhein weilenden Markgrafen Ernst, der die Verhandlungen mit Neuburg führte, entstanden sein könne. Dagegen, meint Stieve, könne einer der in Berlin im Sommer 1609 zurückgelassenen oder der bei dem Kurfürsten in Königsberg weilenden Räte der Verfasser sein. Er bestimmt dann den terminus ante quem aus der »Tatsache, daß der Verfasser weder von den am 24. Mai erlassenen kaiserlichen Ladungen, noch vom Dortmunder Vertrage Kenntnis habe.« Er meint, beides sei erst durch den Brief des Markgrafen Ernst vom 20. Juni 43 geschehen, der am 2. Juli in Berlin eintraf und »vermutlich um den 20. in Königsberg.« Nur nebenbei sei bemerkt, daß diese Zwischenzeit von 18 Tagen viel zu lang angenommen ist. Ein Brief von Berlin nach Königsberg brauchte, wie der Vermerk des praesentatum auf den Adressen zeigt, damals nur ca. 8 Tage 44 ; Stieves Ansatz beruht vielJohanniterordens p. 726. Mit vollem Recht wirft Stieve p. 460 Α. 1 die Frage auf, ob nicht das Datum nach altem Kalender angegeben sei. Es ist in der Tat so, denn dat. 8. Mai - also sicher a. St. - meldet der neumärkische Kanzler Beneckendorf aus Küstrin dem Kurfürsten den am letzten Freitag zu Schwedt erfolgten Tode des Herrenmeisters. Or. im Berl. Arch. 43 Β. u . A . 2,280. 44 Ein Brief aus Küstrin vom 9. Juni 1609 traf sogar schon am 14. in Königsberg ein.
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mehr auf zwei Daten, von denen das eine nach neuem, das andere nach altem Kalender gegeben ist. Aber auch die anderen Voraussetzungen Stieves sind irrig. Die brandenburgischen Räte erhielten nicht erst durch den auffallend spät abgesandten Brief des Markgrafen Ernst vom 20. Juni Kunde vom Dortmunder Vertrag. Schon am 28. Juni traf ein Schreiben des Landgrafen Moritz in Berlin ein, welches bereits den am 16. Juni erfolgten Einzug der beiden Fürsten in Düsseldorf mitteilte. 45 Und die von Kursachsen am 12. Juni eingesandte Zitation vom 24. Mai wurde den Berliner Räten schon am Abend des 18. Juni zugestellt. Danach müßte also Stieve selbst den terminus ante vor den 18. Juni resp. für Königsberg ca. 26. Juni zurückversetzen. Noch weiter zurück müssen wir aber gehen, wenn wir den terminus post quem, welchen Stieve aufstellt, ins Auge fassen. Er meint p. 471 f., daß die Bemerkung, Neuburg sei »content«, schwerlich vor dem Eintreffen der ersten Nachrichten von Vermittlungsversuchen zwischen Markgraf Ernst und Wolfgang Wilhelm gemacht sein könne. Der Brief des Markgrafen Ernst, der diese enthielt, datiert vom 20. Mai und traf am 25. Mai in Berlin ein. Es ist nun durchaus richtig, was Stieve dann ausführt, daß der brandenburgische Kurfürst und seine Räte nur unter der Bedingung jene Verhandlungen guthießen, daß Neuburg bewogen werde, aus den Jülicher Landen zu weichen und sich mit Revers und Kaution zu begnügen. Danach würde inhaltlich die Behauptung des Gutachtens, Neuburg sei »contentirt und acquiescire«, zu dem Wunsche der Berliner und Königsberger Räte stimmen, und man könnte es allenfalls begreifen, daß einer von ihnen, wie Stieve meint, in der festen Erwartung, daß Markgraf Ernst sich nicht zu weiteren Konzessionen herbeilassen würde, jene Bemerkungen erfand. Aber er konnte dies auf keinen Fall mehr, nachdem er kurz vorher das Schreiben des Markgrafen vom 2. Juni 4 ' gelesen, das am 13. Juni in Berlin eintraf. Stieve meint freilich, es habe »nichts enthalten, was ein Zuwiderhandeln gegen jene Befehle von seiner Seite befürchten ließ.« Aber schon der Auszug Ritters zeigt, daß den brandenburgischen Räten nach der Lesung des Schreibens die Hoffnung, ihre Wünsche durch Markgraf Ernst verwirklicht zu sehen, auf ein Minimum schwinden mußte. Dieser schrieb, der Pfalzgraf habe sich »so hart und 45
Die Berliner Räte an Johann Siegmund, 28. Juni. Berl. Arch.
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Β. u. Α. 2, 282. Berl. Arch.
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muthig erzeiget, daß er von der Hauptvergleichung und Abhandelung seiner Prätension auf Geld gerichtet, garnicht hören wollen, sondern dieselbe abgeschlagen, auch die Wort laufen lassen, ehe er sich der Ansprach zu diesen Landen begeben wollte, er wollte eher alles, was er in dieser Welt hätte, daran setzen und ihm alle Nerven, so er an seinem Leibe, zerschneiten lassen.« U n d auf das Entschiedenste verlangte der Pfalzgraf gemeinsame Regierung der Lande durch Brandenburg und Neuburg. Konnte man noch, wenn man dies unmittelbar erfahren, »erfinden«, Brandenburg habe jüngst die Possession apprehendirt, Neuburg aber sei »contentirt« und »acquiescire?« Somit hätten wir denn die Möglichkeit der Entstehung des Gutachtens auf die Zeit zwischen dem Eintreffen der Briefe vom 20. Mai und dem 2. Juni zusammengedrängt, - ca. 18 Tage. Ein knapper Zeitraum, indeß ja an und für sich kein unerwünschtes Resultat. Denn man sollte meinen, nach so enger Umgrenzung des Bodens, auf dem die Fälschung entstanden, müßten wir mühelos die Wurzeln derselben bloßlegen und aus dem, was die brandenburgischen Räte in jenen 18 Tagen dachten und aussprachen, in lebendigster und konkretester Weise die Genesis des Gutachtens erläutern können. U n d es müßte eine unmittelbare Verwandtschaft zwischen dem politischen Anschauungskreis des Gutachtens und der Gedankenwelt der brandenburgischen Räte in jenen 18 Tagen bestehen. Leider finden wir nicht die geringste. Sehen wir vorläufig noch ab von dem Verhältnisse Brandenburgs zum Kaiser, wie es sich in dem Gutachten widerspiegelt, sondern fassen wir jetzt nur ins Auge, wie dem Verfasser die Stellung Brandenburgs zu den übrigen Prätendenten erscheint. Man kann dies Verhältnis nicht kürzer und treffender charakterisieren, als es Stieve selbst p. 473 47 tut: »Den sächsischen Ansprüchen wird allein neben den brandenburgischen eingehende Erörterung gewidmet, und schließlich wird die Lage so dargestellt, als könne nur mehr zwischen Brandenburg und Sachsen über die Erbschaft Streit entstehen.« Also aus dem Gegensatz zwischen Brandenburg und Sachsen ist das Gutachten hervorgegangen. Von ihm geht es ja auch aus in seinen allgemeinen Betrachtungen: Sachsen, einst der Hort und die Hoffnung des Protestantismus, jetzt abgelöst durch die aufblühende Macht Brandenburgs 47
cf. schon p. 443 f.
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- und zu ihm kehrt es zurück in den Ratschlägen über die politischen Maßregeln, die der Kaiser zu ergreifen habe: - Sachsen und Brandenburg müssen aneinander gehetzt werden, damit »die Catholici still sitzende alle Gefahr von sich wenden, lachend zusehen und die wie starke Flügel den Lutheranismum hoch empor und in die Luft gehoben, sich selbst herunter stürzen lassen.« Sollte man nicht meinen, daß dieser Gegensatz, der dem Fälscher so wichtig erscheint, daß er darüber alle anderen Interessenten fast vergißt, auch das politische Denken der brandenburgischen Staatsmänner in jenen Wochen vorzugsweise beherrschte und daß für diese das Hauptinteresse damals war: wie können die sächsischen Ansprüche unschädlich gemacht werden? Stieve selbst fühlt hier einen Mangel in seiner Beweisführung, wenn er p. 470 sagt: »Die einzige Schwierigkeit, welche ich sehe, liegt darin, daß ich nicht aktenmäßig nachzuweisen vermag, daß man zu der Zeit, in welcher der Diskurs geschrieben sein muß, in Berlin oder Königsberg bereits von der in § 58 erwähnten kursächsischen Gesandtschaft und deren Zweck Kenntnis besaß.« Indeß beruhigt er sich damit, daß ja die Tatsache der Abordnung offenkundig gewesen sei, und daß man damals allgemein von den sächsischen Ansprüchen gewußt habe. Er führt p. 471 Α. 1 zum Beweis für diese letzte Behauptung eine Reihe von Stellen aus den »Briefen und Akten« an. Gewiß, sie zeigen, daß die sächsischen Prätensionen in weiteren Kreisen nicht ganz unbekannt waren. Nicht ganz unbekannt. Christian von Anhalt erwähnt sie in einem Schreiben vom 27. April 1609 an Pfalz-Neuburg 48 , aber schon aus dem Auszug Ritters geht hervor, daß er kürzlich erst von ihnen erfahren, daß er sie für nicht erheblich hält. Auch der Herzog von Württemberg weiß von ihrer Existenz. 4 ' Bezeichnend spricht Johann von Nassau von ihnen in seiner Proposition an den Markgrafen Ernst vom 28. Mai. 50 Er zählt da auf die »vornehmsten Herren Interessenten«, Brandenburg und Neuburg; dann die »Nebeninteressenten«, Zweibrücken, Burgau etc. - endlich auch das »was Kursachsens halber gar am letzten mit wenig Worten erwähnt.« Wenn nicht dieser mitleidige Ton bereits deutlich spräche, so würde schon sein Vorschlag, daß Brandenburg und Neuburg, nachdem sie sich verglichen, auch Kur48
B. u . A . 2 , 2 3 0 .
49 50
B. u. A. 2, 239, cf. p. 145. Das. p. 243.
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sachsen um diplomatische Unterstützung beim Kaiser ersuchen sollten, zeigen, wie bedeutungslos ihm die sächsischen Ansprüche erscheinen. Das sind die einzigen Erwähnungen derselben in den »Briefen und Akten« bis zu der Zeit, in der nach Stieve das Gutachten geschrieben sein soll. Noch fanden wir kein Zeugnis aus brandenburgischen Akten dabei. Ich habe dieselben daraufhin durchgesehen und glaube, aus ihnen erweisen zu können, daß auch den brandenburgischen Räten die sächsischen Ansprüche anfangs ganz unbekannt waren und daß dieselben, noch nachdem man von ihnen erfahren, bis zum Ausgang des Juli für diese Staatsmänner gar keine Rolle spielten. Es würde gewagt sein, aus der Korrespondenz der brandenburgischen Räte etwa mit den Gesandten in Prag oder mit dem Markgrafen Ernst allein Schlüsse auf das zu ziehen, was ihnen im Vordergrund des politischen Interesses stand. Naturgemäß spiegeln solche Korrespondenzen immer nur einen Teil des politischen Horizontes der Regierenden wider, da den Gesandten nur das mitgeteilt wurde, was sie zu wissen nötig hatten. Aber hier haben wir einmal den glücklichen Fall, daß zwei getrennte Mittelpunkte der Staatsregierung bestehen, - in Königsberg der Kurfürst und in Berlin die zur Leitung der Geschäfte zurückgelassenen Räte, - zwei Stellen, die sich untereinander notwendig über den ganzen Kreis der Geschäfte und über alles, was irgendwie von politischer Bedeutung ist, verständigen müssen. Also in den Berichten der Berliner Räte für den Kurfürsten und in seinen Antworten müßte unbedingt ein Abglanz der politischen Anschauung des Gutachtens zu finden sein, wenn dieses von einem der brandenburgischen Räte in jenen Tagen gefälscht ist. Am 15. Mai51 schrieb Markgraf Ernst aus Kassel: . . .»Zum dritten wäre nöthig gewesen und noch, daß die protestirenden Kur- und Fürsten, als der König zu Dänemark, Kurpfalz, Kursachsen, Erzbischof zu Magdeburg, Landgraf zu Hessen etc. um Assistenz wären ersucht worden und ihre Abgesandten um mehren Ansehens und Forttreibunge der Sachen willen zugleich mit hinunter (nach dem Niederrhein) geschickt hätten.« Hier war für Pruckmann, den rührigen und vielseitigen brandenburgischen Vizekanzler, dem das Schreiben von Berlin aus zur Begutach51
cf. B. u. A. 2, 245 A.
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tung nach Cottbus, wo er in Lehensangelegenheiten weilte, nachgesandt wurde, die für den Zusammenhang unserer Untersuchung sehr willkommene Gelegenheit, sich über die Bedeutung Sachsens für die jülichsche Frage auszusprechen. Er berichtet darüber dem Kurfürsten am 23. Mai52, der Vorschlag des Markgrafen sei abzulehnen, da man nichts mit dergleichen ausrichte. »Wir geschweigen, daß bei Kursachsen wohl nimmer einige Assistenz zu erlangen, denn da anno 93, als zu Prag in den julichschen Sachen um die Delation der Curatel des blöden Herzogen sillicitirt worden, alle evangelische Kur- und Fürsten auch die Ihrigen dorthin Assistenz zu leisten abgeordnet, das Haus Sachsen sich allein sonderte und trennte: ist solchs anitzo, da der status um ein großes alterirt, um so viel mehr zu vermuthen. Wurde aber auch eine sothane Sonderung an Sachsen, als Weichs pillig vor der vornehmsten Glieder eins unter den Ständen der evangelischen Religion zu schätzen, gespüret, thäte wahrlich die Assistenz allzeit mehr Schaden als Frommen« etc. Von den sächsischen Ansprüchen kein Wort. Man kann wohl ohne weiteres aus dieser Art, wie sich Pruckmann über Sachsen ausspricht, schließen, daß er noch keine Ahnung hat, welch Konkurrent seinem Kurfürsten in Sachsen erstehen werde. Ein weiterer Anlaß, bei dem sich die Berliner Räte über die sächsischen Ansprüche, falls sie ihnen bekannt waren, hätten aussprechen müssen, lag bei der Übersendung der von Kursachsen eingesandten Zitation vom 24. Mai vor. In dem Begleitschreiben zu derselben, das Christian II. als kreisausschreibender Fürst an Johann Siegmund richtete", waren die Rechte seines Hauses auf die jülichsche Erbschaft gar nicht erwähnt. Aber den brandenburgischen Räten fiel doch der Stil des Briefes auf: »Und ist uns bei diesem sächsischen Schreiben dieses etwas nachdenklich furkommen, daß dem stylo, so zwischen Kur- und Fürsten des Reichs üblich, zuwider, im Eingange des Schreibens die Clausul: was wir mehr Liebes und Gutes vermögen etc. außen gelassen, daß auch ingleichen in der Unterschrift das Herkommen, indem sich Ihre Kurf. G. zuvorhin stets E. Ld. getreuer Vetter, weil ich lebe etc. zu unterschreiben gepflegt, nicht observiret worden.« 54 Wenn, wie das Schreiben vom 23. Mai zeigt, ein gewisses Mißtrauen gegen Sachsen schon bestand, wenn die Räte dann weiter über den Ton 52 53 54
praes. Königsberg 3. Juni. Berl. Arch. cf. oben p. 306. Die Berliner Räte an Johann Siegmund, 19. Juni 1609. Berl. Arch.
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eines sächsischen Schreibens stutzig werden, wäre es dann nicht unbegreiflich, daß sie von der sächsischen Nebenbuhlerschaft in der Sukzession schwiegen, wenn sie von derselben schon gewußt hätten? Inzwischen - am 11. Juni - waren nun die brandenburgischen Gesandten Siegmund v. Götze und Andreas Sartorius, welche die Belehnung mit den Jülicher Landen nachsuchen sollten, in Prag angekommen und trafen dort schon eine kursächsische Gesandtschaft vor, welche von ihrem Kurfürsten den gleichen Auftrag hatte. 55 Wirklich meldeten sie denn in ihrer ersten Relation vom 18. J u n i " , die am 25. Juni in Berlin eintraf, daß als Interessenten zu den jülichschen Landen sich angegeben hätten: »Kurf. Gn. zur Pfalz, sodann auch Kurf. Gn. zu Sachsen, insonderheit Pfalzgraf Wolf Wilhelm und Ihr. Furstl. Gn. Herr Vater; nächstdem auch Pfalz-Zweibruck, Markgraf von Burgau, Herzog von Nevers, mehr Herzog zue Braunschweig und andere, derer Anzahl zuesamt in die zwölfe sein sollen.« Weiteres über die sächsische Gesandtschaft teilten sie in ihrem zweiten Bericht vom 20. Juni, der ebenfalls am 25. Juni in Berlin einkam 57 , mit und legten unter einer Reihe anderer Auszüge aus den eingereichten Schriften der Interessenten auch eine aus dem sächsischen Gesuch um Belehnung, welches nach ihnen vom 21. Mai (vermutlich a. St.) datiert 5 ', bei. Aber sie melden auch jetzt nur die Tatsache und wissen noch nichts von dem eigentlichen Inhalt der sächsischen Ansprüche. Interessant ist es nun, in welcher Weise die Berliner Räte in ihrer Antwort an die Gesandten vom 25 Juni 5 9 die sächsischen Ansprüche berühren. Direkt überhaupt nicht. Die Gesandten hatten vorgeschlagen, eine eigene reitende Post für ihre Korrespondenz einzurichten. Die Räte lehnen es ab und weisen sie an die sächsische Post. »Denn obigeich Sachsen unter den Prätendirenden an den Furstentümen Gulich, Cleve und Berg etc. mit sein will, hoffen wir doch nicht, daß deshalb alle Freundschaft und Correspondenz mit dem Kurfürsten zu Brandenburg etc. sonderlich aber so viel die Post betrifft, so ganz aufhören werde.« Die Situation bezeichnet es auch, daß sie in demselben Schreiben sagen: »Die meiste Prätension daran etwas gelegen, wird 55 56 57 58 59
Ritter a. a. O. p. 28. Berl. Arch. Das. cf. dagegen Ritter a. a. Orte p. 24. Berl. Arch.
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mit Pfalzgraf Philipp Ludwigen sein. Der andern halben ist leicht ein Ausschlag zu treffen.« Am 28. Juni übersenden die Räte jene beiden Relationen dem Kurfürsten und äußern sich dabei auch über Sachsen' 0 : »Welchermaßen auch Sachsen ein Prätension in den julischen Landen herfur suechet, weiset obangezeigte, der Räthe Relation" abermalen, da wir aber nie gehört noch vernommen, daß der Kurlinien in Sachsen einig Recht hieran je gebühret", was aber das fürstliche sachsische Haus weimarischer und aldenburgischer Linien ehezeit gehabt haben mochte, nie ad effectum kommen.« Das »abermalen« bezieht sich entweder auf die wiederholte Erwähnung in den beiden Relationen aus Prag, oder es zeigt, daß bereits vor dem Eintreffen derselben am 25. Juni den Berliner Räten eine Kunde von den kursächsischen Ansprüchen zugekommen war. Aber selbst in letzterem Falle können sie diese Kunde doch immer erst zwischen dem 19. und 25. Juni erhalten haben, da sie, wie wir sahen, am 19. Juni noch nichts von ihnen wußten. Jedenfalls haben wir in jenen Worten der Berliner Räte, die sie gegenüber ihrem Kurfürsten tun, nun auch ein direktes, absolut unverdächtiges Zeugnis dafür, daß sie bisher nur von Ansprüchen der Ernestiner gewußt haben. Grade umgekehrt unser Gutachten, welches nur das den Albertinern gegebene Privileg Friedrichs III. kennt. Wir mußten nun bereits aus andern Gründen die Entstehung des Gutachtens in den Tagen, die unter dem frischen Eindruck des Briefes des Markgrafen Ernst vom 2. Juni standen, auf das Entschiedenste ablehnen. Dieser Briefe traf am 13. Juni in Berlin ein, - die Kunde, daß auch Kursachsen jetzt prätendiere, aber erst zwischen 19. und 25. Juni, - dies chronologische Dilemma allein zeigt wohl schon die Unhaltbarkeit der Stieve'schen Hypothese. Und würde denn, selbst wenn wir absehen wollten von jenen
60 Das. 61 Gemeint sind aber die beiden vom 18. und 20. Juni. 62 In Nov. 1609 sandte Johann Siegmund Dr. Reyer nach Dresden, als sein Rat Dieskau, der zugleich sächsischer Lehnsmann war, dorthin zitiert war, um sich darüber zu verantworten, daß er den Dortmunder Verhandlungen etc. beigewohnt. In der Instruktion für Reyer vom 5. Nov. (Berl. Arch.) heißt es: »Dann wir konnten ihme (sc. Dieskau) dessen mit gutem Grunde und Bestände Zeugnus geben, daß weder Wir selbsten, und noch viel weniger er, von demjenigen Rechten . . . so itzo wegen S. Ld. herfur kämen, nicht die geringste Wissenschaft.«
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Äußerungen über die Abfindung Neuburg's, auf jene magere Kunde von den kursächsichen Ansprüchen hin die Entstehung unseres Gutachtens verständlich sein? Wir sahen, wie wenig Bedeutung von vornherein denselben von den Berliner Räten beigelegt wurde. Ihr Interesse richtete sich damals vor allem auf die Verhandlungen des Markgrafen Ernst mit Wolfgang Wilhelm. Das ist das Problem jener Tage, ob sich Neuburg begnügen werde mit dem Revers oder der Geldabfindung. Und als dann der Dortmunder Vertrag bekannt wird, ist das für die Räte in Berlin die Hauptfrage, ob ihr Kurfürst ihn bestätigen werde." Wäre es nicht geradezu ein psychologisches Rätsel, daß ein brandenburgischer Rat all diese unmittelbaren praktischen Aufgaben des Augenblicks vollständig vergißt und sich künstlich in einen Gegensatz zwischen Brandenburg und Sachsen hineinfingiert, der als solcher noch gar nicht existiert, von dem erst am äußeren Ende der Zeit, die hier nach Stieve selbst in Frage kommt, die ersten leisen Anfänge sich zeigen? Erst im Juli beginnen die protestantischen Staatsmänner auf die kursächsischen Ansprüche aufmerksamer zu werden. Vor allem Landgraf Moritz, der wie er selbst beteuerte, zur Zeit der Dortmunder Verhandlungen noch nicht das Geringste davon wußte." Erst durch ein Schreiben des sächsischen Kurfürsten erfuhr er davon. Am 3. Juli in einem Gespräch mit dem brandenburgischen Gesandten Bellin ließ er sich auch hierüber aus, wies auf das Unheil, welches dieses Vorgehen Sachsens im Gefolge haben könne, und zeigte sich bereit, selbst zu den sächsischen Fürsten zu reisen. Dann war es vor allem die Gesandtschaft, welche Kurfürst Christian II. Anfang Juli nach den Jülicher Landen abordnete", welche die Augen auf die sächsischen Prätensionen lenken mußte. Es war ihnen eine kurze Darlegung der sächsichen Ansprüche, sowohl der auf 63 Die Berliner Räte an Götze und Sartorius, 22. Juli. (Berl. Arch.) 64 Relation Bellins an Kurbrandenburg v. 10. Juli 1609, B. u. A. 2, 293. »Wie wir dann nochmahls mit gutem Bestand, ja bei unsern fürstlichen Ehren sagen und bewähren können, daß bei der Dortmundischen Handlung, . . . wie auch zuvor das allergeringste von Ihrer Ld. und des Hauses Sachsen Interesse nicht bewußt gewesen . . . Ja es bezeugte auch die Dortmundische Handlung und Verabschiedung selbstet unsere Ignoranz und Unwissenheit des sachsischen Interesse ganz richtig und klar, indem Ihre Ld. selbstet zu einem austräglichen Richter in der Hauptsach neben andern vorgeschlagen worden.« Instruction des Landgrafen Moritz für seinen Gesandten an Kursachsen. Halle, 8. Sept. 1609, Cop. Berl. Arch. 65
Ritter a. a. O . p. 35.
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Grund der älteren Privilegien von 1483 etc. erhobenen, wie der aus den Ehepakten von 1526 abgeleiteten für die Jülicher Räte und Stände mitgegeben." Am 31. Juli sandte Markgraf Ernst eine Abschrift davon ein, welche dem Kurfürsten in Landsberg am 12. August vorgelegt wurde. Soweit irgend ersichtlich, ist diese sog. Delineationsschrift die erste Quelle, aus der die brandenburgischen Räte eine Kenntnis des Inhalts der sächsischen Ansprüche schöpfen konnten. Jedenfalls können wir feststellen, daß sie noch Ende Juli über den eigentlichen Inhalt derselben nicht instruiert waren und daß sie ihnen überhaupt noch keine Bedeutung beilegten. Sie hatten der juristischen Fakultät in Frankfurt a. O. den Auftrag gegeben, ein neues Gutachten über die Rechtsfrage einzureichen. Die Professoren bitten darauf 67 um Informationen über diesen und jenen Punkt, insonderheit möchten sie aber auch wissen, »welche außerhalb Pfalzgraf Philipp Ludwigs in dieser Sachen des Hauses Brandenburg Gegentheile sind.« Darauf senden ihnen am 31. Juli die Berliner Räte eine Reihe von Urkunden, von denen jedenfalls keine auf die sächsischen Ansprüche Bezug hatte, und bemerken dazu: »Wir wußten auch bei unsers gnädigsten Herrn Archiven keine weitere, hierzu behörige Urkunden, haben auch keine noch nicht, daß sich der fürstliche Gegentheile etwa anderer gebrauchen s o l l t e n . . . . So wissen wir außer Pfalzgraf Philipps Ludwigs F. G. itziger Zeit keinen Contradicenten, der sich directo wider den unsern gndsten Herrn auflegte. . . . So gehet auch das übrige Prätendiren das Universal-Succession-Werk in nichts an, sondern betrifft allein etliche absonderliche Stucken, von welchen anitzo die Frag nicht ist.« Zweifellos hätten die Berliner Räte die Professoren beauftragt, die kursächsischen Ansprüche in ihrem Gutachten mit zu widerlegen, wenn sie irgend etwas von ihrem Inhalt gewußt hätten. In demselben Schreiben weisen sie die Professoren an, das Hauptgewicht ihrer Ausführungen mit auf den Beweis zu legen, daß die Jülicher Lande feuda foeminea seien. Hätte es denn nicht nahe gelegen, mit diesem Argument auch die Privilegien, auf die sich Sachsen berief, aus dem Felde schlagen zu lassen, wie das wirklich von der späteren branden66 Genauerer Titel: Kurze, summarische und wohlgegründete Anzeig, was das Kur- und Fürstliche Haus an den jülichschen Landen für Anspruch und Forderung habe. Abschriften im Berl. und Düsseid. Archiv. 67 Schreiben vom 22. Juli. Berl. Arch.
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burgischen Polemik und auch von dem Verfasser des Gutachtens geschah? V. Ein brandenburgischer Rat kann, das wird einleuchten, das Gutachten in den Monaten Mai bis Juli 1609 nicht gefälscht haben. Läßt sich von der Hypothese nun wenigstens die Entstehungszeit retten? Ich kann nicht finden, daß die Gründe, welche an die Autorschaft einer eingeweihten Persönlichkeit am brandenburgischen H o f e zu denken verbieten, einzig nach dieser Richtung widerlegend sind. Sie sprechen, wenn wir sie verallgemeinern, fraglos gegen die Entstehung der Fälschung in jenen Tagen überhaupt. Das Gutachten, das die Bedeutung Neuburgs so zurücksetzt und so eingehend mit den sächsischen Ansprüchen sich beschäftigt, paßt unter keinen Umständen in die politischen Gegensätze jener Monate, die das gerade entgegengesetzte Bild aufweisen. Stieve schließt p·. 444 aus der Art, wie der Verfasser über Neuburg spreche, daß er noch keine Kenntnis vom Dortmunder Vertrage besessen habe. Aber dieser veränderte nicht die politische Situation, er bestätigte nur das bestehende Machtverhältnis. Von vorn herein traten Brandenburg und Neuburg als die Hauptinteressenten auf; zu gleicher Zeit versuchen sie Besitz zu ergreifen von dem Erbe; die Ansprüche der übrigen Prätendenten erscheinen daneben, wie wir sahen, belanglos, - alledem gibt der Dortmunder Vergleich nur vertragsmäßigen Ausdruck, wenn er bestimmt, daß Brandenburg und Neuburg vorläufig gemeinschaftlich die Regierung übernehmen, und die übrigen mit der Erklärung abfindet, daß damit kein Präjudiz für ihre Rechte und Ansprüche geschaffen sein solle. Nur einen Einwand sehe ich, den man mir zu Gunsten der von Stieve angenommenen Entstehungszeit machen könnte: Stieve führt p. 449 schon als Grund gegen die Autorschaft eines kaiserlichen Rates die ungenaue und äußerst dürftige Kenntnis der sächsischen Ansprüche an, welche das Gutachten zeigt. Es weiß nichts von dem Privilegium von 1486, welches den beiden sächsischen Linien gegeben war, nichts von der Bestätigung der Privilegien im Jahre 1495 und nichts von den Ehepakten von 1526. Sollte nieht das Gutachten grade deswegen in eine Zeit, in der man allgemein auf protestantischer Seite so wenig von den sächsischen Ansprüchen wußte, vorzüglich hineinpassen?
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E i n e n ä h e r e B e t r a c h u n g der § § 5 8 u n d 5 9 des G u t a c h t e n s m u ß indeß diesen E i n w a n d s o f o r t hinfällig m a c h e n . D e r V e r f a s s e r führt eine stattliche R e i h e v o n G e g e n g r ü n d e n a n : d a ß die L a n d e f e u d a f o e m i n e a seien, d a ß d e m Privileg F r i e d r i c h s I I I . die Z u s t i m m u n g der K u r - u n d F ü r s t e n m a n g e l e , d a ß es a u c h v o n d e n n a c h f o l g e n d e n K a i s e r n n i c h t bestätigt sei, d a ß n a c h d e m T o d e H e r z o g s W i l h e l m s J o h a n n v o n C l e v e die b e a n s p r u c h t e n L ä n d e r g e e r b t h a b e etc. - es sind fast alles G r ü n d e , die g a n z ähnlich f o r m u l i e r t in der P o l e m i k gegen die s ä c h s i s c h e n Deduktionen
wiederkehren.
I c h h a b e hier z u n ä c h s t i m A u g e
die
» K u r z s u m m a r i s c h e u n d w o h l g e g r u n d t e A b l e i n u n g der u n l ä n g s t hin u n d w i d e r a u s g e s p r e n g t e n A n z e i g , w a s das K u r - u n d F ü r s t l . H a u s Sachsen bei d e n erledigten G u i i s c h e n . . . L a n d e n v e r m e i n t l i c h V e r sprach und F o r d e r u n g haben sollten«68; sodann den v o n P r u c k m a n n E n d e 1 6 0 9 v e r f a ß t e n » K u r z e n B e r i c h t v o n d e m a n g e m a ß t e n des K u r u n d F ü r s t l i c h e n H a u s e s z u Sachsen R e c h t e n an d e n H e r z o g t h ü m e r n Jülich« e t c . " M a n vergleiche: § 59. Weiter ist diese Concession oder Anwartung absque consensu electorum et principum Imperii ganz nulliter geschehen,
auch von nachfolgenden fünf Kaisern niemalen confirmirt, noch auch einige Confirmation gesuchet worden.
Ferners muß auch erwogen werden, daß zu solchen Concessionen allen und jeden der Kuerf. des Reichs Consens nicht kommen oder erlanget worden, darum . . . seind und bleiben sie alle mit einander unkräftig und ungultig. (Pruckmanns Bericht). . . . Daß die dem Hause Sachsens erteilte Concessiones von den nächsten verstorbenen Kaisern und Königen nit confirmirt, ja auch bei ihnen die Renovationes und Confirmationes derselbigen ex parte Sachsen nicht g e s u c h t . . . . (Kurze Ableinung).
68 Abschrift im Berl. Arch. 69 Konzept im Berl. Arch. Von keiner dieser beiden Schriften fand ich Drucke. Aber wenigstens von der »Kurzen Ableinung« läßt sich nachweisen, daß sie handschriftliche Verbreitung gefunden. Phil. Eger meldet schon am 30. Dec. 1609, daß sie ihm »dieser Tage vertraulich auf eine halbe Stund communiciret worden.« Am 15. Jan. 1610 kann er dann eine Abschrift einsenden (»de autore nondum constat«). Die Schrift muß doch Aufsehen erregt haben, denn auf sächsischer Seite hielt man es für nötig, darauf zu antworten durch die Gegenschrift »Sächsische ApologialUndlRettunglder Zwo Schriften, so in jüngst verwichenem 1609. JahrJVon des Chur und Fürstlichen HauseslSachsen, an den verledigten Gülischen . . . ; Fürstenthumen . . . . Habenden . . .Rechten . . . publiciret: mit einverleibter gründlicher Wiederlegung der, hin und wieder im heiligen Reich, spargirten Gegenschrift, genandt Refutatio Deductionis Saxonicae etc. Leipzig. Bey Henning Grossen 1610.« 4° 90 S.
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. . . aber endlich ist die Sach von an 0 22 bis dato stecken blieben, von welcher Zeit an das Haus Sachsen nie kein Wort darum verloren, dem von Cleve den gulchischen Titul und Session ohn Widersprechen gegönnet und gegeben. Dannenhero denn nicht unklar sein kann, daß Sachsen nunmehr per praescriptionem temporis longissimi alles sein Recht, so einiges gewesen wäre, gänzlich ubergeben hat.
. . . Aus welchem allen, sonderlich auch, weil unterdessen ein so geraume Zeit und in die 80 Jahr oder druber verflossen, und ohne Zweifel die Kur- und Fürsten zue S. den nächst verstorbenen Herzogen zue Cleve den Titul eines Herzogen zue Gulich und Berg selbsten vielmal gegeben, unwidersprechlich folget, daß die Kur- und Fürsten zu S. do sie einige bessere Forderung und Gerechtigkeit . . . gehabt, dieselbige verschlafen und verloren . . . (Kurze Ableinung).
Endlich sehen sie wohl, daß ihre Prätension in petitorio ausgeführt werden müsse, und sie eher zum possessorio nicht zuzulassen.
. . . So gehören auch diese sächsische allegationes und Anziehungen alle ad petitorium und nicht ins possessorium. (Pruckmanns Bericht).
Irgend ein quellenmäßiger Zusammenhang besteht gewiß zwischen diesen Stücken, obschon ich nicht zu behaupten wage, daß das G u t achten gerade aus diesen beiden antisächsischen Deduktionen geschöpft hat. W e n n die »Kurze Ableinung« nur allgemein von »80 Jahren oder drüber«
spricht, w o unser Gutachten die bestimmte
Angabe 1522 hat, so möchte dieser Umstand schon dagegen sprechen. Es mögen Zwischenglieder, etwa eine gemeinsame Vorlage, sowohl des Gutachtens, wie der »Kurzen Ableinung« bestanden haben, die nicht zu meiner Kenntnis gekommen sind. Das eine aber ist sicher: Eine solche antisächsische Polemik konnte sich überhaupt erst entwickeln, seit das Objekt greifbar war, welches sie bekämpfte, d. h. seitdem die erste Publikation der sächsischen Ansprüche, die E n d e Juli den Jülicher Ständen übergebene Delineationsschrift Verbreitung gefunden hatte. 7 0 Wie sollte auch sonst der Verfasser des Gutachtens auf eine so ungenaue und lückenhafte Kenntnis der sächsischen Ansprüche hin zu diesem ganzen Rüstzeug von Gegengründen gekommen sein? W e n n er ζ. B. einwendet, daß der Anwartschaft der Albertiner der Consens der
70 Am 25. August empfing Christian Wilhelm von Magdeburg von Kursachsen ein Exemplar der Delineationsschrift (Chr. W. an Johann Siegmund, 26. Aug. Berl. Arch.). Am 18. August übersandte sie Christian II. auch an Kurmainz. Cop. das. Am 16. September schickt Statius von Münchhausen eine Abschrift, die in seine Hände gekommen, dem brandenburgischen Statthalter Adam v. Putlitz. Das.
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Kur- und Fürsten und die Bestätigung der nachfolgenden Kaiser fehle, - kann er denn das den Sachsen schon auf die ganz allgemeine Kunde, daß Herzog Albrecht »ungefähr vor 140 Jahren und darüber« eine Anwartung von Kaiser Friedrich III. erlangt habe, entgegenhalten? Mußte ihm, resp. dem, von dem er diesen Einwand entnahm, dann nicht schon notwendig Genaueres über die sächsischen Ansprüche vorliegen, so daß er wirklich schon übersah, was die Sachsen für dieselben anführen konnten und was nicht, und daß er aus dem Schweigen der sächsischen Deduktion den Schluß ziehen konnte auf das Fehlen eines solchen Consenses und einer kaiserlichen Konfirmation? Vor dem Bekanntwerden der sächsischen Delineationsschrift wäre dieses krasse Mißverhältnis zwischen der mangelhaften Kenntnis des sächsischen Rechtes und der Menge und dem Gewicht der dagegen vorgebrachten Gründe unerklärlich. Dagegen ist es ganz wohl begreiflich, wenn der Verfasser bei der Benutzung der späteren Polemik in blindem Eifer nur eben eine Anzahl der von dieser vorgebrachten Argumente herausgriff und die sächsischen Ansprüche selbst sich nicht weiter genauer ansah. Oder auch - eine Annahme, die vielleicht vorzuziehen ist - dem Fälscher lag schon nicht mehr direkt eine jener antisächsischen Streitschriften vor, sondern etwa eine zeitungsartige Information, die aus diesen erst geschöpft war und nur einen Teil ihrer Ausführungen wiedergab. Wenigstens wird es sich dadurch immerhin natürlicher erklären, daß der Verfasser nichts von den späteren Privilegien der Ernestiner und Albertiner und nichts von den Ehepakten von 1526 weiß. Es bestand damals nicht nur in den leitenden Kreisen der Politik ein lebhaftes Interesse für solche Dinge; Flugschriften, Zeitungen, Gespräche, oder wie man sagte »Discurse«, die dieser oder jener mit einer »vornehmen Person« gehabt, wurden bereitwillig mitgeteilt und eifrig entgegengenommen, und Abschriften und Auszüge von diesem und jenem Stück kamen auch in die Hände von Privatpersonen und wanderten vervielfältigt weiter.
VI. Darf man nun also den Verfasser in der von Stieve angenommenen Zeit weder innerhalb der eingeweihten Kreise der brandenburgischen Politik, noch außerhalb derselben suchen, so ergibt sich als notwen-
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dige Folgerung, daß das Prinzip, nach welchem Stieve die Entstehungszeit bestimmte, ein unrichtiges sein muß. Mit Recht macht Stieve p. 445 gegen Droysen darauf aufmerksam, daß die Worte des Gutachtens »anhero« und »allhier« noch nicht beweisen können, daß es wirklich in Prag verfaßt sei; hätte doch ein Fälscher auch so schreiben müssen, um die Maske zu wahren. Wenn aber Droysen aus dem, was das Gutachten von Ereignissen des Jahres 1609 noch nicht weiß oder vielmehr noch nicht zu wissen sich stellt, einen sicheren terminus ante quem für die Entstehungszeit zu gewinnen sucht, so stimmt ihm Stieve im Prinzip unbedenklich bei. Weil das Gutachten in § 61 vorschlägt, den Erzherzog Maximilian oder einen der Grätzer Erzherzoge als Kommissar nach den Jülicher Landen zu senden, meint Droysen p. 385, sei es vor der Sendung Erzherzog Leopolds vom 14. Juli geschrieben. Und weil es ferner in § 62 rät, Ediktalzitationen ausgehen zu lassen, schließt Stieve p. 471, daß dem Fälscher auch die Zitationen vom 24. Mai noch nicht bekannt waren. Ich meine, das ist inkonsequent. Wenn die örtliche Situation gefälscht sein kann, warum nicht auch die zeitliche? Hier klafft also eine ähnliche Lücke in Stieves Beweisführung, wie er selbst sie Droysen nachgewiesen hat. Von vorn herein, - liegt es denn nicht viel näher, daß der Verfasser eine bereits etwas hinter ihm liegende Zeit als Schauplatz seiner Fälschung nimmt, die er besser überschauen, in der er sich viel sicherer fühlen muß, als in der ihn unmittelbar umgebenden Gegenwart? Es scheint mir ungemein schwer für einen Fälscher, aus dieser heraus sein Machwerk zu konstruieren. Er kann nichts übersehen, nicht wissen, wie jetzt gerade die augenblicklichen politischen Verhältnisse an dem Orte sind, wohin er den Schauplatz verlegt, in welcher Situation die Personen sich eben befinden, denen er Gedanken und-Worte unterschiebt. Die nächste Zukunft kann ihn durch die wirklich verlaufenen Tatsachen Lügen strafen und sein Machwerk diskreditieren. Geht er aber mit diesem in die, wenn auch jüngste Vergangenheit, so kann er post eventum prophezeien, seinen Personen Meinungen und Ratschläge in den Mund legen, wie sie wirklich ausgeführt sind, und dadurch seinem Produkt den Nimbus der Echtheit und intimen Vertrautheit mit den Verhältnissen geben. So wird es denn nötig sein, jene Stellen des Gutachtens, an denen der Verfasser seine Ratschläge für die nächste Zukunft gibt, und aus denen Droysen und Stieve ohne Bedenken ihren terminus ante quem ge-
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schöpft haben, auf ihren Zusammenhang mit den späteren Ereignissen von 1609 und auf die Frage hin zu prüfen, ob sie denn in der Zeit, in der sie geschrieben sein wollen, auch geschrieben sein können. Es sind die §§ 61 ff. Ich fasse zunächst die Ratschläge, die sich auf Sachsen und sein Verhältnis zu Brandenburg und dem Kaiser beziehen, zusammen. Der Verfasser rät, die Mißgunst Sachsens gegen Brandenburg zu schüren, »es gerathe nun unter ihnen zu Transaction, zum Disputat oder zu thätlichen Mitteln.« Ich lasse die »thätlichen Mittel« dabei ganz aus dem Spiel, denn die Lesart »thätlichen« steht nicht fest." Aber zu Verhandlungen, die man als »Transaction« und »Disputat« bezeichnen kann, kam es allerdings zwischen Brandenburg und Sachsen. Brandenburg wollte Sachsen auf ähnliche Weise abfinden wie Zweibrücken. 72 Und darauf hin unterhandelten im September Landgraf Moritz und Markgraf Joachim Ernst auf dem Jagdschloß Annaburg mit Christian II. und den sächsischen Herzogen. 73 Es war fruchtlos; Sachsen verwies auf die kaiserlichen Mandate gegen den Dortmunder Vergleich und erklärte, es werde denselben auf jeden Fall Gehorsam leisten und sich auch in keine gütlichen Verhandlungen einlassen ohne Wissen des Kaisers.74 Inzwischen wurde das Verhältnis zwischen Brandenburg und Sachsen immer schärfer und gespannter. Verbittern mußte es, daß Christian II. den brandenburgischen Rat Dieskau, der zugleich sächsischer Lehensmann war, zur Verantwortung auf den 26. September nach Torgau vorlud, weil er durch seine Teilnahme an den Dortmunder Verhandlungen gegen das Interesse seines Lehensherrn gehandelt habe.75 Die angelegentliche Verwendung Johann Siegmunds für Dieskau half nur so viel, daß diesem ein neuer Termin gestellt wurde (6. Nov.). Und als er wirklich im November in Dresden sich stellte, wurde er, trotzdem Johann Siegmund durch einen eigenen Gesandten
71
BAFii haben dergleichen; d rechtlichen; E C edd. andern.
72 B. u. A. 2, 372, 374. 73 Relatio, was zu Annaburg zwischen den Kur- und Fürsten zu Sachsen, sodann Markgr. Joachim Ernsten v. Brandenburg und Landgrafen Moritzen zu Hessen der Julischen Sachen halber vorgelaufen. Berl. Arch. Ritter a. a. O . p. 64 ff. 74 Christian II., Johann Kasimir und Johann Ernst an Mgr. Joach. Ernst u. Landgr. Moritz, 5. Oct. 1609. Berl. Arch. 75 Christian II. an Dieskau, 30. Juli. Cop. Berl. Arch. Zugleich wurde auch der hessische Rat Starschedel, der ebenfalls sächsische Lehen besaß, aus dem gleichen Grunde vorgeladen.
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Fürsprache für ihn tun ließ, noch nicht abgefertigt, sondern erhielt den Befehl, zum 1. März sich wieder zu stellen." Den brandenburgischen Räten kam die Sache doch sehr verdächtig vor. »Man schlug auf den Sack und meinte den Esel«, wie sich Landgraf Moritz drastisch ausdrückte. 77 Dann vernahm man gar in Berlin, daß der Kurfürst von Sachsen an der Tafel im Beisein vieler geäußert, er werde in die Marken einfallen, sobald Johann Siegmund, wie das Gerücht ging, nach Jülich ziehen werde. Und ein Ohrenzeuge, ein brandenburgischer Edelmann, bestätigte den Berliner Räten ausdrücklich das Faktum. 78 Ihren Höhepunkt aber erreichte diese Spannung im Februar 1610. Es war den Bemühungen des Markgrafen Christian von Kulmbach gelungen, zu Hof eine persönliche Zusammenkunft des Kurfürsten Johann Siegmund, der auf der Rückreise vom Schwäbisch-Haller Unionstage begriffen 79 , mit Herzog Johann Georg, dem Bruder des sächsischen Kurfürsten, zu vermitteln. 80 Aber es war ein Aufeinanderplatzen unvereinbarer Gegensätze. Brandenburg bot nichts als Revers und Kaution und wollte von Aufnahme Sachsens in den Mitbesitz der Lande nichts wissen. Sachsen hätte sich auch, wie seine Vertreter erklärten, nicht einmal hierauf eingelassen: »Ihr Herr hielte die possessio für vitiosa und illegitima und könne ohne Offension der Kais. Maj. oder Gefahr der Achtserklärung sich nicht dessen theilhaftig machen . . . . Ihres Theils hielten sie vors bequemist Mittel, daß die beede residirende Fürsten parirten, arma deponirten, ihren militem dimittirten, der begangene attentata und Exceß entschuldigten, und weil die Offension bei der Kais. Maj. so groß, daß die Possidirende vor sich nicht dürften gehört werden, daß sie derowegen durch einen ansehentlichen Stand die Aussöhnung vorstelleten.« Es waren harte Worte, deren Eindruck noch verstärkt wurde durch eine verdachterregende Äußerung der sächsischen Räte. Sie bemerk-
76 Pruckmann an den Statthalter und die geheimen Räte, 28. Nov. 1609. Uber den weiteren Verlauf der Episode fand ich nichts in den Akten. 77 Dieskau an Reichard Beyer, Dresden, 19. Nov. Berl. Arch. 78 Joach. v. d. Schulenburg an die Räte, Lubberose 29. Nov. Das. Nach Droysen, Preuß. Pol. II. 2 2 , 415 hat Christian II. die Worte zu der Kurfürstin Anna geäußert. Eine Quelle gibt Droysen nicht an. cf. noch B. u. A. 2, 532. 79 Nicht auf der Hinreise, wie Ritter a. a. O. p. 45 meint. 80 Vom 13.-15. Februar. Protokolle der Verhandlungen im Berl. Arch, cf. Ritter p. 46.
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ten: »Das Haus Sachsen belangend, da diesfalls an sie etwas gelangen sollte, werde es zu seiner Zeit an Mitteln nicht mangeln, als vor dessen, also auch der Zeit, damit gefaßt zu sein.« Schon lange ging das Gerücht, daß, wenn es zur Acht gegen Brandenburg und Neuburg kommen sollte, Sachsen die Exekution gegen Brandenburg übertragen werden würde. 81 Damit brachten nun die brandenburgischen Räte jene Worte in Zusammenhang und erblickten in ihnen eine versteckte Drohung. So schied man denn in gereizter Stimmung. Man vergleiche nun die Worte des Gutachtens § 71: »Jedoch müßte in geheim Sachsen in etwas Vorschub, doch nur zu Zeiten und selten geschehen, damit er dem andern Theil die Wag halten und also paulatim ein Wolf, wie man sagt, den andern fressen, sie sich auch und ihre Helfershelfer dermaßen enerviren mochten, daß sie hernacher leichtlich gar zu zwingen, aufzuräumen oder ja nicht groß mehr zu achten wären. Dazu dann die inhibitiones sub poena banni und andre füglich Mittel wohl zu finden wären.« Also die inhibitiones sub poena banni ein Mittel, um Sachsen gegen Brandenburg zu hetzen. Ist es zu kühn, in diesen Worten einen Wiederschein jenes Gerüchtes zu erblicken, daß Kursachsen die Vollstreckung der Acht gegen Brandenburg übertragen werden würde? Aber auch der Gedanke überhaupt, daß die Verhetzung Sachsens mit Brandenburg nur zur gegenseitigen Schwächung beider dienen solle, war lebendig und allgemein ausgesprochen, seitdem Sachsen sich immer offener und entschiedener auf die Seite des Kaisers geschlagen. Anfangs, als Sachsen eben erst hervorgetreten war mit seinen Prätensionen, war nur das die Hauptbesorgnis auf Seiten der Possidierenden, daß der Kaiser durch Hinweis auf die sächsischen Ansprüche seinem Vorgehen gegen die Fürsten einen rechtlichen Vorwand gebe.82 Daß den Kaiserlichen aus der Verbindung mit Sachsen und der daraus 81 Schon am 9. Oktober 1609 schreibt der brandenburg. Gesandte Koppen aus Prag, daß ihm der Leibarzt des Kaisers erzählt habe, »die consilia (betr. die Exekution gegen Brandenburg) seien mit dem Kurfürsten von Sachsen allbereit communiciret.« Dr. Philipp Eger meldet am 28. Nov. 1609 nach Berlin: »Und will man auch ausgeben, daß Executio banni demselben (Kursachsen) nebenst dem von Braunschweigdies Orts, und wider Pfalz Neuburg dem Haus Baiern werde demandirt werden.« Berl. Arch. cf. B. u. A. 2, 434. 82 »Weil denn dies (das Auftreten Sachsens) E. L. auch nicht wenig hinderlich, und der Kaiser solches zur Beschönung der zur Ungebühr angeordneten Kommission . . .hoch anziehen« etc. Markgr. Ernst an Johann Siegmund, 31. Juli 1609. Berl. Arch, (cf. Β. u. Α. 2, 308 Α.)
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entstehenden Uneinigkeit unter den Protestanten ein großer Vorteil erwachse, waren dann natürlich weitere Folgerungen, die auf der Hand lagen und in den Herbstmonaten des Jahres 1609 zu den stehenden politischen Gedanken der antikaiserlichen Staatsmänner gehörten. 85 Aber so scharf und direkt finde ich die Anschauung, daß die österreichische Politik in ihrem letzten Ziel auch nur auf Schwächung des protestantischen Sachsen ausgehe, erst in der Zeit ausgesprochen, in der seit den fruchtlosen Verhandlungen zu Annaburg und seit dem schroffen Auftreten Sachsens die Hoffnung, es von der Seite des Kaisers abzuziehen, mehr und mehr gesunken war. Ende 1609 schrieb Pruckmann in der von ihm verfaßten Flugschrift" »Kurtze Anzeig derer Ursachen, welche da, d e n . . . . herrn Johann Sigismunden . . . bewogenn das J. C. F. G. bis daher, nichts von ihren habenden Rechten, an den Julischen Furstenthuemen . . . publiciren lassen. Auf Chuerf. Brandenb. Sonderbahren befehl Gedruckt. . . Berlin 1609«85: ».. . . Dann auch, daß anderstheils etlichen, die sich zu viel uf den favor, welchen sie an etlichen Ortern haben, verlassen 8 ', die Augen mögen geöffnet werden, uf daß sie erkennen, daß unter dem Schein das allein gesucht werde, die vornehmsten Häuser der protestantischen Kuer- und Fürsten aneinander zu hetzen, damit sie sich selbsten ausmergeln, andere aber hernacher, wann sie nun abgemattet und erschepft, mit ihnen pro libitu zu schaffen und zu gebieten haben mögen. Weichs hernacher wohl zu beklagen, aber nicht zu widerbringen sein wird.« Der innere Zusammenhang mit den Worten des Gutachtens in § 71 ist klar. Direkte Benutzung der Kurzen Anzeig Pruckmanns durch den Fälscher scheint mir sogar nicht ausgeschlossen. Die Uberzeugung mußte natürlich an Stärke noch gewinnen, seitdem es einerseits die aufgegangenen Briefe Erzherzog Leopolds offen
83 B. u. A. 2, 376, 426, 470, 487 u. ö. 84 Konzept von seiner Hand im Berl. Arch. R. 35 B. 19. 85 Daß die Flugschrift in den letzten Monaten von 1609 geschrieben und erschienen ist, ergibt die Erwähnung der gedruckten sächsischen Deduktion, welche erst im Oktober publiziert wurde. (Christian II. übersendet am 17. Okt. mehrere Exemplare derselben an Kurbrandenburg u. Neuburg. Berl. Arch. cf. Ritter a. a. O. p. 61 ff.) Dr. Eger in Prag bekommt erst Ende Februar ein Exemplar der Pruckmannschen Schrift zu Gesicht. Bericht vom 31. Februar (sic!). Berl. Arch. 86 Natürlich ist hier nur Sachsen gemeint.
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zeigten, daß sein ganzes Unternehmen ein frenum und scopa haereticorum sein solle87, und seitdem andererseits Sachsen in so schroffer Weise jede Verständigung mit den Possidierenden abgewiesen. So wagte es denn Friedrich IV. von der Pfalz am 12. April 1610 an den Kaiser selbst in unverkennbarem Anklang an die Kurze Anzeig zu schreiben: »weiln sie (die kaiserlichen Räte) auch mit und durch diese julichsche Sach die fürnehmste evangelische Kur- und fürstlichen Häuser under einander verhetzen und verwickeln können, und wann sich diese under einander wohl gebissen und ermattet haben, alsdann dieselbe und die übrige under des Papsts Joch und Gehorsam leichtlich wieder bezwungen werden mögen«; auch suchten sie »mit ihren eitelen Vertröstungen, als ob sie dem Haus Sachsen berührte Fürstenthum, Graf- und Herrschaften vor andern gönnen«, dasselbe nur mit den andern Evangelischen zu entzweien. 88 Noch zu einem andern Ratschlage des Gutachtens kann man eine Parallele finden in den Nachrichten, welche der brandenburgischen Politik über das Verhältnis Sachsens zum Kaiser zugingen. Ich meine die Tauschvorschläge, welche das Gutachten dem Kaiser zur Abfindung der verschiedenen Interessenten in § 64-68 anrät. Natürlich gehören diese im Einzelnen der krausen Konjekturalpolitik des Fälschers an, aber der Gedanke selbst könnte veranlaßt sein durch jenes Gerücht, welches die brandenburgischen Gesandten schon im Juni nach Berlin meldeten, daß Kursachsen sein Recht dem Kaiser »cedire und transigendo abtreten wolle.« 8 ' Obgleich Kursachsen seine in den früheren Jahren in Prag gemachten Tauschvorschläge 1609 nicht wieder aufnahm' 0 , so blieb doch das Gerücht und wurde weiter ausgestaltet. Am 18. November schrieb Philipp Eger aus Prag, Sachsen sei Willens, sein Recht an den Jülicher Landen dem Kaiser »kegen einer andern ansehnlichen Gnad abzutreten.« Und am 15. Januar 1610 kann er melden: »Neben diesem ist auch eine gute Nachricht, daß der Benach-
87 S. o. p. 6. Uber Sachsen äußert sich auch Leopold in seinem Brief an den kaiserlichen Rat Hegenmüller vom 5. Dez.: »Das sachsisch colloquium hab ich gern vernommen; advigilate obsecro, ut ille princeps in nostro favore conservetur. Es wair zue fragen, utrum consultum an non, ut (ab ipso auxilium petatur); si ita, facito, quia nullum tempus est negendum (1. negligendum).« Die eingeklammerten Worte sind chiffriert. 88 89 90
B. u. A. 2, 189 f. Ber. vom 20. Juni 1609. Berl. Arch. Ritter a. a. O . p. 24 f.
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barte " sein jus an den Landen abzutreten sich anerboten habe kegen eigentümblicher Einraumbung der Pfandgüter, so dem Benachbarten hypotheciret.« Allerdings sind alle diese Anhaltspunkte noch nicht sicher genug, um die Vermutung, daß das Gutachten in den ersten Monaten des Jahres 1610, etwa in der Zeit nach der Zusammenkunft zu Hof entstanden ist, zu begründen. Festere Handhaben gibt schon die Betrachtung der Maßregeln, welche das Gutachten dem Kaiser gegen Brandenburg zu ergreifen empfiehlt. Die Worte § 61 »Allein muß Ihre Maj. nicht säumen, anfangs ihren ansehnlichen commissarium mit voller Macht ins Land zu schicken, wozu etwa Erzherzog Maximilian oder sonsten einer von den graitzischen Erzherzogen zu gebrauchen sein möchte«, faßten wir bereits oben in anderem Zusammenhange ins Auge. Dasselbe, was wir gegen die Autorschaft eines kaiserlichen Rates einwandten, spricht auch allgemein gegen die Entstehung des Gutachtens vor der Sendung Leopolds am 14. Juli. Warum weiß der Fälscher nichts von den früheren Kommissaren, zumal von dem Grafen von Hohenzollern, der ja auch schon die Regierung im Namen des Kaisers übernehmen sollte? Aber man mag das vielleicht damit entschuldigen, daß der Verfasser nicht gut instruiert war. Dann wird um so verdächtiger der an sich schon höchst auffallende Instinkt, mit dem der Fälscher neben Maximilian grade auf einen Erzherzog der Gräzer Linie rät, wie ihrer wirklich dann einer entsandt wurde. Die Sendung Leopolds ward wenige Tage vorher erst beschlossen. 92 Und die Ankunft Leopolds am Niederrhein, die Einnahme der Festung Jülich durch ihn kam den possidierenden Fürsten ganz überraschend und unerwartet. 93 Wie sollten sie auch - um von Schönberg ganz zu schweigen, - zu dem Grafen von Hohenzollern, der ihnen genug 91 Gemeint ist Kursachsen. Eger, der große Sorge hatte, daß seine Korrespondenz verraten würde, gebraucht für alle Eigennamen Umschreibungen, die meist leicht erkennbar sind. Auch korrespondiert er vorsichtigerweise nicht als Dr. Eger mit Pruckmann, sondern als Antonius Vincentius o. ä. mit Irenaus Pontandrus, zu erfragen bei Herrn Friedrich Pruckmann etc. u. ä. 92 Gindely, Rudolf II. 2, 36. Den sächsischen Gesandten erklärte auch der Hofrat Wacker, daß Leopold ohne Wissen des Reichshof rats abgeordnet sei. Bericht v. 10. Jan. 1610, Ritter a. a. O . p. 30 A. 3. 93 B. u. A. 2, 308 Α. 1, 315. Geschriebene Zeitung aus Köln vom 26. u. 29. Juli, eingesandt aus Prag von Götze und Sartorius, Berl. Arch. Copia Berichts beider Kurund Fürsten etc.: Erzherzog Leopold habe sich in Jülich »unbegrüßt und unwissend ihrer F. F. G. G. und deroselben Principalen einlosirt.« Düss. Arch.
D a s S t r a l e n d o r f sehe Gutachten und der Jülicher Erbfolgestreit
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schon zu schaffen machte, noch die Sendung eines neuen Kommissars vermuten? So wäre denn der Ratschlag des Gutachtens vor der Sendung Leopolds ganz unerklärlich. Dagegen konnte einem später schreibenden Fälscher die Tätigkeit der früheren Kommissare vor der überragenden Wirksamkeit Erzherzog Leopolds gar wohl in den Hintergrund treten. Der Verfasser meint dann, die Sendung eines Erzherzogs werde dazu dienen, »daß pedetentim die Ketzerei ausgetilget und die alte Religion wieder erbauet würde.« Ganz in diesem Lichte zeigten die Sendung, wie wir sahen, die aufgefangenen Briefe Leopolds, für deren Verbreitung die brandenburgische Politik zu sorgen verstand.' 4 Nicht minder merkwürdig entsprechen dann auch die Ratschläge in § 62 über das, was der Erzherzog-Commissarius in den Jülicher Landen zunächst zu thun und vorzunehmen habe, den wirklich verlaufenen Ereignissen. Der Commissarius, heißt es, solle nicht säumen, Festungen einzubekommen und Kriegsvolk an die Hand zu bringen. Leopold begann allerdings, sowie er sich der Festung Jülich bemächtigt, zu werben, die Stadt zu befestigen und kleinere feste Punkte und »adlige Häuser« zu besetzen.' 5 Und auch die angeratenen avocationis mandata und monitoriales sind nicht aus der Luft gegriffen. Mandate an die possidierenden Fürsten, an die Räte und Stände, Abmahnungsschreiben an alle Kriegsobersten und gemeinen Soldaten ergingen am 7. und 11. Juli, am 6. und 9. November." Ebenso steht auf positivem Boden das Folgende: »Hierbei gleichwohl müßte dem Werk vor allen Dingen dieser Schein bleiben, daß mehr Unruhe im Reich zu verhueten Kais. Maj. als der Ordinarius judex dieses also nothwendig anordnen müssen, wäre Niemands an seinen Rechten und Befugung Eintrag zu thun gemeint etc.« Am 6. Februar 1610 nämlich erließ der Kaiser eine Erklärung in
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Instr. des Landgr. Moritz für seine Gesandtsch. z. Schwäbisch-Haller Unions-
tag, 3. Jan. 1610. B. u. A. 3, 7. Friedrich IV. v. d. Pfalz an Rudolf II. Das. p. 189. Der Durchleuchtigsten, Durchleuchtigen, Hochgebornen Fürsten, Herrn Johan Sigismund! . . . auch Herrn Ernsten Marggrafen . . vnd Herrn Wolffgang Wilhelmen . . . Ausschreiben an alle Christliche hohe Potentaten. Düsseldorf 1610. 4°. 37 Bl. Berl. K. Bibl. 95
Droysen, Preuß. Pol. II. 2 2 , 414 u. 419.
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Originaldrucke im Berl. Arch. Abgedruckt u. a. bei Meyer, Londorpius supple-
tus I. 485 ff.
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diesem Sinne an die Stände des Reichs 97 : »Ob wir wohl uns je . . dahin erklärt, daß die von uns bishero in diesem erweckten gülgischen Successionsstreit beschehene Verordnungen allein von uns zu Conservation unser und des heiligen Reichs, auch eines jeden Interessenten Befugnus, Recht und Gerechtigkeit.. mit nichten aber jemand zu verfänglichem praejudicio, Schaden und Nachteil gemeint, so haben wir doch gehört, daß seitens der Prätendenten ausgesprengt ist, als hätten wir selbst die Absicht, unserem Hause zu N u t z uns der Lande zu bemächtigen und die Berechtigten zu hintergehen. Dem gegenüber versichern wir nochmals ausdrücklich durch diesen offenen Brief, daß unsere Maßregeln nur Conservation der kaiserlichen Autorität und der Befugnisse der Interessenten, nicht aber Schwächung des Religionsund Profanfriedens und unseren eigenen Vortheil im Auge haben.« Allerdings haben wir bereits in der Vollmacht für Erzherzog Leopold vom 14. Juli" ähnliche Äußerungen des Kaisers. Aber so beiläufig gehalten und an so versteckter Stelle, wie sie dort sind, konnten sie unmöglich besonders beachtet werden. Sonst hätte es in dem Schreiben Johann Siegmunds an die geistlichen Kurfürsten vom 20. November 1609" nicht heißen können: »Daß sich auch zu dem allen I. M. noch nie genugsam erkläret, ob sie vor Ihr selbst Person ein Interesse an den Landen trügen und hätten.« Und sonst hätte Pruckmann nicht in den im Januar 1610 aus Schwäbisch Hall dem Kaiser übersandten Exceptiones nullitatis etc.100 schreiben können: »Sintemalen Ε. Κ. M. sich noch nie erkläret, ungeachtet des hierüber unterschiedlich beschehenen unterthänigstens Anregens, daß sie kein eigen Interesse prätendiren oder angeben wollten.« Die Erklärung vom 6. Februar 1610 dagegen bezweckt ausdrücklich jene früheren Klauseln als spezielle Beteuerung der Integrität der kaiserlichen Politik mit Nachdruck zu wiederholen, und so machte sie in der Tat als solche Aufsehen. 101 Und was hier besonders bedeutungs-
97 Der Römischen Kayserlichen M a y e s t ä t . . . . nochmalige vnd endliche Erklärung deroselben Rechtmäßigen, Heroischen vnd auffrichtigen Intention vnd Resolution, in dem strittigen Gülgischen Successionswesen. . . Augspurg 1610. Düsseid. Arch. Meyer, Lond. suppl. I, 606. 98 Meyer 1, 488. 99 Cone. Berl. Arch. 100 S . o . p. 9. 101 Christian Wilhelm v. Magdeburg an Johann Siegmund, 3. März 1610. Berl. Arch.
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voll: Die kaiserliche Erklärung geschah auf Wunsch und Antrieb Sachsens, das wiederholt den Kaiser gedrängt hatte, er möge in einem öffentlichen Erlasse erklären, daß er für das Haus Österreich keinen Anspruch auf die Jülicher Lande erhebe.102 Man wußte das auch auf gegnerischer Seite, aber äußerte zugleich, daß es doch nur leere nichtige Worte wären. 10 ' Also eine indirekte Äußerung der kaiserlichen Politik zu Gunsten Sachsens nur Schein und Vorwand, - kann man da nicht wieder an jene Worte des Gutachtens in § 71 denken, man müsse Sachsen, aber nur zu Zeiten und selten, Vorschub leisten? Aber mag man diese letzte Kombination auch fallen lassen, so scheint mir doch die Vermutung, daß jene Worte des § 62 durch die kaiserliche Erklärung vom Februar 1610 veranlaßt sind, nicht gewagt, da wir auch schon durch eine andere Reihe von Erwägungen bis in den Februar geführt sind, und da ein fernerer Anhaltspunkt deutlich auf dieselbe Zeit weist. Das Gutachten sagt in § 56: »Er (der Kurfürst v. Brandenburg) hat seine Kurbelehnung, auch die Land und Leut Belehnung noch jetzo nicht erlanget, hat sich demnach vorzusehen, daß er nicht nach andern Gütern strebe und die seinigen darüber verliere.« Also eine Drohung, die Belehnung mit der Kur und den übrigen Landen zu verweigern. Und eben diese Drohung findet sich versteckt wieder in einem Schreiben Rudolf II. an Johann Siegmund vom 2. März 1610104 Der Kaiser rückt dem Kurfürsten da vor, daß er ja noch ein so junger Fürst sei, der eben erst die Regierung angetreten, »ja noch bis auf die Stund von Uns mit den Regalien und Lehen nit versehen.« Es handelt sich dabei um eine Frage, die gerade in diesen Monaten akut geworden war. Götze und Sartorius hatten ihrer Zeit auch den Auftrag bekommen, um Indult wegen der Belehnung nachzusuchen, und hatten auch ohne irgendwie erhebliche Schwierigkeit einen sol-
102 Ritter a. a. O . p. 50. 103 Joh. Siegm. an Christ. Wilh. 9. März. Die kaiserliche Erklärung sei nur Spiegelfechterei und wäre auch garnicht herausgekommen, wenn nicht Sachsen so hochinständig gebeten habe. Auch am 4. März meldet der brandenb. Agent in Prag Gabriel Lehmann an Pruckmann, das kaiserliche Edict sei »in gratiam Sachsens.« Berl. Arch. 104 Or. im Berl. Arch. Bei Londorp 1, 90 mit dem Datum 27. Februar. Es ist die Antwort auf das scharfe Schreiben des Kurfürsten vom 16. Nov. 1609. Das. p. 85. cf.
ο. p. A. 11.
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chen auf 8 Monate erlangt.10® Dieser lief im März 1610 nun zu Ende. Das Verhältnis zwischen Brandenburg und dem Kaiser war äußerst gespannt, die ungemein scharf und rücksichtslos geschriebenen Exceptiones nullitatis, die in ihrer Kühnheit so weit gehen, den ungerechten Kaiser an das jüngste Gericht zu mahnen, vor dem auch Kaiser und Könige sich zu verantworten hätten, machten in Prag böses Blut. 106 Es war nur dem gewöhnlichen Zaudern der kaiserlichen Räte und dem Gefühl ihrer Schwäche zu danken, wenn die im Reichshofrat bereits diskutierte Achtserklärung gegen die possidierenden Fürsten 107 nicht zur Vollstreckung kam. Und in diesen Tagen erzählte man es denn in Prag offen herum, daß der Kaiser dem Kurfürsten »die Lehen zu verreichen nicht gemeint sein solle.« "" Die edictales citationes, die der Verfasser in § 62 dann noch vorschlägt, sind natürlich die vom 24. Mai oder 9. November 1609. Gerade gegen letztere sind auch die Exceptiones nullitatis gerichtet, und um den in ihnen angesetzten Termin dreht sich auch noch in den Monaten März und April der Federkrieg zwischen Brandenburg und dem Kaiser.1™ Wir können hier innehalten. Man erinnere sich der Weissagung des Mönchs von Lehnin. Es galt, die Entstehungszeit derselben zu fixieren, und man fand sie, indem man den Punkt bezeichnete, wo die Ubereinstimmung der Prophezeiungen mit den wirklich verlaufenen Ereignissen aufhörte und die Phantasterei begann. Wir sind hier in einem ähnlichen Falle. Was der Fälscher noch weiter dem Kaiser anrät, wurzelt, soweit wir es nicht schon oben besprochen, durchweg nicht mehr in dem Boden der Wirklichkeit. Brandenburg hat garnicht daran gedacht, sich auf die kaiserliche Jurisdiktion einzulassen »und also gleichsam selbst in's Netz zu laufen« (§ 63). Und zu einer Verwirkli-
105 Relationen Götze's und Sartorius' vom 14. und 28. Juli, 6. und 21. August 1609. Berl. Arch. 106
Gabriel Lehmann an Pruckmann, 4. März 1610. Berl. Arch.
107 Protokoll des Reichshofrats vom 2. April 1610: »Gülch. Lecta declaratio et denunciatio banni contra binos principes, die gülchische Rath, Ritterschaft, Landständ und ihre Zuegewandte etc.« Berl. Arch. 108
Gabriel Lehmann an Johann Siegmund, 4. April 1610. Das.
109 Kaiserl. Schreiben (nur unterschrieben von Stralendorff und Hertel) an Johann Siegmund, 31. März. Brandenb. Appellation dagegen (Notariatsurkunde) vom 24. April 1610. Berl. Arch.
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chung der klugen Tauschvorschläge, die der Verfasser so liebevoll spezialisiert, oder gar zu einem solchen Rechtsspruch, wie er ihn in § 69 vorschlägt, ist es ebensowenig gekommen, - um von dem erquickenden Schlußtableau des Gutachtens ganz zu schweigen. Auch andere Erwägungen empfehlen unsern Ansatz der Entstehungszeit. Ende 1609, Anfang 1610 sind jene echten Gutachten der kaiserlichen Räte über die jülichsche Frage vom August 1608 und vom September 1609 in die Hände protestantischer Fürsten gelangt. (S. o. p. 10). Es läßt sich nicht nachweisen, daß der Fälscher eines von diesen vor Augen gehabt hätte, aber es liegt auf der Hand, daß auch schon das bloße Gerücht von dem Vorhandensein gehässiger Gutachten der kaiserlichen Räte ein wirksamer Impuls für einen Fälscher sein konnte, auf eigne Faust ein solches nachzubilden. Verbreitung fand die Kunde von jenen echten Gutachten jedenfalls sehr bald. Landgraf Moritz weiß schon in der Instruktion zum Schwäbisch-Haller Unionstag vom 3. Januar 1610 von dem Gutachten von 1608."° Und wenn Friedrich von der Pfalz in dem Schreiben an den Kaiser vom 12. April 1610"' sich auf das bezieht, was die Räte dem Kaiser neuerdings geraten haben, so ist offenbar ein schriftliches Gutachten derselben gemeint. Und endlich: Wir sahen die Unmöglichkeit, daß das Gutachten in der Zeit entstanden ist, in der es entstanden sein will. Aber es darf auch wieder nicht zu weit von derselben hinweggerückt werden. Droysen hat durchaus Recht, wenn er p. 382 auf den § 13 verweist: »Innerhalb Jahresfrist habe der Kurfürst die Kur, das preußische Fürstenthum, des Herrenmeisters zu Sonnenburg Lande . . occupirt«, und meint, daß ein späterer Forscher diese Bestimmtheit der Situation nicht zu erreichen vermocht hätte. Es muß in der Tat eine Zeit angenommen werden, welcher die Ereignisse von 1609 noch nahe genug lagen, um sie in diesem Detail zu beherrschen. Und wie in der Erinnerung an die jüngste Vergangenheit immer zuerst die Auffassung derselben sich leise verändert, wenn noch die einzelnen Daten frisch im Gedächtnis, so ist es verständlich, wenn dem etwa im März oder April 1610 schreibenden Fälscher die politischen Konstellationen von 1609 sich bereits so gefärbt und verschoben haben, daß ihm der im Sommer 1609 so lebendige Gegensatz zwischen Brandenburg und Neuburg ganz in 110 111
B. u. A. 3, 7. Das. 3, 188.
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den Hintergrund getreten ist vor dem inzwischen hervorgetretenen zwischen Brandenburg und Sachsen. Schwer dürfte es fallen, einen sicheren terminus ante quem zu finden. Im allgemeinen kann man wohl sagen, daß das Gutachten in die zweite Hälfte des Jahres 1610, in der nach dem Tode Heinrichs IV.112 die vermittelnden Tendenzen wieder überwogen, in die Zeit der Kölner Verhandlungen und der beginnenden Annäherung Brandenburgs an Sachsen nicht mehr so gut hineinpaßt, wie in jene Monate der Krisis und Spannung sowohl mit Sachsen wie mit dem Kaiser. Dann mißt das Gutachten noch sichtlich der Tätigkeit Leopolds in Jülich großes Gewicht bei. Wenn der Fälscher noch das Scheitern der Unternehmung Leopolds mit erlebt hätte, würde er dies vielleicht nicht getan haben. Im Juni 1610 bereits kehrte Leopold aus Jülich zurück und gab damit das ganze Unternehmen preis." 3 Mit etwas größerer Sicherheit kann man schon sagen, daß der Fälscher wohl von der am 7. Juli 1610 erfolgten Belehnung Sachsens mit den Jülicher Landen noch gewußt hat; sonst würde er kaum dem kaiserlichen Rate die Verwerfung der sächsischen Ansprüche und den Rat, Sachsen nur zum Schein Vorschub zu leisten, in den Mund gelegt haben. Somit erhielten wir etwa den Februar und März einerseits und den Juni und Juli 1610 andererseits als begrenzende Monate.
VII. Auf dem so gewonnenen chronologischen Boden können wir nunmehr die Frage der Provenienz von neuem diskutieren; wir hätten zu untersuchen, ob in dieser Zeit etwa ein brandenburgischer Staatsmann in der Lage war, ein Schriftstück, wie das vorliegende, zu fälschen. Stieve weist auf die im höchsten Grade auffallende Kenntnis der inneren brandenburgischen Verhältnisse, welche das Gutachten entwickelt. Der Verfasser verrät es selbst einmal, daß er sich zu den genauen Kennern der innern Zustände in den Marken zählt. ( § 1 1 112 Daß das Gutachten in § 4 Heinrich IV. noch als lebend erwähnt, beweist natürlich noch nichts für die Entstehungszeit. 113 Gindely, Rudolf II. 2,167. Am 30. Juni schreibt Leopold schon aus Prag an die dort versammelten Fürsten. Cop. Berl. Arch.
D a s Stralendorffsche G u t a c h t e n und der Jülicher Erbfolgestreit
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»sintemal denen, so der Mark Gelegenheit wissen, nicht unverborgen« etc.). Er ist unterrichtet über die territoriale Zusammensetzung, über Personalien der kurfürstlichen Familie. Er weiß Bescheid über die Steuern und Zölle (§ 11), über die militärische Schwäche des Kurfürstentums (§ 49) 114 ; ja selbst solche Kleinigkeiten, wie daß der kurfürstliche Schatz im Dom zu Kölln an der Spree aufbewahrt werde, bringt er bei. Die auffallendsten Beispiele seiner Kenntnisse in § 21, daß »die Festung Driesen fast ehe erbauet, proviantirt und auf's stattlichste versehen . . . , als man darvon Zeitung uberkommen«, und die Notiz über den unvollendeten115 Spree-Oderkanal sind bereits von Droysen und Stieve eingehend besprochen worden. Die Angaben sind nach dem, was Droysen darüber p. 377 ff. mitteilt, der Art, daß sie kaum aus literarischen Quellen geflossen sein können. Man sollte meinen, hier zeige sich die persönliche Sachkenntnis des Fälschers. Vielleicht kann man sogar noch einen Schritt weiter gehen. Sehen wir uns jene Spuren einer eingehenden Kenntnis der brandenburgischen Verhältnisse genauer an, so gewahren wir leicht, daß dieses Wissen des Verfassers, wo es wirklich auffällig ist, sich nur auf die östlichen Teile des Kurfürstentums erstreckt. Hierher gehören jene Notizen über den Herrenmeister von Sonnenburg ( § 1 3 und 23), den Bau der Festung Driesen, den Spree-Oderkanal ( § 2 1 ) und das Zeughaus in Küstrin (§ 22). Und der Markgraf Johann von Küstrin ist dem Fälscher offenbar eine interessante Persönlichkeit, die er in § 10, 12 und 14, vor allem aber in § 17 in ganz übertriebener Weise hervorhebt. 116 Wir finden nicht, daß er demgegenüber auch die westlichen Teile des Kurfürstentums, aus denen ein Kundiger gewiß nicht weniger Details ähnlicher Art entnehmen konnte, berücksichtigt. Magdeburg ζ. B., das unter brandenburgischen Administratoren stand, war gewiß für die Machtsphäre des Kurfürstentums ein bedeutsamer Erwerb und reich 114
cf. Droysen. Gesch. der Preuß. Pol. II. 2 \ 423.
115
Man muß hier jedenfalls Stieve Recht geben, der p. 462 gegen Droysen
ausführt, daß der Verfasser den Kanal, wie es in der Tat sich verhielt, als nicht fertig und schiffbar kennt. Die Lesart in § 21 »dardurch beide die Ost- und Westsee als eine Kette aneinander gehenget worden« beweist nichts, da im Original sehr wohl w ü r d e gestanden haben kann. 116
. . . »bedenke man, wie Markgraf Johans bei kleinem Land so stattliche Güter
erkauft, so stattliche Festungen e r b a u e t . . . so gewaltige Schätze und Reichthum hinterlassen, daß ganz Teutsch- und Polner Land davon genugsam weiß zu sagen, ja allenthalben gespüret und gefürchtet worden.«
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an wirtschaftlichen Hilfskräften, - wie kurz aber geht er darüber hinweg, wenn er in § 9 sagt, Magdeburg sei von den brandenburgischen Fürsten »erhaschet und bishero fast behalten worden.« Dann ist es auch noch eine andere Persönlichkeit unter den brandenburgischen Fürsten, auf die der Verfasser mit Vorliebe zurückgreift, wenn er zeigen will, wie bedeutend sich dieses Haus entwickelt: Markgraf Georg Friedrich von Ansbach" 7 . Uber seine Verwaltung und Hofhaltung in Preußen zeigt er sich in § 18 und 54 auffallend orientiert, - er bringt sogar solche Details, wie daß der Markgraf »oftmals drei Fürsten, zwei Grafen und fünf Freiherrn neben mehr als dreißig von Adel am Hof unterhalten.« Der Verfasser ist ihm offenbar nicht gewogen, denn er macht ihm den Vorwurf, die »reditus in Preußen dilapidirt« zu haben, und das in sehr an den Haaren herbeigezogener Weise, denn er will in jenem § 54 vor allem beweisen, daß die Kurfürstin von Brandenburg als preußische Prinzessin und Erbin des Herzogtums von der kaiserlichen Acht gegen den Herzog von Preußen mitbetroffen und also des jülichschen Erbes verlustig sei. Er fügt dann noch als zweiten Grund hierfür hinzu, daß auch ihr Herr und ihre Kinder als Erben des Markgrafen Georg Friedrich mit ihrem Vermögen noch für dessen schlechte Verwaltung in Preußen aufzukommen hätten. Aber wie gezwungen und geschraubt ist das, zumal da die Haupterben Georg Friedrichs doch die Brüder Joachim Friedrichs waren. Gewiß erklärt sich alles das am einfachsten, wenn wir die Verfasserschaft eines Brandenburgers annehmen. Aber man muß doch darauf aufmerksam machen, daß auch ein Nichtbrandenburger durch Reisen oder längeren Aufenthalt in den Marken, speziell also in den östlichen Teilen derselben, oder auch durch verwandtschaftliche Beziehungen zu märkischen Familien sich jene Kenntnis brandenburgischer Verhältnisse erwerben und jenes Interesse für Persönlichkeiten des brandenburgischen Fürstenhauses fassen konnte. 1,8 Und ferner darf man nicht außer Acht lassen, daß der Fälscher auch über die wirtschaftlichen und militärischen Kräfte anderer Territorien detaillierte Angaben macht. Er weiß, um von seinen Notizen über Preußen in § 51 und die Jülicher Lande in § 64 ganz zu schweigen, in 117
In § 14, 18, 52 u. 54.
118 Ich möchte es darum auch nicht mit Stieve wagen, jene Kenntnisse schon als entscheidenden Grund gegen die Autorschaft eines kaiserlichen Rates anzuführen.
Das Stralendorffsche G u t a c h t e n u n d der Jülicher Erbfolgestreit
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§ 35 die Zahl der Streitkräfte, welche die Protestanten in Polen aufzubringen vermögen; er ist auch orientiert über die Einkünfte der Ober- und Niederlausitz (§ 65) und spricht in § 67 über die »der Krön Beheim gehörende Landsteuern« der Lausitz mit derselben Sicherheit, wie in § 11 über die »nutzbare Bier- und Mahlsteuern« in den Marken. Er erwähnt in § 67 auch die Erzgruben in Tirol und das Salzwerk zu Hall im Inntal. Auffälliger aber als all das, von dem ja manches aus literarischen Quellen stammen kann, ist seine Notiz an derselben Stelle über die Herrschaften Commotau, Lischau, Libochowitz und Rothenhaus, »so der gewesene Fürst von Siebenbürgen ad tempus vitae besitzt und bei 40000 fl 1 " austragen können.« Siegismund Bathory verließ 1602 zum zweiten Male Siebenbürgen und schloß mit Rudolf II. einen Abfindungsvertrag. Dieser selbst ist, soweit ich sehe, nicht überliefert, und so sind wir nur auf das, was der Zeitgenosse Nicolaus Isthvanfi 120 darüber mitteilt, angewiesen. Rudolf II. läßt auf das Ansuchen Siegismunds, ihm eine in Böhmen gelegene Herrschaft zu bewilligen, antworten: »concessurum (se) illi, donee vixerit, arcem Lobcovitiam, quae pridem Georgii Poppeiii fuerat, sed ab eo lege Julia maiestatis reo adempta esset, cum annua L millium aureorum nummum pensione.« Siegismund geht dann nach Prag »pauloque post tradita arce Lobcovitia et aliis, de quibus inter pacta et conditiones transactum erat, (Caesar) ei satisfecit, isque ab eo tempore privato more in Bohemia assidue constanterque permansit.« Die Angaben Isthvanfis und die Notiz des Fälschers scheinen sich auf den ersten Blick nicht zu decken, - ersterer spricht von dem Schlosse Lobkowitz und einer Rente von 50000 Gulden, letzterer von vier böhmischen Herrschaften mit einem Gesammtertrage von 40000 fl. Aber man darf doch nicht übersehen, daß wir über den Inhalt des Vertrages selbst von Isthvanfi nichts erfahren, sondern nur über das, was Rudolf II. auf Siegismunds erstes Ansuchen vorläufig ihm in Aussicht stellt. So bleibt die Möglichkeit offen, daß in den »aliis de quibus inter pacta et conditiones transactum erat,« jene vier Herrschaften mitbegrif119 Die 70000 fl. in dem Droysenschen Texte sind ein Druckfehler. Er selbst gibt in der Abhandlung p. 377 die Zahl 40000 fl., die, wie ich mich durch die Vergleichung der Handschriften α und d, die beide 40000 fl. haben, überzeugt habe, die ursprüngliche des Gutachtens ist. 120 Historiar. de rebus Ungar. 1. XXXIV. Köln 1622 p. 785 f. Aus ihm schöpfend Simigianus Rer. Hung, et Transsilv. I. IV. (Script, rer Transsilv. II. 2,277 und 285) und Wolfg. Bethlen, Hist, de reb. Transsilv. 5, 166.
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fen sind. Falls die arx Lobcovitia Isthvanfis und das Libochowitz des Fälschers identisch sind, so ist wohl nicht das an der Elbe gelegene Schloß Lobkowitz, sondern Lobochowitz an der Eger gemeint, denn wir haben in einer Prager Korrespondenz aus dem Jahre 1613, die den Tod Siegismunds berichtet, die bestimmte Angabe, daß sich Siegismiind Bathory »etliche Jahr allhier auf der Herrschaft Libuchowitz aufgehalten.«121 Jedenfalls bestätigen diese Zeugnisse einmal, daß Siegismund Bathory im Genuß einer Abfindung auf Lebenszeit sich befand, und dann, daß die Herrschaft Libochowitz hierzu gehört hat, und das erweckt ein günstiges Vorurteil für die übrigen Angaben des Fälschers über diese Abfindung. Wie kommt es nun zu dieser Kenntnis der Privatverhältnisse einer fürstlichen Persönlichkeit, die vom Schauplatz der Politik abgetreten war, die zurückgezogen auf einer böhmischen Herrschaft lebte? Allerdings ist es möglich, daß ein Ereignis aus den ersten Monaten des Jahres 1610 die Aufmerksamkeit auf Siegismund Bathory wieder gelenkt hat. Rudolf II. ließ ihn damals verhaften, weil er im Verdachte geheimer Verhandlungen mit den Türken stand.122 Aber in hohem Grade auffällig bleibt auch dann noch dieses Detail über den Bestand und die Einkünfte seiner Besitzungen, - kaum minder auffällig, wie jene Notiz über die versteckte lokale Kuriosität des Spree-Oderkanals. Zeugt diese nach Stieve für die Autorschaft eines Brandenburgers, so verwendet Droysen die Angabe über Bathory zum Beweis dafür, daß das Gutachten nur von einem »mitten in den Verhältnissen Stehenden«, einem Prager Katholiken geschrieben sein könne. Das Richtige wird man wohl treffen, wenn man die eine Stelle nicht über der andern vergißt und einen Verfasser annimmt, in dessen Gesichtskreis sowohl die östlichen Teile der Mark, 121 Jacobi FrancilHistoricae Relationis ContinuatiolVigesima Quintal,, verfasset und continuiret, durchljacobum Framenl. . .1613 (Michaelismesse). Hieraus und aus Katona, Hist. crit. Hung. 29,477 ergibt sich, daß er in Prag am 27. März 1613 starb. Danach sind zu berichten Mailath, Gesch. d. östr. Kaiserstaates 2,269, aus dem Droysen p. 377 die Angabe schöpft, daß er 1610 gestorben, sowie Krones' Grundriß p. 524 u. Handbuch 3,352. Im Gutachten spricht jedenfalls die handschriftliche Uberlieferung für die Lesart Libochowitz (Libchowitz ah, Libensowitz B. Lurachebitz (nicht Lurnchewitz, wie Droysen angibt) D, Liewachebitz d). 122 Continuator Fleurianus bei Katona a. a. O. »per integrum ferme biennium circumseptus haerebat, donee tandem . . . MathiaeCaesarisiudicioinnocensdeclaratus fuerit.« Rechnet man vonRudolf II. Tode (20. Jan. 1612)c.zweijahrezurück, so kommt man ungefähr auf die Zeit, in die wir die Entstehung des Gutachtens setzten.
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wie die Verhältnisse in Böhmen und etwa noch der Lausitz gelegen haben. 123 Von größerem Gewicht erscheint für die Annahme Stieves, daß die Fälschung von offizieller brandenburgischer Seite ausgegangen ist, der zweite Grund: »Nur ein Brandenburger hatte ein Interesse daran, Brandenburgs Macht so ungeheuerlich zu übertreiben und für dessen A n s p r ü c h e . . . so leidenschaftlich Partei zu nehmen.« Ganz evident scheint das, auf den ersten Blick, zu werden, wenn es sich zeigt, daß die Ausführungen des Gutachtens über die Fragen des Rechts mit den authentischen Kundgebungen Kurbrandenburgs und seiner Anhänger auffallend verwandt sind. Bereits oben ρ. 15 f. sahen wir, daß die von dem Gutachten in § 43 behauptete Rechtmäßigkeit der brandenburgischen Besitzergreifung ganz dem Standpunkte der possidierenden Fürsten entspricht, nur daß es dabei von der neuburgischen Besitzergreifung schweigt. Aber diese konnte, sollte man meinen, wieder nur ein Brandenburger in einseitigem Patriotismus ignorieren. Wirklich war es von vornherein die Tendenz Brandenburgs, seine Besitzergreifung als die erste und »männiglichen zu präferirende« hinzustellen. 124 So wird auch in der Ende 1609 geschriebenen und für das Publikum bestimmten Kurzen Anzeig Pruckmanns Neuburg garnicht berührt und von Brandenburgs Besitzergreifung allein gesprochen. Es liegt auch psychologisch nahe, daß die Brandenburger, die doch nur widerstrebenden Herzens auf den Vergleich mit Neuburg eingegangen waren, ihn, wo sie es konnten, sich möglichst aus dem Sinn zu schlagen suchten. Noch stärker tritt die Übereinstimmung mit der brandenburgischen
123 Stieve meint freilich p. 464, der Verfasser spreche »von den böhmischen Unruhen weit gleichgültiger, als es ein Augenzeuge derselben tun könnte.« Aber wenn der Fälscher in § 29 sagt, Böhmen und Schlesien sei durch die Ketzer »in äußerste Unordnung kommen«, so genügt das völlig zur Kennzeichnung der Situation in Böhmen, auf die näher einzugehen garnicht in seinem Plane liegt. 124 »So wären wir auch diejenigen, so vor allen andern, und dazu ohn männiglichs Contradiction die wirkliche und actualem possessionem apprehendirt.« Instruction für die Gesandtschaft nach Prag, Königsberg 1. Mai 1609. »Insonderheit nachdem der Kurfürst zue Brandenburg . . . die PossessiondergülischenLandenapprehendirenund einnehmen lassen . . . dardurch dann S. Kurf. G. allen andern vormeinten Prätendenten ratione temporis weit zuvorkommen.« Hartmann Pistoris' Rechtsgutachten 1609. »Weil ohne Streit und landkundig, daß Ihre Kurf. G. zu Brandenburg der gulichschen und clevischen Landen Possession am ersten und fur männiglichen apprehendiret und angetreten.« Ursachen, warum d. Haus Sachsen Ihre Kurf. G. zu Brandenburg bei der Possession der gulichschen Lande pillig . . lassen . . solle. Januar 1611 Berl. Arch.
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Publicistik hervor, wenn wir die Diskussion der Erbansprüche selbst ins Auge fassen. Vielleicht kann man in einer das brandenburgische Interesse vertretenden Flugschrift eine Quelle des Gutachtens erblicken. Der Titel ist: Gründlicher Dicurs vnd Belricht.l Warumb der Durchlauchtigster Hochgeborlner F ü r s t . . . Herr Johan S i g i s m u n d t . . . . von wegen S. Churf. Durchl. Ehegemahlin . . . auff absterben des auch Durchlauchtigen . . Fürsten . . Herrn Johans Wilhelmen . .Christmilden angedenckens in desselben F. Gn. nachgelassenen Furstenthumben. . . menniglichen zu preferiren sey. Gestellt durch einen guthertzigen Patrioten. Mit angehengten Copyen eines dergleichen Patrioten Missiuen. . . s. 1. et a. 4° 14 Bl. 125 Ich setze die betreffenden Stellen nacheinander. Diskurs eines gutherzigen Patrioten Bl. 6. O b denn wohl die älteste Tocher, Frau Maria Leonora . . . .ehe denn Ihr. F. Gn. Herr Bruder, Herzog Johans Wilhelm zu Gülich etc. mit Tod a b g a n g e n , . . . . So ist doch die ältiste derselben Töchtern . . . als filia primogenita, zu dieser Succession unablehnlich berechtiget. Bl. 5. Hat also S. F. Gn. als welche beide Privilegia erlanget und am besten verstanden, das ältere dunkele und obscur Privilegium Carolinum aus dem jüngern Privilegio Kaisers Ferdinandi, den uralten Verträgen und Herbringen . . . gemäß . . . interpretiret
per benigniorem et favorabiliorem praesumptionem et interpre-
tationem . . .
Stralendorffsches Gutachten § 42. . . . Und da man sagen wollte, es wäre die primogenita schon vor dem letzten abgeleibten Fürsten verstorben, so ist doch primogenita primogenitae vorhanden, so jure repraesentationis fundato die Mutter repräsentirt vnd an deren Stelle nicht unbillig tritt. § 43. . . . So ist doch Privilegium Carolinum auch nicht genug jus alteri quaesitum zu auferiren, insonderheit weil commoda interpretatione demselbigen wohl ein solcher Verstand werden kann, so dem Herkommen vnd andern Verträgen gemäß ist. Immo Kaiser Ferdinandus hebt alles auf und interpretirt das obscurum Privilegium.
Als eine solche commoda interpretatio des Privilegiums Karls V., wie sie im Gutachten nur angedeutet ist, kann man auch wohl die Worte des Diskurses Bl. 6 fassen: »Dann dieselbe (sc. clausula privilegii Carolini) disponiret allein in dem Fall, wofern zur Zeit Absterbens des Mannstammens keine Töchter im Leben sein würden, welcher Fall
125 Berl. K. Bibl. und Düsseid. Arch. Ein Nachdruck befindet sich auf p. 31-43 des Sammelheftes »Vnterschiedlliche Bericht, Discours vndlBeylagen, Betreffendt die Succession, In denlGulichischen . . . Fürstenthumb . . . 1609« (Berl. K. Bibl.)
Das Stralendorffsche Gutachten und der Jülicher Erbfolgestreit
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sich aber nicht zugetragen, sondern noch drei derselben fürstlichen Töchtern am Leben.« Höchst auffällig ist es, daß das Gutachten in § 42 behauptet, die Geschwister Maria Eleonorens hätten »renuncirt«, - auffällig darum, weil, wie wir p. 14 sahen, die Markgräfin von Burgau den Verzicht direkt abgelehnt hatte. Der Diskurs behauptet nun allerdings nicht dasselbe, wie das Gutachten, aber er führt spitzfindig aus, daß die Markgräfin Sybille »dero väterlicher Disposition und Ordnung Folge zu thun und in Kraft derselben sich gleichsam ihren noch lebenden zweien altern Frauen Schwestern . . . abfinden zu lassen zu Recht schuldig und gehalten« sei. Wenn der Verfasser des Gutachtens solche Ausführungen vor Augen hatte, kann man es einigermaßen verstehen, wie er zu der Behauptung kommen konnte, daß die übrigen Geschwister, - also auch die Markgräfin, - renunciert hätten. Den Verdacht, daß der Verfasser wirklich den Diskurs des gutherzigen Patrioten als direkte Quelle vor sich gehabt hat, scheinen jedenfalls die Übereinstimmungen in Inhalt, Satzbau und Worten nahe genug zu legen, wenn ja auch die Möglichkeit, daß beide aus einer dritten mir unbekannt gebliebenen Quelle geschöpft haben, nicht ausgeschlossen ist. Erinnern muß man an dieser Stelle auch an die Berührung des Gutachtens mit den antisächsischen Deduktionen, aus denen, wie wir oben p. 31 ff. sahen, die Gründe, mit welchen der Fälscher das sächsische Recht bekämpft, geflossen sein müssen. Natürlich konnte auch diese Widerlegung dem brandenburgischen Interesse nur in hohem Grade förderlich sein. Aber involviert nun alles das wirklich die Notwendigkeit der offiziellen brandenburgischen Provenienz? Nimmt man diese als bewiesen an, so entsteht die Frage, welchen unmittelbaren politischen Zweck die Fälschung gehabt hat. Stieve meint, man habe Sachsen von der Seite des Kaisers abziehen wollen. Im Frühjahr 1610 nach den Verhandlungen von Hof, konnte die brandenburgische Politik kaum noch hoffen, das zu erreichen. Aber vielleicht war die Fälschung eines solchen Gutachtens das letzte verzweifelte Mittel, zu dem die brandenburgischen Räte griffen, um die gewünschte Wirkung hervorzubringen. Vielleicht auch war es mehr ihre Absicht, Sachsen zu ärgern und feindlich zu treffen, ihm drastisch zu zeigen, wie töricht seine Politik sei, - in beiden Fällen muß man sich fragen, welche Rolle das Gutachten in der Zeit, in der es entstanden sein muß, gespielt hat. Man sollte meinen, daß ein die kaiserliche Politik derartig kompromittierendes
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Machwerk beträchtlichen Staub aufgewirbelt hätte. Mir ist nun aus jenen Jahren keine einzige direkte oder indirekte Bezugnahme auf das Gutachten bekannt. Selbst die Relationen Gabriel Lehmanns, die ich bis zum Tode desselben (September 1611), und Philipp Egers, die ich bis zum Ausgang Rudolfs II. verfolgte, und in denen man sonst über Flugschriften und ähnliche gedruckte oder ungedruckte Produkte der Publizistik die reichhaltigsten Aufschlüsse erhält, ergaben nichts.126 Festgestellt muß demnach werden, daß die Fälschung zur Zeit ihrer Entstehung, soweit irgend ersichtlich, keine Rolle gespielt hat. Sicher, sollte man meinen, hätte ein aktiver Staatsmann sein Machwerk mit mehr Erfolg in die politische Welt lanziert, oder er hätte sich nicht die unnütze Mühe der Abfassung gegeben. Aber immerhin mag man dies argumentum ex silentio bemängeln und entweder das Spiel eines allerdings sehr merkwürdigen Zufalls annehmen, der uns die Zeugnisse über die Wirkung der Fälschung vorenthalten hat, oder Gründe konstruieren, welche es den brandenburgischen Räten geraten scheinen ließen, die Publikation zu vertagen. Durchschlagend dagegen dürfte, um minder Erhebliches zu übergehen, ein anderes Bedenken sein. Wir konstatierten oben p. 33 ein Mißverhältnis zwischen der ungenauen Kenntnis des sächsischen Rechts und der Menge und dem Gewicht der dagegen vorgebrachten Gründe. Die Vorführung der letzteren sprach gegen die Entstehung im Sommer 1609, die erstere verbietet es nun wieder, an den offiziellen brandenburgischen Ursprung in den ersten Monaten des Jahres 1610 zu denken. Unter den brandenburgischen Räten war der, welcher wegen seiner sonstigen publizistischen Tätigkeit am ersten hier in Frage kommen könnte, Friedrich Pruckmann, der Verfasser einer auf vollständiger Kenntnis des Materials beruhenden, eingehenden und umsichtigen Widerlegung der sächsischen Ansprüche. 127 Kein Zweifel, daß auch die übrigen brandenburgischen Räte im Frühjahr 1610 völlig orientiert waren über das sächsische Recht. Wie war es jetzt, da die sächsische Delineationsschrift und die gedruckte sächsische Deduktion' 28 vorlagen, noch 126 Auch Herr Prof. Dr. Ritter teilt mir freundlich mit, daß ihm in den Berichten der sächsischen Gesandten vom kaiserlichen Hofe, die er bis zum Zeitpunkt der sächsischen Belehnung durchgearbeitet, nichts vorgekommen sei, was sich auf das Stralendorffsche Gutachten bezöge. 127 128
S. o. p. 31 f. Ausführliche I Wolgegründte Deduction I Des Chur und Fürstlichen 1 Hauses
Das Stralendorffsche Gutachten und der Jülicher Erbfolgestreit
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möglich, daß einer von ihnen das den beiden sächsischen Linien gegebene Privilegium von 1486, die Bestätigung der Privilegien im Jahre 1495 und die Ehepakten von 1526 ignorierte und von dem Privilegium von 1483 nur die dunkle Kunde hatte, daß es ungefähr vor 140 Jahren und darüber dem Herzog Albrecht ausgestellt sei. Die Stelle ist ohne Zweifel der Art, daß sie ein über das sächsische Recht Orientierter nicht geschrieben haben kann. Dieselben Gründe machen auch den Ursprung an anderweitiger offizieller Stelle des protestantischen Lagers wenig wahrscheinlich. Gegen die Entstehung speziell in den Kreisen der Union spricht, daß der Verfasser diese völlig mit Stillschweigen übergeht. 129 Vermutungen über den Ursprung werden vielmehr immer anknüpfen müssen an das eifrige Interesse, das der Fälscher für Brandenburg entwickelt, an den politischen Gesichtskreis desselben, der durch die drei Punkte Brandenburg, Sachsen und Kaiser bestimmt ist, und an die dem entsprechende lokale Situation, welche die in dem Gutachten entwickelten Kenntnisse voraussetzen. Nicht zu trennen davon ist die Frage des Zwecks. Die von Stieve angenommene Absicht des Fälschers, auf Sachsen Eindruck zu machen, muß jetzt wegfallen, da einem nicht in den politischen Geschäften Stehenden kaum zugetraut werden kann, daß er dermaßen auf eigne Faust zu Gunsten Brandenburgs Politik trieb. Vielleicht verhilft hier zu einer einfacheren und zwangloseren Hypothese die Analogie anderer Fälschungen. Wenn der Abbe Chevremont, angeregt durch die Publikation ähnlicher politischer Testamente, es unternahm, das politische Testament Karls V. von Lothringen zu fälschen, so rechnete er dabei auf den Dank des französischen Hofes, dem mit diesem Machwerk eine Waffe gegen die habsburgische Politik in die Hand gedrückt wurde. 130 Und wenn der Franzose Esmenard im Jahre 1811 das Gutachten eines französischen Ministers fabrizierte, welches, entsprechend den Sachsen I An den verledigten Fürstenthumben Gülich, Cleve und Berg etc. Leipzig 1609. Andere Drucke Köln 1609, Leipzig 1610. Berl. K. Bibl. u. Arch. Gedruckt wurde die Deduktion zwischen 5. Sept. 1609, an dem auf die Naumburger Tagsatzung beschlossen wurde, eine Deduktion des sächsischen Rechtes durch den Druck zu publizieren, und dem 17. Oct. 1609, an dem Christian II. an Brandenburg und Neuburg Exemplare der Deduktion übersandte. (Begleitschreiben im Berl. Arch.) 129 130
cf. Stieve p. 457 f. Koser a. a. O . p. 81.
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Gerüchten über die Absichten Napoleons, dem Kaiser die völlige Vernichtung der preußischen Monarchie anriet, so leitete ihn dabei in erster Linie die Spekulation auf die Erkenntlichkeit des preußischen Hofes. 1 3 1 Wie, wenn hier etwas Analoges vorläge, wenn hier die umlaufenden Gerüchte von gehässigen Gutachten der kaiserlichen Räte über die Jülicher Frage einen spekulativen Kopf bestimmt hätten, ein solches Gutachten zu schmieden, wie es jenen Vorstellungen entsprach, um es dem brandenburgischen Kurfürsten und seinen Räten vorzulegen? Ich finde, daß von diesem Gesichtspunkt aus mit einem Male ein unerwartetes Licht auf das Gutachten fällt. Jene, um mit Stieve p. 459 zu reden, »maßlose, mitunter ans Lächerliche streifende Weise«, mit welcher der Verfasser die brandenburgische Macht herausstreicht, die überschwängliche Anerkennung, die er dem brandenburgischen Rechte zollt - ich meine, sie läßt sich viel ungezwungener aus der berechnenden Spekulation des Fälschers auf die Leser erklären, für die er zunächst sein Produkt bestimmte, als, wie Stieve p. 473 will, aus der Absicht eines brandenburgischen Rates, Sachsen zu warnen vor Brandenburgs Macht und ihm die Hoffnung zu nehmen, durch ein kaiserliches Urteil die Erbschaft zu erlangen. Der Kurfürst und seine Räte mußten, so mochte der Fälscher spekulieren, sich geschmeichelt fühlen, wenn sie aus dem Munde des kaiserlichen Rates das unumwundene L o b ihrer Macht und ihres Rechtes erschallen hörten, und es konnte ihnen nur angenehm sein, einen Beweis dafür zu erhalten, daß die gegen sie gerichtete Politik des kaiserlichen Hofes auf L u g und Trug beruhe. Nicht minder natürlich erklärt sich jetzt die Ungenauigkeit und Lückenhaftigkeit in der Erörterung der sächsichen Ansprüche und die ungeschickte und grobe Art, wie der Verfasser hier und in der Darstellung des brandenburgischen Rechtes seine Vorlagen benutzt. Und unter derselben Voraussetzung lassen sich auch mancherlei Möglichkeiten denken, welche die politische Wirkung der Fälschung verhinderten. Die nächstliegende Annahme dürfte wohl sein: Man durchschaute in Berlin, daß es eine Fälschung war, und sah darum von einer Verwertung derselben ab. Man nahm allerdings dann, wahrscheinlich noch im Jahre 1611, in der brandenburgischen Kanzlei eine Abschrift
131 Stern, Abhandlungen u. Aktenstücke z. Gesch. d. preuß. Reformzeit 1807 bis 1815, p. 93 ff.
D a s Stralendorffsche Gutachten und der Jülicher Erbfolgestreit
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des Gutachtens' 3 2 , aber es ist klar, daß diese Tatsache noch nicht genügt, um daraus irgendwie sichere Schlüsse abzuleiten. Es braucht nicht grade die Hoffnung auf klingenden Lohn das unmittelbare Motiv zur Fälschung gewesen sein, es kann auch politischer Ehrgeiz und Strebertum geglaubt haben, sich durch Insinuierung eines solchen Machwerks beliebt zu machen und Eingang zu verschaffen. Und um zu zeigen, daß es wirklich Persönlichkeiten gab, die unter diesen Voraussetzungen ein solches Schriftstück fälschen konnten, wage ich es, einen bestimmten N a m e n zu nennen. Das Geschlecht der Liebenthal war ansässig in Böhmen, der Lausitz und Neumark. Ein Peter Freiherr v. Liebenthal war geborener Märker und besaß auch Güter bei Soldin in der Neumark. Zugleich aber bekleidete er ein kleines A m t am H o f e des Kaisers und war auch in der Nähe von Prag a n g e s e s s e n . S c h e i n t seine Doppelstellung als böhmischer und neumärkischer Landeseingesessener sich ungezwungen mit den Kenntnissen verbinden zu lassen, welche unser Gutachten über die östlichen Teile der Mark einer- und über die Privatverhältnisse Siegismund Bathory's andrerseits entwickelt, so möchte seine Stellung als kaiserlicher Hofbeamter von vornherein gegen seine Autorschaft sprechen. Aber ich erinnere wieder an jenen Abbe Chevremont, der auch als Sekretär in den Diensten des Herzogs gestanden hatte, dessen Namen er in seiner Fälschung mißbrauchte, und an Esmenard, der französischer Polizeibeamter war. Auch Peter v. Liebenthal muß ein ganz ähnlich gesinnungsloser Schmarotzer gewesen sein. In den Berichten Egers und Lehmanns aus Prag tritt er uns mehrfach entgegen. Ein arger Schwätzer und Klätscher, ein »Mameluck, dem man nicht trauen kann«, ein »vanus fumi venditor«, aber - »gegen Ihrer Kurf. Gn. hat er sich allzeit zu großen Dingen und Diensten angeboten.« 134 Im März 1610 weilte er bei dem Kurfürsten in der Neumark, um sich von ihm ein Adelszeugnis für die böhmischen Stände ausstellen zu lassen. 135 Voll von dem, was er hier gehört oder gehört zu haben vorgab, kehrte er nach Prag zurück, und wunderbare, halb und ganz 132
S. den Exkurs über die Handschriften
/fortgelassen.]
133 Joachim Friedrich an den Kaiser, Kölln a. S. 30. Juni 1600. Konz. Adelszeugnis Joachim Friedrichs für Peter v. Liebenthal, 7. Mai 1608. Konz. Berl. Arch. Pruckmann betitelt ihn in dem Konzept eines Briefes des Kurfürsten an ihn vom 10. Mai 1610 mit offenbarem H o h n : »Rom. Kais. Maj. Truchseß und Suppenträger.« 134 135
Gabriel Lehmann an Pruckmann, 21. Mai 1610. Verl. Arch. Johann Siegmund an Rosenberg, Küstrin, 13. März 1610. Das.
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erfundene Geschichten setzte er nun hier in die Welt. Kursachsen werde sich zur Exekution gegen Brandenburg anerbieten, die Gesandten Christian Wilhelms von Magdeburg hätten bereits beim Kaiser das Recht ihres Herrn reserviert, wenn es mit dem Kurfürsten ein übles Ende nähme' 3 ', dieser selbst habe sich gar nicht zu seinem jüngst ergangenen scharfen Schreiben an den Kaiser bekennen wollen, sondern alle Verantwortung dafür auf seine Agenten und Korrespondenten in Prag geschoben. 137 Also eine Persönlichkeit, die in eben jener Zeit, in welche wir die Entstehung des Gutachtens verlegten, in dem trüben Lichte eines politischen Zwischenträgers auftaucht, die sich an den brandenburgischen Kurfürsten und seine Vertreter herandrängt und ihnen ihre guten Dienste anbietet, die in sensationellen Erfindungen lebt und webt, - ich meine, aus der Feder eines solchen Mannes wäre unser Gutachten ein begreifliches und verständliches Machwerk. Irgend ein Beweis für seine Autorschaft soll natürlich in alledem noch nicht liegen, und deshalb wage ich es auch nicht, seinen Namen in die gesicherten Resultate unserer Untersuchung aufzunehmen. Fassen wir diese nunmehr zusammen. Den von Stieve bereits geführten Erweis der Unechtheit fanden wir durch neue Gründe verstärkt. Seine auf einem falschen Prinzip begründete Annahme dagegen, daß die Fälschung noch im Sommer 1609 entstanden, ist unhaltbar. Beziehungen des Gutachtens auf Vorgänge aus den Monaten Februar und März 1610 und der lebendige Zusammenhang mit der politischen Situation jener Monate führten uns dahin, die Entstehung in das Frühjahr 1610 zu setzen. Stieves Ansicht, daß das Gutachten offiziellen brandenburgischen Ursprungs ist, begegnet Schwierigkeiten, denen unsere Hypothese, daß die Fälschung aus der Spekulation auf den Dank und die Erkenntlichkeit der brandenburgischen Räte hervorgegangen ist, entgeht. Stieve setzt das Gutachten, nachdem er es als Fälschung nachgewie136 Gabriel Lehmann an Johann Siegmund, 4. April 1610. Das. 137 Philipp Eger an Pruckmann, 1. April 1610. Das. Der Kurfürst stellte wegen dieser letzten Äußerungen den Freiherrn am 10. Mai scharf zur Rede, der aber (Schreiben vom 29. Mai) alles ableugnete und beteuerte, er habe stets über die jülichschen Händel etc. so geredet, wie es einem getreuen Lehensmann gezieme. Gabriel Lehmann darüber befragt, ob auch er etwas von jener Äußerung des Freiherren vernommen, antwortet am 21. Mai, er hätte davon nichts gehört, »glaube aber doch, daß er es gesaget habe, dann ihme auch ein mehrers nit zue viel.«
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sen, tief herab; er nennt es ein grobes Werkzeug und keineswegs ein Meisterstück diplomatischer Kunst. Gewiß fällt der Verfasser oftmals aus seiner Rolle und zeigt in der Benutzung seiner Quellen wenig Kritik, gewiß sinkt auch die übertriebene Anerkennung Brandenburgs von dem Standpunkte aus, auf den wir uns stellen möchten, zum Ausfluß berechnender Schmeichelei herab. Aber ein gewisses literarisches Geschick läßt sich dem Verfasser nicht absprechen. Trotz oder vielmehr eben wegen seiner groben Holzschnittmanier ergibt die Gegenüberstellung der aufblühenden brandenburgischen und der verkümmernden sächsischen Macht ein packendes und wirkungsvolles Bild. Und als Denkmal der Rivalität der beiden Mächte wird die Fälschung auch historisch immer von Interesse bleiben.
Der Regensburger Reichstag und der
Devolutionskrieg'
Historische Zeitschrift Bd. 60 (1888) S.
193-222
Im vereinten Zusammenwirken Vieler erst kommt die Willigkeit und Entschlossenheit der Einzelnen zur vollen Geltung; man sagt, es verdoppele sich dann ihre Kraft, und es übersteige das, was die Gesamtheit als solche schafft, die Summe der Einzelleistungen ihrer isolierten Glieder. Auch das Umgekehrte findet statt. Unentschlossen und mattherzig ist die Politik der deutschen Fürsten während des Devolutionskrieges Ludwigs XIV. Aber an trauriger Schwächlichkeit wird, mit einer Ausnahme vielleicht, alles, was an den einzelnen Fürstenhöfen 1667 Halbes und Mattes geplant und verhandelt wurde, von dem übertroffen, was ihre Gesamtvertretung, der Regensburger Reichstag, leistete. Es mußte Sache des Reichstages sein, sich des bedrohten burgundischen Kreises anzunehmen. So wiederholen es immer wieder dessen Vertreter am Reichstage: das Reich hat die Pflicht, die Garantie für den burgundischen Kreis, ein so unzweifelhaftes und vornehmes Glied des Reiches, zu übernehmen. Das ist schon damals nicht ohne Widerspruch geblieben und könnte, so scharf formuliert, auch jetzt dazu herausfordern. Wir sind zu sehr gewohnt, die spanischen Niederlande als bloßes, innerlich unverbundenes Anhängsel des Reiches zu betrachten, als daß es uns recht in den Sinn will, daß Deutschland damals für den Besitzstand der Spanier hätte das Schwert ziehen müssen. Aber der Buchstabe der Verträge läßt, wie uns dünkt, keinen Zweifel daran über. Der Friede von 1648, den Kaiser und Reich mit Frankreich abschlossen, sagte: der burgundische Kreis soll sein und bleiben ein Glied des Reiches, das von Beendigung des spanisch-französischen
1 Benutzt wurden von archivalischem Material die im Berliner Geh. Staatsarchive befindlichen brandenburgischen und magdeburgischen Reichstags-Protokolle, -Relationen und -Reskripte und das gehaltvolle Reichstagsdiarium des brandenburgischen Gesandten Gottfried von Jena (vgl. UA. 11, 152 A. 2). Die magdeburgischen Reichstagsakten, welche Friedrich Wilhelm I. 1733 nach Berlin schaffen ließ, sind jetzt dem Orte ihrer Herkunft zurückgegeben worden. [Vgl. jetzt »Urkunden u. Aktenstücke des Reichsarchivs Wien zur reichsrechtlichen Stellung des Burgundischen Kreises'. Bd. III, beGrundzüge des gegenwärtigen Zeitalters< auch gedruckt ist, bis auf unsere Tage fortführen.« Am Sonntag, dem 13. Dezember, begann er dann im runden Saale des alten, in jüngster Zeit erst gefallenen Akademiegebäudes Unter den Linden zu lesen und Schloß mit seiner 14. Rede am 20. März 1808. Während er redete, hörte man zuweilen von der Straße die Trommeln der französischen Garnison, aber die Franzosen behelligten ihn nicht. Er selbst mußte sich auf anderes gefaßt machen. »Ich weiß recht gut, was ich wage.« schrieb er, »ich weiß, daß ebenso wie Palm ein Blei mich treffen kann. Aber dies ist es nicht, was ich fürchte, und für den Zweck, den ich habe, würde ich gern auch sterben.« Die damalige preußische Zensur war mißtrauischer als die französischen Machthaber und hat - diese Vorgänge sind erst in neuerer Zeit bekannt geworden - den Druck der Reden durch allerlei Bedenken erschwert, die nicht nur der Angst vor den Franzosen, sondern auch der Angst vor einer freimütigen Beurteilung der bisherigen preußischen Politik entsprangen. Schließlich hat Fichte auch im Drucke nichts Wesentliches seiner Gedanken zu opfern brauchen. Der Moniteur in Paris aber begnügte sich mit der Erwähnung, daß ein berühmter deutscher Philosoph in Berlin Vorträge über Verbesserung der Erziehung halte. So unauffällig war im ganzen der Verlauf - Fichte war, seiner äußeren Stellung nach, nicht mehr als ein außer Amt gerade lebender Professor, der durch private Vorlesungen sich die ganzen Jahre hindurch mit erhalten mußte. Wohl war er damals zugleich, wie wir heute sagen würden, eine interessante moderne Erscheinung, der sich einige Jahre zuvor, dank seinem angeblichen Atheismus - le fameux athee Fichte, wie der Moniteur sagte - bei manchen anrüchig gemacht hatte. Aber er mutete den Hörern seiner Vorlesungen eine so schwere Kost, eine so abstrakte und mühsame Gedankenarbeit zu, daß nur ein ganz kleiner und auserlesener Kreis imstande gewesen sein kann, ihm ganz zu folgen. Volkstümlich in der Weise Luthers hat Fichte nie sein können, und so heroisch seine Absicht auch war, dem preußischen Heere von 1806 als eine Art von Laienprediger ins Feld zu folgen und
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Reform und Restauration
»Schwerter und Blitze« zu ihnen zu reden - so ist es doch vielleicht gut, daß ihm die Enttäuschungen erspart wurden, die ihm bei der Ausführung beschieden gewesen wären. Schwerter und Blitze zu reden, war ihm wahrlich wie keinem anderen damaligen Deutschen gegeben, aber er bedurfte eines viel weiteren Horizontes, als ihn irgendein zufälliger Hörerkreis ihm bieten konnte, um seine Blitze auszustreuen über die deutsche Nation. Er gehört zu denen, die gewiß auch im Augenblick ihres persönlichen Wirkens auf alle empfänglichen Zeitgenossen mächtig eindringen, sie in den Grund der Seele bewegen konnten, aber deren volle Wirkung eines säkularen Spielraumes bedarf. Es ist auch heute noch ein geschärftes Auge nötig, um die ganze Bedeutung seiner Gedanken zu erkennen, aber diese Gedanken erweisen sich dabei auch als fast unerschöpflich. Fichte erlebt als Philosoph und insbesondere als Geschichtsphilosoph heute eine Art von Wiederauferstehung, bei der man mit Staunen gewahr geworden ist, wieviel fruchtbare moderne Keime unter einer harten Schale bei ihm schon liegen. Wir wollen das auch von dem nationalen Propheten Fichte zeigen, aber müssen uns freilich auch hier erst durch die harte Schale hindurcharbeiten, müssen das Spröde, das Fremdartige, das uns Widerstrebende sogar erst unumwunden und unverschleiert zur Sprache bringen, bevor wir zu dem für uns Lebendigen gelangen können. Von einem nationalen Propheten verlangt man nicht, daß er prophezeie und die Zukunft erkenne, sondern daß er Kräfte erkenne und schaffe, mit denen die Zukunft gebaut wird. Inwieweit, so dürfen wir fragen, hat Fichte schon diejenigen nationalen Gedanken und Forderungen, die in unserem heutigen deutschen Nationalstaate lebendig sind, geweckt und vertreten? Wir finden manches Wort wohl, das uns innerlichst verwandt berührt. Unser Nationalgefühl beruht im letzten Grunde auf gewissen einfältig-mächtigen Urinstinkten, auf Lebensgemeinschaft, die die G e nerationen miteinander verknüpft, die schlecht und recht sagt: Wir sind, was wir geworden sind, und wollen uns aller Welt zum Trotz darin erhalten. Auch bei Fichte weht ein starker Hauch von solcher Urempfindung, wenn er von den alten Deutschen etwa sagt: »Freiheit war ihnen, daß sie eben Deutsche blieben, daß sie fortfuhren, ihre Angelegenheiten selbständig und ursprünglich ihrem eigenen Geiste gemäß zu entscheiden . . . und daß sie diese Selbständigkeit auch auf ihre Nachkommenschaft fortpflanzten.« Zu den fast schon vulgär gewordenen und etwas abgeschliffenen Bestandteilen deutschen N a -
Fichte als nationaler Prophet
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tionalbewußtseins gehört es, das »deutsche Gemüt« zu preisen. Wenn auch Fichte vom »deutschen Gemüt« und der »ganzen wunderwirkenden Kraft des deutschen Gemüts« spricht, so hat das zwar in seinem Munde einen vornehmeren und edleren, aber uns doch ganz und gar vertrauten Klang. Nicht minder auch, wenn er auf die leidige Ausländerei der Deutschen schilt und sich darüber aufhält: »Der Gipfel aber unseres Triumphes ist es, wenn man uns gar nicht mehr für Deutsche, sondern etwa für Spanier oder Engländer hält, je nachdem nun einer von diesen gerade Mode ist.« Wie es in Wahrheit um das Wertverhältnis zwischen deutscher und ausländischer Kultur steht, darüber spricht Fichte Ansichten aus, die auch dem höchstgespannten deutschen Nationalbewußtsein unserer Tage genügen würden. Deutschland und Ausland sind ihm Gegensätze wie Tag und Nacht, wie Leben und Tod. Die ganze Weltgeschichte seit der Völkerwanderung wird unter diesen Gegensatz gestellt. Die Deutschen, zu denen er im weiteren Sinne auch die in ihren Sitzen gebliebenen germanischen Nachbarstämme rechnet - sind das rein gebliebene Ur- und Muttervolk, sie sind es schon kraft ihrer ursprünglichen Sprache, die unmittelbar aus der lebendigen Natur fließt, während die ausgewanderten und romanisierten Stämme mit der Annahme einer fremden Sprache auch die Wurzeln dieser Naturkraft durchschnitten haben und fortan nur eine tote und flache Bildung erzeugen können. Es ist an sich viel Tiefes und Fruchtbares in diesen Gedanken Fichtes über den innigen Zusammenhang zwischen Sprache und Geistesleben, und seine Kritik der romanischen Sprache und Kulturen - er zielt natürlich immer dabei auf die französische in erster Linie - erinnert in manchem an die berühmte Kritik, die der große französische Denker Taine an dem toten esprit classique seiner Landsleute und an der Verödung und Verarmung ihrer Sprache im ancien regime geübt hat. Aber es streift doch schon an nationale Uberhebung und Selbstgerechtigkeit, wenn Fichte erklärt: »Alle die Übel, an denen wir jetzt zugrunde gegangen, sind ausländischen Ursprungs.« Selbst sein großes und starkes Wort: »Charakter haben und deutsch sein, ist ohne Zweifel gleichbedeutend,« hat einen solchen Beigeschmack von überreiztem Chauvinismus. Aber würde ein moderner Alldeutscher bei Fichte wirklich seine Rechnung finden? O f t würde ihm das Herz lachen, ebenso oft aber würde er auch bedenklich den Kopf zu schütteln haben. Er würde es nicht verstehen, wie es Fichte mit seinen löblichen Ansichten über den unbedingten Vorrang deutschen Wesens in der Welt vereinigen könne,
Reform und Restauration
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über E h r e und äußeren N a t i o n a l r u h m
als Triebfedern
nationalen
Handelns so abschätzig zu sprechen. W i e nun gar, wenn er auf die M e i n u n g stößt, daß der D e u t s c h e die M e e r e und den Welthandel nur ruhig den anderen V ö l k e r n überlassen und sich mit dem begnügen solle, was sein reichlich ausgestattetes Land und sein Fleiß ihm gewährten. » O m ö c h t e doch nur den D e u t s c h e n sein günstiges G e s c h i c k ebenso vor dem mittelbaren Anteile an der Beute der andern W e l t e n bewahrt haben, wie es ihn v o r dem unmittelbaren bewahrte!« Was für verschrobene Ideen, wird unser moderner N o r m a l d e u t s c h e r sagen, was für unfaßliche Widersprüche. W e l c h e unmögliche Bilanz zwischen P r o d u k t i o n und K o n s u m t i o n der N a t i o n . Alle geistigen G ü t e r des Auslandes sollen von Deutschland produziert werden, aber auf alle materiellen G ü t e r des Auslandes soll es verzichten? Immerhin, der Z w e c k dieses Verzichtes und dieser Abschließung soll ja, wie Fichte erklärt, sein: die »innere Selbständigkeit und H a n d e l s - U n a b h ä n g i g keit«
des deutschen
Volkes. Also, wird unser Kritiker
vielleicht
sagen, am E n d e doch in altfränkischem G e w ä n d e ein guter Inhalt, etwas Ähnliches wie Heimatpolitik des Bundes der Landwirte. In dieser Heimatpolitik einerseits, in der W e l t - und U b e r s e e - P o l i t i k anderseits haben die beiden großen Erwerbszweige der heutigen N a tion, Landwirtschaft und Industrie, zwei charakteristische
Grund-
typen m o d e r n e r Nationalpolitik geschaffen. Beide berufen sich dabei auf die nationale Idee, beide ziehen in der T a t aus ihr den besten T e i l ihrer moralischen Kraft. D a r u m k ö n n e n sie in manchen D i n g e n , die von ihren unmittelbaren wirtschaftlichen
Interessen nicht berührt
werden, politisch zusammengehen, um freilich überall da, w o diese Interessen sich kreuzen, heftig aufeinander zu stoßen, jeder dabei mit dem A n s p r u c h , das wahre und eigentliche W o h l der N a t i o n zu vertreten. In einem P u n k t e aber treffen auch ihre eigensten
Interessen
z u s a m m e n : In der Steigerung des nationalen Gedankens z u m nationalstaatlichen Gedanken. Nationales L e b e n o h n e nationalen Staat scheint uns fast wie ein Messer o h n e Schneide. N u r durch staatliche M a c h t p o litik und alles, was dazu gehört, k ö n n e n die großen realen Lebensinteressen der N a t i o n , mag man sie nun so oder so verstehen, wirksam geschützt oder verteidigt werden gegen den W e t t b e w e r b der anderen N a t i o n e n , und was die idealen, die Kulturinteressen der N a t i o n betrifft, so bedürfen sie zwar u m ihres inneren Wesens willen größerer Unabhängigkeit v o m Staate, aber auch sie k ö n n e n seines Schutzes und seiner fördernden Impulse nicht ganz entbehren, auch sie fordern von
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sich aus die nationalpolitische Einheit als großen geistigen Wert für sich, fordern den großen Nationalstaat zur vollen Auswirkung auch des Charakters und der Persönlichkeit. So etwa die moderne Ansicht vom Verhältnis der Nation zum Staate. Manchmal scheint wohl Fichte ihr schon ganz nahe zu kommen. Es ist keine Frage, daß ein dringendster, heißester Wunsch von ihm ist, Deutschland möge seine verlorene politische Selbständigkeit wieder gewinnen, daß die unmittelbare praktische Absicht seiner Reden ist, ein neues Geschlecht zu erziehen, das tauglich sei, den Befreiungskampf siegreich durchzukämpfen. Aber was soll dann werden, wenn die Nation in der Lage ist, ihr politisches Schicksal wieder selbst zu bestimmen? Hat Fichte wirklich schon den nationalen Einheitsstaat in unserem Sinne als Ziel des Strebens verkündet? Man kann es doch keineswegs mit solcher Sicherheit, wie es oft geschehen ist, behaupten. Wir finden wohl manches, was darauf hindeutet, aber auch wiederum manches, was sich gar nicht damit vereinigen läßt. Er erwägt ζ. B. den Fall, daß in der Vergangenheit ein besonderer deutschen Staat darauf hätte ausgehen können, die ganze deutsche Nation unter seiner Regierung zu vereinigen. Aber das wäre, sagt er wörtlich, »ein großes Mißgeschick für die Angelegenheiten deutscher Vaterlandsliebe gewesen«, und »jeder Edle über die ganze Oberfläche des gemeinsamen Bodens hinweg hätte dagegen sich stemmen müssen«. Denn es wäre dadurch die bisherige »republikanische Verfassung« - wir würden sagen, die Vielstaaterei in Deutschland - vernichtet worden und damit »die vorzüglichste Quelle deutscher Bildung und das erste Sicherungsmittel ihrer Eigentümlichkeit«. Eine republikanische Einheit der deutschen Nation wollte ihm schon besser behagen, aber ihm kam es auf die äußere Form und Erscheinung der politischen Einheit überhaupt nicht an. Eine ideale Einheit im deutschen Staatsleben soll allerdings sein, und so streng und kräftig wie möglich, insofern überall die »deutsche Nationalliebe selbst an dem Ruder des deutschen Staates sitze, oder doch mit ihrem Einflüsse dahin gelangen könne«. Ist das der Fall, dann mag der deutsche Staat immerhin als einer oder mehrere erscheinen, - es »tut nichts zur Sache«. Wer heute sich mit solchen Gedanken hervorwagen wollte, würde als verträumter Idealist belächelt werden. Dem Redner von 1808 wird man sie vielleicht zugute halten und ihm als geschichtliches Verdienst zubilligen, daß er den kommenden Nationalstaat zwar noch nicht erkannt, aber doch in den Gemütern vorbereitet habe durch die
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Entzündung deutscher Nationalliebe überhaupt. Aber was kann er uns als nationaler Prophet heute und für unsere Zeit noch sagen? Um diese Frage dennoch überzeugt bejahen zu können, muß man etwas weiter ausholen, muß man nach den letzten Quellen forschen, aus denen die merkwürdigen Widersprüche seiner nationalen Gedanken, der beinahe chauvinistischen Uberschätzung deutschen Volkstums auf der einen, der unpolitischen Auffassung vom Wesen des nationalen Staates anderseits, herstammen und sich psychologisch erklären lassen. Man muß einen Blick in die Entwicklung der Fichteschen Welt- und Lebensanschauung tun, um das Wesen seiner nationalen Überzeugungen richtig zu würdigen. Seine Reden an die deutsche Nation stellen ohne Frage eine neue, höhere Stufe dieser Entwicklung, eine neue, große Erkenntnis, die er gewonnen hatte, dar; aber man würde sich den Weg zum Verständnis dieses Neuen sofort versperren, wenn man nicht auf die Zwischenstufen achtete, die alte und neue Uberzeugungen und Ideale bei ihm miteinander verbinden. Fichte war weltbürgerlich gesinnt von Hause aus, - und ist es auch noch, wie wunderbar das klingen mag in den Reden an die deutsche Nation. Eben jenes vorhin angerufene Wort: »Charakter haben und deutsch sein, ist ohne Zweifel gleichbedeutend,« hat neben der chauvinistischen und nationalistischen noch eine eminent weltbürgerliche Seite. Sie entspringt dem hohen Glauben, daß die Deutschen das eigentliche Welt- und Menschheitsvolk seien, daß sie vor allem durch ihre Natur dazu berufen seien, für die höchsten menschheitlichen geistigen und sittlichen Aufgaben zu arbeiten. Fichte teilte diesen Glauben mit den großen Denkern und Dichtern seiner Zeit, mit Schiller, Humboldt, Novalis usw.; aber auch in der breiten und seichten Tagesliteratur von damals findet man nicht selten die Meinung, daß der Deutsche sich für die Vernichtung seiner politischen Selbständigkeit und seines äußeren nationalen Ansehens schadlos halten müsse durch Pflege einer weltbürgerlichen Kultur, für die er nun einmal prädestiniert sei. So war es ein Glaube, den hohe und niedere Geister haben konnten, der je nachdem zu unwürdiger nationaler Schlaffheit oder zu höchster sittlicher Energie führen konnte. Und welcher gewaltigen Steigerung und Anspannung er fähig war, zeigt eben Fichte. Die weltbürgerliche Mission des deutschen Volkes ist ihm kein billiger Trost im Unglück, sondern ein Beweggrund zu stolzem und mutigem Aufblick. Ihr seid, so sagen seine Reden, das eigentlich auserwählte Volk; auf Euch, wenn Ihr Euch als Volk erhalten könnt,
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beruht die Zukunft des Menschengeschlechts! Es war der wirksamste Waffensegen, den er für den kommenden Befreiungskampf aussprechen konnte; bei dieser und eben bei dieser Seite mußte der damalige Deutsche der höheren Stände angepackt werden, wenn er den Weg aus seinem bisherigen staatlosen und rein geistigen Dasein hinüberfinden sollte auf das Schlachtfeld und in die Welt politischer Arbeit hinein. Man sieht, daß man, um national und politisch zu werden in Deutschland, nicht notwendig zu brechen brauchte mit dem bisherigen weltbürgerlichen Geiste der Bildung, daß auch in diesem eine Quelle nationaler Kraft verborgen lag, daß die Zeitalter der neueren deutschen Geschichte nicht so streng geschieden sind, sondern daß ein großer innerer Zusammenhang in ihnen waltet. Aber, wird man sagen, bedürfen wir noch heutzutage einer solchen weltbürgerlichen Substruktion unseres deutschen Nationalbewußtseins? Sie mag heilsam und richtig gewesen sein für die damaligen Tage, aber sie war doch auch damals nur möglich durch allerlei Illusionen und Uberspannungen, die unser modernes realistisches Denken sich nicht mehr bieten lassen kann. Wir können nicht mehr so gleichgültig sein gegen die äußeren Formen des Staates, wie es Fichte in seinem halb nationalen, halb universalen Idealismus war; wir können nicht, wie er, verzichten auf die Beute der überseeischen Welt, damit das Welt- und Urvolk der Menschheit sich rein erhalte; wir können auch diese ganze These von Ur- und Normalvolk selbst den verstiegensten unserer heutigen Chauvinisten nicht mehr zugute halten, weil wir, bei aller Kraft und Entschiedenheit unseres nationalen Egoismus, doch durch die Geschichte über den eigenartigen Wert und das Lebensrecht auch der übrigen Kulturnationen belehrt sind, weil wir zu genau wissen, daß nicht alle geistige Bildung nur von uns ausgegangen ist, daß wir immer und immer wieder von anderen Nationen haben lernen müssen. So müssen wir denn noch weiter ausgreifen, um den Gegenwartswert des Fichteschen Nationalismus zu beweisen. Es hilft nichts, wir müssen auch nach seiner philosophischen Begründung und seinem Zusammenhange mit den Grundgedanken seines philosophischen Systems fragen. Wir brauchen uns für diesen Zweck hier nicht mit den Schwierigkeiten seiner Terminologie abzumühen, brauchen nicht zu untersuchen, was er unter seinem vielberufenen »absoluten Ich« verstanden hat, sondern fassen sogleich diejenigen seiner Lehren ins Auge, die unsrer Frage zugekehrt sind.
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Fichte ist derjenige der großen deutschen Philosophen, in dem die Spannung zwischen Wirklichkeit und Ideal den denkbar höchsten G r a d erreicht. Er geht so weit, das, was ihm Ideal ist, nicht nur z u m Kerne der Welt, sondern zur einzig wahrhaften Realität überhaupt zu erheben, und die Erfahrungswelt, die gemeine Wirklichkeit der D i n g e z u m bloßen Schatten zu verflüchtigen. Aber dieses an sich schattenhafte und tote Dasein ist doch deswegen nicht überflüssig, sondern sehr notwendig, damit das wahrhaft Seiende sich an ihm entwickle und offenbare. Dieses wahrhaft Seiende ist Leben, T u n und H a n d l u n g des sittlichen Menschen, und die äußere Welt ist also nur da als Material für die sittliche Arbeit des Menschen, als »Mittel und Bedingung eines anderen Daseins, des Lebendigen im Menschen, und als etwas, das durch den steten Fortschritt des Lebendigen immer mehr aufgehoben werden soll«. Wer diese A u f g a b e nicht versteht und auf sich nimmt, wer nicht sein ganzes L e b e n der Vergeistigung und Versittlichung der äußeren Welt widmet, wer in Sinnlichkeit und Trägheit versinkt, der sinkt damit herab aus der Welt des Geistigen in die sinnliche Welt, aus dem wahrhaft Seienden in das, was nur untergeordnetes Sein ist, nur den Wert des Materials für den Geist hat. Wer sie aber erfüllt und auf sich nimmt, der darf sich niemals einbilden, daß er sie je ganz erfülle, denn die ihm gestellte A u f g a b e ist ja in ihrer Erhabenheit unendlich, und so ist das ganze geistig-sittliche Leben des Menschen ein ununterbrochenes K ä m p f e n und Ringen, eine niemals fertig werdende Arbeit. A b e r man schafft dadurch, das ist der hohe T r o s t dabei, Ewiges schon im Zeitlichen, Göttliches schon im Irdischen. Jetzt ist es zu verstehen, daß Fichte auf der einen Seite der Wirklichkeit des ihn umgebenden Lebens so fremd und oft verständnislos gegenübersteht und auf der anderen Seite doch so intensiv z u ihr hindrängt. Keiner der großen deutschen Philosophen, hat man mit Recht gesagt, hat einen so starken Z u g zu den A u f g a b e n der Wirklichkeit gehabt. Einmal also ein immer erneutes Anstürmen gegen die Wirklichkeit, ein immer heißerer D r a n g , sie zu bezwingen, - und dann doch wieder ein Unvermögen, die D i n g e so anzuerkennen und gelten zu lassen, wie sie wirklich sind. D a s gilt insbesondere von seinem Verhältnis z u m Staatsleben. Auf der einen Seite, von seiner Jugendschrift über die Französische Revolution an, ein gewaltiger, auf den Staat gerichteter D r a n g , höchste aufs Politische gerichtete Energie, auf der anderen Seite eine schlechthin unpolitische Denkweise, die nur den Staat gelten läßt, der erst sein und werden soll, nicht den, den er wirklich v o r sich fand.
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Aber man kann nun beobachten, und es ist dies ein überaus ergreifender Anblick, wie er durch dieses Ringen mit der Wirklichkeit doch tiefer in sie hineingezogen wird, wie er Entdeckungen in ihr macht und seine ursprünglich ganz idealistische Gedankenwelt mit realem Inhalt zu füllen beginnt. Das geschah vor allem in den Jahren, denen seine »Reden an die deutsche Nation« entstammen, unter dem mächtigen Eindruck der politischen und nationalen Schicksalsschläge. Er war 1807, angesichts des Schiffbruches der schwächlichen und schlaffen preußischen Neutralitätspolitik, imstande, sogar die harte Substanz Machiavellischer Realpolitik zu würdigen; er war vor allem imstande, sein Herz einer ganz neuen Empfindung, die unbewußt wohl schon immer in ihm gelebt hatte, aber jetzt erst zur Klarheit wurde, zu öffnen und Wohl und Wehe seiner Nation in sich mit aller großen Leidenschaft, deren er fähig war, zu durchleben. Aber er wurde dabei auch seinen alten, ursprünglichen Idealen und seiner alten Weise, die Wirklichkeit zu behandeln, nicht untreu. Er suchte sie nun auf das neu Entdeckte anzuwenden, er suchte auch in Staat und Nation immer und immer nach dem, was über Staat und Nation hinausliegt, - nach dem Ewigen und Göttlichen, das nicht erst jenseits, sondern hienieden errungen und verwirklicht werden soll. So will er also auch jetzt nicht den gemeinen, sinnlichen Patriotismus gelten lassen, der an der Erdscholle haftet oder durch Ehre und Nationalruhm gereizt wird, sondern nur »die verzehrende Flamme der höheren Vaterlandsliebe, die die Nation als Hülle des Ewigen umfaßt«. »Wer nicht zuvörderst sich als ewig erblickt, der hat überhaupt keine Liebe und kann auch nicht lieben ein Vaterland, dergleichen es für ihn nicht gibt.« Wer dies aber kann, dem sind Volk und Vaterland »Träger und Unterpfand der irdischen Ewigkeit«. Wieder wird man geschichtlich zugeben können, daß eine derartige religiöse Deutung und Verklärung der nationalen Empfindungen wundervoll und herzbewegend auf die Zeitgenossen wirken und ihre vaterländischen Entschlüsse beflügeln mußte. Aber war das, was geschichtlich so wirksam war, auch geschichtliche Wirklichkeit? Entsprach das leuchtende Bild der deutschen Nation, das er den Zeitgenossen vorhielt, irgendwie den Tatsachen? Er schilderte die Nation, wie sie sein sollte, nicht wie sie wirklich war. Was er über ihre Vergangenheit, über ihr ursprüngliches Wesen verkündete, erregt auf Schritt und Tritt das Kopfschütteln des kritischen Historikers. Es ist ein historischer Roman, wenn er uns erzählt, daß im Mittelalter die
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deutschen Bürger die Gebildeten, die ausländischen - »einige Stücke Italiens abgerechnet« - die Barbaren gewesen seien; daß überhaupt »Religion und jedwede Bildung« vom deutschen Urvolke ausgegangen und der übrigen neueren Menschheit geschenkt sei. Einer der wesentlichsten Züge des deutschen Nationalcharakters, wie er war und wie er ist, liegt in der Anhänglichkeit an den besonderen Heimatstaat und die angestammte Dynastie, - diese territorialen und dynastischen Gesinnungen will Fichte, wie aus seinen übrigen politischen Schriften in diesen Jahren deutlich hervorgeht, als berechtigt nicht anerkennen, hält sie für sinnlich und minderwertig, will sie womöglich ganz ausroden. Wir verlangen auch in unserem höchsten nationalen Pathos nach Wahrheit, wenigstens nach derjenigen Wahrheit, die wir erreichen können, und müssen darum urteilen, daß Fichtes Versuch, die deutsche nationale Idee in die Sphäre des Ewigen und Göttlichen zu erheben, zu einer Vergewaltigung des wirklichen Wesens der Nation geführt hat. Seine Lösung der Aufgabe ist mißlungen. Aber war darum die Aufgabe, die Nation sub specie aeterni anzusehen, selbst falsch gestellt? Hier spüren wir in der Tat ein Höheres und Ewiges bei ihm. Es ist seine unvergängliche Leistung, daß er zum ersten Male den Deutschen diese Aufgabe überhaupt mit Bewußtsein gestellt hat, daß er bei allem nationalen Enthusiasmus, der ihn erfüllte, doch das Ungenügende eines Patriotismus, der nur Patriotismus sein will, tief empfunden und nach seiner inneren Vereinigung mit allen übrigen höchsten menschlichen Werten gestrebt hat. Wir können diese Werte nun einmal nicht voneinander trennen, obgleich wir wohl wissen, daß menschlicher Eifer und Ubereifer immer wieder auf solche Trennung hinarbeitet, immer wieder diejenige Lebensphäre, der man unmittelbar dient, gleichsam souverän und unabhängig machen will von allen übrigen Lebensgebieten und Werten. Der Staat strebt danach, sich abzuschließen und alle unstaatlichen Motive und Einflüsse von sich auszuscheiden: in der Wissenschaft heißt es, daß reine Forschung Selbstzweck sei; die Kunst gibt das Schlagwort l'art pour l'art aus. Und so neigt auch das moderne Nationalgefühl dazu, sich selbst auf den Altar zu setzen und jede andere Gottheit neben sich zu ignorieren. Man kann dieses Streben insgesamt nicht schlechthin schelten, denn es wurzelt tief in der menschlichen Natur und dient dazu, ein Maximum von Kraft in jedwedem solcher Sondergebiete zu entwickeln. Aber noch tiefer wurzelt das andere Bedürfnis im Menschen, nach einem Zusam-
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menschluß und einer inneren Einheit aller dieser Gebiete zu suchen. A u s solchem übermächtigen Streben nach innerer Lebenseinheit ist es doch gerade geschehen, daß im Zeitalter Fichtes und nicht z u m mindesten durch Fichtes Arbeit Staat und N a t i o n , die bisher getrennte Wege gegangen waren, sich fanden und dadurch in dem preußischen Staat der Reformzeit eine erste große Verwirklichung des modernen Nationalstaats in Deutschland schufen. A b e r das war, s o fühlte Fichte gleich damals, noch lange nicht genug; es mußte ein Mehreres und Höheres noch hinzukommen, um das innere Verlangen der ganzen Seele zu befriedigen. So tat er hinzu einmal alle die großen Werte geistiger Kultur, die das damalige Deutschland erzeugt hatte, und forderte deswegen als unerläßliche Voraussetzung freien R a u m für jede individuelle Entwicklung; so tat er vor allem hinzu auch den A u f s c h w u n g z u allen göttlichen und ewigen Dingen. Religion und Vaterland müssen auch für unser Empfinden irgendwie zusammengehören. So war es doch schon in naiver Weise auf allen primitiven Stufen des Völkerlebens, s o muß es, in neuen Weisen, auch auf den in sich so differenzierten Stufen höherer Kultur immer wieder erstrebt werden. U n d was uns v o n Fichte unterscheidet, was wir seitdem vielleicht hinzugelernt haben, ist nur das, daß wir den Vereinigungspunkt zwischen Religion und N a t i o n an anderer, weiter entfernter Stelle suchen müssen, um nicht die eine oder die andere vorzeitig zu vergewaltigen. So steht es ja überhaupt mit uns: daß unsere realen Lebensgebiete sich mächtig gedehnt und gereckt haben, daß die idealen Forderungen v o n dem, was sein soll, deswegen immer weiter hinaus haben geschoben werden müssen, u m zunächst einmal dem, was wirklich ist, R a u m zu geben. D a r u m sind wir insgesamt viel vorsichtiger und zurückhaltender geworden, die ideale Forderung an das Leben, u m mit Ibsen zu sprechen, sofort einzukassieren. Wir sind deshalb auch nicht imstande, eine glatte und plane L ö s u n g des Problems anzugeben, die der von Fichte angegebenen überlegen ist. A b e r vielleicht gibt es eine solche L ö s u n g überhaupt nicht, vielleicht gibt es nur den ewigen A n s p o r n dazu und das niemals ganz z u stillende Bedürfnis, das uns treibt, unser von N a t u r aus egoistisches und ausschließliches Nationalgefühl doch wieder einzuschließen in den Zusammenhang unserer höchten Güter, - also vielleicht gibt es nur eine Bewegung z u m Ziele hin, aber kein erreichbares Ziel selbst. A b e r indem wir uns das klarmachen, fühlen wir uns abermals zu Fichte mächtig hingezogen, denn eben dieser Gedanke, daß alles höhere
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geistige Leben ewige Bewegung zum Ziele, aber nie Erreichung dieses Zieles selbst sei, ist ja einer seiner Kerngedanken überhaupt. Mögen ihm dann im Feuer der Arbeit seine Ziele doch wieder näher und erreichbarer erscheinen, als sie wirklich waren, - wir verzeihen ihm diese edlen Irrtümer und halten uns an das, was ewig in ihm ist und als solches auf uns wirkt. Immer wieder schlägt uns in seinen Reden wie Glockenklang ein Wort an das Ohr: Es gilt ein neuer Mensch zu werden! Ihr sollt euch aus irdischen und sinnlichen Geschöpfen zu reinen und edlen Geistern umschaffen, ein neues Leben in einer neuen Welt beginnen! Besseres und Stärkeres könnte er auch der heutigen Nation nicht sagen. Nur ein solches Nationalleben hat Wert und Kraft, das in seinen verborgenen Tiefen auf dieses »Stirb und werde« lauscht.
Wilhelm von Humboldt und der deutsche Staat Die Neue Rundschau Jg. 31 (1920) S. 889 f f . Wiederabdruck: Persönlichkeit (1933) S. 81-97.
Staat und
Wir sind heute irre geworden an uns selbst. Denn wir müssen die Ursachen unseres Unglücks nicht allein in der Tücke eines blinden Schicksals, auch nicht allein in der Übermacht und dem Hasse unserer Feinde, sondern auch in uns selbst, in unserem Wesen, in unseren Fehlern suchen. Aber nun droht uns durch die nationale Selbstkritik, die jeder von seinem besonderen Lebenspunkte aus glaubt üben zu müssen, der Rest von innerem Zusammenhalt, von Glauben an den Gesamtgeist der Nation verloren zu gehen. Wie erhalten wir uns die innere, die geistige Gemeinschaft - eben in diesen Zeiten, wo diese Gemeinschaft von innen her so furchtbar erschüttert wird? Man hört jetzt häufig, daß nur eine religiöse Erneuerung uns wieder zusammenführen könne. Wenn man das Wort Religion nicht im konfessionellen Sinne nur nimmt, sondern sie als eine innere Erhebung über uns selbst und unser sinnliches Schicksal auffaßt, so ist damit in der Tat gesagt, was uns not tut. Wir müssen uns durchdringen mit dem Gefühle, daß alles Vergängliche nur ein Gleichnis, ein Symbol von tieferliegenden unerschöpflichen und ewig neu gebärenden Kräften ist. Diese Lebenskräfte der Menschheit und so auch unserer Nation können wir nur ahnen und vielleicht von fernher anschauen, aber niemals ganz fassen und auf feste Begriffe bringen. Aber haben wir einmal eine innere Fühlung mit ihnen erreicht, dann sind wir gesichert vor der Überwältigung durch den trüben und entsetzlichen Vordergrund der heutigen Welt. Zweierlei scheinbar sich Widersprechendes können wir dann leisten: frei schweben über Glück und Unglück unser selbst und unseres Volkes, es nur ansehen als kommende und gehende Wellen der Oberfläche - und doch zugleich mit voller Kraft mithelfen, die Wellen des Unglücks abzuwehren und unser Dasein handelnd zu schützen. Und nun möchte ich den Mann sprechen lassen, von dessen Lebenswerk ich jetzt einige Seiten beleuchten möchte. Wilhelm v. Humboldt schrieb, nicht im Unglück, sondern im Glücke der Nation, nach der Schlacht bei Leipzig, am 8. Nov. 1813, an seine Gattin:
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»Der Ruhm und selbst die Ehre einer Nation sind vielleicht nur Geburten der Phantasie, Glück und Unglück nur vorübergehende Erscheinungen, über die das Grab schweigt, das sich immer einmal schließt; aber wo, was man tut, in Geistesentwicklung und Gemütskraft Wurzel schlägt, da arbeitet man für das Höchste und Unvergängliche. Die Liebe zu Deutschland ist daher auch wirklich eine andere, als die andere Nationen für ihr Vaterland haben. Sie wird vielmehr durch etwas Unsichtbares zusammengehalten und ist viel freier von Bedürfnis und Gewohnheit. Sie ist nicht sowohl Anhänglichkeit an die Erdscholle, sie ist mehr Sehnsucht nach deutschem Geist und Gefühl, die sich in allen Zonen empfinden und in alle verpflanzen lassen.« Wir geben uns dem Zauber dieser Worte hin. Wir empfinden die Sehnsucht, ebenfalls so hoch zu fliegen, wie es Humboldt hier tut. Aber können wir es noch als Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts? Es lebt in seinen Worten etwas, was uns abhanden gekommen ist und von dem wir nicht gleich wissen, ob wir seinen Verlust als reinen Verlust oder nicht auch als Gewinn, als Befreiung von etwas vielleicht Unmöglichem und Undurchführbarem auffassen sollen. Ist es denn wirklich noch heute so, daß wir unser Vaterland »freier von Bedürfnis und Gewohnheit« lieben als andere Völker? Und können wir die »Anhänglichkeit an die Erdscholle« für so entbehrlich halten, wie Humboldt es hier tut? Wir fühlen uns derber, realistischer, irdischer, enger verwoben mit Bedürfnissen und Gewohnheiten des Bodens, der uns trägt. Wir spüren die Kluft der Zeiten, die uns von dem idealistischen Deutschland Goethes und Schillers trennt. Aber wir spüren zugleich auch an der Resonanz, an der Sehnsucht, die uns bei seinen Worten ergreift, einen unzerreißbaren inneren Zusammenhang mit der geistigen Welt, die er repräsentiert. Wir sind anders geworden, aber wir sind nicht ganz anders geworden als die Deutschen seiner Zeit. Und eine innere Stimme sagt uns, daß wir, um uns innerlich zu befreien von dem über uns gekommenen Unglück, wieder anknüpfen müssen an sie. Wir können uns nicht in sie zurückverwandeln. Das hieße auch, selbst wenn wir könnten, uns der eignen inneren Selbständigkeit und Eigenart berauben. Aber wir gelangen zu dem, was uns mit ihnen gemeinsam ist, zurück, wenn wir aufmerksam den Weg verfolgen, der von ihnen zu uns führte. Nach allen Erfahrungen geschichtlicher Kontinuität muß schon in ihnen der Keim dessen gelegen haben, was sich dann bei uns besonders und andersartig entwickelt hat. Und sind wir irdischer geworden als sie, so haben sie vielleicht selber schon
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aus ihrer H ö h e den ersten Schritt zur Erde zurückgetan und geben uns damit die Hoffnung, daß es möglich und auf neuen Wegen auch für uns erreichbar ist, aus dem Tale wieder zur H ö h e aufzusteigen. Eben das war der Sinn des Lebens, das Wilhelm von Humboldt geführt hat. Es zeigt uns gerade die Seiten, die das Goethe-Schillersche Deutschland dem Deutschland des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts zukehrt, trotzdem und vielleicht gerade, weil es die eigensten und höchsten Ideen seiner Zeit von Anfang bis zu Ende in sublimer Reinheit gepflegt hat. Darin liegt der unsagbare Reiz der Beschäftigung mit ihm, daß jeder Atemzug von ihm eine Idee ist, daß er alles, was er erlebte, vergeistigen mußte, nicht um dem Leben zu entrinnen, sondern um es so tief und rein wie nur irgend möglich zu erfassen und zu führen. Niemals wurde er unwirklich, aber alles Wirkliche wurde ihm im Augenblicke, wo es ihn umgab, schon transparent und symbolisch. »Wer am meisten fähig ist,« sagte er selber, »alle Dinge immer zugleich in ihrer wirklichen und symbolischen Natur zu empfinden, wer diese beiden Naturen am meisten und in der vollkommensten Wahrheit zusammenschmelzen läßt, der erreicht am besten die Tiefen und Höhen des Lebens und hat den meisten Genuß am Dasein.« U n d mochte sein eigentlicher Wunsch auch immer sein und bleiben, seine eigene Individualität auszubilden durch ein Leben der reinen Betrachtung und es zum reinsten Spiegel der Menschheit zu gestalten, so war doch gleichzeitig in ihm auch ein sehr starker Trieb, mit Hand anzulegen an die Aufgaben des handelnden Lebens, sich in Reih und Glied zu stellen mit den anderen. Nicht nur aus Zufall und nicht nur aus Pflichtgefühl, wie er selbst wohl gelegentlich es meint, und wie es oft nachgesprochen wird, hat er die Aufgabe der inneren Selbstausbildung zeitweise zurückgestellt, um den Staatsmann zu spielen. Eben die Arbeit an der eigenen Individualität führte ihn auch zu den Schranken und den notwendigen Ergänzungen einer bloß individualistischen Lebensführung. So wurde es ihm zum eigentlichen Geheimnis, zum »großen Rätsel« des Lebens, »wie der Mensch etwas für sich und doch nichts ohne den anderen, ohne sein Geschlecht sein kann«. Er konnte dies Rätsel nicht lösen, wie es denn nie gelöst werden kann. Wohl aber konnte er die schlichte und männliche Folgerung daraus ziehen: »Der Mensch ist überhaupt nichts als nur durch die Kraft des Ganzen und indem er mit ihm zusammenzustimmen strebt.« U n d als der tiefe Vergeistiger alles Lebens wußte er, daß volle Ausschöpfung aller Möglichkeiten der Menschheit durch
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vergeistigende Betrachtung allein nicht gewonnen werden kann, daß letzten Endes durch Handeln und Schaffen, durch Willen und Tat und demnach auch durch Verflechtung in alles Erdenhafte das herauskommt, was im Menschen liegt. Die Natur hatte ihn freilich nicht zum Willensmenschen, sondern zum Genußmenschen allerfeinster Art geschaffen. Aber es war eine sittliche Tat, die er an sich selbst vollbrachte, daß er das bloß genießende Dasein, so magnetisch es ihn auch anzog, verurteilte und der Pflicht, am Ganzen mitzuwirken, sich nicht entzog. So konnte er zum Staatsmann werden, ohne zum Staatsmann geboren zu sein. Man ahnt sofort, daß dies zu gewissen Spannungen und Widersprüchen seines eigenen inneren Lebens und zu gewissen Unvollkommenheiten seines staatsmännischen Wirkens führen konnte. Aber diese Widersprüche und Unvollkommenheiten sind eben auch wieder von symbolischer Bedeutung. Sie spiegeln, in einer höchst individuellen Form, nur wider, woran das ganze Dasein der Nation litt. Denn auch dieser durch Schicksal und Anlage unpolitisch und übergeistig gewordenen Nation war die unabweisbare Aufgabe gestellt, politisch zu werden und sich einen ihrem Genius entsprechenden Staat zu schaffen. Sie hatte, als Humboldt seine Laufbahn begann, eine staatlose Kultur hervorgebracht, die Kultur von Weimar, und sie hatte einen zwar nicht kulturlosen, aber doch noch kulturarmen Staat hervorgebracht in Preußen. Die Kultur von Weimar führte zur Entfaltung der freien und schönen Individualität, der Staat von Potsdam forderte die Unterordnung des Individuums unter den Staatszweck und sortierte und verwandte die verschiedenen Menschengattungen, Stände und Schichten der Gesellschaft lediglich nach ihrer besonderen Brauchbarkeit für die einzelnen Aufgaben des Staatslebens. Diese schroffe Polarität zu überwinden und zu einer inneren Einheit von Staat und Kultur zu kommen, war die Aufgabe der Zukunft. Und weil wir uns noch heute an ihrer Lösung abmühen, so begreifen wir, daß auch die Lösungen, die zur Zeit Humboldts versucht wurden, immer nur annähernd und unvollkommen ausfielen. Aber in Humboldts Leben selber vollzog sich dabei eine Entwicklung zum Staate hin, die die ihr anhaftenden Unvollkommenheiten und Widersprüche mehr und mehr überwand. Sie endete in einer Anschauung vom Staats- und Volksleben, die auch uns noch, wenn man die zeitgeschichtlich vergänglichen Bestandteile von ihr abstreift, als Leitstern dienen kann. In dem Einzelleben großer Menschen liegen die Symbole und Kraftquel-
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len für das Gesamtleben. Sie nehmen auf Jahrhunderte oft voraus, was mühsam von der Gesamtheit nacherlebt und erstrebt werden muß. In drei Stufen hat sich die Entwicklung Humboldts zum deutschen Staate hin vollzogen. Sie fallen zeitlich ungefähr zusammen mit dem ausgehenden ancien regime Preußens vor 1806, mit den Jahren der Stein-Hardenbergschen Reformen, mit den Befreiungskriegen und den ihnen folgenden Jahren. Sie hängen auch innerlich mit dem Inhalte dieser drei Zeitabschnitte eng zusammen, sie sind individuelle Reflexe allgemeiner Erlebnisse, aber von so allgemeiner Bedeutung zugleich, daß erst durch sie die Eigenart und der Sinn jener drei Zeitabschnitte ganz deutlich werden. Zeitgeschichtlich charakteristisch ist schon die erste politische Situation, in der Humboldt uns begegnet. Er war 1790 als junger 23jähriger Referendar beim Kammergericht tätig als Protokollführer bei einem der Verfolgungsprozesse, die damals durch das Wöllnersche Religionsedikt veranlaßt waren. Er konnte sich des Gerichtsspruches erfreuen, der gegen das Wöllnersche Regime ausfiel. Aber seine Freude ging tiefer als die eines durchschnittlichen religiösen Freidenkers, und sein Widerspruchsgeist richtete sich nicht nur gegen Wöllner, sondern gegen den Staat überhaupt, der es versuchte, Gesinnungen und Handlungen seiner Bürger zu modeln und zu formen nach seinen Zwecken. Und auch der schönste und plausibelste Zweck, den der Staat sich setzen konnte in der Beglückung seiner Bürger, beruhigte ihn nicht über die Einbuße an individueller Freiheit und Selbsttätigkeit der Einzelnen, die damit verbunden war. Es war das Bildungsideal des klassischen deutschen Idealismus, das sich in ihm auflehnte gegen die Bevormundung von oben, gegen den friderizianischen Staat seiner Zeit. Ohne ihn zu nennen, schrieb er die schärfste Anklageschrift gegen ihn, als er 1792 seine »Ideen zu einem Versuche, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen« schrieb. Hier wurde ihm gesagt, daß der Staat doch nur ein untergeordnetes Mittel sei, dem der wahre Zweck, der Mensch, nicht geopfert werden dürfe. Der wahre Zweck des Menschen aber sei: Höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Das, worauf die ganze Größe des Menschen zuletzt beruhe, wonach der einzelne Mensch ewig ringen müsse, sei Eigentümlichkeit der Kraft und Bildung. Diese Kraft war ihm vor allem geistige Kraft. Unabsehbar, sagt er, ist der Gewinn, den der Mensch an Größe und Schönheit einerntet, wenn er unaufhörlich dahin strebt, daß sein inneres Dasein immer den ersten Platz
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behaupte und alles Körperliche nur Hülle und Werkzeug sei. Er verachtete darum das Körperliche nicht und konnte sich ausmalen, daß jeder Bauer und Handwerker ein Künstler werde, der sein Gewerbe um seines Gewerbes willen liebe und dadurch vergeistige. Denn jede Beschäftigung vermöge den Menschen zu adeln, und nur auf die Art, wie sie betrieben werde, komme es an. Aber neben dieser inneren Voraussetzung dürfe freilich auch eine äußere Voraussetzung nicht fehlen: Ohne Freiheit könne auch das seelenvollste Geschäft nicht heilsam wirken. »Was nicht von dem Menschen selbst gewählt, worin er auch nur eingeschränkt und geleitet wird, das geht nicht in sein Wesen über.« Der Staat stumpfe durch seine Vielregiererei und durch sein Streben nach möglichster Einförmigkeit in Handlungen und Einrichtungen die inneren schöpferischen Kräfte der Menschen ab. Er strebe nach Gütern auf Kosten der Kräfte. Dieser Kampf für die Innerlichkeit und Selbsttätigkeit des Individuums, für autonome gegen heteronome Moral erinnert an Luthers Kampf für den Glauben gegen die Werkgerechtigkeit. Man spürt auch bei Humboldt die Angst und Sorge um die innersten Güter der Persönlichkeit und vor jedem sie trübenden Hauche aus der Außenwelt. Aber da diese Außenwelt, die ihn bedrohte, die Züge des friderizianischen Obrigkeitsstaates trug, so drängt sich eine Frage auf: Warum griff sein leidenschaftliches Freiheitsbedürfnis nicht zu dem Heilmittel, das damals seit dem Ausbruche der Französischen Revolution so nahe lag? Warum forderte er nicht die Umwandlung des Obrigkeitsstaates in den Volksstaat, warum forderte er nicht zum mindesten politische Volks- und Bürgerrechte gegenüber dem alten Staate, also Volksvertretung und Selbstverwaltung in Stadt und Land? Warum forderte er nicht schon 1792, was er doch 1819, wie wir sehen werden, fordern sollte? Weshalb er dem Vorbilde der Französischen Revolution, obwohl er sie anfangs begrüßt hatte, nicht folgen wollte, hat er selber schon 1791 ausgesprochen: »Staatsverfassungen lassen sich nicht auf Menschen, wie Schößlinge auf Bäume, pfropfen. Wo Zeit und Natur nicht vorgearbeitet haben, da ist's, als bindet man Blüten mit Fäden an. Die erste Mittagssonne versengt sie.« Er empfand zu sehr das Gewaltsame und Überspannte in dem jähen Umbau des Obrigkeits- in den Volksstaat, der hier vorgenommen wurde; er spürte, daß in der Französischen Revolution nicht mehr der innere spontane Freiheitstrieb, sondern Zwang, Gewalt und Herrschaftstrieb vorwalteten. »Was im Menschen
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gedeihen soll,« sagte er, »muß aus seinem Inneren entspringen, nicht ihm von außen gegeben werden.« Es war gewissermaßen eine erste politische Nutzanwendung der Gedanken Goethes und Herders, die in dem natürlichen, freien Wachstum der Keime von innen heraus ohne äußeren Zwang das Ideal menschlicher Lebensgestaltung erblickte. Aber er hätte, sollte man meinen, die gewaltsame Methode der Französischen Revolution zwar verwerfen und doch das, was lebensfähig an ihren Ideen war, aufgreifen können zur Reform und inneren Belebung des Obrigkeitsstaates. Jedoch auch dazu war der junge Humboldt noch nicht-gewillt. Staat blieb Staat, und sein empfindlicher Individualismus fürchtete auch den reformierten Staat, wenn seine Tätigkeit denselben U m f a n g behielt wie im bisherigen Obrigkeitsstaate. Diese Reformen wären ja hinausgelaufen auf die Einführung des Repräsentativsystems und der Mehrheitsherrschaft. Aber Humboldt hatte noch gar keine Neigung, seinen individuellen Willen durch einen Repräsentanten repräsentieren oder durch eine Mehrheitsentscheidung erdrücken zu lassen. »Dem nicht Einwilligenden«, bemerkte er, »bliebe nichts übrig, als aus der Gesellschaft zu treten . . . allein dies ist beinahe bis zur Unmöglichkeit erschwert.« Er hatte schon recht damit, daß auch der Mehrheitswille der Demokratie zum Despoten werden kann, der das Individuum in Fesseln schlägt. U n d so wußte er denn keinen anderen Rat, als daß der Staat überhaupt, mochte er nun obrigkeitlich oder volkstümlich gestaltet sein, seine Tätigkeit auf ein Minimum, nämlich auf Rechtsschutz und Sicherheitspolizei beschränken müsse, auf diejenigen Güter, die die Individuen sich nicht selbst beschaffen konnten. Alles übrige, was der Staat bisher für Wohlfahrt und Erziehung des Volkes geleistet hatte, sollte besorgt werden durch freiwillige Vereinigungen der Bürger, »Nationalanstalten«, wie er sie nennt, die aber keinesfalls zu Staatseinrichtungen werden, die auch nicht zu groß und umfassend ausfallen dürften. Denn »je mehr der Mensch für sich wirkt, desto mehr bildet er sich. In einer großen Vereinigung wird er zu leicht Werkzeug«. Man konnte nicht empfindlicher und konsequenter die Rechte des Individuums gegenüber Staat und Gesellschaft und gegen jede von ihnen drohende innere oder äußere Vergewaltigung wahrnehmen. U n d man konnte es zugleich nicht freier von niederem Egoismus tun. Dieser gegen den Gemeinschaftswillen so mißtrauische Individualismus war schon damals bei ihm verbunden mit der feinsten und edelsten Gemeinschaftsgesinnung, mit dem Wunsche, daß alles, was
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die Menschen bisher gezwungen füreinander getan hatten, aus freier Neigung, in schöner Vereinigung zu kleinen, lebensvollen, tätigen Gemeinschaften geschehen möge. Aber es ist, als ob er sich die Nation zusammengesetzt dächte aus lauter Gliedern des Weimarer Freundeskreises. Eine schöne Utopie, die er im innersten Grunde wohl selbst als Utopie empfunden haben mag, die er aber aussprechen mußte, um das Wirklichste und Wahrste, was er empfand, zum Ausdruck zu bringen und anschaulich zu machen. Denn was er über die Gefahren, die dem Individuum vom Staate drohen, sagte, ist von ewiger Wahrheit und wird im modernen Leben von jeder tieferen Natur einmal empfunden werden. Immer wieder wird es stille Stunden geben, in denen das Innerste des Menschen leidenschaftlich sich auflehnt und wund und wehe sich reibt an dem mechanisierten und mechanisierenden Willen des Staates, mag dieser nun die Züge des Obrigkeits- oder des Volksstaates tragen. Und immer wieder wird auch der höchste politische Idealismus sich eingestehen müssen, daß in jedem Staate ein Stück von Leviathan steckt, und daß alle Vergeistigung und Versittlichung, die man mit ihm vornehmen mag, seinen harten und groben Kern nicht zu durchdringen vermag. Aber immer wieder, auch das ist ewig-menschlich, wird der Versuch dazu auch wieder aufgenommen werden. Der junge Humboldt konnte an diesen Versuch noch nicht gehen, weil der Radikalismus seines jugendlichen Denkens sich zunächst einmal rücksichtslos aussprechen mußte, und weil die Aufgaben einer rein geistigen Selbstbildung, für die der Staat ihm nichts bieten konnte, ihn gar zu mächtig lockten. Nur das Leben selber mit seinen Erfahrungen, mit seinen gedanklich niemals ganz zu lösenden, nur durch die Tat zu überbrückenden Gegensätzen und Widersprüchen, mit seinem gewaltigen Appell, durch Handeln und Schaffen solche Brücken zu schlagen, konnte ihn zum Staate hinführen. Er lebte ein ganzes Jahrzehnt zunächst weiter in seinen philosophischen und ästhetischen Interessen. Er wurde auch nicht etwa Staatsmann, als er 1802 ein Staatsamt wieder annahm und preußischer Resident bei der römischen Kurie wurde. Er genoß Rom, wie Goethe es genossen hatte; sein Amt stand in der Peripherie, nicht im Zentrum seines Lebens. Wie ist der ursprünglich so staatsscheue Humboldt doch schließlich zum Staatsmann geworden? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten, weil Humboldt eine so überaus spirituelle Persönlichkeit war, deren tiefere, leitenden Empfindungen nie naiv und elementar, sondern immer vergeistigt durch
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Reflexion an den Tag traten. Es läßt sich deshalb bei ihm nicht immer leicht scheiden, was reflektierende philosophische Beobachtung und was unmittelbare Empfindung und inneres Erlebnis ist. Beides ist oft auf die wunderbarste Weise intensiv miteinander verwoben. Aber es gab Momente, wo die innere Empfindung und damit das innere Motiv seiner Wandlungen durch alle Reflexionen hindurchbrach. Als er 1808 aus Rom, wo er sich so glücklich gefühlt hatte, nach seinem unglücklichen Vaterlande zurückkehrte, schrieb er: »Ich liebe Deutschland recht eigentlich in tiefer Seele, und es mischt sich, in meine Liebe sogar ein Materialismus ein, der die Gefühle manchmal weniger rein und edel, aber darum nur stärker und kräftiger macht. Das Unglück der Zeit knüpft mich noch enger daran, und da ich fest überzeugt bin, daß gerade dies Unglück Motiv werden sollte, für die einzelnen mutiger zu streben, für alle sich mehr zu fühlen, so möchte ich sehen, ob die gleiche Stimmung auch bei andern herrschend wäre, und dazu beitragen, sie zu verbreiten.« N u r ein geistiges, noch kein politisches Nationalgefühl, geschweige denn eine höhere Wertschätzung des Staates selber, sprach aus diesen schönen Worten. Aber sie verraten den lebendigen Wunsch, für seine Nation jetzt zu wirken und ihr die innere Lebenskraft erhalten zu helfen. Hierfür fiel ihm nun eine Aufgabe zu, wie sie persönlich fesselnder, aber auch persönlich-problematischer für ihn nicht gedacht werden konnte. Er trat 1809 als Geheimer Staatsrat an die Spitze der Sektion für Kultus und Unterricht und hatte nun als tatsächlicher Kultusminister eben diejenigen Dinge staatlich zu leiten, die ihm am Herzen lagen, deren staatliche Leitung er aber gerade früher schier als Sünde wider den heiligen Geist empfunden hatte. Es ist keine Frage, daß seine Reglements und Verordnungen, etwa die über die Abiturientenprüfungen und die Prüfung der höheren Schulamtskandidaten, an dem Maßstabe seiner Jugendgedanken gemessen, die Bewegung der geistigen Kräfte unerlaubt schematisierten. Und doch bekannte er sich immer noch zu diesen Jugendgedanken und erklärte, daß der Staat, sobald er sich in das geistige Leben mische, im Grunde immer hinderlich sei, und daß die Sache ohne ihn unendlich besser gehen würde. Er konnte sein Tun nur eben mit der realistischen Lebenserfahrung rechtfertigen, daß es für jedes ausgebreitete Wirken nun einmal äußere Formen und Mittel geben müsse, zu deren Bereitstellung der Staat verpflichtet sei. Freilich wirkten, so setzte er zu seiner inneren Rechtfertigung hinzu, diese äußeren Mittel notwendig immer nachteilig ein
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und zögen das Geistige und H o h e in die materielle und niedere Wirklichkeit herab. So und nicht anders mußte er mit seiner empfindlichen geistigen H a u t es immer auffassen. Rein als betrachtender Denker hätte er nie über die Schranke seiner Jugendgedanken hinausgelangen und den Staat für mehr als ein unvermeidliches Ü b e l ansehen lernen können. A b e r es gab noch eine andere Möglichkeit für ihn, in den Staat zu gelangen und doch seinen Jugendgedanken dabei nicht untreu zu werden. D e n n sein Bildungsideal war schon damals nicht nur ein betrachtendes und genießendes Luxusleben des Geistes gewesen, sondern auch H a n d l u n g und Energie, ja allerhöchste Energie, weil sie rein aus dem Innern des Menschen fließen und alle in ihm schlummernden Kräfte z u m Leben erwecken sollte. N u n aber bot ja der Staat selber, das sich reformierende und verjüngende Preußen, einer so durch Freiheit und Innerlichkeit gesteigerten Energie freien Spielraum des Wirkens. Man könnte sagen, das Individuum benutzte den Staat als kräftigstes und wirksamstes Mittel, u m sich auszuleben und sein inneres Selbst in die Welt z u übertragen. E s war ein feiner E g o i s m u s , von dem aber wohl noch kein großer Staatsmann ganz frei geblieben ist. U n d mochte nun auch ein Widerspruch zwischen seinem handelnden und seinem denkenden Verhältnisse z u m Staate fortan bestehen. Auch Friedrich der G r o ß e hatte einst in einem ähnlichen Widerspruche gelebt, wenn er als Antimachiavell die herkömmliche Machtpolitik der Fürsten verdammte und als verantwortlicher Monarch sie doch unweigerlich ausübte. So etwa mag man sich diese zweite Stufe von H u m b o l d t s Verhältnis z u m Staate verständlich machen. Sie geht nicht logisch rein auf, aber sie ist menschlich sehr begreiflich. U n d sie wirkte auch, obwohl seine Tätigkeit als Kultusminister schon 1810 ein E n d e fand, dauernd in ihm nach. Eine gewisse gehaltene Freude am staatsmännischen Wirken und Gestalten blieb ihm, o b w o h l er in jedem Augenblicke ohne K u m m e r es mit reiner kontemplativer Muße vertauscht haben würde, und obwohl das besondere Gebiet staatsmännischen Wirkens, die D i p l o matie, in die er 1810 als Gesandter Preußens bei Österreich wieder eintrat, mancherlei öde, nur durch Pflichtgefühl zu bewältigende Strecken seiner L a u f b a h n ihm eröffnete. Aber während seine diplomatische Tätigkeit selbst während der Befreiungskriege nach außen hin kühl und blutlos erschien, reifte in ihm eine neue politische Erfahrung, die ihn zur dritten Stufe seines staatsmännischen Wirkens führen sollte. D a s Erlebnis des Befreiungs-
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krieges in seiner schlichtesten und tiefsten Gestalt ergriff ihn und offenbarte ihm eine neue Lebensmacht, von der er bisher fast nur theoretisch etwas gewußt hatte - das Volk. Die große und einfache Aufgabe, alle Kraft gegen den Korsen zu vereinigen und durch seine Niederzwingung Völker- und Staatenfreiheit zurückzugewinnen - wer löste sie jetzt? Nicht die finassierenden Diplomaten, nicht die egoistischen höheren Schichten, um mit dem jetzigen Humboldt zu sprechen, »ein kleines selbstsüchtiges Geschlecht, schwach und frivol, hilflos und doch nicht geneigt, sich kräftig helfen zu lassen«. In der preußischen Volkserhebung aber traten Kräfte ans Licht, die unverbraucht sittlich rein und stark die geschichtliche Aufgabe lösten, die die Regierenden allein nie hätten lösen können. »Glaube mir, teure Li,« schrieb Humboldt an seine Gattin am 13. Dezember 1813, »es gibt nur zwei gute und wohltätige Potenzen in der Welt: Gott und das Volk. Was in der Mitte ist, taugt reinweg nichts, und wir selbst nur insofern, als wir uns dem Volke nahestellen.« Machen wir uns die sozial- und geistesgeschichtliche Bedeutung dieser Wendung in seinen Gedanken klar. Die soziale Welt, die seine Jugendgedanken über den Staat voraussetzten, war eigentlich eine übersoziale Welt, eine Utopie gewesen, die das Bild des Weimarer Freundeskreises in die ganze Gesellschaft hineinprojizierte. Auch der Bauer und Handwerker war, wie wir sahen, als Künstler gedacht. Frei und schön sollte jeder, hoch oder niedrig, seine besondere Individualität entwickeln und aus ihr heraus zum Gemeinschaftsleben kommen. Aber die Mitglieder der höheren Stände, die dieses Ideal am ersten zu verwirklichen berufen waren, hatten im Durchschnitt versagt. Das klassische Humanitätsideal hatte, wie Humboldt sich jetzt klarmachen mußte, gerade innerhalb der Kreise, in denen er selber lebte, nur eine sehr kleine Schicht zu ergreifen vermocht. Während er sein Innerstes in sich selbst verschloß und nur seiner Gattin ganz offenbarte, ging er kritisch, höflich, ironisch, überlegen durch die Menschen seiner Zeit. Sie waren ihm gleichgültig, während der Mensch ihm nie gleichgültig war und seine Sehnsucht nach dem reinsten und tiefsten Ausdrucke der Menschheit immer stärker wurde. Dies also war die Stimmung, in der er die preußische Volkserhebung von 1813 erlebte. Er zögerte nicht, die politischen und sozialen Konsequenzen aus dieser neuen Erfahrung zu ziehen. Es versteht sich, daß er, der Vertreter einer höchsten Bildungsaristokratie, nicht zum radikalen Demokraten werden und die Herrschaft der Massen proklamieren
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konnte. Aber er erkannte, daß Staat und Gesellschaft ganz anders als bisher sich zum Volke stellen müßten. »Nur sehr wenige«, schrieb er am 20. August 1814, »und am seltensten die, welche an der Staatsverwaltung teilnehmen, fühlen recht lebendig, wie notwendig es ist, eine so enge Verbindung als möglich zwischen dem Volk und den höheren Ständen anzuknüpfen, wie aber in dieser Verbindung gerade jeder in seiner eigentümlichen Lage bleiben und sie keine Verwechslung der Stellung sein muß.« Er rührte damit an ein Grundproblem der modernen Kultur. Sie konnte nur entstehen und sich erhalten durch eine Differenzierung von Volksleben und Bildungsstreben, aber sie wird letzten Endes auch immer wieder lebensgefährlich bedroht, sobald diese Differenzierung erstarrt und konventionell wird, sobald der Säfteumlauf zwischen Wurzeln und Blüten der Pflanze gehemmt wird. O d e r wie Humboldt es 1824 ausdrückte: »Alle Bildung würde wie ein Kranz verwelken, den man durch einen toten Stamm windet, wenn nicht dieser Stamm ihn durch seine unsichtbaren Kräfte belebte.« Und ein weiterer Gedanke, den er sich jetzt bildete, war, daß die höheren Stände zu ihrer Bildung viel mehr der niederen Stände und der aus ihnen aufsteigenden frischen Säfte bedürften, als umgekehrt; denn die niederen Stände sind »eigentlich selbständig, wie die Natur auch nicht des Menschen, wohl aber er ihrer bedarf«. Damit nun der Jungbrunnen des Volkslebens in die höheren Stände hinüberfließe, wünschte er sich einen Volksunterricht, der der modernen Forderung der Einheitsschule sehr nahe kommt. Es solle, meinte er, eine allgemeine Grundlage werden, die niemand verschmähen könne; es solle gar keinen doppelten, sondern nur einen in beschränkterem Räume stehenbleibenden und einen weitergehenden Unterricht für die Geringsten und Vornehmsten geben. Man darf nun freilich Humboldt nicht ohne weiteres als Kronzeugen für die moderne Einheitsschule anrufen. Man darf nicht vergessen, daß er eine andere, einfachere, naturwüchsigere, gesundere Struktur des Volkes vor sich hatte als das Zeitalter der Großstädte und der Großindustrie. Das bedeutet aber zugleich, daß damals die Aufgabe, einen inneren Kontakt wiederherzustellen zwischen den niederen und höheren Schichten des Volkes, leichter zu lösen war als heute, und daß sie, vom heutigen Standpunkte aus gesehen, eigentlich damals hätte gelöst werden müssen, um den verhängnisvollen Folgen der wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen des neunzehnten Jahrhunderts, soweit als es überhaupt möglich war, vorzubeugen. Humboldt hat diese Gefahren noch nicht ahnen können.
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Um so höher ist sein genialer Instinkt zu bewerten, der zu einer Zeit, wo noch kein Wölkchen am sozialen Himmel stand, es deutlich fühlte, daß nicht alles in Ordnung war zwischen höheren und niederen Ständen. Romantische Stimmungen für das Volkstümliche, wie sie damals verbreitet waren, auch ältere, aus dem achtzehnten Jahrhundert stammende, von Rousseau genährte Empfindungen mögen ihn vielleicht leise mit geleitet haben. In der Hauptsache aber war es eigene innere Erfahrung und tiefste Einsicht, die aus ihm sprach. Aus höchster und reinster Geistigkeit heraus erkannte er, daß diese Geistigkeit sich nur erhalten lasse im lebendigen Zusammenhange mit der ganzen Volksgemeinschaft. In seiner Jugend hatte er, zwar nicht bewußt, aber doch tatsächlich zu einer Art von egoistischer, sich isolierenden Klassenkultur geneigt, und die Nation war ihm im Grunde die edle Gesellschaft der gebildeten Individuen gewesen. Jetzt aber erklärte er: die Nation im wahren Sinne besteht aus beiden zugleich, aus den hoch ins Individuelle entwickelten Kräften, die sich aus ihr heraus und über sie hinaus erheben, und aus den von unten her sie befruchtenden Elementen der unteren Masse. Die nationale Idee, die er einst an den Griechen gewissermaßen theoretisch erlernt hatte, ging ihm jetzt erst ganz lebendig in Fleisch und Blut über. Aus den Entwürfen, die er als preußischer Staatsmann und Berater Hardenbergs für die politische Neugestaltung Deutschlands auszuarbeiten hatte, sprach mehr als diplomatische und realpolitische Sachlichkeit. Es liegt - so heißt es in seiner Denkschrift vom Dezember 1813 über die künftige deutsche Verfassung - in der Art, wie die Natur Individuen in Nationen vereinigt und das Menschengeschlecht in Nationen absondert, ein überaus tiefes und geheimnisvolles Mittel, den Einzelnen, der für sich nichts ist, und das Geschlecht, das nur in Einzelnen gilt, in dem wahren Wege verhältnismäßiger und allmählicher Kraftentwicklung zu erhalten. Die Politik brauche zwar nie auf solche Ansichten einzugehen, aber sie dürfe sich - und damit verurteilte er im voraus die antinationale Reaktionspolitik der folgenden Jahrzehnte - auch nicht vermessen, der natürlichen Beschaffenheit der Dinge entgegen zu handeln. »Nun aber wird Deutschland in seinen, nach den Zeitumständen erweiterten oder verengerten Grenzen immer, im Gefühl seiner Bewohner, Eine Nation, Ein Volk, Ein Staat bleiben.« Aus diesen Worten atmet schon leise der Trost, der auch uns heute aus ihnen anweht, daß die unzerstörbar-ideelle, im lebendigen Bewußtsein des gesamten Volkes wurzelnde Einheit der Nation ein
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Ersatz sein müsse für eine unvollkommene politische Einigung. Sie konnte damals auch nur unvollkommen ausfallen, weil die Ungunst der europäischen Machtverhältnisse und das Nebeneinander zweier Großmächte in Deutschland eine kräftige bundesstaatliche Verfassung von vornherein unmöglich machten. Hier konnte die Feder nicht verderben, was das Schwert gewonnen hatte, weil das preußische Schwert überhaupt noch nicht stark genug war, die Widerstände, die der nationalen Einigung im Wege standen, niederzuzwingen. Wohl aber war die Verschmelzung von Staat und Volk, die für Deutschland im ganzen noch unerreichbar war, für Preußen und das preußische Volk schon erreichbar. Zwar hat man auch die realpolitische Möglichkeit, dem damaligen preußischen Staate eine Verfassung zu geben, bezweifelt, aber doch nur, indem man Schwierigkeiten übertrieb, die ein starker und aufgeklärter staatsipännischer Wille hätte überwinden können. Man hat ζ. B. gemeint, daß es unmöglich gewesen sei, die Forderungen derjenigen Gesellschaftsklassen miteinander zu vereinigen, auf die sich eine preußische Verfassung hätte stützen müssen, des Adels auf der einen, des gebildeten und besitzenden Bürgertums auf der anderen Seite. Aber wenn man auf diese Möglichkeit gewartet hätte, würde Preußen ohne Revolution niemals eine Verfassung erhalten haben. Es kam doch noch auf mehr an, als die Vereinigung der sozialen Klasseninteressen von Adel und Bürgertum. Es kam darauf an, eine Verfassung zu schaffen, die den Klassengedanken durch den Volksgedanken überwand und einschränkte, die die gesamte Volksgemeinschaft politisch organisierte und allen Schichten des Volkes, indem sie ihren Anteil am Staatsleben sicherte, lebendiges Interesse an ihm einflößte. Das war der große Gedanke Wilhelm von Humboldts, als er, 1819 zum Minister des Innern ernannt, seine Entwürfe zu einer preußischen Verfassung niederschrieb. Jetzt wurden seine neuen Erfahrungen vom Volke, die er 1813 gewonnen hatte, fruchtbar auch für das preußische Verfassungproblem. Sein Verfassungsentwurf ist eng verwandt mit seinen Gedanken über Volksbildung und -Unterricht. Er wollte, darf man schon sagen, den Volksstaat - nicht im heutigen Sinne einer egalisierenden Demokratie. Dazu war die gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland und Preußen noch lange nicht reif, und die unteren Massen, an passiven Gehorsam gewöhnt, verlangten einen solchen Volksstaat auch noch nicht. Aber aus diesem bloßen passiven Gehorsam wollte sie Humboldt herausführen. Dieser sei, sagte er, nur die niedrigste Stufe der Teilnahme am Ganzen. Als die oberste Stufe
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sah er und mußte er im damaligen Beamtenstaate die Teilnahme am Staate aus besonderem Berufe, als Staatsdiener ansehen. Als die mittlere aber bezeichnete er »das eigentliche Geschäft des Staatsbürgers« als tätiges, in den kleinsten Lebenskreisen schon mitarbeitendes Mitglied der Staatsgemeinschaft. Aus Ehrgeiz und Eitelkeit, fährt er fort, hat man sich zur höheren gedrängt, aus Trägheit, Sinnlichkeit und Egoismus ist man zur niedrigeren zurückgegangen. Man spürt hier wieder sein überaus kritisches Urteil über den durchschnittlichen Geist der damaligen höheren Stände durch. Adel und Bürgertum zugleich wollte er herausreißen aus diesem sinnlich-egoistischen Treiben, dahinter aber auch noch die schlummernden Kräfte des niederen Volkes zu politischem Leben erwecken. »Durch eine Verfassung, die auf diese Weise auf das Volk einzuwirken sucht, und nur durch sie, kann man dahin gelangen, dem Staate in der erhöhten sittlichen Kraft der Nation und ihrem belebten und zweckmäßig geleiteten Anteil an ihren Angelegenheiten eine größere Stütze und dadurch eine sichere Bürgschaft seiner Erhaltung nach außen und seiner inneren fortschreitenden Entwicklung zu verschaffen.« Dieser Humboldtsche Entwurf gehört zu den merkwürdigsten Hervorbringungen der modernen Verfassungsgeschichte. Er fällt gewissermaßen aus dem Schema ganz heraus, er entfernt sich von dem Typus der gewöhnlichen konstitutionellen Verfassungen, wie er damals in der oktroyierten Charte Frankreichs von 1814 vorlag, ebensoweit wie von dem Typus landständischer Verfassungen der deutschen Einzelstaaten. Er berührt sich wohl mit dem einen wie dem anderen, aber er gibt teils weniger, teils sehr viel mehr wie sie. Weniger, indem das Bild der zentralen Volks- oder Ständevertretung, ihrer Zusammensetzung, ihrer Rechte, ihres Zusammenspiels mit der Regierung, verhältnismäßig zurücktritt; mehr, indem der tiefere Unterbau, die politische Organisierung der provinzialen und lokalen Verbände mächtig und lebensvoll sich ausbreitet. Man könnte vom modernen Standpunkte aus gegen ihn einwenden, daß die von ihm dem Zentralparlament gewährten Rechte nicht genügt hätten, um den absolutistischen Beamtenstaat zu entwurzeln. Aber ganz abgesehen davon, daß Humboldt damit vielleicht schon mehr forderte, als König Friedrich Wilhelm der Dritte je zugestanden haben würde, hatte er auch das richtige Gefühl dafür, daß der absolutistische Beamtenstaat, den er selber in seiner Jugend so scharf bekämpft hatte, erst dann entwurzelt werden könne,
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wenn das Volk selber gelernt habe, politisch zu denken und zu arbeiten. D a s war auch der G r u n d g e d a n k e der großen R e f o r m e r Preußens überhaupt, das Volk zur Selbsttätigkeit erst zu erziehen, bevor man das Füllhorn aller Rechte vor ihm ausschütte. E r lebte in der Pädagogik Pestalozzis, wie in der wunderlichen, aber tiefen U t o pie, die G o e t h e im Bilde der pädagogischen Provinz in »Meisters Wanderjahren« ausgemalt hat. D a s Volk, den Menschen durch den weisen Gesetzgeber zu erziehen, war schon der große T r a u m der Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts gewesen. Auf diese Weise vollzog sich ideell ein freundlicher U b e r g a n g von der Gebundenheit des Beamtenstaates zur Freiheit des Volksstaates, der sich in der rauhen Wirklichkeit sehr viel unliebenswürdiger und abrupter abspielen sollte. So mag man auch dem H u m b o l d t s c h e n Verfassungsplan wieder einen leisen utopischen Z u g nachsagen. A b e r sein innerster Kern war nicht Utopie, sondern reinste und tiefste Freiheitsempfindung, lebendig wie in seiner J u g e n d , gereift durch die Erfahrungen einer gewaltigen Zeit. E r unterließ es, das Problem seiner J u g e n d , den Konflikt zwischen Individuum und Staat, noch einmal in seiner ganzen radikalen Schärfe sich zu stellen. Er hätte jetzt doch nur eingestehen müssen, daß es theoretisch nicht lösbar sei, daß der Staat sowohl wie das Individuum ihr besonderes unveräußerliches und ununterdrückbares Lebensrecht hätten, und daß doch beide durch den Zwang des Lebens aufeinander angewiesen seien. Dieser Realismus des Lebens also drängte die einstige Sorge um die Reinhaltung der individuellen Sphäre zurück, aber forderte zugleich Einrichtungen des Staates, die der Selbsttätigkeit des ganzen Volkes wie jedes Einzelnen freien R a u m lassen sollten. So war es eine gar nicht utopische, sondern sehr reale Forderung, die G r u n d s ä t z e der Steinschen Städteordnung auszudehnen auf das ganze L a n d , auf die Landgemeinden, die Kreise und Provinzen und so, wie H u m b o l d t sagt, die N a t i o n zu einem Inbegriff großer und kleiner K o m m u n e n zu erheben. Indem ein Teil der Staatsgeschäfte auf die von den Einwohnern gewählten Körperschaften überging, gab es politische Arbeit in Hülle und Fülle, die das politische Streben der N a t i o n befriedigen und ihre politische Reife fördern konnte. Echt deutsch empfunden war es, freien Spielraum für die Tüchtigkeit des Einzelnen z u schaffen, zugleich aber die einzelnen Individuen in großen Genossenschaften zusammenzufassen. Er ging darin noch über die Steinsche Städteordnung hinaus, die nur lokale Einteilungen der Bürgerschaft vorgesehen hatte, während er sie auch in
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den einzelnen Städten schon nach großen Berufsgruppen gliedern wollte. Es war ein notwendiges Zugeständnis an die damaligen sozialen Machtverhältnisse, daß sein Wahlrecht den grundbesitzenden Adel als politische Korporation heraushob und bevorzugte. Innerhalb der großen ständischen Berufsgruppen aber, die er schaffen wollte, war das Wahlrecht, das er dem Volke gab, nahezu ein allgemeines, und hielt sich von kleinlichen, klassenhaft-egoistischen Beschränkungen fern. Die berufsständische Gliederung der Wählerschaft, die Humboldt vornahm, mag uns heute, je nachdem, entweder altfränkisch, oder, wenn wir an das Rätesystem denken, hochmodern erscheinen. Sicher ist, daß Humboldts feiner Sinn nicht nur die Vorteile, sondern auch die Schäden eines Korporationsgeistes, wie er sich bei berufsständischem Wahlrecht nur zu leicht entwickeln kann, herausfühlte. Darum stellte er, abweichend von damals in Preußen verbreiteten Lieblingsmeinungen, die große und wichtige Forderung, daß alle Wahlen, sei es zu den lokalen, den provinzialen oder zentralen Vertretungskörperschaften, unmittelbar von den Wählern der Nation vorgenommen werden sollten. In allem, so möchte man sagen, wollte er die besondere Individualität der Menschen wie der großen Lebenskreise, in denen sie sich zusammenfassen, zur Geltung bringen. »Jeder im Volke«, so drückte er sich aus, »erhält seine politische Geltung aus Individualität und den politischen Rechten der Klasse, der er angehört.« Ebenso sollte aber auch die Individualität des Ganzen, die Nation, in Erscheinung treten in einer Zentralversammlung, die, weil sie unmittelbar von der Nation gewählt wurde, sich frei erhalten sollte vom Interessengeist der Provinzen. Alle Gliederungen und Spaltungen, die er vornahm, suchte er sogleich auch wieder zu überbrücken und zu überwinden durch höhere Einheiten. »Unsere Regierung«, sagte er, »hat gar kein Interesse, Spaltung zu stiften, um leichteren Einfluß zu gewinnen, dagegen das Höchste, alle Teile der Nation miteinander möglichst zu befreunden.« Das also ist der volksfreundliche und soziale Grundzug seiner Verfassungspolitik, der uns vielleicht erst jetzt nach den erschütternden Umwälzungen der Novemberrevolution ganz aufgeht. Die innere preußisch-deutsche Entwicklung wäre anders gelaufen, wenn Preußen 1819 eine Verfassung von der Art der Humboldtschen erhalten haben würde. Sie hätte sich ganz gewiß nicht ein Jahrhundert hindurch unverändert halten können, aber sie hätte eine ganz andere politische Atmosphäre von vornherein geschaffen, sie hätte dem Kampfe der
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Stände und Klassen untereinander mildere Formen geben und die verschiedenen Teile der Nation miteinander, wie Humboldt es wünschte, befreunden können. Humboldts Plan ab.er scheiterte fast in dem Augenblicke, wo er ihn faßte. Am Ende des Jahres 1819 kam es zur großen Krisis im Staate. Er und die anderen Führer der Verfassungspartei wurden entlassen, das Reformwerk abgebrochen. Eine ernste Säkularerinnerung für unsere heutige Lage, denn es ist vielleicht das größte Unglück unsrer neueren Geschichte, daß die preußische Reformzeit nicht zu Ende geführt worden ist. Es hat sich herausgestellt, daß der Geist von Weimar imstande war, auch einen deutschen Staat zu schaffen - nicht ein solchen, der den Staat von Potsdam negierte, sondern der ihn mit politischem Takte und Gefühle für die Zukunftspläne umbildete und weiter entwickelte. Negation und Widerspruch gegen den preußischen Staat war wohl das erste - wir sahen es an Humboldts Jugendgedanken. Aber die inneren Triebkräfte des klassischen Humanitätsideals und des klassischen Individualismus konnten dabei nicht stehen bleiben. Der feine egoistische Individualismus der Humboldtschen Frühzeit vertiefte sich zum Mitgefühl für alles individuelle Leben überhaupt und für alle großen überpersönlichen Individualitäten, die das Leben des Einzelnen tragen und befruchten, für Vaterland, Staat und Volk. Ihnen allen Raum zur freien Entfaltung ihrer Kraft und Eigenart zu geben und sie doch wieder innerlich miteinander zu verbinden, das war die hohe Aufgabe, die Humboldt lösen wollte. Alle Teile der Nation möglichst miteinander zu befreunden, das ist sein Vermächtnis an uns in unserer heutigen Lage.
Boyen und Roon Abgefaßt 1895. Zuerst erschienen: Historische Zeitschrift Bd. 77 (1896) S. 207-234. Wiederabdrucke: Von Stein zu Bismarck (Dt. Bücherei 93) S. 50-76, Preußen und Deutschland S. 41-67, Preußisch-deutsche Gestalten und Probleme S. 66-101.
Die imponierenden Erfolge von 1866 und 1870/71 wandelten das Urteil einer großen Zahl einsichtiger und patriotischer Politiker über die von Wilhelm I. gewollte, von Roon durchgeführte1 Heeresorganisation zum genauen Gegenteil ihrer früheren, leidenschaftlich verteidigten Auffassung um. Es berührt eigentümlich, die Reden Sybels aus der Konfliktszeit mit seiner späteren Darstellung in der »Begründung des Deutschen Reiches« zu vergleichen. Mit schneidender Schärfe, mit einem Pathos, wie es nur eine tief gewurzelte Uberzeugung einzugeben scheint, rief er dem Kriegsminister Roon zu: Du verstümmelst das große Werk von 1814, du bist aber darin nur das gelehrige Werkzeug einer Partei, die seit Jahrzehnten auf dieses Ziel ausgeht. Seit 1819 schon fielen die Gedanken von 1814 »in die Hand jener engen und zunftmäßigen Routine, die dann das Ruder in unserer Militärverwaltung geführt hat« 2 . Ihr haßt den volkstümlichen Gedanken der Landwehr, Ihr wollt ein kastenmäßig abgeschlossenes Heer; der Geist der Befreiungskriege, aus dem Preußen seine wahre Kraft schöpfen muß, ist von Euch gewichen. Mit leichter ironischer Färbung behandelt er später diese schwerwiegenden Besorgnisse nur als eine gröbliche Verkennung des wahren Wertes der Reorganisation, als eine Frucht der traurigen Verbitterung der Reaktionszeit. So vollständig beherrscht ihn hier, wie auch sonst so oft das Prinzip, politische Ereignisse und Institutionen nach ihrem Erfolge zu beurteilen, daß er die wichtige Frage kaum streift, was denn nun an jenen früheren Befürchtungen wirklich begründet und gerechtfertigt war. Der spätere Paulus macht uns nicht die Gegensätze, in denen der frühere Saulus lebte, voll verständlich. Daß er es nicht tat, 1 z. S. 2
Vgl. über die Entstehung des Reorganisationsplans Sybels Aufsatz in der Beilage Allg. Ztg. v. 19.-21. Dez. 1891 [jetzt in Sybel: Vorträge und Abhandlungen (1897) 262-289). Rede vom 11. Mai 1863.
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könnte man schon erklären aus der wissenschaftlichen Individualität Sybels, aus ihren Stärken und Schwächen. Dem jüngeren Geschlechte bleibt nun die Aufgabe, das Problem der Konfliktszeit von innen heraus und mit ruhiger Objektivität zu erklären. Eine nicht unwichtige Vorarbeit dazu wird es schon sein, auch nur die Individualitäten der beiden großen Kriegsminister, von denen der jüngere das Werk des älteren so wesentlich umgestaltet hat, miteinander zu vergleichen, die Richtung ihres Wesens und ihren Zusammenhang mit den Zeitströmungen zu charakterisieren. Boyen, 1771 in Ostpreußen geboren, wuchs auf im Heere Friedrichs des Großen, unter dem Einfluß jener schlichten Religiosität, welche eine ganz wesentliche Grundlage des friderizianischen Staates war. Früh wirkten auf ihn die Gedanken des deutschen Rationalismus, aber nicht auflösend, sondern fast unmerklich umbildend. Als eine zu grübelndem Denken neigende Natur, als Mitglied eines bevorzugten Standes, mußte er sofort in den großen Gegensatz der Zeit hineingezogen werden, mußte er früh sich die Frage vorlegen, wie sich denn der ständisch gegliederte Staat, die außerordentliche soziale Kluft, die den Offizierstand von dem geistig so reich bewegten und fruchtbaren Mittelstande trennte, mit dem Gedanken der natürlichen Gleichberechtigung aller Menschen vertrug. Er sog begierig die Nahrung ein, die ihm aus den Kreisen des Mittelstandes geboten wurde, er war in Königsberg ein Hörer von Kant und Kraus, er hörte dann mit Begeisterung die ersten schönen Botschaften aus Frankreich und bewunderte die Erklärung der Menschenrechte als ein unerreichtes Ideal der Gesetzgebung. Das tat so mancher Deutsche damals, dem es darum doch nicht einfiel, sich durch die heimischen Zustände verbittern zu lassen oder sie mit radikaler Hitze zu bekämpfen. Was sie neben andern Ursachen davon vor allem abhielt, war das Gefühl, inmitten einer allgemeinen hoffnungsreichen Umwandlung der Geister zu leben, die durch den aufgeklärten Despotismus der vorangegangenen Jahrzehnte geweckte Zuversicht, daß auch die Regierenden ihr Ohr den neuen Ideen nicht verschlössen, daß es von Jahr zu Jahr aufwärts ginge. So hoffte auch Boyen als junger Offizier mit freudigem, jugendlichem Optimismus. Daneben aber fühlte er sich ganz individuell durch ein intensives Pflichtgefühl an die Aufgaben des Berufes, in denen er lebte, gebunden. Und wertvolle sittliche Güter hatte ja das preußische Offizierkorps in der harten Erziehung durch Friedrich
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Wilhelm I. und Friedrich den Großen sich erworben, die wohl geeignet waren, sich mit den Aufklärungsgedanken zu verschmelzen. Die Verbindung von strenger Disziplin, peinlichem Pflichtgefühl im kleinen Dienste und hohem kriegerischem Ehrgefühl, wie sie hier bestand, war etwas, was nicht an die Formen des ständischen Staates gebunden war. Boyen nahm die Güter ganz in sich auf und fügte hinzu den Gedanken, daß der Offizier auch in unterer Stellung, in bescheidenster Wirksamkeit dem neuen Ideale der Humanität nachstreben könne. Die Achtung der sittlichen Persönlichkeit in dem gemeinen Soldaten, das Bemühen, ihn nicht durch mechanischen Zwang, sondern durch Wekkung der Vernunft und des Ehrgefühls zu erziehen, war ein schon früh in ihm sich regender Gedanke und wurde mehr und mehr das sein Denken und Handeln beherrschende Motiv. Sein dem Positiven und Gesunden zugewandter Blick sah weniger auf die schweren organischen Gebrechen des damaligen Heerwesens, als auf die Männer, die schon in jenem edleren Geiste handelten, auf das tüchtige wissenschaftliche Streben, das jetzt namentlich in den jüngeren Schichten des preußischen Offizierkorps sich regte. Persönlichkeiten, wie den Generalen v. Wildau und v. Günther, denen er als Adjutant nahetrat, ebenso kraftvollen wie humanen Charakteren, Schloß er sich mit kindlicher Wärme und Hingebung an, und dem Vorwurf, daß der preußische Offizier hinter der Bildung der anderen Stände zurückgeblieben sei, glaubte er mit heiligem Eifer öffentlich entgegentreten zu müssen. Als Autodidakt und in seinen entlegenen Garnisonen Gumbinnen und Bartenstein hatte er es schwer, an dem um die Wende des Jahrhunderts so regen Geistesleben teilzunehmen. Aber mit eisernem Fleiße, im Kampfe mit einem reizbaren Körper, niedergeschlagen oft durch das Gefühl der Schwäche, durch die Vorwürfe einer fast zu feinen Gewissenhaftigkeit, eignete er sich das ihm Homogene der damaligen deutschen Bildung zu festen, nie versagenden Maximen an. Die Goethesche Gedankenwelt blieb ihm fremd, die Kantsche Philosophie in ihrem ganzen Gedankengange zu erfassen, war ihm versagt. Aber Kants Forderungen, die empirischen Triebe der Lust zu unterdrücken, das ganze innere Leben durch die Vernunft streng zu regulieren und deren Herrschaft zur Herrschaft der Pflicht zu vertiefen, den Menschen als Zweck an sich und nicht als Mittel zu betrachten, ergriff er ebenso innig wie konsequent. Ihnen gemäß handelte er als Führer seiner Kompanie und trug er öffentlich 1799 seine Gedanken über die Reform der Militärstrafen vor; sie wurden ihm auch zum Wegweiser,
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der ihn Schritt für Schritt, schon vor 1806, der Forderung der allgemeinen Wehrpflicht zuführte. Er pries freilich damals daneben noch die Entwicklung der stehenden Heere zu ihrer scharfen Trennung vom bürgerlichen Leben als einen Fortschritt der Kultur, aber er forderte gleichzeitig auch, daß das Heer sich nicht mehr aus den Hefen des Volkes ergänzen dürfte, und er meinte schließlich, daß eigentlich keine andere Ausnahme von der Dienstpflicht stattfinden sollte, als daß man für ausgezeichnete Dienste höchstens dem Vater erlaubte, einen Sohn zu befreien. Und im allgemeinen war es damals wirklich sein ausgesprochener Gedanke, daß Heer und Volk sich in ihrer Denkweise einander nähern und voneinander lernen sollten. Dem weichlichen und genußsüchtigen Zeitgeiste gegenüber rühmte er die Männlichkeit des kriegerischen Berufes, in diesen hinein wieder wollte er den Bildungsund Wissenstrieb des Mittelstandes leiten, und einen gemeinschaftlichen Bildungsgang für jede höhere Laufbahn im Staate erklärte er für das beste Mittel gegen exklusiven Kastengeist. Die Katastrophe von 1806/07 brachte diese Gedanken vollends zur Reife und beseitigte die ihnen noch anhaftende Inkonsequenz. Hatte er vor 1806 von dem Kampfe mit Volksaufgeboten eine zu empfindliche Schädigung der materiellen und geistigen Kultur gefürchtet, so lernte er jetzt, daß die Ehre und Selbständigkeit der Nation ein Gut sei, für das kein Opfer zu teuer, für das die gesamte Volkskraft eingesetzt werden müsse. Mit tief versteckter Leidenschaftlichkeit, nach außen hin aber zähe, umsichtig und praktisch, arbeitete Scharnhorst auf das Ziel hin, Gneisenau tat es mit dem edlen Feuer und Schwünge einer Künstlernatur. Bei Boyen wirkte das innige, nach reinster Aufopferung sich sehnende Gemüt mit einem gewissen philosophischen Systemgeiste zusammen, der im Sinne Kants aus dem Heeresdienste alles auszumerzen strebte, was ihn als bloße aufgezwungene Last, als heteronome Satzung und nicht als autonome sittliche Pflicht jedes Bürgers erscheinen ließ. Darum fand die allgemeine Wehrpflicht ohne das schlimme Privileg der Stellvertretung und des Loskaufs in ihm denjenigen Verteidiger, der ihren tief ethischen Sinn am klarsten und zusammenhängendsten entwickelte. Freilich, lag nicht doch dieser Anschauungsweise eine Uberschätzung des konkreten Menschen zugrunde? Mußte nicht in der Praxis doch immer der Heeresdienst sich der großen Mehrzahl als eine nur aufgenötigte Bürde darstellen? Die Antwort ist, daß Boyen auf den veredelnden Einfluß der geistig und sittlich Höherstehenden hoffte, die nun Schulter an Schulter mit
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den schwächer und lauer Denkenden kämpfen würden. Und eine solche sittliche Einwirkung war allerdings möglich und hat sich bewährt in den festen Formen des organisierten Heeres, wo ihr die alten, in das Volksleben übergegangenen Traditionen von Gehorsam und Disziplin zu Hilfe kamen. Aber für das lockere Gefüge des allgemeinen Volkskrieges, wo Mann für Mann in rasch entschlossener Selbsthilfe die Waffe erheben sollte, versagte jene Tradition, und das extrem fordernde Landsturmgesetz von 1813 entzündete nicht die erhoffte Flamme. Boyen wurde darum nicht irre an dem Gedanken des Gesetzes; die Feigherzigen, die ihm widerstrebten, sollten, meinte er damals, das Bürgerrecht verlieren. Die Absicht enthüllt uns einen Kernpunkt seiner Bestrebungn, den großartigen Gedanken der Volkserziehung, nicht nur mit den gelinden Mitteln der Belehrung und Ermunterung, nicht nur durch begeisternden Aufruf, sondern, wo es nottat, auch mit strenger und entehrender Strafe. Der Gedanke war keineswegs von Boyen ganz persönlich erzeugt; in den Entwürfen Scharnhorsts und Gneisenaus von 1807 bis 1811, vor allem in des letzteren Vorschlage einer militärischen Jugenderziehung, kann man deutlich analoge Ziele und sogar auch die Einwirkung französischen Vorbildes wahrnehmen. Aber er paßte wohl in keines Anschauungsweise besser hinein als in die Boyens, der damit nur das eigene individuelle Moralprinzip, die strenge Regulierung des inneren Lebens durch den Imperativ der Pflicht, auf Volk und Staat übertrug. So zähe nun auch Boyen diese Idee festhielt, so war er doch nicht doktrinär genug, um etwa in der Weise eines französischen Jakobiners, ohne nach rechts oder links zu sehen, ihr allein noch nachzuleben. Das Wehrgesetz vom 3. September 1814, seine erste und größte Leistung als Kriegsminister, zeigt vielmehr glänzend seine staatsmännische Einsicht und weise Beschränkung. Es war ihm zunächst genug, die allgemeine Wehrpflicht und die Landwehr gesetzlich gesichert zu haben, und er verzichtete darauf, den doch noch aussichtslosen Kampf um das Landsturmgesetz von 1813 wieder zu erneuern. Zwei Faktoren haben, wie wir betonten, auf Boyens Bildung vor allem eingewirkt, die Erziehung im friderizianischen Staate und die Moralphilosophie Kants. Daß bei mancher Verwandtschaft doch ein bedeutender Gegensatz zwischen diesen beiden Mächten bestand, ist ihm nie klar zum Bewußtsein gekommen; er sah in Friedrich dem Großen immer nur den weisen, aufgeklärten, humanen Gesetzgeber, der den Reformen von 1806/07 vielfach schon die Wege gewiesen
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habe. Aber in der Heeresorganisation von 1814 schied er instinktiv in höchst frappanter Weise jene beiden Faktoren voneinander. Man hat sich später oft darüber gewundert, warum er stehendes Heer und Landwehr so streng auseinandergehalten habe, so daß eigentlich in Friedenszeit, wie man ganz richtig gesagt hat, zwei Armeen in Preußen nebeneinander bestanden. Er tat es einmal deswegen, weil ihm ein möglichst schlagfertiges stehendes Heer, das nicht zu lange auf die Einberufung von Beurlaubten zu warten brauchte, für die europäische Stellung Preußens notwendig schien, dann aber auch, weil er von dem eigentümlichen Charakter des Linienheeres einen ungünstigen Einfluß auf die Landwehr befürchtete. Wieviel moderne Elemente auch durch die Scharnhorstsche Reform und durch die Aufhebung der Kantonverfassung in das Linienheer kamen, wesentliche Attribute des friderizianischen Heeres blieben ihm doch, vor allem der aristokratische Geist des Offizierkorps und die Tendenz zum intensiven Drill des einzelnen Mannes und zum Parademäßigen, zu den »Künsten des Exerzierplatzes«, wie es Boyen nannte. Boyen unternahm es noch nicht, das Linienheer von ihnen selbst zu befreien, aber um Gottes willen sollten sie nicht in die Landwehr hinübergreifen. Wie eine Mutter die zarte Eigenart ihres jüngsten Lieblingskindes vor der rauhen Bevormundung der älteren Brüder schützt, so wachte er eifersüchtig darüber, daß nur ja nicht der Linienoffizier an die Spitze der Landwehrkompanie trete, der Divisionsgeneral der Linie im Frieden die Landwehrregimenter inspiziere und ihnen einen Geist einzuhauchen versuche, der ihm der Tod des Landwehrinstitutes schien. Das eigentliche Leben desselben aber sah er gewissermaßen in der Übertragung des Kantschen Moralprinzips auf das Verhältnis des Bürgers zum Staate. Der Imperativ der Pflicht, das Vaterland zu verteidigen, sollte sich jedem wehrhaften Bürger derart ins Herz schreiben, daß sein hingebender Eifer, seine Opferwilligkeit, seine Anhänglichkeit an Haus und Herd, die Bande des Vertrauens, die ihn mit den Nachbarn im Orte, die der Achtung, die ihn mit den höhergestellten Eingesessenen des Kreises verknüpften, den inneren Kitt der Landwehr bildeten. Die Landwehrordnung von 1815, die Befehle, die Boyen 1814 bis 1819 ergehen ließ, und eine Fülle eigener Niederschriften enthüllten uns ein genaues, überaus eindrucksvolles und groß gedachtes Bild der Landwehr, wie sie sich nun, in steter fruchtbarer Wechselwirkung mit dem Leben in Dorf und Stadt, entwickeln sollte. Da sollte der Landwehrmann unter dem Befehle von Offizieren, die in seinem Kreise angesessen, ihm auch
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im bürgerlichen Leben die Vertreter höherer Bildung waren, ins Feld ziehen. Die Landwehrreiterei dachte er sich aus Bauern, die mit ihren eigenen Pferden kommen sollten, zusammengesetzt. An Sonn- und Feiertagen sollten die Landwehrmänner sich vereinigen zum Scheibenschießen und zu kleinen anregenden Felddienstübungen. Inmitten der Landwehrbezirke lagen die Landwehrzeughäuser, die er gern befestigt hätte, damit sie, wenn der Feind einmal ins Land eindränge, Herde des Volksaufstandes werden könnten. Er forschte danach, wo wohl an wichtigen Pässen und beherrschenden Punkten alte Schlösser lägen, die man zu solchen Landwehrzeughäusern umwandeln könnte. Der Landwehrinspekteur, dem im Frieden die Aufsicht über Ausbildung und Dienst der Landwehr zustand, war fast wie ihr väterlicher Freund gedacht; der kommandierende General der Provinz über ihnen sollte gleich dem Oberpräsidenten eine staatsmännische Persönlichkeit sein, die sich in die Eigenart ihrer Provinz und ihrer Wehrkräfte verständnisvoll einlebte. Es ist eine Art Milizsystem, auf das im einzelnen auch ausländische Vorbilder eingewirkt haben. Die Anknüpfung an Scharnhorsts Ideen darf auch nicht außer acht gelassen werden, aber in seiner Totalität ist es das eigenartige Werk des Boyenschen Geistes. Ja, es zeigt auch in sich wieder, trotzdem es vornehmlich aus seinem Moralprinzip entsprungen ist, die für ihn so charakteristische Verbindung desselben mit friderizianischen Gedanken. Für die Hauptmasse der Landwehrmänner erachtete er die tüchtige militärische Erziehung im stehenden Heere unentbehrlich. Es war ein großer Segen für die Zukunft, daß er den in den ersten Entwürfen Scharnhorsts noch enthaltenen Gedanken, Linie und Landwehr auch in ihrem Ersatzmaterial voneinander zu trennen, nicht aufnahm. Aber auch im Kriege wollte er, damit zugleich an den Erfahrungen von 1813/14 festhaltend, Landwehr und Linie so vereinigen, daß je ein Linienregiment mit einem Landwehrregiment zusammen eine Brigade bildete. Eine noch merkwürdigere Verbindung kantischer und friderizianischer Gedanken aber war die zugrunde liegende Idee der Volkserziehung. Es war das von Friedrich dem Großen gegebene Beispiel der starken Staatsgewalt, der in das bürgerliche Leben tief hineingreifenden Wohlfahrtspolizei, des aufgeklärten Despotismus, das in Boyen Wurzel faßte. Der Geist, den er in die Nation hineinleiten wollte, war ja der einer nicht mechanischen, sondern aus innerer Überzeugung hervorgehenden staatsbürgerlichen Pflichterfüllung. Aber er dachte ihn sich unwillkürlich mehr von oben
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als von unten her entzündet, mehr als das Werk einer wahrhaft aufgeklärten Regierung, denn als die Blüte eines frei und mannigfaltig sich regenden Volkslebens. Der Staat, so meinte er, muß das bürgerliche sittliche Leben leiten, muß den jungen Bürger von früh an ergreifen, ihm eine bestimmte Weise des Denkens und Handelns beibringen und ihn sein ganzes Leben hindurch beschäftigen, indem er auch die bürgerlichen Berufe zu fassen und zu organisieren versucht. »Steckt jedem Staatsbürger«, sagte er, »für sein ganzes Leben ehrenvolle, aber stufenweise geordnete Ziele vor, die er mit seinen Kräften auch wirklich erreichen kann, und ihr werdet in kurzer Zeit einen Nationalcharakter bilden, der eine mächtige Stütze der Regierung wird.« So dachte er sich denn als Komplement der allgemeinen Wehrpflicht eine Kreis- und Kommunalordnung, die in ihrer phantastischen Ausgestaltung an einen utopischen Staatsroman erinnert, wie ihn wohl ein Staatsmann am Abend seines Lebens gern sich ausspinnt. Aber ihm war es bitterer Ernst damit, und es besteht ein genauer Zusammenhang zwischen diesem Idealbilde eines Nationallebens und dem, was er in eigener verantwortlicher Tätigkeit praktisch erstrebte. Der Grundgedanke war, daß die Begünstigung des Reichtums das verwerflichste Gesetzgebungsprinzip sei. Nur »große moralische Prinzipien, die Ausbildung achtenswerter Nationalsitte« dürfen das Gemeindeleben leiten, und dem Besitze sollte nur dann ein höherer Einfluß zukommen, wenn er sich mit guter Sitte vereinigte. Diese sollte die Vorbedingung schon zur Erwerbung des Bürgerrechts sein. Feigheit und anstößige Lebensführung sollten davon ausschließen, und Genossengerichte darüber entscheiden. Die Bürgerschaft sollte nach ihren Berufen in Gilden gegliedert werden, in denen man stufenweise, je nach Verdienst, aufwärtsschritte zu höheren Graden und größerem Einflüsse. In der »Lehrgilde« sollten zum Beispiel die Hausväter, die ihre Kinder bis zur Einsegnung vorwurfsfrei und gut erzogen hätten, sogleich einen bestimmten Rang erhalten, in der »Erwerbsgilde« sollten Meliorationen, Schuldentilgungen, regelmäßige Zahlungen in Sparkassen bestimmte Anrechte geben. Boyen schrieb diese Gedanken zu Anfang der dreißiger Jahre nieder, als die wirtschaftlich-sozialen Bewegungen in England und die auch in Preußen schon sich regenden Anfänge der modernen Großindustrie das Schreckbild der sozialen Frage heraufführten. Wie wenig stimmte diese ganz neue, erstaunliche, mit elementarer Gewalt und Notwendigkeit sich erhebende Welt des modernen Kapitalismus zu der jetzt schon altväterlich gewordenen
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Gedankenrichtung Boy ens; aber er hielt sein System für stark genug, um auch diesen wilden Strom zu bezwingen und zu regulieren. Er wollte seiner Erwerbsgilde eine wirksame Aufsicht über die Fabriken zuweisen, er dachte dabei schon an die Regelung der Kinderarbeit, an Beschaffung menschenwürdiger Wohnungen für die Arbeiter, an ihre Ausstattung mit kleinem Gartenlande, an zwangsweise Einzahlungen von Arbeitgebern und Arbeitern in die Sparkassen zugunsten der letzteren, an eine Organisation auch der Arbeiterschaft in Gilden mit bestimmten Rechten und Pflichten. Die Verbindung von Gekünsteltem und Unmöglichem mit genialen und zukunftsreichen Gedanken in diesem Plane mutet uns überaus seltsam an. Es ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie eine tief sittlich empfindende Natur durch ihre zu hoch gespannte Energie zu Folgerungen verleitet werden kann, welche jede wahre Sittlichkeit ertöten müssen. An die Stelle eines wahrhaft autonomen und innerlichen Handelns wurde hier eine schematische Werkgerechtigkeit gesetzt. Es war eine ungeheure Verkennung der menschlichen Natur und des modernen individuellen Empfindens insbesondere; denn der Mensch des 19. Jahrhunderts ließ sich noch weniger als der vergangener Zeiten durch Gesetzgebung und Sittenpolizei in eine bestimmte Schablone pressen. Es war zum Teil, wie gesagt, der aufgeklärte Despotismus und der unhistorische Rationalismus des 18. Jahrhunderts, der hier nachwirkte, zum guten Teil aber auch die warme Stimmung des Befreiungskrieges, die so gewissermaßen fixiert werden sollte. Wenn irgendwo jemals, so war damals das Ideal Boyens, der schlichte und biedere, in einfachen Lebensverhältnissen zufriedene, zur Verteidigung von Thron und Herd wehrhafte Bürgersmann Wirklichkeit gewesen, und in den Träumen patriotischer Männer jener Jahre findet man manche verwandte Ideen ausgesprochen 3 . Aber das war nur eine kurze, schnell vergehende Blüte gewesen, und eine bunte mannigfaltige, nicht durch so einfache Formeln mehr wiederzugebende Entwicklung hatte immer schon daneben sich geregt und entfaltete sich mit jedem Friedensjahre weiter. Und dabei war Boyen, ohne es sich bewußt zu werden, mit sich selbst in Widerspruch geraten; denn mit ganzer Seele hing er daneben an der Idee des unaufhaltsamen menschlichen Fortschritts. Ohnmächtig ist es, sagt er einmal in seinen 3 Vgl. meine Schrift: »Die deutsche Gesellschaft und der Hoffmannsche Bund (1891), S. 11 ff. [s. oben S. XIVJ.
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späteren Jahren, gegen die unbezwungene Riesenkraft der Zeit zu kämpfen, und unmöglich ist es, Normen zu finden, die für alle Zeiten passen. Und indem er deswegen gegen die Velleitäten der romantischen Staatsanschauung mit derbem Spotte kämpfte, konnte er es dabei selbst auf demjenigen Gebiete, auf dem ihre Stärke lag, mitunter mit ihr wohl aufnehmen und eine wahrhaft historische Einsicht offenbaren. Es erinnert an Rankesche Tiefe, wenn er den Bürokraten, die diese und jene Institution beliebig stellen und schränken zu können wähnten, zurief, »daß alle ins Leben gerufenen Institutionen durch ein höheres Gesetz als den einzelnen Willen, durch die Macht der aus ihnen sich entwickelnden Notwendigkeit ihre Richtung erhalten, die sich nicht durch einzelne Instruktionen zügeln läßt«. Er schrieb damit seinem Gemeindeverfassungsplane selbst die richtige Kritik. Es ist rührend, wahrzunehmen, wie er sich heiß bemühte, den Geist der modernen Entwicklung zu verstehen und ihm gegenüber Absolutismus, Bürokratie und Romantik zu seinem Rechte zu verhelfen, wie er nicht müde wurde, Friedrich Wilhelm IV. zu mahnen, die Sehnsucht des Volkes nach liberalen Reformen zu erfüllen - und wie er dabei nicht aus der Haut des Rationalisten heraus konnte. Die mächtige Einseitigkeit, mit welcher der Vollender des deutschen Rationalismus, Kant, die Herrschaft der Vernunft und der Pflicht konstituiert und das Mannigfaltige, Widerspruchsvolle, Imponderabile des Seelenlebens unterdrückt hatte, rächte sich jetzt an seinem Schüler. Die freie Entwicklung aller geistigen Kräfte hatte Boyen als Idee und Lebenszweck des preußischen Staates auf seine Fahne geschrieben, aber er selbst hatte die Konzentrierung des gesamten Seelenlebens unter das Gebot der staatsbürgerlichen Pflicht so weit getrieben, daß ihm darüber das Verständnis für ein wahrhaft freies und spontanes Geistesleben sich minderte, und indem er es unternahm, seine individuelle Maxime zum Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung zu erheben, auf Menschen rechnete, die eben nicht vorhanden waren. Aber in dem altmodischen Gewände war ein großer, fruchtbarer, unvergänglicher Gedanke. Er befähigte ihn auch zu jenen merkwürdigen sozialen Reformideen, deren teilweise Verwirklichung wir erlebt haben. Es war der große Gedanke Kants, die Achtung der sittlichen Menschenwürde, die Forderung, daß der Mensch auch von der Gesetzgebung nie als Mittel, sondern immer als Zweck an sich selbst behandelt werden müsse, der brennende Wunsch, der Herrschaft der Materie und des Egoismus, sei es nun der des Standes oder des
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Reichtums, entgegenzuarbeiten, das politische und soziale Leben auf den Geist der Freiwilligkeit und Pflichterfüllung zu gründen. Es war ja das Staatsideal der preußischen Reformzeit, von dem Boyens System eine individuelle Spielart darstellt, - unmöglich und sich selbst aufhebend, wenn man es sogleich und buchstäblich in die Wirklichkeit übersetzen wollte, aber ein fort und fort wirkender Impuls, ein Leitstern, den man nie verlieren durfte, auch wenn man sich klargemacht hatte, daß man ihn nie erreichen würde. Man weiß ja, wie auf dem Gebiete der bürgerlichen Verwaltung der Steinsche Gedanke der Selbstverwaltung nicht entfernt so verwirklicht wurde, wie er geplant war. So war es auch im Heerwesen mit den Boyenschen Ideen. In sein Landwehrideal wurde schon 1819 Bresche gelegt, Landwehr und Linie durch die Beseitigung der Landwehrinspekteure in engere Verbindung gebracht. Jene freiwilligen Sonntagsübungen der Landwehrmänner schliefen gar bald ein, und gegen die Führung der Landwehrkompanien durch Landwehroffiziere erhob sich eine stetig wachsende militärische Kritik. In dem jüngeren Nachwüchse des preußischen Offizierkorps fand Boyens System überhaupt wenig überzeugte Freunde. Die allmähliche Wendung zu einer kühleren und realistischeren Denkweise, welche die dreißiger und vierziger Jahre charakterisiert, kann man im preußischen Offizierkorps besonders früh wahrnehmen, so daß von diesem Gesichtspunkte aus dieser Stand, in dem die Liberalen den Hort der Reaktion sahen, eigentlich der modernste war. Hier konnte der neue Realismus unmittelbar anknüpfen an die nie vergessenen Traditionen der friderizianischen Zeit, und die Opposition der Kleist von Nollendorf, Marwitz, des Prinzen Karl von Mecklenburg und des Prinzen August von Preußen nahm der junge Prinz Wilhelm von Preußen 1832, nur in modernerer Sprache, wieder auf, als er das schwanke und lockere Gefüge der Landwehrbataillone, ihre Verbindung wenig geübter Mannschaften mit ungeübten Führern, mit der ihm eigenen hellen und präzisen Sachlichkeit kritisierte. Die Erfahrungen von 1848 bis 1850 zeigten dann handgreiflich die schweren Mängel des Landwehrsystems, seine Unzulänglichkeit zu einer starken offensiven Kriegführung. Es ist ja richtig, daß diese Mängel nicht bloß durch Boyens Organisation, sondern auch durch eine übel angebrachte Sparsamkeit mit verschuldet sind. Die historische Bedeutung der Reorganisation König Wilhelms aber besteht nicht nur darin, daß größere Mittel für das Heer flüssig gemacht wurden, sondern daß andere, moderne geistige Prinzipien
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durch sie zur Herrschaft kamen. Das eben lehrt die Eigenart des Mannes, der sie durchführte und die wir nun zu erfassen versuchen wollen. N u r ein Menschenalter trennt Boyen von Roon (1803 geb.), freilich eines, das die ungeheuersten Umwälzungen in sich Schloß. Die Generation Boyens war durch die ihr gestellte Aufgabe, den friderizianischen Staat mit den neuen Gedanken der deutschen Geistesbildung zu erfüllen, zum Reflektieren und zum Systembilden geradezu aufgefordert worden. Die erschütternden Krisen, die er in voller Manneskraft erlebte, schmiedeten auch seine Gedanken so fest zusammen, daß sie in den nun folgenden stillen Jahrzehnten sich wohl noch im einzelnen ausbilden, aber eine neue Wendung nicht mehr nehmen konnten. Roons Entwicklung dagegen fällt in eine Zeit ruhiger und befestigter Verhältnisse, in jene »halcyonischen« Jahre voll stiller Fruchtbarkeit, deren Ranke sich später so freudig erinnerte. Die Gemüter wurden nicht so bald in den Wirbelwind des öffentlichen Lebens hineingerissen, jedes Talent konnte sich in seiner Eigentümlichkeit langsam und stetig ausreifen. Das preußische Staatswesen war trotz der noch ungelösten Verfassungsfrage doch so weit schon reformiert und überhaupt so voll gesunden Lebens in seinen Adern, daß solche, deren Denkweise nicht gerade zum Radikalismus neigte, sich wohl und zufrieden in ihm fühlen konnten. Man bemerkt an vielen Gliedern des damals heranwachsenden Geschlechtes, die später eine Rolle gespielt haben, eine große Frische und Elastizität auch noch in höheren Lebensjahren, eine Fähigkeit, gewissermaßen noch umzulernen für neue Aufgaben, überhaupt eine aufgesparte Kraft. Und so konnten nun auch die Mächte des politischen und geistigen Lebens wieder schwellen und treiben, eine jede in ihrer Sphäre; oft, wo sie sich widersprachen, fast ungestört voneinander, - für den, der etwa ihre spätere Bewährung bei der Gründung des neuen Reiches hätte voraussehen können, ein erquikkender Anblick gesegneter Saatgefilde. Die Gedanken Goethes und der Romantiker wanderten in Wissenschaft und Kunst ihre friede- und freudenreichen Wege; es erstarkte und weitete sich auch das preußische Beamtentum, und wenn sich auch die politischen Ideale der Reformzeit nicht so verwirklichen konnten, wie sie gedacht waren, verloren waren sie nicht. Die allgemeine Wehrpflicht vor allem, wer bekämpfte sie noch ernstlich in ihrer Grundlage? Und dicht daneben erstarkte nun auch wieder eine ältere Wurzel, welche die Reformer von 1808 schon geglaubt hatten, ausroden zu müssen: der aristokratische
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Standesgeist des preußischen Offizierkorps. In ihn hinein wuchs Roon, aus ihm zog er seine Kraft. Er wurde ihm selbst dann nicht untreu, als er schließlich zur Entfaltung des ihm eingeborenen innersten Kernes über ihn hinaus wuchs. Roon war von Hause aus eine urwüchsige, sehnige Natur, die aber sogleich bereit war zur straffen Disziplin. Deutlich verrät sich das Geheimnis seines Wesens in den drei Dingen, die nach seiner eigenen Aussage auf Charakter- und Herzensbildung des Knaben entscheidend eingewirkt haben: die brausende Ostsee, deren Wellenschlag und Düneneinsamkeit sein Kinderauge in sich sog, die strenge Großmutter und Chappuis, sein Kompaniechef in der Kulmer Kadettenanstalt, der ihm Pflichtstrenge und Königstreue einprägte. Alles, was ich bin, was ich weiß und was ich kann, erklärte Roon später einmal im Abgeordnetenhause 4 , dazu ist in mir im Kadettenhause der Grund gelegt worden. Einflüsse der burschenschaftlichen Bewegung drangen vorübergehend in die Berliner Kadettenanstalt, aber Roons Natur widerstrebte instinktiv deren schwärmerisch-unklaren Gedanken. Auch Boyen hatte in seinen Jünglingsjahren in ähnlicher Lage sich von der »überspannten Freiheitsjagd« vieler seiner Altersgenossen nicht hinreißen, aber dabei gleichzeitig doch die neuen Gedanken mit fast leidenschaftlicher Teilnahme auf sich wirken lassen. Bei Roon nimmt man eine ähnliche Begierde für das, was außerhalb seines Standes und Berufes die Gemüter beschäftigte, nicht wahr. Er reflektierte nicht, aber alles, was er tat, trug, wie Chappuis rühmte, »das reine Gepräge frischer Jugendkraft des Geistes und des Körpers«. Und nannten, als er später Erzieher am Berliner Kadettenkorps wurde, die Zöglinge den strengen Lehrer wohl den »groben Roon«, so schlug doch in ihm ein überaus warmes Herz für Liebe und Freundschaft. Wurde diese Saite seines Innern berührt, dann konnte auch seine Phantasie die Flügel regen. Als politischer Redner befliß er sich später einer nüchternen, schmucklosen Sachlichkeit und vermied es fast, was Boyen auch in Dingen seines Amtes so gern tat, an das begeisterungsfähige Gemüt zu appellieren. Aber durch einfach große, hell glänzende Bilder entzückt er uns in seinen Freundesbriefen. Ohne die Liebe lieber Seelen, sagt er einmal in seinen jungen Jahren, ist's doch nur eine frostige Polarfahrt. Für Boyen und vielleicht für dessen Generation überhaupt ist charakteristisch eine innigere Verknüpfung des persönlichsten Empfindens 4
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und Denkens mit den Aufgaben des Berufes, bei Roon führen diese Sphären fast ein Sonderleben, eben weil das einigende Band der Reflexion fehlt. Während Boyens sinnige Denkweise den bescheidenen Wirkungskreis eines Subalternoffiziers mit dem milden Lichte des rationalistisch-kantischen Humanitätsgedankens sich erhellte und wohnlich machte, trug Roons brennender Ehrgeiz schwer an dem geisttötenden Einerlei des Garnisonlebens. »Welch' ein Danaidengeschäft«, seufzte er, »ewige Vorbereitungen und keine Tat.« Mehr, weil sein tätiger Geist nach Beschäftigung suchte, als aus innerem wissenschaftlichen Erkenntnisdrange warf er sich, von Karl Ritter angeregt, auf geographische Studien. Seine Arbeiten auf diesem Gebiete sind das rühmliche Zeugnis einer entschiedenen wissenschaftlichen Befähigung. Die wissenschaftliche Tendenz jener Zeit überhaupt und die Rittersche Methode insbesondere erkennt man in seinem ausgesprochenen Streben nach Vergeistigung der Materie, nach Verbannung alles Zufälligen. Die Art, wie er die physikalischen und klimatischen Fäden einwob in den oro- und hydrographischen Stoff, war bahnbrechend für den geographischen Unterricht. Aber ihn reizte dabei mehr die praktische Verwertung des Studiums, und indem er es versuchte, die Wissenschaft der Militärgeographie neu zu begründen, blitzte seine wahre Sehnsucht auf in dem Preise der Göttin der Kriegskunst, die ohne die Zwischenstufe des Wissens unmittelbar im vollen Waffenschmucke dem Haupte des Zeus entspringe 5 . So trat er in die tiefbewegte Zeit der vierziger Jahre ein, in sich klar und sicher, jeder Zoll ein Offizier und Aristokrat. Durch die feste Disziplin seines Charakters, der doch tief Leidenschaften in sich barg, war er so recht geeignet zum Leiter eines jungen Prinzen, wie Friedrich Karl, dessen schwerblütige, trotzige und selbstbewußte Natur zu ihrer Zügelung ebenso des kongenialen Verständnisses, wie der überlegenen Reife bedurfte. An dem strengen Royalismus und dem Standesstolze des preußischen Offiziers prallten auch zunächst die Wogen des öffentlichen Lebens vollständig ab, er verachtete sie als Journalistenund Literatenmache und erklärte am 17. März 1848: »Der ganze Spektakel hat gar keine Wurzel im eigentlichen Volke.« Aber in der Art, wie nun der ungeahnte Erfolg der Revolution auf ihn wirkte, zeigte es sich, daß er mehr war als ein hochmütiger und verständnisloser Junker. O b es ihm gleich war, als müsse er einen Teil seiner 5
Die iberische Halbinsel, 1839, S. I X .
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Persönlichkeit aufgeben, um an die bisher unbedingt verworfene »korruptible Repräsentativkonstitution« zu glauben, so tat er es doch mit festem Entschlüsse. »Jetzt mit allen Kräften in das neue Schiff - wenn auch mit gebrochenem Herzen.« Aber sein Herz war nicht gebrochen, er war jugendlicher und elastischer, als er selbst glaubte. Wenn Leopold v. Gerlach, ein Vertreter des älteren Geschlechts, damals durch die Kraft einer den ganzen Menschen durchdringenden Doktrin aufrecht erhalten wurde, so bewirkte das bei ihm die unmittelbare Verknüpfung mit einer ganz realen und gesunden Lebensmacht. »Ja, ich sage es unumwunden«, schrieb er am 25. März 1848, »das Heer, das ist jetzt unser Vaterland«, - »ein alter, edler Wein neben jungem gärendem Moste.« Das war ja der Gedanke Boyens und seiner Freunde immer gewesen, daß die allgemeine Wehrpflicht ein besseres Bollwerk gegen die Revolution sei, als die Polizeigewalt des starren Absolutismus, und zum guten Teile ihr Werk war dieses kernige und frische Heer, dessen Anblick damals Roons gesunkenen Mut zu froher Zuversicht wieder erhob. So bewährte sich jetzt das Werk von 1814, indem es Roon die Metamorphose des politischen Denkens, die er 1848 durchmachen mußte, erleichterte, aber allerdings in einer besonderen Weise, die jenes tiefe Wort Boyens bestätigte, daß alle Institutionen mehr durch die Macht der aus ihnen sich entwickelnden Notwendigkeit, als durch die Absichten ihrer ersten Urheber ihre Richtung erhalten. Denn Roons Blick haftete nicht sowohl an dem, was für Boyen die Hauptsache gewesen war, an der inneren idealen Grundlage der preußischen Heeresverfassung, an der Verknüpfung von Volk und Staat durch das Band einer gegenseitigen reinen und hohen Verpflichtung, nicht an der großen geistigen Bewegung, aus der Preußens Wiedergeburt nach dem Tilsiter Frieden hervorgegangen war, sondern an der greifbaren, scharfen Waffe, die damals durch das Bündnis des preußischen Staates mit dem deutschen Geiste gewonnen war, und an den Händen, die sie scharf und blank erhielten. Wenn er sagte, daß nur durch das Heer und namentlich durch seine Führer die nationale Kraft Preußens geschaffen sei, daß nur durch die Tätigkeit des preußischen Offizierkorps in den letzten 35 Jahren das preußische Volk eben das tüchtige, kampfbereite und wehrhafte Volk geworden sei, so war das ja nicht so ganz unrichtig, aber doch immer nur die Außenseite der Dinge. Aber so war Roon einmal, ein frischer, kraftvoller Realist. Er forschte nicht grübelnd, wie die Waffe, die er hielt, entstanden sei, und sah lächelnd auf die herab, die nicht das Zeug hatten, sie zu schwingen.
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Ja, meinte er, Klugheit und Mäßigung ist dem liberalismus vulgaris wohl eigen, aber er weiß nicht, daß zum Herrschen noch ganz andere Eigenschaften erforderlich sind. So ist das Jahr 1848 wie für Bismarck, so auch für Roon von entscheidender Bedeutung geworden. Gegenüber der tobenden, aber mit zerbrechlichen Waffen kämpfenden Demokratie, gegenüber den Reden ohne Taten des gemäßigten Liberalismus kam ihnen die Fülle der Machtmittel, welche der preußische Staat in seinem Heere hat, auf das stärkste zum Bewußtsein, nicht minder stark dabei aber auch das Mißverhältnis zwischen der tatsächlichen inneren Stärke Preußens und seiner äußeren politischen Bedeutung. Und in den stillen fünfziger Jahren gelangte Roon zu der Überzeugung, daß die Beseitigung des deutschen Dualismus, die Einheit Deutschlands unter Preußen »wesentlich und eigentlich Deutschlands historisch-politische Aufgabe sei.« Um sie zu lösen, mußte man freilich auch der anderen großen Lehre des Jahres 1848, des Zusammenbruchs des absolutistischen Prinzips, eingedenk bleiben. Haftete sie aber bei Roon wirklich auch so fest, wie es nötig war? Er machte bei seiner Berufung ins Ministeramt kein Hehl daraus, daß er von der ganzen konstitutionellen Wirtschaft niemals etwas gehalten hätte, und man wird eigentümlich berührt, wenn er während der Konfliktzeit einmal erzählt, daß er die Geschichte Straffords studiere. Eine höchst bedenkliche Doktrin, die einem Strafford Ehre gemacht haben würde, entwickelte er dann einmal in den Anfängen des Kampfes, 1861. Die Verfassung, meinte er, sei das Ergebnis des freien Willens des Königs und zwar gewissenshaft zu erfüllen, aber nicht als unaufschiebliche Vertragsverbindlichkeit, sondern vielmehr als freiwillig übernommene Verpflichtung für die Zukunft, deren tatsächliche Erfüllung an die fernere freie Entschließung des Königs geknüpft sei. Aber so unsympathisch ihm der Konstitutionalismus im Grunde blieb, ein starrer Fanatiker des Absolutismus war er darum doch nie. Wie 1848, wollte er auch 1859 die vollbrachten Tatsachen anerkennen und gut konstitutionell handeln, wofern man nur an dem, worin er nun einmal den stärksten Pfeiler des Staates erblickte, an dem Heere, nicht rüttelte und rührte. Wie sehr irrten aber dabei diejenigen seiner Gegner, die in ihm nur den Wortführer für die egoistischen Interessen des junkerlichen Offiziertums und der zünftigen Routine des Militarismus sahen. Solange er in dieser Routine sich bewegen mußte,
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verlangte sein Herz nach stärkeren »Hebeln für den inwendigen Menschen«; denn er war keiner von den Boyen so verhaßten Paradesoldaten, die in dem wohlgelungenen Drill und den blanken Bildern des Exerzierplatzes schwelgten, und dem aristokratischen Standesgeiste des Offizierkorps blieb er deswegen hold, weil er seiner eigentümlichen Denkweise nach nun einmal das Mark des Heeres in dem einheitlich erzogenen, fest disziplinierten und feste Disziplin nach unten hin ausübenden Offizierkorps erblickte. Er gab es immerhin zu', daß das Kadettenkorps eine gewisse Einseitigkeit in die Bildung der jungen Leute bringe, aber eine solche Einseitigkeit habe auch den Vorzug, daß sie für ihren Zweck schneidiger werde als jede Universalität, die sich eben nicht eines bestimmten Zieles bewußt sei. Eine Anschauung, die, wenn sie weiter um sich griff, den alten, von den Reformern so beklagten Riß in Bildung und Denkweise der höheren Stände wieder erneuern konnte. Roon kam diese Gefahr nicht zum Bewußtsein, er lehnte die Besorgnisse, die man ihm in dieser Hinsicht entgegenhielt, rundweg ab. Er leugnete, daß eine Kluft zwischen Heer und Nation sich bilde, und die äußeren Symptome, aus denen auch maßvolle Beobachter die Existenz einer solchen folgerten, führte er lediglich zurück auf die Reizung des berechtigten Selbstgefühls der Armee durch die vordringende agitatorische Demokratie. Es ist danach wohl verständlich, daß die Schöpfung Boyens, die mehr auf sittlichen Impulsen als auf technischer Routine basierte Landwehr, in seinen Augen eine durch und durch falsche Institution war, ohne wahren Soldatengeist und Disziplin. Er hätte sie am liebsten ganz aufgehoben, wie seine große Denkschrift für den Prinzregenten von 1859 zeigt. Daß er dann doch, dem Wunsche des Prinzregenten sich fügend, das unter Bonins Verwaltung ausgearbeitete Projekt, nur die jüngsten Jahrgänge der Landwehr in die Linie einzuverleiben, annahm und durchführte, zeigt aber, daß er auch auf diesem seinem eigensten Gebiete kein eigensinniger Doktrinär war. Genug, daß das wesentliche gewahrt blieb, daß die Feldarmee fortan eine in sich ganz homogene, von oben bis unten für ihren Beruf durchgebildete Streitmacht wurde. Aber auch die starke Einseitigkeit des Berufssoldatentums war noch nicht der letzte und höchste Gedanke seiner ministeriellen Wirksamkeit. Er wollte nicht nur, daß das Schwert geschärft, sondern auch, daß es dereinst gezogen würde. Nicht, daß er mit der bestimmten Absicht 6
Reden, I, 25 (18. Mai 1860).
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in das Ministerium trat, auf eine Lösung der deutschen Frage durch das Schwert direkt hinzuarbeiten. Seine Selbstbeschränkung auf die nächsten, nötigsten Ziele zeigt sich gerade in seinem anfänglichen Entschlüsse, sich in das rein politische Gebiet nicht hineinzumischen, aber der Untergrund seines Denkens war damals die Uberzeugung, daß Preußen über kurz oder lang heraustreten müsse auf die Walstatt, daß es die Schmach von Olmütz sühnen und Geschichte machen müsse. Was aber war ihm Geschichte? Worin sah er den historischen Beruf Preußens? »Wenn ich die Geschichte«, sagte er, »mit Nutzen gelesen habe, so ist ihr Hauptinhalt nichts anderes, als der Kampf um Macht und Machterweiterung 7 .« Ähnlich rief er es dem Könige im April 1861 mit Worten wie von blinkendem Stahle zu: »Zwei Wege haben wir, um aus dem Wirrsal herauszukommen. Der eine heißt Nachgeben; im Hintergrunde winkt eine Bürgerkrone, und Preußen wetteifert vielleicht künftig mit Belgien in den materiellen Segnungen einer unhistorischen Existenz. Der andere heißt Geltendmachung des gesetzlich berechtigten königlichen Willens. Er führt auf anfangs rauher Bahn, aber mit allem Glanz und aller Waffenherrlichkeit eines glorreichen Kampfes zu den beherrschenden Höhen des Lebens.« Aber das war nicht die rohe Herrschsucht des Despoten, sondern die veredelte Pleonexie des Aristokraten, der sich selber vor allem in Disziplin hält und überzeugt ist, daß die Dinge dieser Welt am besten bestellt sind, wenn die Massen von der überlegenen Energie und Einsicht einer dazu erzogenen Minderheit beherrscht werden. Wie er selbst seine Leidenschaften fest im Zügel hielt und im Kampfe mit seinen politischen Gegnern gleichsam wie ein Feldherr operierte, der nur mit seinen disziplinierten Truppen, aber nicht mit den elementaren Gewalten des Volkskrieges kämpfen will, so sollte auch das Heer die Kraft und Intelligenz der ganzen Nation zusammenfassen in der Hand eines straff organisierten Offizierkorps, so sollte auch im Staate die Obrigkeit mit entschlossener Energie und Konsequenz ihre Macht gebrauchen, so sollte auch im weiteren deutschen Vaterlande die Herrschaft des stärksten und diszipliniertesten Staates begründet werden. Und er glaubte auch alle widerstrebenden Gewalten der modernen Zeit mit solcher Herrscherweise niederzwingen zu können, wie in den Konfliktsjahren die Demokratie, so später in den siebziger Jahren den Sozialismus und Anarchismus. Ein König, der ein tapferer Mann ist, 7
Reden I, 234 (12. Sept. 1862).
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sagte er 1862 recht aus seiner Denkweise heraus, kann alles, er kann Zauberdinge tun. Von einer direkten Beeinflussung der Wahlen durch die Regierung versprach er sich damals einen unfehlbaren Erfolg 8 . Zornig wallte nach den Attentaten von 1878 seine alte Verachtung für die idealistischen Torheiten des Liberalismus wieder auf. Mit dem Messer, sagte er, müsse man die geilen Auswüchse des politischen Daseins ausschneiden, dann werde man auch das Leben des Reiches und Volkes wieder zur Gesundheit zurückführen. Er vertraute unbedingt dem Erfolge einer kräftigen Gesetzgebung für Presse und Vereinswesen, wenn auch nicht mit einem Schlage, so doch nach und nach durch konsequenten richtigen Kalkül. So konnte er, mitten im Kulturkampfe, auf einer Reise in Sizilien, selbst dem Papismus eine sympathische Seite abgewinnen und ihn als eine wirksame Polizeiinstitution, als eine Kette, welche die Bestie bisher gezügelt hätte, schätzen. Und wenn er auch damals einsah, daß mit Gesetzesparagraphen allein noch nichts zu machen sei, daß es auch der sittlichen Hebel des Christentums bedürfe, so ist es doch höchst charakteristisch für ihn, daß er dabei nicht an die von innen, aus dem Gewissen hervorgehende Sittlichkeit denkt, sondern an die »autoritative Kraft«, welche jene Hebel in Bewegung setzen müsse. In ihm lebte jenes Christentum, welches so gut zu einer antidemokratischen Staatsanschauung paßt, indem es tief überzeugt ist von der Sündhaftigkeit aller Kreatur und daß die strenge Zuchtrute nun einmal notwendig sei, um die bösen Mächte im Zaum zu halten. Wie weit lag dieser Pessimismus auch wieder ab von der gläubigen Zuversicht Boyens auf den von Gott in den Menschen gepflanzten Keim des Guten. Man sieht, was ja bei tieferen Naturen sich von selbst versteht, daß die Unterschiede ihres politischen Denkens auch auf religiöse Wurzeln zurückgehen. Der Gegensatz ist wohl wert, daß man ihn noch genauer ins Auge faßt. Die systematisierende und verbindende Denkweise Boyens schuf sich auch eine Weltanschauung, in der kein Riß war zwischen Gott und Menschheit, wo der strebenden Menschenseele immerdar, ohne mystische Vermittlung, die gütige Vaterhand sich entgegenstreckte und der Mensch durch Zusammenwirken der eigenen Anstrengung mit göttlicher Hilfe hoffen konnte, zu immer höheren Stufen des geistigen und sittlichen Lebens emporzusteigen. Roon dagegen, trotz seiner disziplinierten Außenseite im Grunde, 8
Aus dem Leben Th. von Bernhardis, 4. 211.
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nach seinem eigenen Geständnis, eine mehr instinktive Natur, konnte den inneren Kampf seiner Leidenschaft und seines Lebensdranges mit dem geoffenbarten göttlichen Gebote nicht durch eine so harmonische und milde Lösung schlichten. Er sehnte sich aus tiefster Seele nach einer solchen Lösung, aber er glaubte sie doch nur im Jenseits möglich. Ο wie eitel, rief er im Zwiegespräch mit seinen vertrauten Freunden aus, sind alle unsere Wünsche, aller Glanz und Schimmer unseres dunstigen, frönerischen Erdendaseins im Vergleich mit der uns verheißenen ewigen Herrlichkeit! Hienieden ist der Mensch wie ein Vogel ohne Flügel. Sooft er auch nach oben aufflattert, sooft fällt er auf den gemeinen Boden dieser armen und doch so schönen Erde zurück. In der schwersten Stunde seines Lebens, beim Ausbruch des Krieges 1866 als sein Freund Perthes in Treu warnen zu müssen glaubte vor der Entfesselung des Bruderkrieges und dem Bündnis mit den revolutionären Ideen, trat ihm dieser Zwiespalt zwischen Welt und Gott wie ein gähnender Abgrund vor die Seele. Er glaubte, was sich jetzt vorbereitete, nur erklären zu können aus dem Schriftworte: Die Sünde ist der Leute Verderben. Er fühlte auf das schärfste den furchtbaren Widerspruch der christlichen Bruderliebe mit der Pflicht, den Gegner niederzuschmettern, aber er ging darum doch mit festem Schritte vorwärts. Denn um das Große und Neue hervorzubringen, sei auch das Entsetzliche dabei nicht zu vermeiden, und wenn der Kampf einmal entbrannt sei, walte rücksichtslos das rohe Naturgesetz der Selbsterhaltung. Es war dabei, wie stark auch dieses Bewußtsein des Widerspruches zwischen göttlichem Gebot und irdischer Handlungsweise war, doch noch etwas von jener naiven mittelalterlichen Ritterlichkeit in ihm, die Gott am liebsten mit dem Schwerte dient. Er verglich selbst einmal seinen Zustand mit dem eines Kämpfers im Gottesgericht. Jedenfalls konnte er nicht kämpfen ohne die ihn ganz durchströmende Uberzeugung, daß auf den Zielen seines Handelns Gottes Segen ruhe, daß er ein Werkzeug des Höchsten sei. Aber es gehörte dann allerdings eine außerordentliche Energie, ein brennender Drang, vorwärts zu kommen, dazu, um in zweifelhaften Fällen über zartere Fragen des Rechtes hinwegzugehen. Nicht erst nach Bismarcks Eintritt in das Ministerium handelte Roon danach. Daß er vielmehr für jenes Berufung so nachdrücklich arbeitete und ihn dann auch in seiner äußeren Politik so entschieden unterstützte, bewirkte eine von Hause aus vorhandene Verwandtschaft des Denkens. Ähnlich wie Bismarck von Gerlach, so wurde Roon von seinem Freunde Perthes zuweilen gemahnt, das
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Machen nicht über das Werden zu stellen und die Forderungen des legitimen Rechtes nicht zu verletzen. Aber wie hätte damit etwas erreicht werden können. Ich war stets der Meinung, sagte Roon im Mai 1862, daß unsere kurhessische Politik seit 1859, diktiert vom Popularitätsschwindel, eine falsche und übergreifende war. Aber wir haben sie gemacht und müssen darum auf demselben Wege vorwärts. Besser verbluten als verfaulen. So ward für ihn auch die schleswigholsteinische Frage, ebenso wie für Bismarck, mehr eine Frage der Macht als des Rechtes'. Und als er dann zu den beherrschenden Höhen des Lebens hinaufgestiegen war, als das staubige Gewühl des Kampfes, das sooft ihn mit Ekel und fressendem Grimm erfüllt hatte, weit hinter ihm lag, wie offenbarte sich da seine Natur? Mannigfaltig, nicht ohne Widerspruch, aber immer elementar, echt und groß. Auf dem Schlachtfelde von Königgrätz wurde sein Herz von Dank gegen Gott bewegt, und er konnte sich doch nicht so recht freuen, weil er an den Gefechts- und Schlachttagen sich keinen besonderen Dank hatte verdienen können. Als er dann wieder an der Stätte seiner Kindheit weilte und die Dünen durchkroch, die ihm als Kind wie himmelhohe Berge erschienen waren, da wurde ihm, dem sonst so wenig Sentimentalen, eigen zumute. »Die See aber hatte das alte Gesicht und das alte Lied.« Perthes hatte ihn dazwischen einmal wieder mahnen müssen, seinem unerschöpflichen Drange, zu produzieren, Schranken zu setzen. Aber auch in seinem eigenen Inneren legten sich jetzt die Wellen. Mir ist sehr abendlich zu Sinne, schrieb er 1868 seinem Freunde Blankenburg aus Lugano, die Sehnsucht nach Ruhe erfüllt alle Tiefen meines Herzens. Er sah zurück in sein von Ruhm und Erfolg gekröntes Leben, aber der Rückblick war ihm nicht erquicklich. Wieviel Sünden, Verkehrtheiten und Zerrbilder, klagte er, die man einst für Meisterstücke zu halten geneigt war! So blieb auch ihm, der so wenig zu Kontemplation und asketischer Selbstquälerei taugte, die faustische Erfahrung nicht erspart: »Er, unbefriedigt jeden Augenblick.« Nach Charakter und Denkweise kommt wohl von den Staatsmännern des neuen Reiches keiner dem größten unter ihnen so nahe wie Roon. Wir haben es nur vermieden, die Parallelen mit Bismarck stärker zu betonen, um der aus eigener Wurzel hervorgehenden Natur Roons ihr volles Recht widerfahren zu lassen. Um einen Grad war 9
Vgl. auch: Aus dem Leben Th. von Bernhardis, 5, 164.
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auch der ältere Roon, wenn man so sagen darf, unmoderner als Bismarck. Der »verwegene Steuermann« der liberalen Ära nach 1866 mit seiner souveränen Verachtung seiner Umgebungen, mit seiner Gleichgültigkeit gegen die Parteiprinzipien erregte in ihm mitunter düstere Sorge um die Zuverlässigkeit des von ihm errichteten politischen Gebäudes. Aber dieser Unterschied erscheint nur als leichte Nuance, wenn wir den Abstand ausmessen, der Roons und Boyens Gedankenwelt trennte. Ein Gemeinsames wird allerdings schon auch hier in die Augen gesprungen sein: die fast zur Glaubensgewißheit sich steigernde Zuversicht, daß eine starke und umsichtige Regierung im Inneren auch erreiche, was sie wolle. Darin lebten beide noch von der geistigen Erbschaft Friedrichs des Großen. Aber sehr verschieden war, wie wir sahen, das Ziel dieses Wollens. Für Boyen war es der intensivste Bund zwischen Staat, Volk und Individuum, den man sich denken kann, zusammengehalten durch das in aller Herzen lebende Ideal der Humanität und des Sittengesetzes. Für Roon die straffe Konzentrierung der nationalen Kräfte für die Zwecke von Macht und Herrschaft, so daß Volk, Aristokratie und Königtum sich zueinander verhielten wie Soldaten, Offizierkorps und oberster Führer eines Regimentes. Wir können jetzt die am Eingang aufgeworfene Frage wieder aufnehmen. Wenn Max Duncker 1863 zu Theodor v. Bernhardi sagte, es sei jetzt aus der Heeresfrage ein Kampf um Prinzipien, ein Ständekampf des Bürgertums gegen das Junkertum geworden, so lag wirklich ein Teil Wahrheit darin. Aber es war nicht die ganze Wahrheit. Das Große und Charakteristische von Roons und Bismarcks Politik liegt darin, daß sie zwar die Herrschaft einer Aristokratie, aber einer überaus weitsichtigen, politisch denkenden begründeten. Sie verstanden es, aus den Ideen, die eine im Ursprung unaristokratische, antiständische Geistesbewegung in Deutschland erzeugt hatte, diejenigen auszuwählen und in ihr Siegesgefährt einzuspannen, welche politisch verwendbar und wirksam waren. Der Art, wie Bismarck den nationalen Gedanken gewissermaßen einfing, entspricht genau die Art, wie Roon die Idee der allgemeinen Wehrpflicht ausgenutzt hat. Er half beseitigen, was unpraktisch und ideologisch an ihr war, und freute sich dann des scharf geschliffenen Schwertes, dessen Griff nun ganz und gar in der Hand des Kriegsherrn und seiner auserlesenen Vasallen lag. So benutzten sie meisterhaft die Ideen, die sie doch nicht mit geschaffen hatten. Das war ihre Stärke und ihre Schwäche, deswegen
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konnten sie auch nicht in ein ganz innerliches Verhältnis zu ihnen treten. Naturwüchsiger und naiver als die meisten der Staatsmänner von 1813, haben sie doch deren wundervolle Harmonie lind Innigkeit der geistigen und politischen Uberzeugungen nicht wieder erreicht, und Boyen hätte seinem praktischeren Nachfolger wohl zurufen können: »Allein bedenk' und überhebe nicht Dich Deiner Kraft!«
Das Zeitalter der Restauration Aus: *Deutsche Gedenkhalle«, hrsg. von Julius v. Pflugk-Harttung (1906) S. 319 ff. Wiederabdruck: *Preußen und Deutschland' (1918) S. 167-177. Es sind die Zeiten einer Windstille zwischen zwei Sturmperioden, in die wir eintreten, die Zeiten unserer Großväter, auf die der moderne Mensch vielfach mit einem merkwürdigen Stimmungsgemisch von überlegenem Spott, Vergnügen und Achtung zurücksieht. Manchem erscheint diese »Biedermeierzeit« gerade gut genug, um mit ihr ein tändelndes Spiel zu treiben, wobei sich dann freilich wohl ein Stück Sehnsucht und das Gefühl einmischt, daß jene Zeit Werte gehabt hat, die wir nicht mehr in gleichem Maße haben. Und so knüpfen denn so manche Bestrebungen von heute, die uns das Leben wieder innerlich wärmer und schöner machen wollen, an die Zeiten der Großväter wieder an. Es ist nicht die Aufgabe der Historie, solchen Lebensbedürfnissen der eigenen Zeit unmittelbar zu dienen. Aber sie kann ihrerseits Nutzen ziehen aus ihnen, denn jede neue Wandlung in dem gemütlichen Verhältnis der Gegenwart zu irgend einer vergangenen Epoche wir-ft auch ein neues Bild von ihr an die Wand und läßt Züge, die man bisher weniger beachtet hat, schärfer hervortreten. So sehen wir die damaligen Menschen heute, man möchte sagen, mehr in ihrer malerischen Eigentümlichkeit, mit ihren freien Zügen, die wohl eine innere Bewegung, aber vor allem eine innere Sammlung verraten; in ihrem altmodischen Kostüm, das Farbiges und Weiches mit einer beinahe höfisch steifen Gebundenheit vereint; in ihren Gärten und Landhäusern von traulicher Freundlichkeit und edlen, ruhigen Linien, die so ungezwungen entwickelt scheinen aus dem geschmückteren Stile der vorangegangenen Kunstepochen. Allenthalben spürt man alte sichere Tradition zugleich und eigenes inneres Leben, einen aristokratischen Grundzug, namentlich ein Fortleben der alten europäischen Aristokratie des Standes, aber verfeinert und gemäßigt durch eine neu hinzugekommene Aristokratie des Geistes. Wenn man die edlen, beinahe zu gleichmäßig edlen Porträtköpfe der Rauchschen Bildhauerkunst einmal beieinander gesehen hat, wenn man die entzückenden Aufzeichnungen Leopold von Rankes über die Zeiten der »halkyoni-
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sehen Windstille« zwischen 1815 und 1830 gelesen hat, so vergißtman den eigenartigen Duft dieser Zeit nicht wieder. Sie wird beleuchtet von der Abendsonne des Goetheschen Genius. Was Goethe in ihr schuf, trägt auch unverkennbar mit die Eigenheiten des Zeitalters, die maßvolle, vornehme Haltung, den beruhigten und abgeklärten Blick in die Lebenstiefen. Unter dem jungen Nachwuchs von Dichtern, der ihn umgibt, ist ja, wenn man von Eduard Mörike absieht, kein einziger wirklich Großer, aber die Poesie ist eine Macht im Leben, von Vielen gepflegt, von Unzähligen genossen, eine edle und keusche Muse. Vielleicht ist in der damaligen deutschen Dichtung mehr Nachklang früherer, stärkerer, produktiverer Epochen, denn auch die immer noch moderne Romantik hat ihre fruchtbarste, frischeste Zeit eigentlich schon hinter sich, aber dafür bewähren sich ihre Gedanken überaus schöpferisch auf dem Gebiete der Geisteswissenschaften. Man sieht die Vergangenheit nicht mehr als ein dunkles Chaos an, das dem Lichte des eigenen Vernunfttages vorherging, sondern als den mütterlichen Boden, den man mit Liebe und Achtung durchforscht, selbst mit einer »Andacht vor dem Unbedeutenden«, mit zu viel Gemüt und Phantasie, oft aber auch mit einer reinen und hingebenden Kontemplation, die zu den herrlichsten wissenschaftlichen Resultaten führte. So erschloß Ranke in seinen Erstlingswerken das Verständnis für die innere Einheit der romanisch-germanischen Völkerwelt und zugleich für ihre bunte Mannigfaltigkeit in der Einheit, für die gemeinsamen Ideen, die »großen Atemzüge dieses unvergleichlichen Vereins« und zugleich für die Unvergleichbarkeit und den Eigenwert einer jeden Epoche und Nationalität. Die Gebrüder Grimm drangen sinnig und tief, und dabei immer streng wissenschaftlich, in den Geist des deutschen Altertums. Bopp und Wilhelm von Humboldt begründeten die vergleichende Sprachwissenschaft, der Geograph Karl Ritter leistete Ebenbürtiges für sein Gebiet. In diesen induktiv-historischen Studien verband sich die von der Romantik genährte Liebe für die tieferen Wurzelschichten der geschichtlichen Menschheit mit den seit Kant in Deutschland wirkenden philosophischen Impulsen, mit dem Drange nach Gesamterkenntnis und nach Erkenntnis zumal des Zusammenhanges geistiger und natürlicher Erscheinungen. Und durch ihr Vorgehen dabei begannen sie schon tatsächlich die Stellung derjenigen Philosophie zu untergraben, die damals vielerorts als die höchste Leistung philosophischen Denkens galt, die Hegeische. Sie untergruben deren deduktive konstruierende Methode durch ihr anschmiegen-
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des Eindringen in die Dinge selbst. Aber sie empfingen dabei auch ihrerseits von der Hegeischen Geschichtsphilosophie wirksamste Anregungen. Auch Hegel sah in seiner Weise, was die Romantiker sahen, das innere Zusammenwirken von Staat, Kunst, Religion und Volksgeist. Auch ihm galt es als Aufgabe, selbst »in den verkümmertsten Gestalten ein Moment des Geistigen aufzusuchen«. So arbeitete man sich auf dem Gebiete des geistigen Lebens von sehr verschiedenen Ausgangspunkten aus in die Hände. In diesen Bestrebungen liegt die beste Kraft des damaligen Deutschland. Es schien fast so, als habe sich die deutsche Nation nur deswegen in erschütternden Kämpfen von der nivellierenden Universalmonarchie Napoleons befreit, um als Volk der Dichter und Denker seinem eigensten Genius ungestört dienen zu können. Es schien fast so, wie Wilhelm von Humboldt zu Ende des Jahres 1813 sagte, daß die politische Zerstükkelung Deutschlands die Voraussetzung für die schöne Mannigfaltigkeit seiner Bildung sei, als könne man diesen Vorzug nur bewahren, wenn Deutschland sich begnüge, ein bloßer Staatenverein zu sein, als sei die Bundesakte von 1815 also die richtige Verfassung für Deutschland. Die nationale Kultur schien auch bei ihr und gerade unter ihr gedeihen zu können, und die politische Entwicklung Deutschlands, die in jahrhundertelanger Arbeit ein Nebeneinander lebensfähiger, zum Teil sehr festgefügter Territorialstaaten erzeugt hatte, schien auch nur zu einem defensiven Bunde, aber nicht zu einem geschlossenen Nationalstaate hinzudrängen. Was der Deutsche an Patriotismus und Staatsgefühl besaß, rankte sich zumeist an der Geschichte und der Verfassung des engeren Heimatlandes empor. Aber es wuchs auch schon darüber hinaus. Jene Gefahr, in welcher die Eigenart der deutschen Geistesbildung unter der Herrschaft Napoleons geschwebt hatte, führte manchen Tieferdenkenden zu der Uberzeugung, daß nur eine festere politische Einigung Deutschlands sie dauernd schützen könne. Wie hätte nicht auch die romantische Bewegung, die ausging von dem natürlichen Zusammenhange der Volksgemeinschaft, von der Pflege heimischer Volksart, von dem trauten Reize der Muttersprache und den väterlichen Sitten, zu politischen Wünschen und Phantasien von Wiedererweckung deutscher Kaisermacht führen sollen. Und eine dritte Wurzel politisch-nationaler Hoffnungen lag in den Einwirkungen der französischen Ideen von 1789, in den Gedanken der Volkssouveränität, den politischen Ansprüchen der mündig werdenden Gesamtnation. Eine eigene Verbindung dieses
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liberalen und jenes romantischen Hungers nach Nation war in der deutschen Burschenschaft der Jahre 1815-19, - jugendlich unreif und politisch nicht haltbar, die aber auch nach deren Unterdrückung durch die Karlsbader Beschlüsse von 1819 als eine starke Unterströmung fortlebte. Eben durch diese Karlsbader Beschlüsse mit ihrer geistlosen Maßregelung der unbequemen Regungen in Universitäten, Literatur und Presse bewies aber auch der Deutsche Bund seine Unfähigkeit, eine nationale Mission auszuüben und dem nationalen Geistesleben jenen Schutz zu gewähren, der die Begründung eines strafferen Nationalstaates in den Augen vieler hätte überflüssig machen können. Es war nun nicht bloß die Sorge vor den unitarischen Tendenzen der jungen Generation, welche die auf ihre Souveränität stolzen Regierungen Deutschlands zu den Karlsbader Beschlüssen trieb, sondern diejenigen Regierungen, welche die Hauptverantwortung für sie trugen, die österreichische und die preußische, fürchteten vor allem das liberaldemokratische Element der Bewegung. Sie fürchteten eine Wiederholung der politischen und sozialen Revolution von 1789 auf deutschem Boden. In der Tat gab es um 1819 in Deutschland vereinzelte revolutionäre Fanatiker, die nicht nur, wie Sand, das Zeug zu einem Tyrannenmörder, sondern wohl auch zu einem Konventsmann hatten. Aber wie wenig war die Nation im ganzen darauf gestimmt. Die breiten Massen des Bürger- und Bauerstandes, reichlich auch in Anspruch genommen durch die Wiederherstellung des zerstörten Wohlstandes, waren wohl schon von allerlei Wünschen nach politischen und sozialen Vorteilen, aber vor allem auch noch von einer patriarchalischen Ergebenheit gegen die angestammten Dynastien erfüllt. Die politische Bewegung war noch im wesentlichen beschränkt auf einen Teil derselben sozialen Schichten, die auch die Träger des geistigen Lebens waren. So hofften aber auch die Regierungen, das gefährliche Feuer jetzt rasch austreten zu können, bevor es die unteren Stockwerke ergriff. Und gegenüber diesen ersten politischen Aspirationen des gebildeten Bürgertums stützten sie sich nun erst recht auf die alte Aristokratie, die im 17. und 18. Jahrhundert dazu erzogen worden war, dem Fürsten zu dienen und für diese Dienste durch Erhaltung ihrer Herrenstellung gegenüber Bauer und Bürger belohnt worden war. Aber das war nun die große Frage, ob diese feudal-aristokratischen Mächte der Gesellschaft auch fernerhin genügen würden, um der Monarchie und der Regierungsgewalt den unentbehrli-
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chen sozialen Halt zu geben. In Österreich erschienen sie den Lenkern des Staates noch so vollkommen tragfähig, daß sie gar nicht daran dachten, das Werk Josephs II. wieder aufzunehmen. In Preußen, wo Staat und Gesellschaft seit den Tagen Friedrich Wilhelms I. ganz und gar darauf zugeschnitten waren, eine starke Heeresmacht hervorzubringen und zu unterhalten, und wo die Verfassung dieses Heeres bis 1806 aufs engste verknüpft gewesen war mit der bisherigen aristokratischen und ständischen Struktur der Gesellschaft, hatte die Katastrophe von 1806 wohl die Unzulänglichkeit dieser Bindemittel ein für allemal gelehrt, aber so stand es doch nicht, daß sie als völlig entbehrlich nun hätten beiseitegeworfen werden können. Das preußische Junkertum hat in dem entscheidungsvollen Jahrzehnt von 1806 bis 1815 nicht nur seine Schwächen, sondern auch seine Stärken offenbart. Es hat seinen redlichen Anteil an dem Ruhm des Befreiungskampfes, es hat auch in dem neuen preußischen Heere, wie es Scharnhorst, Gneisenau und Boyen von 1808 bis 1815 schufen, seinen Platz und seine integrierende Funktion wiedergefunden. Das alte preußische Offizierskorps mit seinen aristokratisch-monarchischen Traditionen ist damals nur umgebildet, nicht völlig umgewandelt worden. Und ganz entsprechend ist auch die alte Agrarverfassung, das Fundament der junkerlichen Macht, durch die Stein-Hardenbergschen Reformen nur reformiert, nicht umgestürzt worden. Der Gutsherr der alten preußischen Provinzen verlor zwar alte Rechte, gewann aber auch neue Rechte, indem er fortan die proklamierte Freiheit des Güterverkehrs ausnutzen konnte zur Aufkaufung von Bauernland und Vermehrung des Gutsareals. So war dieser Stand seit 1816, wo er eine ihm außerordentlich günstige Deklaration der Agrarreform durchsetzte, wieder in kraftvollem Aufsteigen. Und nun wurde er unterstützt und gehoben dabei durch jene romantische Bewegung der Geister, durch die Verherrlichung mittelalterlichen Rittertums, durch den Glanz, der auf die patriarchalischen und korporativen Institutionen der Vergangenheit fiel. Es war nicht nur äußerer modischer Flitterglanz. Sondern die Romantik hat recht eigentlich die Funktion geübt, weite Kreise des alten Adels in Deutschland und namentlich Preußen wieder hineinzuführen in die Strömungen der geistigen Kultur Deutschlands, sie hat der Restauration der aristokratischen Gewalten jenen geistigen Zug gegeben, der uns an dem Gesamtbilde unserer Zeit sofort auffiel. Sie führte ja die Menschen wieder ab von jenen individualistischen Gedanken der inneren Freiheit und Selbstbestimmung, die durch Goethe, Schiller und Kant
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emporgekommen waren, und band sie dafür an die historischen, wie sie meinte gottgewollten Ordnungen und Uberlieferungen des Lebens, aber sie tat es mit einer inneren Wärme und Schwungkraft, die ihren Zusammenhang mit den vorangegangenen individualistischen Bewegungen nicht verleugnen können. Zu den Wirkungen der Romantik auf Poesie und Wissenschaft, die wir oben betrachtet, treten damit nun die, welche sie auf Staat, Gesellschaft und persönliches Leben ausgeübt hat. Man kann diese zusammenfassen als die christlichgermanische Bewegung; ihr Name stellt das »Christliche« vor das »Germanische«, und in der Tat liegt bei ihren bedeutendsten Vertretern, bis zu dem jungen Kronprinzen von Preußen herauf, der Akzent fast noch mehr auf dem Religiösen als auf dem Politischen. Auch auf diesem Gebiete sind sie, was den Inhalt ihrer Lehre betrifft, konservativ. Sie bekämpfen aufs schärfste allen Rationalismus im Christentum, sie sind durchdrungen von den positiven Dogmen der Sündhaftigkeit der Kreatur und der Erlösung durch Christi Opfertod. Es ist ein innerer Zusammenhang zwischen diesen Gefühlen der völligen religiösen Abhängigkeit und ihren politischen Lehren von der unbedingten Autorität der Obrigkeit von Gottes Gnaden. Aber für beide Gebiete verlangten sie nicht nur äußerlichen Buchstabenglauben und Buchstabengehorsam, sondern, wie es Leopold von Gerlach einmal sagte, »fides, foi, Konviktion«, - eine Konviktion, die zeitweise, in dem merkwürdigen Erweckungstreiben einiger hinterpommerscher Gutsherren um 1820, zur hellen religiösen Schwärmerei und Ekstase sich steigerte. Eine streng konservative, aber innerlich warme Lebens- und Staatsanschauung war es also. War sie imstande, die Nation im ganzen zu ergreifen oder auch nur den preußischen Staat heilvoll zu leiten? Sie hatte gewiß einen nationalen Zug und wollte gerade auch das Germanische in seiner Reinheit darstellen, Glauben, Zucht und Sitte der Ahnen auf allen Gebieten des Lebens wieder erwecken. In das Praktische umgesetzt aber lief es auf eine Wiederherstellung der früheren patrimonialen und korporativen Einrichtungen und des ständischen Staates hinaus, auf eine Negierung dessen, was der staatsbildende Absolutismus des 17. und 18. Jahrhunderts geschaffen hatte, auf eine Auflösung der staatlichen Einheit zugunsten der aristokratischen und korporativen Sonderrechte. Das war die Tendenz der Hallerschen Staatslehre, die in den christlich-germanischen Kreisen Preußens, beim Kronprinzen und dessen Freunden, begeisterte Aufnahme fand; aber
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sie widersprach dem eigentlichen Nerv des preußischen Staates, seinem militärisch-politischen Machtgedanken. Sie arbeitete jetzt selbst in gefährlicher Weise daran, durch schärfere Betonung der provinzialen Eigentümlichkeiten, den einheitlichen Zusammenhang der preußischen Monarchie zu lockern. So hatte also jenes erneuerte Bündnis zwischen Monarchie und Aristokratie in Preußen seinen inneren schwachen Punkt. Die Monarchie suchte ihn zu überwinden, als sie 1823 die Provinzialstände in den preußischen Provinzen schuf und dabei in ihrer Zusammensetzung die aristokratischen Wünsche befriedigte, ihre Rechte und Befugnisse aber so bestimmte, daß das alte preußische Beamtentum, der Vorkämpfer der Staatseinheit, das Heft in der Hand behalten konnte. Dieses hat denn im Inneren fleißig und erfolgreich, selbt ruhmreich gearbeitet und das Gefüge des aus alten und neuen Landschaften zusammengesetzten Staates gefestigt. Sein Werk ist der Zollverein, der seit dem 1. Januar 1834 den größeren Teil des heutigen Deutschen Reiches wirtschaftlich einigte, dadurch ein neues enges Band zwischen Preußen und Deutschland knüpfte und die künftige politische Einigung Deutschlands unter Preußen vorbereitete. Wo aber blieb der hegemonische Drang, die moderne Fortführung friderizianischer Machtpolitik auf den übrigen Gebieten? Wie schon 1819, so band sich auch nach der Julirevolution Preußen wieder an die Metternichsche Reaktionspolitik zur Beschwörung vermeinter revolutionärer Gefahren. Treues Zusammengehen mit Österreich, gemeinsamer Kampf gegen die Ideen von 1789, das war auch die Losung der christlich-germanischen Partei. Auch hierin also wandte sie sich ab von den friderizianischen Traditionen und half durch ihren Einfluß am Hofe dazu mit, Preußens Machtpolitik zu dämpfen und sie den österreichischen Wünschen dienstbar zu machen. So stand Preußen in dieser ganzen Zeit in der Gefahr, unpreußisch und unfriderizianisch zu werden, durch den Rückfall in feudal-ständische Institutionen einerseits, durch die Unterordnung unter Österreich andererseits. Die Elemente, die Friedrich der Große einst in seiner inneren und äußeren Politik zusammengebunden hatte, waren jetzt zum großen Teile auseinandergefallen. Der preußische Adel mit seiner sozialen Vorherrschaft im Lande, jetzt zwar eine Stütze der Krone im Kampfe gegen Revolution und Liberalismus, drängte doch den Staat eben dadurch ab von stolzen hegemonischen Zielen. Metternichs scharfes Auge sah es wohl, daß ein konservativ und altständisch regiertes Preußen für Österreich ungefährlicher war als ein liberal regiertes; für
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jenes war quieta non movere die Losung; in den liberalen preußischen Reformern dagegen, den Gneisenau, Boyen und Grolman, lebte ein heißer Drang nach preußischer Machterweiterung. So war der Sturz dieser Partei im Jahre 1819 zugleich ein Sieg österreichischer Politik, so war der Kampf Metternichs gegen Revolution und Liberalismus zugleich ein latenter Kampf gegen die Möglichkeit einer preußischen Hegemonie auf liberaler Basis. Dieser Kampf wurde ihm nun freilich erleichtert durch die Entwicklung des Liberalismus selbst in den dreißiger Jahren. Die preußischen Reformer hatten die liberale Idee mit dem Staats- und Machtgedanken vereinigt. Sie wollten die historische preußische Monarchie und die mündig gewordene Nation neu verbinden durch allgemeine Wehrpflicht, Selbstverwaltung und Volksvertretung, und dadurch Preußens Primat über Deutschland begründen. Ihre Ideen wurden seit 1819 zwar nicht ganz unterdrückt, aber abgedrängt. Sie hätten auf die breiteren Massen des Volkes und über die Grenzen Preußens hinaus nur wirken können durch ihre eigene Verwirklichung im Regierungssysteme Preußens. So aber trennten sich nun Liberalismus und Staat, und als nach 1830 die neue große Woge französischer Ideen nach Deutschland kam, als im Westen Deutschlands nun auch der Bürger und Handwerker anfing, sich an politischen Schlagworten zu begeistern, da war es ein unreifer, unpolitischer, den Dynastien vielfach grimmig feindlicher Radikalismus, der auf solch verwahrlostem Boden emporwucherte. Preußens Gestirn war durch Wolken verdeckt, und es gehörte etwas dazu, sich nicht durch sie beirren zu lassen und den festen Glauben an die Wiederkehr freierer Zeiten in Preußen und an Preußens Mission für Deutschland zu fassen. Das war das unvergängliche Verdienst Paul Pfizers in seinem Briefwechsel zweier Deutschen 1832. Manch edler Irrtum mischte sich in seinen Glauben, aber sein Kern war fruchtbare Wahrheit. Es war eine Wiedererweckung der Gedanken Fichtes und Arndts; die Sehnsucht des geistigen, philosophisch bewegten Deutschlands nach festen Realitäten, nach Staat und Nation, nach Macht und Einheit wachte in ihm wieder auf. Es war doch nichts auf die Dauer mit den halkyonischen Tagen. Der Deutsche war in ihnen, wie Pfizer klagt, ein Fremdling in der eigenen Heimat geworden; er habe nichts als seine innere Welt, seine Existenz sei eine durch und durch künstliche geworden. Noch stand er ziemlich allein da unter seinen süddeutschen Landsleuten, aber er war der Vorläufer der Frankfurter Erbkaiserpartei.
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Doch wie viel Kämpfe und Enttäuschungen standen noch bevor, ehe der Bund von Geist und Macht, von Freiheit und Staat endlich vollzogen werden konnte. Und wenn man sich jetzt auch der inneren Kraft des konservativen und aristokratischen Elementes in Preußen erinnert, so darf man wohl sagen, daß dieser Bund nicht eher vollzogen werden konnte, als bis auch dieses irgendwie in ihn mit hineingezogen wurde. Denn nur aus einer Vereinigung aller lebendigen Mächte des deutschen Lebens konnte eine segensreiche Zukunft Deutschlands erblühen.
DRITTE GRUPPE
Der deutsche Nationalstaat
Preußen und Deutschland im 19. Jahrhundert
Vortrag auf der Versammlung deutscher Historiker in Stuttgart am 19. 4. 1906. Zuerst: Historische Zeitschrift Bd. 97 (1906) S. 119-136. Wiederabdruck: Preußen und Deutschland (1918) S. 3-20. Ubers, in Englisch: The National Review Nr. 282, August 1906, S. 942-954.
Das weit gesteckte Thema meines Vortrages bedarf sofort der näheren Begrenzung und damit einer Rechtfertigung und Entschuldigung. Es ist nicht meine Absicht, Ihnen die Abwandlung in dem Verhältnis Preußens zu Deutschland im 19. Jahrhundert überhaupt in großen Zügen vorzuführen, sondern ich möchte ein zentrales Problem dieses Verhältnisses herausgreifen, von dem dann allerdings die Wege hinausführen zu allen übrigen Problemen der preußisch-deutschen Entwicklung im 19. Jahrhundert, das Licht auf sie wirft und Licht von ihnen empfängt. Dennoch ist dies zentrale Problem zugleich auch ein verstecktes Problem, - wenigstens heute versteckt, weil es durch das Werk Bismarcks erledigt zu sein scheint. Aber auch in der Zeit, in der es die politischen Köpfe am stärksten beschäftigte - und das war die Zeit der Frankfurter Nationalversammlung von 1848/49 - , trat es nur in einzelnen Momenten ganz scharf und greifbar hervor, und diejenigen, denen es am meisten am Herzen lag, haben, nachdem sie zeitweise eine laute Propaganda damit getrieben hatten, es für geraten gehalten, zunächst wieder etwas Erde darüber zu werfen, - so daß die historische Kunde von ihren höchst merkwürdigen Plänen und Bestrebungen stark verdunkelt worden ist. In Sybels Darstellung der Verfassungsverhandlungen von 1848/49 findet man überhaupt nichts, bei denen von 1866/67 nur eine ganz kurze Andeutung darüber. Heinrich v. Treitschke würde, wenn es ihm vergönnt gewesen wäre, sein herrliches Werk weiterzuführen, gewiß mehr darüber gesagt haben, denn er hat selbst als nationaler Politiker in den Jahren um 1866 sich sehr ernstlich mit diesem Problem auseinandergesetzt. Es war, man möchte sagen, die Fortsetzung und der zweite Teil der einen allbekannten Hauptaufgabe, Boden zu schaffen für die Errichtung des nationalen Bundesstaates durch Verdrängung Österreichs aus Deutschland. Dort hatte es geheißen: Ein Bundesstaat mit zwei Großmächten im Bunde ist unmöglich. Dahinter aber erhob sich die Frage:
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Ist denn ein Bundesstaat mit einer Großmacht im Bunde möglich, und unter welchen Kautelen ist er möglich, wenn nicht die übrigen Bundesglieder und das nichtpreußische Deutschland erdrückt und vergewaltigt werden sollen durch das Ubergewicht des mächtigsten Staates? Diese ängstliche Frage stellte das nichtpreußische Deutschland an Preußen, während Preußen mit der Frage antworten konnte, ob man denn auch ihm gerecht werden wolle, ob man denn auch seinen Anspruch auf Bewahrung seiner eigenen historischen Individualität und Staatspersönlichkeit respektiere. Dieser Frage und Gegenfrage kann man als Angeln ansehen, in denen sich die Geschichte der preußisch-deutschen Einigung im 19. Jahrhundert - mehr oder minder wahrnehmbar - bewegt hat. Sie brauchten aber erst dann ernstlich gestellt zu werden, wenn der Kontrakt zwischen Preußen und Deutschland dem Abschlüsse nahe war. Erst mußte überhaupt das innere gemütliche Bedürfnis und das gemeinsame nationale Ideal die Herzen in und außerhalb Preußens zueinander führen, dann erst konnte man an Stipulierungen denken, wie man sich in der neuen Ehe gegenseitig vor einander sichere. Deswegen ist es begreiflich, daß in der großen Vorbereitungszeit der preußisch-deutschen Einigung, im Zeitalter der Befreiungskriege, diese Frage noch keine besondere Rolle gespielt hat. Nur eben die ersten Elemente von ihr tauchen auf. Bei dem energischesten der damaligen nationalen Denker, beim Freiherr vom Stein, wird man sie deswegen am wenigsten suchen, weil sein deutsches Programm nicht kleindeutsch, sondern großdeutsch im Kerne war. Und doch ist schon eine gewisse Grundstimmung in ihm lebendig, die ihn, wie wir bald sehen werden, den Männern der Paulskirche nahe bringt. Das Charakteristische an ihm ist vor allem, daß er von deutschem, nicht von preußischem Zentrum aus auf Preußen wie auf Deutschland schaute, und daß er keinen Respekt vor der Erhaltung der preußischen Staatspersönlichkeit empfand. »Setzen Sie an die Stelle Preußens, was Sie wollen,« schrieb er am 1. Dezember 1812 dem Grafen Münster, »lösen Sie es auf . . . es ist gut, wenn es ausführbar ist«, d. h. wenn dadurch das deutsche Vaterland geschaffen werden kann. Man hat gemeint, das sei zum guten Teil Hyperbel, aber es steckt doch eben nicht bloß Hyperbel in diesem Worte. Man darf sagen, daß er, wenigstens im Prinzip, nicht vor dem Gedanken zurückschreckte, Deutschlands Einheit durch Preußens Auflösung zu erkaufen. Merklich fester als er stand Gneisenau auf preußischem Boden. Man
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kennt das große Wort, das er 1814 ausgesprochen hat, daß Preußen durch den dreifachen Primat von Kriegsruhm, Verfassung und Gesetzen und Pflege von Künsten und Wissenschaften in den übrigen Staaten den Wunsch erwecken solle, mit Preußen vereinigt zu sein. In diesem Gedanken ist ein weiteres Element unseres Problems enthalten. Er läuft darauf hinaus, daß Preußen, um Deutschland zu gewinnen, nicht in seine alte spröde Abgeschlossenheit zurückfallen dürfe, daß es den übrigen Deutschen als werbendes Geschenk und als sichernde Bürgschaft zugleich freie politische Institutionen und geistige Regsamkeit bieten müsse. Preußen sollte liberal werden, um Vormacht Deutschlands werden zu können. Weiter hat Gneisenau und hat auch sein Gesinnungsgenosse, der noch intensivere Preuße Boyen, nicht gedacht und auch noch nicht zu denken brauchen. Auch viele derer, die in den folgenden Zeiten, sei es von preußischem, sei es von deutschem Boden aus, auf Preußen ihre deutsche Hoffnung setzten, haben nicht weiter gedacht, und noch in der heutigen Geschichtsauffassung kommt man in der Regel über die Erkenntnis nicht hinaus, daß Preußens deutschnationale und liberale Entwicklung sich gegenseitig bedingten, daß Preußen Verfassungsstaat werden mußte, um an die Spitze der deutschen Nation treten zu können. Diese Erkenntnis ist richtig, aber unvollständig. Deutschland durfte zwar von Preußen die Kautel des Liberalismus fordern, aber mußte, um es spitz zu sagen, gegen die Konsequenzen dieses Liberalismus wieder neue Kautelen fordern. Denn diese Konsequenzen richteten, indem sie alte Schranken zwischen Preußen und Deutschland beseitigten, zugleich ganz neue Schranken zwischen ihnen auf. Indem Preußen ein konstitutioneller Staat wurde, vollendete es zugleich das Staatsbildungswerk zweier Jahrhunderte, legte es die Fundamente des Einheitsstaates tiefer als bisher, fügte es zu den alten Stützen der Dynastie, des Heeres und des Beamtentums auch noch die neuen eines Zentralparlamentes und eines öffentlichen Lebens auf spezifisch preußischer Basis. Eine Konstitution bedeutete für Preußen etwas wesentlich anderes als etwa für die deutschen Mittelstaaten, weil das preußische Volk als Ganzes etwas anderes bedeutete als das württembergische, bayerische und badische Volk. Aus dem preußischen Volk konnte sich dann eine preußische Nation, aus dem preußischen Staat ein Nationalstaat entwickeln. Die Besorgnis konnte erwachen, daß ein solcher zu stark, zu geschlossen, zu eigenwüchsig und eigenwillig sein würde, um noch in den Rahmen eines deutschen Bundesstaates hinein-
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zupassen. Vollends als Vormacht Deutschlands schuf er ein Dilemma, das ein Preußen ohne einheitliche Verfassung und Zentralparlament nicht verursacht haben würde. Eine bloße Dynastie, die gemeinsam über Preußen und Deutschland stand, wäre durch die Natur der Dinge dazu geführt worden, das größere deutsche Interesse über das kleine preußische zu stellen. Wenn sie aber zugleich auf die im preußischen Parlamente vertretenen politischen Potenzen ihres Heimatstaates Rücksicht zu nehmen hatte, so mußte ihr das sehr viel schwerer fallen. Zwei große Parlamente, zwei nationale Staatswesen, in- und miteinander geschachtelt, - dies Problem konnte wohl dem, der es ernst erwog, unlösbar erscheinen, - oder doch nur dadurch lösbar, daß Preußen auf sein besonderes Parlament verzichtete, daß es den letzten ihm noch übrigen Schritt zur Ausbildung seiner eigenen Staatspersönlichkeit nicht tat, sondern seine Gesetze sich unmittelbar von den Gewalten des deutschen Bundesstaates geben ließ. Man sieht aber leicht ein, daß dieser Verzicht zugleich einen Rückschritt in seiner Staatsbildung bedeutete. Er wäre in gewissem Sinne wieder zurückgefallen auf die Stufe eines Nebeneinanders von Provinzen, nur daß diese wieder andererseits zu unmittelbaren Reichsprovinzen erhoben worden wären. Aber mit dem preußischen Staat an sich wäre es aus gewesen, Preußen wäre, im strengsten Sinne des berühmten Wortes, das Heinrich v. Armin am 21. März 1848 den König Friedrich Wilhelm IV. sprechen ließ, aufgegangen in Deutschland. Die Geschichte dieses Gedankens habe ich in einer größeren Untersuchung verfolgt, von der ich hier nur eben die wichtigsten Resultate vorlegen kann'. Er ist zuerst gedacht worden, soweit ich sehe, auf dem Boden, auf dem wir hier stehen, von Paul Pfizer in der zweiten Auflage seines Briefwechsels zweier Deutschen von 1832, und zwar hier in vollster Kraft und Deutlichkeit, und wer in Pfizer den Herold der Einigung Deutschlands durch Preußen verehrt, darf nicht vergessen, daß er dem preußischen Staate selbst das Opfer seiner konstitutionellen Einheit zugemutet hat. Er kämpfte für die nationale Monarchie der Hohenzollern, aber nicht für die Hegemonie des preußischen Staates. Er rief den Adler Friedrichs des Großen an, daß er die Verlassenen und Heimatlosen decken möge mit seiner goldenen Schwinge - aber er war, wie Goethe, mehr fritzisch als preußisch gesinnt. Wie gut versteht man 1 Enthalten im zweiten Buche meines Werkes »Weltbürgertum und Nationalstaat«. 4. Aufl., 1917. [ Werke V 1962]
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das aus den gesamten politischen Zuständen Südwestdeutschlands, aus den Traditionen des alten Reichs, aus den Nachwirkungen dann vor allem auch der Rheinbundszeit. Das eigene politische Dasein, das man hier hatte, war neugeschaffen und vielfach künstlich. Man war politisch eklektisch, und die alten und neuen philosophischen Strömungen beförderten den Hang, die Dinge zu trennen von ihren realen Wurzeln und Früchte zu pflücken aus allerlei Gärten. So glaubte denn Pfizer die Dynastie der Hohenzollern herausnehmen zu können aus ihrem Mutterboden, deswegen auch, weil er diesen Boden des Preußischen Staates eben auch nur für einen halbwegs künstlichen hielt. Preußen sei ein künstlicher Staat, war ja das alte Schlagwort. Auch Pfizer, der ihm noch am meisten das Wort redete unter seinen süddeutschen Landsleuten, urteilte, daß er bisher nur ein äußeres, aber kein inneres Leben geführt habe. So ist auch dies weitverbreitete Dogma von der Künstlichkeit des preußischen Staatswesens eine wesentliche Voraussetzung für den Glauben geworden, daß man ihm um Deutschlands willen das Opfer seiner Auflösung zumuten könne. Nach Pfizer war es dann Friedrich v. Gagern, der ältere Bruder Heinrichs, der in seiner Denkschrift vom Bundesstaate 1833 diese Gedanken weiterspann. Auch ihn erfüllte die Sorge vor einem Übergewicht des mächtigen Staates in dem Bundesstaate der Zukunft, den er ersehnte, auch er verlangte von dem Herrscher des Gesamtstaates, daß er aufgehe in dessen Gesamtinteresse, und die Befürchtung Pfizers vor einer Einmischung der preußischen Reichsstände in die deutschen Dinge wurde von ihm noch verallgemeinert zu einer Warnung vor dem Antagonismus von Reichs- und Landständen überhaupt. Was Pfizer lebhaft und impulsiv empfand, setzte er um in die Formeln und Paragraphen eines Systems, und so tauchen bei ihm schon die Grundzüge jener von Waitz später ausgebildeten Bundesstaatstheorie auf, wonach Zentralgewalt und Einzelstaatsgewalten streng zu trennen seien, damit eine jede in ihrer eigentümlichen Sphäre ungestört lebe. Man hat sich den Kopf darüber zerbrochen, wie er seine Überzeugung von Preußens deutschem Beruf habe vereinigen können mit seiner Forderung, daß der Kaiser des Bundesstaates nicht zugleich Regent eines Einzelstaates sein dürfe. Die Lösung des Rätsels ist jetzt sehr einfach. Offenbar hat Friedrich v. Gagern den König von Preußen zum Kaiser des Bundesstaates machen, ihn aber gleichzeitig loslösen wollen von seiner preußischen Grundlage und Preußen auflösen in eine Reihe ungefähr gleich großer Territorien.
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Man darf nun mit höchster Wahrscheinlichkeit annehmen, daß Friedrich v. Gagerns Gedanken seinen Brüdern Heinrich und Max v. Gagern nicht unbekannt geblieben sind. Heinrich und Max standen an der Spitze der Bewegung in den südwestdeutschen Staaten, die in den Märztagen 1848 zur ersten Werbung des außerpreußischen Deutschlands um Preußens Initiative zur Begründung eines Bundesstaates führte. Schon bei diesen Verhandlungen hat der Gedanke Pfizers und Friedrich v. Gagerns eine Rolle gespielt, und man darf jetzt (1917) auf Grund der Pastorschen Forschungen über Max v. Gagern auch das berühmte Wort Heinrich v. Arnims in der königlichen Proklamation vom 21. März 1848 »Preußen geht fortan in Deutschland auf« damit in einen direkten Zusammenhang bringen. N u r wollte Heinrich v. Arnim den Prozeß des Aufgehens Preußens in Deutschland von preußischem Zentrum aus, von dem zum deutschen Parlament erweiterten Vereinigten Landtage aus beginnen lassen. Eine solche preußische Nuance des Gedankens vertrat dann vor allem Johann Gustav Droysen im April 1848. Zwei Alternativen stellte er mit Geist und Schärfe auf. Entweder: Preußen geht jetzt in Deutschland auf, verzichtet darauf, sich konstitutionell abzuschließen als Staatsindividualität und ermöglicht durch Entwicklung der provinzialständischen Verfassung seine Vergliederung mit Deutschland, - oder aber, das jetzige Werk mißlingt - dann müsse allerdings Preußen in schärfster Weise konstitutionell geschlossen werden, es »muß den Kern, sozusagen das unmittelbare Reichsland bilden, an das sich nach und nach anschließen mag, was deutsch sein will«. Das Endergebnis dieser Entwicklung hätte, wie man leicht einsieht, dem des ersten Weges ganz ähnlich werden können. Hier wie dort hätten die preußischen Provinzen schließlich das unmittelbare Reichsland gebildet. Zunächst setzte aber auch er seine Hoffnung auf den ersten Weg, und das zeigt, wie stark auch die deutsche Bewegung in Preußen jetzt von jenen Ideen gefärbt wurde, die ihren Ursprung in den Landschaften des alten Reiches hatten. Mit einem gewissen geschichtsphilosophischen Idealismus und Fatalismus war man bereit, der deutschen N a tion das Opfer der preußischen Staatseinheit zu bringen, - es war für Droysen, wie hernach für Duncker, für Haym ein Stück angewandter Hegelscher Philosophie, und zugleich, so schien es ihm wie den nichtpreußischen Politikern, die jetzt dasselbe forderten, eine unentrinnbare politische Notwendigkeit. Ich nenne den Freiherrn v. Stockmar, der im Mai 1848 in der Deutschen Zeitung und dann auch
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unmittelbar dem Könige von Preußen zumutete, daß er als deutscher Kaiser seine Hausmacht in eine Reichsmacht, in unmittelbare Reichsprovinzen verwandle, die unter Reichsministerium und Reichsparlament zu stehen hätten. Ich nenne dann vor allem den Freund Pfizers, den feinen Gustav Rümelin, der seit dem Oktober 1848 im Schwäbischen Merkur für diese Gedanken warb und dadurch den Süddeutschen das preußische Erbkaisertum schmackhaft zu machen suchte. Und da Rümelin hier nicht als Einzeldenker, sondern als Parteipublizist schrieb, so treten wir nun ein in die Epoche, wo unser Gedanke ein integrierendes Stück des Verfassungsprogramms mindestens eines großen Teiles und jedenfalls einflußreicher Führer der Erbkaiserlichen wurde. Jetzt, im Herbst 1848, war der Augenblick da, den Kontrakt der Ehe zwischen Preußen und Deutschland aufzusetzen, jetzt wurde es ernst mit der Garantieforderung, nur daß man sie nicht in den Hauptkontrakt, in den Verfassungsentwurf der Nationalversammlung brachte, sondern sozusagen articles separes et secrets daraus machte. Und das war nun ein, wie ich glaube, bisher verkannter Hauptzweck der bekannten Reise, die Heinrich v. Gagern in den letzten Novembertagen 1848 an den Hof Friedrich Wilhelms IV. unternahm. Sie war unmittelbar veranlaßt durch die Nachricht, daß das Ministerium Brandenburg die Absicht habe, dem preußischen Staate eine Verfassung zu oktroyieren. Da eilte Gagern nach Berlin und Potsdam, nicht nur, um das unliberale Verfahren des Oktroyierens an sich zu verhindern, auch nicht nur, um dem Könige die Kaiserkrone anzubieten, sondern auch, um dafür zu wirken, daß Preußen überhaupt keine konstitutionelle Verfassung und kein Sonderparlament erhalte. In den Märztagen hatte er von Preußen, damit es bündnisfähig für die deutsche Bewegung würde, verlangt, daß es sich dem konstitutionellen System nähere. Nun erfüllte Preußen durch die oktroyierte Verfassung vom 5. Dezember 1848 diese liberale Forderung durch ein Mittel, das Gagern und die Seinen verwünschten. Damit fällt nun auch auf diese Tat des Ministeriums Brandenburg ein besonderes Licht. Sie war die Antwort Preußens und des preußischen Staatsgedankens auf die Zumutung, sich selbst dem deutschen Gedanken, dem kommenden Reichsgedanken, zum Opfer zu bringen. Preußen bekundete durch die Charte vom 5. Dezember seine feste Absicht, Staatspersönlichkeit zu bleiben und eine moderne Staatspersönlichkeit eigentlich erst zu werden. Das war nicht etwa das Werk des Königs, der gegen die ganze Oktroyierungpolitik der Minister lebhaften Widerwillen empfand, dessen eigene Verfassungspläne für
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Preußen vielmehr eben damals wieder stark zu den Provinzialständen zuriickstrebten und dadurch, man möchte doch sagen, bündnisfähig wurden für jene Gedanken Droysens, Rümelins und Gagerns, den preußischen Staat in seine Provinzen aufzulösen. Es lag ja noch sehr viel anderes zwischen Frankfurt und Potsdam, aber ich wage es auf Grund der mir vorliegenden Zeugnisse zu vermuten - an dieser Forderung wäre die Verständigung zwischen Friedrich Wilhelm IV. und den Frankfurtern vielleicht nicht gescheitert. Sie hätte ihm die Möglichkeit gegeben, für Preußen selbst den widerwärtigen Konstitutionalismus los zu werden. Er hätte ihn allerdings für Deutschland sich gefallen lassen müssen, aber für Deutschland war er auch zu größeren Zugeständnissen an den liberalen Zeitgeschmack bereit als für Preußen. Die Minister also waren es, welche damals das konstitutionelle Prinzip für Preußen durchsetzten und dadurch dem Verfassungsprogramm der Erbkaiserlichen einen ersten schweren Stoß versetzten. Aber nun ist das Merkwürdige: Mit der einen Hand wehrten sie die Zumutung an Preußen, seine Staatseinheit aufzugeben, ab, die andere Hand aber streckten sie gleichzeitig den Frankfurtern entgegen und waren bereit, an der Schaffung des nationalen Bundesstaates unter preußischer Führung mitzuarbeiten, - aber eben eines Bundesstaates, in dem Preußen auch Preußen blieb. Und eben mit um dieses hegemonischen Motives willen haben sie - so wunderbar verschlungen greift hier alles durcheinander - den Inhalt der oktroyierten Charte so ungemein liberal ausgestattet, - denn nur ein liberales Preußen konnte Deutschlands Führung übernehmen. Recht verschieden also waren die Differenzpunkte, welche den König und welche seine Minister von dem Gesamtprogramm der Frankfurter trennten. Im ganzen darf man aber sagen, daß in den Adern der Minister nicht nur der preußische Staatsgedanke, sondern auch der deutsche Ehrgeiz stärker pulsierte, und daß sie zugleich die Notwendigkeit liberaler Zugeständnisse unbefangener und staatsmännischer auffaßten als der König. Es ist schon etwas vom Bismarckschen Geiste in dieser Politik des 5. Dezember. Sie war konservativ und vorwärts drängend zugleich. Sie benutzte die liberalen und nationalen Kräfte und hielt sie zugleich in den Schranken, innerhalb deren sie sich mit dem geschichtlich Erwachsenen" und noch Lebendigen vertragen konnten. Und hatten die Frankfurter gemeint, der preußischen Politik das Gesetz geben zu können, so geschah nun das Umgekehrte. Denn die Erbkaiserlichen brauchten nun ein-
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mal Preußen für ihre Ziele und mußten wohl oder übel über die Schranke hinwegsehen, die durch die Verfassung vom 5. Dezember aufgerichtet war. Aber sie haben allerdings ihr Endziel deshalb nicht aufgegeben. Sie trösteten sich damit, daß die oktroyierte Charte über kurz oder lang schon wieder verschwinden werde, daß eine preußische Nationalversammlung, wie Dahlmann in dem Neujahrsartikel der Deutschen Zeitung es feierlich aussprach, gar bald zu den Undenkbarkeiten gehören werde. Dann aber, als mit dem 15. Januar 1849 der Schlußakt des Verfassungswerkes, die Verhandlung über das Reichsoberhaupt begann, wandelte sich in etwas ihre Taktik. Sie hielten jetzt zurück mit ihrer Forderung, daß Preußen unmittelbares Reichsland werden müsse, einmal, um die Verständigung mit der preußischen Regierung nicht zu erschweren, dann aber auch, weil die Gegner des preußischen Erbkaisertums und Preußens überhaupt diese Forderung mit einem gewissen neugierigen Wohlgefallen zu betasten begannen. Ihr habt uns, so sagten die Linken jetzt zu den Erbkaiserlichen, früher erzählt, daß der preußische Staat aufgelöst werden müsse. Wenn Ihr dabei bliebet, würde mancher von uns für das Erbkaisertum sein, aber Ihr wollt das nicht, Ihr könnt das nicht. Daraufhin hat denn Heinrich v. Gagern am 20. März noch einmal Farbe bekannt. »Ich gebe mich nicht Illusionen hin, ich glaube selbst, daß die Dezentralisierung Preußens in der Art, daß die politische Gesamtvertretung, wie sie jetzt besteht, gelöst würde, daß das nicht die unmittelbare Folge sein wird, wenn der Bundesstaat, Preußen an der Spitze, geschlossen würde. Daß aber ein solches Dezentralisieren, ein Aufgehen in Deutschland, die notwendige allmähliche Folge sein würde, das kann niemand bezweifeln, der den Analogien in der Geschichte Beachtung zollt.« So haben die Erbkaiserlichen seiner Richtung es also gemeint, so muß auch ihr Werk von den Nachlebenden verstanden werden. Die Annahme der Frankfurter Krone durch Friedrich Wilhelm IV. sollte nach der Absicht eines großen Teiles derer, die sie anboten, über kurz oder lang zur Auflösung der preußischen Staatseinheit führen. Es erhebt sich die Frage, ob sie auch dazu führen mußte und ob und wieweit die Forderung innerlich berechtigt und notwendig war. Es spricht zu ihren Gunsten, daß gerade die prinzipiell preußischen Gegner des Frankfurter Verfassungswerkes es aus demselben Grunde mit verwarfen, der Gagern und die Seinen zur Aufstellung jener Forderung bestimmt hatte. Das Gagernsche Deutschland sagte zu
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Preußen: Wenn du an die Spitze kommen willst, so mußt du auf deine Verfassung und dein Sonderparlament verzichten, denn zwei große Verfassungen nebeneinander sind auf die Dauer unmöglich. Das Bismarcksche Preußen antwortete: Eben aus diesem Grunde kann ich deine Kaiserkrone nicht brauchen, »denn«, so sagte Bismarck im preußischen Landtage am 21. April 1849, »ich kann mir nicht denken, daß in Preußen und Deutschland zwei Verfassungen nebeneinander bestehen können«. Hatte 1848 Deutschland um Preußen geworben, so warb dann 1866 Preußen um Deutschland. Sofort bei der Gründung des Norddeutschen Bundes tauchte die alte Frage wieder auf. »Es bleibt rätselhaft«, sagte Treitschke nach den Siegen von 1866, »wie ein deutsches und ein preußisches Parlament in die Länge nebeneinander bestehen sollen.« O f t ist ihm das verzwickte Problem noch durch den Kopf gegangen. Schließlich aber, nach 1870, urteilte er: »Wer den Einheitsstaat und die Selbstverwaltung starker Provinzen als die Staatsform der Zukunft ansieht, der muß Preußens monarchische und militärische Überlieferungen schonen.« Was war aber das, im Endziele, viel anderes als das, was die Gagern und Rümelin auch erstrebt hatten. Aber während jene, um dahin zu gelangen, Preußen auflösen wollten, wollte Treitschke es gerade recht sorgfältig erhalten als festen Kern, an den sich die übrigen Staaten künftig einmal ankristallisieren könnten. Das war die Lösung, die der geistreiche Droysen schon im April 1848 durch die Aufstellung seiner Alternative antizipiert hatte. Alternative über Alternative. Die Droysen-Treitschkesche Alternative war eine solche der Mittel und Wege bei Identität des Zieles. Die Gagern-Bismarcksche Alternative von 1849 war eine solche des Zieles: Deutschland oder Preußen hieß sie, und Bismarck entschied sich damals für Preußen und ließ das Problem Deutschland ungelöst. Als er es dann 1866 und 1871 löste, hat er es auch nicht im Sinne einer Alternative, sondern durch eine Synthese gelöst. Die alte Zeit der Entweder-Oder, die Zeit des dialektischen Denkens und der unbedingten Ideale in der Politik war vorbei, die Zeit des modernrealistischen Sowohl-Als-auch beginnt, die Bismarcksche Synthese preußischer und deutscher Verfassung, föderalistischer und unitarischer Prinzipien war kein symmetrisches Kunstwerk, aber ein lebensfähiges Ding. Preußen wie Deutschland haben ihre Verfassung und ihr Eigenparlament und haben sich miteinander eingeschüttelt. Und das ist erreicht durch ein paar einfache, aber höchst geniale Sicherungen,
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die Bismarck zwischen preußischem und deutschem Organismus angebracht hat. Zwei nicht zufällige, sondern geschichtlich aufs stärkste bedingte Vorurteile, welche das politische Denken vor 1848 beherrscht hatten, mußte Bismarck dazu brechen: das parlamentarische und das unitarische Vorurteil. Das Parlamentarische Vorurteil sagte: Da die Parlamentsmehrheiten den Kurs der Regierung bestimmen, so sind zwei große regierende Parlamente nebeneinander ein Unding und bringen die Maschine zum Stillstand. Diese Auffassung vom Parlamentarismus, die um 1848 weithin herrschte, war nicht nur die Wirkung der Doktrin, sondern auch lebendiger politischer Erfahrung, wie man sie vor allem an dem süddeutschen Verfassungsleben bisher gemacht hatte. Zwar hatte man hier nichts weniger als reinen Parlamentarismus, aber eben das war das Abschreckende. Dieser stark eingeengte Konstitutionalismus der süddeutschen Staaten beruhte nicht auf der eigenen Kraft der Regierungen, sondern war nur möglich durch den Rückhalt des reaktionären Bundestages und der Wiener Beschlüsse von 1834. Das ganze Elend des vormärzlichen Deutschlands klebte an ihm und machte ihn verhaßt. N u r große positive Leistungen und historische Taten konnten ihn wieder zu Ehren bringen. Durch seine Leistungen für die Nation hat Bismarck die diskreditierte Regierungsform des gemäßigten Konstitutionalismus wieder zu Ehren gebracht und das parlamentarische Vorurteil gebrochen. So ist es möglich geworden, daß preußisches und deutsches Parlament nebeneinander existieren können, ohne sich allzustark aneinander zu reiben. Wären diese beiden Triebräder größer, so würden sie sich berühren und hemmen. Das zweite Vorurteil, das Bismarck zu brechen hatte, um die Erhaltung der preußischen Staatseinheit innerhalb des deutschen Bundesstaates zu ermöglichen, war das unitarische. Pfizer, die Brüder Gagern, Rümelin wollten einen Bundesstaat, dessen Zentralgewalt kein anderes Interesse kenne als das des Bundesstaates. Sie wollten wohl die preußische Macht als wertvolles Substrat dafür benutzen, aber sie wollten nicht die Hegemonie des preußischen Staates oder des Königs von Preußen als solchen. »Die Hegemonie«, sagte noch Treitschke ganz im Geiste dieser Lehre, »widerspricht dem Wesen des Bundesstaates.« Im innersten Zusammenhang damit steht die Bundesstaatstheorie, welche Waitz in den fünfziger Jahren aufgestellt hat. Sie war doch nicht bloß, wie man gemeint hat, eine »rein doktrinäre Schablone«, sondern sie ist zum guten Teile erwachsen aus dem
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praktischen Problem, wie man den preußischen Staat in den Bundesstaat eingliedern könne, ohne diesen durch jenen zu erdrücken. Die Lösung, die er vorschlug, war unitarisch wie die von 1849, bestand in der Schaffung einer einheitlichen, von den Gliedstaatsgewalten unabhängigen Zentralgewalt. Die Lösung, die Bismarck gab, war föderalistisch, bestand in der Institution des Bundesrates. Damit waren die Schwierigkeiten gelöst, mit denen die Frankfurter so schwer gerungen hatten. Jetzt konnte der Herrscher des mächtigsten Einzelstaates zum Träger der Exekutivgewalt des Reiches erhoben werden, ohne daß die übrigen Staaten zu fürchten brauchten, von Preußen erdrückt zu werden, und ohne daß Preußen das Opfer seiner Auflösung zu bringen hatte. Weshalb aber, müssen wir fragen, sind nicht schon die Männer von 1848 auf diese Lösung gekommen? Weshalb mühten sie sich auf dem steilen unitarischen Wege ab, statt den bequemeren föderalistischen Weg zu beschreiten? Weshalb waren sie so ängstlich bemüht, die Einzelstaaten fernzuhalten von der Teilnahme an der Reichsgewalt? W i r empfangen aus ihrem Munde selbst die Antwort, man habe befürchtet, dadurch nur einen neuen Bundestag zu schaffen. »Wie sollte«, sagte Max Duncker, »ein solch Kollegium aus instruierten und zu instruierenden Gesandten gebildet, anders regieren als der Bundestag, langsam, schleppend, elend, oder vielmehr gar nicht.« So steht es also mit diesem Föderalismus genau so wie mit dem gemäßigten Konstitutionalismus. Sie waren beide so furchtbar diskreditiert durch die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte, daß man die Zukunft der Nation ihnen nicht anzuvertrauen wagte. Man sieht, wie die politischen Irrtümer dieser Denker durch und durch erwachsen sind aus dem ungesunden Boden der vormärzlichen Zeit. Sollten wir uns aber mit dem Nachweis der geschichtlichen Bedingtheit ihres Irrtums beruhigen? Wenn wir auf die Entwicklung des Verhältnisses Preußens zu Deutschland und des preußischen Abgeordnetenhauses zum deutschen Reichstage seit 1871 und nun erst seit 1890 einen Blick werfen, so haben wir das unbehagliche Gefühl, daß die Bismarcksche Lösung des Problems einen Rest noch ungelöst zurückgelassen hat. Die Befürchtung Treitschkes vor einem Ubermaß an parlamentarischem Treiben ist doch bestätigt worden. Unzweifelhaft liegt hier einer der Gründe, weshalb das Niveau und das Ansehen des Parlamentarismus in Deutschland gesunken ist. Sollte nicht am Ende Bismarck auch das vorausgesehen und nicht ungern vorausgesehen
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haben? Vielleicht ist überhaupt dies Operieren mit zwei Parlamenten, dies Reiten bald auf dem preußischen, bald auf dem deutschen Pferde ein arcanum imperii Bismarcks gewesen. Denn ausgeschaltet ist die tatsächliche Macht Preußens im Reiche durch jene Sicherungen, die Bismarck zwischen preußischem und deutschem Organismus anbrachte, keineswegs. Vieles läßt sich mit diesem Benutzen bald der deutschen, bald der preußischen Kräfte erreichen, aber Eines nur schwer, was doch das Ziel einer wahrhaft inneren Politik sein muß: Einheitlichkeit auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens. Eine beherrschende Persönlichkeit wie Bismarck war wohl imstande, für die größten und drängendsten Aufgaben der inneren Politik Reichsparlament und Landesparlamant, deutsche und preußische Tendenzen zusammenzuspannen, aber für das, was weniger drängte und doch in Zukunft einmal wichtig werden konnte, hat auch er oft die Dinge gehen lassen müssen, und so hat es schon unter ihm an schneidenden Dissonanzen zwischen innerer preußischer und innerer Reichspolitik nicht gefehlt. Freilich rufen auch noch tiefere Gründe diese Dissonanzen hervor. Es ist nicht bloß die taktische Klugheit des divide et impera, die zum Regieren mit zwei verschiedenartigen Parlamenten und zwei verschiedenartigen Systemen rät, sondern die innere Genesis und Struktur der deutsch-preußischen Macht zwingt in gewissem Sinne dazu. Das Deutsche Reich ist geschaffen worden mit den Kräften der altpreußischen Militärmonarchie, und die Kräfte der liberalen und nationalen Bewegung sind wohl benutzt, aber nicht als schlechthin leitend anerkannt worden. Und das Deutsche Reich ist dann im großen und ganzen durch dieselben Mittel erhalten worden, durch die es gegründet worden ist. Immer ist der preußische Militärstaat mit allem, was daran hängt, mit seiner Begünstigung derjenigen sozialen Schichten, die den Kern des Offizierskorps stellen, der festeste Punkt in der inneren Politik geblieben. Und die Interessen der übrigen sozialen Schichten hat man wohl nicht vernachlässigt, aber nie so zur Leitung emporkommen lassen wie jene. Man glaubt den festen Boden der Macht zu verlassen, wenn man sich ihnen anvertraut. Hier greifen die allbekannten Gedankengänge ein, die Friedrich Naumann aufgestellt hat. Hinter dem neuen Gegensatze des agrarischen und des industriellen Deutschlands wirkt in der Tiefe immer noch der alte Gegensatz zwischen Preußen und dem übrigen Deutschland. Pfizers Worte von 1832 finden noch heute ein Echo. Es ist ja
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nicht, wie er meinte, das preußische Volk in seiner Gesamtheit, das durch seine Parlamentsherrschaft das übrige Deutschland niederdrückt, sondern es ist der Bund der starken preußisch-deutschen Monarchie mit den stärksten politischen Kräften ihres Heimatstaates, der die Lage beherrscht. Darin aber, daß es nur ein Bund, eine Interessengemeinschaft ist, liegt auch die Möglichkeit eingeschlossen, daß dieser Bund sich einmal trennen und die Spannung zwischen Altpreußen und dem übrigen Deutschland sich einmal wieder lösen kann. Wir wissen uns frei von der an sich edlen Leidenschaft, mit der Naumann diese Frage beantwortet hat. Der reine Historiker wird vorsichtiger als er über den Spielraum der Möglichkeiten urteilen, wird auch die unvergleichliche Lebenskraft des altpreußischen Geistes höher einschätzen als er. So hat also die geistvolle Naumannsche Konstruktion nur den Wert einer Möglichkeit, aber allerdings einer sehr zu erwägenden und ernst zu nehmenden. Wenn sie eintritt, kann auch der Gedanke, dessen Geschichte ich vorführte, noch einmal eine Zukunft wieder haben. In einem Deutschland, das seine Machtinteressen dem Bürgertum und der Industriebevölkerung anvertrauen kann, wird auch der preußische Staat eine andere Stellung einnehmen als im Zeitalter Bismarcks und seiner ersten Nachfolger. Er wird nicht aufgelöst zu werden brauchen, aber der Reichsgedanke wird den Einzelstaatsgedanken mehr und mehr überwölben, die Einzelstaaten, große und kleine, würden dann faktisch doch in das Verhältnis von Reichsprovinzen heruntersinken. Wir wollen nicht prophezeien; wohl aber darf der Historiker auch die lebendigen Gewalten der Gegenwart in geschichtliche Perspektive stellen und auf die Möglichkeit ihrer Weiterentwicklung hinweisen. Lebendige Gewalten aber sind heute sowohl das alte Preußen wie das neue Deutschland. Die Formen, in denen sie auf- und miteinander wirken, sind vergänglich; auch die geistigen Mächte, die sie in sich bergen, sind es. Aber sie haben die Kraft, das Neue zu zeugen und leben dann fort in ihm.
1848 Eine Säkularbetrachtung Als selbständige Schrift aus Anlaß der Revolutionsfeierlichkeiten im März 1948 vom Magistrat von Groß-Berlin herausgegeben. Berlin, Blanvalet [1948]. Gleichzeitig in: Berliner Almanack 1948, hrsg. von Walter G. Oschilewski und Lothar Blanvalet. S. 44-77. Am 18. März dieses Jahres wird man, nach einem Jahrhundert ungeheuren Schicksalswandels, hinausziehen in den Friedrichshain und die Gräber der Märzgefallenen von 1848 reich mit Blumen und Kränzen schmücken. Ich kenne diesen Friedhof recht genau. Als Knabe kam ich 1871 mit meinen Eltern nach Berlin, und wir wohnten nahe dem Friedrichshain. Zwei Erlebnisse hatte ich damals, die mir heute symbolisch geworden sind. Ich sah von den Fenstern der Universität den Einzug der siegreichen Truppen und in ihrem Gefolge ein kleines Häuflein alter Herren - das waren die Veteranen von 1813, die noch lebten und diesen Triumphzug nun mit schmücken konnten. Und das andere Erlebnis, das war eben ein häufiger Spaziergang in den Friedrichshain, wo uns der Friedhof der Märzkämpfer wie ein unheimliches Überbleibsel einer überwundenen, schlechten und bösen Welt damals erschien. Hellster Sonnenschein dort, tiefdunkler Schatten hier. In diesem Kontrast bin ich aufgewachsen und mußte es nun im Lauf von sieben Jahrzehnten an mir erfahren, wie das, was früher Licht war, sich langsam, schließlich aber immer schneller umschattete, und das, was früher finster war, sich langsam aufzuhellen begann. Viele Gemütswerte, deren ein gesundes politisches Denken im tiefsten Grunde doch immer bedarf, gingen dabei in die Brüche, viel Resignation war nötig. Heute, in der unglückseligsten Lage unseres Volkes, folge ich mit nicht leichtem Herzen der ehrenvollen Aufforderung des Berliner Magistrats, als Historiker ein Wort der Säkularbesinnung nicht nur über das Ereignis des 18. März in Berlin, sondern über das ganze große deutsche Ereignis von 1848 zu sagen - und lege damit in Gedanken auch meinen schlichten Kranz an den Gräbern im Friedrichshain nieder. Wie problematisch steht es doch heute nach dem Zusammenbruch des Bismarckschen Reiches und damit auch unseres bisherigen Bildes vom Aufbau der deutschen Geschichte mit eigentlich
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allen Säkularerinnerungen nationalen und politischen Gehaltes. Uberall fehlt da ein allgemeiner Konsensus. Wenn die einen feiern möchten, wenden die anderen, sei es traurig, sei es unwillig, sich ab. Friedrich den Großen zu feiern? Bismarck zu feiern? Unmöglich heute. Man würde zwar ihrer in der Stille gedenken, aber.mit wieviel Brechungen! Mit dem schauerlichen Ende des Dritten Reichs droht auch unsere Nationalgeschichte, wie wir sie bisher sahen, in Stücke zu zerbrechen. Ganz heil geblieben sind außer den höchsten Ideen von 1813 nur die großen Werke und Werte des deutschen Geistes. Das Goethejahr 1949 wird wieder ein deutsches Volk finden, das sich in Angst und Liebe um seinen größten Dichter, der ihm nicht geraubt werden kann, drängt. Ob es ihn freilich dabei tiefer verstehen lernt, wissen wir nicht. Und nun die Berliner Märztage und das ganze Jahr 1848. Die Berliner Volkserhebung blieb, im Vordergrund gesehen, eine Episode, und das Wollen der für Fortschritt kämpfenden Männer aller Richtungen scheiterte und mußte scheitern. Die deutsche Revolution, sagt Friedrich Engels in seinen lehrreichen Artikeln von 1851/52 (die er unter dem Namen von Karl Marx in Amerika veröffentlichte), war eine Notwendigkeit, aber auch ihre zeitweilige Unterdrückung war ebenso unvermeidlich. Wir werden das noch zu begründen haben, richten jedoch unseren Blick zuerst auf die Berliner Erhebung und auf das Positive, was sie uns in unserer heutigen geschichtlichen Lage zu sagen vermag. Aber dafür müssen wir gleich etwas weiter ausgreifen. Wir müssen uns heute die Frage nach den Scheidewegen in der deutschen Geschichte schärfer als bisher stellen, um den unendlich verzweigten Komplex unseres düsteren Schicksals tiefer zu verstehen. Die natürliche Aufgabe Deutschlands im 19. Jahrhundert war, nicht nur die Einheit der Nation zu erringen, sondern auch den bisherigen Obrigkeitsstaat umzuwandeln in den Gemeinschaftsstaat, das heißt, das monarchisch-autoritäre Prinzip, womöglich durch friedliche Reform, so zu erweichen, daß es zu einer lebendigen und wirksamen Teilnahme aller Volksschichten an den Entscheidungen des Staatslebens kam. Das wurde gebieterisch gefordert durch die soziale Umund Neuschichtung des Volkes, die im Gange war und die bisherigen aristokratischen Grundlagen der autoritären Monarchie unterminierte. Ein Großbürgertum entstand, das Kleinbürgertum wuchs mächtig an Zahl, die Anfänge des Industrieproletariats ließen um die Jahrhundertmitte auch dessen gewaltiges Wachstum ahnen. Die Aufgabe nun, das neugeschichtete und an Lebenswillen überreiche Volk in einem neuen
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Gemeinschaftsstaate mit sich selbst in Einklang zu bringen, ist uns, im großen gesehen, trotz mancher liberaler und demokratischer Zugeständnisse seitens der alten Mächte mißlungen. Wo liegen nun die wichtigsten Scheidepunkte der Entwicklung, an denen die Möglichkeit sich zeigte, wo es vielleicht schon versucht, aber auch verhindert wurde, den Weg zum Gemeinschaftsstaate anzutreten? Ich sehe vor allem drei solcher Momente. Der erste liegt am Ende der preußischen Reformzeit, im Jahre 1819, dem Jahre der Karlsbader Beschlüsse, wo mit Wilhelm v. Humboldts und Boyens Entlassung auch die sehr fruchtbaren Verfassungspläne der beiden begraben wurden und das autoritäre und militaristische Prinzip in Preußen siegte. Der zweite Scheideweg, wo dieses wiederum schließlich siegte, war das Jahr 1848. Und der dritte Scheideweg war die preußische Konfliktszeit und das Jahr 1866, das zwar die Sehnsucht nach nationaler Einheit und Macht zu befriedigen vermochte, aber den liberalen und demokratischen Prinzipien nur Teil- und Scheinerfolge gönnte und die autoritärmilitaristische Zitadelle des bisherigen Staatslebens den anwogenden Volksströmungen versperrte. Von diesen drei Grundentscheidungen des 19. Jahrhunderts wurde die erste durchgekämpft in dem engeren Kreise der Regierenden selbst, zwischen hochsinnigen und weitsichtigen Staatsmännern auf der einen und einem beschränkten Monarchen auf der anderen Seite. Die dritte Entscheidung verlief als ein Duell zwischen dem liberalen Großbürgertum und Bismarck, wobei dieser enorm gewandte Fechter einen Teil seiner Gegner zu gewinnen verstand. An das Kampfmittel einer Revolution aber wagten in den Jahren vor 1866 seine fortschrittlichen Gegner nicht ernstlich zu denken - aus Angst, aus großbürgerlichen Instinkten. Da ist es nun das besondere, uns heute bewegende Schauspiel des zweiten Scheideweges, des von 1848, daß hier das ganze, nicht nur preußische, sondern deutsche Volk in allen seinen Schichten in stärkste Bewegung geriet, daß es zu einer wirklichen Revolution kam. Revolutionen, so furchtbar auch der Einbruch irrationaler Gewalten sein und sich auswirken mag, haben in bestimmten Fällen ihr tiefes geschichtliches Recht. Ein solches lag im Jahre 1848 für Deutschland und insbesondere Preußen vor. Es war zwar durchaus nicht alles, was zur alten, von der Revolution jetzt bekämpften Welt gehörte, nur Verfall oder Erstarrung. Die Biedermeierzeit mit ihren herrlichen Blüten des Geistes war vorausgegangen, der Zollverein, seit 1833, ein Werk des preußischen Beamtentums, gewährte die unumgänglichen
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Voraussetzungen für die Entfaltung der modernen Wirtschaftskräfte und damit auch für die soziale Umschichtung, aus der nun eben die Revolution entsprang. Der psychopathische Romantiker, der jetzt auf dem Hohenzollernthrone saß, war auch von heißer Liebe für Deutschtum und deutsche Einheit erfüllt und bemüht, sie auf seine Weise herzustellen. Aber diese Weise widersprach aufs schärfste den dringenden Bedürfnissen der Zeit. Auf Illusionen beruhten seine Versuche, die elende deutsche Bundesverfassung zu verbessern und das Verfassungsversprechen von 1815 einzulösen durch eine Versammlung der vereinigten Provinziallandtage von 1847. Denn die stark aristokratische Zusammensetzung dieser Provinzialstände und die geringen Rechte, die er dem Vereinigten Landtage nur gönnte, genügten ganz und gar nicht den Ansprüchen auf Volksvertretung, die aus der sozialen Umschichtung des Volkes erwuchsen. Und im täglichen Leben spürte man noch überall den alten autoritär-militaristischen Polizeistaat, ungebrochen trotz der einzelnen liberalen Zugeständnisse, die der König, mit der einen Hand gebend, mit der anderen wieder nehmend, machen konnte. Aber hinter der Auflehnung gegen sein persönliches, höchst zwiespältiges Regime und hinter allen einzelnen Unzufriedenheiten stand als tiefste Quelle das Gefühl, daß der preußische Militär- und Junkerstaat einer Wandlung von Grund aus bedürfe, daß der alte Obrigkeitsstaat einem neuen Gemeinschaftsstaate weichen müsse. Und dies Gefühl, das zur Revolution trieb, wurde nicht etwa erst hervorgerufen, sondern nur mächtig aufgerührt durch die französische Februarrevolution und die jählings nun in ganz Deutschland und selbst im Wien Metternichs ausbrechenden Einzelrevolutionen. Das merkwürdige Faktum, daß sie, ohne Widerstand zu finden, überall gleich siegten, zeigt doch, daß die moralische Position der Regierenden selbst schon merklich erschüttert war, daß sie den vollen naiven Glauben an die Lebensfähigkeit des Alten nicht mehr hatten, der nötig gewesen wäre, um die noch reichlich vorhandenen physischen Machtmittel der Regierungen gegen die Revolution auszuspielen. Als sie später merkten, daß diese Machtmittel noch vorhanden waren, haben sie entsprechend wohl auch gehandelt und Revolution durch Reaktion niedergekämpft. Aber damals, im März 1848, lagen sie, wie Friedrich Wilhelm IV. sich später ausdrückte, eben »alle auf dem Bauch«. Er, der König, voran. Und dabei hatte er sogar am 18. März seine physischen Machtmittel, sein zuverlässiges Militär, mit Erfolg kämpfen lassen gegen die Barrikaden der Berliner. Dennoch ließ er es am
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folgenden Tage durch seinen eigenen Befehl dazu kommen, daß diese Truppen, unbesiegt, die von ihnen eroberte Innenstadt wieder verließen und ihn selber damit den schwersten Demütigungen von Seiten der Aufständischen aussetzten. Wir lassen hier die verschlungene Problematik dieser Vorgänge, die von der Forschung immer wieder untersucht worden ist, ganz beiseite und betonen nur das eine: So widerspruchsvoll und schwächlich konnte kein Fürst handeln, der schlecht und recht und seelisch ungebrochen seine alte Welt gegen eine neue Welt verteidigte. Diese neue Welt hatte sich in ihm selbst schon heimlich und unbewußt etwas eingenistet und sein Handeln zerteilt und geschwächt. Trotz aller Rückschläge, die noch kamen, mußte sie früher oder später einmal siegen und den monarchischen Obrigkeitsstaat durch irgendeine Form von Demokratie ablösen. So darf man heute sagen, wenn man das ganze Jahrhundert überblickt, das uns von dem Jahre 1848 trennt, und an die Aufgabe denkt, die uns nun gestellt ist, nach Abwerfung aller Schlacken des Obrigkeitsstaates - das Dritte Reich war ja nur eine Afterform desselben eine gesunde und lebensfähige Demokratie aufzubauen. Der leichte Sieg, den der Berliner Straßenkampf zwar nicht militärisch, aber politisch und psychologisch über die alte Militärmonarchie davontrug, war ein Symbol dafür, daß deren Untergang in den Sternen geschrieben stand, daß eines Tages die Volkssouveränität Wirklichkeit sein würde. Aber auch nicht mehr als ein Symbol war er. Denn sehr unreif und unfertig war noch die neue Welt, und viele unerschöpfte Kräfte und temporäre Siegesmöglichkeiten barg die alte. Bismarck und sein Werk sind ja aus ihr hervorgegangen, glänzend und temporär zugleich. Machen wir uns jetzt aber auch die Merkmale der Unreife, in der die neue Welt der Demokratie damals noch stand, klar. Zunächst ein Blick auf Berlin. Die Barrikadenmänner des 18. März haben gewiß tapfer und erbittert gekämpft, erbitterter als die Pariser vorher am 24. Februar. So urteilte der Franzose Circourt, der als Vertreter seiner neuen Republik nach Berlin gekommen war und beide Straßenkämpfe mit angesehen hatte. Aber war es wirklich das ganze Berliner Volk, das hinter ihnen stand und ihren Kampf mit seinen Wünschen begleitete? Der alte Pastor v. Bodelschwingh, der Gründer von Bethel, der Sohn des Ministers, der den Rückzugsbefehl des Königs am 19. März zu verkünden hatte, schrieb mir, als ich 1902 ihn um Auskünfte über den 18. März bat: »Wir Knaben trieben uns den Sonntagmorgen (19. März) auf den Straßen herum. Es herrschte bei
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dem größeren Teil unserer Bevölkerung eine freudige Stimmung über das Zurückwerfen des Aufruhrs, überall wurden die Truppen von den Häusern aus mit Nahrungsmitteln versorgt.« Zwar tragen die meisten Einzelzeugnisse, die wir über den 18. und 19. März besitzen, etwas von der Farbe der Gesinnung, die der Zeuge hatte, und so darf man auch dies Bodelschwinghsche Zeugnis nicht wörtlich nachsprechen. Aber noch weniger darf man es auch ganz verwerfen. Und ein Blick auf die Gesamthaltung des deutschen Bürgertums in den Jahren 1848/49 zeigt erst recht, daß es in breiten Schichten noch sehr ruhebedürftig und den alten Autoritäten ergeben war. Man muß diese Frage vertiefen, um die rätselhafte Tatsache verständlich zu machen, daß diese ganze deutsche Revolution von 1848 im Anfang so leicht siegen und in ihrem weiteren Verlaufe dann mit verhältnismäßig geringer Mühe niedergeworfen werden konnte. Charakter, Gesinnung und Gesittung des damaligen deutschen Volkes und seiner verschiedenen sozialen Schichten müssen dazu erwogen werden. Und unser heutiges Bedürfnis, ein innerliches Verhältnis zu diesem ersten Versuche einer deutschen Demokratie zu gewinnen, führt erst recht auf diese Frage. Das deutsche Volk war eben erst aus den Jahren des Denkens, Dichtens und Träumens in die Jahre des praktischen Schaffens und Strebens getreten. Aber das Denken und Träumen setzte sich auch im neuen Schaffen und Begehren noch fort. Dieser ideologische Grundzug ist allen Parteien und Schichtungen des Volkes gemeinsam, von Friedrich Wilhelm IV. und seinen frommen christlich-germanischen Freunden, den äußersten Spitzen der Reaktion an, bis zu den äußersten Spitzen der Revolution, den geisteskräftigen Verkündern des kommunistischen Manifestes von 1848, Karl Marx und Engels. Denn wirkte nicht in ihnen Hegel »aufgehoben« weiter? War nicht in diesen beiden Denkern, die alles Ideologische nur als sekundäre Auswirkung wirtschaftlicher Entwicklungskräfte ansehen wollten, ideologisch eben der unbedingte Glaube an die Zukunftskraft der von ihnen aufgestellten Entwicklungsgesetze zu einer Zeit, in der sie selbst nur ein kleines Häuflein von Anhängern fanden? Jedenfalls wird man ihnen einen starken Idealismus ebensowenig absprechen dürfen wie den Dahlmann und Gagern, den Vorkämpfern des liberalen Nationalstaats, und den Brüdern Gerlach, den Verteidigern eines gottgewollten Ständestaates. Die deutsche Revolution von 1848 zeigt nun gewiß nicht nur allenthalben den oft über das Wirkliche hinwegfliegenden und ideolo-
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gisch werdenden Idealismus, sondern auch - kausal noch mächtiger das Wirkliche selber, die massiven und elementaren Interessen der Menschen und sozialen Gruppen, und weil es eine Revolution war, auch die Entfesselungen menschlicher Gemeinheit und Untaten aller Art, von rechts wie von links her verübt. Vergleicht man sie aber mit anderen Revolutionen - und nun gar der schimpflichsten aller Revolutionen, der von 1933 - , so gewahrt man, daß der Faktor der menschlichen Gemeinheit in ihr eine verhältnismäßig geringe Rolle gespielt hat. Daran kann nicht irre machen die Tatsache, daß die extremen Parteien sich gegenseitig mit Vorliebe die Anklage auf Gemeinheit zuschrien. Das war in großem Umfange »Greuellegende«. Weder gab es schlechthin eine »vertierte Soldateska«, noch schlechthin »Pöbel« auf den Barrikaden und in den Freischaren Heckers und Struves. Das deutsche Volk, im ganzen gewertet, stand damals auf einem verhältnismäßig hohen sittlichen Niveau. Die geistige Höhe der Goethezeit hatte dieses Volk freilich nicht mehr inne. Das war schon deswegen unvermeidlich, weil die drängende Aufgabe, eine neue politische und soziale Lebensform sich zu erobern, die Menschen mehr in Massen und Gruppen zusammendrängte und die innere Sammlung des Individuums in sich, aus der alle hohe Kultur hervorgeht, erschwerten. Aber nun kam es darauf an, ob es auch die für seine neue Aufgabe erforderliche Reife, Kraft, Einsicht und Ausdauer besitzen würde. Wohl war, wie wir sagten, ein kommender Sieg der neuen über die alte Welt, der Volkssouveränität über den Obrigkeitsstaat, in den Sternen geschrieben. Aber ob er schon jetzt errungen werden konnte? Der tatsächliche Mißerfolg der Revolution braucht noch nicht notwendig als Beweis für die Unreife zu gelten. Denn Konstellationen von mehr zufälliger Art könnten ihn verursacht haben. Wie bitter ist schon damals darüber geklagt worden, daß gerade eine Persönlichkeit wie Friedrich Wilhelm IV. der Schicksalsmann der Revolution werden konnte, der sich zwar anfangs aus Schwäche ihr beugte, dann aber ihr zähe widerstand und durch die Ablehnung der Kaiserwürde am 3. April 1849 den Ruf der Nation, den liberalen Nationalstaat zu schaffen, verhallen ließ. Gewiß hätte ein anderer an seiner Stelle auch eine andere und vielleicht günstigere Lösung des deutschen Problems versuchen können. Dann hätte es aber schließlich wieder von der Weltlage abgehangen, ob sie gelungen wäre. Nehmen wir diese Frage später wieder auf, und fragen wir jetzt noch einmal: war denn das deutsche Volk schon reif?
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Wesensanlage und geschichtliche Erlebnisse zusammenwirkend hatten es nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich in einem Grade zersplittert wie kaum ein anderes Volk Europas. Der fürstliche Territorialstaat, verhundertfacht bis zu lächerlichen Zwerggebilden und überall angewiesen auf einen ihm dienenden und dafür nach unten hin herrschenden Grundadel, war den Deutschen ins Blut gegangen, hatte sie gehorsam und politisch unselbständig gemacht. Wir sehen gerade in dieser Vervielfältigung des Obrigkeitsstaates die Hauptursache, weshalb die Mentalität dieses Obrigkeitsstaates so tief in die Poren des deutschen Volkslebens eingedrungen ist. Diese besondere Untertänigkeit gegenüber der Obrigkeit kann man als die Obödienzgesinnung unseres Volkes bezeichnen. Man vergleiche unser Volksleben nur mit dem Englands und Frankreichs, wo der Absolutismus der Krone - in England überhaupt nur ganz kurzlebig - wohl eine einheitliche Nation hat schaffen helfen, aber niemals ihr eine solche dauernde und intensive Obödienzgewöhnung hat beibringen können wie der verhundertfachte Kleinstaat den Deutschen. Wie weit nun eine ursprüngliche Wesensanlage dabei mitgewirkt hat, kann man nur eben vermuten. Etwa die Gefolgschaftsgesinnung, von der Tacitus uns erzählt? Aber das Beispiel der deutschen Schweiz und ihrer geschichtlichen Entwicklung seit dem Mittelalter zeigt, daß auch noch andere Wesensanlagen politischer Art im deutschen Blute steckten. Frei von fürstlichen und darum starren Obrigkeiten, nur von patrizischen und dadurch auch biegsamen Obrigkeiten früher beherrscht, hat die Schweiz das ursprüngliche demokratische Prinzip ihrer Urkantone zum allgemeinen Prinzip ihres Gemeinwesens werden lassen und eine moderne Demokratie auf geschichtlicher Grundlage damit schaffen können. Nein, der Deutsche braucht als Deutscher nicht fatalistisch zu fürchten, auf Zeit und Ewigkeit zur Obödienzgesinnung des Obrigkeitsstaates verurteilt zu sein. Aber Zeit, viel Zeit kostet es, sie wieder loszuwerden. Der ethische Wert aber eines hingebenden Pflichtgefühls, den der preußische Obrigkeitsstaat dadurch auch zu entwickeln vermocht hat, ist von so allgemein menschlicher Art, daß er auch im demokratischen Gemeinschaftsstaate erblühen kann - sogar aus tieferer und humanerer Wurzel als im Obrigkeitsstaate. Schlechtes und Gutes zugleich also erwuchs aus dieser Obödienzgesinnung, deren Ursprung vor allem doch wohl in der staatlichen Zersplitterung lag. Auch da, wo ein größeres Staatswesen sich bildete wie in Preußen, kam durch die extreme Anspannung dieser Obödienz-
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gesinnung der Kontrast zwischen ihren schlechten und guten A u s w i r kungen besonders grell zur Erscheinung. Preußen, ein Staat mit zwei Seelen, die eine straff und engherzig, sich in sich selbst zusammendrängend, die andere kulturell lebendig, einen Dreibund v o n »Recht, Licht und Schwert« (Boyen) erstrebend und in das weite deutsche Leben hineinwachsend, abstoßend und anziehend zugleich, wirkte es jetzt auf das übrige Deutschland. A b e r wie verwirrend und zersplitternd mußte das nun wieder auf alle Willenskräfte der deutschen Revolution w i r ken! Die Einheitlichkeit des revolutionären Wollens, die zu einem Siege über die alte W e l t erforderlich gewesen wäre, w u r d e dadurch v o n vornherein ungeheuer erschwert. Einheit, Macht und Freiheit zugleich begehrte w o h l jetzt stürmisch das aus seiner bisherigen O b ö d i e n z sich losreißende deutsche V o l k - und zersplitterte sich dabei doch wieder nur v o n neuem, w e n n es nach den Wegen suchte, auf denen sie zu gewinnen waren. W i e tief zersplitternd und lähmend hat nicht das österreichisch-großdeutsche Problem, die den einen vermeidlich, den anderen unvermeidlich erscheinende O p f e r u n g eines Bruderstammes und Zerreißung deutscher Volksgemeinschaft gewirkt und zu dem negativen Ausgange der Revolution beigetragen. K a u m nötig, auch noch der Partikularismen der deutschen Mittelstaaten zu gedenken. Es waren ja nicht nur die eigensüchtigen Triebe der Fürsten, ihrer Hofräte und Hoflieferanten, sondern auch Tendenzen in den Bevölkerungen selbst, bewußte wie unbewußte, die mit der neuen Sehnsucht nach Einheit in K o n f l i k t gerieten. Das waren die säkular erwachsenen, bis in das Mittelalter zurückgehenden Faktoren, die einen einheitlichen Revolutionswillen des deutschen Volkes v o n vornherein schwächten und zerteilten und v o r nur durch schwere O p f e r lösbare Probleme stellten. Hinzu aber kamen nun Probleme modernster A r t , die aus der sozialen Neuschichtung entstanden. W o h l w a r derjenige Teil des Volkes, der aus der alten Obödienzgesinnung jetzt herausbrach und gegen Obrigkeitsstaat und nationale Zersplitterung aufbegehrte, einig in dem R u f e nach Einheit, Macht und Freiheit, aber trennte sich untereinander schon wieder in der Akzentuierung und Auslegung des einen oder anderen dieser drei Werte. Denn hinter der nationalen Revolution vollzog sich eine soziale Revolution, ein Klassenkampf zwischen den alten, neuen und neuesten sozialen Schichten - wie am schärfsten damals Marx und Engels erkannten, die V o r k ä m p f e r der neuesten, eben erst entstandenen und noch gar nicht sehr zahlreichen Schicht des Industrieproletariats.
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Zwischen dieser jüngsten und, wie Marx und Engels dogmatisch verkündeten, zukunftsreichsten Schicht und der bisher regierenden von Adel und höherem Beamtentum lagen die zwei deutlich voneinander unterschiedenen bürgerlichen Schichten von Großbürgertum und Kleinbürgertum, die eine neueren Datums, die andere recht alten Datums, wenn auch nicht so alten Datums wie der Bauernstand auf dem Lande, der mit den Landarbeitern zusammen quantitativ noch die weit überwiegende Mehrheit des Vokes überhaupt ausmachte (auf fast 4 A berechnete sie damals der volkswirtschaftliche Ausschuß des Frankfurter Parlaments). Der Anteil der Landbevölkerung an der Revolution war gewiß nicht gering, schuf aber keine besonders schwierige Problematik für das Schicksal der Revolution im ganzen. Denn zunächst handelte es sich hier nur - da eine allgemeine Bodenreform durch Zertrümmerung des Großgrundbesitzes noch nicht ernstlich erstrebt wurde - um die Abschüttelung aller noch vorhandenen Feudallasten, die auf Bauernstand und Bauernland lagen. Das war eine verhältnismäßig einfache Aufgabe. Selbst konservative Staatsmänner hatten die Einsicht, daß sie jetzt gelöst werden müßte, und als die Bauern merkten, daß man an ihre Lösung ginge oder bald gehen würde, wurden sie wieder ruhiger. Von alter Obödienzgesinnung steckte ohnehin noch genug in ihnen. Der junge Bismarck konnte ja glauben, sie zur Konterrevolution benutzen zu können. Die Hauptträger der revolutionären Bewegung aber steckten, außer in der Arbeiterschaft, im Kleinbürgertum. Handwerksgesellen und Arbeiter bildeten das Gros der Barrikadenkämpfer. Wären sie nicht aufgestanden, so wäre es überhaupt zu keiner Dynamik der Revolution gekommen, und wären alle Ideologen und Idealisten der allgemeinen Bewegung bis zum Großbürgertum herauf Offiziere ohne Soldaten geblieben - wäre kein Paulskirchenparlament, keine Reichsverfassung mit preußischem Erbkaisertum zustande gekommen. Dem Handwerk ging es damals schlecht in Deutschland. In der Paulskirche würde erzählt, daß es eine kleine Stadt gäbe mit siebzig Schneidern, von denen nur sieben Arbeit fänden. Man litt unter dem hie und da noch bestehenden Zunftzwang. Aber ein echt zünftlerischer Geist brach auch wieder aus in dem Verzweiflungskampfe brotlos werdender Gewerbe gegen die neue Maschine, in den Exzessen der Fuhrleute gegen die Eisenbahn und der Flußschiffer gegen die Dampfboote auf dem Rhein. Das waren alles nur eben Symptome für die allgemeine Grundtatsache des 19. Jahrhunderts, daß die Maschine, die moderne
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Technik das ganze Leben der abendländischen Völker revolutionierte, indem sie neue Menschenmassen und neue ungeahnte Notstände dieser Menschenmassen schuf. Und der alte Obrigkeitsstaat zeigte sich hier auf lange hinaus außerstande, wirksam zu helfen. Seine Bürokratie war bald wohlmeinend, bald engherzig und pedantisch, seine Polizei quälerisch, sein Militär, obwohl die preußische Heeresverfassung in der Landwehr eine sehr volkstümliche Seite hatte, durch Hochmut und Drillgeist der Linie und ihrer Offiziere aufreizend und erbitternd. Demokratie als Heilmittel für alles, worunter man litt, war nun das Zauberwort, das durch das ganze, von Hause aus so ruheselige und nun so unruhig gewordene Kleinbürgertum hallte. Die Arbeiterschaft nahm es auf und fügte ihre eigenen sozialistischen Forderungen hinzu. Die Jugend der höheren bürgerlichen Schichten begeisterte sich vielerorts an ihm und brachte den idealen Schwung hinein. Es war freilich noch eine höchst unreife und primitive Demokratie, von der man träumte, mehr Negation des alten Obrigkeitsstaates als Position eines auf voller Gemeinschaftsgesinnung aller Schichten beruhenden Volksstaates. Und Mißtrauen und Hochmut der einen Schicht gegen die andere schied selbst diejenigen wieder voneinander, die sich eben noch gemeinsam gegen die alten Autoritäten aufgelehnt hatten. Machen wir diese und andere eben berührte Tatsachen uns anschaulich an den Erlebnissen des jungen Rudolf Virchow in den Berliner Märztagen. Er war acht Tage vor dem 18. März aus Oberschlesien zurückgekehrt, wo er als Arzt die Epidemie des Hungertyphus zu beobachten Auftrag gehabt hatte. Er war entrüstet über die Unfähigkeit der Behörden, wirksame Hilfe zu schaffen und schon lange überzeugt von der Unhaltbarkeit des absolutistischen Regierungssystems. Er half am 18. März Barrikaden bauen und stellte sich selbst mit einer Pistole bewaffnet an die Barrikade, die die Friedrichstraße von der Taubenstraße sperrte. Sechs Tage später schon mußte er seinem Vater schreiben: »Schon beginnt unter der Bürgerschaft (Bourgeoisie) die Reaktion gegen die Arbeiter (das Volk). Schon spricht man wieder von Pöbel, schon denkt man daran, die politischen Rechte ungleichmäßig unter die einzelnen Glieder der Nation zu verteilen.« Aber die Volkspartei sei wach und mächtig und werde dahin sehen, »das nicht eine Bourgeoisie die Früchte eines Kampfes genießt, den sie nicht geschlagen hat«. Man sieht, wie nahe man damals in Berlin die Verwandtschaft mit
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den Vorgängen der beiden französischen Revolutionen von 1830 und 1848 empfand. Aber die Probleme der deutschen Revolution waren doch viel komplizierter als die der französischen. Denn die Sozialrevolution mit ihrem Klassenkampf verschlang sich bei uns mit der Nationalrevolution in einer Weise, die schließlich zum Scheitern beider Revolutionen führte. Frankreich hatte keine Nationalrevolution mehr nötig. Es hatte längst seine Einheit, und sein konzentrierter Machtwille ging ohne Schwierigkeit von einem Regime auf das andere hinüber. In Deutschland war beides erst mit unendlicher Mühe zu schaffen. Und dies Bedürfnis nach Einheit und Macht für das Ganze war ebenso elementar und geschichtlich tief verständlich wie der Schrei der bisher durch den Obrigkeitsstaat niedergehaltenen Volksschichten nach Freiheit und Gleichberechtigung im Innern. Dahlmann in Frankfurt meinte sogar, daß das Begehren des Deutschen nach Macht und Freiheit zur größeren Hälfte jetzt auf Macht, die ihm bisher versagte, gerichtet sei. Die verbrecherische Ubersteigerung, die das Machtbedürfnis in Deutschland in unseren Tagen erfahren hat, darf nicht etwa zu einem Verdikt über den Machthunger der 48er verleiten. Denn dieser Hunger war ein echter Hunger nach Unentbehrlichem. Auch Goethe hat ihn einst nach der Schlacht bei Leipzig anerkannt. »Wissenschaft und Kunst«, sagte er damals zu Luden, »gehören der Welt an, und vor ihnen verschwinden die Schranken der Nationalität. Aber der Trost, den sie gewähren, ist doch nur ein leidiger Trost und ersetzt das stolze Bewußtsein nicht, einem großen, starken, geachteten und gefürchteten Volke anzugehören.« Im Grunde ging doch dasselbe Gefühl und eine verwandte Lebenserfahrung durch alles Begehren des Jahres 1848, durch das demokratische Freiheitsbegehren wie durch das nationale Einheits- und Machtbegehren. Heraus aus den einschnürenden und unerträglich gewordenen Banden der Vergangenheit, aus einem Kerker ohne Licht und Luft. Ebenso mißachtet und mißhandelt sich der kleine Mann in den Nöten seines täglichen Daseins durch den Obrigkeitsstaat überhaupt fühlte, ebenso mißachtet und mißhandelt fühlte sich der Weiterblickende als Glied der großen Volksgemeinschaft durch die quälerisch und oft lächerlich trennenden Grenzen der achtunddreißig großen und kleinen Obrigkeitsstaaten. Und ebenso mißachtet und beiseitegeschoben fühlte er sich und sein ganzes Volk inmitten der europäischen Staatenwelt. Alle drei Begehren sollten nun, wie man gläubig hoffte, ihre Erfüllung finden durch die Frankfurter Nationalversammlung, die, aus
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allgemeinem und gleichem Wahlrecht hervorgegangen, am 18. Mai zusammentrat. Achten wir auf ihre soziale Zusammensetzung - sie war merklich anders, als man nach dem demokratischen, von Frankreich her übernommenen Wahlrecht vermuten möchte. Kein Arbeiter gehörte ihr an, nur ein wirklicher Bauer, wenige Angehörige des kleinen Mittelstandes, aber viele Juristen und bekanntlich auch viele Professoren, und an Vertretern der Wirtschaft und Unternehmerkreise fehlte es nicht. Das zeigt den noch vorhandenen Respekt der unteren vor den oberen Schichten der Gesellschaft, vor den akademisch Gebildeten vor allem, vor dem, was man Großbürgertum nennt, überhaupt. Aber dieselben Massen, die ihre Stimmzettel jetzt für dieses abgaben, waren nun auch in einer schäumenden und tosenden Bewegung, die den großbürgerlichen Interessen und Idealen notwendig Sorge bereiten mußte. Man hatte die Stoßkraft dieser Bewegung gebraucht, um überhaupt nach Frankfurt in die Paulskirche zu gelangen. Aber nun galt es, sie zwar auch weiter zu benutzen als unentbehrliches Machtmittel gegen die Regierungen, aber auch in Schranken zu halten, um Anarchie und Umsturz der sozialen Ordnung zu verhüten. Das Schreckbild der französischen Terreur von 1793 stand vor Augen. Letzten Endes war es doch die kommunistische Gefahr, die dem ganzen, nicht nur großen, sondern auch kleinen Bürgertum zu drohen schien. Wie auch das Kleinbürgertum sich von ihr bedroht fühlte, zeigt beispielhaft der blutige Zusammenstoß von Bürgerwehr und Arbeitern in Berlin am 16. Oktober 1848. Kommunistische Schlagworte und Forderungen erschollen aus den aufgeregten Massen. Das klar durchdachte Wollen eines Marx und Engels war zwar auf kleinste Kreise erst beschränkt. Aber die Existenz einer kommunistischen Bewegung überhaupt hat, tiefer gesehen, den Gang der Dinge im Jahres 1848 und zunächst schon die Haltung und Politik der Paulskirche vielleicht entscheidend bestimmt, mindestens mitbestimmt. Denn sie war es, die das Bürgertum und seine Vertretung in den Mehrheitsparteien der Paulskirche immer wieder nach rechts zu einer Verständigung mit den alten Autoritäten und ihren militärischen Machtmitteln drängte, die es verhindern half, daß ein einheitlicher revolutionärer Wille im ganzen Volke erhalten blieb, dem die Regierungen sich vielleicht schließlich hätten fügen müssen. Wir gebrauchen das Wörtchen »vielleicht«, weil geschichtliche Fragen dieser Art nicht wie ein reines Rechenexempel behandelt werden dürfen, weil überall ein unbekanntes X die Rechnung da stört, wo es gilt, die geschichtliche Möglichkeit einer anderen
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Entwicklung als derjenigen, die wirklich eingetreten ist, zu erwägen. Tatsächlich befanden sich jedenfalls die Parteien der Mehrheit, rechtes und linkes Zentrum, die den liberalen National- und Verfassungsstaat mit preußischem Erbkaisertum schaffen wollten, in einer überaus widerspruchsvollen und prekären Lage. Sie hatten die Machtmittel einer Revolution ebenso nötig wie die Machtmittel einer Konterrevolution. Und sie konnten und durften doch keines dieser beiden Machtmittel unbedingt und mit vollem Einsatz benutzen, ohne ihr Werk von Grund aus zu gefährden. Indem sie aber eine Mittellinie zu gehen versuchten und beide Machtmittel gleichzeitig oder abwechselnd wirken ließen, kamen sie wiederum in die Gefahr hinein, selber machtlos zu werden und ihr Werk scheitern zu sehen an den Machtmitteln des Stärkeren der beiden Gegner - der Konterrevolution. Dies ist ihr Schicksal, im großen gesehen, geworden. Weisen wir hier nur kurz auf die Hauptknotenpunkte hin, in denen es sich vollzog. Von Frankreich war im Februar das Signal zur Revolution gegeben worden, von Frankreich wurde im Juni auch das Signal zur Konterrevolution gegeben. In dreitägiger furchtbarer Straßenschlacht warf Cavaignac die Arbeiterschaften von Paris nieder. Das deutsche Bürgertum atmete zwar auf, aber es trug Gewinn und Verlust zugleich davon durch das nun erfolgende Abebben der revolutionären Wogen auch in Deutschland - während es für die reaktionären Gewalten des Obrigkeitsstaates ein reiner Gewinn war. Mit den Chancen des Kommunismus sanken nun auch die Chancen des nationalen Liberalismus. Derselbe dynamische Hergang vollzog sich dann im September. Der von der preußischen Regierung mit Dänemark abgeschlossene Waffenstillstand von Malmö, der die deutschen Ansprüche auf Schleswig schwer gefährdete, wurde von der entrüsteten Mehrheit der Paulskirche zuerst abgelehnt, dann kurz darauf, weil die Konsequenzen der Ablehnung sich als undurchführbar erwiesen, von der wieder kleinlaut gewordenen Versammlung angenommen. Und als nun ein Sturm von links her zum Straßenkampf in Frankfurt selbst führte und die Versammlung bedrohte, mußte sie sich die Hilfe preußischer und österreichischer Truppen (aus der Bundesfestung Mainz) gefallen lassen, um einen allgemeinen Abrutsch nach links zu verhüten. Wiederum stiegen die Chancen des Obrigkeitsstaates, sanken die Chancen des nationalen Liberalismus. Und noch tiefer sanken sie, als die Regierungen von Österreich und Preußen im Oktober und November aus eigener Kraft die aufsässige Demokratie in Wien und Berlin niederwarfen.
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In solcher Konstellation entstand das Verfassungswerk der Frankfurter Nationalversammlung, abgeschlossen durch die Wahl des Königs von Preußen zum Erbkaiser am 28. März 1849 - gewiß ein stolzes Werk edelsten nationalen und freiheitlichen Wollens, aber ohne die Fundamente der Macht, die erforderlich gewesen wäre, um es gegen die partikularistischen und reaktionären Gewalten des Obrigkeitsstaates durchzusetzen. Es scheiterte sogleich an dem Nein, mit dem Friedrich Wilhelm IV. am 3. April 1849 auf das Angebot der neuen Krone antwortete, die ihm nur als ein Danaergeschenk der Revolution erscheinen konnte. Und als nun die wirkliche Revolution ihr Haupt wieder erhob und die Enttäuschung breiter Massen über den negativen Ausgang des Frankfurter Werkes sich in den Maiaufständen der Pfalz und Badens entlud, mußte das ebenfalls enttäuschte Bürgertum, um nicht ganz der Revolution und dem damit drohenden sozialen U m sturz zu verfallen, wiederum wie im September 1848 seine Anlehnung beim Obrigkeitsstaate suchen. Es hatte seine eigene Rolle als selbständiger Machtfaktor nun ausgespielt und mußte mit den eng bemessenen Rationen nationaler und liberaler Zugeständnisse zufrieden sein, die ihm die Einsicht der in Preußen Regierenden etwa noch gewähren wollte. Die Maiaufstände aber wurden ohne viel Mühe durch preußische Truppen niedergeworfen. Die Revolutionskämpfer, mochten es nun Idealisten aus bürgerlicher Bildungsschicht, kleine Leute des Mittelstandes oder Arbeiter sein, erwiesen sich als militärisch ganz unzulänglich gegenüber der zuverlässigen und disziplinierten Streitmacht des Obrigkeitsstaates. An diesem Felsen zerbrach also die deutsche Revolution. N u r ein einheitlicher revolutionärer Wille, großes und kleines Bürgertum und Arbeiterschaft vereinend, hätte, wie wir schon sagten, einen anderen Ausgang erzwingen und die Obödienzgesinnung des Heeres derart lockern können, daß die alten Obrigkeiten zu Fall gekommen wären. Aber die soziale Neuschichtung des Volkes, die es innerlich spaltete, hat ja von vornherein die Bildung eines solchen revolutionären Einheitswillens unmöglich gemacht. Ohne diese soziale Umschichtung aufstrebendes Großbürgertum, von Entwurzelung bedrohtes Kleinbürgertum, aufstrebende Arbeiterschaft - wäre auch die Revolution unmöglich gewesen. So eigentümlich und tragisch ineinander verflochten war die innere Notwendigkeit dieser Revolution mit ihrem notwendigen Scheitern. Wir haben mit Absicht hauptsächlich die Frage verfolgt, ob das Jahr
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1848 dem deutschen Volke schon hätte den Gemeinschaftsstaat bringen können. Denn diese Frage ist es, die uns in der heutigen finsteren Lage vor allem auf dem Herzen brennt. Nur als ein echter und gesunder Gemeinschaftsstaat konnte Deutschland auch in Europa und in der Welt eine Stellung und Macht gewinnen, die in allen europäischen Krisen sich hätte behaupten können. Das Bismarcksche Reich, so großartig auch sein Unternehmen war, alte und neue Lebensmächte des Staatslebens und der Gesellschaft miteinander zu verbinden, hat es doch zu jener Gemeinschaftsgesinnung im ganzen Volke nicht bringen können, die den innersten Kitt des Ganzen und die Grundlage einer lebensfähigen Demokratie bilden muß. Man spricht seit Ranke so viel von einem Primat der auswärtigen Politik, der das innere Staatsleben letztlich forme und beherrsche. Ich glaube, daß diese Lehre, die einen unabweisbaren Wahrheitskern enthält, heute einer Revision und gewissen Einschränkung bedarf. Die Motive sowohl als die Wirkungen und Erfolge auswärtiger Politik, und zumal ob es dauernde oder nur momentane Erfolge sind, hängen doch in hohem Grade ab von der inneren Kohärenz und Standfestigkeit des sie übenden Staates, von der Art und dem Grade von Gemeinschaftsgesinnung, die ihn trägt. Das Bismarcksche Reich war zwar aufgebaut unter dem Primat der auswärtigen Politik, d. h. aus dem Bedürfnis, in der Mitte Europas einen starken und unabhängigen Machtstaat aufzurichten. Es fehlte ihm auch keineswegs an der Einsicht, daß dieser Machtstaat auch innere Kohärenz und Gemeinschaftsgesinnung besitzen müsse. Aber die Synthese von Obrigkeitsstaat und Gemeinschaftsstaat, die er herzustellen versuchte, hielt nicht vor in den Jahren der Entscheidung, als die Weltkriege kamen. Es war zu viel eben des Obrigkeitsstaates in seinem Werke geblieben. Wie aber verhält sich, so müssen wir nun fragen, das Jahre 1848 zu dem Primat der auswärtigen Politik und überhaupt zu der Welt der europäischen Machtverhältnisse? Wir sahen bereits, daß man auch im Jahre 1848 sich die Aufgabe stellte, Deutschland zu einem Machtstaate zu erheben. Und dies Bedürfnis wurde nicht nur in den Reihen der bürgerlichen liberalen Reformpartei der Erbkaiserlichen empfunden, sondern durchglühte auch, mehr oder minder bewußt, in hohem Grade das Wollen derer, die aus Deutschland »die eine und unteilbare Republik« machen wollten. Machtpolitik, und zwar eine noch ganz unverantwortliche, wurde hier auch schon durch Wünsche und Gelüste in nicht geringem Umfange betrieben, nur eben eine solche, die der
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Demokratie helfen sollte. Krieg also als Mittel, um einen dauernden Friedenszustand demokratisch geeinter Völker Europas zu erkämpfen - man stößt oft genug auf den Gedanken, etwa in Freundschaft mit dem demokratischen Frankreich dem autokratischen Rußland auf den Leib zu gehen. Und forderte nicht in der Septemberkrisis nach dem Malmöer Waffenstillstand gerade auch die Linke der Paulskirche die Fortsetzung des nationalen Krieges gegen Dänemark, der zu einem europäischen Kriege zu werden drohte? Und ein Karl Marx war der Meinung, daß ein Weltkrieg seiner Sache helfen müsse. Man griff also auch hier gern einmal, wenn auch zunächst nur mit kühnen Worten, an das Schwert, nur daß dies Schwert nicht mehr das der »vertierten Soldateska« des Obrigkeitsstaates künftig sein sollte, sondern das einer Volkswehr. Wir erkennen jetzt, daß eine Weitertreibung, ein Sieg der Revolution im Innern Deutschlands in die Sturmschicht eines großen europäischen Krieges führen konnte - vielleicht mußte. Wiederum eine tief tragische Erkenntnis. Diese Gefahr eines europäischen Krieges lag in der Tat wie eine schwere, dunkle Gewitterwolke über der ganzen Revolution des Jahres 1848 und selbst darüber hinaus noch. Alle im engeren Sinne nationalen Probleme dieses Jahres waren in hohem Grade kriegsgefährlich. Ein Krieg mußte ja gleich im April 1848 schon begonnen werden für die Gewinnung Schleswigs, erweckte aber sofort in Rußland, England und Schweden Gegnerschaften, die diese Gewinnung schließlich auch verhindert haben. Das deutsch-polnische Problem der Provinz Posen führte zunächst schon zu blutigen Kämpfen innerhalb der Provinz selbst, hätte aber auch leicht zu einer russischen Intervention führen können. Die große Frage Österreich-Deutschland, die Verdrängung Österreichs aus dem von der Paulskirche erstrebten deutschen Bundesstaate, war erst recht mit der schweren Hypothek eines kommenden Krieges gegen Rußland und Österreich belastet. Und Frankreich? Hier war von vornherein die Überzeugung allgemein, daß ein geeintes und mächtiges Deutschland nicht geduldet werden dürfe. Die »Sicherheit« Frankreichs, sagte man, sei dann bedroht. Ein neuer Kampf um die Rheingrenze war zu besorgen. Offensive und defensive Motive waren dabei im französischen Denken - wie vielleicht immer seitdem! - untrennbar miteinander verwc&en. Aber waren sie es nicht auch vielfach im deutschen Denken? An expansionistischen Phantasien, zunächst nur einzelner, fehlte es auch hier nicht.
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So barg die deutsche Revolution von 1848 und insbesondere das Werk der Paulskirche, die Reichsverfassung von 1849, kriegerische Möglichkeiten, die durch das darauffolgende Jahrhundert zu Wirklichkeiten geworden sind und schließlich mit dem Zusammenbruche Deutschlands endeten. Damals blieben es nur Möglichkeiten, weil die deutsche Revolution, vom Dänenkriege abgesehen, intern verlief, weil sie intern schon gebändigt werden konnte durch den Einsatz der Machtmittel des Obrigkeitsstaates. Aber gebändigt wurden damit nicht nur die kriegsschwangeren Einheits- und Machttriebe, sondern auch die Freiheitstriebe des deutschen Volkes, das Verlangen, ein Volks- und Gemeinschaftsstaat zu werden. Wiederum ein ganz tragischer und uns gerade heute erschütternder Zusammenhang. Man kommt nicht darum herum, daß ein großer Teil dieser schweren Schicksalslast in der Existenz des preußischen Obrigkeits-, Militärund Machtstaates lag. N u r er war, wie die Frankfurter Erbkaiserlichen erkannten, dazu geeignet und berufen, die Einheits- und Machtwünsche der ganzen Nation zu erfüllen, aber auf Kosten ihrer Freiheitswünsche, wenn er blieb, was er war. Er war ja ein Zweiseelenstaat, aber das militaristisch-junkerliche Prinzip aus der Erbschaft Friedrich Wilhelms I. und Friedrichs des Großen war stärker in ihm als das zum Gemeinschaftsstaate führende Prinzip der preußischen Reformzeit. Blieb nun Preußen, was es war, auch in dem von ihm geeinten Deutschland, so war zu besorgen, daß das militaristisch-junkerliche Prinzip sich auch in diesem so oder so durchsetzen, daß nicht Preußen in Deutschland, sondern Deutschland in Preußen, wenn auch nicht formal, so doch innerlich aufgehen werde. Diese Gefahr haben die Frankfurter Erbkaiserlichen - wie ich vor vierzig Jahren genauer zu zeigen hatte - scharf erkannt und darum gefordert, daß Preußen seine staatliche Einheit opfern und sich in unmittelbare Reichsprovinzen auflösen solle. Das lehnte aber der stolze und starke Preußenwille kategorisch ab, und so mußten die Erbkaiserlichen, als sie dem König Friedrich Wilhelm IV. ihre Stimme gaben, mit der unsicheren H o f f nung sich trösten, daß die Macht der Zeit einst wirken und Preußen in Deutschland aufgehen lassen werde. Die Macht der Zeit hat anders entschieden. Das militaristische Prinzip hat sich durch fast ein ganzes Jahrhundert noch behauptet, zuletzt hybrid übersteigert, und Preußen hat sich nicht von innen her aufgelöst, sondern ist von außen her zerschlagen worden. Die quälende Frage ist nun heute: Wird Finis Borussiae auch Finis Germaniae
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bedeuten? Machtstaat im alten Sinne wieder werden zu wollen, würde heißen, die Tragödie des verflossenen Jahrhunderts von neuem beginnen. Lernen wir endlich diesmal aus der Geschichte! Es müssen, um neuen Katastrophen zu entgehen, nicht nur für Deutschland, sondern für Europa, ja für die ganze Welt neue Formen des Zusammenschlusses der Völker gefunden werden, und sie werden ja heute auch schon gesucht, um das sittlich Berechtigte und zeitlos Gültige am Machtbedürfnis eines Volkes zu sichern - das von uns angeführte Goethewort von 1813 sprach es schon aus: Als Volk voll geachtet unter anderen Völkern, denen dieselbe Achtung gebührt, dazustehen. Ein »gefürchtetes« Volk freilich wieder werden zu wollen, müssen wir schlechthin von uns weisen. Goethe sprach dieses Wort aus der damaligen Zeitlage heraus, in der die Völker und Staaten noch nicht einander trauen konnten. Heute aber ist es der geschichtliche Ruf der Stunde, die Furcht zu überwinden, Vertrauen unter den Völkern zu stiften und damit die Wurzel der Kriege auszurotten. In dieser immer noch unendlich und unsagbar schweren Aufgabe sehen wir auch ein bleibendes Vermächtnis des Jahres 1848. Unser Beitrag zur Lösung dieser Aufgabe besteht darin, die deutsche Revolution jenes Jahres zu vollenden. Die schweren, durch Zeit und Schicksal bedingten Mängel, an denen sie litt und durch die sie scheiterte, haben wir uns ehrlich vor Augen geführt. Möge es uns als den durch Unglück reif Gewordenen endlich gelingen, das Ziel ihrer reinen und edlen Sehnsucht zu erreichen - die nationale Einheit im demokratischen Gemeinschaftsstaate.
Josef von Radowitz Einleitung zu der von Meinecke herausgegebenen Publikation: Josef von Radowitz, Ausgewählte Schriften und Reden. München 1921. Der deutsche Staatsgedanke begr. v. Arno Duch, 1. Reihe Bd. XVI, S. VII-XX, unter Streichung des Schlußabsatzes mit der Überleitung zu den Texten der Auswahl. Josef von Radowitz gehört zu den einsamen Staatsmännern und politischen Denkern Deutschlands und zu denen, welchen ein großer geschichtlicher Erfolg nicht teilgeworden ist. Hinter ihm stand, als er zu staatsmännischem Handeln berufen wurde, keine der großen Parteien der Zeit, und die deutsche Nationalpolitik, die er unternahm, brach zusammen durch die Konvention von Olmiitz. Sein Andenken ist in den Schatten gedrängt sowohl durch das ihm vorangehende, zwar ebenfalls erfolglose, aber geschichtlich viel weiter ausstrahlende Werk der Frankfurter Nationalversammlung, wie durch das vom vollen Erfolge gekrönte Werk Bismarcks. Aber er bildet das organische, man darf wohl sagen geschichtlich notwendige Zwischenglied zwischen dem Werke des Frankfurter Parlaments und dem Werke Bismarcks, und schon darauf beruht sein Anspruch, tiefer gekannt und gewürdigt zu werden. Waren die Frankfurter die Wegbahner Bismarcks, so war es Radowitz nicht minder. So, wie er es versuchte, mußte es einmal versucht werden, wenn alle lebendigen Kräfte, die der nationalen Idee dienten, sich entladen und die Probe ihrer Leistungsfähigkit ablegen sollten, und so einsam er auch, wie wir sagten, auf der Höhe seines Wirkens inmitten der großen Parteien dastand, so stand er doch in vieler Hinsicht auch über ihnen, überschauend, scharf und tief durchdenkend und verstehend, was sie wollten, befähigt, all ihr Einzelstreben in einen großen geistigen Zusammenhang einzuordnen und gewillt, jeden ihrer fruchtbaren Gedanken, mochte er von rechts oder links kommen, aufzugreifen und zu fördern. Seine Schriften, vor allen die »Gespräche aus der Gegenwart«, von denen dieser Band größere Proben bietet, spiegeln mit wundervoller Klarheit die politischen und geistigen Bewegungen seiner Zeit und geben ihren Kerngedanken mit unübertrefflicher Prägnanz Form und Ausdruck. War er deshalb nur, wie man oft geurteilt hat, der bloße Anempfinder und Eklektiker, ohne eigene schöpferische Originalität? Dann
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würde das Studium seiner politischen Schriften heute keinen anderen Nutzen haben, als den, einen bequemen Durchblick durch das politische Leben und Denken seiner Zeit zu genießen und aus der mangelnden Originalität des Verfassers auch auf die Schwäche und Erfolglosigkeit seiner politischen Leistung zu schließen. Man muß den ganzen Mann und sein eigenartiges Lebensschicksal ins Auge fassen, um zu erkennen, daß seinem politischen Entwicklungsgange ein tiefer und bedeutender Sinn innewohnt und damit auch eine unnachahmliche Eigenart und zugleich auch ein hoher Bildungswert für den heutigen Deutschen, der den erschütternden Zusammenbruch einer uns teuren politischen Welt erlebt hat und nun nach einem neuen Halte, nach einem inneren Bindemittel zwischen seinen alten Idealen und den Notwendigkeiten der neuen Zeit sucht und tastet. Dieselbe Aufgabe hatte Radowitz für sich zu lösen, und während er auf dem Felde der politischen Taten besiegt wurde, blieb er auf dem Gebiete des politischen Gedankens, als Verknüpfer der Epochen, als Umwandler und Neugestalter politischer Ideale, Sieger. Denn die Lebenskraft der Ideen, zu denen er sich durchgerungen hat, ist durch die Geschichte selbst bestätigt worden.
Josef von Radowitz ist der Enkel eines ungarischen Edelmannes, der als preußischer Kriegsgefangener unter Friedrich dem Großen nach Norddeutschland verschlagen war. Er ist am 6. Februar 1797 in Blankenburg geboren, wurde Offizier in napoleonischen Diensten, kämpfte bei Leipzig 1813 als westfälischer Artillerieleutnant und trat nach den Befreiungskriegen in kurhessischen Dienst über. Erst im 13. Lebensjahre wurde er durch den Willen des Vaters der katholischen Kirche zugewiesen. In der Luft der Restaurationszeit wurde er ein gläubiger Katholik und zugleich ein begeisterter Anhänger der neuen feudalromantischen Staatsideale, in denen die aristokratische Gesellschaft jener Tage sowohl eine Rechtfertigung ihrer sozialen Herrschaftsinteressen wie eine Befriedigung ihres Bedürfnisses, diese Interessen geistig und seelisch zu erwärmen und zu weihen, fand. Radowitz legte von vornherein den Ton auf dieses zweite. Seiner geistigen Schwungkraft und seinem Triebe zu großen, leitenden Ideen gab sein scharfer, mathematisch gerichteter Intellekt eine besondere Richtung und Färbung. Mystische Gefühle lagen bei ihm zu Grunde,
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aber seine konstruktive Dialektik erhellte ihm alles, was er erlebte, zu höchster Durchsichtigkeit. Er reflektierte unausgesetzt, aber er empfand auch echt und warm, was er reflektierte. Zu geistiger Disziplin und zu scharfer Abgrenzung seines Wesens erzog ihn auch seine einsame Stellung als Katholik inmitten protestantischer Umgebung. Er tat sich früh hervor durch theoretische Begabung für die Kriegswissenschaften und wurde dafür schon in kurhessischem Dienste verwandt; aber für ihn persönlich war diese Berufstätigkeit nur eine Nebensphäre seines Innenlebens. Sie blieb es auch, als er 1823, angeekelt durch die Familienskandale seines hessichen Landesherrn und zerfallen mit ihm, in den preußischen Generalstabsdienst übertrat. Als landfremder Katholik spielte er auch hier eine besondere Rolle, und sogar mit einer bewußten Pose, die ihm immer eigen blieb, zu seinen Schwächen gehörte und das Urteil seiner Zeitgenossen über sein eigentümliches Wesen ungünstig beeinflußte. Aber er fand zugleich im Adels- und Hofleben Berlins einen lebensvollen Kreis politisch gleichgesinnter, protestantisch gläubiger und romantisch gestimmter Freunde, - voran den jungen, enthusiastischen Kronprinzen, der mit Liebe und Bewunderung an ihm hing. Durch die Ehe mit der Gräfin Marie von Voß 1828 wuchs er noch weiter an die alte märkisch-protestantische Adelswelt heran, ohne doch je in ihr aufzugehen. Aber die politische und selbst bis zu gewissem Grade religiöse Kampfesgemeinschaft gläubiger Katholiken und Protestanten gegen den revolutionären und liberalen Zeitgeist erfüllte ihn mit tiefer Befriedigung und erschien ihm, zumal im Hinblick auf die Zugehörigkeit des künftigen Thronfolgers, als schönste und zukunftsreiche Konstellation. In diesem enggeschlossenen kleinen Kreise, dem »Klub der Wilhelmstraße«, lebte und webte er nun. Er wurde einer der tätigsten Mitbegründer und Mitarbeiter des »Berliner Politischen Wochenblatts«, dessen Blüte in die Jahre um 1831-1837 fällt und das nun einen ritterlichen Kreuzzug für den wahren, von Gott gewollten Staat gegen die zuchtlosen Umsturzgewalten der Zeit führte. Ausgegangen waren sie alle von den Lehren, die der Berner Patrizier K. L. v. Haller in seiner »Restauration der Staatswissenschaft« verkündigt hatte. Er war damit vorangegangen, den Unheilspunkt der modernen Entwicklung nicht erst in der französischen Revolution, sondern schon in dem absolutistischen Staate zu finden, der um der staatlichen Macht und Einheit willen die überlieferten Sonderrechte der patrimo-
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nialen Gewalten zerstört hatte. Haller hatte dabei die brutale Behauptung aufgestellt, daß im Staate überhaupt kein gemeinschaftlicher Zweck existiere, sondern nur eine Menge sehr verschiedener Privatzwecke, die sich zulezt alle auf das Leben und das angenehme Leben nach eines jeden Wunsch zurückführen ließen. Diesen groben Materialismus hat nun freilich Radowitz von vornherein nicht mitmachen wollen. Der Zweck des Staates müsse erhabner und edler sein, er müsse, meinte er 1826, »überhaupt die göttliche Ordnung in den menschlichen Dingen fördern.« Da er aber die göttliche Ordnung darin fand, daß jeder Recht tue und dafür wieder bei seinem Rechte erhalten und beschützt werde, so fand er sich mit Haller sofort wieder darin zusammen, daß jeder historische Rechtstitel der alten feudalen Machthaber auch heilig sei. So waren denn auch nach seiner damaligen Meinung der absolutistische Beamtenstaat und der demokratische Volksstaat nur verschiedene Formen eines und desselben revolutionären Prinzips, eines und desselben Unrechts, einer und derselben Vergewaltigung des alten aristokratischen Ständestaats, der ihm und seinen Freunden als der Rechtsstaat schlechthin galt. »Ich suche«, heißt es noch in seinen Gesprächen aus der Gegenwart, »das politische Unheil der Zeit darin, daß das aristokratische Prinzip im Leben der Völker von oben und unten unterwühlt worden ist.« Man nahm damit Front gegen den modernen Staat überhaupt und traf darin zusammen mit der Romantik. Denn der in dieser lebende Sinn und Liebe für die Individualität der geschichtlichen Gebilde richtete sich auf eben jene bunte Welt des christlichen Mittelalters, die der moderne Staat vernichtet hatte. Es war nun nicht so, daß man von der Romantik aus feudalständisch gesinnt sein mußte, aber man konnte es leicht werden, wenn noch andere treibende Motive hinzukamen. Man empfand den modernen Staat als tot, kalt und abstrakt, als eigentlich unnatürlich. So sei es denn, hieß es in den »Gesprächen« von Radowitz, die unermeßliche Aufgabe, aus dem trügerischen Scheinleben der Staatsmaschine heraus wieder zu einem organischen Leben zu gelangen, zu einem solchen, das dann freilich nicht die tote Regelmäßigkeit mechanischer Potenzen zeigen könne. Die übermäßig zentralisierte Autorität des modernen, sei es absolutistischen, sei es parlamentarischen oder demokratischen Staates sollte also aufgelöst werden in die Fülle der alten historisch berechtigten Obrigkeiten. Obrigkeit - ist jeder in seiner Rechtssphäre, bis zum Familienvater herab, aber als Komplement seiner Rechte hat er zugleich die Pflicht, für christlichen Glauben,
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Zucht und Sitte in seinem Kreise zu sorgen. Der religiöse Gedanke im Sinne eines positiven Kirchentums gab so den Bindungen dieses Patrimonialstaats die letzte und höchste Weihe. In dem Zauberbanne dieses Staatsideals, das man das christlichgermanische zu nennen pflegt, haben die preußischen Freunde von Radowitz, voran sein königlicher Freund Friedrich Wilhelm IV., bis zum Ende ihres Lebens sich bewegt und den Kampf gegen den andringenden Liberalismus in Staat und Kirche geführt. Auch Radowitz wurde ihm im Inneren seines Herzens nicht eigentlich untreu und hat zu ihm noch in seinen letzten Zeiten wie zu einem schönen Traume zurückgeblickt. Aber er verhielt sich von vornherein zu den feindlichen Gedanken des Zeitgeistes nachdenklicher, grüblerischer, und trotzdem er sie noch schroff ablehnte, innerlich freier als seine preußischen Freunde. Es reizte seinen konstruktiven und zugleich für alle Wissensgebiete universal empfänglichen Geist, die ungöttlichen Gedanken der modernen Menschheit in ihrem logischen Zusammenhange und ihren verderblichen Wirkungen sich immer wieder klar zu machen. Er hantierte mit Giften und wußte sich im Besitze der katholischen Heilswahrheit geschützt vor ihnen. Aber er empfand sehr wohl die, so meinte er lange, dämonisch berauschende Kraft aller liberalen Zeitideen. Und vor allem, er war im Kreise seiner bodenständig preußischen und konservativen Freunde ein Landfremder und Katholik, der zur Duldsamkeit im Leben, zum menschlichen Mitfühlen fremder Sinnesart schon durch seine protestantische Ehe gedrängt wurde. Und als freigewählt, wie die Bande der Ehe, sah er auch die Bande an, die ihn mit dem preußischen Staate verknüpften. Fest und heilig sollten auch sie ihm sein, - aber er fühlte den Unterschied seines freiwilligen Patriotismus von dem natürlichen und bodenständigen seiner Freunde. Er sehnte sich, noch fester einzuwachsen in seiner neuen Welt, - und mußte nun zu Ausgang der dreißiger Jahre eine Enttäuschung und Erschütterung erleben, die seinem inneren Lebenswege eine ganz neue Wendung schließlich geben sollte. Der Kölner Kirchenstreit von 1837, der zwischen der preußischen Regierung und der katholischen Kirche ausbrach und dem klerikalen Geiste in den Rheinlanden einen plötzlichen starken Auftrieb gab, zerbrach mit einem Male die bisherige vertrauensvolle Gemeinschaft zwischen gläubigen Katholiken und Protestanten und die Solidarität aller konservativen Ideen und Interessen, die Radowitz als inneren Lebensgrund für sich angesehen hatte. Der Boden wankte unter seinen Füßen, er fühlte
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in seinem Herzen einen Stachel, der die volle Begeisterung für Preußen nicht mehr aufkommen ließ. Er wurde zweifelhaft auch an anderen Werten des konservativen Europas. Er bemerkte an sich selber, daß die bedingungslose enthusiastische Abneigung gegen jede andere Auffassung der politischen und sozialen Ordnung, wie er sie bisher hatte, mehr und mehr zurücktrat. Er blieb fest in seinen kirchlichen, aber wurde duldsamer in seinen politischen Uberzeugungen. Sollte er wirklich um dieses Konfliktes zwischen Thron und Altar willen dem Beispiele so vieler Glaubensgenossen folgen und dem preußischen Staate ganz und gar den Rücken kehren? Wäre es auf Biegen oder Brechen angekommen, so wäre er ohne Zögern auf die Seite des Altars getreten. Aber so stand es noch nicht. Der heidnische Staatsabsolutismus, dessen Geist er in der jetzigen preußischen Regierung walten sah, konnte, wenn sein Freund der Kronprinz zur Regierung kam, dem Geiste der wahren christlichen Obrigkeit wieder weichen. Er entschloß sich, Katholik und Preuße zugleich zu sein und zu bleiben. Das war der entscheidende Entschluß seines Lebens, den er fassen konnte, weil er schon duldsamer geworden war, weil er sich sehnte, wie er 1839 schrieb, »Versöhnung zu stiften zwischen den Reichen dieser und jener Welt, in welche meine Sache gewiesen ist«. Es war ein gewisses Vacuum aber in seinen politischen Idealen eingetreten, das sein Bedürfnis nach großem Lebensinhalte auszufüllen strebte. Er war seit 1836 preußischer Militärbevollmächtigter am Bundestage. Er lernte, ähnlich wie später Bismarck in seinen Frankfurter Tagen, die Straffheit des preußischen Staatswesens mit dem lahmen und schlaffen Wesen des deutschen Bundes zu vergleichen und das Mißverhältnis zwischen der inneren Kraft Preußens und seinem geringen Einflüsse in und auf Deutschland zu erkennen. Aber während Bismarck, zunächst nur vom preußischen Machtegoismus getrieben, den »räudigen Hermelin« des deutschen Patriotismus in Frankfurt noch verschmähte, fand die weichere und ideellere Natur Radowitzens sofort jetzt in der nationalen Idee den neuen Leitstern für sich und für Preußen. Die Unterschiede der Bismarckschen und der Radowitzschen Nationalpolitik traten so schon an ihrem gemeinsamen Ausgangspunkte scharf hervor. Bei Bismarck behielt das preußische Machtbedürfnis noch lange den Vorrang vor der deutschen Idee. Radowitz dagegen, nicht so wurzelhaft verbunden mit preußischem Wesen und von seinen alten Doktrinen her gewohnt, den staatlichen Egoismus höheren Geboten zu unterwerfen, stellte unwillkürlich von
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dem Augenblicke an, wo er das Wehen des nationalen Geistes in sich verspürte, den preußischen Staat unter den Primat der deutschen Idee. Er war zufrieden mit einer moralischen Autorität, die Preußen erringen solle, eben dadurch erringen solle, daß es auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens dem deutschen Einheitsbedürfnis diente und deutsche Gemeinschaft pflegte. Daß dafür letzten Endes ein radikaler Umbau der ganzen deutschen Bundesverfassung erforderlich sei, erwog er noch keineswegs. Konservativ war auch noch in anderer Hinsicht die deutsche Nationalpolitik, die er seit 1839/40 von Preußen wünschte, gedacht. Bisher war die deutsche Idee nur von den liberalen und demokratischen Bewegungsparteien vertreten worden. Radowitz empfand jetzt die Rückständigkeit seiner konservativen Freunde auf diesem Gebiete und begann ein Gefühl dafür zu bekommen, daß die konservative Welt, die er liebte, im Zusammenhange des modernen Lebens nur erhalten werden könne, wenn sie auch das nationale Bedürfnis zu befriedigen vermöge. Die Mittel, die er dafür ins Auge faßte, waren noch primitiv, aber der Leitgedanke selbst war überaus fruchtbar. Er wurde dereinst auch die Seele des Bismarckschen Reichsgründungswerkes. Ferner glaubte er jetzt in der nationalen Idee auch den gemeinsamen Boden für alle von idealen Beweggründen getriebenen Parteien gefunden zu haben, ein Einheitsband der Nation trotz der konfessionellen Spaltung und des Haders um Verfassungen und Staatsformen. Er fühlte sich einig mit seinem Freunde Friedrich Wilhelm nicht nur im bisherigen Bekenntnis zum ständischen Staate, sondern auch in dem für ihn neuen Bekenntnis zur deutschen Idee, der Friedrich Wilhelm schon längst glühend ergeben war. Freilich trug sie bei diesem eine merklich andere Form, ein mittelalterlich-romantisches Gewand, mit dem in der praktischen Politik nichts anzufangen war. Dennoch hoffte Radowitz auf große Dinge, als sein Freund 1840 den Thron bestieg im Augenblicke einer großen europäischen Krisis, die vielleicht zu einem deutschen Nationalkriege gegen Frankreich und, so hoffte er weiter, zu einem Neubau Deutschlands in nationalem und ständischem Geiste führen konnte. Aber es erwies sich, daß auch seine politische Phantasie die Realitäten überfliegen konnte. Der König betraute ihn wohl noch 1840 mit einer Sendung nach Wien in Sachen der Bundeskriegsverfassung, aber die große Politik selber, die Radowitz von ihm erhoffte, ergriff er nicht. Radowitz fühlte dabei auch nur zu deutlich schon die inneren Schwächen des Königs, seine Hamletnatur, den Fluch der
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Entschluß- und Tatenlosigkeit, der auf ihm lag. Und doch war alle Möglichkeit für ihn, politisch zu wirken, an die Freundschaft mit diesem von der Natur so verhängnisvoll organisierten Monarchen gebunden. Während Radowitz in der aufsteigenden liberalen Bewegung der vierziger Jahre langsam irre wurde an der Lösbarkeit der Aufgabe, den ständischen Staat in seiner wahren und guten Gestalt wiederherzustellen, hielt Friedrich Wilhelm gerade an diesem Ziele jäh fest und hielt dadurch auch seinen Freund länger in veraltenden Gedankenbahnen fest, als es sonst wohl gesehenen wäre. Seit 1842 war Radowitz Gesandter in Karlsruhe und konnte von diesem Posten aus nur in geringem Maße auf den König einwirken. Seine Stunde schlug erst wieder, als der Versuch des Königs, durch den Vereinigten Landtag von 1847 den ersten Schritt zur Wiederaufrichtung des ständischen Staates zu tun, an den konstitutionellen Gegenforderungen und der moderneren Gesinnung der Opposition gescheitert war. Der herben Enttäuschung über die politische Rückständigkeit des Königs folgte ein Niedergang seines Ansehens. Vorzeichen radikalerer Winde und revolutionärer Stürme stiegen auf. Radowitzens Gedanke, die Waffe der nationalen Idee den Händen der Bewegungsparteien zu entwinden und zur Verteidigung und Neubelebung der alten Monarchie in die eigene Hand zu nehmen, wurde dem Könige nun lebendig und wichtig. In des Königs Auftrage durfte Radowitz am 20. November 1847 eine berühmt gewordene Denkschrift über die Reform des deutschen Bundes aufsetzen. Sie ging aus auf Schaffung großer nationaler Institutionen für Wehrhaftigkeit, Rechtsschutz und materielle Interessen, aber sie faßte freilich die eigentlichen Probleme einer Bundesreform, die Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit, bei zwei Großmächten im Bunde eine einheitliche Zentralgewalt aufzurichten, nur sehr zaghaft an. Vor der Versuchung, eine preußische Hegemonie zu begründen durch Verdrängung Österreichs aus dem Bunde, schreckten der König wie auch Radowitz noch zurück. Zu den geplanten Teilreformen des Bundes aber bot das mißtrauische Österreich erst dann die Hand, als schon das Ungewitter der Märztage von 1848 aufstieg. Während Radowitz noch in Wien verhandelte, brach die Revolution dort aus, und das lange von ihm schon geahnte Ereignis löste auch eine Hemmung in seinem Geiste. Zwar noch nicht für Deutschland im Ganzen, aber für Preußen hielt er jetzt den Übergang zum modernen Repräsentativsystem für unabweislich und beschwor den König am
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16. März, ihn zu vollziehen, solange sein Entschluß dazu noch frei erschiene. Die Dinge gingen noch schneller, als er besorgte; die Berliner Ereignisse vom 18. und 19. März gaben dem Übergange Preußens zum modernen Verfassungsstaate den üblen Schein, durch die Revolution ertrotzt zu sein, und drückten des Königs Ansehen und Preußens Macht in Deutschland tief herab. Der König wurde nicht, wie Radowitz gehofft hatte, der Führer der Geister in der Neugestaltung Deutschlands, sondern der Geschobene und sogar nun oft zur Seite Gedrängte. Die Nation selbst schickte sich an, durch das Frankfurter Parlament ihr Reich aufzurichten. Radowitz, von den Wählern Arnsbergs in die Nationalversammlung berufen, nahm dort auf ihrer äußersten Rechten Platz, aber sein Sinn ging fortan erst recht darauf, Brücken zu schlagen zwischen Rechts und Links und zwischen alter und neuer Zeit. Es wurde ihm schwer genug gemacht durch das Mißtrauen der Zeitgenossen, die in ihm den Reaktionär und verkappten Jesuiten argwöhnten, obgleich sie ihm, wenn er die Tribüne bestieg, gespannt lauschten und die dialektische Kunst und strenge Sachlichkeit des Redners bewundern mußten. Die Führung seiner Glaubensgenossen, die sich noch nicht als geschlossene Fraktion, sondern lediglich für die kirchenpolitischen Fragen als katholische Vereinigung zusammentaten, fiel ihm fast von selber zu. Sie erwarteten von ihm mit Grund, daß er die beanspruchten Rechte der Kirche energisch vertreten werde, aber sie ließen ihn allein, als er, Schritt für Schritt sich weiter durchringend zu den Zielen der Erbkaiserlichen, am 28. März 1849 seine Stimme für die Kaiserwahl Friedrich Wilhelms IV. abgab. Wichtige und schwere Auseinandersetzungen mit dem Könige waren diesem Schritte während der ganzen Dauer der Nationalversammlung vorangegangen. Der König verabscheute die Idee der Nationalsouveränität, die in der Versammlung auflebte, widerstrebte der Trennung von Österreich, zu der die Begründung eines wirklichen Bundesstaates nötigte, und ließ sich durch die ihm winkende Erbkaiserwürde nicht verleiten, der Revolution, so meinte er es, die Hand zu bieten. Radowitz ließ nicht ab, nach mittleren Wegen auszuschauen, oder, wie er sich ausdrückte, in Berlin sehr deutsch und in Frankfurt sehr preußisch zu sprechen. Seine Auskunftsmittel waren oft künstlich genug, die Erfolge seiner Überredungskünste auf den König begrenzt und letzten Endes negativ. Und doch war und blieb dabei Radowitz in den Augen des Königs der erste Mann Deutschlands. In ihm glaubte er
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den Staatsmann zu haben, der das Bedürfnis der deutschen Nation auf konservativem Wege zu erfüllen vermöge. Am 3. April lehnte der König die Frankfurter Krone ab. Am 22. April 1849 ließ er Radowitz von Frankfurt nach Berlin berufen, um die Leitung der deutschen Politik Preußens zu übernehmen. Radowitz hatte kaum seine Aufgabe begonnen, als neue revolutionäre Stürme heraufzogen, versursacht durch das Scheitern des Frankfurter Verfassungswerkes, durch die Enttäuschung der Nation, die nun den radikalsten, hier und da selbst schon sozialistisch gerichteten Elementen das willkommene Stichwort gab, um auch die unteren Massen zum Umstürze der ganzen politischen Ordnung aufzurühren. Die Aufstände in West- und Südwestdeutschland und in Sachsen waren durch das treugebliebene preußische Heer unschwer niederzuwerfen, aber die Quelle der Revolution und vor allem zukünftiger Revolutionen war, wie sich Radowitz mit weitem und tiefem Blicke klar machte, nur zu verstopfen durch Aufrichtung eines neuen festen nationalen Gemeinwesens, das auch die konstitutionellen Forderungen der Zeit erfüllte. Der transzendent-dogmatische Nebel, in dem ihm früher die Revolution als das böse Prinzip schlechthin erschienen war, war jetzt von seinen Augen gewichen. Als modern gewordener Mensch erkannte er in der Revolution nunmehr die Wirkung bestimmter realer Ursachen politischer, sozialer und wirtschaftlicher Art, und gewahrte er hinter dem vor allem jetzt zu heilenden Übel der nationalen Zerrissenheit das neue emporwachsende Unheil der Verelendung der Massen durch den modernen Industrialismus und Kapitalismus. Sozialpolitische Reformideen beschäftigten ihn schon in den letzten Zeiten des Vormärz. Die Zeit zu ihrer Verwirklichung war jetzt noch nicht gekommen, wo schon die dringendste Aufgabe, die Nation zu befriedigen durch Schaffung des nationalen Bundesstaates, mit ungeheuren Schwierigkeiten verknüpft war. Der Versuch der Frankfurter Versammlung, durch die moralische Kraft der von ihr vertretenen nationalen Volkswünsche die Einheit zu erzwingen, war gescheitert an der physischen, aber auch auf starke Volksstimmungen sich noch stützenden Kraft der Einzelstaatsgewalten und Dynastien. Bismarck brach später diese Kraft durch das Eisen des stärksten Einzelstaates, wobei er aber zugleich die moralischen Elemente des deutschen Partikularismus billig zu behandeln verstand. Radowitzens Taktik stand in der Mitte zwischen der Frankfurter und der Bismarckschen. Sein deutscher Verfassungsentwurf, der sich an
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den Frankfurter vielfach eng anlehnte, erinnert zugleich schon an den Bismarckschen durch die stärkere Berücksichtigung der einzelstaatlichen Interessen. Aber den Verzicht auf das Mittel der Gewalt teilte er mit den Frankfurtern. Und er verzichtete sogar grundsätzlich, während die Frankfurter schon aus Mangel an physischer Macht hatten verzichten müssen. Für eine Blut- und Eisenpolitik des preußischen Staates wären im Frühjahr 1849, wo nicht nur die deutschen Mittelstaaten durch die Revolution, sondern auch Österreich durch die Ungarn und Italiener bedroht waren, trotz der reaktionären Haltung Rußlands nicht ganz ungünstige Aussichten gewesen. Aber die konservative Ideenwelt, in der Radowitz und der König groß geworden waren, ließ es nicht zu, die legitimen Rechte der deutschen Fürsten zu vergewaltigen. Es gehörte eine neue geistige Epoche dazu, ein Sieg des Realismus auf allen Lebensgebieten, um den Geist der Bismarckschen Realpolitik zu erzeugen. Radowitz war auf dem Wege zum Realismus, aber war schon durch das Denken und Wollen des Königs innerlich und äußerlich viel zu gebunden, um ihn jetzt zu Ende gehen zu können. Der einsame, halbwegs als Abenteurer schon geltende Landfremde im preußischen Staate konnte nur durch den Arm seines Freundes, dessen unheldische Natur er genau kannte, die Aufgabe lösen, die ein volles Heldentum verlangt hätte. Sollte er sie deswegen ablehnen? Es gehörte seine ganze merkwürdige Natur, aus mystischer Glaubenskraft und Verstandeshelle, aus hohem Pflichtgefühl und starkem Ehrgeize zusammengesetzt, dazu, um diese Schicksalsbürde auf sich zu nehmen, - nach seinem eigenen Bekenntnis »mit dem Gefühl eines Soldaten, der in eine Schlacht geht mit der Gewißheit, geschlagen zu werden«. So glich das von ihm im Frühjahr 1849 begonnene Werk einem Bau, der ohne Fundamente aufgeführt wurde und nach kurzer Zeit abzubröckeln begann und schließlich zusammenstürzte. Solange die Revolutionsgefahr bestand, konnte es gelingen, die benachbarten Mittelstaaten Sachsen und Hannover durch das Dreikönigsbündnis vom 26. Mai 1849 und die meisten Kleinstaaten durch Anschlußverträge für den von Preußen betriebenen Bundesstaat zu gewinnen. Österreich sollte für den Verlust seines Einflusses in Deutschland entschädigt werden durch die von Radowitz ihm angebotene mitteleuropäische Union, - ein interessantes Vorspiel Naumannscher Gedanken und Träume aus der Zeit des Weltkriegs. Aber Österreich fiel es nicht ein, Preußen zum Herren im eigentlichen Deutschland werden zu lassen,
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und als es mit russischer Hilfe des Aufstandes der Ungarn im Sommer 1849 Herr geworden war, setzte die Rückströmung der Machtverhältnisse zuungunsten Preußens von Monat zu Monat stärker ein. Und damit schwoll auch die konservative Rückströmung in Preußen an, in der Seele des Königs selber und seiner Freunde, der ehemaligen Freunde auch Radowitzens, die in ihm nun den gefährlichen Mann denunzierten, der Preußen in das liberale Lager und in die Gemeinschaft selbst mit der Demokratie hinüberzuführen drohe. Sachsen und Hannover fielen wieder ab, Bayern und Württemberg waren überhaupt draußen geblieben. Der erstrebte deutsche Bundesstaat schrumpfte damit zur »Union« Preußens mit den Kleinstaaten zusammen. Sie brachte äußerlich ihre Verfassung auf dem Erfurter Parlamente im Frühjahr 1850 zum Abschluß, aber der König, der die Freude und den Glauben an die Sache zu verlieren begann, konnte sich nicht entschließen, den Bundesstaat endgültig ins Leben zu rufen. Österreich aber begann nun, gestützt auf das alte Bundesrecht von 1815 und den eigenmächtig von ihm erneuerten Bundestag, einen politischen Feldzug gegen die Union, der das zerbröckelnde und mit halber Kraft nur gestützte Werk schließlich über den Haufen warf. Als der kurhessische Verfassungsstreit und die daraus erwachsenden Verwicklungen zwischen dem Bundestage und Preußen den König vor die Entscheidung stellten, das Schwert zu ziehen für die Radowitzsche Nationalpolitik, brach er zusammen. Radowitz wurde am 3. November 1850 aus dem Ministerium des Auswärtigen entlassen, und sein konservativer Gegner und Nachfolger Otto von Manteuffel trat den Gang nach Olmütz an. Die letzten Jahre verbrachte Radowitz in Erfurt und Berlin. Am 25. Dezember 1853 starb er. Der Versuch war mißlungen, auf konservativem Wege, allein durch Appell an die nationale Opferwilligkeit und Einsicht der Dynastien Deutschland unter Preußen zu einigen und das liberale Nationalprogramm des deutschen Bürgertums zu erfüllen. War ja die konservative Welt Preußens selber, zu der damals auch der junge Bismarck gehörte, voller Mißtrauen und Abneigung gegen das Ziel, das von dem alten Preußen eine Umschmelzung seines Wesens forderte. Und doch war der Gedanke von Radowitz, durch eine Synthese konservativer und liberaler Kräfte Deutschlands Sehnsucht zu befriedigen und es vor künftigen Revolutionen zu schützen, geschichtlich und politisch völlig richtig gedacht. Nur mußte die Dosierung anders und herzhafter erfolgen, um zu gelingen. Freilich sind
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derartige Angleichungen und Aussöhnungen hadernder Kräfte nicht nur das Werk und Verdienst der einzelnen, sondern auch ganzer Generationen, die durch ihre innere Umwandlung die Voraussetzungen erst schaffen müssen für das Handeln des einzelnen. Radowitz eilte seiner Generation in vieler Hinsicht voran, ohne sich doch ganz ihrem Banne entwinden zu können. An diesem inneren Dilemma ist er gescheitert. Aber das scheiternde Werk hinterließ die fruchtbarsten geistigen Wirkungen und drängte das nachkommende Geschlecht erst recht in die Aufgabe hinein, es wieder aufzunehmen. Bismarck hat im März 1862 gesagt, daß, wenn er im Jahre 1849 die jetzt, seit 13 Jahren gewonnene politische Erfahrung gehabt hätte, er Radowitz unterstützt haben würde 1 . Gegen die Persönlichkeit von Radowitz hat freilich Bismarck sein in der Kampfeszeit von 1849/50 einmal entstandenes Vorurteil nie überwinden können. Er nennt ihn noch in den Gedanken und Erinnerungen den geschickten Garderobier der mittelalterlichen Phantasie Friedrich Wilhelms IV. Dies Urteil ist schlechthin zu verwerfen. Keiner von den Freunden Friedrich Wilhelms IV. hat sich mehr bemüht als er, ihn aus seinen mittelalterlichen Phantasien hinüberzuleiten zu den wahren Kräften der Zeit.
1
Roben v. Keudell, Fürst und Fürstin Bismarck, Berlin u. Stuttgart 1901, S. 37.
Die Tagebücher des Generals von Gerlach Besprechung in Aufsatz-Form: Historische Wiederabdruck: Preußen und Deutschland
Zeitschrift Bd. 70 (1893) S. 52-80. (1918) S. 248-278.
Der erste Band der Gerlachschen Denkwürdigkeiten enthält in der Hauptmasse politische Tagebuchaufzeichnungen des Generals aus den ersten zwölf Jahren der Regierung Friedrich Wilhelms IV. Die Arbeit der Tochter, die dabei nur durch eine literarisch geübte Freundin unterstützt war, beschränkt sich nach ihrer Angabe auf Kürzung des umfangreichen Materials, namentlich Streichung alles rein Familiären. Der Wunsch, diese Arbeit lieber von einer wissenschaftlich geübteren Hand getan zu sehen und überhaupt mehr von dem Zustande des Originalmanuskripts zu wissen, kann den Dank nicht mindern, den wir der Tochter für den Entschluß der Veröffentlichung schulden. Der Kritik wird die Aufgabe durch die Unkenntnis dessen, was gestrichen ist, sehr erschwert, und wenn wir es dennoch im folgenden hier und da wagen werden, Schlüsse ex silentio zu ziehen, so können sie nur mit der Klausel gelten, daß in der Tat nichts Wesentliches uns vorenthalten ist 1 . Der General Leopold v. Gerlach, 1790 geboren, stammte aus einer Familie, welche seit Anfang des 18. Jahrhunderts durch Staatsdienst und Grundbesitz mit der preußischen Monarchie verknüpft war. Im Alter von 16 Jahre in die Armee eingetreten, machte er wenige Tage nach seinem Eintritt schon die Schlacht von Auerstädt mit. Er erlebte dann, wie sein Vater als Bürgermeister von Berlin gegen die Hardenbergschen Gesetze ankämpfte. Studien in Göttingen und Heidelberg und Beschäftigung als Referendar bei der Potsdamer Regierung waren eine für seine E n t w i c k l u n g nicht einflußlose Unterbrechung der militärischen Laufbahn, in die er 1813 wieder zurücktrat. Er wurde nach dem Frieden Generalstabsoffizier und kam 1824 in das Gefolge des Prinzen Wilhelm. N u r wenige Jahre von dieser Zeit an, von 1838 bis 1842, war er als Generalstabschef des 3. Armeekorps in Frankfurt a. O. vom Hofe entfernt. Er wurde dann 1842 als Kommandeur 1 Durch Petersdorff, Friedrich Wilhelm IV. (1900) ist seitdem noch manches Wichtige aus den ungedruckten Teilen des Tagebuchs bekannt geworden. Eine neue, vollständigere und kritische Ausgabe wäre dringend zu wünschen.
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der 1. Garde-Landwehrbrigade nach Berlin zurückberufen, 1849 zum General ä la suite und 1850 zum Generaladjutanten des Königs ernannt, zu dem er schon seit den zwanziger Jahren in nahen persönlichen Beziehungen gestanden hatte. Alles in allem ein Lebensgang vielleicht ohne vielseitigere Berührung mit fremden Kreisen, aber mit starken geschichtlichen Eindrücken, und von vornherein geeignet, einen nicht sehr originalen, aber festen und klaren Geist in einer bestimmten Richtung stetig zu entwickeln. Ein abschließendes Urteil über den geschichtlichen Wert seiner Tagebücher wäre wohl heute kaum schon möglich. Da die Aufzeichnungen ihr zusammenhaltendes Prinzip nur in dem persönlichen, an den Moment geketteten Interesse des Autors haben, so ist das ganze Tagebuch eine Sammlung von Bruchstücken der wechselnden Momente, zu denen ohne weiteres nur die lebendige Erinnerung des Verfassers den Zusammenhang herstellen konnte. Dem späteren Leser wird das nicht immer leicht. Die vollste Kenntnis der Situation würde es erst in allen Fällen ermöglichen, und allmählich wird man erst dahinter kommen, was eigentlich in dem Buche alles steht. Für die deutsche Frage von 1848-1850 kann man es gar nicht lesen, ohne das Sybelsche Buch überall zu Rate zu ziehen. Da tritt nun hervor, daß Gerlach nicht nur begreiflicherweise oft mehr weiß als in den amtlichen Akten, der Quelle des Sybelschen Werkes, steht, sondern recht oft auch weniger, selbst da, wo man ein besseres Wissen erwarten könnte. Nicht auffallend zwar ist es, daß er ζ. B. über die Vorgeschichte der oktroyierten Verfassung vom 5. Dezember 1848 innerhalb des Ministeriums wenig weiß. Aber er verschweigt auch das, was er weiß, aus Mangel an Interesse. Ein instruktiver Fall dafür liegt in seinen Aufzeichnungen über die Verhandlungen mit Österreich während des Erfurter Parlaments vor. Er teilt mit 2 , daß am 30. April 1850 die Mehrzahl der Minister für die Beschickung des von Österreich beabsichtigten Kongresses gestimmt habe; unter welchen Bedingungen, das übergeht er ganz. Mit ziemlicher Sicherheit kann man annehmen, daß es die von Schleinitz am 22. April nach Wien mitgeteilten gewesen sind 3 . Und auf diese Bedingungen, die Gerlach bei seiner genauen Kenntnis der Vorgänge gar nicht unbekannt geblieben sein können 4 , 2 1,468. 3 Sybel, Begründung des Deutschen Reiches 1, 366 (vgl. mein Buch: Radowitz und die deutsche Revolution S. 418). 4
Selbst in die Ministerialprotokolle hatte er damals Einsicht; vgl. 1. 462.
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kam es doch eben an. Für sein Interesse treten sie eben anscheinend in den Hintergrund vor der Tatsache, daß die von ihm so sehnlich gewünschte Aussöhnung mit Österreich eine neue Aussicht erhalten hatte. Ein vielleicht ähnlicher Fall folgt bald darauf. Gerlach erzählt am 14. Juli 18505, daß die Minister Brandenburg, Manteuffel, selbst Schleinitz jetzt die Unionsverfassung aufgeben wollten. Wenn wir nicht durch Sybel' wüßten, daß Schwarzenberg am 8. Juli 1850 sehr entgegenkommende Eröffnungen an Preußen hatte gelangen lassen, so würde diese Haltung der preußischen Minister wie ein prinziploses Schwanken erscheinen. Nicht unmöglich ist es, daß Gerlach von dem Inhalt jener Eröffnungen Schwarzenbergs gewußt hat, da ihm zwei Tage zuvor der König aus der sie meldenden Depesche Bernstorffs aus Wien Mitteilungen gemacht hatte. Auch als dann im Herbste 1850 die hessischen und holsteinischen Verwickelungen anfangen, auf die deutschen Verhältnisse einzuwirken, treten diese Einflüsse anfangs in Gerlachs Aufzeichnungen zurück, und seine ganze Aufmerksamkeit ist auf den einen Hauptpunkt gerichtet: wird die Union bestehen bleiben oder nicht. In Summa: sein Tagebuch ist nicht das Notizenbuch eines Historikers, der möglichst alle Kausalverbindungen einsammelt, auch nicht das Geschäftsjournal eines leitenden Staatsmanns, der außer der Durchführung seines Programms auch immer alle einzelnen politischen Schachzüge zu beobachten hat, sondern das eines Parteimanns, der ungeduldig von Tag zu Tag die Fortschritte seines Programms verfolgt. Diesen Charakter hat das Tagebuch mehr unwillkürlich angenommen. Gerlachs ausgesprochener Zweck bei der Anlegung des Tagebuchs war aber auch ein ganz subjektiver; wie er selbst sagt, das Urteil auszubilden und den Sinn für die Verhältnisse zu schärfen 7 . Es war ihm selbst also zunächst ein Ausbildungsmittel für die politischen Kämpfe, in denen er stand, wiewohl ja nach und nach auch ein historisches Interesse erwachte und er auch auf künftige Leser einmal anspielt 8 . Jedenfalls schreibt er in erster Linie für sich selbst. Aber wenn deshalb auch von wissentlichen Fälschungen und Unterschlagungen nicht die Rede sein kann, so entsteht doch schon dadurch, daß ihn bei der Auswahl des Stoffes vor allem das subjektive Parteiinteresse leitet, leicht ein schiefes Bild der Vorgänge. 5 6 7 8
1, 504. 1, 399 (vgl. mein angeführtes Buch S. 438). 1,208. 1, 534 (19. Sept. 1850).
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D a s Interessante dabei ist eben, wie im M o m e n t der Ereignisse selbst schon solche schiefe Bilder entstehen. G a n z Schlacken des Augenblicks dagegen sind die zahlreichen Widersprüche in der Beurteilung der Ereignisse oft innerhalb weniger Tage. Wohl der merkwürdigste Fall eines solchen Meinungswechsels liegt in seinen Äußerungen über den Staatsstreich N a p o l e o n s im D e z e m b e r 1851 vor. Er meint zuerst am 6. D e z e m b e r , wenn N a p o l e o n die Roten niederkämpfe', sei er nicht ganz ohne Rechtstitel. »Dieser Götzendienst mit der fürstlichen G e b u r t und mit dem fürstlichen Recht!!« D a s Prinzip, worauf es ank o m m e , sei doch nur, ein von G o t t anvertrautes A m t zu haben. U n d wenige Tage nachher schilt er auf den Leichtsinn, mit dem man die Usurpation L o u i s Bonapartes beurteile, und findet es prinzipienlos, darüber z u triumphieren, denn die rechtmäßige Obrigkeit für N a p o leon sei eben die Republik gewesen '3. Solche Widersprüche in intimen Tagebüchern bedeuten nun nicht dasselbe wie in Q u e l l e n anderer Art, und man darf nicht ohne weiteres von ihnen auf Unklarheit oder gar Unwahrheit des Verfassers schließen. E s genügt auch nicht, zu sagen, man sei überhaupt konsequenter vor den Menschen als vor sich selbst. D a s H i n - und Hertreiben der G e d a n k e n im Innern bei geschlossenem Auftreten nach außen hin ist das Zeichen eines starken und doch nicht starren Geistes, und die Schwankungen finden ihre Einheit in der Fähigkeit des Verfassers, die O b j e k t e immer wieder frisch anzusehen. Sehr groß ist dabei der Spielraum der Gedanken Gerlachs freilich nicht. E s ist zu verfolgen, wie er mit den zunehmenden Jahren sich einschränkt. V o n H a u s e aus aber war er ein feiner Beobachter, der den Dingen nicht Gewalt antut u m seiner D o k t r i n willen, sondern trotz einem schon deutlich erkennbaren eigenen Standpunkt unbefangen die ihnen
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Kräfte würdigt. Ein Musterstück ist die Schilderung der drei Parteien, die er im Frühjahr 1813 in Breslau antrifft". Er sieht die Aristokraten, sie sind ohne Position und ohne Kraft. D a n n die Demokraten, zu ihnen gehören die Ausgezeichnetsten und Kräftigsten unseres Landes. »Sie sind ganz aus der Zeit der französischen Revolution, Feinde des Adels, der Patrimonialgerichtsbarkeit, der Frondienste, unterscheiden sich aber dadurch von der dritten Partei der Anarchisten, daß ihre
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1, 703. 1, 704 ff., 707. 1,4.
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Anhänger fast alle etwas getan, erlebt haben, in vielen Verhältnissen waren, in Rang und Würden stehen, die Anarchisten aber Studenten, Doktoren, Buchhändler, die nicht wissen, wie es in der Welt aussieht.« Auch seine Aufzeichnungen von den Reisen nach Rußland, auf denen er 1828-1832 den damaligen Prinzen Wilhelm begleitete, schildern unbestechlich die dortigen Zustände. Mehr und mehr aber drängt sich die Doktrin bei ihm hervor; sie ist der feste Maßstab, nach dem er alle Erscheinungen beurteilt, und wo sein Urteil schwankt, wie in dem obigen merkwürdigen Falle, ist zugleich auch eine Schwäche der Doktrin daran schuld. Sein angeborenes Beobachtungstalent zeigt sich zuletzt hauptsächlich noch in der Sicherheit, mit der er auch bei Freunden und Alliierten herausfühlt, ob sie innerlich zu ihm gehören oder nicht. Obgleich der in ihm fest wurzelnde Gedanke der heiligen Allianz, des Zusammengehens mit Rußland und Österreich nur selten einmal schwankt, so sieht er doch zu deutlich, welch tiefer Abgrund seine christlich-germanische Staatsanschauung von dem »Pandurenregiment« Rußlands und Österreichs trennte. In der Krisis von 1849 und 1850, wo Gerlach auf ein stetes Zusammenwirken mit Manteuffel gegen den Einfluß von Radowitz angewiesen war, konnte es wohl gesehenen, daß sich Gerlach über Manteuffels innerste Anschauungen täuschte. Nachdem ihre Partei den Sieg, in ihren Augen einen wirklichen Sieg, von Olmütz erfochten hatte, und nun kein Gegner mehr in der Umgebung des Königs zu bekämpfen war, hielt die Täuschung nicht lange vor. Was kann man erwarten von einem Minister wie Manteuffel, ruft er im Mai 18511!, dessen Prinzipien weder nach der einen noch nach der anderen Seite hin fest sind. Er sieht die Notwendigkeit ein, ihn zu stützen, um nicht noch schlimmeren Elementen das Feld zu lassen, aber er verabscheut seinen inneren Bonapartismus, der sich offenbart, als Napoleons III. Stern in Frankreich aufsteigt. Empört verzeichnet er im Dezember 1851 Manteuffels Äußerung, es sei unmöglich den preußischen Staat auf ständische Institute zu gründen, denn er sei wesentlich ein Beamten- und Militärstaat In der momentanen Ursprünglichkeit der Gerlachschen Urteile liegt ihr Wert. Man möchte nicht wünschen, daß es anders wäre, daß er weniger momentan und mehr als zusammenfassender Memoirenschreiber schriebe. Denn wo er es tut und etwa größere Rückblicke auf 12 13
1, 633. 1, 707.
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längere Zeiträume gibt, zeigt er sich gänzlich unhistorisch, ungerecht und beherrscht von seiner Doktrin. Was gibt es Ungerechteres als die Summe, in welcher er die Resultate der Regierung Friedrich Wilhelms III. zusammenfaßt 14 . »Das platte Land und die Städte revolutioniert (nämlich durch die Stein-Hardenbergsche Gesetzgebung), die Administration und Justiz schwach und ohnmächtig, die Kirche ohne feste Verfassung und Lehre, die auswärtige Politik auf ein Gewölbe gegründet, dessen Schlußstein der Juli, d. h. der Barrikadenthron. Das war das Reich, das Friedrich Wilhelm IV. überkam.« Dabei fehlt noch dieser Auffassung die Urwüchsigkeit des junkerlichen Interesses, welches die teilweise ähnlich lautenden Expektorationen von Marwitz nicht eigentlich unsympathisch macht. Auch sein politisches Urteil ist keineswegs das eines geschäftsführenden Staatsmannes, trotzdem er immerfort mit dem Könige und den Ministern über die Geschäfte konferiert, Berichte der Gesandten liest und vorträgt, Promemorien ausarbeitet, auch selbst mit den Gesandten privatim korrespondiert. Erst seit dem April 1850 als Generaladjutant in einer Stellung, die ihm amtlich den täglichen Zutritt zum Könige erlaubte, aber an sich wahrscheinlich auch nicht über die Funktionen des in jenen Jahren offiziel nicht existierenden Militärkabinetts hinausreichte, steht er doch nicht so unter dem Drucke der Verantwortlichkeit wie die Minister, er hat nicht dieselben Friktionen zu überwinden, er greift ein, wann und wie es ihm beliebt. Er klagt so oft, daß diejenigen, denen er selbst mit ins Amt geholfen, sich dem Zeitgeiste beugten und von der Strenge des Prinzips abgingen. Ihm selbst würde diese Erfahrung vielleicht auch beschieden worden sein, wenn er ein verantwortliches Amt übernommen hätte. Ein Minister würde vielleicht auch mehr Fühlung mit den verschiedenen Kreisen des Volkes gehabt haben. Gerlach aber bewegt sich in einer engeren Sphäre. Mit Ausnahme einiger kleinerer diplomatischer Missionen verläuft sein Leben von 1848 an, das vorzüglich unsere Aufmerksamkeit fesselt, in einem Hin- und Herreisen zwischen Berlin, Potsdam und Charlottenburg zur Begleitung des Königs. Wenn er 1848 nach Berlin kommt, so sieht er in das demokratische Treiben dort wie in eine Welt hinein, die ihm wohl Abscheu erregt, mit der er aber nichts zu tun hat. So nahe derjenigen Stelle im Lande, wo alle Eindrücke, Nachrichten und Entschlüsse zusammentreffen mußten, 14
1, 166 (1848).
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sieht er sie wohl fast alle, aber schon unter einem geneigten Winkel. Er selbst fühlte das auch wohl; in seiner Klage: »Ich bin den Dingen zu nahe«15, liegt es im Grunde; so würde kein leitender Staatsmann in seinen Tagebuchnotizen geklagt haben. Nur auf den ersten Blick könnte er an die allmächtigen Günstlinge der Fürsten des 17. und 18. Jahrhunderts erinnern, denn allmächtig ist sein Einfluß keineswegs, und die Gegner überschätzten ihn. Das ist ein nicht unwichtiges Ergebnis der Veröffentlichung, nachdem sich in der landläufigen Uberlieferung die Vorstellung von einem ungemein großen, aber in Dunkel gehüllten Einflüsse der Gerlachschen Partei auf den König festgesetzt hatte. Man kann jetzt ziemlich genau sagen, wie weit er reichte. Er ist dem Könige nicht ein Günstling, dessen Rat zuerst und durchweg eingeholt wird, sondern gewissermaßen der Anwalt eines vom Könige innerlich geteilten Prinzips, der seine Stimme furchtlos und ohne Scheu erhebt, wo dies Prinzip durch andere Einflüsse, auf welche der König Rücksicht nehmen zu müssen glaubt, gefährdet wird. So wird man am richtigsten die Tätigkeit Gerlachs und seiner Freunde, der vielberufenen Kamarilla Friedrich Wilhelms IV., bezeichnen können. Der Schleier, der über ihr lag, der die Phantasie der Zeitgenossen und Nachkommen zu allen möglichen übertriebenen Vermutungen reizte und den Historiker mißtrauisch gegen jede feste Ansicht über die Regierungshandlungen der Zeit machen konnte, ist jetzt gefallen. Was wir nun sehen, ist nicht nur das unerfreuliche Bild von Hofkabalen, geheimen Einflüssen und persönlichen Bestrebungen, sondern zugleich eine große historische Erscheinung in ihrem ganzen inneren Verlaufe, der Zusammenbruch einer Staatsanschauung, welche geglaubt hatte, das einzig erlösende Wort für die Schäden der Zeit gefunden zu haben, in sich selbst. Die Ursprünge der Kamarilla Friedrich Wilhelms IV. reichen in die zwanziger Jahre zurück, wo sich um den Kronprinzen eine Gruppe von Gesinnungsgenossen sammelte, die aus dem Kultus der Hallerschen Staatsdoktrin das Bewußtsein schöpften, ein tieferes und reineres Verständnis von den Grundlagen des Staates zu besitzen, als alle Bureaukraten, Polizeimänner, Liberale und Demokraten zusammengenommen. Keiner von ihnen, meinte damals Gerlach, dürfte in einer Gesellschaft sein, ohne wenigstens ein Zeugnis für Haller abzulegen ". 15
1, 536.
16
1,6.
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Seine beiden Brüder Ludwig, der spätere Rundschauer der Kreuzzeitung und Otto, der Prediger bildeten mit ihm den Kern dieser Gruppe. Leider enthalten die Aufzeichnungen nur wenig über ihr Verhältnis zum Kronprinzen. Auch in den ersten Jahren nach der Thronbesteigung verbot sich ein regelmäßiger Einfluß Gerlachs auf die Geschäfte schon durch seine Stellung. In kirchlichen Fragen trat er zuerst hervor. So scheute sich Gerlach 1840 nicht, den König in sehr entschiedener Weise vor der Ernennung des Bischofs Neander zum Präsidenten des Konsistoriums zu warnen' 7 . Dann fühlte er sich aber ins Hintertreffen geschoben durch die Minister, von denen kaum einer ganz nach seinem Herzen war, und auf die Berufung des Vereinigten Landtages wirkte er mehr indirekt als Vermittler zwischen dem Könige und dem Prinzen von Preußen ein. Die Märztage von 1848 brachten dann die Kamarilla fast wie das notwendige Komplement zu einem konstitutionellen Regime Friedrich Wilhelms IV. zur Reife. »Erster Versuch zur Gründung eines ministere occulte 30. März« schreibt Gerlach 18 . Seinen regelmäßigeren Einfluß aber datierte er selbst später erst vom Juli 1848 an". Massow, der Intendant der königlichen Gärten und Staatsratsmitglied, und der Hofmarschall Graf Keller waren seine ersten Genossen, sein einflußreichster Mitstreiter aber wurde dann der Generaladjutant v. Rauch, der auch seit den Märztagen angefangen hatte, sich in die politischen Geschäfte zu mischen. Gerlachs Bruder Ludwig, so oft er in Berlin sich aufhielt, Graf Voß und die Exminister Alvensleben und Canitz, auch Bismarck, Kleist-Retzow, Heinrich Leo und Stahl nehmen mitunter an den Beratungen der Kamarilla teil oder stehen ihr nahe. Bemerkenswert ist der nahe Verkehr und intime Gedankenaustausch einzelner von ihnen mit dem russischen Gesandten v. Meyendorff. Nach charakterisierenden Mitteilungen über diese Persönlichkeiten sucht man in den Aufzeichnungen meist vergebens. Fast atemlos skizziert Gerlach die Geschäfte und die ihn selbst bewegenden Gefühle; zu einer Beschäftigung mit seinen Mitkämpfern läßt er sich keine Zeit, wie der Soldat im Gefechte, der sich wohl auf seine Kameraden verläßt, aber sich wenig um ihren seelischen Zustand kümmert. Die Höhepunkte ihrer Wirksamkeit liegen in der Zeit der Berufung des Ministeriums Brandenburg, der Revision der oktroyier-
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1, 81 ff. 1, 150. 1, 654 (1851).
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ten Verfassung und der Verhandlungen von Warschau und Olmütz. Aber auch in der Zeit des Radowitzschen Einflusses ist die Kamarilla unausgesetzt tätig. 1851 und 1852 bildet eigentlich Gerlach mit dem Kabinettsrat Niebuhr allein die Kamarilla 23 . Er selbst gebraucht den Ausdruck nicht selten; »heute trat die Kamarilla zusammen, beriet« usw. erzählt er wohl. Einmal geschieht dies unter dem Vorsitz des Ministerpräsidenten Grafen Brandenburg 21 . Es fällt ihm ein anderes Mal auf die Seele, daß der König »ohne Kamarilla den Ministern gegenüberstehe«, und er beredet deswegen Rauch, nach Potsdam zu fahren 22 . Man kann sich denken, daß den Ministern diese Zwischeninstanz nicht immer willkommen war. Brandenburg beschwerte sich offen gegenüber Rauch über ihr unbefugtes Ratgeben 23 . Von Manteuffel gewinnt man den Eindruck, daß er aus Politik sich mit Gerlach immer gut zu stellen gesucht hat, aber seinen Einfluß auch am liebsten weggewünscht hätte. Für Gerlach aber war es eine Pflicht und Gewissenssache, diesen Einfluß festzuhalten, solange er auf seinem Posten stünde; er hielt daran so fest wie an allen seinen übrigen politischen und kirchlichen Uberzeugungen. Mit der Methode, mit der ein positiver Christ seiner Glaubensrichtung überhaupt sein irdisches Handeln prüft, ging er darüber mit sich ins Gericht. An seinem »einsamen« Geburtstage, 21. September 185024, ist er betrübt, noch immer mitten in allen Dingen zu sitzen, und erst recht betrübt, weil sein Herz noch ganz daran hinge. »Wenn ich es irdisch beurteile, so habe ich mir meine jetzige Stellung in dem Feldzuge vom April 1848 bis dahin 1849 erobert, nehme ich es aber innerlich, so darf ich eben deswegen sagen, denn mir fehlten ja alle Eroberungsabsichten, der Herr und nicht der König hat sie mir gegeben, denn er nötigte mich auf unwiderstehliche Weise durch Gewissen usw., ja durch das Anschließen von Bundesgenossen zu dem, was ich getan habe.« Trotz oder vielmehr eben wegen des neu eingeführten Konstitutionalismus hielt er an der Uberzeugung fest, daß es Vasallenpflicht sei, dem Könige Rat zu geben, wenn man es könne. Das war ihm geradezu ein Stück des christlich-germanischen Staates. Darum focht es ihn wenig an, als der frühere Kabinettsminister v. Thile ihm Ende 1848 erklärte, ein jedes Kamarillaregiment sei bei 20 21 22 23 24
Vgl. ζ. Β. 1, 235 (5. 1, 310 (8. 1, 426 (4. 1, 667 f.
1, 826. November 1848). April 1849). Februar 1850).
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einem konstitutionellen Könige entschieden unrecht und führe zum Schafott 25 . Ohne eine schärfere Einsicht in das Wesen der ihn bewegenden Doktrin wären seine Handlungen und überhaupt die Regierungshandlungen des Königs völlig unverständlich. Ranke nicht anders wie Sybel sind davon ausgegangen. Was so oft in der wechselnden Beurteilung historischer Persönlichkeiten geschehen ist, hat sich auch bei Friedrich Wilhelm IV. wiederholt, daß nämlich die Zeitgenossen die individuellen Schwächen und Fehler der Handelnden für vieles verantwortlich gemacht haben, dem allgemeinere Ursachen, treibende Ideen der Zeit zugrunde lagen. Nicht ein ausschließlicher Mechanismus der Ideen wird dadurch begründet, denn ihre Aufnahme und Verarbeitung durch den Einzelnen bleibt im Grunde, wie wenig eigenes er auch hinzufügen mag, immer ein schöpferischer Akt, und wenn die Idee sich in vollster Reinheit verwirklichen soll, so muß eine Kongenialität der Persönlichkeit von Hause aus vorhanden sein. Man verzeihe diese allgemeinen und nicht neuen Sätze an dieser Stelle, aber wie oft solche auch ausgesprochen sein mögen: sehen wir ihre lebendige Verkörperung mit Augen vor uns, so wirken sie mit der Gewalt des Neugedachten. Gerlach ist nicht einer der imposantesten Vertreter seiner Ideen, er besitzt nicht den Glanz der Dialektik seines Buders Ludwig, er ist ohne hervorstehende Phantasie und Illusionen, nüchtern und bei der festesten Uberzeugung von der Richtigkeit seiner Theorien nicht ohne eine oft überraschende Skepsis gegenüber dem realen Leben. Und doch empfängt man aus seinen Aufzeichnungen einen mächtigen Eindruck von dem Schauspiele, wie hier eine bei aller inneren Lebendigkeit zum Unterliegen bestimmte Idee in den verschiedenen Menschen, die sich von ihr ergreifen lassen, verschieden sich verwirklicht, wie sie in dem, der ihr am kongenialsten ist, ihr natürliches Ende findet und sich selbst aufhebt, in anderen Naturen zur inneren Lähmung führt, und wie sie äußere Erfolge nicht ernten kann, ohne mit sich selbst uneins und getrübt zu werden. Die Staatsanschauung, von der Friedrich Wilhelm IV. und die Mitglieder der Kamarilla erfüllt waren, war nicht mehr die alte Hallersche Doktrin, von der sie ausgegangen waren. Sie entsprach auch nicht ganz demjenigen Typus der christlich-germanischen Staatslehre, den Sybel26 als Zeitgenosse 1851 gezeichnet und auf seine theoretische 25 26
1, 266; vgl. 1, 282 u. 701. Die christlich-germanische Staatslehre. Kleinere histor. Schriften 1, 365 ff.
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Begründung geprüft hat. Gerlach tadelte schon früh an Haller, daß er nicht den Begriff »Nation« entwickelt habe, der doch eine schöne Blüte des ewigen Königtums Gottes und der Menschen sei27. Nicht minder war der privatrechtliche Charakter des Hallerschen Systems, die Behauptung, daß Fürsten und Republiken nur mächtige und unabhängige Menschen oder Korporationen seien, und die Staaten sich von anderen geselligen Verhältnissen nur durch höhere Macht und Freiheit unterschieden, auf die Dauer unhaltbar unter Männern, die im Dienste des preußischen Staates standen. Nicht die rationalistischen Uberlieferungen des friderizianischen Staates, sondern die immer noch frischen Gedanken der preußischen Reformzeit haben neben den Anregungen der historischen Rechtsschule auf die Gerlachsche Partei eingewirkt und zu einer geistvollen Weiterbildung des Hallerschen Systems geführt. Das Lehrgebäude, welches Gerlachs Freund Stahl aufrichtete, kann man wohl als ihren Ausdruck ansehen, nicht freilich derart, daß es für sie ein vollständig und allgemein gültiger Kanon war, aber ihren wirksamsten gemeinsamen Grundgedanken findet man allerdings in dem Stahlschen System am klarsten ausgesprochen 2 ". Es beruht nicht nur wie das Hallersche auf dem Satze von der gegebenen, nicht etwa durch Vertrag entstandenen Obrigkeit, sondern betont im entschiedenen Widerspruch zu Haller, daß der Staat ein sittlichintellektuelles Reich sei, eine Anstalt, die ihr Gesetz in sich selbst trage 2 '. »Der Fürst hat die Gewalt nicht als in seiner Person, sondern als im Wesen der Anstalt entsprungen.« Als schönstes Erbteil der preußischen Reformzeit aber darf vielleicht seine Überzeugung gelten, daß der Mensch den Staat auch als Postulat seines eigenen sittlichen Willens erkennen müsse 13 . Allerdings setzt Stahl gleich im Sinne der historischen Rechtsschule hinzu, das sei sekundär, denn der Mensch erzeuge den Staat nicht, sondern eigne sich ihn nur an. Aber indem er dann weiter den christlichen Charakter des Staates untersucht, findet er ihn nicht nur in den Einrichtungen, sondern auch in der Gesinnung und Würdigung, mit der sie betrachtet würden, in dem Geiste, der den 27 1, 6. 28 Wir legen die zweite Bearbeitung seiner Staatslehre (Philosophie des Rechts, 2. Aufl. 2. Bd. 2. Abt., Heidelberg 1846) zugrunde, weil sie in die erste Zeit der Regierung Friedrich Wilhelm IV. sowohl wie seiner eigenen Berliner Wirksamkeit fällt. 29 a. a. O . S. 109 ff. (4. Aufl. 2, 2, 141). 30 S. 143 (4. Aufl. S. 175).
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ganzen politischen Zustand erfülle. N u r die religiöse G e s i n n u n g w i r k e es allgemein und dauerhaft, daß der Staat als eine sittliche O r d n u n g bestehe 3 1 , und befreie v o n der bloß mechanischen Würdigung des Staates. Ist dieser eine P o l seiner T h e o r i e also eine religiöse U m d e u tung der Steinschen Staatsansicht, so ist der andere Pol eine religiöse Vertiefung des Hallerschen Gedankens. Niemals entstehe der Staat durch einen Vertrag oder durch eine beabsichtigte T a t , sondern sei das W e r k eines höheren F a k t o r s als des menschlichen Willens' 2 .
Der
K e r n p u n k t dieser Anschauung liegt beschlossen in den W o r t e n , daß »allenthalben das U b e r m e n s c h l i c h - G e g e b e n e das Erste und U n a b w e i s bare, die menschliche T a t erst das Zweite, n u r lebendige innerliche Aneignung, nicht eigne Erzeugung« s e i " . D i e s e r Grundsatz der R e f o r mation, meinten Stahl und seine Freunde, müsse nun auch auf das politische L e b e n übertragen werden, und damit eben sind sie gescheitert. F ü r das religiöse L e b e n wie für die wissenschaftliche Spekulation ein Schlüssel zur Tiefe, lähmte jener Grundsatz für das W i r k e n im Staate die schöpferische Tatkraft. O h n e das Prometheische im M e n schen, o h n e den M u t , der in den Anfang die T a t setzt, werden Staaten nicht gegründet und nicht fortgebildet. Freilich verstanden Stahl und seine Gesinnungsgenossen unter dem U b e r m e n s c h l i c h - G e f ü g t e n , in das sich der Mensch zu schicken habe, nur die eine bestimmte ihnen vorschwebende O r d n u n g der irdischen Dinge. A b e r in einem e m p fänglichen G e m ü t e bleiben so tief wirkende Grundsätze nicht in den ihnen v o m bewußten Willen zugewiesenen Schranken, sondern b e mächtigen sich des ganzen seelischen Lebens. Derjenige, der sich seiner eingeborenen N a t u r zufolge am tiefsten von jenem Grundsatze hat durchdringen lassen, war Friedrich W i l helm I V . Sein ganzes politisches D e n k e n beruhte darauf, daß der ihm als Ideal vorschwebende Staat nicht gemacht, nicht durch willkürliche T a t , durch Gesetze und Kodifikationen ins L e b e n gerufen werden k ö n n e , sondern daß das K ö n i g t u m gleichsam nur mit leiser H a n d , wie man etwa von einem schönen alten Freskogemälde die spätere T ü n c h e ablöst, die alte, organisch erwachsene O r d n u n g von den späteren verunstaltenden Zutaten zu befreien habe. M i t einer religiösen G l a u benssicherheit meinte er, daß diese unter G o t t e s besonderem Segen stehende alte schöne O r d n u n g dann schon ganz von selbst wieder 31 32 33
a. a. O. S. 155. a. a. O. S. 139 (4. Aufl. S. 171). a. a. O. S. XV.
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grünen und treiben werde. Wie sehr sein Handeln von dieser Uberzeugung beherrscht war, darüber geben Gerlachs Aufzeichnungen die belehrendsten Aufschlüsse. In den ersten Regierungsmaßregeln des Königs tritt ihm als besonders charakteristisch entgegen »die Zuversicht auf sein Recht, das Vertrauen auf Gott« 3 4 , und daß er die Zügellosigkeit der Zeit »nicht mit menschlicher Feinheit und Falschheit, noch mit absolutistischer Willkür, sondern mit Recht, Freiheit und Glauben« bekämpfen wolle. In diesem Zusammenhange tritt ein für die ganze Regierung des Königs charakteristischer Zug in ein vielleicht überraschendes Licht. Immer wieder kehrt in Gerlachs Aufzeichnungen die Klage, daß dem Könige die Menschen, mit denen er regiere, gleichgültig seien, daß er sich mit Männern umgebe, die ihn gar nicht verstünden, von ganz anderen Tendenzen beseelt seien. Das hat er auch wiederholt dem Könige selbst ins Gesicht gesagt35 und ihm erklärt, seine ganze Regierung sei daran gescheitert, daß er stets verschmäht hätte, die Menschen als nötig zum Regieren anzusehen. Es war dies mehr als ein bloßes Apercu Gerlachs, es muß zu einer festen Überzeugung in den dem Könige nahestehenden Kreisen geworden sein, wie die fast wörtlich anklingenden Äußerungen des Ministers v. Canitz beweisen36. Canitz meinte, es liege in dieser Gleichgültigkeit gegen die Personen eine Uberschätzung seiner eigenen Macht und Wirksamkeit. Er bleibt hier, wie auch sonst oft in seinen Urteilen, an der Oberfläche, und weit schärfer trifft eine Bemerkung Gerlachs aus dem Jahre 1847 37 den inneren Grund: der König »hält an seinen Prinzipien, gibt sie nie auf und vertraut ihnen so fest, daß er die Menschen, die Zeit und die Art, wie sie ausgeführt werden, für völlig gleichgültig hält«. Zu solchen Konsequenzen also führte jene Anschauung, die vor der frisch und derb zugreifenden menschlichen Tat eine Art von Schauder empfand, sich gläubig in ein Idealbild von Staat versenkte und diesem eine durch sich selbst wirksame Kraft zutraute. So erklärt sich nun die merkwürdige Zerfahrenheit und Impotenz der ersten Regierungsjahre, wo, wie Gerlach sagt38, niemand den König verstand und am wenigsten seine Minister. So erklärt sich die Tatsache, daß die Verfassungsverhandlungen in den ersten Jahren trotz des guten 34
1, 86.
35 36
1, 755, 762. Canitz' Denkschriften 2, 54 u. 183 f.
37
1, 123.
38
1, 96 u. 116.
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Willens des Königs gar nicht vorwärts kamen. »Der König«, schreibt Gerlach 1843", »will vollständige Preßfreiheit, Reichsstände, Konstitution, er wird von der Realisierung dieser Ideen nur durch das mechanische Gegengewicht seines Ministeriums abgehalten.« So wird denn auch die vollkommene Fassungslosigkeit und Gebrochenheit des Königs in den Märztagen von 1848 verständlich, über die Gerlachs Aufzeichnungen zu dem vielen schon Bekannten zwar keine wesentlich neuen, aber doch einige recht charakteristische Züge fügen. Seine innerste Idee war hier verletzt, die freche willkürliche Tat maßte sich an, die von Gott gefügte Ordnung umzustoßen. Diese Ordnung beruhte für ihn mit auf der Grundlage der gegenseitigen Treue von Fürst und Volk. Aber was das Spezifische bei ihm ist im Gegensatz etwa zu seinem Bruder, dem Kaiser Wilhelm: es war ein mehr spekulativ als praktisch-sittlich erfaßter Gedanke. Er setzte die Treue mehr als eine gegebene lebendige Macht voraus, er war selig in ihrer Anschauung, es gehörte zu seinem Seelenfrieden, daß sie vorhanden war. Als sie nun handgreiflich verletzt war, versuchte er nicht durch die rasche repulsive Tat, sondern durch eine Fiktion das verlorene Gleichgewicht der Seele wiederzugewinnen. Die Bemerkung von Canitz »Es war ihm ein durchaus widerwärtiger Gedanke, seine Untertanen seiner Residenz in offener Empörung gegen sich zu sehen«, er wollte der Treue des Volkes vertrauen, trifft hier einmal den Kern der Sache. Die schlimmen Ereignisse des 19. März erscheinen wie das Ergebnis des Zusammentreffens von System und Naturanlage. Wie genau paßt auch die von Gerlach 4 ' mitgeteilte Ansprache des Königs an die Potsdamer Offiziere am 25. März, durch die sich die Getreuen des Königs schwer verletzt fühlten, in diesen Zusammenhang. Der König erklärte ihnen, er sei ganz frei in Berlin. »Meine Person ist niemals sicherer gewesen, und ich habe nicht geglaubt, daß die Berliner solche Anhänglichkeit an mich gehabt haben.« Und unmittelbar vorher geht noch dieser Erklärung ein Wort, das im Grunde sein ganzes Staatsideal negierte. »Es gibt keine Obrigkeit, keinen Magistrat, keinen Stadtverordneten, und dennoch ist durch den Willen der Bürger das Eigentum und die Person geschützt.« So hebt sich schon hier in ihm die christlich-germanische Staatsanschauung selbst auf, lediglich dadurch, daß er ihrem tiefsten Zuge, der innerlichen Aneignung des Gegebenen, instinktiv folgte. 39 40 41
1, 92. Denkschriften 2, 254. 1, 148 f.
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Hierauf beruhen auch die vielbeklagten Schritte vom 21. März, der U m z u g mit den deutschen Farben. Die nationale Idee war diejenige unter den jetzt auf ihn einwirkenden Mächten, die er innerlich noch am meisten in sich aufnehmen konnte, obwohl sie ihm nicht so hoch stand wie die Idee der Obrigkeit von Gottes Gnaden 4 2 . Man kann an der Hand der Gerlachschen Tagebücher verfolgen, wie auch die Schritte zur Wiederherstellung der königlichen Macht im Innern unter dem Gesetze stehen, das alle Handlungen des Königs charakterisiert. Die Ereignisse seiner Regierung haben gewissermaßen ihre besondere innere Struktur. Die Aufzeichnungen beweisen, welche wichtige Rolle Gerlach bei der Berufung des Grafen Brandenburg gespielt hat. Wer diesen zuerst dem Könige empfohlen hat, ob Bismarck 4 3 oder, wie nach Gerlachs Aufzeichnungen 4 4 anzunehmen wäre, dessen Bruder Ludwig, darauf kommt es schließlich nicht so an, wo der Gedanke doch wahrscheinlich ein gemeinsames geistiges Eigentum der Kamarilla ist. Jedenfalls fuhr der General v. Gerlach schon am 6. Oktober nach Breslau, um im Auftrage des Königs Brandenburg zu fragen, ob er die Wiederherstellung der königlichen Souveränität gegenüber der Berliner wie der Frankfurter Versammlung übernehmen wolle. Aber es wäre doch eine ungenügende Auffassung, wollte man nun das ganze entscheidende Ereignis als eine Tat der Gerlachs oder überhaupt der Kamarilla, die hier den König geleitet habe, ansehen. Der durch Gerlachs Tagebuch glänzend bestätigte Grundgedanke der Sybelschen Auffassung Friedrich Wilhelms IV.: »Die geschichtliche Verantwortung für alle wesentlichen Akte seiner Regierung gebührt ihm, und ihm allein 45 «, verhilft auch hier zu einer tieferen Würdigung des Ereignisses. Es ist entstanden nicht aus einem lange vorbereiteten und Schritt für Schritt ins Leben geführten Entschlüsse und ebensowenig aus einer plötzlichen Improvisation, sondern so, wie der König sich überhaupt das geschichtliche Leben dachte, durch ein allmähliches natürliches Wiederanschwellen der Macht und der Idee des Königs42 »Dem Namen Teutschland klebt nicht die Heiligkeit vom Namen des HErrn an . . . und doch lieb' ich Teutschland, seine Ehre und Ruhm und Geltung mit der Liebe, mit der man am Namen einer unvergleichlichen Mutter hängt«. An Bunsen, 7. April 1849. Ranke, Sämtliche Werke 49/50, 519. 43 Vgl. Sybel, Begründung des Deutschen Reiches 1, 254. 44 1, 211. Schon vor der Berufung des Ministeriums Pfuel schlägt Gerlach dem Könige Brandenburg einmal vor (1, 193). 45 Begründung etc. 1, 104.
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turns. Als diese daniederlag, als der von Gerlach schon 1843* geahnte »Nihilismus der königlichen Macht« eingetreten war, sank sie auch im Innern des Königs. Auf Gerlachs Ermahnungen im Juni 1848, in Berlin doch Ordnung zu machen, erwiderte der König damals noch: »Jetzt machen ja doch die Minister alles«47. Mit dem allmählichen Wiederaufsteigen der königlichen Macht erfüllt sich auch der Geist des Königs wieder mit ihr. Immer geht mehr eine innerliche Aneignung der Tatsachen als ihre planmäßige Herbeiführung vor sich. »Die eigentliche Wendung des Ganges der Regierung«, sagt Gerlach, »war der dänische Waffenstillstand, den der König selbständig abschloß,. . hier trat er der Paulskirche, der Singakademie und seinen Ministern gegenüber zum ersten Male wieder als König auf« 4 '. Aber sehr richtig fühlt Gerlach, daß der König zu dieser Tat mehr geführt ist, als daß er sie selbst herbeigeführt hätte. Gott, sagt er, habe bis jetzt viel mehr durch die Feinde als durch die Freunde zur Herstellung seiner O r d nung getan. »In der dänischen Angelegenheit hat Er den König durch England und Rußland zum selbständigen Auftreten genötigt« Ähnlich verhält es sich mit der Wirkung des bekannten Steinschen Antrages vom 7. September 1848, in welcher Ranke den entscheidenden Wendepunkt mit sah. Allerdings hat dieses Attentat auf die Armee in dem Könige den Entschluß gestärkt, größere Energie zu zeigen, aber wie ein Moment nach dem andern, der dazu Gelegenheit bot, kam und ungenützt vorüberging, das geht aus Gerlachs Tagebuch deutlich hervor. Da war zuerst die Rede vom Erlaß einer königlichen Botschaft und Bildung eines militärischen interimistischen Ministeriums, - der König geht darauf ein und tut dann doch etwas anderes »Wie schnell aber könnte«, seufzte Gerlach am 22. September, »nach menschlichen Begriffen ein Fürst, der ein Held ist, eine vollständige Restauration bewirken.« Von dem Ministerium Pfuel ließ sich der König dann ein Stück seines Programms nach dem andern abhandeln, aber ein Impuls kam allmählich doch zum andern. Namentlich wirkte die Frage der Abschaffung der Todesstrafe und die schwächliche Haltung des Ministers v. Eichmann ihr gegenüber, und so setzte sich aus einer langsam
46 47 48 49 50
1, 89. 1, 169. 1,203. 1,231. 1, 193.
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wachsenden Summe von Impressionen und Velleitäten der Entschluß des Königs zusammen, den Grafen Brandenburg zu berufen. Nach dieser Methode gehen die Ereignisse weiter. Die Oktroyierung der Verfassung vom 5. Dezember 1848, die der König zuerst für eine »vollständige Desorganisation des Landes« erklärte, wird durch eine ähnliche allmählich erwachsene Kombination von Faktoren herbeigeführt 5 '. Ebenso auch die Eidesleistung auf die Verfassung am 6. Februar 1850. Im Oktober 1849 nannte der König die oktroyierte Verfassung einen Schandfleck für den Grafen Brandenburg und erklärte, sie niemals beschwören zu wollen 52 . Uber die schweren Kämpfe, die es ihn gekostet hat, ehe er sich zur Eidesleistung entschloß, erhalten wir die merkwürdigsten Mitteilungen. Noch drei Tage vor der Proklamation der Verfassungsurkunde, am 28. Januar 1850, nachdem die zweite Kammer den größten Teil seiner Propositionen angenommen hatte, sträubte sich der König gegen den Eid 53 . Es genügt, wie gesagt, in allen diesen Fällen nicht, von Nachgiebigkeit und Schwäche des Königs zu reden, wo so schwere und aufregende Gewissenskämpfe sie begleiten. Der Einfluß seiner Umgebung, in diesem letzten Falle namentlich der Einfluß von Radowitz, ist immer nur insofern wirksam, als sich in ihm das »Gegebene« und »Unabweisbare« verkörpert, von dem sich leiten zu lassen des Königs eigenster Zug war. Es mußte dann zum tragischen Konflikte führen, wo dies Gegebene, das auf ihn drückte, seinen ursprünglichen Ideen widersprach. Komplizierter ist dieser Vorgang in der deutschen Frage, auch deswegen schwieriger darzustellen, weil hierin Gerlach weder das volle Verständnis für den König noch auch dessen ganzes Vertrauen besaß. Nicht nur ist in Gerlachs Mitteilungen darüber, wie wir sahen, die Auswahl des Stoffes durch sein einseitiges antikonstitutionelles Interesse stark bestimmt, sondern auch die Schärfe seiner Beobachtung leidet darunter. Er klammert sich zu sehr an Radowitzens Persönlichkeit, meint, daß das falsche Ansehen desselben bei König und Ministern das einzige Hindernis für eine bessere Politik sei, versucht es immer wieder auf die scharfsinnigste Weise, sich den rätselhaften 51 1, 245. 52 1,376. 53 1,419.
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Einfluß von Radowitz auf den König zu erklären, und kann sich doch nicht in dessen Seele hierbei hineinversetzen. Die Unionspolitik erschien ihm wie seinen übrigen Parteigenossen als ein Bund mit der Revolution. Er konnte es sich nicht zusammenreimen, wie der König sie mit der unbefleckten Idee des Königtums von Gottes Gnaden in sich zu vereinigen vermochte. Das fühlt er sehr fein heraus, wenn er es auch im polemischen Eifer überscharf ausspricht, daß der nationalen Politik von Radowitz die innere Originalität etwas fehlte. Als Radowitz ihm einmal auseinandersetzte 54 , daß er in der Richtung der Zeit auf nationale Einheit Gottes Willen zu sehen glaube, dem man folgen müsse, fragte er ihn, wie er denn in seinem Gewissen eine Politik rechtfertigen könne, die scheinbar mit der Revolution ginge. U n d doch beruht die Sympathie des Königs für die Radowitzsche Politik gerade auf diesem von Radowitz angegebenen Motiv, nur daß die Art, wie der König sich von dieser als Gotteswille erkannten Zeitidee leiten ließ, ganz anders und individuell verschieden von der Radowitzschen war. Radowitz vermochte ohne erhebliche innere Konflikte seine Lebenserfahrung und seine Dialektik in einem System zusammenzufassen, in dem die nationale Idee, wie er glaubte, ohne Widerspruch mit seinen sonstigen politischen und kirchlichen Anschauungen sich vertrug. In dem Könige aber führte das Beieinanderwohnen heterogener, intensiv erfaßter Ideen zu jener Politik des Widerspruchs und der Inkonsequenz, die man aus Sybels Werk schon genügend kennt. Gerlachs Aufzeichnungen bestätigen die Sybelsche Auffassung in allen Hauptpunkten, so namentlich in der Darstellung der Tage von Warschau und Olmütz. Man hat gemeint, daß der Druck von Rußland her einerseits und die Opposition der Gerlachschen Partei andrerseits gegen die Unionspolitik Faktoren seien, deren Bedeutung für das Scheitern der Unionspolitik doch eigentlich erst jetzt durch Gerlachs Aufzeichnungen ans Tageslicht käme. Aber das Wesentliche ist jedenfalls, und das wird durch alle Erzählungen Gerlachs über die Unverschämtheiten des Zaren und über seinen und seiner Genossen Anteil am Zustandekommen der Olmützer Punktation nicht entkräftet, daß die Ereignisse zuletzt immer von der eingeborenen und durch die Doktrin ausgebildeten Natur des Königs bestimmt worden sind. Denn 54 8. Juli 1850 (1, 501). Meine Auffassung von Radowitz habe ich seitdem, gestützt auf seinen Nachlaß, wesentlich klären und vertiefen können; vgl. mein Buch: Radowitz und die deutsche Revolution 1913.
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die Konvention von Olmütz war die Konsequenz dessen, was in der Ministersitzung vom 2. November 1850 geschah. Der König erklärte hier der Mehrheit der Minister, daß er ihren Entschluß für verderblich halte, - und erklärte doch zugleich, sich ihr fügen zu wollen. Als Produkt der stärksten Seelenkämpfe des Königs, wo die in ihm lebendigsten Ideen, Würde und Ehre des Königtums und des preußischen Namens und Wiederherstellung der Obrigkeit von Gottes Gnaden tief aufgerührt waren, eine solche beispiellose Selbstentäußerung des königlichen Willens, dazu führte schließlich in dem ihr kongenialen Geiste die Doktrin, die den Menschen mit Ideen erfüllte und ihm dabei die Kraft nicht gab, sie durch die eigne Tat in das Leben zu führen. Der höchste Grundsatz der Spekulation, die Versenkung in das Gegebene und Unabweisbare, führte auf das tätige Handeln übertragen zur Selbstvernichtung dessen, was man als das vor allem Gegebene und Unabweisbare erkannt zu haben glaubte. Erheblich verschieden war die Wirkung der Doktrin auf Gerlach, aber zerrieben hat sie ihn schließlich auch. Er hatte von Hause aus die Anlage zu aktivem Handeln. Die Art, wie er im Frühjahr 1848 die Kamarilla organisierte, wie er im Sommer und Herbst des Jahres immer zu mutiger Reaktion treibt, beweist sie genügend. Es konnte da gar nicht ausbleiben, daß ihm der Widerspruch mit der ganz anderen Art der Regierungshandlungen zum Bewußtsein kam. Daß man sich von dem Jahre 1848 so habe überraschen lassen, schreibt er 4. Juli 1849", komme daher, daß man sich zu sehr von den weltlichen Beschäftigungen habe beherrschen lassen, statt daß man sie beherrschte, daß man sich zu sehr durch die Eindrücke habe bestimmen lassen. Seine theoretischen Anschauungen vom Staate, soweit sie sich aus seinen verstreuten Äußerungen zusammenstellen lassen, decken sich nicht ganz mit den Stahlschen; sie entfernen sich noch nicht so weit von Haller. Wiederholt macht er seinem Bruder Ludwig und Stahl den Vorwurf, daß sie das Wesen aller Politik, die Obrigkeit, nicht recht erfaßt hätten, den König nicht mehr als Obrigkeit, sondern als premier serviteur de l'etat und die Stände nicht als dem Könige untergeordnete Obrigkeiten, sondern als Repräsentanten eines Volksteiles ansähen56. Sie hätten, meinte er, den schiefen Gedanken einer Einheit des Volks gegenüber dem Könige noch nicht aufgegeben. Fast rein Hallerisch ist 55
1, 340.
56
1, 722 (1852), vgl. 2 8 2 . 4 0 3 . 5 9 6 . 6 8 5 .
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sein Satz: »Sowie aber das Volk keine Einheit ist ohne den König, so ist auch ein Haufe Volks keine Einheit ohne eine Unterobrigkeit.« Aber darin geht er über Haller hinaus, daß er der Obrigkeit nicht bloß die Ausübung allgemeiner Menschenpflichten, sondern eine spezifische sittliche Funktion zuweist. »Der König«, sagt er, »ist von Gottes Gnaden Obrigkeit zur Bändigung des F l e i s c h e s « W e n n er dann weiter den Satz ausspricht: »Eine Obrigkeit kann sich nur behaupten, wenn sie mit gläubiger Anerkennung ihrer göttlichen Einsetzung feststeht; wo dies nicht der Fall ist, bleibt nur die Tyrannis übrig« 5S , so trifft er wieder ganz mit Stahl zusammen, der eben auch in der Gebundenheit des öffentlichen Bewußtseins an die höhere göttliche Ordnung den Damm gegen den Absolutismus des Staates erblickte 59 . Noch weiter von Haller entfernte sich Gerlach, übrigens nur in Weiterbildung dieses selben Gedankens, wenn er sich in seinem ganzen Handeln an den persönlichen König gebunden hielt. Sein Bruder Ludwig nannte das Servilismus und erklärte stolz: »Ich bin auch ein König.« Gerlach aber hielt sich an das Wort, daß man auch dem wunderlichen Herren Untertan sein solle40. Von diesen beiden Punkten geht nun auch für Gerlach die Zersetzung seiner politischen Tätigkeit aus. Seine Eigenart drängte ihn nicht so wie den König zum In-sich Einsaugen der äußeren Eindrücke, sondern zum Handeln und energischen Durchführen seiner Theorien. Aber mußte nun nicht eben, indem er dies versuchte, ein Riß zwischen Theorie und Praxis entstehen? Das Untertan-Sein dem wunderlichen Herrn ließ sich in der Praxis überhaupt nicht wörtlich durchführen; wie emsig hat Gerlach gegen die vom Könige gebilligte Politik von Radowitz agitiert. Und wenn andrerseits das öffentliche Bewußtsein sich nun einmal nicht binden wollte an diejenige Ordnung, welche jener Theorie als die von Gott gefügte erschien, konnte man es dann erzwingen mit äußeren Mitteln? Dagegen sträubte sich Gerlachs protestantisches Gefühl, und von den opera operata des Papismus wollte er nichts wissen. »Die Grundwahrheit der Protestanten,« schrieb er", »die Rechtfertigung aus dem Glauben, ist ja die Bedingung des königlichen Priestertums, der Freiheit der Kinder Gottes und der scharfe Gegensatz des Papis57 58 59
1, 596. 1, 684, vgl. 578 u. 593. a. a. O . S. 127 (4. Aufl. 2, 2. 158).
60 61
1, 423 u. 576. 1, 792 (1852).
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mus, opera operata, Heiligenanbetung usw.; daher Gegensatz unserer Politik gegen die russische und österreichische.« N u n widerstrebte aber das politische Denken der Zeit entschieden der supranaturalistischen Begründung der Staatsgewalt, wollte sich nicht bloß mit gläubiger Gesinnung das im Staate Gegebene innerlich aneignen, sondern mit eigner Tat sich am Staatsleben beteiligen. Eine verzweifelte Lage für die Gerlachsche Theorie. Er sah sie auch vollkommen ein und sagte, das sei eben unser größtes Unglück, daß der Glaube an das Königtum aus den Herzen der Menschen, selbst der Gutgesinnten, gewichen sei, »da in diesem Glauben, fides, foi, in dieser Konviktion die Bedingung der Obrigkeit im Gegensatz der Tyrannis überhaupt liegt«62. So standen gerade diejenigen, welche diese Doktrin am tiefsten und reinsten in sich aufgenommen hatten, im innersten Grunde ohnmächtig und hilflos der Zeit gegenüber. Und wenn sie sich nach den wenigen umsahen, die noch zu ihrer Fahne hielten, wie wehe wurde ihnen dann ums Herz. Der Gedanke der heiligen Allianz und der gemeinsame Kampf gegen die Revolution wies sie auf das Zusammengehen mit Österreich und Rußland; ihre Opposition gegen die Unionspolitik war davon getragen. »Mein steter Trieb ist, die Einigkeit mit Österreich und Rußland auf alle Weise zu fördern« schrieb Gerlach im August 1849 und ähnlich immer wieder. Aber ihm graute dabei vor diesen Bundesgenossen, die ihm innerlich so fern standen. In Schwarzenbergs nivellierendem Absolutismus sah er die Frucht des Unglaubens 64 . Ebensowenig konnte er sich zum Kaiser Nikolaus ein Herz fassen. Als dieser 1852 nach Berlin kam, hatte Gerlach bei aller Genugtuung über die Wiederherstellung der alten Freundschaft doch das niederschlagende Gefühl, daß »soviel cant, flunkeyism« dabei sei, und das Ubergewicht des absolutistischen Rußlands fiel ihm schwer auf die Seele65. »Eine schreckliche Lage,« klagte er 1 8 5 1 » z w i s c h e n Revolution und Absolutismus, nach einem hier sehr passenden Straßenjungen-Ausdruck geschindludert zu werden.« Er konnte es sich da in einzelnen Momenten nicht verhehlen, daß dem Gegensatz zwischen Preußen und Österreich auch der Gegensatz zwischen Freiheit und Absolutismus zu Grunde liege, und war unbefangen genug, auch der Radowitz62 63 64 65 66
1, 1, 1, 1, 1,
593 (1851). 358, vgl. 554. 615. 712 u. a. 488 (1850). 764. 588.
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sehen Politik diese tiefere Wahrheit zuzugestehen' 7 . Dieser inneren Wahrheit war seine eigene Politik des Zusammengehens mit Rußland und Österreich verlustig gegangen. Und nun die Lage im Innern dazu. Sie ergab schließlich ganz dasselbe Dilemma. An der inneren Berechtigung seiner Kamarillawirksamkeit hat freilich, wie wir schon sahen, Gerlach nie gezweifelt. Sie war ihm das von Gott gegebene Amt, in dem er zu seinem Teile mitwirken wollte an der Wiederherstellung der von Gott gefügten Ordnung. Wenn er auf die Zahl und Bedeutung seiner Erfolge darin sah, hätte er wohl stolz sein können. Der dänische Friede, die Antwort des Königs an die Frankfurter Kaiserdeputation am 3. April 1849, das Ministerium Brandenburg, die Reden des Königs bei der Beschwörung der Verfassung am 6. Februar 1850, die Entlassung von Radowitz und die Entsendung Manteuffels nach Olmütz, bei allen diesen Ereignissen hatte er einflußreich mitgewirkt. In einem Rückblick auf Olmütz sagt er 1851 einmal 68 : »Wie schwach war die Partei, welche den Krieg mit Österreich für ein unsägliches Unglück, für unser Ende hielt.« Der König gefesselt von Radowitz, die übrigen entweder für den Krieg oder schwankend. »Wer blieb denn hier übrig? Die drei Minister, ich, E. Manteuffel, Ludwig und dann die Königin. Und am 1. Dezember haben wir alle unsere Feinde besiegt.« So war nun also die Gerlachsche Partei zu Ende des Jahres 1850 Herr aller gefährlichen Widersacher in der Umgebung des Königs geworden. Sie fühlte sich als den geistigen Leiter des Ministeriums, das Feld lag scheinbar offen für sie da für eine fruchtbringende Tätigkeit, für eine Verwirklichung ihres Programms. Welch Schauspiel bietet sich nun in dem Wirken dieser siegreichen Partei dar. Am guten Willen hat es ihr nicht gefehlt, und von den ersten Taten der Reaktion in den Jahren 1851 und 1852 enthalten Gerlachs Aufzeichnungen genug. Aber wie dürftig war das alles im Vergleich zu dem, was ihm als Idealbild der staatlichen Ordnung vorschwebte, und vor allem, wie verfälscht durch die Bureaukratie kam das alles heraus. Alle Gesetzentwürfe, die nun über Gemeindeordnung, Kreisordnung, Provinzialstände ausgearbeitet wurden, fand er weit unter seiner Erwartung 6 '. An der preußischen Bureaukratie allein schon mußte der ganze christ-
67 68 69
1, 720 (1852). 1, 584. 1, 696 (1851).
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lich-germanische Staat scheitern. Mit Manteuffel, der sie jetzt vertrat, konnte er, wie wir schon sahen, sich auf die Dauer gar nicht befreunden. In dem Zeitraum von drei Jahren haben wir uns fast nicht um einen Schritt genähert, schrieb er 1852™. N o c h tiefer fühlte er sich von Manteuffel geschieden durch dessen Widerwillen gegen den Pietismus 7 '. Mit Westphalen, dem Minister des Innern, war es nicht viel besser. »Uberall schlägt ihm der Bureaukrat in den Nacken« 7 2 . »Wie schwach ist die Partei des Rechts hier im Lande,« klagte 73 er in dieser Höhezeit der Reaktion, »wenn man sie von dem Liberalismus trennt. Die Hauptmacht dieser Partei sitzt immer noch wie unter der vorigen Regierung in der Person Friedrich Wilhelms, des damaligen Kronprinzen, jetzigen Königs. W e d e r unter den Prinzen noch unter den Ministern findet man Anhänger des Rechts und der Freiheit.« U n d doch, meinte er, müsse er Manteuffel halten, denn er ahnte schon eine neue dahinter folgende liberale Ära, ein Ministerium Bethmann-Hollweg oder Ladenberg 7 4 . Wieder eine Verfälschung der Doktrin durch die Praxis. Denn wenn er es in der auswärtigen Politik verabscheute, um politischer Zwecke willen sich mit revolutionären Mächten zu verbinden, hieß es da nicht im Innern auch ein W e r k mit unreinen Händen aufführen, wenn man es durch die Bureaukraten machen ließ, die kein Verständnis für wahres ständisches Wesen hatten und Pietistenhasser waren? U n d wenn nun gar vollends, wie es geschah, das reaktionäre System der Zwangsmaßregeln dazu kam, so wurde der auf die »fides, foi, Konviktion« gegründete christlich-germansiche Staat in seiner Wurzel vergiftet. E r konnte nie und nimmer in seiner Reinheit ins Leben treten, erstens weil die Männer nicht da waren, die ihn mit Verständnis und Liebe hätten durchführen können, und zweitens weil er in einer gesetzlichen, erzwungenen Durchführung sofort sein eigentliches Wesen verloren hätte. Wie die ganze Reaktionstätigkeit der fünfziger Jahre an diesem Widerspruch schon in sich zugrunde gegangen ist, bevor ihr äußerlich ein E n d e gemacht worden ist, das wird der zu erwartende Schlußband der Gerlachschen Denkwürdigkeiten wohl zur lehrreichsten Anschauung bringen. Schon im Jahre 1852 zeigt sich die völligste Anarchie am H o f e , das Wirken aller gegen alle, das 70 71
1, 772. 1, 789 f.
72
1, 782 (1862).
73 74
1, 788 (Juli 1852). 1, 698. 763. 766. 796 f.
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Hineinspielen unlauterer Motive, das Gerlach mit blutendem Herzen, aber rücksichtlos drastisch schildert 75 , und ergreifend tritt es entgegen, wie der fromme und treue Mann sich aufreibt in seiner unfruchtbaren Tätigkeit. Ein Zug des trüben Pessimismus tritt früh bei ihm auf und verstärkt sich mit den Jahren. Er hat wohl die Kraft der Überzeugung, aber nicht den frischen Mut im Handeln, der sonst den Vertretern zukunftsreicher Anschauungen eigen ist. Wo so wenige in der Welt die ihn erfüllende wahre Staatsweisheit verstehen konnten, verlor er den Glauben an die Menschen überhaupt. Das non credis, mi fili, quam parva sapientia regitur mundus, wurde der immer wiederkehrende resignierte Refrain seiner Betrachtungen. »Ach, es ist doch ein hartes Los, so in das Joch der Politik gespannt zu werden und das im 60. Jahre und ohne Glauben an die Menschen und mit einem Glauben an Gott, der von jenem Joch dispensiert« 76 , und ähnliche Klage über die Hoffnungslosigkeit seines Treibens kehren immer wieder. Er fühlte sich alt und verbraucht und arm an Ideen zuletzt. »Wie kann ich in meinem 62. Jahre diesen Gegensätzen gewachsen sein?«77 Am Ende, meint er einmal, hat Hengstenberg recht, daß das 1000jährige Reich jetzt zu Ende gegangen und der Teufel wieder losgelassen ist. »Ich kann es mir nur immer noch nicht denken,« fährt er ganz im Geiste seiner Doktrin fort, »daß es mit der christlichen Obrigkeit zu Ende sein sollte«7e. Die an den Menschen verzweifelnde gläubige Ergebung in Gottes Willen ist die jetzt immer mehr hervortretende Tendenz seines Denkens. So hat auch diesen tatkräftigen Charakter zuletzt der quietistische Grundzug seines Systems übermannt. Sollte man wünschen, daß so viel geistige Kraft und selbstlose Hingabe an die Idee sich einer fruchtbareren Wirksamkeit gewidmet hätten? Das hieße die Geschichte um einen lebensvollen, vielleicht notwendigen Zug ihres Bildes ärmer machen wollen. Und der Eindruck der Unfruchtbarkeit darf nicht der einzige sein, den wir von dem Ausleben dieser Richtung mitnehmen. Worin Friedrich Wilhelms IV. und damit auch ihr historisches Verdienst liegt, hat Ranke in seiner Lebensskizze des Königs schön und tief gesagt. Dieses Verdienst sich zu erwerben, wäre die Partei nicht imstande gewesen, wenn sie nicht die in ihr ruhenden Ideen zum Maximum ihrer Kraft entwickelt hätte. 75 76 77 78
1, 1, 1, 1,
783. 365 (1849). 764 (1852). 683 (1851).
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Zur Bewahrung der Monarchie in den Stürmen der Revolution hat sie ein Großes beigetragen, und durch den geistigen Gehalt und durch die Innerlichkeit ihrer Theorie ist bewußt und unbewußt auch die kommende Generation der preußischen Geschichte beeinflußt worden. Es ist kein bloßer folgenloser Zufall, daß in derselben Sphäre, in der Gerlach wirkte, auch der Prinz von Preußen und Bismarck" lebten. Vielleicht darf man in weiterem Sinne noch einen Dritten aus diesem Kreise als den Heraufführer einer modernen Epoche ansehen, Leopold v. Ranke, der in Gerlachs Aufzeichnungen wiederholt, fast so wie Leo und Stahl als einer der Gelehrten der Kamarilla auftritt. In dem einfachen Worte, mit welchem er 1848 das konstitutionelle Wesen gegenüber Edwin v. Manteuffel rechtfertigte, daß es eine Form sei, »in welcher die jetzigen Menschen nun einmal leben wollen« 83 , lag die Kritik des Gerlachschen Systems und der Fortschritt darüber hinaus.
79 Die Anstellung Bismarcks in Frankfurt betrachtete Gerlach als sein Werk (vgl. 1, 616. 618. 620. 637). Eine »großartige Maßregel« nannte sie Ludwig v. Gerlach 1851. 80 Sämtl. Werke 49/50. 594. Vgl. auch Gerlach 1, 245.
Gerlach und Bismarck Gemeinsame Besprechung in Aufsatzform von Bd. II der Denkwürdigkeiten aus dem Leben Leopolds von Gerlach (1892) und des Briefwechsels des Generals von Gerlach mit Bismarck (1893) in der Historischen Zeitschrift Bd. 72 (1894) S. 44-60. Wiederabdruck: Preußen und Deutschland (1918) S. 279-293. Die Befürchtungen, die man schon hatte, daß ängstliche Rücksichten das Erscheinen des Schlußbandes der Gerlachschen Denkwürdigkeiten verzögern oder gar ganz hintertreiben würden, haben sich zum Glück nicht erfüllt. Der Inhalt des ersten Bandes mag bei manchem alten Gesinnungsgenossen des Generals Bedenken erregt haben, ob nicht doch die Pietät gegen den König Friedrich Wilhelm IV. litte unter dieser Aufdeckung seiner Schwächen. Man erführe gern, wie sich die Herausgeberin mit solchen Erwägungen, die ihr sicherlich nicht fern geblieben sind, abgefunden hat. Aber schweigend übergibt sie uns diesen Band, und man ahnt nur an einigen Stellen eine Intervention jener Pietätsrücksichten. Man möchte doch ζ. B . meinen, daß in Gerlachs ursprünglichen Aufzeichnungen über den politischen Konflikt des Prinzen von Preußen mit dem Könige im Frühjahr 1854 mehr gestanden haben müsse als in dem uns jetzt gebotenen Texte. Eine unbekannte Hand hat uns dann auch den Briefwechsel Gerlachs mit Bismarck aus den fünfziger Jahren beschert. Mag der Herausgeber gedacht haben, daß die Briefe für ihre Echtheit und ihren Wert schon selbst sprechen würden, - etwas mehr hätte er wohl leisten können als diese Briefe zeitlich ordnen und in die Druckerei schicken. Viele Briefe, namentlich Gerlachs, auf die in den Antworten Bezug genommen wird, fehlen, aber nur teilweise gibt der Herausgeber ausdrücklich an, daß sie nicht aufzufinden waren. Erklärende Bemerkungen zu den deren bedürftigen Briefstellen sucht man ebenso vergebens wie ein Register, zu dem der zweite Teil der Gerlachschen Denkwürdigkeiten wenigstens einen schüchternen Ansatz enthält'. Pietät und historischen Sinn kann man ja den Familien unserer Staatsmänner und Generale nicht absprechen, und ihre Neigung aus den 1 Selbst die Texte sind, wie die späteren Ausgaben der Briefe Bismarcks an Gerlach und der Briefe Gerlachs an Bismarck durch Horst Kohl zeigten, unkorrekt.
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ihnen anvertrauten Schätzen mitzuteilen, wächst erfreulich. Möchte sich doch auch das Verständnis für eine würdige wissenschaftliche Ausstattung ihrer Veröffentlichungen bei ihnen mehr entwickeln. Geschulte Kräfte, die mit Freuden ihnen zu Hilfe kommen würden, haben wir genug. O f t haben sie ja den guten Willen, tun dann aber auch leicht des Guten zu viel, wie der treffliche Herausgeber der für die geistige Entwickelung des Kaisers Wilhelm so ungemein wichtigen Natzmerschen Denkwürdigkeiten, der eine Art preußischer Geschichte im 19. Jahrhundert zusammenkompiliert, aber leider wenig zu sichten verstanden hat. In dem vorliegenden Falle aber ist vom Herausgeber entschieden zu wenig getan. Abgesehen davon aber ist der Briefwechsel eine herrliche Gabe, voll des Bismarckschen Geistes, der sich hier in seiner frischen jugendlichen Kraft offenbart, zwangloser, sprudelnder und offenherziger als in den von Poschinger veröffentlichten Berichten an Manteuffel, zusammen mit diesen und den Gerlachschen Tagebüchern nun ein unvergleichliches Quellenmaterial, um den Untergang der alten und das gleichzeitige Emporkommen der neuen Staatsanschauung in Preußen zu studieren. Die Tagebücher Gerlachs spiegeln jenen Umschwung natürlich aber greisenhaft wider. Von den neuen ihn ablösenden Mächten, mit denen er doch in lebendigster Berührung steht, bekommt man durch ihn nur ein doktrinär konstruiertes Bild. In dem Briefwechsel mit Bismarck wieder überstrahlt dessen stärkerer Geist den untergehenden Stern Gerlachs. Dieser selbst hält mehr und mehr mit seinen innersten Gedanken gegenüber Bismarck zurück, er sucht ihn wohl noch immer zu sich herüberzuziehen, aber schon mit dem geheimen Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Aus wissenschaftlichen Gründen muß man es ja bedauern, daß aus den letzten Lebensjahren Gerlachs (er starb 1861) fast gar keine seiner Briefe an Bismarck mehr erhalten sind. Aber die künstlerische Wirkung wird dadurch erhöht. Seine schmerzlich mahnende Stimme verhallt nun, so scheint es, vor dem hellen und stolzen Klange der Bismarckschen Rede.
Die Stellung Preußens in der großen europäischen Krisis des Krimkrieges ist wohl die wichtigste Frage gewesen, welche Gerlachs und Bismarcks Gedanken und Handlungen in jenen Jahren beschäftigt hat. Durch Bismarcks spätere Reden und durch Sybels Werk ist es uns jetzt
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in Fleisch und Blut übergegangen, was damals so ganz verborgen geblieben ist, daß die damalige preußische Politik im großen und ganzen die beste war, die man sich als Vorbereitung des Bismarckschen Einheitswerkes denken kann. Sie ließ sich nicht von den Westmächten in die Stellung einer sekundären Hilfsmacht für deren Interessen drängen, sondern sparte die Kraft des Staates für die Zeiten, in denen dereinst seine eigenen Interessen zum Austrag kamen, sie schonte die für die Zukunft ihr unentbehrlichen guten Beziehungen zu Rußland und konnte als Ergebnis des Krimkrieges die Sprengung des russischösterreichischen Einvernehmens, das so schwer bis dahin auf Preußen gelastet hatte, sich wohl gefallen lassen. Durch die feste Behauptung dieser Neutralität, sagt Sybel, hatte Preußen »sich endlich einmal wieder als selbständige Großmacht bewährt.« '. So erscheint, an dem Maßstabe der späteren Erfolge gemessen, die Politik Friedrich Wilhelms IV. vier Jahre, nachdem sie die Tage von Erfurt, Warschau und Olmütz durchgemacht hatte. U n d doch war kein Wandel in den leitenden Persönlichkeiten eingetreten, Bismarcks Einfluß ist zwar eine neu hinzugekommene, aber doch erst werdende Macht. Haben sich etwa die Maximen des Königs, Gerlachs und Manteuffels geändert? Ist ihr politisches Geschick gewachsen? Verfuhren sie jetzt etwa mit mehr Kraft und Nachdruck? Nichts von alledem. Die Vorgänge am Berliner H o f e zeigen gegenüber denen des Jahres 1850 eine erheblich mindere Spannung der Kräfte, nicht nur wegen der geringeren Bedeutung der orientalischen Frage für Preußen, sondern auch infolge der Ermüdung aller Parteien nach den Kämpfen von 1848 bis 1850. U m nur ein Beispiel für Gerlachs eigene Erschlaffung zu geben: Seine Partei überlegte im März 1854, ob sie auf Entlassung Manteuffels, der ihr zu westmächtlich gesonnen war, hinarbeiten solle. Gerlach war dagegen; er ließ es sich gefallen, tatenscheu genannt zu werden. »Ich habe bei einem schwachen Körper nicht den Mut, eine Amputation vornehmen zu lassen.«' Die Parteigegensätze selbst aber und die Art, wie aus ihren Kämpfen schließlich die Politik der Regierung hervorgeht, gleichen ganz denen des Jahres 1850. Die Rolle von Radowitz spielt jetzt eine ganze Schule preußischer Diplomaten. Die Grafen Pourtales und Goltz sind ihre Führer; die auswärtigen preußischen Gesandtschaften sind fast durch2 3
Begründung des Deutschen Reiches 2. Aufl. 2, 237. Denkw. 2,117.
Gerlach und Bismarck
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weg mit ihren Anhängern besetzt. »Fast alle unsere Diplomaten sind bonapartistisch oder wenigstens westmächtlich.« 4 Zu ihnen neigt selbst der Ministerpräsident v. Manteuffel, obschon ohne ausgesprochene Parteinahme. Gerlach selbst weiß anfangs nicht recht, was er von ihm halten soll. »Er ist von Zuträgern umgeben, alles, weil er zu keinem Menschen und zu keinem Grundsatz Vertrauen fassen kann. Jetzt fügt er sich dem Könige, doch meint Bismarck, er ginge darauf aus, uns in die Allianz mit den Westmächten zu bringen.« 5 Wie unsicher des Königs eigener Standpunkt war, ist aus seinen Briefen an Bunsen und der Darstellung Sybels bekannt. Gerlach wurde von schwerer Sorge erfüllt, als ihm der König im Anfang der Verwickelung seine Politik auseinandersetzte, die sanguinisch das Entgegengesetzte vereinigen wollte: »1. Der Orient geht mich nichts an, aber ich werde Rußland den Rücken decken; 2. handelt es sich um den Schutz der Christen im türkischen Reiche, so gehe ich mit England; 3. was Neuchätel anbetrifft, mit Frankreich.« »Daß aus diesem allen nichts wird.« setzt Gerlach hinzu, »ist klar, und daß so etwas gefährlich, ist wiederum klar.«' So sorgenvoll nun freilich Gerlach die Wallungen des Königs und die Anstrengungen der aus den Schilderungen des Herzogs von Gotha wohlb'ekannten westmächtlichen Partei am Hofe verfolgte, so fühlt man doch von vornherein seine Hoffnung durch, daß es zu einer tätigen Teilnahme Preußens am Kriege gegen Rußland nicht so leicht kommen werde; das hätte der Natur des Königs zu sehr widerstrebt. Aber wohl hätte unter dem Drucke so vieler nach Westen drängender Faktoren die preußische Politik unheilbar kompromittiert werden können, wie dies etwa die österreichische damals erfuhr, - sie hätte niemandes Dank, aber jedermanns Unzufriedenheit sich zuziehen können. Und das verhindert zu haben, ist das Verdienst der Partei Gerlachs und Bismarcks. Im Frühjahr 1854 hat sie wirklich mit der westmächtlichen Partei ernstlich zu kämpfen gehabt um den Einfluß auf den König. Die Aufzeichnungen Gerlachs enthalten merkwürdige Mitteilungen 7 über diesen Kampf mit den »Bethmännern«, denen auch 4 5
Denkw. 2, 279. Denkw. 2, 121. (13. März 1854).
6
Denkw. 2, 99. (5. Jan. 1854).
7 Vgl. besonders Denkw. 2, 139. »Alles hatte dahin gearbeitet, den König in das Lager der Westmächte hinüberzuführen. Die Bethmänner sahen sich schon als im Besitz der auswärtigen Politik an« usw. Vgl. Briefwechsel S. 142.
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der Prinz von Preußen, wie bekannt, damals seine Sympathien zuwendete. Er erzählt, wie die gegen sie aufgebotenen Mannschaften Bismarck, Edwin v. Manteuffel, Senfft v. Pilsach, Graf Dohna »einrücken und ihre Schuldigkeit tun«, wie sie Bunsens und Bonins Entlassung dem Könige Schritt für Schritt abdrängen, - wie schwer sie dem Könige geworden ist, sieht man jetzt erst recht - »aber von wo der eigentliche Sturz der Bethmänner ausgegangen, ist doch nicht klar«. Das ist bezeichnend für die Art, wie solche Parteisiege unter Friedrich Wilhelm IV. errungen wurden. Ein niemals ganz klar zu erkennender psychischer Prozeß im Innern des Königs gibt immer den oft den Sieger selbst am meisten verdutzenden Ausschlag; so in dem wunderbaren, von Bunsen so drastisch geschilderten Gesinnungswechsel, der zu der preußischen Zirkulardepesche vom 23. Januar 1849 führte", und so auch hier. Gerlach weiß schließlich auch keine andere Erklärung, als daß der König mißtrauisch geworden sei gegen die ehrlichen Absichten der »Bethmänner«. Ebenso verworren ist die Vorgeschichte des preußisch-österreichischen Bündnisses vom 20. April 1854. Preußen versprach hierin Österreich seine bewaffnete Unterstützung gegen Rußland für gewisse Fälle, die wohl verklausuliert waren, aber doch leicht von Österreich einseitig ausgenutzt werden konnten, um Preußen in die westmächtliche Allianz zu ziehen. Das Bezeichnende aber ist, daß der Anstoß zu diesem Vertrage, der von der westmächtlichen Partei in Preußen mit Genugtuung begrüßt, von Gerlach schmerzlich als eine »verlorene Bataille« beklagt wurde, ursprünglich gerade von ihm selbst ausgegangen ist. Ganz wie Sybel es darstellt: Um Österreich der französischen Allianz zu entziehen, meinte Gerlach, müsse Preußen sich eng mit ihm verbünden. Er trug schon Ende Januar 1854 die Ansicht dem König vor und spürte, daß sie Eindruck auf ihn machte'. Aber als der Gedanke dann Gestalt gewinnt, wird ihm unheimlich vor den von ihm heraufbeschworenen Geistern, und er fürchtet, daß die kräftigere österreichische Politik Preußen mit sich fortziehen werde. In der Tat gleiten ihm im Laufe der Verhandlungen, an deren militärischem Teil er sogar als offizieller Vertreter Preußens teilnahm, die Zügel völlig aus der Hand. Preußen und Österreich, so wurde vereinbart, sollten von Rußland Räumung der okkupierten Donaufürstentümer verlangen.
8 9
Sybel 1, 290. Denkw. 2, 106.
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Gerlach drängte nun während der Verhandlung darauf, daß man als Gegengabe dafür auch auf die Räumung des Schwarzen Meeres durch die westmächtlichen Flotten hinarbeiten solle. Der österreichische Unterhändler Heß gab ihm auch die Berechtigung einer solchen Reziprozität zu, und wenn man Geffcken 10 glauben darf, der sehr gute, aber leider nicht immer kontrollierbare Quellen benutzt hat, so hat sogar der König diese Bedingung stellen lassen und Heß sie schriftlich zugesagt. Aber im entscheidenden Augenblick des Abschlusses ließ man sie ganz fallen. Der Indifferenz Manteuffels und dem unbesonnenen Eifer des preußischen Unterhändlers Gröben schiebt Gerlach die Schuld an solcher fahrlässiger Führung der Unterhandlung zu. Konnte diese auf Grund der Akten noch einen leidlich planmäßigen Eindruck machen, so zeigt sich jetzt, von wie schwächlichen und zufälligen Faktoren sie beeinflußt war. Und ähnlich ist das Ergebnis überall, wo man der damaligen preußischen Orientpolitik ins Detail schaut. Man könnte ja sagen, daß das schließliche Resultat der verschiedenen am preußischen Hofe wirksamen Potenzen, die feste und strikte Neutralität, das Verdienst der bewußt darauf hinarbeitenden Partei Gerlachs und Bismarcks gewesen sei. Aber dann muß man sich auch sofort klarmachen, daß Gerlach damals sicher noch der Einflußreichere von beiden - damit nichts anderes getan zu haben geglaubt, als was er 1850 getan hat. Die preußische Orientpolitik ist für ihn die gerade Fortsetzung der Politik von Olmütz. »Es scheint,« sagt er am 13. August 1854", »daß wir wieder etwas durchgesetzt haben, und zwar nach nicht so langen Kämpfen wie im Jahre 1850.« »Wie damals den Krieg mit Österreich, verhinderten wir hier den Krieg mit Rußland; wie damals die Allianz mit der noch ungebundenen Revolution, verhinderten wir hier die mit der gebundenen, mit Bonaparte und seinem Verbündeten England.« Eine und dieselbe Tendenz also wirkte einmal zu der Niederlage von Olmütz und das andere Mal zu der richtigen und zweckmäßigen, der Würde Preußens entsprechenden Orientpolitik mit. Man kann wohl dadurch an der Methode irre werden, die Leistungen in der Politik nach ihrem Endergebnis mit Lob und Tadel zu zensieren, und zu einem Standpunkt gelangen, von dem sich alle Taten einer Persönlichkeit oder einer Richtung, mögen sie uns nun an anderen Maßstäben 10 11
Zur Geschichte des Orientalischen Krieges 1853-1856 S. 96. Denkw. 2,195.
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gemessen gut oder übel, falsch oder zweckmäßig erscheinen, nur als die notwendige Wirkung einer und derselben Kraft erweisen. Aus dem Reiche der Werke kommt man dadurch in das Reich der lebendigen Kräfte, der persönlichen Uberzeugungen und Antriebe. Wir haben das Wesen jener Uberzeugungen der Gerlachschen Partei in unserem ersten Aufsatze darzustellen versucht. Hier handelt es sich um ihre Anwendung auf die auswärtigen Verhältnisse. »Politik der heiligen Allianz« nennt man sie gewöhnlich. Aber das ist nur ein grobes Schlagwort, mit dem sehr verschiedenartige Bestrebungen bezeichnet werden. Russische Diplomaten verstanden darunter die Idee der russischen Präponderanz in dem Bündnis der drei absolutistisch regierten östlichen Mächte. Gerlach dagegen verstand etwas ganz anderes darunter. Das widerspricht etwas der bisherigen Auffassung, denn man hat ihn und seine Richtung bisher immer für schlechthin russisch gesinnt gehalten. »Hier war man«, so schildert sie Sybel 1 ' »nach konservativer Anschauung kurz und bestimmt russisch, erfüllt von begeisterter Verehrung für den großen Zaren, welcher 1849 Österreich und 1850 Preußen vor dem Dämon der Revolution beschirmt hätte« usw. So mußte man allerdings bisher annehmen, wenn man die damaligen publizistischen Kundgebungen der Partei vor Augen hatte. Da schreibt Ludwig v. Gerlach in der Osterrundschau von 1854: »Preußen war noch nicht wieder Preußen, als es 1849 galt, Österreich in Ungarn die rettende Hand zu reichen. Aber Rußland war Rußland geblieben.«" Er preist die tiefe Weisheit des pommerschen Bauern, welcher gesagt haben sollte: »Unser Herr kann doch nicht gegen den russischen Kaiser zieh'n, er ist ja sein Schwager.«14 Der Zar Nikolaus ist für ihn der »kolossale Granitblock, gegen welchen die öffentliche Meinung< anstürmt«, und er erklärt: »Vor Rußlands Ubermacht haben wir keine Angst.« " Aber hinter dieser robust russischen Außenseite der Partei verbargen sich noch sehr viel feinere Auffassungen. Leopold v. Gerlach war sich im Gegensatz zu den Heißspornen seiner Partei vollständig klar darüber, daß seine christlich-germanische Staatsanschauung völlig unverträglich war mit den Prinzipien des russischen Despotismus. Von 12 a. a. O . 2, 182. 13 Vier politische Quartal-Rundschauen von Michaelis 1853 bis dahin 1854 (Berlin 1855) S. 49. 14 Ebenda S. 71. 15 Ebenda S. 84 (Johannis-Rundschau 1854).
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vornherein verfolgte er auch die russische Orientpolitik mit Unbehagen und Abneigung. »Das Benehmen des Kaisers von Rußland gegen die Türkei ist willkürlich und rücksichtslos seinen Bundesgenossen gegenüber«, meint er im Juli 1 8 5 3 " . E r spricht von Rußlands »Arroganz und Falschheit«' 7 , und als im Herbste des folgenden Jahres einmal üble Nachrichten von Sewastopol kamen, meinte er, nun könne G o t t es für nötig halten, »Rußlands Ubermut, Rußlands antichristliche Cäsaropapie zu strafen« '*. Die Fülle seiner Äußerungen läßt gar keinen Zweifel übrig, daß nicht die Vorliebe für Rußland, sondern der Gegensatz gegen Napoleon seine Politik geleitet hat. »Unser Ziel«, faßt er es einmal bündig zusammen, »ist und war stets Kampf gegen den Bonapartismus, gegen den auf die Revolution und auf die revolutionären Ideen aufgebauten Absolutismus. V o n parti moscovite ist gar nicht die Rede.« Wenn er hinzusetzt: »der König, ich, Ludwig und Stahl haben nicht die entferntesten russischen Sympathien«, so liegt hier freilich wohl wenigstens in bezug auf seinen Bruder Ludwig jene Verblendung vor, mit der die Angehörigen einer Partei leicht über extreme Auswüchse ihrer Genossen hinwegsehen. Für seine eigene Stellung zu Rußland aber ist charakteristisch, was er 1856 aussprach, als der schon lange in der Luft schwebende Gedanke einer russischfranzösischen Allianz greifbare Gestalt anzunehmen schien: »So höre ich auf, russisch zu sein und kann nun englisch werden.« " D i e Tage von Tilsit und Erfurt, die er ja als Zeitgenosse miterlebt hatte, tauchten damals vor seinem Auge auf. Er läßt selbst keinen Zweifel darüber, wie sehr die Eindrücke jener Jahre auch auf seine politische Stellung zum zweiten napoleonischen Kaiserrreich eingewirkt haben. »Wer nicht von altpreußischem Blute und die Zeit der Schmach nicht entweder selbst oder durch väterliche Tradition erlebt hat, kann
unsere
Stellung zum Bonapartismus
nicht
begreifen«,
schreibt er an Bismarck' 1 . Aber das war nicht die Art der Generation, welche die Befreiungskriege erlebt und an der sie begleitenden geistigen Bewegung teilgenommen hatte, sich mit solcher lebensfrisch egoistischen Motivierung zu begnügen. Sie mußte alles, was sie erlebte, auf Ideen bringen, in 16
Denkwürdigkeiten 2, 54.
17
Ebenda 2, 58.
18
Ebenda 2, 231.
19
Denkw. 2, 382.
20
28. Januar 1 8 5 3 ; Briefwechsel S. 65.
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ihnen sah sie das wahrhaft Reale der Dinge, deren äußeren Verlauf sie so fortwährend zu vergeistigen bemüht war. Die Anfänge der liberalen Bewegung in Deutschland weisen diesen Zug ebenso auf, wie die christlich-germanische Richtung des Gerlachschen Kreises. Die beiden Parteien, die sich so bitter bekämpft, so unduldsam ihr Lebensrecht einander absgesprochen haben, erscheinen dem Nachlebenden in einer innigen Blutsverwandtschaft. Mancher alte politische Kämpfer, der die Reaktionsjahre noch erlebt hat, wundert sich, daß man heute anfängt, über die Gerlachsche Richtung etwas milder zu denken 21 , während wir doch nur versuchen, sie zu begreifen in ihrem Zusammenhange mit den geistigen Stömungen ihrer Zeit. Wirft man ihr politische Impotenz und Verkennung der realen Mächte vor, so vergesse man nicht, die Paulskirchenversammlung mit demselben Maßstabe zu messen, und rühmt man dagegen deren hohen, vielleicht zu hochgespannten Idealismus, so wird man ihn auch der Gerlachschen Partei nicht streitig machen dürfen. Fortwährend arbeitet Gerlach ja daran, sich die unmittelbaren politischen Kämpfe, in denen er steht, aufzulösen in Ideen, die wahren »Realitäten«, wie er sie selbst nennt, am liebsten in religiöse Ideen. »Die Orientalische Frage«, schreibt er an Bismarck", »ist eine sehr sonderbare. Im tiefsten Grunde liegt eine Reaktion der orientalischen gegen die okzidentalische Kirche und daher auch die Turkomanie der Ultramontanen.« In der westmächtlichen Politik findet er ein andermal die Idee des Hasses gegen die Obrigkeit von Gottes Gnaden, in der Allianz von Österreich, Frankreich, England die Realität des Zusammenhanges von Ultramontanismus, Bonapartismus und Liberalismus. Was waren ihm dagegen die Kämpfe der einzelnen Staaten um Macht und Einfluß, um Wahrung ihrer Interessen! »Ich antwortete: die einzigen wahren, die Menschen in Bewegung setzenden Interessen sind Kirche und Anarchie.« 23 Er glaubte gewiß, mit dieser Anschauungsweise den ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht zu besitzen, aber wie sehr gerade solche nach »Ideen« suchende auswärtige Politik des inneren Haltes entbehrte, sahen wir schon in der Besprechung des ersten Teiles. Denn wo war da Halt und Zusammenhang, wenn man um ihrer »Idee« willen 21 Diese Bemerkung ging auf ein damals mir bekannt gewordenes Urteil Hermann Baumgartens. 22 23
7. Januar 1854; Briefwechsel S. 133. Denkw. 2, 233.
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die Herstellung der heiligen Allianz ersehnte und doch gegen den Cäsaropapismus Rußlands und das Polizeiregiment Österreichs von innerstem Widerwillen erfüllt war. U n d aus dem Kreise dieser Männer ist nun Bismarck hervorgegangen, sie haben ihn auf den Schild gehoben, und er hat sich zu ihnen gerechnet - eine ganz erstaunenswürdige Tatsache. D e l b r ü c k " hat die Aufgabe gestellt, durch eine feinere historische Analyse zu bestimmen, »wie groß die ursprüngliche geistige Gemeinschaft gewesen, wie weit sie gereicht hat, und wann und wo der freie Geist dieser Persönlichkeit die Form der Parteiideen zerbrochen, sich Fremdes angeeignet und seine eigene originale Neugestaltung gefunden«. Eine Aufgabe ersten Ranges, zu deren Lösung uns aber doch wohl noch heute die innere Freiheit fehlt. N u r daß uns die Frage Delbrücks von vornherein zu präjudizierlich erscheint. Denn vielleicht bedurfte es gar keiner Zerbrechung der Parteiformen, vielleicht bestand jene »ursprüngliche geistige Gemeinschaft« überhaupt nicht, vielleicht war Bismarck von vornherein das, was er später war, autochthon und selbständig gegenüber seinen damaligen Freunden, ohne daß beide Teile selbst es sich klar machten. U n d wenn wir eine vorläufige Ansicht hier äußern dürfen: So war es in der Tat. Man erinnere sich nur des Sybelschen Wortes, von Frankfurter Lehrjahren Bismarcks könne man ungefähr ebenso passend wie von der Schwimmschule eines jungen Fisches reden. Ohne weiteres kann man es auf sein Verhältnis zur Gerlachschen Richtung übertragen, - er ist niemals der Ihrige gewesen. Es ist von hohem Reize, die Reden Bismarcks mit denen Stahls über eine und dieselbe Frage, etwa die Radowitzsche Unionspolitik, zu vergleichen. Wenn man sich nicht durch die gemeinsame Schlußthese, die sie verfechten, und durch einzelne übereinstimmende Argumente beirren läßt, findet man sehr bald den ganz verschiedenen Pulsschlag der beiden heraus. Stahl kämpft wie Gerlach den heiligen Kampf der Idee: Drüben die dunklen Mächte der Revolution, mit denen man kein Bündnis schließen darf, ohne sich zu beflecken, hier das Prinzip der Autorität, der gottgewollten Gliederung von Staat und Gesellschaft. Im System des Liberalismus erblickt er die eigentliche Gefahr, in einen Titanenkampf der Geister und der Ideen glaubt er zu schauen 25 . Erst in zweiter Linie betont er, daß für Preußen die vorgeschlagene Verfas24
Preuß. Jahrbücher 73, 148.
25
Stahl, 17 parlamentarische Reden S. 144 ff.: 12. April 1850.
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sung eine Entwaffnung bedeute. Eben das aber ist Bismarcks Hauptargument 2 ': der altpreußische Geist ist in Gefahr, erstickt zu werden in den Umschlingungen der Union; eine Mediatisierung Preußens durch die Kammern der kleinen Staaten droht. Auch er stellt ja einmal die beiden Prinzipien, von denen die Welt bewegt werde, gegenüber, das der Volkssouveränität und das der Obrigkeit von Gottes Gnaden' 7 . Aber es zeigt sich sogleich auch seine angeborene Natur in der Art, wie er sich die Entscheidung in diesem Prinzipienstreite denkt. Er spottet der parlamentarischen Debatten und Abstimmungen, er versenkt sich auch nicht spekulierend in die Vorstellung der beiden miteinander ringenden Weltanschauungen, sondern hell und scharf: »Uber kurz oder lang muß der Gott, der die Schlachten lenkt, die eisernen Würfel der Entscheidung darüber werfen.« Das Schwert in die Wagschale zu werfen, den Deutschen zu befehlen, was ihre Verfassung sein solle, dahin drängt es ihn, das erklärt er für die »nationale preußische Politik.« 28 »Ich bin ein Preuße«, ist der zentrale Gedanke, der ihn bewegt und der sich von vornherein aufs schärfste abhebt von dem idealistischen Doktrinarismus seiner Parteigenossen. Wenn diese in Preußen vor allem das auserwählte Rüstzeug sahen, welches berufen sei, den christlich-germanischen Staat in das Leben zu führen, so hält er es für Preußens ersten Beruf, seine eigenen Interessen zu wahren. Der propagandistische Zug der Gerlachschen Richtung, der Wunsch, allenthalben die Obrigkeit von Gottes Gnaden in Reinheit wieder erblühen zu sehen, fehlt bei ihm. Wenn er von der Zerrüttung der Nachbarstaaten durch Revolution und Liberalismus spricht, so spürt man leicht das geheime Gefühl der Befriedigung über diese Besserung der preußischen Chancen hindurch. Kurzum, er bekämpft jene feindlichen Prinzipien nicht um ihrer selbst willen, sondern nur, weil und soweit sie der Kraft Preußens schaden, und nur deswegen tritt die tiefe Kluft, die ihn von seinen Parteigenossen trennt, nicht so sehr hervor, weil er in eben denselben Elementen, dem starken Königtum und dem blühenden grundbesitzenden Adel, die preußische Kraft mit erblickt, die auch jene zum Substrat ihrer Staatsanschauung nahmen. Er grübelt aber nicht wie Gerlach über die tieferen Ideen, die der preußische Staat damit zu verwirklichen habe, und vertritt sie eben deswegen unendlich 26 Reden vom 15. April und vom 3. Dezember 1850. Horst Kohl, Reden Bismarcks 1, 229. 27 Rede vom 22. März 1849. Kohl 1, 76. 28 Rede vom 6. September 1849. Kohl 1, 104.
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wirksamer, weil er seine Kraft herausfühlt wie sie war, nicht wie sie sein sollte nach irgendwelchen theoretischen Lieblingsmeinungen. Wie tritt dies gleich in seinem ersten Briefe an Gerlach aus dem Jahre 1851 hervor. Mit frohem, männlichem Stolze erzählt er von dem »bescheidenen aber freien Anstand« der preußischen Unteroffiziere und wie sie vornehmer ausgesehen hätten als mancher badische Dragoneroffizier. Das blühende, von so schlichtem wie stolzem Geiste erfüllte Heer, die tüchtige und königstreue Bevölkerung, der »unabhängige Landjunker« - , wer diese so lebendigen und kraftvollen Elemente in ihrer ganzen Fülle sah, sie in sich selbst potenziert besaß, wie sollte der nicht ganz anders politisch gedacht haben, als der, welcher jedes Begebnis sofort verflüchtigte in Formeln seiner Doktrin. Man spricht gern davon, wie Bismarck in Frankfurt die Schuppen von den Augen gefallen seien, daß er in Österreich nun den eigentlichen Feind erkannt habe. Auch die Briefe an Gerlach bestätigen wieder, was man schon wußte, daß er noch nicht antiösterreichisch gesinnt war, als er nach Frankfurt ging. So ungeheuer wichtig der dortige Gesinnungswechsel, objektiv an seinen späteren Wirkungen gemessen war, so wenig besagt er in subjektiver Hinsicht. Denn keine prinzipielle Wandlung liegt vor, nicht Bismarck hat sich geändert, sondern der Schauplatz, auf dem er wirkte, und die Maxime, mit der er den Erscheinungen zu Leibe ging: »Die einzige gesunde Grundlage eines großen Staates ist der staatliche Egoismus« N , ist vor wie nach dieselbe. Wenn gegenüber dem Refrain der Gerlachschen Briefe: Bonaparte ist der Feind, seine Existenz ist das Unrecht, Bismarck mit derselben Unbeugsamkeit, aber ungleich sprühenderer Energie das Thema variiert: Österreich nimmt Preußen die Lebensluft weg - so ist, wie schon die Formulierung zeigt, sein Motiv dazu von ganz anderer Qualität. Er haßt Österreich nicht etwa um eines Prinzips willen, sondern er bekämpft es nur mit dem natürlichen naiven Ingrimm, mit dem, um sein eigenes Bild zu gebrauchen, ein Bettgenosse des anderen, der ihn überfällt, sich erwehrt. So ergrimmt er auch 1853 über Hannovers drohenden Vertragsbruch, während doch Preußen es zwischen seinen Fingern halte und behandeln könne, wie Friedrich der Große Mecklenburg behandelte30. Preußen muß eine kühne und egoistische Politik treiben, »Furcht und wieder Furcht ist 29 Rede vom 3. Dezember 1850, in der er die Olmützer Konvention verteidigte und in Österreich »den Repräsentanten und Erben einer alten deutschen Macht« pries. Kohl 1, 264 bzw. 276. 30
Briefwechsel S. 71 (23. Febr. 1853).
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das einzige, was in den Residenzen von München bis Bückeburg Wirkung tut«. 3 1 U n d wenn Gerlach sagt: Man muß nicht Böses tun, damit Gutes daraus werde, scheut sich Bismarck nicht, diesem zart und überfein fühlenden Manne ins Gesicht zu sagen: Es ist besser, sich durch eine Kloake zu retten, als sich prügeln oder abwürgen zu lassen. Man erstaunt immer von neuem, wie zwei so verschiedenartige Geister jahrelang zusammengewirkt und auch persönlich, wie das keinem Zweifel unterliegt, aneinander gehangen haben. Man könnte anführen, daß trotz der Verschiedenheit der Motive doch gerade damals eine Reihe gemeinsamer Gegner sie zusammenführen mußte. Beide kämpften gegen die Allianz mit den Westmächten, beide erkannten die von ihren Anhängern so gar nicht beachtete Gefahr einer russisch-französischen Allianz, beiden war der vulgäre deutschnationale Patriotismus unsympathisch. Wir sollten, sagt Bismarck fast zynisch, nicht unsere preußische und egoistische Politik mit dem räudigen Hermelin des deutschen Patriotismus aufputzen 3 2 . U n d ebenso unsympathisch war beiden die liberale Bureaukratie, - auch er halte sie, erklärt Bismarck, für den gefährlichsten Krankheitsstoff im Leibe Preußens 33 , - aber bei allem springt doch immer sogleich wieder ihr innerer Gegensatz hervor. So sagt Bismarck sehr bezeichnend von der Bureaukratie, es liege ihm ultra crepidam, ihr den Krieg zu machen, und die Gothaer in den Kleinstaaten müsse man benutzen, wie Ludwig X I I I . die deutschen Protestanten 34 . Man ist also zunächst wenig überzeugt, wenn Bismarck seinem älteren Freunde wiederholt versichert, er fühle sich im Grunde mit ihm eins, die Verschiedenheit sei nur im Blätterbetriebe und nicht in der Wurzel 35 . U n d doch ist es ja anderseits wieder mit Händen zu greifen, daß beide in demselben Boden wurzeln, daß keiner von ihnen den monarchischen wie aristokratischen Traditionen seines Standes untreu geworden ist. U n d das meint ja auch Bismarck ohne Zweifel mit jenem Worte. Man sieht, wie wenig die Kenntnis des »milieu« und der »sozialen Gruppe« ausreicht, um die Denkweise der ihr Angehörigen zu verstehen, wenn solche Differenzen sich entwickeln können. Es ist die alte Frage: Wie kommen neue Ideen auf und wie wurzeln sie dabei 31 32 33 34 35
Ebenda S. 203. Ebenda S. 119 (25. Nov. 1853). Ebenda S. 70. Briefwechsel S. 121. Ebenda S. 337 vgl. S. 135.
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doch in den alten? Wie löst eine Generation die andere ab, gleichen Blutes und doch verschieden von ihr? Und von denen, die solchen Umschwung erleben und mit herbeiführen, erhält man auch keine genügende Antwort; sie können ihn nur konstatieren und kommen über gewisse äußerliche Erklärungsgründe nicht hinaus. So sagt Bism a r c k " : »Ich bin ein Kind anderer Zeiten als Sie, aber ein ebenso ehrliches der meinigen wie Sie der Ihrigen. Mir scheint, daß niemand den Stempel wieder verliert, den ihm die Zeit der Jugendeindrücke einprägt; in dem Ihrigen steht der siegreiche Haß gegen Bonaparte unauslöschlich . . . Ich habe vom 23. bis 32. Jahre-auf dem Lande gelebt und werde die Sehnsucht, dahin zurückzukehren, nie aus den Adern los, nur mit halbem Herzen bin ich bei der Politik.« Aber konnten aus dem Hasse gegen die Fremdherrschaft nicht auch noch ganz andere Geistesrichtungen erwachsen als die Gerlachsche, und gibt uns das Zeugnis Bismarcks über sich selbst - er hat ja Ähnliches oft geäußert, - nicht wieder nur neue Rätsel auf? In demselben Briefe, wohl dem schönsten und großartigsten der Sammlung, tut sich auch noch eine ganz andere Seite seines Wesens auf. Er, der sich bald als einen überaus ehrgeizigen Preußen, bald als eine Landmanns- und Jägernatur charakterisiert, ist dabei doch zugleich im Stande, den Gedanken, daß einst »Rechberg und andere ungläubige Jesuiten über die altsächsische Mark Salzwedel mit römisch-slavischem Bonapartismus und blühender Korruption absolut herrschen sollten, ohne Zorn auszudenken und eventuell als Gottes Willen und Zulassung zu ehren, weil ich meinen Blick über diese Dinge hinwegrichte«. Das merkwürdige Wort klingt an den Grundgedanken der GerlachStahlschen Richtung von der Fügung in das Ubermenschlich-Gegebene und Unabweisbare an. Aber während er bei jenen die Tatkraft schwächte, verbirgt er sich bei Bismarck in der Tiefe der Brust und lähmt nicht die freien und naiven Impulse seines Handelns. Zwei verschiedene Welten, die eine des Philosophen, die andere des frei wirkenden Staatsmannes, scheinen sich dadurch in ihm aufzutun, aber sie sind nicht ohne verbindende Brücke. Denn sein Handeln ist nicht ein rein willkürliches, sondern beruht, wie wir sahen, auf einer innerlichen Abneigung lebendiger objektiver Mächte. Friedrich Wilhelm IV. und Gerlach wurden von diesen niedergedrückt, Bismarck war ihr Herrscher und ihr Diener zugleich. 36
Ebenda S. 353 (2./4. Mai 1860).
Bismarcks Anfänge Niedergeschrieben 1904, zuerst erschienen: Deutsche Gedenkhalle, hrsg. von Julius v. Pflugk-Harttung, Verlag Vaterland Berlin 1906 S. 328 ff. Wiederabdruck: Preußische Gestalten und Probleme (1940) S. 119-134. Uns kommt, indem wir die politischen Anfänge Bismarcks zu schildern unternehmen, ein herrliches Gedicht von Conrad Ferdinand Meyer in den Sinn: der Rheinborn. Der Dichter sucht den Weg zur Quelle des Rheines. Oben im Granitgestein sieht er den Born im Dunkel liegen wie einen erzgegossenen Schild, fernab von Herdgeläut und Matten, von Eis und ewigem Schnee getränkt. Da: Ein Sturz, ein Schlag - und aus den Tiefen Und aus den Wänden brach es los. Heerwagen rollten! Stimmen riefen Befehle durch ein Schlachtgetos. Das ist und bleibt doch der erste Eindruck von Bismarcks Jugendentwicklung, daß in ihr elementare und naturhafte Kräfte zutage treten, die »fernab von Herdgeläut und Matten« liegen und in frühen Regungen schon ein künftiges großes Heldentum ahnen lassen. Bestimmt und herrscherhaft bricht es aus jenem Briefe hervor, den er als dreiundzwanzigjähriger junger Mensch schrieb (29. 9. 1838), als er die Lebenswege, die vor ihm lagen, musterte. Er verschmäht die bequeme Laufbahn des preußischen Beamten, der als der Musiker im Orchester sein Bruchstück abzuspielen hat, wie es ihm gesetzt ist, er mag es für gut oder schlecht halten. »Ich will aber Musik machen, wie ich sie für gut erkenne, oder gar keine.« In solchen Worten lebt weit mehr als bloßes jugendliches Kraft- und Unabhängigkeitsgefühl; es sind historische Zusammenhänge, die sich in diesem Abscheu des jungen Edelmannes vor der preußischen Bureaukratie auftun, es ist etwas von dem Trotze des märkischen Adels wider die hohenzollernschen Fürsten darin, als diese ihren Beamtenstand schufen und die Herren Stände nötigten, nach ihrem Taktstock fortan Musik zu machen. Dieser altständische Eigenwille blieb dem Adel der alten preußischen Provinzen auch dann noch im Blute liegen, als er schon längst zur hingebenden Treue an die Dynastie erzogen war. Das ist ja das merkwürdige Ergebnis des absolutistischen Regierungssystems in Brandenburg-
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Preußen, das so ganz abweicht von dem des französischen Absolutismus. In Frankreich verlor der Adel, als er in den Dienst des Hofes gezwungen wurde, seine Bodenständigkeit und seine urwüchsige Kraft. Der preußische Adel behielt sie, blieb Herr, auch als er Diener wurde, und vergaß nicht die Tage seiner früheren Freiheit. Auch Bismarck hat sie nicht vergessen. Zwölf Jahre später, wo wir ihn auf der Bresche im Kampfe für die Autorität des Königtums wider liberalen und demokratischen Zeitgeist wiederfinden, hat er es gelegentlich durchblicken lassen, daß das Etablissement des souveränen rocher de bronze doch eigentlich die »natürlichste politische Ordnung« umgestürzt habe; und seinem Hasse wider die »krebsfräßige« preußische Bureaukratie, der auch bei dieser Gelegenheit wieder drastisch hervorbrach, lag auch ein gutes Stück Eifersucht und Widerwillen wider denjenigen Stand zugrunde, mit dem der preußische Adel seit den Tagen Friedrich Wilhelms I. zum Dienste desselben Staatswesens zusammengekoppelt war. Das Rasseblut, das seinen stolzen Nacken dem Herrn hat beugen müssen, verachtete das Lastpferd, das an derselben Deichsel zog. So erscheint denn Bismarck in seinen Anfängen ganz aus seinem Milieu heraus verstanden werden zu können, als unabhängiger märkisch-pommerscher Landedelmann, als kraftvolle Landmanns- und Jägernatur, die aus Feld und Wald ihre Nahrung saugt, als stolzer Preuße zugleich, der bei seinem ersten öffentlichen Auftreten - es war am 17. Mai 1847 im ersten Vereinigten Landtage - es gar nicht fassen will, daß zu der Erhebung des preußischen Volkes im Jahre 1813 auch noch andere Motive mitgewirkt haben sollten, als das elementare, ursprünglich-menschliche Gefühl der »Schmach, daß Fremde in unserem Lande geboten«. Aber diese scheinbar so leicht verständliche Natur, die sich nur durch den Grad des Temperaments und der Energie über das Niveau des preußischen Junkers zu erheben schien, hatte schon eine bedeutsame innere Entwicklung hinter sich. Er hatte nicht nur, wie mancher rechte Junker, eine Jugend in Saus und Braus hinter sich, sondern hatte dann auf seiner weiteren einsameren Lebensfahrt auch Regionen passiert, von denen ein Durchschnittsjunker nichts ahnte. Er, der als schneidigster Vorkämpfer der Konservativen in den Jahren 1847-50 für die Torheiten des liberalen Zeitgeistes nur H o h n und Spott wußte, hatte eben mit diesem Zeitgeiste in den stilleren Jahren vorher ernst und einsam gerungen. Wer diese Kämpfe nicht kennt, kennt Bismarck nicht, denn in ihnen erst hat er sich selbst
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und den Halt seines inneren Lebens gefunden und hat er sich mit den Lebensidealen seiner Zeitgenossen auseinandergesetzt. Wir sahen, daß sich schon sein junkerlicher Instinkt von dem absolutistisch-bürokratischen Regime des vormärzlichen Preußens abkehrte. In demselben Briefe von 1838, den wir schon erwähnten, schaute er mit Neid hinaus auf die Staaten mit freierer Verfassung, auf Männer wie Peel, O'Connell und Mirabeau. Freilich diese für einen preußischen Edelmann und Untertanen Friedrich Wilhelms III. etwas ketzerischen Sympathien galten nicht den Grundsätzen des politischen Liberalismus als solchen, sondern der stärkeren Energie und dem rascheren Blutumlauf des politischen Lebens, vor allem aber den ganz anderen Möglichkeiten persönlicher Entfaltung für starke Naturen. Er spürte in diesen freieren Staaten die Lebensluft der großen Taten, die er für sich brauchte und die er im eigenen Vaterlande damals nimmer zu finden glaubte. Und so sieht man hier zum ersten Male deutlich jenen großartigen Zug seines Wesens, der durch sein ganzes Leben geht. Wie fest er auch immer gewurzelt hat in seinem preußischaristokratischen Mutterboden, seinen Wipfel hat er doch allezeit darüber hinaus gestreckt oder zu strecken versucht in die Sturmschicht, deren sein Genius bedurfte. Er hat der Welt gegenüber, in der er lebte und die ihn umfing, immer seine persönlichen Vorbehalte gemacht, er ist niemals ganz in ihr aufgegangen, er hat immer von dem Rechte des Genius Gebrauch gemacht, auch im Dienste anderer Mächte Herr seiner selbst zu bleiben. Herr und Diener zugleich sein, - es ist, wenn man will, zugleich die bedeutendste Steigerung dessen, was der preußische Adel, in subalternerer Weise allerdings, immer getan hat. So kann man in diesen wichtigen Jahren seiner Entwicklung zwar von keiner politisch liberalen Gesinnung, aber von einer inneren politischen Freiheit Bismarcks sprechen. Und ganz dasselbe gilt nun auch von seiner geistigen Weltanschauung. Er hat auch hier seinen souveränen Blick umherschweifen lassen unter den Gedankengebilden, in denen seine Zeitgenossen den Sinn der Welt und des Einzellebens zu finden versuchten. Keines von ihnen hat er sich ganz angeeignet, aber er holte sich mit kraftvoller Hand aus ihnen heraus, was er für sich persönlich brauchen konnte, und verleibte es sich ein. Er trieb geistige Annexionspolitik, wie er später politische trieb. In Schleiermachers Religionsunterricht, erzählte er später, sei er nur sechsmal gegangen und habe nichts darin gelernt; und doch darf man vermuten, daß sein damaliger Entschluß, das Gebet zu Gott einzustel-
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len, auf einer individuellen Verarbeitung Schleiermacherscher Gedanken beruht. An diese und dann vor allem an Gedanken Spinozas, den er als junger Mann eifrig studierte, klangen auch die Gottesvorstellungen an, die er in seiner Referendarsarbeit von 1836 mit ungewöhnlicher, unerbittlicher Schärfe zum Ausdruck brachte. Gott der Unwandelbare, Allmächtige, Vollkommene; hoch erhaben über dem Einzelnen, dessen Versprechungen er nicht bedarf und mit dem er sich auf keine Verträge einläßt, dessen Blitz und Donner den beschränkten Sinn zu Staunen und Ehrfurcht hinreißt, während doch dem geläuterten Blicke das wahrhafte und das größte aller Wunder in dem scheinbar Selbstverständlichen, in der Existenz der Welt und ihrem stetigen, gesetzmäßigen Gange sich auftut. Wie war da ein warmes persönliches Verhältnis zwischen Gott und der Menschenseele möglich. Nur mit stoischer Kraft, aber auch mit stoischer Resignation vermochte er da, wenn er sich aus dem wilden Treiben seiner Jugend in das Innere seiner Seele zurückzog, in das Leben zu schauen. Diese Welt seiner Heimat, die für ihn zu eng war, in der er nicht wirken und schaffen konnte, die ihm nur den ungenügenden Genuß oder die kleinen Freuden des Landmannes und Jägers übrig ließ, ermangelte für ihn eben darum, so darf man schließen, der inneren beseelenden Wärme und Liebeskraft. So ließ er auch einen innersten Wesenszug Spinozas, den er nicht gebrauchen konnte, nicht auf sich wirken: den Hang zu leidenschaftsloser beruhigender Kontemplation. Er blieb stehen im kühlen Vorhofe seines Systems, weil er die Leidenschaft des Schaffens in sich nicht ausrotten, das Opfer des eigenen Willens nicht bringen konnte. Er war ihm ein Zufluchtsort vor der öden, dürren Welt, auf die er doch nimmer dauernd verzichten konnte. So blieb er frei auch gegenüber einer ganz freien Weltanschauung, die ihn jetzt vorübergehend beherbergte. Politisch frei, geistig frei, aber auch einsam in beiden. Der stolze Mann, der jetzt auf seinem stillen hinterpommerschen Gutshofe saß, fühlte tief die Leere und Ziellosigkeit seines Daseins und projizierte sie in die Welt hinaus. In Stunden trostloser Niedergeschlagenheit erschien ihm das Leben der Menschen wie »Staub vom Rollen der Räder«. Der stoische Mut entsank ihm, und nur ein stoischer Pessimismus blieb. Er wandte sich fragend an die Schriftsteller des Tages, an Strauß, Feuerbach und Bruno Bauer, aber sie boten ihm Steine statt Brot. Es war in diesen kalten intellektualistischen Denkern nichts, was ihn aus dem »Zirkel des Verstandes«, in den er geraten war, wieder
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herausführen konnte. Der damalige liberale Zeitgeist in seiner einseitigen Zuspitzung auf negierende und zersetzende Kritik war nicht imstande, dieser nach Leben dürstenden Natur etwas zu geben, und so begreift man den Widerwillen, der ihn hinterher vor ihm erfaßte. Währenddem, seit Beginn der vierziger Jahre, bestürmte ihn schon sein frommer Freund Moritz von Blanckenburg und versuchte seine Seele hinüberzuziehen in den Frieden strengchristlicher Gläubigkeit, wie er in dem Kreise Adolf von Thaddens auf Trieglaff herrschte. Es war zugleich der Kreis, der das christlich-germanische Staatsideal pflegte. Eine geschlossene, in sich bewegte Welt, wo Einzelseele, Staat und Gott harmonisch zusammenstimmten, trat ihm hier entgegen. Inhaltsreiche Ideen und lebenswarme, prächtige Menschen warben um ihn. Aber Bismarck war nicht der Mann, sich ihren Glauben einfach geben, sich so, wie es in diesen Kreisen üblich war, in einer lichterlohen Stunde bekehren zu lassen. Wenn sie ihm nicht positive Güter geboten hätten, wie er sie gerade für sich und gerade jetzt für sich brauchte, wäre er auch an ihnen vorbeigegangen. Und sie hatten ihm etwas zu bieten. Zunächst auf politischem Gebiete. In der bürokratischen Luft des Preußens vor 1840 hatte Bismarck nicht zu atmen vermocht. Sie bot ihm keinen Raum zu kräftigem, selbständigem Handeln. Jetzt waren die Tage Friedrich Wilhelms IV. Wir wissen wohl, daß über ihnen im ganzen der Fluch der Tatenlosigkeit lag, aber diese sonst so quietistischen Ideen der politischen Romantik hatten eine Seite, die für Bismarck etwas war. Diese Neubelebung ständischen und kooperativen Wesens, wie sie der König und dessen Freunde anstrebten, eröffnete Möglichkeiten für politischen Tatendrang, wie sie Bismarck früher nur im freien Auslande zu finden geglaubt hatte, - Möglichkeiten insbesondere für den preußischen Edelmann, dem in den ständischen Plänen des Königs fast die Hauptrolle zugedacht war. Sollte Bismarck durch Ludwig von Gerlach, dessen Beziehungen zu dem Könige reichten, vielleicht von diesen erfahren haben? War es politische Morgenluft, die er witterte? Jedenfalls finden wir ihn zu Beginn des Jahres 1846 in eifrigem Meinungsaustausch mit Ludwig von Gerlach über die Wiederbelebung der Patromonialgerichtsbarkeit und des ritterschaftlichen Korporationsgeistes. Während wir das politische Gut, das dieser Kreis ihm geben konnte, nur vermuten dürfen, wissen wir aus Bismarcks eigensten und lautersten Bekenntnissen, wie stark ihn die Güter persönlichen und religio-
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sen Lebens, die er hier fand, ergriffen haben, wie wohl und heimatlich er sich, der Einsame, unter ihnen gefühlt hat. Schließlich aber mußten noch ganz persönliche Ereignisse, die ihn tief erschütterten und zugleich sein ganzes Herz in heiße Wallung brachten, hinzukommen. Vielleicht wird der Schleier, der über ihnen noch liegt, nie ganz gelüftet werden, vielleicht spielt die Frau seines Freundes Moritz von Blanckenburg, deren tödliche Erkrankung das erste inbrünstige Gebet seinen Lippen entriß, in ihnen eine größere Rolle, als man bisher sicher weiß1. In der aufgerührten Stimmung, die ihrem Tode folgte, trat ihm das Bild ihrer Freundin, Johanna von Puttkamer, so lockend und glückverheißend vor die Seele, wurde zugleich das Gefühl, in ihrem Glauben eine lebendige Kraft für sich zu gewinnen, so lebendig, daß er am Schlüsse des Jahres 1846, seines neuen Lebens und seiner neuen Liebe zugleich froh, um ihre Hand warb. Die Welt nahm nun andere Farben für ihn an. Gott, Welt und Ich, in seinem bisherigen Leben voneinander durch Klüfte geschieden, rückten wieder nahe zusammen und wirkten fortan lebendig ineinander. Er hatte wieder einen Gott gefunden, zu dem er beten, in dessen Dienst er streiten und siegen und der seine Sünden ihm vergeben konnte - mehr brauchte seine Kämpfernatur nicht, und in die Abhängigkeit von einer Kirche oder kirchlichen Partei hat er sich auch als Christ nicht begeben; er blieb immer ein ziemlich unkirchlicher, ein in erster Linie persönlicher Christ. Mit seinem Gotte und seiner Liebe im Herzen versuchte er wohl auch sich zu überreden, daß er sein Glück fortan nur in sich, nicht in der Welt zu suchen habe. Aber als gleich darauf der Ruf zum Vereinigten Landtage an ihn kam, als er nun zum ersten Male, als Redner und Parteiführer, auf dem Instrumente der Politik zu spielen hatte, da war es entschieden, daß er es fortan nicht wieder aus der Hand legen konnte. Und mochte er zum Vereinigten Landtage noch ohne ganz feste politische Ziele gekommen sein, sein Instinkt führte ihn sofort untrüglich auf den festesten Boden alles politischen Wollens, auf den Boden der Macht. Der preußische Staat, der ihm ein Jahrzehnt zuvor schier als eine Dressieranstalt erschienen war, offenbarte sich ihm jetzt, wo die Strömung der Tagesmeinungen gegen ihn anging, in seiner Felsenstärke. Hier war, so mochte er fühlen, endlich der wahre Herr, dem er mit seiner jungen Kraft dienen konnte, und wie natürlich war es ihm zu dienen, an den er durch die ursprünglich1
Vgl. unten S. 438.
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sten Bande gekettet war. Vielleicht ist er ihrer erst jetzt ganz inne geworden, - jedenfalls führten Machtinstinkt und Stimme des Blutes vereint ihn gleich in die vorderste Reihe der Kämpfer für Staat, Monarchie und Krongewalt. Die Schlagworte seiner christlich-germanischen Freunde brauchte er jetzt und in den folgenden Jahren der Revolutionszeit wohl auch gelegentlich, aber nur, soweit sie ihm zur Abwehr der gemeinsamen liberalen und demokratischen Gegner tauglich erschienen oder soweit sie einen brauchbaren Kern politischer Macht enthielten. Und den Gedanken der nationalen Einheit und Größe, der ihn in den Jugendjahren schon einmal umspielt hatte, ließ er jetzt nur insoweit gelten, als er dem Gefüge des preußischen Staates nicht schadete und als er zu ganz realer und greifbarer Macht führen konnte. »Das wäre noch etwas gewesen«, schrieb er vier Wochen nach der Märzrevolution an die Magdeburger Zeitung, »wenn der erste Aufschwung deutscher Kraft und Einheit sich damit Luft gemacht hätte, Frankreich das Elsaß abzufordern und die deutsche Fahne auf den Dom von Straßburg zu pflanzen.« Von dem Werke der Paulskirche aber, das den preußischen Staat der deutschen Idee unterwerfen sollte, urteilte er am 21. April 1849: »Die deutsche Einheit will ein jeder, den man danach fragt, sobald er nur deutsch spricht; mit dieser Verfassung aber will ich sie nicht.« In den Bestrebungen der Frankfurter Erbkaiserpartei hatte Deutschland um Preußen geworben. Wäre es nach Bismarck gegangen, so hätte vielleicht schon damals Preußen um Deutschland werben können. »Den Deutschen zu befehlen, welches ihre Verfassung sein solle, auf die Gefahr hin, das Schwert in die Waagschale zu werfen - dies wäre«, rief er am 6. September 1849 seinen Landsleuten zu, »eine nationale preußische Politik gewesen.« Es war der Gedanke, der ihn 1866 auf die böhmischen Schlachtfelder und zur Gründung des norddeutschen Bundes geführt hat, es war zugleich der Geist Friedrich des Großen, den er damit heraufbeschwor. Der hätte, sagte er damals ahnungsvoll, so etwas tun können, mit demselben Rechte, mit dem er Schlesien eroberte. Und diesen friderizianischen Adlerblick in die Sonne ließ er nicht wieder sinken; selbst durch die Dämmerung der Tage von Olmütz blitzte er hindurch. Er sprach damals, scheinbar nur spielend und doch seinen innersten Drang verratend, von einem Kriege, der keinen anderen Grund habe, als daß der König und Kriegsherr sage: »Dies Land gefällt mir, ich will es besitzen.« Und er blieb damit nicht ganz unverstanden. Edwin von Manteuffel erinnerte ihn am 9. Juni 1851 an jene Worte und fügte
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hinzu: »Und das wird sein und muß sein, denn es heißt aut, aut aufhören oder erobern.« Als ihm dieses Echo seiner geheimsten Gedanken zukam, saß Bismarck schon in Frankfurt als designierter Vertreter Preußens am Bundestage. Recht wenig kannte ihn doch sein König, der ihn auf diesen Posten gestellt hatte als einen Mann, von dem er glaubte, daß er seine, des Königs Grundsätze und seine Liebe zu Österreich frisch und lebendig vertreten werde. Bismarck war gewiß mit der Absicht nach Frankfurt gegangen, mit Österreich gute Freundschaft zu halten, jedoch nur unter der Voraussetzung, daß Österreich Preußens Gleichberechtigung in Deutschland anerkenne. Aber schon zu Ende des Jahres 1851 hatte er keinen Zweifel mehr, daß diese Voraussetzung vollständig fehle. Und so baute er nun in den folgenden Jahren, Stein auf Stein, ein großartiges System preußischer Zukunftspolitik auf, das gar nichts von dem Traumhaften anderer Zukunftsprogramme hatte, sondern einem sehr ernsthaften, die Kräfte der Gegenwart scharf berechnenden Mobilmachungsplane glich. Die Bedürfnisse Preußens, die Tendenzen der deutschen Staaten, die Verschiebungen der europäischen Allianzen wog er hier umsichtig und kühl und mit einer erstaunlichen Freiheit von Vorurteilen gegeneinander ab. Er hatte die preußische Unionspolitik der Jahre 1849-50 damals beinahe wegwerfend behandelt, weil nach seinem Instinkt nichts Reelles mit ihr zu erreichen war. Jetzt, im November 1851 schon, urteilte er, daß der Bundestag fortan nur die Schale sein müsse, innerhalb der sich das, was in der Unionspolitik an gesunden und praktischen Elementen gelegen habe, auszubilden habe. Von den abgenutzten idealen und nationalen Hebeln einer solchen hegemonischen Politik wollte er freilich nichts wissen. Der kühlen preußisch-egoistischen Politik, die er zunächst wollte, hätte der »räudige Hermelin des deutschen Patriotismus« übel gestanden. Weil er wußte, daß Preußen doch nur auf Kosten der Mittelstaaten seine Macht steigern konnte, machte er es sich auch völlig klar, daß nur »Furcht und wieder Furcht« die deutschen Höfe an Preußens Seite führen könne. Bis zum Krimkriege suchten sie in der Tat ihre Zuflucht bei Österreich, und wenn sie dann wieder von Österreich abrückten und sich Preußen näherten, so geschah auch das nur wieder aus Furcht, durch die Donaumacht in einen Krieg verwikkelt zu werden, der nur dieser, aber nicht ihnen nützen konnte. Bismarck aber überschätzte die guten Worte, die jetzt Preußen von den deutschen Regierungen zu hören bekam, nicht im mindesten. Er
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wußte, daß die wirklichen Entscheidungen anderwärts lagen als in den deutschen Residenzen. Durch die Verschiebungen der europäischen Allianzen vielmehr mußte der Punkt sich ergeben, von dem aus Preußen die drückende Last, die auf ihm lag, aus den Angeln heben konnte. Das System der Heiligen Allianz, des konservativen Bundes der drei Ostmächte, das den preußischen Staat bisher zwar geschützt, aber auch niedergehalten hatte, mußte zunächst einmal auseinanderbrechen. Man kann es nicht genug betonen, wie nützlich für diese Aufgabe Napoleon III. vorgearbeitet hat. Auch diesen gelüstete es, das System von 1815 zu zerreißen, ohne zu ahnen, daß er damit nur das travailler pour le roi de Prusse betrieb. Durch den Krimkrieg trieb er einen Keil zwischen Rußland und Österreich und bahnte damit auch Bismarckscher Politik den Weg, denn nun kamen die Allianzen wieder in Fluß, und Bismarcks Voraussicht traf ein, daß Napoleon III. sich dem besiegten russischen Gegner nähern werde. Seine christlichgermanischen Freunde fanden diesen sich anbahnenden Bund zwischen dem revolutionären Cäsarismus und dem halborientalischen Despotismus scheußlich. Er, von keinerlei legitimistischen Skrupeln geplagt, frohlockte, wenn er an die Möglichkeit dachte, daß Rußland, Preußen und Frankreich in Europa auf der einen, Österreich so gut wie isoliert auf der anderen Seite zu finden sein würden. Dann konnte der Tanz losgehen. Nur keine unentschlossene Planlosigkeit, wie einst 1805, eiferte er; Hammer oder Amboß gilt es für Preußen. Freilich konnte es noch nicht für das Preußen Friedrich Wilhelms IV. gelten. Es war schon genug, was Bismarck mit durchsetzen half, daß es sich während des Krimkrieges nicht an die Seite der Westmächte und Österreich locken ließ. So ward zwar nichts unmittelbar gewonnen, aber auch nichts verfehlt, und am europäischen Himmel begannen sich die Wolken zusammenzuziehen, die zu einem Ungewitter gegen Österreich führen mußten. Dann konnte auch einmal die »schmucke preußische Fregatte« in die hohe See stechen. Aber konnte sie sich dann immer mit der schwarzweißen Fahne begnügen? Man muß doch zugeben, daß schon in der Bismarckschen Politik der fünfziger Jahre die Elemente lagen, die später zu seinem Bündnis mit der deutschnationalen und liberalen Strömung führten. Er braucht es nicht damals schon geplant zu haben; es mußte, wenn er seinen Weg weiterging, einmal kommen. Und war er nicht gerade durch die innerste Art seiner Persönlichkeit, wie wir sie jetzt kennengelernt haben, dazu berufen, die verschiedenartigen Elemente, die
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1848-49 nicht hatten zusammenkommen können, zu vereinigen? N u r ein Mann, dessen Willenskraft ebenso ungewöhnlich war wie seine innere geistige und politische Freiheit, konnte das leisten und konnte so den Augenblick heraufführen, wo alle lebendigen Kräfte der deutschen Geschichte, konservative und liberale, preußische und nichtpreußische, reale Macht und geistiges Ideal zusammenströmten.
Bismarcks Jugend Zuerst: Die Neue Rundschau Jg. 20 (1909) S. 1768 ff. - Wiederabdruck: Preußen und Deutschland (1918) S. 338 - 357. Seit Jahren wußte man in historischen Fachkreisen, daß Erich Mareks an einem großen Werke über Bismarck arbeite und daß, wenn ihm auch, wie jedem anderen Forscher seit Sybel, der Zugang zu den Berliner Staatsakten auf absehbare Zeit wohl verschlossen bleiben wird, doch durch den Fürsten Herbert die Friedrichsruher Papiere im weitesten Umfang dafür zur Verfügung gestellt worden seien. Und da Mareks zu den ganz wenigen unserer heutigen historischen Zunft gehört, deren literarische Persönlichkeit noch einmal durchgeschlagen hat und den Gebildeten der Nation etwas bedeutet, so durfte man hoffen, daß hier das Werk über Bismarck entstehe, das man sich wünscht, das große wissenschaftliche Monument für Bismarck nicht nur, sondern auch für das, was unserer Generation Bismarck bedeutet, ein tief forschendes, groß empfindendes, weitschauendes Buch, das, die unholden Heerhaufen der Bismarckfanatiker, Bismarckhasser und Byzantiner rechts und links lassend, den Weg zu derjenigen Wahrheit über Bismarck findet, die das Auge unseres Geschlechtes zu fassen vermag. N u r tauchte im Kreise der Freunde und Verehrer von Mareks hier und da wohl der Zweifel auf, ob seine Art, die so unvergleichlich Seele und Geist der Zeiten und der einzelnen in ihrem Farbenspiel wiederzugeben vermag, weil er hinter den sichtbaren Farben auch den tieferen Lebensgrund kennt - nicht vielleicht zu blühend sein werde für das Harte und Furchtbare in Bismarcks Wesen. Nun ist der erste Band seines auf vier Bände berechneten Werkes vom Cotta-Verlage in die Welt gesandt. Wir wissen wohl, daß das Urteil eines persönlichen Freundes, um vor der Welt zu gelten, nach Strenge streben muß, aber wagen es doch zu sagen, daß alle jene Hoffnungen auf das Buch erfüllt und jene Befürchtungen widerlegt zu werden scheinen. Es ist möglich, daß die folgenden Bände nicht ganz so viel tatsächliche Information bringen werden wie dieser erste, der eigentlich für alle Abschnitte der Bismarckschen Jugendentwicklung bis 1848 neue, zum Teil überraschend reiche und schöne Quellen benutzen konnte. Was Mareks aber aus seinen neuen Quellen zu machen und was er den alten, längst
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bekannten an neuem Leben zu entlocken verstanden hat, verbürgt uns, daß er die Höhe seiner Meisterschaft erreicht hat. Die Jugendleistungen eines Geschichtsschreibers können gemeinhin noch nicht wie die eines Künstlers Jugendkraft und Meisterschaft vereinigen, weil er neben dem Ingenium noch eines viel größeren Maßes von Erfahrung und Kontemplation bedarf. Wenn man den Bismarck von Mareks mit seinem Coligny und selbst seinem Kaiser Wilhelm vergleicht, so spürt man, wie seine Kunst und Forschung gewachsen ist, und das Beste, was man zu seinem Lobe sagen kann, ist wohl, daß sein neues Buch eine hohe innere Ruhe, Klarheit und Reife mit den Vorzügen vereinigt, die seine früheren Werke sofort emporhoben über das Niveau unserer heutigen, meist tüchtigen und ernsten, aber meist auch etwas unpersönlichen Geschichtschreibung. Jene Vorzüge bestanden in einer originellen Verbindung psychologischen, politischen und ästhetischen Feinsinns, wo dann die einzelnen Beobachtungen fragend, spürend, genießend, überaus reizvoll durcheinanderspielten, und das in einem ganz dafür geschaffenen Stile, der geschmeidig und farbig oft weich sich ergoß, oft aber auch überraschend bündig das Verschiedenartigste zusammenfaßte. Diese Art war, man hat es längst bemerkt, dem modernen Impressionismus wesensverwandt und teilte mit ihm auch etwas die flimmernde Nervosität. Man wird sie wohl auch in seinem Bismarck noch empfinden, aber im ganzen zeigt er viel mehr epische Ruhe. Wie selten gelingt es einem modernen Menschen, intensives Mitleben mit seiner unruhigen Zeit mit innerer Sammlung und Versenkung in eine große Aufgabe zu vereinigen. Es ist auch mit dem Stilleben eines deutschen Professors, dem ein großer Lehrerfolg und wachsende Schülerzahlen beschieden sind, heute vorbei, und während man früher von Hamburg nach Heidelberg hätte gehen müssen, um der Muse der Geschichtschreibung zu dienen, mußte Mareks aus Heidelberg nach Hamburg ziehen, um seinen »Bismarck« in Ruhe schreiben zu können. Wir entbehren ihn nun am Oberrhein, aber dürfen uns unendlich freuen, daß ihm das innere, stille Ausreifen seiner Leistung beschieden worden ist. Es ist alles an ihr, man sieht es, immer und immer wieder durchdacht und erwogen worden. Der Reichtum der Gesichtspunkte, Fragestellungen und Abtönungen ist noch ebenso groß wie früher, aber wird jetzt überlegener zusammengefaßt und ruhiger vorgetragen. Ein leichter Stilunterschied ist vielleicht zwischen der ersten und der zweiten Hälfte des Buches wahrzunehmen. Die erste Hälfte zeichnet sich ganz besonders durch jene
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ruhigere Ökonomie und Vereinigung von Fülle und Ausgeglichenheit aus, während das bewegtere und mannigfaltigere Leben mit seinen zum Teil ganz neuen Tatsachen, das in den späteren Kapiteln zu schildern war, wieder etwas mehr in der älteren Weise des Verfassers erzählt wird. Jenes Bedenken aber, das man hatte, daß der monumentale Gegenstand durch die Marckssche Betrachtungsweise vielleicht zu üppig umrankt werden möchte, wird jetzt nicht mehr laut werden. Vielmehr ist es die Schönheit dieses Buches, daß es, so viel es auch sagt, doch noch mehr ahnen läßt, als sagt. Die Biographie muß ihre Ziele ganz verschieden sich stecken je nach der Größe ihres Gegenstandes. J e größer er ist, um so enthaltsamer muß sie sein, weil sie doch nicht hoffen kann, ihn ganz in Worte und Sprache umzusetzen, weil er hinausragt über ihre Mittel und weil jeder Versuch, es doch mit ihnen zu zwingen, als eine fehlschlagende Vergewaltigung erscheint. Shakespeare und Goethe können wohl Gegenstände intensiver ästhetischer und geistesgeschichtlicher Monographien werden, aber ihre Biographien müssen, wenn sie erträglich sein wollen, bescheiden auftreten. Dem großen Staatsmanne gegenüber hat es die biographische Kunst leichter, weil seine Motive und Handlungen von realerer Beschaffenheit sind. Die Aufgabe, die organischen Grundkräfte seiner Persönlichkeit und seines Werkes nachzuweisen, ist auch nicht unlösbar, aber wie steht es mit der Erklärung der einzelnen singulären Momente seiner Entwicklung, der Entscheidungen vor den Scheidewegen und zumal vor den Scheidewegen des Jugendlebens, wo der innere Kern der großen Persönlichkeit noch verhüllt ist und doch schon vorhanden gewesen sein muß und wirksam gewesen sein kann? Auch hier bleibt oft nichts übrig, als sich zu bescheiden und zu konstatieren: »Uber Wolken nährten seine Jugend gute Geister zwischen Klippen und Gebüsch.« Solcher Wolken gibt es in Bismarcks Jugendleben mehr, als die oberflächliche Kritik oder der simple Heroenkultus weiß. Mareks zeigt sie und führt uns dicht an sie heran, aber hält mit taktvoller Scheu dann inne und läßt uns nur das Rauschen dahinter hören. Man möchte sagen, sein Buch ist nicht, konnte nicht sein und durfte nicht sein wollen die ganze Melodie des Bismarckschen Jugendlebens; es ist nur eine wundervolle Begleitmusik zu ihr, die in ihrer ganzen Folge überhaupt nicht wiederherzustellen ist, aber man glaubt sie doch immer leise mitklingen zu hören über den Akkorden, die der Verfasser anschlägt. Die erste der Fragen, die man stellen muß und doch nie ganz
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beantworten kann, ist die nach dem väterlichen und mütterlichen Erbteil Bismarcks. Nicht nur Vater und Mutter, sondern, um die Ansprüche der Deszendenztheorien zu befriedigen, die ganzen Ahnenreihen mußten gemustert werden und ergaben schließlich doch nur wenige, nur für das Allgemeine ausreichende Spuren. Die Tradition der väterlichen Ahnen wies mehr auf den behaglichen Landedelmann als auf den Ehrgeiz des Hof- und Staatsdienstes. Der Vater war ein guter Kerl, der schwere Krankheiten mit noch schwereren Weinen bekämpfte, wie es ähnlich der Sohn vor Schweningers Eingreifen ja auch gemacht hat. Die derberen Instinkte, aber auch die das Gemüt bewegenden Erinnerungen waren unzweifelhaft Bismarckischer Herkunft, während man die geistige Begabung gern an den Gelehrtenstamm der Menckens anknüpft. Verstandesschärfe, Ehrgeiz und innere Kälte, auch Reizbarkeit und Zartheit der Nerven waren seiner Mutter Wilhelmine eigen. Die Schwächen ihres Charakters aber waren von der Art, daß sie, wenn sie ihrem Sohne etwa im Leben nicht als Mutter, sondern als Weib begegnet wäre, keinen schärferen und unbarmherzigeren Beurteiler wohl gefunden haben würde, als gerade ihn. »Die reinste Frauenklugheit besaß die kluge Frau nicht«; es reichte nicht aus bei ihr, sie unternahm Dinge, die sie nicht leisten konnte, ihr Empfinden war nicht ganz echt. Menckensch hat Bismarck, so urteilt Mareks, offenbar nie empfunden, »den bürgerlichen Ehrgeiz seiner Mutter stieß er unwillkürlich zurück«. Diese unwillkürliche Wahl, die er traf zwischen Bismarckschem und Menckenschem Erbteil, oder allgemein gesagt, zwischen der Sphäre des preußischen Landadels und der Sphäre des preußischen Beamtentums, war die erste Grundentscheidung seines Lebens, und so unwillkürlich und naturhaft bestimmt sie auch erscheinen mag, so ist es doch schon der Auftakt seiner eigenen Lebensmelodie - um mit seinen eigenen späteren Worten zu sprechen, etwas von der »Musik, wie ich sie für gut erkenne«. Bestimmtheit und Spontaneität sind die beiden Seiten jeder historischen Individualität, die wir doch nur wider besseres Wissen in zwei Seiten zerlegen, weil unser Geist nicht imstande ist, ihr tatsächliches Ineinander klar zu durchschauen. Wie mit dem Menckenschen Erbteile, so verfuhr die Bismarcksche Jugendnatur auch mit den ihr durch Schule und Leben zukommenden Bildungseinflüssen. Das humanistische Gymnasium, das damals in seiner Blütezeit stand, gab ihm vielleicht, so wird man jetzt urteilen dürfen, eine nicht verächtliche intellektuelle Schulung, auch einen
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gewissen Bestand von humanistischer Bildung, aber weckte nicht den inneren Menschen in ihm. Ebensowenig hat das dann die deutsche Universität vermocht. »Die Universität war nur eben sein Aufenthalt, er ging den Weg des jungen Weltmannes«, der über Korpskneipe, Paukboden, elegante Gesellschaft zum Repetitor führte. Von den großen oder bedeutenden Lehrern, die er hätte hören können, wenn es ihn dazu getrieben hätte, war der einzige, der ihm vielleicht - über bloße Vermutungen kommt man nicht hinaus - etwas gegeben hat, der Göttinger Historiker Heeren. Bismarck wollte Diplomat werden, Heeren war der damalige Diplomatenbildner und lehrte einen historisch-politischen Realismus, eine Würdigung der Staatsnotwendigkeiten und Machtkämpfe, die aus der politischen Tradition des ancien regime noch stammte und so ein gewisses geschichtliches Bindeglied zwischen dieser und der späteren Bismarckschen Staatskunst darstellt. Aber wer möchte bestimmt behaupten, daß es dies auch für Bismarck subjektiv und persönlich in besonderer Weise gewesen sei. Andererseits wird man aber auch die Vorstellung von dem intensiven Korpsstudententum Bismarcks jetzt etwas herabzustimmen haben. Äußerlich wurde es ja intensiv genug betrieben, aber die innere Hingabe, so selbstverständlich-jugendlich sie erfolgte, hatte ihre Schranken. Das damalige Korpsleben ließ überhaupt mehr Freiheit, und die Verkehrsbedürfnisse Bismarcks wurden in dem Kreise seiner bürgerlichen Korpsbrüder aus Hannover auch nie ganz gedeckt. In der Wahl seines persönlichen Umgangs in Göttingen und Berlin, des Amerikaners Motley, des baltischen Grafen Keyserling, kann man schon höhere geistige Ansprüche spüren, wie sie Bismarck zeitlebens mit unfehlbarem Geschmacke an seine näheren Vertrauten gestellt hat. U n d aus dem Spiegelbilde, das ein Motleyscher Roman von 1839 und die späteren Äußerungen Alexander Keyserlings von dem jungen preußischen Edelmanne geben, blitzt es schon selbstherrlich genug heraus. Er tobt sich wohl aus, aber mit dem Bewußtsein, daß er dabei lernen will, die Menschen zu lenken; er disputiert und philosophiert als Kenner der großen Dichter und als extremer Skeptiker, zugleich aber mit kühnen Ausblicken auf seine eigene Zukunft, denn er glaubt nicht, daß Preußen sich noch lange eine Konstitution vom Leibe halten werde, daß dann der Weg zu äußeren Ehren frei sei, - »außerdem«, soll er damals hinzugefügt haben, »muß man innerlich fromm sein«. Man kann die Glaubwürdigkeit dieses oder jenes Zuges bezweifeln und doch nicht daran zweifeln, daß es im Verkehr mit jenen geistig
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hochgestimmten Freunden ab und an aus ihm gewetterleuchtet haben muß. Hören wir ihn selbst aus einem Briefe, den er 1835 [18. Juni] als Auskultator schrieb: »Ich glaube schwerlich, daß mich die vollkommenste Erreichung des erstrebten Zieles, der längste Titel und der breiteste Orden in Deutschland, die staunenswerteste Vornehmheit entschädigen wird für die körperlich und geistig eingeschrumpfte Brust, welche das Resultat dieses Lebens sein wird, ö f t e r s regt sich noch der Wunsch, die Feder mit dem Pflug und die Mappe mit der Jagdtasche zu vertauschen, doch das bleibt mir ja immer noch übrig.« Dazwischen plagte ihn wohl der Ehrgeiz der Diplomatenkarriere und trieb ihn der Mißerfolg einer ersten Liebesflamme wieder in sich selbst zurück, wo er dann vier Wochen im einsamen Schlosse zu Schönhausen aushielt und in die Schweinslederbände der Bibliothek, in Voltaire und Spinozas Ethik sich vergrub. Es ist gar nichts Ungewöhnliches und Absonderliches an diesen Erlebnissen des jungen, stolzen und begabten und in seiner Begabung noch so lässigen Kavaliers, aber man verfolgt sie mit gespanntem Interesse, nicht nur weil überall Keime und Ansätze zu späteren Zügen der Bismarckschen Persönlichkeit dabei auftauchen, sondern auch weil sie helfen müssen, die große Frage nach dem Verhältnis des jungen Bismarck zu den Lebensmächten seiner Zeit, zum preußischen Staate, zur nationalen Idee, zur deutschen Bildung zu beantworten. Und dann kann es gar kein Zweifel sein, daß diese allgemeinen Mächte ihn innerlich damals noch kaum irgendwie gepackt haben. So selbstverständlich er den Preußen, wo es im Verkehre darauf ankam, herauskehren konnte, so wenig scheint ihm die preußische Staatsidee zu tieferem seelischen Bewußtsein gekommen zu sein, und ähnlich steht es mit seinen deutschen Empfindungen. Wenn man nach seinen beiden Referendarsarbeiten von 1836 urteilen darf, so lagen ihm die allgemeinen Weltanschauungsfragen immer noch näher wie die Fragen des Staatslebens - aber es fehlte noch überall die eigentliche Leidenschaft und Wärme. Interessant sind, worauf ich vor Jahren schon hingewiesen habe, die spinozistischen Anklänge, die sich in einzelnen Äußerungen von kühlem Intellektualismus, aber doch nicht ohne eine gewisse strenge Größe zeigen. Die Geister seiner Zeit bewegen und treiben ihn nicht, haben ihn freilich ja auch später niemals eigentlich getrieben, aber er selbst war auch noch kein Treibender. Wer möchte bezweifeln, daß alle Kräfte und Energien in ihm schon bereit lagen, um sofort, wenn das Schicksal es ihm gewährt hätte, aufzuspringen wie der junge Alexander und der junge
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Friedrich II. Aber in den schläfrigen Zuständen und Aussichten seines Heimatsstaates blieb seiner Natur nichts anderes übrig, als vorläufig dahinzuschlendern und das Leben zu genießen mit kühler Skepsis und einigen unerfüllbaren großen Bedürfnissen im Herzen. Ein solcher Mensch in solcher Lage ist dann freilich Explosionen seiner eingeschlossenen Kräfte ausgesetzt, die seinem Lebenswege eine jähe Wendung geben können. Er hatte damals zunächst den Wunsch, unmittelbar in die diplomatische Laufbahn einzutreten, scheitert damit aber an dem generellen Mißtrauen des Ministers Ancillon gegen die diplomatische Befähigung des Landadels. Bismarck sollte nach seinem Rate den U m w e g über die Verwaltungslaufbahn nehmen und wurde damit erst recht zurückgedrückt in Verhältnisse, die für ihn zu klein waren. In Aachen, wo er als Regierungsreferendar arbeiten sollte, ist er dann wir erfahren jetzt den eigentlichen Verlauf erst, aber auch nur in allgemeinen Zügen - regelrecht durchgebrochen. Er stürzte sich in den Trubel der Aachener Badegesellschaft, las dazwischen wohl den englischen Hamlet und Richard III., verliebte sich nacheinander jählings in zwei schöne Engländerinnen, reiste der einen oder der andern im Juli 1837 nach Wiesbaden nach, »liebend, bechernd, würfelnd«, reiste weiter, seinen Urlaub eigenmächtig um viele Wochen überschreitend, und meldete aus Straßburg einem Freunde seine Verlobung mit »einer jungen Britin von blondem Haar und seltener Schönheit«. So ging es im September bis nach Bern, wo es vielleicht schon zur Ernüchterung, zum Bruche und zur Umkehr gekommen ist. Dann kam die schale Neige dahinter; Ärger mit der Regierung, Forderungen der Gläubiger, Versinken in Schweigsamkeit gegen die Eltern. Aachen wurde für ihn unmöglich, aber die Versetzung nach Potsdam machte seinen inneren Menschen auch nicht lustiger für das Bureaukratendasein. Sein Schicksal war in ihm, nicht in der Laufbahn, die ihn von vornherein angegähnt hatte. Einen entscheidenden Anstoß, den Staatsdienst aufzugeben, erhielt er durch die schlechte Lage der väterlichen Güter. Er wurde Landwirt und rechtfertigte den Verwandten gegenüber seinen Entschluß durch jenen großartigen Brief von 1838, den man seit 1900 aus der Veröffentlichung seiner Briefe an Braut und Gattin kennt. Hier zeigt er die Löwenklaue einer Kraft und eines Ehrgeizes, die für den langweiligen und die Individualitäten erdrückenden Beamtenstaat Preußen zu groß waren. Er rühmte dagegen die Staaten mit freier Verfassung, erklärte Peel, O'Connell, Mirabeau für seine Ideale - aber es wäre ein grober Irrtum, daraus auf ausgeprägte Uberzeugungen im
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Sinne des Zeitliberalismus, wie er sich oberflächlich wohl noch in seinen Referendarsarbeiten gespiegelt hatte, schließen zu wollen. Es war das »Mitspielen bei energischen politischen Bewegungen«, was ihn so unbändig reizte, es war die Möglichkeit politischen Heldentums, die ihm die Staaten mit parlamentarischer Verfassung begehrenswert machte. Noch immer - das ist das Bezeichnende und vom Biographen jetzt mit Recht scharf Betonte - war kein Wort dabei von »weitgespannten, geistig allgemeinen Idealen«, sondern der »Drang der eigenen Persönlichkeit stand weit voran«, und die Freiheit im allgemeinen lobte er deswegen, weil sie die Freiheit für ihn bedeutete, Herr werden zu können. Da er es in der Welt nicht werden konnte, so wollte er es nun auf seinem hinterpommerschen Gutshofe sein. Seine Gutsherrenjahre in Kniephof und Schönhausen zwischen 1839 und 1846 brachten dann die entscheidende innere Wendung in seinem Leben, von deren Verständnis das Urteil über Bismarck überhaupt ganz wesentlich abhängt. Nichts ist leichter und einem gemeinen kritischen Verstände, zumal wenn er von politischen Antipathien etwas bewegt wird, einleuchtender, als den ganzen Bismarck aus dem grandiosen Herrscheregoismus jenes Briefes von 1838 abzuleiten und ihn eines inneren ideellen Verhältnisses zu den geistigen Mächten seiner Zeit für unfähig zu erklären. Seine Bekehrungs- und Verlobungsgeschichte von 1846 ließe sich dann, ohne daß man an eine ganz grobe Unwahrhaftigkeit zu denken brauchte, als eine unwillkürliche Anpassung dieses Granitblocks an die Schichtungen seiner Zeit deuten, denn die Verlobung und der Eintritt in den christlich-germanischen Kreis erlöste ihn aus der Einsamkeit, in der er bis dahin lebte, und führte ihn derjenigen Gruppe von Persönlichkeiten zu, die den König und den Thron unmittelbar umstanden. Und so kann man weiter gehen und seinen ferneren Aufstieg zur Macht und jeglichen Gebrauch, den er von ihr des weiteren gemacht hat, aus dem allgemeinen Weltgesetz der Anpassung erklären wollen. Aber als ob man mit diesem »Gesetze« in der Geschichte jemals mehr als den äußeren Mechanismus des Geschehens umschreiben könnte, während über dessen Innenseite, Sinn und Wert damit noch gar nichts ausgesagt ist. Einem Bismarck gegenüber muß man gewiß realistisch sein bis zum äußersten, aber der Realismus im höchsten Sinne begreift auch die Würdigung des Ideellen als einer selbständigen Macht im Menschenleben in sich. Daß es auch in Bismarcks Leben sich jetzt als solche entfaltete, ist eine Grundüberzeugung des vorliegenden Buches, die
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auch wir teilen und selbst schon früher zu begründen versucht haben. Damals stand uns als Dokument der inneren Wandlungen, die Bismarck seit 1839 durchgemacht hat, im wesentlichen nur der Werbebrief zur Verfügung, den Bismarck Ende Dezember 1846 an Herrn v. Puttkamer auf Reinfeld gerichtet hat. Seine Wahrhaftigkeit drängte sich subjektiv zwingend auf und man konnte von ihm aus dann, vorsichtig weitergehend, die psychologischen und geistigen Konstellationen erraten, unter denen die Wandlung vor sich gegangen ist. Mareks hat nun nicht nur das Glück, sondern das hohe Verdienst, durch umfassende und umsichtige Nachforschungen bei den Nachkommen aller in Betracht kommenden Persönlichkeiten ein kostbares Material von gleichzeitigen Briefen aus den christlich-germanischen Kreisen Hinterpommerns gesammelt zu haben, durch das nun, man darf wohl sagen, fast jedes Wort jenes Werbebriefes bestätigt wird. Es ergibt sich daraus ferner, daß Bismarck in ihm, ganz in der Art seiner späteren Staatsschriften, eigentlich nur eine Quintessenz von Erlebnissen wiedergegeben hat, die viel farbiger, zarter und romantischer gewesen sind, als sein strenger und gedrungener Bericht es ahnen läßt. Hinter solchen Blättern und Blüten und allem Neigen von Herzen zu Herzen gewahren wir aber, und das ist das wichtigste, das organische Reifen des Bismarckschen Geistes selbst. In den Relationen zwischen Bismarck und seiner Umwelt trat zuerst und ganz natürlich hervor die Reaktion einer zu großen Kraft gegen eine zu kleine und doch durch ihren Massendruck ihn niederhaltende Umgebung. Sich selbst nur durchzusetzen war sein höchster Gedanke, von einem irgendwelchen Ideendienst war keine Rede, und so fehlte der innere Kitt zwischen ihm und den inneren geistigen Lebensmächten seiner Zeit. Es sind Kraftnaturen in der Geschichte denkbar, die fast ohne jede innerliche Relation zu ihrer Zeit durch sie hindurchstürmen und sie unter sich zu beugen versuchen, aber das Beispiel Napoleon zeigt die Schranken solchen Versuches. Mit Bismarck stand es wesentlich anders. Neben dem Drange des gewaltigen Ich entwickelte sich nun vielmehr als sein zweiter Grundtrieb der Drang nach Anerkennung eines Höheren und Allgemeinen. Die Größe und Dauer seiner späteren Erfolge beruhte darauf. Mag man das nun wieder geniale Anpassung nennen - wir meinen, es ziemt sich zuerst und vor allem, von innen her zu verstehen, was von innen her entstanden ist. Schon in seiner kalten und ideenarmen Jugend lagen ihm, so sahen wir, die Weltanschauungsfragen immer noch näher als die politischen
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Dinge, die er nach seiner Weise als Trauben, die zu hoch hingen, recht gleichgültig behandelte. Aber das Bedürfnis nach einer großen und seinem Geiste gemäßen Weltanschauung war in ihm zweifellos schon früh lebendig. Groß und kalt war das erste Weltbild, das er sich aus deistischen und pantheistischen Ingredienzien zusammensetzte. Er hielt es auch in seinen Kniephofer Jahren zunächst fest und bestätigte es sich durch die Lektüre der freigeistigen Tageslektüre Strauß, Feuerbach, Bruno Bauer. Sein trostlos-erhabener Gedanke, daß der Mensch nur Staub vom Rollen der Räder sei, war der genaue Reflex seiner eigenen Lebenslage. Das selbstgewählte Dasein füllte ihn noch nicht aus. So heiß er die mütterliche Erde und Feld und Wald liebte, so zyklopisch ungebunden er als Junker von Kniephof sich jetzt ergehen mochte - es war noch nicht genug. Daß er sich 1841/42 abermals ernstlich verliebte, diesmal in ein Fräulein Ottilie v. Puttkamer, und von der Mutter schließlich einen Korb erhielt, hat ihn erst recht in den Trübsinn hineingejagt. Wir hören jetzt aus dem Jahre 1843 von ungewöhnlichen Reiseplänen; er dachte an Amerika und Indien, wo er vielleicht unter englischen Fahnen Dienst nehmen könne. »Ich treibe willenlos«, seufzte er 1844, »auf dem Strome des Lebens ohne anderes Steuer als die Neigung des Augenblicks, und es ist mir ziemlich gleichgültig, wo er mich ans Land wirft.« Er versuchte in diesem Jahre, seine Referendarstätigkeit in Potsdam wieder aufzunehmen, stieß aber dort schon nach wenigen Tagen mit seiner Stirn an das Joch an, das die Bureaukratie solchen Naturen gern entgegenstellt, und kehrte auf sein Gut zurück, - ungebeugt, unzufrieden, einsam. Wie kam er aus dieser unfruchtbaren Einsamkeit, aus diesem Dilemma zwischen Ich und Welt heraus? Wie wuchs er endlich hinein in seine Zeit, die ihm bisher noch keine für ihn passende Wurzelschicht hatte bieten können? Wenn man sich dem Eindrucke der wunderschönen und reichen Erzählung von Mareks überläßt, so kann die Antwort nur sein, wie so oft in solchen Fällen, daß es keine überraschende und seltsame psychologische Verkettung, sondern das stille Wirken der Natur in Bismarck selbst war, was ihn allmählich gewandelt, oder richtiger gesagt, das in ihm Schlummernde zum Leben erweckt hat. Aus kleinen, zuerst nicht einmal ganz sicheren, dann aber immer deutlicher werdenden Anzeichen kann man erkennen, daß er positiver wurde, daß reale Fragen von allgemeinem Werte ihn beschäftigen, daß der kleine Lebenskreis, zu dem er als Landjunker verurteilt war und der doch für ihn viel zu klein war, ihn innerlich umfängt und ihm
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wertvolle Güter zu bieten vermag. In derselben Zeit, zu Beginn der Vierziger, wo es am tiefsten herunterging mit seinem Lebensgefühl, begann er über öffentliche Interessen zu sprechen, verhöhnte in einem damals vom Redakteur zurückgewiesenen Zeitungsartikel über Jagd den Adelshaß der Zeitungsschreiber und griff noch höher mit dem Worte, das er 1842 fallen ließ: daß es das Hauptziel der Gewaltigen auf Erden sei, ihr Herrschaftsgebiet auszudehnen und daß auch für das Königreich diese Zeit noch einmal kommen werde. Dann begann er sich für die ritterschaftliche Selbstverwaltung zu interessieren und hoffte von seiner Übersiedlung nach Schönhausen 1845/46, fester in ihr Fuß zu fassen als Deichhauptmann, Landrat, Abgeordneter zum Provinziallandtag. Seit Anfang 1846 warf er sich energisch auf eine Frage, die ihn sogleich in weitere Beziehungen führte und in Fühlung brachte mit den Tendenzen des Königs Friedrich Wilhelm IV. und seiner frommen christlich-romantischen Freunde. Es war die Frage, wie man die bröckelig gewordene Institution der ritterschaftlichen Patrimonialgerichte neu beleben könne. Und schon bei dieser ersten Berührung mit der Partei, in und aus deren Reihen er in den nächsten Jahren emporwachsen sollte, zeigte sich die innere Grundverschiedenheit der Elemente, die hier zusammenrückten. Die Parteigänger Friedrich Wilhelms IV. schätzten die Patrimonialgerichte als wichtiges Stück der christlich-germanischen, historisch-romantischen Staatsund Lebensordnung, - Bismarck aber kam es, so erfahren wir jetzt, ausschließlich auf die Behauptung ritterschaftlicher Selbständigkeit gegenüber dem Staate und, man muß selbst sagen, auf Kosten des Staates an, denn die eigentliche Reform, die Beseitigung der Mängel, war ihm ganz Nebensache dabei. So strebte er nun eifrig nach ritterschaftlich-ständischer Selbstbestimmung gegenüber dem Staate, dem modernen Beamtenstaate. Hatte er ihm zuvor, nach kurzer, lässiger Beaugenscheinigung den Rücken gekehrt, so nahm er jetzt eine Art von Frontstellung gegen ihn ein und suchte gewissermaßen die negativen Erfahrungen der Jugendjahre in positive Gedanken umzusetzen. Freilich, da er sich selbst zugleich klarmachte, wie schwach es mit dem ritterschaftlichen Korporationsgeist seiner kornbauenden Gutsnachbarn bestellt war, so wird man kaum annehmen dürfen, daß ihn der Kampf für eine von vornherein halb verlorene Sache auf die Dauer interessiert hätte. Immerhin, er zeigte den entschlossenen Willen zu politischer Arbeit selbst mit begrenzten Zielen und den positiven Drang nach organisierter Macht und Selbständigkeit, und sei es auch
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nur auf dem eigenen Hofe. Die jugendlichen Gelüste nach politischer Macht im großen beginnen zur Lust an der politischen Macht, wo man sie überhaupt nur ergreifen kann, zu werden. Sein Verhältnis zu Staat und Macht war im Jahre 1838 gewesen: alles oder nichts. Jetzt hat er die Entschlußkraft gefunden, zunächst mit dem Etwas anzufangen. Das war das Ergebnis natürlicher Reife des Charakters und des ebenso natürlichen Einlebens in die heimatlich-ritterschaftlichen Dinge, Aufgaben und Wünsche. Es war kein Erlahmen der Kraft zu höherem Fluge, sondern eine männliche Selbstbegrenzung, über die er sofort sich hinausschwingen konnte, wenn die Stunde ihn rief. Der Deichhauptmann hielt auch über den Strom im eigenen Innern Wacht, aber hätte sogleich sich in den kühnen Schiffer verwandeln können, wenn es freie Fahrt gegeben hätte. Diese Entwicklung des stärksten seiner Triebe, des Dranges nach politischer Macht, aber fiel nun zusammen mit einer Entwicklung, Ausweitung und Veredlung des ganzen Menschen. Und diese erfolgte dadurch, daß er in das geistige Leben seiner Zeit jetzt so weit hineinwuchs, als er es seiner selbstherrlichen Natur nach vermochte. Er wurde nicht empfindsam oder gläubig oder romantisch im Sinne seiner Zeitgenossen, aber er ließ Liebe und Glauben, Sentimentalität und Romantik, die ihn zu umspinnen und einzufangen suchten, auf sich wirken, ließ sein starkes und stolzes Gemüt gleichsam auftauen durch sie und durfte sich so schließlich in Glaube und Liebe als Neugeborener fühlen. Es wirkt wie ein Roman, was Bismarck in dem Kreise seiner frommen und bekehrungseifrigen Nachbarn, Adolf v. Thaddens auf Trieglaff und Moritz v. Blanckenburgs auf Cardemin in den Jahren von 1844 - 46 erlebte. Moritz, ein Jugendfreund Bismarcks und seine Gattin Marie, die Tochter Thaddens, liefen Sturm auf ihn, um den »hinterpommerischen Phönix« den »großen interessanten Weltmann mit der gefährlichen Glätte« aus seiner Glaubens- und Freudlosigkeit zu erlösen. Er wurde belagert nach allen Regeln pietistischer Belagerungskunst. Moritz verriet ihm »in fast rasendem Vertrauen und unerschütterlichem Glauben«, daß eine unheilbar kranke Dame seiner Verwandtschaft ihn liebe und nicht ruhig sterben könne, ehe sie den Ungläubigen bekehrt wisse. Moritz hielt ferner schon seit 1844 Mariens Freundin, die schwarze Johanne v. Puttkamer, für Bismarck als geeignete Partie bereit. Es war bei Marien nicht bloß Bekehrungseifer im Spiele. Sie hatte Feuer und Geist und einen Zug ins Phantastische, sie las die Dichter und mit heimlichem Grauen und Wohlgefallen
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selbst die unfrommen Dichter, sie spielte mit Blumensymbolik und pflückte für Bismarck eine blutrote Rose, für ihren Gatten Moritz eine »tief ewigblaue Blume«. Sie träumte von der großen Welt und von bedeutenden interessanten Menschen. Und Bismarck ging auf ihre poetischen Neigungen ein und übertrumpfte sie noch durch seine Schwärmerei für die schwarzen finsteren Helden Byrons. Marie v. Blanckenburg und Bismarck haben sich ohne Frage viel bedeutet und viel gegeben. Die Beiden wären, so urteilt Mareks, wenn sie noch frei gewesen wäre, wohl einander entgegengeflogen, und so rein das Verhältnis tatsächlich auch erscheint und von allen Beteiligten aufgefaßt wurde, so meint er doch auch - ich hatte früher Ähnliches vermutet - , daß ihm ein leise erregender Unterton nicht gefehlt habe. Marie, so darf man beinahe sagen, lebte für Bismarck später in Johanna fort, die ihr an Kraft der Empfindungen ebenbürtig war, und in der Poesie der Bismarckbriefe an Johanna steckt etwas von Marie Blanckenburg. Zunächst war Bismarck ja für Johanna noch nicht zu haben, aber auf einer mit ihr und den Blanckenburgs 1846 gemeinsam unternommenen Harzreise mit Mondscheinnächten, Mendelssohnschen Liedern und religiösen Disputen fing er Feuer an ihr und zeigte sich auch religiös, als Moritz einen neuen Ansturm unternahm, zum Kapitulieren nicht mehr abgeneigt. Es ist ja schon bekannt, wie dann die tödliche Erkrankung Mariens ihm im Herbst 1846 das erste Gebet zu Gott seit seiner Jugendzeit auf die Lippen drängte. Bei ihrem Tode sagte er unter Tränen: Jetzt glaube ich an die Ewigkeit, oder es hat auch Gott nicht die Welt geschaffen. Bald darauf bekannte er dem Freunde Moritz seinen Glauben und den Eltern Johannas seine Liebe. Dieses ganze Erlebnis ist ein in seinen feineren Verzweigungen nicht mehr aufzulösender Komplex. Wir haben das Wort vom Kapitulieren des Belagerten nicht im Ernste gebraucht, denn wir müßten die ganze Bismarcknatur vergessen, wenn wir das für den Kern des Hergangs ansähen, was nur das äußere Szenenspiel war. Wir dürfen, wenn wir alle allgemeine Kenntnis seines Charakters und alle besonderen Zeugnisse zusammenhalten, schon daran glauben, daß die Tiefen seiner Seele aufgewühlt waren und daß er, so stark auch seine Umwelt auf ihn eindrängte, in innerster Selbstbestimmung damals über sein Leben entschieden hat. Er entnahm, so habe ich es früher ausgedrückt, aus dem ihm dargebotenen Schatze des Glaubens genau so viel, als seine Persönlichkeit bedurfte. Was er davon nun wirklich zu fester Uberzeugung übernahm, läßt sich dogmatisch wohl kaum genau fixiereu,
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weil Bismarck selbst gar kein Bedürfnis nach dogmatischer Fixierung verspürte. Wir erfahren durch Moritz v. Blanckenburg, daß er noch im Februar 1847 sich nicht entschlossen hatte, an die Gottheit und Gottessohnschaft Christi schlechthin zu glauben. Das bedeutet, daß er damals das eigentliche Rüstzeug der Orthodoxie, die Lehre vom blutigen Versöhnungsopfer, noch nicht anzulegen geneigt war. Er hing sich, darf man vielleicht sagen, mehr an die Lehre Jesu als an die Lehre Pauli, ohne daß er darum doch den lebendigsten Kern des Paulinischen Christentums, Sündenbewußtsein, Abhängigkeitsgefühl und Erlösungsdrang, verschmäht hätte. Ihm war es genug, einen lebendigen, persönlichen, barmherzigen Gott und ein unmittelbares Verhältnis zu ihm wiedergefunden zu haben und damit einen schlichten, großen und kraftvollen Welttrost zu besitzen, den er bisher entbehrt hatte. Alle inneren Wendungen seines Lebens in dieser Zeit hängen ja überhaupt zusammen; alles, der neue politische Eifer, die neue Liebe, der neue Glaube, dient ja dazu, den Riß zwischen Ich und Welt, der ihn bisher gelähmt hatte, zu überbrücken. Diese neue Brücke, die er sich baute, machte ihn recht eigentlich erst aktionsfähig für alles Kommende. Nur in einem Punkte habe ich mich mit dem Biographen auseinanderzusetzen. Die Gottesvorstellungen, die Bismarck jetzt annahm, waren zwar nicht schlechthin die des Kreises, der jetzt über seine Bekehrung sich freuen durfte, aber trugen doch dessen Farbe, und die ganze Art der Bekehrung und alle damit zusammenhängenden Erlebnisse fesselten ihn - soweit eine Natur wie er sich überhaupt fesseln ließ - an diesen Kreis und führten ihn tiefer in die gesamte religiös wie politisch konservative Sphäre Preußens hinein. Ich wies nun früher darauf hin, daß hier der christlich-germanische Kreis die besondere Gunst einer Konstellation genoß, indem gerade er jetzt dem jungen Bismarck die religiösen Güter, die er brauchte, darzubieten imstande war, während der damalige Liberalismus ihm nur eine intellektuell und skeptisch ausgekältete Welt- und Gottesidee präsentierte, die er von sich stieß, als er das Bessere erprobt hatte. Sehe der Leser über diese etwas mechanisch wirkenden Bilder hinweg und stelle sich nur die Frage, ob nicht Bismarck unter anderen geistigen Konstellationen, etwa in der Blütezeit des deutschen Idealismus aufwachsend, in ein anderes Verhältnis zu den Ideen einer freieren Weltanschauung hätte gelangen können. Ich habe dabei an elementare politische Naturen wie Gneisenau und Cavour erinnert, die in ihrer freien Weltanschauung
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einen ebenso starken Welttrost besessen haben wie Bismarck in dem positiven Glauben, den er jetzt aus dem christlich-germanischen Kreise holte. Und so sagte ich, daß man hier vielleicht ein Verhältnis des deutschen Liberalismus beklagen könne, weil ihm damals die Kraft gefehlt hat, einen Bismarck dauernd geistig zu umfangen und zu befriedigen. Mareks will die Berechtigung meiner Frage nicht leugnen, aber zweifelt doch, ob andere zeitliche und menschliche Umgebungen ihn wirklich zu anderen Ergebnissen geführt haben würden. In ihm, so urteilt er, wirken zeitlose Gewalten, und es sei schwierig zu denken, daß er sich jemals bei etwas minder Elementarem wahrhaft beruhigt haben würde als bei dem persönlichen Gott. Selbst wenn ich diese letzte Meinung zugeben wollte, so würde ich doch entgegenhalten können, daß schon der »persönliche Gott« mannigfache Parteifarbe tragen konnte und daß der persönliche Gott, den Bismarck glaubte, zwar nicht schlechthin der Gott der Pietisten war, aber aus ihrem Lager stammte. Zeitlose Gewalten sind es gewiß, die zu allen Zeiten Religion geschaffen haben und tiefere Gemüter zur Frage nach Sinn und Kern der Welt und des Lebens führen. Aber die Antwort auf diese Frage ist und war immer zeitgeschichtlich und singular bestimmt und ergibt sich aus der Wechselwirkung zwischen individueller Persönlichkeit und individueller Umwelt. So trägt denn auch Bismarcks Religosität, wie sie im Jahre 1846 durchbrach, einen im hohen Sinne zeitgeschichtlichen Charakter. Der Mann nicht allein, sondern der Mann und die Zeit im Bunde wirkten sich in ihr aus. Ich weiß dabei sehr wohl, daß mit Ideen und Weltanschauungen sich nicht kalkulieren läßt wie mit Rittergütern. Wohl aber ist es erlaubt und nicht unnütz, darüber nachzudenken, ob nicht die Bekehrungsgeschichte Bismarcks zugleich ein beredtes Zeugnis der inneren Schwäche, der inneren Lebensarmut des damaligen religiösen Liberalismus bedeutet. Anders und einfacher steht es von vornherein mit Bismarcks Verhältnis zum politischen Liberalismus seiner Zeit. Wenn seine Referendarsarbeiten noch einen leichten Anhauch davon trugen, so war das nicht mehr als etwas Schultheorie, die der Prüfungskandidat oberflächlich übernahm. Und wenn Bismarck selbst in den »Gedanken und Erinnerungen« seine politische Stimmung vor dem Vereinigten Landtage als »ständisch-liberal« bezeichnet, so muß man jetzt, wo man seine Tätigkeit in der Patrimonialgerichtsfrage genauer kennt, das Wörtchen »liberal« darin ausstreichen. Aber »ständisch« war er und in noch höherem Grade wie die Gerlachs, nicht romantisch-ständisch wie
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diese, sondern urwüchsig altständisch, wie seine Vorfahren auf Schönhausen, ein Feind der staatlichen Bureaukratie und damit allerdings einer Grundsäule des damaligen preußischen Staates. Er zeigt sich in seinen patrimonialgerichtlichen Bemühungen von 1845 - 1847 eigentlich durchaus abwehrend gegen den Staat und gleichgültig für die allgemeinen Bedürfnisse des Staates. Und doch nennt ihn dann Mareks nach seinem Auftreten auf dem Vereinigten Landtage von 1847 »in innerster Seele den Mann des Regierens, der Regierung«. Ganz recht, wenn man nicht vergißt, daß Staat und Regierung noch nicht dasselbe bedeutet. Das Regieren war sein Lebensatem, und in den modernen preußischen Staat ist er durch das Regieren hineingewachsen, - zur idealen Hegeischen Staatsgesinnung aber hat er es dabei vielleicht niemals gebracht. Dagegen besaß er etwas, was noch ursprünglicher als alle Staatsgesinnung war und diese aus seiner Tiefe nährt: Eine Heimatsgesinnung von einer Kraft und einem Stolze, wie sie nur dem naiven Genius eigen sein können. Sie war immer in ihm, aber sie war in den kalten und trüben Zeiten seiner Entwicklung, deren Verständnis uns jetzt erschlossen wird, nicht in der richtigen harmonischen Relation zu dem Herrscherdrange seines Ichs einerseits, und zu den allgemeinen Ordnungen und Gewalten der Welt anderseits. Der Sinn seiner Entwicklung zwischen 1839 und 1846 ist der, daß diese Relation hergestellt wurde. Wir nennen sie harmonisch und wissen dabei durchaus, daß gewisse verborgene Disharmonien immer noch dahinter lagen und niemals haben überwunden werden können. Aber soweit ein Bismarck es überhaupt konnte, hatte er jetzt Haus und Herd, Vaterland und Gott aufgenommen in seinen Willen.
Bismarcks
Eintritt
in den christlich-germanischen
Kreis
Als zweiter Teil einer Literatur-Übersicht »Zur Geschichte Bismarcks* in der Historischen Zeitschrift Bd. 90 (1903) S. 56 - 89. Wiederabdruck: Preußen und Deutschland (1918) S. 296-337.
Wo liegt die stärkste Zäsur in Bismarcks Entwicklung? Die frühere und noch jetzt populär gehegte Meinung, daß er in seiner Frankfurter Zeit den Tag von Damaskus erlebt habe, hat vor einer eindringenden Analyse seiner politischen Grundanschauungen nicht Stich gehalten. Es ist mehr ein taktischer Wechsel der Front als ein Wechsel des strategischen Gedankens, der in Frankfurt sich vollzieht. Jener preußische Ehrgeiz und Machttrieb, der in Frankfurt so gewaltig hervorbricht, ist auch schon vor 1851 der stärkste Trieb seines politischen Wollens gewesen, stärker als die Gedanken des christlich-germanischen Staatsideals, mit denen er dann in den fünfziger Jahren endgültig gebrochen hat. Ein tieferer Einschnitt liegt vielmehr offenbar da, wo sich Bismarck aus dem preußischen in den deutschen Staatsmann gewandelt hat, in der Zeit um und nach 1866. Aber immerhin waren es damals doch die Konsequenzen seines eigenen Werkes, die ihn in die neue deutschnationale Bahn geführt haben. Vielleicht sind für die innerste und persönlichste Entwicklung Bismarcks jene Tage die entscheidendsten gewesen, da ihn Gott, wie er seinem Freunde Moritz v. Blanckenburg erzählte, auf den Rücken geworfen und stark geschüttelt hat', jene Tage des Eintritts in den christlich-germanischen Kreis, in dem er drei wertvolle und sein inneres und äußeres Leben bestimmende Güter fand: den festen Halt des Glaubens, die Lebensgefährtin, die für ihn so unendlich viel bedeutet hat, und die politische Kampfesgenossenschaft, in deren Reihen er zuerst emporgekommen ist. Es ist gar keine Frage, hier ist die Pforte, durch die Bismarck in seine eigentlich historische Laufbahn eingetreten ist, hier ist ein Punkt, wo alle Richtlinien seiner Persönlichkeit sich schneiden. Wenn irgendwo, gilt es hier, ihn zu fassen. Jene drei Güter hängen so eng in sich zusammen, daß man auf den 1
R. v. Keudell, Fürst und Fürstin Bismarck (1901) S. 18
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ersten Blick zweifeln muß, ob er das eine ohne das andere gewinnen konnte. Johanna v. Puttkamer hätte ihn ja, wie sie ihm hinterher sagte, korbbeladen abziehen lassen, wenn sich Gott nicht seiner erbarmt und ihn wenigstens durch das Schlüsselloch seiner Gnadentür hätte sehen lassen2. Anderseits ist das neue christliche Leben in ihm so eng verknüpft mit der neuen Liebe, daß Lenz 3 die jedenfalls sehr diskutable Ansicht hat aussprechen können, die Liebe sei eigentlich die stärkste Wurzel der neuen Lebensauffassung gewesen. Mit dieser und mit den neuen Freunden, die sie vertraten, war dann schließlich auch, als der Ruf zum Vereinigten Landtage an Bismarck kurz darauf erging, seine politische Stellung gegeben. Im großen und ganzen, im groben wenigstens. Bei näherem Zusehen aber erheben sich die schwierigsten Fragen. Die innere Gemeinschaft mit dem Kreise, in den er nun trat, ist niemals vollständig gewesen. Vielleicht hat diese erste Partei, mit der er ging, ihn stärker als jede andere der Folgezeit besessen, aber ganz hat sie ihn auch nicht gehabt. Die religiösen Plänkeleien mit seiner Braut beginnen fast sogleich, und die politischen Schlagworte seiner Partei haben in seinem Munde, darin stimmen Lenz und ich überein 4 , von vornherein noch einen eigenen, besonderen Klang, eben jenen Klang des Preußenliedes, das dann in Frankfurt hell und schmetternd aus ihm hervorbricht. So müssen wir denn bei der Frage, welche Bedürfnisse ihn in den christlich-germanischen Kreis geführt haben, überall sorgfältig auf die Grenzlinien achten, die zwischen diesem Kreise und der Bismarckschen Persönlichkeit bestanden. Das hat schon Lenz in seinem eben angeführten Aufsatze und in seiner schönen »Geschichte Bismarcks« fein und umsichtig getan. Gefördert hat das Problem auch Müsebecks Arbeit »Zur religiösen Entwicklung Bismarcks« 5 . Für die religiöse Frage ist aber vor allem zu nennen und zu rühmen Otto Baumgartens Schrift »Bismarcks Stellung zu Religion und Kirche«, die zwar schon 1900, vor dem Erscheinen der wichtigsten Quelle, der Briefe an Braut und Gattin, veröffentlicht ist, aber durch die intensive Verwertung des schon damals bekannten 2
Briefe an Braut und Gattin S. 18.
3 Bismarcks Religion. Die Woche 1901 S. 753. [Kl. hist. Schriften Bd. I: Vom Werden der Nationen (1913) S. 363], 4 A a. Ο . S. 754 und Geschichte Bismarcks (1902) S. 38; vgl. meinen vorhergehenden Aufsatz (Gerlach u. Bismarck, oben S. 402 ff.). 5
Preuß. Jahrbücher 1902, März (107, 397 ff.).
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Materials zu bedeutenden und meist richtigen Ergebnissen gelangt ist 6 . Wenn ich nach diesen drei vortrefflichen Untersuchungen noch einmal mich an das Thema wage, so geschieht es nicht, um es in seinem ganzen Umfange zu erschöpfen, sondern weil das Bild des Hergangs selbst nach zwei Richtungen hin noch ergänzt werden und mehr Inhalt und Farbe gewinnen kann. Es ist möglich, die religiöse Entwicklung Bismarcks vor seinem Eintritt in den christlich-germanischen Kreis noch etwas schärfer zu charakterisieren, und man kann ferner von diesem Kreise selbst mit Hilfe eines bisher wenig 7 beachteten Materials eine lebendigere Anschauung gewinnen, die dann wiederum, wie ich hoffe, zum tieferen Verständnis des Bismarckschen Entschlusses, in diesen Kreis einzutreten, beitragen wird. I. Die entscheidende Urkunde über Bismarcks religiöse Entwicklung vor seiner Verlobung ist der Werbebrief an den Vater seiner Geliebten vom Dezember 1846. Er hat Gott dabei angerufen, daß kein unwahres Wort aus seiner Feder fließe, und gegenüber der starken und tiefen Sprache, die der Brief führt, verstummt auch jeder Zweifel an seiner subjektiven Wahrhaftigkeit. Alle späteren Äußerungen von ihm, soweit sie ihm widersprechen, sind nach ihm zu korrigieren. Er will nichts als die Wahrheit sagen, aber es ist damit nicht gesagt, daß er uns die ganze Wahrheit über ihn enthüllt. Lenz hat mit Recht darauf hingewiesen 8 , daß wir uns Bismarcks Leben in den Jahren vor seiner Verlobung nicht ganz so grau und leer vorzustellen haben, wie es nach diesem Briefe und nach manchen Äußerungen in den Briefen an Braut und Gattin scheinen will. Neben den »Stunden trostloser Niedergeschlagenheit« muß es auch Sonnentage jener goldenen Laune gegeben haben, wie sie sich in den Briefen an seine Schwester aus jener Zeit spiegelt. Ferner kann der Brief leicht dazu verführen, Bismarck für theoretischer und spekulativer zu halten, als er uns sonst sich zeigt, und den Gottsucher in ihm zu stark zu betonen. Müsebeck ist diesem Fehler nicht ganz entgangen. Um den jungen Bismarck zu verstehen, müssen wir auch den ganzen Bismarck stets zu Hilfe nehmen. Und der hat, wie man weiß, immer nur um praktische, nie um theoretische
6 7 8
Seitdem bedeutend erweitert zu der Schrift »Bismarcks Glaube« 1915. Am meisten von Lenz. Geschichte Bismarcks S. 29 f.
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Ziele seine Riesenkraft eingesetzt. Das ist der richtige Grundgedanke der Baumgartenschen Schrift: »Es waren überhaupt nicht theoretische, sondern praktische Motive, die seine Entwicklung bedingten« (S. 7). Das gibt uns den Schlüssel, nun auch die eigenen Äußerungen Bismarcks über seinen religiösen Werdegang richtig zu interpretieren. Immerhin geben sie uns Zeugnis von einer Beschäftigung mit der Philosophie, von einer Berührung mit den großen geistigen Zeitströmungen, die wir Bismarck bei allem Respekt vor seiner Lektüre nicht leicht zugetraut haben würden. Die Philosophen des Altertums, Spinoza, die großen und kleinen Gestirne des Tages tauchen auf: Schleiermacher, Hegel, Strauß, Feuerbach, Bruno Bauer, - Namen, die zugleich eine Entwicklungsreihe bedeuten und zu der Frage führen, was diese Entwicklungsreihe für Bismarck bedeutet hat. Hier, meinen wir, müßte die Sonde noch etwas fester als bisher angesetzt werden. Man darf sich nicht, wie das zum Teil geschehen ist, mit den bloßen Namen begnügen um Bismarcks philosophische Beschäftigung zu charakterisieren, sondern die Bücher wie ihr Leser verlangen es, daß man sie miteinander konfrontiert und in ihren Mienen dabei zu lesen versucht. Es handelt sich hier doch um eine Begegnung zwischen dem alten und dem neuen, dem metaphysischen und dem realistischen Deutschland in ihren mächtigsten Vertretern, und die Begegnung ist nicht bloß zufällig und pikant gewesen. Dem intuitiven Blicke des Dichters dürfte es freilich leichter werden, die Gegensätze, die hier hervorsprangen, zu erfassen, als dem auf die spröden Angaben Bismarcks angewiesenen Forscher. Es kann sich für diesen nur darum handeln, die allgemeinsten Umrisse zu zeichnen. Er kann schon hierbei der Hypothese nicht entbehren und muß zufrieden sein, wenn die wenigen unmittelbaren Zeugnisse aus Bismarcks Munde in seine hypothetischen Linien ungezwungen hineinpassen. Beachte man zuerst die spröde Art, wie er die verschiedenen von ihm studierten Philosophen behandelt. Er ist wohl interessiert und forschend von einem zum andern gegangen, aber er ist bei keinem länger in der Schule geblieben, keiner hat es je ganz, wenn auch nur zeitweise, zur Herrschaft über ihn gebracht. Er fragt sie aus, und wenn sie ihm nicht antworten, geht er weiter. Er hat schon ihnen gegenüber, so möchte man vermuten, jene stolze Souveränität seiner Persönlichkeit geübt, die wir aus seinem späteren politischen Leben kennen. Menschen- und Ideenkultus hat er auch in seiner Jugend nicht getrieben.
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Wie kühl, fast abstoßend kühl spricht er gleich schon von Schleiermacher: » N a c h einem unregelmäßig besuchten und unverstandenen Religionsunterricht hatte ich bei meiner Einsegnung durch Schleiermacher, an meinem 16. Geburtstage, keinen andern Glauben, als einen nackten D e i s m u s , der nicht lange ohne pantheistische Beimischungen blieb.« M a n sollte meinen, daß ihm, dessen Erziehung bisher nach seiner A n g a b e unter einem U b e r m a ß von Verstandesbildung gelitten hatte, die tiefe religiöse Wärme und Innigkeit Schleiermachers wohl etwas hätte bieten können. Ist doch für so manchen G e n o s s e n des christlich-germanischen Kreises Schleiermacher die erste O a s e in der Wüste der rationalistischen Verstandesdürre, die erste, wenngleich bald verlassene Station des religiösen Lebens gewesen. U n d Schleiermacher vereinigte in sich alles Herrliche der großen geistigen und vaterländischen Erhebung v o m Beginn des Jahrhunderts. Unverstanden aber glitt das ab an der Seele des Jünglings. E s drängt sich die Erinnerung daran auf, wie wenig Fühlung Bismarck auch in seinem späteren Leben mit dem eigentlichen Geiste der preußischen R e f o r m zeit gehabt hat, von seiner Jungfernrede im Vereinigten Landtage an bis zu seinen Gedanken und Erinnerungen'. M a n wende nicht ein, daß mangelnde geistige Reife ihn verhindert habe, Schleiermachers Religionsunterricht zu verstehen. Wer imstande war, gleichzeitig oder kurz darauf
»infolge reiflicher Überlegung«
aus
philosophischen
G r ü n d e n das Gebet einzustellen, muß auch die intellektuelle Reife für Schleiermachers Unterricht gehabt haben 1 0 . U n d in der T a t läßt sich nachweisen oder z u m mindesten höchst wahrscheinlich machen, daß in den Gottesideen und der Ansicht v o m Gebet, wie er sie sich »ungefähr u m diese Zeit« gebildet haben will, Schleiermachersche Anregungen, nur eben individuell verarbeitet, stecken. »Ich sagte mir damals«, so erzählt Bismarck, »daß entweder G o t t selbst, nach seiner Allgegenwart, alles, also auch jeden meiner G e d a n k e n und Willen hervorbringe und so gewissermaßen durch mich selbst z u sich bete, oder daß, wenn mein Wille ein von dem Gottes unabhängiger sei, es eine Vermessenheit enthalte, und einen Zweifel an der Unwandelbarkeit, also auch an der Vollkommenheit des göttlichen Ratschlusses, wenn man glaube, durch menschliche Bitten darauf Einfluß z u üben.« 9 Vgl. Histor. Zeitschr. 82, 292 [Meinecke: Werke VII, 237], 10 Noch im hohen Alter (1895) hat Bismarck gelegentlich Schleiermachers »Fähigkeiten und hohen Geist« gerühmt. Penzier, Fürst Bismarck nach seiner Entlassung 6, 30; Poschinger, F. B., Neue Tischgespräche etc. 2, 219 (vgl. 2, 104).
B i s m a r c k s Eintritt in den christlich-germanischen Kreis
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Schleiermachers Lehre vom Gebet beruht eben gerade darauf, daß Gott das unveränderliche und vollkommene Wesen sei, »in welchem kein neuer Gedanke, kein neuer Entschluß entstehen kann, seitdem er zu sich selbst sprach: Es ist alles gut, was ich gemacht h a b e . « " Zu glauben, durch das Gebet eine Einwirkung auf Gott ausüben zu können, sagt er in seiner Glaubenslehre , 2 , »dies streitet gegen unsere erste Grundvoraussetzung, daß es kein Verhältnis der Wechselwirkung gibt zwischen Geschöpf und Schöpfer; und eine Theorie des Gebets, welche von einer solchen Annahme ausgeht, können wir, wiewohl immer einige ebenso gottergebene als gläubige Christen sich zu derselben bekennen, nur für einen Ubergang in das Magische erklären«. Schleiermacher hat deswegen nicht geraten, das Gebet überhaupt zu lassen. Er hat vielmehr seine läuternde Wirkung auf das Innere, insofern es zur Ergebung in den Willen Gottes führe, warm hervorgehoben. Hier sehen wir also deutlich, daß der junge Bismarck den Gefühlsinhalt der Schleiermacherschen Lehre herausgenommen und nur das Gerippe übrig behalten hat. Die Schleiermachersche Lehre vom Abhängigkeitsgefühl hat ihm nur ihre philosophische, nicht ihre religiöse Seite zugekehrt. Neben der rationalistischen Deutung versucht Bismarck nun auch noch die pantheistische, und es ist nicht ausgeschlossen, daß auch sie auf Schleiermachersche Anregungen zurückginge, - wenn auch nicht gerade wahrscheinlich, da Schleiermacher seine pantheistischen Neigungen in der späteren Zeit stark zurückgedrängt hat. Der innere Hergang aber in Bismarck, als er sein Abendgebet einstellte, ist, wenn wir ihn recht verstehen, mehr praktisch als spekulativ, es ist mehr eine Regulierung seines persönlichen Verhältnisses zu Gott. Wer spekulieren will, begnügt sich nicht mit einem »Entweder oder« über die jenseitigen Dinge. Sicherlich können wir aber nach diesem Zeugnis die sich selbst schon widersprechenden Äußerungen aus seinen letzten Lebensjahren, er habe als Pantheist schlechthin, oder gar als Atheist die Schule verlassen, verwerfen 13 . Es ist vielmehr eine Alternative zwischen Theismus und Pantheismus, und daß der Pantheismus im Verlaufe der nächsten Jahre nicht die Oberhand gewonnen haben kann, hat schon Müsebeck aus der Referendarsarbeit Bis11
Predigten. 1. Sarfimlung 3. Aufl. (1816) S. 34.
12 Der christl. Glaube % 476 (§ 147). 13 G. u. Ε. 1, 1 bzw. Penzier, Fürst Bismarck nach seiner Entlassung 4, 102 (Äußerungen in Kissingen 1892).
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marcks über Natur und Zulässigkeit des Eides (1836) richtig geschlossen. Dieser Aufsatz 14 , gewiß noch eine Schularbeit, aber auch schon eine erste Probe der energischen, scharfen, plastischen Geschäftssprache Bismarcks, kann um so mehr als ein Niederschlag seiner eigensten Ansichten über Gott gelten, als er sich in das uns bisher bekannte Bild seiner Entwicklung glatt einfügt. Er enthält zwar einige Konzessionen an den christlichen Gottesbegriff, wie sie der junge Aspirant des Staatsdienstes zum Teil wohl unwillkürlich machte - er spricht nicht nur von der vergeltenden göttlichen Gerechtigkeit, von der Fortdauer nach dem Tode, sondern selbst einmal, beinahe etwas unorganisch, von den Begriffen einer »unendlichen Gnade Gottes« - , aber der Schwerpunkt liegt sonst gerade auf der Ausmerzung des Anthropopathischen aus dem Gottesbegriff; die ganze Beweisführung geht darauf aus, zu zeigen, wie es mit der allmählichen Läuterung der Gottesidee zu der Überzeugung kommen müsse, daß »durch den Eid nicht Gottes Aufmerksamkeit auf den Schwörenden, sondern die des letzteren auf Gott gelenkt werde«. »Die göttliche Gerechtigkeit«, betonter, »kann nicht nach menschlichem Willen gelenkt werden.« »Gott bedarf auch keiner menschlichen Versprechungen und schließt keine Verträge mit uns.« Es ist immer noch ein Gott, zu dem sich schwer beten läßt, zu dem sich kein warmes persönliches Verhältnis, weder Schleiermacherschen noch pietistischen Stiles, herstellen läßt. Vielleicht hat sein Gottesbegriff inzwischen an sittlichem Inhalt gewonnen, vielleicht ist dieser sittliche Inhalt aber auch mehr ein Zugeständnis an das Thema der Arbeit, - im ganzen überwiegt der Eindruck einer kalten Erhabenheit. Die Unwandelbarkeit, Vollkommenheit, Allmacht Gottes wird knapp und kraftvoll charakterisiert - eine Allmacht, die der geläuterten Einsicht mehr in dem stetigen Gange der Welt, als in dem Seltenen und Außergewöhnlichen sich offenbart. »Die Sonne geht täglich auf und erleuchtet die Welt, aber nur wenigen fällt es ein, daß dieses wunderbar sei, und nur selten nimmt jemand davon Veranlassung, an die Allmacht des Schöpfers zu denken; erschlägt aber der Blitz einen Menschen, so werden die, welche es sehen, mit Staunen und Ehrfurcht erfüllt und preisen die wunderbaren Wege des Herrn. Und doch, wie unbedeutend ist die Kraft gegen jene der Sonne.« Es berührt nun eigen, daß er diesen selben Gedanken elf Jahre später auch zu seiner Braut ausspricht: »Der Ausdruck >ein Wunder< entlockt mir immer ein inneres
14
Bismarck-Jahrbuch 2, 3 ff.
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Lächeln über Mangel an Logik, denn in jeder Minute sehen wir Wunder, und nichts als solche.« 15 Und wiederum ein Jahrzehnt später hat er ihn in einem Briefe an Leopold v. Gerlach noch einmal in die Worte gekleidet: »Es geht uns damit, wie mit allen den Wundern, welche uns täglich 24 Stunden lang umgeben, deshalb aufhören, uns wunderbar zu erscheinen, und niemand abhalten, den Begriff des >Wunders< auf Erscheinungen einzuschränken, welche durchaus nicht wunderbarer sind, als die eigne Geburt und das tägliche Leben des Menschen.«" Das beweist, daß wir hier einen echt Bismarckschen Gedanken, ein durch die Wandlungen zweier Jahrzehnte gleich gebliebenes Stück seiner Gottesempfindung vor uns haben. Auch noch andere verwandte Gedanken tauchen später wieder auf und zeigen dadurch, wie tief sie in Bismarcks Seele Wurzel geschlagen. Jene philosophische Ergebung in Gottes unerforschliche Allmacht, jenes Gefühl des unendlichen Abstandes menschlichen Treibens und göttlichen Willens brach mitten aus seinem angespannten politischen Ringen und Streben fast überraschend hervor, als er an Leopold v. Gerlach 1860 schrieb: »Ich müßte die Dauer und den Wert dieses Lebens sonderbar überschätzen, nachdem ich vor sechs Monaten nicht glaubte, noch einmal grünen Rasen >von oben< ansehen zu können, wenn ich mir nicht gegenwärtig halten wollte, daß es nach 30 Jahren, und vielleicht sehr viel früher, ohne alle Bedeutung für mich ist, welche politische Erfolge ich oder mein Vaterland in Europa erreicht haben. Ich kann sogar den Gedanken, daß Rechberg und andere >ungläubige Jesuiten« über die altsächsische Mark Salzwedel mit römisch-slavischem Bonapartismus und blühender Korruption absolut herrschen sollten, ohne Zorn ausdenken und eventuell als Gottes Willen und Zulassung ehren, weil ich meinen Blick über diese Dinge hinwegrichte.«' 7 Baumgarten und Müsebeck finden in diesen Worten mehr religiöse als philosophische Stimmung. Mir scheint es, ohne daß ich deswegen das neu hinzugekommene christliche Moment leugnen will, umgekehrt. Es liegt doch vielleicht ein innerer Zusammenhang vor mit der pessimistischen Weltstimmung seiner letzten Kniephofer Jahre, wo ihm in trüben Stunden des Menschen Dasein »vielleicht nur ein beiläufiger Ausfluß der Schöpfung« schien, - »Staub vom Rollen der 15 Briefe S. 59 [4. III. 18471. 16 30. Mai 1857. Kohl, Bismarcks Briefe an L. v. Gerlach 327, G. u. Ε. 1,176. Vgl. Baumgarten S. 48. 17 Kohl a. a. O. S. 346 f.
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Räder«. Jedesmal sind es, was man auch nicht übersehen darf, Momente der brachliegenden Kraft. Der fatalistische Erguß in dem Briefe an die Gattin vom 2. Juli 1859, an den wir hier auch erinnern müssen 18 , fließt unmittelbar aus der grollenden Unzufriedenheit über den Gang der preußischen Politik, und nicht lange, bevor er jene Worte an Gerlach 1860 schrieb, hatte er sich abermals überzeugen müssen, daß seine und des Prinz-Regenten Wege auseinandergingen ". Der Mann der Tat, der, wenn er nicht handeln und schaffen kann, pessimistisch zu philosophieren beginnt, erscheint kaum der Erklärung bedürftig, - wenigstens für den, dem Sonnenauf- und -Untergang auch kein Wunder mehr sind. Wo diese Bekenntnisse aber mit einer solchen Kraft und Erhabenheit aus der Seele des zürnenden oder feiernden Helden hervorbrechen und anklingen an alte Jugendstimmungen und erste Gottesgedanken des in die Welt schauenden Jünglings, da muß ein tiefer geistiger Hintergrund sein. Wie sehr man auch das praktische Motiv in seiner ganzen religiös-philosophischen Entwicklung betonen mag und muß, hier liegt doch eine eingeborene Fähigkeit vor, die Dinge der Welt, sei es nun pessimistisch, sei es gottergeben, sub specie aeterni und kontemplativ anzusehen, - eingeboren und ursprünglich, aber höchst wahrscheinlich in der Jugend außer durch Schleiermacher auch von dem Philosophen genährt, der das Schauen sub specie aeterni gelehrt hat. »Wenn mich in dieser Periode«, so heißt es in dem Werbebriefe von den acht Jahren nach dem Schulabgange, »Studien, die mich der Ehrgeiz zu Zeiten mit Eifer treiben ließ, oder Leere und Uberdruß, die unvermeidlichen Begleiter meines Treibens, dem Ernst des Lebens und der Ewigkeit näherten, so waren es Philosophen des Altertums, unverstandene Hegeische Schriften und vor allem Spinozas anscheinend mathematische Klarheit, in denen ich Beruhigung über das suchte, was menschlichem Verstände nicht faßlich ist.« Wir brauchen deshalb nicht anzunehmen, und es ist auch nicht wahrscheinlich, daß der Spinozismus in seinem ganzen Umfange über ihn jemals Gewalt gehabt hat, aber das liegt doch wohl nahe, den Gottesbegriff, wie er sich in Bismarcks Arbeit über den Eid spiegelt, mit den berühmten Ausführungen Spinozas über das Wesen Gottes zu vergleichen 20 . Hier wie dort die Idee der absoluten Voll-
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Briefe. S. 445 f.: »Wie Gott will, es ist ja doch alles nur eine Zeitfrage« etc. Mareks, Kaiser Wilhelm. 4. Aufl. S. 208. Ethik Teil I, 17. Lehrsatz u. Anhang. Theol.-polit. Traktat Kap. 6.
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kommenheit seiner Natur, die nur nach ihren eigenen Gesetzen, von niemandem gezwungen handelt, und die Ausmerzung des egoistischen Elements aus dem Verhältnis zwischen Gott und Mensch. Der Spott Spinozas über diejenigen, die in der Tötung eines Menschen durch den herabfallenden Stein den besonderen Finger Gottes sehen, die überhaupt Gottes Macht und Vorsehung gerade in den ungewöhnlichen Ereignissen der Natur anstaunen, erinnert unmittelbar an Bismarcks Kritik derer, die in dem tötenden Blitze deutlicher die wunderbaren Wege des Herrn sehen wollen als in den täglich waltenden Kräften des Weltalls. Und dann jenes berühmte Wort Bismarcks zwei Jahrzehnte später, in dem Briefe an die Gattin vom 2. Juli 1859: »Völker und Menschen, Torheit und Weisheit, Krieg und Frieden, sie kommen und gehen wie Wasserwogen und das Meer bleibt«, - es atmet auch noch den meereskühlen Geist Spinozas, der dasselbe Bild von den kommenden und gehenden Wellen und von der bleibenden Substanz des Wassers auf das Verhältnis der Einzeldinge zu Gott angewandt hat 21 . N u r ein Pedant wird dabei gleich an unmittelbare Reminiszenzen denken. Die ganze Vergleichung, die wir eben versuchten, verträgt überhaupt nur leichte Akzente. Treibt man sie weiter, so stößt man sehr bald auf schlechthin Unvergleichbares. Es genügt zu wissen, daß in Bismarcks Natur ein durch Spinozas Lektüre wahrscheinlich einst geförderter Zug makrologisch-pessimistischer Weltbetrachtung lag, der dann hervorbrach, wenn die eigensten und stärksten Kräfte dieser Natur sich nicht wahrhaft ausleben konnten und entweder ins Leere verbrausten oder von außen gehemmt wurden. Alle übrigen Philosophen, in denen er geforscht hat, treten nach seiner eigenen Angabe hinter Spinoza zurück. Bei den »Philosophien des Altertums« wird man am ersten an die Stoiker zu denken haben, die den Gehorsam gegen die Weltgesetze, gegen den Willen der vollkommenen Götter und die unbedingte Ergebung in das Schicksal gepredigt haben. Von Hegels »unverstandenen Schriften«, die er noch nennt, wird Ähnliches gelten wie von dem unverstandenen Religionsunterricht Schleiermachers. Nicht sein Intellekt, sondern seine Persönlichkeit wird ihnen gegenüber versagt haben. Eines abstrakten, spinozisierenden, erhaben einfachen Gottesbegriffes war sie noch fähig, aber gegen den künstlich durchgeführten dialektischen Weltprozeß Hegels konnte wohl der konkrete Lebenssinn in ihm sich schon auflehnen. 21
Ethik Teil I, 15. Lehrsatz.
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Einen tieferen Einschnitt in seiner Entwicklung setzt Bismarck selbst mit der Ubersiedlung nach Kniephof 1839 an. Hier in der Einsamkeit sei er erst zu anhaltendem Nachdenken gebracht worden. Seine Ansichten änderten sich zuerst nicht erheblich, aber seine eigene Lebensführung beschäftigt ihn nun innerlich stärker als bisher. Manches erscheint ihm als Unrecht, was ihm früher erlaubt galt. Es ist, dürfen wir wohl sagen, der erwachende Drang nach wertvollerem Lebensinhalt, der für ihn weit mehr im Handeln als im Denken liegen mußte, den er aber zunächst noch, abgeschnitten von der Welt des Handelns, in weiteren theologisch-philosophischen Studien suchte. Die elektrischen Schläge, die damals von Strauß' und Feuerbachs Schriften über Christus und Christentum ausgingen, berührten jetzt auch die Seele des Mannes auf dem einsamen hinterpommerschen Gutshofe. Er geriet durch sie und Bruno Bauer, den minder bedeutenden Geistesverwandten der beiden, den er auch noch nennt, »nur tiefer in die Sackgasse des Zweifels«. Wie haben sie auf ihn im besonderen gewirkt, oder wie konnten sie, müssen wir vorsichtig fragen, auf ihn wirken? Das, was er als Resultat der Beschäftigung mit ihnen angibt, stimmt eigentlich nur wenig zu dem spezifischen Inhalte dessen, was die drei Zerstörer des gläubigen Christentums positiv sagen wollten. »Es stellte sich bei mir fest«, sagt er, »daß Gott dem Menschen die Möglichkeit der Erkenntnis versagt habe, daß es Anmaßung sei, wenn man den Willen und die Pläne des Herrn der Welt zu kennen behaupte, daß der Mensch in Ergebenheit erwarten müsse, wie sein Schöpfer im Tode über ihn bestimmen werde.« Von einer solchen demütigen Resignation des Erkennens und Ergebung in den Willen einer übermenschlichen Gottheit waren die drei Sturmläufer weit entfernt. Die Menschheit als Gattung war ihr Gott, ihr Christus, der »Wundertäter, sofern im Verlauf der Menschengeschichte der Geist sich immer vollständiger der Natur, im Menschen wie außer demselben bemächtigt 22 «. H o m o homini deus est, verkündete Feuerbach als den Wendepunkt der Weltgeschichte. Eine ganz neue kühne revolutionäre Ansicht des Lebens, des Verhältnisses von Menschlichem und Göttlichem, aller menschlichen Verhältnisse überhaupt eröffnete sich von hier aus. Die Vermenschlichung aller bisherigen jenseitigen Werte und die Vergöttlichung des Diesseits, des irdischen Kulturprozesses,
22 Strauß, Leben Jesu 4. Aufl. (1840) 2, 710. Vgl. Feuerbach, Wesen des Christentums. Werke 7, 360 ff. Br. Bauer, Das entdeckte Christentum (1843) S. 10, 37 u. ö.
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der Aufruf, von den trüben und beängstigenden Gottesvorstellung der Väter sich zu befreien und diesseitsfroh mitzuschaffen an den universalen Interessen der Menschheit, - all das steht, wie man weiß, im engsten Zusammenhange mit dem radikalen Anstürme wider die überlieferten politischen und sozialen Institutionen, der seit 1840 durch Deutschland ging. Es ist nun von höchstem Interesse und Werte, festzustellen, daß Bismarck zwar von der niederreißenden, zerstörenden Arbeit der »drei Gewaltigen« stark berührt worden ist, aber ihr positives Lebensprogramm sich nicht angeeignet hat. Es war, dürfen wir kühnlich sagen, nichts für ihn, für seine eigenste Natur. Wir können die uns bekannte Denkweise des späteren Bismarck hier auch dem jungen Bismarck zuschreiben und sagen, daß der universalistische, kosmopolitische, im letzten Grunde ja doch naturrechtliche Grundzug jenes Programms ihn anfremden mußte. Die Menschheit als Gott, das ist ein so unbismarckischer Gedanke, wie nur irgend möglich. Er, dessen Royalismus zwar dem eigenen Fürsten »treu bis in die Vendee«, aber gleichgültig gegen das Gottesgnadentum anderer Potentaten war, forschte doch auch als Gottsucher immer mehr nach dem Gotte für ihn, als dem Gotte für die Menschheit; sich für die Menschheit als solche zu begeistern, hat er später nie vermocht und wohl auch damals nicht. So bestärken also die drei wohl seine Zweifel an der Autorität von Bibel und Christentum, aber wandeln seinen bisherigen Gottesbegriff selbst nicht wesentlich um. Gott ist ihm nach wie vor der Unerforschliche, Ubermächtige, Unnahbare, und der Trost und Halt, der ihm noch bleibt, die einzige Offenbarung Gottes, die er noch gelten läßt und die für ihn Wert hat, gilt nicht der Menschheit, sondern der einzelnen Menschenseele, »das Gewissen, welches er uns als Fühlhorn durch das Dunkel der Welt mitgegeben habe«. Aber wahrhaften Trost und Frieden, fährt er fort, habe er darin nicht gefunden und oft habe ihn der Gedanke gequält, »daß mein und anderer Menschen Dasein zwecklos und unersprießlich sei, vielleicht nur ein beiläufiger Ausfluß der Schöpfung, der entsteht und vergeht wie Staub vom Rollen der Räder«. Also trotz der inneren, von Gott uns gegebenen Stimme des Gewissens doch noch eine gähnende, trostlose Leere in und um ihn. Hier tut sich ein tiefer und denkwürdiger Gegensatz der Persönlichkeiten und Generationen auf. Was für Bismarck nur ein schwaches Licht in dem Dunkel des Lebens, das war für viele der stärksten Denker und Helden der größten Erhebungszeit, für Kant, für Fichte, für Gneisenau, die
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Sonne ihres Lebens, die völlig ausreichende Quelle für Licht und Wärme ihres doch wahrlich glut- und glanzreichen Lebens. »Als das einzige, aber untrügliche Mittel der Seligkeit«, so bekannte Gneisenau auf der Höhe seines Wirkens im Anschluß an Fichte", »zeigt mir mein Gewissen die Erfüllung der Pflicht aus Liebe zur Pflicht«. Es lag nicht an dem Prinzip, es lag an den grundverschiedenen Zeiten und Menschen, daß es seine Leuchtkraft für Bismarck so wesentlich eingebüßt hatte. Und wer will sagen, ob nicht die Verschiedenheit der Zeiten hier noch mehr bedeutet wie die Verschiedenheit der Naturen. Jenes Prinzip bedurfte zu seiner segensreichen Entfaltung der ganzen Atmosphäre des idealistischen Enthusiasmus, wie sie nach und nach geschaffen worden war durch Aufklärung und Sentimentalität, durch Goethe und Kant. Hineingestellt in sie, von Jugend auf ihren Hauch einatmend, konnte auch ein Genius der Tat, ein Staatsmann und Feldherr und Beherrscher der Menschen wie Gneisenau an jenem Grundsatz der inneren sittlichen Autonomie sein völliges Genüge finden. »Soll er dein Eigentum sein, fühle den Gott, den du denkst.« Geneisenau hat den Gott, den seine freie Weltanschauung dachte, noch fühlen können. Bismarck hat ihn nur gedacht. »Immer blieb mein Streben nach Erkenntnis in den Zirkel des Verstandes gebannt.« Hätte nicht auch ein Bismarck den Gott, den er dachte, fühlen können, wenn die geistige Luft um ihn herum noch ebenso warm gewesen wäre wie zu Anfang des Jahrhunderts? Die Frage ist doch keine müßige Spitzfindigkeit. Sie berührt nicht bloß die tiefsten Seiten des Verhältnisses von Individuum und Zeit, sondern unmittelbar auch den politischen Entwicklungsgang Bismarcks. Wir nahen uns ja schon dem Scheidewege, wo Bismarck abschwenkt von der bisher verfolgten Bahn einer freieren Religiosität und sich zu den positiv Gläubigen hinüberschlägt. Freie Religiosität aber und liberale Welt- und Staatsanschauung hingen unter sich durch ebenso viele Fäden zusammen wie die positive Gläubigkeit seiner neuen Freunde mit ihrem politischen Konservatismus. Bismarck hätte, wenn er religiöser Freidenker geblieben wäre, vermutlich auch zu dem Liberalismus überhaupt ein anderes Verhältnis gewonnen. Wie oft hat man es beklagt, daß Bismarck zwar später die' liberalen Mächte seiner Zeit benutzt, aber innerlich nicht mehr gewürdigt hat. Welche ganz andere Luft würde er geschaffen haben, wenn er es getan hätte.
23 Delbrück, Gneisenau 22, 341. Auf das Quellenverhältnis hat Varrentrapp aufmerksam gemacht. Biogr. Blätter 1, 249 Anm.
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Wir haben hier nicht zu wünschen und zu bedauern, sondern zu verstehen. Ich habe früher, unter dem Eindrucke der »Gedanken und Erinnerungen« gemeint24, daß Bismarck das Kind einer älteren Kulturperiode sei, mehr ein Held Shakespeareschen als Goetheschen oder Schillerschen Schlages, daß er nicht in inneren Zweifeln und Kämpfen mit sich selbst nach einem harmonischen Lebensideal gerungen habe, daß die großartige Einfachheit und Ungebrochenheit seiner Instinkte das Besondere an ihm gewesen sei. So, glaube ich, durfte man ihn auffassen nach dem, was wir damals von ihm wußten. Jetzt wissen wir, daß seine freiere Religiosität nicht bloß ein loses Gewand für ihn gewesen ist, daß er es lange mit vollem Bewußtsein getragen und sich erst nach ernsten inneren Lebenserfahrungen von ihm losgewunden hat. Ja, daß er es nicht einmal ganz und gar abgestreift hat, daß gewisse Spuren seines früheren dogmenfreien Protestantismus und seiner früheren Philosophie bei ihm haften geblieben sind25. Ganz disparat kann also das Verhältnis Bismarcks zu einer freien liberalen Weltanschauung von Haus aus nicht gewesen sein, seine elementare Natur hätte auch unter ihr vielleicht sich fortentwickeln können, sie hätte einem Cavour noch ähnlicher werden können, als sie es schon ist. Cavour so wenig wie Gneisenau haben durch ihre freie Weltanschauung etwas von ihrer elementaren Frische und Ungebrochenheit eingebüßt. Woran lag es, daß Bismarck sich schließlich doch von ihr losgerungen hat? Man kann die Frage nicht abtun mit dem bloßen Hinweis auf das Milieu, in dem Bismarck seit Anfang der vierziger Jahre lebte. Eine Natur wie Bismarck läßt sich nicht so ohne weiteres von ihrem Milieu das Gesetz geben. Es kommt auf das spezifische Verhältnis seiner Natur zu dem, was er jetzt aufgab und zu dem, was er dafür eintauschte, es kommt auf die besonderen Konstellationen der geistigen Mächte, die um seine Seele jetzt stritten, an. Und da darf man vielleicht daran erinnern, daß die freieren Weltanschauungen von Goethe und Schleiermacher über Hegel hinüber zu Strauß und Feuerbach eine verhängnisvolle Abwandlung erfahren haben. Bismarck hatte schon in seinem Elternhause den Rationalismus der preußischen Aufklärungszeit mehr von seiner dürren Seite kennen gelernt. Als er dann Schleiermacher hörte, sank die Generation Schleiermachers selbst schon unter, ging der goldene Tag der idealistischen, alle Kräfte der Seele gleichmäßig befriedigenden 24 25
Hist. Zeitschr. 82, 293 / = Werke VII, 238J. Lenz a. a. O. S. 755 und Geschichte Bismarcks S. 20; vgl. oben S. 450.
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Lebensanschauung schon längst zur Rüste. D u r c h Hegel und die Seinen kam ein einseitig intellektualistischer und kritischer Z u g in sie hinein, der dann durch Strauß und die Junghegelianer auf die Spitze getrieben wurde. E s war ja nicht mehr das nüchterne und breite Verstandeswesen des alten Rationalismus. D e r Intellekt übte seine Herrschaft jetzt auf viel feinere und aristokratischere Weise, er nahm in seine Konstruktionen auch vieles auf, was eigentlich auf anderen Beeten gewachsen war und v o m ästhetischen Idealismus und der Romantik herstammte, und nahm in Strauß und Feuerbach schließlich schon die Wendung z u m modernen historischen Realismus, aber eben nur die erste Wendung, und immer noch überwog das kühne Vertrauen zu sich selbst, der Mut, mit subjektiven Konstruktionen und geringem Erfahrungsmaterial Autoritäten zu stürzen und in die L u f t zu bauen, wenn nur der Grundriß des N e u e n formal sich gut ausnahm. M a n kann aus den Erinnerungen eines ihrer damaligen Adepten sehen, wie verführerisch das war. »Immer eilte ich mit meiner Vorstellung dem unfertigen Ergebnis meiner durcheinander wogenden Einfälle voraus; immer reizte mich die Freude an der F o r m , noch ehe ich für sie einen Inhalt hatte 2 6 .« U n d nun darf man vielleicht sagen, daß es für eine N a t u r wie Bismarck kaum eine ungünstigere Konstellation der liberalen Weltanschauungen geben konnte, als wie sie damals war. D i e liberale L u f t u m ihn herum war so dünn geworden, daß sie ihm auf die Dauer Unbehagen bereiten mußte. Sein kräftiger Wirklichkeitssinn, sein Widerwille gegen vages Spekulieren und Irrlichterieren, gegen den subjektiven U b e r m u t des Intellektes überhaupt, der schon in den Parlamentsreden der folgenden Jahre hervorbricht und so sich äußert, als ob er niemals anders sich hätte äußern können, - das muß doch schon damals in ihm sich geregt haben. U n d aus dem Zirkel des Verstandes, in den sein Gottesbegriff nicht ohne Mitschuld des liberalen Zeitgeistes, wie wir meinen, geraten war, konnten diese Leute ihn am allerwenigsten herausführen, die selbst in ihn v o n G r u n d aus gebannt waren. Wie konnte Bismarck in Feuerbachs Wesen des Christentums lesen? » D e r Verstand ist das Kriterium aller Realität. U b e r der Macht der Allmacht steht die höhere Macht der Vernunft, über dem Wesen G o t t e s das Wesen des Verstandes als das Kriterium des von G o t t z u Bejahenden und Verneinenden. . . . Was bejahst du, was
26
R. Haym, Aus meinem Leben (1901) S. 156.
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vergegenständlichst du also in Gott? Deinen eigenen Verstand 27 .« Auch dort, wo Feuerbach in den Gottesvorstellungen die Spiegelungen und Bedürfnisse des menschlichen Gemütes nachweist, geht doch ein kalter, intellektualistischer Zug durch seine Worte. Was er positiv brachte, konnte, wie wir sehen, für Bismarck nichts Kongeniales und Befriedigendes bieten. Negativ aber gingen von ihm und seinen Mitkämpfern so viel zersetzende Kritik der realen Zustände, so viel Nichtachtung lebendiger positiver Mächte in Staat und Gesellschaft aus, daß ein Bismarck hier nicht mehr mittun konnte. Wie gern wüßte man von Bismarcks politischen und sozialen Ansichten vor seiner Bekehrung jetzt ebenso viel wie von seinen religiösen. Das eine ist jedenfalls sicher, daß er schon zu Anfang des Jahres 1846 mit Ludwig v. Gerlach über ein Hauptstück des christlich-germanischen Staatsprogramms, die Wiederbelebung der Patrimonialgerichtsbarkeit und des ritterschaftlichen Korporationsgeistes verhandelt hat 28 , daß er also auf politischem und sozialem Gebiete früher noch als auf religiösem Gebiete sich seinen neuen Freunden genähert hat. Anderseits erregt seine spätere Erzählung von seiner ständisch-liberalen Stimmung vor 1847, obgleich man positiv mit ihr nicht viel anfangen kann 29 , doch zum mindesten die Vermutung, daß die politische Intimität mit der Gerlachschen Partei noch nicht sehr groß gewesen sein kann. Immerhin aber mögen die neu sich knüpfenden Fäden politischen Einverständnisses mit seinen frommen Standesgenossen ihn leise und allmählich aus dem Banne der politisch immer destruktiver werdenden Freidenker herausgezogen haben. Aber das Entscheidende waren gewiß die positiven inneren Bedürfnisse seiner Persönlichkeit und seines persönlichen Lebens. Wir dürfen vor allem auch nicht des mächtigen Willens- und Tatendranges vergessen, der in diesen Jahren frischester Vitalität noch immer nicht wußte, wohin, und der in ihm zum mindesten ebenso stark geklopft und gehämmert haben muß, wie das Verlangen nach einer sein Gemüt befriedigenden Weltanschauung. Wer sich ihn vorstellen kann in dieser Morgendämmerung seines historischen Lebens, in der Fülle seiner noch gebundenen Kräfte, selbstbewußt und hoch emporragend, geistig
27 Feuerbachs Werke 7, 71 f. 28 Kohl, Bismarckbriefe. (Näheres darüber seitdem im ersten Bande der Marcksschen Bismarckbiographie.) 29 G. u. Ε. 1, 17; vgl. Lenz. Gesch. Bismarcks S. 28.
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offen und frei und mit der Welt vertraut geworden durch Reisen und Lektüre und insgeheim wünschend, daß diese Welt da draußen seiner Kraft sich öffnen möchte 30 , - der wird in der Unruhe und Leere seines Herzens nicht bloß den unbefriedigten Gottsucher sehen, sondern auch den unbefriedigten Weltsucher. Der eine Mangel mochte den anderen ihm nur noch fühlbarer machen, und sein starker Wille drängte danach, den einen oder den anderen auszufüllen. Und noch stärker als beides vielleicht regte sich jetzt das unmittelbare Gemütsbedürfnis nach Herzenswärme und Liebe. Liebeleer war sein Leben, wie die Briefe an die Schwester zeigen, gewiß nicht gewesen, aber wenn irgendeiner, so bedurfte Bismarck in seinem Lieben der Konzentrierung, und zwar der leidenschaftlichen Konzentrierung auf einen Gegenstand, den er sich ganz und gar umschloß, um mit dem Franzosen Benoist zu reden, mit einem »wilden Egoismus«. Gottsucher, Weltsucher, Liebesucher, - und unmittelbar um ihn lebten Menschen, die alles das hatten, wonach er begehrte, einen Gott, nicht unerreichbar, sondern jedem persönlich gegenwärtig, eine Welt zwar nicht der großen Taten, aber der ernsten und stetigen Lebensrichtung und von ihrer politisch-sozialen Seite her bereits ihm sich öffnend, und eine Liebeswärme, die auch ihm, dem noch durch die Schranke des Glaubens Getrennten, entgegenschlug. »Ich fühlte mich bald heimisch in jenem Kreise und empfand ein Wohlsein, wie es mir bisher fremd gewesen war, ein Familienleben, das mich einschloß, fast eine Heimat.« Der Mittelpunkt dieses Kreises war Herr v. Thadden auf Trieglaff; sein Schwiegersohn Moritz v. Blanckenburg auf Zimmerhausen und Cardemin war Bismarcks alter Freund. Thaddens und Blanckenburgs waren jetzt Bismarcks liebster Verkehr. Auch für seine literarischen Interessen fand er hier Anklang; man las Shakespeare zusammen. Er spottete wohl für sich selbst noch ein wenig über die ästhetischen Tees mit Lektüre, Gebet und Ananasbowle, aber er ging hin. Auf religiöse Dispute mußte er sich in diesem Kreise gefaßt machen. Da hat er einmal, als das Gespräch auf Glaubensfreiheit kam, sich auf den Vers des Boyenschen Preußenliedes berufen: »Erfülle treu die Bürgerpflicht, dann kümmert mich dein Glaube nicht,« aber als
30 Vgl. vor allem den Brief an die Braut vom 13. Februar 1847 (Briefe S. 21). Die Versuche, seiner Braut Französisch und Englisch beizubringen, machen auch ganz den Eindruck, daß er sie für die große Welt erziehen will. R. Fester, dem ich für manche briefliche Anregungen Dank schulde, weist mich darauf hin.
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man ihm entgegenhielt: »Aber die Juden?« entzog er sich schnell mit einem Scherze seinen Gegnern 3 1 . Auf Moritz v. Blanckenburgs Hochzeit mit Marie v. Thadden im Oktober 1844 lernte Bismarck deren Freundin Johanna v. Puttkamer wahrscheinlich zuerst kennen 32 . Es sei dahingestellt, was mir nach mündlicher Uberlieferung aus jenem Kreise erzählt worden ist, daß Bismarck sich zuerst für Marie v. Thadden interessiert habe und daß diese gewünscht habe, er möge Johanna nehmen. Eine gemeinsame Harzreise vereinigt im Sommer 1846 die jungen Blanckenburgs, Bismarck und Johanna. Seiner eigenen Neigung ist er bereits gewiß. N o c h hält er an sich, aber immer stärker werden die innerlichen Fäden, die ihn mit diesem Kreise und mit ihr verbinden. U n d bei der tödlichen Erkrankung der jungen Frau v. Blanckenburg, die am 10. November 1846 dann starb, fühlt er, daß auch sein Gott ein anderer geworden ist. Das erste Gebet seit seiner Kinderzeit entringt sich ihm, und wenige Wochen darauf wagt er es, dem Vater Johannas jenen Brief zu schreiben, um dessen Deutung wir uns abmühen. Wie stark auch die Liebe hier den Glauben mitgetrieben hat, man versteht doch den Eintritt Bismarcks in diesen Kreis erst ganz, wenn man sich dessen Wesen, Wurzeln und Wandlungen vor Augen geführt hat: ein merkwürdiges Stück zugleich der deutschen Geistesgeschichte im 19. Jahrhundert und ein bezeichnendes Gegenstück zu dem Gange der liberalen Weltanschauung, den wir vorhin betrachtet haben. II. A m 18. Januar 1811, dem preußischen Krönungstage, trat in Berlin zu einer »christlich-deutschen Tischgesellschaft« ein Kreis von Männern zusammen, deren N a m e n den Blick sofort fesselt: Achim v. Arnim war ihr Gründer und Gesetzgeber, A d a m Müller sein »Mitunternehmer«, weiter Clemens Brentano, Heinrich v. Kleist, Savigny, Eichhorn, Karl v. Clausewitz, Staegemann, Leopold v. Gerlach, Fichte und so mancher andere wohlbekannte N a m e der damaligen Berliner Gesellschaft 3 3 . Romantische Dichter, Männer der preußischen Reform 31 »Die frage ich auch nicht, denen sehe ichs {an.« El. Fürstin Reuß, Ad. v. Thadden-Trieglaff (1890) S. 74. 32 Daß es am 5. Oktober 1844 geschah, ergibt sich aus den Briefen an seine Braut, S. 17, daß Blanckenburgs Hochzeit im Oktober 1844 stattfand, aus Reuß S. 73. 33 Ich ergreife hier mit Freuden die Gelegenheit, um auf das schöne Buch Reinhold Steigs »Heinrich v. Kleists Berliner Kämpfe« (Berlin und Stuttgart 1901)
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und künftige Männer Friedrich Wilhelms IV. wollten hier in einem eigenen, aber nicht störenden Kontraste zu den vaterländischen Sorgen, die sie erfüllten, »ernste Weisheit und liebenswürdige Torheit« miteinander treiben. Kein Jude, kein Franzose und kein Philister sollte in ihr geduldet werden. Literarische und politische Romantik und zwei inhaltsreiche Generationen preußischer Geschichte berührten sich hier in einem Fluidum froher und geistvoller Geselligkeit, in einem Fluidum zugleich der Ideen. So tritt in diesem Kreise und in den Kleistschen »Abendblättern«, die man als ihr Organ betrachten darf, auch schon ein gewisser christlicher Zug hervor, ein Bedürfnis nach religiöser Erbauung, das allerdings noch einen starken ästhetischen Zug hat. Der Ausbruch des Befreiungskrieges löste diesen Kreis auf. Nach dem Frieden trat ein neuer Kreis zusammen, der sich selbst »gleichsam als eine Fortsetzung der edlen Tischgenossengesellschaft« Arnims und Brentanos betrachtete. 34 Von dem alten Kreise waren freilich nur noch ganz wenige dabei; mit Sicherheit kann man es nur sagen von Brentano und Leopold v. Gerlach. Die übrigen waren aus dem Feldzuge heimgekehrte junge Juristen und Offiziere, von denen einige schon vor 1813 im Kadettenkorps sich kennengelernt, andere zusammen studiert und unter den Einwirkungen Fichtes, Savignys und Schleiermachers gestanden hatten. Damals war es unter ihnen auch schon zu ernsten Gesprächen über die Gottheit Christi gekommen. Noch stritten Philosophie und Glaube dabei gegeneinander, aber die Entschiedeneren lasen schon die Bibel miteinander, und Adolf v. Thadden zog als blutjunger 17jähriger Leutnant in den Feldzug, das Neue Testament neben Faust und Wallenstein im Tornister. Andere Mitglieder dieses Freundeskreises waren Ludwig v. Gerlach, Aug. Wilhelm Goetze, v. Senfft-Pilsach, Lancizolle, v. Bethmann-Hollweg, Graf AlvenslebenErxleben, - alles wohlbekannte Namen aus dem Kreise Friedrich Wilhelms IV., damals eine vornehme, junge Gesellschaft, die sehr abstach von dem gewöhnlichen Typus einer solchen. Sie waren über ihre Jahre hinaus schon ernst durch die geistigen Einflüsse, die sie erfahren und durch die Erlebnisse des Krieges, strebten aber dabei einem Ideale von verklärter Kindlichkeit nach, das sie in einigen unter hinzuweisen, ein, was selten ist, zugleich minutiöses und geschmackvolles Buch, das gerade auch dem Historiker, der hier in den Gegensatz der liberalen Staatskanzlei Hardenbergs und der beginnenden politischen Romantik eingeführt wird, sehr viel bietet. 34 H. Th. Wangemann, Geistl. Ringen und Regen am Ostseestrande (1861), S. 7.
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ihnen fast engelrein verwirklicht fanden. So nennt Graf Christian Stolberg seinen Freund Thadden 1815: »Reinen Herzens wie wenige und demütig wie ein Kind.« 35 Gustav v. Below sagt von Goetze: »Ich unternehme es nicht, Dir eine Beschreibung von diesem herrlichen, köstlichen Menschen zu machen. Ich Schloß mich fest an ihn an und bewunderte im stillen die anmutige, heitere Ruhe und Festigkeit, die über sein ganzes Wesen ausgebreitet ist.« 5 ' Solche Persönlichkeiten taten es den übrigen an, man eiferte ihnen nach. Von vornherein, unmittelbar an der Quelle, sieht man hier schon einen Grundzug des christlich-germanischen Lebensideals. Es geht nicht auf Ausbildung der Individualität aus eigenem Kerne und auf eigene Weise, sondern beinahe auf Verwischung einer solchen zugunsten einer engelhaften Idealität. Freilich ließen sich die verschiedenen Individualitäten doch nicht ganz ausrotten. So war der strenge und doktrinäre Ludwig v. Gerlach für Clemens Brentano vom ersten Augenblicke an eine »bange Erscheinung.« 37 Aber welch ein Unterschied ist zwischen den mannigfaltigen Charakterköpfen der Tafelrunden von 1811 und den so gleichmäßig gestimmten Jünglingen von 1816. Und so ist auch ihr Interessenkreis ein sehr viel engerer. Literarische und politische Fragen treten bald ganz zurück vor dem »Einen, was not tut«, vor dem inbrünstigen, religiösen Drange. Es ist lehrreich, zu sehen, wie dieser gleich entzündet werden konnte eben durch das Vorbild jener reinen und sicheren Kindlichkeit. Gustav v. Below, der von Fichtescher Philosophie herkam, gelangte durch die Bewunderung, die ihm Goetze abnötigte, »sehr bald auf die Entdeckung, daß ein fester, unerschütterlicher Glaube an die Lehren und Verheißungen der göttlichen Schrift, ein tiefer, christlicher Sinn ohne allen philosophischen Klingklang der einzige Kern und Grund seines Lebens war und noch ist. Durch ihn wurde ich auf die Bibel und in die Kirche geleitet, meine ganze Philosophie trat in den Hintergrund zurück.« 38 Man erstaunt, wie schnell und früh diese Jünglinge dem Einflüsse der damals wahrlich noch kraft- und lebensvollen Philosophie sich entwinden. Wie sich Gustav v. Below von Fichte, so wendet sich Goetze von Schleiermacher ab, der ihn zuerst gepackt hatte, in dessen Predigten er auch anfangs nach dem Kriege noch ging, um dann bald nur noch bei dem 35 36 37 38
Eleonore Reuß, Thadden, S. 12. Wangemann, S. 5 (13. Dez. 1816). Brentano an Goetze 19. März 1822, Leben Goetzes (als Ms. gedruckt), S. 110. Wangemann a. a. O .
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hochbetagten Pastor Hermes in der kleinen Spitalkirche und bei dem ebenso positiv gläubigen Jänicke seine Befriedigung zu finden 3 '. Fichte und Schleiermacher hatten in großartiger innerer Arbeit schon das errungen, was vielen ein höchstes Ziel moderner Menschheit überhaupt zu sein scheint: fromm und frei zugleich zu sein. Diese begabten und feingebildeten Jünglinge verzichteten nach kurzer Rast bei ihnen leichten Herzens auf die Freiheit und ergaben sich einer ausschließlichen und gebundenen Frömmigkeit, die bald wie ein verzehrendes Feuer loderte. Hier liegt ein psychologisches und kulturhistorisches Problem, ähnlich und doch wieder anders als bei dem Verzichte Bismarcks auf die liberale Weltanschauung. Denn hier ringt sich der Entschluß nicht aus einer längeren und schweren Lebenserfahrung hervor, sondern wird in unmittelbarem jugendlichem Impuls gefaßt. Hier läßt sich auch nicht sagen, daß die Gedanken, welche preisgegeben wurden, einen Teil ihrer inneren Kraft schon verloren hätten, daß sie schon greisenhaft geworden wären, wie sie es vielleicht in den vierziger Jahren waren. Man kann wohl zur Erklärung des jähen Umschwungs hinweisen auf einige allgemeine kulturhistorische Bindeglieder, auf die niemals ganz erstorbenen und von jenen alten Predigern gepflegten pietistischen Traditionen, auf die Wirkung der R o mantik vor allem, welche alle irrationellen Kräfte des Innenlebens mobil machte, - schließlich war doch wohl das Entscheidende der spontane Akt der jungen Generation selbst, die mit jugendlichem Enthusiasmus die für sie neue Heilsbotschaft des Evangeliums ergriff, dieselbe Botschaft, die einst den jungen Luther erschüttert und beseligt hatte; die Botschaft von der Vergebung der Sünden allein auf Grund von Christi Blut und Opfertod. Alles, was nicht direkten Bezug darauf hatte, trat zurück. Einer der Freunde sagte später von dem damaligen Geiste ihres Kreises, man habe den ersten Artikel des Glaubens über dem zweiten vergessen 40 . Sie stürzten sich auf diesen mit einer Inbrunst, die nun doch weit mehr an den schwärmerischen Pietismus als an die elementare Gesundheit des Lutherschen Glaubenslebens erinnert. Das gewöhnliche Christentum der Gebildeten war in ihren Augen jetzt »elendes Surrogat für die heilige Speise, die allein auf ewig unser Verlangen stillen kann«. »Sie hassen das Kreuz und die Schmach 39 EI. Reuß, S. 5 und 16, 24. Goetzes Leben, S. 103. Ähnlich zuerst auch Thadden (Reuß S. 5): »Schleiermacher hat mich aus dem Tierreich ins Menschenreich versetzt.« 40 El. Reuß, S. 16.
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Christi, sie wollen nur Blumenduft und Wohlgeschmack, aber nicht Lebensbrot.« Es reizte Thadden, nun gerade zu solchen Leuten vom Blute· und Angstschweiß Jesu für unsere Sünden zu sprechen. Das käme, meinte er, ihnen recht prosaisch und degoutant vor, »aber der Aussatz der eigenen Sünde ist wahrlich prosaischer und degoutanter.« 4: Die alte Wunderkraft des Christentums, die tiefsten Kontraste im Innern, Gefühl des Sündenelends und Hoffnung der ewigen Gnade gewaltig gegeneinander aufzurühren, um sie miteinander zu versöhnen und sie zu versöhnen, um sie immer wieder aufzureißen, dieses stürmische Auf und Nieder der Seele durchwogte also jetzt auch diesen Kreis vornehmer junger Männer" 2 . Wer es einmal mit ganzer Stärke durchgemacht hatte, kam aus dem verführerischen Reize, sich selbst in diesen Höhen und Tiefen zu genießen, so leicht nicht heraus, auch nicht in Lagen, wo andere, natürlichere Empfindungen hätten dominieren können. Nichts ist charakteristischer, als der Brautwerbungsbrief Thaddens vom 1. März 1819°, auf den schon Lenz als ein vielsagendes Gegenstück des Bismarckschen Werbebriefes aufmerksam gemacht hat. Nachdem der Schreiber seinen von Natur verdorbenen Willen aufrichtig geprüft und sich im Staube vor dem gedemütigt hat, der Herz und Nieren prüft, bittet er ihn, ihm aus Gnaden die zu schenken, »die ich mir mit meinen schwachen und blöden Augen zu einer Lebensgefährtin ausersehen habe«. Sei es aber gegen seinen heiligen Willen, so bäte er ihn flehentlich, dazwischen zu treten und darauf zu schlagen. Sollte ihn also Fräulein Jette nicht mögen, so würde er darin die warnende, züchtigende, aber liebende Führerhand Gottes erkennen. Wie das praktische, so wurde auch das theoretische Leben in diesen Strudel hineingezogen. Thadden war schon ganz bald so weit, zu glauben, daß eher die ganze Welt lüge, ehe ein einziges Jota in der Bibel falsch sei". Gustav v. Below hatte zuerst nach seiner Bekehrung noch gemeint, daß seine einmal gewonnene philosophische Ansicht ihn glücklicherweise nicht in dem Werke der Besserung und Heiligung hindere, weil sie da aufhöre, wo die Glaubenslehren anhüben. Wenige Monate darauf hatte er schon »den ganzen Quark von Philosophie« von 41 a. a. O., S. 17 ff. u. 25. 42 Das W o n von Lenz über Thadden (Die Woche a. a. O., S. 650) »diese Religion kennt keine Kampfe« kann ich nicht teilen. 43 a. a. O., S. 27. 44 a. a. O., S. 20.
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sich geworfen und erklärte nun alle selbstgemachte Lehre »eben, weil sie von Menschen und nicht von Gott kommt, für die größte aller Sünden«. Er empfand eine wahre Lust in dieser Zerstörung seiner früheren Gedankenbilder. »In mir lebte ein gewaltiger Teufel von geistiger Verstandeshoffart, aber ich versichere Dich, ich habe den Kerl mit dem Kreuz so vor die Stirn geschlagen, daß er wie ein H u n d winselt.«'15 N u r wenige Jahre, bis 1818 und 1819 dauerte das innige Zusammenleben der Freunde. Ihr Beruf führte sie auseinander, wie brennende Scheite eines Feuers, die überall neue Flammen entzünden. Mit bemerkenswertem Unterschied freilich. Die beiden Juristen Goetze und Ludwig v. Gerlach, die in Naumburg wieder zusammentrafen, hielten viel mehr an sich als die pommerschen Gutsherren Thadden und Below. Sie traten wohl in Verkehr mit den Erweckten in Stadt und Umgebung, galten auch anderen als Schwärmer, aber die Schwärmerei hatte bei diesen Männern verstandesmäßigen Berufs ihre objektiven Schranken. »Mein eigenes Christentum«, erzählte Goetze später 4 ', »hatte zu der Zeit einen entschieden gesetzlichen Charakter; ich meine, es war mir förderlich und gut, daß ich damals nicht einen überwiegenden Eindruck von der evangelischen Freiheit eines Christen hatte.« Umgekehrt ergaben sich Thadden und Gustav v. Below, vor allem dieser, einem religiösen Subjektivismus, der zwar über den lutherischen Begriff von der Rechtfertigungslehre nie hinausging, aber diesen auch mit einer lodernden Leidenschaft auf die Spitze trieb. Alle übrigen Lehrunterschiede, alle kirchlichen Institutionen traten davor zurück. Sie suchten im Lande umher nach gläubigen Pastoren. Trafen sie da einen frommen reformierten Geistlichen, der die Vergebung der Sünden in dem Blute Jesu Christi predigte, so schlossen sie sich mit Freuden an. Aber wie wenige gläubige Pastoren fanden sie auf ihren Streifzügen, fast überall nur Rationalismus und Naturalismus, und bald war es so weit, daß sie es für eine Verunreinigung hielten, zu diesen Baalspfaffen in die Kirche zu gehen, und die Sakramente aus Satans Händen nicht nehmen wollten 47 . So schroff ihre Verdammung der rationalistischen Geistlichen, so glühend war ihr Eifer, die arme, mißleitete Menge zu erwecken und ihre Seelen zu retten. »Die Schrek-
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Wangemann a. a. O. S. 5 ff. u. 8 ff. Leben Goetzes S. 138 ff. G. v. Below 1820 bei Wangemann S. 53.
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ken der ewigen Verdammnis«, sagte Gustav v. Below 48 , »welcher alle Ungläubigen in blinder Tollheit zurennen, sollten uns den Mund weit aufreißen, ob nicht noch etliche herausgeholt werden könnten.« Zuerst gelang es ihm mit seinen Brüdern Heinrich v. Below auf Sochot und Karl v. Below auf Gatz. Heinrich v. Below, von härterer und hitzigerer Art noch als sein Bruder, bisher ein derber Landjunker, wurde bald der eigentliche Heißsporn und Vorkämpfer der ganzen Bewegung. Kartenspiel und Pfeifen wurden fortgeworfen. Vorher hatten die beiden Brüder wegen ihrer Erbschaft in Streit gelegen, jetzt kamen sie fast täglich zusammen, beteten, sangen und lasen die Bibel miteinander. Zu ihren Hausandachten war großer Zulauf aus der ganzen Gegend. Ihre Abendversammlungen dehnten sich oft bis nach Mitternacht aus. Da kam es nicht selten vor, daß einzelne schluchzend auf die Knie sanken und laut ihr Sündenelend bekannten, daß andere, zuweilen gewöhnliche Knechte und Tagelöhner, auftraten und predigten. Und so setzten nach und nach in Heinrich v. Belows Konventikeln fast alle typischen Erscheinungen religiöser Ekstase ein: Visionen, Gebetsheilungen, die Einbildung, vom Teufel besessen zu sein. Es war eine richtige religiöse Volksbewegung im kleinen, in der die vornehmen Gutsherren ihres Standes fast vergaßen. Aber charakteristisch ist, daß diese Bewegung zwar auf den adligen Dörfern ringsum fast kein Haus verschonte, in den reichen Bauerndörfern jedoch, die sich auch sonst für sich hielten, nicht zünden wollte 4 '. So kam es, daß sich gelegentlich die gläubigen und ungläubigen Bauernknechte einmal prügelten50. Man darf den Kitzel, der für den kleinen Mann in der Gemeinschaft mit den Gutsherren lag, nicht übersehen. Mit welchem Stolze hat viel später noch ein frommer 80jähriger Greis in Kammin dem Seminardirektor Wangemann, dem Geschichtsschreiber dieser Bewegung, von jenen Zeiten erzählt. Einmal wies er auf eine Stelle in seinem Zimmer: »Da hat unser jetziger Oberpräsident (von Senfft-Pilsach) gestanden und gepredigt und das Abendmahl ausgeteilt. Das war ein Mann von Gott.« 5 1 Damals wehte aber noch nicht der Wind, der solche Männer auf den 48 a. a. O . S. 30. 49 a. a. O . S. 47. 50 Zeitungsbericht des Superintendenten Tischmeyer 28. September 1821, Geh. Staatsarchiv Berlin. 51 Wangemann, Kirchliche Kabinettspolitik König Friedr. Wilhelms III. (1884) S. 349.
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Oberpräsidentenstuhl führte. Die Belows, Thadden und Senfft waren vielmehr noch rechte Sorgenkinder der geistlichen und weltlichen Behörden 52 . Den altpreußischen Bureaukraten Schuckmann und Kircheisen dünkte dieses religiöse Feuer außerhalb der Staatskirche ganz unzulässig, sie wollten gleich mit Gendarmen und Gerichten gegen die Belowschen Konventikel einschreiten. Altenstein mahnte zu milderem Vorgehen", glaubte aber schließlich auch gegen die Überschreitung des Allgemeinen Landrechts durch Ausdehnung der religiösen Zusammenkünfte und eigenmächtige Austeilung des Abendmahls Schranken aufrichten zu müssen54. In der Tat ist die Bewegung von Gendarmen und Gerichtsurteilen nicht verschont geblieben, wobei dann, wie es heißt, einmal der gerade in der Nähe befindliche Kronprinz die Vollstreckung einer Geldstrafe über Heinrich v. Below gehindert haben soll 55 . Die Schwarmgeisterei in den Konventikeln Heinrich v. Belows, die zu schlechthin entsetzlichen Auftritten führen konnte, wurde durch Gendarmen, Geldstrafen, Arretierung der »lieben blinden Lotte« usw. natürlich nicht gedämpft. Sein Bruder Gustav, der ursprünglich den Samen ausgestreut hatte, machte sie aber schon seit 1822 nicht mehr mit, weil seine feinere aristokratische Natur dagegen reagierte. Schwärmer blieb er jedoch und ließ sich jetzt mit seinem Bruder Karl von dem Zaubergarten der theosophischen Mystik einfangen. Böhmes und vor allem Johann Georg Gichteis (1638-1710) Schriften wurden studiert. Gichtel, der zur Keuschheit und Ehelosigkeit riet, gefiel sich in einem übergeistigen und schließlich sinnlich werdenden Verkehr mit Gott; er und seine Anhänger wollten »Sophiam in ihre Arme haben und von ihr einen süßen Kuß haben«. Er hielt in seiner Verachtung der Welt selbst die Arbeit für das tägliche Brot für unvereinbar mit dem ernsten Trachten nach dem Reiche Gottes 56 . 52 Ich konnte einige im Geh. Staatsarchiv beruhende Aktenstücke darüber einsehen. 53 An Schuckmann 11. März 1822. 54 An den Justizminister Gr. Danckelmann 2. September 1825. Als die Führer des Konventikelwesens nennt er Below-Seehof und Thadden. »Es liegt ihm eine frömmelnde Lehre zum Grunde, welche, das Heil in eine schwärmerisch überspannte Zerknirschung setzend, nur gänzliche Nichtachtung der bisher gewohnten sozialen Verhältnisse und Lähmung von aller Lebenstätigkeit im Gefolge haben kann.« 55
Wangemann, Geistl. Regen etc. S. 156 (1826).
56 Vgl. Sepps und Heglers Artikel über ihn in der Allg. deutschen Biographie Bd. 9 bzw. Realencykl. f. protest. Theol. 3. Aufl. Bd. 6.
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Kirche und äußeren Gottesdienst mißachtete er, auf den Genuß des Abendmahls verzichtete er, weil der innerliche und geistige Genuß des Herrn ihm höher stand. Seine Anhänger, die Parentes - ein durch das ganze 18. Jahrhundert zu verfolgendes stilles Bächlein - ließen gröbere Auswüchse seiner Lehre fallen und verfeinerten sein esoterisches Ideal einer zarten Innerlichkeit und Gottseligkeit dahin, daß man es auch mitten in der Welt erreichen könne, wenn man nur innerlich erhaben über ihr Treiben sei. Gustav v. Below sah jetzt auch in dem Treiben der Erweckten um ihn herum noch ein Stück des »astralischen Himmels«, in dem Gut und Böse miteinander vermischt sei; er zog es vor, »still und ruhig aus Babel auszugehen und sich in den Tempel Gottes im Grunde der Seelen einzuwenden 57 «. Die Gebetsversammlungen und die Propaganda stellte er ein, nur noch im engsten Kreise hielt er seine Andachten. Er und sein gleichgesinnter Bruder Karl starben zu Anfang der vierziger Jahre (1843 bzw. 1842). Es ist hier der Ort, einer Erzählung in den Busch'schen Tagebuchblättern 58 zu gedenken, welche das Gichtelianertum in direkten Zusammenhang mit der Bekehrung Bismarcks setzt. Busch hatte 1885 eine Unterredung mit dem frommen und konservativen Gutsbesitzer Andrae-Roman, der 1846 dem Thaddenschen Kreise nähergetreten war 5 '. Andrae-Roman erzählte ihm, daß die kühle Haltung Bismarcks zu den Geistlichen und zur Kirche schon alt sei und mit der Art seiner Bekehrung zusammenhinge. Nicht von den Geistlichen, sondern von Laien, wie Below, Senfft-Pilsach und Thadden, die in sektierischer Weise gepredigt hätten, sei das neue christliche Leben in Pommern ausgegangen. Auch Blanckenburg und Bismarcks Schwiegervater in Reinfeld hätten dazu gehört. »Sie hielten sich etwa zu den Meinungen Gichteis. Andere neigten zu den Altlutherischen hin. (Also nicht zu herrnhuterischer Ansicht, wie ich vermutet hatte.) Bismarck kam unter ihren Einfluß und Schloß sich ihnen an, und darin ist der Ursprung seiner ablehnenden Haltung den Geistlichen und der Kirche gegenüber zu suchen (Gichteis >Gott in uns< und Bismarcks >nicht durch Predigermund sich erbauen