Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien: Zur Kybernetisierung des Alltags 9783839442722

Timo Kaerlein examines the means of subjectivization and control regimes of physically close digital technologies that c

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German Pages 362 Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
Danksagung
1. Einleitung – Das Unbehagen in der digitalen Kultur
2. Bring Your Own Device – Smartphones als Nahkörpertechnologien
3. Institutional, Personal, Intimate Computer – Eine medienhistorische Situierung
4. Verkörperungen des Smartphones
5. Handhelds und Landhelds – Zum technologischen Unbewussten des Smartphones
6. Postkybernetische Kontrollarchitekturen
7. Fazit und Ausblick: Mobile Data Science, Daten-Behaviorismus und Kybernetisierung des Alltags
8. Literaturverzeichnis
9. Mottonachweise
10. Abbildungsnachweise
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Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien: Zur Kybernetisierung des Alltags
 9783839442722

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Timo Kaerlein Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien

Digitale Gesellschaft  | Band 21

Timo Kaerlein (Dr. phil.) ist wissenschaftlicher Koordinator im Graduiertenkolleg »Locating Media« der Universität Siegen. Er war zuvor Kollegiat im Graduiertenkolleg »Automatismen« und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medienwissenschaften der Universität Paderborn. Seine Forschungsschwerpunkte sind digitale Nahkörpertechnologien, Theorie, Ästhetik und Kritik von Interfaces, Medienkulturen der Obsoleszenz sowie Social Robotics.

Timo Kaerlein

Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien Zur Kybernetisierung des Alltags

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Universität Paderborn. Zugl.: Paderborn, Univ., Diss., 2017.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: © fotolia/ToheyVector, 2018 Layout & Satz: Jacqueline Staiger Druck: docupoint GmbH, Magdeburg Print-ISBN 978-3-8376-4272-8 PDF-ISBN 978-3-8394-4272-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Danksagung | 9 1. Einleitung – Das Unbehagen in der digitalen Kultur | 11 1.1 Me, my phone and I – Digitale Nahkörpertechnologien aus medienanthropologischer Perspektive | 19 1.2 Körperlich-Unbewusstes und Technologisch-Unbewusstes: Automatismen | 26 1.3 Aufbau der Arbeit | 31 2. Bring Your Own Device – Smartphones als Nahkörpertechnologien | 35 2.1 What’s in a Name? – The »device formerly known as the cellphone« | 39 2.2 Persönliche Medien? Smartphones als mediale Objekte im körperlichen Nahraum | 44 2.3 Verortung in der deutschsprachigen Medienwissenschaft | 49 2.4 Zwei Verunsicherungen: Plädoyer für eine paranoisch-schizophrene Medienwissenschaft | 57 2.5 Selbst-in-Relation – Subjektivierungsweisen des Smartphone-Gebrauchs | 65 2.5.1 Smartphones als Selbst-Technologien | 68 2.5.2 Territorien des Selbst (Goffman) und heterogene Selbstkonstitution (James) | 75 2.6 Objekt-in-Relation – Digitale Nahkörpertechnologien als Apparat | 79 2.6.1 Zum Begriff des Apparats in der Medienwissenschaft | 84 2.6.2 Abgrenzung zum Begriff des Dispositivs | 88 2.6.3 Smartphones als verteilte, technische Anordnung | 91

3. Institutional, Personal, Intimate Computer – Eine medienhistorische Situierung | 97 3.1 How I Learned To Stop Worrying and Love the Computer – Kybernetik, Gegenkultur und die Idee des Personal Computers | 101 3.1.1 Von der Militärtechnik zum Counter-Computer – Diskursive Umbesetzungen der Computertechnik (1960er- und 1970er-Jahre) | 102 3.1.2 Kalifornische Kippfiguren – Von der Gegenkultur in den globalen Netzwerkkapitalismus (1970er- bis 1990er-Jahre) | 110 3.2 Intimate Computing und Personal Dynamic Media – Konzepte der Mensch-Computer-Interaktion im Wandel | 118 3.2.1 Das Dynabook als Vision eines persönlichen digitalen Mediums | 121 3.2.2 Intimate Computing im Kontext der Medienpädagogik (1970er- bis frühe 1990er-Jahre) | 125 3.2.3 Apple Newton – Intimate Computing in produktförmiger Gestalt (1990er-Jahre) | 130 3.2.4 Intimate Computing als Gegenstand der Computerwissenschaft (1990er- bis 2000er-Jahre) | 137 3.2.5 Intimate Computing im Design- und Marketingdiskurs (2010er-Jahre) | 144 4. Verkörperungen des Smartphones | 151 4.1 Affordanzen – »Perceiving is for Doing« | 163 4.1.1 Affordanzen: Konzept | 164 4.1.2 Affordanzen des Smartphones | 169 4.1.3 Zwischenfazit | 172 4.2 Körpertechniken – Rhythmen von Mensch und Maschine | 175 4.2.1 Körpertechniken: Konzept | 176 4.2.2 Körpertechniken des Smartphonegebrauchs | 181 Beispiel: Gehen mit dem Smartphone | 184 Beispiel: Im Bett mit dem Smartphone – Von der Körpertechnik des Schlafens zum Sleep Mode | 190 4.2.3 Zwischenfazit | 194

4.3 Körperschema – Koordinaten des Selbst | 196 4.3.1 Körperschema: Konzept | 199 Aspekte des Körperschemas nach Paul Schilder | 204 Leib und Welt: Das Körperschema bei Maurice Merleau-Ponty | 208 4.3.2 Smartphones und das Körperschema | 211 4.3.3 Zwischenfazit | 223 4.4 Zusammenfassung und Fazit | 224 5. Handhelds und Landhelds – Zum technologischen Unbewussten des Smartphones | 229 5.1 Diskurse zum technologischen Unbewussten | 237 5.1.1 Apparatusdebatte | 237 5.1.2 Medialität von Infrastrukturen | 240 5.1.3 Medienökologien | 252 5.2 Drei-Ebenen-Modell des technologischen Unbewussten | 260 5.3 Das Protokoll als technologisches Unbewusstes der Computerkultur (Galloway) | 263 5.4 »Walking, under the satellite sky« – Lokalisierung als Verdatungspraxis | 268 5.4.1 Smartphones als Locative Media | 269 5.4.2 Technische Grundlagen von Lokalisierungspraktiken | 275 5.4.3 Standardisierung des Raumes als Resultat von Verdatungspraktiken | 277 6. Postkybernetische Kontrollarchitekturen | 285 6.1 Digitale Einhegungen | 287 6.2 »A God’s Eye View of Ourselves« – Individualisierte Verortung als postkybernetisches Ordnungsprojekt | 292 6.3 Fazit | 299 7. Fazit und Ausblick: Mobile Data Science, Daten-Behaviorismus und Kybernetisierung des Alltags | 301 8. Literaturverzeichnis | 317 9. Mottonachweise | 357 10. Abbildungsnachweise | 359

Danksagung Kein Buch wird von einem Autor allein geschrieben. Aus diesem Grund möchte ich an dieser Stelle zunächst einen herzlichen Dank an meine beiden GutachterInnen Prof. Dr. Christina Bartz und Prof. Dr. Erich Hörl aussprechen, die immer ein offenes Ohr für Fragen und Unsicherheiten hatten und das Projekt mit Rat und Tat begleitet haben. Ebenso gilt mein Dank der Vorsitzenden der Promotionskommission Prof. Dr. Dorothee Meister und den weiteren Mitgliedern PD Dr. Ralf Adelmann und Dr. Christoph Neubert, die mit großer Einsatzbereitschaft meine Disputation zum gewünschten Termin möglich und zu so einem besonderen Ereignis gemacht haben. Danken möchte ich weiterhin den KollegiatInnen, Koordinatorinnen, Postdocs und beteiligten WissenschaftlerInnen des Graduiertenkollegs „Automatismen“ an der Universität Paderborn, ohne deren kritische Rückfragen, Anregungen und Kommentare dieses Buch nicht zustande gekommen wäre. Hervorheben möchte ich Oliver Leistert, der in entscheidenden Situationen Rat wusste und mich wiederholt an die richtigen Personen verwiesen hat. Ein ausdrücklicher Dank für fachlichen Austausch, regelmäßige Gespräche und inhaltliche Unterstützung gilt den folgenden Personen: Paul Buckermann, Jan Distelmeyer, Christian Dries, Christoph Ernst, Till A. Heilmann, Regina Ring, Florian Sprenger, Stefan Udelhofen, Hartmut Winkler und Sabine Wirth. Rolf F. Nohr danke ich für ein entscheidendes Telefonat. Ein besonders warmherziger Dank geht an meine Paderborner Kolleginnen und Kollegen Ralf Adelmann, Anna-Lena Berscheid, Marcus Burkhardt, Niklas Corall, Jakob Cyrkel, Elena Fingerhut, Lars Glindkamp, Michael Heidgen, Irina Kaldrack, Christian Köhler, Julia Kröger, Tobias Matzner, Monique Miggelbrink, Christoph Neubert, Andrea Nolte, Theo Röhle, Antonio Roselli, Franziska Schloots, Johanna Tönsing, Serjoscha Wiemer und Mirna Zeman. Ihr habt meine Zeit in Paderborn zu einer außerordentlichen Freude gemacht. An meine lieben Freundinnen und Freunde, aus Köln, Paderborn und darüber hinaus: Alicia Achenbach, Alexandra Adam, Fabian Brüggemann, Rosa Maria Chacon Spilski, Kate Chen, Mareike Donay, Felix Dütting, Larissa Fuhrmann, Daniel Haas, Oliver Kahs, Finn Kölzer, Amaia Lauzirika, Martin Mangold, Christian Meurs, Andreas Palenta, Kent Paulsen, Tobias Pütz, Jacqueline Staiger, Olga Tara-

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pata, Daphne Thees, Jelle Tiddens und María Villares. Ihr alle habt in der einen oder anderen Weise, ob bewusst oder nicht, an der Entstehung dieses Buches mitgewirkt. Mein Bruder Jan Kaerlein hat dafür gesorgt, dass ich über das Promovieren nicht den Rest des Lebens vergesse. Widmen möchte ich dieses Buch meinen Eltern, Antje Kaerlein und Jürgen Kammler-Kaerlein, die mich auf dem ganzen Weg unterstützt haben. Timo Kaerlein Mai 2018

1. Einleitung – Das Unbehagen in der digitalen Kultur

»Wer ein Mobiltelefon besitzt, werfe es weg. Es hat ein Leben vor diesem Gerät gegeben, und die Spezies wird auch weiter existieren, wenn es wieder verschwunden ist.« Mit dieser impertinenten Forderung beginnt Hans Magnus Enzensberger, Autor des 1970 veröffentlichten Baukastens zu einer Theorie der Medien, seine zehn »Regeln für die digitale Welt«.1 Sie dienten im Februar 2014 als Präludium zu einer Serie in der FAZ, die sich mit den Verwerfungen und Irritationen der Post-Snowden-Zeit, den enttäuschten Hoffnungen von Vernetzungsaktivisten2 und den neuen Zwängen einer ›digitalen Technokratie‹ auseinandersetzte. Der konservative Tenor, der darin zum Ausdruck kommt, ist symptomatisch für ein Unbehagen in der digitalen Kultur. Die Versprechen und hochfliegenden Hoffnungen der Internetdiskurse der 1990er-Jahre – basisdemokratische Kommunikation, Transparenz, jederzeit und überall frei verfügbares Wissen – haben einer Reihe von Debatten Platz gemacht, die auf die Schattenseiten des vernetzten Lebens fokussieren. Die Stunde der Warner und Kulturpessimisten bricht spätestens in den 2010er-Jahren an. Um Enzensbergers Regeln zu verstehen – die von vielen schnell als weltfremde Einlassungen eines alternden Offline-Romantikers oder im besten Falle als ironisch gedeutet wurden –, muss man sie gemeinsam mit ihren Reaktionen lesen. In ihrer Unzumutbarkeit liegt die eigentliche Pointe. In der Süddeutschen wird polemisiert, dass Enzensberger zum Verzicht auf basale Infrastrukturen aufrufe, wenn er gleich1  | Hans Magnus Enzensberger: »Wehrt euch! Enzensbergers Regeln für die digitale Welt«, auf: FAZ.net, dort datiert am 28.2.2014, http://www.faz.net/frankfurter-allge-mei​ ne-zeitung/enzensbergers-regeln-fuer-die-digitale-welt-wehrt-euch-12826195.html, zul. aufgeruf. am 30.1.2017. Zu den weiteren Regeln zählen u. a. »Wer immer einem ein kostenloses Angebot macht, ist verdächtig«, »Wer eine vertrauliche Botschaft hat oder nicht überwacht werden möchte, nehme eine Postkarte und einen Bleistift zur Hand« und »Waren oder Dienstleistungen via Internet sollte man meiden«. 2  | In der vorliegenden Arbeit wird aus Gründen der Lesbarkeit durchgängig die grammatikalisch männliche Form verwendet. Sofern nicht ausdrücklich anders vermerkt, sind damit immer Personen aller Geschlechter gemeint.

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sam dazu rate, »die Gefahren des Straßenverkehrs dadurch zu lösen, dass man sein Haus einfach nicht mehr verlässt«. Die Empfehlungen schwankten »zwischen kluger Ironie und reaktionärem Ratschlag«.3 Der Tech-Journalist Jürgen Kuri erklärt, dass Enzensberger, »[e]iner der einst führenden Intellektuellen der Republik«, sich mit seinen Thesen lächerlich mache: Das »Wegwerfen des Handys« sei »keine moralische Haltung angesichts der Auswirkungen der Vernetzung und Digitalisierung der Gesellschaft«, sondern vielmehr »das wütende Aufstampfen des kleinen Kindes, dass [sic!] die Welt um es herum nicht versteht«.4 Darüber hinaus sei Enzensbergers Protest eminent unpolitisch, weil er auf die Technik und damit implizit auf den Einzelnen projiziere, was eigentlich gesellschaftlich zu klärende Problemlagen wären, beispielsweise die Frage nach Privatheit und Datenschutz. Enzensberger steht mit seiner Radikalkritik allerdings nicht allein. An den Rändern der Akademie, im Feuilleton und in erfolgreichen Sachbüchern, entfaltet sich seit ca. Beginn der 2010er-Jahre eine gesellschaftlich wirkmächtige Krisenrhetorik zu digitalen Medien in der deutschsprachigen Publizistik. Eine der prominentesten Stimmen ist Frank Schirrmacher, der als Mitherausgeber der FAZ die eingangs erwähnte Serie verantwortete. Insbesondere in seinem bereits 2009 veröffentlichten Buch Payback mit dem sprechenden Untertitel Warum wir im Informationszeitalter gezwungen sind zu tun, was wir nicht tun wollen, und wie wir die Kontrolle über unser Denken zurückgewinnen hat Schirrmacher die Angst artikuliert, Computer könnten Denkprozesse, insbesondere Routinen und eingeschliffene Gewohnheiten, direkt manipulieren.5 Neben Schirrmacher gibt es zahlreiche weitere öffentliche Stimmen, die einen ähnlich begründeten Notstand ausrufen. Einem verwandten Argumentationsmuster folgte Miriam Meckel, Kommunikationswissenschaftlerin und Chefredakteurin der Wirtschaftswoche, die ihre Burnout-Erfahrungen in mehreren Büchern in Zusammenhang mit insbesondere digitalen Kommunikationsmedien gebracht hat.6 Der Neurologe Manfred Spitzer verspricht in alarmistischer Manier, seine Leser von einer um sich greifenden Cyberkrankheit zu kurieren, der Politikwissenschaftler 3  | Dirk von Gehlen: »Zwischen Ironie und reaktionärem Ratschlag«, auf: Süd-

deutsche Zeitung, dort datiert am 4.3.2014, http://www.sueddeutsche.de/digital/ aussenminister-steinmeier-und-enzensberger-zwischen-ironie-und-reaktionaeremratschlag1.1902761, zul. aufgeruf. am 30.1.2017. 4  | Jürgen Kuri: »o. T.« [= Post auf Google Plus], dort datiert am 1.3.2014, https://plus.google.com/+J%C3%BCrgenKuri/posts/SK3jRdPJLb6, zul. aufgeruf. am 30.1.2017. 5  | Vgl. Frank Schirrmacher: Payback. Warum wir im Informationszeitalter gezwungen sind zu tun, was wir nicht tun wollen, und wie wir die Kontrolle über unser Denken zurückgewinnen, München: Blessing 2009. 6  | Vgl. Miriam Meckel: Das Glück der Unerreichbarkeit. Wege aus der Kommunikationsfalle, Hamburg: Murmann 2007 und dies.: NEXT. Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2011.

1. Einleitung – Das Unbehagen in der digitalen Kultur

Klaus-Dieter Müller rät zu Entschleunigung und Gelassenheit, um die maßgeblich durch digitale Medien beförderte Entfremdung in der heutigen Gesellschaft zu überwinden.7 Vielen dieser Stellungnahmen, deren oft einseitig-verflachte Argumentationen hier nicht Thema sein sollen, liegt ein Überforderungs- und Entfremdungsdiskurs zugrunde, der in seiner Dringlichkeit erklärungsbedürftig zu sein scheint.8 Als Komplementärdiskurse sind Publikationen und Veranstaltungsformate zu werten, die ausgehend von der Diagnose eines Zuviel an digital vermittelter Kommunikation und Interaktion eine (temporäre) Rückkehr zu vermeintlich ›authentischeren‹ Lebensweisen anregen, beispielsweise in Form einer digitalen Entgiftungskur9, digitaler Achtsamkeit10 oder anschließend an ältere Konzepte bewussten und nachhaltigen Lebens.11 Auf der jüngsten Eskalationsstufe greifen sogar Telekommunikationsanbieter selbst die populäre Entnetzungsrhetorik auf und legen ihren Kunden in aufwändig gestalteten Clips nahe, zu Thanksgiving oder Weihnachten doch einmal das Smartphone zur Seite zu legen, um Zeit mit der Familie zu verbringen.12 Während in Deutschland ein eher kulturpessimistischer Ton angeschlagen wird, arbeitet man im Silicon Valley bereits an ›technological fixes‹ zum Vernetzungsüberdruss, an Kommunikationsfilter- und Selbstkontroll-Apps wie Offtime13 beispielsweise oder an Wearables wie Ringly, die damit beworben werden, dass man das Smartphone in der Tasche lassen könne, während die wichtigsten Nachrichten weiter an das ringförmige Accessoire durchgestellt würden.14 7  | Vgl. Manfred Spitzer: Cyberkrank! Wie das digitalisierte Leben unsere Ge-

sundheit ruiniert, München: Droemer 2015 und Klaus-Dieter Müller: Das iPhone und der liebe Gott. Sinnlose Zeit besiegen im Zeitalter grenzenloser Kommunikation, Paderborn: Fink 2016. 8  | Inzwischen widmet sich ein mediensoziologischer Band dem Thema De-Mediatisierung und diskutiert anhand zahlreicher Fallstudien Widerständigkeiten und Brüche im gesellschaftlichen Mediatisierungsprozess. Vgl. Michaela Pfadenhauer/Tilo Grenz (Hg.), De-Mediatisierung. Diskontinuitäten, Non-Linearitäten und Ambivalenzen im Mediatisierungsprozess, Wiesbaden: Springer VS 2017. 9  | Vgl. http://thedigitaldetox.de/index.html, zul aufgeruf. am 30.1.2017. 10  | Vgl. http://digitalmindfulness.net/, zul. aufgeruf. am 30.1.2017. 11  | Vgl. André Wilkens: Analog ist das neue Bio, Berlin: Metrolit 2015. 12  | Vgl. Sydney Ember: »Verizon Commercial Suggests a Thanksgiving without Phones«, auf: New York Times, dort datiert am 25.11.2015, http://www.nytimes. com/2015/11/26/business/media /verizon-commercial-suggests-a-thanksgi​ ving-without-phones.html, zul. aufgeruf. am 30.1.2017 und den Werbespot der Deutschen Telekom »Episode 11: Weihnachten bei Familie Heins«, auf: YouTube.com, https://www.youtube.com/watch?v=e1SvwhA5djg, zul. aufgeruf. am 30.1.2017. 13  | Vgl. http://offtime.co/de/, zul. aufgeruf. am 30.1.2017. 14  | Vgl. https://ringly.com/, zul. aufgeruf. am 30.1.2017.

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Mein Vorschlag ist, diese Debatten und Projekte als Symptome einer soziotechnischen Entwicklung zu lesen, die sich am treffendsten als Kybernetisierung des Alltags charakterisieren lässt. Mit dem Begriff der Kybernetisierung beziehe ich mich in erster Linie auf Erich Hörls kontrollhistorische Genealogie der gegenwärtigen technisch-medialen Lage, die nicht im engeren Sinn auf die institutionelle Karriere kybernetischer Theorieansätze abzielt, sondern einen breiteren historischen Prozess in seinen epistemologischen und technologischen Konsequenzen umreißt.15 Während Hörls Projekt philosophisch argumentiert und begriffspolitisch ausgerichtet ist, geht es mir darum, alltägliche Dimensionen des Kybernetisierungsprozesses auszuloten, die sich vor allem an Praxis-/Artefaktkonstellationen des habitualisierten Mediengebrauchs ablesen lassen. Auch für dieses enger umrissene Vorhaben gibt es freilich Vorläufer: An erster Stelle ist hier Henri Lefebvre zu nennen, der 1968 unter dem Begriff der »Kybernetisierung der Gesellschaft« die Möglichkeit einer weitreichenden Programmierung des Alltagslebens antizipierte.16 Laut Lefebvres Diagnose zielten die politischen Kräfte in Frankreich seit ca. 1960 zunehmend darauf, »das Alltägliche zu befestigen, es zu strukturieren, es zu funktionalisieren«.17 Luca di Blasi spricht 2003 von der »Kybernetisierung des Raumes«, die er mit Entwicklungen des pervasive computing in Verbindung bringt.18 Die Möglichkeit der Implementierung von informationellen Regelkreisen in alltägliche Prozesse habe laut Di Blasi u.a. die Konsequenz, die Widerständigkeit der Gegenstandswelt jedenfalls imaginativ und tendenziell auch praktisch zu überwinden und damit die Konfrontation zwischen Subjekt und Objekt abzumildern.19 War die historische Kybernetik als Metadisziplin der Nachkriegszeit noch an Steuerungs- und Regelungsprozessen in technischen Apparaten und Lebewesen gleichermaßen interessiert, ist das kybernetische Wissen in den Folgejahrzehnten in viele Disziplinen und Anwendungsfelder diffundiert – darunter Pädagogik, Politik, Kunst und Ökologie.20 Nicht zuletzt die Computertechnik ist reifiziertes Resultat der kyber15  | Vgl. insbesondere die prägnanten Zusammenfassungen des Ansatzes in

Erich Hörl: »Tausend Ökologien. Der Prozess der Kybernetisierung und die allgemeine Ökologie«, in: Diedrich Diederichsen/Anselm Franke (Hg.), The Whole Earth. Kalifornien und das Verschwinden des Außen, Berlin: Sternberg Press 2013, S. 121-130 und ders.: »Die Ökologisierung des Denkens«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 14 (2016), S. 33-45. 16  | Henri Lefebvre: Das Alltagsleben in der modernen Welt, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972 [frz. OA 1968], S. 94. 17  | Ebd., S. 94f. 18  | Vgl. Luca Di Blasi: »Die Räume der Kybernetik«, in: TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15/10.4 (2003). 19  | Vgl. ebd. 20  | Die Rezeptions- und Kulturgeschichte der Kybernetik wird aufgearbeitet in Claus Pias (Hg.), Cybernetics | Kybernetik. The Macy-Conferences 1946-1953. Band II: Essays und Dokumente, Zürich/Berlin: Diaphanes 2004 und Michael

1. Einleitung – Das Unbehagen in der digitalen Kultur

netischen Bemühungen um ein Vokabular, das Informationsprozesse samt ihrer zentralen Mechanismen wie zirkulärer Kausalität und Feedback präziser beschreibbar und vor allem steuerbar macht. In den 1970er-Jahren beginnt ebendiese Computertechnik in Form von Micro, Home und schließlich Personal Computers in die Haushalte von Privatnutzern einzuziehen. Aufgrund der Leistungssteigerung einzelner Komponenten und einer fortschreitenden Miniaturisierung von Bauteilen sind tragbare Computer in Form von Laptops, Netbooks und Tablets heute die Regel, während die Entwicklung echter Wearables, d. h. direkt am Körper applizierter Computertechnik in Form von Datenbrillen, Smartwatches etc., sich gerade erst ausdifferenziert. Was mit tragbarer Computertechnik auf sehr grundsätzliche Weise zur Debatte steht, ist das Projekt einer Veralltäglichung und auch räumlichen Ausweitung kybernetischer Prinzipien von Feedback und Kontrolle. Diese sind nun nicht mehr bloß in Expertenkreisen bzw. im Kontext wissenschaftlicher Diskurse relevant, sondern setzen an den Lebensprozessen selbst an und stellen diese in umfassender Weise zur Disposition, häufig nach Maßgabe funktionalistischer Imperative kapitalistischer Akkumulation.21 Oft handelt es sich bei den betreffenden Prozessen um solche aus Bereichen, die bislang von Vorgängen der Verdatung ausgenommen waren. Wenn alltägliche Praktiken und Körpertechniken wie Gehen, Schlafen und Körperpflege zum Bestandteil informationeller Regelkreise, d. h. auf Grundlage von in der Vergangenheit erhobenen Daten verändert werden, bilden sie eine Datenbasis, an der Techniken der Optimierung, des Marketings, der Überwachung etc. angreifen können. Der Gegenstand der vorliegenden Arbeit, das sogenannte Smartphone (worunter man für gewöhnlich ein Mobiltelefon mit Internetfunktionalität und leistungsfähigem Prozessor versteht) nimmt in der Reihe mobiler Computertechnologien eine historisch wie strategisch herausgehobene Rolle ein, wenn man nach der Kybernetisierung des Alltags fragt. Was nämlich im Weiteren fokussiert werden soll, ist eine Etappe in der Mediengeschichte des Computers, in der dieser in ein neues Verhältnis der Intimität und Nähe zum menschlichen Körper tritt. Im Smartphone überlagern sich historische Integrationsutopien von Mensch und Computer – die z. B. prominent

Hagner/Erich Hörl (Hg.), Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008. 21  | Vgl. Till A. Heilmann: »Datenarbeit im ›Capture‹-Kapitalismus. Zur Ausweitung der Verwertungszone im Zeitalter informatischer Überwachung«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 13/2 (2015), S. 35-47, der von der »technologischen Komplizenschaft der digitalen Medien an der fortschreitenden Expansion kapitalistischer Verwertung« (ebd., S. 37) spricht. Damit ist gemeint, dass sich im Zuge der Proliferation computerbasierter Medien im Alltag eine auf Vollständigkeit zielende Erfassung von scheinbar trivialen Aspekten des Privatlebens durchsetzt, die es erlaubt, ökonomische Prinzipien in bis dato unregulierten Bereichen einzuführen. Vgl. ausführlicher zu diesem Punkt Kapitel 6.1 der vorliegenden Arbeit.

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formuliert in Lickliders Mensch-Computer-Symbiose vorliegt22 – mit einem Prozess gesellschaftlicher Kybernetisierung, der in einem engen Verhältnis zu neoliberalen Kontroll- und Steuerungstechniken steht. Das äußerlich unscheinbar wie ein inzwischen vertraut wirkendes Mobiltelefon auftretende Smartphone hat in hochindustrialisierten Ländern mit stabilen Infrastrukturen in kürzester Zeit einen beachtlichen Marktsättigungsgrad erreicht.23 Als historische Schwellentechnologie partizipiert das Smartphone an kulturell habitualisierten Nutzungsweisen mobiler Medien – Telefonieren, Fotografieren, Musikhören, Spielen –, während es gleichzeitig eine Epoche digitaler Nahkörpertechnologien einläutet, deren Erscheinungsweisen und Nutzungskontexte sich gerade erst ausdifferenzieren. Keineswegs soll mit der Konzentration auf ein Einzelmedium behauptet werden, dieses habe eine gleichsam überhistorisch stabile Bedeutung bzw. auch nur in allen Kontexten gleichbleibende Eigenschaften. Der anhaltende technische Wandel würde jede Generalisierung historischer Akzidenzien medienwissenschaftlich unzulässig machen.24 Vielmehr geht es um die Herausarbeitung eines historischen Moments, der rückblickend zwar als Transitionsphase hin zu etwas Neuem erscheint, ohne dass dies allerdings irgendeine Spekulation über das Kommende einschließt. Darüber hinaus ist das Smartphone nicht für sich als Technik bedeutsam, sondern nur dann sinnvoll einzuordnen, wenn es als Teil eines Dispositivs bzw. Apparats25 22  | Vgl. Joseph C. R. Licklider: »Man-Computer Symbiosis«, in: IRE Transactions on Human Factors in Electronics 1/1 (1960), S. 4-11.

23  | Die International Telecommunication Union (ITU) gibt für 2015 eine globale

Penetrationsrate von 44,2 % für »[a]ctive mobile-broadband subscriptions« an, für die sog. »developed world« sogar 87,1 %. 2010 lagen die Raten noch bei 11,5 % bzw. 44,7 % für die »developed world«. Vgl. die aggregierten Daten auf http://www.itu.int/en/ITU-D/Statistics/Pages/stat/default.aspx, zul. aufgeruf. am 30.1.2017. Die Kategorisierung in »developed« und »developing countries« folgt dem UN M49-Standard für statistische Erhebungen. Vgl. http://unstats. un.org/unsd/methods/m49/m49regin.htm, zul. aufgeruf. am 30.1.2017. 24  | Vgl. Joseph Vogls Diktum, »dass es keine Medien gibt, keine Medien jedenfalls in einem substanziellen und historisch dauerhaften Sinn«. [Hervorhebung im Original, dies wird im Folgenden nicht mehr eigens gekennzeichnet] (Joseph Vogl: »Medien-Werden: Galileis Fernrohr«, in: Lorenz Engell/Joseph Vogl (Hg.), Mediale Historiographien, Weimar: Univ.-Verl. 2001, S. 115-123, hier S. 121) 25  | Vgl. für die Differenzierung von Dispositiv und Apparat Kapitel 2.6 der vorliegenden Arbeit. Mit Thomas P. Hughes verstehe ich unter Technik physische Artefakte und Software, während Technologie soziotechnische Systeme bezeichnet. Vgl. Thomas P. Hughes: »Technological Momentum«, in: Merritt R. Smith/Leo Marx (Hg.), Does Technology Drive History? The Dilemma of Technological Determinism, Cambridge, Mass.: MIT Press 1994, S. 101-113, hier S. 102. Das Kompositum Nahkörpertechnologie stellt also insofern terminologisch eine Provokation dar, als dass der nahkörperliche und daher scheinbar intime

1. Einleitung – Das Unbehagen in der digitalen Kultur

verstanden wird, zu dem neben den Praktiken des Mediengebrauchs u. a. auch Begleitdiskurse, institutionelle Arrangements und Infrastrukturen zu zählen sind. Schließlich aber ist das Smartphone gerade aus dem Grund ein geeigneter Fokus für die vorliegende Untersuchung, weil es im Gegensatz zu neueren Wearables, die erst in den letzten Jahren nach und nach auf den Markt kommen – die Apple Watch mag als prominent diskutiertes Beispiel dienen26 –, inzwischen eine stark veralltäglichte Technologie darstellt. Die kulturelle und soziale Bedeutsamkeit eines neuen Mediums lässt sich häufig erst dann angemessen beurteilen, wenn es zwar technisch trivial geworden, aber dafür tief in die gesellschaftlichen Strukturen eingebettet ist.27 Einerseits soll es also darum gehen, die Geschichte einer engen Kopplung zu erzählen, die im historischen Resultat dazu geführt hat, dass vernetzte Computer heute kaum noch primär als räumlich fixierte Arbeitsgeräte wahrgenommen werden, sondern in einer intimen Relation zu Anwenderkörpern verortet sind. Zwischen den militärisch-akademischen Großrechenanlagen der 1950er-Jahre und den heute gebräuchlichen Smartphones, die auch an so privaten Orten wie dem eigenen Bett häufig in die Hand genommen werden, liegt eine Personalisierungsgeschichte, deren technische, ökonomische und soziokulturelle Parameter in einer engen Wechselwirkung stehen. Die Vermutung ist, dass es gerade die vergleichsweise rezente und zunehmend intensivierte Körpernähe aktueller Computertechnologien, und damit verbunden ihre Einbettung in alltägliche Praktiken und Routinen sind, die zur Krisenförmigkeit der zeitgenössischen Bezugnahmen führen. Der Computer scheint uns auf eine unbehagliche Weise nah auf den Leib gerückt zu sein.28 In einem zweiten Schritt – und hier liegt der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit – wird es dann darum gehen, ein kulturwissenschaftlich anschlussfähiges Beschreibungsvokabular für die Verkörperungsprozesse des Smartphones zu entwickeln. Welche Konzepte stehen zur Verfügung, mit denen sich insbesondere die Beiläufigkeit des Gebrauchs, die ständige und weitgehend automatisierte Verwendung von digitalen Nahkörpertechnologien begrifflich fassen lassen? Forschungsleitende Hypothese Technikgebrauch mit dem systemischen Charakter der verwendeten Technik in Verbindung gebracht wird. 26  | Vgl. für eine auf Interface-Aspekte konzentrierte Diskussion der Apple Watch Jan Distelmeyer: Machtzeichen. Anordnungen des Computers, Berlin: Bertz und Fischer 2017, S. 72-82. 27  | Vgl. Felix Stalder: Kultur der Digitalität, Berlin: Suhrkamp 2016, S. 20. Vgl. außerdem Wendy Hui Kyong Chun: Updating to Remain the Same. Habitual New Media, Cambridge, Mass.: MIT Press 2016, S. 1: »[O]ur media matter most when they seem not to matter at all, that is, when they have moved from the new to the habitual.« [Fettsetzung im Original] 28  | Vgl. zum Distanzabbau durch körpernahe digitale Medien und der damit einhergehenden »Medialität einer paradoxalen Nähe« Michael Andreas/Dawid Kasprowicz/Stefan Rieger: »Technik | Intimität. Einleitung in den Schwerpunkt«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 15/2 (2016), S. 10-17, hier S. 12.

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ist, dass digitale Nahkörpertechnologien, angefangen mit dem Smartphone, auf einer körperlich-automatisierten Ebene wirksam werden, die weitgehend vom Bewusstsein entkoppelt ist. Erst dieses habituelle Wirksamwerden bildet die Voraussetzung für am Alltag ansetzende Praktiken der Verdatung. In diesem Zusammenhang wird weiter zu bedenken sein, inwiefern die zur Beschreibung von körperlichen Habitualisierungsprozessen herangezogenen Konzepte selbst in die Macht- und Wissensgeschichte der Kybernetisierung verstrickt sind. Auf eine analoge Weise soll dann nach dem technologischen Unbewussten des Smartphones gefragt werden, insofern das in der Hand gehaltene Objekt immer nur den sichtbaren Teil eines unüberschaubar ausgreifenden Verwendungszusammenhangs ausmacht, zu dem unter anderem technische Infrastrukturen, aber auch die Kontexte von Datenerfassung, -sammlung und -auswertung zu zählen sind. An dieser Stelle wird weiterhin zu klären sein, welche strategische Rolle digitale Nahkörpertechnologien in postkybernetischen Kontrollregimen und Ordnungspolitiken einnehmen. Mit ›postkybernetisch‹ ist hier einerseits gemeint, dass die diskutierten neuen Kontrollweisen, Managementstrukturen und Vermarktungsansätze sich nicht als kybernetisch ausweisen, als Kontroll- und Steuerungsphänomene allerdings dennoch in einer kybernetischen Tradition verortet werden müssen. Zum anderen ist damit ein Steuerungsansatz benannt, der in erster Linie an der Gestaltung informationeller und materieller Umwelten (räumlich) und von Zukünften (zeitlich) ansetzt. Das Ziel ist somit tendenziell eine Durchstrukturierung des Möglichkeitsraums selbst: Über die Vorauswahl von Optionen und die Gestaltung von Affordanzen werden bestimmte Verhaltensmuster wahrscheinlicher und damit kalkulierbar.29 Zentrale These ist, dass das Smartphone zum bedeutendsten Agenten der Kybernetisierung des Alltags avanciert ist, indem es eine technische Plattform bietet, an der eine ganze Reihe von Überwachungs- und Erfassungsdispositiven andocken können. Damit erscheint es als Wegbereiter einer umfassenden Informatisierung des physischen Raums, die noch weitgehend uneingelöste Szenarien wie Ubiquitous bzw. Pervasive Computing und das sogenannte Internet der Dinge vorwegnimmt. Während die flächendeckende Einbettung von Mikroprozessoren in alltägliche Gebrauchsgegenstände immer noch mehr Leitbild als Realität ist, trägt ein Großteil der Bürger in hochentwickelten Industrieländern bereits jederzeit ein Smartphone mit sich und ist damit Teil einer emergenten Kontrollarchitektur. 29  | Vgl. die prägnante Formulierung in Wolfgang Streeck: »Kunde oder Terrorist?«, in: Frank Schirrmacher (Hg.), Technologischer Totalitarismus. Eine Debatte, Berlin: Suhrkamp 2015, S. 247-256, hier S. 256: »In den riesigen Datenspeichern des digitalen Kapitalismus erscheint das Individuum vor allem in seiner zu steuernden Potentialität: als Konsument oder als Terrorist. Seine im erdumspannenden Netz der digitalisierten Sozialbeziehungen hinterlassenen Spuren bilden das Rohmaterial einer neuartigen Vorwärtskontrolle menschlichen Handelns«.

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1.1 M e , my phone and I – D igitale N ahkörpertechnologien aus medienanthropologischer P erspektive Das Smartphone ist selbstverständlich nicht die erste körpernahe Technik, sondern es steht als vernetzter Kleincomputer in einer Reihe mit älteren ›Körpermedien‹ wie herkömmlichen Mobiltelefonen, Notizblöcken, Brillen, Taschen- oder Armbanduhren, Fotoapparaten, Musikabspielgeräten vom Taschenradio über den Walkman bis zum MP3-Player, usw. Jon Agar beginnt seine Geschichte der Mobiltelefonie mit einem historischen Vergleich zur Taschenuhr, die als Emblem des Industriekapitalismus einen ähnlichen Stellenwert eingenommen habe wie Mobiltelefone im frühen 21. Jahrhundert: »At first sight it might seem as if owning a pocket watch brought freedom from the town clock and the church bell, making the individual independent of political and religious authorities.«30 Als direkt am Körper getragene Hochtechnologie war die Taschenuhr allerdings auf ein dahinter stehendes System der Standardisierung und Regulierung von Zeit angewiesen, um nutzbringend eingesetzt werden zu können. Die durch die Taschenuhr gewonnene Mobilität, Flexibilität und Unabhängigkeit der Zeitmessung von natürlichen Indikatoren standen in einem Spannungsverhältnis zu den Infrastrukturen und internationalen Vereinbarungen, die eine vereinheitlichte Zeitmessung erst möglich machten. Außerdem waren die Individuen durch die Möglichkeit der jederzeitigen Kontrolle einer verbindlich geregelten Uhrzeit nun einem terminlichen Regime unterworfen, das wenig Spielraum für Aushandlungen ließ.31 Mit der Armbanduhr intensivierte sich die Verschiebung des sozialen Erlebens von Zeit und Raum, die mit der Taschenuhr begonnen hatte. Andy Clark beschreibt im Anschluss an David S. Landes, wie die mobile Zeitmessung als Sozialtechnologie verinnerlicht wurde: The presence of easily accessible, fairly accurate, and consistently available time-telling resources enabled the individual to factor time constantly and accurately into the very heart of her endeavors and aspirations. 32

30  | Jon Agar: Constant Touch. A Global History of the Mobile Phone, Cambridge, UK: Icon Books 2013 [2003], S. 9f.

31  | Vgl. ebd. und Jason Farman: Mobile Interface Theory. Embodied Space and Locative Media, New York: Routledge 2012, S. 3f.

32  | Andy Clark: Natural-Born Cyborgs. Minds, Technologies, and the Future of

Human Intelligence, New York: Oxford University Press 2003, S. 40. Clark stützt sich in seinen Ausführungen zu den verschiedenen Techniken der Zeitmessung auf David S. Landes: Revolution in Time. Clocks and the Making of the Modern World, Cambridge, Mass.: Belknap Press of Harvard University Press 1983.

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Die Frage nach der Uhrzeit wird, so Clark, in aller Regel mit einer spezifischen und weitgehend unreflektierten Körpergeste beantwortet: »a controlled, punch-like extension of the arm, a clockwise half-rotation of the emerging wrist, and a slight lowering of the gaze«.33 Das jederzeit und überall potenziell zugängliche Wissen um die Uhrzeit ist zum verkörperten Vermögen eines hybriden biotechnologischen Systems geworden, das die Armbanduhr mit einschließt. Es sind exakt solche Hybridisierungen oder Amalgamierungen von medialen Artefakten und Körpern, die im Mittelpunkt der vorliegenden Auseinandersetzung mit digitalen Nahkörpertechnologien stehen. Innerhalb der Medienwissenschaft ist die Frage nach den »Verbindungen von Körper und Medien«34 insbesondere im Feld der Medienanthropologie verhandelt worden.35 Der Fragehorizont der Medienanthropologie bestimmt daher das vorliegende Projekt, ohne dass damit schon eine Festlegung auf einen bestimmten theoretischen oder methodischen Zugang getroffen wäre. Mit Matthias Uhl lassen sich mindestens drei Bedeutungsdimensionen von ›Anthropologie‹ unterscheiden: 1. eine naturwissenschaftliche, z. B. evolutionsbiologische Sicht auf ›den Menschen‹; 2. die ethnologische oder ethnografische Erforschung soziokultureller menschlicher Gruppen (diese Begriffsverwendung ist insbesondere in der US-amerikanischen Anthropology gängig); 3. eine philosophisch grundierte Frage nach dem Wesen und Status des Menschen, so z. B. in der deutschsprachigen philosophischen Anthropologie (Max Scheler, Helmuth Plessner, Arnold Gehlen, u. a.).36 Medienanthropologische Arbeiten im hier adressierten Sinn schließen an die zuletzt genannten Diskurse an, ohne jedoch die tendenziell ahistorische und essenzialisierende Frage nach einem überzeitlich gültigen Wesen ›des Menschen‹ mit zu übernehmen. Es geht vielmehr darum, die philosophische Leitfrage nach dem Menschen medientheoretisch und kulturtechnisch neu zu grundieren. Eine solche Wendung ist daran erkennbar, dass [die Medienanthropologie] von der Frage, was der Mensch sei, umstellt auf Fra-

33  | Clark: Natural-Born Cyborgs, S. 41. 34  | Nicola Glaubitz/Andreas Käuser/Ivo Ritzer/Jens Schröter/Marcus Stiglegger: »Medienanthropologie«, in: Jens Schröter (Hg.), Handbuch Medienwissenschaft, Stuttgart: Metzler 2014, S. 383-392, hier S. 383. 35  | Vgl. weiterführend den Schwerpunkt »Medienanthropologie« der Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 1 (2013) sowie Christiane Voss/Lorenz Engell (Hg.), Mediale Anthropologie, Paderborn: Fink 2015. 36  | Vgl. Matthias Uhl: Medien – Gehirn – Evolution. Mensch und Medienkultur verstehen. Eine transdisziplinäre Medienanthropologie, Bielefeld: transcript 2009, S. 75.

1. Einleitung – Das Unbehagen in der digitalen Kultur gen nach dem Werden und Gemachtwerden des Menschen, nach seiner Hominisierung und ihren Diskursen, ihren Verfahren, Werkzeugen und Orten in Raum und Zeit. Nicht so sehr was, sondern wo und wann, unter welchen Bedingungen und mithilfe welcher Instrumente und Operationen der Mensch sei, darum, so der Ausgangsgedanke, geht es der Medienanthropologie. 37

Stefan Rieger hat in einer materialreichen Studie gezeigt, dass das Wissen der philosophischen Anthropologie – und damit auch der gesamte Ansatz der Medienanthropologie – in entscheidender Weise von kybernetischen Konzepten geprägt ist.38 »Was immer man über Kybernetik denken, was immer man von ihr halten und wie immer man sie selbst in der Ordnung des Wissens einsortieren mag: Sie ist nicht, entlang den geläufigen Sortierungen und ihrer Topik, das Andere eines Wissens vom Menschen, sondern sie ist ein notwendiger Teil von ihm.«39 Rieger rekonstruiert aus einem weit gestreuten Quellenmaterial eine kybernetische Anthropologie, die eine Gleichursprünglichkeit von Leben und Regelkreis behauptet, sich primär für Steuerungsfragen interessiert und den Organismus als komplexes System auffasst, dem epistemisch mit Konzepten wie Selbststeuerung und -regulation beizukommen sei: Die kybernetische Anthropologie entdeckt und etabliert ihr Subjekt als Subjekt von Wechselwirkungen, Rückbezüglichkeiten, als ein Subjekt, das in der Rückkopplung mit seinen virtuellen Bildern Verhaltensänderungen, Modifikationen vorzunehmen vermag, ein Subjekt, das sich, kurz gesagt, selbst steuert und ins Ziel bringt.40

Gerade die Vorstellung einer rekursiven Selbstbezüglichkeit als Figur des SichSelbst-voraus-seins sei in der Folge zum Kernbestandteil des Begriffs des modernen Individuums avanciert, sodass sich letztlich das Wissen vom Menschen selbst als tiefgreifend kybernetisch imprägniert erweist.41 Dieser Befund bedeutet, dass sich das vorliegende Projekt in einem besonderen epistemologischen Spannungsfeld bewegt. Wenn, wie Rieger schreibt, das anthropologische Wissen spätestens seit den 1940er-Jahren immer auch ein Steuerungswissen ist, dann muss jede Beschreibung historischer Kybernetisierungsprozesse, die sich (medien)anthropologischer Begrifflichkeiten bedient, selbst als Teil einer kybernetischen Wissensordnung aufgefasst werden. Der Akt der Beobachtung ist also 37  | Lorenz Engell/Bernhard Siegert: »Editorial«, in: Zeitschrift für Medien- und

Kulturforschung 1 (2013), S. 5-10, hier S. 5. [Erg. T. K.] 38  | Vgl. Stefan Rieger: Kybernetische Anthropologie. Eine Geschichte der Virtualität, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003. 39  | Ebd., S. 379f. 40  | Ebd., S. 490. 41  | Vgl. ebd., S. 17.

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ganz im Sinne einer Kybernetik zweiter Ordnung Teil des beobachteten Systems.42 Diese Prämisse wird für die Argumentation in Kapitel 4 der vorliegenden Arbeit im Hinterkopf zu behalten sein. Dort wird ein begriffliches Rahmenvokabular für die Verkörperungsprozesse digitaler Nahkörpertechnologien vorgeschlagen, wobei die verwendeten Konzepte selbst nicht von der Wissens- und Machtgeschichte der Kybernetisierung isoliert werden können. Die medienanthropologisch gefassten Beschreibungsinstrumente sind keine neutralen Tools, sondern Teil der Ordnung der Dinge, die sie lesbar machen. Eine zentrale Intuition der medienanthropologischen Ansätze, und gerade hierin sehe ich ihre besondere Eignung für das vorliegende Projekt, liegt nämlich in der Betonung der anhaltenden Bedeutung wechselseitiger Anpassungs- und Austauschverhältnisse von Körpern und Medien. Damit wird unmittelbar auf Diskurse der Entkörperlichung reagiert, die vor allem in den 1990er-Jahren im Zuge der flächendeckenden Einführung digitaler Medien geführt wurden, und zwar sowohl in utopischen als auch in apokalyptischen Varianten.43 Demgegenüber wird von medienanthropologisch argumentierenden Autoren die Grundannahme geteilt, dass Mensch-Sein mit einer unhintergehbaren leiblichen Verfasstheit zu tun hat, die allerdings von Medien je historisch mit produziert wird. Sich anschließende Fragen betreffen beispielsweise die historische Produktion von Menschenbildern, das aisthetische Verhältnis von Sinnen und Medien, ein Verständnis von Medien als Extensionen des Körpers sowie die Variabilität von Körperbildern im Wechselspiel mit medialen Repräsentationen.44 Die medienanthropologische Herangehensweise zeichne sich laut Christiane Voss und Lorenz Engell dadurch aus, ohne posthumane Spekulationen auszukommen, sondern historisch konkret »nach den Anteilen von Medien und Techniken an der begrifflichen und praktischen Verfertigung menschlicher Existenzformen zu fragen«.45 Das Verhältnis wird dabei nicht als ein nachträgliches gedacht, sondern als eines des Immer-schon-Verschränktseins, sodass sich auch die Wendung von ›anthropomedialen Relationen‹ als terminologische Präzisierung anbietet.46 Eine solche Perspektivierung läuft in Teilen Theorieangeboten entgegen, die im Umfeld von Strukturalismus und Poststrukturalismus entstanden sind, sowie systemtheoretischen Ansätzen, die auf Menschen als Kern und Angelpunkt gesellschaftstheoretischer Entwürfe verzichten.47 Herausragende Vertreter der erstgenannten Diskurse sind u. a. Michel Foucaults Erzählung vom Verschwinden ›des Menschen‹ sowie 42  | Vgl. zur sog. zweiten Welle der Kybernetik N. Katherine Hayles: How We

Became Posthuman. Virtual Bodies in Cybernetics, Literature, and Informatics, Chicago, Ill.: University of Chicago Press 1999, S. 8-11. 43  | Vgl. Glaubitz et al.: »Medienanthropologie«, S. 384. 44  | Vgl. für die genannten Felder der Medienanthropologie ebd, S. 384-388. 45  | Christiane Voss/Lorenz Engell: »Vorwort«, in: Dies., Mediale Anthropologie, S. 7-17, hier S. 10. 46  | Vgl. ebd. 47  | Vgl. Glaubitz et al.: »Medienanthropologie«, S. 384f.

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Friedrich Kittlers daran anschließende dezidiert antihumanistische Medientheorie. Kittler hat gar vor einer »modische[n] Überbetonung des Körpers«48 gewarnt. In einem gelegentlich zynisch-auftrumpfenden Gestus wird in solchen Diskursen ›der Mensch‹ als zentraler Gegenstand theoretischer Bemühungen verabschiedet, worin sich ein Projekt der »Abklärung« formuliert, »Ausgang aus einer selbstverschuldeten Vollmundigkeit, die dem Menschen einen Platz zuweist, der ihm nicht zusteht«.49 Noch die Akteur-Netzwerk-Theorie bezieht einen Großteil ihrer Anziehungskraft aus diesem Projekt einer De-Zentrierung menschlicher Handlungsträger. Hans Ulrich Reck hat darauf hingewiesen, dass zumindest für die deutsche Medientheorie gilt, dass »die heimliche Logik der zur Subjektinstanz gemachten Apparate« eine Art Kompensation für den fallengelassenen Humanismus darstelle.50 Hartmut Winkler äußert die Vermutung, dass übertriebene Technikaffirmation auch auf ihr Gegenteil verweisen könnte, in einer »Art Identifikation mit dem Aggressor«, mit dem Ziel »zumindest mit der eigenen Theorie, wenn schon nicht als human being, auf der Seite der siegenden Maschinen zu sein«.51 Teilt man dagegen die Auffassung von der »Notwendigkeit einer […] auf Operationen der Verstrickung und Trennung, der Bündelung und Entflechtung gegründete[n] Medienanthropologie«52, bietet das Feld der sich rasant entwickelnden körpernahen Medientechnologien einen geradezu prädestinierten Forschungsgegenstand.53 48  | Friedrich Kittler: Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999, Berlin: Merve

2002, S. 199. 49  | Geoffrey Winthrop-Young: Friedrich Kittler zur Einführung, Hamburg: Junius 2005, S. 169. Vgl. kritisch zu Kittlers »Elimination tendenziell sämtlicher ›menschlicher‹ oder sozialer Belange aus der Untersuchung von Medien« Jens Schröter/Till A. Heilmann: »Zum Bonner Programm einer neo-kritischen Medienwissenschaft. Statt einer Einleitung«, in: Navigationen 16/2 (2016), S. 7-36, hier S. 11f. 50  | Hans Ulrich Reck: »›Inszenierte Imagination‹. Zu Programmatik und Perspektiven einer ›historischen Anthropologie der Medien‹«, in: Wolfgang MüllerFunk/Hans Ulrich Reck (Hg.), Inszenierte Imagination. Beiträge zu einer historischen Anthropologie der Medien, Wien: Springer 1996, S. 231-244, hier S. 232. 51  | Hartmut Winkler: »Die prekäre Rolle der Technik. Technikzentrierte versus ›anthropologische‹ Mediengeschichtsschreibung«, in: Claus Pias (Hg.), (Me’dien). Dreizehn Vorträge zur Medienkultur, Weimar: VDG 1999, S. 221-238, hier S. 237 und 235. 52  | Engell/Siegert: »Editorial«, S. 10. 53  | Voss und Engell warnen aufgrund des mangelnden historischen und epistemischen Abstands davor, über »die unterschiedlichen anthropomedialen Formierungen unserer Gegenwart«, wozu insbesondere »digitale Medienformate und Praktiken« zu zählen seien, verbindlich-allgemeingültige Aussagen zu treffen. (Voss/Engell: »Vorwort«, S. 16) Die im vorliegenden Projekt formulierten Analysen sind daher einerseits immer auch als heuristische Annäherungen zu verstehen, und stehen andererseits nicht losgelöst von einer historischen Her-

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Bärbel Tischleder und Hartmut Winkler haben sich angesichts der Verbreitung von Mobiltelefonen Anfang der 2000er-Jahre gefragt, wie dieses Medium zu deuten [sei], das gezielt und erfolgreich den Pakt mit den Körpern sucht? Liegt nicht die Pointe des Handys gerade darin, an die Topographie und die Rhythmen des Somatischen angepaßt zu sein und mit dem individuellen Körper den Raum zu durchqueren? 54

Was hier beschrieben wird, ist eine Logik der Kopplung, ein »Gefüge von Techniken, Körpern und Affekten«55, dessen Komponenten sich wechselseitig hervorbringen, stabilisieren und zuweilen auch irritieren. Der »Pakt mit den Körpern«, den noch die heutigen internetfähigen Endgeräte eingehen, hat eine zusätzliche Pointe darin, dass er im Regelfall unter Ausschluss des Bewusstseins eingegangen wird. Die angesprochenen somatischen Rhythmen, das Körperschema, die Affordanzen des Medienhandelns sind letztlich von einem Eigensinn geprägt, der sich nicht bruchlos auf intentionale Akte zurückführen lässt. Was bei Tischleder und Winkler noch hinreichend harmonisch klingt, ließe sich allerdings auch im Bild einer anderen anthropomedialen Szene fassen. Diese findet sich bei einem Philosophen des 20. Jahrhunderts, der im Anschluss an Husserls Phänomenologie, Heideggers Fundamentalontologie und die Schriften der philosophischen Anthropologie eine originelle, aber auch umstrittene Techniktheorie entwickelt hat. Günther Anders hat 1956 eine Formulierung gewählt, die an Düsternis des Ausdrucks und teleologischer Alternativlosigkeit zwar schwer zu überbieten ist, aber dennoch eine Theorieminiatur enthält, die für das vorliegende Projekt forschungsleitend sein kann. Anders’ Einlassungen sind historisch zu verorten in der aufkommenden Technokratiedebatte in Deutschland, die mit Helmut Schelskys 1961 publiziertem Vortrag »Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation« ihren öffentlichkeitswirksamen Anfang nehmen sollte.56 Die hier in Gänze zitierte Passage entstammt dem ersten Band der Antiquiertheit des Menschen und findet sich im Kontext von Anders’ Erläuterung seines Konzepts der prometheischen Scham, einer menschlichen Identifizierungsstörung »im Zeitalter der Technokratie«57: leitung aus der Medien- und Personalisierungsgeschichte des Computers, die ihnen eine kontextuelle Rahmung und Tiefe verleihen. 54  | Bärbel Tischleder/Hartmut Winkler: »Portable Media. Beobachtungen zu Handys und Körpern im öffentlichen Raum«, in: Ästhetik & Kommunikation 32/112 (2001), S. 97-104, hier S. 100. 55  | Engell/Siegert: »Editorial«, S. 10. 56  | Vgl. Helmut Schelsky: Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, Köln: Westdt. Verlag 1961. 57  | Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen 2. Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München: Beck 2002 [1980], S. 9.

1. Einleitung – Das Unbehagen in der digitalen Kultur In gewissem Sinne dürfen wir uns – aber das ist nun wirklich nur ein Bild – den Menschen wie in der Klemme zwischen zwei Blöcken, wie eingeengt von zwei Mächten, vorstellen, die ihm beide sein Ich-sein streitig machen: auf der einen Seite beengt von der Macht des ›natürlichen Es‹ (von der des Leibes, der Gattung usw.); auf der anderen von der des ›künstlichen‹ (bürokratischen und technischen) ›Apparat-Es‹. Schon heute ist der ausgesparte, dem Ich übrig gelassene Platz ganz schmal; und da das Apparat-Es Schritt um Schritt näher rückt, dem Ich immer näher auf den Leib, wird der Platz von Tag zu Tag schmaler; die Gefahr, daß das Ich zwischen diesen beiden nicht-ichhaften Kolossen zerdrückt werde, täglich größer; die Hoffnung darauf – denn Millionen hoffen ja auf diese Katastrophe, das heißt: auf einen technokratischen Totalitarianismus – täglich berechtigter. Wenn dieses Ende morgen oder übermorgen eintritt, wird der letzte Triumph ausschließlich dem Apparat zufallen; denn dieser wird sich, bei seiner Gier, alles und gerade das ihm Fremdeste zu verschlingen, nicht nur das Ich einverleibt haben, sondern auch das andere ›Es‹: den Leib. 58

Alle drei von Anders gebrauchten Terme (Ich – ›natürliches Es‹ – ›Apparat-Es‹) sind voraussetzungsvoll und daher erklärungsbedürftig. Stellt man die Frage der Definition einen Augenblick lang zurück, scheint sich jedenfalls aus der Formulierung das Bild einer Gleichung mit (mindestens) zwei Unbekannten herauslesen zu lassen, zwischen denen sich das bewusste Handlungssubjekt (das ›Ich‹) wiederfindet. Weder erscheint der technisch-bürokratische Apparat als transparent in Hinblick auf seine Bestandteile und gebündelten Interessen, noch ist der eigene Körper unmittelbar gegeben, das heißt in seinen Vollzügen jederzeit nachvollziehbar. Anders markiert also eine doppelte Unverfügbarkeit als Denkanreiz für eine Subjektivierungstheorie, wobei das Subjekt durchgängig als gefährdetes erscheint.59

58  | Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen 1. Über die Seele im

Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München: Beck 2010 [1956], S. 82. 59  | Mit Anders ließen sich aktuelle Ansätze zu einer Kritik algorithmischer Gouvernementalität einer medienanthropologischen Re-Lektüre unterziehen. In diesen Arbeiten wird davon ausgegangen, dass generell nicht Subjektivierung das Ziel algorithmischer Gouvernementalität sei, sondern vielmehr unterhalb der kognitiven Ebene liegende Potenzialitäten, z. B. Reflexe und Gewohnheiten, die sich zu antizipierbaren Mustern verdichten. Vgl. Antoinette Rouvroy: »The End(s) of Critique. Data Behaviourism Versus Due Process«, in: Mireille Hildebrandt/ Katja d. Vries (Hg.), Privacy, Due Process and the Computational Turn. The Philosophy of Law Meets the Philosophy of Technology, Abingdon: Routledge 2013, S. 143-165, hier S. 152-157.

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Das Forschungsprogramm der vorliegenden Arbeit besteht in einer Exploration der beiden unbekannten Variablen und ihrer Verflechtungen am Gegenstand internetfähiger digitaler Nahkörpertechnologien. Einerseits soll gezeigt werden, wie ein körperliches Unbewusstes an der Subjektkonstitution beteiligt ist und wie körpernahe vernetzte Objekte darin ihren Ort finden. Dazu werden (1) kulturwissenschaftlich etablierte Konzepte wie das der Körpertechniken, der Affordanzen und des Körperschemas dahingehend befragt, inwiefern sie Dimensionen der körperlichen Praxis beschreiben können, die die individuelle Verfügbarkeit überschreiten. Auf der anderen Seite gilt es (2) mit Bezug auf digitale Nahkörpertechnologien zu klären, was heute unter dem Begriff des Apparat-Es verstanden werden kann und inwiefern sich darin ein technologisches Unbewusstes ausdrückt.60 Zur Adressierung dieses Sachverhalts werden u. a. Infrastrukturen mobiler Internetnutzung in den Fokus der Aufmerksamkeit geraten, die die materielle Grundlage für Verdatungspraktiken, beispielsweise für Verfahren der Lokalisierung, darstellen. Damit wird die environmentale Beschaffenheit von Technik zum Thema, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt hat.

1.2 Körperlich -U nbewusstes und Technologisch -U nbewusstes: A utomatismen Der Begriff des Unbewussten ist für beide Fragen zentral. Er bezieht sich nicht vorrangig auf das freudsche Unbewusste der Psychoanalyse, sondern eher auf eine Dimension der Praxis, sowohl des individuellen Handelns als auch des technischen Operierens, welche jeweils für sich Intransparenzen, Einschlüsse und opake Zonen generieren. Grundsätzlich sind mit dem Unbewussten Einflussgrößen markiert, die als unartikulierte Bedingungen Handlungen und Prozesse mitprägen. Sie lassen sich für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung einerseits auf der Seite des Körpers verorten, einer materiellen Ich-Struktur, die niemals in Gänze intentionaler Kontrolle unterstellt werden kann, sondern als weltgenerierende Instanz apriori60  | Zum technologischen Unbewussten vgl. Nigel Thrift: »Remembering the

Technological Unconscious by Foregrounding Knowledges of Position«, in: Environment and Planning D: Society and Space 22/1 (2004), S. 175-190 und Kapitel 5 dieser Arbeit. Auch in der Apparatusdebatte, die in den 1970er-Jahren in Frankreich geführt wurde, findet sich bereits die Vorstellung eines TechnischUnbewussten. Vgl. Hartmut Winkler: Der filmische Raum und der Zuschauer. ›Apparatus‹ – Semantik – ›Ideology‹, Heidelberg: Winter Universitäts-Verlag 1992, S. 19-76, besonders S. 30 zu Jean-Louis Comollis Verwendung des Konzepts. Auch auf die Apparatusdebatte wird also zurückzukommen sein, insbesondere weil der Begriff des Apparats selbst eine Explikation erfordert.

1. Einleitung – Das Unbehagen in der digitalen Kultur

sche Züge aufweist.61 Andererseits gibt es technische Faktoren – Interfaces, Protokolle, Plattformen und Infrastrukturen –, die die Praktiken des Mediengebrauchs mitbestimmen, ohne den handelnden Subjekten transparent zu sein. Damit ist eine weitere Unverfügbarkeit markiert, die zwar jenseits des Ich verortet ist, im Zuge der Proliferation digitaler Nahkörpertechnologien aber aufs engste mit diesem verbunden wird. Die Engführung von Unbewusstem und Maschine hat in der Psychologie und Psychopathologie Tradition. Schon im 17. Jahrhundert – also lange vor der ›Entdeckung‹ des Unbewussten durch die Psychoanalyse – wurden technische Metaphern und Modelle verwendet, um »das willentlich Unkontrollierbare, das Selbstläufige und Eigendynamische menschlichen Erlebens und Verhaltens zu beschreiben«.62 Insbesondere das Uhrwerk und der Automat dienten bei Descartes und im 18. Jahrhundert in übersteigerter Form in La Mettries L’homme machine als Ausgangspunkte für eine Automaten-Theorie des Körpers.63 Der Begriff des ›Automatismus‹, zuerst von englischen Physiologen für stark routinisierte Handlungsabläufe im Bereich der Motorik verwendet, wurde Ende des 19. Jahrhunderts schließlich in der Psychopathologie aufgegriffen und diente dort der Beschreibung von Bewegungen und Denkmustern im Schlaf und in bestimmten psychischen Episoden wie Hysterie, Somnambulismus und Epilepsie.64 Der Automatismus bildet somit eine begriffliche Brücke zwischen dem 61  | Dies kommt treffend in Plessners philosophisch-anthropologischer Differenzierung von Leib und Körper zum Ausdruck. Demnach hat der Mensch einen Körper, während er gleichzeitig sein Leib ist. Während der Körper als materielle Ausdehnung im mathematisch-physikalischen Raum prinzipiell als »Ding unter Dingen« erscheint, ist der Leib unhinterschreitbare Bedingung von Existenz und Erfahrung, oder, wie Plessner schreibt, ein »um eine absolute Mitte konzentrisch geschlossenes System«. Vgl. Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin: de Gruyter 1975 [1928], S. 294. Vgl. zusammenfassend Thomas Alkemeyer: »Verkörperte Soziologie – Soziologie der Verkörperung. Ordnungsbildung als Körper-Praxis«, in: Soziologische Revue 38 (2015), S. 470-502, hier S. 483: »Im Unterschied zu ›Körper‹ im Sinne eines dreidimensional ausgedehnten Dinges thematisiert ›Leib‹ analytisch den lebendigen, berührbaren, zu reflexiv-spürender Selbstorganisation befähigten Organismus.« 62  | Henning Schmidgen: Das Unbewußte der Maschinen. Konzeptionen des Psychischen bei Guattari, Deleuze und Lacan, München: Fink 1997, S. 11. 63  | Vgl. Hannelore Bublitz/Irina Kaldrack/Theo Röhle/Mirna Zeman: »Einleitung«, in: Dies. (Hg.), Automatismen – Selbst-Technologien, München: Fink 2013, S. 9-41, hier S. 12-19. 64  | Vgl. Schmidgen: Das Unbewußte der Maschinen, S. 11f. Zu nennen ist hier insbesondere Pierre Janets 1889 veröffentlichte Doktorarbeit L‘automatisme psychologique. Janet geht davon aus, dass psychologische Automatismen

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Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien

Psycho-Somatischen und dem Technischen. Seitdem kursieren bei Freud, bei Lacan und in modifizierter Form auch noch bei Deleuze und Guattari Maschinenvorstellungen des Unbewussten.65 Henning Schmidgen hat am Anti-Ödipus eine Modifikation der gängigen Narration herausgearbeitet, nach der das Unbewusste wie eine (abstrakte) Maschine strukturiert sei. Deleuze und Guattari legen eine chiastische Verschränkung nahe: Als Kehrseite der Frage nach den Maschinen des Unbewussten identifizieren sie die Exploration des Unbewussten der Maschinen. Das fertige technische Objekt wird von Deleuze und Guattari in doppelter Hinsicht relativiert: Einerseits wird es in Beziehung gesetzt zu den materiellen und semiotischen Komponenten, die bei seiner Erfindung und Konstruktion zusammengefügt worden sind; andererseits wird es in den sozialen und ökologischen Kontext, in den Zusammenhang der ›Gesellschaftsgefüge‹ gestellt, in dem es je nach spezifischen Umständen diese oder jene Wirkung entfaltet. 66

In Anlehnung an ein solches Projekt wird auch die vorliegende Arbeit verfahren, wenn weder die Grenzen von Subjekten noch die von Objekten als statische Gegebenheiten vorausgesetzt werden. Stattdessen geht es um die Beschreibung von Assemblagen, um den Nachweis von Verschränkungen zwischen körperlichem und technologischem Unbewussten, um »Wirkungszusammenhänge […], in denen sich menschliche und maschinelle, technische und soziale, materielle und semiotische sowie affektive und kognitive Komponenten mischen«.67 Die Frage nach der Konstitution von Relationen zwischen Selbst und Objekt – die eine Hybridisierung einschließen, innerhalb derer gerade nicht mehr trennscharf zwischen beiden Polen unterschieden werden kann – ist eine nach der Entstehung und Stabilisierung von Strukturen. Da diese Strukturentstehung ohne bewusste Planung verläuft und keine zentrale Instanz das Geschehen steuert, bietet es sich an, zu ihrer Analyse auf das Konzept der Automatismen zurückzugreifen, wie es seit 2008 am Paderborner Graduiertenkolleg gleichen Namens entwickelt

nicht weniger als die Basis des Selbst ausmachen. Vgl. Bublitz et al.: »Einleitung«, S. 9f. 65  | Vgl. Schmidgen: Das Unbewußte der Maschinen, S. 12f. 66  | Ebd. 67  | Ebd., S. 167. Vgl. ähnlich Joseph Vogl: »Technologien des Unbewußten. Zur Einführung«, in: Claus Pias/Joseph Vogl/Lorenz Engell/Oliver Fahle (Hg.), Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, Stuttgart: DVA 2008, S. 373-376, hier S. 376, der mit Bezug auf die Maschinen-Theorie von Deleuze und Guattari schreibt, es gehe darin analog zu einer Medientheorie um die Rekonstruktion »eine[s] Zusammenhang[s] von Technologien, Gesellschaftsformen und Subjekttypen, der durch eine funktionale Vernetzung von disparaten und heterogenen Elementen hervorgebracht« werde.

1. Einleitung – Das Unbehagen in der digitalen Kultur

worden ist.68 Automatismen schlagen eine Brücke zwischen somatischen Praktiken und technischen Vorgängen, und sie sind in ihrer Prozessualität auf den Ausschluss des Bewusstseins angewiesen. Diese Eigenschaften lassen das Konzept unmittelbar geeignet erscheinen für die Frage nach den Interferenzen von körperlichem und technologischem Unbewussten. Als Automatismen werden im erweiterten Begriffsverständnis des Graduiertenkollegs soziokulturelle, individuelle und technische Prozesse verstanden, die einen gewissen Grad an Verselbständigung aufweisen (die Vorsilbe ›auto-‹ deutet diese Selbsttätigkeit an) und zu ungeplanten outcomes führen können. Automatismen sind unhintergehbar und übersteigen den Horizont jeder subjektiven, willentlichen Verfügbarkeit. Sie fügen sich zu einem Regime hochwirksamer ›Logiken‹ zusammen, ihre Wirkungen sind aber – aufgrund der unüberschaubaren Pluralität der beteiligten Kräfte – in gewisser Weise Zufallseffekte. Sie verdanken sich nicht dem Willen eines planvoll handelnden Subjekts, der sich in ihnen manifestiert, sondern sind Bestandteil eines wirkmächtigen Arrangements von Dingen, Zeichen und Subjekten. 69

Beispielsweise werden in der Automatismenforschung u. a. dezentrale ökonomische Prozesse wie Tausch und Arbeitsteilung, Strukturbildungsprozesse in digitalen Netzwerken, die Herausbildung und Zirkulation von Moden, Trends und Hypes sowie die historisch variablen Diskursfiguren der Massenpsychologie thematisiert.70 Auch die Frage nach dem Selbst im Sinne der Subjektkonstitution lässt sich unter

68  | Vgl. Hannelore Bublitz/Roman Marek/Christina L. Steinmann/Hartmut

Winkler (Hg.), Automatismen, München: Fink 2010, Norbert Otto Eke/Lioba Foit/Timo Kaerlein/Jörn Künsemöller (Hg.), Logiken strukturbildender Prozesse: Automatismen, Paderborn: Fink 2014 und Tobias Conradi: Breaking News. Automatismen in der Repräsentation von Krisen und Katastrophenereignissen, Paderborn: Fink 2015, S. 29-49. 69  | Hannelore Bublitz/Roman Marek/Christina L. Steinmann/Hartmut Winkler: »Einleitung«, in: Dies., Automatismen, S. 9-16, hier S. 10. 70  | Vgl. zu den genannten Beispielen Maik Bierwirth/Oliver Leistert/Renate Wieser (Hg.), Ungeplante Strukturen. Tausch und Zirkulation, München: Fink 2010, Oliver Leistert: »Individuation, Nachbarschaft und Protokoll. Spontane Routen-Emergenz in Meshnetzwerken«, in: Bierwirth/Leistert/Wieser, Ungeplante Strukturen, S. 33-46, Mirna Zeman: »Literarische Moden. Ein Bestimmungsversuch«, in: Maik Bierwirth/Anja Johannsen/Mirna Zeman (Hg.), Doing Contemporary Literature. Praktiken, Wertungen, Automatismen, Paderborn: Fink 2012, S. 111-131 und Christina Bartz: »Die Masse und der Automat als Metapher und Modell«, in: Bublitz et al., Automatismen – Selbst-Technologien, S. 261-274.

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Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien

Rückgriff auf das Konzept der Automatismen adressieren.71 Zentraler Wirkmechanismus von Automatismen ist die Wiederholung, verstanden als Verschränkung von Identität und Varianz.72 Wiederholte Praktiken, Iterationen eines technischen Systems, eingeschliffene Gewohnheiten, ereignisbezogen reaktualisierte Schemata werden als dynamische Momente dergestalt aufgefasst, dass sie in einem »Umschlag von Quantität in Qualität«73 eine emergente Dimension gewinnen. Gleichzeitig dienen Automatismen auf ökonomische Weise einer Reduzierung von Komplexität, weil sie Handlungssequenzen und kognitive Abläufe auf kompakte Weise bündeln und operabel machen.74 Die Automatismenforschung interessiert sich insbesondere auf einem mittleren Abstraktionsniveau für oft implizit bleibende Prozesslogiken und Operationsregeln, die quer zu gängigen Kategorisierungen liegen, wodurch ein systematisierender Vergleich sehr heterogener Phänomenbereiche möglich wird. So bietet sie ein Vokabular für die Beschreibung gerade solcher Prozesse an, »in denen menschliche Handlungsmuster und technische Verfahren miteinander interferieren«.75 Im vorliegenden Projekt wird diese Perspektive eingenommen, um Relationen zwischen nahkörperlichen Vorgängen und technischen Dynamiken nachzugehen, deren Zusammenhang sonst dunkel bliebe. Insbesondere kann das Konzept der Automatismen als Entwicklungsmodell fungieren, das sich zur Beschreibung von Prozessen der körperpraktischen Habitualisierung im Zeitverlauf, aber auch eines technologischen Blackboxing eignet, innerhalb dessen technische Funktionsabläufe auf opake Weise stabilisiert werden.76 Wie diese Prozesse bei digitalen Nahkörpertechnologien zusammenwirken, ineinandergreifen und sich wechselseitig transformieren, und welche anthropomedialen bzw. subjektivierenden Effekte sie zeitigen, sind Kernfragen des vorliegenden Projekts. 71  | Vgl. Bublitz et al., Automatismen – Selbst-Technologien und Kapitel 2.5 der

vorliegenden Arbeit. 72  | Vgl. Conradi: Breaking News, S. 36. 73  | Bublitz et al.: »Einleitung«, S. 13. 74  | Das Graduiertenkolleg führte seit November 2012 den Untertitel »Kulturtechniken zur Reduzierung von Komplexität«. 75  | Dominik Schrage: »Standardisierung und Konsum. Technische, ökonomische und soziale Prozesslogiken am Beispiel des Massenkonsums«, in: Hannelore Bublitz/Irina Kaldrack/Theo Röhle/Hartmut Winkler (Hg.), Unsichtbare Hände. Automatismen in Medien- Technik- und Diskursgeschichte, Paderborn: Fink 2011, S. 171-190, hier S. 187f. 76  | Das Konzept des Blackboxing wird in der Akteur-Netzwerk-Theorie verwendet, um die Verschachtelung von Wissen in stabilen und adressierbaren Funktionseinheiten anzuzeigen, von deren interner Komplexität in der Folge abgesehen werden kann, beispielsweise in Form von technischen Medien, aber auch organisatorischen bzw. institutionellen Arrangements. Vgl. einführend Bruno Latour: Pandora’s Hope. Essays on the Reality of Science Studies, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1999, S. 183-185.

1. Einleitung – Das Unbehagen in der digitalen Kultur

1.3 A ufbau

der

A rbeit

Das folgende einführende Kapitel 2 nähert sich dem Gegenstand zunächst terminologisch und systematisch an. Dazu wird einleitend eine begriffliche Bestimmung vorgenommen, die digitale Nahkörpertechnologien als portable internetfähige Computer definiert, die aufgrund ihrer Größe und Form sowie der temporalen Intensität ihrer Nutzung einen privilegierten Körperbezug aufweisen. Die besondere Diskrepanz zwischen der vermeintlich privaten Interaktion mit einem technischen Objekt im körperlichen Nahraum und den unüberschaubaren Kontexten der technischen Vernetzung dieses Objekts stellt den zentralen Fokus des Kapitels dar. Zu ihrer Untersuchung wird eine analytische Perspektive vorgeschlagen, innerhalb der sowohl die Nutzer digitaler Nahkörpertechnologien als auch die Geräte selbst als relationale Entitäten bestimmt werden. Das Smartphone wird dazu in subjektivierungstheoretischer Hinsicht als Selbst-Technologie verstanden, die mit einem durch seine Verbindungen charakterisierten vernetzten Selbst korreliert. Die Geräte werden anschließend nicht primär als Einzelmedien aufgefasst, sondern als sichtbarer Teil ausgreifender Apparate und damit – ganz analog zu den Subjekten – als Objekte-in-Relation. Im dritten Kapitel wird im Sinne einer medienhistorischen Verortung die Geschichte digitaler Nahkörpertechnologien mit der Kulturgeschichte des Personal Computers und seiner Transzendierungen in Verbindung gebracht, die eine Art Präludium für die vorliegenden Ausführungen darstellt. Dazu wird zunächst der historische Kontext der Konzeption des PCs erläutert, wobei insbesondere auf die gegenkulturellen und kybernetischen Einflüsse auf die Computerentwickler der 1960erund 70er-Jahre in der kalifornischen Bay Area abgehoben wird. Der PC erscheint somit als Resultat eines kollektiven Aneignungsprozesses, im Zuge dessen aus der unpersönlichen und tendenziell bedrohlichen militärischen Computertechnik ein Werkzeug zur individuellen Leistungs- und Bewusstseinssteigerung gemacht wird. Den Schwerpunkt des Kapitels bildet dann eine ausführlichere Fallstudie zu Alan Kays Vision eines Intimate Computing, anhand dessen Diskursgeschichte von den 1970er- bis in die 2010er-Jahre sich wesentliche Akzentverlagerungen in der Mediengeschichte des Computers ablesen lassen. War der Intimate Computer in Kays Vorstellung noch eine eng an die Subjekte gekoppelte kognitive Prothese, die einmal den PC ablösen sollte, verlagern sich die Konnotationen von Intimate Computing heute in Richtung eines Arrangements vernetzter körpernaher Geräte, die in erster Linie als Plattformen zum personalisierten Konsum von Medienangeboten imaginiert werden. Das einen inhaltlichen Schwerpunkt der Arbeit bildende vierte Kapitel entwickelt einen theoretischen Zugriff auf die anthropomedialen Kopplungsverhältnisse von Menschen und digitalen Nahkörpertechnologien. Zur Beschreibung dieser Verkörperungsprozesse werden drei verschiedene Ansätze vorgestellt und auf den Gegenstand bezogen: das wahrnehmungspsychologische Konzept der Affordanzen (James J. Gibson), die kulturwissenschaftlich-sozialanthropologische Klassifizierung von Körpertechniken (Marcel Mauss) sowie eine physiologisch-psychoanalytisch gepräg-

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te Modellierung des Körperschemas (Paul Schilder). Ziel des Kapitels ist die Entwicklung eines Beschreibungsvokabulars, mit dessen Hilfe sich weitgehend unbewusst und habitualisiert erfolgende Praktiken des Mediengebrauchs charakterisieren lassen. Dabei liegt ein besonderes Augenmerk auf der Einbettung körperlicher Praktiken in technologisch gesättigten Umwelten, in denen digitale Nahkörpertechnologien eine zentrale Position der Vermittlung zwischen Individuen und Infrastrukturen einnehmen. In Kapitel 5 wird die Perspektive von den Verkörperungsprozessen digitaler Nahkörpertechnologien auf die diese ermöglichenden Infrastrukturen und Medienökologien erweitert und damit eine politisch-ökonomische Dimension eröffnet. Dazu wird der terminologische Vorschlag gemacht, von einem technologischen Unbewussten des Smartphones zu sprechen, das einerseits Gesten, Verhaltensroutinen und habitualisierte Praktiken prägt, andererseits aber einen Rückraum der Datenerhebung, -verarbeitung und -verwertung andeutet, der aus Sicht des einzelnen Mediennutzers intransparent ist. Zu diesem Zweck wird der Begriff des technologischen Unbewussten in einem Drei-Ebenen-Modell präzisiert und auf Praktiken der Selbst- und Fremd-Lokalisierung mittels Smartphones bezogen. Gerade die Logik der dynamischen Verortung erscheint dabei als zentrale Eigenschaft des Gegenstands, die besonderer Aufmerksamkeit bedarf. Kapitel 6 schlägt schließlich einen größeren kontrollgeschichtlichen Bogen und situiert digitale Nahkörpertechnologien innerhalb von Techniken der Regierung, die sich seit dem späten 19. Jahrhundert, insbesondere aber nach dem 2. Weltkrieg entwickelt haben. Die Möglichkeit der individualisierten Verortung und Verhaltensprognose bzw. -steuerung erscheint dann als gesellschaftliche Antwort auf ein Ordnungsproblem und der Apparat digitaler Nahkörpertechnologien selbst als technische Basis von »Machtdispositive[n]«, die sich »direkt an den Körper schalten«.77 Zentrales Ergebnis des Kapitels ist die Situierung digitaler Nahkörpertechnologien in einer Reihe von Techniken, die auf der Ebene individueller Körper operieren und die das Verhalten von Individuen zur steuerbaren Größe werden lassen. Kapitel 7 führt einige Stränge der Arbeit abschließend an einem Beispiel aus der Praxis der Mobile Data Science zusammen, die sich epistemisch an einem Daten-Behaviorismus ausrichtet. Dies bedeutet, dass das verteilte alltägliche Handeln vieler einzelner Akteure durch die Verfügbarkeit digitaler Nahkörpertechnologien auf aggregierter Ebene zur Wissensressource wird. An diesem Beispiel lässt sich die zentrale These der Arbeit, wie sie zu Beginn der Einleitung vorgestellt wurde, noch einmal in aller Deutlichkeit formulieren: Das Smartphone positioniert sich als Avantgarde und zentraler Agent der fortlaufenden Kybernetisierung des Alltags. Was an der Gegenüberstellung von körperlichem und technologischem Unbewusstem am Gegenstand digitaler Nahkörpertechnologien deutlich werden soll, ist das für die anthropomediale Situation des frühen 21. Jahrhunderts charakteristische 77  | Michel Foucault: Der Wille zum Wissen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1983 [1976], S. 146.

1. Einleitung – Das Unbehagen in der digitalen Kultur

Auseinandertreten der Geltungshorizonte von lokalen verkörperten Praktiken und Datenverwendungskontexten. Die Verwendung von Smartphones im Rahmen alltäglicher, ja banaler Praktiken, die selten reflexiv durchdrungen werden, macht gleichsam blind gegenüber ihrer apparativen Dimension. Diese Diagnose, das will die vorliegende Arbeit zeigen, beschränkt sich nicht auf die lebhaft geführte Debatte um den gefährdeten Status von Privatheit, sondern sie betrifft zentrale Dimensionen des Menschseins in einer zunehmend vernetzten Welt.

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2. Bring Your Own Device – Smartphones als Nahkörpertechnologien Das Problem der Technik ist untrennbar verbunden mit dem des Ortes der Technik. Genauso wie es unmöglich ist, die Natur zu begreifen, ohne sofort die Frage nach dem natürlichen Maßstab zu stellen, ist es unnütz, von der technologischen Entwicklung zu sprechen, ohne unmittelbar die Frage nach der Größe, der Dimensionierung der neuen Technologie aufzuwerfen. Paul Virilio Jetzt erst weiß ich, dass ich ohne Smartphone nicht leben kann. Norbert Bolz

In vielen Unternehmen ist es gängig, den Mitarbeitern einzuräumen, ihre privaten mobilen Endgeräte auch am Arbeitsplatz im Netzwerk der jeweiligen Institution zu nutzen. Die damit verbundenen Sicherheitsherausforderungen, arbeitsrechtlichen Belange und datenschutztechnischen Fragestellungen werden unter anderem von Branchenverbänden diskutiert.1 Sogenannte Bring Your Own Device-Richtlinien belegen darüber hinaus auch die vielfach konstatierte Verwischung der Grenze von Arbeit und Freizeit, insbesondere in kreativen Berufen.2 Sie sind gleichzeitig ein starkes 1  |  Vgl. BITKOM Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation

und neue Medien e. V.: Bring Your Own Device, Berlin 2013. Dem Leitfaden zufolge erlaubten 2013 bereits 43 % der deutschen ITK-Unternehmen ihren Mitarbeitern, eigene Geräte im Firmennetz zu nutzen. (Vgl. ebd., S. 5) 2  |  Vgl. zur flexiblen Inanspruchnahme von Mitarbeitern mittels mobiler Endgeräte und der daraus resultierenden Überlagerung von Arbeitszeit und frei verfügbarer Zeit u. a. Diana Gant/Sara Kiesler: »Blurring the Boundaries. Cell

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Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien

Indiz für die besondere Beziehung, die Nutzer zu ihren mobilen Geräten aufbauen. Offenbar ist es selbst während der Arbeitszeit unzumutbar geworden, sich vom eigenen Smartphone trennen zu müssen, ungeachtet der damit potenziell verbundenen Probleme. Auch für viele im Alltag anfallende Aufgaben – von der Terminplanung über die Recherche von Öffnungszeiten bis zur Navigation in einer fremden Stadt – verlässt man sich auf den digitalen Begleiter in der Hosentasche. Aufgrund einer Vielzahl von personalisierten Diensten und Funktionen wird es zunehmend undenkbar, für einen längeren Zeitraum von den eigenen Geräten getrennt zu sein bzw. ein Fremdgerät nutzen zu müssen. Dass der englische Begriff ›device‹ auch gelegentlich als Übersetzung des von Michel Foucault systematisierten französischen ›dispositif‹Begriffs verwendet wird, gibt dem Bring Your Own Device-Imperativ eine subjektivierungstheoretische Pointe, die in diesem Kapitel herausgearbeitet werden soll.3 Ein denkbarer Ansatzpunkt für die Beschreibung der zuweilen affektiv stark aufgeladenen Objektbeziehungen zu Smartphones wäre eine Bezugnahme auf Literatur aus den Material Culture Studies, beispielsweise auf die Arbeiten Daniel Millers zur Aneignung von Konsumobjekten.4 In diesen vorwiegend ethnografischen Arbeiten wird ein Panorama an Dingrelationen entfaltet, das über einfachen Konsum bzw. einen Fokus auf Funktionalitäten weit hinausgeht. Ähnlich verfahren Arbeiten zu Dingbiografien oder Dingbezügen in autobiografischen Darstellungen, in denen Dinge insbesondere dazu dienen, Rückschlüsse auf die Identität ihrer jeweiligen Besitzer zu ziehen.5 Der Mediensoziologe David Beer fordert in diesem Sinne, gerade die Dimension der Anhänglichkeit an persönliche Dinge in der Forschung zu mobilen Medien stärker zu berücksichtigen: These are the objects that are carried around, often on the person, held in the hand, checked repeatedly, that are associated with everyday routines, that are Phones, Mobility, and the Line between Work and Personal Life«, in: Barry Brown/Nicola Green/Richard Harper (Hg.), Wireless World. Social and Interactional Aspects of the Mobile Age, London: Springer 2001, S. 121-131 und Judy Wajcman/Michael Bittman/Jude Brown: »Intimate Connections. The Impact of the Mobile Phone on Work/Life Boundaries«, in: Gerard Goggin/Larissa Hjorth (Hg.), Mobile Technologies. From Telecommunications to Media, New York: Routledge 2009, S. 9-22. 3  |  Vgl. Michel Callon/Yuval Millo/Fabian Muniesa: »An Introduction to Market Devices«, in: Dies. (Hg.), Market Devices, Malden, Mass.: Blackwell 2007, S. 1-12, hier S. 2f. 4  |  Vgl. Daniel Miller: The Comfort of Things, Cambridge, UK: Polity Press 2008 und Daniel Miller: Stuff, Cambridge, UK: Polity Press 2010. 5  |  Vgl. u. a. Sherry Turkle (Hg.), Evocative Objects. Things We Think With, Cambridge, Mass.: MIT Press 2007 und Joshua Glenn/Carol Hayes (Hg.), Taking Things Seriously. 75 Objects with Unexpected Significance, New York: Princeton Architectural Press 2007.

2. Bring Your Own Device present through ordinary and extraordinary experiences, that develop a history with the owner. 6

Statt also auf die Inhalte und Funktionen von Medien zu fokussieren und die Geräte selbst lediglich als eine Art Fenster in virtuelle Welten zu behandeln, sollten vielmehr die komplexen Beziehungen, die Menschen zu ihnen aufbauen, stärkere Aufmerksamkeit erfahren. Beer fordert, [to] shift the focus away from formats, informatization, digitalization and virtualization toward the objects that people hold in their hands, place in their pockets and bags and doc into their laptops and stereos – in short, the interfaces. With the sense that mobile media are going to form an increasing part of how we live, work and relax, it would seem that questioning the relations formed with these objects is highly pertinent.7

Beer geht es also darum, mobile Medien in ihrem Interface-Charakter und das heißt vor allem als materielle Objekte zu verstehen, die in einem besonderen Verhältnis der Nähe zum Körper stehen. Problematisch an einer solchen forschungsstrategischen Ausrichtung auf alltagspraktische Bezüge ist allerdings die Ausblendung des besonderen Objektcharakters mobiler internetfähiger Medientechnologien. Das Gerät Smartphone ist zwar vordergründig ein persönliches und hochpersonalisiertes Medium, zugleich aber Teil einer medialen Infrastruktur. Ein exklusiver Fokus auf Dingbiografien und die von lokalen Materialitäten bestimmte Interaktion mit Objekten würde hier zu kurz greifen. Stattdessen wird die erlebte Intimität und Personalität des Objekts Smartphone immer wieder von Momenten der Fremdheit durchbrochen, zu deren Beschreibung dyadische Modelle nicht ausreichen. Digitale Nahkörpertechnologien sind Schauplatz und Bündelungspunkt – kurz: Interface – einer Vielzahl von Agenturen, die sich im körperlichen Nahraum verschränken. Es existiert eine besondere Spannung zwischen der vermeintlichen Handlichkeit des Objekts und den weitläufigen Bezugssystemen, in die dieses eingebettet bleibt, und die es potenziell zu einem Fremdkörper im leiblichen Nahraum machen. Eben solche Widersprüchlichkeiten stehen im Fokus der weiteren Ausführungen, die darin über die von Beer vorgeschlagene Perspektive hinausgehen. In diesem Kapitel werde ich zunächst eine terminologische Annäherung an Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien unternehmen (Kapitel 2.1). Danach wird die gewählte Perspektive auf Smartphones als mediale Objekte im körperlichen Nahraum eingeführt und begründet (Kapitel 2.2). Es wird zu klären sein, wie das 6  |  David Beer: »The Comfort of Mobile Media. Uncovering Personal Attachments with Everyday Devices«, in: Convergence: The International Journal of Research into New Media Technologies 18/4 (2012), S. 361-367, hier S. 365. 7  |  Ebd., S. 363.

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Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien

Projekt der Personalisierung des Computers, für das in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts paradigmatisch der Personal Computer (PC) stand, in den Smart Devices des frühen 21. Jahrhunderts eine Fortsetzung findet.8 Die besondere Körpernähe der Geräte ist der hier interessierende neue Aspekt. Sie wird durch erleichterte Portabilität, die flächendeckende Verbreitung drahtloser Datenübertragung, verbesserte Batterien und die Miniaturisierung von Speicher- und Bildschirmtechnologien ermöglicht und erlaubt eine Reihe von veränderten Nutzungspraktiken.9 Diese Perspektive wird im Anschluss in der deutschsprachigen Medienwissenschaft situiert, soweit sich diese explizit mit mobilen Medien auseinandergesetzt hat (Kapitel 2.3). Es folgt eine methodisch-epistemologische Reflexion, die in ein Plädoyer für eine paranoisch-schizophrene Medienwissenschaft mündet (Kapitel 2.4). Damit ist gemeint, dass eine kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit körpernaher Medientechnik weder die Grenzen von Subjekten noch die von Objekten als unproblematisch gegeben voraussetzen kann. Im Anschluss untersuche ich einige Effekte des beobachteten Zusammenrückens von Anwendern und Computertechnologien auf die beteiligten Akteure. Zum einen lässt sich das Smartphone als Medium eines Selbst-in-Relation begreifen, das in permanenten Austauschverhältnissen mit sozialen Kontakten, aber auch anderen Aspekten seiner Umwelt steht (Kapitel 2.5). Die potenziell ständige Konnektivität hat profunde Subjektivierungseffekte. Zum anderen können auch die Geräte selbst nicht isoliert verstanden werden, sondern nur als Teil umfassenderer Gefüge wie Infrastrukturen und Kommunikationsnetze. Als Objekt-in-Relation ist das Smartphone Teil eines weitreichenden Apparats, dessen sichtbaren Teil es darstellt, den es aber nicht vollständig repräsentiert. Im letzten Teilkapitel (Kapitel 2.6) wird daher der Begriff des Apparats eingeführt, vom Begriff des Dispositivs abgegrenzt und auf digitale Nahkörpertechnologien bezogen. Insgesamt dient das vorliegende Kapitel als systematische und terminologische Annäherung an den Gegenstand digitale Nahkörpertechnologien. Auf einer gegenwartsdiagnostischen Grundlage werden dabei zunächst mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet, um das Feld einleitend zu konturieren.

8  |  Zur Aneignungsgeschichte des PCs vgl. Kapitel 3 dieser Arbeit. 9  |  Vgl. Clara Völker: Mobile Medien. Zur Genealogie des Mobilfunks und zur Ideengeschichte von Virtualität, Bielefeld: transcript 2010, S. 13.

2. Bring Your Own Device

2.1 What ’s in a N ame ? – The »device known as the cellphone« 10

formerly



Die erste Hürde, die sich einer systematischen Annäherung an digitale Nahkörpertechnologien stellt, ist die unzureichende begriffliche Differenzierung der entsprechenden Geräte sowohl in der Alltagssprache als auch in akademischen Diskursen. In wissenschaftlichen Veröffentlichungen ist seit den 1990er-Jahren weithin das schlichte ›Mobiltelefon‹ gebräuchlich, womit insbesondere auf die räumliche Dislokation medial vermittelter Kommunikationsakte abgehoben wird (in Abgrenzung zum Festnetztelefon). Diese Bezeichnung ist allerdings insofern irreführend, als das heute gebräuchliche Mobiltelefon »eigentlich ein an ein Telekommunikationsnetz angeschlossener Kleincomputer«11 ist, dessen Funktionalität und mögliche Nutzungsweisen über die reine Telefonie weit hinausgehen. In dieser Perspektivierung stellt sich die behauptete Kontinuität in der Geschichte des Mobiltelefons als problematisch dar: Insofern die Geräte als schlichte Nachfolgemodelle vertrauter Mobiltelefone erscheinen und nicht in erster Linie als portable Computer, kann zwar an eine Reihe habitualisierter Praktiken angeschlossen werden, aber es gerät aus dem Blick, dass internetfähige Kleincomputer etwas wesentlich anderes sind als tragbare Telefone.12 Im journalistischen und im Alltagssprachgebrauch flottieren unzählige Bezeichnungen für klassische Mobiltelefone, die merkliche Bedeutungsverschiebungen entlang geografischer, sozio-ökonomischer und demografischer Achsen einschließen. In Deutschland werden die Geräte häufig schlicht ›Handy‹ genannt, ein Scheinanglizismus, der im angelsächsischen Sprachraum vereinzelt Gefallen gefunden hat.13 In den USA wird die eher nüchterne, an der Übertragungstechnik orientierte Bezeichnung 10  |  Geoffrey Frost, Chief Marketing Officer der Firma Motorola, zit. nach Heike

Weber: Das Versprechen mobiler Freiheit. Zur Kultur- und Technikgeschichte von Kofferradio, Walkman und Handy, Bielefeld: transcript 2008, S. 309. 11  |  Friedrich Krotz/Iren Schulz: »Von mobilen Telefonen zum kommunikativen Begleiter in neu interpretierten Realitäten. Die Bedeutung des Mobiltelefons in Alltag, Kultur und Gesellschaft«, in: Ästhetik & Kommunikation 37/135 (2006), S. 59-65, hier S. 59. 12  |  Vgl. in diesem Sinne auch Souza e Silva, Adriana de: »From Cyber to Hybrid. Mobile Technologies as Interfaces of Hybrid Spaces«, in: Space and Culture 9/3 (2006), S. 261-278, hier S. 273. Als Vergleichsfolie, so de Souza e Silva, biete sich statt der Festnetztelefonie viel eher das (fixe) Internet an. 13  |  Vgl. Jeff Jarvis: »It’s Not a Mobile Phone. So What Is It?«, auf: BuzzMachine, dort datiert am 5.7.2012, http://buzzmachine.com/2012/07/05/its-mobile-phone-so-it, zul. aufgeruf. am 31.1.2017. Das Wort ›Handy‹ kommt von den Handy-Talkies, in der Hand getragenen Sprechfunkgeräten aus dem Zweiten Weltkrieg. In den 1970er-Jahren wurde es zur Bezeichnung von CB (Citizen Band)-Funkgeräten verwendet. Vgl. Regine Buschauer: Mobile Räume. Medien-

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›cellphone‹ bereits in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre zunehmend von der Bezeichnung ›mobile‹ verdrängt.14 In Finnland – dem Herkunftsland des Nokia-Konzerns – heißen sie ›känny‹ oder ›kännyka‹15 (Koseform für ›Erweiterung der Hand‹), in China wird häufig ›shouji‹ (Handgerät) verwendet, in Japan ›keitai‹16 (Kurzform von keitai denwa – tragbares Telefon). Auch andere Bezeichnungen für ›mobile Endgeräte‹ – so der gängige Industrie-Terminus – verweisen auf den menschlichen Körper bzw. die Positionierung daran, z. B. ›Handheld‹, ›Palmtop‹ und ›Pocket PC‹. Am Körper orientierte Bezeichnungen führen eine spezifische Verdeckungsleistung mit sich, insofern zwar auf die Verbundenheit von Trägerkörper und Gerät hingewiesen wird, der darüber hinausgehende Vernetzungscharakter der eingesetzten Technologien insgesamt aber eher unterbelichtet bleibt. Neben den wechselnden Bezeichnungen kann man technische Kriterien identifizieren, an denen der Status eines Geräts als Smartphone festgemacht wird. An erster Stelle ist hier die Möglichkeit zum mobilen, d. h. weitgehend ortsunabhängigen Zugriff auf das Internet zu nennen. Als erste flächendeckende Durchsetzung eines mobil zugänglichen Onlinedienstes kann das 1999 von NTT DoCoMo in Japan eingeführte i-Mode-System gelten.17 Insbesondere E-Mails ließen sich damit komfortabel und diskursgeschichtliche Studien zur Tele-Kommunikation, Bielefeld: transcript 2010, S. 266. 14  |  Vgl. Anthony M. Townsend: »Mobile Communications in the Twenty-First Century City«, in: Brown/Green/Harper, Wireless World, S. 62-77, hier S. 69. Townsend betont, dass damit auch Verschiebungen der kulturellen Semantik einhergehen: Der Fokus der Aufmerksamkeit verlagere sich von der ermöglichenden Infrastruktur auf eine im mobilen Gerät selbst verkörperte Intelligenz. »And unlike linking oneself in one’s mind to some complex and constraining grid of antennas, the idea of augmenting oneself with a tiny, smart device was very appealing«. (Ebd.) 15  |  Vgl. Virpi Oksman/Pirjo Rautiainen: »›Perhaps it is a Body Part‹. How the Mobile Phone Became an Organic Part of the Everday Lives of Finnish Children and Teenagers«, in: James E. Katz (Hg.), Machines that Become Us. The Social Context of Personal Communication Technology, New Brunswick, NJ: Transaction Publishers 2003, S. 293-308, hier S. 294. 16  |  keitai bedeutet so viel wie ›etwas, das man mit sich herumträgt‹. Die Konnotationen des Begriffs sind allerdings weitreichender: »A keitai is not so much about a new technical capability or freedom of motion but about a snug and intimate technosocial tethering, a personal device supporting communications that are a constant, lightweight, and mundane presence in everyday life.« (Mizuko Itō: »Introduction. Personal, Portable, Pedestrian«, in: Dies./Daisuke Okabe/ Misa Matsuda (Hg.), Personal, Portable, Pedestrian. Mobile Phones in Japanese Life, Cambridge, Mass.: MIT Press 2005, S. 1-16, hier S. 1) 17  |  Vgl. Corinna Peil: Mobilkommunikation in Japan. Zur Aneignung des Handys aus kulturwissenschaftlicher Perspektive, Bielefeld: transcript 2011, S. 34-45.

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verschicken und empfangen, während ein uneingeschränktes Web-Browsing nicht möglich war. Websites wurden in einer vereinfachten Sprache (iHTML) programmiert und in einer für die mobile Nutzung adaptierten Variante dargestellt. Als erstes ›echtes‹, d. h. voll internetfähiges, Smartphone avant la lettre wird der Nokia 9000 Communicator aus dem Jahr 1996 gesehen, während das bereits 1992 vorgestellte IBM Simon als erstes Gerät mit einem berührungsempfindlichen Bildschirm aufwarten konnte.18 Während also die Genealogie des Smartphones in die 1990er-Jahre zurückreicht, wird es im öffentlichen Bewusstsein häufig mit der Markteinführung des iPhones der Firma Apple im Jahr 2007 in Verbindung gebracht. Das iPhone markiert tatsächlich einen Wendepunkt in der kulturellen Aufmerksamkeit für internetfähige Mobiltelefone bzw. Kleincomputer: Zum einen ist der Markteintritt von Apple in den Bereich persönlicher Kommunikationstechnologien von einem Nimbus des revolutionären Medienumbruchs umgeben, der mitunter auch den akademischen Diskurs affiziert. Der australische Kommunikationswissenschaftler Gerard Goggin geht ernsthaft so weit, eine »iPhone theory of mobile communication« einzufordern.19 An Gründen für eine Sonderstellung des iPhones in der Geschichte der persönlichen Kommunikationstechnologien nennt er: • die Einführung eines taktil zu bedienenden Multi-Touchscreen-Interfaces, das mehrere Eingabepunkte gleichzeitig erkennen und verarbeiten kann, was den Verzicht auf physische Tasten und Knöpfe erlaubt;

18  |  Auffällig ist, dass im historischen Rückblick gelegentlich das User Inter-

face zum Kriterium der Klassifizierung gemacht wird: »Simon is the first smartphone. It paved the way for the ones of today by introducing touch screens to phones.« (Bill Buxton: »Simon«, auf: Buxton Collection, http://research.microsoft. com/en-us/um/people/bibuxton/buxtoncollection/detail.aspx?id=40, zul. aufgeruf. am 31.1.2017) 19  |  Vgl. Gerard Goggin: »The iPhone and Communication«, in: Larissa Hjorth/ Jean Burgess/Ingrid Richardson (Hg.), Studying Mobile Media. Cultural Technologies, Mobile Communication, and the iPhone, New York: Routledge 2012, S. 11-27, hier S. 17. Die einzige Plausibilität, die sich einer solchen euphorischaffirmativen Forderung abgewinnen lässt, geht zurück auf die ähnlich exponierte Stellung des Sony Walkman, der als epochemachendes portables Musikabspielgerät in den 1980er-Jahren eine vergleichbare Faszination hervorrief und eine Reihe von akademischen Publikationen nach sich zog. Entsprechend versteht sich der Sammelband, in dem Goggins Beitrag veröffentlicht wurde, auch gleichsam als Nachfolger des 15 Jahre zuvor erschienenen Bandes Paul du Gay/Stuart Hall/Linda Janes/Hugh Mackay/Keith Negus (Hg.), Doing Cultural Studies. The Story of the Sony Walkman, London: Sage 1997.

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• eine Sensorik, die in der Lage ist, ein breiteres Spektrum an Inputparametern zu verarbeiten sowie verschiedene kontextuelle Datenquellen miteinzubeziehen (Mikrofon, Kamera, Akzelerometer, GPS, Annäherungs- und Ausrichtungssensoren, Umgebungslichtsensor, Magnetfeldsensoren, Temperatursensoren etc.); • die enge Kopplung von Hard- und Software in einem ökonomisch geschlossenen System von speziell für das iPhone programmierten Applikationen (Apps), die über eine proprietäre Plattform (App Store) heruntergeladen werden können 20; • die Kopplung von Mobiltelefonie mit den Möglichkeiten des mobilen Internets, aus der sich neue Praxen entwickelt haben wie z. B. Voive-over-IP-Telefonie, Videotelefonie, die Nutzung von Social Networking Sites und sog. Location-Based Services oder Locative Media.21 Damit wird der Verkaufsstart des iPhones als Zäsur angesetzt, mit der sowohl eine Auffächerung des Mediengebrauchs als auch eine Konjunktur affektiver Beschreibungsmuster einsetzt, die einer kulturwissenschaftlichen Analyse zugänglich sind.22 Zudem verweisen die Kommentare von Beobachtern rund um die Markteinführung des ersten iPhones auf eine wahrgenommene Vorläufigkeit der Technologie, man könnte sagen: ihren liminalen Charakter. »It is but the ghost of iPhones yet to come«23, orakelte Lev Grossman in einem Artikel in der Time, womit er sich in erster Linie konkret auf zukünftige Versionen des Geräts bezog. Aus medienkulturwissenschaftlicher Perspektive kann seine Aussage aber auch als Indikator einer generellen Zukunftsbezogenheit von Beobachtungen und Zuschreibungen im Feld digitaler Nahkörpertechnologien gedeutet werden. Niemand scheint zu glauben, dass internetfähige Mobiltelefone der 20  |  Das Plattform-Modell wird kritisch diskutiert als Symptom einer Balkani-

sierung des Internets in distinkte Zugriffsmöglichkeiten über Portale, die von verschiedenen Anbietern gestaltet werden. Vgl. Joss Hands: »Introduction: Politics, Power and ›Platformativity‹«, in: Culture Machine 14 (2013). 21  |  Zu den einzelnen genannten Faktoren für eine Sonderstellung des iPhones vgl. Goggin: »The iPhone and Communication«, S. 18-23. Insgesamt ist wohl nicht zuletzt eine erfolgreiche Marketing-Kampagne für die besondere Aufmerksamkeit für das Gerät verantwortlich zu machen. Vgl. Jordan Frith: Smartphones as Locative Media, Cambridge, UK: Polity Press 2015, S. 37. 22  |  Daneben kommt es auch zu einer Verunsicherung klar gezogener disziplinärer Zuständigkeiten. Mobilkommunikationsforschung und Internet Studies waren zunächst institutionell und personell getrennt, konvergieren aber zunehmend. Vgl. Andrew Herman/Jan Hadlaw/Thom Swiss: »Introduction. Theories of the Mobile Internet: Mobilities, Assemblages, Materialities and Imaginaries«, in: Dies. (Hg.), Theories of the Mobile Internet. Materialities and Imaginaries, New York: Routledge 2015, S. 1-11, hier S. 1. 23  |  Lev Grossman: »Invention of the Year: The iPhone«, auf: Time.com, dort datiert am 1.11.2007, http://www.time.com/time/specials/2007/article/0,28804,1677329_16 78542_1677891,00.html, zul. aufgeruf. am 31.1.2017.

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letztgültige Formfaktor sind. Stattdessen stehen die Geräte vor einem Horizont von Wearable Computing-Technologien, die alles von der Armbanduhr oder Smartwatch, dem »Augmented Forearm«24, »SmartFinger«25, der Datenbrille bzw. -kontaktlinse, Smart Clothes und Textiles26 bis hin zu nanorobotischen Hautdisplays27 umfassen. Die Historizität des Smartphones wird schon allein daran ersichtlich, dass die Geräte – obzwar sicherlich zu einer Schlüsseltechnologie des frühen 21. Jahrhunderts herangereift – mit Blick auf Mobilität bzw. Körpernähe von anderen Technologien längst überboten werden, beispielsweise von persönlichen Flugdrohnen oder Implantaten. Vereinzelte Debatten zur Bezeichnung internetfähiger Mobilgeräte demonstrieren, dass es sich dabei um einen unausweichlich politischen, d. h. interessegeleiteten Akt handelt. So fordern die amerikanischen Journalisten Peter Maass und Megha Rajagopalan im Juli 2012 in der New York Times unter Berufung auf den Juristen Paul Ohm, die als ›smartphones‹ vermarkteten Geräte pauschal als »trackers« zu bezeichnen.28 »It’s a neutral term, because it covers positive activities – monitoring appointments, bank balances, friends – and problematic ones, like the government and advertisers watching us.«29 Mit diesem Vorschlag wollen sie neben der aktivistischen Pointe auch der Tatsache Rechnung tragen, dass das Telefonieren nur noch von nachrangiger Bedeutung bei der Nutzung ist.30 Andere Vorschläge in der Na24  |  Vgl. Simon Olberding/Kian Peen Yeo/Suranga Nanayakkara/Jürgen Steim-

le: »Augmented Forearm. Exploring the Design Space of a Display-Enhanced Forearm«, in: Albrecht Schmidt/Andreas Bulling/Christian Holz (Hg.), Augmented Human ’13. Proceedings of the 4th Augmented Human International Conference, New York: ACM 2013, S. 9-12. 25  |  Vgl. Shanaka Ransiri/Suranga Nanayakkara: »SmartFinger. An Augmented Finger as a Seamless Channel between Digital and Physical Objects«, in: Schmidt/Bulling/Holz, Augmented Human ’13, S. 5-8. 26  |  Vgl. Natascha Adamowsky: »Body Snatcher Chic. Technische Innovationen und Körperphantasien«, in: Hartmut Böhme/Christina von Braun/Martin Burckhardt/Wolfgang Coy/Friedrich Kittler/Hans Ulrich Reck (Hg.), Die Politik der Maschine, Hamburg: Verlag Hans-Bredow-Institut 2002, S. 161-172, hier S. 167-171. 27   |  Vgl. Tristan Thielmann: »Nanomedien: Der dritte Medienumbruch? Ein Interview mit dem Nanoforscher Robert A. Freitas Jr.«, in: Navigationen 7/2 (2007), S. 139-146. 28  |  Vgl. Peter Maass/Megha Rajagopolan: »That’s No Phone. That’s My Tracker«, auf: New York Times, dort datiert am 13.7.2012, http://www.nytimes.com/ 2012/07/15/sunday-review/thats-not-my-phone-its-my-tracker.html?_r=0, zul. aufgeruf. am 31.1.2017. 29  |  Ebd. 30  |  Bei einer von dem Mobilfunkanbieter O 2 im Juni 2012 durchgeführten Umfrage zur durchschnittlichen täglichen Dauer verschiedener Nutzungsarten landete Telefonieren bereits auf Platz 5 hinter allgemeiner Internetnutzung,

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mensgebungsdebatte sind schlicht ›com‹ und ›link‹31, womit zu gleichen Teilen auf die große Selbstverständlichkeit der Alltagsnutzung zu Zwecken der Kommunikation und Konnektivität als auch auf die Müßigkeit einer präzisen Benennung angesichts ständig wechselnder Funktionalitäten und Gerätformen hingewiesen ist. Ein modernes Smartphone dient gleichermaßen als mobiles Telefon, Musikabspielgerät, Fotokamera, Webbrowser, persönliches Notizbuch, Terminkalender, Navigationsgerät, Fahrkarte, Taschenlampe, Fernbedienung, Kreditkarte und Spielkonsole – die damit verbundenen Tätigkeiten lassen sich nur mit Mühe unter das Kommunikationsparadigma subsumieren. Selbst als Handspiegel kommen die Geräte gelegentlich zum Einsatz, ob mit oder ohne Zuhilfenahme einer Front-Kamera. Materieller Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sind demnach – im Sinne einer vorläufigen Definition – portable internetfähige Computer, die aufgrund ihrer Größe und Form sowie der temporalen Intensität ihrer Nutzung einen privilegierten Körperbezug aufweisen. Mit privilegiertem Körperbezug ist gemeint, dass die Geräte prinzipiell in einer Kleidungstasche direkt am Körper getragen werden können (›pocketability‹). Diese Geräte sind üblicherweise in individuellem Besitz und der Mediengebrauch kann in vielen Aspekten an bereits habitualisierte Praktiken anschließen, die sich mit der flächendeckenden Verbreitung von Mobiltelefonen seit den 1990er-Jahren etabliert haben.

2.2 P ersönliche M edien ? S martphones als mediale O bjekte im körperlichen N ahraum Tristan Thielmann differenziert in seinem Überblicksartikel »Mobile Medien« im Handbuch Medienwissenschaft zwischen zwei diskursiven Schwerpunktsetzungen bei der Behandlung des Gegenstands.32 Es lasse sich, so Thielmann, im medienwissenschaftlichen Diskurs eine Fokussierung auf die Körpergebundenheit (portabler Medien) sowie auf die gleichzeitige Ortsverbunden- und -ungebundenheit (mobiler Medien) konstatieren. Während anhand der Portabilität untersucht wird, wie Medien ›verinnerlicht‹, angeeignet und ein nahezu intimer Nutzung von Social Media, Musik hören und Spielen. Vgl. Shane Richmond: »Smartphones Hardly Used for Calls«, auf: The Telegraph, dort datiert am 29.7.2012, http://www.telegraph.co.uk/technology/mobile-phones/9365085/Smartphones-hardly-used-for-calls.html, zul. aufgeruf. am 31.1.2017. 31  |  Vgl. Jason Chen: »Smartphone Is a Dumb Word: We Need a New Name«, auf: Gizmodo, dort datiert am 20.10.2008, http://gizmodo.com/5061705/smartphone-is-a-dumb-word-we-need-a-new-name, zul. aufgeruf. am 31.1.2017, inklusive der Kommentare unter dem Blog-Artikel. 32  |  Vgl. Tristan Thielmann: »Mobile Medien«, in: Jens Schröter (Hg.), Handbuch Medienwissenschaft, Stuttgart: Metzler 2014, S. 350-359.

2. Bring Your Own Device Lebensbestandteil werden, folgt der Mobilitätsdiskurs eher den aktiv hervorgebrachten ›(Ver-)Äußerungen‹ der Medien, die in Interaktions-, Produktions- und Transaktionsleistungen sichtbar werden […]. 33

Eine forschungsprogrammatische Differenzierung in portable und mobile Medien legt also verschiedene theoretische Perspektivierungen des Gegenstandes nahe. Während Thielmann im zitierten Artikel besonders für eine »[m]obile Medienwissenschaft«34 plädiert, die sich vor allem über methodische Innovationen nach dem Vorbild von Ethnomethodologie und Ethnografie definiert, verfolgt die vorliegende Arbeit ein anderes Projekt. Die Frage nach der Körpergebundenheit kann als Frage nach dem ›Persönlichen‹ portabler Kommunikationstechnologien reformuliert werden. Damit ist eine erste Annäherung an die Problemdimensionen möglich, die im weiteren Verlauf der Arbeit vertieft werden sollen. Mobiltelefone und Smartphones werden häufig als ›persönliche Medien‹ beschrieben. So spricht Fernando Paragas von einem »deeply personal medium«35, Andreas Hepp nennt das Mobiltelefon ein »hybrides personales Medium«36, Scott W. Ruston wählt gleich den Superlativ: »[M]obile media are best understood, both in their use and in their cultural representation, as the most personal of media devices and systems«.37 Jon Agar differenziert »›personal‹ technologies« in drei konzentrische Kreise und exemplifiziert diese Aufteilung am Computer38: Im äußersten Kreis finden sich weitgehend stationäre Objekte wie der Desktop-Rechner; zwar im persönlichen Besitz, aber nicht mobil. Der mittlere Kreis enthält portable Objekte wie Laptop-Computer, die situativ mitgeführt werden, aber auch eine physische Belastung darstellen, sodass ihr Einsatz bestimmten Einschränkungen unterliegt. Zum innersten Kreis gehören die »›intimate‹ technologies«, die eng am Körper getragen und selten abgelegt werden: Very few technologies make it through to the inner ring, and some of those that do date from the earliest periods of human existence. Right now my intimate

33  |  Ebd., S. 350f. 34  |  Ebd., S. 357. 35  |  Fernando Paragas: »Migrant Workers and Mobile Phones. Technological,

Temporal, and Spatial Simultaneity«, in: Rich Ling/Scott W. Campbell (Hg.), The Reconstruction of Space and Time. Mobile Communication Practices, New Brunswick, NJ: Transaction Publishers 2009, S. 39-65, hier S. 58. 36  |  Andreas Hepp: »Kommunikative Mobilität als Forschungsperspektive. Anmerkungen zur Aneignung mobiler Medien- und Kommunikationstechnologie«, in: Ästhetik & Kommunikation 37/135 (2006), S. 15-21, hier S. 15. 37  |  Scott W. Ruston: »Calling Ahead. Cinematic Imaginations of Mobile Media’s Critical Affordances«, in: Noah Arceneaux/Anandam P. Kavoori (Hg.), The Mobile Media Reader, New York: Peter Lang 2012, S. 23-39, hier S. 32. 38  |  Vgl. Jon Agar: Constant Touch. A Global History of the Mobile Phone, Cambridge, UK: Icon Books 2013 [2003], S. 179f.

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Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien technologies are clothes (Palaeolithic), shoes (ditto), glasses (a medieval innovation) and – my intimate general-purpose computer, my little chip of modernity – a smartphone […]. 39

In einem vergleichbaren Versuch der Systematisierung unterteilt Heike Weber Portables – tragbare elektronische Geräte im Allgemeinen – in »drei Gestaltungsstufen«: kompakte Koffer-Designs (die sogenannte »Henkelware«), in Kleidungstaschen transportierbare Geräte (im Falle des Radios auch »Personals« genannt) und »Wearables«, d. h. direkt am Körper getragene Technik.40 Nur die letzten beiden genannten Gestaltungen in Bezug auf internetfähige Computer sind also für die vorliegende Untersuchung relevant, nicht aber Laptops, Netbooks und ähnliche tragbare Computer, die zwar mobil sind, aber eher stationär verwendet werden.41 Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien stehen am Schnittpunkt (mindestens) dreier technischer Genealogien: Erstens handelt es sich weiterhin – und die gängige Bezeichnung der Geräte legt davon Zeugnis ab – um Mobiltelefone, mit denen Anrufe von unterwegs getätigt und entgegengenommen werden können. Aus diesem Grund wird im weiteren Verlauf auch häufig auf Forschungsergebnisse aus Studien zurückgegriffen, die nicht explizit internetfähigen Geräten, sondern in erster Linie traditionellen Mobiltelefonen gewidmet sind. Es gibt hier klare Kontinuitätslinien. Zweitens sind Smartphones in der Mediengeschichte des Computers zu verorten, insofern mit ihnen unter veränderten Parametern das Projekt der Personalisierung fortgeführt wird, das in den 1970er-Jahren den Personal Computer hervorgebracht hat. Sie markieren eine weitere Etappe auf dem durch die Miniaturisierung integrierter Schaltkreise und die Entwicklung leistungsfähigerer Batterien ermöglichten Weg vom raumfüllenden Mainframe-Rechner über Workstations und Heimcomputer, tragbare Computer wie Laptop und Netbook bis hin zum Pocket PC, PDA, Handheld und Palm-Top.42 39  |  Ebd., S. 180. Agar hätte noch die Sprache als intimste und langlebigste

Technik nennen können. Die Sprache ist insofern ein instruktives Medium, weil sie den sprechenden Akteuren nicht gehört (niemand kontrolliert die Sprache als ganze), obwohl sie dennoch aufs engste mit den Subjekten verflochten ist. 40  |  Vgl. Weber: Das Versprechen mobiler Freiheit, S. 20f. 41  |  Tablet Computer markieren eine Grenze des Untersuchungsgegenstands, insofern sie – in der Größe variabel – durchaus alle Kriterien der oben gegebenen Definition erfüllen können, aber wesentlich bereitwilliger geteilt werden als beispielsweise das Smartphone. Sie werden also i. d. R. weniger als persönliche Medien wahrgenommen, wobei die Unterscheidung zwischen Smartphone und Tablet durch die Verbreitung größerer Bildschirmdiagonalen bei Smartphones unscharf geworden ist. 42  |  Mit einer solchen retrospektiven Linearisierung ist keine Teleologie impliziert, sondern lediglich eine denkbare Möglichkeit der Historisierung, wenn anhand des Kriteriums der Portabilität das Verhältnis von Computern und Kör-

2. Bring Your Own Device

Drittens integrieren Smartphones Funktionen, die zuvor von isolierten und nicht an ein Telekommunikationsnetz angeschlossenen, portablen Geräten ausgefüllt wurden, wie z. B. Armbanduhren, Weckern, Musikabspielgeräten, Taschenrechnern, Handheldkonsolen, Blutdruckmessgeräten usw. Matthias Thiele und Martin Stingelin verstehen entsprechend unter dem Sammelbegriff Portable Media generell alle technischen Geräte […], die erstens aufgrund ihrer Größe, ihres leichten Gewichts und ihrer handlichen Form äußerst körperkompatibel sind, weshalb sie relativ mühelos überallhin mitgenommen und verwendet werden können, und die zweitens den analogen oder digitalen elektronischen Medien zugehören, die also entweder als Empfangs-, Speicher- oder Abspielmedium fungieren oder einen digitalen Verbund aus Speicherungs- und Übertragungstechnologie zur Nutzung bereitstellen. 43

Diese Klassifizierung anhand des Kriteriums der Portabilität läuft quer zu etablierten Unterscheidungen wie Massenmedien vs. Individualmedien, analog vs. digital, Übertragungs-, Speicher- und Datenverarbeitungsmedien, Rezeptions- und Produktionsmedien, Konsumelektronik vs. professioneller Produktionsbereich.44 Damit bietet sie eine alternative Perspektive auf Medien, die ihre Relation zum menschlichen Körper in wechselnden Kontexten zum Kern der Beobachtung macht. Es handelt sich bei Smartphones folglich um mobile Konvergenzmedien, die viele Funktionalitäten in einem Gerät vereinen und häufig durch Vernetzungspotenziale ergänzen. Dieser Tendenz zur funktionalen Integration steht allerdings ein Trend zum Zweit- und Drittgerät für spezialisierte Aufgaben entgegen (z. B. ein Gerät für Kommunikation, eines zum Lesen, eines zum Spielen, eines zum Arbeiten). Während also internetfähige Endgeräte häufig gerade mit dem Hinweis beworben werden, sämtliche denkbaren Verwendungsweisen in sich zu bündeln, weisen die beobacht-

pern im Vordergrund der Betrachtung steht. Vgl. Hans Dieter Hellige: »Krisenund Innovationsphasen in der Mensch-Computer-Interaktion«, in: Ders. (Hg.), Mensch-Computer-Interface. Zur Geschichte und Zukunft der Computerbedienung, Bielefeld: transcript 2008, S. 11-92, hier S. 17-20, der von grundsätzlich »gegenläufigen Entwicklungslogiken der MCI« (Mensch-Computer-Interaktion) spricht, die sich eher als »konkurrierende Leitbilder und Diskursangebote« verstehen ließen denn als übergeordnete Vektorisierungen mit klar bestimmbarem Ziel. 43  |  Martin Stingelin/Matthias Thiele: »Portable Media. Von der Schreibszene zur mobilen Aufzeichnungsszene«, in: Dies. (Hg.), Portable media. Schreibszenen in Bewegung zwischen Peripatetik und Mobiltelefon, München: Fink 2010, S. 7-27, hier S. 7. 44  |  Vgl. ebd.

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baren Nutzungspraktiken einstweilen eher auf eine Akkumulation von Geräten hin.45 Es lässt sich eine Spannung zwischen prospektiven Nutzerkonstruktionen (»user designs«) seitens der Industrie und tatsächlichen Nutzungsweisen konstatieren.46 Die Klassifizierung von Smartphones als persönliche Medien ist allerdings problematisch. Jason Farman weist grundsätzlich darauf hin, dass jeder Konzeption des Persönlichen ein kultureller Kontext vorausgehe: »[C]ulture is in fact something that is pre-personal and even structures our conceptions of the personal.«47 Dass es keine 1:1-Zuordnung von Nutzer und Gerät gibt, schränkt die Geltung der Annahme einer stets persönlichen Nutzung darüber hinaus ein. Ein Nutzer führt unter Umständen gleich mehrere Geräte mit sich, außerdem lassen sich Praktiken des Teilens beobachten.48 Schon das Mobiltelefon ist nicht nur ein Kommunikationsinstrument zur Verbindung mit abwesenden Anderen, sondern es wird sehr dynamisch in Gruppenprozesse einbezogen.49 Als Fazit einer ethnografischen Untersuchung halten Alexan45  |  Vgl. Henry Jenkins: Convergence Culture. Where Old and New Media Collide, New York: New York University Press 2006, S. 15. Jenkins kritisiert eine hardwarezentrierte Vorstellung von Konvergenz (»the Black Box Fallacy«, ebd., S. 14), also die Annahme, ein einzelnes Gerät im Wohnzimmer oder in der Hosentasche würde zukünftig alle denkbaren Medienangebote in sich vereinen. Die Konvergenzhypothese treffe dagegen eher auf die Inhalte zu, während die Zugangsmöglichkeiten sich mittelfristig vervielfachten. 46  |  Vgl. Weber: Das Versprechen mobiler Freiheit, S. 65-86 für die Formulierung eines theoretischen Ansatzes zur Beschreibung der häufig divergierenden Erwartungen von Designern und Nutzern an die Verwendungsweisen gestalteter Artefakte. 47  |  Jason Farman: Mobile Interface Theory. Embodied Space and Locative Media, New York: Routledge 2012, S. 24. Auf die unhintergehbare Bedeutung von Kultur für die Beschreibung persönlicher Aneignungspraktiken von mobilen Medien hat auch Peil: Mobilkommunikation in Japan, S. 73 hingewiesen. Jon Agar bezeichnet das Smartphone als »our primary personal cultural node« (Agar: Constant Touch, S. 220), eine Formulierung, in der die beiden Dimensionen zusammengezogen werden – letztlich ohne ihr Verhältnis zu klären. 48  |  Vgl. zu letzterem Punkt Molly Wright Steenson/Jonathan Donner: »Beyond the Personal and Private. Modes of Mobile Phone Sharing in Urban India«, in: Ling/ Campbell, The Reconstruction of Space and Time, S. 231-250 sowie Agar: Constant Touch, S. 123f. 49  |  Vgl. Alexandra Weilenmann/Catrine Larsson: »Local Use and Sharing of Mobile Phones«, in: Brown/Green/Harper, Wireless World, S. 92-107, hier S. 92f. Eine recht komplex choreografierte Szene aus der Feldforschung der Autorinnen unter skandinavischen Teenagern soll hier wiedergegeben werden, um anzudeuten, wie sehr die Annahme einer persönlichen Mediennutzung durch ihre Beobachtungen irritiert wird: » Excerpt 7: Café, Wednesday afternoon

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dra Weilenmann und Catrine Larsson fest: »[T]he phone is not just a personal device, carried around and used by one person for that person’s private purposes. Rather, it seems that the phone has become a collaborative resource among teenagers.«50 Von diesen sehr basalen praxisbezogenen Vorbehalten abgesehen ist die Einsicht zentral, dass Interaktionen mit dem Smartphone stets in einem institutionalisierten Umfeld stattfinden. Durch das Erstellen von Profilen erfolgt – oft hinter dem Rücken der Anwender – eine Auswertung des Anwenderverhaltens, wobei jede Aktion am Interface als Datenquelle behandelt werden kann. Gerade diese Spannung zwischen vermeintlich privaten, gar intimen Interaktionen und den weiteren Datenverwendungskontexten gilt es zu berücksichtigen. Sie bildet eine zentrale Dimension der Untersuchung.

2.3 Verortung in der deutschsprachigen M edienwissenschaft In seinen »Prolegomena zu einer Theorie und Genealogie portabler Medien« wundert sich Matthias Thiele über die kommunikationswissenschaftliche Einengung des akademischen Blickfelds bezüglich seines Gegenstands.51 Es überwögen Arbeiten aus soziologischer, kommunikations- und interaktionstheoretischer Sicht, das Paradigma der mobilen Kommunikation bliebe fester Bezugspunkt der meisten Analysen. Dadurch würde der Gegenstand häufig auf ein Kommunikationsmittel reduziert und letztendlich ein »Handlungsinstrumentalismus«52 konstruiert, während sich der wissenschaftliche Beitrag auf eine Beschreibung veränderter kommunikativer Praktiken konzentriere. Thieles Irritation ist symptomatisch: Die deutschsprachige Medienwissenschaft hat auf das Phänomen mobiler Kommunikationstechnologien überraschend C holds a small red phone, 1, in her hand; she pushes the buttons and looks at it. She puts it on the table after a while.

B takes another phone 2, from her purse, and gives it to A who hugs her. A

makes a short phone call from phone 2. She gives it back to B who takes a quick look at the display. B now gives phone 2 to C, who makes a phone call from it. While C is talking, phone 1 rings. A quickly answers. After a short conversation, she puts the phone back on the table.« (Ebd., S. 100) 50  |  Ebd., S. 101. 51  |  Vgl. Matthias Thiele: »Cellulars on Celluloid – Bewegung, Aufzeichnung, Widerstände und weitere Potentiale des Mobiltelefons. Prolegomena zu einer Theorie und Genealogie portabler Medien«, in: Stingelin/Thiele, Portable media, S. 285-310, hier S. 290f. 52  |  Andreas Reckwitz: »Die historische Transformation der Medien und die Geschichte des Subjekts«, in: Andreas Ziemann (Hg.), Medien der Gesellschaft – Gesellschaft der Medien, Konstanz: UVK 2006, S. 89-107, hier S. 93.

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träge und vornehmlich in verstreuten Einzelbeiträgen reagiert. Darunter finden sich vor allem Behandlungen des Themas Mobiltelefonie in (technik-)historischer Perspektive sowie als jüngste Verschiebung des Dispositivs Telefon.53 Diese eigentümliche Diskurslücke ist umso bemerkenswerter, wenn man die soziokulturelle Bedeutung eines Mediums zumindest heuristisch an seinem ökonomischen Erfolg bemisst. Im englischsprachigen Raum ist dagegen seit ca. 2000 eine unüberschaubare Anzahl von Monografien und Sammelbänden erschienen, die überwiegend auf die sozialen Auswirkungen des Mobiltelefongebrauchs abzielen.54 In den 2010er-Jahren erschienen einige Titel, die sich expliziter mit dem mobilen Internet und den Kulturen des Smartphones auseinandersetzen.55 Die Körperbezogenheit mobiler Geräte ist allerdings insgesamt seltener thematisiert worden als die kommunikativen Funktionen und sozialen Einbettungen ihres Gebrauchs.56 Einen Forschungsschwerpunkt insbesondere kommunikationswissenschaftlicher Arbeiten, der bereits die besondere Körperlichkeit der Interaktion mit einbezieht, bilden allerdings Studien zu Choreografien des Handy-Gebrauchs im öffentlichen Raum.57 Hier wird eine Verschiebung der Grenzen der Sphären des Privaten und des Öffentlichen konstatiert und neue Etiketten beobachtet, die dieses Feld regulieren. Es komme zu einer Interferenz von Regelsystemen und die »Arrangements von Nähe und Distanz«58 müssten neu ausgehandelt werden. In diesem Kontext werden häufig 53  |  Vgl. Ulla Autenrieth/Andreas Blättler/Regine Buschauer/Doris Gassert

(Hg.), Dis Connecting Media. Technik, Praxis und Ästhetik des Telefons: Vom Festnetz zum Handy, Basel: Christoph-Merian-Verlag 2011. Schon früh mit den soziokulturellen Auswirkungen des Mobiltelefongebrauchs befasst sich allerdings der Sammelband Peter Glotz (Hg.), Daumenkultur. Das Mobiltelefon in der Gesellschaft, Bielefeld: transcript 2006. 54  |  Vgl. Völker: Mobile Medien, S. 22 für eine Übersicht und kurze Diskussion einschlägiger Arbeiten. 55  |  Vgl. Hjorth/Burgess/Richardson, Studying Mobile Media, Pelle Snickars/ Patrick Vonderau (Hg.), Moving Data. The iPhone and the Future of Media, New York: Columbia University Press 2012 und Herman/Hadlaw/Swiss, Theories of the Mobile Internet. 56  |  An Ausnahmen wären zu nennen Katz, Machines that Become Us, und einige Beiträge in Ders. (Hg.), Handbook of Mobile Communication Studies, Cambridge, Mass.: MIT Press 2008. 57  |  Vgl. Joachim R. Höflich: »Part of Two Frames. Mobile Communication and the Situational Arrangement of Communicative Behaviour«, in: Kristóf Nyíri (Hg.), Mobile Democracy. Essays on Society, Self and Politics, Wien: Passagen Verlag 2003, S. 33-51. 58  |  Joachim R. Höflich/Maren Hartmann: »Grenzverschiebungen. Mobile Kommunikation im Spannungsfeld von öffentlichen und privaten Sphären«, in: Jutta Röser (Hg.), MedienAlltag. Domestizierungsprozesse alter und neuer Medien, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2007, S. 211-221, hier S. 215.

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Arbeiten von Erving Goffman zur Performativität von Alltagspraktiken zitiert, darunter auch der Gedanke von Vorder- und Hinterbühnen sozialer Interaktionen.59 Diese Vorstellung wird beim mobilen Mediengebrauch noch einmal unter neuen Gesichtspunkten relevant, z. B. in der notwendig gewordenen Vermittlung zwischen anund abwesenden Gesprächspartnern. Im Folgenden werden einige auf Deutsch erschienene Arbeiten kurz umrissen, die auf je verschiedene Weise den Versuch unternehmen, sich dem Phänomen digitaler Nahkörpertechnologien medientheoretisch oder -historisch anzunähern. Dabei liegt das Hauptaugenmerk der Übersicht auf dem hier verfolgten Zusammenhang von Körpern und Apparaten, der in den meisten der genannten Arbeiten nur einen Teilaspekt der Fragestellung ausmacht. Alle hier diskutierten Beiträge weisen spezifische Anschlussstellen zum Projekt der vorliegenden Arbeit auf, die in den Kurzzusammenfassungen thematisiert werden. Heike Weber strebt in ihrer materialreichen Dissertation Das Versprechen mobiler Freiheit. Zur Kultur- und Technikgeschichte von Kofferradio, Walkman und Handy eine historische Relativierung der ›mobilen Medienrevolution‹ der letzten Jahrzehnte an. Insbesondere interessiert sie sich für das titelgebende Leitbild von Mobilität und dessen Transformationen im Durchgang durch verschiedene Medientechnologien. Unter »Mobilisierung« versteht Weber »den Prozess, in welchem NutzerIn wie Technik zunehmend als ›überall und jederzeit‹ verfügbar konstruiert wurden«.60 Dazu sei auf technischer Seite die Miniaturisierung der Geräte notwendige Voraussetzung und auf Nutzerseite die Individualisierung des Technikgebrauchs. Die Gestaltungsstufen von portables reichen von kofferähnlichen Formen über eine Positionierung in der Kleidungstasche bis zum direkten Tragen am bzw. sogar im Körper.61 Mit Blick auf die auch in kulturwissenschaftlichen Arbeiten verbreitete Cyborg-Metaphorik weist Weber allerdings darauf hin, dass eine Sicht auf das Individuum als »Mensch-Technik-Amalgam«62 häufig in techno-futuristischen Leitbildern optimistischer ausfällt als in der Vorstellungs- und Erlebenswelt von Durchschnittskonsumenten. Für das Handy konstatiert Weber die historisch bislang stärkste Annäherung zwischen Mensch und Medienportable. Das Gerät sei »wegen seiner sozial-emotionalen Vernetzungsfunktion stark gefühlsbeladen«63 und werde lange Zeit nah am Körper getragen – die Nutzung sei also deutlich intensiver als dies noch bei Kofferradio, Kassettenrekorder und Walkman der Fall gewesen ist. Handys seien zu »persönlichen Begleitern«64 geworden, am ehesten noch vergleichbar mit der Armbanduhr, aber mit deutlich erweitertem Nutzungsrepertoire. Am Beispiel des Vibrationsalarms stellt 59  |  Vgl. Erving Goffman: The Presentation of Self in Everyday Life, London: Penguin 1990 [1959]. Weber: Das Versprechen mobiler Freiheit, S. 17. Vgl. ebd., S. 20f. Ebd., S. 23. Ebd., S. 305. Ebd., S. 306.

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Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien

Weber eine »Intimisierung des Mobiltelefons«65 fest, aus Sicht der Industrie sollten »Handys […] nicht mehr nur auf den Kleidungs- und Lebensstil der Besitzer, sondern auch auf deren jeweiliges haptisches Sensorium abgestimmt sein«.66 Damit ist ein Thema angesprochen, das in der weiteren Diskussion eine wichtige Rolle einnehmen wird – die haptische Interaktion mit Interfaces als vermeintlich ›unmittelbarste‹ Form der Aneignung, die für das alltägliche Hantieren mit Handys zentral ist.67 Clara Völkers Buch Mobile Medien. Zur Genealogie des Mobilfunks und zur Ideengeschichte von Virtualität befasst sich in erster Linie mit historischen Transformationen von Virtualitätskonzeptionen und setzt dabei sehr früh an – mit Aristoteles und Thomas von Aquin. Die medienphilosophische Ausrichtung ihrer Arbeit führt dazu, dass eine Entstehungsgeschichte des Mobilfunks geschrieben wird, die vor allem auf Raumthemen fokussiert und konzeptionelle Dimensionen wie das Verhältnis von Virtualität und Aktualität, Präsenz und Absenz, Fiktion und Wirklichkeit, Virtual und Augmented Reality behandelt. Die Besonderheit mobiler Medien liege dabei in ihrer Ubiquität: »›Mobile Medien‹ oder ›Mobile Medientechnologien‹ können digitale Virtualität eingewoben in nicht-digitale Kontexte nahezu jederzeit gegenwärtig werden lassen.«68 Der durchgängige Fokus auf die Ideengeschichte von Virtualität weicht allerdings von der hier verfolgten Problemstellung deutlich ab, auch Körperlichkeit und Interfaces spielen bei Völker nur eine untergeordnete Rolle. Ein Kapitel in Regine Buschauers Buch Mobile Räume. Medien- und diskursgeschichtliche Studien zur Tele-Kommunikation widmet sich dem Thema Mobiltelefonie.69 Der Schwerpunkt ihrer übergreifenden Fragestellung liegt auf dem Medien-Raum-Verhältnis, das sich seit dem 19. Jahrhundert als Topos des Raumschwunds anhand Distanzen scheinbar annulierender Technologien wie Eisenbahn und Telegrafie artikuliert. In jüngerer Zeit – verbunden mit dem Spatial Turn in den Geschichts- und Kulturwissenschaften – würden allerdings vermehrt Prozesse der Raumproduktion und -reorganisation im Zuge von Medienumbrüchen thematisiert. Buschauers Einzelstudie zur Mobiltelefonie untersucht vor diesem Hintergrund den Einfluss von Mobilität auf verräumlichende Kommunikationspraktiken. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die derzeitige Konjunktur mobiler Medien den Raum auf neue Weise zur Disposition stelle, als kontingent markiere und sein relationales Moment 65  |  Ebd., S. 280. 66  |  Ebd., S. 322. 67  |  Vgl. dazu Thielmann: »Mobile Medien«, S. 357: »Mit der Mobilisierung

rückt […] das Haptische, Taktile, Dinghafte und damit das Handhabbare und Undurchsichtige in das Zentrum medienwissenschaftlicher Betrachtungen«. 68  |  Völker: Mobile Medien, S. 13. Unter mobilen Medien versteht Völker »digitale und multifunktionale Netzwerktechnologien, die so klein sind, dass sie mindestens in der Hand gehalten werden können, mittels Funkwellen funktionieren und daher während des Bewegens verwendet werden können, also unabhängig von einem bestimmten Ort sind.« (Ebd., S. 15) 69  |  Vgl. Buschauer: Mobile Räume, S. 257-318.

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im Gegensatz zu einer veralteten Auffassung von Raum als Behälter herauskehre.70 Das Thema einer Reorganisation des Raumes wird in Kapitel 5 dieser Arbeit aufgegriffen, wobei allerdings weniger Praktiken im Mittelpunkt der Betrachtung stehen, als vielmehr die Emergenz eines berechneten und berechenbaren Raumes als Teil einer umfassenden Kontrollarchitektur. Corinna Peils Studie Mobilkommunikation in Japan. Zur Aneignung des Handys aus kulturwissenschaftlicher Perspektive ist trotz des Fokus auf den japanischen Kulturraum eine nützliche Referenz für einen medienkulturwissenschaftlich orientierten Zugriff. Unter Rückbezug auf die Cultural Studies und den Domestizierungsansatz gelingt es Peil, die kulturellen Wirkungsfelder von Mobilkommunikation – das mobile Internet wird explizit miteinbezogen – mit Hilfe eines analytischen Rahmens zu beschreiben, der die Themen Raum, Zeit, Beziehung und Medien in den Mittelpunkt stellt. Gleichzeitig inkludiert die Arbeit einen umfassenden Forschungsüberblick zur internationalen Mobilkommunikationsforschung, der an dieser Stelle nicht wiederholt zu werden braucht.71 Als bisherige Forschungsschwerpunkte identifiziert sie Studien zu Jugendkulturen, zum Großthema Medienkonvergenz, Besorgnis- und Sicherheitsdiskurse, Grenzverschiebungen und Hybridisierungen (privat/öffentlich, Arbeit/Freizeit, soziale Nähe/Distanz) sowie mit Mobiltelefonen verbundene Repräsentationsformen, z. B. das technische Artefakt als Identitätsmarker, Mode- und Statusobjekt. Von den genannten wird der letzte Aspekt – »das Mobiltelefon als Ort der Identitätsbildung und Selbstdarstellung«72 – in der vorliegenden Arbeit eine Rolle spielen, während die anderen genannten Diskurse allenfalls peripher Berücksichtigung finden. Näher am hier verfolgten Vorhaben sind vergleichsweise frühe medientheoretische Überlegungen von Bärbel Tischleder und Hartmut Winkler sowie zwei Aufsätze jüngeren Datums von Erika Linz.73 Tischleder und Winkler betonen besonders die Bedeutung des Zusammenspiels von Körper und Medium: Medien wie Walkmen, Armbanduhren, Handys, sind nicht nur besonders körperkompatibel, sondern sie treten in die Peripherie der Körper ein; sie werden

70  |  Vgl. ebd., S. 292. 71  |  Vgl. Peil: Mobilkommunikation in Japan, S. 83-99. Peil differenziert hierbei

zwischen thematischen Forschungsschwerpunkten, methodischem Zugriff und Theoriehintergrund der referierten Arbeiten. 72  |  Ebd., S. 87. 73  |  Vgl. Bärbel Tischleder/Hartmut Winkler: »Portable Media. Beobachtungen zu Handys und Körpern im öffentlichen Raum«, in: Ästhetik & Kommunikation 32/112 (2001), S. 97-104, Erika Linz: »Konvergenzen. Umbauten des Dispositivs Handy«, in: Irmela Schneider/Cornelia Epping-Jäger (Hg.), Formationen der Mediennutzung III. Dispositive Ordnungen im Umbau, Bielefeld: transcript 2008, S. 169-188 und Erika Linz: »Mobile Me. Zur Verortung des Handys«, in: Autenrieth et al., Dis Connecting Media, S. 161-172.

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Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien zu einem Teil des Körpers selbst, und genauer: einer körperlich bestimmten Ich-Identität.74

Dabei beziehen sie sich auf Arbeiten des Psychoanalytikers Paul Schilder zum Körperschema aus den 1930er-Jahren, auf welche noch zurückzukommen sein wird.75 An dieser Stelle reicht der Hinweis, dass Schilder darunter eine komplexe Vorstellung des eigenen Körper-Ichs versteht, die nicht zwangsläufig mit den organisch-biologischen Grenzen des Körpers zusammenfällt, sondern auch Artefakte (beispielsweise Kleidung) miteinschließt und sogar verlorene Gliedmaßen imaginär ergänzen kann. Wenn sich ein Objekt über einen längeren Zeitraum auf erwartbare Weise in einer Relation der Nähe zum Körper befindet, wird es flexibel ins Körperschema integriert und seine Abwesenheit kann als Mangel bzw. Gefühl der Unvollständigkeit ins Bewusstsein treten.76 Tischleder und Winkler bringen die Hochkonjunktur »mediale[r] Körpermaschinen«77 in Verbindung mit soziologischen Theorien zur Krisenerfahrung der Moderne.78 Die Komplexität moderner Lebensvollzüge, Fragmentierung des Individuums durch funktionale Ausdifferenzierung mit Zuweisung entsprechender Spezialrollen und Erfahrung urbaner Anonymität würden durch das Handy ein Stück weit aufgefangen. Das »psychosoziale Zuhause« werde, so Tischleder und Winkler, »in den mobilen Nahraum des Körpers verlagert«79, wenn jederzeit die phatische Kontaktpflege zu Freunden und Familie möglich ist. Die Möglichkeit zur flexiblen Handlungskoordinierung in Echtzeit80 entlaste zusätzlich von den terminlichen Anforderungen einer hektischen Berufswelt und eröffne die Möglichkeit eines spielerischen Umgangs mit disponiblen Zeitressourcen. Auf somatischer Ebene sorge das Handy für eine Aufwertung der eigenen Körpererfahrung und eine Rhythmisierung der individuellen Bewegung durch die Stadt, was dem modernen Trend zur ›Entkörperlichung‹ sozialer Prozesse entgegen wirke. 74  |  Tischleder/Winkler: »Portable Media«, S. 97. 75  |  Vgl. Paul Schilder: The Image and Appearance of the Human Body. Studies in the Constructive Energies of the Psyche, London: Routledge 2000 [1935] und Kapitel 4.3 der vorliegenden Arbeit. 76  |  Vgl. Tischleder/Winkler: »Portable Media«, S. 98. 77  |  Ebd. 78  |  Als theoretische Referenzen werden hierzu Elias, Durkheim, Simmel und Luhmann angeführt. 79  |  Ebd., S. 102. 80  |  Vgl. für Praktiken der Echtzeit-Koordinierung verteilter Aktivitäten im privaten Bereich Rich Ling/Birgitte Yttri: »Hyper-Coordination via Mobile Phones in Norway«, in: James E. Katz/Mark A. Aakhus (Hg.), Perpetual Contact. Mobile Communication, Private Talk, Public Performance, Cambridge, UK: Cambridge University Press 2002, S. 139-169.

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Interessant an solchen Thesen einer kompensierenden Funktion des Mobiltelefons vis-à-vis individueller Kollateralschäden gesellschaftlicher Modernisierung ist der Umstand, dass das Gerät selbst eine ambivalente Position besetzt. Gilt es in kulturkritischen Diskursen gemeinhin als Inbegriff einer technischen Kolonisierung der Lebenswelt, als Einfallfläche für jede Art von moderner Zumutung an das Individuum, bedient es offenbar parallel gegensätzliche Bedürfnisse nach Geborgenheit, Aufgehobenheit im Kreise der Vertrauten, Privatheit im öffentlichen Raum. In jedem Fall wird dem Gerät die Funktion zugesprochen, auf die eine oder andere Weise als Vermittlungsinstanz zwischen Individuum und Gesellschaft zu wirken. Erika Linz hat eine Reihe von Publikationen zur Mobiltelefonie vorgelegt, die sich insbesondere mit dem Aspekt der Körpernähe auseinandersetzen. Das Handy werde »zu einem immer selbstverständlicheren Teil der Person«81, sodass es nicht mehr hinreichend als instrumentelles, mobiles Kommunikationsgerät charakterisiert werden könne. Darüber hinaus sei es auch »personale[s] Archiv und externalisierte[s] Gedächtnis«82 und vermittle eine ganze Reihe von Interaktionen zwischen Selbst und Umwelt, die über interpersonale Sozialbeziehungen hinausgehen. Zwei Prozesse sieht Linz dabei als zentral an: einmal die »Transformation des Mobiltelefons hin zu einem personengebundenen Medium«, das klar im körperlichen Nahraum verortet ist, und zweitens seine Beschreibbarkeit als »Medium kontinuierlicher Konnektivität«, das eine ständige Adressierbarkeit und unter Umständen auch Lokalisierbarkeit des Trägers erlaube.83 Linz zieht verschiedene theoretische Rahmungen in Betracht, um die körpernahe Verortung des Handys jenseits einer McLuhan’schen Extensions- und Prothesenrhetorik zu konzeptualisieren.84 Zum einen lasse es sich in seiner Eigenschaft als Element distribuierter kognitiver Prozesse thematisieren, wie sie von Edward Hutchins und Andy Clark beschrieben werden.85 In diesen Ansätzen des aktiven Externalismus wird nicht länger davon ausgegangen, dass Denken exklusiv im Kopf stattfinde, sondern eine »Konzeption weiträumiger verteilter Netze [vorgeschlagen], die auch externe Systeme, Dinge und andere Personen umfassen und deren Elemente wechselseitig voneinander abhängen«.86 Medien wie das Mobiltelefon oder Smartphone seien in diesen Netzen nicht bloße Hilfsmittel oder Externalisierungen ›innerer‹ Denkvor81  |  Linz: »Mobile Me«, S. 162. 82  |  Ebd. 83  |  Ebd., S. 164. Vgl. auch Linz: »Konvergenzen«, S. 171-177. James E. Katz:

»Conclusion: Making Meaning of Mobiles. A Theory of Apparatgeist«, in: Ders./ Aakhus, Perpetual Contact, S. 301-318 spricht von einer Logik der ständigen Konnektivität als zentralem Motiv der Mobiltelefonnutzung. 84  |  Vgl. Linz: »Mobile Me«, S. 168-171. 85  |  Vgl. Edwin Hutchins: Cognition in the Wild, Cambridge, Mass.: MIT Press 1995 und Andy Clark: Natural-Born Cyborgs. Minds, Technologies, and the Future of Human Intelligence, New York: Oxford University Press 2003. 86  |  Linz: »Mobile Me«, S. 169. [Ergänzung T. K.]

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gänge, sondern integrale Bestandteile der kognitiven Prozesse selbst, die sie ständig durchlaufen.87 Auf die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) zurückgreifend, lasse sich das Handy alternativ dazu entweder als Teil eines hybrid konstituierten Akteurs verstehen, ähnlich wie es Latour für den Menschen mit Schusswaffe vorgeschlagen hat.88 Die Handlungsprogramme dieses Hybrid-Akteurs würden drastisch von denen der isolierten Entitäten abweichen. Andererseits biete sich die ANT aber auch dazu an, das Handy als eigenständigen Akteur zu begreifen, der über Handlungspotenziale verfügt, die über die Assoziation mit Anwendern hinausgehen. Solch eine nutzerunabhängige Aktantenrolle übernimmt das Handy etwa dadurch, dass es den eigenen Standort und damit als Konsequenz auch den seines Nutzers kommuniziert. Wie die aus der Mobiltechnologie erwachsenen Probleme der Kontrollierbarkeit und Überwachung verdeutlichen, ermöglicht das Handy hier sogar Handlungen anderer, die vom Nutzer selbst unbemerkt bleiben. 89

Neben diesen von Nutzern unabhängigen im Hintergrund ablaufenden Handlungsprogrammen verkörpert das Smartphone allerdings auch weniger explizite Skripte.90 In seiner körpernahen Zuhandenheit und jederzeitigen Präsenz stellt das Gerät eine Materialisierung von gesellschaftlichen Normvorstellungen dar, die Erreichbarkeit, Flexibilität, voraussetzbares Wissen sowie sozial erwünschtes Freizeit- und Konsumverhalten betreffen. Wenn Angestellte eines Unternehmens auf dem Smartphone per Email erreichbar sind, kann vorausgesetzt werden, dass sie rasch auf Anfragen reagieren. Die Stammtischdiskussion endet in dem Moment, wo die Wikipedia-Artikel konsultiert werden. In Anlehnung an Latours Terminologie hat hier eine Übersetzung von kulturellen Erwartungen in ein materielles Artefakt 87  |  Vgl. hierzu ausführlicher Kapitel 4 der vorliegenden Arbeit. 88  |  Vgl. ebd., S. 170f. 89  |  Ebd., S. 171. 90  |  Zum Konzept der Einschreibung von Handlungsprogrammen in dinglich-

materielle Träger in der ANT vgl. Madeleine Akrich: »Die De-Skription technischer Objekte«, in: Andréa Belliger/David J. Krieger (Hg.), ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld: transcript 2006, S. 407-428 und insbesondere Bruno Latour: Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften, Berlin: Akademie Verlag 1996 [frz. OA 1993], S. 15-83. Latour modelliert die Verteilung von Moralität und agency zwischen Menschen und Artefakten als »kontinuierliche Skala von Befehlen und Vorschriften« (ebd., S. 34), die auf verschiedenen Ebenen implementiert wird, welche sich wechselseitig stützen. Dazu zählen die Stufen der Einschreibung in Körper und Mentalitäten, in geschriebene Gesetze, Zeichen und Symbole, sowie in Technologien und automatische Vorrichtungen.

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stattgefunden, das zudem in ein vor- oder unbewusstes Körperwissen eingebunden wird. Diese Konstellation wird genauer mit Blick auf das Verhältnis von Körper und Artefakt zu untersuchen sein.91 In einem letzten Angebot versucht Linz, das Mobiltelefon mit Karin Knorr-Cetina als eine spezifische Sozialform von Objektbeziehungen zu begreifen, die sich als »Objekt-zentrierte Sozialität« fassen lässt.92 Knorr-Cetina konstatiert eine Zunahme objektorientierter oder durch Objekte vermittelter Sozialbeziehungen als Kehrseite der Individualisierung in funktional ausdifferenzierten Gesellschaften und bezeichnet diesen Zusammenhang als ›Postsozialität‹. Die »besondere physische und emotive Intimbeziehung zum Mobiltelefon«93 ließe sich vor dem Hintergrund dieser These verstehen, insofern die affektive Bindung an das Gerät, die extensiven Möglichkeiten der Personalisierung und die private Natur der vermittelten Inhalte das Handy in den Rang eines Beziehungspartners sui generis erhöben. Eine derart gestaltete Objektbeziehung könne dann wiederum als Stabilisator der Ich-Identität verstanden werden.94 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Linz gleich mehrere Zugänge angeregt hat, mittels derer über Nahkörpertechnologien wie das Smartphone nachgedacht werden kann. Auf einige dieser Anregungen werde ich zurückkommen. Im weiteren Verlauf dieses Kapitels werde ich den besonderen Status des Smartphones als physisch-materielles Objekt im körperlichen Nahraum weiter problematisieren, das einerseits für persönliche bis intime Mediennutzungspraktiken verwendet wird, andererseits aber als prinzipiell offenes, vernetztes technisches Artefakt und damit als im Regelfall allein sichtbarer Teil von apparativen Verflechtungen zu begreifen ist. Aufgrund dieser unbestimmten Konturierung des Gegenstands bietet sich eine besondere Herangehensweise an, die zunächst skizziert werden soll.

2.4 Z wei Verunsicherungen: P lädoyer eine paranoisch - schizophrene M edienwissenschaft

für

In Abgrenzung zu der verbreiteten Auffassung, das Smartphone als individualisierendes, persönliches Medium zu charakterisieren, möchte ich zwei Verunsicherungen ins Spiel bringen, die den Status sowohl des Subjekts als auch des Objekts betreffen. 91  |  In Kapitel 4 wird zu diesem Zweck ein Beschreibungsvokabular zu Verkörperungsprozessen des Smartphones entwickelt, das allerdings ohne systematischen Bezug auf die ANT auskommt. 92  |  Linz: »Konvergenzen«, S. 185-187. Linz bezieht sich hier auf Karin KnorrCetina: »Sozialität mit Objekten. Soziale Beziehungen in post-traditionalen Wissensgesellschaften«, in: Werner Rammert (Hg.), Technik und Sozialtheorie, Frankfurt a. M.: Campus 1998, S. 83-120. 93  |  Linz: »Konvergenzen«, S. 185. 94  |  Vgl. Knorr-Cetina: »Sozialität mit Objekten«, S. 104.

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Die einfachste Herangehensweise wäre, beide Seiten der Untersuchung (klassisch: Mensch als Subjekt, Smartphone als Objekt) als bekannte Entitäten aufzufassen, die in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehen, das es dann in einem zweiten Schritt mit Blick auf wechselseitige Beeinflussungen zu untersuchen gälte. Eine solche Sichtweise liegt implizit vielen kommunikationssoziologischen Arbeiten zum Gebrauch mobiler Medien zugrunde, in denen sich handelnde Akteure bestimmter Techniken bedienen, um vorformulierte Absichten zu verfolgen.95 Die dem entgegenzustellende und den Sachverhalt verkomplizierende These lautet: Es ist mitnichten geklärt, wo einerseits Körpergrenzen verlaufen und welche Grenzen andererseits ein Gerät wie das Smartphone – das im Folgenden als Apparat charakterisiert werden wird – definieren. Damit ist auch nicht problemlos festzustellen, wo die Grenzen zwischen Körpern und Apparaten zu ziehen sind, was mit entsprechenden Konsequenzen für die Zuschreibung eines Akteursstatus einhergeht.96 Diese Verunsicherungen leuchten dem Alltagsverstand nicht unmittelbar ein und doch gehören sie zum Kernbestand der Medienwissenschaft. Der Fall Daniel Paul Schreber, dessen Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken von Freud als Paradebeispiel für eine paranoide Psychose behandelt wurde, ist ein zentraler Bezugspunkt von Friedrich Kittlers Beschreibung von Aufschreibesystemen.97 Selbst der Titel von Kittlers Habilitationsschrift ist von Schreber übernommen, und in der Tat enthält der 95  |  Vgl. für eine prominente Position, die nach einem derartigen Argumentationsmuster verfährt, um die »social uses and social effects of wireless communication technology« zu kartografieren, Manuel Castells/Mireia FernándezArdèvol/Jack Linchuan Qiu/Araba Sey: The Mobile Communication Society. A Global Perspective, Cambridge, Mass.: MIT Press 2007, S. 1. In Studien diesen Typs, die unter anderem Praktiken der Mediennutzung in verschiedenen Ländern vergleichen, sind zumindest die Größen vorgegeben, deren Wechselwirkungen dann beschrieben werden: Individuen bzw. Gesellschaften einerseits und bestimmte Technologien andererseits. 96  |  Diese sehr grundlegende Einsicht ist bereits eine Kernthese von Donna Haraways Cyborg-Manifest und bezieht sich nicht bloß auf körperinvasive Technik. Vgl. Donna Haraway: »A Cyborg Manifesto. Science, Technology, and Socialist-Feminism in the Late Twentieth Century«, in: Dies.: Simians, Cyborgs, and Women. The Reinvention of Nature, New York: Routledge 1991, S. 149-181. Während Haraway eine zwar ironisch gebrochene, aber dennoch lustvolle Affirmationsstrategie soziotechnischer Hybridisierungsfiguren mit dem Ziel einer Dekonstruktion moderner Dualismen verfolgt, geht es in der vorliegenden Arbeit um eine eher analytisch ausgerichtete Beschreibung beobachtbarer nahkörperlicher Technikverhältnisse und ihrer Implikationen. Dass auch diese eine politische Dimension hat, wird spätestens in Kapitel 5 deutlich werden. 97  |  Vgl. Daniel Paul Schreber: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken. Autobiographische Dokumente und Materialien, Wiesbaden: Focus 1973 [1903] und Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800, 1900, München: Fink 1995 [1985].

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Fall Schreber, der sich am wissenschaftshistorischen Übergang von Psychiatrie zu Psychophysik in einer Nervenheilanstalt wiederfindet und sein Schicksal treffend als »Seelenmord«98 charakterisiert, in nuce die wesentlichen Argumente, die Kittler zur Differenzierung der historischen Aufschreibesysteme 1800 und 1900 verwendet.99 Insbesondere zählt dazu der Übergang von einer auf Vorstellungen von Geist, Seele, Sinn, Introspektion und Bedeutung zentrierten Episteme zu einem Wissen, das auf der syntaktischen Analyse von Nachrichtenflüssen und Informationen beruht und das sich zunehmend auf vermeintlich eindeutige medientechnische Registraturen verlässt. Doch an dieser Stelle interessiert mich ein anderer Aspekt: Als Paranoiker ist Schreber stets um den Nachweis bemüht, dass die ihn betreffenden Phänomene sich nicht von einer naiven Empirie der Anschauung erfassen lassen. Jedes ihm begegnende scheinbar solide und in sich geschlossene Ding steht in Beziehungen, die es aufzudecken gilt. Es ist diese den Augenschein überschreitende Qualität seiner Wahrnehmung, die bei Kittler Methode wird: »Techniken entziffern, Spuren lesen, Medien durchschauen, Machtstrukturen entlarven – Paranoia als Kennzeichen und Beweggrund einer eigentlich kritischen Theorie.«100 Gerade Kittlers früher NSA-Aufsatz wird angesichts der Enthüllungen durch Edward Snowden bezüglich der Praktiken des amerikanischen Auslandsgeheimdienstes wieder häufiger zitiert.101 Doch schon Kittlers Beschreibung von Literaturgeschichte ist in diesem weiten Sinn paranoisch 98  |  Schreber: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, S. 6. 99  |  Bei Schreber stellt sich das Forschungsprogramm noch folgendermaßen

dar: »Das erwähnte Aufschreibesystem ist eine Thatsache, die anderen Menschen auch nur einigermaßen verständlich zu machen außerordentlich schwerfallen wird. […] Man unterhält Bücher oder sonstige Aufzeichnungen, in denen nun schon seit Jahren alle meine Gedanken, alle meine Redewendungen, alle meine Gebrauchsgegenstände, alle sonst in meinem Besitze oder meiner Nähe befindlichen Sachen, alle Personen, mit denen ich verkehre usw. aufgeschrieben werden. Wer das Aufschreiben besorgt, vermag ich ebenfalls nicht mit Sicherheit zu sagen. […] Um den Zweck der ganzen Einrichtung verständlich zu machen, muß ich etwas weiter ausholen.« (Ebd., S. 90) 100  |  Oliver Jahraus: »Friedrich Kittler. Paranoia und Theorie«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 10/1 (2014), S. 167-171, hier S. 168. Dass sich diese Art, Medientheorie zu betreiben, in einem interessanten Verhältnis der Nähe zu und gleichzeitigen Abgrenzung von hermeneutischen Verfahren bewegt, hat Hartmut Winkler angemerkt. Vgl. Hartmut Winkler: »Flogging a dead horse? Zum Begriff der Ideologie in der Apparatusdebatte, bei Bolz und bei Kittler«, in: Robert F. Riesinger (Hg.), Der kinematographische Apparat. Geschichte und Gegenwart einer interdisziplinären Debatte, Münster: Nodus 2003, S. 217-235. 101  |  Vgl. Friedrich Kittler: »Jeder kennt den CIA, was aber ist NSA?«, in: Peter Gente/Martin Weinmann (Hg.), Short Cuts 6. Friedrich Kittler, Frankfurt a. M.: Zweitausendeins 2002, S. 201-210 und Geert Lovink: »Hermes on the Hudson.

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strukturiert, indem sie durchgängig auf die These abhebt, »dass die Literaturen um 1800 bzw. 1900 auf kultur- und medientechnischen Netzwerken aufsitzen, die deren nicht-gewusste Möglichkeitsbedingungen sind«102 , ohne bei den traditionell im Zentrum des Interesses der Literaturwissenschaft stehenden Inhalten zu verweilen. Folgt man Henning Schmidgen, zeichnet sich Kittlers Theorie wie die schreberschen Denkwürdigkeiten durch eine Tendenz zum blitzschnellen Ebenenwechsel aus, woraus ein Denken entsteht, »das zwischen biographischen Details und großen Diskursformationen oszilliert – wie ein Analytiker zwischen kleinen Versprechern und ganzen Familienkomplexen oder ein Paranoiker zwischen dem flüchtigen Blick eines Passanten und einem göttlichen System«.103 Schmidgen zufolge gibt es eine »strukturelle Verwandtschaft von Wahngebilde und Theoriebildung«104, insofern auch die Theorie Zusammenhänge beschreibe, die dem Alltagsverstand entgehen, ihm oft sogar widersprechen. Gemeinsame Prämisse ist zunächst die Überzeugung, dass Wesen und Erscheinung einer Sache nicht notwendig zusammenfallen. Wäre dies stets so, wäre keine wissenschaftliche Erklärung notwendig.105 Wie der paranoische Psychotiker richtet sich der Theoretiker mit einer erhöhten Sensitivität auf seine Umwelt, was sich zuweilen bis zum »Deutungswahn«106 steigern kann. Kein Ding in der Umgebung ist mehr unverdächtig, nichts erscheint isoliert von umfassenden ZusammenNotes on Media Theory after Snowden«, in: e-flux 54 (2014) für eine Reflexion zum Status von Medientheorie nach den Snowden-Enthüllungen. 102  |  Christian Köhler/Matthias Koch: »Wahnverwandtschaften 1900/1800. Friedrich Kittlers paranoische Medienhistoriografie«, in: Alexander Friedrich/Petra Gehring/Christoph Hubig/Andreas Kaminski/Alfred Nordmann (Hg.), Technisches Nichtwissen, Baden-Baden: Nomos 2017, S. 211-226, hier S. 212. 103  |  Henning Schmidgen: »Eine originale Syntax. Psychoanalyse, Diskursanalyse und Wissenschaftsgeschichte«, in: Friedrich Balke/Bernhard Siegert/Joseph Vogl (Hg.), Mediengeschichte nach Friedrich Kittler, München: Fink 2013, S. 27-43, hier S. 33. 104  |  Ebd., S. 31. 105  |  So würde zumindest eine epistemologische Fundamentalannahme lauten, die im Bereich der Sozialtheorie auch von Marx vehement vertreten wurde, insofern im historischen Materialismus die sinnlichen Gegebenheiten der warenproduzierenden Gesellschaft jeweils auf ihre gesellschaftliche und historische Konstitution befragt werden, um ihre Kontingenz aufzuweisen. 106  |  Ebd., S. 32. In besonderer Weise gelte dies für die Psychoanalyse, die gleichsam das wissenschaftliche Gegenstück zum Diskurs des paranoischen Wahns darstelle. Elias Canetti: Masse und Macht, Frankfurt a. M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag 2010 [1960] spricht angesichts des Falls Schreber von einer »Kausalitätssucht« (ebd., S. 537), die stets mit »Demaskierung und Entlarvung« (ebd., S. 538) ende, sobald die oberflächlich wahrnehmbaren Phänomene auf die vertraute Systematik zurückgeführt sind. »Alles ist auf dieselbe Weise ergründbar und wird zu Ende ergründet.« (Ebd., S. 539)

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hängen. Gerade der vermeintlichen Geschlossenheit technischer Apparate, deren Grenzen vom Gehäuse materiell eindeutig festgelegt zu sein scheinen, ist unter dieser Prämisse nicht zu trauen. In Wahn wie Wissenschaft zielt das Erkenntnisinteresse in vergleichbarer Weise auf ein System ab, dessen Funktionsweise es zu begreifen gilt. Während die Methoden der Hermeneutik auf Tiefe und Innerlichkeit zielen – das erlaubt die Absolutsetzung des (dann von Kittler auszutreibenden) Geistes sowie die immanente Ausdeutung isolierter Texte – sind Aufschreibesysteme nur als horizontal gestreute Beziehungsgefüge zu modellieren. Das Verfahren ihrer Beschreibung zielt auf die Breite, verfolgt die Streuung von Komponenten in Netzwerken, interessiert sich für soziale Funktionen, Relationen, Schaltstellen. In diesen verteilten Systemen nehmen die als Quellen herangezogenen Zeugnisse bestimmte Positionen ein, die sich erst aus der Beziehung zu anderen Aussagen oder Praktiken erschließen. Die paranoische Erkenntnisstrategie macht auch an den erkennenden Subjekten selber nicht halt, was ihr einen Zug ins Schizophrene verleiht. So kann Freud nach der Lektüre von Schrebers Aufzeichnungen zu dem Schluss kommen: »Mir ist das gelungen, was dem Paranoiker misslang«107 – Schmidgen ergänzt: »eine Vergrößerung des Ichs durch Deutungsarbeit«.108 Der schizophrene Paranoiker leidet insbesondere an einer Ich-Störung, genauer: an Störungen der Ich-Umwelt-Grenze. Für Kinder wie für psychisch Erkrankte ist die Integrität des eigenen Körpers keine Selbstverständlichkeit – man denke an Lacans berühmte Darstellung des Spiegelstadiums.109 Sie sollte es auch nicht für Medienwissenschaftler sein, ist man geneigt, mit Kittler zu ergänzen. Als pathologisch klassifizierte Fälle weisen darauf hin, dass zur Konstitution und Aufrechterhaltung der Grenzen des eigenen Körpers konstante – insbesondere auch psychische – Arbeit des Organismus erforderlich ist. Für Schizophrene und Paranoiker ist jedenfalls nicht zweifelsfrei geklärt, wo der eigene Körper aufhört und die Außenwelt beginnt, sodass es in ihren Berichten häufig zu irritierenden Vermischungen von Selbst und Anderem kommt.110 Kittler zeigt auf, wie Schreber im Grunde nur die Theorie seines behandelnden Arztes Paul Emil Flechsig wiederholt, der zufolge man sich das menschliche Gehirn als ausgedehntes System von Leitungen vorzustellen habe, das insgesamt tausende 107  |  Sigmund Freud an Sándor Ferenczi, zit. nach Schmidgen, »Eine originale

Syntax«, S. 31. 108  |  Ebd., S. 31. 109  |  Vgl. Jacques Lacan: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint« [1949], in: Jacques Lacan. Schriften I, hrsg. v. Norbert Haas, Berlin: Quadriga 1991, S. 61-70 und Friedrich Kittler: »Flechsig/Schreber/Freud. Ein Nachrichtennetzwerk der Jahrhundertwende«, in: Der Wunderblock. Zeitschrift für Psychoanalyse 11/12 (1984), S. 56-69, hier S. 61. 110  |  Schreber widmet ein ganzes Kapitel den körperlichen Transformationen, die er im Verlauf seiner Nervenkrankheit an sich festzustellen meinte. Vgl. Schreber: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, S. 105-113.

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Kilometer umfasst und einem Eisenbahnnetz, d. h. einer technischen Infrastruktur, auf frappierende Weise ähnelt.111 Bei Schreber klingt das so: Ich verkenne nicht, daß eine Vorstellung, wonach man sich meinen auf unserer Erde befindlichen Körper als durch ausgespannte Nerven mit anderen Weltkörpern verbunden zu denken hätte, bei den ungeheueren Entfernungen der letzteren für Menschen nahezu unbegreiflich ist; an der objektiven Wirklichkeit des Verhältnisses kann ich trotzdem nach den im Laufe der letzten sechs Jahre alltäglich von mir gemachten Erfahrungen keinen Zweifel hegen. 112

Schrebers Körper gehört ihm nicht gänzlich, er ist – quasi neurologisch – verbunden mit den erwähnten Aufschreibesystemen, die jede Regung, jeden kleinsten Gedanken registrieren und speichern. Die Netze machen an der epidermalen Grenze nicht halt, sondern erstrecken sich in den Körper des Nervenkranken hinein, dessen Kondition vom Erkrankten selbst nur aus Rücksicht auf diskursiv etablierte Gepflogenheiten als ›Geistes‹krankheit klassifiziert wird.113 Aus heutiger Sicht (nach Kittler und Snowden) gewinnt Schrebers Selbstdiagnose eine medienanalytische Pointe, insofern strukturell und medientechnisch implementiert scheint, was bei ihm noch als Wahnsinn auftreten musste. Die Verschaltung von Körpern und Apparaten findet nicht mehr exklusiv in der Klinik, sondern auf dem Terrain alltäglicher Praktiken statt. Lebendige Körper senden unablässig – bewusst oder unbewusst – ihren Standort, ihre Befindlichkeit, unter Umständen auch physiologische Parameter an Serverfarmen, die auf anderen Kontinenten stehen mögen. Aufgrund von sogenannten Filter Bubbles werden den strukturell paranoiden Subjekten ihre eigenen Weltsichten und Vorlieben wie in einem Echoraum als von außen kommend zurückgespielt.114 Aus lokalen Praktiken werden Datenbestände aggregiert, deren Auswertung vermittelt über das Design von Interfaces wieder auf die 111  |  Vgl. Kittler, »Flechsig/Schreber/Freud«, S. 376f. Canetti merkt dazu an,

dass für Schreber – gleichsam aufgrund der empfundenen Durchdringung von innerer und äußerer Infrastruktur – »das physikalische Prinzip von der Undurchdringlichkeit der Körper« aufgehoben sei: »So wie er sich überallhin erstrecken will, mitten durch den Leib der Erde hindurch, so erstreckt sich auch alles mitten durch ihn und treibt an ihm und in ihm seine Possen.« (Canetti: Masse und Macht, S. 548) 112  |  Schreber: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, S. 90. 113  |  Vgl. Kittler: »Flechsig/Schreber/Freud«, S. 60. 114  |  Vgl. zum Konzept der Filter Bubbles Eli Pariser: The Filter Bubble. How the New Personalized Web Is Changing What We Read and How We Think, New York: Penguin Books 2012. Schreber litt noch an der »geistigen Tortur« einer ständigen Wiederkehr bekannter Gedanken, insofern ihm jeder »Gedankenkeim« mit der Wendung des ständigen »das hammirschon« quittiert wurde. Vgl. Schreber: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, S. 93f.

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Praktiken zurückwirkt. In einem derart geschlossenen Regelkreis wird es notorisch schwierig, noch zwischen Eigenem und Fremden zu unterscheiden. Tendenziell nähern sich Selbstentwürfe und hinterlegte Profile iterativ einander an. Anliegen des kurzen Exkurses ist es daher, eine Geste des Denkens aufzugreifen, die sich für die Zwecke des hier verfolgten Projekts als Plädoyer für eine paranoischschizophrene Medienwissenschaft charakterisieren ließe. Keineswegs unterschlagen werden soll mit diesem Starkmachen einer bestimmten kognitiven Heuristik, die statt auf konstituierte Entitäten auf die Erhellung dahinterliegender Zusammenhänge und Relationen abhebt, dass gerade Paranoia gleichermaßen als Regierungsweise bzw. als politischer Stil auch digitaler Kulturen proliferiert.115 Insbesondere die Sicherheitspolitik nach den Anschlägen vom 11. September 2001 und die globale Ausweitung eines ›war on terror‹ können in diesem Sinne als paranoide Diskurse verstanden werden, die auf die Verallgemeinerung eines diffusen Bedrohungsgefühls hinauslaufen.116 Eva Horn liest derartige Diskurse unter anderem als Reaktion auf eine unüberschaubare technologische Vernetzung: Man versucht, sich der Hyperkomplexität unserer vernetzten Welt intellektuell zu stellen und damit an ihrer Bewältigung zu arbeiten. Wenn man Kontrolle und Überblick schon verliert, dann will man wenigstens Modelle für den Kontrollverlust entwickeln. 117

115  |  Vgl. zur ambivalenten Position von Paranoia als notwendiger Erkennt-

nisstrategie einerseits und Bestandteil eines auf Angst basierenden gouvernementalen Diskurses andererseits Martina Leeker: »Medien&Paranoia. Eine Live-Installation zur Fortbildung in Paranoia«, auf: DCRL Experiments & Interventions, dort datiert Oktober 2014, http://projects.digital-cultures.net/dcrl-experiments-interventions/wissensord-nungen/medien-paranoia/, zul. aufgeruf. am 31.1.2017. 116  |  Vgl. Eva Horn: »World Trade Center Paranoia. Politische Ängste nach 9/11«, https://germanistik.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/inst_germanistik/ Aktuelles/Horn_WTC_Paranoia.pdf, zul. aufgeruf. am 31.1.2017. Eine grundlegendere Kritik am paranoischen Erkenntnisstil und einer damit einhergehenden ›Hermeneutik des Verdachts‹ (Paul Ricoeur) liefert Eve K. Sedgwick: »Paranoid Reading and Reparative Reading; or, You’re So Paranoid, You Probably Think This Introduction is About You«, in: Dies. (Hg.), Novel Gazing. Queer Readings in Fiction, Durham: Duke University Press 1997, S. 1-37. Sedgwick spricht sich gegen eine Dominanz paranoider Erkenntnismodelle aus, deren Strategien der kompromisslosen Sichtbarmachung und Demystifizierung sie mit alternativen, aber nicht weniger kritischen epistemischen Praktiken kontrastiert. 117  |  Horn: »World Trade Center Paranoia«, S. 15. Eine politische Kultur der Paranoia bringe daher auch Verschwörungstheorien als Popularisierungsform hervor.

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Eine paranoische Wissenschaft läuft zudem Gefahr, Phänomene herbeizuschreiben bzw. in ihren Auswirkungen zu überschätzen, insofern lediglich mögliche Zusammenhänge als wahrscheinlich erachtet werden.118 Das grundsätzliche Dilemma der Paranoia besteht also darin, dass sie einerseits »als Erkenntnishaltung angebracht« scheint, »um die technologischen Bedingungen und ihre Politiken zu durchschauen.«119 Andererseits aber, führt Martina Leeker aus, werden die technologischen und politischen Bedingungen digitaler Kulturen gerade durch diese Erkenntnishaltung und Interpretationswut aufrechterhalten, denn Paranoia als gouvernementaler Diskurs bzw. als politischer Stil bringt die Lage, die sie durchschauen will, zuallererst hervor. 120

Wenn also im Folgenden eine als paranoisch-schizophren zu charakterisierende epistemische Verunsicherungsstrategie verfolgt wird, die weder Körper noch Apparate als Entitäten mit fixierten Grenzen voraussetzt, so geschieht dies mit dem deskriptiven Anspruch, eine medientechnisch implementierte, verteilte Form der Paranoia in ihren Grundzügen zu konturieren. Digitale Kulturen sind in wesentlichen Aspekten paranoid strukturiert und jede analytische Annäherung muss diesen Umstand reflektieren und in ihre Beschreibungen aufnehmen.121 Was hier als paranoisch-schizophren charakterisiert wurde, kennzeichnet also gleichermaßen die wissenschaftliche Herangehensweise wie die Strukturierung des Gegenstands: Das Smartphone ist nicht sinnvoll als isoliertes Artefakt zu beschreiben, sondern nur als eingebunden in eine Reihe apparativer Verflechtungen mit Körpern einerseits und Infrastrukturen der Kommunikation und Kontrolle andererseits.122 118  |  Vgl. für eine Kritik in diesem Sinne Wendy Hui Kyong Chun: Control and

Freedom. Power and Paranoia in the Age of Fiber Optics, Cambridge, Mass.: MIT Press 2006, S. 9, die Deleuze’ Begriff der Kontrollgesellschaft als Beispiel für einen paranoischen Theoriestil anführt. Zu diesem Begriff vgl. Kapitel 5.3 der vorliegenden Arbeit. Chun zieht allerdings auch die Parallele zwischen Schrebers Wahn und den Infrastrukturen des Internets. Vgl. ebd., S. 27 sowie 31-35. 119 |  Martina Leeker, http://projects.digital-cultures.net/dcrl-experiments-interventions /wissensordnungen/medien-paranoia/ambivalenz/, zul. aufgeruf. am 31.1.2017. 120  |  Ebd. 121  |  Ein solches Vorgehen empfiehlt auch Leeker, wenn sie dazu rät, »die grundlegend paranoide Konstitution digitaler Kulturen und Politiken« zu erkennen und auf Distanz zu setzen, um angemessen mit ihr sowie mit realen Bedrohungsszenarien umgehen zu können. (http://projects.digital-cultures.net/ dcrl-experiments-interventions/wissensordnungen/medien-paranoia/paranoiatraining, zul. aufgeruf. am 31.1.2017.) 122  |  In jüngerer Zeit gibt es einige Vorstöße innerhalb der Medienwissenschaft im hier vorgeschlagenen Sinn Paranoia als Erkenntnisstrategie und Methode aufzuwerten. Vgl. insbesondere Ned Rossiter: »Paranoia is Real. Algorithmic

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Der Rest des Kapitels widmet sich einem ersten Versuch, ein relationales Verständnis von Smartphones und Smartphonenutzern zu entwickeln. Dazu kontrastiere ich die vermeintlich individualisierende Funktion mobiler Endgeräte mit einer Perspektive, die auf die Berücksichtigung von Relationen abhebt. So können sowohl die beteiligten Subjekte als auch die verwendeten Objekte als eingebunden in vielfältige Beziehungsgefüge verstanden werden, was im Fokus auf Mensch-ComputerInteraktionen unterbelichtet bliebe. Was auf der Oberfläche als rein individueller Mediengebrauch erscheint, lässt sich theoretisch beschreiben als Hervorbringung eines Selbst-in-Relation, das vermittelt über eine Objektbeziehung zum Teil eines Apparats (gemacht) wird, dessen Grenzen wiederum nicht mit denen des Endgeräts zusammenfallen.

2.5 S elbst- in -R elation – S ubjektivierungsweisen S martphone -G ebrauchs

des

Wenn von Selbst und Subjekt die Rede ist, dann ist mit den beiden Begriffen der Bezug auf ein Theorieprogramm angedeutet, das sich auf (post-)strukturalistische Arbeiten von u. a. Louis Althusser, Michel Foucault und Judith Butler stützt.123 Das Selbst bezeichnet Aspekte wie »die personale Identität und Individualität, die Einheit des Bewußtseins, die Subjektivität«.124 Es kann gleichsam als reflexiver Teilaspekt des umfassenderen kulturell formierten Subjekts verstanden werden, nämlich als jener Teil, der für die Identitätskonstruktion zuständig ist.125 Philosophiegeschichtlich sind allerdings zwei Traditionen zu unterscheiden, in denen unterschiedliche Antworten auf die Frage nach der Verortung des Selbst zwischen Körper und Geist gegeben werden: In der ersten Tradition wäre die »Bezugnahme auf ein bewusstes Ich« (also die Selbstreflexion) der entscheidende Aspekt, während in der zweiten, jüngeren Tradition »das Selbst als dem Bewusstsein vorausgehendes, aus der materiell-leiblichen

Governance and the Shadow of Control«, in: Media Theory 1 (2017), S. 88-102, und Clemens Apprich: »Daten, Wahn, Sinn«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 17/2 (2017), S. 54-62. 123  |  Vgl. einführend zu den drei genannten Autoren als Subjektivierungstheoretiker Martin Saar: »Analytik der Subjektivierung. Umrisse eines Theorieprogramms«, in: Andreas Gelhard/Thomas Alkemeyer/Norbert Ricken (Hg.), Techniken der Subjektivierung, Paderborn: Fink 2013, S. 17-27. 124 |  Anonymus: »Art. ›Selbst‹. I. Antike bis frühe Neuzeit«, in: Joachim Ritter/ Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 9, Basel: Schwabe 2007, Sp. 292-293, hier Sp. 292. 125  |  Vgl. Andreas Reckwitz: Subjekt, Bielefeld: transcript 2008, S. 17.

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Existenz entstehendes«126 gedacht wird. Hinter dem Begriff der Subjektivierung als zentralem Arbeitsbegriff verbirgt sich ein weites Feld, das hier nur in einigen Grundannahmen skizziert werden kann.127 Als eine Art kleinster gemeinsamer Nenner der Subjektivierungstheorien ist die Grundintuition zu nennen, dass gesellschaftlich zurechenbare Subjekte geworden sind (spezifischer: gemacht werden), d. h., dass sie eine Geschichte haben und nicht als ahistorische, transzendentale Größen vorausgesetzt werden können. Die »Vorstellung eines selbstreflexiven, von Handlungsobjekten zu distanzierenden, in sich zentrierten Subjekts«, wie sie in Europa seit dem 17. Jahrhundert erkenntnistheoretisches Fundament gewesen ist (sie findet sich in unterschiedlichen Varianten bei Denkern wie Descartes, Kant, Locke und Hegel) ist spätestens im 20. Jahrhundert von (post-)strukturalistischen Subjekttheorien radikal in Frage gestellt worden.128 Stattdessen wird nun angenommen, dass sich Subjekte in und aus Praktiken bilden, wobei eine Reihe von Faktoren auf diese Praktiken einwirken, darunter »Ordnungen des Wissens, der Macht und der Selbstführung«.129 Subjekte entstehen am Schnittpunkt mehrerer Achsen von Einflussgrößen, die man unter anderem als Dispositive, Apparate und Ideologien bezeichnet hat. Dabei teilen die Subjektivierungstheorien grundsätzlich die Annahme der historischen Anthropologie, ›den Menschen‹ nicht als Kollektivsingular zum Ausgangspunkt der Überlegungen zu nehmen, sondern als »Produkt fortdauernder anthropologischer Projektionen, Programmatiken und Selbstformungen«130 zu begreifen. Die Genese von Subjekten ist immer in Machtverhältnisse eingebettet, sodass ein Subjekt immer zugleich Unterworfenes als auch Souverän über seine Handlungen ist: Selbst- und Fremdführung überlagern sich.131 Insbesondere die »Generierung flexibler und selbstregulativer Subjektdynamiken«132 in je nach Autor postmodernen, bürokratischen bzw. -industriellen Gesellschaften ist zu einem vitalen Forschungs126  |  Hannelore Bublitz/Irina Kaldrack/Theo Röhle/Mirna Zeman: »Einleitung«,

in: Dies. (Hg.), Automatismen – Selbst-Technologien, München: Fink 2013, S. 9-41, hier S. 11. 127   |  Vgl. einführend zur Subjektanalyse Reckwitz: Subjekt, und zum Prozess der Subjektivierung in praxistheoretischer Fokussierung Thomas Alkemeyer (Hg.), Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld: transcript 2013. Einen guten begrifflichen und wissenshistorischen Überblick gibt auch Wiebke Wiede: »Subjekt und Subjektivierung«, auf: Docupedia-Zeitgeschichte, dort datiert am 10.12.2014, http://docupedia.de/zg/Subjekt_und_ Subjektivierung, zul. aufgeruf. am 31.1.2017. 128  |  Ebd. 129   |  Saar: »Analytik der Subjektivierung«, S. 22, hier im Anschluss an Foucault. 130  |  Wiede: »Subjekt und Subjektivierung«. 131  |  Vgl. Bublitz et al.: »Einleitung«, S. 21-23. 132  |  Ebd., S. 22.

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schwerpunkt der Kultur- und Sozialwissenschaften geworden.133 Dabei interessiert vor allem die Verschränkung von Regierungszielen und Techniken der Selbstführung, die im Resultat dazu führe, dass die Subjekte ihr Regiertwerden überwiegend als Selbstbestimmung, persönliche Entfaltung und Freiheit erleben. Im Zuge von Praktiken des Selbstmanagements und der Selbstoptimierung machen sich die Subjekte gerade in marktdominierten Gesellschaften in Eigeninitiative anschlussfähig an systemische Anforderungen, was die historisch älteren Zwangsmechanismen der Disziplin in den Hintergrund rücken lässt. Diese Praktiken geben folglich auch die kulturelle und ökonomische Rahmung der im Folgenden näher zu thematisierenden Subjektivierungsweisen des Smartphonegebrauchs ab. Keine Analytik von Subjektivierungsprozessen oder Techniken der Subjektivierung kommt ohne Bezug auf konkrete, singuläre Subjekte aus, das unterscheidet sie letztlich von anthropologischen Ansätzen.134 Mit Andreas Reckwitz, dessen praxeologisch ausgerichteter Analytik hier weitgehend gefolgt werden soll, lässt sich als zentrale Forschungsfrage einer kulturwissenschaftlichen Subjektanalyse formulieren: »Welche Codes, Körperroutinen und Wunschstrukturen muss sich der Einzelne in einem jeweiligen historisch-kulturellen Kontext einverleiben, um zum zurechenbaren, vor sich selber und anderen anerkannten ›Subjekt‹ zu werden?«135 Subjekte lassen sich am treffendsten als »Bündel von Dispositionen« beschreiben: Insofern es [das Subjekt, T. K.] nichts anderes ist als ein Träger routinisierter Praktiken, lässt es sich als eine Agglomeration von Kompetenzen begreifen, als ein Set inkorporierter und interiorisierter Kriterien und Schemata, mit denen es in den Vollzug bestimmter Praktiken ›einrückt‹. 136

Reckwitz macht auch auf die besondere Rolle von Artefakten der materialen Kultur für die »Ausbildung und Reproduktion der Subjektdispositionen«137 aufmerksam. 133  |  Vgl. stellvertretend für eine Vielzahl von Titeln Ulrich Bröckling/Susanne

Krasmann/Thomas Lemke (Hg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000, Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007 und Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2006, insbesondere S. 441-630. 134  |  Vgl. Saar: »Analytik der Subjektivierung«, S. 27. Insofern aber auch eine Medienanthropologie nach konkreten Verstrickungsverhältnissen von Menschen und Medien fragt, ist die Analyse von Subjektivierungsweisen ein Teilaspekt innerhalb dieses größer angelegten Fragehorizonts. 135  |  Reckwitz: Subjekt, S. 14. 136  |  Ebd., S. 40. 137  |  Ebd., S. 62.

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Letztere seien immer ein Korrelat spezifischer Praktiken und damit eben auch der Artefakte, die in diesen Praktiken Verwendung finden.138 Im Folgenden stehen einige Subjektivierungsweisen beim Gebrauch von digitalen Nahkörpertechnologien im Mittelpunkt des Interesses, ohne dass damit eine typisierend-vollständige Beschreibung angestrebt wird. Vorrangig geht es um Praktiken der Selbstbezugnahme zwischen den Polen von Individualisierung und Relationalität, wie sie bei der Verwendung mobiler Endgeräte charakteristisch sind. Deren knappe Darstellung soll verdeutlichen, dass und wie internetfähige portable Technologien auf die Selbstorganisation einwirken. Mein Hauptanliegen dabei ist es, herauszuarbeiten, dass die Subjektivierungstechniken bzw. »Praxis-/Artefaktkonstellationen«139 rund um den Smartphonegebrauch aufgrund ihrer Eingebundenheit in Alltagspraktiken und permanenten Bezogenheit auf eine Person deutlich von denen bei der Verwendung ortsgebundener Computertechnologien abweichen. Philosophisch gesprochen werden die Geräte in einem wesentlich größeren Ausmaß zum Teil der Lebenswelt, jenem ›Universum der Selbstverständlichkeiten‹, in dem Fragen nach Legitimation oder Existenzberechtigung keine Rolle mehr spielen.140 Plausibilisieren möchte ich damit die von den neueren Subjektivierungstheorien geteilte Auffassung, dass das Selbst nicht als abstrakte mentalistische Größe verstanden werden kann, sondern dass »weitgehend unbewusst bleibende, auch körperlich-leibliche und medientechnologische Prozesse […] an der Ausbildung von Selbstverhältnissen beteiligt sind«.141

2.5.1 Smartphones als Selbst-Technologien Smartphones sind für die Frage nach Subjektivierungen besonders relevant, weil sie gleichzeitig die drei primären Subjektivationsorte besetzen, die Reckwitz bereits für die bürgerlich-moderne Subjektkultur ausmacht: Arbeit, Intimität und Technologien des Selbst.142 Sowohl Computer als auch Mobiltelefon fanden zunächst in beruflichen Feldern Anwendung, bevor sie Medien des privaten Alltags wurden. Das Smartphone bietet sich auf den ersten Blick insbesondere für eine Ökonomisierung von 138  |  Vgl. ebd. 139  |  Ebd., S. 138. 140  |  Vgl. Hans Blumenberg: »Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten

der Phänomenologie« [1963], in: Ders., Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart: Reclam 2009, S. 7-54, hier S. 36f. 141  |  Bublitz et al.: »Einleitung«, S. 11. In dieser Annahme steckt gegenüber der philosophischen Tradition die Provokation, dass es gerade vom Selbst nicht kontrollierte und auch prinzipiell nicht kontrollierbare Größen sind, die zu dessen Konstitution beitragen. Vgl. für diese These mit Bezug auf die Automatismenforschung Hannelore Bublitz: »These 4: Selbst-Technologien sind Kulturtechniken, mit deren Hilfe das Subjekt auf sich einwirkt […]«, in: Bublitz et al., Automatismen – Selbst-Technologien, S. 248-251. 142  |  Vgl. Reckwitz: Subjekt, S. 55-62.

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Alltagspraktiken an – z. B. durch Zeitmanagement-Anwendungen, Kalender, ständige Erreichbarkeit, die mobile Verrichtung von Arbeit – und die eingangs erwähnten Bring Your Own Device-Richtlinien in Unternehmen verweisen auf die Bedeutung des Smartphones als Arbeitsgerät. Gleichzeitig, und hier lässt sich eine besondere Spannung leicht ausmachen, dienen die Geräte der intimen Kommunikation mit einem ausgewählten Kreis von Freunden und Verwandten. Sie sind in mehrfacher Hinsicht Intimate Computer, die noch mit ins Bett genommen werden, um persönliche Beziehungen zu pflegen.143 Die für solche Kommunikationen typische affektive Besetzung überträgt sich zum Teil auf die Geräte selbst.144 Mit dem von Foucault entlehnten Konzept der Technologien des Selbst schließlich sind bei Reckwitz in einem umfassenderen Sinn Praktiken gemeint, in denen Subjekte ein Verhältnis zu sich selbst herstellen.145 Hierunter fallen insbesondere mediale Praktiken, die allerdings in dieser Perspektive nicht in erster Linie als Akte der Kommunikation thematisiert werden, sondern als Techniken, in denen das Subjekt über den Weg der Wahrnehmung von ihm präsentierten oder selbst produzierten Zeichensequenzen mit sich selbst beschäftigt ist, sei es zum Zwecke der Bildung, des Kunstgenusses, der Selbstexploration, der Zerstreuung oder des Spiels. 146

Auch diese Bestimmung scheint für das Smartphone in besonderer Weise gegeben: Sie werden auch in öffentlichen Räumen überwiegend individuell genutzt, dienen dem Konsum personalisierter Medienangebote und bieten diverse Optionen zur Selbstformierung, beispielsweise über die Pflege von Profilen auf Social Networking Sites und das Verwalten persönlicher Fotosammlungen. In einer Reihe von Arbeiten ist bereits das herkömmliche Mobiltelefon als Agens und Ausdruck einer fortschreitenden Individualisierung beschrieben worden.147 An143  |  Zu historischen und zeitgenössischen Konzepten von Intimate Computing

vgl. Kapitel 3.3 der vorliegenden Arbeit. 144  |  Vgl. Jane Vincent: »Emotionale Bindungen im Zeichen des Mobiltelefons«, in: Glotz, Daumenkultur, S. 135-142 und Satomi Sugiyama: »Melding with the Self, Melding with Relational Partners, and Turning into a Quasi-Social Robot. A Japanese Case Study of People’s Experiences of Emotion and Mobile Devices«, in: intervalla 1/1 (2013), S. 71-84. 145  |  Vgl. Reckwitz: Subjekt, S. 58-60. 146  |  Ebd., S. 59. 147  |  Vgl. Leopoldina Fortunati: »Das Mobiltelefon als technologisches Artefakt«, in: Glotz, Daumenkultur, S. 171-184, hier S. 177f. und David Morley: Media, Modernity and Technology. The Geography of the New, London: Routledge 2007, S. 210f. mit Bezug auf Ulrich Becks soziologische Individualisierungsthese, die sich mit Transformationen traditioneller Gemeinschaftsformen und einer Pluralisierung selbstbestimmter Lebensstile befasst. Zusammenfassend

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gesichts des Smartphones steigert sich der Befund gelegentlich zu einer pauschalisierten Narzissmusunterstellung, was z. B. an der um sich greifenden Selfie-Kultur festgemacht wird. Mediennutzer seien absorbiert von ihren persönlichen Medienumgebungen, die nach ihren eigenen Präferenzen eingerichtet sind. Gerade internetfähige Endgeräte ermöglichen durchaus die ambulante Konstruktion eines persönlichen Schutzraums in der Öffentlichkeit, was neben der Überbrückung von Leerzeiten auch dem Verlegenheitsmanagement dient.148 Praktiken des Cocooning mittels mobiler Medien werden von einigen Beobachtern als Indiz für eine Verkümmerung der öffentlichen Sphäre gedeutet, insofern die nomadische Mediennutzung den Kontakt zu kopräsenten Mitmenschen unterbinde.149 Als Nutzer digitaler Medien, so die weithin geteilte Auffassung, ist man auch unterwegs vorwiegend mit sich selbst befasst. Der somit unterstellte intrinsische Solipsismus persönlicher Informationstechnologien kann allerdings sowohl in historischer Perspektive als auch systematisch relativiert werden. Zunächst muss jede Vorstellung des Persönlichen selbst historisiert werden. Sie ist verbunden mit der abendländischen Geschichte (bildungs-)bürgerlicher Subjektkonstitution, also mit der Art und Weise, wie ein aufgeklärt-säkulares David Morley: »What’s ›Home‹ Got to do with it? Contradictory Dynamics in the Domestication of Technology and the Dislocation of Domesticity«, in: European Journal of Cultural Studies 6/4 (2003), S. 435-458, hier S. 451: »If the Walkman is […] a privatizing technology, then […] the mobile phone is perhaps the privatizing (or individualizing) technology of our age, par excellence.« 148  |  Vgl. Michael Bull: »›To Each Their Own Bubble‹. Mobile Spaces of Sound in the City«, in: Nick Couldry/Anna McCarthy (Hg.), Mediaspace. Place, Scale and Culture in a Media Age, London: Routledge 2004, S. 275-293 für auditive Technologien vom Autoradio über mobile Musikabspielgeräte bis zum Mobiltelefon. Vgl. auch Mizuko Itō/Daisuke Okabe/Ken Anderson: »Portable Objects in Three Global Cities. The Personalization of Urban Places«, in: Ling/Campbell, The Reconstruction of Space and Time, S. 67-87, hier S. 73: »One of the primary functions of mobile media […] carried in public and semi-private places is to provide a personalized media environment that is attached to the person and not the physical place«. 149  |  Für eine differenzierte Darstellung der Diskurse vgl. Heike Weber: »Zwischen ›Connectivity‹ und ›Cocooning‹. Choreographien und Inszenierungen am Medienportable«, in: Josef Bairlein/Christopher Balme/Jörg von Brincken/ Wolf-Dieter Ernst/Meike Wagner (Hg.), Netzkulturen. Kollektiv, kreativ, performativ, München: epodium 2011, S. 215-229. Sie fasst zusammen: »Das Handy ist Nabelschnur hin zu vertrauten Personen, per Walkman kann man sich in die vertraute Musikkulisse einklinken. Solche virtuellen Vernetzungen können zugleich als postmoderne ›Kokoons‹ gedeutet werden: Elektronische Gespinnste, in die man sich in mobilen Situationen – also abseits der schützenden, eigenen vier Wände – gegenüber der Umwelt zurückziehen kann und die auch unterwegs Gefühle von Heimat, Vertrautheit und Sicherheit vermitteln.« (Ebd., S. 229)

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Individuum auf sich selbst Bezug nimmt, sich zu sich selbst in ein Verhältnis setzt. Techniken des Selbstschreibens gehen bis in die Antike zurück, wie Foucault anhand der sogenannten hypomnêmata aufgezeigt hat, Notizbücher, die dazu dienten, »bereits Gesagtes festzuhalten, Gehörtes oder Gelesenes zu sammeln, und das zu einem Zweck, der nichts Geringeres ist als die Konstituierung des Selbst«.150 Dazu wurden immer schon Medien verwendet, insbesondere das Tagebuch151, der Brief152 , der Notizblock und der Terminkalender. Zunächst fällt auf, dass diese Medien von portablen digitalen Medien in transformierter Gestalt wiederaufgenommen werden.153 Das Subjekt ist gleichsam das Ergebnis eines iterativen Prozesses der Selbstadressierung, -kommunikation und -vergewisserung, der sich in Medienpraktiken vollzieht. Der Akt der Selbstreflexion ist prinzipiell auf ein mediales Korrelat verwiesen.154 In diesem umfassenden Sinn dienen Smartphones wie ihre historischen Vorläufer als Selbst-Technologien, also als »Verfahren, die das Selbst formen und mit denen sich das Selbst formt«.155 Jane Vincent fasst die selbst-technologische Dimension persönlicher mobiler Medien zusammen: Through constant use, personalization of features, functions and content, the mobile phone has become a personal compendium for the life of the user and

150  |  Michel Foucault: »Über sich selbst schreiben« (1983), in: Ders., Dits et Ecrits. Band IV. 1980-1988, hrsg. v. Daniel Defert u. Francois Ewald, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, S. 503-521, hier S. 508. 151  |  Vgl. Reckwitz: Subjekt, S. 155-171. 152  |  Vgl. Nikolaus Wegmann: Tauschverhältnisse. Zur Ökonomie des Literarischen und zum Ökonomischen in der Literatur von Gellert bis Goethe, Würzburg: Königshausen & Neumann 2002, S. 57-79 und Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München: Fink 1999, der »den medialen Mechanismus, der die intellektuelle Subjektkonstitution im 18. Jahrhundert bestimmt« (ebd., S. 242), in der Briefkultur der Empfindsamkeit ausmacht. 153  |  Gelegentlich sind Rückfälle in klassisch-bürgerliche Subjektivierungspraktiken zu beobachten, wenn beispielsweise die Grenzen des Akkus das flexible, digital vernetzte Subjekt dazu nötigen, ganz profan auf Stift und Papier zurückzugreifen, wenn eine Notiz angelegt werden soll. 154  |  Zur Reflexion als Selbst-Technologie, die wiederum auf Medien angewiesen ist, vgl. Hartmut Winkler: »These 3: Das bürgerliche Subjekt konstituiert sich über die Reflexion. Diese ist eine Selbst-Technologie und funktioniert als eine Art Automatismus.«, in: Bublitz et al., Automatismen – Selbst-Technologien, S. 245-248. 155  |  Bublitz et al.: »Einleitung«, S. 11.

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Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien one that reflects intimate aspects of their self, not shared with any other person or device apart from their own mobile phone […]. 156

Doch die Vorstellung von digitalen Nahkörpertechnologien als eindeutigen Agenten einer Individualisierung, die sich als intimes Zwiegespräch mit einem Medium vollzieht, kann nicht restlos überzeugen. Zum einen lässt sich durchaus gerade das Gegenteil, nämlich neue Kollektivierungsphänomene mobil vernetzter Bewegungen, beobachten.157 Zum anderen unterminieren persönliche Kommunikationstechnologien den Individualismus, den sie vordergründig befördern, in mehrfacher Hinsicht. Verschiedene Autoren haben darauf hingewiesen, dass sich der Subjektstatus mobil vernetzter Individuen drastisch verändert. Ein vernetztes oder relationales Selbst, das über ein internetfähiges Endgerät jederzeit adressierbar und als Knoten in einem soziotechnischen Netz identifizierbar ist, zeichnet sich durch allseitige Verbundenheit, aber auch durch neue Verbindlichkeiten aus.158 Als »tethered self«159 ist es stets in der Lage, unter Umständen auch dazu genötigt, den permanenten Kontakt zu Freunden und Familie aufrechtzuerhalten. Statt mit sich selbst – bzw. über ein Medium als Gegenüber – aushandeln zu müssen, wer man sein möchte und wie auf die Anforderungen des Alltags zu reagieren sei, wird eine ständige Verbindung zu einem Kreis von intimen Sozialkontakten aufrecht erhalten, der situativ dazu geschaltet werden kann. Körpernahe Mobilgeräte werden so zur Möglichkeitsbedingung einer »ambient virtual co-presence«160, die zum Beispiel über häufig ausgetauschte Text- und Bildnachrichten hergestellt wird. 156  |  Jane Vincent: »Is the Mobile Phone a Personalized Social Robot?«, in: intervalla 1/1 (2013), S. 60-70, hier S. 63. 157  |  Vgl. Howard Rheingold: Smart Mobs. The Next Social Revolution, Cambridge, Mass.: Perseus 2002, Inge Baxmann/Timon Beyes/Claus Pias (Hg.), Soziale Medien – Neue Massen, Zürich: Diaphanes 2014 und Oliver Leistert: From Protest to Surveillance – The Political Rationality of Mobile Media. Modalities of Neoliberalism, Frankfurt a. M.: Peter Lang 2013. Dieser Aspekt soll hier nicht weiter verfolgt werden. 158   |  Vgl. zum Folgenden Timo Kaerlein: »Selbst-Verhältnisse sind systematisch verschränkt mit Verhaltensautomatismen auf einer körperlich-unbewussten Ebene, die sich im Wechselspiel mit medientechnischen Dispositiven ergeben«, in: Bublitz et al., Automatismen – Selbst-Technologien, S. 131-134. 159  |  Sherry Turkle: »Always-on/Always-on-you. The Tethered Self«, in: Katz, Handbook of Mobile Communication Studies, S. 121-137. 160  |  Mizuko Itō/Daisuke Okabe: »Technosocial Situations. Emergent Structuring of Mobile E-Mail Use«, in: Itō/Okabe/Matsuda, Personal, Portable, Pedestrian, S. 257-273, hier S. 264. Vgl. weiterhin Christian Licoppe: »›Connected‹ Presence. The Emergence of a New Repertoire for Managing Social Relationships in a Changing Communication Technoscape«, in: Environment and Planning D: Society and Space 22/1 (2004), S. 135-156.

2. Bring Your Own Device As a material object, the mobile phone functions as an icon of relationship, of techno-umbilical connection. The Enlightenment paean to individualism, ›I think therefore I am‹ is replaced with ›I am linked therefore I am‹.161

Damit verbundene Praktiken sind beispielsweise Formen des Remote Parenting über mobile Medien162 , medial gestützte Paarbeziehungen, aber auch das situative Versenden von u. U. lokalisierten Statusupdates via Social Networking Sites, die Reaktionen provozieren sollen und das soziale Umfeld in den Alltag einbeziehen. Die angeführten Phänomene permanenter medialer Kopräsenz und Praktiken der Vernetzung deuten bereits darauf hin, dass die sich an das Smartphone anlagernden Subjektivierungsprozesse im Resultat auf eine Pluralisierung und Hybridisierung des Selbst hinauslaufen.163 Dies korreliert mit Veränderungen in der politischen Auffassung der zu regierenden Subjekte im Sinne einer umfassenden Soziokybernetik, wie sie spätestens seit den 1960er-Jahren in verschiedenen gesellschaftlichen Feldern wirksam geworden ist: Das rationale westliche Subjekt, das sich seiner Interessen bewusst ist, die Beherrschung der Welt anstrebt und damit regierbar ist, weicht der kybernetischen Vorstellung eines aufstrebenden, klimatischen Wesens ohne Innerlichkeit, eines selfless self, eines Ich ohne Ich, das durch seine Äußerlichkeit, seine Beziehungen konstituiert ist. 164

161  |  Kenneth J. Gergen: »Self and Community in the New Floating Worlds«, in: Nyíri, Mobile Democracy, S. 103-122, hier S. 111. Vom Imperativ der Vernetzung, insbesondere der hier veranschlagten Nabelschnur-Metaphorik, führt ein interessanter Strang zum vermeintlich freien, aber stets rückgebundenen Agieren unter dem Einfluss von bürgerlichen Disziplinierungsmedien wie dem Gängelband. Dabei handelt es sich um eine Laufhilfe für Kleinkinder, die zwar bis zu einem gewissen Grad Handlungsoptionen eröffnet (in einem flexiblen Rahmen), zugleich aber den Sprössling nicht aus der Unmündigkeit entlässt. Ich danke Christoph Neubert für diesen Hinweis. 162  |  Vgl. Morley: Media, Modernity and Technology, S. 205-210. 163  |  Vgl. Gerald Raunig: »Dividuen des Facebook. Das neue Begehren nach Selbstzerteilung«, in: Oliver Leistert/Theo Röhle (Hg.), Generation Facebook. Über das Leben im Social Net, Bielefeld: transcript 2011, S. 145-160, hier S. 156, der am Beispiel von Facebook von einem »neue[n] Begehren nach Dividualität« spricht, womit ein nicht zuletzt angstgesteuertes Bedürfnis gemeint ist, sich selbst (mit-)zuteilen und Authentizität nicht in einem stabilen Selbstkern, sondern in der verteilten Kommunikation mit anderen zu finden. 164  |  Unsichtbares Komitee: »Fuck off, Google«, auf: Indymedia, dort datiert Oktober 2014, https://linksunten.indymedia.org/de/system/files/data/​2 0​15/​ 01/1713951010.pdf, zul. aufgeruf. am 31.1.2017, S. 3. Vgl. für eine empirischsoziologische Untersuchung des Subjektivierungstyps vernetzter Individualität

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Das Unsichtbare Komitee argumentiert an dieser Stelle, dass der Homo Oeconomicus als lange Zeit dominante Subjektivierungsfigur in der politischen Ökonomie des Kapitalismus durch ein kybernetisches Subjekt abgelöst werde, das als transparentes Relais von Informationen und Träger von Relationen begriffen wird.165 Ich möchte argumentieren, dass das Smartphone eine Schlüsseltechnologie zum Verständnis der Genese dieses historisch rezenteren Subjektivierungstypus darstellt und dass dieser nicht ohne Rekurs auf nahkörperlichen Technik- und Mediengebrauch verstanden werden kann. In diesem Sinne führt auch Erich Hörl aus: »Es sind die […] technologischen Objektkulturen, mit denen wir gekoppelt sind, die die Souveränität und Verfügungsmacht des bedeutunggebenden transzendentalen Subjekts endgültig aus den Angeln heben.«166 Zu dieser veränderten Subjektauffassung gehört die Vorstellung eines dezentrierten Selbst, das nicht mehr als souveräner Akteur auftritt, sondern als Relais in einem technischen Netzwerk verortet ist, aus dem es Steuerungsimpulse empfängt. Nicht nur in Relation zu anderen Menschen konstituiert sich also das Smartphone-Subjekt, sondern zunehmend in Relation zu Daten, die beispielsweise von Sensoren in Bereichen erfasst werden, die menschlicher Perzeption und Kognition nicht zugänglich sind. So beschreibt Sun-ha Hong im Rahmen einer Auseinandersetzung mit der als Avantgarde in dieser Hinsicht auftretenden Selftracking-Community Quantified Self die Delegation von Verantwortung für die Erkenntnis des eigenen Selbst an eine Reihe von Technologien wie Smartphone-Apps, Wearables und Smart Environments, denen ein privilegierter epistemischer Zugang in Bezug auf das Selbst – und allem voran in Bezug auf den Körper – eingeräumt wird.167 Sensoren erfassen kontinuierlich Routinen, soziale Verhaltensweisen und physiologische Signale und die daraus Harrison Rainie/Barry Wellman: Networked. The New Social Operating System, Cambridge, Mass.: MIT Press 2012. Die Autoren widmen sowohl der Entwicklung des Internets als auch dem Phänomen mobiler Konnektivität jeweils ein eigenes Kapitel (»The Internet Revolution«, S. 59-80 und »The Mobile Revolution«, S. 81-108). Kernthese des Buches ist, dass dynamische soziale Netzwerke seit Beginn der 2000er-Jahre wesentlicher für die Identität des Einzelnen werden als ältere Kollektive wie die Familie oder das berufliche Umfeld. 165  |  Vgl. Unsichtbares Komitee: »Fuck off, Google«, S. 4. Vgl. auch Luca Di Blasi: »Die Räume der Kybernetik«, in: TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15/10.4 (2003), S. 2: »Die klassische Kybernetik lässt einen abendländischen Leitbegriff wie den des autonomen Subjekts, zumindest tendenziell, hinter sich.« 166  |  Erich Hörl: »Die technologische Bedingung. Zur Einführung«, in: Ders. (Hg.), Die technologische Bedingung. Beiträge zur Beschreibung der technischen Welt, Berlin: Suhrkamp 2011, S. 7-53, hier S. 12. 167  |  Vgl. Sun-ha Hong: »Data’s Intimacy. Machinic Sensibility and the Quantified Self«, in: communication +1 5 (2016). Zum damit verknüpften Konzept einer Daten-Intimität vgl. Kapitel 3.3.

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extrahierten Daten geben innerhalb der Community den Rahmen dessen ab, was als Selbst adressiert werden kann: By building a complexity of automated observations and communications across various sensors, the human user is positioned not as a centralised controller over each process but a responsive actor that is alerted, interrupted and otherwise ›lead on‹ by this ›smart‹ environment. 168

Teil der kybernetischen Selbst-Vorstellung ist also nicht bloß die Auflösung eines stabilen Ich-Kerns in situativ realisierte soziale Relationen, sondern auch die Fragmentierung des Selbst in eine Akkumulation von Datenpunkten, die einzeln erfasst und beispielsweise im Rahmen von Datenvisualisierungen wieder zusammengeführt werden können. Kevin Kelly, einer der Gründer der Quantified Self-Community, spricht von einem ›Exoself‹: »an ›extended connected self‹ that constantly discharges data while receiving all kinds of machinic communications, both consciously and non-consciously«.169 Zum medienanthropologischen Imaginären dieser Konstellation gehört auch die Frage nach der Gestaltung zukünftiger Interfaces auf eine Weise, dass von technischen Sensoren erfasste Perzeptionen nahtlos mit der biologischen Sinnesausstattung verknüpft werden könnten. Damit können sie allerdings auch nicht mehr als Prozesse identifiziert werden, in denen sich verschiedene Interessen und Agenturen kreuzen, sondern sie werden als quasi-eigenkörperliche Vermögen dem Bereich des unproblematisch Verfügbaren zugerechnet.170 Im weiteren Verlauf dieses Teilkapitels möchte ich unter Bezug auf Arbeiten von Erving Goffman und William James herausarbeiten, wie sich die Konstituierung eines heterogenen Selbst-in-Relation bereits auf der Ebene des nahkörperlichen Umgangs mit vernetzten Objekten beobachten lässt. Die dahinterstehende These ist, dass Subjektivierungsprozesse kein abstrakter Vorgang sind, sondern dass die nahkörperliche Sphäre eine besonders wichtige Rolle darin einnimmt, sodass sie gesonderte Berücksichtigung verdient.

2.5.2 Territorien des Selbst (Goffman) und heterogene Selbstkonstitution (James) Der amerikanische Soziologe Erving Goffman führt – darauf hat Erika Linz hingewiesen – in seinen Überlegungen zu den Territorien des Selbst aus, »in welcher Weise die personale Identität des Einzelnen und die soziale Interaktion über territoriale 168  |  Ebd., S. 10. 169  |  Ebd., S. 23. 170  |  Vgl. ausführlicher zu den Verkörperungsprozessen des Smartphones und

den Möglichkeiten ihrer theoretischen Beschreibung Kapitel 4 der vorliegenden Arbeit.

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Ansprüche konstituiert und aufrechterhalten werden«.171 Territorien sind hier nicht in erster Linie geografisch zu verstehen, sondern sie schließen virtuelle Handlungsräume mit ein und können situativ definiert werden. In einer ersten Annäherung unterscheidet Goffman drei Arten der Organisation von Territorien, auf die Individuen Ansprüche erheben: Erstens sind dies ortsgebundene Territorien wie Häuser und Grundstücke. Zweitens können situationelle Territorien wie Parkbänke oder Restauranttische beschrieben werden, die lediglich temporär einer Person zugeordnet werden. Schließlich gibt es ego-zentrierte Territorien, in die alle persönlichen Habseligkeiten fallen (von der Kleidung bis zur Geldbörse) und die im Regelfall als mit der Person identisch betrachtet werden, sodass Übergriffe in diese Sphäre eindeutig sanktioniert sind.172 Goffmans Territorien des Selbst korrelieren recht genau mit Agars Kreisen persönlicher Technologien (Desktop-Rechner am fixierten Ort, situativ mobiler Laptop und ständig mitgeführtes Smartphone).173 Entscheidend ist nun der auch medienhistorisch zu beschreibende Prozess der Verlagerung von Computertechnologien von der neutralen Sphäre des Besitzes zum integralen Teil der personalen Identität. Was für das Telefon bereits vollzogen ist – die »Transformation […] von einem situationellen zu einem egozentrischen Territorium«174 –, findet für den Computer gerade statt. Vom festinstallierten Teil einer starren Architektur findet eine Verschiebung in Richtung auf den menschlichen Körper statt.175 Es fällt auf, dass das jeweilige Design der sich zunehmend an den Körper anschmiegenden Technologien von Alltagsgegenständen verschiedenen Formats inspiriert wird: Von der heute bereits antiquiert wirkenden Begegnung eines Radarbildschirms mit einer Schreibmaschine (Workstations) über kofferähnliche erste tragbare Computer und buchähnliche Formen (Notebook) bis hin zu Wearables, die sich an Mode und Schmuck orientieren.176 Wie wirkt sich diese Verlagerung auf die Subjektkonstitution und damit verbundene Selbstvorstellungen aus? Im Vergleich zu einem Personal Computer, der nur gelegentlich, zweckgebunden und an einem zugewiesenen Ort verwendet wird, ist ein Medium wie das Smartphone schon aufgrund seiner besonderen Relation zum Körper enger an ein Subjekt und an dessen Selbstempfindung gekoppelt. Dies gilt auf der Ebene lokaler Interaktionen, aber zugleich auch auf der Ebene der medial ver171  |  Linz: »Mobile Me«, S. 164. 172  |  Vgl. Erving Goffman: Relations in Public. Microstudies of the Public Order,

New York: Basic Books 1971, S. 29 und 38 sowie Linz: »Mobile Me«, S. 164-166 für eine Zusammenfassung der Argumentation. 173  |  Vgl. Agar: Constant Touch, S. 179f. 174  |  Linz: »Mobile Me«, S. 165. 175  |  Vgl. für eine Beschreibung dieses Prozesses auch William J. Mitchell: Me++. The Cyborg Self and the Networked City, Cambridge, Mass.: MIT Press 2003, S. 63-82. 176  |  Vgl. ebd., S. 71.

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mittelten Beziehungen. In ersterer Hinsicht rückt das Gerät nahe an die somatische Selbstempfindung heran (Goffmans ego-zentriertes Territorium), sodass eine Intervention von Anderen in dieser Sphäre subjektiv als Grenzüberschreitung wahrgenommen wird. Für die medial vermittelten Beziehungen kann ein über kontextsensitive Technologien vermitteltes, erweitertes Raumgefühl angenommen werden – Jason Farman spricht treffend von »social proprioception: a sense of embodied integrity that is aware of the self ’s place as that which is always already situated in relationship to the location of others«.177 Damit dehnt sich die Selbstwahrnehmung über den primärsinnlich wahrnehmbaren Kontext aus in einen Sozialraum, der über das Gerät repräsentiert werden kann, beispielsweise als Anzeige in der Nähe befindlicher Freunde oder der Zustimmung bzw. Ablehnung von Kollegen, die über ein Social Network kommuniziert wird. Während das Smartphone zum Teil des ego-zentrierten Territoriums wird, erweitert es gleichzeitig die Topologie dieses Egos und hybridisiert damit die Selbstvorstellung. Die genannten Praktiken und Medien mögen vergleichsweise jung sein, die Vorstellung eines in die soziale und dingliche Welt erweiterten Selbst ist es nicht: William James formulierte bereits 1890 in seinen Principles of Psychology eine Theorie des empirischen Selbst, in der dieses in einer Art Schichtenmodell aus einer körperlichen Basis in Kombination mit einer ganzen Anzahl sozialer Selbstfacetten sowie einer spirituellen Selbstvorstellung besteht.178 Interessant sind seine frühen Überlegungen deshalb, weil er grundsätzlich die Frage aufwirft, was überhaupt zu einem Selbst zu zählen sei: We see then that we are dealing with a fluctuating material. The same object being sometimes treated as a part of me, at other times as simply mine, and then again as if I had nothing to do with it at all. In its widest possible sense, however, a man’s Self is the sum total of all that he CAN call his, not only his body and his psychic powers, but his clothes and his house, his wife and children, his ancestors and friends, his reputation and works, his lands and horses, and yacht and bank-account. 179

177  |  Farman: Mobile Interface Theory, S. 27. Farman übernimmt den Ausdruck »social proprioception« von Clive Thompson: »Clive Thompson on How Twitter Creates a Social Sixth Sense«, auf: Wired.com, dort datiert am 26.6.2007, http:// archive.wired.com/techbiz/media/magazine/15-07/st_thompson, zul. aufgeruf. am 31.1.2017. 178  |  Vgl. William James: The Principles of Psychology. Volume 1 [1890]. The Works of William James, hrsg. v. Frederick Henry Burkhardt, Cambridge, Mass./ London: Harvard University Press 1981, S. 279-292. 179  |  Ebd., S. 279.

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In James’ Vorstellung eines extensiven Selbst, die trotz ihres deutlichen Zuschnitts auf einen wohlhabenden, männlichen Bourgeois des späten 19. Jahrhunderts viel poststrukturalistische Theoriebildung bis hin zu Konzeptionen der Akteur-Netzwerk-Theorie vorwegnimmt, werden also durchaus heterogene Komponenten gebündelt. Ein Selbst umfasst demnach organische und anorganische Teile, Menschen und Nicht-Menschen, Besitztümer in unterschiedlicher Distanz zum Körper, auch Immaterielles wie Reputation und Ehre.180 Gerade die »social selves« sind nur im Plural zu verstehen: »[A] man has as many social selves as there are individuals who recognize him and carry an image of him in their mind«.181 Die Möglichkeiten digitaler Medien zur Selbstthematisierung und -repräsentation mittels Social Networking Sites, zur flexiblen Verwaltung von Erinnerungen (Fotos, Videos, Texte), dem jederzeitigen Teilen von Erlebnissen mit anderen, dem autobiografischen Dokumentieren von Gedanken auf Blogs und vergleichbare Praktiken können als Proliferation von alltagsbezogenen Technologien des Selbst aufgefasst werden. Das Objekt Smartphone fungiert als materielle Bedingung solcher Praktiken des Selbstmanagements, während es zugleich häufig der körperlichen Ich-Identität zugeschlagen wird. Im Vergleich zu den oben erwähnten älteren Medien der bürgerlichen Selbstkonstitution nehmen internetfähige Geräte einen besonderen Status zwischen Person und Welt ein. Als Teil der persönlichen Objektsphäre, als »intimate technologies« (Agar), lassen sie sich zunächst recht umstandslos dem körperlichen Ich zurechnen – vergleichbar der Kleidung. Auf der anderen Seite erlauben sie potenziell Dritten Zugriff auf eine Reihe von Selbstrepräsentationen und sie ermöglichen deren Ausund Verwertung durch kommerzielle oder staatliche Institutionen. Schon in seiner Eigenschaft als jederzeit adressierbarer Empfänger ist das Mobiltelefon »als Objekt im leiblichen Nahraum zugleich Ort der Intervention des Anderen«.182 Über das Anlegen und die Auswertung von Profilen durch die Anbieter von auf dem Smartphone laufenden Applikationen bildet sich jeweils ein soziales (Daten-)Selbst. Die Emergenz solcher externalisierbaren Datenselbste, die dem Fremdzugriff zumindest dem Prinzip nach offen stehen, ist eine neue Dimension von internetfähigen Endgeräten im Vergleich zu anderen Objekten der persönlichen Besitzsphäre. 180  |  Russell W. Belk: »Possessions and the Extended Self«, in: Journal of Consumer Research 15/2 (1988), S. 139-168 baut James’ Thesen zu einer – ideologisch bedenklichen – betriebswirtschaftlichen Theorie der Identitätskonstruktion durch Besitztümer aus: »That we are what we have […] is perhaps the most basic and powerful fact of consumer behavior.« (Ebd., S. 139) Insbesondere gelte dies für Objekte, über die direkte Kontrolle ausgeübt werden kann (vgl. ebd., S. 140f.), vergleichbar der Kontrolle über Gedanken oder Extremitäten. Belks ›Theory of Extended Self‹ zufolge würde der Verlust besonders emotional aufgeladener Dinge (beispielsweise eines Autos) als Beeinträchtigung und Minderung des Selbst erlebt. 181  |  James: The Principles of Psychology, S. 281. 182  |  Buschauer: Mobile Räume, S. 297.

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Wechselt man nun die Perspektive vom Subjekt auf das Objekt, wird folglich etwas in den Prozess der Selbstkonstitution einbezogen, auf das auch Außenstehende Besitzansprüche verschiedener Art anmelden. Dies kann aus Sicht des Subjekts zu eigentümlichen Identitätskonflikten führen, für die sich James’ Formulierungen bereits eignen: »The same object being sometimes treated as a part of me, at other times as simply mine, and then again as if I had nothing to do with it at all.«183 In der Tat ist das Spektrum an Bezugnahmen weit: Von Figurationen des Smartphones als unentbehrlichem Körperteil reichen sie bis zur Distanzierung vom Gerät, wenn es in seiner Tracking-Kapazität thematisiert wird. Das nächste Teilkapitel wird die spezifische Verfasstheit dieses seltsam hybriden Objekts näher beleuchten, wozu eine parallele Vorgehensweise gewählt wird: Statt von der Vorstellung eines isolierten Einzeldings auszugehen, soll das Objekt als Objekt-in-Relation begriffen werden.

2.6 O bjekt- in -R elation – D igitale N ahkörpertechnologien als A pparat Zunächst der Augenschein: Ein Smartphone ist monolithisch und hermetisch, eine Hommage an die Geschlossenheit.184 Die Oberfläche des schlanken Geräts leistet kaum taktilen Widerstand, sie ist glatt, reflektierend, naht- und fugenlos, sodass sich keine Möglichkeit zum Eingriff bietet. Ein handelsübliches Smartphone wirkt wie aus einem Guss geformt, ein handkonformes Ensemble aus mattiertem Aluminium, glänzendem Kunststoff und kratzfestem Glas. So wie allerdings für ein Subjekt gilt, dass seine Konturen nicht vorbehaltlos festgelegt werden können, ist auch das Objekt Smartphone nicht auf eine lokale Materialität zu reduzieren. Kein Smartphone funktioniert ohne eine aufwändige und teure Infrastruktur, die unter anderem aus Sendemasten, Frequenzbereichen, Routern, 183  |  James: The Principles of Psychology, S. 279. Die Formulierung weist Parallelen zu Winnicotts psychoanalytischer Beschreibung von Übergangsobjekten auf, die »nicht Teil des kindlichen Körpers sind, aber noch nicht völlig als zur Außenwelt gehörig erkannt werden«. (Donald Winnicott: »Übergangsobjekte und Übergangsphänomene«, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 23/9 (1969), S. 666-682, hier S. 668) Als materiales Ding vermittelt das Übergangsobjekt in der kindlichen Entwicklung zwischen subjektiver und objektiver Welt, wobei es im weiteren Verlauf der Entwicklung zum Fetisch werden kann. In jedem Fall wird das Übergangsobjekt zur Projektionsfläche starker Affekte wie Liebe und Hass. (Vgl. ebd., S. 671) 184  |  Als ästhetisches Vorbild kommt der rätselhafte Monolith aus Stanley Kubricks Film 2001 – A Space Odyssey in den Sinn, der gerade aufgrund seiner Opazität zum Objekt kultischer Verehrung wird. Vgl. Agar: Constant Touch, S. 204.

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Glasfaserkabeln und Datencentern besteht.185 Neben einem soliden Stück Hardware, einem bequem in die Handfläche passenden Gadget, ist ein Smartphone außerdem immer auch ein Bündel von Software, Protokollen und Diensten, das in einem ständigen Kontakt nach außen steht. Zwar zelebriert die Industrie auf den großen Konsumelektronik-Messen nach wie vor in ritualisierter Form jede neue Gerätegeneration. Wenn die Geräte aber als Interfaces begriffen werden, wird deutlich, dass das Endgerät nur den sichtbaren Teil eines ausgedehnten Netzwerks markiert, innerhalb dessen es verschiedene Rollen und Funktionen übernimmt. Um es noch einmal mit William James zu sagen, der eine pluralistische Konzeption von Dinghaftigkeit vertritt: »[O]ne and the same material object can figure in an indefinitely large number of different processes at once.«186 Auf Anwenderseite wird dieser nicht-soziale Vernetzungsaspekt häufig ausgeblendet und stattdessen eine Intimität der Mediennutzung proklamiert. Der augenscheinlich ›persönliche‹ Charakter portabler Digitalgeräte verleitet zu Aussagen wie den folgenden, die einer kanadischen Studie von 2009 entnommen sind, in denen Nutzer mobiler Medien nach ihrem Verhältnis zu ihren Geräten befragt wurden: PAUL: It’s got to do with my world [awkward laugh]. I don’t see it as connecting to anybody else. It’s pretty much … my world. CATE: [Guarded tone] Well, just … it’s my thing. Even though I’m only using it for games, it’s … my little world. It’s my thing, nobody else’s business. 187

185  |  Der Medialität von Infrastrukturen kommt in den letzten Jahren in den Me-

dien- und Kulturwissenschaften verstärkte Aufmerksamkeit zu. Vgl. Lisa Parks/ Nicole Starosielski (Hg.), Signal Traffic. Critical Studies of Media Infrastructures, Urbana, Ill.: University of Illinois Press 2015, Marion Näser-Lather/Christoph Neubert (Hg.), Traffic. Media as Infrastructures and Cultural Practices, Leiden/ Boston: Brill 2015, Gabriele Schabacher: »Medium Infrastruktur. Trajektorien soziotechnischer Netzwerke in der ANT«, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 2 (2013), S. 129-148 und Wiebke Porombka: Medialität urbaner Infrastrukturen. Der öffentliche Nahverkehr, 1870 – 1933, Bielefeld: transcript 2013 sowie Kapitel 5.1.2 dieser Arbeit. 186   |  William James: »How Two Minds Can Know One Thing« [1905], in: Frederick H. Burckhardt/Fredson Bowers/Ignas K. Skrupskelis (Hg.), Essays in Radical Empiricism, Cambridge, Mass./London: Harvard University Press 1976, S. 61-67, hier S. 62. 187  |  Zitiert nach Kirsty Best: »When Mobiles Go Media. Relational Affordances and Present-to-Hand Digital Devices«, in: Canadian Journal of Communication 34 (2009), S. 397-414, hier S. 405.

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»Nobody else’s business« – die eklatante Irrigkeit der Annahme, der Mediengebrauch von Smartphones sei eine Privatangelegenheit, markiert eine Grundspannung in den dazugehörigen Praktiken. Das Gerät mag seinen Besitzer ins Badezimmer begleiten oder den Schlafzyklus vermessen – im Rahmen solcher Praktiken erscheint die Mediennutzung als vertraut-vertrauliche Interaktion mit einem technischen Gerät, auf das niemand anderes Anspruch erhebt. Gleichzeitig aber ist ein Smartphone permanent adressier- und lokalisierbar, was sich unmittelbar der Freundes- und Bekanntenkreis, in etwas weiterer Perspektive aber auch institutionalisierte Akteure wie Unternehmen und Geheimdienste zunutze machen können. Gerade wenn wesentliche Aspekte eines Mediums sich auf diese Weise der Sichtbarkeit notorisch entziehen, greifen kompensierende Mechanismen der Fetischisierung. So kann man den Eindruck gewinnen, dass die in einschlägigen Blogs und Technikzeitschriften dominierende Mainstream-Technophilie unbeirrbar den Objektcharakter der inzwischen fast austauschbar ähnlich gewordenen Gadgets hervorkehrt. Im Fachsimpeln über Formfaktoren, Bildschirmdiagonalen und Usability findet die Berichterstattung in den Medien verlässliche Bezugsgrößen. Eine analytische Beschränkung auf die lokale, greifbare Materialität digitaler Nahkörpertechnologien greift aus medienwissenschaftlicher Perspektive jedenfalls zu kurz, insofern die Geräte (und zugleich damit ihre Besitzer) in eine Netz-Infrastruktur eingebunden sind, die einen ganz anders gelagerten theoretischen Zugriff erfordert.188 Hörl hat die Tragfähigkeit des Objektbegriffs unter der gegenwärtigen technologischen Bedingung grundlegend aus philosophischer Warte in Frage gestellt: »[D]ieser Objektzentrismus [Hörl bezieht sich auf Arbeiten von Graham Harman, Michel Serres, Bruno Latour und Bernard Stiegler, T. K.] ist vermutlich nur eine erste Bearbeitung und ein erster Niederschlag der grundlegenden technologischen Reformierung unserer Objektbeziehungen, die unter neuen Medienbedingungen stattfindet.« 189

Kontinuierlich Daten erfassende und sendende Geräte überschreiten in jedem Moment performativ die durch ihre physischen Grenzen gesetzten Proportionen. Diesen Umstand muss die theoretische Beschreibung reflektieren, »der Begriff des technischen Objekts selbst erscheint nunmehr ob seiner fundamentalen Environmentalisierung problematisch, um nicht zu sagen antiquiert«.190 188  |  Vgl. Mitchell: Me++, S. 14: »[I]t no longer makes sense to think of a computer as a compact, discrete object, or to distinguish between computers and networks.« 189  |  Hörl, »Die technologische Bedingung«, S. 27. 190  |  Ders.: »Tausend Ökologien. Der Prozess der Kybernetisierung und die allgemeine Ökologie«, in: Diedrich Diederichsen/Anselm Franke (Hg.), The Whole Earth. Kalifornien und das Verschwinden des Außen, Berlin: Sternberg Press 2013, S. 121-130, hier S. 124.

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Eine Möglichkeit, sich diesem neuen Typ von technischen Objekten zuzuwenden, besteht laut Hörl in einem Rückgriff auf Gilbert Simondons Konzeption des offenen Objekts, die dieser in einer Auseinandersetzung mit den Theorien der Kybernetik und Informationstheorie Ende der 1950er-Jahre entwickelt hat.191 Simondons Appell zur Aufwertung technologischer Objektkulturen hat in Verbindung mit seiner Theorie der Individuation eine Reihe von Philosophen wie Gilles Deleuze, Félix Guattari, Maurizio Lazzarato und Bernard Stiegler stark beeinflusst. Technische Objekte erscheinen in dieser Perspektive nicht als autonome, geschlossene Entitäten, sondern die Vorhandenheit konkreter Dinge in praktischen Kontexten der Handhabung gilt selber als zusammengesetzte Tatsache und daher als erklärungsbedürftig.192 Außerdem geht es um die Einführung eines radikalen Kontextualismus bei der Auseinandersetzung mit technischen Objekten, was Simondon auch als Ausgangspunkt für aktuelle medienökologische Ansätze attraktiv macht.193 Simondon entwickelt einen Begriff technischer Handlungsmacht als »menschmaschinische Koproduktion«194, die sich historisch in verschiedenen Modalitäten entfalte: als Werkzeug, als industrielle Maschine und schließlich als vernetztes bzw. offenes Objekt. Während beim Werkzeug der menschliche Anteil am Produktionsbzw. Nutzungsprozess eindeutig bestimmbar und zudem umfassend sei, träten bei der Maschine erstmals energetische und informationelle Komponenten auseinander, d. h. die Maschine erhält Steuerungssignale von ihrem Bediener, während sie die Energie für ihren Betrieb z. B. aus Dampfkraft bezieht.195 Bei den vernetzten Ob191   |  Vgl. Gilbert Simondon: Die Existenzweise technischer Objekte, Zürich: Diaphanes 2012 [frz. OA 1958] und Gilbert Simondon: »Die technische Einstellung«, in: Hörl, Die technologische Bedingung, S. 73-92 sowie die Einführung in Simondons Techniktheorie von Jean-Hugues Barthélémy: »Simondon – Ein Denken der Technik im Dialog mit der Kybernetik«, in: Hörl, Die technologische Bedingung, S. 93-109. 192  |  Vgl. Henning Schmidgen: Das Unbewußte der Maschinen. Konzeptionen des Psychischen bei Guattari, Deleuze und Lacan, München: Fink 1997, S. 162. 193  |  Vgl. für eine programmatische Bezugnahme auf Simondon im Rahmen der Medienökologie Hörl: »Die technologische Bedingung«, S. 13-21, für eine historisch-systematische Diskussion von Simondons Konzeption der offenen Maschine Henning Schmidgen: »Das Konzert der Maschinen. Simondons politisches Programm«, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 2 (2012), S. 117-134. 194  |  Mercedes Bunz: »Die Dinge tragen keine Schuld. Technische Handlungsmacht und das Internet der Dinge«, in: Florian Sprenger/Christoph Engemann (Hg.), Internet der Dinge. Über smarte Objekte, intelligente Umgebungen und die technische Durchdringung der Welt, Bielefeld: transcript 2015, S. 163-180, hier S. 177. 195  |  Vgl. Simondon: »Die technische Einstellung«, S. 81: »Die Industrie kommt auf, wenn die Informations- und die Energiequelle sich trennen, wenn der

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jekten, die Simondon u. a. in den geschlossenen Regelkreisen nach kybernetischen Prinzipien konstruierter Rechenmaschinen ausmacht, bleibe das Objekt dauerhaft für Umwelteinflüsse offen und könne daher ein Anpassungsverhalten demonstrieren: Die wirkliche Vervollkommnung der Maschinen, jene, von der sich sagen lässt, dass sie den Grad der Technizität erhöht, entspricht keinem Anwachsen des Automatismus, sondern ganz im Gegenteil dem Tatbestand, dass die Funktionsweise einer Maschine einen gewissen Unbestimmtheitsspielraum in sich birgt. Dieser Spielraum ist es, der es einer Maschine gestattet, für eine externe Information empfänglich zu sein. 196

Innerhalb derart organisierter technischer Ensembles komme Menschen die Rolle von ständigen Organisatoren zu, die eine Übersetzungsfunktion zwischen den verschiedenen Maschinen leisteten. Simondon vergleicht diese Rolle optimistisch mit der eines Orchesterdirigenten.197 Mercedes Bunz hat in ihrer Auseinandersetzung mit Simondon allerdings darauf aufmerksam gemacht, dass ein Aspekt der Offenheit vernetzter technischer Objekte in ihrer heutigen Erscheinungsweise als digitale Medien darin bestehe, dass einem einzigen Ding die Interessen und Intentionen ganz verschiedener Akteure innewohnen können.198 Statt sich also umstandslos einer situationell vorgegebenen Verwendungsweise zu fügen wie ein Werkzeug, oder einem vorab definierten Zweck zu folgen wie eine industrielle Maschine, sei ein vernetztes technisches Objekt eher als heteronomer Nexus zu charakterisieren, in dem sich verschiedene Agenturen kreuzen. Das »Wissen, dass immer noch jemand anderes dem eigenen Ding innewohnt«, löse inzwischen gar »ein diffuses Gefühl der Unterlegenheit und Bevormundung«

Mensch nur noch die Informationsquelle ist und von der Natur verlangt, die Energie zu liefern.« 196  |  Simondon: Die Existenzweise technischer Objekte, S. 11. Simondon bezieht sich hier mit dem Begriff des Automatismus auf das Modell des technischen Automaten, der verlässlich ein Programm reproduziert und gerade für keine Abweichung offen ist. 197  |  Vgl. ebd. Martina Heßler hat angemerkt, dass die Simondon’sche Konzeption des offenen Objekts auch heute noch mehr eine zu entfaltende Programmatik als eine Beschreibung technischer Tatsachen sei. Dies gelte im Besonderen für die gegenwärtigen digitalen Medien, die häufig gerade nicht mehr voraussetzen, dass ihre Anwender ihre Funktionsweise verstehen, wie es Simondon in seinem breit angelegten Plädoyer für eine technische Bildung noch forderte. Vgl. Martina Heßler: »Gilbert Simondon und die Existenzweise technischer Objekte – eine technikhistorische Lesart«, in: Technikgeschichte 82/1 (2016), S. 3-32, hier S. 18-26. 198  |  Vgl. Bunz: »Die Dinge tragen keine Schuld«, S. 178f.

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aus.199 Diese Perspektive möchte ich im Folgenden terminologisch grundieren, um ein relationales Verständnis digitaler Nahkörpertechnologien einzuführen, das in Kapitel 5 als technologisches Unbewusstes digitaler Nahkörpertechnologien vertieft wird.

2.6.1 Zum Begriff des Apparats in der Medienwissenschaft Der leicht aus der Mode gekommene Begriff des Apparats bietet sich aus noch zu erläuternden Gründen für eine Charakterisierung von digitalen Nahkörpertechnologien an. Ich werde den Begriff im Folgenden zunächst unter Verweis auf verschiedene medienwissenschaftliche Verwendungen einführen, ihn gegen den Begriff des Dispositivs abgrenzen und seine analytische Eignung abschließend mit drei Argumenten begründen: seine technischen Konnotationen, seine Nähe zum Unbewussten und die partiell gegen die Sphäre des Sozialen abgeschirmte zeitliche Stabilität von Apparaten. Dies geschieht im vollen Bewusstsein des Umstands, dass eine explizite Thematisierung von technischen und materiellen Apparaten einer anderswo in der Medienwissenschaft zu beobachtenden Priorisierung von Praktiken und Operationsketten zuwiderläuft.200 Gegen die derzeitige Konjunktur praxisorientierter Ansätze gerade die ausgedehnte Apparatur digitaler Nahkörpertechnologien stark zu machen, ist begründet in dem Versuch, stumme und in der Regel nicht sichtbare Voraussetzungen des Medienhandelns begrifflich zu fassen zu bekommen, die sowohl auf der Seite des Körpers als auch auf der Seite von technischen Infrastrukturen verortet sind. Für dieses Vorhaben eignen sich ethnografische Untersuchungen nur bedingt. Unter einem Apparat lässt sich ein Einzelgerät mittleren Komplexitätsgrads ebenso verstehen wie eine akkumulierte Totalität von Maschinen, Institutionen, Installationen, Verfahrensregeln und standardisierten Verhaltensweisen, wie sie beispielsweise in den Phrasen ›bürokratischer Apparat‹ oder ›Verwaltungsapparat‹ zum Ausdruck kommen.201 Insofern kann der Apparat eine begriffliche Klammer zwischen einer 199  |  Ebd., S, 178. Von dieser Verunsicherung ist in den oben zitierten Aussagen von Mobiltelefonnutzern aus dem Jahr 2009 noch nichts zu spüren, sie ist allerdings prägend für einen immer populärer werdenden technik- und kulturkritischen Diskurs, der zu Beginn der Einleitung zitiert wurde. 200  |  Vgl. Till A. Heilmann: »Zur Vorgängigkeit der Operationskette in der Medienwissenschaft und bei Leroi-Gourhan«, in: Internationales Jahrbuch für Medienphilosophie 2/1 (2016), S. 7-29, der vor einer »fragwürdigen Verabsolutierung des Praxisbegriffs« (ebd., S. 27) warnt. 201   |  Vgl. Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache: Eintrag »Apparat, der«, http://www.dwds.de/?qu=Apparat, zul. aufgeruf. am 31.1.2017, wo als allgemeinste Definition »für einen bestimmten Zweck entwickeltes Gerät« angegeben wird. Der Duden verweist im Eintrag »Apparat, der«, http://www.duden.de/rechtschreibung/ Apparat, zul. aufgeruf. am 31.1.2017 auf die anatomische Verwendung des

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lokalen Materialität und einem ausgreifend-unüberschaubaren Verwendungszusammenhang bilden. Ein englischsprachiger Sammelband zum iPhone als kulturell prägendes digitales Gadget wählt diesen Weg und versteht das iPhone as a media dispositif or apparatus: as emblematizing a radical shift in the relationships among the technological affordances, modes of address, and subject positions that once marked such ›old media‹ as television or cinema. 202

Eine Verwandtschaft einer solchen Perspektive zu den bereits erläuterten Subjektivierungstheorien liegt in dem Umstand, dass auch ein Apparat nicht einfach da ist – auch wenn der Fernseher an der Wand oder das Mobiltelefon in der Hand dies suggerieren –, sondern dass er gemacht wird und einen beständigen Einsatz von Ressourcen und Arbeit erfordert, um seinen Betrieb zu gewährleisten. Der Begriff des Apparats ist in der Medientheorie in verschiedenen Zusammenhängen verwendet worden. Walter Benjamin verwendet ihn in Abgrenzung zum Begriff des Mediums als Bezeichnung für jene materiellen und technischen Artefakte – »such as architectural constructions, technical instruments and forms of representation, sound and optical devices, means of (mass) communication«203 –, die in historisch wechselnder Gestalt an der Konstitution eines Feldes sinnlicher Wahrnehmung beteiligt sind. Letzteres bezeichnet er dann als Medium der Wahrnehmung, womit er laut Antonio Somaini einen Medienbegriff zugrundelegt, der in der nacharistotelischen Tradition der media diaphana steht. Benjamins Medientheorie bestehe dann, so Somaini, in der Untersuchung des Wechselspiels zwischen den technischen Apparaten einerseits und dem Medium, innerhalb dessen sie operieren, andererseits.204 An dieses Wechselspiel knüpft sich unter anderem seine oft zitierte medienanthropologische These, dass die Sinne selbst eine Geschichte haben: »Innerhalb großer geschicht-

Begriffs im Sinne von Wahrnehmungs-, Bewegungs- oder Verdauungsapparat als »System von Organen oder Körperteilen, die einer gemeinsamen Funktion dienen«: Dass der Begriff des Apparats auch für eine Beschreibung körperlicher Vollzüge verwendet wird, die sich der willentlichen Kontrolle zum Teil oder vollständig entziehen, macht ihn im Rahmen einer Auseinandersetzung mit Nahkörpertechnologien besonders anschlussfähig. Vgl. dazu Kapitel 4 der vorliegenden Arbeit. 202  |  Pelle Snickars/Patrick Vonderau: »Introduction«, in: Dies., Moving Data, S. 1-16, hier S. 2. 203  |  Antonio Somaini: »Walter Benjamin’s Media Theory and the Tradition of the media diaphana«, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 7/1 (2016), S. 9-25, hier S. 10. 204  |  Vgl. ebd.

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licher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung.«205 Vilém Flusser definiert den Apparat sehr viel enger in Abgrenzung zum vorindustriellen Werkzeug und der industriellen Produktionsmaschine als symbolverarbeitende Maschine.206 Mit dieser Definition aus der Mitte der 1980er-Jahre greift er bereits auf das Medien-Werden des Computers voraus. Während die Grundkategorie der Industriegesellschaft Arbeit gewesen sei, werde mit dem Aufkommen von Apparaten das Zeitalter der Information eingeläutet. Apparate seien programmiert, sie enthielten ein definiertes Spektrum an zu realisierenden Möglichkeiten, die eine Art »Kombinationsspiel mit Symbolen«207 bildeten. Am Beispiel der Black Box des Fotoapparats macht Flusser plausibel, wie diese die Gesten der Fotografierenden programmiere und sie zu »Funktionär[en]«208 des Apparatprogramms mache. Dabei gelangt er zu der wesentlichen Einsicht, dass das in der Hand gehaltene Objekt weniger entscheidend sei als seine Eingebundenheit in Programme, die auf verschiedenen Ebenen angesiedelt seien (z. B. technisch, ökonomisch, kulturell in Form von Stereotypen). Der Apparat verbessere sein Funktionieren durch ein laufendes Feedback, was nichts anderes heißt, als dass jeder Nutzer des Apparats zur Informationsquelle für dessen Optimierung wird: »Das ist das Wesen des nachindustriellen Fortschritts. Die Apparate verbessern sich durch soziales Feedback.«209 Flusser spricht an anderer Stelle von Apparaten als »Ungeheuer unter den Dingen«, deren Ungeheuerlichkeit allerdings »durch dicke Schichten der Gewöhnlichkeit dieser Dinge und der Gewöhnung an sie verdeckt«210 werde. Insbesondere macht Flusser diese Charakterisierung an der Komplexität jener als Apparate charakterisierten Dinge und der Undurchschaubarkeit ihrer Zwecksetzungen fest. Für Sibylle Krämer gehen Medien grundsätzlich nicht in einer instrumentellen Funktion auf wie technische Werkzeuge, sondern sie haben eine weltgenerative Potenz, die sie mit dem Begriff des Apparats zu charakterisieren versucht: »Die Technik 205  |  Walter Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Repro-

duzierbarkeit«. 3. Fassung, in: Ders., Gesammelte Schriften. Band I, hrsg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 471-508, hier S. 478. 206  |  Vgl. Vilém Flusser: Für eine Philosophie der Fotografie, Göttingen: European Photography 1994 [1983], S. 18-24. Flussers ebenfalls von der Kybernetik inspirierte Periodisierung technischer Objekte weist große Parallelen zu Simondons oben zitiertem Vorschlag auf. 207  |  Ebd., S. 24. 208  |  Ebd., S. 22. Vgl. außerdem ebd.: »Der Funktionär beherrscht den Apparat dank der Kontrolle seiner Außenseiten (des Input und Output) und wird von ihm beherrscht dank der Undurchsichtigkeit seines Inneren.« 209  |  Ebd., S. 40. 210  |  Vilém Flusser: Dinge und Undinge. Phänomenologische Skizzen, München: Hanser 1993, S. 7.

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als Werkzeug erspart Arbeit; die Technik als Apparat aber bringt künstliche Welten hervor, sie eröffnet Erfahrungen und ermöglicht Verfahren, die es ohne Apparaturen nicht etwa abgeschwächt, sondern überhaupt nicht gibt.«211 Aus diesem Grund seien anthropomorphe Technik- und Medientheorien wie McLuhans Prothesentheorie kaum geeignet, das Spezifische an Medien zu treffen, weil sie Medienfunktionen lediglich in Verlängerung organischer oder kognitiver Vermögen betrachten. Vielmehr seien solche Theorien in erster Linie dazu da, die radikal generative Dimension von Medien als Apparaten in ein vertrautes Schema zu überführen und dadurch zu entkräften.212 In der für die Terminologie besonders ergiebigen französischen Apparatusdebatte der 1970er-Jahre wurde das Problem von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit vor ideologiekritischem Hintergrund verhandelt.213 Als Prämisse diente den Apparatus-Theoretikern die These, dass der kinematografische Repräsentationsapparat sich weder auf die gezeigten Inhalte noch auf seine ›rein‹ technischen Bestandteile reduzieren lasse, sondern dass das Kino zunächst eine Anordnung sei, in der sich Begehrensstrukturen und Machtverhältnisse materiell verfestigen.214 Ein zentrales Ergebnis der Debatte war die Erkenntnis, dass bestimmte (bürgerliche bzw. abendländische) Ideologeme – wie die das Subjekt erhöhende zentralperspektivische Darstellung – in die technische Apparatur des Films selbst eingeschrieben seien, diese aber im Vollzug (d. h. beim Betrachten des Films im Kino) systematisch verunsichtbart würden.215 Durch die Herstellung einer Illusion von Transparenz und die Gleichsetzung des visuell Wahrgenommenen mit dem Realen werde die technische Anordnung, die den Effekt erst möglich macht, suspendiert.216

211  |  Sibylle Krämer: »Das Medium als Spur und als Apparat«, in: Dies. (Hg.),

Medien, Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und neue Medien, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1998, S. 73-94, hier S. 85. 212  |  Vgl. ebd. 213 |  Vgl. für eine Diskussion der zentralen Texte der Apparatusdebatte Hartmut Winkler: Der filmische Raum und der Zuschauer. ›Apparatus‹ – Semantik – ›Ideolo gy‹, Heidelberg: Winter Universitäts-Verlag 1992, S. 19-38. 214 |  Vgl. Jean-Louis Comolli: »Machines of the Visible«, in: Teresa de Lauretis/Stephen Heath (Hg.), The Cinematic Apparatus, New York: St. Martin’s Press 1980, S. 121-143, hier S. 121f. 215  |  Vgl. Jean-Louis Baudry: »Ideologische Effekte erzeugt vom Basisapparat«, in: Riesinger, Der kinematographische Apparat, S. 27-39. 216  |  Vgl. Winkler: Der filmische Raum und der Zuschauer, S. 23. Comolli weist darauf hin, dass diese Suspendierung einer Double Knowledge-Struktur folge, d. h. die Subjekte wirken aktiv an ihrer eigenen Täuschung mit, indem sie sich auf die kinematografische Illusion willentlich einlassen. Vgl. Comolli: »Machines of the Visible«, S. 138-141.

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2.6.2 Abgrenzung zum Begriff des Dispositivs Schon die Apparatus-Theoretiker beziehen sich auf Michel Foucaults Begriff des Dispositivs, der eine erhebliche Karriere in den Kulturwissenschaften gemacht hat und um den sich bis heute begriffspolitische Kontroversen ranken.217 Er wird häufig synonym zum Begriff des Apparats verwendet und ins Englische auch mit ›apparatus‹ übersetzt. In einer verbreiteten Verwendungsart wird in der Medienwissenschaft darunter, ausgehend von Jean-Lous Baudry, eine räumlich-mediale Anordnung verstanden.218 Im Kino beispielsweise befindet sich der Projektor hinter den Rücken der Zuschauer, die in ihren Sesseln fixiert den Film verfolgen. Aus dieser Grundanordnung werden Subjektivierungseffekte abgeleitet: Die Theorie des Kino-Dispositivs geht von sinnlicher Überwältigung, regressiver Grundhaltung, Kindheitsevokation, Ich-Spiegelung aus, setzt das Zuschauen im Kino als Tagträumerei eines auf Glücksverlangen ausgerichteten Subjekts.« 219

Schon die räumliche Konfiguration von Leinwand, Projektor und Zuschauersitzen produziert also, so die Apparatus-Theoretiker, eine bestimmte Rezeptionsdisposition und konstituiert ein dieser entsprechendes Subjekt. Baudry schlägt eine sinnvolle Differenzierung von (Basis-)Apparat und Dispositiv vor, der hier gefolgt werden soll: Wir unterscheiden allgemein den Basisapparat (appareil de base), die Gesamtheit der für die Produktion und die Projektion eines Films notwendigen Apparatur und Operationen, von dem Dispositiv, das allein die Projektion betrifft und bei dem das Subjekt, an das die Projektion sich richtet, eingeschlossen ist. So umfaßt der Basisapparat sowohl das Filmnegativ, die Kamera, die Entwicklung, die Montage in ihrem technischen Aspekt usw. als auch das Dispositiv der Projektion. 220

217  |  Vgl. stellvertretend mehrere Ausgaben der Zeitschrift tiefenschärfe von 2001 bis 2003, die sich der Dispositiv-Debatte in der Medienwissenschaft widmen. 218  |  Vgl. Jean-Louis Baudry: »Das Dispositiv. Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks«, in: Riesinger, Der kinematographische Apparat, S. 41-62. 219  |  Knut Hickethier: »Dispositiv Fernsehen. Skizze eines Modells«, in: montage/av 4/1 (1995), S. 63-83, hier S. 74. 220  |  Baudry: »Das Dispositiv«, S. 45. Im Rahmen der Diskussion der Apparatusdebatte in der (feministischen) US-amerikanischen Filmtheorie wurde diese begriffliche Differenzierung unterschlagen, weil sowohl ›apparareil de base‹ als auch ›dispositif‹ mit ›apparatus‹ übersetzt wurden. Dies führt zu einem zentralen Widerspruch, wie Nicole Gronemeyer gezeigt hat: »Durch

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Der Basisapparat umfasst laut diesem Vorschlag also »alle Elemente, die sich zur materialen Basis des Kinos zählen lassen«221, insbesondere auch jene Prozeduren wie die Entwicklung im Filmlabor, Schnitt- und Montagetechniken, die sich nicht vor den Augen der Zuschauer abspielen. Das Dispositiv dagegen bezeichnet lediglich einen spezifischen Ausschnitt aus diesem Gesamtapparat, nämlich jenen Teil, der allein die Vorführsituation und damit auch die darin eingebundenen Subjekte betrifft. Das Dispositiv wäre also – obwohl es wiederum unbewusste Effekte wie eben die Regression der Zuschauer bedingt – eher die den Subjekten zugewandte Seite des Apparats, während der Apparat insgesamt sich treffender als Hinterbühne oder Rückraum eines Mediums charakterisieren lässt. Wesentlich ist aber, dass der Apparat nicht als neutrale technische Funktionsbedingung missverstanden werden darf, sondern dass auch er – und nicht bloß das Dispositiv – subjektivierende Wirkungen zeitigt, beim Film z. B. die Installierung einer privilegierten Sehposition durch die qua Kamera verfestigte Zentralperspektive. Bei Foucault dagegen ist der Dispositiv-Begriff deutlich weiter gefasst und hat eine diskurstheoretische und machtanalytische Stoßrichtung.222 Nach der gängigsten Fassung wird ein Dispositiv von ihm verstanden als ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfaßt. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann. 223

die begriffliche Identität von Dispositiv und Basisapparat stehen in der amerikanischen feministischen Filmtheorie der machtvolle männliche Blick (durch die Identifikation mit der Kamera) und der regressive Blick (durch das Dispositiv) unvermittelt nebeneinander, denn beide werden durch den ›apparatus‹ erzeugt.« (Nicole Gronemeyer: »Dispositiv, Apparat. Zu Theorien visueller Medien«, in: Medienwissenschaft Rezensionen | Reviews 1 (1998), S. 9-21, hier S. 15) 221  |  Ebd., S. 14. 222  |  Diese weiter gefasste Bedeutung des Dispositiv-Begriffs hat wiederum in Louis Althussers ideologischen Staatsapparaten einen Vorläufer. Althusser geht davon aus, dass die Staatsapparate in einem Vorgang der Interpellation (Anrufung) Subjekte konstituieren. Vgl. Louis Althusser: »Ideologie und ideologische Staatsapparate. Anmerkungen für eine Untersuchung«, in: Ders., Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Berlin, Hamburg: VSA 1977 [frz. OA 1970], S. 108-153. 223  |  Michel Foucault: »Ein Spiel um die Psychoanalyse. Gespräch mit Angehörigen des Département de Psychanalyse der Universität Paris VIII in Vincen-

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Giorgio Agamben hat diesen bereits weitgefassten Dispositiv-Begriff sogar noch erweitert und versteht darunter »alles, was irgendwie dazu imstande ist, die Gesten, das Betragen, die Meinungen und die Reden der Lebewesen zu ergreifen, zu lenken, zu bestimmen, zu hemmen, zu formen, zu kontrollieren und zu sichern«.224 Darunter fallen laut Agamben neben den von Foucault genannten Beispielen – Gefängnis, Fabrik, Schule, usw. – auch Medien wie Computer, Mobiltelefone und die menschliche Sprache. Alle Dispositive haben eine strategische Ausrichtung auf eine bestimme Funktion in einem Macht- und Wissensgefüge und sie produzieren die für die Erhaltung dieses Gefüges benötigten Subjekte selbst.225 Subjekt heißt dann laut Agamben das, »was aus der Beziehung, sozusagen dem Nahkampf zwischen den Lebewesen und den Dispositiven hervorgeht.«226 Zwar hat eine derartige Beschreibung von Dispositiven deutliche Nähen zu einer medienanthropologischen Perspektive, wie sie hier für die Beschreibung von digitalen Nahkörpertechnologien eingenommen wird. Insofern nämlich auch beim Dispositiv eine »Verschränkung von Technik und Mensch, von Apparatur und Körper«227 und die Rolle solcher Konstellationen in der Konstitution von Subjekten untersucht werden, geht es bei der Beschreibung von Dispositiven grundlegend um »Mensch-Maschine-Relationen[en]«228 und weniger um klassische Themen der Medienwissenschaft wie beispielsweise Szenen der Massenkommunikation, in denen Medien die Rolle des vermittelnden Dritten zukommt. Agamben versteht Dispositive denn auch explizit als unhintergehbare Instanzen der Hominisierung.229 Allerdings ist gerade der erweiterte Dispositiv-Begriff auch heftig kritisiert worden: Günter Dammann bemängelt die problematische Übersetzung des alltagssprachlichen französischen Begriffs ›dispositif‹ (je nach Kontext »›Vorrichtung‹, ›Apparat‹, ›Anlage‹, ›Mechanismus‹, ›Anordnung‹, ›Aufstellung‹ [oder] ›Vorkehrung‹«230) in den deutschen Neologismus ›Dispositiv‹. Dieser erhalte durch die wörtnes«, in: Ders., Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin: Merve 1978, S. 118-175, hier S. 119f. 224  |  Giorgio Agamben: Was ist ein Dispositiv?, Zürich: Diaphanes 2008 [ital. OA 2006], S. 26. 225  |  Vgl. ebd., S. 9 und 23f. 226  |  Ebd., S. 27. 227  |  Knut Hickethier: »Zur Dispositiv-Debatte«, in: tiefenschärfe WS 2002/03, S. 3. 228  |  Knut Hickethier: »Apparat – Dispositiv – Programm. Skizze einer Programmtheorie am Beispiel des Fernsehens«, in: Ders./Siegfried Zielinski (Hg.), Medien/Kultur. Schnittstellen zwischen Medienwissenschaft, Medienpraxis und gesellschaftlicher Kommunikation, Berlin: Spiess 1991, S. 421-447, hier S. 431. 229  |  Agamben: Was ist ein Dispositiv?, S. 30. 230  |  Günter Dammann: »›Le dispositif‹ als ›das Dispositiv‹. Bemerkungen zum Fall einer Nicht-Übersetzung«, in: tiefenschärfe WS 2002/03, S. 4-6, hier S. 6 [Ergänzung T. K.]. Es fällt auf, dass die Begrifflichkeiten zwischen den Über-

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liche Übersetzung die Weihen eines theoretischen Begriffs, ohne allerdings einer zu sein: »So ist dieser Neologismus beides, mit enormer Aura belegt und zugleich völlig leer, unbeschrieben, beschreibbar aber nun doch, Beschreibbarkeit geradezu anbietend.«231 Bei Foucault dagegen liege der Fall ein wenig anders: Hier sei zumindest davon auszugehen, dass die technische Konnotation des Wortes ›dispositif‹ im Kontext einer Auseinandersetzung mit Familienbeziehungen und Sexualität eine Provokation für den (französischsprachigen) Leser darstelle – die dann allerdings in der deutschen Übersetzung verloren gehe.232 Rainer Leschke beschreibt das Dispositiv in vergleichbarer Stoßrichtung als »verunglückte[.] Metapher«233, die gerade aufgrund ihrer Unschärfe Karriere gemacht habe: Begrifflich gesehen handelt es sich um nichts anderes als um eine theoretische Katastrophe: Etwas Diffuses, dessen Zusammenhalt selbst äußerst unklar bleibt, soll dieses heterogene Material wiederum strategisch organisieren und zurichten. 234

Die Operationalisierbarkeit des Dispositiv-Begriffs ist also zumindest kritisch zu bewerten, auch wenn vielversprechende Ansätze in dieser Richtung vorliegen.235

2.6.3 Smartphones als verteilte, technische Anordnung Im Folgenden soll dagegen der (Basis-)Apparat im Baudry’schen Sinne gegenüber dem Dispositiv betont werden, um digitale Nahkörpertechnologien wie das Smartsetzungen changieren. Während sich im Deutschen das Fremdwort ›Dispositiv‹ als Übersetzung durchgesetzt hat, wird im Englischen gewöhnlich ›apparatus‹ verwendet, gelegentlich auch ›device‹. 231  |  Ebd. 232  |  Vgl. ebd. 233  |  Rainer Leschke: »›Die Einsamkeit des Mediendispositivs in der Vielheit der Medien‹. Zur Logik des Wandels von der Ordnung des traditionellen zu der eines postkonventionellen Mediensystems«, in: Julius Othmer/Andreas Weich (Hg.), Medien – Bildung – Dispositive. Beiträge zu einer interdisziplinären Medienbildungsforschung, Wiesbaden: Springer VS 2015, S. 71-85, hier S. 77. 234  |  Ebd., S. 72. 235  |  Vgl. für die Medienwissenschaft zuletzt Andreas Weich: Selbstverdatungsmaschinen. Zur Genealogie und Medialität des Profilierungs-Dispositivs, Bielefeld: transcript 2017 und Jan Distelmeyer: Machtzeichen. Anordnungen des Computers, Berlin: Bertz und Fischer 2017, S. 50-64, der aus der Geschichte des dispositiven Rechts heraus eine Akzentverlagerung des Dispositiv-Begriffs auf Prozesse des Verfügens vornimmt, die sich als Bedingungsgefüge von Anordnungen im Sinne der Herrschaft und individuellen Verfahrensspielräumen beschreiben lassen.

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phone als Objekte-in-Relation und als Teil technischer Ensembles zu beschreiben, die weit über das sinnlich wahrnehmbare Interface hinausgehen. Ich möchte diese Entscheidung mit drei Argumenten begründen: Zum einen hat der Begriff des Apparats noch jene technische Konnotation, die bei Foucault mitschwang und die eine besondere Pointe des Ansatzes ausmachte. Es wird also um Technik(en) gehen, von – alles andere als metaphorischen – technischen Netzen und Verschaltungen, Teil des technologischen Unbewussten einer emergenten Kontrollarchitektur, bis hin zu den Techniken des Körpers, die eine Eigentechnizität körperlicher Vollzüge markieren.236 Der Schwerpunkt vor allem der sozialwissenschaftlichen Dispositivanalyse liegt dagegen eher auf dem Verhältnis von Diskursen und Praktiken, sodass mit dem hier verfolgten Fokus auf Technik eine Eingrenzung des Gegenstandsbereichs vorgenommen wird.237 Winkler kritisiert die Rede von Dispositiven dahingehend, dass Technik nicht in jedem Fall gleich gesellschaftlichen ›Sinn‹ mache, sondern sich auch nach rein technischen Zwängen auszurichten habe: »Das technische Unbewußte verliert bei Foucault/Comolli etwas von seinem technischen Charakter.«238 Damit ist kein Technikdeterminismus intendiert, sondern lediglich der Fokus der Aufmerksamkeit für die Zwecke der Untersuchung auf technische Prozesse scharfgestellt. Mittels des Begriffs der Automatismen werden diese – zunächst kontraintuitiv – gleichermaßen in gegenständlicher Technik wie in subjektiven Verhaltensweisen lokalisiert. Mit dem Unbewussten ist zweitens eine Dimension angesprochen, die beim Apparat naheliegt, während sie beim Dispositiv regelmäßig für begriffliche Verlegenheiten gesorgt hat. So steht man vor der theoretischen Herausforderung, die laut Foucault notwendig strategische Ausrichtung von Dispositiven in Abwesenheit von planenden Strategen zu denken.239 Wenn Freud dagegen von einem seelischen oder psychischen Apparat spricht, ist damit die Intuition verknüpft, dass hier Vollzüge selbsttätig vor sich gehen, ohne dass gleich die Frage nach initiierenden und/oder steuernden Akteuren im Raum stünde.240 Die Psyche des Subjekts verdankt sich dieser Konzeptio236  |  Vgl. Kapitel 4.2 für eine Auseinandersetzung mit den Körpertechniken

des Smartphonegebrauchs und Kapitel 5 für eine Theoretisierung des technologischen Unbewussten des Smartphones. In diesem Kapitel erfolgt auch eine nähere Bestimmung, welche Bestandteile zum Apparat digitaler Nahkörpertechnologien zu zählen sind. 237  |  Vgl. Andrea D. Bührmann/Werner Schneider: Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einführung in die Dispositivanalyse, Bielefeld: transcript 2008, die die Dispositivanalyse als Weiterentwicklung der Diskursforschung auffassen. 238  |  Vgl. Winkler: Der filmische Raum und der Zuschauer, S. 31f. 239  |  Vgl. Theo Röhle: »Strategien ohne Strategen. Intentionalität als ›Strukturentstehung durch Verflechtung‹?«, in: Bublitz et al., Automatismen – SelbstTechnologien, S. 173-192, hier S. 175-179. 240  |  Vgl. Sigmund Freud: Die Traumdeutung / Über den Traum. Gesammelte Werke Band II/III, Frankfurt a. M.: S. Fischer 1987, S. 541-546 und Joseph Vogl: »Technologien des Unbewußten. Zur Einführung«, in: Claus Pias/Joseph Vogl/

2. Bring Your Own Device

nierung des Unbewussten zufolge einem Automatismus, einer Selbstorganisation des psychischen Apparats, in die nicht ohne weiteres eingegriffen werden kann.241 Auf der anderen Seite ist vielen Technikdefinitionen gerade das Moment eines Verzichts auf Reflexivität eingeschrieben: Für Niklas Luhmann ist an Technik charakteristisch, dass sie »funktionierende Simplifikation, […] eine Form der Reduktion von Komplexität«242 ist. Funktionierende Technik kann vom Kontext absehen, sie ist »eine strikte Kopplung kausaler Elemente mit hoher Indifferenz gegen alles andere«243, die im Regelfall verlässlich wiederholbare Ergebnisse produziert. Nachdenken ist nur dann erforderlich, wenn es zu einer Störung im Betriebsablauf kommt. Während sich beim Dispositiv also die Frage nach der Finalität aufdrängt, sind Apparate zunächst einmal dadurch charakterisiert, sich durch ihr Funktionieren selbst zu legitimieren. Mit einer solchen Betonung des Unbewussten ist aber keineswegs impliziert, dass Apparate zweckfrei arbeiten: Stattdessen soll das Smartphone als Teil eines primär technisch zu beschreibenden Arrangements verstanden werden, auf das wiederum von verschiedenen Akteuren mit je spezifischen Zwecksetzungen zugegriffen werden kann.244 Drittens ist der Begriff des Apparats geeignet, eine historische und gesellschaftstheoretische Perspektive auf Kontinuität und Dauer zu berücksichtigen. Bürokratische oder medientechnische Apparate bleiben häufig stabil, während sich die politischen und kulturellen Formen radikal ändern. Ist eine Entscheidung einmal apparativ verankert, bedarf es eines erheblichen Aufwands, das Arrangement wieder zu flexibilisieren. Damit kann der Begriff des Apparats dazu beitragen, Phänomene der Dauer und kulturellen Kontinuität zu erklären, die bei einem Fokus auf fluide Praktiken kaum erklärbar wären. Das Unbehagen an den Rigiditäten des sogenannten ›technischen Staats‹ lag bereits der Technokratie-Kritik der 1960er-Jahre zugrunde.245 Schelsky argumentiert in seinem berühmten Essay »Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation«, dass Herrschaftsverhältnisse in die Technik einwandern und dort zu weitgehend unsichtbaren Verhärtungen führen.246 Mit der Ausweitung des GeltungsLorenz Engell/Oliver Fahle (Hg.), Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, Stuttgart: DVA 2008, S. 373-376, hier S. 373f. 241  |  Vgl. Bublitz et al.: »Einleitung«, S. 20. 242  |  Niklas Luhmann: Beobachtungen der Moderne, Opladen: Westdt. Verlag 1992, S. 21. 243 |  Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft Band 4, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2012 [1999], S. 23. 244  |  Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit diesem Zusammenhang erfolgt in Kapitel 6. 245  |  Vgl. Helmut Schelsky: Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, Köln: Westdt. Verlag 1961. 246  |  Zuletzt hat Latour mit seiner neutraleren These von Technik als verhärteter Gesellschaft auf ebendiesen Zusammenhang hingewiesen. Vgl. Bruno Latour:

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bereichs von Technik – beispielsweise im Zuge der Delegation von Entscheidungsprozessen an Algorithmen – kann zudem auf Politik in einem emphatisch-gestaltenden Sinn verzichtet werden und Regieren nähert sich administrativen Prozessen an.247 Die Nutzung bestimmter Apparate setzt stets eine grundsätzliche Einwilligung in ihre Verfasstheit – und indirekt auch in die Bedingungen ihrer Produktion – voraus, ohne dass diese im Detail bekannt sein müssten. Für mobile Medien hat Oliver Leistert beispielsweise argumentiert, dass sie – ungeachtet des Einsatzorts und Verwendungszwecks – eine westlich geprägte politische Rationalität des Individuums transportieren und damit neben einer Technologie auch eine Art und Weise der Subjektivierung globalisiert wird.248 Digitale Nahkörpertechnologien können als häufig exklusiv sichtbarer Teil von umfassenden Apparaten verstanden werden, wobei durch ihre Körpernähe, diverse Personalisierungsoptionen und die habitualisierte Vertrautheit der Nutzung die Illusion entsteht, über den Apparat nach Belieben verfügen zu können. Hickethier konstatiert ein vergleichbares Verhältnis von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit auch schon für den Fernsehapparat: »Das Empfangsgerät integriert sich in der Regel in den privaten Bereich des Rezipienten und unterwirft sich damit in ganz anderer Weise der individuellen Verfügung des Rezipienten.«249 Aus Anwendersicht ist insbesondere die technische Infrastruktur, die einen wesentlichen Teil des Apparats ausmacht, selten von Belang. So schreibt Hickethier weiter: Die Rede von der dispositiven Anordnung hat ihren point of view im Standpunkt des Rezipienten: der Blick auf das, was auf ihn zukommt, läßt den ganzen Pro-

»Technology Is Society Made Durable«, in: John Law (Hg.), A Sociology of Monsters. Essays on Power, Technology and Domination, London: Routledge 1991, S. 103-131. 247  |  Vgl. Evgeny Morozov: »The Rise of Data and the Death of Politics«, auf: The Guardian, dort datiert am 20.7.2014, https://www.theguardian.com/ technology/2014/jul/20/rise-of-data-death-of-politics-evgeny-morozov-algorithmic-regulation, zul. aufgeruf. am 31.1.2017. 248  |  Vgl. Leistert: From Protest to Surveillance, S. 9, 97f. und 118f. Vgl. zu diesem Punkt außerdem Heidi Rae Cooley: Finding Augusta. Habits of Mobility and Governance in the Digital Era, Hanover, New Hampshire: Dartmouth College Press 2014, S. 82: »Those who mobilize politically by means of their mobile devices may challenge particular regimes, while simultaneously reinforcing mechanisms of governance that work by making individuals findable and calculable.« Zur Governance durch digitale Nahkörpertechnologien vgl. Kapitel 6 der vorliegenden Arbeit. 249  |  Hickethier: »Apparat – Dispositiv – Programm«, S. 428.

2. Bring Your Own Device duktionsbereich hinter dem im Empfangsgerät abrufbaren Angebot verschwinden und zum unsichtbaren Teil der Apparatur werden. 250

Insofern das konkrete technische Objekt in den Händen der Anwender stets eine ermöglichende Infrastruktur voraussetzt, muss es als Objekt-in-Relation begriffen werden. Erst das Zusammenwirken und Ineinandergreifen einer Vielzahl vernetzter Elemente gewährleistet seine Funktionalität. Im Unterschied zu den visuellen Medien, für die sich die Apparatustheoretiker interessierten, haben digitale Medien die besondere Eigenschaft, auch während ihrer Nutzung in einem ständigen, reziproken Austausch mit anderen Komponenten des Gesamtapparats zu stehen, beispielsweise beim Speichern von Daten auf eine Festplatte in einem geografisch weit entfernten Datencenter oder bei der Lokalisierung eines Endgeräts mit Hilfe des GPS-Systems. Dieses dynamische Gesamtensemble als Apparat zu bezeichnen hat den Vorzug, es als stabilisierten systemischen Zusammenhang begreifen zu können, womit die Analyseebene von den Endgeräten auf die technisch-infrastrukturellen Relationen innerhalb des Apparats verlagert wird.251 Wenn man die beteiligten Akteure (die Benutzer von internetfähigen Mobilgeräten und die Geräte selbst) nicht substanzialistisch als abgeschlossene Entitäten auffasst, lässt sich ihre jeweilige Konstitution näher betrachten. Dazu wurde mit Blick auf das beteiligte Selbst eine Perspektive auf Subjektivierungsvorgänge vorgeschlagen, die es als fortlaufend produziertes Selbst-in-Relation in Erscheinung treten lassen. Mit Blick auf die Geräte wurde dafür plädiert, diese als Teil von Apparaten aufzufassen, d. h. als oft allein sicht- und greifbaren Ausschnitt medialer Infrastrukturen. Die gewählte Perspektive erlaubt es schließlich auch, Smartphones und ihre Träger als aneinander gekoppelte Konstituenten einer gemeinsamen Anordnung zu begreifen. Bevor diese Anordnung mit Blick auf die Körperlichkeit der Interaktion näher beschrieben wird, soll allerdings zunächst ein historischer Rückblick ein Licht auf die Aneignungsgeschichte des Personal Computers werfen. Die These ist, dass bereits in der Geschichte des Personal Computers seit den 1960er/70er-Jahren einige für die Entwicklung von digitalen Nahkörpertechnologien entscheidende Konflikte ausgetragen und Weichenstellungen vollzogen wurden. Diese Momente im Kontext der vorliegenden Arbeit aufzurufen, kann zu einem besseren Verständnis der sich gegenwärtig vollziehenden Kybernetisierung des Alltags beitragen.

250  |  Ebd., S. 432. Die »dispositive[.] Anordnung« ist eine begriffliche Improvisation Hickethiers, der sich damit um eine Konkretisierung des Dispositiv-Begriffs bemüht. 251  |  Das Smartphone in dieser Weise als Teil eines Apparats aufzufassen und nicht als isoliertes Einzelmedium, entspricht der in Kapitel 2.4 vorgeschlagenen ›paranoischen‹ Heuristik.

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3. Institutional, Personal, Intimate Computer – Eine medienhistorische S ituierung

Als Apple-CEO Steve Jobs auf der Macworld 2007 in San Francisco erstmals das iPhone der Öffentlichkeit präsentiert, spart er nicht an großen Worten. Das iPhone biete »the internet in your pocket for the first time ever«1 – was medienhistorisch zwar nicht korrekt, aber Teil einer Rhetorik ist, die einen durch Apple initiierten revolutionären Medienumbruch proklamiert. Ein übermannsgroßes iPhone wird an die Wand hinter ihm projiziert, dazu der Slogan »Your life in your pocket. The ultimate digital device.« Der implizite Syllogismus scheint nahezulegen, dass es zwischen dem Internet und dem Leben im 21. Jahrhundert keine Differenz mehr zu geben braucht. Dieses große Ganze jedenfalls wird gebündelt in einem Gadget, das antritt, um alle anderen abzulösen – »the ultimate digital device«, oder: the device to end all devices. Dass dieses weder zureichend als Mobiltelefon noch als Computer kategorisiert werden kann und soll, kommt in der sich anschließenden Geste zum Ausdruck, als Jobs verkündet, die Firma Apple Computer Inc. heiße fortan nur noch Apple Inc. Der Computer verschwindet – aus dem Firmennamen gleichermaßen wie aus dem Leben der Apple-Kunden, so die Verheißung. (Abb. 1) Mit ihm verschwinden auch die Konnotationen des PCs als einer unnötig komplizierten Maschine, die nie so recht den Bedürfnissen von Laienanwendern zu genügen schien. Lev Manovich beschreibt die Ästhetik von Apple-Produkten als Inszenierung eines transitorischen Moments: Die Produktpalette des kalifornischen Konzerns stehe am Scheidepunkt eines eher environmental zu begreifenden Computing, das an die Stelle eines objektzentrierten trete.2 Manovich nennt dies, Mark Weiser folgend, 1  | Steve Jobs, zitiert in Ryan Block: »Live from Macworld 2007. Steve Jobs Key-note«, auf: engadget, dort datiert am 1.9.2007, http://www.engadget.com/ 2007/01/09/live-from-macworld-2007-steve-jobs-keynote/, zul. aufgeruf. am 31.1.2017. 2  | Vgl. Lev Manovich: »The Back of Our Devices Looks Better than the Front of Anyone Else’s. On Apple and Interface Design«, in: Pelle Snickars/Patrick

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»the stage of ubiquitous computing in which a technological fetish is dissolved into the overall fabric of material existence«.3 Während Computertechnologien in einem Prozess des Verschwindens begriffen seien und sich in weitgehend unsichtbare Infrastrukturen verwandelten, gelte es, für die residualen Artefakte angemessene Formen zu entwickeln. Hier habe Apple mit einer minimalistischen, supermodernen Ästhetik eine vergleichsweise erfolgreiche Lösung gefunden. Ganz anders stellte sich die Situation noch 1972 dar, fünf Jahre vor dem Erscheinen des erfolgreichen Apple II-Homecomputers. Als Stewart Brand, Ikone der Gegenkultur und Herausgeber des Whole Earth Catalog in den Jahren 1968-1972, in einem Aufsehen erregenden Artikel für das Rolling Stone-Magazin über die Personal Computing-Pioniere des Xerox Palo Alto Research Center berichtet, lässt er seinen Text mit der Parole beginnen: »Ready or not, computers are coming to the people.«4 Brands Artikel kann als diskursiver Meilenstein innerhalb einer Aneignungs- oder Domestizierungsgeschichte des Computers betrachtet werden, in der die ursprünglich militärische Technologie schließlich demokratisiert werden sollte. Erstrebenswert erscheint es hier gerade, Computer einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, eine Aufgabe, der sich u. a. die People’s Computer Company in den frühen 1970er-Jahren verschrieb. Damit verbunden war auch eine programmatische Befreiung der Technologie von bürokratischen, industriellen und militärischen Zwecksetzungen, die zunächst den imaginativen Rahmen dessen vorgaben, was man von der Computertechnik zu erwarten hatte. Verbindet Apple Mitte der 2000er-Jahre eine neue Epoche digitaler Nahkörpertechnologien also mit einer Transzendierung des Computers, soll in diesem Kapitel im Sinne eines Präludiums ein Blick in jene Zeit geworfen werden, in der der Computer erstmals als persönliche Maschine imaginiert wurde – d. h. in die späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre der US-amerikanischen Westküste, als fast alle heute noch gängigen Bestandteile des Personal Computers konzipiert und popularisiert wurden. Während Apple den Computer 2007 programmatisch zum Verschwinden bringen lässt, sind in dieser Zeit die Bemühungen einer großen Anzahl von Akteuren wie Computerwissenschaftlern, Hackern, Bürgerrechtlern und Vertretern der Gegenkultur gerade darauf ausgerichtet, die anfangs exklusiv militärisch genutzte Computertechnologie zum alltäglichen Medium der Information und Kommunikation zu machen.

Vonderau (Hg.), Moving Data. The iPhone and the Future of Media, New York: Columbia University Press 2012, S. 278-286. 3  | Ebd., S. 285. Vgl. Mark Weiser: »The Computer for the 21st Century«, in: Scientific American 265/3 (1991), S. 94-104. 4  | Stewart Brand: »Spacewar. Fanatic Life and Symbolic Death among the Computer Bums«, in: Rolling Stone, 7. Dezember 1972, S. 50-58, hier S. 50.

3. Institutional, Personal, Intimate Computer

Abbildung 1: Steve Jobs bei der Präsentation des iPhones 2007: Der Computer verschwindet aus dem Firmennamen von Apple Computer, Inc.

Quelle: Ryan Block: »Live from Macworld 2007. Steve Jobs Keynote«, auf: engadget, dort datiert am 1.9.2007, http://www.engadget.com/2007/01/09/livefrom-macworld-2007-steve-jobs-keynote/, zul. aufgeruf. am 14.2.2017.

Zur Kulturgeschichte des Personal Computers liegen bereits eine Reihe von Arbeiten vor.5 Ziel des vorliegenden Kapitels ist keine Paraphrase dieser Studien, sondern die Konturierung eines Prozesses der Kybernetisierung des Alltags, der mit dem Personal Computer seinen historischen Anfang nahm und in den heutigen digitalen Nahkörpertechnologien eine Fortsetzung und Ausweitung findet, wobei 5  | Vgl. u. a. Paul E. Ceruzzi: A History of Modern Computing, Cambridge, Mass.: MIT Press 2003 [1998], Gundolf S. Freyermuth: »Die Geburt des PC aus dem Geiste des Protests. Eine kleine Kulturgeschichte«, in: c’t – Magazin für Computertechnik 24 (2003), S. 270-276, Michael Friedewald: Der Computer als Werkzeug und Medium. Die geistigen und technischen Wurzeln des Personal Computers, Berlin-Diepholz: GNT-Verlag 2009 [1999], John Markoff: What the Dormouse Said. How the Sixties Counterculture Shaped the Personal Computer Industry, New York: Penguin 2005, Fred Turner: From Counterculture to Cyberculture. Stewart Brand, the Whole Earth Network, and the Rise of Digital Utopianism, Chicago, Ill.: University of Chicago Press 2008 und Martin Campbell-Kelly/William Aspray/Nathan Ensmenger/Jeffrey R. Yost: Computer. A History of the Information Machine, New York: Westview Press 2014, S. 229-251.

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sich allerdings eine bemerkenswerte Verschiebung von Agenturen vollzieht. War die Einführung des PCs noch mit Vorstellungen der individuellen Nutzerermächtigung verbunden, bilden digitale Nahkörpertechnologien den Nexus einer Vielzahl teils konfligierender Interessen, die sich nicht mehr von einer Person kontrollieren lassen, wobei institutionelle Akteure wieder eine wichtige Rolle einnehmen. Die Gegenüberstellung der iPhone-Inszenierung als Symptom einer Post-PCÄra mit dem historischen Aneignungsprojekt des Personal Computers verweist auf einen übergreifenden Wandel in der kulturellen Semantik des Mediums Computer. Dieser ist hier insofern von Interesse, als eine Medienanthropologie digitaler Nahkörpertechnologien einerseits den Personal Computer als individuelle Kopplung von Anwender und Computer historisch voraussetzt. Gleichzeitig überschreitet die Vorstellung einer alltäglichen und habituellen Verbindung von Körper und Gerät die Grenzen dessen, was von der Anordnung Personal Computer vorgegeben wird. Allerdings lassen sich bereits in der Mediengeschichte des Personal Computers Bestrebungen ausmachen, das Persönlichmachen des zunächst unpersönlichen Computers in Richtung einer Intimisierung der Schnittstelle zu überschreiten, wie sie heute für digitale Nahkörpertechnologien propagiert wird. Alan Kays Konzeption eines Intimate Computing wird in dieser Geschichte eine zentrale Rolle spielen. Insbesondere soll aufgezeigt werden, wie diese Vorstellung bereits in frühe Konzeptionen des PCs einfloss und welche Transformationen sie mit dem Aufkommen digitaler Nahkörpertechnologien erlebt. Im Folgenden gebe ich zunächst einen kurzen historischen Abriss von Aspekten der Kultur- und Aneignungsgeschichte des Personal Computers (3.1), in dem insbesondere darauf abgehoben wird, wie die zu Beginn als bedrohlich-entfremdend wahrgenommene Computertechnologie während der 1960er- und 70er-Jahre einen Bedeutungswandel erlebt und mit gegenkulturellen Semantiken aufgeladen wird. Konkret werfe ich dann ein Blick auf die historische Konstellation eines Intimate Computing (Alan Kay), das sich insbesondere deswegen für eine Fokussierung anbietet, weil es gegenwärtig unter veränderten Vorzeichen erneut zu Bemühungen um eine Intimisierung von Nutzerschnittstellen digitaler Nahkörpertechnologien kommt (3.2). Diese rezente Entwicklung steht allerdings in einem Spannungsverhältnis zu den Entwürfen der historischen Computerpioniere. So kommt es zu einer neuen Verortung digitaler Endgeräte in einer medialen Anordnung, innerhalb derer ein intimes Wissen über Anwender zur Funktionsvoraussetzung und zum Ausgangspunkt für Datenverwertungen wird. Eine historische Ironie liegt darin, dass gerade erfolgreiche Aneignungsprozesse von Medien eine verstärkte Verstrickung in institutionelle und technologische Zusammenhänge bewirken können. Digitale Nahkörpertechnologien sind heute flächendeckend verbreitet und Bestandteil alltäglichster Praktiken (was durchaus mit einem subjektiven Freiheitsgefühl einhergehen kann), während sie gleichzeitig zentrale Komponenten eines Komputations- und Kontrollapparats darstellen, dessen Effekte sich an emergierenden Disziplinen wie der Mobile Data Science, geheimdienstlichen Praktiken wie dem Smartphone-Überwachungsprogramm der NSA und ökonomi-

3. Institutional, Personal, Intimate Computer

schen Trends wie Big Data ablesen lassen. Dass es angesichts dieser Entwicklungen ein anbieterseitiges Interesse daran gibt, den digitalen Gadgets ihren Status als Computer abzusprechen – wie die einleitend besprochene Geste Steve Jobs’ demonstrieren sollte –, ist auch vor dem Hintergrund dieser Kehrseiten der Nutzung digitaler Nahkörpertechnologien zu verstehen. Es lässt sich konstatieren, dass das in den späten 1960er-Jahren begonnene Projekt der Personalisierung des Computers ein historisch nachhaltiger Erfolg war. Die in der kalifornischen Gegenkultur verfolgte Hoffnung auf Befreiung von zentralistischer Bürokratie, vom monokratischen Apparat der abgelehnten Mainstream-Gesellschaft, hat sich allerdings nicht erfüllt. Stattdessen vollzieht sich mit der massenhaften Nutzung von internetfähigen Mobilgeräten gleichsam eine flächendeckende Dispersion des Apparats. Die so vertraut erscheinenden körpernahen Gadgets weisen allerdings keine sichtbaren Spuren davon auf. Das kollektive und emphatische Personalisierungsprojekt mündet in einen verteilten Prozess individueller Aneignungsvorgänge ohne politische Agenda, die mittelbar ebenjenem Zentralismus in die Hände spielen, gegen den der Personal Computer als Utopie gerichtet war.

3.1 H ow I L earned To S top Worrying L ove the C omputer – Kybernetik , G egenkultur und die I dee des P ersonal C omputers

and

Computers are beginning to give the mechanistic world a brain. And it’s our job to give it a soul. Teilnehmer des Peradam-Events, 1969

In diesem Teilkapitel werde ich zunächst ausgewählte Aspekte der Kultur- und Aneignungsgeschichte des Personal Computers als eine (1) Geschichte diskursiver Umbesetzungen und Entwendungen darstellen, die (2) mit wechselnden Subjektivierungsprogrammen verknüpft ist, welche bestimmte Nutzergruppen mit der Computertechnik in Verbindung bringen (Militärs, Hippies, Wissensarbeiter, Manager, Kinder, …). Besondere Berücksichtigung verdient in diesem Zusammenhang der historische Diskurs der Kybernetik, der sich als vermittelnde Kontaktsprache zwischen den verschiedenen Nutzern der Computertechnik anbot. Darüber hinaus wird in der zweiten Hälfte des Teilkapitels mit der sogenannten kalifornischen Ideologie eine diskursive Formation diskutiert, die in besonderer Weise dazu geeignet war, die heterogenen Bedeutungszuschreibungen und Subjektpositionen im Umfeld des Personal Computers in einem übergreifenden Glaubenssystem zu integrieren. Dieses wiederum reicht bis in die Gegenwart digitaler Nahkörpertechnologien hinein und wird bis heute mit den im Silicon Valley ansässigen Konzernen, ihren Mitarbeitern und Kunden assoziiert.

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Insgesamt dient das Teilkapitel zwei Zwecken: Erstens wird in komprimierter Form der Wandel der Computertechnik vom Instrument einer zentralisierten Administration zum Mittel individueller Ermächtigung nachvollzogen und problematisiert. Zweitens dient diese Narration als Hintergrund für die sich in Kapitel 3.2 anschließende Fallstudie zur Konzeption eines Intimate Computing, in der auf besonders prägnante Weise sichtbar wird, dass und wie mit dem Personal Computer schon früh die Vorstellung eines medientechnisch aufgerüsteten Individuums verbunden wurde. Speziell am diskursiven und kontextuellen Wandel dieses Konzepts von den 1970er- bis in die 2010er-Jahre lässt sich demonstrieren, dass eine Berücksichtigung der Aneignungs- und Domestizierungsgeschichte des PCs für eine Medienanthropologie digitaler Nahkörpertechnologien nach wie vor relevant ist. Im historischen Ringen verschiedener Akteure um eine angemessene Definition und Ausgestaltung des Mensch-Computer-Verhältnisses bereitet sich diskursiv bereits vor, was spätestens Mitte der 2000er-Jahre auf dem Terrain des nahkörperlichen Gebrauchs computerbasierter Medien neu verhandelt wird. Im Mittelpunkt steht dabei immer die Frage nach den Anwendern der Computertechnik und nach ihrem Umgang mit dem Medium Computer: Wofür verwenden sie die Geräte und welche subjektivierenden Wirkungen zeitigt dieser Gebrauch?

3.1.1 Von der Militärtechnik zum Counter-Computer – Diskursive Umbesetzungen der Computertechnik (1960er- und 1970er-Jahre) Zwar finden Computer für den Privatgebrauch erst ab den späten 1970er- und dann wesentlich in den 1980er-Jahren Verbreitung, doch diesem Prozess geht die Herausbildung und Verbreitung einer Imagination voraus, innerhalb der sich das Image des Computers von einer Herrschaftstechnologie zu einer persönlichen Informationsmaschine wandelt. Fred Turner hat in einem vielbeachteten Buch eine Geschichte der Internet- und Computerkultur der 1990er- und 2000er-Jahre vorgelegt, die die Beschreibung dieser verblüffenden Transformation ins Zentrum stellt.6 Wie ist es möglich, dass aus dem Computer, der noch in den 1960er-Jahren in erster Linie mit Bürokratie und Rationalisierung, mit zentraler Datenverarbeitung, mit großen, anonymen Organisationen und letztlich auch mit inhumaner Kriegsführung assoziiert wurde, in den 1990er-Jahren eine utopische Maschine werden konnte? Vernetzte Computer erscheinen spätestens dann als Verkörperung des »countercultural dream of empowered individualism, collaborative community, and spiritual communion«.7 Hier muss eine Art von Entwendung oder Umbesetzung stattgefun6  | Vgl. Turner: From Counterculture to Cyberculture. 7  | Ebd., S. 2. Claus Pias: »›Hollerith ›gefiederter‹ Kristalle‹. Kunst, Wissenschaft und Computer in Zeiten der Kybernetik«, in: Michael Hagner/Erich Hörl (Hg.), Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008, S. 72-106, hier S. 99 spricht ana-

3. Institutional, Personal, Intimate Computer

den haben, die dazu führte, dass ebenjene bedrohlichen und unpersönlichen Computer zu einem essenziellen Instrument der Befreiung in den Cyber-Utopien der 1990er-Jahre avancieren konnten. Turners Argumentation verweist darauf, dass es nicht rein technische Faktoren gewesen sein können, die für diesen Wandel der kulturellen Semantik um informationsverarbeitende Technologien ausschlaggebend waren. Technische Entwicklungen während der 1960er-Jahre begünstigten zwar die Miniaturisierung und Personalisierung des Computers, der sich sukzessive von der per Lochkarte bedienten Großrechenanlage auf ein bürokompatibles Format reduzieren ließ.8 Damit ergab sich auch eine ganze Bandbreite von neuen Nutzungsmöglichkeiten, beispielsweise in der Bürokommunikation, dem Desktop-Publishing und künstlerischen Tätigkeiten. Turner betont: »These technological developments, however, did not in and of themselves spawn the ethos of personalness to which small computers have since become attached.«9 Dazu bedurfte es vielmehr einer aktiven Verknüpfung von kulturellen Semantiken mit der Technikentwicklung, die nicht von den Ingenieuren alleine bewerkstelligt werden konnte.10 In der kalifornischen Bay Area der späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre bildete sich ein im historischen Rückblick kurios erscheinendes Amalgam aus Vorstellungen individueller Leistungssteigerung mit Wurzeln in den militärischen Forschungslalog von einer »›Zivilisierung‹ des Rechners« durch das Interfacedesign und die Evaluation neuer Aufgaben für das Computing. Insbesondere die Figur des Hackers, zunächst vor allem im Umfeld des MIT, trete als wesentlicher Agent »symbolische[r] Inversionen« (ebd., S. 100) in Erscheinung, der latente Möglichkeiten der Computertechnologie erschließe und damit auch ideologische Justierungen vornehme. 8  | Der Mikroprozessor wurde 1970 von der Firma Intel entwickelt. Er kann als Grundlage aller weiteren technischen Entwicklungen auf dem HomecomputerMarkt gelten. Vgl. Leslie Haddon: »The Home Computer. The Making of a Consumer Electronic«, in: Science as Culture 1/2 (1988), S. 7-51. 9  | Turner: From Counterculture to Cyberculture, S. 105. Vgl. zur Dynamik der Personalisierung auch Thierry Bardini: Bootstrapping. Douglas Engelbart, Coevolution, and the Origins of Personal Computing, Stanford, Calif.: Stanford University Press 2000, S. xiiif sowie Markoff: What the Dormouse Said, S. xi: »The idea of personal computing was born in the sixties; only later, when falling costs and advancements in technology made it feasible, would the box itself arrive.« 10  | Vgl. zu diesem Punkt Bryan Pfaffenberger: »The Social Meaning of the Personal Computer. Or, Why the Personal Computer Revolution Was No Revolution«, in: Anthropological Quarterly 61/1 (1988), S. 39-47, hier S. 41: »In sharp contrast to the economist’s thinking that portrays technical innovation as a demand-based response to public need, studies of actual innovations often show that inventors must construct a meaning-framework for their artifacts to create a need that did not previously exist.«

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bors des 2. Weltkriegs, Bestrebungen nach drogeninduzierter Bewusstseinserweiterung, gegenkulturellen Individualitätsidealen, fernöstlicher Spiritualität und Bastlerkulturen rund um die Aktivisten der People’s Computer Company (und ab 1975 des Homebrew Computer Club, den u. a. die Apple-Gründer Stephen Wozniak und Steve Jobs frequentierten). Dieser eigentümlichen Fusion von gegenkulturellen Praktiken und computertechnischen Implementierungen verdankt sich mittelbar der Imagewandel des Computers.11 Eine kybernetische Mensch-Maschine-Integration im Zuge der Personalisierung von Computern erschien als vielversprechender Weg, den Geist zu erweitern und neue Problemlösungskapazitäten zu entwickeln. Somit war der PC anschlussfähig sowohl für militärische Vorstellungen von Leistungssteigerung als auch für Hippie-Träume: Im Umfeld des Whole Earth Catalog kam es Ende der 1960er- und in den 1970er-Jahren zu einer einzigartigen Allianz zwischen Hippies und Kybernetikern, Natur-Romantikern und Technologieverehrern, zwischen Psychedelia und Computerkultur, die ihre Gemeinsamkeit in der Ablehnung hierarchischer Machstrukturen und autoritärer Institutionen und in der Suche nach utopischen outlaw areas fanden.12

Die wechselseitigen Inspirationen und Beeinflussungen können als »legitimacy exchange« zwischen Hippies und Computerentwicklern aufgefasst werden, womit Turner »the process by which experts in one area draw on the authority of experts in another area to justify their activities«13 bezeichnet. Die ›Idee‹ des PCs, sofern man sie in dieser Singularität überhaupt unterstellen kann, ist folglich nur noch schwer zu rekonstruieren.14 In jedem Fall aber können die kalifornischen 1960er- und 1970er-Jahre als der Ort und die Zeit benannt werden, an denen erstmals die Vorstellung von Computern als persönlichen Werkzeugen bzw. Medien aufkommt. Aus 11  | Vgl. Thomas Streeter: »›That Deep Romantic Chasm‹. Libertarianism, Neoliberalism, and the Computer Culture«, in: Andrew Calabrese/Jean-Claude Burgelman (Hg.), Communication, Citizenship, and Social Policy. Rethinking the Limits of the Welfare State, Lanham, Md.: Rowman & Littlefield 1999, S. 49-64, hier S. 53. 12  | Anselm Franke: »Earthrise und das Verschwinden des Außen«, in: Diedrich Diederichsen/Anselm Franke (Hg.), The Whole Earth. Kalifornien und das Verschwinden des Außen, Berlin: Sternberg Press 2013, S. 12-18, hier S. 14. 13  | Turner: From Counterculture to Cyberculture, S. 25. Das Konzept »legitimacy exchange« übernimmt Turner von Geoffrey C. Bowker: »How to Be Universal. Some Cybernetic Strategies, 1943-1970«, in: Social Studies of Science 23/1 (1993), S. 107-127. 14  | Vgl. Turner: From Counterculture to Cyberculture, S. 104-118. Die Bezeichnung Personal Computer wurde in den frühen 1970er-Jahren zunächst für Taschenrechner verwendet.

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der institutionalisierten Technologie, deren Effekte noch zu Beginn der 1960er-Jahre ausschließlich in großen staatlichen und privatwirtschaftlichen Organisationen zum Tragen kommen, wird – zuerst diskursiv, später in Form von Bausätzen für Hobbybastler – ein technisches Gerät für jedermann, dessen Gebrauch sich Schritt für Schritt zur neuen Kulturtechnik entwickelt. Gerade die aktivistische People’s Computer Company (PCC), Anfang der 1970er-Jahre gegründet von Dennis Allison, Bob Albrecht und George Firedrake in Menlo Park, machte es sich zur Aufgabe, Laien – insbesondere Kinder und Jugendliche – mit den Möglichkeiten von Computern vertraut zu machen und potenziellen Anwendern die Angst vor der unbekannten Technik zu nehmen.15 Sie spielte eine wichtige Rolle bei der Popularisierung und diskursiven Umwertung der Computertechnologie, die einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollte. Das Cover der ersten Ausgabe des People’s Computer Company Newsletter vom Oktober 1972 führte das Motto: »Computers are mostly used against people instead of for people; used to control people instead of to free them; time to change all that we need a ... People’s Computer Company«.16 (Abb. 2) Der Schwerpunkt der frühen Ausgaben des Newsletters lag auf dem copyright-freien Teilen von BASIC-Code, mit dem Anwender beispielsweise Spiele programmieren konnten. In späteren Ausgaben traten weitere Themen hinzu, darunter philosophische Essays, Computerkunst, interaktive Computergrafik und die Möglichkeiten der Simulation.17 Neben dem Newsletter richtete die PCC ein Community-Zentrum ein, in dem Interessierte praktische Hands-On-Erfahrungen mit Computern machen konnten, wobei es sich allerdings noch um Timesharing-Computer handelte, die dem Anwender lediglich die Illusion der persönlichen Verfügung gaben.18 Durchgängiger Fokus der PCC waren Bildung und Medienkompetenz, die ›Vergemeinschaftung‹ von Computern als öffentlich genutzte Ressource und exploratives Hardware-Hacking. Turner zeigt auf, dass es insbesondere ein gemeinsamer Grundstock von Ideen aus der Kybernetik war, der eine Vermittlung zwischen Counterculture und Cyberculture möglich machte. Zentrale Figuren dieses Austausches waren

15  | Zur Geschichte der People’s Computer Company vgl. Steven Levy: Hackers. Heroes of the Computer Revolution – 25th Anniversary Edition, Sebastopol: O’Reilly 2010 [1984], S. 165-178. 16  | People’s Computer Company Newsletter 1/1, Oktober 1972, Titelseite, online unter https://purl.stanford.edu/ht121fv8052, zul. aufgeruf. am 31.1.2017. 17  | Vgl. People’s Computer Company Newsletter 2/6, Juli 1974, online unter https://purl.stanford.edu/xy386kd9876, zul. aufgeruf. am 31.1.2017. 18  | Vgl. Levy: Hackers, S. 170.

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Abbildung 2: Coverseite der ersten Ausgabe des People’s Computer Company Newsletter, Oktober 1972

Quelle: People’s Computer Company Newsletter 1/1, Oktober 1972, Titelseite, online unter https://purl.stanford.edu/ht121fv8052, zul. aufgeruf. am 31.1.2017.

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• der Anthropologe Gregory Bateson als prominenter Vertreter einer Sozialkybernetik und Vordenker der systemischen Therapie, der an der Übertragung systemischer Beschreibungs- und Steuerungsmodelle auf soziales Verhalten arbeitete, dessen Schriften aber weit über wissenschaftliche Kreise hinaus rezipiert wurden; • der MIT-Mathematiker Norbert Wiener, Begründer des Begriffes ›Kybernetik‹, der sich – insbesondere in seinem Buch The Human Use of Human Beings – Gedanken über die sozialen Konsequenzen der neuen Wissensformation machte; • der sich als ›Comprehensive Designer‹ verstehende Architekt und Futurist Buckminster Fuller, dessen geodätische Kuppeln in Verbindung mit der Schrift Operating Manual for Spaceship Earth zu Symbolen der entstehenden Ökologie-Bewegung wurden; • der Begründer der kanadischen Medientheorie Marshall McLuhan, der mit seinen zu Slogans gewordenen Thesen vom Medium als Botschaft und dem globalen Dorf als einer der Vordenker digitaler Medien gefeiert wurde und zur Galionsfigur der Gegenkultur wurde19; • und nicht zuletzt Stewart Brand, dessen Whole Earth Catalog eine integrierende Funktion für eine ganze Reihe von verschiedenen Stakeholdern hatte und der maßgeblich zu einer Popularisierung systemtheoretischer und kybernetischer Diskurse beitrug. Auf einer konzeptuellen Ebene war es insbesondere die holistische Epistemologie von Feedbacks in geschlossenen Regelkreisen, die die Metadisziplin Kybernetik als Denkmodell für Brand und sein Umfeld attraktiv machten.20 Paradoxerweise entstand im Herzen des sog. ›militärisch-industriellen Komplexes‹ seit Mitte der 1940er-Jahre eine integrative Weltauffassung, die interdisziplinäre Kooperationen durch eine gemeinsame Sprache ermöglichen sollte, welche um Konzepte wie System, Codierung, Signal, Feedback, Entropie, Gleichgewicht, Information, Kommunikation und Kontrolle kreiste.21 Die Kybernetik war als systematische Steuerungswissenschaft konzipiert, die auf eine möglichst umfassende technologisch-rationale Regulation abzielte. Klassische Ursache-Effekt-Verhältnisse sollten dabei durch zirkuläre Kausalitäten ersetzt werden. Norbert Wiener arbeitete im Auftrag des US-Militärs an einem Aircraft Predictor, einer Maschine zur Vorausberechnung von Flugbahnen mit dem Ziel des erfolgreichen Abschusses.22 Die Herkunft dieses neuen Denkens ist also eindeutig militärisch. Indem die Kybernetik die klas19  | Vgl. Pias: »›Hollerith ›gefiederter‹ Kristalle‹«, S. 100. 20  | Zur Kulturgeschichte der Kybernetik vgl. Hagner/Hörl, Die Transformation

des Humanen. 21  | Vgl. Bernard Geoghegan/Benjamin Peters: »Cybernetics«, in: Marie-Laure Ryan/Lori Emerson/Benjamin J. Robertson (Hg.), The Johns Hopkins Guide to Digital Media, Baltimore, Md.: Johns Hopkins University Press 2014, S. 109-113, hier S. 110. 22  | Vgl. ebd., S. 109f.

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sischen Oppositionen von Mensch/Maschine, belebt/unbelebt, Subjekt/Objekt im Zuge einer Umstellung auf die Beschreibung analoger Funktionsabläufe in informationsgesteuerten Systemen zu überwinden versuchte, bot sie sich allerdings auch als universelle theoretische Grundlage für die Beschreibung von Systemen jeder Art an.23 Dabei wurde weniger auf die Attribute von Einzelkomponenten als auf die Regulierung eines Gesamtzusammenhangs fokussiert, wobei negatives Feedback als Steuerungsinstrument einen Mechanismus der Stabilisierung darstellte. Speziell die Ökologie machte ausgiebig von den kybernetischen Modellierungen Gebrauch. Diese Konzeptionierungen erwiesen sich als anschlussfähig für die Bewegung der New Communalists, dem Zweig der amerikanischen Gegenkultur, welcher im Vergleich zur New Left eher unpolitisch und auf die persönliche Transformation von Bewusstseinsstrukturen ausgerichtet war.24 Insbesondere hatten Protagonisten wie Stewart Brand und seine Mitstreiter einen regelrechten Horror vor dem Bürokratismus großer anonymer Organisationen und Institutionen, für den sinnbildlich der ›Organization Man‹ (William H. Whyte) stand.25 Die gesellschaftliche Ordnung in den USA der Nachkriegszeit wurde als enges Korsett empfunden, in der Menschen lediglich als Funktionsträger adressiert würden und keine Möglichkeit zur Persönlichkeitsentfaltung hätten. Die New Communalists strebten nach Autonomie und Autarkie, auch in tätiger Auseinandersetzung mit einer als Herausforderung begriffenen Natur.26 Mit den Aussteigersehnsüchten war also ein positiver Wunsch nach Freiheit 23  | Vgl. Michael Hagner: »Vom Aufstieg und Fall der Kybernetik als Universalwissenschaft«, in: Ders./Hörl, Die Transformation des Humanen, S. 38-71.

24  | Vgl. Fred Turner: »Die Politik der Ganzheit um 1968 – und heute«, in: Diede-

richsen/Franke, The Whole Earth, S. 43-48, hier S. 44f. Vgl. tiefergehend zu dieser Ausprägung der Counterculture Theodore Roszak: Gegenkultur. Gedanken über die technokratische Gesellschaft und die Opposition der Jugend, Düsseldorf: Econ 1971 [amerik. OA 1969]. 25  | Vgl. Diederichsen/Franke, The Whole Earth, S. 74 und William H. Whyte: The Organization Man, New York: Simon Schuster 1956. Bereits David Riesman/Nathan Glazer/Reuel Denney/Todd Gitlin: The Lonely Crowd. A Study of the Changing American Character, New Haven, Conn.: Yale University Press 2001 [1950] arbeiteten mit der vor allem in großen Organisationen vermehrt auftretenden »other-directed personality« die Grundzüge einer Persönlichkeitsstruktur heraus, die seit den 1940er-Jahren die US-amerikanische Mentalität zu prägen begann. 26  | Am radikalsten in diesem Bestreben war sicherlich Ted Kaczynski, der später als Unabomber notorische Berühmtheit erlangen sollte. Kaczynski beließ es allerdings nicht bei einer Abkehr von der technisch-industriellen Massengesellschaft, sondern er griff diese aktiv in terroristischen Anschlägen an und verfasste ein maschinenstürmerisches Manifest. Vgl. Ted Kaczynski: Industrial Society and Its Future. The Unabomber’s Manifesto, auf: archive.org, dort datiert

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verknüpft, insbesondere als Freiheit von staatlicher Repression und Überwachung durch technokratische Regime. Der Historiker Theodore Roszak, auf den der Begriff der Counterculture zurückgeht, hat in seinem bekanntesten Werk die frühen 1960er-Jahre als »Epoche der Soziotechnik« beschrieben, »in der sich die Einwirkungsmöglichkeiten unternehmerischer Talente auf den gesamten Bereich der menschlichen Existenz, der den Industrie-Komplex umgibt, ausdehnen«.27 Roszak versteht unter Technokratie eine »Herrschaft der Experten«, die noch in der Lage sind, in ihren je spezifischen Kompetenzbereichen die Komplexität der technowissenschaftlichen Gesellschaft zu bearbeiten.28 Für das durchschnittliche Individuum stellte sich diese Gesellschaft der technologischen Disziplin als entfremdet und unpersönlich dar, wobei Roszak mit den Ausbruchsbestrebungen der Gegenkultur sympathisierte. Er steht mit seiner Diagnose nicht alleine da: Eine ganze Reihe von kritischen Akademikern in den USA und anderswo beschrieben die Gesellschaft der 1960er-Jahre als bestimmt von mächtigen technologischen Imperativen, die Zentralisierung und Bürokratisierung beförderten. Häufig wird dabei der hierarchisch und strikt zentralisiert im Batch Processing-Betrieb laufende Großraumrechner als Symptom und Instrument dieser Tendenzen genannt.29 Die sich in den 1960er-Jahren gründenden Kommunen der Back-to-the-LandBewegung an der Westküste der USA artikulierten einen Bedarf an »tools of personal liberation«30, die sie von der urban geprägten Mainstream-Gesellschaft mit ihrem Konformitätszwang unabhängig machen sollten. Forum ihres Austauschs und Archiv ihrer Praktiken und Objekte wurde der Whole Earth Catalog. Als Purpose Statement des Whole Earth Catalog findet sich in jeder Ausgabe zu Beginn die folgende Passage, die auf eine Selbstermächtigung des Individuums gegenüber gesellschaftlichen Institutionen zielt: am 19.9.1995, https://archive.org/details/IndustrialSocietyAndItsFuture-TheUna​ bombersManifesto, zul. aufgeruf. am 31.1.2017. 27  | Roszak: Gegenkultur, S. 25. In seiner Charakterisierung der technokratischen Gesellschaft bezieht sich Roszak insbesondere auf Jacques Ellul: The Technological Society, New York: Vintage Books 1964 [1954]. 28  | Roszak: Gegenkultur, S. 26. 29  | Vgl. neben Roszak und Ellul z. B. Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Darmstadt: Luchterhand 1987 [amerik. OA 1964] und Lewis Mumford: The Myth of the Machine. Technics and Human Development, New York: Harcourt Brace Jovanovich 1967. Für eine Übersicht zu diesen kritischen Schriften vgl. Turner: From Countersculture to Cyberculture, S. 29. Vgl. auch Pfaffenberger: »The Social Meaning of the Personal Computer«, S. 42: »The large centralized business mainframe computer had, by the late 1960s, emerged as the symbol par excellence of centralized corporate authority.« 30  | Turner: From Counterculture to Cyberculture, S. 262.

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Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien We are as gods and might as well get good at it. So far, remotely done power and glory – as via government, big business, formal education, church – has [sic!] succeeded to the point where gross obscure actual gains. In response to this dilemma and to these gains a realm of intimate, personal power is developing – power of the individual to conduct his own education, find his own inspiration, shape his own environment, and share his adventure with whoever is interested. Tools that aid this process are sought and promoted by the Whole Earth Catalog. 31

Gelistet wurden überwiegend Rezensionen von Büchern – neben praktischer Ratgeberliteratur auch kybernetische Basistexte sowie Einführungen in das holistische Systemdenken Buckminster Fullers – und zu einem geringeren Anteil mechanische oder elektronische Geräte wie Taschenrechner von Hewlett Packard, Handsägen, u. ä., aber auch Zelte, geodätische Kuppeln, Kanus und robuste Kleidung. Der Personal Computer als flexibles Super-Tool, wie er parallel zur ersten Erscheinungsphase des Whole Earth Catalog im Augmentation Research Center (ARC) des Stanford Research Institute und ab 1970 am Xerox Palo Alto Research Center (PARC) entwickelt wurde, ist offensichtlich der perfekte Anwärter für die Art von Werkzeug, die den Machern des Catalog vorschwebte. Er sollte der persönlichen Ermächtigung in Bezug auf Bildung und Kreativität dienen und erstellte Inhalte sollten sich durch die Vernetzungspotenziale der Digitaltechnik leicht teilen lassen. Auf den Seiten des Catalog wird der PC mit Vorstellungen von Autarkie, Selbstbestimmtheit und individueller Entwicklung verknüpft, die sich direkt gegen den in den 1960er-Jahren noch dominanten Archetyp des ›Organization Man‹ richten. In der Figur des technikaffinen Hippies verdichtet sich also parallel zur diskursiven Umbesetzung der Computertechnik als persönliche ein Subjektivierungsprogramm, das Computer und Anwender in einem Verhältnis der individuellen Leistungssteigerung und Persönlichkeitsentfaltung zusammenbringt. Dieses weist zwar Parallelen zu bereits beim Militär verbreiteten Vorstellungen von Produktivitätssteigerung und effizienterem Informationsmanagement auf, verweist insgesamt aber auf einen Prozess der kreativen Umdeutung und Aneignung.

3.1.2 Kalifornische Kippfiguren – Von der Gegenkultur in den globalen Netzwerkkapitalismus (1970er- bis 1990er-Jahre) Die charakteristische Widersprüchlichkeit der gegenkulturellen Strömungen um den Whole Earth Catalog liegt darin begründet, dass die benötigten Technologien häufig von ebendem militärisch-industriell-wissenschaftlichen Komplex produziert wur31  | Viele Ausgaben des Whole Earth Catalog sowie weiterer Periodika des

Whole Earth Network wie CoEvolution Quarterly und Whole Earth Review sind auf der Website http://www.wholeearth.com/index.php digitalisiert.

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den, den man ideologisch ablehnte.32 In der vermeintlichen Neutralität von Werkzeugen konnte man von diesen Differenzen und der militärischen Vergangenheit des Computers abstrahieren. Insbesondere das Ensemble an Technologien, das sich später zum PC weiterentwickeln sollte, wurde wie dargelegt mit neuen Bedeutungen versehen. Eine zentrale Rolle spielte dabei Ted Nelson, dessen 1974 veröffentlichtes Buch Computer Lib/Dream Machines inhaltlich und formal stark vom Catalog inspiriert war und so etwas wie eine explizite Transposition desselben in das im Entstehen begriffene Computermilieu darstellte.33 Nelson diskutierte Themen wie Benutzerfreundlichkeit, die Miniaturisierung von Computertechnologien, neue Interfaces (Maus, grafische Benutzeroberflächen) und Anwendungsfelder wie Textverarbeitung, Design, Multimedia und Hypertext.34 Insbesondere verstand Nelson den Personal Computer als Ermächtigung eines kreativen Individuums, dem mit technischer Hilfe neue Ausdrucksmöglichkeiten und Wege der Veröffentlichung und Verbreitung von Informationen an die Hand gegeben würden. In dieser Vorstellung eines unternehmerischen Subjekts deutet sich bereits an, welchen Weg die Personal Computer-Idee und die mit ihr verbundenen Nutzerkonzeptionen in den Folgejahrzehnten nehmen sollten. Nach dem Catalog gründeten Brand und eine Reihe von Journalisten und Unternehmern in seinem Umfeld eine der frühesten Online-Communities, den Whole Earth ’Lectronic Link (WELL, 1985) und eine New Economy-Unternehmensberatung (The Global Business Network). Auch die Zeitschrift Wired (Erstausgabe 1993), das heute noch existierende Organ der Silicon Valley-Avantgarde und Hauptsprachrohr der technophilen amerikanischen Gegenwartskultur, war ein Produkt dieses neuen Unternehmergeistes in einem digitalen Netzwerkkapitalismus. Als 1995 der für Deregulierung eintretende konservative Republikaner Newt Gingrich die Titelseite von Wired zierte, ist die Wende zum ökonomischen Konservatismus vollzogen. Die ›Access to Tools‹-Forderung des Whole Eartch Catalog wandelte sich zu einer mit der amerikanischen Mainstream-Kultur kompatiblen Begeisterung für digitale Gadgets. Das Whole Earth Network trat nun als eine Gruppe von Entrepreneuren auf, die eine radikal marktliberale digitale Wirtschaft propagierten.35 Dieser verblüffend erscheinende Gesichtswandel sollte allerdings nicht als »Kooptierung oder Assimilierung der Dissidenz der Gegenkultur«36 durch Wirtschaft, Staat und Technologie missverstanden werden. Vielmehr muss mit Turner davon ausgegangen werden, dass Brand und seine Kohorte schon früh weitreichende Überein32  | Vgl. Turner: From Counterculture to Cyberculture, S. 4. 33  | Vgl. Ted Nelson: Computer Lib/Dream Machines, Redmond, Wash.: Tempus 1987 [1974] und Levy: Hackers, S. 171-173.

34 | Vgl. dazu ausführlich Streeter: »›That Deep Romantic Chasm‹«, insbesondere S. 53f. 35  | Vgl. Turner: Counterculture to Cyberculture, S. 6-8. 36  | Franke: »Earthrise und das Verschwinden des Außen«, S. 13.

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stimmungen mit der vermeintlichen Gegenseite aufwiesen und dass insbesondere die aufkommende Computertechnik sich als Feld erwies, in dem verschiedene Interessen zusammen kommen konnten.37 So gesehen bewirkte die Computerkultur keinen umfassenden Bruch mit der bürokratisch-kapitalistischen Gesellschaftsordnung der 1950er- und frühen 1960er-Jahre, sondern ermöglichte ihre Fortsetzung in technologisch verändertem Gewand. Die sich im beschriebenen Umfeld bildende Mischung aus optimistischem Technikdeterminismus, einer an Thomas Jeffersons Demokratiekonzept orientierten Staatsfeindlichkeit, neoliberalen Selbstmanagement- und Selbstverwirklichungsidealen und gegenkultureller Ästhetik wurde Mitte der 1990er-Jahre als »Californian Ideology« bezeichnet und scharf kritisiert.38 Richard Barbrook und Andy Cameron, die den Begriff geprägt haben, verstehen darunter ein Argumentationsfiguren der 1970er-Jahre aufgreifendes Glaubenssystem, in dem digitalen Technologien eine demokratisierende und anti-institutionalistische Wirkung zugesprochen wird. Sie weisen insbesondere auf die darin produzierten Ausschlüsse hin, denn Krieg, Armut, Rassismus und ökologische Probleme haben keinen Ort in dieser Weltsicht.39 Wie aus gegenkulturellen, teils regressiv anmutenden Fantasien das dominante Modell ökonomischer Selbstführung im Kapitalismus des 21. Jahrhunderts werden konnte, ist ein Beispiel für noch lange nachwirkende »kalifornische Kippfiguren«.40 Statt McLuhans Idee einer ›electronic agora‹ als maximal inklusivem politischem Forum hat sich die Idee eines ›electronic marketplace‹ durchgesetzt.41 Hier wird eine Ideologie vertreten, die von einem starken Begriff des Individuums ausgeht, das mit Hilfe von Informationstechnologien seine – insbesondere ökonomisch veranschlagte – Freiheit verwirklicht. Für die oft freiberuflich tätigen Programmierer, Designer und Werbefachleute des Silicon Valley verschwommen rasch die Grenzen von Arbeit und Freizeit, Kollegen, Freunden und Familie – wie es bereits in den Aussteiger-Kommunen der späten 1960er- und 1970er-Jahre der Fall gewesen war.42 Die kalifornische Ideologie fungiert in Barbrooks und Camerons Auffassung als Kitt von Identitätskonflikten innerhalb der sich ausdifferenzierenden ›virtual class‹, die zwar stark von 37  | Vgl. Turner: Counterculture to Cyberculture, S. 8. 38  | Vgl. Richard Barbrook/Andy Cameron: »The Californian Ideology« [1995],

in: Richard Barbrook, The Internet Revolution. From Dot-com Capitalism to Cybernetic Communism, Amsterdam: Institute of Network Cultures 2015, S. 12-27. 39  | Vgl. ebd. Diese Ausschlüsse lassen sich auch schon am Whole Earth Catalog festmachen. Vgl. Turner: »Die Politik der Ganzheit um 1968«, S. 46. 40  | So ein Teil des Titels des von Diedrich Diederichsen und Anselm Franke geleiteten Panels zum Thema »Das Anthropozän-Projekt | The Whole Earth. Die ganze Erde und kalifornische Kippfiguren« auf der Konferenz »The Whole Earth« vom 21.-22.6.2013 am Haus der Kulturen der Welt, Berlin. Eine Videoaufzeichnung ist unter http://www.hkw.de/de/app/mediathek/video/25645 einzusehen. 41  | Vgl. Barbrook/Cameron: »The Californian Ideology«, S. 16f. 42  | Vgl. Turner: »Die Politik der Ganzheit um 1968«, S. 46.

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der Gegenkultur geprägt war, sich aber auch als Gruppe mit eigenen Interessen gesellschaftlich behaupten musste. Der antibürokratische Impetus der New Communalists geht teilweise in Subjektivierungsfiguren des Neoliberalismus der Gegenwart auf, Visionen persönlicher Selbstverwirklichung im Typus des Entrepreneurs und unternehmerischen Selbst.43 Staatliche Regulierung wird von den Anhängern der kalifornischen Ideologie nach wie vor abgelehnt, stattdessen setzt man auf die selbstregulierende Kraft von Software: The fantasy that law works like a computer code […] undergirds the denial of history, social structure, and political struggle that is central to the libertarian faith in markets, at least in its more naïve forms. The habits of thought that metamorphosed from 1960s countercultural social libertarianism into technology-based economic libertarianism, and eventually lent credibility to today’s dominant neoliberalism, thus rely on a metaphorical interfusion of law with computers, in which each is imagined to function like the other.44

Barbrook und Cameron bezeichnen die neokonservative kalifornische Ideologie als »anti-statist gospel of hi tech-libertarianism: a bizarre mish-mash of hippie anarchism and economic liberalism beefed up with lots of technological determinism«.45 Insgesamt markiert die kalifornische Ideologie den Umschlag eines Befreiungsdiskurses in ein Legitimierungsnarrativ, innerhalb dessen bereits die Nutzung persönlicher Computertechnik als progressiv und gegen das Establishment gerichtet erscheint, ungeachtet der weiteren Umstände. Anselm Franke begreift die Whole Earth-Bewegung über ihre ökonomischen Transformationen hinaus als zentralen Teil der unmittelbaren Vorgeschichte des ›planetarischen Paradigmas‹ der Gegenwart.46 Die zutiefst amerikanische Fron43  | Vgl. Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Sub-

jektivierungsform, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007 und Luc Boltanski/Ève Ciapello: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz: UVK 2003 [frz. OA 1999] für eine auf einer Analyse von Managementliteratur fußende umfassende Beschreibung der Aufnahme gegenkultureller Initiativen, Rhetoriken und Kritiken in den ›neuen Geist‹ der gegenwärtigen Netzwerkökonomie. 44  | Streeter: »›That Deep Romantic Chasm‹«, S. 58f. 45  | Barbrook/Cameron: »The Californian Ideology«, S. 20f. 46  | Vgl. Franke: »Earthrise und das Verschwinden des Außen«, S. 12. Dazu Stewart Brand (Hg.), The Next Whole Earth Catalog, Februar 1981, S. 6 unter der Überschrift »Understanding Whole Systems«: »What happened in the 20th century? The idea of self – the thing to be kept alive – expanded from the individual human to the whole Earth.« Zum Planetarischen als durch Medien ermöglichtes Denken und Erfassen der ganzen Welt vgl. Ulrike Bergermann: »Das Planetarische. Vom Denken und Abbilden des ganzen Globus«, in: Dies./Isabell

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tier-Mentalität war zunächst in Kalifornien auf eine unüberwindliche territoriale Begrenzung gestoßen – den Pazifik. Dies stimulierte die Suche nach neuen unbekannten Terrains, in die explorativ vorgedrungen werden konnte: die (Computer-) Technik mit ihren virtuellen Welten, die über Drogen wie LSD zu erschließende menschliche Psyche und schließlich den Weltraum. Als Ende der 1960er-Jahre die ersten Satellitenbilder und später die Aufnahmen der bemannten Apollo-8-Raummission den blauen Planeten in der Außenperspektive zeigten, scheint jegliches Außen annuliert zu sein: »Die ›Blue Marble‹ wird so das ultimative Kippbild. Die Universalisierung der Rahmenbedingung in einem Rahmen, der keine Rahmen mehr kennt. Das Resultat: eine grenzenlose Einschließung.«47 Franke kritisiert an dieser systematischen Universalisierung, an der ideengeschichtlich die Kybernetik großen Anteil hat, den Geltungsanspruch einer alle Differenzen und Abweichungen tilgenden Einheitsvorstellung. Diese verunmögliche jede genuine Politik, sofern man darunter eine »Vermittlerin von Partialperspektiven und Interessenskonflikten«48 versteht. Als Hippie-Ideal gestartet, wandelt sich der Universalismus in den folgenden Jahrzehnten zur Vorstellung einer von Kalifornien ausgehenden global gültigen Techno-Kultur, die in technischen Artefakten wie digitalen Nahkörpertechnologien verlässlich tradiert wird. Die Frontier-Rhetorik mit ihrer Logik der Expansion werde dabei in Ermangelung eines materiellen Außen zunehmend nach innen gekehrt und zu einer »Ökonomie der Selbsttransformation«49 stilisiert – und auch an dieser haben die Gadgets der Konsumelektronik und des digitalen Selbstmanagements Anteil. Zumindest für die gegenwärtige Situation lässt sich mit Karin Harrasser konstatieren: (Digitale) Technologien sind Resultat, Ausdruck und Medium eines globalen Kapitalismus, sie sind durch den Auftrag zur Selbstverbesserung und durch einen Kommunikationsimperativ mit Individuen verschaltet, sie tendieren zur Selbstabschließung im Sinne der Verkapselung ihrer Geschichte in schierer Funktionalität. 50

Im Apparat digitaler Nahkörpertechnologien verdichten sich somit ideologische Gehalte zu alltagstauglicher Technik. Die Bildsprache der ökologischen Sensibilität (Abb. 3) wird jedoch beibehalten, allerdings mit signifikanten Bedeutungsverschiebungen. Auf dem iPhone der Firma Apple findet sich als vorinstallierter Bildschirmhintergrund eine Ansicht der Otto/Gabriele Schabacher (Hg.), Das Planetarische. Kultur – Technik – Medien im postglobalen Zeitalter, Paderborn: Fink 2010, S. 17-42. 47  | Franke: »Earthrise und das Verschwinden des Außen«, S. 14. 48  | Ebd., S. 17. 49  | Ebd., S. 15. 50  | Karin Harrasser: Körper 2.0. Über die technische Erweiterbarkeit des Menschen, Bielefeld: transcript 2013, S. 110.

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›Blue Marble‹ (Abb. 4), ein Werbeclip für den Tablet-Computer iPad von 201051 wird von dem Gospelsong ›He’s got the whole world in his hands‹ begleitet. Hier artikuliert sich ein potentes Divinitätsversprechen und damit einhergehend eine Verfügbarkeitsutopie: »We are as gods and might as well get good at it.«52 In mancher Hinsicht kann das Smartphone als »tool of personal liberation« gelten, das von jedem Ort aus – Netzabdeckung vorausgesetzt – den Zugriff auf das World Wide Web erlaubt. Der Whole Earth Catalog als Plattform und Kommunikationsforum der Gegenkultur wird vom App Store abgelöst, einer anbieterseitig strikt regulierten Plattform ausgesuchter Kleinprogramme. Die ›ganze Erde‹ schrumpft zusammen auf das Format eines Smartphone-Bildschirms und wird der individuellen Verfügung unterstellt. Ziel der voranstehenden Ausführungen war es, anhand ausgewählter Episoden nachzuzeichnen, wie der PC in der Frühzeit seiner Konzeption zunächst mit gegenkulturellen und emanzipativen Hoffnungen verknüpft wurde, bevor er sich später zum elementaren Bestandteil eines Netzwerkkapitalismus mit globaler Reichweite wandelte. Die frühe gegenkulturelle Aneignung und Prägung der Computertechnologie trug wesentlich zu ihrer Legitimierung und späteren Domestizierung bei, sodass mit dem Personal Computing immer auch Vorstellungen von Autarkie, Selbstbestimmtheit und Individualität verbunden wurden. Diese Vorstellungen ließen sich relativ ungebrochen in ökonomische Anforderungskataloge übersetzen und sie sind heute Kernbestandteil eines auf Kreativität, ästhetische Mobilisierung und individuelle Leistung fokussierenden Wirtschaftssystems, in dem digitale Nahkörpertechnologien eine zentrale Rolle spielen – sowohl in beruflichen als auch in freizeitlichen Kontexten.53 51  | Vgl. »New iPad Commercial«, auf: YouTube.com, auf http://www.youtube.

com/watch?v=fNNIfNXCjRc, zul. aufgeruf. am 31.1.2017. 52  | Mission Statement des Whole Earth Catalog, oben zitiert. Distelmeyer: Machtzeichen, S. 151-169 stellt das App-Raster von Smartphones und Tablets in die ästhetische Tradition des Tableaus, einer Wissens- und Darstellungstechnik des 17. und 18. Jahrhunderts, die Übersicht, einen kontrollierenden Zugriff und souveränen Abstand zum Dargestellten garantiere. Gleichzeitig betont er aber, dass es die historisch wandelbaren Formen des Gebrauchs seien, die darüber entscheiden, welche Funktion der rasterförmigen Übersicht zukomme und welche Subjektpositionen durch sie konstituiert werden. Gerade die Umsetzung auf einem Touchscreen sei hier ein wesentlicher Unterschied zu älteren Darstellungstypen, weil durch ihn der Tastsinn gegenüber dem Sehsinn eine Aufwertung erfahre. 53  | Vgl. Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp 2013. Das Kreativitätsdispositiv antwortet in Reckwitz’ Darstellung auf den Affekt- und Motivationsmangel der organisierten Moderne und ihrer an bürokratischen Gesichtspunkten ausgerichteten Angestelltenkultur. Vgl. ebd., S. 313-319. Die »Herstellung und den

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Im Folgenden soll in Form einer Fallstudie anhand der Konstellation eines Intimate Computing untersucht werden, wie die Designer und Ingenieure der Learning Research Group am Xerox PARC in den 1970er-Jahren einerseits sowie Designer und Werbetreibende in der Gegenwart das Mensch-Computer-Verhältnis jenseits des PCs imaginieren.54 Mit der Konzeption eines Intimate Computing wird diskursiv eine Kopplung zwischen Mensch und Apparat vorbereitet, die sich in millionenfachen Akten der individuellen Aneignung digitaler Nahkörpertechnologien praktisch fortsetzt. Der mobile Intimate Computer wird dabei jeweils – wenn auch mit deutlich verschobener Zielsetzung – als subjektivierende Technologie aufgefasst, die eine Informatisierung und Kybernetisierung alltäglicher Praktiken und kognitiver Aufgaben erlauben soll. Meine These ist, dass sich ausgehend von den Arbeiten Alan Kays in den 1970erJahren über mehrere Zwischenstationen in computerwissenschaftlichen Forschungsprojekten bis zum Bereich der kommerziellen Konsumelektronik eine folgenreiche Verschiebung und teilweise radikale Neubesetzung der Semantik von Intimate Computing vollzieht. Diese korreliert mit einer stärker ökonomischen Rahmung der Computernutzung insgesamt, die zudem vor dem Hintergrund einer deutlich umfassenderen Vernetzung stattfindet, als es in den 1970er-Jahren abzusehen war. Insbesondere betrifft die Verschiebung die Subjektivierung der intendierten User von Computertechnik, die in den älteren Konzepten als lernende, informationsverarbeitende Individuen adressiert werden, in heutigen Bezugnahmen dagegen primär als möglichst passgenau anzusprechende Konsumenten. Lernfähig dagegen sind die vernetzten Systeme selbst, die Wissen über die Anwender generieren und operabel machen. An der zu rekonstruierenden Entwicklung lässt sich in nuce ein wesentlicher Aspekt der Mediengeschichte des Personal Computers beleuchten: Letzterer wandelt sich von der kognitiven Prothese zur ästhetisierten Plattform von personaGebrauch faszinierender Objekte durch faszinierte Subjekte« (ebd., S. 197) sieht Reckwitz als Merkmale einer Ästhetisierung des Ökonomischen, die eine Kompensationsfunktion innehabe und die Subjekte zur Teilhabe an der rationaltechnologischen Moderne motiviere. Vgl. weiterführend zu diesem Aspekt Timo Kaerlein: »›I can’t remember ever being so in love with a color.‹ Smartphones und die Rhetorik des Intimate Computing«, in: Oliver Ruf (Hg.), Smartphone-Ästhetik. Transdisziplinäre Zugänge zur Philosophie und Gestaltung mobiler Medien, Bielefeld: transcript 2018 [im Erscheinen]. 54  | Alan Kays Arbeiten wird generell ein großer Stellenwert in der Mediengeschichte des Personal Computers zugesprochen. Vgl. Friedewald: Der Computer als Werkzeug und Medium, S. 237-356. Der im Umfeld der Learning Research Group verwendeten Intimitätsrhetorik wurde dagegen noch kaum Aufmerksamkeit gewidmet, dabei ist gerade sie es – so meine These –, die Kays Überlegungen zur subjektivierenden Wirkung einer persönlichen Maschine zur Informationsverarbeitung auf eine produktive Weise vergleichbar macht mit aktuellen Entwicklungen im Bereich digitaler Nahkörpertechnologien.

3. Institutional, Personal, Intimate Computer

lisierten Medienangeboten, die zunehmend näher an die Körper der Subjekte heranrückt. Abbildung 3 [links] : Titelseite des ersten Whole Earth Catalog vom Herbst 1968 (Farbreproduktion einer Aufnahme des Wettersatelliten ATS-III vom November 1967) Abbildung 4 [rechts] : Vorinstallierter iPhone-Bildschirmhintergrund ›Blue Marble‹

Quelle : Whole Earth Catalog, Herbst 1968, Titelseite, online unter: https:// cup2013.files.wordpress.com/2011/05/whole-earth-catalog-cover-1968.jpg, zul. aufgeruf. am 15.2.2017. (Abb.3) Quelle: Jeff Richardson: »Blue Marble«, auf: iPhone J.D., dort datiert am 10.3.2010, http://www.iphonejd.com/iphone_jd/2010/03/blue-marble.html, zul. aufgeruf. am 15.2.2017. (Abb.4)

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3.2 I ntimate C omputing und P ersonal D ynamic M edia – Konzepte der M ensch -C omputer I nteraktion im Wandel 55 The notion of tool has always been a romantic idea to humankind – from swords to musical instruments to personal computers […]. Alan Kay

Ein unter der Überschrift »We Owe It All to the Hippies« 1995 im Time-Magazin erschienener Artikel von Stewart Brand proklamiert: »Forget antiwar protests, Woodstock, even long hair. The real legacy of the sixties generation is the computer revolution.«56 Im historischen Rückblick verdankt sich die breitenwirksame Diffusion persönlicher Computertechnik wie dargelegt tatsächlich zu einem gewissen Anteil der Mitwirkung von Vertretern der Gegenkultur bei der Entwicklung einer Idee von Soft Technologies, wie sie insbesondere im Whole Earth Catalog propagiert wurde. The Next Whole Earth Catalog, eine 1980 erschienene Neuauflage, führt eine Rubrik mit dem Titel »Soft Technology«, in deren Einleitung sich die folgende Erklärung findet: »A tool, or a technology, that doesn’t push its user around qualifies as ›soft.‹ The difference between Hard and Soft Technology is the difference between a command and an understanding.«57 Diese Idee einer freundlichen, anschmiegsamen Technik, die sich an lokale Bedingungen anpassen kann, wurde insbesondere im seit 1974 erscheinenden Schwestermagazin CoEvolution Quarterly verfolgt.58 Sowohl im zeitgenössischen Diskurs wie in den Cyber-Utopien der 1990er-Jahre dominieren allerdings Bezugnahmen auf die kollektive Dimension vernetzter Computer.59 In einer prinzipiell Grenzen überschreitenden Kommunikation und Kollaboration sollten interessenbasierte virtuelle Gemeinschaften entstehen und informelle Netzwerke an die Stelle der überkommenen hierarchischen Strukturen von Unternehmen und staatlichen Bürokratien treten. Daneben aber gilt es eine bilaterale Dimension zu berücksichtigen, insofern vor allem die Interfaces der Human-Computer 55  | Vgl. die ersten Überlegungen zum folgenden Kapitel in Timo Kaerlein: »In-

timate Computing. Zum diskursiven Wandel eines Konzepts der Mensch-Computer-Interaktion«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 15/2 (2016), S. 30-40. 56  | Stewart Brand: »We Owe It All to the Hippies«, in: Time 145/12 (1995), S. 50-52. 57  | Brand, The Next Whole Earth Catalog, S. 132. In der Rubrik finden sich u. a. praktische Werkzeuge wie ein Schweizer Taschenmesser, Duct Tape und WD 40-Schmieröl, aber auch Literatur zu erneuerbaren Energien und nachhaltiger Architektur. 58  | Vgl. Diederichsen/Franke, The Whole Earth, S. 114. 59  | Vgl. Howard Rheingold: The Virtual Community. Homesteading on the Electronic Frontier, Cambridge, Mass.: MIT Press 2000 [1993].

3. Institutional, Personal, Intimate Computer

Interaction (HCI) darüber entscheiden, wie der Computer als Medium wahrgenommen und erlebt wird. Mit dem hier verfolgten Fokus auf die Schnittstellengestaltung geht eine Betonung von Subjektivierungsprogrammen einher, wie sie in den Projekten von Joseph C. R. Licklider, Douglas Engelbart, Alan Kay und anderen Computerwissenschaftlern der Zeit systematisch angelegt sind. Die dort formulierten Vorstellungen von Intelligenzverstärkung, Augmentation und Mensch-Computer-Symbiose bündeln sich zu »pädagogischen, politischen und ästhetischen Programmen, in deren Reichweite dann die verschiedensten Projekte von Home-, Personal- oder Volkscomputern erschienen«60, wie Claus Pias schreibt. Als historischer Meilenstein bei der technischen Entwicklung des PCs gilt eine Präsentation von Douglas Engelbart und Mitarbeitern des Augmentation Research Center (ARC) am Stanford Research Institute (SRI) am 9. Dezember 1968, die nachträglich als ›mother of all demos‹ bezeichnet wurde und in deren Rahmen fast alle wesentlichen Interface-Elemente des heute noch gebräuchlichen PCs vorgestellt wurden.61 Dazu gehörten u. a. ein leistungsfähiges Textverarbeitungsprogramm, Hypertext, die Computermaus und Videokonferenz-Anwendungen. In der Ankündigung der Veranstaltung wurde das Ziel von Engelbarts Forschung näher bestimmt: »The system is being used as an experimental laboratory for investigating principles by which interactive computer aids can augment intellectual capability.«62 Statt reiner Rechenleistung standen nun also Interfaces im Vordergrund, die der Vernetzung von Individuen und Gruppen dienen und das Denken, Lernen und Arbeiten revolutionieren sollten. Eine Art frühes Intranet, das NLS (oN-Line System), wurde als bahnbrechende Veränderung der Bürokommunikation präsentiert. Doch bei diesem vordergründigen Forschungsziel sollte es nicht bleiben, denn die Interface-Entwicklungen waren in eine Rhetorik der Koevolution eingebettet.63 Engelbart war insbesondere von den Arbeiten Gregory Batesons inspiriert, der ebenfalls nach Möglichkeiten der Erweiterung des menschlichen Intellekts suchte: »Engelbart wasn’t interested in just building the personal computer. He was interested in building the person who could use the computer to manage increasing complexity efficiently.«64 Intendierter User waren bei Engelbart die später von Peter F. Drucker so genannten Knowledge Workers, also professionelle Anwender, sodass anders als in

60  | Pias: »›Hollerith ›gefiederter‹ Kristalle‹«, S. 100. 61  | Vgl. Bardini: Bootstrapping, S. 138-142. 62  | Stanford Research Institute/Douglas C. Engelbart, »Original Announcement of the 1968 Demo«, zitiert nach Diederichsen/Franke, The Whole Earth, S. 179.

63  | Vgl. Douglas C. Engelbart: Augmenting Human Intellect. A Conceptual

Framework. Summary Report AFORSR-3223 under Contract AF 49(638)-1024, SRI Project 3578 for Air Force Office of Scientific Research, Menlo Park, Cal. 1962. 64  | Bardini: Bootstrapping, S. 55.

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den Entwürfen am PARC Benutzerfreundlichkeit noch kein zentrales Kriterium beim Design darstellte.65 Es ging Engelbart um die Realisierung des großen kybernetischen Traums einer Integration von Mensch und Maschine, den acht Jahre zuvor bereits der MIT-Psychologe Joseph C. R. Licklider in seiner Vision einer »man-computer symbiosis« so formuliert hatte: The hope is that, in not too many years, human brains and computing machines will be coupled together very tightly, and that the resulting partnership will think as no human brain has ever thought and process data in a way not approached by the information-handling machines we know today. 66

In der antizipierten Mensch-Computer-Symbiose sollten laut Licklider beide Partner ihre jeweiligen Stärken in die Interaktion einbringen, sodass komplexe Aufgaben mit vereinter Kraft besser erledigt werden könnten.67 Das Fernziel divergierte allerdings von Engelbarts Vision, insofern hier am Ende eine künstliche Intelligenz stehen sollte, die einen Großteil der kognitiv anfallenden Aufgaben eigentätig verrichten können sollte, und weniger ein erweiterter menschlicher Intellekt.68 Die Forschung zu künstlicher Intelligenz, wie sie z. B. am Stanford Artificial Intelligence Laboratory verfolgt wurde, stellte – insbesondere mit Blick auf Fördergelder – den Schwerpunkt der Computerwissenschaft in den 1960er-Jahren dar, sodass Engelbarts Projekt am ARC als Nebenstrang gelten kann.69

65  | Vgl. Friedewald: Der Computer als Werkzeug und Medium, S. 151. 66  | Joseph C. R. Licklider: »Man-Computer Symbiosis«, in: IRE Transactions on Human Factors in Electronics 1/1 (1960), S. 4-11, hier S. 4.

67  | Licklider und sein Nachfolger als Leiter des Information Processing Techni-

ques Office in der Advanced Research Projects Agency (ARPA) sowie späterer Leiter des Xerox PARC, Robert Taylor, bündelten später ihre Überlegungen zum Computer als Kommunikationsmedium in Joseph C. R. Licklider/Robert W. Taylor: »The Computer as a Communication Device«, in: Science and Technology, April 1968, S. 20-41. 68  | Vgl. Bardini: Bootstrapping, S. 21. 69  | Markoff: What the Dormouse Said, S. 150 beschreibt die gegensätzlichen Ziele von »augmentation« und »automation« so: »Engelbart’s system kept the ›man in the loop‹, which was antithetical to the goals of many computer scientists of the era. Engelbart was a heretic, and it was from his heresy that personal computing grew.«

3. Institutional, Personal, Intimate Computer

3.2.1 Das Dynabook als Vision eines persönlichen digitalen Mediums Inspiriert von Engelbarts Ansätzen stellte Alan C. Kay, Leiter der Learning Research Group am Xerox PARC und eine der zentralen Figuren bei der Entwicklung grafischer Benutzeroberflächen und objektorientierter Programmiersprachen, in den frühen 1970er-Jahren seine Vision von »Personal Dynamic Media« vor, das sogenannte Dynabook.70 (Abb. 5) Damit war ein primär für Kinder konzipierter interaktiver Tablet-Computer gemeint, eine »fantasy machine«71, die Brand in seinem Artikel für das Rolling Stone-Magazin so beschrieb: a hand-held stand-alone interactive-graphic computer (about the size, shape and diversity of a Whole Earth Catalog, electric) called ›Dynabook‹. It’s mostly [sic!] high-resolution display screen, with a keyboard on the lower third and various cassette-loading slots, optional hook-up plugs, etc.72

Die Idee des Dynabook ist wenig hardwarezentriert, vielmehr muss sie vor dem Hintergrund eines Nachdenkens über die medienpädagogischen Einsatzfelder von Computern verstanden werden.73 (Abb. 6) Kay antizipierte die Möglichkeit einer drahtlosen Netzwerkverbindung für das Dynabook, weil die ARPA entsprechende Projekte bereits in Arbeit hatte.74 Das Dynabook sollte zwar auch Möglichkeiten zur Vernet70  | Vgl. Alan C. Kay: »A Personal Computer for Children of All Ages«, in: ACM

’72 Proceedings of the ACM Annual Conference, New York: ACM 1972 und Ders./Adele Goldberg: »Personal Dynamic Media« [1977], in: Noah Wardrip-Fruin/Nick Montfort (Hg.), The New Media Reader, Cambridge, Mass.: MIT Press 2003, S. 393-404. Das Dynabook findet erstmals 1967 Erwähnung. Vgl.: From Counterculture to Cyberculture, S. 111. Kay nimmt rückblickend für sich in Anspruch, an der Prägung einer Vorstellung von personal computing zumindest erheblichen Anteil gehabt zu haben. (Vgl. Alan C. Kay: »The Early History of Smalltalk«, in: Thomas J. Bergin Jr./Richard G. Gibson Jr. (Hg.), History of Programming Languages II, New York: ACM 1996, S. 511-598, hier S. 512) Vgl. Susan B. Barnes: »Alan Kay: Transforming the Computer into a Communication Medium«, in: IEEE Annals of the History of Computing 29/2 (2007), S. 18-30 für detaillierte, auch biografische, Angaben zu Kay. 71  | Kay: »A Personal Computer for Children of All Ages«, S. 8. 72  | Brand: »Spacewar«, S. 54. 73  | Zu den projektierten technischen Spezifika des Dynabook vgl. Kay: »A Personal Computer for Children of All Ages«, S. 6-10. 74  | Vgl. Kay: »The Early History of Smalltalk«, S. 523 und 551, wo ein Memo an das Xerox-Management aus den 1970er-Jahren abgedruckt wird, in dem eine Vision von Millionen vernetzter Endgeräte entfaltet wird, die mit »large, global information utilities« kommunizieren sollten.

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zung mit anderen bieten – so z. B. einen Zugang zu Lernressourcen wie öffentlichen Bibliotheken oder Wirtschaftsinformationsdiensten. In erster Linie war es aber als »personal medium« im Sinne einer reflexiven Selbstkommunikation des Anwenders konzipiert, vergleichbar einem persönlichen Notizblock.75 Dieser Personal Computer bezeichnete zuvorderst »a medium for containing and expressing arbitrary symbolic notions«76, womit die Möglichkeit zur individuellen Manipulation und Reprogrammierung der symbolverarbeitenden Maschine impliziert ist. Darüber hinaus waren aber auch die Nutzungskontexte angesprochen: ›Personal‹ also means owned by its user (needs to cost no more than a TV) and portable (which to me means that the user can easily carry the device and other things at the same time). Need we add that it be usable in the woods? 77

Das Persönliche des Dynabook wird am PARC also gezielt mit Eigentumsverhältnissen, Portabilität und auch mit einem verbreiteten ›Zurück-zur-Natur‹-Narrativ assoziiert. Abbildung 5: Mockup-Prototyp eines Dynabook, Alan Kay, 1970er-Jahre

Quelle: PARC Media Library, https://www.parc.com/content/news/medialibrary/dyna_book_6x4.2.jpg, zul. aufgeruf. am 15.2.2017.

75  | Vgl. Kay: »A Personal Computer for Children of All Ages«, S. 3. 76  | Ebd. 77  | Ebd.

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Das PARC bot den Mitgliedern der Learning Research Group ein ungewöhnlich freies Arbeitsumfeld, in dem ambitionierte Ideen verfolgt werden konnten. Kay beschreibt die Situation folgendermaßen: A lot of daytime was spent outside of PARC, playing tennis, bike riding, drinking beer, eating Chinese food, and constantly talking about the Dynabook and its potential to amplify human reach and bring new ways of thinking to a faltering civilization that desperately needed it (that kind of goal was common in California in the aftermath of the sixties).78

Die dort stattfindende technische Ausgestaltung dessen, was sich später als PC stabilisieren sollte, war tief geprägt von gegenkulturellen Motiven und Zielsetzungen. Außerdem kam sie weitgehend ohne Bezugnahme auf wissenschaftliche Theorien aus, was insgesamt für die frühe Phase der HCI charakteristisch ist.79 Abbildung 6: Skizze einer Dynabook-Nutzungssituation, Alan Kay, 1972

Quelle: Alan C. Kay: »A Personal Computer for Children of All Ages«, in: ACM ’72 Proceedings of the ACM Annual Conference, New York: ACM 1972, S. 2.

78  | Kay: »The Early History of Smalltalk«, S. 527. 79  | Vgl. Kjeld Schmidt: »Von niederer Herkunft. Die praktischen Wurzeln des interaktiven Computing«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 12/1 (2015), S. 140-156, hier S. 150.

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Insofern es hier im Kern um die Gestaltung systematisch neuer Ansätze für die Mensch-Maschine-Interaktion ging, konnten sich die Computerwissenschaftler um Kay als Avantgarde in einer neuen Epoche der freundlichen Technik verstehen, die eine Alternative bot zum technokratischen Horror zentralisierter Datenbanken. Gegenkultur impliziert auch eine Gegentechnologie, den »Counter-computer«, wie es Brand in seinem Artikel auf den Punkt bringt.80 Als alternative Computing-Vision, von der man sich im PARC bewusst abwenden wollte, ist das Timesharing-Modell zu sehen, bei dem die Ressourcen der anfangs teuren Rechenmaschinen jeweils von vielen Nutzern geteilt wurden.81 Die historische Rolle des Xerox PARC für die Mediengeschichte des Personal Computers ist ambivalent: Einerseits handelte es sich um einen Think Tank, in dem radikal neue HCI-Ansätze ergebnisoffen erprobt wurden. In den Beiträgen Kays ist entsprechend einiges an revolutionärer Emphase und emanzipativer Rhetorik enthalten. Andererseits aber markiert das PARC in den 1970er-Jahren genau den historischen Ort, an dem die akademischen Überlegungen zum Personal Computer erstmals eine produktförmige Gestalt annahmen, wodurch heute dominierende Aspekte wie Benutzerfreundlichkeit und Design überhaupt als relevant für die HCI betrachtet wurden. Mit dieser entscheidenden Weichenstellung wird das PARC zum Wegbereiter der späteren kommerziellen Computerentwicklung. Nicht zuletzt ist das PARC auf inzwischen mythenumrankte Weise zentrale Inspirationsquelle für die später kommerziell erfolgreichen Personal Computer-Lösungen von Apple und Microsoft, die einen Massenmarkt von Computerlaien mit dem neuen Medium vertraut machen sollten.82 Das Dynabook sollte von Laien verwendbar sein und genug Rechenkraft und Akkulaufzeit mitbringen, damit individuelle Nutzer alle ihre persönlichen Informationsanforderungen damit erfüllen könnten, ohne auf eine geteilte Workstation nach dem Timesharing-Prinzip zurückgreifen zu müssen. Die jeweilige Art der Nutzung wurde dabei nicht designseitig festgelegt: Although digital computers were originally designed to do arithmetic computation, the ability to simulate the details of any descriptive model means that the

80  | Brand: »Spacewar«, S. 56. 81  | Mit der Bewegung hin zu Cloud Computing-Lösungen kommt es derzeit

zu einer Renaissance des Timesharing-Ansatzes, sodass Rechenleistung sich wieder verstärkt als Infrastruktur und weniger als Verfügungsgröße individueller User begreifen lässt. 82  | Die Geschichte des Xerox PARC ist gut dokumentiert. Vgl. stellvertretend für eine Vielzahl von Titeln Michael A. Hiltzik: Dealers of Lightning. Xerox PARC and the Dawn of the Computer Age, New York: Harper Business 1999 und Friedewald: Der Computer als Werkzeug und Medium, S. 237-355 sowie 381-383.

3. Institutional, Personal, Intimate Computer computer, viewed as a medium itself, can be all other media if the embedding and viewing methods are sufficiently well provided. 83

Damit ging allerdings eine Problematik einher, die sich beim Design heutiger Smartphones unverändert stellt: »The total range of possible users is so great that any attempt to specifically anticipate their needs in the design of the Dynabook would end in a disastrous feature-laden hodgepodge which would not be really suitable for anyone.«84 Der ideale Computer war somit in Kays Verständnis responsiv gegenüber Nutzerwünschen und machte jeden Anwender zum aktiven Gestalter einer kreativen Arbeits- und Spielumgebung. Die Hardware des Dynabook wurde nie realisiert, während die Software – darunter die erste rein objektorientierte Programmierumgebung Smalltalk – in Gänze auf dem Xerox Alto implementiert wurde, den die Mitglieder von Kays Team hoffnungsvoll »the interim Dynabook« nannten. Im Alto aus dem Jahr 1973 kommen die schon von Engelbart vorgestellten Elemente erstmals in einem funktionierenden System zusammen, das allerdings nie als kommerzielles Produkt auf den Markt gebracht wurde. Er wies bereits die meisten Bedienmerkmale eines modernen PCs auf, inklusive grafischer Benutzeroberfläche, Maus, Tastatur und WYSIWYG (›What You See Is What You Get‹)-Druckfunktion.85 Damit war für Kay das mit dem Dynabook angestrebte Designziel allerdings noch nicht erreicht, das er vielmehr in einer Weiterentwicklung in Richtung einer Intimisierung der Nutzerschnittstelle sah.

3.2.2 Intimate Computing im Kontext der Medienpädagogik (1970er- bis frühe 1990er-Jahre) 1991, etwa zwei Jahrzehnte nach der Vorstellung der Dynabook-Idee, wagte Kay eine Prognose zur Zukunft digitaler Medien: »Ten years from now, powerful, intimate computers will become as ubiquitous as television and will be connected to interlinked networks that span the globe more comprehensively than telephones do today.«86 Kays Beitrag erscheint bezeichnenderweise in der gleichen Ausgabe des US-amerikanischen Wissenschaftsmagazins Scientific American wie Mark Weisers 83  | Kay/Goldberg: »Personal Dynamic Media«, S. 394. Die Universalität der

Turingmaschine ist in der Folge zu einem wichtigen medienwissenschaftlichen Topos geworden. Vgl. am prominentesten Friedrich Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, Berlin: Brinkmann & Bose 1986, S. 33. 84  | Kay/Goldberg: »Personal Dynamic Media«, S. 404. 85  | Vgl. Butler W. Lampson: »Why Alto«, Xerox internal memorandum 1972, http://research.microsoft.com/en-us/um/people/blampson/38a-WhyAlto/Abstract.html, zul. aufgeruf. am 1.2.2017 In dem Memorandum wird der Alto als »personal computer« bezeichnet. 86  | Alan C. Kay: »Computers, Networks and Education«, in: Scientific American 265/3 (1991), S. 138-148, hier S. 146.

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einschlägiger Artikel zum Ubiquitous Computing und ist in einiger Hinsicht komplementär dazu zu verstehen.87 Während es bei Weiser um eine Neufassung der Computertechnik als environmentale geht, d. h. im Sinne einer räumlich ausgedehnten Verschmelzung von Rechenvorgängen mit der Lebenswelt, interessiert sich Kay weniger für die Techniken des Umgebens als für die Gestaltung bilateraler Beziehungen zwischen Mensch und Computer, also für Interface-Fragen im engeren Sinn. Weisers Idee eines Calm Computing weist allerdings Parallelen zu Kays Projekt auf: In einem Szenario allgegenwärtiger Computer sollen diese möglichst unaufdringlich in alltägliche Praktiken eingewoben werden, wozu sie eine gewisse Form von sozialer Intelligenz benötigen: »If computers are everywhere, they had better stay out of the way, and that means designing them so that the peo-ple being shared by the computers remain serene and in control.«88 Sowohl das Intimate als auch das Calm Computing können also als gestalterische Implikationen eines Ubiquitous Computing-Szenarios verstanden werden, das aus individueller Anwender schnell zur Zumutung geraten könne. Eine Herausforderung in der Auseinandersetzung mit Kays Arbeiten in den 1970er-Jahren liegt darin begründet, dass ein Großteil der systematischen Reflexion erst in späteren Veröffentlichungen nachgeliefert wird.89 Daher fällt es schwer, aus den retrospektiven Stellungnahmen zu den Auseinandersetzungen innerhalb der Learning Research Group am PARC den tatsächlichen Verlauf der Forschung inklusive der dabei verwendeten Begrifflichkeiten zu rekonstruieren. So ist auch die Bezeichnung des zu realisierenden Computing als ›intimate‹ eine solche Rückprojektion, die Kay frühestens 1989 vornimmt.90 Dennoch kann, auch angesichts vergleichbarer Rhetoriken zum PC als »intimate machine«91, angenommen werden, dass Intimität 87  | Vgl. Weiser: »The Computer for the 21st Century«. Genevieve Bell/Tim

Brooke/Elizabeth Churchill/Eric Paulos: »Intimate (Ubiquitous) Computing«, in: Proceedings of Ubicomp 2003, New York: ACM 2003 machen auf die Komplementarität der beiden Visionen aufmerksam. Weiser arbeitete ab 1987 ebenfalls als Computerwissenschaftler am PARC. 88  | Vgl. Mark Weiser/John S. Brown: »The Coming Age of Calm Computing«, in: Peter J. Denning/Robert M. Metcalfe (Hg.), Beyond Calculation. The Next Fifty Years of Computing, New York: Copernicus 1997, S. 75-85, hier S. 79. 89  | Vgl. für den umfangreichsten Versuch einer solchen Selbsthistorisierung Kay: »The Early History of Smalltalk«. 90  | »Then we could all have an inexpensive powerful notebook computer – I called it a ›personal computer‹, then, but I was thinking intimacy.« (Alan C. Kay: »User Interface – A Personal View« [1989], in: Randall Packer/Ken Jordan (Hg.), Multimedia. From Wagner to Virtual Reality, New York: Norton 2001, S. 121-131, hier S. 124) 91  | Die Bezeichnung wird unter anderem von Sherry Turkle verwendet, die für ihre 1984 erstmals veröffentlichte sozialpsychologische Studie zur Nutzung von PCs den Arbeitstitel The Intimate Machine führte. Für diesen Hinweis danke ich Sophie Ehrmanntraut. Vgl. Sherry Turkle: The Second Self. Computers and the Human Spirit, Cambridge, Mass.: MIT Press 2005 [1984] und – stärker gender-

3. Institutional, Personal, Intimate Computer

– und nicht lediglich Personalisierung – tatsächlich als überwiegend implizit bleibendes Leitbild des HCI-Designs am PARC fungierte. In einem Vortrag anlässlich des 50. Jahrestags von Vannevar Bushs Artikel »As We May Think« am 13. Oktober 1995 zeigte Kay eine Folie mit der Überschrift »Where is the Computer You Use?«, auf der drei Abbildungen zu sehen sind.92 (Abb. 7) Die dargestellten Szenen zeigen von links nach rechts drei Phasen der Computerentwicklung, die mit »Institutional«, »Personal« und »Intimate« unterschrieben sind. Abbildung 7: Vortragsfolie von Alan Kay aus dem Jahr 1995: Darstellung von drei historischen Phasen der Computerentwicklung

Quelle: Vortragsfolie aus Alan C. Kay: »Simex: The Neglected Part of Bush’s Vision«, Vortrag auf dem MIT/Brown Vannevar Bush Symposium, Boston 1995, Videomitschnitt online unter http://archive.org/details/XD1941_9_95VannevarBushSymTape10_AlanKay, zul. aufgeruf. am 1.2.2017. (Eine hochaufgelöste Bilddatei wurde dem Autor von Alan Kay zur Verfügung gestellt.)

theoretisch argumentierend – Sherry Turkle: »Computational Reticence. Why Women Fear the Intimate Machine«, in: Cheris Kramarae (Hg.), Technology and Women’s Voices, New York: Pergamon Press 1986, S. 41-61. 92  | Ein Videomitschnitt des Vortrags findet sich unter Alan C. Kay: »Simex: The Neglected Part of Bush’s Vision«, Vortrag auf dem MIT/Brown Vannevar Bush Symposium, Boston 1995, Videomitschnitt online unter http://archive.org/ details/XD1941_9_95VannevarBushSymTape10_AlanKay, zul. aufgeruf. am 1.2.2017. An einer anderen Stelle während des Vortrags spricht Kay von dem Wunsch nach einem »intimate medium«, das auch für alltägliche Aufgaben wie das Verwalten von Einkaufslisten geeignet sein sollte.

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Der Computer sei jeweils entweder in einem »Glass House« verortet (gemeint sind die in den 1950er- und 60er-Jahren verbreiteten Rechenzentren mit Lochkarteneingabe und Batch Processing-Betrieb, in denen Computer für Laien nicht direkt zugänglich waren), auf dem Schreibtisch des Anwenders (die bekannte Anordnung des Desktop-Personal Computers) und schließlich in Tabletform auf dem Schoß eines an einen Baum gelehnt sitzenden Computernutzers der Zukunft, der über eine Funkverbindung Inhalte auf sein Gerät laden bzw. absenden kann. Kay kommentierte die Abbildungen in seinem Vortrag zwar nur kurz, es wird aber deutlich, dass sich die rechte Abbildung auf eine Phase nach der Zeit des PCs bezieht, die für Kay 1995 noch in der Zukunft lag. Insgesamt zeichnet sich an dem Periodisierungsvorschlag Kays eine veränderte kulturelle Wahrnehmung von Computern ab, die in ihrer aktuellen Erscheinungsform als Tablets und Smartphones kaum noch als Rechenmaschinen, sondern vielmehr als umfassend einsetzbare Mediengeräte aufgefasst werden. Was genau stellt sich Kay also unter Intimate Computing vor, und von welchen Ideen ist diese Vorstellung beeinflusst? Die Arbeiten der Learning Research Group sind außer von Kays eigenen Vorarbeiten zu einer persönlichen Maschine zur Informationsverarbeitung geprägt von medienpädagogischen Entwürfen, wie sie Seymour Papert am MIT in Form der für Kinder geeigneten Programmiersprache LOGO entwickelt hat.93 Über den Kontakt zu Papert kam Kay außerdem mit Ideen von Jean Piaget und insbesondere Jerome Bruner in Kontakt, deren kognitionspsychologische Entwicklungs- und Erziehungstheorien er zu einem Ansatz in der Gestaltung interaktiver Benutzerschnittstellen ausbaute.94 Douglas Engelbart hatte in seiner oben bereits diskutierten konzeptionellen und praktischen Grundlagenforschung zur Intelligenzverstärkung, die für viele Computerwissenschaftler in den 1960er- und 1970er-Jahren wegweisend war, noch vom Computer als einem Vehikel gesprochen, mit dem sich bestimmte kognitive Aufgaben (z. B. das Verwalten großer Informationsbestände) effektiver bewältigen lassen sollten.95 Die Gruppe um Kay sah den Computer dagegen als »personal dynamic medium«96, das sich zusammen mit den Anwendern entwickeln und ihre informationsbezogenen Bedürfnisse erfüllen können sollte: »If the computer is only a vehicle, perhaps you can wait until high school to give ›driver’s ed‹ on it – but if it’s 93  | Vgl. Kays Dissertation The Reactive Engine. PH.D Thesis, Salt Lake City:

University of Utah 1969, sowie für eine Zusammenfassung von Paperts Thesen in Buchform Seymour Papert: Mindstorms. Children, Computers, and Powerful Ideas, New York: Basic Books 1993 [1980]. 94  | Vgl. Friedewald: Der Computer als Werkzeug und Medium, S. 255f., sowie Kays eigene Ausführungen in Kay: »User Interface«, S. 125-129. 95  | Vgl. Engelbart: Augmenting Human Intellect, S. 102f. Zum Einfluss Engelbarts auf die Computerwissenschaft der 1960er- und 1970er-Jahre vgl. ausführlich Bardini: Bootstrapping. 96  | Kay/Goldberg: »Personal Dynamic Media«, S. 393.

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a medium, then it must be extended all the way into the world of the child.«97 Verglichen mit Engelbarts Ansatz hat Kay von Anfang an das Medium Computer als Sozialisationsinstanz im Blick. Der Medienbegriff, den Kay hier in Anschlag bringt, ist explizit McLuhan’scher Prägung, meint also eine Technologie, die ihre Nutzer in fundamentaler Weise prägt, mithin medienanthropologische Effekte zeitigt. Immer wieder kommt Kay auf den Buchdruck als einzig adäquater historischer Vergleichsfolie für die umfassenden Wirkungen zu sprechen, die er von einer persönlichen, interaktiven Maschine zur Manipulation von Symbolen erwartete.98 Kays Vorstellung von Medialität ist eng mit dem Aspekt der Intimität verbunden: Erst der Intimate Computer – und nicht bereits der Computer in Gestalt einer unpersönlichen Rechenmaschine – sei im vollen Sinne ein Medium, insofern seine Botschaft von den Benutzern internalisiert werde. »When he [McLuhan in Understanding Media, TK] said ›the medium is the message‹ he meant that you have to become the medium if you use it.«99 Als Analogie zu diesem Vorgang führt Kay die Beziehung eines Musikers zu seinem Instrument an: Diesem sei klar, dass die Musik nicht einfach im Klavier verortet ist, sondern sich erst aus einer Relation ergibt, innerhalb derer das Instrument die Rolle eines Verstärkers und Ausdrucksmittels übernimmt: »Computers can amplify yearnings in ways even more profound than can musical instruments«.100 Gestalterisch ausschlaggebend wird dann die Relation zwischen Anwender und Medium, die im besten Fall – das legt der Vergleich mit dem Musikinstrument nahe – als symbiotisches Verhältnis gedacht werden kann. In dem bereits zitierten Scientific American-Text erläutert Kay präziser, wie die Subjektivierung durch ein Intimate Computing zu denken sei. Dabei geht er zunächst von der Prämisse einer ubiquitären Verfügbarkeit kleiner tragbarer Computer aus: »In the near future, all the representations that human beings have invented will be instantly accessible anywhere in the world on intimate, notebook-size computers.«101 Die angenommenen Vorteile computergestützten Lernens – Interaktivität, Multimedialität, Multiperspektivität, die Möglichkeit zur Erzeugung dynamischer Simulationen, programmierte Reflexivität in Form von Agentensoftware und der Zugriff auf eine vernetzte Universalbibliothek – liegen darin, Kinder zu »healthy skeptics« erziehen und ihre Perspektive erheblich erweitern zu können.102 Kay bündelt seine Überlegungen an anderem Ort in der suggestiven Frage:

97  | Kay: »User Interface«, S. 125. 98  | Vgl. Kay: »Computers, Networks, Education«, S. 148 und Kay: »User Inter-

face«, S. 124f. 99  | Ebd., S. 124. 100  | Kay: »Computers, Networks, Education«, S. 138. 101  | Ebd. 102  | Ebd., S. 146-148.

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Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien What kind of a thinker would you become if you grew up with an active simulator connected, not just to one point of view, but to all the points of view of the ages represented so they could be dynamically tried out and compared?103

Das Intime dieser Art des Computing liegt folglich nicht primär in der Körpernähe und Mobilität der angestrebten Technologie begründet, sondern vielmehr in einer engen Verzahnung von Gerätkapazitäten und kognitiven Fähigkeiten der Individuen. Somit knüpfen Kays Arbeiten nahtlos an gängige Leitbilder seiner Zeit an, darunter Lickliders 1960 formulierte Vorstellung einer »man-computer symbiosis«104, in der bereits eine »intimacy of interaction«105 als Gradmesser einer erfolgreichen arbeitsteiligen Kooperation zwischen Anwender und Computer angeführt wurde. Der Computer erscheint in dieser Perspektive nicht als schlichtes Werkzeug, sondern als dynamisch auf Eingaben reagierender Partner in einer »Problemlöseeinheit«.106 In Douglas Engelbarts konzeptionellem Rahmenwerk zu einer »augmentation of human intellect« wird der gleiche Sachverhalt als koevolutiver Prozess gefasst, insofern sich Anwender und Computersystem als kybernetische Systemkomponenten beschreiben lassen, die sich in einem ko-adaptiven Lernszenario durch wechselseitige Anpassungsprozesse in Richtung eines optimierten Zustandes bewegen.107 Schließlich soll nicht unerwähnt bleiben, dass sich die am PARC verbreitete Betonung von Intimität im Umgang mit Computern auch auf gegenkulturelle Einflüsse zurückführen lässt. In diesem Kontext konnte Intimität als Gegenrhetorik zum unpersönlichen Rationalitätsdispositiv einer techno- und bürokratischen Arbeitswelt eingesetzt werden, das sich im institutionalisierten Mainframe Computing verdichtete. Personal Computer treten somit in rhetorische Opposition zum Computer als Element eines Überwachungs- und Kontrolldispositivs und werden als emanzipatorische Umnutzung einer ursprünglich militärischen Technologie inszeniert.

3.2.3 Apple Newton – Intimate Computing in produktförmiger Gestalt (1990er-Jahre) Der Gedanke der Benutzerfreundlichkeit, mit dem Alan Kays Arbeit heute am häufigsten assoziiert wird, war zunächst als Ermächtigung des Anwenders gedacht gewesen. Insofern der »personal computer for children of all ages« dank einfacher Bedienelemente und verständlicher Programmierumgebungen auch von Nicht-Experten 103  | Kay: »User Interface«, S. 123. 104  | Licklider: »Man-Computer Symbiosis«. 105  | Joseph C. R. Licklider: Libraries of the Future, Cambridge, Mass.: MIT

Press 1965, S. 35. 106  | Jörg Pflüger: »Interaktion im Kontext«, in: Hans Dieter Hellige (Hg.), Mensch-Computer-Interface. Zur Geschichte und Zukunft der Computerbedienung, Bielefeld: transcript 2008, S. 323-389, hier S. 336. 107  | Vgl. Engelbart: Augmenting Human Intellect.

3. Institutional, Personal, Intimate Computer

verwendbar sein sollte, liegt hier eine potente Umsetzung eines »tool of personal liberation« vor, wie sie der Whole Earth Catalog gefordert hatte. Archetypisch verdichtet wird die Masse der Computerlaien in der Figur des Kindes, das bei Kay stellvertretend für einen naiv-unvoreingenommenen Umgang mit der Technik steht. Die Benutzerfreundlichkeit der von Designs am Xerox PARC inspirierten nachfolgenden Computergenerationen ist allerdings in Verruf geraten: Nicht zuletzt Friedrich Kittler hat gegen die sukzessive Entmündigung der User angeschrieben, die zwar noch in der Lage seien, die Black Box Computer zu bedienen, nicht aber sie zu verstehen.108 Von der Industrie werde also gleichsam nicht der Nutzer als lernendes Kind adressiert, sondern er werde im Zuge der Nutzung infantilisiert. Von der gegenkulturellen Prägung der ersten Bemühungen um einen Personal Computer profitierten noch die frühen Apple-Computer: Ikonisch wurde der 1984-TV-Werbeclip für den Macintosh, in dem dieser als liberalisierende und antibürokratische Technologie inszeniert wird.109 In dem während des Superbowls 1984 ausgestrahlten Werbevideo zerstört eine junge Frau in bunter sportlicher Kleidung einen riesigen Bildschirm, auf dem indoktrinierende Botschaften ausgestrahlt werden (eine unmissverständliche Big Brother-Inszenierung in Anlehnung an George Orwells Science Fiction-Roman 1984). Ein Heer von zombiehaft-lethargisch dasitzenden Arbeitern wird anschließend von Licht geflutet, bevor das Macintosh-Logo erscheint und die Off-Stimme verkündet: »On January 24th, Apple Computer will introduce Macintosh. And you’ll see why 1984 won’t be like ›1984‹.«110 Apple inszeniert sich mit der gegen den Marktführer IBM gerichteten Macintosh-Werbung als Computeranbieter für die Unangepassten und Kreativen. Allerdings ist auf der entscheidenden Seite der Software und Eingriffsmöglichkeiten des Anwenders die Verwandtschaft zu Konzeptionen von Intimate Computing der 1970er-Jahre bestenfalls oberflächlich: Während es beim Dynabook um die Realisierung eines »symmetric authoring and consuming«111 ging, werden Apple-Geräte häufig dafür kritisiert, eine passive Konsumhaltung zu befördern. Software wird über einen proprietären Store installiert, eigene Programmierungen sind weitgehend ausgeschlossen. Apple umgeht das oben erwähnte Problem divergierender Nutzerwünsche durch ein restriktives Interface-Design und die Errichtung von sog. Walled Gardens, d. h. geschlossenen Ökosystemen von Software und darauf abgestimmten 108  | Vgl. insbesondere die Aufsätze »Protected Mode« (S. 208-224) und »Es

gibt keine Software« (S. 225-242) in Friedrich Kittler: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig: Reclam 1993. 109  | Vgl. zur Übernahme von Rhetoriken der New Communalists durch Apple Turner: From Counterculture to Cyberculture, S. 247. 110  | Vgl. »1984 Apple’s Macintosh Commercial«, auf: YouTube.com, https://www. youtube.com/watch?v=VtvjbmoDx-I, zul. aufgeruf. am 1.2.2017. 111   |  Alan C. Kay, zit. in David Greelish: »An Interview with Computing Pioneer Alan Kay«, auf: Time.com, dort datiert am 2.4.2013, http://techland.time.com/2013/04/ 02/an-interview-with-computing-pioneer-alan-kay/, zul. aufgeruf. am 1.2.2017.

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Geräten. iPad und iPhone sind keine ›Counter-computer‹, allenfalls Vorboten einer Post-PC-Ära, wie Apple-CEO Steve Jobs nicht müde wurde zu betonen.112 Der Wandel des Präfixes verweist auf den Wandel der Nutzungsformen: Während in den 1970er-Jahren noch ein breites gesellschaftliches Interesse daran bestand, Computer zu verstehen – »People want to know about computers, not how to use them, necessarily, but how they’re used against them«113 – ist dieser Ehrgeiz am Beginn des 21. Jahrhunderts einer habitualisierten Akzeptanz gewichen. Man versteht die Black Box nicht mehr, aber man verspürt auch wenig Interesse daran, solange die Technologie verlässlich funktioniert. Alan Kay – der 1984 Apple Fellow wurde – weist darauf hin, dass bereits der 1993 vorgestellte Personal Digital Assistant (PDA) Apple Newton, an dessen Entwicklung er beteiligt war, als versuchte Umsetzung des Dynabook-Konzepts gelten kann.114 Allerdings sei hier das Design, insbesondere aufgrund des Fehlens einer physischen Tastatur und einer mängelbehafteten Handschrifterkennung, wenig überzeugend gewesen, weswegen das Gerät am Markt nicht angenommen und die Produktion 1998 eingestellt wurde.115 Der Newton als erster PDA kann als Vorläufer der heute gängigen Smartphones gewertet werden, in denen der Assistenzsystem-Ansatz wieder eine stärkere Rolle spielt, beispielsweise in integrierten Sprachassistenzsystemen. Hier dominiert die auf Licklider zurückgehende Vorstellung des Computers als autonome Entität, der sich als Gegenüber adressieren lässt.116 Einer der frühen TV-Werbespots zum Newton proklamiert: 112  | Vgl. die zu Beginn des Kapitels besprochene Inszenierung bei der Einführung des iPhones 2007.

113  | Pam Hart, zit. in Brand: Spacewar, S. 56. 114  | Dem Newton einige Jahre voraus ging die von Apple-CEO John Sculley

1987 vorgestellte und deutlich weitreichendere Vision des Knowledge Navigator, eines fiktiven Kleincomputers, der ebenfalls dem Intelligent Agent-Ansatz folgen und Assistenzfunktionen ausüben sollte, inklusive einer ausgereiften Sprachsteuerung, multimedialen Simulations- und E-Learning-Kapazitäten sowie Datenaufbereitungsfunktionen zum Umgang mit großen Informationsmengen. Die Vision wurde Anfang der 1990er-Jahre in einem aufwändig produzierten Werbevideo gebündelt, das als Blick in die Zukunft des Computing inszeniert wurde. Vgl. das Demonstrationsvideo »Knowledge Navigator (1987) Apple Computer« auf: YouTube.com, https://www.youtube.com/watch?v=hb4AzF6wEoc, zul. aufgeruf. am 1.2.2017. Für die erste Vorstellung des Konzepts vgl. John Sculley/John A. Byrne: Odyssey. Pepsi to Apple. A Journey of Adventure, Ideas, and the Future, New York: Harper & Row 1987, S. 403-416. 115  | Vgl. Wolfgang Gruener: »Did Steve Jobs Steal the iPad? Genius Inventor Alan Kay Reveals All«, auf: Tom’s Hardware, dort datiert am 17.4.2010, http:// www.tomshardware.com/news/alan-kay-steve-jobs-ipad-iphone,10209.html, zul. aufgeruf. am 1.2.2017. 116  | Vgl. Bardini: Bootstrapping, S. 28.

3. Institutional, Personal, Intimate Computer What is Newton? Newton is digital. Newton is personal. Newton is magic. Newton is as powerful as a computer. Newton is as simple as a piece of paper. Newton is intelligent. Newton learns about you, understands you. Newton is news. Newton can receive a page and sends faxes and soon electronic mail. Newton lets you communicate with the whole world and if there’s anything this world could use it is more communication.117

Eine schnell geschnittene Abfolge von Bildern begleitet den von einer tiefen Männerstimme vorgetragenen Text. Das Gerät wird zwar in die Traditionslinie des Computers gestellt, die verwendeten Adjektive (›digital‹, ›personal‹, ›magic‹, ›simple‹, ›intelligent‹) weisen aber schon darüber hinaus. Die Passage »Newton learns about you« wird von Bildern begleitet, auf denen ein an Freud erinnernder Psychoanalytiker einer auf dem Rücken liegenden Frau zuhört und dabei mit einem Stylus Notizen auf seinem Newton macht.118 (Abb. 8) Damit ist angedeutet, dass das Gerät im Laufe der Nutzungszeit eine intime Kenntnis des Anwenders erlangen könne, sogar in Bereichen jenseits des Bewusstseins. Es interagiere stattdessen direkt mit dem Unbewussten, und das – so legt es die Bildsprache der Werbung nahe – in therapeutischer oder zumindest psychohygienischer Absicht. Der letzte Satz (»Newton lets you communicate with the whole world and if there’s anything this world could use it is more communication«) wird einem raschen Zusammenschnitt von Bildern unterlegt, die Menschen unterschiedlichen Geschlechts, Alters und ethnischer Herkunft bei verschiedenen Tätigkeiten zeigen. Die Aussicht auf »more communication« hat in den 1990er-Jahren noch einen verheißungsvollen Klang, sie spielt mit dem Gedanken der globalen Vernetzung, dem kybernetischen Verständnis von Kommunikation als Kitt gesellschaftlicher Organisation, einem planetarischen Bewusstsein, das Generationen und Kulturen technologisch miteinander verbindet.119 Damit passt sie zu den zeitgenössischen Cyber-Utopien und be117  | »Apple Newton ad – What is Newton?«, auf: YouTube.com, https://www.youtube.com/watch?v=Bh-yed48e0Y#t=10, zul. aufgeruf. am 1.2.2017. 118  | Assoziationen zur 1966 von Joseph Weizenbaum entwickelten ChatbotSoftware ELIZA, die für therapeutische Zwecke genutzt werden sollte, liegen nahe. Heute wird das Smartphone bereits als Schlüsselinstrument zu einer grundlegenden Re-strukturierung insbesondere der behavioristischen Psychologie gewertet: »Smartphones could revolutionize all fields of psychology and other behavioral sciences, if we grasp their potential and develop the right research skills, psych apps, data analysis tools, and human subjects protections.« (Geoffrey Miller: »The Smartphone Psychology Manifesto«, in: Perspectives on Psychological Science 7/3 (2012), S. 221-237, hier S. 221) 119  | Dagegen ist Kommunikation in der heutigen Netzwerkgesellschaft Basiselement von Verwertungsprozessen und zugleich notwendige Voraussetzung zur Partizipation an interessenbasierten Gruppen. Vgl. zu diesem Punkt Felix Stalder: Kultur der Digitalität, Berlin: Suhrkamp 2016, S. 137: »In der unablässi-

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wahrt zugleich das gegenkulturelle Erbe der Whole Earth-Bewegung – »Newton lets you communicate with the whole world«. Noch viel expliziter wird letzteres in einer Print-Werbeanzeige für den Newton aufgerufen, die einer fransenbehangenen und mit dem Symbol der Friedensbewegung versehenen Umhängetasche – »[t]he pack that kept you organized in the ’70s« – einen Newton samt Zubehör (Tasche, verschiedene Softwarehüllen, externes Modem, Stylus) gegenüberstellt – »[t]he pack that will keep you organized in the ’90s«. (Abb. 9) Abbildung 8: »Newton learns about you«: Still aus Werbeclip für den Apple Newton, 1993

Quelle: Still aus Werbevideo, »Apple Newton ad – What is Newton?«, auf: YouTube.com, https://www.youtube.com/watch?v=Bh-yed48e0Y#t=10, zul. aufgeruf. am 1.2.2017.

Während der Newton als digitaler Assistent und lernfähiger Alltagsbegleiter in die Traditionslinie der Forschungen zur künstlichen Intelligenz gehört, folgt die Vision eines Personal oder Intimate Computing gemeinhin eher einer prothetischen Logik, die auf eine Hybridisierung kognitiver Prozesse zwischen Mensch und Computer abzielt. Die Firma Apple hat sich allerdings wiederholt an beiden Projekten versucht: gen Kommunikation als konstitutives Element der sozialen Existenz verschränkt sich persönliches Begehren nach Selbstkonstituierung und Orientierung mit dem äußeren Druck, präsent und verfügbar sein zu müssen, zu einem neuen verbindlichen Anforderungsprofil.«

3. Institutional, Personal, Intimate Computer

Das seit 2011 angebotene Sprachassistenzsystem Siri kann als Weiterentwicklung des Intelligent Agent-Ansatzes gelten, während beispielsweise die Apple Watch eher zur zweiten Leitvorstellung von HCI gehört. In einem Zeitungsinterview hat der AppleDesigner Hartmut Esslinger die Design-Philosophie des Unternehmens pointiert zusammengefasst: »Apple-Produkte sollen wie ein Lebewesen sein, entweder wie eine andere Person oder wie eine Extension des eigenen Ichs.«120 In jedem Fall aber soll der technische Charakter des Computers in den Hintergrund treten.

120   |  Götz Hamann: »Apple-Designer Esslinger: ›Er führt ehrlich‹«, auf: Die Zeit, dort datiert am 1.9.2011, http://www.zeit.de/2011/36/Apple-Interview-Esslinger/ komplettansicht, zul. aufgeruf. am 1.2.2017.

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Abbildung 9: Print-Werbung für das Apple Newton 110 Power Organizer Pack, 1994

Quelle: Apple Advertising and Brochure Gallery, auf: Macmothership.com, http://www.macmothership.com/gallery/MiscAds2/newton_po1.jpg, zul. aufgeruf. am 15.2.2017.

3. Institutional, Personal, Intimate Computer

3.2.4 Intimate Computing als Gegenstand der Computerwissenschaft (1990er- bis 2000er-Jahre) Genevieve Bell und Kollegen haben bereits 2003 vorgeschlagen, die Paradigmen Ubiquitous Computing und Intimate Computing stärker zusammenzudenken.121 Im Rahmen eines knappen Überblicks über die computerwissenschaftliche Literatur zum Thema identifizieren sie drei Konnotationen, die sich mit dem Ausdruck Intimate Computing verbinden lassen. Zum einen könne damit eine kognitiv-emotionale Nähe zu einer Technologie gemeint sein, die durch hochentwickelte Sensorik und Programmierung in der Lage ist, auf Intentionen und Gefühle der Anwender adäquat zu reagieren. In diesem Prozess entstünde ein intimes Wissen über die Anwender, ohne dass diese ein Verständnis für die Technologie entwickeln müssten. Zweitens werde darunter schlicht physische Nähe gefasst, d. h. eine Platzierung von Geräten am, auf dem oder im Körper. Drittens schließlich könne auch über Technologie vermittelte Intimität zwischen Menschen als Intimate Computing bezeichnet werden. In dieser Begriffsnuance funktioniere die Technologie als Medium eines emotionalen Austauschs zwischen Personen.122 Im hier zusammengefassten Text wird ebenfalls auf Kays Verwendung des Begriffs verwiesen, darüber hinaus werden aber noch weitere Quellen genannt, die ihn mehr oder weniger systematisch verwenden. Auf zwei dieser Quellen möchte ich im Folgenden näher eingehen, um zu zeigen, wie sich in den verschiedenen Bezugnahmen ein konnotativer Wandel des Intimitätskonzepts vollzieht. Die Kontexte, in denen Konzepte von Intimate Computing dabei jeweils Verwendung finden, sind von medienwissenschaftlichem Interesse: Im ersten Fall handelt es sich um ein umfassendes Vernetzungsszenario, innerhalb dessen Intimität nicht mehr als Index einer bilateralen Zweisamkeit mit dem Computer auftaucht, sondern geradezu gegenläufig als Element einer medialen Anordnung, innerhalb derer ein intimes Wissen über Anwender zur Funktionsvoraussetzung und zum Ausgangspunkt für Datenverwertung wird. Der zweite Bereich ist die medizinische Informatik: Intimität steht hier für eine neue Körpernähe von Computertechnik, die sich im aktuellen Diskurs um Wearables und digitale Nahkörpertechnologien fortschreibt. Zum ersten Kontext: Mik Lamming und Mike Flynn, Computerwissenschaftler am Rank Xerox Research Centre im britischen Cambridge, stellen 1994 eine digitale Erinnerungshilfe namens Forget-me-not vor, die sie innerhalb eines Intimate

121  | Vgl. Bell et al.: »Intimate (Ubiquitous) Computing«. 122  | Diese dritte Bedeutung werde ich im Folgenden ausklammern. Für eine

Studie zur Historizität von Kulturtechniken der Intimität anhand einer Auseinandersetzung mit sensorbasierten Beziehungsmanagement-Apps vgl. Alex Lambert: »Bodies, Mood and Excess. Relationship Tracking and the Technicity of Intimacy«, in: Digital Culture & Society 2/1 (2016), S. 71-88.

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Computing-Paradigmas verorten.123 Darunter verstehen die Autoren ein an Weisers Ubicomp-Vision angelehntes Szenario, in dem von der Allgegenwart kleiner tragbarer Computer (PDAs) ausgegangen wird. Die Autoren prognostizieren in diesem Zusammenhang eine mögliche Lösung des Informationsproblems, das bereits Vannevar Bush in den 1940er-Jahren zu seinem Memex (Memory Extender) inspirierte.124 Ein permanent mitgeführtes Gerät – Lamming und Flynn schlagen ein ParcTab als Hardware vor, das am Computer Science Laboratory des Xerox PARC entwickelt worden ist – wäre theoretisch in der Lage, ständig Kontextdaten von Anwendern zu erfassen und zu einer Art persönlichen Biografie in Form eines Daten-Streams zu verdichten. Neben dem Aspekt der automatischen und nutzerunabhängigen Datenerfassung (im Sinne eines auf spezifische Datenpunkte bezogenen Lifeloggings) steht eine kontextbasierte Information Retrieval-Funktionalität im Vordergrund des Systemdesigns. (Abb. 10) Statt sich selbst an bestimmte vergangene Ereignisse erinnern zu müssen, soll der Anwender zukünftig seine ›Gedächtnisprothese‹ befragen können, die nur deswegen so gut zu funktionieren verspricht, weil sie gleichsam alles mitschneidet und in einer Datenbank organisiert, was sich im Leben der Anwender zuträgt. Worin nun liegt die Intimität dieser Anordnung? Die Autoren führen dazu aus: The more the Intimate Computer knows about you, the greater its potential value to you. While personal computing provides you with access to its own working context – often a virtual desktop – Intimate Computing provides your computer with access to your real context.125

Es geht demnach bei Forget-me-not um eine Technologie, die ein intimes – d. h. persönliches, privates, auf alltägliche Episoden bezogenes – Wissen über Anwender generiert, akkumuliert und dieses wiederum als Datenbank-Service anbietet. Neben eine enge Kopplung von Gerät und Anwender tritt hier zwangsläufig eine ganze Reihe von weiteren Vernetzungen, damit die für das Funktionieren des Dienstes unerlässlichen Kontextinformationen überhaupt erfasst werden können. Angedacht ist hier u. a. ein Datenaustausch per Infrarotverbindung mit stationären Workstations, Peripheriegeräten wie Druckern und Faxgeräten, den PDAs anderer Nutzer im gleichen Raum, interaktiven Whiteboards und Küchengeräten. (Abb. 11) Intimate Computing 123  | Vgl. Mik Lamming/Mike Flynn: »›Forget-me-not‹. Intimate Computing in Support of Human Memory«, in: Proceedings of FRIEND21. ’94 International Symposium on Next Generation Human Interface 1994. 124  | Vgl. Vannevar Bush: »As We May Think«, in: Atlantic Monthly, Juli 1945, online unter: http://www.theatlantic.com/magazine/archive/1945/07/as-we-maythink/303881/, zul. aufgeruf. am 1.2.2017: »A memex is a device in which an individual stores all his books, records, and communications, and which is mechanized so that it may be consulted with exceeding speed and flexibility. It is an enlarged intimate supplement to his memory.« 125  | Lamming/Flynn: »›Forget-me-not‹«, S. 2.

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Abbildung 10: Imaginiertes Nutzungsszenario der Gedächtnisprothese Forget-me-not (Rank Xerox Research Centre, 1994)

Quelle: Mik Lamming/Mike Flynn: »›Forget-me-not‹. Intimate Computing in Support of Human Memory«, in: Proceedings of FRIEND21. ’94 International Symposium on Next Generation Human Interface 1994, S. 3.

schließt für Lamming und Flynn also bereits eine environmentale Logik ein, die sich nur wenige Jahre später zum Schlagwort des Internets der Dinge verdichten wird.126 126  | Vgl. Florian Sprenger/Christoph Engemann (Hg.), Internet der Dinge.

Über smarte Objekte, intelligente Umgebungen und die technische Durchdringung der Welt, Bielefeld: transcript 2015. Als direktere zeitgenössische Umsetzung der Forget-me-not-Idee kann das 2015 angemeldete IBM-Patent 9177257 für einen »[n]on-transitory article of manufacture and system for providing a prompt to user for real-time cognitive assistance« gelten, eine Art Suchmaschine für persönliche Erinnerungen, die auch kontextuelle Informationen berücksichtigen kann. Von IBM selbst wird dies als Trend zu einem Cognitive Computing thematisiert: »The idea is to combine a handful of technologies, including machine learning and Bayesian reasoning, to create a highly sophisticated app that understands the user and their environment and detects when they’re struggling with expressing themselves or with getting a task done. The system will create a hypothesis about what the person means to say or do next in a particular context. Then it will suggest words or sentences, or will prompt the person to take the next step in their task.« (Steve

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Abbildung 11: Intimate Computing als Vernetzungsszenario (Rank Xerox Research Centre, 1994)

Quelle: Mik Lamming/Mike Flynn: »›Forget-me-not‹. Intimate Computing in Support of Human Memory«, in: Proceedings of FRIEND21. ’94 International Symposium on Next Generation Human Interface 1994, S. 4.

Die zweite Verwendung eines Konzepts von Intimate Computing, die ich diskutieren möchte, kommt aus dem Gesundheitsbereich. John S. Silva und Marion J. Ball diskutieren 2002 in einem kurzen Artikel für das International Journal of Medical Informatics wahrscheinliche Technologietrends der nächsten zehn Jahre.127 Neben Grid Computing und Micro Laboratory Computing wird als dritter Trend Intimate Computing angeführt, womit vor allem mobile Computertechnologien wie Wearables in Verbindung mit intuitiveren Interfaces gemeint sind.128 Die Intimität bezieht sich hier exklusiv auf die Relation zum Anwenderkörper und soll eine neue medizinische Praxis ermöglichen: »Much like the warning systems on modern cars or aircraft, in-

Hamm: »Inside IBM: The Inventors Who Are Creating the Era of Cognitive Computing«, auf: IBM THINK Blog, dort datiert am 13.1.2016, https://www.ibm.com/ blogs/think/2016/01/13/inside-ibm-the-inventors-who-are-creating-the-era-of-cognitive-computing/, zul. aufgeruf. am 1.2.2017) 127  | Vgl. John S. Silva/Marion J. Ball: »Prognosis for Year 2013«, in: International Journal of Medical Informatics 66 (2002), S. 45-49. 128  | Vgl. ebd., 46.

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dividuals in 2013 will have the ability to monitor their own systems and be alerted to dangerous conditions that require immediate attention.«129 Das durch intime Computer möglich werdende »24/7 monitoring of patients«130 werde den Wartesaal obsolet machen und ein detailliertes Screening von Patientendaten in Echtzeit erlauben. Bereits 1997 waren in einer empirischen Studie zur kontinuierlichen berufsbegleitenden Fortbildung von Ärzten tragbare Computer zum Einsatz gekommen, die die Autoren ohne weitere Erläuterung als »Intimate Computers« bezeichnen, als ob dies bereits ein feststehender Begriff sei.131 Konkret handelte es sich bei dem zum Einsatz gekommenen Gerät um ein Newton MessagePad 130 der Firma Apple.132 Der Konzern hatte die Studie mitfinanziert. Die Studien aus dem Bereich der Gesundheitstechnik betonen also den Aspekt der Körpernähe im Umgang mit sogenannten Intimate Computers und bringen diesen in Verbindung mit der Zielvorstellung eines umfassenden Monitorings bzw. der Möglichkeit zur ubiquitären Bereitstellung von Informationen für Fachpersonal. Intim ist hier also primär der Einsatzort der Computertechnologie, wobei diese Art der Intimität nicht impliziert, dass die erhobenen Daten nicht für die Augen von Dritten bestimmt seien. Im Gegenteil soll das Näherrücken der Technik an den Körper letztlich die Präzision und Verfügbarkeit von operablen Informationen verbessern. Als Kehrseite dieser Entwicklung ist die dadurch möglich werdende Einsparung von Krankenhauspersonal zu nennen, womit hier nur kurz angedeutet werden soll, dass Intimate Computing nicht isoliert von den sozioökonomischen Kontexten des jeweiligen Einsatzbereichs diskutiert werden kann. Der ästhetisierten Interface-Erfahrung im Frontend steht eine vollkommen anders skalierte und deutlich schlechter einsehbare Ökonomie von Big Data gegenüber.133 Beide in den Beispielen im Vordergrund stehenden Dimensionen – der Aspekt der Vernetzung und die Relation der Nähe zum Körper – sind zwar bereits in den medienpädagogischen Konzeptionen um Alan Kay angelegt, doch in den diskutierten computerwissenschaftlichen Arbeiten zeichnet sich eine deutliche Schwerpunktverlagerung der Auffassung von Intimität ab: Zum Szenario einer »man-com129  | Ebd. 130  | Ebd., 49. 131  | Vgl. Michael P. D’Alessandro/Jeffrey R. Galvin/James J. Choi/William E.

Erkonen/Louis G. Crist: »Continuing Medical Education to the Point of Care Using a Digital Library and Intimate Computers«, in: 1997 Proceedings of the Forum on Research and Technology Advances in Digital Libraries, ADL, Los Alamos, Cal.: IEEE Computer Society Press 1997, S. 95-101. 132  | Vgl. ebd., 99. Zum Apple Newton als entscheidendem Vorläufer heutiger Smartphones und Meilenstein auf dem Weg der Kommerzialisierung des Intimate Computing siehe das vorangegangene Teilkapitel. 133  | Vgl. die Ausführungen in Kapitel 5, wo dieser und weitere Aspekte unter dem Oberbegriff des technologischen Unbewussten diskutiert werden, das als systematische Kehrseite von Intimate Computing-Konzeptionen modelliert wird.

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puter symbiosis« als vorwiegend kognitiver Arbeitsbeziehung tritt ein verwertbares Wissen über alltägliche Kontexte hinzu, zur Portabilität der persönlichen Maschine zur Informationsverarbeitung der Gedanke einer umfassenderen, zeitlich ausgedehnten Wearability. Auf epistemischer Ebene wird zudem der Anspruch formuliert, dass die Objektivität von Daten als Entscheidungsgrundlage auch in intimsten Bereichen der eigenen Lebensführung dienen kann.134 Insgesamt bereitet sich in den zitierten computerwissenschaftlichen Arbeiten ein Prozess der Kybernetisierung des Alltags vor, indem alltägliche Praktiken als Datenprozesse aufgefasst und als solche steuerbar gemacht werden. Vorstellungen von Intimate Computing wurden parallel zu den computerwissenschaftlichen Einlassungen auch in der Fachpresse aufgegriffen und bereits explizit mit globalen Vernetzungsszenarien in Verbindung gebracht. So schreibt Paul Saffo, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Institute for the Future im kalifornischen Menlo Park, bereits 1991 in der InfoWorld von Intimate Computing als »next wave« des Personal Computing: »[T]he ultra hip won’t carry their computers, they will wear them.«135 Der Unternehmensberater Doug Welch imaginiert 1993 in der Zeitschrift Network World eine zukünftige Nutzung portabler Computer, die unabhängig vom Einsatzort jederzeit den Zugriff auf sämtliche beruflich oder privat benötigten Daten erlauben, lernfähig sind und personalisierte Informationsdienste anbieten.136 Seine Ausführungen werden mit einem Cartoon illustriert, in dem ein Mann einen nicht länger benötigten Desktop-Rechner schwungvoll in den Papierkorb wirft – gleichsam die vertraute Interaktion des ›Löschens‹ von Dateien auf der grafischen Benutzeroberfläche typischer Büro-PCs imitierend. (Abb. 12) Welch beendet seinen kurzen Artikel, in dem explizit Alan Kay als Inspiration für die Vorstellung von Intimate Computing genannt wird, mit der Prognose: Despite the doom-and-gloom speculations of some, I believe that such a global network of Intimate Computing devices would not shackle us to our work but free us from the tyranny of the telephone wires we have lived with for over 100 years. We could go about our business secure in the knowledge that if someone needs to reach us, they can.137

134  | Vgl. Sun-ha Hong: »Data’s Intimacy. Machinic Sensibility and the Quantified Self«, in: communication +1 5 (2016), S. 1-36, hier S. 2, der von »data’s intimacy« als der Vorstellung spricht, »that machines will know us better than we know ourselves, a kind of ‹knowing’ that embraces modernity’s epistemic virtues of accuracy and objectivity«. 135  | Paul Saffo: »Future Fashion in Personal Computing Is Intimate ›Hardwear‹«, in: InfoWorld, 9.12.1991, S. 66. 136  | Vgl. Doug Welch: »Dreaming of Global Nets and Intimate Computing«, in: Network World, 18.1.1993, S. 38. 137  | Ebd.

3. Institutional, Personal, Intimate Computer

Abbildung 12: Intimate Computing als Befreiung vom Personal Computer, Karikatur in der Zeitschrift Network World (1993)

Quelle: Karikatur in Doug Welch: »Dreaming of Global Nets and Intimate Computing«, in: Network World vom 18.1.1993, S. 38.

Gerade das Apparative, der globale Netzwerkcharakter von »intimate computing devices«, wird in solchen Bezugnahmen zum Garanten für ihre befreiende Wirkung – ein Diskursmuster, das sich in aktuellen Bezugnahmen auf das Smartphone als Überwachungstechnologie nahezu umkehrt. Es ist auffällig, wie die drei von Bell et al. identifizierten Facetten von Intimate Computing in den heute gebräuchlichen Smartphones konvergieren. Die Geräte werden häufig nah am Körper getragen, sie erfassen permanent Daten über ihre Anwender und sie werden besonders intensiv für die Pflege zwischenmenschlicher Kontakte verwendet, beispielsweise über Social Networking Sites und Instant Messenger.138 Ingrid Richardson macht die ›Intimität‹ des Smartphones auch an den gängigen Interfaces fest: »[T]here is a certain haptic intimacy that renders the iPhone an object of tactile and kinesthetic familiarity, a sensory knowing-ness of the fingers that correlates with what appears on the small screen.«139 Intimität kennzeichnet in dieser Bezugnahme also die nahkörperliche Vertrautheit mit dem je138  | Vgl. Erika Linz: »Konvergenzen. Umbauten des Dispositivs Handy«, in:

Irmela Schneider/Cornelia Epping-Jäger (Hg.), Formationen der Mediennutzung III. Dispositive Ordnungen im Umbau, Bielefeld: transcript 2008, S. 169-188, hier S. 176: »Das Handy ist nicht nur ein personalisiertes Medium, sondern auch ein privates, ja intimes Medium in einem zweifachen Sinne. Es wird vorrangig zur Aufrechterhaltung intimer Beziehungen verwendet, und es ist Teil der Intimsphäre einer Person.« 139  | Ingrid Richardson: »Touching the Screen. A Phenomenology of Mobile Gaming and the iPhone«, in: Larissa Hjorth/Jean Burgess/Ingrid Richardson (Hg.), Studying Mobile Media. Cultural Technologies, Mobile Communication, and the iPhone, New York: Routledge 2012, S. 133-151, hier S. 144.

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derzeit verfügbaren Objekt, die – so Richardsons These – auf die betrachteten Inhalte übertragen werde.

3.2.5 Intimate Computing im Design- und Marketingdiskurs (2010er-Jahre) Wenn man die Bezugnahmen auf ein Konzept von Intimate Computing in der computerwissenschaftlichen Literatur jüngeren Datums mit der Verwendung bei Kay vergleicht, lässt sich also eine deutlich anders gelagerte Semantik beobachten. Bei Kay geht es in erster Linie um eine enge Verflechtung kognitiver und computationeller Prozesse ganz im Sinne einer Licklider’schen Mensch-Computer-Symbiose, die profunde Subjektivierungseffekte mit sich führen soll. In Anlehnung an McLuhans Formulierung vom »typographic man« kann man konstatieren, dass Kay die Frage nach dem ›computational man‹ stellt, d. h. eine Steigerung von Denkleistung und Wissensvermittlung qua Intimate Computing in Aussicht stellt.140 In den späteren Bezugnahmen und Neuprägungen des Begriffs wird mit dem Etikett Intimate Computing eher die Designherausforderung gekennzeichnet, dass die entsprechenden Technologien ihre Anwender möglichst genau kennen und daher direkt auf ihre Bedürfnisse reagieren können sollten. Die Relation zum Anwenderkörper ist dabei ein entscheidender Faktor, wie gerade die Studien zu digitalen Nahkörpertechnologien aus dem Healthcare-Bereich demonstrieren. Insbesondere erfolgt die Personalisierung von Anwendungen, die heute mit dem Schlagwort Intimate Computing versehen werden, überwiegend anbieterseitig und hat weniger mit Praktiken der Aneignung zu tun als mit der Feindifferenzierung einer Angebotspalette. Mathias Glatter, Chief Operating Officer der Medienagentur Initiative Deutschland, verspricht in diesem Sinne 2015 eine kommende neue Ära des Computing: »Wir stehen am Anfang eines ganz besonderen Zeitalters für Medien – dem Zeitalter des ›Intimate Computing‹. Unsere emotionale und physische Nähe zur Technologie wird enger als jemals zuvor.«141 Peter Schwartz, US-amerikanischer Futurist und Strategieberater beim Cloud-Computing-Anbieter Salesforce.com, sieht ein kommendes Zeitalter des »Intimate Computing« bis 2020 und versieht seine Prognose mit dem Zusatz: »[E]nvironments and networks will know a lot about you«.142 An anderem Ort führt er dazu aus: 140  | Vgl. Marshall McLuhan: The Gutenberg Galaxy. The Making of Typographic Man, Toronto: University of Toronto Press 2011 [1962].

141  | Mathias Glatter: »Intimate Computing. Im ›Hier und Jetzt‹ erfolgreich kommunizieren«, auf: Initiative Media, dort datiert am 13.11.2015, http://www.initiative-media.de/intimate-computing-im-hier-und-jetzt-erfolgreich-kommunizieren/, zul. aufgeruf. am 1.2.2017. 142  | Peter Schwartz, zitiert nach Tom Murphy: »Computing Moves from Personal to Intimate #DF14«, auf: CMS Wire, dort datiert am 13.10.2014, http://www. cmswire.com/cms/customer-experience/computing-moves-from-personal-to-intimate-df14-026812.php, zul. aufgeruf. am 1.2.2017.

3. Institutional, Personal, Intimate Computer It’s basically the last stage of personal computing, from ›we know the computer but the computer doesn’t know anything about us‹, to it going both ways. The computer will be able to organize your life because it knows you intimately.143

Der Technologieberater Jan Dawson stellt fest, dass im Marketing-Begleitmaterial der Apple Watch die versprochene Intimität des Wearables gar als Steigerungsform zur Unmittelbarkeit auftaucht: »And since Apple Watch sits on your wrist, your alerts aren’t just immediate. They’re intimate.«144 Christian Lindholm, auf digitale Mobilmedien spezialisierter Industrieberater, sieht im Oktober 2013 einen sich anbahnenden Paradigmenwechsel »when the computer meets the physical body full of curves and personality«, also mit der massenmarkttauglichen Einführung von Wearables: »As these computers will have skin contact, they will have sensors, they will driven [sic!] by the individuals and their tastes, Intimate Computing sounded plausible.«145 Die auf Anbieterseite geführte Rede vom Intimate Computing verspricht neue Antworten auf die Frage, wie Interfaces computerbasierter Medien zu gestalten seien, damit sie möglichst unaufdringlich in den Alltag ihrer Benutzer integriert werden können, wobei sich der Umgang mit ihnen insgesamt als ästhetisierte Erfahrung präsentieren soll. Keine Pragmatik von Zweck-Mittel-Relationen steht im Vordergrund, wenn von Intimate Computing gesprochen wird, sondern die profilbasierte Anpassung von Hard- und Software an persönliche Bedürfnisse, ein emotional ansprechendes Produktdesign und das »wohlige[.] Gefühl, wenn der intelligente Thermostat die Raumtemperatur von Zuhause kennt, wenn man von der Arbeit kommt«.146 Gegen143  | Peter Schwartz, zitiert nach Laura Fagan: »IT Visionaries: Futurist Peter

Schwartz’s Tech Survival Guide for Next-Gen IT«, auf: Salesforce Blog, dort datiert am 10.12.2014, https://www.salesforce.com/blog/2014/12/it-visionariespeter-schwartz-tech-survival-guide-for-it.html, zul. aufgeruf. am 1.2.2017. 144  | Produktbeschreibung der Apple Watch, zitiert nach Jan Dawson: »Apple and Intimate Computing«, auf: Tech.pinions, dort datiert am 5.3.2015, https://techpini​ ons.com/apple-and-intimate-computing/38998, zul. aufgeruf. am 1.2.2017. 145  | Christian Lindholm: »Designing Language. With Om’s Article the Intimate Computing Era Is Here«, auf: christianlindholm.com, dort datiert am 17.10.2013, http://www.christianlindholm.com/, zul. aufgeruf. am 1.2.2017. Lindholm bezieht sich auf einen Artikel von Om Malik zur Produktstrategie von Apple. 146  | Glatter: »Intimate Computing«. Abzugrenzen ist dieser rezente Marketingdiskurs zu Intimate Computing von dem informationswissenschaftlichen und kognitionspsychologischen Forschungsfeld des Affective Computing. Hier geht es explizit um das computationelle »Erfassen, Speichern, Messen, Kategorisieren, Katalogisieren, Operationalisieren, Simulieren und Induzieren affektiver Zustände« (Marie-Luise Angerer/Bernd Bösel: »Capture All, oder: Who’s Afraid of a Pleasing Little Sister?«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 13/2 (2015), S. 48-56, hier S. 48), wogegen Intimate Computing eher als bündelnder Ober-

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über einem andernorts als Leitbild ausgegebenen ›Verschwinden des Computers‹147 geht es beim Intimate Computing nicht primär um eine Verbergung der Schnittstellen von System und Benutzer, sondern um die Herstellung besonders enger Kopplungen von Nutzer und Medium – in physischer Hinsicht (Wearables und vergleichbare digitale Nahkörpertechnologien) und durch die möglichst passgenaue Abstimmung von Systemverhalten und Nutzerprofilen. Schließlich soll der Umgang mit Interfaces dabei affektiv aufgeladen oder sogar libidinös besetzt werden, während Funktionsumfang und Leistungsfähigkeit der Produkte tendenziell in den Hintergrund treten. Insgesamt verweist dieser Diskurs allerdings auf einen völlig anders gelagerten Typ von Subjektivierung des Users: Mit dem Design der Produkte sollen Affekte und Emotionen angesprochen werden, Anwender werden als Konsumenten imaginiert, denen eher ein bestimmtes, hochpersonalisiertes Angebot unterbreitet wird, als dass sie selber eine aktive Medienkompetenz ausbilden müssten.148 Ein weiteres Zitat aus dem aktuellen Werbediskurs soll diese Entwicklung noch einmal veranschaulichen: Auch wenn wir erst am Anfang des Zeitalters ›Intimate Computing‹ stehen, gibt es bereits Umsetzungen, die richtungsweisend sind. Snapchat Stories macht Vieles richtig. Anstatt durch einfaches Tippen auf Play eine Serie von kurzen Videos abzuspielen, muss der Finger bei Snapchat Stories für die gesamte Dauer der ›Story‹ auf dem Display liegen. So wird eine tiefgehende Interaktion mit dem Medieninhalt forciert. Es entsteht eine physische Bindung. Im Vergleich dazu kann man bei einem Instagram-Video einfach auf Play drücken und dann weggehen und andere Dinge tun.149

begriff bestimmter produktgestalterischer Vorgaben zu verstehen ist. Vgl. zu Affective Computing grundlegend Rosalind W. Picard: Affective Computing, Cambridge, Mass.: MIT Press 2000 [1997]. 147  | Vgl. die von der EU ab 2001 geförderte Forschungsinitiative The Disappearing Computer, die sich in 17 Teilprojekten mit der Gestaltung von Post-PCInterfaces auseinandersetzte. Zusammengefasst sind die Ergebnisse in Norbert Streitz/Achilles Kameas/Irene Mavrommati (Hg.), The Disappearing Computer. Interaction Design, System Infrastructures and Applications for Smart Environments, Berlin: Springer 2007. 148  | Vgl. in diesem Sinne auch Pflüger: »Interaktion im Kontext«, S. 324: »Die Nutzung des Computers wandelt sich dementsprechend von der interaktiven geistigen Arbeit zum Konsum seiner Dienstleistungen.« 149  | Glatter: »Intimate Computing«. Zur Ubiquität des Touchscreens als Interface für mobile Medien, das eine Reihe von Unmittelbarkeitsvorstellungen induziert, vgl. Timo Kaerlein: »Aporias of the Touchscreen. On the Promises and Failures of a Ubiquitous Technology«, in: NECSUS European Journal of Media Studies 2 (2012).

3. Institutional, Personal, Intimate Computer

Die hier als erstrebenswert dargestellte physische und emotive Beziehung der Nähe zu einem medialen Arrangement aus Hardware und Anwendung hat keine liberalisierenden Konnotationen mehr wie noch die gegenkulturell geprägte Rhetorik zum Personal Computer in den 1970er-Jahren. Ganz konträr dazu ist der Aspekt der Bindung zentral, was im Umfeld eines Werbediskurses zunächst nicht weiter verwundert. Insgesamt vollzieht sich hier eine diskursive Entwendung und Umbesetzung, wobei mit dem Ausdruck Intimate Computing in diesem aktuellen Diskurs ein völlig anderes Subjektivierungsprogramm verknüpft ist als in den historischen Visionen zur Mensch-Computer-Interaktion. Die beschriebene Veränderung der Semantik des Intimate Computing kann als Teil einer größeren Bewegung in der Mediengeschichte des Personal Computers gewertet werden. Während der PC in den 1970er-Jahren primär als persönliches Medium kreativen Ausdrucks und intellektueller Produktivität imaginiert wurde, wandelt er sich in den Folgejahrzehnten zunehmend zur Plattform für den Konsum von auf die Anwender exakt zugeschnittenen Angeboten. Die Arbeiten am Xerox PARC haben an beiden Entwicklungen Anteil: Einerseits wird hier eine radikal emanzipative Vorstellung der Praktiken zukünftiger Computeranwender entworfen, andererseits mit der Schwerpunktverlagerung auf Design und Benutzerfreundlichkeit aber auch der Grundstein für die spätere Entwicklung hin zur Kommerzialisierung gelegt, die historisch in den Folgejahren die Oberhand gewinnen sollte.150 Um abschließend noch einmal auf das veränderte Verständnis von Intimität selbst zu fokussieren: Meint diese im Kontext der älteren medienpädagogischen Arbeiten eine insbesondere auf Wissensprozesse bezogene Vertrautheit des Umgangs mit Computertechnik, die auch die Fähigkeit zum Selberprogrammieren der universalen diskreten Maschine einschließt, gewinnt im aktuellen Design- und Marketingdiskurs eher eine physisch-haptische Konnotation von Intimität an Bedeutung, die in einem auffälligen Gegensatz steht zur parallel erfolgenden radikalen Öffnung der Datenverwendungskontexte. Dabei wird die Wissensbeziehung zwischen Anwender und Computer geradezu invertiert: In der Vorstellung der Werbetreibenden sind es weniger die Anwender, die als Lernende imaginiert werden, sondern vielmehr die vernetzten Systeme selbst, die sich sukzessive die Präferenzen der Anwender erschließen und ihr Verhalten darauf abstimmen.151 Intimate Computing wird zwar nach wie 150   |  Kay selbst hat diese Entwicklung kritisch beobachtet und kommentiert. Vgl.

Alan C. Kay: »The Real Computer Revolution Hasn’t Happened Yet«, Viewpoints Research Institute Memo M-2007-007-a, http://www.vpri.org/pdf/m2007007a_ revolution.pdf, zul. aufgeruf. am 1.2.2017. 151  | Dies heißt freilich nicht, dass der Intimate Computer von jedem Nutzer in gleicher Weise erfolgreich angeeignet wird. Vgl. hierzu die phänomenologische Argumentation in Ingrid Richardson: »Mobile Technosoma. Some Phenomenological Reflections on Itinerant Media Devices«, in: The Fibreculture Journal 6 (2005): Mobility: »Our corporeal intimacy with the handset or portable console renders it an object of tactile and kinaesthetic familiarity, although it is salient to

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vor als Steigerungsform zu einem ›nur‹ persönlichen Computing gebraucht, doch ist damit kein tieferes Verständnis des Computers, geschweige denn die Verwirklichung einer »augmentation of human intellect« (Engelbart) intendiert: Stattdessen sind es andere Akteure (Gerätehersteller, Softwareanbieter, gesellschaftliche Institutionen), die von der propagierten Intimisierung der Benutzerschnittstellen profitieren und die sich das Wissen um die am Interface erfassten Interaktionen aneignen. Spannt man also einen weiten Bogen und sieht digitale Nahkörpertechnologien im historischen Kontext der Domestizierung des Computers insgesamt, dann erscheint die im Zuge eines Intimate Computing auf die Spitze getriebene Personalisierung digitaler Geräte zugleich als neuerliche Verapparatisierung. Der Kreis schließt sich in dem Moment, wo ein flächendeckendes Netz intimer und körpernaher Maschinen zur Informationsverarbeitung seinen vordergründigen Werkzeugcharakter als »tools of personal liberation« verliert und sich wieder zum Apparat bzw. zur Infrastruktur verdichtet, die überpersönlichen Zwecken dienen kann und dient. Das Smartphone als bislang erfolgreichste Realisierung eines Intimate Computing ist also stets in seiner Doppelrolle als Supplement individueller Handlungsfähigkeit und Subjektivität einerseits und als dezentrale Komponente einer Kontrollarchitektur andererseits zu sehen. Weil die angestrebte Verschaltung von Subjekt und Medium bzw. Apparat im Zuge eines Intimate Computing zunehmend im körperlichen Nahraum stattfindet, wird im nächsten Kapitel die in Kapitel 2 vorgestellte Perspektive auf Subjektivierungsprozesse durch die Berücksichtigung von Prozessen der Verkörperung erweitert. Damit soll eine rein mentalistische Konzeption von Subjekten vermieden und stattdessen betont werden, dass ein Selbst immer ein ›somebody‹ ist, also »jemand […], der einen Körper hat oder sogar ein Körper ist«.152 Numa Murard fordert eine solche Berücksichtigung der Körperlichkeit sozialer Machtbeziehungen innerhalb von Theorien der Subjektivierung ein, indem er auf den Körper als Residuum verweist, der zwar von der Macht produziert wird, aber auch ein permanentes Behandeln durch diese einfordert: Zum Beispiel hätte die Aufteilung zwischen Vernunft und Wahnsinn in Michel Foucaults Terminologie keinerlei Berechtigung, wenn die Rationalisierung der produktiven Tätigkeiten – der Kapitalismus – nicht über das beharrliche DaSein eines Körpers stolpern würde, der arbeitsfähig scheint, aber eine mangel-

mention here that the growing complexity of mobile devices can also bewilder the non-expert user. In such cases there is a conflicting ›disincorporation‹ between the device and the hand-body.« 152  | Numa Murard: »Individuum, Subjekt und somebody. Subjektivierung als Körpererfahrung«, in: Andreas Gelhard/Thomas Alkemeyer/Norbert Ricken (Hg.), Techniken der Subjektivierung, Paderborn: Fink 2013, S. 203-212, hier S. 208.

3. Institutional, Personal, Intimate Computer hafte Ausrichtung und Bündelung der auf die Arbeit zu verwendenden Kräfte aufweist.153

In vergleichbarer Weise haben es die Entwickler digitaler Nahkörpertechnologien mit (Anwender-)Körpern zu tun, die sie im Interface-Design nicht nur adressieren, sondern auch entwerfen, die allerdings nie restlos in diesen Entwürfen aufgehen. Es ist zudem nicht davon auszugehen, dass ›der Körper‹ (vergleichbar ›dem Menschen‹ der frühen Anthropologien) eine überzeitlich gültige Einheit sei. Stattdessen unterliegen Körper historisch spezifischen und medientechnisch modifizierten Regelhaftigkeiten in der Interaktion mit ihren Umwelten, die im folgenden Kapitel als Körpertechniken und Modifikationen des Körperschemas gefasst werden. Das wahrnehmungspsychologische Konzept der Affordanzen, das auch im InterfaceDesign in adaptierter Form aufgegriffen wurde, ist darüber hinaus geeignet, die habitualisierten und präreflexiven Interaktionen von Körpern und Umwelten zu beschreiben. Durchgängiger Fokus des sich anschließenden Kapitels sind Verkörperungen des Smartphones, d. h. sich dem Bewusstsein weitgehend entziehende Vorgänge, die das körperliche Selbst betreffen und die beschreibbaren Logiken folgen, sodass sie in Wechselwirkung mit medientechnischen Gestaltungen treten können. Es geht also zunächst, in Günther Anders’ Worten, um die »Macht des ›natürlichen Es‹«154 und die sich zwangsläufig daraus ergebende Frage nach dessen Natürlichkeit.

153  | Ebd., S. 209. 154  | Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen 1. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München: Beck 2010 [1956], S. 82.

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4. Verkörperungen des Smartphones Die amerikanische Sozialpsychologin Amy Cuddy warnt in einem Meinungsartikel in der New York Times vom 12. Dezember 2015 vor der Verwendung von Smartphones und ähnlichen Geräten mit kleinen Displays vor wichtigen Meetings oder Vorträgen.1 Der Grund: Eine Reihe psychologischer Studien – darunter ein eigenes, gemeinsam mit Maarten W. Bos verfasstes Working Paper der Harvard Business School2 – lege einen Konnex zwischen der Körperhaltung bei der Verwendung digitaler Medien und mentalen Zuständen sowie sozialen Verhaltensweisen wie Durchsetzungsfähigkeit, Risikobereitschaft und genereller Produktivität nahe. Sogar ein mittelbarer Zusammenhang von häufiger gebeugter Körperhaltung mit gesenktem Kopf und Depressionen wird angedeutet. In fact, there appears to be a linear relationship between the size of your device and the extent to which it affects you: the smaller the device, the more you must contract your body to use it, and the more shrunken and inward your posture, the more submissive you are likely to become. 3

Ganz im Sinne älterer diätetischer Diskurse zum Mediengebrauch von Kino, Fernsehen und Computer endet der Artikel mit einer Reihe von Ratschlägen zu einem 1  | Vgl. Amy Cuddy: Your iPhone Is Ruining Your Posture – And Your Mood, auf: New York Times, dort datiert am 12.12.2015, http://www.nytimes.com/2015/12/13/ opinion/sunday/your-iphone-is-ruining-your-posture-and-your-mood.html, zul. aufgeruf. am 2.2.2017. 2  | Vgl. Maarten W. Bos/Amy J. Cuddy: »iPosture. The Size of Electronic Consumer Devices Affects Our Behavior«, Harvard Business School Working Paper, No. 13–097 2013, https://dash.harvard.edu/handle/1/10646419, zul. aufgeruf. am 2.2.2017. 3  | Cuddy: » Your iPhone Is Ruining Your Posture«. Die Plausibilität der von Cuddy vertretenen Thesen soll hier nicht weiter thematisiert werden. Stattdessen dienen sie als Symptome einer Medienkritik, die an den körperlichen Dispositionen der Mediennutzer ansetzt und die in den letzten Jahren auffällig zugenommen hat.

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gesunden Nutzungsverhalten. (»Keep your head up and shoulders back when looking at your phone, even if that means holding it at eye level.«4) Die Figur des bei jeder erdenklichen Tätigkeit übers Display gebeugten Smartphonenutzers ist zu einem kulturellen Beschreibungsmuster avanciert, mit dessen Hilfe sich eine direkt an Körperorientierungen ausgerichtete Kritik an digitalen Kulturen formulieren lässt. Sie soll hier zum Ausgangspunkt genommen werden für eine Thematisierung des Smartphones als verkörperter Technologie, die allerdings nicht mit psychopathologischen, sondern mit medienkulturwissenschaftlichen Begriffen operiert, um ein geeignetes Vokabular für Körper-Objekt-Relationen bei der Nutzung digitaler Nahkörpertechnologien zu entwickeln. Ziel des Kapitels ist es folglich, medienanthropologisch anschlussfähige Konzepte zu diskutieren, mit deren Hilfe sich weitgehend habitualisierte und veralltäglichte Praktiken des Mediengebrauchs theoretisch fassen lassen. Noch bis in die frühen 2000er-Jahre dominierte in kulturwissenschaftlichen Körperdiskursen eine an poststrukturalistische Ansätze anschließende Auffassung des Körpers als »Konstrukt historischer Praktiken und Diskurse«.5 Der Körper wird in diesen Diskursen überwiegend semiotisch aufgefasst, als Zeichenträger, der eine bestimmte soziale Identität – Geschlecht, Ethnie, Nationalität, sexuelle Orientierung – zum Ausdruck bringt und an dessen Oberfläche sich kulturell ausgehandelte Bedeutungen ablesen lassen. Die unter anderem an Arbeiten von Michel Foucault und Judith Butler anknüpfenden Argumentationen haben zum Ziel, die Auffassung einer Natürlichkeit bzw. Gegebenheit des Körpers zu dekonstruieren. Nachgewiesen werden soll, dass erst bestimmte Diskurse die jeweils historisch prägenden Körperbilder hervorbringen und auch darüber bestimmen, wie Subjekte ihre eigene Körperlichkeit erleben.6 Diese Einsichten sind wichtig und, insbesondere was den feministischen Diskurs angeht, von anhaltender Bedeutung. Dennoch lässt die poststrukturalistische Betonung von Semiotizität und Diskursivität Fragen offen, denn »es ist unbestreitbar, daß wir als körperliche Wesen auf diese Welt kommen; unser Körper ist der Ort unserer Wahrnehmung und unseres Denkvermögens, und dies bestimmt unsere Lage existenziell«.7 Mit Karen Barad lässt sich diagnostizieren: Der Sprache wurde zuviel Macht eingeräumt. Die sprachkritische Wende, die semiotische Wende, die interpretative Wende, die kulturelle Wende: Es scheint, daß in jüngster Zeit bei jeder Wende jedes ›Ding‹ – selbst die Materialität – zu

4  | Ebd. 5  | Bärbel Tischleder: Body Trouble. Entkörperlichung, Whiteness und das amerikanische Gegenwartskino, Frankfurt a. M.: Stroemfeld 2001, S. 14. 6  | Vgl. für diese kurze Zusammenfassung ebd., S. 13-16. 7  | Ebd., S. 15f.

4. Verkörperungen des Smartphones einer sprachlichen Angelegenheit oder einer anderen Form von kultureller Repräsentation wird. 8

Dieses Kapitel wird daher von der Prämisse geleitet, dass die Positionierung von Smartphones gegenüber den Anwendern und ihr Gebrauch als Prozesse der Verkörperung begriffen werden können. Was ist damit gemeint und inwiefern wird mit dieser Annahme eine Modifikation repräsentationalistischer Modelle des Körpers bzw. der Medien vorgenommen? Der Begriff der Verkörperung spielt in verschiedenen disziplinären Zusammenhängen eine Rolle und wird dabei jeweils unterschiedlich besetzt. Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass mit dem Begriff eine Historisierung statischer Körperkonzepte angezeigt ist, die den Körper als biologische Invariante fassen. Außerdem zielt der Begriff der Verkörperung häufig auf Praktiken, d. h. auf konkrete, gelebte Situationen, in denen Individuen ihre Körper als dynamisch, reflexiv und adaptierbar erleben.9 In der Soziologie wurde bereits 2006 ein Body Turn konstatiert, und der Begriff der Verkörperung (bzw. häufiger: Embodiment) gehört inzwischen zum Kernbestand vieler Arbeiten, insbesondere in der Körper-, Sport- und Geschlechtersoziologie.10 Solche Ansätze fragen insbesondere nach der »Rolle von Körpern als Handlungs- und Bedeutungsträger in gesellschaftlichen Kontexten«11 und sie bedienen sich vor allem handlungs- und praxistheoretischer Positionen. Soziologische Arbeiten zur Verkörperung befassen sich unter anderem mit der nicht-vorsätzlichen Inkorporierung sozialer Normen, Dispositionen und Schemata.12 Eine Kerneinsicht dieser Arbeiten 8  | Karen Barad: Agentieller Realismus. Über die Bedeutung materiell-diskursi-

ver Praktiken, Berlin: Suhrkamp 2012, S. 7. Ich übernehme lediglich die Lageeinschätzung. Barads sehr weitreichenden ontologischen Neudefinitionen von Materie, Performativität und Kausalität im Sinne eines New Materialism soll damit nicht gefolgt werden. 9  | Vgl. Bernadette Wegenstein: »Body«, in: William J. Mitchell/Mark B. N. Hansen (Hg.), Critical Terms for Media Studies, Chicago, Ill.: University of Chicago Press 2010, S. 19-34, hier S. 20f. 10  | Vgl. Robert Gugutzer: »Der body turn in der Soziologie. Eine programmatische Einführung«, in: Robert Gugutzer (Hg.), Body turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports, Bielefeld: transcript 2006, S. 9-53. Einen umfassenden Überblick gibt Thomas Alkemeyer: »Verkörperte Soziologie – Soziologie der Verkörperung. Ordnungsbildung als Körper-Praxis«, in: Soziologische Revue 38/4 (2015), S. 470-502. 11  | Sigrid Schmitz/Nina Degele: »Embodying – ein dynamischer Ansatz für Körper und Geschlecht in Bewegung«, in: Nina Degele/Sigrid Schmitz/Elke Gramespacher/Marion Mangelsdorf (Hg.), Gendered Bodies in Motion, Opladen: Budrich UniPress 2010, S. 13-36, hier S. 13. 12  | Eine besonders wichtige Referenz ist Pierre Bourdieus Habitus-Konzept, mit dem eine gesellschaftliche Strukturen unbewusst reproduzierende Verkör-

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ist ein Verständnis der Unhintergehbarkeit von Körperlichkeit in Prozessen der Subjektivierung: Besonders plausibel ist dies beispielsweise bei Sportlern oder anderen Menschen, deren Berufsausübung mit bestimmten körperlichen Praxen und Dispositionen zusammenfällt.13 Die Kategorie des Geschlechts bietet darüber hinaus einen naheliegenden Untersuchungsgegenstand.14 Die von phänomenologischen und pragmatistischen Strömungen gespeiste Philosophie der Verkörperung geht von der Grundannahme aus, dass Denken, Fühlen und Handeln als Prozesse aufgefasst werden müssen, die in Körpern stattfinden, welche wiederum in Umwelten situiert sind.15 Besonders einflussreich sind hier Ansätze, die unter Zuhilfenahme kognitionswissenschaftlicher Positionen eine Extended MindThese vertreten, d. h. davon ausgehen, dass kognitive Prozesse als umweltlich und nicht notwendig als an Körpergrenzen gebunden aufgefasst werden sollten. Ein wichtiger Vertreter dieser auch als aktiver Externalismus bezeichneten Richtung ist Andy Clark.16 Dafür werden intuitiv einleuchtende Beispiele angeführt wie das Notizbuch als Erinnerungsstütze, das schriftliche Rechnen mit Stift und Papier und – allgemeiner – die Verwendung von Sprache als Fall sozial ausgedehnter Kognition.17 Clark perung sozialer Normen, bestimmter Denk- und Handlungsweisen bezeichnet ist, die sich als praktisches Wissen artikuliert. Vgl. für die Herkunft des Konzepts Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis. Auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2012 [frz. OA 1972]. 13  | Vgl. Schmitz/Degele: »Embodying«, S. 22. 14  | Vgl. stellvertretend die Sammelbände Birgit Riegraf/Dierk Spreen/Sabine Mehlmann (Hg.), Medien, Körper, Geschlecht. Diskursivierungen von Materialität. Festschrift für Hannelore Bublitz, Bielefeld: transcript 2012 und Degele et al., Gendered Bodies in Motion sowie grundlegend Judith Butler: Bodies that Matter. On the Discursive Limits of ›Sex‹, New York: Routledge 1993. 15  | Vgl. Joerg Fingerhut/Rebekka Hufendiek/Markus Wild: »Einleitung«, in: Dies. (Hg.), Philosophie der Verkörperung. Grundlagentexte zu einer aktuellen Debatte, Berlin: Suhrkamp 2013, S. 9-102, hier S. 9: »Der Körper ist nicht nur ein Instrument zur Ausführung von vorgefassten Absichten oder zur Erfüllung von gehegten Wünschen. Es ist die eingespielte und lang erprobte Einbettung des Körpers in eine strukturierte und an uns angepasste Umwelt, die uns als intelligente Wesen ausmacht.« 16  | Vgl. Andy Clark/David Chalmers: »The Extended Mind«, in: Analysis 58/1 (1998), S. 7-19, wiederabgedruckt in Andy Clark: Supersizing the Mind. Embodiment, Action, and Cognitive Extension, Oxford: Oxford University Press 2008, S. 220-232. In der Monografie entwickelt Clark die Extended Mind-These in größerer Ausführlichkeit. 17  | Für die genannten Beispiele vgl. ebd., S. 226-232, 221 und 225. Die Kulturtechniken des Rechnens werden auch von Sibylle Krämer: »›Operationsraum Schrift‹. Über einen Perspektivenwechsel in der Betrachtung der Schrift«, in:

4. Verkörperungen des Smartphones

geht in späteren Arbeiten davon aus, dass das menschliche Gehirn für Kopplungen mit der Umwelt ausgelegt ist, was ihn dazu bringt, von Menschen als »natural-born cyborgs« zu sprechen.18 Auch in medienkulturwissenschaftlichen Arbeiten wird auf Konzepte von Verkörperung rekurriert. Zu nennen sind insbesondere performativitätstheoretische Ansätze: Erika Fischer-Lichte hat am Beispiel von Theaterschauspielern verschiedene Vorstellungen von Verkörperung herausgearbeitet, die zwischen der Verwandlung des Schauspielerkörpers in einen neutralen Zeichenträger (bzw. ein »Medium von Symbolbildungsprozessen«) und der a-signifikativen Leiblichkeit der Body Art (z. B. bei Marina Abramović) variieren.19 Wurde noch Ende des 18. Jahrhunderts von Schauspielern die Verkörperung ihrer Rolle dergestalt erwartet, dass ihre tatsächlichen Körper hinter der Darstellung zurücktreten sollten, hat sich dies in den Körper-Inszenierungen der Performance-Kunst seit den 1960er- und 1970er-Jahren grundlegend geändert. Hier zielt der Begriff der Verkörperung »auf den Körper des Schauspielers als existenziellen Grund, als Bedingung der Möglichkeit für die Entstehung einer dramatischen Figur auf der Bühne«.20 Der phänomenale Körper des Schauspielers wird hier in seiner Individualität und Faktizität ausgestellt und thematisiert. Fischer-Lichte plädiert von ihrem Beispiel ausgehend für eine grundlegenGernot Grube/Werner Kogge/Sibylle Krämer (Hg.), Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine, München: Fink 2005, S. 23-57, hier S. 26-32 als Zeichenpraktiken im konkreten Umgang mit Dingen und Repräsentationen beschrieben. Auch in den formalen und operativen Notationssystemen der Mathematik wird also ein zwischen Gehirn und Umwelt verteilter kognitiver Prozess modelliert. 18  | Vgl. Andy Clark: Natural-Born Cyborgs. Minds, Technologies, and the Future of Human Intelligence, New York: Oxford University Press 2003. Niklas Luhmanns berühmter Zettelkasten mag hierfür die beste Illustration abgeben: Es handelt sich dabei um eine Art kognitive Verzahnung eines biologischen Gehirns mit einem externalisierten Ordnungssystem in der Umwelt, wobei es wenig Sinn machen würde, zwischen den Operationen des Gehirns und den Verzweigungen des Zettelkastens eine künstliche Trennung einziehen zu wollen. 19   |  Vgl. Erika Fischer-Lichte: »Verkörperung/Embodiment. Zum Wandel einer alten theaterwissenschaftlichen in eine neue kulturwissenschaftliche Kategorie«, in: Dies./Christian Horn/Matthias Warstat (Hg.), Verkörperung, Tübingen: Francke 2001, S. 11-25, hier S. 18. Fischer-Lichte übernimmt den Begriff des Embodiment wiederum von dem Kulturanthropologen Thomas J. Csordas, der einer seit Clifford Geertz dominanten Auffassung von Kultur als Text eine alternative Perspektive entgegenstellt, die auf Körper als Grundlage aller Kultur und gelebter Erfahrung abhebt. Vgl. Thomas J. Csordas (Hg.), Embodiment and Experience. The Existential Ground of Culture and Self, Cambridge, UK: Cambridge University Press 2005 [1994]. 20  | Fischer-Lichte: »Verkörperung/Embodiment«, S. 15.

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de Reformation der Kulturwissenschaften dergestalt, dass Körpern eine mindestens ebenso prominente Rolle zuzukommen habe wie Texten, was ein Korrektiv zu auf Repräsentation fokussierten Ansätzen darstelle.21 Sibylle Krämer versteht unter Verkörperung in erweiterter medienwissenschaftlicher Perspektive »die vorsymbolischen, nicht-diskursiven, nicht-intentionalen Bedingungen symbolischer Repräsentationen«.22 Der Begriff markiere – neben dem der Performativität – ein Kernkonzept einer kulturalistisch ausgerichteten Medienforschung. So sei laut Krämer die Stimme ein – zumindest sprachphilosophisch – beinahe vergessenes Medium der Sprache und die Schrift habe neben ihrer semantischen Dimension Bildcharakter.23 In diesem Sinne lässt sich auch nach den Verkörperungsprozessen vernetzter digitaler Mobilmedien fragen – und zwar nach zwei Seiten hin: einmal mit Blick auf die Körper der Anwender, und einmal mit Blick auf die Materialität der Geräte selbst.24 Zentral ist im Folgenden also die Frage nach vorsymbolischen Verschränkungen von Körper und technischem Objekt, wobei der Prozess der Verkörperung auch als eine Form von Domestizierung oder Naturalisierung von Technologie verstanden werden kann. Innerhalb der Medienwissenschaft stellt die Betonung einer anhaltenden Relevanz von Körpern und Materialitäten bei der Beschäftigung mit digitalen Medien unter anderem eine Reaktion auf Diskurse zu einer vermeintlichen Entkörperlichung im Virtuellen dar.25 In den 1990er-Jahren war es noch üblich, das Internet als Utopie zu konzipieren, in der die Körper der Kommunizierenden gerade keine Rolle mehr spielen sollten.26 Paradigmatisch steht dafür William Gibsons Science-Fiction-Vor21  | Vgl. ebd., S. 20. 22  | Sibylle Krämer: »›Performativität‹ und ›Verkörperung‹. Über zwei Leitideen

für eine Reflexion der Medien«, in: Claus Pias (Hg.), Neue Vorträge zur Medienkultur, Weimar: VDG 2000, S. 185-197, hier S. 189. 23  | Vgl. ebd., S. 190-192. 24  | Die Diskussion der zum Teil der Sichtbarkeit entzogenen Materialitäten des Smartphones erfolgt in Kapitel 5. 25  | Einen guten Überblick zur Entkörperlichungsdebatte, in dem auch auf die Themen Künstliche Intelligenz und virtuelle Realität als Visionen der »Loslösung des Geistes vom Körper« eingegangen wird, gibt Bernard Robben: »Die Bedeutung der Körperlichkeit für be-greifbare Interaktion mit dem Computer«, in: Ders./Heidi Schelhowe (Hg.), Be-greifbare Interaktionen. Der allgegenwärtige Computer: Touchscreens, Wearables, Tangibles und Ubiquitous Computing, Bielefeld: transcript 2012, S. 19-39, hier S. 19. 26  | Vgl. beispielsweise die Arbeiten Sherry Turkles zu Identitätsexperimenten im Netz, vor allem Sherry Turkle: The Second Self. Computers and the Human Spirit, Cambridge, Mass.: MIT Press 2005 [1984]. Tischleder: Body Trouble, S. 101 kommentiert die als eskapistisch eingestuften Entkörperlichungsfantasien kritisch: »Die Phantasie von einer körperunabhängigen, medial konstituierten

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stellung eines Cyberspace, die er u. a. in seinem Roman Neuromancer entwickelte.27 In vielen medien- und kommunikationswissenschaftlichen Arbeiten dominierte die Vorstellung, dass Kommunikation und Sozialität sich zunehmend in virtuelle Communities verlagern würden, sodass Körper und Materialität insgesamt einen Bedeutungsverlust erleben würden.28 Solche Thesen haben an Plausibilität verloren, wozu nicht zuletzt auch die Verbreitung mobiler Medien beigetragen hat. Wenn Smartphones ihre Nutzer durch den Alltag begleiten und in wechselnden Kontexten zum Einsatz gelangen, leuchtet es nicht mehr ein, von den Anwenderkörpern theoretisch zu abstrahieren.29 Das Internet ist nicht bloß mobil geworden, sondern auch auf eine neue Weise körperlich. In den Diskursen um Smartphones und ihre potentiellen Nachfolgemedien (Wearables) nehmen Körper daher eine zentrale Rolle ein, wobei der noch in den 1990er-Jahren vorherrschende aufgeregte Unterton der Debatten zur »Zukunft des Körpers«30 einer neuen Aufmerksamkeit für sehr alltägliche Praktiken gewichen ist.31 Nicht nur sind Smartphones räumlich eng am Körper lokalisiert, sondern sie werden zum Bestandteil von Verkörperungsprozessen. Als verkörperte Praxis ist die Smartphonenutzung keine separate Sphäre einer abstrakt-geistigen Tätigkeit, sondern sie ist eingebettet in Routinen – alltägliche Verrichtungen und quasi-automatisierte Verhaltensweisen.

Existenz ist so attraktiv, weil die reale Überwindung unserer somatischen Verwurzelung in der organischen Welt nicht möglich ist.« 27  | Vgl. William Gibson: Neuromancer, New York: Ace Books 1984. 28  | Vgl. für eine Diskussion Adriana de Souza e Silva: »From Cyber to Hybrid. Mobile Technologies as Interfaces of Hybrid Spaces«, in: Space and Culture 9/3 (2006), S. 261-278, hier S. 269-273. 29  | Vgl. Ingrid Richardson: »Mobile Technosoma. Some Phenomenological Reflections on Itinerant Media Devices«, in: The Fibreculture Journal 6 (2005): Mobility. 30  | Vgl. für die kultur- und medienwissenschaftliche Körperdebatte der 1990erJahre die Ausgaben 132 und 133 der Zeitschrift Kunstforum International (hrsg. von Florian Rötzer, 1995 resp. 1996) sowie Uta Brandes/Claudia Neumann (Hg.), Tasten, Göttingen: Steidl 1996 und Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH (Hg.), Der Sinn der Sinne, Göttingen: Steidl 1998. Besonders apokalyptisch sind die Thesen Paul Virilios zur Eroberung des Körpers durch »Mikromaschinen« auf Nanobasis, die in nächster Zukunft in das Innere der Organe eindringen, um die »Intrastruktur des Verhaltens« zu manipulieren. Vgl. Paul Virilio: Die Eroberung des Körpers. Vom Übermenschen zum überreizten Menschen, München: Hanser 1995 [frz. OA 1993], S. 113 und 115. 31  | Vgl. für einen Ansatz, der den Gedanken der Verkörperung mit Bezug auf mobile Interfaces stark macht, Jason Farman: Mobile Interface Theory. Embodied Space and Locative Media, New York: Routledge 2012, S. 16-34.

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Verkörperte Praktiken fallen nicht mit dem Bewusstsein zusammen, sondern vollziehen sich in einem »Zwischenreich«32 von luzide und opak. Das Erlernen komplexer Bewegungsabläufe beim Menschen – z. B. Laufen oder Boxen – kann beispielsweise weder exklusiv der Seite des Bewusstseins zugeschlagen noch als selbsttätige Mechanik begriffen werden.33 Eher ist von einer komplexen Wechselwirkung zwischen intentionalen Bewusstseinsakten und körperlich-automatisierten Sequenzen auszugehen. Damit haben diese Praktiken eine spezifische Ökonomie, insofern Teile der Ausführung einer subpersonalen Eigentätigkeit anvertraut werden. Die Philosophie der Verkörperung – ebenso wie auch die Körper- und Sportsoziologie34 – legt dagegen ein besonderes Augenmerk auf Virtuosität, Könnerschaft und souveräne Körperbeherrschung im Sinne einer körperlichen Intelligenz bzw. eines ›Körperwissens‹. Die Tatsache, dass viele sensomotorische Fähigkeiten im Regelfall ohne direkte Beteiligung des Bewusstseins funktionieren, sorgt allerdings auch dafür, dass die Kontrolle über die eigenen körperlichen Vollzüge nicht in jedem Moment gewährleistet ist. Im Vordergrund dieses Kapitels steht daher dieser Gedanke der ›eingefleischten‹ Gewohnheiten, die sich nicht ohne weiteres ändern lassen.35 Die zuverlässige und vordergründig souveräne Handhabung technischer Artefakte hat 32  | Hartmut Winkler: »These 1: Automatismen stehen in Spannung zum freien

Willen, zu Kontrolle und Selbstkontrolle und zum Bewusstsein«, in: Hannelore Bublitz/Roman Marek/Christina L. Steinmann/Hartmut Winkler (Hg.), Automatismen, München: Fink 2010, S. 17-22, hier S. 18. 33  | Vgl. Fingerhut/Hufendiek/Wild: »Einleitung«, S. 14. 34  | Vgl. Hannelore Bublitz: »These 2: Automatismen beinhalten einen qualitativen Sprung: Aus der wiederholten Einschleifung durch Übung entsteht – paradoxerweise – gerade das Neue: spielerisch-mühelose Perfektion.«, in: Dies. et al., Automatismen, S. 23-26 und Thomas Alkemeyer/Matthias Michaeler: »Subjektivierung als (Aus-)Bildung körperlich-mentaler Mitspielkompetenz. Eine praxeologische Perspektive auf Trainingstechniken im Sportspiel«, in: Andreas Gelhard/Thomas Alkemeyer/Norbert Ricken (Hg.), Techniken der Subjektivierung, Paderborn: Fink 2013, S. 213-227. 35  | Eine vergleichbare Perspektive entwickelt Wendy Hui Kyong Chun: Updating to Remain the Same. Habitual New Media, Cambridge, Mass.: MIT Press 2016 um den Begriff der subjektkonstituierenden Habits. Vgl. ebd., S. 5f.: »Habits are strange, contradictory things: they are human-made nature, or, more broadly, culture become (second) nature. They are practices acquired through time that are seemingly forgotten as they move from the voluntary to the involuntary, the conscious to the automatic. As they do so, they penetrate and define a person, a body, and a grouping of bodies.« Vgl. darüber hinaus und mit ähnlicher Stoßrichtung Heidi Rae Cooley: Finding Augusta. Habits of Mobility and Governance in the Digital Era, Hanover, New Hampshire: Dartmouth College Press 2014.

4. Verkörperungen des Smartphones

eine präreflexive Dimension, die mich im Folgenden interessiert, und für die es gilt, einen begrifflichen Rahmen zu entwickeln. Die feministische Wissenschafts- und Technikforschung hat im Anschluss an Donna Haraway darauf aufmerksam gemacht, dass die Beschreibung von Körpern als passive Einschreibungsfläche technologischer Prozesse verkürzt sei – eine Einsicht, die sich sehr gut mit einem auf Verkörperungsprozesse abzielenden Ansatz verbinden lässt. Dagegen wurde ein körperlicher Eigensinn stark gemacht, der allerdings auch nicht als romantische Essenzialisierung einer der Kultur – und damit der Technik – entgegengesetzten Natur missverstanden werden dürfe.36 In der hier verfolgten Perspektive wird die Betonung eines körperlichen Eigensinns geteilt, allerdings nicht in Verbindung mit einer emanzipativen These wie der Idee der Cyborg, die als Vehikel dazu diente, etablierte Dualismen in Frage zu stellen und dabei Identitäten zu destabilisieren.37 Den folgenden Ausführungen liegt stattdessen die Hypothese zugrunde, dass Körper – insoweit sie nicht völlig dem Bewusstsein unterstellt sind – als umkämpftes Terrain aufgefasst werden müssen. Digitale Nahkörpertechnologien werden körperlich angeeignet, sodass der Körper zeitweilig als intentional einsetzbares Instrument auftritt. Andererseits aber gibt es eine präreflexive Ebene körperlicher Eigentätigkeit, die sich entweder völlig entzieht oder die von Interfaceentwicklern in ihren

36  | Vgl. Corinna Bath/Yvonne Bauer/Bettina von Bock Wülfingen/Angelika Sau-

pe/Jutta Weber: »Materialität denken. Positionen und Werkzeuge«, in: Dies. (Hg.), Materialität denken. Studien zur technologischen Verkörperung – Hybride Artefakte, posthumane Körper, Bielefeld: transcript 2005, S. 9-29, hier S. 21: »Wir verstehen Körper als eigenständige, eigensinnige und nicht vollständig anzueignende Entitäten, statt sie nur als Produkt von kontrollierenden und normalisierenden Formgebungsprozessen zu verhandeln.« In vergleichbarer Stoßrichtung postulieren die Herausgeber des kulturwissenschaftlichen Netzwerks Körper: »Dem Körper ist immer ein Vermögen, eine Potenzialität eigen, und ein Nachdenken über den Körper muss sich folglich mit der Frage beschäftigen, was Körper tun beziehungsweise welches Handlungsvermögen, welche agency sie beherbergen.« (Christiane König/Massimo Perinelli/Olaf Stieglitz: »Einleitung Praktiken«, in: Netzwerk Körper (Hg.), What can a body do? Praktiken und Figurationen des Körpers in den Kulturwissenschaften, Frankfurt: Campus 2012, S. 11-15, hier S. 11) 37  | Die Denkfigur der Cyborg ist heute auch deswegen problematisch geworden, weil sie von populärkulturellen Narrativen weitgehend umgeschrieben worden ist und kaum noch von einer – utopischen oder dystopischen – Vision des technisch aufgerüsteten Superhelden zu trennen ist. Vgl. Karin Harrasser: Körper 2.0. Über die technische Erweiterbarkeit des Menschen, Bielefeld: transcript 2013, S. 13-15.

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planerischen Entwürfen berücksichtigt werden kann, um unter Umgehung des Bewusstseins eine stärkere Habitualisierung des Mediengebrauchs zu forcieren.38 Als Forschungsperspektive für die Beschreibung anthropomedialer Relationen digitaler Nahkörpertechnologien bietet sich das Konzept der Automatismen an, insofern es die Beschreibung von Dynamiken erlaubt, die die subjektive Verfügung der jeweils Handelnden überschreiten, wenn sie auch direkt den eigenen Körper betreffen.39 Die Argumentation in den folgenden Teilkapiteln hat zum Ziel, eine Reihe von Konzepten am Gegenstand des halbbewussten Smartphone-Gebrauchs zu erproben, die dazu geeignet scheinen, die sich darin realisierenden anthropomedialen Kopplungsverhältnisse als Automatismen zu charakterisieren. Damit ist in erster Linie gemeint, dass die Verkörperungen des Smartphones sich in verschiedener Weise als strukturbildende Prozesse charakterisieren lassen, die nicht der willentlichen Verfügung handelnder Subjekte unterstellt sind, sondern vielmehr aus eingeschliffenen Gebrauchs- und Wahrnehmungsweisen in alltäglichen Nutzungskontexten emergieren. Die im Folgenden diskutierten drei Konzepte bieten sich für dieses Vorhaben besonders an und können somit als Operationalisierungen des Automatismenansatzes fungieren. Mit dem Konzept der Affordanzen wird zunächst ein im Interfacedesign-Diskurs verbreitetes Erklärungsangebot herangezogen, das Wahrnehmung und Handeln in einen engen Konnex bringt, ohne dass dabei kognitive Zwischenschritte eine Rolle spielen. Im Anschluss wird die praxeologische Dimension des Smartphonegebrauchs mit Hilfe des in der Medienanthropologie bereits etablierten Konzepts der Körpertechniken erschlossen. Abschließend wird die Frage nach der Topologie körpernaher Technologien mit Hilfe des Körperschema-Begriffs vertieft, der den argumentativen wie quantitativen Schwerpunkt des vorliegenden Kapitels ausmacht. Alle drei Konzepte haben den Vorzug, dass sie über eine rein dyadische Betrachtung hinausgehen, insofern jeweils immer schon eine umweltliche Dimension mitgedacht wird. Bei den Affordanzen ist diese in der Herkunft des Konzepts aus der ökologischen Wahrnehmungspsychologie nach James J. Gibson begründet, bei den Körpertechniken in ihrer prinzipiell kollektiven, auf Gesellschaft bezogenen Verfasstheit und beim Körperschema steht sehr grundsätzlich die Frage nach den realen und imaginären Grenzen des Körpers sowie nach den Interfaces zwischen Körper und Welt zur Debatte. Für die hier verfolgte medienanthropologische Perspektive auf die 38  | Vgl. z. B. Dag Svanæs: »Interaction Design for and with the Lived Body. Some Implications of Merleau-Ponty’s Phenomenology«, in: ACM Transactions on Computer-Human Interaction 20/1 (2013), S. 1-30, hier S. 8:9, die auf die Musterkennungskapazitäten des menschlichen Sinnesapparats hinweist, die der bewussten Wahrnehmung um einige Sekundenbruchteile vorausgehen. Mit Eyetracking-Software kann diese Verzögerung für den Sehsinn sichtbar gemacht werden. Das Intervall zwischen der Registrierung eines sinnlichen Reizes und seiner bewussten Wahrnehmung bietet Raum für Manipulationen. 39  | Vgl. hierzu Kapitel 1.2 der vorliegenden Arbeit.

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subjektivierenden Wirkungen nahkörperlichen Technikgebrauchs ist es entscheidend, diese als bestimmt von mehreren Einflussgrößen zu modellieren. Aufgabe des folgenden Kapitels 5 ist es dann, die Verkörperungen des Smartphones als Gegenstand von Regierungstechniken zu identifizieren und zu problematisieren. Eine letzte wichtige Vorbemerkung ist angebracht: Wie bereits in der Einleitung angekündigt, sind die diskutierten Verkörperungskonzepte selber wiederum Teil der Macht- und Wissensgeschichte des übergreifenden Kybernetisierungsprozesses. Die epistemische Bedingung der Möglichkeit der hier interessierenden anthropomedialen Kopplungen ist eine Auffassung des Körpers als komplexes, selbstregulierendes System, wie sie bereits in den 1940er-Jahren von den frühen Kybernetikern im Rahmen der Macy-Konferenzen entwickelt worden ist.40 Dabei wird gerade die Bewusstseinsferne körperlicher Vollzüge immer wieder als Prämisse von Steuerungsansätzen und Therapiemöglichkeiten gleichermaßen angeführt: »No organism can afford to be conscious of matters with which it could deal at unconscious levels.«41 Mit der von Katherine Hayles als dritte Welle der Kybernetik bezeichneten Artifical Life-Forschung und mobilen Robotik setzen sich Verkörperungskonzepte schließlich auf breiter Front als zentraler Bezugspunkt kybernetischen Wissens durch.42 Gegenüber den stark kognitivistischen und um einen entkörperlichten Informationsbegriff kreisenden Begriffen und Konzepten der frühen Kybernetiker, die im Paradigma der Künstlichen Intelligenz mündeten, erfahren die Selbstregulierungskapazitäten von Körpern damit eine neuerliche Aufwertung. Zum Bestiarium der Kybernetik gehört seit Rodney Brooks’ Subsumptionsarchitektur für autonome Roboter und Mark Tildens Forschung zu neuronalen Komputationsprozessen im zentralen Nervensystem jenseits des Gehirns auch das kopflose Huhn, als Allegorie des ohne zentrale Steuerinstanz mit seiner Umwelt interagierenden Körpers bzw. kognitiven Systems.43 40  | An erster Stelle zu nennen sind hier die Beiträge des mexikanischen Phy-

siologen Arturo Rosenblueth und die interdisziplinäre Kooperation des Neurophysiologen Warren McCulloch mit dem Logiker Walter Pitts, deren anatomische und neurologische Studien wesentliche Komponenten zum kybernetischen Theoriegebäude beisteuerten. Vgl. die kanonischen Texte Arturo Rosenblueth/ Norbert Wiener/Julian Bigelow: »Behavior, Purpose and Teleology«, in: Philosophy of Science 10 (1943), S. 18-24, und Warren S. McCulloch/Walter Pitts: »A Logical Calculus of the Ideas Immanent in Nervous Activity«, in: The Bulletin of Mathematical Biophysics 5 (1943), S. 115-133. 41  | Gregory Bateson: Steps to an Ecology of Mind. Collected Essays in Anthropology, Psychiatry, Evolution, and Epistemology, Northvale, NJ: Aronson 1987 [1972], S. 118. 42  | Vgl. N. Katherine Hayles: How We Became Posthuman. Virtual Bodies in Cybernetics, Literature, and Informatics, Chicago, Ill: University of Chicago Press 1999, S. 11-13 und 222-246. 43  | Vgl. zu Brooks und Tilden ebd., S. 235-239.

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Während die im Folgenden diskutierten Körpertechniken insofern als proto­ kybernetisch zu betrachten sind, als dass Marcel Mauss mit ihrer Hilfe die Technizität alltäglicher Praktiken betonen wollte, ist die epistemische Verwicklung mit der Kybernetisierung bei den Affordanzen bereits deutlich enger. Gibson stellt seiner einflussreichen Studie zur visuellen Wahrnehmung den Hinweis voran: »What psychology needs is the kind of thinking that is beginning to be attempted in what is loosely called systems theory«.44 Systems theory bleibt zentraler Bezugspunkt aktueller kognitionswissenschaftlicher Ansätze, von Francisco Varelas, Eleanor Roschs und Evan Thompsons bereits klassischem The Embodied Mind bis zu Anthony Chemeros Radical Embodied Cognitive Science.45 Gibson ist zentrale Referenz und Abgrenzungsfolie nicht nur in diesen Arbeiten, sondern auch in anwendungsorientierten Disziplinen wie der erwähnten mobilen Robotik. Das Körperschema schließlich steht nicht nur im Hintergrund von Nobert Wieners Versuch einer Formalisierung neuropathologischer Steuerungsprobleme46, verwandte Ansätze finden sich bereits in den 1930er-Jahren in der sowjetischen Neuropsychologie, die den Organismus als einheitliches System zu beschreiben versuchte, das mit bestimmten Techniken reprogrammiert, gesteuert und manipuliert werden konnte. Oliver Sacks schreibt dazu: »Es ergibt sich das Bild einer großartigen, sich selbst steuernden, dynamischen Maschine, und [Kurt] Bernstein, ihr hervorragendster Theoretiker, war, fünfzehn Jahre vor Norbert Wiener, der eigentliche Begründer der Kybernetik.«47 Das Verkörperungsdenken des 20. Jahrhunderts kreuzt sich also immer wieder mit der Wissensgeschichte der Kybernetik, ohne allerdings, und darauf möchte ich schließlich doch hinweisen, mit ihr deckungsgleich zu sein. Gerade in der Philosophie ist es wesentlich geprägt von phänomenologischen und pragmatistischen Einflüssen und selbst in Hayles’ historischer Aufarbeitung der Kybernetik ist Verkörperung ein geradezu emphatischer Begriff, der explizit gegen einen entkörperlichten Informationsbegriff und damit einhergehende kognitivistisch-mentalistische Verkürzungen, die beispielsweise die KI-Forschung der 1960er-Jahre geprägt haben, ins Feld 44  | James J. Gibson: The Ecological Approach to Visual Perception, Hoboken: Taylor and Francis 2014 [1979], S. XV.

45  | Vgl. Francisco J. Varela/ Evan Thompson/Eleanor Rosch: The Embodied

Mind. Cognitive Science and Human Experience, Cambridge, Mass.: MIT Press 2000 [1991] und Anthony Chemero: Radical Embodied Cognitive Science, Cambridge, Mass./London: MIT Press 2011. 46  | Vgl. Norbert Wiener: Cybernetics. Or Control and Communication in the Animal and the Machine, Cambridge, Mass: MIT Press 1965 [1948], S. 95f. und die Diskussion in Stefan Rieger: Kybernetische Anthropologie. Eine Geschichte der Virtualität, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 195-197. 47  | Oliver Sacks: Der Tag, an dem mein Bein fortging, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2014 [engl. OA 1984], S. 245. Wichtige Vertreter der sowjetischen Neuropsychologie waren neben dem genannten Kurt Bernstein (1878-1965) Alexander Romanowitsch Lurija und Aleksej N. Leontjew.

4. Verkörperungen des Smartphones

geführt wird.48 Wenn im Folgenden also ein begrifflicher Rahmen vorgestellt wird, um ein kritisches Denken der Verkörperungsprozesse von Smartphones zu ermöglichen, dann bewegen sich die Ausführungen zwar ohne jeden Zweifel innerhalb des von der Kybernetik gesetzten epistemischen Felds, was aber nicht heißt, dass auch die gleichen Fragen gestellt werden müssten.

4.1 A ffordanzen – »P erceiving I s F or D oing« Ende 2014 wurde in einem satirischen Crowdfunding-Projekt die Entwicklung des sogenannten NoPhone angekündigt. Dabei handelt es sich um einen rechteckigen Plastikblock im Smartphoneformat ohne jegliche Funktionalität, angepriesen als »a technology-free alternative to constant hand-to-phone contact«.49 Die Entwickler führten die Vorzüge ihrer Erfindung weiter aus: With a thin, light and completely wireless design, the NoPhone acts as a surrogate to any smart mobile device, enabling you to always have a rectangle of smooth, cold plastic to clutch without forgoing any potential engagement with your direct environment. Never again experience the unsettling feeling of flesh on flesh when closing your hand. 50

Unter der obligatorischen Überschrift »How it Works« findet sich die beruhigend schlichte Anweisung: »Pick it up. Hold it.«51 Das NoPhone wurde realisiert und ist für 12 US-Dollar käuflich zu erwerben. Aus der hier verfolgten Perspektive ist das Beispiel instruktiv, weil darin die Bedeutung der haptischen Komponente des Smartphonegebrauchs in parodistischer Absicht verdichtet wird. Es geht beim NoPhone um die Freistellung physischer Affordanzen des Objekts gegenüber seinen weiteren – und potenziell problematischen – Verwendungskontexten. Explizites Ziel ist eine Regulierung des Mediengebrauchs nach dem Vorbild des Nikotinpflasters: Wenn schon die Hände nicht auf die vertraute Präsenz des Objekts verzichten können, soll es dafür wenigstens ein vergleichsweise unschädliches Substitut geben. Der Begriff der Affordanzen findet vor allem in 48 | Vgl. Hayles: How We Became Posthuman, S. 283f.: »[H]uman being is first of all embodied being, and the complexities of this embodiment mean that human awareness unfolds in ways very different from those of intelligence embodied in cybernetic machines.« 49  | Vgl. https://nophone.myshopify.com/, zul. aufgeruf. am 2.2.2017. 50  | Ebd. Die Website enthält unter anderem ein Unboxing-Video und bietet die Möglichkeit eines ›Selfie-Upgrades‹ durch Verspiegelung der Frontseite des NoPhone. 51  | Ebd.

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der anwendungsorientierten HCI-Forschung Verwendung, soll hier aber in seinen medienkulturwissenschaftlichen Implikationen weiterentwickelt werden, um in einer ersten Annäherung ein Vokabular für Kopplungen von Menschen und digitalen Nahkörpertechnologien in technologisch gesättigten Umwelten zu entwickeln.

4.1.1 Affordanzen: Konzept Der Begriff ›affordance‹ wurde von dem Wahrnehmungspsychologen James J. Gibson in den 1970er-Jahren entwickelt und ist über den Kognitionswissenschaftler Donald A. Norman in den späten 1980er-Jahren in die Usability-Forschung eingeführt worden.52 Norman verstand darunter anfangs – ausgehend von einer ernüchternden Bestandsaufnahme der ›Psychopathologie‹ von Alltagsgegenständen – »the perceived and actual properties of [a] thing, primarily those fundamental properties that determine just how the thing could possibly be used«.53 Später präzisierte er seine Auffassung dahingehend, dass es stets um die Gestaltung wahrnehmbarer Handlungsoptionen zu gehen habe, sodass sich Affordanzen auch als Kommunikation zwischen Designern und Anwendern verstehen ließen.54 Aus einer Designperspektive werden unter Affordanzen ausgehend von Normans Überlegungen Handlungsangebote verstanden, die gestaltete Objekte oder Interfaces menschlichen Anwendern machen – auf physischer, kognitiver, sensorischer oder funktionaler Ebene.55 Die Verwendung gut gestalteter Dinge ist in dieser Perspektive selbst-evident und bei ihrer Handhabung erfolgt im Idealfall eine unmittelbare Rückmeldung über den Handlungserfolg, sodass sich eine quasi-natürliche Selbstverständlichkeit des Umgangs einstellt. Aufgrund der doppelten Artikulation technischer Medien – es handelt sich um physisch 52  | Vgl. Gibson: The Ecological Approach und Donald A. Norman: The Design

of Everyday Things, New York: Doubleday/Currency 1990 [1988]. In der HCIForschung ist das Konzept inzwischen weit verbreitet. Vgl. die Diskussion in Paul Dourish: Where the Action Is. The Foundations of Embodied Interaction, Cambridge, Mass.: MIT Press 2001, S. 117f. 53  | Norman: The Design of Everyday Things, S. 9. 54  | Vgl. Donald A. Norman: The Design of Future Things, New York: Basic Books 2007, S. 66-69. 55  | Vgl. Rex Hartson: »Cognitive, Physical, Sensory, and Functional Affordances in Interaction Design«, in: Behaviour & Information Technology 22/5 (2003), S. 315-338 für eine terminologische Ausdifferenzierung des Affordanzen-Konzepts für Designer im Anschluss an Donald A. Norman: »Affordance, Conventions, and Design«, in: Interactions, Mai/Juni 1999, S. 38-42. Norman hatte kritisiert, dass unter Designern häufig kulturell konventionalisiertes Wissen mit Affordanzen gleichgesetzt werde: »Affordances reflect the possible relationships among actors and objects: they are properties of the world. Conventions, conversely, are arbitrary, artificial, and learned.« (Ebd., S. 42)

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gestaltete Artefakte in der Welt, die selber den Zugang zu einer medial verfassten Welt in Form von Repräsentationen erlauben – gibt es Affordanzen aus Nutzersicht immer auf mindestens zwei Ebenen.56 Für ein Smartphone ist aus Designersicht wichtig, dass es sowohl als physisches Objekt gut in der Hand liegt – es muss im Wortsinn ›handy‹ sein –, als auch dass auf Software-Ebene ausreichend kognitive Affordanzen vorhanden sind, sodass den Anwendern jederzeit möglichst intuitiv klar ist, welche Schritte zur Durchführung bestimmter Aufgaben erforderlich sind. Die obsessive Materialfixierung, für die beispielsweise die Firma Apple bekannt ist, erklärt sich in dieser Perspektive aus einem besonderen Augenmerk für sensorische (besonders haptische, visuelle und auditive) Affordanzen, die eine Unterstützungsfunktion innehaben.57 Auf Ebene der Software werden von Firmen wie Apple und Google umfangreiche Human Interface Guidelines für Anwendungsdesigner bereitgestellt, die eine Konsistenz des Angebotscharakters über verschiedene Anwendungen hinweg gewährleisten sollen.58 Der detaillierten Interaktionsplanung auf Seiten des Designs steht – bei erfolgreicher Umsetzung – eine beiläufige, mit minimalem kognitivem Aufwand erfolgende Nutzung gegenüber. Dabei gilt es allerdings zu beachten, dass die Gestaltung von Affordanzen niemals zu eindeutig determinierten Verhaltensweisen auf Nutzerseite führt. Eher funktioniert das Interagieren in Umgebungen oder mit Objekten, die bestimmte Affordanzen bereithalten, probabilistisch bzw. ökonomisch, indem im Regelfall jene Handlungssequenzen gewählt werden, die mit geringstem Aufwand zu realisieren sind. Für den medienkulturwissenschaftlichen Zugriff ergiebiger als die anwendungsorientierte HCI-Forschung ist die ursprüngliche Konzeption von Affordanzen im Kontext einer ökologischen Theorie visueller Wahrnehmung.59 Gibsons Buch stellt 56  | Vgl. Kirsty Best: »When Mobiles Go Media. Relational Affordances and

Present-to-Hand Digital Devices«, in: Canadian Journal of Communication 34 (2009), S. 397-414, hier S. 409. 57  | Vgl. Ina Grätz: »Stylectrical. Von Elektrodesign, das Geschichte schreibt. Ein Rundgang«, in: Sabine Schulze/Ina Grätz (Hg.), Apple Design, Ostfildern: Hatje Cantz 2011, S. 10-21. 58  | Vgl. iOS Human Interface Guidelines, https://developer.apple.com/library/ ios/documentation/userexperience/conceptual/mobilehig/ und Material Design, https://material.io/guidelines/#, beide zul. aufgeruf. am 2.2.2017. 59  | Für die Differenzen zwischen den Affordanzen-Konzepten bei Gibson und Norman vgl. ausführlich Joanna McGrenere/Wayne Ho: »Affordances: Clarifying and Evolving a Concept«, in: Sidney S. Fels/Pierre Poulin (Hg.), Proceedings of Graphics Interface 2000, San Francisco: Morgan Kaufmann 2000, S. 179186. Gibsons Wahrnehmungstheorie ist außerdem in einer ganzen Reihe von Arbeiten aus dem Bereich der Philosophie der Verkörperung, insbesondere im Rahmen von Theorien der Embedded Cognition, aufgegriffen worden. Vgl. Fingerhut/Hufendiek/Wild: »Einleitung«, S. 77f.

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neben Gregory Batesons Ökologie des Geistes und Félix Guattaris Projekt einer Ökosophie eine der wichtigsten Anwendungen ökologischer Theorie außerhalb der traditionellen Ökologie dar.60 Aufgrund ihrer sehr grundsätzlichen Ausrichtung auf die Beschreibung des Verhältnisses von Organismen und Umwelten ist Gibsons Theorie besser für ein medienanthropologisches Argument geeignet als die späteren, auf Norman Bezug nehmenden Applikationen und Übertragungen des Konzepts. Bei Gibson ist der Begriff tentativ definiert: »[T]he affordance of anything is a specific combination of the properties of its substance and its surfaces taken with reference to an animal«61. Gibson machte damit einen radikalen Vorschlag im Fachdiskurs seiner Zeit, der darwinistische und gestalttheoretische Prämissen bündelte, die – insbesondere aus medientheoretischer Sicht – zunächst Widerspruch provozieren.62 Insbesondere ging Gibson – gegen den wahrnehmungspsychologischen Konsens – davon aus, dass die Wahrnehmung der für das Handeln eines Organismus relevanten Eigenschaften der Umwelt direkt erfolge und nicht vermittelt über eine wie auch immer geartete Analyse oder Synthese sensorischer Stimuli.63 Hierbei handelt es sich um eine Operationalisierung und Objektivierung des gestalttheoretischen Figur-Grund-Schemas, in dem ebenfalls eine unmittelbare Wahrnehmbarkeit umweltlicher Strukturen und Muster behauptet wird. Ein Set von Affordanzen beschreibt Relationen zwischen Organismen und ihren Umwelten, die evolutionstheoretisch als Nischen charakterisiert werden können.64 Diese Analogie ist wichtig, um kenntlich zu machen, dass Affordanzen als real und invariant vorgestellt werden, d. h. nicht als 60  | Vgl. Bateson: Steps to an Ecology of Mind und Félix Guattari: Die drei Ökologien, Wien: Passagen 2012 [frz. OA 1989].

61  | James J. Gibson: »The Theory of Affordances«, in: Robert Shaw/John D.

Bransford (Hg.), Perceiving, Acting, and Knowing. Toward an Ecological Psychology, Hillsdale, NJ: Erlbaum 1977, S. 67-82, hier S. 67. Vgl. weiter S. 68: »The affordances of the environment are what it offers animals, what it provides or furnishes, for good or ill.« 62  | Vgl. Harold S. Jenkins: »Gibson’s ›Affordances‹. Evolution of a Pivotal Concept«, in: Journal of Scientific Psychology, December 2008, S. 34-45, hier S. 34. 63  | Vgl. William W. Gaver: »Technology Affordances«, in: Scott P. Robertson/ Gary M. Olson/Judith S. Olson (Hg.), CHI ’91 Proceedings of the SIGCHI Conference on Human Factors in Computing Systems 1991, S. 79-84, hier S. 79: »[A]ffordances are the fundamental objects of perception. People perceive the environment directly in terms of its potentials for action, without significant intermediate stages involving memory or inferences.« Das Gegenmodell wären kognitivistische Ansätze, die komplexe Umwandlungsprozesse von Wahrnehmungsinformationen in mentale Repräsentationen beschreiben. 64  | Vgl. Gibson: The Ecological Approach, S. 120f. Es geht Gibson um die Komplementarität von Organismus und Umwelt. Für Menschen wäre der Begriff der Nische in Richtung einer kulturellen Umwelt zu erweitern, sodass damit ein einziger »Zusammenhang aus Institutionen, Artefakten, sozialen Umgangsfor-

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rein subjektive Faktoren, sondern als objektiv beschreibbare Größen – obgleich sie stets in Bezug auf bestimmte Organismen, d. h. relational, definiert werden müssen. Die Affordanzen eines Perserteppichs sind beispielsweise für Mensch, Katze und Floh drastisch verschieden. Die gleiche Umgebung hält also unterschiedliche Affordanzen für unterschiedliche Organismen bereit – geht man von Affordanzen als Kleinsteinheit der Wahrnehmung aus, ist die Auffassung einer einheitlichen und statischen Ontologie zu revidieren.65 Oberflächen können so beispielsweise – folgt man Gibson: ohne kognitive Zwischenoperationen – als »stand-on-able«, »sit-on-able«, aber auch als »bump-into-able«, »get-underneath-able«, »climb-on-able« oder »fall-off-able« identifiziert werden, wobei sie diese Eigenschaften auch dann beibehalten, wenn die jeweilige Potentialität nicht aktualisiert wird.66 Zwei weitere Implikationen lassen sich der Auflistung entnehmen: Affordanzen können nicht nur positiv definierbare Verhaltensoptionen markieren, sondern auch Gefahren – das Konzept ist wesentlich neutraler als seine Adaption im Kontext der Usability-Forschung.67 Darüber hinaus ist die Wahrnehmung von Affordanzen – als umweltgerichtete Exterozeption – untrennbar mit der – in der Regel propriozeptiven – Selbstwahrnehmung verknüpft.68 Denn wenn die Umwelt in Form von Affordanzen wahrgenommen wird, dann findet gleichsam im Wahrnehmungsakt ein instantaner Abgleich mit den eigenen körperlichen Vermen und kollektiven Medien- und Notationssystemen« (Fingerhut/Hufendiek/ Wild: »Einleitung«, S. 75) bezeichnet ist. 65  | Vgl. Anthony Chemero: »An Outline of a Theory of Affordances«, in: Ecological Psychology 15/2 (2003), S. 181-195, hier S. 181: »[D]irect theories of perception require a new ontology, one that is at odds with today’s physicalist, reductionist consensus that says the world just is the physical world, full stop«. Chemero verfolgt die philosophischen Implikationen des Affordanzen-Konzepts weiter in Chemero: Radical Embodied Cognitive Science. 66  | Gibson: The Ecological Approach, S. 120. Diese Adjektive lassen sich nicht problemlos ins Deutsche übersetzen. Am ehesten bieten sich dafür Wendungen mit dem Suffix -bar an, z. B. ›begehbar‹, ›besteigbar‹, ›essbar‹ oder ›bewegbar‹. Die Wortbildungsmöglichkeiten diesbezüglich sind im Deutschen begrenzt. Insofern Oberflächen in Relation zu einem entsprechend ausgestatteten Organismus auch ›bemalbar‹ oder ›beschreibbar‹ sein können, greift die Affordanzen-Perspektive in das Feld der Kulturtechniken hinüber, das im nächsten Teilkapitel behandelt wird. Kulturtechniken haben allerdings den Vorzug, auch komplexere Operationsketten in ihrem zeitlichen Verlauf erklären zu können. Der Prozess der Kaffeeherstellung beispielsweise ließe sich nur mit Mühe über Affordanzen herleiten. 67  | Dass ›negative‹ Affordanzen in der Usability-Forschung unterschlagen werden, ist nachvollziehbar: Die Charakterisierung von Geräten als ›track-able‹ oder ›hack-able‹ würde ihre Attraktivität erheblich mindern. 68  | Vgl. ebd., S. 132f.

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mögen statt – nicht nur des Sinnesapparats, sondern des gesamten für Handlungen zur Verfügung stehenden Apparats. In Gibsons Darstellung nimmt der Körper als Ganzheit wahr – und zwar nicht einzelne Stimuli bzw. Eigenschaften geschlossener Entitäten, sondern direkt Affordanzen als realisierbare Verhaltensoptionen: »[W]hat we perceive when we look at objects are their affordances, not their qualities.«69 Die gesamte Wahrnehmung ist also laut Gibson auf das Anschlussverhalten des Organismus ausgerichtet. Am Konzept der Affordanzen sind zwei Aspekte für die Zwecke der vorliegenden Arbeit zentral. Erstens der ökologische, d. h. umweltliche Charakter von Affordanzen: Affordanzen sind präzise gefasst »properties of the animal-environment system that determine what can be done«70 und daher eine emergente Kategorie, insofern sie nur als Relation existieren und nicht als separat in Organismen oder ihren Umgebungen verortbare Skripte.71 Damit unterscheiden sich Affordanzen auch von Wahrnehmungsbzw. Verhaltensschemata, die man klar auf der Seite des Organismus lokalisieren kann. Zweitens sind Affordanzen Erfahrungen ersten Grades in dem Sinne, dass sie eine präreflexive Ebene der Welterfahrung bezeichnen, die auf keine vermittelnden Instanzen angewiesen ist. Dieser Aspekt ist dem medientheoretisch geschulten Blick besonders fremd, aber zentral. Besonders für hochgradig routinisierte Tätigkeiten ist diese Sicht plausibel: »Awareness sinks to a minimum at these times to such an extent that encounters with the world seem nearly automatic and habitual, and the experience of a boundary between the self and the world is negligible.«72 Die Perspektive auf Affordanzen unterläuft damit systematisch die Subjekt-Objekt-Dichotomie und thematisiert – durchaus alltägliche – Momente des Wahrnehmens und Handelns, in denen sich die Akteure in einem kontinuierlichen Flow praktischer Vollzüge bewegen. Affordanzen werden nicht in jedem Fall von einem entsprechend ausgestatteten Organismus wahrgenommen. Somit gibt es neben wahrgenommenen Affordanzen – auf die bei der Gestaltung von Artefakten besonders geachtet werden muss – auch versteckte Affordanzen sowie falsche Affordanzen.73 An dieser Stelle grenzt sich Gibson von der Gestaltpsychologie ab: »When Koffka asserted that ›each thing says what it is‹, he failed to mention that it may lie. More exactly, a thing may not look like what it is.«74 In der 69  | Ebd., S. 126. 70  | Thomas A. Stoffregen: »Affordances as Properties of the Animal-Environment System«, in: Ecological Psychology 15/2 (2003), S. 115-134, hier S. 124.

71  | Ebd., S. 121: »An affordance cuts across the dichotomy of subjective-ob-

jective and helps us to understand its inadequacy.« 72  | Harry Heft: »Affordances, Dynamic Experience, and the Challenge of Reification«, in: Ecological Psychology 15/2 (2003), S. 149-180, hier S. 151. 73  | Vgl. für ein entsprechendes Schema Gaver: »Technology Affordances«, S. 80. 74  | Gibson: The Ecological Approach, S. 134.

4. Verkörperungen des Smartphones

ökologischen Wahrnehmungspsychologie wird außerdem davon ausgegangen, dass es unterschiedliche Attunements, d. h. Sensibilitäten für verschiedene Affordanzen gibt, wodurch es auch zu Übergeneralisierungen kommen könne.

4.1.2 Affordanzen des Smartphones Was ist nun mit dem Konzept der Affordanzen für eine medienanthropologische Beschreibung von Verkörperungsprozessen des Smart-phones gewonnen? Erstens lässt sich damit sehr pragmatisch ein Erklärungsansatz für beobachtbare Praktiken formulieren. Im Mediengebrauch erscheint das Gerät zunächst als Gegenüber, als Teil der Umgebung also, das aufgrund seiner materiellen Gestaltung bestimmte Umgangsweisen nahelegt und andere nicht. Für das Smartphone sind insbesondere eher unspezifische physische Affordanzen relevant, die das Gerät als greifbares Objekt und den Touchscreen als berührbare Oberfläche betreffen, wobei die Interaktionen häufig noch softwareseitig von Animationen, Klängen oder Vibrationen begleitet werden. Es ließe sich die These formulieren, dass das Objekt Smartphone – in der Regel ein schlichter schwarzer Block – aufgrund seiner Größe und Form in Relation zum Anwenderkörper in erster Linie ein Berührtwerden herausfordert, das dann in ein exploratives Verhalten übergeht, sobald weitere Affordanzen von der Software ausgehen.75 Der Affordanzen-Ansatz liefert also eine Erklärung für den alltäglichen Anblick mit ihren Smartphones beschäftigter Menschen, die auch ohne klare Zielvorstellung und funktionale Intention gedankenverloren auf den Bildschirmen herumwischen, eine Aktivität, die sich als »rule-governed, yet unconscious«76 charakterisieren ließe. Die Perspektive auf Affordanzen erlaubt es zweitens, eine im Falle des Smartphones unbefriedigende Sicht auf Objekte fallenzulassen. Wenn das Objekt nicht als klar umrissener Gegenstand mit eindeutigen Attributen erscheint, sondern als Bündel von Potenzialitäten, die anwender- (bzw. anbieter-)abhängig realisiert werden können, lässt sich der wandelbare Charakter von Geräten besser fassen, die abhängig von der laufenden Softwareanwendung und den realisierten Vernetzungen als je anderes Objekt erscheinen. Netzwerke selbst lassen sich in dieser Perspektive weniger als visualisierbare Diagramme und Schemata denn als »komplexe Umwelten« begreifen, »die in vernetzten Ökologien kontextualisiert werden, in denen sie Gestalt annehmen«.77 75  | Zu Affordanzen von Software vgl. Matthew X. Curinga: »Critical Analysis of Interactive Media with Software Affordances«, in: First Monday 19/9 (2014).

76  | Robert C. MacDougall: »The Ecological Approach of J. J. Gibson«, in: Explorations in Media Ecology 12/3 (2013), S. 181-198, hier S. 193.

77  | Geert Lovink: »Die Technologie urbanisieren. Der Mobilitätskomplex aus

der Perspektive der Neuen Netzwerktheorie«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 8/1 (2013), S. 52-69, hier S. 60. Lovink spricht sich an dieser Stelle gegen »den Fetischcharakter der aktuellen Datenvisualisierungs-Bewegungen« aus, die glauben, durch ein möglichst vollständiges Mapping Relationen in Netzwerken hinreichend abbilden zu können. »Dinge sichtbar zu machen ist möglicher-

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Gibson führt aus, dass Affordanzen sich überlappen können, sodass die Perspektive nicht an positive oder negative Klassifizierungskriterien gebunden ist: »The fact that a stone is a missile does not imply that it cannot be other things as well. It can be a paperweight, a bookend, a hammer, or a pendulum bob.«78 Im Falle des Smartphones ist die Liste an möglichen Verwendungsweisen potenziell bedeutend länger, was zu einer Verunsicherung der kategorialen Zuordnungen führt.79 In der Werbung hat sich die situative Offenheit des Smartphones zu einem Slogan verdichtet, der auf eine generalisierte Machbarkeitsfiktion hinausläuft: »There’s an app for that.«80 In Kapitel 2.6 wurde konstatiert, dass das Smartphone als Objekt einen unsicheren Status hat, insofern es ständig zwischen einer Positionierung als Gegenüber und als Teil des Selbst oszilliert. Mindestens für jene weitgehend automatisierten Praktiken, in denen das Smartphone dem Selbst zugeschlagen wird, kann dann, drittens, davon ausgegangen werden, dass dies die Affordanzen zwischen Smartphonenutzer und Umwelt verändert. Beispielsweise entwickeln Zonen mit ausreichender oder mangelhafter Netzabdeckung spezifische Valenzen, die zu Anziehung und Abstoßung Anlass geben.81 Eine mit digitalen Informationen gesättigte Umgebung hält andere Affordanzen für Individuen bereit, die mit dem Smartphone navigieren und daher im Vergleich zur Navigation anhand von Anhaltspunkten, die vom Sinnesapparat erfasst weise nicht immer die richtige Strategie, wenn wir zu einem tieferen Verständnis kommen wollen.« (Ebd., S. 61) Das Affordanzen-Konzept weist gleichermaßen in eine andere Richtung, was oben mit dem Verweis auf multiple Ontologien bereits angedeutet wurde. 78  | Gibson: The Ecological Approach, S. 126. 79  | Vgl. in diesem Kontext die in Kapitel 2.1 zusammengefasste Debatte zur Terminologie digitaler Nahkörpertechnologien und den Vorschlag von Peter Maass/Megha Rajagopolan: »That’s No Phone. That’s My Tracker«, auf: New York Times, dort datiert am 13.7.2012, http://www.nytimes.com/2012/07/15/ sunday-review/thats-not-my-phone-its-my-tracker.html?_r=0, zul. aufgeruf. am 2.2.2017. 80  | Vgl. Brian X. Chen: »Apple Registers Trademark for ›There’s an App for That‹«, auf Wired.com, dort datiert am 10.11.2010, http://www.wired. com/2010/10/app-for-that/, zul. aufgeruf. am 2.2.2017. 81  | In Kurt Lewins Feldpsychologie, auf die sich Gibson bezieht, bezeichnet Valenz den Aufforderungscharakter von »Gebilde[n] und Ereignisse[n]« in der Umgebung einer Person, wozu neben Objekten oder Architekturen auch andere Lebewesen zählen können. Personen bewegen sich dieser Theorie zufolge durch einen von positiven und negativen Valenzen strukturierten Lebensraum, wobei die jeweilige Polung der Gegebenheiten (Anziehung, Abstoßung, Ambivalenz) von den sich wandelnden und variierenden Bedürfnisdispositionen abhängt. Anders als bei Affordanzen im engeren Sinn wird damit aber noch keine spezifische Handlungsweise vorgeschrieben. Vgl. Helmut E. Lück: Die Feldtheorie und Kurt Lewin. Eine Einführung, Weinheim: Beltz 1996, S. 44-46.

4. Verkörperungen des Smartphones

werden, andere Orientierungspunkte für die Bewegung im urbanen Raum wählen. Sehenswürdigkeiten sind für das mit Smartphone bewehrte Individuum nicht einfach nur sichtbar, sondern auch potenziell fotografierbar, Ereignisse nicht bloß erlebbar, sondern auch im Rahmen eines Postings in Social Networks kommunikativ verwertbar.82 Eine Steckdose wird erst dann zu einem begehrten Element der Infrastruktur, wenn der Smartphone-Akku schwächelt. Eine solche Verwendung mag den Begriff der Affordanzen recht weit dehnen, es kommt mir an dieser Stelle allerdings auf die Veränderung dessen an, was gemeinhin zu den körperlichen oder kommunikativen Vermögen des Subjekts gerechnet wird. Das Smartphone-Subjekt nimmt schlicht andere Affordanzen wahr, es befindet sich in einem anderen Verhältnis der Komplementarität – oder auch in einem Missverhältnis – zu seiner Umgebung. Schließlich, viertens, kann man annehmen, dass Smartphones eigene Affordanzen in Bezug auf Objekte oder Akteure in ihrer Umwelt haben. Hiermit ist eine medienökologische Öffnung der Perspektive impliziert.83 Wie ist das zu verstehen? Insofern Smartphonenutzer kraft ihrer Kopplung mit dem Gerät/Apparat selbst an ein Netzwerk angeschlossen werden, das sich weit über den nahkörperlichen Handlungsradius hinaus erstreckt, werden sie auch Gegenstand weiterer Kopplungen. Wie ein herkömmliches Mobiltelefon lässt das Smartphone seinen Besitzer erreichbar werden. Unabhängig von Situation und Stimmung kann er damit zum Adressaten von Kommunikation werden.84 Ein Smartphone ist darüber hinaus prinzipiell jederzeit 82  | Vgl. Nathan Jurgenson: »The Facebook Eye«, auf: The Atlantic, dort datiert

am 13.1.2012, http://www.theatlantic.com/technology/archive/2012/01/the-facebook-eye/251377/, zul. aufgeruf. am 2.2.2017: »For those who use Facebook, whose friends are on the site and logging in many times a day, we have come to experience the world differently. We are increasingly aware of how our lives will look as a Facebook photo, status update or check-in.« Vgl. in diesem Sinne auch Cooley: Finding Augusta, S. 45, wo eine Tendenz zu spontanen – d. h. kaum reflektierten – Praktiken der Dokumentierung und Inszenierung im Zusammenhang mit Smartphone-Kameras beobachtet wird. Cooley entwickelt diese Perspektive auf eine »inter-action of conscious choices, nonconscious habits, and technological mediations« ebd, S. 53-77. 83   |  Vgl. für eine Entfaltung dieser Perspektive, die das Gibson’sche Modell dynamisiert und machtanalytisch erweitert Matthew Fuller: Media Ecologies. Materialist Energies in Art and Technoculture, Cambridge, Mass./London: MIT Press 2007, S. 45-47. Zum ökologischen Rückraum des Smartphone-Gebrauchs vgl. Kapitel 5 dieser Arbeit. 84  | Vgl. für die Ausdehnung der Macht des kommunikativen Appells in den Raum der medial vermittelten Kommunikation Erika Linz/Katharine S. Willis: »Mobile Ko-Präsenz. Anwesenheit und räumliche Situierung in mobilen und webbasierten Kommunikationstechnologien«, in: Annika Richterich/Gabriele Schabacher (Hg.), Raum als Interface, Siegen: universi 2011, S. 145-162, hier S. 150-153.

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lokalisierbar, d. h. seine Position kann von einem entfernten Ort aus im Triangulationsverfahren oder per GPS ermittelt werden. Es macht die habitualisierten Alltagshandlungen des Besitzers nach bestimmten Kriterien berechenbar und tendenziell prognostizierbar, sodass entsprechende Informationsdienste, aber auch Werbeangebote iterativ verbessert werden können. Die umfangreiche Sensorik der Geräte führt zu einem unabhängig vom Besitzer stattfindenden Datenverkehr mit der Umgebung, dessen Ausmaße und Implikationen schwer zu überschauen sind. Das Smartphone ist grundsätzlich in andere Passungsverhältnisse mit der Umwelt eingebettet als sein Besitzer.

4.1.3 Zwischenfazit Das Konzept der Affordanzen ist also dazu geeignet, einerseits sehr lokale und ›innige‹ Kopplungen zwischen Körpern und Objekten in der Dimension des Mediengebrauchs und auf der Ebene von Interfaces zu beschreiben.85 Andererseits bietet es sich auch dazu an, über die Einbettung des Smartphone-Subjekts in informationsgesättigte Umwelten nachzudenken, deren Affordanzen gegenüber denen des smartphonelosen Körpers abweichen. Besonders deutlich wird dies in der Begleitrhetorik zu Augmented Reality-Technologien, die angesichts einer Environmentalisierung digitaler Information auf die demgegenüber defizitär gewordene menschliche Sinnesausstattung sowie die bislang unzureichende medientechnische Bearbeitung des Notstands hinweist: We’ve evolved over millions of years to sense the world around us. When we encounter something, someone or some place, we use our five natural senses to perceive information about it; that information helps us make decisions and chose [sic!] the right actions to take. But arguably the most useful information that can help us make the right decision is not naturally perceivable with our five senses, namely the data, information and knowledge that mankind has accumulated about everything and which is increasingly all available online. Although the miniaturization of computing devices allows us to carry computers in our pockets, keeping us continually connected to the digital world, there is no link between our digital devices and our interactions with the physical world. Information is confined traditionally on paper or digitally on a screen.

85  | Für den Gedanken der Passung mit Bezug auf das Verhältnis von Hand und

»mobile screenic device« vgl. ausführlich Heidi Rae Cooley: »It’s All About the Fit. The Hand, the Mobile Screenic Device and Tactile Vision«, in: Journal of Visual Culture 3/2 (2004), S. 133-155. Hier ist etwas harmonisierend die Rede von einer taktil befriedigenden ›Ineinanderfaltung‹ von Hand und Apparat: » [E]ffectively, the hand and the device undergo a ›becoming one‹«. (Ebd., S. 137) Gleichzeitig wird darauf verwiesen, dass die Herstellung dieses Passungsverhältnisses Aufgabe des industriellen Designs sei.

4. Verkörperungen des Smartphones SixthSense bridges this gap, bringing intangible, digital information out into the tangible world, and allowing us to interact with this information via natural hand gestures. ›SixthSense‹ frees information from its confines by seamlessly integrating it with reality, and thus making the entire world your computer. 86

Die Diagnose beschreibt eine Welt, deren lebenspraktisch entscheidende Affordanzen nicht mehr vorrangig von Menschen, sondern von technischen Objekten wahrgenommen werden (können). Die Lösung des Problems – zumindest aus Sicht der Designer – scheint in einer immer engeren Kopplung an die Apparate zu liegen, sodass diese schließlich zum selbstverständlichen Bestandteil des Sinneshaushalts avancieren können. Zur Debatte steht hier ganz designpragmatisch die epiphylogenetische Weiterentwicklung des Menschen mit technischen Mitteln, die von Autoren wie André Leroi-Gourhan, Bernard Stiegler und Mark N. Hansen als medienanthropologischer Prozess der Technogenese beschrieben worden ist, der bis in die Prähistorie zurückreicht.87 Zwar wird die Existenz von Affordanzen als invariant beschrieben, ihre Wahrnehmung sei aber durchaus kultur- und erfahrungsabhängig.88 Daher sollte bei der Analyse digitaler Nahkörpertechnologien stets berücksichtigt werden, wie der soziokulturelle Kontext die implizit nahegelegten Verwendungsweisen eines gegebenen technischen Artefakts mitprägt.89 Entsprechend hat es Versuche zu einer (medien)soziologischen Einbettung des Affordanzenkonzepts gegeben, womit das »wechselseitige Bedingungs- und Ermöglichungsverhältnis von technischen Gege86  | Projektbeschreibung von http://www.pranavmistry.com/projects/sixthsen-

se/, zul. aufgeruf. am 2.2.2017. 87  | Vgl. André Leroi-Gourhan: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988 [frz. OA 1964], Bernard Stiegler: Technik und Zeit 1. Der Fehler des Epimetheus, Zürich/Berlin: Diaphanes 2009 [frz. OA 1994] und Mark B. N. Hansen: Bodies in Code. Interfaces with Digital Media, New York: Routledge 2006, S. 61. 88  | Vgl. McGrenere/Ho: »Affordances«, S. 180. Für eine Erweiterung des Affordanzen-Ansatzes in Hinsicht auf kulturell geprägte Verhaltensweisen vgl. auch Harry Heft: »Affordances and the Body. An Intentional Analysis of Gibson’s Ecological Approach to Visual Perception«, in: Journal for the Theory of Social Behaviour 19/1 (1989), S. 1-30. Scott W. Ruston: »Calling Ahead. Cinematic Imaginations of Mo-bile Media’s Critical Affordances«, in: Noah Arceneaux/Anandam P. Kavoori (Hg.), The Mobile Media Reader, New York: Peter Lang 2012, S. 23-39 dagegen scheint mit dem (verkürzten) Verweis auf Affordanzen eher die problematische Frage nach dem kontextfrei bestimmbaren ›Wesen‹ mobiler Medien zu verfolgen (analog zur ›Liveness‹ als Essenz des Mediums Fernsehen) und findet dieses in fünf kritischen Affordanzen, die er »ubiquity«, »portability«, »personality«, »connectivity« und »locativity« nennt. (Ebd., S. 24f.) 89  | Vgl. Gaver: »Technology Affordances«, S. 81.

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benheiten und sich einspielenden Nutzungspraktiken«90 beschrieben werden kann. Damit ist auch impliziert, dass das Management und die Kontrolle von Affordanzen in technologisch gesättigten Environments sich zu einem zentralen Akt der Regierung (im Sinne von Governance) entwickelt haben. Sowohl über das materielle Design digitaler Nahkörpertechnologien selbst als auch über die Gestaltung von medientechnologischen, ›smarten‹ Environments mitsamt ihrer Affordanzen können Anbieter von Produkten und Dienstleistungen, staatliche Institutionen und andere Akteure Einfluss nehmen auf wahrscheinliches und erwartbares Verhalten. Felix Stalder beispielsweise sieht einen Zusammenhang zwischen den soziotechnischen Steuerungsfantasien der Kybernetik und der algorithmischen Gestaltung der Informationsumgebungen der »kommerziellen sozialen Massenmedien« in genau diesem environmentalen Verständnis von Macht, die weniger über direkte Beeinflussung agiere als über die Gestaltung von Umgebungen: »Der Boden der Tatsachen wird leicht schräg gestellt und damit die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass die Faktizität der nun veränderten Tatsachen, als gesteuerte soziale Schwerkraft, in eine bestimmte Richtung wirkt.«91 Affordanzen können Prozesse der Verzeitlichung sowie Verkettungen von Handlungen allerdings nur bedingt erklären, auch wenn Vorschläge in dieser Richtung vorliegen.92 Eine weitere Lücke im Affordanzen-Konzept ist die fehlende qualitative Dimension: Affordanzen sind entweder vorhanden oder nicht, es fehlt an einem Vokabular zu ihrer Differenzierung (beispielsweise nach dem Schwierigkeitsgrad der verknüpften Handlung).93 Für eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Medienwissenschaft bietet es sich daher an, zur Beschreibung der historisch und kulturell differenten Praktiken des Umgangs mit körpernahen Medientechniken auf das Konzept der Körpertechniken zurückzugreifen. Hierbei geht es weniger um das ›Was‹ als um das ›Wie‹ der Praxis – und um die Frage nach der Prägung individueller und sozialer Verhaltensweisen durch die je historisch zur Verfügung stehenden technischen Medien.

90  | Nicole Zillien: »Die (Wieder-)Entdeckung der Medien. Das Affordanzkon-

zept in der Mediensoziologie«, in: Sociologia Internationalis 46/2 (2008), S. 161181, hier S. 177f. Hier werden auch entsprechende Ansätze zur Weiterentwicklung des Affordanzenkonzepts im angelsächsischen Raum zusammenfassend dargestellt. 91  | Felix Stalder: Kultur der Digitalität, Berlin: Suhrkamp 2016, S. 225f. 92  | Vgl. Gaver: »Technology Affordances«, S. 81f. mit einem Ansatz von »sequential affordances«, die sich erst durch exploratives Handeln erschließen und dadurch auch für die Beschreibung komplexerer Operationsketten geeignet sein sollen. 93  | Vgl. McGrenere/Ho: »Affordances«, S. 181.

4. Verkörperungen des Smartphones

4.2 Körpertechniken – R hythmen von M ensch

und

M aschine

Das gestische Repertoire zur Bedienung von Smartphone-Touchscreens – das charakteristische Wischen, die aus Karten-Apps bekannte Pinch & Zoom-Geste, das rasche Antippen, die mit drei Fingern ausgeführte Kreiselbewegung – verdiente es, in das von Claude Lévi-Strauss vorgeschlagene Internationale Archiv der Körpertechniken aufgenommen zu werden.94 Es handelt sich hierbei um Einsatzmöglichkeiten des eigenen Körpers – in diesem Fall der Hand –, die sich in einem engen Wechselverhältnis mit medientechnischen Affordanzen ausdifferenziert haben. Schon das klassische Handy galt als »Hauptrequisit neuer Körpergesten«95 und als zentrales Gadget einer »Daumenkultur«.96 Entlang der sich wandelnden körpernahen Medientechniken ließe sich eine Geschichte der Genese, Transformation und Ablösung von motorischen Schemata und habitualisierten Verhaltensweisen erzählen, die so noch kaum in Angriff genommen wurde. Ansätze dazu finden sich in jüngerer Zeit u. a. in Heike Webers technikhistorischer Beschreibung des Wandels von Bediengesten von Alltagstechnik sowie in Till A. Heilmanns Vorschlag, das Tastendrücken als zentrale Kulturtechnik der digitalen Epoche zu begreifen.97 Die gestische Ökologie des Smartphones erschöpft sich 94  | Vgl. Claude Lévi-Strauss: »Einleitung in das Werk von Marcel Mauss«, in:

Marcel Mauss: Soziologie und Anthropologie. Band I. Theorie der Magie – Soziale Morphologie, München: Carl Hanser 1974 [frz. OA 1950], S. 7-41, hier S. 10. 95  | Heike Weber: »Zwischen ›Connectivity‹ und ›Cocooning‹. Choreographien und Inszenierungen am Medienportable«, in: Josef Bairlein/Christopher Balme/ Jörg von Brincken/Wolf-Dieter Ernst/Meike Wagner (Hg.), Netzkulturen. Kollektiv, kreativ, performativ, München: epodium 2011, S. 215-229, hier S. 222. 96  | Vgl. den gleichnamigen Sammelband Peter Glotz (Hg.), Daumenkultur. Das Mobiltelefon in der Gesellschaft, Bielefeld: transcript 2006. Auf die zahlreichen von Körperteilen inspirierten Bezeichnungen persönlicher Nahkörpertechnologien ist in Kapitel 2.1 bereits hingewiesen worden. Nur in dieser körpertechnischen Hinsicht ließe sich Michel Serres’ ansonsten idealisierend-paternalistischer Rede von den ›Kleinen Däumlingen‹ als Generationenbezeichnung der sogenannten ›Digital Natives‹ ein analytischer Gewinn abringen. Vgl. Michel Serres: Erfindet euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2013 [frz. OA 2012]. 97  | Vgl. Heike Weber: »Stecken, Drehen, Drücken. Interfaces von Alltagstechniken und ihre Bediengesten«, in: Technikgeschichte 76/3 (2009), S. 233-254, Dies.: »Prestidigitations. Interfacing with Palm-Sized Media Gadgets«, in: Tijdschrift voor Mediageschiedenis 11/2 (2008), S. 45-60, Till A. Heilmann: »Digitalität als Taktilität. McLuhan, der Computer und die Taste«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 3/2 (2010), S. 125-134 und Ders.: »But-

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allerdings nicht im Taktilen und den korrespondierenden Körperhaltungen bei der Gerätebedienung. Sie betrifft in einem umfassenderen Sinn Fragen der räumlichen Orientierung und der Mobilität. Im Folgenden soll geprüft werden, inwiefern sich der Begriff der Körpertechniken für eine medienanthropologische Beschreibung von Verkörperungsprozessen des Smartphones eignet.

4.2.1 Körpertechniken: Konzept Der von dem französischen Anthropologen Marcel Mauss (1872-1950) in einem 1934 vor der Société de Psychologie gehaltenen Vortrag eingeführte Begriff der Körpertechniken zielte auf eine Taxonomie der »Weisen, in der sich die Menschen in der einen wie der anderen Gesellschaft traditionsgemäß ihres Körpers bedienen«.98 Mauss ging dabei davon aus, dass Körpertechniken »das erste und natürlichste Instrument des Menschen«99 seien. »Oder genauer gesagt, ohne von Instrument zu sprechen, das erste und natürlichste technische Objekt und gleichzeitig technische Mittel des Menschen ist sein Körper.«100 Die im historischen Kontext radikale These lautete also, dass es keinen universell-natürlichen Gebrauch des Körpers gebe, sondern dass der Einsatz des eigenen Körpers stets kulturell vorgeprägt sei. Wenn Mauss im Gehen von Pariser Krankenschwestern die über das Kino exportierte Gangart von Amerikanerinnen wiedererkennt, wird dieser Umstand einsichtig. Mauss pointierte: »[V] ielleicht gibt es beim Erwachsenen gar keine ›natürliche Art‹ zu gehen. Dies gilt um so mehr, wenn andere technische Mittel hinzukommen.«101 Als Beispiele für Körtons and Fingers. Our ›Digital Condition‹«, Vortrag, Media in Transition  7, »Unstable Platforms: the Promise and Perils of Transition«, Massachusetts Institute of Technology, Cambridge, Mass., 15.5.2011, online unter http://www. tillheilmann.info/mit7.php, zul. aufgeruf. am 6.2.2017. Vgl. außerdem das seit 2011 erscheinende multidisziplinäre Journal Somatechnics, das sich den Wechselwirkungen von Verkörperungsprozessen und technologischen Umwelten widmet. »The term ›somatechnics‹ indicates an approach to corporeality which considers it as always already bound up with a variety of technologies, techniques and technics, thus enabling an examination of the lived experiences engendered within a given context, and the effects that technologies, technés and techniques have on embodiment, subjectivity and sociality.« (http://www.euppublishing.com/loi/soma, zul. aufgeruf. am 6.2.2017) 98  | Marcel Mauss: »Die Techniken des Körpers«, in: Ders.: Soziologie und Anthropologie. Band II. Gabentausch ; Soziologie und Psychologie ; Todesvorstellungen ; Körpertechniken ; Begriff der Person, München: Carl Hanser 1997 [frz. OA 1973], S. 197-220, hier S. 199. 99  | Ebd., S. 206. 100  | Ebd. 101  | Ebd., S. 203. Dazu Geoffrey Winthrop-Young: »Cultural Techniques. Preliminary Remarks«, in: Theory, Culture & Society 30/6 (2013), S. 3-19, hier S.

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pertechniken werden unter anderem das Schwimmen, Tanzen, die Gangarten beim militärischen Marschieren, das Essen, sexuelle Praktiken, die Körperpflege und die Jagd genannt. Mauss bezieht sich in seiner Verwendung des Attributs ›technisch‹ auf das antike Konzept der techné, also die erlernte und tradierte Kunstfertigkeit.102 Das deutsche Wort Technik wird dagegen meist mit gegenständlicher Technik assoziiert. Die englische Sprache erlaubt die Differenzierung in ›technology‹, ›technique‹ und ›technics‹, womit u. a. Geräte, Infrastrukturen, Fertigkeiten und Prozeduren adressiert werden können.103 Der Vorteil des umfassenderen Technikbegriffs im Deutschen liegt allerdings darin, Heterogenes vergleichbar zu machen und gerade auf die medienhistorisch zu beleuchtende Verflochtenheit von Skills und Technologies aufmerksam zu machen. Mauss’ Überlegungen wurden im Kontext der Kulturtechnikforschung aufgegriffen, die einen gegenwärtigen Schwerpunkt medienwissenschaftlicher Theoriebildung darstellt. Der überwiegend im deutschsprachigen Raum verbreiteten Kulturtechnikforschung geht es um die Erfassung und Beschreibung von »Praktiken und Verfahren der Erzeugung von Kultur«104, d. h. um basale Operationen, die erst auf einer übergeordneten Organisationsebene Artefakte und kulturelle Abstraktionsleistungen hervorbringen. Abzugrenzen ist diese überwiegend historisch ausgerichtete Forschung von älteren Verwendungen des Begriffs innerhalb eines pädagogischen Diskurses, in dem er vor allem die Vermittlung ›elementarer Kulturtechniken‹ wie Lesen, Schreiben und Rechnen sowie Kompetenzen im Umgang mit Medien bezeichnete.105 Die Frage nach Kulturtechniken im neueren Wortgebrauch zielt dagegen auf eine Beschreibung der Verkettungen von Operationen und Techniken, die erst im Vollzug kulturelle Akteure und Artefakte – darunter bestimmte Subjekte und bestimmte Objekte – hervorbringen, diesen also systematisch vorgängig sind. Erst die Reifikationen geben dann häufig Anlass zu ontologisch-essenzialisierenden Distinktionen, wie beispielsweise der Unterscheidung von Tier und Mensch. Wie Bernhard Siegert gezeigt hat, lässt sich diese anthropologisch fundamentale Differenzierung auf die Kulturtechnik des Errichtens von Gattern zurückführen.106 Das Konzept der Körpertechniken stellt einen wichtigen Ausgangspunkt der aktuellen Kulturtechnikforschung dar. Der Status der Körpertechniken im Verhältnis

8: »Walking is not just a matter of physiology, gravity and kinetics, it involves chains of operations that link ambulatory abilities to cultural protocols.« 102  | Vgl. Mauss: »Die Techniken des Körpers«, S. 205. 103  | Vgl. Winthrop-Young: »Cultural Techniques«, S. 14f. 104  | Harun Maye: »Medien und Kulturtechniken«, in: Jens Schröter (Hg.), Handbuch Medienwissenschaft, Stuttgart: Metzler 2014, S. 174-178, hier S. 175. 105  | Vgl. Winthrop-Young: »Cultural Techniques«, S. 3-5. 106  | Vgl. Bernhard Siegert: »Türen. Zur Materialität des Symbolischen«, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 1 (2010), S. 151-181, hier S. 152-154.

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zu den Kulturtechniken ist jedoch nicht eindeutig geklärt.107 Unter anderem wird die starke These vertreten, Kulturtechniken seien als habitualisiertes Können aus primären Körpertechniken ableitbar.108 Mauss’ Ausführungen legen eine solche Lesart nahe, wenn er eine Vorgängigkeit der Körpertechniken vor dem Gebrauch anderer Instrumente behauptet: »Vor den Techniken mit Instrumenten steht die Gesamtheit der Techniken des Körpers.«109 (Körperliche) Praktiken bilden jedenfalls weiterhin einen Kerngegenstand der Kulturtechnikforschung, die letztlich verspricht […], vor die Reifizierung von Apparaten und Substantiven zurückzugreifen, um einen Zugriff auf die Verben und Operationen zu ermöglichen, aus denen die Substantive und Artefakte erst hervorgegangen sind: schreiben, malen, rechnen, musizieren und viele andere.110

Die Betonung von Materialiäten, Körpern und Praktiken richtet sich programmatisch gegen einen Typ von Kulturwissenschaft, der im Anschluss an den Linguistic Turn die sprachliche Verfasstheit von Kultur und damit verbunden ihren textuellen Charakter überbetont hatte.111 107  | Vgl. Harun Maye: »Was ist eine Kulturtechnik?«, in: Zeitschrift für Medienund Kulturforschung 1 (2010), S. 121-135, hier S. 122f., der zu dem vorläufigen Ergebnis kommt: »Sicher ist nur, dass technische Medien und Körpertechniken in der Praxis untrennbar verschmolzen sind, denn erst deren Verbindung ermöglicht Handlungsmacht und Wirksamkeit.« (Ebd., S. 123) 108  | Vgl. Sibylle Krämer/Horst Bredekamp: »Kultur, Technik, Kulturtechnik. Wider die Diskursivierung der Kultur«, in: Dies. (Hg.), Bild, Schrift, Zahl, München: Fink 2003, S. 11-22, hier S. 18, die darauf hinweisen, dass Kulturtechniken generell »als ein körperlich habitualisiertes und routinisiertes Können aufzufassen sind, das in alltäglichen, fluiden Praktiken wirksam wird«. Das trifft sogar auf die sogenannten elementaren Kulturtechniken der Pädagogik zu: »Schreiben, Lesen und Rechnen sind techniques du corps, Körper-Objekt-Techniken, keine bloßen Geistestechniken. Sie sind Abrichtungen des gelehrigen Körpers, die immer schon vermengt sind mit Zählsteinen, Schreibflächen, Instrumenten, Tastaturen und anderen Medientechniken.« (Lorenz Engell/Bernhard Siegert: »Editorial«, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 1 (2013), S. 5-10, hier S. 8) 109  | Mauss: »Die Techniken des Körpers«, S. 206. 110  | Erhard Schüttpelz: »Die medienanthropologische Kehre der Kulturtechniken«, in: Lorenz Engell/Bernhard Siegert/Joseph Vogl (Hg.), Kulturgeschichte als Mediengeschichte (oder vice versa?), Weimar: Universitäts-Verlag 2006, S. 87-110, hier S. 87. Vgl. in diesem Sinne auch Krämer/Bredekamp: »Kultur, Technik, Kulturtechnik«, S. 18. 111  | Vgl. ebd., S. 11 zur »semiologisch-strukturalistische[n] Maxime« der Kulturtheorie. In dieser Diagnose trifft sich die Kulturtechnikforschung mit den Prä-

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Erhard Schüttpelz, auf dessen Mauss-Lektüre ich im Folgenden etwas genauer eingehen werde, stellt zunächst einen Konnex zwischen Kultur- und Körpertechniken her: Die Körpertechniken, das sind eine bestimmte Gruppe von Kulturtechniken: alle Techniken, die aus körperlichen Verrichtungen bestehen und dabei den Körper als primäres Objekt und als primäres Mittel der technischen Verrichtung behandeln.112

Körpertechniken haben laut Mauss biologische, psychologische und soziale Komponenten – sie lassen sich keineswegs rein anatomisch erklären.113 Kulturelle Lernprozesse spielen eine wesentliche Rolle dabei, wie der eigene Körper zum Einsatz gebracht wird. Mauss spricht an dieser Stelle von der »sozialen Natur des ›habitus‹«114, womit er betonen möchte, dass es nicht um rein individuelle Praktiken der Nachahmung gehe. Stattdessen sei – wie Schüttpelz in seiner Diskussion des Ansatzes betont – zunächst von einer bewusst verlaufenden Aneignung und Vermittlung von Körpertechniken auszugehen, die vor allem in der Erziehung erfolge.115 Mauss schreibt zur gesellschaftlichen Funktion von Körpertechniken: Die Techniken des Körpers können nach ihrer Leistung, nach den Resultaten der Dressur klassifiziert werden. Die Dressur ist, wie beim Bau einer Maschine, das Streben nach oder der Erhalt einer Leistung. Hier handelt es sich um menschliche Leistung. Diese Techniken sind also die menschlichen Normen der menschlichen Dressur. Diese Vorgehensweisen, die wir bei Tieren anwenden, haben die Menschen freiwillig auf sich und ihre Kinder angewandt. Sie sind wahrscheinlich die ersten Wesen, die so dressiert wurden, noch vor allen Tieren, die zunächst erst gezähmt werden mußten.116

»Vor jeder Domestizierung geschah die Selbstdomestizierung der Menschen«117, fasst Schüttpelz zusammen. Mit diesen Formulierungen ist bereits angedeutet, dass es bei Körpertechniken auch immer um Fragen von Macht, Prestige, sozialer Kontrolle und Normierung geht. Körpertechniken können also als Zumutungen an die singulären Körper verstanden werden, als soziale Erwartungen, die – wie im soldamissen des New Materialism, wenn auch das Forschungsprogramm sich sehr unterschiedlich gestaltet. 112  | Erhard Schüttpelz: »Körpertechniken«, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 1 (2010), S. 101-120, hier S. 108. 113  | Vgl. Mauss: »Die Techniken des Körpers«, S. 202f. 114  | Ebd., S. 202. 115  | Vgl. Schüttpelz: »Körpertechniken«, S. 110. 116  | Mauss: »Die Techniken des Körpers«, S. 208. 117  | Schüttpelz: »Körpertechniken«, S. 106.

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tischen Drill oder im angemessenen Verhalten in einem bestimmten Milieu – an die Körper herangetragen werden und diese einem Akt der Zurichtung unterwerfen.118 Schüttpelz spricht von einer wiederkehrenden »Zerreißprobe zwischen sozialem Imperativ und körperlichem Ungenügen«119, der sich die Subjekte ausgesetzt sähen. Schüttpelz weist außerdem darauf hin, dass Körpertechniken integral sind für die Konstitution einer sozial adressierbaren Person: Wir sind an bestimmte Körpertechniken gebunden, um uns als soziale Personen wiedererkennen und stabilisieren zu können; und wenn wir auf sie dauerhaft verzichten müssen oder wollen, müssen wir uns als soziale Personen neu definieren.120

Viele Körpertechniken schließen technische Artefakte ein. Der Technikhistoriker Edward Tenner liefert historische Beschreibungen einer ganzen Reihe von Körpertechniken, wobei der Gedanke einer Koevolution von Körpern mit den jeweils verwendeten technischen Artefakten – Schuhen, Brillen, Stühlen, Schreibmaterialien, Helmen, Tastaturen, usw. – betont wird: »When we use simple devices to move, position, extend, or protect our bodies, our techniques change both objects and bodies. And by adopting devices we do more. We change our social selves«.121 Insofern Körpertechniken also zentral an der Konstitution dessen beteiligt sind, was sich in sozialen Zusammenhängen als Person ansprechen lässt, gewinnen die an ihnen beteiligten Artefakte eine unerwartete Bedeutung als Subjektivierungsinstanzen. Für Schüttpelz ist der Begriff der Körpertechniken geeignet, eine ganzheitlichere 118  | Michel Foucault hat die Geschichte der Disziplinen als »Mikrophysik der

Macht« über die Körper für das 18. und 19. Jahrhundert geschrieben. Vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977 [frz. OA 1975]. Pierre Bourdieu dagegen baute das Konzept des Habitus zu einer soziologischen Theorie aus, die sich um die subtilen Differenzierungen dreht, die über Körperhaltung, Gesten und Verhaltensweisen kommuniziert werden. Vgl. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2013 [frz. OA 1979]. Hannelore Bublitz: »Täuschend natürlich. Zur Dynamik gesellschaftlicher Automatismen, ihrer Ereignishaftigkeit und strukturbildenden Kraft«, in: Dies. et al., Automatismen, S. 153-171 verfolgt die Genealogie von Foucaults Begriff der Disziplin und Bourdieus Habituskonzept zurück zu den Körpertechniken. 119  | Schüttpelz: »Körpertechniken«, S. 107. 120  | Schüttpelz: »Die medienanthropologische Kehre«, S. 112. Vgl. in dieser Hinsicht auch Marcel Mauss: »Eine Kategorie des menschlichen Geistes: Der Begriff der Person und des ›Ich‹«, in: Ders.: Soziologie und Anthropologie. Band II, S. 221-252. 121  | Edward Tenner: Our Own Devices. How Technology Remakes Humanity, New York: Vintage 2004, S. 29.

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Betrachtung kultureller Prozesse zu erlauben, die diese nicht erst in artifizielle Bestandteile des Somatischen, Geistigen und Sozialen zerlegt. Hier folgt Schüttpelz Bruno Latours Plädoyer für eine nicht-moderne Betrachtungsweise, die hinter etablierte Differenzierungen, Kategorien und Binarismen zurückgeht.122 In dieser Lesart sind Körpertechniken Medien, verstanden als integrativer Zusammenhang von Zeichentechniken, Ritualtechniken und materiellen Techniken.123 Auf der Ebene der techné sind Personen, Dinge und Zeichen miteinander verschmolzen. Schüttpelz verweist in diesem Kontext auf die häufige Unangemessenheit von Praktiken der Musealisierung: Hier würden historische Körpertechniken in ihre Bestandteile zerlegt, sodass kein Durchblick auf die tatsächlichen Zusammenhänge mehr möglich sei.124 Insbesondere bietet sich der Begriff der Körpertechniken dazu an, den Körper involvierende Praktiken in ihren temporalen Rhythmen zu erfassen. Mauss beschrieb ausführlich die Zyklen, nach denen Körpertechniken klassifiziert werden könnten, darunter erstens den Lebenszyklus vom Geborenwerden, über Kindheit, Adoleszenz, das Erwachsenwerden, bis zum Altern und Sterben, aber auch zweitens die Tageszyklen mitsamt ihrer spezifischen Verrichtungen.125 In diesen Rhythmen verortet und vollzieht sich ein Selbst – und genau hier zeigt sich auch die Besonderheit von körpernahen Technologien wie dem Smartphone. Im Gegensatz zur eher räumlich orientierten Betrachtung von Affordanzen erlaubt eine Untersuchung von Körpertechniken eine explizite Berücksichtigung der zeitlichen Dimension kultureller Praktiken, die sich unter anderem an rhythmisiert wiederholten Abläufen festmachen lässt.

4.2.2 Körpertechniken des Smartphonegebrauchs Smartphones schmiegen sich gleichermaßen an die Körper wie an die alltäglichen Praktiken an, auch an jene, die zunächst wenig mit dem Mediengebrauch im engeren Sinn zu tun zu haben scheinen. Für eine Beschreibung der dabei stattfindenden Überlagerung physiologischer, technischer, sozialer und ökonomischer Prozesse bietet sich das Konzept der Körpertechniken prinzipiell an. Im Folgenden mache ich zunächst 122  | Vgl. Schüttpelz: »Körpertechniken«, S. 116-120. 123  | Vgl. Schüttpelz: »Die medienanthropologische Kehre«, S. 96-100. 124  | Vgl. Schüttpelz: »Körpertechniken«, S. 117. Vgl. auch John Tresch: »Technological World-Pictures. Cosmic Things, Cosmograms«, in: Isis 98 (2007), S. 84-99, hier S. 84, der in einem Gedankenexperiment darüber sinniert, welche Objekte der materiellen Kultur der zeitgenössischen USA wohl in einem ethnologischen Museum der Zukunft Platz finden würden. Das »cellphone« gehört wie zu erwarten dazu, und doch fällt auf, wie wenig aussagekräftig das materielle Objekt an sich ist: Weder die zu seiner Verwendung notwendigen Netzinfrastrukturen, die darauf laufende Software, die zu seiner Herstellung erforderlichen Patente noch der ganze Bereich der damit verbundenen menschlichen Praktiken gerät in den Blick, wenn man das Artefakt isoliert betrachtet. 125  | Vgl. Mauss: »Die Techniken des Körpers«, S. 210-217.

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einen systematischen Vorschlag, auf welchen Ebenen man die zeitliche Dimension von Körpertechniken des Smartphonegebrauchs differenzieren kann. Im Anschluss werden zwei Beispiele diskutiert: Zunächst gehe ich auf veränderte Körpertechniken des Gehens in der Stadt ein. Anschließend werden Zusammenhänge zwischen dem Schlafverhalten in westlichen Gesellschaften und der Nutzung digitaler Nahkörpertechnologien untersucht. In diesem Kapitel wird anders als im Kapitel zu Affordanzen und zum Körperschema anhand von Beispielen argumentiert, weil eine solche Vorgehensweise der Heterogenität der als Körpertechniken beschreibbaren Praktiken am ehesten gerecht wird. Mobile Computertechnologien haben einen Einfluss auf die soziale Konstruktion von Zeit und Raum, weil sie Formen der Konnektivität und Kooperation erlauben, die als Flexibilisierung gegenüber klassischen Regimen der Organisation von Zeit und Raum aufgefasst werden können.126 Nicola Green differenziert in einem Versuch der Makrostrukturierung drei Ebenen, die für ein Verständnis der Temporalisierungsprozesse mobiler Medien erforderlich sind: the rhythms of activity with mobile devices; the rhythms of incorporating mobile devices into everyday temporal organization; and the rhythms that organize the relationbetween everyday life and wider sociocultural change.127

Dieses Raster bietet sich auch für eine Frage nach den Körpertechniken als analytische Rahmung an, mittels derer sich zeitliche Dynamiken verschiedener Skalierung thematisieren lassen, die sich im Gebrauch digitaler Nahkörpertechnologien ständig überlagern. Das erste zeitliche Register betrifft die temporale Mikrokoordination von kommunikativen Akten und Interaktionen mit dem Gerät, also konkrete Praktiken des Mediengebrauchs. Hier sind Körpertechniken im engsten Sinn gefragt, beispielsweise Fingerfertigkeit bei der Bedienung des Interfaces, aber auch bestimmte Positionierungen des Körpers im Verhältnis zu anderen Menschen oder Objekten in der Umgebung während der Nutzung. Gleichzeitig ist diese Ebene von Habitualisierungen durchzogen, was sich am Beispiel der sogenannten »checking habits« veranschaulichen lässt.128 Darunter werden halbbewusst ausgeführte Kontrollgesten des Stand126  | Vgl. Rich Ling/Scott W. Campbell (Hg.), The Reconstruction of Space and Time. Mobile Communication Practices, New Brunswick, NJ: Transaction Publishers 2009 und Gerard Goggin/Rowan Wilken (Hg.), Mobile Technology and Place, New York/London: Routledge 2012. 127  | Nicola Green: »On the Move. Technology, Mobility, and the Mediation of Social Time and Space«, in: The Information Society 18/4 (2002), S. 281-292, hier S. 282. 128  | Vgl. Antti Oulasvirta/Tye Rattenbury/Lingyi Ma/Eeva Raita: »Habits Make Smartphone Use More Pervasive«, in: Personal and Ubiquitous Computing 16/1 (2012), S. 105-114.

4. Verkörperungen des Smartphones

by-Screens bzw. bestimmter Applikationen mit dynamischen Inhalten, z. B. Instant Mes-senger oder Social Networking Apps, verstanden. Aus Anbietersicht sind diese Habitualisierungen attraktiv, da sie durch eine entsprechende Gestaltung von Oberflächen mittelbar in Profite überführt werden können. Für Designer sind Gewohnheiten ein Ansatzpunkt, um die Anwender an neue Nutzungsweisen heranzuführen: The most interesting opportunity we predict is that checking habits may lead to more use overall, which can be intelligently leveraged to get users to try new things and adopt the device in richer ways to their everyday activities. Habits spur new uses.129

Auf der Ebene der beiläufig ausgeführten Gesten ergibt sich damit ein erhebliches Potenzial für gezielte Verhaltensanreize mittels des Interface-Designs. Bereits erlernte Bediengesten können zudem auf andere Anwendungen übertragen werden. Das zweite Zeitregister betrifft die Inkorporation digitaler Nahkörpertechnologien in die Texturen des Alltags. Der Alltag ist von Rhythmen strukturiert, von wiederkehrenden Abläufen, ritualisierten kleinen Gesten, von denen selten Abweichungen in Kauf genommen werden. Alltagsabläufe weisen eine erstaunliche Rigidität auf, die mit dem von Schüttpelz angesprochenen Aspekt der Selbstvergewisserung qua Praxis zu tun hat. Henri Lefebvre führt aus: Das Alltägliche setzt sich in seiner Trivialität aus Wiederholungen zusammen: Gesten in der Arbeit und außerhalb der Arbeit, mechanische Bewegungen (die der Hände und des Körpers, und auch die der Stücke und Vorrichtungen, Rotation oder Hin und Her), Stunden, Tage, Wochen, Monate, Jahre; lineare Wiederholungen und zyklische Zeiten der Natur und Zeiten der Rationalität, usw.130

An Nahkörpertechnologien kann man zudem eine Überlagerung unterschiedlicher Zeitregime festmachen. Das gilt bereits für die Armbanduhr, die eine überregional standardisierte Zeitstruktur lokal repräsentiert und zur Maßgabe sozialer Praktiken macht. Die in der Regel recht konservativen Rhythmen alltäglicher Praktiken werden hier mit anderen zeitlichen Logiken konfrontiert, was beim Smartphone in der Always On- und Anytime/Anywhere-Rhetorik der Werbesprache zum Ausdruck kommt.131 Insgesamt lässt sich eine Flexibilisierung und Dynamisierung von kommunikativer Adressierbarkeit beobachten, die gerade nicht an die Rhythmen des Alltags gebunden ist, sondern diese vielmehr derart umgestaltet, dass jederzeit mit der Aufnahme oder Fortsetzung von Kommunikationsakten gerechnet werden muss. 129  | Ebd., S. 113. 130  | Henri Lefebvre: Das Alltagsleben in der modernen Welt, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972 [frz. OA 1968], S. 31. 131  | Vgl. Green: »On the Move«, S. 287f.

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Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien

Das dritte Zeitregister, das für die Analyse digitaler Nahkörpertechnologien relevant ist, betrifft soziokulturelle, ökonomische und technologische Entwicklungen in einem umfassenderen Sinn. Green erläutert hierzu, dass es für die Praktiken der Mobilgerätenutzung nicht unwesentlich ist, wie die Produktentwicklungszyklen der Telekommunikationsunternehmen und Gerätehersteller verlaufen, wie und wann welche Frequenzen vergeben werden, welche Standards sich wann durchsetzen, wann Quartalsberichte für börsennotierte Medienkonzerne anfallen, etc.132 Diese Ebene bildet gleichsam den temporalen Horizont mobiler Medienpraktiken. Beispiel: Gehen mit dem Smartphone

Inge Baxmann, Timon Beyes und Claus Pias haben im Vorwort zur Publikation der Ergebnisse des zweiten medienwissenschaftlichen Symposiums der Deutschen Forschungsgemeinschaft programmatisch angeregt, neu über die »fundamentalen Forschungsfragen nach den Wahrnehmungsstilen, Körpertechniken und Wissensformen der digitalen Kultur«133 nachzudenken. Aus Sicht der Herausgeber des Bandes, den ich auch als Diskussionsbeitrag über eine mögliche künftige Ausrichtung des Fachs verstehe, läßt sich mit Blick auf die aktuelle Phase medientechnologischer Umrüstung über eine massenhafte Neukonfiguration von inkorporierten Techniken des Wissens spekulieren, die Körperwahrnehmung und die Art und Weise seines Gebrauchs (vom Laufen über die Sexualität, von den Körpertechniken der Arbeit bis zu den Einschlaftechniken) als soziale Erfahrung codieren.134

In der Klammer ist ein Forschungsprogramm anhand von beispielhaften Praktiken angedeutet: Welche Veränderungen lassen sich an den exemplarisch genannten Körpertechniken – Laufen, Sex, Arbeit, Schlafen – ausmachen, wenn davon ausgegangen wird, dass digitale Nahkörpertechnologien an ihnen beteiligt sind? Oder anders gefragt: Wie werden Smartphones in die genannten Praktiken integriert bzw. inkorporiert? Jeder der genannten Bereiche würde eine eigenständige Behandlung verdienen. Ich möchte im Folgenden beispielhaft für die Körpertechniken des Laufens bzw. Gehens und des Schlafens zeigen, wie eine Technologie wie das Smartphone in diese alltäglichen Praktiken einbezogen wird. Die These dabei ist, dass 132  | Vgl. ebd., S. 289f. 133  | Inge Baxmann/Timon Beyes/Claus Pias: »Ein Vorwort in zehn Thesen«, in:

Dies. (Hg.), Soziale Medien – Neue Massen, Zürich: Diaphanes 2014, S. 9-15, hier S. 14. Die Stelle lautet weiter: »Hier deutet sich ein erweitertes Verständnis von Körpertechniken an, die wiederum Wahrnehmungs- und Denkstile sowie Wissensformen prägen, deren Erschließung die vielleicht größte Herausforderung an die künftige Medienwissenschaft stellt.« 134  | Ebd., S. 15.

4. Verkörperungen des Smartphones

die seit Mitte der 2000er-Jahre ablaufende »medientechnologische[.] Umrüstung« von Körpertechniken diese auf eine neue Weise zur Disposition stellt und scheinbar private Aktivitäten zum Gegenstand sozialtechnischer, ökonomischer und technologischer Kalküle macht. Spätestens als im September 2014 die zentralchinesische Stadt Chongqing den ersten Gehweg für Smartphonenutzer eröffnet, ist klar, dass die Körpertechnik des Gehens sich im Wandel befindet.135 (Abb. 13) Auf den eigens markierten Spuren darf man sich ins Display vertieft langsamer fortbewegen als üblich und die Benutzung erfolgt auf eigene Gefahr, weil entgegenkommende Smartphone-Fußgänger erwartungsgemäß nur im Ausnahmefall beim Gehen den Blick von den Geräten lösen. In einem 2014 kursierenden Netzvideo mit dem Titel »Look Up« erinnert der britische Filmemacher und Poetry Slammer Gary Turk seine Generation an die vergessenen Freuden einer Offline-Existenz: So look up from your phone, shut down the display Take in your surroundings, make the most of today.136

Kurz: Das Gehen mit dem Smartphone in der Hand ist nicht bloß Anlass für verkehrstechnische Umgestaltungen, sondern auch zum kulturellen Topos geworden.137

135  | Vgl. Anonymus: »China testet den Smartphone-Bürgersteig«, auf: Der

Tagesspiegel, dort datiert am 16.9.2014, http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/handys-im-strassenverkehr-china-testet-den-smartphone-buergersteig/10709780.html, zul. aufgeruf. am 6.2.2017. Howard Rheingold machte bereits im Jahr 2000 in Tokyo die Beobachtung, dass Passanten auf die Bildschirme ihrer Mobiltelefone starren anstatt die Geräte zum Telefonieren zu verwenden. Diese Szene ist Ausgangspunkt seines Buchs Howard Rheingold: Smart Mobs. The Next Social Revolution, Cambridge, Mass.: Perseus 2002, S. xi. Zum Gehen als soziokultureller Praxis vgl. grundlegend Hayden Lorimer: »Walking. New Forms and Spaces for Studies of Pedestrianism«, in: Tim Cresswell (Hg.), Geographies of Mobilities. Practices, Spaces, Subjects, Farnham: Ashgate 2013, S. 19-33, aus anthropologisch-vergleichender Sicht Tim Ingold/ Jo Lee Vergunst (Hg.), Ways of Walking. Ethnography and Practice on Foot, Farnham: Ashgate 2012. 136  | »Look Up | Gary Turk – Official Video«, auf: YouTube.com, https://www.youtube.com/watch?v=Z7dLU6fk9QY&app=desktop, zul. aufgeruf. am 6.2.2017. 137  | Eine vertiefende Auseinandersetzung mit dem Smartphonegebrauch im Kontext der Körpertechnik des Gehens findet sich in Timo Kaerlein: »›Walking for Design‹. Zur Evokation impliziten Wissens im Interaction Design für die mobile Mediennutzung«, in: Navigationen 1 (2018), S. 54-65.

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Abbildung 13: Gehweg für Smartphonenutzer in der zentralchinesischen Stadt Chongqing, 2014

Quelle: © Reuters, in Anonymus: »China testet den Smartphone-Bürgersteig«, auf: Der Tagesspiegel, dort datiert am 16.9.2014, http://www.tagesspiegel. de/weltspiegel/handys-im-strassenverkehr-china-testet-den-smartphonebuergersteig/10709780.html, zul. auf-geruf. am 15.2.2017.

In der Forschung zu mobiler Telekommunikation ist gerade die Körpertechnik des Gehens häufig thematisiert worden. Ein Sammelband zu Kulturen der Mobiltelefonie trägt den Titel Personal, Portable, Pedestrian: Mobile Phones in Japanese Life138 , und auch für die aktuelle Forschung zu mobilen Medien ist die Phänomenologie des Zu-Fuß-Gehens weiterhin Thema.139 Insbesondere interessieren dabei das Verhältnis zwischen Augen, Händen und Füßen und die Relation von Körpern zu ihren Umwelten. Der gegenwärtige Fokus auf die Körpertechnik des Gehens oder Laufens steht in 138  | Vgl. Mizuko Itō/Daisuke Okabe/Misa Matsuda (Hg.), Personal, Portable, Pedestrian. Mobile Phones in Japanese Life, Cambridge, Mass.: MIT Press 2005. 139  | Vgl. Rowan Wilken: »Mobilizing Place. Mobile Media, Peripatetics, and the Renegotiation of Urban Places«, in: Journal of Urban Technology 15/3 (2008), S. 39-55 und Ingrid Richardson/Rowan Wilken: »Haptic Vision, Footwork, Place-making. A Peripatetic Phenomenology of the Mobile Phone Pedestrian«, in: Second Nature 2 (2009), S. 22-41. Hier wird u. a. auf Mauss, Merleau-Ponty und Don Ihde Bezug genommen.

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einem deutlichen Kontrast zur Geschichte der Mobiltelefonie selber, die zunächst in engen Kopplungsverhältnissen zum Automobil auftrat.140 Dass das Gehen mit dem Smartphone in der Hand zum Forschungsschwerpunkt werden konnte, verdankt sich veränderten Nutzungspraktiken, bei denen der Gerätegebrauch parallel zu einer anderen Tätigkeit erfolgt.141 Der von ihrem Umfeld häufig als problematisch eingestuften Blindheit der Smartphone-Fußgänger steht die Generierung von neuen Sichtbarkeiten und Kontrollmöglichkeiten entgegen: So dient das Smartphone beispielsweise der Navigation in einer fremden Stadt oder es liefert Informationen zur Anzahl täglich zurückgelegter Schritte und den dabei verbrannten Kalorien. Außerdem erhält es die Verbindung zu einem Netzwerk von sozialen Kontakten auch während der Bewegung aufrecht. In veränderter Perspektive lässt sich das Argument der Blindheit also umkehren und betrifft dann die mangelnde Verortung nicht-vernetzter Fußgänger in einem soziokulturellen Koordinatensystem: »To not have a keitai is to be walking blind, disconnected from just-in-time information on where and when you are in the social networks of time and space.«142 Wer ohne mobiles Endgerät unterwegs ist, wäre demnach von essenziellen Informationen über die Umgebung abgeschnitten. Grundlegender sind die Körpertechniken der urbanen Mobilität vor dem Hintergrund ihrer historischen Genese zu verstehen, die in diversen Modernetheorien – unter anderem bei Simmel – ein zentrales Motiv darstellt.143 Die Begegnung mit 140  | Vgl. Jon Agar: Constant Touch. A Global History of the Mobile Phone, Cambridge, UK: Icon Books 2013 [2003], S. 46 und ausführlich mit Blick auf sich wandelnde Mobilitätskulturen Heike Weber: »Mobile Electronic Media. Mobility History at the Intersection of Transport and Media History«, in: Transfers 1/1 (2011), S. 25-49. 141  | Das trifft nicht nur auf das Gehen zu. Die Kulturkritik hat ein weites Feld von problematischen Umfeldern der Smartphonenutzung identifiziert und mit Schlagworten vom Distracted Partying (die erste Reihe der Konzertbesucher beschäftigt sich demonstrativ mit dem Smartphone) bis Distracted Doctoring (der Chirurg wird durch Kurznachrichten auf seinem Gerät von der Arbeit abgelenkt) belegt. 142  | Mizuko Itō: »A New Set of Social Rules for a Newly Wireless Society. Mobile Media Are Bringing Sweeping Changes to How We Coordinate, Communicate, and Share Information«, in: Japan Media Review, 14.2.2003 [nicht mehr online]. Vgl. in diesem Sinne auch Eric Gordon/Adriana de Souza e Silva: Net Locality. Why Location Matters in a Networked World, Malden: Wiley-Blackwell 2011, S. 89: »Traditional metropolitan public space is perhaps becoming like the small town, where pure physically co-present social circles seem oppressively small. Not being connected to a network, not having access to information about where you are, is tantamount to being closed off to a space’s potential.« 143  | Vgl. Georg Simmel: »Die Großstädte und das Geistesleben« [1903], in: Ders., Aufsätze und Abhandlungen. 1901 – 1908. Band 1, hrsg. v. Rüdiger Kram-

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einer großen Anzahl von Fremden auf gedrängtem Raum, wie sie für die Großstadterfahrung typisch ist, machte die Ausbildung veränderter Bewegungs- und Körperhaltungstechniken sowie Blickstrategien erforderlich, um jeweils lokal spezifisch das angemessene Verhältnis von Nähe und Distanz, Öffentlichkeit und Privatheit, etc. herstellen zu können. Zu diesem Set von adäquaten Verhaltensweisen sind auch noch bestimmte Interaktionen mit dem Smartphone zu rechnen, während die Präsenz digitaler Geräte im städtischen Raum andererseits die ungeschriebenen Regeln sozialer Etikette immer wieder aufs Neue herausfordert.144 Zur urbanen Raumerfahrung des Fußgängers gehört der umherschweifende Blick, der in Kombination mit einer Reihe von Gesten eine erfolgreiche Navigation und die Vermeidung von Kollisionen erlaubt.145 Vor diesem Hintergrund sind Überlegungen dazu entstanden, ob die Nutzung von Mobilgeräten während des Laufens zu einer Störung der peripatetischen Raumerfahrung führen und den Fluss der koordinierten Bewegungen in der Großstadt beeinträchtigen könne.146 Die neuere Forschung zur Nutzung mobiler Digitalgeräte während des Gehens setzt dagegen andere Schwerpunkte. Es gibt eine breite Literatur zum mobilen Musikhören, die insbesondere auf das veränderte Körpergefühl und neue Arten der me/Angela Rammstedt/Otthein Rammstedt, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995, S. 116-131 und Ole B. Jensen: »›Facework‹, Flow and the City. Simmel, Goffman, and Mobility in the Contemporary City«, in: Mobilities 1/2 (2006), S. 143-165 für eine Zusammenfassung von Simmels Argumentation. Zentral ist für Simmel der Begriff der ›Blasiertheit‹, der ein Ensemble von Strategien bezeichnet, durch selektive Aufmerksamkeitssteuerung mit der Reizüberflutung der Großstadt fertig zu werden. Vgl. auch Joachim R. Höflich: Mobile Kommunikation im Kontext. Studien zur Nutzung des Mobiltelefons im öffentlichen Raum, Frankfurt a. M.: Peter Lang 2011, S. 103f. 144  | Insbesondere der Kommunikationswissenschaftler Joachim Höflich hat sich mit den Verschiebungen sozialer Arrangements, Erwartungsmuster und Umgangsregeln vor dem Hintergrund der Diffusion mobiler Telefongeräte beschäftigt. Vgl. Joachim R. Höflich: »An mehreren Orten zugleich. Mobile Kommunikation und soziale Arrangements«, in: Ders./Julian Gebhardt (Hg.), Mobile Kommunikation. Perspektiven und Forschungsfelder, Frankfurt a. M.: Peter Lang 2005, S. 19-41 und Höflich: Mobile Kommunikation im Kontext, insbesondere S. 73-80, wo das »Gehen als grundlegendes soziales Geschehen« (ebd., S. 73) in den Blick genommen wird. 145  | Die Mobilitäts- und Koordinationsmuster von Fußgängern wurden in Beobachtungsstudien unter anderem von Erving Goffman und William Whyte untersucht. Vgl. Wilken: »Mobilizing Place«, S. 43f. 146  | Vgl. ebd., S. 44. Vgl. auch Green: »On the Move«, S. 287: »In many settings […] we observed pedestrians on main streets or in malls coming to a standstill in order to use some of the functions on their mobile. They were compelled to become immobile to use their mobile device.«

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ästhetischen Raumaneignung aufmerksam gemacht hat, die spätestens mit dem Walkman in den 1980er-Jahren virulent wurden.147 Das Smartphone wird aber vor allem unter visuellen Gesichtspunkten thematisiert: Zum Hören und Sprechen treten Praktiken des ambulanten Lesens und Schreibens hinzu, die ganz neue hybride Raumverhältnisse stiften und bei denen von geteilten Aufmerksamkeitsstrukturen ausgegangen werden muss.148 Dazu kommt die Eigenschaft der Geräte, ihren Standort über GPS zu erfassen und den Anwendern ortsspezifische Informationen zu liefern. Im Vergleich zu älteren Medien, die während des Gehens genutzt wurden, sind die über Applikationen abrufbaren Informationen häufig auf den physischen Ort bezogen, der gerade durchquert wird – beispielsweise bei der Suche nach einem nahegelegenen Restaurant oder der Verwendung digitaler Karten, in denen der Nutzerstandort eingetragen und dynamisch aktualisiert wird.149 Wie die genannten Beispiele zeigen, ist die Navigation durch urbane Räume, die zunehmend als Überlagerung von physischen Orten mit digitalen Informationen und Adresssystemen verstanden werden müssen, mit ganz neuen Verhaltensweisen verknüpft. Insbesondere stellen sich veränderte Anforderungen an die Aufmerksamkeit der gehenden Individuen, die zu jedem Zeitpunkt flexibel zwischen mehreren Referenzebenen wechseln können müssen. Die für die Körpertechnik Gehen relevante

147  | Vgl. den Sammelband Paul du Gay/Stuart Hall/Linda Janes/Hugh Mackay/

Keith Negus (Hg.), Doing Cultural Studies. The Story of the Sony Walkman, London: Sage 1997 sowie Michael Bull: »›To Each Their Own Bubble‹. Mobile Spaces of Sound in the City«, in: Nick Couldry/Anna McCarthy (Hg.), Mediaspace. Place, Scale and Culture in a Media Age, London: Routledge 2004, S. 275-293 und zuletzt Stefan Niklas: Die Kopfhörerin. Mobiles Musikhören als ästhetische Erfahrung, Paderborn: Fink 2014. Der Walkman verweist schon dem Namen nach auf die Mobilität der Nutzung und damit auf veränderte Nutzungspraktiken. 148  | Vgl. für das Schreiben in Bewegung in systematischer und historischer Perspektive Martin Stingelin/Matthias Thiele: »Portable Media. Von der Schreibszene zur mobilen Aufzeichnungsszene«, in: Dies. (Hg.), Portable media. Schreibszenen in Bewegung zwischen Peripatetik und Mobiltelefon, München: Fink 2010, S. 7-27. 149  | Vgl. Jordan Frith: Smartphones as Locative Media, Cambridge, UK: Polity Press 2015, S. 22-24. Frith weist im Anschluss an Literatur zum Spatial Turn in den Sozial- und Kulturwissenschaften darauf hin, dass sog. Locative Media die Praktiken des individuellen Place-Making verändern. Das heißt, dass die hinzutretenden Schichten digitaler Informationen die Bedeutung von durchquerten und erfahrenen Räumen transformieren.

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Situation deckt sich nicht mit dem sinnlich Wahrnehmbaren, sondern erstreckt sich potenziell darüber hinaus: Within net localities, therefore, the coherence of the physical situation remains, while the user’s attention is freed up to an ecology of foci that are not only tolerated, but constructive of the experience and appearance of urban space.150

Was also jeweils als urbaner Raum erlebt wird, steht in einem direkten Verhältnis zum Grad der Medialisierung der zum Einsatz kommenden Körpertechniken. Der Überblick über heterogene Praktiken des Gehens mit dem Smartphone sollte dafür sensibilisieren, dass eine Perspektive auf Körpertechniken nicht auf Bediengesten und die Nutzung von Interfaces im engeren Sinn beschränkt ist, sondern dass sie ein weiteres Feld von Praktiken inkludieren kann, die auf den ersten Blick nicht in einem unmittelbaren Verhältnis zu digitalen Nahkörpertechnologien stehen. Der Begriff der Körpertechniken ist geeignet, um körperliche Subjektivierungsprozesse zu beschreiben, die über das punktuelle Bedienen von Interfaces hinausgehen. Das Gehen mit dem Smartphone in der Hand ist ein anderes Gehen und es stiftet – so unterschiedlich dies im Einzelnen ausfallen mag – ein verändertes Raumerleben bzw. bringt andere Räume hervor. Mit Michel de Certeau gesprochen, etabliert sich damit eine veränderte »Rhetorik des Gehens«.151 Beispiel: Im Bett mit dem Smartphone – Von der Körpertechnik des Schlafens zum Sleep Mode

Die ebenfalls bereits bei Mauss diskutierte Körpertechnik des Schlafens152 scheint auf den flüchtigen Blick ein zu unspektakuläres Phänomen zu sein, um hier als 150  | Gordon/de Souza e Silva: Net Locality, S. 93. Unter »net localities« verstehen die Autoren eine Form hybrider Räumlichkeit, die sich aus der zunehmenden Überlagerung geografischer Orte mit digitalen Informationen ergibt. 151  | Michel de Certeau: Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1988 [frz. OA 1980], S. 191. De Certeau versteht das Gehen in der Stadt systematisch als Ausdrucksphänomen und vergleicht es mit sprachlichen Äußerungen. Vgl. ebd., S. 189: »Der Akt des Gehens ist für das urbane System das, was die Äußerung (der Sprechakt) für die Sprache oder für formulierte Aussagen ist […].« Vgl. in diesem Sinne auch Parisa Eslambolchilar/Mads Bødker/Alan Chamberlain: »Ways of Walking. Understanding Walking’s Implications for the Design of Handheld Technology via a Humanistic Ethnographic Approach«, in: Human Technology 12/1 (2016), S. 5-30, hier S. 19: »The stories we weave as walkers and the ways of knowing we accumulate through movements and sensing the world are increasingly compounds of digital and physical mobilities.« 152  | Bei Mauss sind die Ausführungen zum Schlafen – wie ein Großteil seines Vortrags zu den Körpertechniken – biografisch überformt: »Die Vorstellung, daß

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Beispiel gewürdigt zu werden. Allerdings lässt sich gerade am Zusammenspiel der biologischen Universalität des menschlichen Schlafs mit seinen kulturspezifischen Ausformungen, die historisch immer schon externe Techniken der Unterstützung und Vermeidung ausgebildet haben, die Reichweite einer körpertechnischen Perspektive auf das Smartphone demonstrieren. Ich möchte im Folgenden die Besonderheit der Körpertechnik Schlafen kurz umreißen, um anschließend Beispiele zu diskutieren, in denen die Smartphonenutzung diese Körpertechnik tangiert und in Ansätzen bereits transformiert. Am Schlafen fällt zunächst auf, dass es sich dabei in besonderem Maße um eine scheinbar individuelle, gar intime ›Praxis‹ handelt, die sich aber bei genauerer Betrachtung als gesellschaftliches Phänomen bzw. als »spatiotemporal social formation that is based upon regularity«153 erweist. Wie der Kulturanthropologe Matthew J. Wolf-Meyer in seiner historisch-ethnografischen Studie zum amerikanischen Schlafverhalten und seinen medizinischen wie ökonomischen Transformationen herausarbeitet, sind die individuellen Rhythmen des Zu-Bett-Gehens, Schlafens und Aufstehens nie singulär, sondern stets kollektiv geteilte Praxis mit einem historischen Index. Die Aggregierung der einzelnen Schlafpraktiken als soziale Tatsache wirkt strukturierend auf die Organisation gesellschaftlicher Abläufe wie die Programmierung des Medienangebots, die Öffnungszeiten von Geschäften, die Verkehrssteuerung, usw. ein und wird umgekehrt von diesen beeinflusst.154 Die Körpertechnik des Schlafens kann somit als skalenübergreifendes Ensemble von Praktiken und Prozessen begriffen werden, die vom Handgriff nach dem Schalter der Nachttischlampe über den Gutenachtgruß der Moderatorin der national ausgestrahlten Spätnachrichten bis hin zur Erdumdrehung reicht, die für einen wiederkehrenden Tag-und-Nacht-Zyklus sorgt. Wie bei allen Körpertechniken handelt es sich auch beim Schlafen um ein komplexes Aggregat aus sozialen, psychologischen und biologischen Bestandteilen. In verschiedenen Epochen und auf unterschiedlichen Erdteilen wird der Schlaf sehr unterschiedlich wahrgenommen, durchgeführt, reguliert und diskursiv thematisiert. Die zum Einsatz kommenden externen Techniken im Zusammenhang mit dem Schlaf reichen von der steinernen Nackenstütze über Decken und Kopfkissen bis zu Hightech-Matratzen mit per Fernbedienung einstellbarem Härtegrad.155 In den kapidas Sich-schlafen-Legen etwas Natürliches sei, ist vollkommen falsch. Ich kann Ihnen sagen, daß der Krieg mich gelehrt hat, überall, beispielsweise auf einem Haufen Kieselsteine zu schlafen, daß ich aber niemals das Bett wechseln konnte, ohne eine Zeitlang unter Schlaflosigkeit zu leiden: erst am zweiten Tag kann ich schnell einschlafen.« Und etwas weiter unten: »Ich habe stehend im Gebirge geschlafen. Ich habe sogar auf dem Pferderücken geschlafen, sogar beim Reiten: das Pferd war klüger als ich.« (Mauss: »Die Techniken des Körpers«, S. 212f.) 153  | Matthew J. Wolf-Meyer: The Slumbering Masses. Sleep, Medicine, and Modern American Life, Minneapolis: University of Minnesota Press 2012, S. 13. 154  | Vgl. ebd. 155  | Vgl. zum letztgenannten Beispiel ebd., S. 11.

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talistischen Gesellschaften der westlichen Moderne wird das Schlafen insbesondere aufgrund der Bedürfnisse der industrialisierten Massenproduktion zunehmend zum Gegenstand gesellschaftlicher Regulierung und Normierung. Wolf-Meyer spricht davon, dass es parallel zu Techniken der Stimulation während der Wachphasen in der industrialisierten Moderne zu einer Intensivierung des Schlafens komme, damit eine ausreichend regenerative Wirkung für die Anforderungen des Fabrikalltags gewährleistet werden kann.156 Beide Prozesse – sowohl die Stimulation im Wachzustand als auch die Sicherstellung eines geregelten Schlafverhaltens – können medikamentös unterstützt werden, was bereits in breitem Maßstab geschieht. Ein Nebenprodukt solcher Regierungsbemühungen sind technowissenschaftliche Fantasien der Überwindung des Schlafbedürfnisses, die insbesondere militärische, aber auch wirtschaftliche Akteure motivieren.157 Wolf-Meyer kommentiert : The danger of […] this line of thinking […] is that contemporary science is ›far‹ from being able to explain basic functions of sleep and its abatement, and fantasies of such, if taken increasingly as reality, might initiate new orders that restructure everyday life in ways increasingly antagonistic to sleep. Such scientific fantasies may initiate a twenty-four-hour society that relies upon and expects fully vigilant bodies.158

Jonathan Crarys polemisch-spekulatives Buch 24/7. Late Capitalism and the Ends of Sleep verfolgt programmatisch einige der drastischsten Auswüchse dieses Imaginären einer schlaflosen hyperproduktiven Gesellschaft, deren Verwertungszyklen sich von den metabolischen Prozessen der in ihr lebenden Menschen emanzipiert haben.159 Als einen zentralen Aspekt des 24/7-Kapitalismus identifiziert Crary die besondere Temporalstruktur einer ununterbrochenen Tätigkeit bzw. eines dauerhaften Funktionierens ohne Pause oder Unterbrechung, die sich an verschiedenen Stellen bereits in menschliche Lebenswelten einschreibe.160 Der unproduktive und intrinsisch passive Schlaf lasse sich innerhalb eines derart eingerichteten Bezugssystems kaum noch legitimieren bzw. erscheint als Störfaktor und Hemmnis gesamtgesellschaftlicher Funktionsabläufe. 156  | Vgl. ebd., S. 18. 157  | Vgl. ebd., S. 227-231 zum seit den frühen 2000er-Jahren laufenden CAP

(Continuous Assisted Performance)-Projekt der DARPA (Defense Advanced Research Projects Agency), das auf die Herstellung von ›Supersoldaten‹ zielt, deren Schlafbedürfnis drastisch reduziert ist. 158  | Ebd., S. 230. 159  | Vgl. Jonathan Crary: 24/7. Late Capitalism and the Ends of Sleep, London: Verso 2014. 160  | Vgl. ebd., S. 8f.: »It is only recently that the elaboration, the modeling of one’s personal and social identity, has been reorganized to conform to the uninterrupted operation of markets, information networks, and other systems.«

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Unterhalb der Schwelle dieses zwischen Science und Fiction verorteten Imaginären gibt es allerdings konkretere Bestrebungen, die auf die Optimierung des zumindest mittelfristig nicht abzuschaffenden Schlafs mit Hilfe fortgeschrittener Kontroll- und Überwachungstechnologie zielen. Den pharmakologischen Sektor an dieser Stelle aussparend, möchte ich direkt auf den Anteil zu sprechen kommen, den digitale Nahkörpertechnologien an diesen Prozessen haben. Smartphones sind zunächst – trivial – eingebunden in Praktiken, die mit dem Schlafen in Verbindung stehen, z. B. das Stellen des Weckers am Abend, der morgendliche Blick auf die diversen Streams und Email-Konten, der für viele Anwender bereits zum Ritual geworden ist, die Tendenz zur jederzeitigen Erreichbarkeit auch während der Nacht. Viele Smartphonenutzer verwenden das Gerät noch in den späten Abendstunden, wodurch bereits eine Debatte um die möglicherweise schlafstörenden Eigenschaften des blauen Displaylichts ausgelöst wurde, das laut einiger Studien den Biorhythmus durcheinanderbringe und den Organismus in einen ständigen Alarmzustand versetze.161 Die Always-On-Logik digitaler Nahkörpertechnologien gerät nicht selten in Konflikt mit dem nach wie vor auf zyklische Regenationsphasen angewiesenen Körper. Crary macht darauf aufmerksam, dass der sogenannte Sleep Mode digitaler Geräte lediglich einen Zustand der »low-power readiness« markiere, wodurch die Bedeutung des Schlafs als technische Metapher modifiziert werde zu einer »deferred or diminished condition of operationality and access«.162 Direkter an der Optimierung des Schlafens interessiert sind Entwickler von Sleep Tracking-Apps und -Hardware wie der Sleep Cycle Alarm Clock und des Beddit Smart 2.0 Sleep Monitor, mit deren Hilfe Anwender ihren eigenen Schlaf überwachen und numerisch auswerten können.163 Den kommerziellen Anwendungen gingen umfangreiche Experimente innerhalb der Selftracking-Bewegungen – Quantified 161  | Vgl. Heike Le Ker: »Blaues Licht stört den Schlaf«, auf: Spiegel On-

line, dort datiert am 24.11.2014, http://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/ licht-von-handy-laptop-und-tablet-stoert-schlaf-a-1003928.html, zul. aufgeruf. am 6.2.2017. Mittlerweile gibt es Anwendungen, die das Farbspektrum des Smartphone-Bildschirms in den Abendstunden regulieren und zwar mittels eines gezielten Rückgriffs auf als ›natürlich‹ deklarierte Temporalstrukturen: »Die App  Twilight  passt Ihren Bildschirm an die Tageszeit an. Sie filtert das blaue Spektrum Ihres Handys oder Tables [sic!]  nach dem Sonnenuntergang heraus und schützt Ihre Augen mit einem weichen und  angenehmen roten Filter. Die Filter-Intensität passt sich sanft  an den Sonnenzyklus an, basierend auf  den Sonnenauf- und -untergangszeiten Ihres Ortes.« (Beschreibung der App Twilight im Play Store, https://play.google.com/store/apps/ details?id=com.urbandroid.lux, zul. aufgeruf. am 6.2.2017) 162  | Crary: 24/7, S. 13. 163  | Vgl. Hugh Langley: »Counting Sheep: The Best Sleep Trackers and Monitors«, auf: Wareable.com, dort datiert am 17.11.2016, http://www.wareable.com/withings/ best-sleep-trackers-and-monitors, zul. aufgeruf. am 6.2.2017.

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Self u. a. – voraus, die bereits seit Mitte der 2000er-Jahre Sleep Tracking als einen von diversen Ansätzen der Selbstverdatung nutzen.164 Unter anderem sollen mit technischer Unterstützung Antworten auf Fragen nach der präzisen Schlafdauer, der Einschlafzeit, nach Spezifika des Schlafverlaufs und der Schlafqualität in Abhängigkeit von wechselnden äußeren Bedingungen gefunden werden. Diese Anwendungen machen sich den beschriebenen Umstand zunutze, dass digitale Nahkörpertechnologien ihre Besitzer häufig bis ins Bett begleiten. Das Smartphone stellt in diesem Bereich eher eine Schwellentechnologie dar, denn die ausgefeiltere Biosensorik von Technologien wie Fitnessarmbändern und Smartwatches erlaubt für viele Vitalwerte – Herzfrequenz, Bewegungen während des Schlafs, Tracking von Tiefschlaf- und potenziellen Aufwachphasen, Atemfrequenz, Schnarchen u. a. – eine präzisere Erfassung. Gemeinsame Herangehensweise der genannten Technologien ist es, den Schlafverlauf als Optimierungsproblem zu betrachten, das algorithmisch bearbeitet werden kann, sofern eine ausreichende Datengrundlage zur Verfügung steht. Für deren Beschaffung sind die standardmäßig in Smartphones und vergleichbaren Geräten verbauten Sensoren (Akzelerometer, Mikrofon, Pulsmesser, etc.) zwar nicht in der gleichen Weise geeignet wie die Ausstattung eines Schlaflabors, aber sie sind zugänglich und preiswert. Sleep Tracking zielt als technische Praxis auf die möglichst transparente Erfassung eines körperlichen Unbewussten, dessen Prozesse auf numerischer Basis optimiert werden sollen. Der eigene Schlaf als Abwesenheit des wachenden Bewusstseins ist dem Individuum prinzipiell entzogen, sodass es technischer Hilfsmittel bedarf, um gestaltenden Zugriff darauf zu erhalten. Mit digitalen Nahkörpertechnologien ist die technische Infrastruktur gegeben, um auch außerhalb des wissenschaftlichen Bereichs der Schlafforschung den eigenen Schlaf auszuleuchten und die Unwillkürlichkeit seiner Regungen als kybernetisches Steuerungsproblem zu begreifen. Durch die gezielte Veränderung von Verhaltensweisen und Rahmenbedingungen wird so der Schlaf zur Ressource, deren Ertrag verbessert werden kann.

4.2.3 Zwischenfazit Friedrich Kittler hat im posthum veröffentlichten Vorwort zu seiner Habilitationsschrift den Nutzen einer kulturtechnischen Perspektive für die Analyse von Mediensystemen skizziert. Der besondere Vorteil einer Analyse von Kulturtechniken – und diese sind der kittlerschen Terminologie zufolge auch immer als Techniken

164  | Zur Quantified Self-Bewegung vgl. Thorben Mämecke: »Die Statistik des Selbst. Zur Gouvernementalität der (Selbst)Verdatung«, in: Stefan Selke (Hg.), Lifelogging. Digitale Selbstvermessung und Lebensprotokollierung zwischen disruptiver Technologie und kulturellem Wandel, Wiesbaden: Springer VS 2016, S. 97-125.

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des Körpers zu verstehen165 – sei der Umstand, dass sie der Anschauung zugänglich sind, anders als beispielsweise Produktionsbedingungen. Kittler betont besonders die Eignung des Begriffs für eine Verschaltung von Mikro- und Mikro-Fragestellungen: »[Kulturtechniken] können […] als Techniken der Lenkung und Programmierung von Leuten […] nie nur individuell sein.«166 Gerade hier wird der schon angesprochene paranoische Zug einer von Kittler ausgehenden Medienwissenschaft deutlich: »Unter kulturtechnischer Fragestellung verlieren auch alltäglichste Praktiken ihre scheinbare Harmlosigkeit und Individualität, weil sie mit einem Schlag auf staatliche oder industrielle Programme transparent werden.«167 Das individuelle Verhalten erscheint in körpertechnischer Hinsicht, das wäre die medienanthropologische Pointe, als immer schon vorgeprägt durch kollektive Dimensionen und als vermittelt durch an den Praktiken beteiligte Artefakte. Körpertechniken haben also die irritierende Eigenschaft, zugleich einerseits persönlich, lokal und singulär und andererseits gesellschaftlich bestimmt zu sein, sie sind ein Knotenpunkt multipler Bestimmungsgrößen. Die Kollektivität von Körpertechniken ist ein Faktor, der sie für eine Beschreibung digitaler Nahkörpertechnologien auf einem mittleren Abstraktionsniveau attraktiv macht: Sie sind nicht auf der Ebene des Individuums zu verorten, aber auch nicht global gültig. Dies ist im vorangehenden Kapitel anhand der Körpertechniken des Gehens und des Schlafens demonstriert worden: Die Kultur- und Gesellschaftsabhängigkeit dieser alltäglichen Praktiken impliziert auch, dass sie von diversen Regierungstechniken durchwirkt sind. Ziel des Kapitels war es zunächst, die der Anschauung zugängliche Seite der Körpertechniken des Smartphonegebrauchs zu skizzieren. In Kapitel 6 werden die von Kittler angesprochenen staatlichen und industriellen Programme durch einen Fokus auf postkybernetische Ordnungspraktiken thematisiert. Diese lassen sich als Elemente eines technologischen Unbewussten digitaler Nahkörpertechnologien anschreiben. Gegenüber einer auf Mediengebrauch fokussierten Betrachtung168 kehrt eine Sicht auf Körpertechniken außerdem das technische Moment von Praktiken heraus. Dieses kann an der Rhythmizität alltäglicher Praktiken festgemacht werden – ein Motiv, das sich, wie gezeigt wurde, schon bei Mauss findet. Die Technizität verkörperter Praktiken kann so verstanden werden, dass sie eine strukturbildende Komponente haben: Verhaltensweisen und Dispositionen stabilisieren sich über die Zeit und 165  | Vgl. Friedrich Kittler: »Aufschreibesysteme 1800/1900. Vorwort«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 6/1 (2012), S. 117-126, hier S. 126: »Alle Kulturtechniken betreffen schließlich die Körper, ihre Sinne und Sinnlichkeiten.« An anderer Stelle in den Aufschreibesystemen spricht Kittler von dem »Faktum, daß es am Grund aller Kulturtechniken Körper und deren Unsinn gibt«. (Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, München: Fink 1995 [1985], S. 394) 166  | Kittler: »Vorwort«, S. 126. [Ergänzung T. K.] 167  | Ebd. 168  | Vgl. Heiko Christians/Matthias Bickenbach/Nikolaus Wegmann/Judith Pietreck (Hg.), Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs, Köln: Böhlau 2014.

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Gewohnheiten sind nicht durch einen einfachen Willensakt zu ändern.169 Körpertechniken bieten – vergleichbar den Affordanzen – eine Möglichkeit, Kopplungen zwischen Menschen und technischen Medien zu beschreiben, die nicht einfach nur Gebrauchsweisen sind, sondern sich in die Materialität von Körpern einschreiben – und das weit über den konkreten Mediengebrauch hinaus. Darüber hinaus kann das Technische an den Körpertechniken als Moment des Unbewussten (im Sinne des gesuchten »Körper-Es«) verstanden werden: Obwohl Körpertechniken erlernt und tradiert werden, ist ihre Ausführung nicht an kognitiven Nachvollzug gebunden. Im Gegenteil: Eine weitgehend automatisierte Körpertechnik wie das Gehen steht in Gefahr zu scheitern, wenn jeder Schritt reflektiert werden soll. Noch expliziter als bei den Körpertechniken wird diese Dimension von Körperlichkeit mit dem Begriff des Körperschemas getroffen, den ich als nächstes thematisieren werde.

4.3 Körperschema – Koordinaten

des

S elbst

As our worlds become smarter and get to know us better and better, it becomes harder and harder to say where the world stops and the person begins. Andy Clark

Dem Alltagsverstand scheinen die Grenzen zwischen Selbst und Welt klar gezogen und im Regelfall mit der Hautoberfläche zusammenzufallen. Doch bereits bei der Nutzung einfacher Werkzeuge oder beim Tragen von Kleidung wird diese selbstverständlich anmutende Annahme irritiert: Verwendet man einen Stift, um einen Gedanken zu notieren, geht das taktile Empfinden in die Spitze des Schreibwerkzeugs über und endet nicht an den Fingern, die den Stift halten. Trägt man einen Hut, wird man nach einiger Gewöhnungszeit dessen Ausdehnung beim Durchqueren einer Türöffnung berücksichtigen, ohne dass dazu für gewöhnlich eine visuelle Unterstützung nötig wäre.170 Solche und ähnliche Beispiele werden von Autoren verschiedener Disziplinen 169  | Martin Hand: »Persistent Traces, Potential Memories. Smartphones and the Negotiation of Visual, Locative, and Textual Data in Personal Life«, in: Convergence: The International Journal of Research into New Media Technologies 22/3 (2014), S. 269-286, hier S. 281 berichtet von Teilnehmern an einer empirischen Studie, die ihre Smartphones vor sich selber verstecken oder ausschalten, um ein kopräsentes Gespräch bzw. eine Konzentration erfordernde Aufgabe nicht permanent durch routinisierte Kontrollgesten wie Blicke auf das Display oder Herumspielen mit dem Gerät zu stören. 170  | Vgl. Barad: Agentieller Realismus, S. 47f., die gegen die »scheinbar selbstverständliche Natur von Körpergrenzen, einschließlich ihrer scheinbaren

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herangezogen, die für die Existenz eines Körperschemas argumentieren, das als psycho-physiologische Struktur die eigene Körperwahrnehmung bestimme und darüber hinaus die Relationen zur Umwelt reguliere. Dieses Körperschema wird als variabel vorgestellt und kann daher prinzipiell diverse Gegenstände mit einschließen, die sich im körperlichen Nahraum befinden. Karin Harrasser schreibt zur Verkörperung solcher Technologien: Menschen haben sich immer Technologien bedient, um sich Zugang zur Welt zu verschaffen und Körpermodifikationen, die gleichermaßen symbolisch wie funktional in das physische Substrat eingreifen, sind so alt, wie es Kulturtechniken sind. Wir sind immer schon Hybride gewesen, in dem Sinn, dass Körperfunktionen technisch verstärkt wurden, dass Wahrnehmungs-, Steuerungs- und Regelungsfunktionen an Technologien delegiert wurden, dass Technologien der Voraus-, Um- und Rückschau Lebenswelten durchdrungen haben.171

Aus medienanthropologischer Sicht ist das Körperschema ein interessantes Konzept, weil es im Gegensatz zu den klassischen Organprojektions-, Prothesen- und Extensionstheorien nicht die implizite oder explizite Annahme enthält, dass es eine unberührte Körperlichkeit gebe, zu der dann Medientechniken als externe Erweiterungen oder Supplemente hinzutreten. Stattdessen erscheint der Körper als Gebilde, das für Verschränkungen mit der Umwelt offen ist. Modifikationen des Körperschemas schließen technische und nicht-technische Szenarien ein – eine Rauscherfahrung kann demnach genauso als Transformation des Körperschemas aufgefasst werden wie das Bedienen eines Werkzeugs zur handwerklichen Bearbeitung eines Materials. Insgesamt steht hinter dem Konzept die Annahme eines psycho-bio-technologischen Kontinuums der Körpererfahrung und -verwendung, womit Differenzierungen wie die zwischen Eigenem und Fremdem, Natürlichem und Künstlichem oder Organischem und Technischem auf der Ebene alltäglicher Praktiken je situativ hergestellt bzw. in vielen Fällen auch unterlaufen werden. Das Anfang des 20. Jahrhunderts erstmals formulierte Konzept des Körperschemas spielt eine wichtige Rolle in der Leib- und Wahrnehmungsphänomenologie Maurice Merleau-Pontys, die verschiedentlich in der Human-Computer Interaction (HCI)-Forschung aufgegriffen worden ist.172 Von dem phänomenologischen Vokavisuellen Offensichtlichkeit« die These setzt, dass diese »ein Ergebnis der Wiederholung (kulturell und historisch) spezifischer körperlicher Leistungen sind«. 171  | Harrasser: Körper 2.0, S. 77. 172  | Vgl. Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: de Gruyter 1974 [fzr. OA 1945], Dourish: Where the Action Is, S. 113-116, Lian Loke/Toni Robertson: »The Lived Body in Design. Mapping the Terrain«, in: Duncan Stevenson (Hg.), OzCHI ’11. Proceedings of the 23rd Australian Computer-Human Interaction Conference, New York: ACM 2011, S. 181-184 und Svanæs: »Interaction Design for and with the Lived Body«.

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bular erhofft man sich eine präzisere Beschreibung der körperlichen Dimension des Interaction Design, die auch Interaktionskontexte, sozial erlernte Wahrnehmungsstile und situational angepasste Verhaltensweisen berücksichtigen sollte. Ähnlich wie bei den Affordanzen soll allerdings für die Zwecke einer medienanthropologischen Modellierung digitaler Nahkörpertechnologien hinter diese designorientierten Diskurse zurückgegangen werden, um das Konzept des Körperschemas in andere Richtungen befragen zu können. Insbesondere wird damit ein Fokus auf die Mensch-ComputerInteraktion im engeren Sinn zugunsten einer Berücksichtigung umweltlicher Aspekte erweitert. Die Vorstellung des Körperschemas betrifft in einem grundsätzlichen Sinn Fragen der Positionierung und Orientierung in der Welt, und das heißt heute vor allem in technologisch gesättigten Umwelten, durch die sich Anwender digitaler Nahkörpertechnologien im Regelfall bewegen. Das Körperschema ist in medienwissenschaftlichen und technikphilosophischen Arbeiten mit unterschiedlicher Intention aufgegriffen worden. Bärbel Tischleder verwendet das Konzept sowohl für eine Diskussion mobiler Medien als auch im Rahmen einer filmwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Körperpolitiken des Hollywoodkinos.173 Enger medientheoretisch und mit direkter Thematisierung des Körperschemas argumentiert Mark N. Hansen in einer Auseinandersetzung mit Technologien der Virtual, Artificial oder Mixed Reality, die sich insbesondere mit Werken interaktiver Medienkunst als Reflexionsfolie für neue Arten technologischer Verkörperung befasst.174 Insbesondere interessiert sich Hansen für die Affordanzen virtueller Umgebungen, die die Gelegenheit böten, habitualisierte Interaktionsmuster mit der physischen Welt zugunsten von computergestützten Experimenten mit dem Körperschema zu überschreiten.175 Hansens theoretische Intention dabei ist, eine originäre Technizität des Körperschemas zu denken und damit die phänomenologische Beschreibung von Verkörperungsprozessen in technischer Hinsicht zu erweitern.176 In Don Ihdes vor allem in den Science and Technology Studies breit rezipierten technikphilosophischen Arbeiten zu einer sogenannten Postphänomenologie finden sich dagegen zwar viele Bezüge auf Husserl, Merleau-Ponty und Heidegger, aber keine 173  | Bärbel Tischleder/Hartmut Winkler: »Portable Media. Beobachtungen

zu Handys und Körpern im öffentlichen Raum«, in: Ästhetik & Kommunikation 32/112 (2001), S. 97-104 wurde bereits in Kapitel 2 als direkte Inspiration zu einer Auseinandersetzung mit dem Körperschema ausgewiesen. Tischleder: Body Trouble, S. 58-75 enthält eine ausführlichere Diskussion und Erweiterung des Körperschema-Begriffs. 174  | Unter einem »body-in-code« versteht Hansen dann »a body whose (still primary) constructive or creative power is expanded through new interactional possibilities offered by the coded programs of ›artificial reality‹.« (Hansen: Bodies in Code, S. 38) 175  | Vgl. ebd., S. 29. 176  | Vgl. ebd., S. ixf.

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systematische Diskussion des Körperschemas, das insbesondere Merleau-Pontys Philosophie einer verkörperten Wahrnehmung zugrunde liegt.177 Eine Berücksichtigung des Körperschemas ist auch für eine Diskussion von digitalen Nahkörpertechnologien relevant. Diese kommen allerdings vorwiegend in Alltagskontexten zum Einsatz. Die damit verbundenen Forschungsfragen lauten: Auf welche Weisen verändert sich die Integrität des Körperschemas bei der Nutzung von Smartphones, d. h. internetfähigen Endgeräten, die im Vergleich zu älteren Computertechnologien in einem besonders engen Verhältnis zum Anwenderkörper stehen? Lassen sich Verschiebungen im Verhältnis von Selbst und Welt beobachten, die mit Hilfe des Begriffs des Körperschemas genauer beschrieben werden können? Das Kapitel beginnt mit einem diskurshistorischen Überblick zum Konzept selbst, bevor danach gefragt wird, welchen analytischen Gewinn seine Verwendung am Gegenstand digitaler Nahkörpertechnologien bringt.

4.3.1 Körperschema: Konzept Der Begriff des Körperschemas stammt aus der Physiologie, Neuropathologie und Psychologie des frühen 20. Jahrhunderts und wurde insbesondere von dem englischen Neurologen Henry Head (1861-1940), dem österreichischen Psychoanalytiker Paul Schilder (1886-1940) und dem französischen Neuropsychiater Jacques Jean Lhermitte (1877-1959) diskutiert.178 Es ging bei den frühen Auseinandersetzungen um ein Verständnis der »Einheit des Körpers als lebendiges, wahrnehmendes und 177  | Vgl. Don Ihde: Technology and the Lifeworld. From Garden to Earth, Bloomington, Ind.: Indiana University Press 1990. 178   |  Vgl. Stefan Kristensen: »Maurice Merleau-Ponty I – Körperschema und leibliche Subjektivität«, in: Emmanuel Alloa/Thomas Bedorf/Christian Grüny/Tobias Nikolaus Klass (Hg.), Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts, Tübingen: Mohr Siebeck 2012, S. 23-36, hier S. 25. Die Originalquellen sind Henry Head/Gordon Holmes: »Sensory Disturbances from Cerebral Lesions«, in: Brain: A Journal of Neurology 34/2-3 (1911), S. 102-254, Paul Schilder: The Image and Appearance of the Human Body. Studies in the Constructive Energies of the Psyche, London: Routledge 2000 [1935] und Jacques Jean Lhermitte: L’image de notre corps, Paris: L’Harmattan 1998 [1929]. Eine hervorragende populärwissenschaftliche Einführung in die Thematik gibt Sacks: Der Tag, an dem mein Bein fortging. Der klinische Neurologe Sacks hat in einer Reihe von Sachbüchern neuropsychologische Themen behandelt, wobei er – vom grundsätzlichen Anspruch her wie ein Freud des Körperlich-Unbewussten auftretend – sich im genannten Buch eher als eine Art Schreber der körperlichen Selbstentfremdung präsentiert und im Rahmen einer literarisch aufgearbeiteten Patientengeschichte ebenfalls »Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken« protokolliert. Nach einem Unfall mit anschließender Operation am Bein erlebt Sacks eine drastische Störung seines Körperschemas, die Anlass gibt zu von empirischen

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sich bewegendes Wesen«.179 Die Bezeichnungen für das zu beschreibende Phänomen variieren bei den verschiedenen Autoren und sind auch innerhalb der jeweiligen Werke nicht immer einheitlich. Gemeinsam ist den genannten Ansätzen allerdings die These, dass es etwas geben müsse, das dafür sorge, dass Menschen ein Bewusstsein von einer einheitlichen Organisation ihres Körpers und der Lage ihrer Gliedmaßen im Verhältnis zueinander und zum umgebenden Raum haben, welches sich nicht auf visuelle oder taktile Eindrücke reduzieren lässt. Insbesondere sei es unplausibel, so Head und Holmes in einer frühen klinischen Studie, davon auszugehen, dass Körperhaltung und -bewegung sich an einer mentalen Repräsentation in Form eines Bildes orientierten.180 Für die unbekannte Größe, die stattdessen aktuell eingehende Sinneseindrücke und vergangene Impressionen mit der Körperhaltung zu vermitteln habe, führten Head und Holmes den Begriff des Schemas in die Debatte ein: [T]he image, whether it be visual or motor, is not the fundamental standard against which all postural changes are measured. Every recognizable change enters into consciousness already charged with its relation to something that has gone before, just as on a taximeter the distance is presented to us already transformed into shillings and pence. So the final product of the tests for the appreciation of posture or passive movement rises into consciousness as a measured postural change. For this combined standard, against which all subsequent changes of posture are measured before they enter consciousness, we propose the word ›schema‹.181

Das von Head und Holmes angesprochene Schema bilde sich durch vergangene Impressionen und Erfahrungen. Jede neue Sinneswahrnehmung werde zunächst mit Studien begleiteten Reflexionen über die körperliche Basis der personalen Identität, die mit dem Körperschema zur Debatte steht. 179  | Kristensen: »Maurice Merleau-Ponty I«, S. 23. Insbesondere der Psychoanalytiker Schilder verortete seinen Ansatz einer ›Psychobiologie‹ (ein Ausdruck von Adolph Meyer) quer zu gängigen Disziplinengrenzen. Auch ein cartesianischer Körper-Seele-Dualismus sollte mit dem neuen Ansatz programmatisch unterlaufen werden. Vgl. Schilder: The Image and Appearance of the Human Body, S. 7-10. 180  | Vgl. Head/Holmes: »Sensory Disturbances«, S. 186: »It is evident […] that the standard resulting from previous postures and movements, to which immediate reference is made when a fresh position is recognized, cannot be a visual image.« Begründet wird diese Annahme mit der Beobachtung von Patienten, die externe Veränderungen ihrer Körperhaltung nicht korrekt wahrnehmen können, obwohl sie in der Lage sind, sich ein klares Bild von der (vermeintlichen) Lage ihrer Gliedmaßen zu machen. 181  | Ebd., S. 187. Das Zitat wird später sowohl von Schilder als auch von Maurice Merleau-Ponty aufgegriffen.

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dem Schema abgeglichen und durch dieses modifiziert, bevor sie dem Bewusstsein zugänglich gemacht werde.182 Die erste Formulierung des Körperschemas ist in zweifacher Hinsicht aufschlussreich: Erstens wird mit dem Begriff des Schemas in dieser frühen Auseinandersetzung etwas benannt, das dem Bewusstsein vorgängig ist. Das eigene sensomotorische Körpererleben ist also systematisch auf eine Größe bezogen, die nicht vom Bewusstsein kontrolliert wird. Oder, wie es Schilder später ausdrücken wird: »The body which seems so near to ourselves, so well known to ourselves, and so firm, thus becomes a very uncertain possession.«183 Darüber hinaus wird mit dem Begriff des Schemas – der Vergleich mit dem Taximeter deutet es an – eine Anlehnung an die Sphäre des Technischen vorgenommen. In der Beschreibung eines vermeintlich rein biologischen bzw. psychophysiologischen Vorgangs findet sich unerwartet die Metaphorik eines technischen Übersetzungsvorgangs wieder (»transformed into shillings and pence«, »a measured postural change«). Die frühen Autoren zum Körperschema untersuchten insbesondere in klinischen Studien als pathologisch deklarierte Fälle, bei denen neurologische Abläufe gestört waren, um Erkenntnisse über den Normalfall des Funktionierens zu gewinnen. Hier deutet sich eine Medialität des Körpers an, dessen reibungsloses und unhinterfragtes Funktionieren im Normalfall dazu führt, dass er nicht zum Gegenstand der Aufmerksamkeit wird.184 Das Körperschema, so könnte man es medientheoretisch präziser 182  | Ebd., S. 189: »Such schemata modify the impressions produced by incoming sensory impulses in such a way that the final sensation of position, or of locality, rises into consciousness charged with a relation to something that has happened before.« 183  | Schilder: The Image and Appearance of the Human Body, S. 297. 184  | Die Selbstnegierung im Vollzug ist ein Grundcharakteristikum von Medien in einer ganzen Reihe von Medientheorien. Vgl. u. a. Dieter Mersch: »Tertium datur. Einleitung in eine negative Medientheorie«, in: Stefan Münker/Alexander Roesler (Hg.), Was ist ein Medium?, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008, S. 304321, hier S. 304: »›Medien‹ […] besitzen die Eigenart, ihre Medialität in dem Maße zu verhüllen, wie diese Effekte produziert. ›Medien‹ büßen, indem sie etwas zur Erscheinung bringen, ihr eigenes Erscheinen ein. Ihre Anwesenheit hat das Format einer Abwesenheit.« Vergleichbar die im Kursbuch Medienkultur zu findende These: »Medien machen lesbar, hörbar, sichtbar, wahrnehmbar, all das aber mit der Tendenz, sich selbst und ihre konstitutive Beteiligung an diesen Sinnlichkeiten zu löschen und also gleichsam unwahrnehmbar, anästhetisch zu werden.« (Lorenz Engell/Joseph Vogl: »Vorwort«, in: Claus Pias/Joseph Vogl/Lorenz Engell/Oliver Fahle (Hg.), Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, Stuttgart: DVA 2008, S. 8-11, hier S. 10) Allgemein zum Körper als Medium vgl. Wegenstein: »Body«. Eine explizite Auffassung des Körpers als (technisches) Medium stammt aus den psychophysischen Experimenten der von Friedrich Kittler als Aufschreibesystem 1900

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fassen, bildet eine vorbewusste Infrastruktur des Körpers als Medium des Wahrnehmens, Denkens und Handelns. Der Philosoph Shaun Gallagher und der klinische Neurophysiologe Jonathan Cole haben in einem 1995 veröffentlichten Artikel diese Dimension des Körperschemas besonders hervorgehoben: Während man seine Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Ziel richtet, löscht sich der eigene Körper gewissermaßen selbst aus der Aufmerksamkeit aus. Dieses Auslöschen ist möglich, weil das Körperschema normal funktioniert.185

Die These wird zugespitzt zu: »Normalerweise kann man einen Großteil seines Körpers während alltäglicher Verrichtungen einfach vergessen.«186 Neben den über die Hautoberfläche eingehenden taktilen Informationen und visuellen Anhaltspunkten liefere, wie Gallagher in einer späteren Arbeit ausführt, vor allem das propriozeptive System Informationen, die in das Körperschema übernommen werden.187 Propriozeption (von  lateinisch  proprius  ›eigen‹ und  recipere  ›aufnehmen‹) bezeichnet im neurologischen Sinn die Eigenwahrnehmung von Körperhaltung und -lage sowie der Relationen der einzelnen Körperteile zueinander.188 Das propriozeptive System kann als präkognitive Körperfunktion aufgefasst werden, sie ist aber auch das Sinnesensemble, das eine bewusste Orientierung im physischen Raum und gegenüber anderen Körpern erlaubt.189 In der ersten Bedeutung wird das bezeichneten diskursiv-materiellen Konstellation. Kittler weist auf, wie sich die neuen technischen Medien den experimentellen Ergebnissen der Psychophysik verdanken, »die »hinter aller Sinnstiftung und ihrer durchsichtigen Willkür auf den sinnlosen Körper [stößt], der eine Maschine unter Maschinen ist«. (Kittler: Aufschreibesysteme, S. 276) Der Körper wurde in diesen Experimenten als Ensemble einzelner Sinneskanäle verstanden, die selbsttätig arbeiten, ohne auf das Bewusstsein angewiesen zu sein. Aus diesen Einzelfunktionen setzen sich letztlich sämtliche komplexen Kulturtechniken zusammen: »Sprechen und Hören, Schreiben und Lesen kommen um 1900 als isolierte Funktionen, ohne dahinterstehendes Subjekt oder Denken, auf den Prüfstand.« (Ebd., 268) 185  | Shaun Gallagher/Jonathan Cole: »Körperbild und Körperschema bei einem deafferenten Patienten«, in: Fingerhut/Hufendiek/Wild, Philosophie der Verkörperung, S. 174-202, S. 174. Ich zitiere den Aufsatz im Folgenden nach der deutschen Übersetzung. Ursprünglich veröffentlicht wurde er als Shaun Gallagher/Jonathan Cole: »Body Image and Body Schema in a Deafferented Subject«, in: Journal of Mind and Behavior 16 (1995), S. 369-390. 186  | Gallagher/Cole: »Körperbild und Körperschema «, S. 199. 187  | Vgl. Shaun Gallagher: How the Body Shapes the Mind, Oxford: Clarendon Press 2005, S. 45f. 188  | Vgl. ebd., S. 6. 189  | Vgl. Jason Farman: Mobile Interface Theory. Embodied Space and Locative Media, New York: Routledge 2012, S. 31. Gallagher: How the Body Shapes

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propriozeptive System als eine über den und im Körper verteilte Infrastruktur von tausenden Rezeptoren beschrieben, die Informationen an das Gehirn liefern, aus denen sich dann als Kompositstruktur das Körperschema zusammensetzt. Die propriozeptiven Informationen sind enger als andere Sinnesdaten an motorische Programme gekoppelt.190 Gallagher und Cole sind bis heute eine wichtige Referenz im kognitionsphilosophischen Diskurs, weil sie eine klare terminologische Trennung zwischen den Begriffen Körperbild und Körperschema vornehmen. Unter dem Körperschema – und vor allem dieses ist für die folgenden Ausführungen relevant – verstehen sie ein »System von vorbewussten, subpersonalen Prozessen […], die eine dynamische Rolle in der Steuerung von Körperhaltung und Bewegung spielen.«191 Das Körperbild dagegen »besteht aus einer komplexen Menge an intentionalen Zuständen – Wahrnehmungen, mentalen Repräsentationen, Überzeugungen und Einstellungen –, deren intentionales Objekt jeweils der eigene Körper ist«.192 Die terminologische Differenzierung ist vorwiegend analytisch zu verstehen, denn Körperschema und Körperbild bleiben auf der Ebene des Verhaltens eng aufeinander bezogen.193 Dass die Trennung the Mind, S. 7 schlägt daher eine Differenzierung in »proprioceptive information« (unbewusst) und »proprioceptive awareness« (bewusst) vor. 190  | Vgl. ebd., S. 47-51. 191  | Gallagher/Cole: »Körperbild und Körperschema«, S. 174. Die Autoren verweisen in einer Fußnote auf den oben zitierten Henry Head als Quelle. An anderer Stelle spricht Gallagher von einem »system of sensory-motor functions that operate below the level of self-referential intentionality«. (Gallagher: How the Body Shapes the Mind, S. 26) Damit ist im Übrigen nicht gesagt, dass das Körperschema eine rein physiologische Größe wäre. Übung, Praxis, die Kultivierung von Bewegungsmustern wirken durchaus auf das Körperschema zurück. Vgl. ebd., S. 142f. 192  | Gallagher/Cole: »Körperbild und Körperschema«, S. 177. 193  | Vgl. ebd., S. 181f. sowie die Diskussion in Marie-Luise Angerer: »Die Haut ist schneller als das Bild. Der Körper – das Reale – der Affekt«, in: Dies./Henry P. Krips (Hg.), Der andere Schauplatz. Psychoanalyse, Kultur, Medien, Wien: Turia + Kant 2001, S. 181-202, hier S. 182, die das Körperschema als Voraussetzung des Körperbildes begreift, »das heißt, als Mensch geboren zu werden bedeutet, einen Körper (als Schema) zu haben«. In Angerers Text geht es in der Folge allerdings stärker um das Körperbild und dessen Bearbeitung in medialen Anordnungen wie Film und Fernsehen. Kristensen: »Maurice Merleau-Ponty I« schlägt abweichend vor, Körperschema und Körperbild wieder enger zusammenzuführen, insofern auch das Körperschema als »implizite Struktur des Leibes« bzw. »Gestalt, die der leiblichen Bewegung Form und Organisation gibt« (ebd., S. 33) zum Gegenstand von bewussten Vorstellungen des Subjekts werden kann. Schema und Bild seien also eher als implizite und explizite Normen der Bewegung zu verstehen.

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der Konzepte allerdings Sinn macht, belegen Shaun und Gallagher erneut an einem pathologischen Fall: Der inzwischen berühmt gewordene Patient Ian Waters, der vom Hals abwärts keine Propriozeption und keinen Tastsinn mehr hat, muss sein massiv beeinträchtigtes Körperschema aktiv durch das Körperbild ausgleichen. Das bedeutet, dass Waters sämtliche normalerweise automatisierten körperlichen Vollzüge durch bewusste Gedankensteuerung und/oder unter Zuhilfenahme des Sehsinns ausüben muss, kurz: »Haltung bewahren ist für IW viel mehr eine Aktivität als ein automatischer Prozess.«194 Dass die Substitution nur unvollständig und mit wechselhaftem Erfolg gelingt, ist kaum der Betonung wert. Neben der terminologischen Differenzierung in Körperbild und Körperschema sowie dem quasi-technischen Charakter des Körperschemas – »Die Körperhaltung wird fast automatisch gewahrt, Bewegungen laufen wie von selbst ab, ohne dass ihnen Aufmerksamkeit geschenkt werden müsste«195 – ist noch ein dritter Aspekt für eine Untersuchung digitaler Nahkörpertechnologien mit Hilfe des Begriffs des Körperschemas wichtig, nämlich die Fähigkeit des Schemas, externe Gegenstände buchstäblich zu inkorporieren. Während die Grenzen des Körperbildes meist relativ klar definiert und damit unstrittig sind, ist das Körperschema funktional auf die Umwelt abgestimmt.196 Das bedeutet, dass in der Umgebung befindliche Objekte relativ problemlos ins Körperschema integriert werden können bzw. dieses für die Dauer des Kontakts erweitern. Dies gilt für einfache Werkzeuge wie einen in der Hand gehaltenen Hammer, für direkt am Körper getragene Kleidung, aber auch für die Sinne ersetzende Instrumente wie den Blindenstock oder das Körperschema ausdehnende Vehikel wie das Automobil.197 Aus medienwissenschaftlicher Sicht ist diese Flexibilität der Grenzen des Körperschemas ein zentraler Punkt. Kann bereits dem Körperschema selbst eine technische Qualität zugesprochen werden, so ist es darüber hinaus eine Größe, die durch temporäre Kopplungen mit Dingen der Außenwelt wie beispielsweise technischen Objekten transformiert werden kann. Diese Kopplungsverhältnisse können vor einem Verständnis des Körpers als Medium direkt als Modifizierungen des Körperschemas aufgefasst werden. Aspekte des Körperschemas nach Paul Schilder

Geht man auf Paul Schilders Ausführungen in The Image and Appearance of the Human Body zurück, lassen sich noch weitere Eigenschaften des Körperschemas identifizieren. Schilder hatte sein experimentalpsychologische und psychoanalytische Erkenntnisse integrierendes Buch in drei Teile gegliedert, in denen nacheinander die physiologische Basis, die libidinöse Struktur und die soziologische Dimension des Körperschemas behandelt werden. Seine Betrachtung geht also, obwohl sie ebenfalls 194  | Gallagher/Cole: »Körperbild und Körperschema«, S. 183. 195  | Ebd., S. 174. (Hervorhebungen T. K.) 196  | Vgl. ebd., S. 179. 197  | Vgl. zu letzterem Beispiel ebd., S. 200f.

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auf klinische Einzelstudien zurückgreift, weit über den eher eng gesteckten neurowissenschaftlichen Rahmen heutiger Begriffsverwendungen hinaus.198 Insbesondere lässt sich mit Schilder das Körperschema als Effekt historischer Kulturtechniken – und damit auch in Abhängigkeit von Medien – beschreiben und weniger als anthropologische Konstante. Schilder übersetzt den Begriff des Körperschemas allerdings mit »body-image« und arbeitet terminologisch nicht konsistent, was ein Grund für die Unsicherheiten in späteren Verwendungen des Begriffs sein dürfte.199 Zur Charakterisierung dieses ›body-image‹ greift Schilder auf die gestaltpsychologische Idee einer synästhetischen Einheit zurück, die die Aktualisierung in wechselnden Kontexten als Struktur überdauert und die mehr sei als die bloße Addition ihrer Komponenten.200 Originell an Schilders Ausführungen ist die These, dass die Einheit des Körperschemas keine per se stabile sei, sondern dass sie als »phantasmatische Ganzheit«201 prozesshaft ständig wiederhergestellt werde. So formuliert Schilder bereits in der Einleitung: »I hope to show that the postural model of the body is in perpetual inner self-construction and self-destruction. It is living in its continued differentiation and integration.«202 Es ist diese Prozessperspektive auf das Körperschema, die die Aktualität von Schilders Beitrag ausmacht. 198  | Kritisch anmerken muss man an Schilders Darstellung allerdings das

Fehlen jeglicher Thematisierung von Geschlecht, Ethnie, Sexualität, Alter und/ oder sozialer Klassenzugehörigkeit bei der Diskussion des Körperschemas. Vergleichbares gilt für Merleau-Pontys phänomenologische Bearbeitung des Begriffs. Die Argumentationen bewegen sich auf einer sehr grundsätzlichen Ebene und unterschlagen wesentliche Dimensionen von Differenz und gesellschaftlicher Normalisierung. Hier haben insbesondere feministische Autorinnen wertvolle Ergänzungen und Korrekturen geliefert. Vgl. Gail Weiss: Body Images. Embodiment as Intercorporeality, New York: Routledge 1999, S. 20f. und 38 und Elisabeth Grosz: Volatile Bodies. Toward a Corporeal Feminism, Bloomington: Indiana University Press 1994 für eine Kritik implizit androzentrischer Körpertheorien. 199  | Vgl. in dieser Hinsicht kritisch auch Gallagher: How the Body Shapes the Mind, S. 19f. und Hansen: Bodies in Code, S. 51f. Vermittelnd ließe sich anführen, dass das Körperschema auch den Status einer psychischen Repräsentation haben kann, darin aber nicht aufgeht. Vgl. Stefan Rieger: Die Individualität der Medien. Eine Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, S. 380 und Schilder: The Image and Appearance of the Human Body, S. 11. Schilder verwendet häufig Heads Formulierung »postural model of the body«, was die Frage nach der Differenzierung von Bild und Schema ausklammert. 200  | Vgl. ebd., S. 13f. 201  | Rieger: Die Individualität der Medien, S. 377. 202  | Schilder: The Image and Appearance of the Human Body, S. 15f.

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Das Körperschema kann mit Schilder als »labile, dynamische Struktur«203 begriffen werden, genauer: als Prozess der Strukturierung. The postural model of the body has to be built up. It is a creation and not a gift. It is not a shape […], but the production of a shape. There is no doubt that this process of structuralization is only possible in close contact with experiences concerning the world. 204

Schilders Ausführungen zur Ontogenese des Körperschemas beim Kind nehmen vieles vorweg, was Lacan später mit dem Begriff des Spiegelstadiums beschrieben hat.205 Was für die physiologische Ebene gilt, lässt sich auch von der libidinösen Dimension des Körperschemas behaupten: Die emotionale Besetzung einzelner Teile des Körpers – in Verbindung mit der Aufmerksamkeit, die das soziale Umfeld dem Körper des Einzelnen widmet – führe dazu, dass das Körperschema auch im Laufe eines Erwachsenenlebens anhaltenden Umbauprozessen unterworfen sei. Seine Integrität sei nicht gewährleistet, sondern die Stabilisierung der eigenen Körpergrenzen erfordere konstante Arbeit, wobei die somatische Topologie andauernden Irritationen ausgesetzt sei: The body-image is the result of an effort and cannot be completely maintained when the effort ceases. The body-image is, to put it in a paradoxical way, never a complete structure; it is never static: there are always disrupting tendencies. With the changing physiological situations of life new structuralizations have to take place, and the life situations are always changing. 206

203  | Kristensen: »Maurice Merleau-Ponty I«, S. 35, hier mit direktem Bezug auf

Schilder. 204  | Schilder: The Image and Appearance of the Human Body, S. 113. 205  | Vgl. ebd., S. 104-106 sowie S. 273: »The interest we have in mirrors is the expression of the lability of our own postural model of the body, of the incompleteness of the immediate data, of the necessity of building up the image of our body in a continual constructive effort.« Zum Spiegelstadium vgl. Jacques Lacan: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint« (1949), in: Jacques Lacan. Schriften I, hrsg. v. Norbert Haas, Berlin: Quadriga 1991, S. 61-70. 206  | Schilder: The Image and Appearance of the Human Body, S. 287. Auch diese Formulierungen antizipieren Aspekte der neueren Theoriebildung zum Körper, besonders im New Materialism. Karen Barad hat beispielsweise im Anschluss an Haraways Infragestellung der Gegebenheit von Körpergrenzen eine ontologische Neudefinition der grundlegenden Materialität von Körpern als Prozess der fortlaufenden Materialisierung vorgeschlagen. Vgl. Barad: Agentieller Realismus, S. 55f.

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Laut Schilder sei das Körperschema anfällig für Störungen und seine Produktion stelle sich als »continual struggle«207 dar, wobei diese Konflikte selten im Lichte des Bewusstseins ausgetragen würden: The structure of the body-image in its purely physiological sense is to a great extent based upon processes which remain in the background of the consciousness. It is there that an active construction of the image of the body takes place. It is true that a part of this construction is certainly completely out of the field of consciousness, but it is also represented by conscious and ‹unconscious‹ psychic processes. 208

Das Körperschema ist somit eine Struktur, die insofern als Automatismus gefasst werden kann, dass sie einen Zwischenzustand zwischen bewussten und unbewussten Anteilen innehat. Schilder verfolgt in einem Exkurs, was seine Ausführungen zum Körperschema über die menschliche Handlungskapazität aussagen.209 Er geht dabei zunächst auf Hugo Liepmanns Arbeiten zur Apraxie ein. Darunter wird eine Störung der Ausführung zielgerichteter willkürlicher Bewegungen verstanden. Liepmann war grundsätzlich von einem planvollen Handeln ausgegangen, das entlang von »Teilzielvorstellungen« voranschreite.210 Schilder modifiziert das Modell eines Handlungsplans, der schrittweise in Innervationen umgesetzt werde: There is no question that such a plan exists. But it would be wrong to believe that this plan exists in the full light of consciousness. The plan is not given in clear representations and images. When we want to move our arm, when we want to grasp an object, when we want to light a match, there is no question that very little of the necessary actions and innervations is in our mind. We are not clear which part of the body we want to move. We are also not clear to which particular part of the object our action will be directed. 211

Anstelle eines Generalplans, der die Umsetzung einer geordneten Bewegung gleichsam algorithmisch vorgibt, nimmt Schilder also an, dass es eine Art geteilte agency zwischen intentionalem Bewusstsein und verkörperter Intelligenz gebe. In seiner Modellierung wird der Plan durch einen Handlungskeim ersetzt, der erst im Vollzug der Handlung und in Reaktion auf rückläufige Empfindungen zur Entwicklung kommt. Schilder skizziert hier in noch recht groben Zügen ein frühes Modell von verkörperter Kognition. 207  | Schilder: The Image and Appearance of the Human Body, S. 297. 208  | Ebd., S. 291. 209  | Vgl. ebd., S. 50-58. 210  | Vgl. ebd., S. 50. 211  | Ebd, S. 51.

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Auch kulturelle Aspekte des Körperschemas werden von Schilder thematisiert. Insbesondere die Kleidung erlaube ein Experimentieren mit dem eigenen Körperschema. Willentliche Modifikationen des Körperschemas erscheinen als spielerisches Probehandeln, in dem sich Wunschkonstellationen artikulieren. Human beings are bound and tied down by their body-images. One of the motives of transformation and of clothing is the desire to overcome the rigidity of the body-image. […] It is a continuous play with the body and with the body-image. 212

Voraussetzung für die Möglichkeit des Experimentierens sei laut Schilder der Prozess der Einverleibung von Objekten, die in einem engen Kontakt zum Körper stehen.213 »The more rigid the connection of the body with the object is, the more easily it becomes part of the body-image.«214 Das Körperschema funktioniert folglich als eine »integrative Instanz, die organische und kulturelle Körper-Teile miteinander verschmilzt«.215 In dieser Hinsicht erscheint es Kernbegriff für eine Beschreibung anthropomedialer Relationen. Leib und Welt: Das Körperschema bei Maurice Merleau-Ponty

Warum ist die Variabilität und Erweiterungsfähigkeit des Körperschemas, gerade mit Bezug auf Technologien, relevant? Um diese Frage zu beantworten, möchte ich in aller Kürze auf Merleau-Pontys Beitrag zur Frage nach dem Körperschema zu sprechen kommen.216 Der französische Philosoph übernahm den Begriff von Schilder und machte ihn zum Ausgangspunkt seiner Phänomenologie des Leibes, die 212  | Ebd., S. 206. Als weitere Praktiken einer Aufweichung des Körperschemas nennt Schilder Gymnastik und Tanz.

213  | Vgl. ebd., S. 202. Der Blindenstock taucht bereits bei Schilder als Beispiel

für diesen Vorgang auf, das sich in sämtlichen späteren Behandlungen des Themas bis hin zu Merleau-Ponty wiederfindet. 214  | Ebd., S. 213. 215  | Tischleder: Body Trouble, S. 63. 216   |  Eine ausführliche Diskussion der Leibphänomenologie Merleau-Pontys findet sich in Bernhard Waldenfels: Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000. Auf das Körperschema wird auf S. 110-120 näher eingegangen. Zum Status des Unbewussten für Merleau-Ponty vgl. Stephan Günzel/Christof Windgätter: »Leib / Raum. Das Unbewusste bei Maurice Merleau-Ponty«, in: Michael B. Buchholz/Günter Gödde (Hg.), Das Unbewusste in aktuellen Diskursen. Anschlüsse, Gießen: Psychosozial-Verlag 2005, S. 582-613, die argumentieren, dass im Werk des französischen Phänomenologen »der sinnlich-sinnhafte Bezug des Menschen zur Welt« insofern als ›unbewusst‹ bezeichnet werden könne, weil »der das Bewusstsein tragende

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hier nicht in größerem Umfang Thema sein kann – insbesondere auch deshalb, weil Merleau-Ponty den Körperschema-Begriff in seinen späteren Arbeiten seltener verwendet und sich vollständig auf die Ausarbeitung des Leibbegriffs konzentriert. 217 Die phänomenologische Karriere und Weiterentwicklung des Körperschema-Begriffs hat allerdings zu einem Re-Import in die Neurowissenschaften geführt.218 Merleau-Pontys Projekt ist an dieser Stelle vor allem deswegen interessant, weil es ihm ausgehend von Husserl in einem umfassenden Sinn um die »Frage nach der Subjektivität leiblicher Existenz«219 geht. Merleau-Ponty definiert das Körperschema folgendermaßen: »Was wir das Körperschema nannten, ist eben dieses System von Äquivalenzen, diese unmittelbar gegebene Invariante, auf Grund deren die verschiedensten Bewegungsaufgaben augenblicklicher Transposition fähig sind.«220 Es handele sich beim Körperschema allerdings nicht bloß um eine der Konstitution des Leibes zugrunde liegende koordinierende Größe, sondern vielmehr in einem weiteren Sinn um »eine Erfahrung meines Leibes in der Welt«.221 Für Merleau-Ponty ordnen sich die Weltbezüge vom unhintergehbaren Nullpunkt des Leibes aus, dessen somatische Struktur als »apriorische Einheit«222 in allen Bewegungen, Haltungen und Dispositionen zur Geltung komme.223 Merleau-Ponty schreibt, dass nie der objektive Körper bewegt werde, sondern immer der »phänomenale Leib«, und das im Rahmen einer »Anzahl vertrauter HandlunLeib« und der »umgebende[.] Raum« unter Ausschluss des Bewusstseins vielfältige Beziehungen eingingen. (Ebd., S. 582) 217  | Merleau-Ponty übernimmt eine ganze Reihe von Konzepten von Husserl, darunter die Idee des Leibes als Nullpunkt der Orientierung bzw. als umfassendes Ordnungsschema. Für Husserls Grundlegung einer Philosophie der verkörperten Subjektivität vgl. Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Buch 2. Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution, Dordrecht: Kluwer 1991 [1913], insbesondere das Kapitel »Die Konstitution der seelischen Realität durch den Leib«, S. 143-161. 218  | Gallagher und Cole stehen am Kreuzungspunkt der Diskurse. Sie heben hervor, dass die von ihnen herausgearbeiteten begrifflichen Nuancierungen »eher in der Phänomenologie als in empirischen Studien begründet« seien. (Gallagher/Cole: »Körperbild und Körperschema«, S. 181) 219  | Kristensen: »Maurice Merleau-Ponty I«, S. 23. 220  | Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 171. 221  | Ebd. 222  | Ebd., S. 26. 223  | Vgl. Gesa Lindemann: »Leiblichkeit und Körper«, in: Robert Gugutzer/Gabriele Klein/Michael Meuser (Hg.), Handbuch Körpersoziologie. Band 1: Grundbegriffe und theoretische Perspektiven, Wiesbaden: Springer VS 2017, S. 57-66, hier S. 59: »Rechts/links, oben/unten oder vorn/hinten beschreiben räumliche Orientierungen, in denen der eigene Leib spontan wie ein Nullpunkt fungiert.«

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gen«, die auf ein konkretes Milieu bezogen seien.224 Erst der vom Körperschema organisierte Leib sorge für die Synthesis von Wahrnehmungen: »Das Sichtbare hat ein Unsichtbares, das Wahrgenommene ein Nichtwahrgenommenes zur Bedingung, das es von innen her stützt, ohne sich in dem, was es stützt, zu erschöpfen.«225 Der Leib nimmt also eine besondere Position unter den Gegenständen des Wahrnehmungsfeldes ein, insofern er immer zugleich Wahrgenommenes wie Wahrnehmendes ist. In dieser Hinsicht ist er unverfügbar, gleichsam ein blinder Fleck in der sinnlich wahrnehmbaren Welt. Vom Körperschema her organisieren sich laut Merleau-Ponty alle Umweltbezüge des Leibes, darunter die Koordinierung der Glieder im Rahmen der Bewegung und die Konstituierung eines Feldes der sinnlichen Wahrnehmung.226 Angenommen wird demnach eine prä- oder außerreflexive Verschränkung von Leib und Welt in dem Sinne, dass das Feld der Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten immer schon durch das Körperschema vorgeprägt sei.227 Genau diese durch das Körperschema vorgegebenen Schnittstellen zwischen Organismus und Umwelt sollte Gibson später als Affordanzen bezeichnen.228 Merleau-Ponty bezieht sich in seiner Darstellung unter anderem auf den theoretischen Biologen Jakob von Uexküll, der schon in den 1910er-Jahren den Umweltbegriff verwendete, um die Wechselwirkungen zwischen Tieren und ihrer Umgebung zu beschreiben.229 Laut Uexküll nehmen Organismen nur sehr selektiv Ausschnitte aus ihrer Umgebung wahr, sodass sie gleichsam in ein ›gläsernes Gehäuse‹ eingefasst sei-

224  | Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 130f. 225  | Kristensen: »Maurice Merleau-Ponty I«, S. 32. 226  | Vgl. ebd., S. 31. Zur weltstiftenden Potenz des Körperschemas vgl. die

autobiografischen Ausführungen Oliver Sacks’ in Sacks: Der Tag, an dem Bein fortging, S. 162-165, wo er die Neujustierung des Körperschemas bei seinen ersten Gehversuchen nach der Operation als buchstäbliche »Vermessung einer Welt« (ebd., S. 164) mit plötzlichen Maßstabssprüngen erlebt. 227  | Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 170: »Mein Leib hat seine Welt oder begreift seine Welt, ohne erst den Durchgang durch ›Vorstellungen‹ nehmen oder sich einer ›objektivierenden‹ oder ›Symbol-Funktion‹ unterordnen zu müssen.« 228  | Vgl. Gallagher: How the Body Shapes the Mind, S. 141. Nach Bezugnahme auf Gibson schreibt Gallagher: »The floor affords walking, the chair affords sitting, the mountain affords climbing, and so forth, only in conjunction with the possibilities of particular postural models.« 229  | Vgl. Maurice Merleau-Ponty: Die Struktur des Verhaltens, Berlin: de Gruyter 1976 [frz. OA 1942], S. 182 für eine direkte Bezugnahme auf Uexküll. Darüber hinaus verwendet Merleau-Ponty den Umweltbegriff ohne explizite Nennung seiner Herkunft.

4. Verkörperungen des Smartphones

en, das bestimmte Relevanzstrukturen vorgebe.230 Medienanthropologisch lässt sich hieran die Frage anschließen, wie technologisch modifizierte Umwelten bzw. präziser eine Modifikation des Körperschemas durch Nahkörpertechnologien das Verhältnis von Organismus und Umwelt beeinflussen. Wenn nun für Merleau-Ponty Subjektivität in erster Linie leiblich strukturiert ist, dann betrifft eine habituelle Veränderung dieser apriorischen Struktur unmittelbar das ›Zur-Welt-Sein‹ der Subjekte.231 Die Gewohnheit begreift Merleau-Ponty als »Verwandlung und Erneuerung des Körperschemas«.232 Er schreibt zur allmählichen Verkörperung von Artefakten: Sich an einen Hut, an ein Automobil oder an einen Stock gewöhnen heißt, sich in ihnen einzurichten, oder umgekehrt, sie an der Voluminosität des eigenen Leibes teilhaben lassen. Die Gewohnheit ist der Ausdruck unseres Vermögens, unser Sein zur Welt zu erweitern oder unsere Existenz durch Einbeziehung neuer Werkzeuge in sie zu verwandeln. 233

Im Folgenden wird für den Fall von digitalen Nahkörpertechnologien danach gefragt, was ein derartiger Vorgang der Inkorporation mobiler internetfähiger Geräte für das Individuum und seine Umweltbezüge bedeutet.

4.3.2 Smartphones und das Körperschema Was heißt es also, ein multipel vernetztes Objekt wie das Smartphone »an der Voluminosität des eigenen Leibes teilhaben [zu] lassen«? Zunächst lässt sich annehmen, wie für jedes herkömmliche Werkzeug auch, dass der Gebrauch das Körperschema 230  | Vgl. Julian Jochmaring: »Im gläsernen Gehäuse. Zur Medialität der Umwelt bei Uexküll und Merleau-Ponty«, in: Christina Bartz/Timo Kaerlein/Monique Miggelbrink/Christoph Neubert (Hg.), Gehäuse: Mediale Einkapselungen, Paderborn: Fink 2017, S. 253-270. 231  | Vgl. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 125f., wo Merleau-Ponty das Körperschema mit dem »Zur-Welt-sein meines Leibes« (ebd., S. 126) gleichsetzt. 232  | Ebd., S. 172. Die überraschende Zusammenziehung von Gewohnheit mit dem Neuen stellt einen Kerngedanken der Automatismenforschung dar, demzufolge emergente Strukturen sich häufig gerade als Ergebnisse von Wiederholungen ausbilden. Die Gewohnheit als wiederholte Praxis führt also nicht bloß zu Verhärtung und Erstarrung, sondern kann auch zu Modifikationen des Körperschemas Anlass geben. Vgl. zu diesem Zusammenhang Bublitz: »These 2« und Hartmut Winkler: »These 13: Automatismen haben einen engen Bezug zur Wiederholung, zur Gewohnheit und zur Schemabildung«, in: Bublitz et al., Automatismen, S. 234-236. 233  | Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 173.

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modifiziert.234 Das Smartphone kann also in einer ersten Annäherung in Analogie zu anderen körpernahen Techniken wie beispielsweise einer Brille verstanden werden: Die Brille wird während des Tragens nicht als Fremdkörper empfunden, sondern sie wird ins Körperschema inkorporiert. Zusätzlich modifiziert sie dieses allerdings aktiv, indem sie direkt in die Aktivität der Sinne eingreift. Die Technikphilosophin Luna Dolezal schreibt: »The tool modifies the intentional attitude of the lived body, expanding and transforming its scope of possible activity.«235 Dolezal bezieht sich in der Folge auf die Arbeiten Don Ihdes, der am Beispiel der Brille einen Wandel in der Stellung des technischen Objekts zum menschlichen Wahrnehmungsapparat beschreibt: »The relation of mediation between ›I-glasses-world‹ becomes ›(I-glasses)-world‹.«236 Die Dauer der habitualisierten Nutzung führe dazu, dass körpernahe Objekte der eigenen leiblichen Organisation zugerechnet würden und nicht länger als Gegenstände der Wahrnehmung und Aufmerksamkeit in Erscheinung treten. Ingrid Richardson fasst das Argument zusammen: In the case of wearable technologies and their transformative effects upon our sensorium and felt corporeal limits, the body and instrument form a temporary collusive entity […] which then apprehends or handles the world in specific ways. 237

Wird eine Nahkörpertechnologie also dem Körperschema zugeschlagen, kann sie nicht zugleich als Gegenstand in der Welt wahrgenommen werden. Zwar mag die derzeitige Realisierung des Smartphones als in der Hand gehaltenes Objekt einer Inklusion ins Körperschema noch Widerstände entgegensetzen, aber die Interface-Entwicklung tendiert zu einer stärkeren, mithin intimeren Verbindung von Körper und Gerät im Sinne eines Wearable Computing. Auf das damit verbundene erkenntnistheoretische Problem hat der theoretische Physiker Niels Bohr hingewiesen: In einem häufig zitierten Beispiel führt er an, dass die Orientierung in einem dunklen Raum mit Hilfe eines Stocks nur dann gelinge, 234  | Wird das Smartphone eng am Körper getragen, ist dies sogar für den Fall

des Nicht-Gebrauchs zutreffend: Das haptische und propriozeptive Sensorium stellt sich auf die Präsenz des Objekts derart ein, dass seine Abwesenheit als Empfindung ins Bewusstsein rücken kann. Vgl. die Ausführungen zu Phantomvibrationen weiter unten. 235  | Luna Dolezal: »The Remote Body. The Phenomenology of Telepresence and Re-Embodiment«, in: Human Technology 5/2 (2009), S. 208-226, hier S. 215. 236  | Ebd., S. 216. Dolezal zitiert Ihde: Technology and the Lifeworld, S. 73. 237  | Vgl. Richardson: »Mobile Technosoma«. Insbesondere betrifft diese Inkorporierung die das Gerät bedienende Hand, »a body-part in itself of some consequence as a mutable and world-shaping device« (ebd.) und die damit verbundenen Möglichkeiten zur Handlung in der Welt.

4. Verkörperungen des Smartphones

wenn dieser fest gehalten und damit zum Teil des Sensoriums würde. Halte man den Stock dagegen locker, wird er für den Tastsinn selber zum Objekt und kann nicht mehr als Beobachtungsinstrument dienen. Die beiden Praktiken schließen sich wechselseitig aus, der Stock ist je nach vollzogener Handlung entweder Teil des beobachtenden Subjekts oder selber Objekt.238 Kurz: Die auf der Nase sitzende Brille entzieht sich der Anschauung und damit auch einer objektivierenden Betrachtung als Gegenstand des Wissens bzw. der Kritik. Wenn das Körperschema neben der taktilen, propriozeptiven und kinästhetischen Wahrnehmung des eigenen Körpers auch sensomotorische Vermögen sowie die »Abgrenzung des eigenen Körpers im sozialen Raum«239 umfasst, kann man beginnen zu beschreiben, auf welche Weise diese Größen durch die körpernahe Verwendung von internetfähigen Mobilgeräten verändert werden. Gerade der letztgenannte Punkt, die intersubjektive Dimension der Verkörperung, wird von der Proliferation digitaler Netzwerke in Verbindung mit mobilen Endgeräten tangiert. Jason Farman verwendet den Begriff ›social proprioception‹, um auf eine veränderte Selbstverortung von Individuen im sozialen Raum im Zuge der Nutzung mobiler Medien aufmerksam zu machen.240 Insbesondere ortsbezogene Dienste und Social-Media-Angebote, die den physischen Ort der Teilnehmer miteinbeziehen, beeinflussen die Situierung des Selbst in Relation zu anderen: I know where I am (and how I am) because I am always relating my space to the spaces you inhabit. The self’s identity extends beyond the immediate context and encompasses a much broader socio-spatial sphere.« 241

Farmans These an dieser Stelle ist, dass die körperlich bestimmte Identität sich in dem Maße verändert, wie digitale Mobilmedien neue Sichtbarkeiten des soziokulturellen Kontexts generieren, in welchen das Individuum eingebettet ist. Das Körperschema werde dadurch gleichsam ausgedehnt in den intersubjektiven, sozialen Raum.242 Bereits Schilder hatte darauf aufmerksam gemacht, dass die Sinnesorgane und 238  | Bohrs Beispiel wird diskutiert in Barad: Agentieller Realismus, S. 45-47. 239  | Tischleder/Winkler: »Portable Media«, S. 98. 240  | Vgl. Farman: Mobile Interface Theory, S. 27. Zugleich ist damit die These

verbunden, dass Verkörperung nicht notwendigerweise und exklusiv im physischen Raum stattfindet. Vgl. ebd., S. 21f. 241  | Ebd. Vergleichbar, wenn auch mit deutlich kritischer Konnotation Sherry Turkle: »Always-on/Always-on-you. The Tethered Self«, in: James E. Katz (Hg.), Handbook of Mobile Communication Studies, Cambridge, Mass.: MIT Press 2008, S. 121-137, hier S. 132: »Today’s communications technology provides a social and psychological GPS, a navigation system for tethered selves.« 242  | Vgl. zu diesem Punkt die Ausführungen zum Smartphone als Selbst-Technologie und dem Selbst-als-Relation in Kapitel 2.5.

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andere exponierte Körperteile wie beispielsweise Ex-tremitäten von besonderer Bedeutung für die Zusammensetzung des Körperschemas (body-image) als phantasmatischer Ganzheit seien: [T]he postural model of the body is especially developed by contact with the outside world, and […] those parts of our body which come in a close and varied contact with reality are the most important ones. 243

Als Beispiele nennt Schilder unter anderem den Fuß – »The foot gives us the most intimate touch with the earth«244 – und die Hand. Insbesondere die Sinne stellen den Kontakt zur Welt her und moderieren das Verhältnis von Körper und Umgebung. Hier lassen sich durchaus Analogien zum Smartphone ziehen, insofern das Gerät u. a. •











anhaltend Informationen aus sozialen Netzwerken liefert und dadurch die Situation einer »ambient virtual co-presence«245 mit Freunden und anderen sozialen Kontakten herstellt; den jederzeitigen Zugriff auf die Informationsressourcen des WWW ermöglicht, sodass kontext- und handlungsrelevantes Wissen situationsspezifisch abgerufen werden kann; mittels einer Reihe von Applikationen dem Management von Terminen und Erinnerungsobjekten (Textnachrichten, Fotos, Bewegtbildaufnahmen) dient, sodass sich damit Erinnerungs- und Archivierungspraktiken neu organisieren lassen246; mittels Augmented Reality (AR)-Anwendungen Sehenswürdigkeiten, geografische Merkmale, Ausstellungsstücke in einem Museum, Produkte, sogar Personen mit einem Informations-Overlay versehen kann; selber dank GPS-Receiver in der Lage ist, seine geografische Position zu ermitteln und an Kartendienste oder andere ortsbasierte Anwendungen zu kommunizieren247; mittels Mobile Health-Anwendungen, Gesundheits- und Fitnessapps Körper-

243  | Schilder: The Image and Appearance of the Human Body, S. 64. 244  | Ebd. 245  | Mizuko Itō/Daisuke Okabe: »Technosocial Situations. Emergent Structur-

ing of Mobile E-Mail Use«, in: Mizuko Itō/Daisuke Okabe/Misa Matsuda (Hg.), Personal, Portable, Pedestrian. Mobile Phones in Japanese Life, Cambridge, Mass.: MIT Press 2005, S. 257-273, hier S. 264-266. 246  | Vgl. Hand: »Persistent Traces«. 247  | Vgl. ausführlich zu den Ortungskapazitäten von Smartphones Regine Buschauer/Katharine S. Willis (Hg.), Locative Media. Medialität und Räumlichkeit, Bielefeld: transcript 2013, Frith: Smartphones as Locative Media und Kapitel 5.4 der vorliegenden Arbeit.

4. Verkörperungen des Smartphones

messwerte und Vitalzeichen generiert, visualisiert und kommuniziert, die eineneue Sichtbarkeit des Körpers selbst erlauben.248 Kurz: Das Smartphone hat sich zu einem alltäglichen Medium ent-wickelt, das seine Anwender über die biologische Sinnesausstattung hinaus mit diversen Informationen beliefert und somit in die Relation zwischen Selbst und Umwelt interveniert. Traditionell waren die Sinne die Organe mit dem meisten Außenkontakt, in Zeiten digitaler Nahkörpertechnologien haben sie Konkurrenz bekommen, was den Datendurchsatz und die Anzahl der ein- und ausgehenden Verbindungen angeht. Für die hier verfolgte Argumentation ist aber weniger entscheidend, dass digitale Nahkörpertechnologien als aktive Supplementierung der Sinne fungieren – das wäre im Grunde eine klassische Prothesentheorie –, sondern dass die prinzipielle Verfügbarkeit und unproblematische Abrufbarkeit dieser Informationen zur Prädisposition werden kann. Um noch einmal Andy Clarks Beispiel der Armbanduhr heranzuziehen: Wenn ein Uhrträger nach der Zeit gefragt wird, weiß er sie, sie ist kein externes Wissen, zu dem ein Zugang erst erschlossen werden müsste.249 Auf vergleichbare Weise lassen sich das soziale Umfeld, die Umgebung oder Erinnerungen betreffende Wissensbestände dank digitaler Nahkörpertechnologien als Aspekte eines verkörperten Vermögens modellieren. Aufgrund der technisch veränderten Schnittstellen zur Umwelt stehen Smartphonenutzer prinzipiell auf der Ebene des ihre Subjektivität begründenden Körperschemas in einem anderen Passungsverhältnis zu ihrer (medientechnisch vermittelten) Umgebung. Den Gedanken radikalisierend, lässt sich weiter – nun in klarer Abgrenzung zu Prothesentheorien – an das anknüpfen, was Schilder zu den Öffnungen des Körpers ausführt: »The enormous psychological importance of all openings of the body is obvious, since it is by these openings that we come in closest contact with the world.«250 248  | Vgl. Ramón Reichert: »Digitale Selbstvermessung. Verdatung und soziale

Kontrolle«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 13/2 (2015), S. 66-77, hier S. 76: »Die Konvergenz von mobilen Medien, Sensornetzwerken, GPS-gestützten Lokalisierungen, automatischen Identifikationsverfahren, digitalen Datenvisualisierungen und social web-Anwendungen hat dazu geführt, dass biometrische Apparate, Technologien und Visualisierungen einen gesellschaftlichen Trend der digitalen Selbstvermessung ausgelöst und dabei neue Formen von Steuerungs- und Kontrollwissen entwickelt haben.« 249  | Vgl. Clark: Natural-Born Cyborgs, S. 40. 250  | Schilder: The Image and Appearance of the Human Body, S. 124. Schon die Haut als Umhüllung und Oberfläche des Körpers ist »Grenze und Öffnung zugleich: Sie gewährt einerseits Schutz vor äußeren, den Organismus potentiell bedrohenden Reizeinwirkungen, steht aber andererseits über ihre Permeabilität in ständigem Kontakt mit der Welt«. (Barbara Becker: »Grenzmarkierungen und Grenzüberschreitungen. Anmerkungen zur aktuellen Debatte über den Körper«, in: Marie-Luise Angerer/Kathrin Peters/Zoë Sofoulis (Hg.), Future Bodies. Zur

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Körperöffnungen sind demnach besonders sensible Punkte, an denen die Integrität des Körperschemas labil erscheint. Hier kommt es zu einem Stoffwechsel mit der Außenwelt, der im Regelfall funktional ist – Atmung, Nahrungsaufnahme, Fortpflanzung, Ausscheidung von für den Organismus unverwertbaren Resten, etc. –, der aber auch einer besonderen Gefährdung unterliegt. So sind die Öffnungen des Körpers empfindlich für Infektionen und der Organismus tut alles daran, Öffnungen an nicht vorgesehenen Stellen (z. B. Verletzungen der Epidermis) schnellstmöglich wieder zu schließen. Das Beispiel der Körperöffnungen eignet sich in besonderer Weise, um die vielschichtigen Überlagerungen somatischer, technischer, psychosozialer und kultureller Operationen der Grenzziehung und -verletzung aufzuzeigen, die mit der Proliferation digitaler Nahkörpertechnologien neu verhandelt werden.251 Wendy Hui Kyong Chun begreift Computer – worunter explizit auch Smartphones fallen – als »deceptively sealed, deceptively personal [devices]«.252 Die ein- und ausVisualisierung von Körpern in Science und Fiction, Wien: Springer 2002, S. 251271, hier S. 257) 251  | Neuere körpertheoretische Ansätze modifizieren dagegen die Vorstellung des Körpers als integrativer Einheit, wie sie Schilders Modell des Körperschemas zugrunde liegt. Neben den Gender Studies haben vor allem die Disability Studies angeregt, das Verhältnis von Körpern und Umwelten prinzipiell als durchlässiges ohne festgelegte Grenzverläufe zu fassen. Körper gelten in diesen Ansätzen als umweltlich ko-konstituiert und weniger als abgeschlossene Entitäten, wie es zumindest die Betonung des Gefährdungspotenzials von Körperöffnungen im Anschluss an Schilder nahelegt. Sie stünden stattdessen in einem ständigen Prozess des materiellen Austauschs mit ihrer Umwelt. Vgl. Margrit Shildrick: »Beyond the Body of Bioethics. Challenging the Conventions«, in: Dies./Roxanne Mykitiuk (Hg.), Ethics of the Body. Postconventional Challenges, Cambridge, Mass.: MIT Press 2005, S. 1-26, hier S. 7: »Against the inherent failure of the modernist model in which each form is bounded and self-complete, the postmodernist claim is that all corporeality is inherently leaky, uncontained, and uncontainable«. Vgl. ausführlicher zu dieser These Margrit Shildrick: Leaky Bodies and Boundaries. Feminism, Postmodernism and (Bio)Ethics, London: Routledge 1997 sowie als theoretische Referenz vieler Ansätze der Disability Studies Julia Kristevas Theorie des Abjekts, in der ebenfalls die Vorstellung eines ganzheitlichen, selbstgenügsamen Körpers in Frage gestellt und stattdessen die aktive kulturelle wie psychosomatische Konstruktionsleistung ›sauberer‹ und ›ordentlicher‹ Körper hervorgehoben wird. Vgl. Julia Kristeva: Powers of Horror. An Essay on Abjection, New York: Columbia University Press 1982 und die Zusammenfassung in Tischleder; Body Trouble, S. 67-75. Ich danke Käthe von Bose und Olga Tarapata für den Hinweis auf die Disability Studies in diesem Zusammenhang. 252  | Wendy Hui Kyong Chun: »Habitual New Media«, Vortrag am Barnard College, New York, 10.10.2013, online unter https://vimeo.com/78287998, zul. aufgeruf. am 6.2.2017.

4. Verkörperungen des Smartphones

gehenden Verbindungen der in allen modernen Computern eingebauten EthernetNetzwerkkarten, die mit einem sogenannten Packet Sniffer sichtbar gemacht werden können, sind kaum zu überschauen. Alle durch ein Glasfaserkabel gesendeten Datenpakete werden zunächst ausgelesen, bevor diejenigen gelöscht werden, die nicht an die IP-Adresse der Ethernet-Karte adressiert sind. Wendy Chun greift zur Beschreibung dieses Vorgangs auf den von Ingenieuren verwendeten Ausdruck »promiscuous mode« zurück, der eine Standardeinstellung des Sniffers bezeichnet, in der alle Pakete an die CPU durchgestellt werden.253 Chun betont allerdings, dass die standardmäßige Funktionsweise von Netzwerkkarten das massenhafte Auslesen von in Reichweite befindlichen Datenpaketen bereits umfasst: The technical term ›promiscuous mode‹ […] is a misnomer: whether or not you make your network card promiscuous, it acts promiscuously. A network card only appears faithful to its user because it discreetly erases – that is, does not write forward – its indiscretions. 254

Dem Vergleich mit der Promiskuität als Verletzung einer sozialen Norm stellt Chun die Verletzung einer körperlichen Norm zur Seite. Computer seien »leaky«, sie verlören konstant Daten, kurz: sie seien inkontinent. Mit der Betonung der Leaks hebt Chun auf den Umstand ab, dass die persönlichen digitalen Geräte, denen so großes Vertrauen entgegengebracht wird, offenbar nicht zuverlässig die Innen-AußenGrenze regulieren können.255 Die Nutzung von Smartphones trägt zur Erosion und Kompromittierung der Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem, Arbeit und Freizeit, Nah und Fern bei. Die oben angesprochene prinzipielle Durchlässigkeit und Labilität der Körpergrenzen, für die die Öffnungen des Körpers der sichtbarste Ausdruck sind, spiegelt sich in den körpernahen Geräten. Anders als die ebenfalls körpernahe Kleidung, die traditionell immer neben einer ästhetischen auch eine Schutzfunktion übernommen hat, können Smartphones vielleicht treffender als intime Ein- und Austrittspunkte verstanden werden.256 253  | Vgl. Wendy Hui Kyong Chun: Control and Freedom. Power and Paranoia in the Age of Fiber Optics, Cambridge, Mass.: MIT Press 2006, S. 4. 254  | Chun: Updating to Remain the Same, S. 51f. 255 | Vgl. ebd., S. 52: »Our devices, our computers, constantly leak. They are wonderfully creepy.« [Im Original fettgedruckt] 256  | Eine solche Interpretation, die das Smartphone in Analogie zu einer Kör-

peröffnung begreift, steht in einem interessanten Gegensatz zu frühen Bezugnahmen auf Mobiltelefone, die gerade deren phallischen Charakter betonten. Vgl. Regine Buschauer: Mobile Räume. Medien- und diskursgeschichtliche Studien zur Tele-Kommunikation, Bielefeld: transcript 2010, S. 284 zu Urban Legends um angeblich in den 1990er-Jahren aufkommende Handy-Attrappen. Nachdem Mobiltelefone zunächst exklusiv von Geschäftsleuten genutzt

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Wenn Chun ein metaphorisches Vokabular heranzieht, das mit Promiskuität und Inkontinenz auf Normbrüche und Grenzverletzungen abhebt, greift sie damit implizit ältere Diskurse um ›neue Medien‹ auf. So hatte Joshua Meyrowitz die elektronischen Medien Radio und Fernsehen analog zu architektonischen ›Durchbrüchen‹ in der schützenden Außenhaut des Zuhauses porträtiert: Die elektronischen Medien jedoch stehlen sich an Orte wie Diebe in der Nacht. Die ›Gäste‹, die ein Kind durch elektronische Medien empfängt, lassen sich nicht länger an der Tür aufhalten, wo sie der Hausherr und die Hausfrau begutachten könnten. Wenn erst einmal ein Telefon, Radio oder Fernseher im Hause ist, haben die räumliche Isolation und das Bewachen des Eingangs keine Auswirkung mehr auf den Informationsfluß. 257

Während älteren Medien eine Kompromittierung der Grenzen des Heims zugesprochen wurde, sodass physischer Ort und soziale Situation auseinanderträten, sind diese Zuschreibungen beim Smartphone deutlich personenbezogener. Das Gefährdungspotenzial wird hier gleichsam in einer Porosität des Selbst gegenüber der Außenwelt gesehen. Wie eine unzuverlässige Körperfunktion bzw. ein illoyaler Ehepartner enttäuscht das Gerät das in es gesetzte Vertrauen, es handelt sich um eine in verschiedener Hinsicht ›indiskrete Technologie‹.258 Schilder hatte die Strukturbildungsprozesse des Körperschemas zwar in erster Linie als abhängig von Wahrnehmungen dargestellt, betont aber auch die Rolle, die die emotionale Besetzung einzelner Körperteile für dessen Konstitution spielt. Diese werde vom sozialen Umfeld mitbestimmt: »Emotional influence will change the relative value and clearness of the different parts of the body-image according to the libidinous tendencies.«259 Die These lautet, dass die von bestimmten Körperpartien ausgehenden Erregungspotenziale diesen eine besondere Bedeutung für die körperliche Eigenwahrnehmung verschafften.260 In der Forschungsliteratur zu Smartphones und Mobiltelefonen wird häufig die libidinöse Aufladung der Objekte beschrieben, die unter anderem als Erinnerungsspeicher dienen und den Kontakt zu abwesenden Freunden, Partnern oder Familienangehörigen herstellen. Jane Vincent beschreibt das Mobiltelefon/Smartphone als Kompendium für Gefühle und vergangene Aktivitäten, das zur gezielten Regulation von Emotionen verwendet werden könne: worden waren, wanderten sie in Jugendkulturen ein und galten auch dort als Statussymbole. 257  | Joshua Meyrowitz: Die Fernseh-Gesellschaft. Wirklichkeit und Identität im Medienzeitalter, Weinheim: Beltz 1987, S. 94. 258  | Vgl. Geoff Cooper: »The Mutable Mobile. Social Theory in the Wireless World«, in: Barry Brown/Nicola Green/Richard Harper (Hg.), Wireless World. Social and Interactional Aspects of the Mobile Age, London: Springer 2001, S. 19-31, hier S. 24. 259  | Schilder: The Image and Appearance of the Human Body, S. 170. 260  | Vgl. ebd., S. 170-174.

4. Verkörperungen des Smartphones Imbued with the user’s feelings and emotions that surround the continuous and always on presence of the device, the user constantly turns to it for solace, to share joyous moments, recall special memories and more. 261

Satomi Sugiyama stellt einen direkten Konnex zwischen dieser affektiven Selbstregulation und dem körperlichen Selbstempfinden her: »Because of the physical closeness and emotional immediacy people feel toward their mobile device, the mobile device is perceived as a part of themselves.«262 Smartphones bieten demnach Reize und Erregungszustände, die ihnen einen privilegierten Status in der körperlichen Selbstwahrnehmung verleihen, was zu einer affektiven Besetzung des Objekts führt. Auch der Vergleich mit den Extremitäten lässt sich weiterverfolgen, wobei allerdings darauf geachtet werden muss, dass eine solche Vorgehensweise eine Nähe zu älteren Prothesen- und Extensionstheorien herstellt, die nicht als einzig mögliches Modell für die Theoretisierung angesehen werden können. Heuristisch möchte ich abschließend daher eine in drei Phasen verlaufende Entwicklung der diskursiven Beschreibungsmuster digitaler Nahkörpertechnologien plausibilisieren, die als Verschiebung von der Extension über die Internalisierung zur Abstoßung charakterisiert werden kann. In allen drei Phasen liegt den Beschreibungen implizit die Vorstellung eines technisch modifizierten Körperschemas zugrunde, wobei prothetische Konzeptualisierungen nur eine besonders populäre Thematisierungsstrategie darstellen. Zu Beginn der Mobilkommunikationsforschung überwiegen Bezugnahmen auf Prothesentheorien McLuhan’scher Prägung, die die Geräte als Erweiterungen von Kommunikationsfähigkeit und Erinnerungsvermögen skizzieren und damit den Aspekt der souveränen Kontrolle in den Mittelpunkt stellen. »Perhaps it is a body part«, mutmaßte ein 17-jähriger Teilnehmer an einer finnischen Studie bereits 1999 über das Nokia-Gerät eines Mitschülers.263 Die Autoren der medienethnografischen Studie kommentieren: »As an object or being, the mobile phone reflects the self of the owner, its boundaries and how they are opened or closed from others«.264 Insgesamt überwiege beim einfachen Mobiltelefon noch ein Gefühl der ausgedehnten Kontrolle und Potenzierung der eigenen Handlungsfähigkeit: »Teens direct technology-related 261  | Jane Vincent: »Is the Mobile Phone a Personalized Social Robot?«, in: intervalla 1/1 (2013), S. 60-70, hier S. 60. 262  | Satomi Sugiyama: »Melding with the Self, Melding with Relational Partners, and Turning into a Quasi-social Robot. A Japanese Case Study of People’s Experiences of Emotion and Mobile Devices«, in: intervalla 1/1 (2013), S. 71-84, hier S. 82. 263  | Zit. in Virpi Oksman/Pirjo Rautiainen: »›Perhaps it is a Body Part‹. How the Mobile Phone Became an Organic Part of the Everday Lives of Finnish Children and Teenagers«, in: James E. Katz (Hg.), Machines that Become Us. The Social Context of Personal Communication Technology, New Brunswick, NJ: Transaction Publishers 2003, S. 293-308, hier S. 294. 264  | Ebd., S. 299.

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Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien

fears mainly to computers and the Internet. They perceive mobile communication devices as controllable technology, as consumer goods comparable to household appliances.«265 Die geringe Größe und Körpernähe des Mobiltelefons erleichtern demnach die Aneignung und erlauben einen niedrigschwelligen Zugang zur Technik. Bereits in den frühen Studien zur Mobiltelefonie taucht allerdings ein zweites, in der Folge dann dominanter werdendes Beschreibungsmuster auf, innerhalb dessen die mobilen Geräte weniger mit Bezug auf eine Erweiterung von Handlungskapazitäten thematisch werden, sondern vielmehr als mit den Körpern gleichsam ›verwachsene‹ Technologien, die nur noch mit Mühe abgelegt werden können.266 Eine kommunikationswissenschaftliche Studie von Anfang 2015 kommt zu dem Schluss, dass die physische Trennung des Smartphones von seinem Besitzer bei letzterem Nervosität, Unwohlsein und Konzentrationsschwächen auslöse.267 Sollte die Separation doch einmal nötig oder das Gerät zuhause vergessen werden, berichten viele Smartphonenutzer von Empfindungen, die immer wieder den Vergleich zu Phantomschmerzen provoziert haben.268 Schilder hatte Phantomglieder als Kompensationsphänomen 265  | Ebd., S. 301. 266  | Vgl. das vollständige Statement des Studienteilnehmers ebd., S. 294:

»One of the Nokia owners in my class has now learned to carry the phone attached to his belt. The other is still constantly fiddling with it as if it were a body part, something that he can’t detach from his hand. Perhaps it is a body part, at least an extension of a certain part of the body.« 267  | Vgl. Russell B. Clayton/Glenn Leshner/Anthony Almond: »The Extended iSelf. The Impact of iPhone Separation on Cognition, Emotion, and Physiology«, in: Journal of Computer-Mediated Communication 20/2 (2015), S. 119-135. Die Prämissen der Studie sind zweifelhaft und die Darstellung der Ergebnisse sensationalistisch. So nehmen nur iPhone-Nutzer an der Studie teil, wodurch suggeriert wird, die Ergebnisse würden auf diese in besonderem Maße zutreffen. Einer der Versuche beinhaltet die Lösung kognitiver Aufgaben, während im Hintergrund das iPhone klingelt. Die Gegenprobe mit einem beliebigen anderen klingelnden Gerät wird nicht gemacht. Ich führe die Studie hier im Wesentlichen an, um auf die Existenz eines kulturellen Beschreibungsmusters hinzuweisen, innerhalb dessen digitalen Nahkörpertechnologien der Status eines unentbehrlichen Körperteils zugesprochen wird. 268   |  Vgl. für frühe Medienberichte zu sogenannten Phantomvibrationen, d. h. taktilen Halluzinationen, die als Signale des Mobiltelefons interpretiert werden, Angela Haupt: »Good Vibrations? Bad? None at All?«, auf: USA Today, dort datiert am 12.6.2007, http://www.usatoday.com/news/health/2007-06-12-cellphones_N.htm? csp=34, zul. aufgeruf. am 6.2.2017 und Carla Williams: »›Phantom‹ Cell Phone Sensations. Mind Over Matter«, auf: abc News, dort datiert am 17.10.2007, http://abcnews.go.com/Health/story?id=3740984&page=1&singlePage=true, zul. aufgeruf. am 6.2.2017, die abschließend – die eigene Argumentation performativ unterlaufend – versichert: »Losing a limb and losing a cell phone are not at all

4. Verkörperungen des Smartphones

beschrieben, worin der beschädigte Organismus den Verlust einer Extremität auf der Ebene des Körperschemas auszugleichen suche.269 Anders formuliert: Das Phantomglied weist darauf hin, dass die Anpassung des Körperschemas erst zeitversetzt nach dem Verlust eines Körperglieds erfolgt. McLuhan verglich mediale Erweiterungen des menschlichen Körpers noch mit einer freiwilligen Selbstamputation der jeweiligen Körperteile oder Sinne zugunsten der Prothese.270 In den Berichten von Mobiltelefonnutzern kehrt diese Rhetorik wieder, dieses Mal allerdings als Amputation einer technisierten Funktion, die bereits Eingang in das Körperschema gefunden hat. Das Körperschema erscheint unvollständig, sobald die technische Erweiterung fehlt. Von den optimistischen bis euphorischen Erweiterungsfantasien (Phase 1) über den Status Quo der ambivalenten quasi-organischen Verwachsung (Phase 2) scheint sich momentan der Übergang in eine dritte Phase zu vollziehen, in der zumindest vereinzelt die inzwischen nicht mehr von Computer und Internet zu trennenden Geräte als unerwünschter körperlicher Appendix wahrgenommen werden. Es regt sich die Sehnsucht nach einer erneuten Amputation, nach einem Ablegen des zur Belastung gewordenen ›Körperteils‹. Als Beispiel ein Auszug aus einem Fokusgruppen-Interview in Japan aus dem Jahr 2010: Moderator: Is the mobile important to you? F1: Yes, in its own way. (laugh) F2: I wish it’s gone. F1: Yeah, I wish it’s gone too. Moderator: You wish it’s gone? M: I might have thought in the way too, maybe once. (laugh) Moderator: Only once? M: It might be better once it disappears (from my life). I feel it’s controlling me. comparable«. Wissenschaftliche Erklärungsversuche und empirische Untersuchungen des Phänomens liefern u. a. Michael B. Rothberg/Ashish Arora/Jodie Hermann/Reva Kleppel/Peter S. Marie/Paul Visintainer: »Phantom Vibration Syndrome Among Medical Staff. A Cross Sectional Survey«, in: BMJ 341 (2010), Michelle Drouin/Daren H. Kaiser/Daniel A. Miller: »Phantom Vibrations among Undergraduates. Prevalence and Associated Psychological Characteristics«, in: Computers in Human Behavior 28/4 (2012), S. 1490-1496 und zuletzt Vera J. Sauer/Sabrina C. Eimler/Sanaz Maafi/Michael Pietrek/Nicole C. Krämer: »The Phantom in my Pocket. Determinants of Phantom Phone Sensations«, in: Mobile Media & Communication 3/3 (2015), S. 293-316. Als Synonyme sind u. a. »vibranxiety«, »ringxiety« und »fauxcellarm« (ein Wortspiel mit dem englischen Ausdruck ›false alarm‹) im Gebrauch. (Vgl. ebd., S. 294) 269  | Vgl. Schilder: The Image and Appearance of the Human Body, S. 68 und 293. 270  | Vgl. Marshall McLuhan: Understanding Media. The Extensions of Man, London: Routledge 2005 [1964], S. 45-52.

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Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien All: Yeah, controlling me. F3: There are some moments that I feel like breaking my mobile. F2: Yeah, often! F3: When everything is annoying. M: I see. F3: So, I turn it off, because I cannot break it. So, I turn it off, and leave it somewhere. F2: Yeah, that happens. 271

Wenn die in diesem Kapitel vertretene Prämisse akzeptiert wird, dass das Smartphone in verschiedener Hinsicht zum Bestandteil des Körperschemas avanciert ist, dann mag die folgende Überlegung zu einer ›negativen‹ oder ›inversen‹ Prothetik zulässig sein.272 In der Psychopathologie wird ein autodestruktives Begehren mit dem Begriff der Xenomelie (Fremdgliedrigkeit) belegt, eine auch als Body Integrity Identity Disorder (BIID) bekannte veränderte Selbstwahrnehmung, die dazu führt, dass Betroffene sich die Amputation einer oder mehrerer physiologisch gesunder Gliedmaßen wünschen. »Xenomelia is the oppressive feeling that one or more limbs of one’s body do not belong to one’s self.«273 Betroffene empfinden ein Missverhältnis zwischen ihrem Selbst und ihrem Körper, der als ›übervollständig‹ wahrgenommen wird.274 Xenomelie ist damit das systematische Gegenstück zum Phantomglied: Bezeichnet letzteres gleichsam eine »Animation ohne Inkarnation«, d. h. eine Empfindung ohne körperliche Entsprechung, scheint bei der Xenomelie umgekehrt eine »Inkarnation ohne Animation« vorzuliegen, also die organische Ausbildung einer Gliedmaße, die allerdings »unbeseelt« bleibt.275 271  | Sugiyama: »Melding with the Self«, S. 78. 272  | Stefan Rieger verwendet den Ausdruck negative Prothetik als Kernbegriff

einer medienanthropologischen Problematisierungsstrategie, die im Gegensatz zu den etablierten Organprojektions- und Erweiterungstheorien auf Szenen des Prekärwerdens, des Scheiterns und der Nicht-Identität fokussiert. Vgl. Stefan Rieger: »Negative Prothetik. Die neuen Enden des Körpers«, Vortrag auf dem Workshop »Immersion – Transition – Figuration. Die neuen Grenzen des Ich«, a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities, Universität zu Köln, 2.12.2016. 273  | Leonie M. Hilti/Jürgen Hänggi/Deborah A. Vitacco/Bernd Kraemer/Antonella Palla/Roger Luechinger/Lutz Jäncke/Peter Brugger: »The Desire for Healthy Limb Amputation. Structural Brain Correlates and Clinical Features of Xenomelia«, in: Brain 136/1 (2013), S. 318-329, hier S. 318. 274  | Vgl. ebd., S. 319. 275  | Ich übernehme die Ausdrücke aus Peter Brugger: »Der Wunsch nach Amputation. Bizarre Macke oder neurologische Störung?«, in: Ars Medici 2 (2011), S. 59-63, wo sie sich allesamt in Anführungszeichen finden. Eine ausführliche neuropsychologische Diskussion der beiden Phänomene liefern Leonie M. Hilti/ Peter Brugger: »Incarnation and Animation. Physical versus Representational

4. Verkörperungen des Smartphones

Ohne die Analogie überstrapazieren zu wollen, scheinen die bereits in der Einleitung der vorliegenden Arbeit angeführten Stellungnahmen – allen voran Enzensbergers Aufruf zum Wegwerfen der Mobiltelefone – sowie die erwähnten Verhaltensweisen von Smartphonenutzern, die ihre Geräte vor sich selber verstecken, einem solchen Wunsch nach Selbstamputation zumindest nahezukommen.276 Die Computer, denen in den 1960er-Jahren noch dringend eine ›Seele‹ verliehen werden sollte, erscheinen aufs Neue als ›seelenlose‹ Instrumente eines Überwachungs- und Kontrollapparats, der in disziplinierender Weise auf die Körper der Subjekte durchgreift. Das Ergebnis ist eine nachhaltige Identitätsstörung in Form einer Dissoziation von Selbst-empfinden und Körperform: Wie kann etwas, das so eng an das Selbst gekoppelt ist, dass seine zufällige Abwesenheit als körperliche Verlusterfahrung ins Bewusstsein tritt, zugleich in so eindeutiger Weise ›fremd‹ sein, in dem Sinne, dass das Smartphone als Agent fremder Interessen auftritt und sich als illoyal gegenüber dem Selbst erweist?

4.3.3 Zwischenfazit Das Konzept des Körperschemas hat bislang die beste Annäherung an das gebracht, was Anders als ›Körper-Es‹ zu beschreiben versuchte. Um den Zusammenhang zu präzisieren, ist ein erneuter Rückgriff auf Merleau-Ponty hilfreich: Im französischen Original der Phänomenologie der Wahrnehmung wird der »leibliche[.] Untergrund[.]« mit dem Begriff infrastructure belegt: »[p]as un seul acte ,spirituel‹ qui ne repose sur une infrastructure corporelle.«277 Im Französischen wird der Infrastruktur-Begriff auch als »›unbewusster Handlungsgrund‹ sowie ›Basis‹ im Sinne von Marx« definiert.278 Das Körperschema stellt in dieser Lesart eine Infrastruktur für das

Deficits of Body Integrity«, in: Experimental Brain Research 204/3 (2010), S. 315-326. 276  | Vgl. Hans Magnus Enzensberger: »Wehrt euch! Enzensbergers Regeln für die digitale Welt«, auf: FAZ.net, dort datiert am 28.2.2014, http://www.faz.net/frankfurter-allgemeine-zeitung/enzensbergers-regeln-fuer-die-digitale-welt-wehrt-euch-12826195.html, zul. aufgeruf. am 30.1.2017. Einschränkend muss angemerkt werden, dass gerade Enzensberger nicht selber als Betroffener auftritt, sondern als öffentlicher Intellektueller, der einen Debattenanstoß gibt, welcher sich als Aufforderung zur Amputation dechiffrieren ließe. 277  | Maurice Merleau-Ponty: Phénomenologie de la perception, Paris: Gallimard 1945, S. 493. 278  | Dirk van Laak: »Der Begriff ›Infrastruktur‹ und was er vor seiner Erfindung besagte«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 41 (1999), S. 280-299, hier S. 288. Van Laak beruft sich hier auf Anonymus: »Infrastructure«, in: André Lalande (Hg.), Vocabulaire technique et critique de la philosophie, Paris: Presses Universitaires de France 1976, S. 514.

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Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien

intelligible Verhalten als »Superstruktur des Verstandes«279 dar. Dass der Infrastruktur-Begriff bei Merleau-Ponty auf der Seite des Körpers auftaucht, ist für mein Projekt wichtig: Offensichtlich zeichnet sich hier eine Parallele ab zwischen der vorgängigen Organisation des Leibes, die das Denken, Handeln und Wahrnehmen in der Welt rahmt, und der wirtschaftlich-technischen Infrastruktur als gesellschaftliches Gebilde, das ebenfalls einen Aktionsrahmen für intelligibles Verhalten absteckt. Hatte sich bereits anhand der Diskussion der Körpertechniken eine Sensibilität für das technische Moment der Handhabung des eigenen Körpers geschärft, verweist die Diskussion des Körperschemas darauf, wie diese Technizität als variable Struktur gedacht werden kann. Variabel ist diese Struktur auch deshalb, weil sie gegenüber Artefakten offen ist, d. h. weil das Körperschema Objekte flexibel mit einschließen kann. Ist dies im Falle einfacher Werkzeuge noch vergleichsweise trivial, stellen sich ganz neue praktische und theoretische Probleme, sobald die betreffenden Objekte selber als Teil infrastrukturell implementierter Netze auftreten. Anthony M. Townsend verwendet in diesem Zusammenhang am Beispiel des Mobiltelefons erneut die Nabelschnur-Metaphorik: Individuals live in this phonespace – they can never let it go, because it is their primary link to the temporally, spatially fragmented network of friends and colleagues they have constructed for themselves. It has become their new umbilical cord, pulling the information society’s digital infrastructure into their very bodies. 280

Interessanter als die schon bekannte Nabelschnur-Rhetorik ist an der zitierten Stelle das Moment der Verschaltung zweier Infrastrukturen, das im sich anschließenden Kapitel 5 im Mittelpunkt stehen wird: Digitale Infrastruktur und körperliche Infrastruktur – gefasst als Körperschema bzw. »leiblicher Untergrund« – werden sprachlich zusammengezogen. Beide Infrastrukturen zusammen fungieren als anthropomediale Einflussgrößen, die den Status des Menschseins im frühen 21. Jahrhundert bestimmen.

4.4 Z usammenfassung

und

Fazit

In diesem Kapitel wurde vorgeschlagen, die Nutzung von digitalen Nahkörpertechnologien wie Smartphones als Prozess der Verkörperung einer Computertechnologie zu begreifen, die selbst als ausgreifender Apparat modelliert werden muss. Die Körper der Anwender und deren Beziehungen zu ihren jeweiligen Kontexten und Umwelten sind für eine medienanthropologische Beschreibung der Kopplungsverhältnisse von 279  | van Laak: »Der Begriff ›Infrastruktur‹«, S. 288. 280  | Anthony M. Townsend: »Mobile Communications in the Twenty-First Cen-

tury City«, in: Brown/Green/Harper, Wireless World, S. 62-77, hier S. 70.

4. Verkörperungen des Smartphones

Menschen und Smartphones zentral. In der neueren Forschung zu mobiler Internetnutzung wird nach der Verortung von Medienartefakten an Körpern gefragt, die sich durch Räume bewegen, deren Beschaffenheit wiederum durch mediale Infrastrukturen bestimmt wird. Ein wesentlicher Aspekt dieser Perspektive auf Verkörperungsvorgänge ist die Berücksichtigung des Umstands, dass der Mediengebrauch derart habitualisiert ist, dass er weitgehend unbewusst abläuft. Daher sind kognitivistische Ansätze nicht hinreichend zur Beschreibung dieser Prozesse. Ich habe drei Konzepte verwendet, um die triadische Beziehung zwischen Körpern, Artefakten und Umwelten theoretisch zu fassen zu bekommen. Zunächst wurde vorgeschlagen, das aus der ökologischen Wahrnehmungspsychologie (Gibson) stammende Konzept der Affordanzen zu nutzen, um ein Vokabular für die Beschreibung von Kopplungen zwischen Organismen und Umwelten bzw. Artefakten zu gewinnen. Anders als es beispielsweise der Schemabegriff nahelegt, werden Affordanzen als relationale Größe modelliert, d. h. ihre Vorhandenheit und/oder Realisierung hängt von der spezifischen Kombination von Faktoren ab, die in einer gegebenen Situation zusammenwirken. Die Realisierung von Affordanzen geht nicht auf intentionale Akte zurück, sondern folgt der Logik eines körperlich begründeten Passungsverhältnisses. Es wurde plausibel gemacht, dass das Smartphone-Subjekt in veränderte Relationen mit seiner Umwelt eingebettet ist, dass das Smartphone darüber hinaus selbst Affordanzen für externe Agenturen bietet und dass die Gestaltung dieser Affordanzen eine wesentliche Komponente von environmental operierender Macht darstellt, insofern damit indirekt das Nutzerverhalten gesteuert werden kann. Mit dem aus der Ethnologie (Mauss) stammenden und in der Medienanthropologie inzwischen etablierten Begriff der Körpertechniken wurde versucht, die zeitliche Dimension des Smartphonegebrauchs als verkörperte Praxis zu fassen. Der Fokus liegt hier auf dem technischen Aspekt des Körpergebrauchs, der sich insbesondere an habitualisierten Alltagspraktiken ablesen lässt, die von körpernahen Medientechniken mitgestaltet werden. Körpertechniken folgen keiner Steigerungslogik, vielmehr geht es um die Betonung eines anhaltenden Vorgangs des Arrangierens mit körpernahen Medien.281 Stattdessen lassen sich Prozesse der Inkorporation beobachten, innerhalb derer Körper- und Medientechniken permanent neu ins Verhältnis gesetzt werden. Das Entscheidende am Ansatz der Körpertechniken ist aber, dass die Verfügung über den eigenen Körper keiner natürlichen Regelmäßigkeit gehorcht, sondern kulturellen Vorgaben folgt. Das heißt, dass für die Beschreibung von verkörperten Praktiken des Smartphonegebrauchs erneut mindestens eine triadische Beziehung angenommen werden muss, die individuelle Körper, technische Artefakte und kulturell antrainierte Gebrauchsmuster umfasst. Das dritte herangezogene Konzept war der von Neurowissenschaftlern und Psy281  | Vgl. Schüttpelz: »Körpertechniken«, S. 114f. Vgl. in diesem Zusammen-

hang auch den Hinweis auf die Beharrungskraft von Körpern in Edward Tenner: Our Own Devices, S. 264: »The body remains surprisingly and reassuringly conservative.«

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Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien

choanalytikern (Head, Schilder) zu Beginn des 20. Jahrhunderts geprägte Begriff des Körperschemas. Damit wird, Merleau-Pontys Verwendung des Begriffs folgend, eine innere Infrastruktur des Körpers gefasst, die dessen Umweltbezüge reguliert. Körpernahe Medientechniken finden in dieses Körperschema Eingang, wodurch es zu einer Hybridisierung von innerer und äußerer Infrastruktur kommt. Das Körperschema bestimmt mit über die Orientierung der Lage und Haltung von Körpern im umgebenden Raum, sodass jede Modifikation desselben Auswirkungen auf das Selbstempfinden und die Relationen gegenüber anderen hat. Besonders deutlich wird dies an internetfähigen Mobilgeräten, die ihre Anwender jederzeit in den Stand versetzen, die sinnliche Wahrnehmung mit digital verfügbaren Informationen anzureichern, gleichzeitig aber empfindliche Zugriffspunkte für externe Datenabfragen darstellen. Dies macht sie zu einem notorisch unverlässlichen (mit Chun: promisken, inkontinenten) Teil des Körperschemas. Die mit den verschiedenen Begrifflichkeiten beschriebene »Assoziierung von Menschen, Geräten und Infrastrukturen«282 lässt sich je nach den vorgenommenen Schnitten weiter bestimmen. Man kann den physischen Apparat des Smartphones als Teil einer körperlich bestimmten Ich-Identität begreifen, insofern er in das Körperschema integriert wird und im Zuge dessen auch die Körpertechniken und Affordanzen modifiziert. Aus einer leicht veränderten Perspektive allerdings ließe sich auch der Körper selbst als Teil eines Arrangements auffassen, zu dem neben den getragenen Geräten auch die für ihre Verwendung erforderliche Infrastruktur zu zählen wäre. Weder der Körper als Substruktur noch die technische Superstruktur aber unterliegen der uneingeschränkten Kontrolle des handelnden Subjekts. Stattdessen wird dem (technischen) Funktionieren dieser beiden Größen – man könnte sie mit Anders als Körper-Es und Apparat-Es bezeichnen – ein Grundvertrauen entgegengebracht, das nicht ohne weiteres abzuschütteln ist.283 Statt von einer dyadischen Beziehung zwischen Nutzer und Gerät muss folglich von einem Ensemble ausgegangen werden, das Körper, Geräte und Infrastrukturen miteinander verschaltet. Es gibt darin keinen Dualismus von lebendigem Körper und toter Maschine im Sinne eines unproblematischen Subjekt-Objekt-Verhältnisses, sondern vielmehr eine quer zu dieser Unterscheidung verlaufende Technizität, die Apparate wie Körper umfasst.284 Medien sind den Subjekten also nicht äußerlich, wie Hartmut Winkler betont: »Medien haben […] immer einen doppelten Ort: Sie 282  | Harrasser: Körper 2.0, S. 63. 283  | Vgl. Mauss: »Die Techniken des Körpers«, S. 201 über seine Schwierigkeiten, die einmal erlernte Technik des Schwimmens zu verändern: »[I]ch vollziehe immer noch diese Geste: ich kann mich nicht von meiner Technik trennen.« 284  | Pierre Bourdieu schreibt im Anschluss an Leibniz, dass »wir Menschen […] ›in Dreiviertel unserer Handlungen Automaten sind‹«. (Bourdieu: Die feinen Unterschiede, S. 740) Bublitz: »Täuschend natürlich«, S. 158-161 weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der Begriff des Habitus bei Bourdieu die Automatisierung verkörperter Dispositionen bezeichnet. Als »halbformalisiertes

4. Verkörperungen des Smartphones

verbinden materielle Dispositive im Außenraum mit dem Innenraum der Subjekte; sie legen im Innenraum der Subjekte Filialen an und machen die Subjekte selbst zum Relais des medialen Dispositivs.«285 Das nächste Kapitel unternimmt den Versuch, eine Perspektive auf jene Teile des Apparats zu entwickeln, die sich nicht wie die Endgeräte selber an die Körper anschmiegen und die daher der Sichtbarkeit entzogen bleiben. »Das Problem liegt darin«, so Geert Lovink, »dass die heutigen Technologien konkret, tragbar, intim und zugleich abstrakt und unsichtbar werden.«286 Parallel zu der in diesem Kapitel im Vordergrund stehenden Frage nach einem körperlichen Unbewussten, zu dessen Teil das Smartphone durch seinen Eintritt in die Peripherie des Körpers zu werden scheint, stellt sich also nun die Frage nach dem technologischen Unbewussten des Geräts. Dieses wird gefasst als Effekt eines soziotechnischen Apparats, der im Falle digitaler Nahkörpertechnologien mit dem Wahrnehmungs- und Bewegungsapparat der Subjekte in vielfache Wechselwirkung tritt.

Regelsystem« (ebd., S. 160) bilde der Habitus »eine vom Subjekt nicht kontrollierbare Instanz im Subjekt«. (Ebd., S. 161) 285  | Hartmut Winkler: Prozessieren. Die dritte, vernachlässigte Medienfunktion, Paderborn: Fink 2015, S. 109. Das beste Beispiel ist bereits die Sprache, die aufs Engste mit den Sprechenden verbunden ist und trotzdem eine von diesen unabhängige Existenz hat. Vgl. in diesem Sinne auch Rieger: Die Individualität der Medien, S. 30: »Die Grenzen zwischen den scheinbar fixen Positionen Mensch und Medium sind labil.« 286  | Lovink: »Die Technologie urbanisieren«, S. 69.

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5. Handhelds und Landhelds – Zum technologischen Unbewussten des Smartphones

Es gehört zum grundsätzlichen epistemologischen Anspruch der kulturwissenschaftlich orientierten Medienwissenschaft, nicht offen zu Tage liegende Bedingungen von Zeichenprozessen (im weitesten Sinne) beschreibbar zu machen. Dies gilt bereits für Friedrich Kittlers auf Foucaults Verfahren der Diskursanalyse aufbauende Beschreibung von Aufschreibesystemen als den »Netzwerk[en] von Techniken und Institutionen […], die einer gegebenen Kultur die Adressierung, Speicherung und Verarbeitung relevanter Daten erlauben«.1 Kittlers Projekt in Aufschreibesysteme 1800/1900 ist es vor allem, technische Positivitäten des Literaturbetriebs festzustellen, also dessen materiellen und institutionellen Unterbau diesseits von Sinn und Hermeneutik zu konturieren: »Elementares Datum ist, daß Literatur (was immer sie sonst noch in Leserkreisen bedeuten mag) Daten verarbeitet, speichert, überträgt.«2 These bei Kittler ist also, dass es eine den einzelnen Äußerungsakten – und auch noch den Diskursregeln – vorgängige technische Ebene der Zuweisung von Sprecherrollen, relevanten Inhalten und Adressaten gibt. Medienwissenschaft in dieser Denktradition ist, so kann zugespitzt werden, an einem ›technologischen Unbewussten‹ interessiert, das sich sowohl in materialistischer Manier beschreiben als auch in seinen Effekten auf die getätigten Äußerungen, Subjektivitäten, Sozialformationen, Denk- und Handlungsweisen untersuchen lässt.3 Für den suggestiven Ausdruck ›technologisches Unbewusstes‹ gibt es bislang kei1   |  Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800, 1900, München: Fink 1995 [1985], S. 519.

2  | Ebd., S. 520. 3  | Die Frage nach dem technologischen Unbewussten soll also nicht, wie es

Kittler häufig vorgeworfen wurde, zu einer Neutralisierung politischer Fragen zugunsten eines ›Hardware-Fetischismus‹ beitragen. Die apparative Verfasstheit digitaler Nahkörpertechnologien zu thematisieren, führt im Gegenteil gerade zu einer Befragung ihrer systemischen Voraussetzungen und Finalitäten, die gar

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Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien

ne einheitliche Verwendung, sodass er hier weniger als feststehender Begriff denn als Denkanreiz ins Spiel gebracht wird, gleichzeitig aber problematisiert werden muss. Die am häufigsten zitierte explizite Verwendung des Ausdrucks ›technological unconscious‹ stammt aus einem Aufsatz des Humangeografen Nigel Thrift, wo er recht unspezifisch eingeführt wird: »I use this term to signify the basic forms of positioning and juxtapositioning which make up the basic ›atomic structure‹ of the sendings and receivings of contemporary Euro-American life«.4 Um basale Formen der Positionierung und des Nebeneinanderstellens soll es also gehen, die als ›atomare‹ gesellschaftliche Struktur Praktiken oder Prozesse des Sendens und Empfangens in abendländischen Kulturen möglich machen. Thrift räumt gleich ein, dass es sich hierbei um ein weitläufiges und zudem schlecht definiertes Themenfeld handelt und kündigt an, sich aus diesem Grund auf Prozesse der Wiederholung konzentrieren zu wollen, die sowohl die soziale Konstruktion von Zeit als auch von Raum betreffen.5

nicht anders als politisch zu denken sind. Dies wird im Verlauf der Argumentation deutlich werden und im folgenden Kapitel 6 noch einmal pointiert. 4  | Nigel Thrift: Knowing Capitalism, London: Sage 2005, S. 16. Der Aufsatz wurde zuerst veröffentlicht als Nigel Thrift: »Remembering the Technological Unconscious by Foregrounding Knowledges of Position«, in: Environment and Planning D: Society and Space 22/1 (2004), S. 175-190. Thrift gibt als Quelle für den Ausdruck Patricia T. Clough: Autoaffection. Unconscious Thought in the Age of Teletechnology, Minneapolis: University of Minnesota Press 2000 an, ohne allerdings näher auf die dortige Argumentation einzugehen. Vgl. Thrift: Knowing Capitalism, S. 213. In Cloughs Buch kommt der Ausdruck allerdings überhaupt nicht vor. Eher scheint es ihr um eine – hegelianisch anmutende – Geschichte des ›unbewussten Denkens‹ zu gehen, die sie an der Entwicklung poststrukturalistischer Kulturkritik im Wechselspiel mit – nur diffus bestimmten – ›Teletechnologien‹ plausibilisieren will. In ihren eigenen Worten gehe es um »a process of pursuing the unconscious thought of teletechnology in the cultural criticisms of the past three decades of the twentieth century«. (Clough: Autoaffection, S. 6.) Bestimmte technowissenschaftliche Erkenntnisse und Erfindungen hätten, so Clough, zur Emergenz einer Reihe ontologischer Denkfiguren im Poststrukturalismus geführt, darunter die Dekonstruktion traditioneller Binarismen wie der Unterscheidung von Natur und Kultur, Mensch und Maschine, tot und lebendig, etc. Vgl. ebd., S. 2. Thrifts Projekt ist völlig anders gelagert, der Verweis auf Clough also bestenfalls irreführend. 5  | Vgl. Thrift: Knowing Capitalism, S. 16. Wichtig ist hierbei der Hinweis, dass Thrift trotz des Abstraktionsgrads seiner Ausführungen nicht als Kultur- oder Sozialphilosoph argumentiert, sondern aufgrund seiner fachlichen Ausrichtung vielmehr an Infrastrukturen interessiert ist, die auf noch zu erläuternde Weise performativ würden.

5. Handhelds und Landhelds

Er definiert das technologische Unbewusste in der Folge als the bending of bodies with environments to a specific set of addresses without the benefit of any cognitive inputs, a prepersonal substrate of guaranteed correlations, assured encounters, and therefore unconsidered anticipations. 6

Mit anderen Worten werden mit dem Ausdruck infrastrukturell implementierte Logiken bezeichnet, die darüber bestimmen, wie sich Individuen in Zeit und Raum orientieren, Erwartungen ausbilden, standardisierte Verhaltensweisen und körperliche Dispositionen an den Tag legen, ohne sich davon kognitiv Rechenschaft abzulegen. Thrift spricht in diesem Zusammenhang explizit von Automatismen: »[M]y main concern […] is with the basic conditions of life, and especially the style of repetitions that pertains at any point in history, the animated automatisms […] that provide the stable ground for practices«.7 Thrifts wesentliche These ist, dass sich analog zu einem Vorgang der Standardisierung der Zeit im 19. Jahrhundert seit den 1960er-Jahren eine Standardisierung des Raums vollziehe, die auf digitale Technologien gestützt vor sich gehe.8 Beide Prozesse beträfen in fundamentaler Weise das menschliche Welt- und mittelbar auch Selbstverhältnis, insofern keine Bezugnahme oder Aussage ohne ein vorausgesetztes formales, d. h. weitgehend nicht-subjektives Wissen um zeitliche Abfolgen und räumliche Positionierungen auskomme. Als strukturell unbewusst erscheinen diese Prozesse, weil sie prinzipiell jeden betreffen und nicht z. B. für bestimmte gesellschaftliche Gruppen lediglich unbekannt, für andere dagegen transparente Praxis sind. Die Kernthese zur Standardisierung des Raumes ist interessant und wird in Kapitel 5.4.3 ausführlicher besprochen. Allerdings schreibt Thrift häufig mystifizierend, wie aus den oben angegebenen Zitaten bereits deutlich geworden sein dürfte, und er lässt vieles im Unklaren, weil seine Aussagen sich generell auf einem sehr hohen Abstraktionsniveau bewegen. Dies mag auch ein Grund dafür sein, dass das Konzept des technologischen Unbewussten sich als so diskursiv anschlussfähig herausgestellt hat. N. Katherine Hayles bezieht sich direkt auf Thrift und spezifiziert das technologische Unbewusste zunächst als

6  | Ebd., S. 213. 7  | Ebd. 8  | Vgl. ebd., S. 214: »My argument is that we are currently seeing a shift in the

basic conditions of life, a move of the ›social‹ ›atomic structure‹ from one model to another as a full-blown standardization of space takes hold, very similar in its ambitions and effects to the nineteenth century standardization of time.«

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Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien the everyday habits initiated, regulated, and disciplined by multiple strata of technological devices and inventions, ranging from an artifact as ordinary as a wristwatch to the extensive and pervasive effects of the World Wide Web. 9

Bei Thrift sei somit impliziert, so Hayles, dass das Unbewusste eine historische Dimension habe und sich in Abhängigkeit von den technisch gestalteten Umwelten verändere. Parallelen sieht sie zu den bereits mehrfach erwähnten Arbeiten des aktiven Externalismus, in denen argumentiert wird, dass Kognition kein auf das Gehirn limitiertes Phänomen sei, sondern als Kombination aus bewussten und nicht-bewussten Prozessen im ganzen Körper verteilt und sogar jenseits der Körpergrenzen stattfinde, wenn mit Artefakten in der Umgebung interagiert wird.10 Wenn beispielsweise das limbische System oder motorische Funktionen zum kognitiven System gerechnet werden, »it stands to reason that, as motor functions change in relation to a technologically enhanced environment, these changes would resonate through the entire cognitive system«.11 Diese Idee einer Verknüpfung motorischer und kognitiver Schemata und technisch gestalteter Umwelten wurde bereits in Kapitel 4 ausführlich diskutiert. Als bemerkenswerteste Veränderung der letzten Jahrzehnte nennt Hayles die Verumweltlichung von Rechenprozessen durch ein Embedded Computing in verschiedensten Bereichen – eines ihrer zentralen Beispiele sind RFID-Chips –, das dazu führe, dass die technologische Umwelt selbst immer größere kognitive Kapazitäten entwickle. Hayles schlägt in Abweichung zu Thrift vor, diese umweltliche Dimension von Kognition als »technological non-conscious« zu bezeichnen, um eine zu enge Assoziation zur Psychoanalyse zu vermeiden und zudem zu betonen, dass selbst ›intelligente‹ Maschinen nicht bewusstseinsfähig sind.12 [H]uman behavior is increasingly integrated with the technological nonconscious through somatic responses, haptic feedback, gestural interactions, and a wide variety of other cognitive activities that are habitual and repetitive and that

9  | N. Katherine Hayles: »Traumas of Code«, in: Critical Inquiry 33/1 (2006), S. 136-157, hier S. 138. 10  | Vgl. Edwin Hutchins: Cognition in the Wild, Cambridge, Mass.: MIT Press 1995, Andy Clark/David Chalmers: »The Extended Mind«, in: Analysis 58/1 (1998), S. 7-19, Andy Clark: Natural-Born Cyborgs. Minds, Technologies, and the Future of Human Intelligence, New York: Oxford University Press 2003 und Kapitel 4 der vorliegenden Arbeit, das diese Prämisse übernimmt. 11  | Vgl. Hayles: »Traumas of Code«, S. 139. 12  | Ebd. Ich werde Thrifts Bezeichnung in der Folge allerdings beibehalten, weil ich mich in erster Linie für die subjektivierenden Wirkungen des technologischen Unbewussten interessiere. Vgl. die heuristische Systematisierung von drei Dimensionen des technologischen Unbewussten weiter unten.

5. Handhelds und Landhelds therefore fall below the threshold of conscious awareness. Mediating between these habits and the intelligent machines that entrain them are layers of code.13

Hayles hebt eine Dimension hervor, die auch im Mittelpunkt meiner Adaption des technologischen Unbewussten steht: Sie interessiert sich für die Beziehungen zwischen durch Wiederholung habitualisierten psychomotorischen Handlungen und technischen Infrastrukturen, die formend und prägend auf diese Handlungen einwirken.14 Ihr zentrales Beispiel sind Veränderungen von Aufmerksamkeitsstrukturen im Zusammenspiel mit einer intensivierten Mediennutzung, die sich als »Verschiebung im Aufmerksamkeitsspektrum weg von der stabilen Tiefenaufmerksamkeit hin zur unbeständigen Hyperaufmerksamkeit«15 charakterisieren ließen. David Beer dagegen analysiert veränderte Machtstrukturen im sogenannten Web 2.0, d. h. in partizipativen Netzkulturen, die häufig in ihren ermächtigenden und demokratisierenden Effekten thematisiert werden.16 Das Konzept des technologischen Unbewussten übernimmt er von Thrift und macht es für eine Lesart im Rahmen der Software bzw. New Media Studies produktiv.17 Dabei erfolgt unter der Hand eine Verengung des bei Thrift eher vage konturierten Konzepts auf die agency von Software-Algorithmen, die ohne menschliches Zutun Entscheidungen vorbahnen oder autonom treffen. Ein Beispiel, das genannt wird, ist das sogenannte Software Sorting im Rahmen geodemografischer Klassifizierungsverfahren, wie sie unter anderem im Marketing oder bei der Ermittlung von Versicherungspolicen zum Einsatz kommen.18 Insgesamt sei, so Beer, eine Tendenz zur Verumweltlichung solch algorithmisch gesteuerter Prozesse zu konstatieren, die ontologische Konsequenzen zeitige: »[W]e can no longer think of our lives as mediated by information and software, but that they are increasingly constituted by or comprised of them«19. Letztlich bleibt Beers Bezugnahme auf das Konzept allerdings schematisch und wenig erhellend, was für eine ganze 13  | Ebd., S. 140. 14  | Vgl. ebd., S. 157: »As the technological nonconscious expands, the se- dimented routines and habits joining human behavior to the technological infrastructure continue to operate mostly outside the realm of human awareness«. 15  | N. Katherine Hayles: »Komplexe Zeitstrukturen lebender und technischer Wesen«, in: Erich Hörl (Hg.), Die technologische Bedingung. Beiträge zur Beschreibung der technischen Welt, Berlin: Suhrkamp 2011, S. 193-228, hier S. 213. 16  | Vgl. David Beer: »Power Through the Algorithm? Participatory Web Cultures and the Technological Unconscious«, in: New Media & Society 11/6 (2009), S. 985-1002. 17  | Vgl. ebd., S. 987-991. 18  | Vgl. ebd., S. 990. 19  | Ebd., S. 987.

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Reihe von weiteren Bezugnahmen ebenfalls gilt, die sich in heterogenster Weise direkt oder indirekt auf Thrift beziehen.20 Da Thrifts Erläuterung des Terminus also eher Fragen aufwirft als beantwortet und die diskursiven Anschlüsse an das Konzept jeweils recht spezifische Fragestellungen verfolgen, soll im Folgenden der Versuch einer Systematisierung unternommen werden. Abzugrenzen ist der Gebrauch des Begriffs ›unbewusst‹ zunächst von einer aisthetischen Perspektive, wie sie beispielsweise mit Walter Benjamins Begriff des Optisch-Unbewussten intendiert ist, der einem bestimmten Medium – in diesem Fall dem Film – das Potenzial attestiert, Prozesse in den Bereich des Wahrnehmbaren zu rücken, die ansonsten unterschwellig blieben.21 Bereits die Chronofotografien von Eadweard Muybridge und Étienne-Jules Marey in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dienten dem Studium von Bewegungsabläufen, die für das menschliche Auge zu schnell verliefen, um analysiert werden zu können. Kittler ordnete den Phonographen dem Lacan’schen Register des Realen zu, weil er Geräusche vor jeder Artikulation aufzeichnet und technisch konserviert.22 In all diesen Fällen ist es die Medientechnik 20  | Vgl. u. a. José van Dijck: »Facebook and the Engineering of Connectivity.

A Multi-Layered Approach to Social Media Platforms«, in: Convergence: The International Journal of Research into New Media Technologies 19/2 (2013), S. 141-155, hier S. 4f. und Samuel Kinsley: »Representing ›Things to Come‹. Feeling the Visions of Future Technologies«, in: Environment and Planning A 42/11 (2010), S. 2771-2790, hier S. 2784f.. Kinsley stellt zudem fest: »There is not a single technological unconscious but plural.« (Ebd., S. 2784) Tyler Reigeluth: »Warum ›Daten‹ nicht genügen. Digitale Spuren als Kontrolle des Selbst und als Selbstkontrolle«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 13/2 (2015), S. 21-34 spricht, mit Bezug auf Beer, von einem »digitale[n] Unbewusste[n], das unerkannte Geheimnisse und tiefe Einblicke in Subjekte und Gegenstandsbereiche zu enthalten verspricht«. (Ebd., S. 27). Gemeint sind hier Big Data und Data-Mining-Verfahren, die unter Verzicht auf Hypothesen und semantische Sinnbildung pragmatische Handlungsempfehlungen generieren sollen. 21  | Vgl. Walter Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«. 3. Fassung, in: Ders., Gesammelte Schriften. Band I, hrsg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 471-508, hier S. 500: »So wird handgreiflich, daß es eine andere Natur ist, die zu der Kamera als die zum Auge spricht. Anders vor allem dadurch, daß an die Stelle eines vom Menschen mit Bewußtsein durchwirkten Raums ein unbewußt durchwirkter tritt. […] Vom Optisch-Unbewußten erfahren wir erst durch sie [die Kamera, T. K.], wie von dem Triebhaft-Unbewußten durch die Psychoanalyse.« 22  | Vgl. Friedrich Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, Berlin: Brinkmann & Bose 1986, S. 29: »[E]rst der Phonograph hält fest, was Kehlköpfe vor jeder Zeichenordnung und allen Wortbedeutungen an Geräusch auswerfen. […] Also hat das Reale – zumal in der talking cure namens Psychoanalyse - den Status von Phonographie.« Vgl. ebd., S. 39f.: »Der Phonograph hört eben nicht wie Ohren,

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selbst, die etwas zu Tage fördern kann, das ansonsten der Wahrnehmung entzogen bliebe. Wenn das Smartphone als Biosensor in Bezug auf den eigenen Körper eingesetzt wird, teilt es zwar Eigenschaften mit den genannten Medientechniken, diese Dimension des technologischen Unbewussten steht im Folgenden allerdings nicht im Mittelpunkt.23 Ebenfalls nicht gemeint ist eine wissens- oder diskurshistorische Perspektive, in der das technologische Unbewusste den Prozess einer Beeinflussung wissenschaftlicher Diskurse durch den Stand der Technik einer Epoche bezeichnet. Diese lässt sich, wie Simondon gezeigt hat, an der mehr oder weniger intentional erfolgenden Übernahme kognitiver Schemata aus dem Wirklichkeitsbereich der Technik in jenen wissenschaftlicher Theoriebildung und Methoden aufzeigen.24 Simondon nennt als Beispiele den kartesischen Mechanismus mit seiner analog zu maschinellen Funktionsweisen aufgebauten Argumentationslogik der verlustfreien Übertragung und die an der Regelungstechnik orientierte Modellbildung der Kybernetik, die »die rekursive Einwirkung einer Information auf eine Relaisvorrichtung«25 zum zentralen epistemischen Prinzip erhebt. Angesichts einer Objekte privilegierenden Theoriebildung in den letzten Jahren – von objektorientierter Ontologie über diverse New Materialisms bis zum spekulativen Realismus – lässt sich darüber mutmaßen, ob diese Denkströmungen nicht ebenfalls den Index einer zunehmend autonomen und selbstbezüglichen Technologie tragen, die ohne Rekurs auf die perzeptiven und kognitiven Kapazitäten menschlicher Subjekte auskommt.26 Die vom spekulativen Realismus angestrebte Überwindung des von Kant geerbten Korrelationismus würde dann im Sinne eines so verstandenen technologischen Unbewussten präzise den technikhistorischen Umbruch markieren, an dem die sensorische Ausstattung einer global vernetzten Technosphäre den Status des Menschen als privilegierten Interpre-

die darauf dressiert sind, aus Geräuschen immer gleich Stimmen, Wörter, Töne herauszufiltern; er verzeichnet akustische Ereignisse als solche.« 23  | Im Fazit der vorliegenden Arbeit wird diese Bedeutungsnuance in einer leicht abgewandelten Variante allerdings doch noch einmal thematisiert. Dort geht es am Beispiel der Mobile Data Science um Prozesse kollektiver Sinnstiftung auf individuell erhobener Datenbasis, die vermittelt wieder auf die Individuen zurückwirken. 24  | Vgl. Gilbert Simondon: »Die technische Einstellung«, in: Hörl, Die technologische Bedingung, S. 73-92, hier S. 73-80. 25  | Ebd., S. 76. Vgl. zur Kybernetisierung des Denkens in der Philosophie Erich Hörl: »Das kybernetische Bild des Denkens«, in: Michael Hagner/Erich Hörl (Hg.), Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008, S. 163-195. 26  | Vgl. für dieses Argument Sun-ha Hong: »Data’s Intimacy. Machinic Sensibility and the Quantified Self«, in: communication +1 5 (2016), S. 1-36, hier S. 17-19.

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ten von Welt in Frage stellt.27 Auch dies ist also eine medienanthropologische Frage, allerdings wird sie auf dem Feld der Wissenschaft, vornehmlich im Rahmen philosophischer Diskurse, verhandelt und nicht auf dem Terrain alltäglicher Praktiken mit digitalen Medien, die in der vorliegenden Arbeit im Vordergrund stehen. Wichtig ist schließlich der Hinweis, dass es bei keiner der bisher genannten und im Folgenden zu entwickelnden Verwendungen um ›das Unbewusste‹ im engeren und systematisch auf innerpsychische Vorgänge bezogenen Sinn der Psychoanalyse geht.28 Erich Hörl stellt fest, dass die Beziehung zwischen dem Unbewussten der Psychoanalyse und den »neuen, ökologischen Formen des Unbewussten«, zu denen Thrifts technologisches Unbewusstes zu zählen ist, »völlig ungeklärt« sei.29 Erweiterungen der Freud’schen Theorie des Unbewussten ins Kollektive sind dagegen in den Kultur- und Sozialwissenschaften durchaus gängig.30 Um den Begriff des technologischen Unbewussten für medienwissenschaftliche Zwecke fruchtbar zu machen, kann also nicht ohne weiteres an die Terminologie der Psychoanalyse angeknüpft werden. Im Folgenden werde ich daher den Begriff des technologischen Unbewussten zunächst unter Rückgriff auf unterschiedliche Diskurse weiter entfalten und mit Bezug auf das hier verfolgte Projekt präzisieren, und zwar im Anschluss an die bereits in Kapitel 2.6 diskutierte Apparatustheorie, an Studien zu Infrastrukturen in den Medien- und Kulturwissenschaften sowie an Arbeiten der Medienökologie (5.1). Ziel dieser theoretischen Auslotungen ist es, den eher vagen Terminus für eine medienanthropologische Auseinandersetzung mit digitalen Nahkörpertechnologien zu schärfen und operabel zu machen (5.2). Alexander Galloways Arbeiten zum Protokoll dienen in der Folge als Beispiel, welche Beschreibungsebene prinzipiell mit dem Begriff des technologischen Unbewussten avisiert ist (5.3). Mit der Praxis der Lokalisierung führe ich dann einen für mobile, internetfähige Geräte spezifischen Aspekt des technologischen Unbewussten ein. Smartphones werden dazu als grundsätzlich lokative Medien charakterisiert, bevor anhand verschiedener theoretischer Ansätze machtund wissensbezogene Implikationen einer jederzeitigen Verfügbarkeit von Orts- in Verbindung mit Verhaltensdaten diskutiert werden (5.4). Diese Diskussion dient als 27  | Vgl. für den prominentesten Versuch, die Welt systematisch und gegen die

damit verbundenen Paradoxien unabhängig von menschlichen Beobachtern zu denken, Quentin Meillassoux: Nach der Endlichkeit. Versuch über die Notwendigkeit der Kontingenz, Zürich: Diaphanes 2013 [frz. OA 2006]. 28  | Ausnahme ist die in Kapitel 5.1.1 nur kurz diskutierte Apparatusdebatte. 29  | Erich Hörl: »Die technologische Bedingung. Zur Einführung«, in: Ders., Die technologische Bedingung, S. 7-53, hier S. 43. 30  | Vgl. z. B. den Sammelband Michael B. Buchholz/Günter Gödde (Hg.), Das Unbewusste in aktuellen Diskursen. Anschlüsse, Gießen: Psychosozial-Verlag 2005, in dem wiederum deren Verhältnis zur Freud’schen Triebtheorie ausgelotet wird. Ein technologisches Unbewusstes kommt in dem Band nicht vor, möglicherweise auch, weil der Bezug zu Freud in den einschlägigen Bezugnahmen dazu eher lose ist.

5. Handhelds und Landhelds

Basis für die im anschließenden Kapitel 6 vorgenommene Kritik postkybernetischer Kontrollarchitekturen, die insgesamt den argumentativen Fluchtpunkt dieses Kapitels bildet.

5.1 D iskurse zum U nbewussten

technologischen

In diesem Teilkapitel werden zunächst drei Diskussionszusammenhänge vorgestellt, die auf je eigene Weise als theoretische Bearbeitungen eines technologischen Unbewussten gelten können: die bereits in Kapitel 2 für die Charakterisierung des ApparatBegriffs herangezogene französische Apparatustheorie der 1970er- und 80er-Jahre, Studien zu Infrastrukturen in den Medien- und Kulturwissenschaften sowie Ansätze der Medienökologie. Ein technologisches Unbewusstes taucht in diesen Diskursen zwar entweder gar nicht explizit oder jedenfalls nicht systematisch als Begriff auf, dennoch liefern die Auseinandersetzungen wichtige Bausteine, um zu einer präziseren Theoretisierung für die Zwecke der vorliegenden Arbeit zu gelangen.

5.1.1 Apparatusdebatte Die französische Apparatusdebatte der 1970er-Jahre trat mit dem filmwissenschaftlich bis dahin singulären »Anspruch [auf], die filmische Technik, deren historisch/ gesellschaftlichen Bedürfnishintergrund und eine bestimmte Definition des Zuschauers aufeinander zu beziehen«.31 Dazu wurden schon früh Vergleiche des KinoDispositivs mit dem Unbewussten angestellt und Analogien von Kinofilm und Traum herausgearbeitet.32 Jean-Louis Baudry stellt die These auf, dass das Kino insgesamt als eine Anordnung zu verstehen sei, die einem Wunsch nach Regression der Zuschauer nachkomme – »Regression der Libido bis zur Stufe der halluzinatorischen Wunschbefriedigung; Regression der Ich-Entwicklung bis zur Herstellung des pri31  | Hartmut Winkler: Der filmische Raum und der Zuschauer. ›Apparatus‹ –

Semantik – ›Ideology‹, Heidelberg: Winter Universitäts-Verlag 1992, S. 76. Eine ausführliche Diskussion der Apparatusdebatte findet sich ebd., S. 19-76. Rolf F. Nohr überträgt im Anschluss an Winkler Argumente der auf das Kino zentrierten Apparatusdebatte auf das Medium Computerspiel, das er als im Prozess des Spielens naturalisierte Ideologie beschreibt. Vgl. Rolf F. Nohr: Die Natürlichkeit des Spielens. Vom Verschwinden des Gemachten im Computerspiel, Münster: Lit 2008, insbesondere S. 162-175. 32  | Vgl. Jean-Louis Baudry: »Das Dispositiv. Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks«, in: Robert F. Riesinger (Hg.), Der kinematographische Apparat. Geschichte und Gegenwart einer interdisziplinären Debatte, Münster: Nodus 2003, S. 41-62.

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mitiven Narzißmus«33 –, wobei der Aufbau des kinematografischen Dispositivs dem Analytiker dazu dienen könne, Aufschlüsse über die Funktionsweise des von Freud metaphorisch entworfenen psychischen Apparats zu gewinnen. Insbesondere der Mechanismus der Projektion sei Traum und Kino gemeinsam.34 Dahinter steht die im Prinzip schon bei Ernst Kapp vorzufindende These, dass die Produktion medientechnischer Apparate in unbewusster Nachbildung bestimmter körperlicher und geistiger Prozesse verfahre.35 Weniger nah an der psychoanalytischen Terminologie ist die Bezugnahme auf ein ›technisch-Unbewusstes‹ bei Jean-Louis Comolli, einem der zentralen Protagonisten der Apparatusdebatte. Bezogen auf das Kino meint Comolli damit jenen Teil der Apparatur, der zwar konstitutiv für das Medium sei, aber nicht zur Anschauung gelange: Deputizing the camera to represent the whole of film technique is not only taking ›the part for the whole‹ – it’s also a reductive operation (from the whole to the part). […] The visible part of film technique (camera, shooting, crew, lights, screen) suppresses the invisible part (frame lines, chemistry, fixing and developing, baths, and laboratory procession, negative, the cuts and joins [sic!] of montage technique, soundtrack, projector, etc.) and the latter is generally relegated to the unreasoned, ›unconscious‹ part of cinema. 36

In einer Operation der Ersetzung stehe die Kamera für die gesamte Filmtechnik ein, sodass die weiteren das Kino ausmachenden Materialitäten, Techniken und Praktiken gleichsam verdrängt würden. Insbesondere ist damit der gesamte Bereich der Postproduktion angesprochen, in dem aus den Einzelbildern durch Montage, Farbanpassungen und Hinzufügung von Ton eine kohärente Narration gebaut wird. Auf der Leinwand entstehe dann letztlich durch die Darstellungsvorschrift der Zentralperspektive und die geschickte Konstruktion eines filmischen Raums der Eindruck visueller Evidenz und Unmittelbarkeit. Die Apparatustheoretiker sprechen von

33  | Ebd., S. 52f. 34  | Vgl. ebd., S. 54f. 35  | Vgl. ebd., S. 62. 36  | Jean-Louis Comolli: »Technique and Ideology. Camera, Perspective, Depth

of Field (Part 1)«, in: Bill Nichols (Hg.), Movies and Methods Vol. II. An Anthology, Berkeley, Calif.: University of California Press 1985, S. 40-57, hier S. 45. Das Zitat wird diskutiert in Hartmut Winkler: »Die prekäre Rolle der Technik. Technikzentrierte versus ›anthropologische‹ Mediengeschichtsschreibung«, in: Claus Pias (Hg.), (Me’dien). Dreizehn Vorträge zur Medienkultur, Weimar: VDG 1999, S. 221-238, hier S. 233. Im Grunde bezeichnet das technisch-Unbewusste des Kinos nach Comolli den der Anschauung entzogenen Teil des kinematografischen Basisapparats.

5. Handhelds und Landhelds

einer »Transparenzillusion« als der »Illusion, durch die gesamte Kinomaschinerie hindurch ›unmittelbar‹ auf den Gegenstand zu blicken«.37 Die Filmbilder erben den Realismuseffekt der Fotografie, den bereits André Bazin beschrieben hatte.38 Ihnen wird – zumindest vom ideologisch unaufgeklärten Zuschauer – mit einer generalisierten Objektivitätsunterstellung begegnet, weil mit dem technisch-apparativen Unterbau auch jede Idee von Autorschaft bzw. Konstruiertheit verschleiert wird. Der Apparat bildet also die technische Basis eines Dispositivs, innerhalb dessen als wahr gilt, was sichtbar ist, während das filmisch Undarstellbare aus dem Rahmen der Betrachtung fällt. Die vermeintlich rein indexikalische Referenzialität des Filmbilds führt zur Naturalisierung seiner Wahrnehmung. Auf digitale Nahkörpertechnologien übertragen lässt sich zunächst eine vergleichbare Verdrängungsleistung in Bezug auf die technische Ebene der Realisierung feststellen: Das Smartphone scheint reduziert auf das Interface eines berührungsempfindlichen Bildschirms, der fast die gesamte Oberfläche des Geräts einnimmt. Batterie, Prozessor, Antenne, Sensoren, Lautsprecher und andere technische Komponenten sind fest im Gehäuse verbaut und gelangen nicht zur Sichtbarkeit. Noch viel weniger wird mit den offensiv als drahtlose Technologie vermarkteten Geräten die zu ihrer Verwendung notwendige fixe Infrastruktur aus Sendemasten, Routern, Glasfaserkabeln und Datencentern assoziiert. Auch verschiedene Naturalisierungsstrategien lassen sich ausmachen, die allerdings anders gelagert sind als beim Kino: Statt eine bestimmte Art der (visuellen) Wahrnehmung zu privilegieren, tritt das Smartphone – wie in Kapitel 4 beschrieben – durch seine Positionierung in das Körperschema seiner Träger ein, sodass es tendenziell einer körperlich bestimmten Ich-Identität zugeschlagen wird.39 Aus der Per37  | Winkler: Der filmische Raum und der Zuschauer, S. 42. 38  | Vgl. André Bazin: »Ontologie des fotografischen Bildes« [1945], in: Hartmut

Bitomsky/Harun Farocki/Ekkehard Kaemmerling (Hg.), Was ist Kino? Bausteine zur Theorie des Films, Köln: DuMont Schauberg 1975, S. 21-27, hier S. 25: »Das ästhetische Wirkungsvermögen der Fotografie beruht in der Aufdeckung des Wirklichen.« Ganz analog spricht Kracauer von der Errettung der äußeren Wirklichkeit durch den Film. Vgl. Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993 [amerik. OA 1960]. 39  | Eine körperliche Subjektivierungstheorie mit Bezug auf den kinematographischen Apparat findet sich in Ansätzen auch schon bei Baudry: »Alles geschieht, als ob das Subjekt selbst nicht in der Lage wäre […] für seinen eigenen Platz einzustehen, und es somit notwendig wäre, bei ihm sekundäre Organe auszuwechseln und einzupflanzen, seine eigenen defekten Organe mit Instrumenten oder ideologischen Formierungen zu ersetzen, die zur Ausfüllung seiner Funktion [als Subjekt] tauglich sind. Eigentlich ist diese Substitution nur unter der Bedingung möglich, daß die Apparatur selbst verborgen, unterdrückt bleibt.« (Jean-Louis Baudry: »Ideologische Effekte erzeugt vom Basisapparat«,

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spektive der Apparatustheorie formuliert, erfolgt dadurch auch eine Immunisierung gegen Kritik sowie eine Verdrängung des Umstands, dass das Objekt Smartphone ideologisch imprägniert ist. Beispielsweise ist die Nutzung von Apps entgegen aller Werberhetorik keine schlichte Erweiterung körperlicher oder kognitiver Vermögen – z. B. der Kommunikation, Orientierung oder Interpretation –, sondern stets eingebunden in eine auf Profit ausgerichtete Warenökonomie.40 Aus der Apparatusdebatte lässt sich demnach der Grundgedanke der Nicht-Neutralität von Technik in ideologischer Hinsicht übernehmen sowie die Beobachtung einer Tendenz, die materiellen und ökonomischen Prozesse jenseits der sichtbaren Oberflächen – im Falle des Smartphones: sogenannte Natural User Interfaces41 – zu verdrängen. Zudem verbindet sich mit diesem historischen Diskurs die prinzipielle These, dass medialer Apparat und Subjekt in einem Verhältnis stehen, genauer: dass das Subjekt durch den Apparat mitproduziert wird, ohne in diesen Ablauf Einsicht zu erhalten.

5.1.2 Medialität von Infrastrukturen Auf noch programmatischere Weise wird die Aufmerksamkeit auf im Regelfall nicht sichtbare Materialitäten und Vernetzungen in Arbeiten gelenkt, die sich mit Infrastrukturen von und als Medien beschäftigen. In den Medien- und Kulturwissenschaften gab es lange ein eher vereinzeltes explizites Interesse an Infrastrukturen der Kommunikation und Übertragung.42 Erst in den letzten Jahren sind Ansätze zu einer in: Robert F. Riesinger (Hg.), Der kinematographische Apparat. Geschichte und Gegenwart einer interdisziplinären Debatte, Münster: Nodus 2003, S. 27-39, hier S. 39) 40  | Vgl. für eine Diskussion der politischen Ökonomie von Apps Nandita B. Mellamphy/Nick Dyer-Witheford/Alison Hearn/Svitlana Matviyenko: »Editorial«, in: The Fibreculture Journal 25 (2015): Apps and Affect, S. 4-7 und Jodi Dean: »Apps and Drive«, in: Andrew Herman/Jan Hadlaw/Thom Swiss (Hg.), Theories of the Mobile Internet. Materialities and Imaginaries, New York: Routledge 2015, S. 232-248. 41  | Vgl. Daniel Wigdor/Dennis Wixon: Brave NUI World. Designing Natural User Interfaces for Touch and Gesture, Amsterdam: Morgan Kaufmann/Elsevier 2011 und Bernard Robben/Heidi Schelhowe (Hg.), Be-greifbare Interaktionen. Der allgegenwärtige Computer: Touchscreens, Wearables, Tangibles und Ubiquitous Computing, Bielefeld: transcript 2012. 42  | Christoph Neubert/Gabriele Schabacher: »Verkehrsgeschichte an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien. Einleitung«, in: Dies. (Hg.), Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft. Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien, Bielefeld: transcript 2012, S. 7-45, hier S. 19 nennen exemplarisch Einzeluntersuchungen, die sich Infrastrukturen aus einer (medien-)kulturwissen-schaftlichen Perspektive gewidmet haben: Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und

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systematischeren Behandlung von Infrastrukturen aus medienwissenschaftlicher Perspektive entwickelt worden.43 Als Infrastructure Studies wird das Thema Infrastrukturen dagegen bereits seit längerem in der Techniksoziologie bzw. von den Science and Technology Studies, darunter insbesondere in der ANT, behandelt.44 John Durham Peters plädiert gar für eine infrastrukturelle Wende in der Medientheorie generell und bringt dazu den Begriff des »infrastructuralism« in Anschlag: Damit soll die primär logistische Funktion von Medien betont werden, deren wesentliche Aufgabe immer schon darin bestanden habe, Relationen zwischen Menschen und Dingen zu organisieren.45 Der Begriff Infrastruktur stammt aus dem Eisenbahnwesen des 19. Jahrhunderts, wo er noch das unterirdische Fundament der Schienenwege bezeichnete.46 InfraZeit im 19. Jahrhundert, München/Wien: Carl Hanser 1977, Bernhard Siegert: Relais. Geschicke der Literatur als Epoche der Post 1751 – 1913, Berlin: Brinkmann & Bose 1993 und Johannes Ros-kothen: Verkehr. Zu einer poetischen Theorie der Moderne, München: Fink 2003. Bereits die Arbeiten des kanadischen Wirtschaftshistorikers Harold Innis, auf die sich Marshall McLuhan in seiner Medientheorie immer wieder bezieht, sind allerdings als Infrastrukturstudien zu bezeichnen. Vgl. zu diesem Zusammenhang Thorsten Hahn: »Waterways. H. A. Innis’ Kanufahrt zum Ursprung des Dominion«, in: Neubert/Schabacher, Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft, S. 143-164. 43  | Vgl. Lisa Parks/Nicole Starosielski (Hg.), Signal Traffic. Critical Studies of Media Infrastructures, Urbana, Ill.: University of Illinois Press 2015, Marion Näser-Lather/Christoph Neubert (Hg.), Traffic. Media as Infrastructures and Cultural Practices, Leiden/Boston: Brill 2015, Gabriele Schabacher: »Medium Infrastruktur. Trajektorien soziotechnischer Netzwerke in der ANT«, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 2 (2013), S. 129-148 und Wiebke Porombka: Medialität urbaner Infrastrukturen. Der öffentliche Nahverkehr, 1870 – 1933, Bielefeld: transcript 2013. 44  | Vgl. u. a. Paul N. Edwards/Geoffrey C. Bowker/Steven J. Jackson/Robin Williams: »Introduction. An Agenda for Infrastructure Studies«, in: Journal of the Association for Information Systems 10/5 (2009), S. 364-374, Susan L. Star/Karen Ruhleder: »Steps Toward an Ecology of Infrastructure. Design and Access for Large Information Spaces«, in: Information Systems Research 7/1 (1996), S. 111-134 und Susan L. Star/Geoffrey C. Bowker: »How to Infrastructure«, in: Leah A. Lievrouw/Sonia Livingstone (Hg.), Handbook of New Media. Social Shaping and Social Consequences of ICTs, London: Sage 2006, S. 151-162. 45  | Vgl. John Durham Peters: The Marvelous Clouds. Toward a Philosophy of Elemental Media, Chicago, Ill./London: The University of Chicago Press 2016, S. 37. 46  | Vgl. Dirk van Laak: »Der Begriff ›Infrastruktur‹ und was er vor seiner Erfindung besagte«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 41 (1999), S. 280-299, hier S. 280. Der Begriff ›infrastructure‹ war zuerst im Französischen gebräuchlich.

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strukturen im heute gebräuchlichen Wortsinn haben dagegen eine komplexe ontologische Struktur. Brian Larkin weist darauf hin, dass Infrastrukturen nicht einfach als technische Objekte behandelt werden können: »What distinguishes infrastructures from technologies is that they are objects that create the grounds on which other objects operate, and when they do so they operate as systems.«47 Damit seien sie neben ihrer faktischen Materialität auch stets in ihrer konfigurativen oder relationalen Dimension zu analysieren. Erschwerend kommt hinzu, dass es von der gewählten Perspektive abhängt, was jeweils als Infrastruktur adressiert wird: So ist die verlässliche Bereitstellung von Elektrizität zwar eine notwendige Infrastruktur für das Betreiben von Computern, aber für die Aufrechterhaltung ebendieser Infrastruktur wird an vielen Stellen wiederum auf Computertechnik zurückgegriffen.48 Statt von einer linearen Relation von infrastrukturellem Unterbau und sichtbarer Technologie muss also von verteilten und rekursiv organisierten Systemen ausgegangen werden.49 Ein gemeinsamer Fluchtpunkt vieler Studien zu Infrastrukturen ist die Betonung ihres prozessualen Charakters. Für Betrieb, Ausbau und Erhaltung von Infrastrukturen ist der fortlaufende Einsatz von Arbeit erforderlich.50 Diese konstante Arbeit der Aufrechterhaltung und Reparatur gelangt selten zur Sichtbarkeit.51 In den ANT-Beschreibungen von Infrastrukturen wird zur Charakterisierung ihrer funktionalen Verunsichtbarung häufig der Begriff des Blackboxing verwendet.52 Darunter wird in der ANT der Prozess verstanden, in dem die Komponenten eines wissenschaftlichen oder technischen Netzwerks auf eine Weise gebündelt werden, das von der internen Komplexität des so entstehenden Gebildes abstrahiert werden kann.53 Die Blackbox ist nach außen opak, sodass lediglich Inputs und Outputs beobachtet werden können, solange der Funktionszusammenhang aufrechterhalten wird. Infrastrukturen sind also Technologien, die andere Formen der – technischen, medialen oder kulturellen – Vernetzung und kooperative Praktiken möglich machen. Sie lassen sich, da ihre Leistungen außer im Störungsfall selten zur

47  | Brian Larkin: »The Politics and Poetics of Infrastructure«, in: Annual Review

of Anthropology 42/1 (2013), S. 327-343, hier S. 329. 48  | Vgl. ebd. und Paul N. Edwards: »Y2K: Millennial Reflections on Computers as Infrastructure«, in: History and Technology 15 (1998), S. 7-29. 49  | Vgl. Larkin: »The Politics and Poetics of Infrastructure«, S. 329f. 50  | Vgl. Star/Bowker: »How to Infrastructure«, S. 241 sowie Neubert/Schabacher: »Verkehsgeschichte«, S. 18f. 51  | Vgl. Schabacher: »Medium Infrastruktur«, S. 145, die weitere Quellen zur Invisibilisierung von Arbeit aus Sicht der Infrastructure Studies anführt. 52  | Vgl. grundlegend zum Begriff des Blackboxing Bruno Latour: Pandora’s Hope. Essays on the Reality of Science Studies, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1999, S. 183-185. 53  | Vgl. ebd., S. 304.

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Sichtbarkeit gelangen, mit einiger Plausibilität als technologisches Unbewusstes der durch sie ermöglichten Praktiken begreifen.54 Larkin macht noch auf einen weiteren Aspekt aufmerksam, der meines Erachtens die Rede vom technologischen Unbewussten mit Blick auf Infrastrukturen legitimieren kann. Zwar geht er abweichend von vielen anderen Autoren von Infrastrukturstudien nicht davon aus, dass Infrastrukturen in erster Linie unsichtbare Möglichkeitsbedingungen seien.55 Im Gegenteil hätten sie gar eine eigene Poetik, in der sich beispielsweise Aspekte wie Fortschrittsglaube, gesellschaftliche Teilhabe und zivilisatorische Errungenschaften verdichten. In der Folge argumentiert Larkin allerdings, dass Infrastrukturen in einem aisthetischen Sinn auf subtile Weise die perzeptiven und affektiven Relationen von Individuen zu ihrer gestalteten Umgebung mitprägen.56 Als Beispiele nennt er u. a. Arbeiten von Lewis Mumford und Walter Benjamin zur taktilen Qualität des Eisens als dominantem Baumaterial der Hochphase der europäischen Industrialisierung, das bestimmte Architekturen (z. B. Warenhaus und Eisenbahnstation) mitsamt der zugehörigen Praktiken möglich machte, den von Wolfgang Schivelbusch beschriebenen Wechsel von offenen Flammen zu elektrischer Beleuchtung sowie die gleichermaßen unerwartete wie unheimliche Stille der Fortbewegung auf den ersten Asphaltstraßen in London Ende des 19. Jahrhunderts – alles Entwicklungen, die das sensorische Erleben der Moderne in 54  | Vgl. Star/Bowker: »How to Infrastructure«, S. 231: »The normally invisible

quality of working infrastructure becomes visible when it breaks: the server is down, the bridge washes out, there is a power blackout.« Schabacher hat die Unsichtbarkeit bzw. Transparenz im Vollzug als gemeinsames Merkmal von Medien und Infrastrukturen herausgearbeitet. Vgl. Schabacher: »Medium Infrastruktur«, S. 139f. Weitere Parallelen sieht sie in Prozessen der Standardisierung (vgl. ebd., S. 141-144) und in der dynamischen Prozessualität von Infrastrukturen als Medien (vgl. ebd., S. 144-146). 55  | Vgl. Larkin: »The Politics and Poetics of Infrastructure«, S. 336. Gegenbeispiele seien z. B. nationale Prestigeprojekte, aber auch marode Infrastrukturen, die ein umfassendes technisches Wissen auf Seiten der Anwender und damit eine ständige Bewusstmachung im Rahmen von Praktiken der Improvisation und Reparatur nötig machen. 56  | Vgl. ebd., S. 336-338. Für einen vergleichbaren Ansatz, der technologische und soziokulturelle Aspekte von Infrastrukturen zusammenführt, vgl. Paul Dourish/Genevieve Bell: »The Infrastructure of Experience and the Experience of Infrastructure. Meaning and Structure in Everyday Encounters with Space«, in: Environment and Planning B: Planning and Design 34/3 (2007), S. 414-430, hier S. 417: »By ›the infrastructure of experience‹, we want to draw attention to the ways in which, in turn, the embedding of a range of infrastructures into everyday space shapes our experience of that space and provides a framework through which our encounters with space take on meaning.«

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unterschiedlichem Maße umstrukturiert haben.57 In allen genannten Beispielen hat eine technische bzw. infrastrukturelle Innovation Anteil an einer Veränderung der verkörperten Wahrnehmung von Individuen. Die sich anschließende Frage lautet, ob sich ein vergleichbarer Zusammenhang auch für die Infrastrukturen des mobilen Internets behaupten lässt, die intuitiv zunächst weniger Ansatzpunkte für sinnliches Erleben bieten. Hierzu kann erneut an das Konzept der Affordanzen angeknüpft werden, das in Kapitel 4.1 vorgestellt und besprochen wurde. Das von digitalen Nahkörpertechnologien genutzte Spektrum elektromagnetischer Wellen bildet eine für das menschliche Auge unsichtbare Landschaft mit Zonen ausreichender und eingeschränkter Netzabdeckung sowie Funklöchern, in denen kein Signalempfang möglich ist.58 Diese Eigenschaften des technisierten Environment sind als Affordanzen der mitgeführten Geräte zwar von deren Trägern nicht direkt sichtbar, kommen allerdings in verkörpertem Anpassungsverhalten zum Ausdruck. Es gibt eine Erfahrungsdimension der »wirelessness«, die sich beispielsweise an charakteristischen Bewegungen des Oberkörpers und des das Gerät haltenden Arms ablesen lässt.59 Ikonisch festgehalten wurde dies im Weltpressefoto des Jahres 2014 mit dem Titel »Signal«, auf dem afrikanische Migranten am Strand von Dschibuti zu sehen sind, die ihre Mobiltelefone zum Himmel heben, um ein günstiges Signal aus dem benachbarten Somalia zu empfangen. (Abb. 14) In solchen Fällen ist ein buchstäbliches »bending of bodies with environments«60 zu beobachten, ein mehr oder weniger subtiles Ausrichten der Körperhaltung an vermuteten oder über das Gerät visualisierten Affor57  | Vgl. Lewis Mumford: Technics and Civilization, London: Routledge & Kegan

Paul 1955 [1934], S. 163-167, Walter Benjamin: »Der Saturnring oder Etwas vom Eisenbau«, in: Ders., Gesammelte Schriften. Band V, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006 [1982], S. 1060-1063, Wolfgang Schivelbusch: Lichtblicke. Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag 2004 und Chris Otter: The Victorian Eye. A Political History of Light and Vision in Britain, 1800-1910, Chicago: University of Chicago Press 2008, S. 92-98. 58  | Vgl. Parisa Eslambolchilar/Mads Bødker/Alan Chamberlain: »Ways of Walking. Understanding Walking’s Implications for the Design of Handheld Technology via a Humanistic Ethnographic Approach«, in: Human Technology 12/1 (2016), S. 5-30, hier S. 20-23. Die Autoren weisen zudem darauf hin, dass zu Praktiken der Konnektivität auch eine ausreichende Stromversorgung gehört, insbesondere bei energiehungrigen Smartphones, deren Akkus täglich geladen werden müssen. Auch diese scheinbare Selbstverständlichkeit beeinflusse die Praktiken der Anwender. 59  | Vgl. Adrian Mackenzie: Wirelessness. Radical Empiricism in Network Cultures, Cambridge, Mass.: MIT Press 2010. 60  | Thrift: Knowing Capitalism, S. 213.

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danzen der vom Designer Anthony Dunne »Hertzian Space«61 genannten Konfiguration von Spektrum, gestalteten Artefakten und kulturellen Praktiken. Dieses Anpassungsverhalten kann extreme Züge annehmen: In einer ethnografischen Studie zur Mobiltelefonnutzung auf Vanuatu gibt einer der Befragten an, dass es nicht ungewöhnlich sei, eine Wegstrecke von zwei bis drei Stunden zurückzulegen, um einen erhöhten geografischen Punkt mit Netzabdeckung zu erreichen.62 Steve Jobs’ Wort vom »internet in your pocket« in Kombination mit der gängigen »information at your fingertips«-Rhetorik verweist auf eine weitere Verschränkung individuellen körperlichen Erlebens mit technischen Infrastrukturen.63 Die Slogans enthaltendas Versprechen, über die weltumspannende Informations-Infrastruktur des mobilen Internets in der Handfläche verfügen zu können – »the whole world in your hands«. Um diesem Anspruch gerecht werden zu können, verwenden Industriedesigner eine erhöhte Aufmerksamkeit darauf, die Beziehung zwischen Hand und Gerät zu harmonisieren.64 Die ›Unmittelbarkeit‹ und Körperlichkeit des Umgehens mit mobilen Interfaces, die beispielsweise auf taktile Eingaben reagie61  | Anthony Dunne: Hertzian Tales. Electronic Products, Aesthetic Experience,

and Critical Design, Cambridge, Mass: MIT Press 2006 [1999], S. 101. Dort heißt es weiter: »Whereas cyberspace is a metaphor that spatializes what happens in computers distributed around the world, radio space is actual and physical, even though our senses detect only a tiny part of it. […] The twentieth century has seen space evolve into a complex soup of electromagnetic radiation. The extrasensory parts of the electromagnetic spectrum form more and more of our artifactual environment, yet designers direct little attention toward the possible sensual and poetic experience of this industrially produced new materiality.« 62  | Vgl. Pedro Ferreira/Kristina Höök: »Bodily Orientations around Mobiles. Lessons Learnt in Vanuatu«, in: Proceedings of the 29th Annual CHI Conference on Human Factors in Computing Systems, New York: ACM 2011, S. 277-286, hier S. 283: »As mobile telephony settles in, people discover and orient themselves vis-à-vis this new superposition in landscapes, between the geographical landscape and the invisible coverage landscape.« 63  | Zum »internet in your pocket« vgl. Steve Jobs, zitiert in Ryan Block: »Live from Macworld 2007. Steve Jobs Keynote«, auf: engadget, dort datiert am 1.9.20 07, http://www.engadget.com/2007/01/09/live-from-macworld-2007-ste​ ve-jobs-keynote/, zul. aufgeruf. am 31.1.2017 sowie Kapitel 3 der vorliegenden Arbeit. Der Ausdruck »information at your fingertips« wurde bereits im November 1994 von Microsoft-Gründer Bill Gates im Rahmen eines Keynote-Vortrags auf der Computermesse Comdex in Las Vegas geprägt und ist zum geflügelten Wort innerhalb der IT-Branche geworden. 64  | Vgl. Heidi Rae Cooley: Finding Augusta. Habits of Mobility and Governance in the Digital Era, Hanover, New Hampshire: Dartmouth College Press 2014, S. 28: »In a very immediate and visceral way, the design of our handhelds pleases.«

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ren, stehen in Diskrepanz zur Abstraktion von Infrastrukturen. Der Maßstab der digitalen Infrastruktur wird allerdings durch ein entsprechendes Interface-Design sowohl imaginär als praktisch auf den Zugriff individueller Körper und Hände verkleinert, gleichsam handhabbar gemacht. Heidi Rae Cooley führt dazu näher aus: »[D]esigners seek material combinations that bring textures, shapes, and heft to handheld devices to encourage continuous holding, and not simply portability as in the case of amateur film equipment. When successful, this effort results in a nonconscious bonding, a kind of relation that is not aware as such but neither is it repressed or unconscious. Insofar as our handheld devices are more often than not equipped with network capabilities and GPS, their being in hand means that we are on grid.« 65

Abbildung 14: Signal, World Press Photo des Jahres 2014, Foto: John Stanmeyer

Quelle: © John Stanmeyer, World Press Photo 2014.

Die nicht- oder lediglich teilbewusste Aneignung digitaler Nahkörpertechnologien geschieht also in Reaktion auf Strategien des industriellen Designs, ohne diesen jemals völlig zu entsprechen. So macht Cooley auf biopolitische Standardisierungstendenzen im Interface-Design aufmerksam, die nicht jeden singulären Körper erfolgreich adressieren können.66 Wesentlicher für das hier verfolgte Argument ist 65  | Ebd., S. 37. 66  | Vgl. ebd., S. 29.

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aber der Punkt, dass eine erfolgreiche Inkorporierung des Geräts gleichzeitig eine zumindest teilweise dem Bewusstsein entzogene Beziehung stiftet zwischen dem individuellen Körper und dem »grid«, d. h. der Infrastruktur des mobilen Internets. Neben diesen sich auf die Bewegungen und das sinnliche Erleben individueller Körper auswirkenden Dimensionen lassen sich Infrastrukturen als kollektiv realisierte Projekte thematisieren, die in vielfältigen Beziehungen stehen zu soziokulturellen Imaginationen sowie zu umwelt- und geopolitischen Voraussetzungen wie verfügbarem Territorium und Ressourcen.67 In seiner historischen Aufarbeitung des Begriffs macht Dirk van Laak darauf aufmerksam, dass die »Schaffung von Infrastruktur als Integrationsmodell einer technokratischen Staatsauffassung« neben »staatsrechtlichen und politischen Integrationsvorstellungen stärkere historische Beachtung« verdiene.68 Eine Kulturgeschichte von Infrastrukturen müsse demnach verstärkt die politische Dimension von Infrastruktur-Maßnahmen mitreflektieren. Heather A. Horst hat für die Mobilkommunikationsforschung in programmatischer Hinsicht einen Fokus auf die politische Ökonomie von Infrastrukturen gefordert: Damit rückten Machtdynamiken innerhalb von technischen, sozialen, politischen und regulatorischen Aushandlungsprozessen in den Vordergrund, nachdem die Forschung sich bislang eher auf Anwendungs- und Konsumpraktiken sowie Bedeutungsgebungsprozesse auf Nutzerseite konzentriert habe.69 Worin liegt in dieser Hinsicht nun die Besonderheit der Infrastrukturen digitaler Nahkörpertechnologien gegenüber sog. Large Technical Systems (LTS) wie Elektrizität, Wasserversorgung, Kanalisation, Verkehrsinfrastrukturen wie Eisenbahn, Schiff- und Luftfahrt, sowie Telegrafen- und Telefonnetzen, die von der Techniksoziologie bereits ausführlich als soziotechnische Ensembles beschrieben worden sind?70 Der Technikhistoriker Paul N. Edwards sieht die integrative Funktion von Computerinfrastrukturen als zentralen Punkt, in dem sie sich von historisch älteren Infrastrukturen unterschieden: The real historical importance of computers lies not in their calculating power alone, but in their ability to integrate previously unrelated, highly heterogeneous functions within a single technological framework. The most important of these,

67  | Vgl. Lisa Parks/Nicole Starosielski: »Introduction«, in: Dies., Signal Traffic, S. 127, hier S. 4f.

68  | van Laak: »Der Begriff ›Infrastruktur‹«, S. 299. 69  | Vgl. Heather A. Horst: »The Infrastructures of Mobile Media. Towards a Fu-

ture Research Agenda«, in: Mobile Media & Communication 1/1 (2013), S. 147152, hier S. 148. 70  | Vgl. Thomas P. Hughes: Networks of Power. Electrification in Western Society, 1880 – 1930, Baltimore, Md.: John Hopkins University Press 1993 [1983] und Renate Mayntz/Thomas P. Hughes (Hg.), The Development of Large Technical Systems, Frankfurt a. M.: Campus 1988.

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Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien in approximate order of historical appearance, are calculation, simulation, control, information processing, communication, and visualization.71

Somit gerate der Computer gleichsam zur Infrastruktur der Infrastrukturen, die sich eher als Netzwerk denn als System charakterisieren ließe.72 Die Interkonnektivität der einzelnen Teilsysteme bzw. netzwerke wird im Internet über ein Set von Protokollen geregelt, sodass die angeschlossenen Komponenten sehr heterogen ausfallen können. Im Internet und anderen Informationstechnologien fallen Kommunikation und Kontrolle weitestgehend zusammen und sind synonym zu betrachten, insofern beide »als Aktionen, die auf informationelles Feedback hin ausgerichtet sind«, zu begreifen sind.73 Weil der Internet-Architektur die »Notwendigkeit von Entscheidungen eingeschrieben« ist, kann es also »kein Internet ohne Kontrolle (wohl aber ohne Überwachung) und keine Übertragung ohne Machtausübung (wohl aber ohne Diskriminierung) geben«, wie Florian Sprenger bemerkt hat.74 Wie Jason Farman gezeigt hat, gilt für die Infrastrukturen mobiler Telekommunikation und Vernetzung in noch stärkerem Maße als für andere Infrastrukturen, dass sie auf geradezu ostentative Weise verunsichtbart werden.75 Dies lässt sich beispielsweise an als Bäumen verkleideten Mobiltelefonmasten festmachen.76 (Abb. 15) Lisa Parks verwendet das Beispiel, um das Desiderat einer »infrastructure literacy« zu umschreiben, die es erlauben würde, Infrastrukturen als Gegenstand öffentlichen Interesses zu adressieren und ihren spezifischen Örtlichkeiten angemessener zu begegnen: Wireless infrastructure is defined not only as the capacity, as advertisers would have it, to speak on a phone ›anytime anywhere‹; it involves the (re)allocation of

71  | Edwards: »Y2K«, S. 12. 72  | Vgl. ebd., S. 11. 73  | Felix Stalder: Kultur der Digitalität, Berlin: Suhrkamp 2016, S. 83. Stalder

zitiert für die weitgehende Identität der Begriffe Kommunikation und Kontrolle Nobert Wiener. 74  | Florian Sprenger: Politik der Mikroentscheidungen. Edward Snowden, Netzneutralität und die Architekturen des Internets, Lüneburg: meson press 2015, S. 22f. 75  | Vgl. Jason Farman: »The Materiality of Locative Media. On the Invisible Infrastructure of Mobile Networks«, in: Herman/Hadlaw/Swiss, Theories of the Mobile Internet, S. 45-59. 76  | Vgl. Farman: »The Materiality of Locative Media«, S. 56f. und Lisa Parks: »Around the Antenna Tree: The Politics of Infrastructural Visibility, auf: Flow-journal.org, http://www.flowjournal.org/2009/03/around-the-antenna-tree-the-politics-of-infrastructural-visibilitylisa-parks-uc-santa-barbara/, zul. aufgeruf. am 1.2.2017.

5. Handhelds und Landhelds publicly-owned natural resources, the installation of new equipment on private and public properties, and the restructuring of lifestyles and communities.77

Abbildung 15: Als Palme getarnter Sendemast in den USA, Foto: Lisa Parks, 2009

Quelle: © Lisa Parks: »Around the Antenna Tree: The Politics of Infrastructural Visibility, auf: Flowjournal.org, http://www.flowjournal.org/2009/03/aroundthe-antenna-tree-the-politics-of-infrastructural-visibilitylisa-parks-uc-santabarbara/, zul. aufgeruf. am 15.2.2017.

Eine vergleichbar zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit oszillierende Stellung kennzeichnet die Datencenter großer Internetkonzerne. Jennifer Holt und Patrick Vonderau analysieren PR-Material der Firmen Google, Facebook, Apple und Bahnhof AB (einem schwedischen Internet Service Provider), um herauszuarbeiten, wie in deren Repräsentationsstrategien Werte wie Umweltfreundlichkeit und Transparenz transportiert werden, ohne tatsächlich Details über die Netzwerkinfrastrukturen zu enthüllen: »Data centers are information infrastructures hiding in plain sight.«78 Holt und Vonderau sprechen von einer Techno-Politik der Hypervisibilität, die das Blackboxing technischer und vor allem industriepolitischer Spezifika hinter ästhetisch aufbereiteten Fotoserien von Kabelsträngen und Kühlungsanlagen vor idyllischer Kulisse intakt lässt (Abb. 16): Infrastructural politics is not just about what is deliberately hidden from sight or is invisible; it is equally about the hypervisibility created around some of an infrastructure’s component parts, all while most of the relations it engenders and the rationality embodied in in its overall system sink deeply into obscurity.79

77  | Ebd. 78  | Vgl. Jennifer Holt/Patrick Vonderau: »›Where the Internet Lives‹. Data Centers as Cloud Infrastructure«, in: Parks/Starosielski, Signal Traffic, S. 71-93, hier S. 74. 79  | Ebd., S. 80.

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Das Argument erinnert an jenes der Apparatustheoretiker zur Kennzeichnung der Sichtbarkeitsregime des kinematographischen Apparats. Auch hier sind es ganz bestimmte Relationen und technische Vorgänge, die dekontextualisiert für die Repräsentation herausgegriffen werden, während andere gezielt verdrängt werden. Abbildung 16: Googlefarbene Rohre des Kühlsystems in einem Google-Datencenter in The Dalles, Oregon

Quelle: Google Rechenzentren, https://www.google.com/about/datacenters/ gallery/#/all/5, zul. aufgeruf. am 15.2.2017.

Symptomatisch für die Verschleierung der physischen Infrastruktur des Internets im Allgemeinen und mobiler, digitaler Nahkörpertechnologien im Besonderen steht der Begriff der Cloud als gängige Bezeichnung für Service-Architekturen, bei denen die Speicherung und/oder Verarbeitung von Daten der Nutzer eines Dienstes nicht lokal auf deren Endgeräten, sondern auf den Servern des Anbieters erfolgt, deren physischer Ort in der Regel unbekannt ist.80 Andrew Blums journalistisches Buch Tubes. A Journey to the Center of the Internet liest sich wie eine einzige Dekonstruktion des Mythos der Cloud und gleichzeitig wie eine ausgedehnte Meditation über die vergessene physische Seite des Internets, von den persönlichen Kontakten und Freund80  | Vgl. für eine Diskussion der politischen Implikationen des Cloud Computing, in dem technische Materialitäten von einer Ideologie und Rhetorik der Immaterialisierung verdeckt werden Seb Franklin: »Cloud Control, or The Network as Medium«, in: Cultural Politics 8/3 (2012), S. 443-464.

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schaften zwischen Netzwerk-Ingenieuren bis zum modrigen Geruch verstaubter Server-Lüfter.81 Die schiere Faktizität von kaum handhabbaren Kabelsträngen82 und gigantischen Netzwerkroutern in Internet-Knoten, die häufig am Rand der Totalauslastung stehen, machen eines hinlänglich klar: Es gibt keine Cloud, allenfalls – wie Blum einen Datencenter-Manager in einer ironischen Nebenbemerkung sagen lässt – als Dampf von Kühlanlagen in Datencentern im mittleren Westen der USA, wenn die Lüfter gerade nicht laufen.83 Worauf die Cloud-Rhetorik schließlich aber doch verweist, sind Prozesse der Zentralisierung und Konzentration von Marktmacht und Verfügung über Daten, »die den lange prominenten Vorstellungen horizontaler Nivellierung geografischer Unterschiede durch das Netz zuwiderlaufen und die oft propagierte Demokratisierung in anderem Licht erscheinen lassen«.84 Sprenger und Engemann bezeichnen diesen Prozess als »zentrierte Dezentrierung«, insofern computationelle Speicher- und Verarbeitungskapazitäten in zunehmendem Maße nicht lokal bei den Anwendern, sondern an geografisch entfernten Orten gebündelt werden.85 Den Handhelds der Anwender stehen die sogenannten »Landhelds« gegenüber, gigantische Datencenter, zu deren Betrieb beträchtliche Kapitalinvestitionen und ein erheblicher Energieaufwand erforderlich sind.86 Der individuelle Smartphonenutzer, der beispielsweise einen Cloud-basierten Speicherdienst auf seinem Endgerät nutzt, hat keine Möglichkeit

81  | Vgl. Andrew Blum: Tubes. A Journey to the Center of the Internet, New York: Ecco 2012.

82  | Die Kunst des »cable management« wurde im Palo Alto Internet Exchange

(PAIX), einem der Hauptknotenpunkte des Internets, erstmals professionalisiert und sogar – als »›cascading cable tray system‹ with ›pre-fabricated support structure‹« – patentiert. (Ebd., S. 82) Vgl. diesbezüglich ausführlich Daniel Gethmann/Florian Sprenger: Die Enden des Kabels. Kleine Mediengeschichte der Übertragung, Berlin: Kadmos 2014, S. 13f.: »Die Geschichte des Kabels kann heute, wo mobile Medien die gänzliche Ablösung von am Boden verankerten, statischen und allzu materiellen Grundlagen versprechen, dabei helfen, diese Versprechungen medienhistorisch zu erden. Kabel liegen auch in Zeiten der Drahtlosigkeit überall.« 83  | Vgl. Blum: Tubes, S. 260. An anderer Stelle äußert derselbe Manager: »The cloud is a building. It works like a factory. Bits come in, they get massaged and put together in the right way, then packaged up and sent out.« (Ebd., S. 259) 84  | Florian Sprenger/Christoph Engemann: »Im Netz der Dinge. Zur Einleitung«, in: Dies., Internet der Dinge, S. 7-58, hier S. 45. 85  | Vgl. ebd., S. 40-45. 86  | Mit dem ironischen Begriff »Landhelds« bezeichnet man bei Google die firmeneigenen Datencenter aufgrund ihres schieren Flächenvolumens. Vgl. ebd., S. 42.

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festzustellen, wo seine Daten physisch aufbewahrt werden und welche globalen Wege durch transatlantisch verlegte Glasfaserkabel sie zurücklegen.87 Lenkt man die Aufmerksamkeit auf die Infrastrukturen des mobilen Internets, erscheint das »Versprechen mobiler Freiheit«88 in einem anderen Licht: Das verlässliche Funktionieren der Endgeräte wird erst durch eine nach wie vor fixe Infrastruktur gewährleistet, die nach Wirtschaftlichkeitskriterien im globalen Maßstab operierender multinationaler Konzerne betrieben wird.89 Die Intimität der Interfaces mit berührungsempfindlichem Touchscreen verdeckt eine unübersichtliche Ökonomie von Big Data, für deren Betrieb global vernetzte materielle Infrastrukturen erforderlich sind.

5.1.3 M edienökologien Als dritte Perspektive auf ein technologisches Unbewusstes möchte ich medienökologische Ansätze anführen, die sich in einem anderen theoretisch-methodischen Rahmen ebenfalls mit dem beschäftigen, was Erich Hörl die »technologische Bedingung« der gegenwärtigen Medienkultur nennt.90 Der Medienökologie-Diskurs – zu dem unter anderem Autoren wie Mark B. N. Hansen, Luciana Parisi, Jussi Parikka und Bernard Stiegler beigetragen haben91 – befasst sich methodisch und theoretisch 87  | Vgl. Nicole Starosielski: »Fixed Flow. Undersea Cables as Media Infrastructure«, in: Parks/Starosielski, Signal Traffic, S. 53-70, hier S. 67: »The user is not a rational agent who can locate herself in relation to such infrastructures; rather, she is a posthuman subject that extends across the network in multiple, unpredictable ways, intertwined with developments that are beyond any indivi- dual’s knowledge or control.« 88  | Heike Weber: Das Versprechen mobiler Freiheit. Zur Kultur- und Technikgeschichte von Kofferradio, Walkman und Handy, Bielefeld: transcript 2008. 89  | Aus diesem Grund sind die Datencenter global agierender Internetkonzerne häufig in Weltregionen angesiedelt, in denen die Kosten für Kühlung und Energieversorgung aus klimatischen und/oder steuerlichen Gründen möglichst niedrig sind. Vgl. Holt/Vonderau: »›Where the Internet Lives‹«, S. 82-84. 90  | Vgl. Hörl: Die technologische Bedingung. 91  | Vgl. Mark B. N. Hansen: »Medien des 21. Jahrhunderts, technisches Empfinden und unsere originäre Umweltbedingung«, in: Hörl, Die technologische Bedingung, S. 365-409, Luciana Parisi: »Technoecologies of Sensation«, in: Bernd Herzogenrath (Hg.), Deleuze, Guattari & Ecology, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2009, S. 182-199, Jussi Parikka: »Media Ecologies and Imaginary Media. Transversal Expansions, Contractions, and Foldings«, in: The Fibreculture Journal 17 (2011): Unnatural Ecologies, S. 34-50, Bernard Stiegler/Frédéric Neyrat: »Interview: From Libidinal Economy to the Ecology of the Spirit«, in: Parrhesia 14 (2012), S. 9-15 sowie die Kurzzusammenfassungen der Positionen in Erich Hörl: »Tausend Ökologien. Der Prozess der Kybernetisierung und die all-

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variantenreich mit veränderten Objektkulturen wie mobilen Medien, Smart Sensors, RFID-Chips und dem Internet der Dinge, die neue Antworten auf klassische Fragen nach dem Mensch-Maschine-Verhältnis verlangen. Verbreitet sind dabei Bezugnahmen auf neokybernetische, komplexitätstheoretische und sogenannte ›ökosophische‹ Ansätze im Anschluss an Félix Guattari.92 Hörl zeigt auf, »wie sich um den Begriff der Ökologie herum seit Längerem eine neue Semantik zur Beschreibung der zeitgenössisch technisch-medialen Bedingung zu kristallisieren beginnt«, die keine »bloße Metaphorisierung« des Ökologiebegriffs darstelle.93 Hörls Anliegen ist letztlich ein philosophisches: Er möchte zeigen – und seine Texte legen auch sprachlich Zeugnis vom Umfang der zu leistenden Aufgabe ab –, wie sich im Zuge des Wandels von »technologischen Objektkulturen, mit denen wir gekoppelt sind« eine »große sinngeschichtliche Umwendungsbewegung« vollzieht. Diese laufe darauf hinaus, dass zentrale abendländische Begrifflichkeiten wie die Differenzierung von aktivem Subjekt und passivem Objekt sowie das hylemorphistische Schema, das im Paradigma der Arbeit und der damit verbundenen Vorstellung eines transzendentalen Subjekts verhandelt wird, ihre diskursive Relevanz verlören.94 An die Stelle dieser Konzepte trete in vielen Arbeiten, die sich mit dem Etikett ›Medienökologie‹ versehen lassen, der Versuch, alternative Beschreibungsmodalitäten zu generieren, die Hörl zusammengenommen als transdisziplinäre Beiträge zu einer ›allgemeinen Ökologie‹ wertet.95 Zentrale Elemente dieser Ansätze sind eine verstärkte Aufmerksamkeit für nicht-menschliche Handlungs- und Wirkungsgrößen, die Aufwertung von Objekten (genauer: technischen Ensembles und Netzen) in sinnkulturellen Zusammenhängen und die übergreifende Betonung von Relationalitäten und multipler Partizipation gegenüber isolierten Entitäten für die Beschreibung epistemologischer sowie ontologischer Zusammenhänge. »Im Kern der allgemein-ökogemeine Ökologie«, in: Diedrich Diederichsen/Anselm Franke (Hg.), The Whole Earth. Kalifornien und das Verschwinden des Außen, Berlin: Sternberg Press 2013, S. 121-130, hier S. 124-126. Neben diesem neueren und vorwiegend europäischen Medienökologie-Diskurs gibt es die auf Marshall McLuhan und Neil Postman zurückgehende nordamerikanische Media Ecology, die sich ebenfalls mit medialen Environments befasst. Vgl. für einen umfassenden Überblick zu dieser nordamerikanischen Forschungstradition Lance Strate: »A Media Ecology Review«, in: Communication Research Trends 23/2 (2004), S. 3-48. Um diese Richtung wird es im Folgenden dezidiert nicht gehen. 92  | Vgl. Félix Guattari: Die drei Ökologien, Wien: Passagen Verlag 2012 [frz. OA 1989]. 93  | Hörl: »Tausend Ökologien«, S. 127. Umgekehrt sei die traditionelle Ökologie, die sich mit natürlichen Ökosystemen befasst, lediglich die erste wissenschaftliche Gestaltung einer historisch neuen »Begriffskonstellation« gewesen. 94  | Ebd., S. 127 und 125. 95  | Vgl. James Burton/Erich Hörl (Hg.), On General Ecology. The New Ecological Paradigm in the Neocybernetic Age: Bloomsbury 2016.

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logischen Frage geht es um die Beziehung von Subjektivität und ihrer Exteriorität, die auf technologischer Basis grundsätzlich neu zu verhandeln steht.«96 Nigel Thrifts Konzeption des technologischen Unbewussten wird von Hörl aufgegriffen und als Beitrag zu einer allgemeinen Ökologie gewürdigt.97 Als Auseinandersetzung mit einem technologischen Unbewussten sind medienökologische Ansätze in verschiedener Hinsicht zu verstehen.98 Insbesondere bei Mark Hansen – aber auch bei Katherine Hayles – werden Vorgänge der Sammlung und Verteilung von Informationen diskutiert, die ohne aktives Wissen und Zutun von menschlichen Subjekten ablaufen, beispielsweise die Steuerungsvorgänge innerhalb eines Smart Homes oder eben die beiläufige Datenerfassung von Nahkörpertechnologien wie Smartphones und Fitnesstrackern.99 Hier kommunizieren Maschinen mit Maschinen und unterlaufen dabei systematisch menschliche Wahrnehmungsschwellen, sodass die Ergebnisse von Datenerhebungs- und Datenverarbeitungsprozessen sowie deren Kopplung mit physischen Aktuatoren als Black Box erscheinen. »Smartchips und Sensoren«, die beispielsweise in digitalen Nahkörpertechnologien enthalten sind, verdichten sich, so Hansen, zu einem ubiquitären Milieu atmosphärischer Medien, deren passive Registrierkapazitäten »riesige Mengen von Verhaltens- und Umweltdaten« erfassen.100 Dies habe insbesondere Auswirkungen auf die Konzeption von Subjektivität, die neu durchdacht werden müsse: »In den heutigen Medienumgebungen ist unsere Subjektivität […] nicht gegen eine (mediale) Objektwelt abgesetzt […], und sie unterscheidet sich in der Art nicht von den Mikroprozessen, die sie 96  | Hörl: »Die technologische Bedingung«, S. 34. 97  | Vgl. ebd., S. 29-32. 98  | Frédéric Neyrat: »Das technologische Unbewusste. Elemente für eine

Deprogrammierung«, in: Hörl, Die technologische Bedingung, S. 147-178 verwendet den Ausdruck in einer von Thrifts Gebrauch abweichenden Variante. Er versteht darunter eine uneingestandene philosophische Tradition beim Denken von Technik, welche – als »ontologische Störung« (ebd., S. 148) empfunden – entweder restlos dem Bereich der Natur zugeschlagen werde oder umgekehrt als inklusives Phänomen konzeptuell die gesamte Natur mit einschließe. Neyrats Vorschlag geht dahin, Technologie im Sinne einer Theorie der Ablösung als materielle Substitution gegenüber der Natur und als maschinische Autonomisierung gegenüber dem Menschen zu verorten. Dies falle konzeptionell leichter, weil die gegenwärtige technische Entwicklung – Neyrat nennt u. a. Schwarmrobotik, das Internet der Dinge, Virtual und Augmented Reality und Geo-Engineering – diese Ablösungsvektoren offen zu Tage treten ließe. (Vgl. ebd., S. 149) 99  | Vgl. Hansen: »Medien des 21. Jahrhunderts«, S. 369, wo er die Notwendigkeit einer »Wiederverankerung menschlicher Erfahrung innerhalb von MedienNetzwerken (Umgebungen)« betont, »die im Wesentlichen von der unmittelbaren menschlichen Wahrnehmung entkoppelt worden sind«. 100  | Ebd., S. 372.

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durchdringen.«101 Die Emergenz einer »machinic sensibility«102 führe überdies dazu, dass viele algorithmisch gesteuerte Prozesse nicht bloß der Sichtbarkeit entzogen sind, sondern sich auf Größen beziehen, die von Menschen überhaupt nicht wahrgenommen werden können. Hansen macht dies insbesondere an der klassischen Medienfunktion des Speicherns klar, die immer weniger auf menschliche Erfahrungen rekurriere, sondern auf technische Operationen, in denen das menschliche Bewusstsein gar nicht vorkommt: [W]hat gets stored by today’s media are no longer human experiences themselves but bits of data that register molecular increments of behavior and that do not in themselves amount to a full picture of integrated human ›lived experience‹.103

Medien des 21. Jahrhunderts seien, so Hansen, durch eine doppelte Struktur gekennzeichnet: Sie haben eine den Sinnen zugängliche Seite – bspw. der Facebook-News-Stream auf dem Smartphonebildschirm – sowie eine dem Bewusstsein entzogene Rückseite, auf der Datenprozesse sowie ein Passive Sensing stattfinden, die anders skaliert sind als die menschliche Wahrnehmungsfähigkeit.104 Das Auseinandertreten von Service- und Datenebene bedeute somit auch ein Auseinanderdriften von Erfahrungswirklichkeiten: From the macroscale standpoint of Facebook’s 1.28 billion users, the production of data traces is purely incidental to the connectivity it affords […]; and from the microscale perspective of the data-mining itself, what users actually do is purely incidental to the sheer production of digital data traces.105

Hansens Projekt ist trotzdem ein optimistisches: Er sucht nach Wegen, die sensorischen Kapazitäten der aktuellen Mediengeneration der menschlichen Erfahrung zugänglich zu machen. Zwar käme es prinzipiell zu einer Entwertung menschlicher Wahrnehmung und Kognition als primären Quellen von Erfahrung, dies könne aber durch neue Möglichkeiten des Zugangs zu einer technisch erschlossenen

101  | Ebd., S. 367. 102  | Hong: »Data’s Intimacy«, S. 14. Vgl. Mark B. N. Hansen: Feed-Forward.

On the Future of Twenty-First-Century Media, Chicago, Ill.: University of Chicago Press 2015, S. 53. 103  | Vgl. ebd., S. 40. Hansen interessiert sich für die Mikrotemporalität dieser Operationen und ihre Beziehungen zu einem nicht-anthropozentrischen Begriff von Erfahrung, weniger für die Materialität digitaler Infrastrukturen an sich. Vgl. ebd., S. 43f. 104  | Vgl. ebd., S. 71-74 und S. 141f. 105  | Ebd., S. 73.

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Erfahrungswelt auf kollektiver Ebene kompensiert werden.106 Auf dieses Argument werde ich in Kapitel 7 zurückkommen. Neomaterialistische Ansätze innerhalb des Medienökologie-Diskurses radikalisieren dagegen die Vorstellung eines technologischen Unbewussten, indem sie die Frage nach technischen Infrastrukturen erweitern im Hinblick auf jene Materialitäten, aus denen sich Medientechnologien zusammensetzen und mit denen sie – aller Rhetorik einer digitalen Immaterialisierung zum Trotz – unweigerlich in Verbindung stehen. Für Matthew Fuller muss die Analyse von Mediensystemen den materiellen Verflechtungen nachgehen, die sich jenseits der Sphäre des Semiotischen erstrecken, was eine Art radikalen Kontextualismus impliziert.107 Unter anderem bedient sich Fuller in seinen Fallstudien Gibsons Begriff der Affordanzen, wobei er das Konzept versteht als »materialist formulation of the micropolitics of detail that […] escapes the form-content dichotomy and places objects and processes in a constellation of interrelations«.108 Jussi Parikka, der seinen Ansatz als eine Art ›Tieferlegung‹ eines kittlerschen Verständnisses von Medien inszeniert, schlägt gar eine geologische Medienwissenschaft vor: Where do machines come from, what composes technology in its materiality and media after it becomes disused, dysfunctional dead media that refuse to die? This book is structured around the argument that there is such a thing as geology of media: a different sort of temporal and spatial materialism of media culture than the one that focuses solely on machines or even networks of technologies as nonhuman agencies.109

In einer solchen Perspektive rücken Zusammenhänge in den Blick, die sich einer auf technische Netze und Übertragungsvorgänge und erst recht einer auf Zeichenoperationen und Repräsentationen fokussierten Medienwissenschaft entziehen. Derart nach einer Medienökologie des Smartphones zu fragen, könnte dann beispielsweise bedeuten, sich die Objektbiografien der Geräte zu vergegenwärtigen – von der Rohstoffextraktion über die Zusammenstellung von Komponenten in chinesischen Großfabriken, der Logistik des Welthandels und der globalen Vertriebsketten bis hin zur häufig illegalen Entsorgung von Elektroschrott in afrikanischen und asiatischen Ländern.110 106  | Vgl. ebd., S. 50f. 107  | Vgl. Matthew Fuller: Media Ecologies. Materialist Energies in Art and Tech-

noculture, Cambridge, Mass./London: MIT Press 2007, S. 2. 108  | Ebd., S. 46. 109  | Jussi Parikka: A Geology of Media, Minneapolis: University of Minnesota Press 2015, S. 3. 110  | Für eine derartige Diskussion digitaler Medien vgl. Sy Taffel: »Escaping Attention. Digital Media Hardware, Materiality and Ecological Cost«, in: Culture Machine 13 (2013) und für das Smartphone im Speziellen Enda Brophy/Greig

5. Handhelds und Landhelds

Sowohl Fuller als auch Parikka sind beeinflusst von Arbeiten des New Materialism, ihre Ansätze sind also nicht zu verwechseln mit einem physikalistischen Materialismus. Eine prominente Formulierung eines New Materialism wird von Jane Bennett vorgeschlagen, die danach fragt, ob neben dem historischen Materialismus (Marx) und einem feministischen körperzentrierten Materialismus noch Raum für andere Materialismen sei.111 Ihre Bejahung dieser Frage führt sie zur Konzeption eines post-anthropozentrischen ›thing-power materialism‹, den sie als »a speculative onto-story, a rather presumptuous attempt to depict the nonhumanity that flows around but also through humans« vorstellt.112 Damit gelange man zu einer Ontologie, die statt von separierten Subjekten und Objekten von einem Netzwerk von Materialitäten und Relationen bevölkert ist, die sich zu temporär stabilisierten Gefügen zusammenschließen.113 Bennetts Verständnis von Materie als »vibrant matter« wird in vielen medienökologischen Arbeiten aufgegriffen, nicht zuletzt, weil sie selbst ihn in einem an Gregory Batesons Ecology of Mind angelehnten Vokabular präsentiert: »For a thing-power materialist, humans are always in composition with nonhumanity, never outside of a sticky web of connections or an ecology.«114 Von einem derart relational gefärbten Denken kann auch der Begriff der Materialität selbst nicht unberührt bleiben: de Peuter: »Labors of Mobility. Communicative Capitalism and the Smartphone Cybertariat«, in: Herman/Hadlaw/Swiss, Theories of the Mobile Internet, S. 6084, wo der Smartphone-Lebenszyklus aus einer neomarxistischen Perspektive als Verkettung materieller Arbeitsprozesse untersucht wird. (Vgl. ebd., S. 64: »the raw materiality of communicative capitalism«) 111  | Vgl. Jane Bennett: »The Force of Things. Steps toward an Ecology of Matter«, in: Political Theory 32/3 (2004), S. 347-372. 112  | Ebd., S. 349. Als Inspirationen nennt Bennett unter anderem Henry David Thoreaus Konzeption des ›Wilden‹ (ebd., S. 348: »an existence peculiar to a thing that is irreducible to the thing’s imbrication with human subjectivity«), Lukrez’ Gedanken zur aleatorischen Aktivität von Materie, ein deleuzianisches Verständnis von Natur als Strom von Energie und Materie und die von Spinoza ausgehende These, dass Körper im Allgemeinen zur Bildung von Kollektiven tendieren. Die Reihung deutet bereits an, dass es sich bei Bennetts Projekt um ein betont eklektizistisches handelt. 113  | Bennett liefert ein anschauliches Beispiel: »For example, the current alliance Jane-keyboard-birdsong (from the yard outside) will become another ensemble of flesh, plastic, and sound when, later in the day, I drive in my car to the dentist. And once there, in the dentist chair, the operative animal-vegetable-mineral-sonority cluster – and its degrees and types of power – will again change.« (Ebd., S. 354) 114  | Ebd., S. 365. Den Begriff ›vibrant matter‹ führt Bennett in Jane Bennett: Vibrant Matter. A Political Ecology of Things, Durham: Duke University Press 2010 ein. Vgl. Jussi Parikka/Michael Goddard: »Editorial«, in: The Fibreculture

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Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien Indeed, materiality is not just machines; nor is it just solids, and things, or even objects. Materiality leaks in many directions, as electronic waste demonstrates, or the effects of electromagnetic pollution. It is transformational, ecological, and multiscalar.115

Eine so verstandene Materialität wird in medienökologischen Arbeiten letztlich zum Kampfbegriff, der die Beschreibung transversaler Zusammenhänge erlauben soll, die quer zu etablierten Unterscheidungen liegen.116 Ironischerweise erlaubt die von Bennett eingebrachte Idee eines ›naiven Materialismus‹, dessen Pointe gerade darin liege, kein ›Ding‹ auf die Eigenschaft seiner sozialen Konstruiertheit zu reduzieren, die Konstruktion neuer Narrative und wissenschaftlicher Erzählungen.117 Weniger interessant als die beschriebenen Zusammenhänge selbst wäre in dieser Lesart überhaupt erst die Auswahl (bzw. Konstruktion) der (materiellen) Relationen, die für die Beschreibung eines Phänomens als relevant erachtet werden. Daraus lässt sich dann ein Fragenkatalog generieren, der beispielsweise Fragen wie die folgenden beinhaltet: •



Was sind die Materialitäten des Smartphones jenseits der beschichteten Oberfläche des Touchscreens und des Aluminium- oder Plastikgehäuses? Welche globale neokoloniale Politik verbindet sich mit den mineralischen Bestandteilen Gold, Wolfram, Zinn und Coltan?118 Welche Relation verknüpft die vom Smartphone versinnbildlichte »›weightless‹ ›fingertip‹ economy« mit der Realität von Angestellten der Firma Foxconn im südchinesischen Shenzhen, die im Umgang mit toxischen Materialien bei der Produktion von iPhones ihre Fingerspitzen verloren haben?119

Journal 17 (2011): Unnatural Ecologies, S. 1-17, hier S. 2 für eine Bezugnahme auf Bennett. 115  | Jussi Parikka: »New Materialism of Dust«, in: artnodes 12 (2012), S. 83-87, hier S. 86. 116  | Vgl. diesbezüglich Jussi Parikka: »Introduction: The Materiality of Media and Waste«, in: Ders. (Hg.), Medianatures. The Materiality of Information Technology and Electronic Waste, London: Open Humanities Press 2011, wo das Projekt einer Analytik von »medianatures« im Anschluss an Haraways »naturecultures« eingefordert wird. 117  | Zu Bennetts Verteidigung eines (theoretisch avancierten) ›naiven Materialismus‹ vgl. Bennett: »The Force of Things«, S. 356-359. 118  | Vgl. Brophy/de Peuter: »Labors of Mobility«, S. 62-64. Vgl. auch Christian Dries: Günther Anders, Paderborn: Fink 2009, S. 96: »Unsere mobilen Begleiter sind also nicht nur aus Metall und Plastik, sondern auch aus Blut gemacht«. 119  | Jack L. Qiu: »Network Labor. Beyond the Shadow of Foxconn«, in: Larissa Hjorth/Jean Burgess/Ingrid Richardson (Hg.), Studying Mobile Media. Cultural

5. Handhelds und Landhelds

• Welcher Zusammenhang besteht zwischen einer Industriepolitik geplanter Obsoleszenz, einem auf Konsum gegründeten Lebensstil in der westlichen Welt, der bereits den Zweijahresrhythmus beim Smartphonekauf als unzumutbar erscheinen lässt, und den Bergen von Elektroschott, die in China, Indien oder Ghana anwachsen und die von Arbeitern mit Feuer und Säurebädern zerlegt werden, um Reste wertvoller Materialien zu gewinnen?120 Da die medienökologischen Ansätze zu einer kaum theoretisch einholbaren Ausweitung des Medienbegriffs tendieren und darüber hinaus eine holistische Tendenz aufweisen, ist ihre Operationalisierbarkeit allerdings kritisch zu bewerten.121 Eine gewisse diskursive Wuchtigkeit lässt sich der Medienökologie ebenfalls attestieren, was eine ganze Reihe von Einwänden gegen das dort verfolgte Projekt einer Umstellung auf ein radikal relationales Denken provoziert hat, das sein epistemisches Vorbild in der Umweltlichkeit technischer Vernetzung findet.122 Worauf die medienökologischen Positionen in ihren verschiedenen Varianten im Vergleich zu den Infrastrukturstudien allerdings aufmerksam machen, sind Verflechtungen globaler technologischer und politisch-ökonomischer Prozesse mit Subjektivierungsweisen in digitalen Kulturen. Statt einer eher deskriptiv ausgerichteten Auseinandersetzung mit technischen Infrastrukturen der Kommunikation und Kontrolle schlagen die medienökologischen Ansätze immer die Brücke zurück zu den beteiligten Subjekten und befragen deren Status vor dem Hintergrund veränderter Objektkulturen. Damit stehen solche Ansätze in einer Nähe zu der hier verfolgten medienanthropologischen Fragestellung, die vor diesem theoretischen Hintergrund nur Technologies, Mobile Communication, and the iPhone, New York: Routledge 2012, S. 173-189, hier S. 173. 120  | Vgl. Brophy/de Peuter: »Labors of Mobility«, S. 73-75, Taffel: »Escaping Attention«, S. 15-19 und Timo Kaerlein: »Produktzyklen / Modezyklen. Ästhetische Obsoleszenz und artifizielle Sterblichkeit im Apple-Design«, in: kultuRRevolution. Zeitschrift für angewandte Diskurstheorie 68/1 (2015), S. 13-21. 121  | Vgl. Parikka: »Media Ecologies and Imaginary Media«, S. 46: »Media ecology involves an expansion of media to include a number of processes, objects and modes of perception, motility and relationality that are not usually seen as media in its modern, cultural sense; in this expanded mode, media becomes an ethological relationality rather than merely a technological object.« Fuller: Media Ecologies, S. 11, verweist auf das annähernd aporetische Unterfangen, jeden Pfad in einem Labyrinth zur gleichen Zeit nehmen zu wollen, den das medienökologische Denken nahelege. 122  | Vgl. exemplarisch Dieter Mersch: Ordo ab chao - Order from Noise, Zürich: Diaphanes 2013 und Jens Schröter: »Das Internet der Dinge, die allgemeine Ökologie und ihr Ökonomisch-Unbewusstes«, in: Sprenger/Engemann, Internet der Dinge, S. 225-240.

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ökologisch, d. h. als Frage der Partizipation an unübersichtlichen Bedingungsgefügen zu beantworten wäre. Im Folgenden werde ich zunächst im Sinne eines Zwischenfazits resümieren, welchen Ertrag der Durchgang durch die drei besprochenen Theoriekontexte gebracht hat. Dazu schlage ich ein Drei-Ebenen-Modell des technologischen Unbewussten vor, das als Grundlage der weiteren Untersuchung dienen kann.

5.2 D rei -E benen -M odell des technologischen U nbewussten Medienwissenschaftliche Infrastrukturstudien thematisieren ein technologisches Unbewusstes, das mit Subjekten zunächst wenig zu tun hat und eher die oft ›vergessene‹ materielle Seite von Medien bezeichnet. Gerade am Gegenstand nahkörperlicher und mobiler Medien lässt sich durch diese Aufmerksamkeitsverlagerung bereits erreichen, die analytische Ebene des Mediengebrauchs produktiv zu überschreiten. Demgegenüber ist sowohl für die Apparatustheorie als auch für medienökologische Ansätze die Frage nach dem Subjekt zentral, wenn auch auf sehr verschiedene Weise. Versteht die Apparatustheorie den Aufbau des kinematographischen Apparats in Analogie zum Unbewussten der Psychoanalyse und erhofft sich dadurch u. a. Aufschlüsse über die Wechselwirkung von Psyche und Medium, arbeiten viele medienökologische Ansätze an einer Neufassung des Subjekts im Rahmen einer nicht-anthropozentrischen theoretischen Rahmung.123 Letztlich lassen sich aus den verschiedenen Diskursen also verschiedene Nuancen bzw. Ebenen des technologischen Unbewussten ableiten. Schon Sigmund Freud, der zu diesem Zweck als Stichwortgeber fungieren kann, hat darauf hingewiesen, dass es keine eindeutige Definition des Unbewussten gebe. Seine Auseinandersetzung mit dem Begriff, der bereits vor der Psychoanalyse existierte, kann dazu dienen, eine analytische Differenzierung vorzunehmen, die auch noch für die Präzisierung des Konzepts des technologischen Unbewussten hilfreich ist. Freud führte in seiner Schrift Das Unbewußte aus dem Jahr 1915 aus: Es gibt psychische Akte von sehr verschiedener Dignität, die doch in dem Charakter, unbewußt zu sein, übereinstimmen. Das Unbewußte umfaßt einerseits Akte, die bloß latent, zeitweilig unbewußt sind, sich aber sonst von den bewußten in nichts unterscheiden, und anderseits Vorgänge wie die verdrängten, die, wenn sie bewußt würden, sich von den übrigen bewußten aufs grellste abheben müßten. [...] [S]omit können wir der Zweideutigkeit nicht entgehen, daß wir die Worte bewußt und unbewußt bald im deskriptiven Sinne gebrauchen, bald im

123  | Vgl. hierzu Guattari: Die drei Ökologien, S. 23: »Die Vektoren der Subjektivierung verlaufen nicht unbedingt durch das Individuum«.

5. Handhelds und Landhelds systematischen, wo sie dann Zugehörigkeit zu bestimmten Systemen und Begabung mit gewissen Eigenschaften bedeuten.124

Von dieser terminologischen Unklarheit ausgehend, die bereits das Unbewusste der Psychoanalyse betrifft, möchte ich an dieser Stelle drei analytische Ebenen des technologischen Unbewussten unterscheiden. Diese drei Ebenen, die in den bisher diskutierten Ansätzen mit unterschiedlicher Gewichtung adressiert werden, bleiben eng aufeinander bezogen, erlauben es aber, den Gegenstand für unterschiedliche Fragen zu öffnen. Erstens soll das technologische Unbewusste als Sammelbegriff dienen für technische Strukturen und Prozesse, die prinzipiell zwar bewusstseinsfähig sind, aber selten als Gegenstände ins Bewusstsein treten. Dies entspräche dem ersten Verständnis des Unbewussten nach Freud, das generell eine Latenz oder zeitweilige Nichtbewusstheit markiert. Dazu gehört bei digitalen Nahkörpertechnologien jener materielle Teil des Apparats, der sich der Sichtbarkeit im Regelfall entzieht, aber nicht ohne – beispielsweise politisch-ökonomische oder ökologische – Wirkungen bleibt. Diese Ebene steht klar im Fokus der diskutierten medienwissenschaftlichen Infrastrukturstudien und sie ist Referenzpunkt sowohl in der Apparatusdebatte als auch in der Medienökologie. Zweitens aber, und hier spielt doch die psychoanalytische Referenz auf das Unbewusste im Sinne verdrängter »Triebrepräsentanzen«125, die das Ich in seinem Handeln, Denken und Fühlen beeinflussen und die therapeutisch ans Licht gebracht werden können, metaphorisch mit hinein, geht die Annahme eines technologischen Unbewussten weiter: Wenn, wie in Kapitel 4 dargelegt, das Smartphone in praktischer Hinsicht in vielen Fällen bereits dem (zunächst körperlich bestimmten) Ich zugeschlagen wird, dann steht die Frage im Raum, ob und wie sich dessen ausgeblendete apparative Dimension unmerklich in Verhaltensdispositionen und Erwartungsschemata einschreibt. Es handelt sich bei der zweiten Ebene um eine Analogiebildung und sie wird vor allem deswegen verwendet, weil es mir um die subjektivierende Komponente des nahkörperlichen Technikgebrauchs geht. Mit der Verwendung des Ausdrucks ›unbewusst‹ wird also nicht bloß auf sich der Sichtbarkeit entziehende Materialitäten und Agenturen des Apparats abgehoben, sondern mit der Metaphorik verbindet sich die These, dass die ›verdrängte‹ Kehrseite digitaler Nahkörpertechnologien nachweisbare Effekte auf das mit ihnen umgehende Subjekt hat, dieses also beispielsweise in seinen Wahrnehmungen und Affekten prägt. Besonders relevant wird dieser Aspekt des technologischen Unbewussten angesichts von Interfaces, die zunehmend auf eine Weise gestaltet werden, dass sie sich dem menschlichen Sinnesapparat möglichst unaufdringlich anschmiegen sollen – 124  | Sigmund Freud: »Das Unbewußte« [1915], in: Ders., Psychologie des Unbewußten. Studienausgabe Band III, hrsg. v. Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey, Frankfurt a. M.: S. Fischer 1997, S. 119-173, hier S. 131. 125  | Ebd., S. 145.

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bei Wearables, Smart Clothes, Augmented Reality-Brillen und ähnlichen Technologien also.126 Sowohl in der Apparatusdebatte als auch in den medienökologischen Ansätzen spielt diese zweite Ebene in unterschiedlichen Varianten eine Rolle. Schließlich gibt es noch eine dritte, im engeren Sinn als politisch zu bezeichnende Ebene, die mit dem Ausdruck ›technologisches Unbewusstes‹ adressiert werden kann, und diese wird den Schwerpunkt der folgenden Ausführungen bilden. An Alltagspraktiken ansetzende Praktiken der Verdatung begleiten jede scheinbar noch so private und marginale Nutzung von Smartphones, sodass sich ein potenziell akkumulierbares Wissen über das Subjekt bildet, das diesem in den meisten Fällen nicht ohne weiteres zugänglich ist. Insbesondere an Ortsinformationen und damit verknüpften Verhaltensdaten lässt sich dies plausibilisieren. Dieses aus subjektiver Sicht Unbewusste digitaler Nahkörpertechnologien kann allerdings von Institutionen mit den entsprechenden technischen und epistemischen Kapazitäten ausgewertet werden, um es beispielsweise profitabel zu machen oder als Regierungswissen zu nutzen.127 Die besondere Diskrepanz zwischen dem Prozessieren digital codierter Informationen und dem diesbezüglichen Nichtwissen des sie erzeugenden Subjekts gilt zwar prinzipiell für alle Algorithmen involvierenden Interaktionen, tritt an digitalen Nahkörpertechnologien aufgrund ihrer Körpernähe, vermeintlichen Vertrautheit und alltäglichen Handhabung allerdings besonders deutlich hervor.128 Die Fokussierung auf das technologische Unbewusste hat hier weniger den Anspruch, dieses im aufklärerischen Sinn zu erhellen – das wäre ein anderes Projekt –, sondern diese asymmetrische Konstellation als charakteristische für den nahkörperlichen Gebrauch digitaler Medien herauszuarbeiten. Die Ebene der Verdatung, die hier als dritte Dimension des technologischen Unbewussten behandelt wird, ist sowohl in Infrastrukturstudien als auch in den diskutierten medienökologischen Ansätzen als Topos präsent. Worauf es mir insbesondere mit Blick auf die Infrastrukturstudien und die medienökologischen Arbeiten ankommt, ist also die spezifische Diskrepanz zwischen der Nähe und Intimität des alltäglichen Gebrauchs digitaler Nahkörpertechnologien und der räumlichen wie zeitlichen Ferne ihrer Auswertungs- und Weiterverwen126  | Vgl. zu diesem Horizont digitaler Nahkörpertechnologien Kapitel 7 der

vorliegenden Arbeit. 127  | Vgl. José van Dijck: »Datafication, Dataism and Dataveillance. Big Data between Scientific Paradigm and Ideology«, in: Surveillance & Society 12/2 (2014), S. 197-208, hier S. 200: »The currency used to pay for online services and for security has turned metadata into a kind of invisible asset, processed mostly separate from its original context and outside of people’s awareness.« 128  | Es besteht bei dieser dritten Dimension des technologischen Unbewussten also durchaus eine Nähe zu den eingangs genannten aisthetischen Varianten (das Optisch-Unbewusste des Kinos bzw. der Zugriff des Phonographen auf das Reale). Datenprozesse bilden aber eher eine zusätzliche Ebene zu den von ihnen erfassten Alltagspraktiken und sie fördern meist erst in der Aggregierung über ein Kollektiv oder eine Zeitreihe neue Einsichten zutage.

5. Handhelds und Landhelds

dungspotenziale.129 Diese Diskrepanz ist in medienanthropologischer Hinsicht bedeutsam, denn sie impliziert, dass der nahkörperliche Gebrauch digitaler Medien, der durch Prozesse der Habitualisierung und Normalisierung in einen Bereich des Körperlich-Unbewussten absinkt, systematisch auf Einflussgrößen bezogen bleibt, die vom Individuum auch beim bestem Willen nicht überschaut werden können. Die Bezeichnung dieser der Sichtbarkeit entzogenen Kehrseite digitaler Nahkörpertechnologien als technologisches Unbewusstes hat die Funktion, sie gezielt wieder einer verkörperten Subjektivität anzunähern. Denn so fern digitale Infrastrukturen aus Sicht der alltäglichen Praxis wirken mögen, so abstrakt die Datensammlung der Internetkonzerne sich aus Sicht des Einzelnen darstellt, so real und unabweisbar sind die Folgen sowohl von Störungen des Betriebsablaufs wie beispielsweise Serverausfällen einerseits, wie auch des planmäßigen Funktionierens von Datenauswertungen andererseits. Das im Folgenden diskutierte Beispiel des Protokolls dient als Annäherung an die Konzeption eines technologischen Unbewussten digitaler Nahkörpertechnologien.

5.3 Das P rotokoll als technologisches U nbewusstes der C omputerkultur (G alloway ) Als einen ambitionierten Versuch, das technologische Unbewusste digitaler Kulturen vor allem im Sinne der zweiten Bedeutung einer Einschreibung in Verhaltensschemata und Erwartungsdispositionen von Individuen zu beschreiben, möchte ich Alexander R. Galloways Buch Protocol. How Control Exists After Decentralization verstehen.130 Obwohl darin der Ausdruck ›technologisches Unbewusstes‹ selbst keine Verwendung findet, soll sein Projekt hier etwas ausführlicher als eine denkbare Umsetzung dessen diskutiert werden, was mit dem Begriff bezweckt ist. Galloway stellt die grundlegende Frage, wie soziale Kontrolle und die Ausübung von Macht in Gesellschaften möglich sind, die in vielen Bereichen auf Dezentralisierung setzen, d. h. hierarchische Ordnungssysteme weitgehend verworfen haben. Er beantwortet die Frage medienwissenschaftlich, indem er sich medientechnische Entwicklungen vornimmt, die an den veränderten Kontrollstrukturen Anteil haben. Sein Ziel ist letztlich die gegenwartsdiagnostische Beschreibung eines Kontrollapparats, womit sein Projekt als argumentative Brücke dienen kann zur dritten, im Anschluss im Vor129  | Vgl. Michael Andreas/Dawid Kasprowicz/Stefan Rieger: »Technik | Intimi-

tät. Einleitung in den Schwerpunkt«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 15/2 (2016), S. 10-17, hier S. 16f. 130  | Vgl. Alexander R. Galloway: Protocol. How Control Exists after Decentralization, Cambridge, Mass.: MIT Press 2004. Parks/Starosielski: »Introduction«, S. 8 nennen Galloways Buch als Infrastrukturstudie, die mit dem Protokoll auf Mikroprozesse fokussiert.

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dergrund stehenden Ebene des technologischen Unbewussten: Prozessen der Verdatung, die jenseits des subjektiven Wissenshorizonts liegen. Zunächst schließt Galloway an eine in der Medienkulturwissenschaft mittlerweile gängige Periodisierung von Machttypen an, die in Ergänzung zu Foucault von Gilles Deleuze vorgeschlagen wurde und die ich hier kurz zusammenfassen möchte. Foucaults Thema in mehreren Arbeiten war insbesondere der zwischen 1750 und 1830 zu verortende Übergang von Machtpraktiken, in denen ein Souverän die exklusive, uneingeschränkte und zentralisierte Gewalt innehat, zu Disziplinargesellschaften, in denen eine Reihe von Institutionen – u. a. Kloster, Schule, Kaserne, Klinik, Fabrik, Gefängnis – dafür Sorge zu tragen hat, dass die regierten Individuen gesellschaftlich erwünschte Verhaltensweisen und Normen internalisieren.131 Die innere Funktionsweise der Disziplinargesellschaften beschreibt Foucault anhand des Modells des Panopticons, das der utilitaristische Philosoph Jeremy Bentham 1787 als Reformgefängnis vorgeschlagen hatte.132 Das Panopticon als architektonischer Entwurf stellt eine Situation her, in der die Häftlinge sich permanent potenziell beobachtet wissen, ohne ihre Aufseher allerdings umgekehrt sehen zu können. Foucault schreibt: Diese Anlage ist deswegen so bedeutend, weil sie die Macht automatisiert und entindividualisiert. Das Prinzip der Macht liegt weniger in einer Person als vielmehr in einer konzertierten Anordnung von Körpern, Oberflächen, Lichtern und Blicken; in einer Apparatur, deren innere Mechanismen das Verhältnis herstellen, in welchem die Individuen gefangen sind.133

Das Panopticon dient als Modell und gleichzeitig als architektonische Verdichtung dessen, was Foucault als Disziplin bezeichnet:

131  | Foucault behandelt die sich wandelnden Machttypen u. a. in Michel Fou-

cault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977 [frz. OA 1975] und Michel Foucault: »Die »Gouvernementalität««, in: Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000, S. 41-67. Hintergrund ist insbesondere das sich aufgrund der voranschreitenden Urbanisierung historisch neu stellende Problem einer zu regierenden Bevölkerung, die erstmals als Gegenstand des Wissens in Erscheinung tritt. 132  | Zum Panoptismus vgl. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 251-292 und Burkhardt Wolf: »Panoptismus«, in: Clemens Kammler/Rolf Parr/Ulrich Johannes Schneider (Hg.), Foucault-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart: Metzler 2014, S. 279-284. 133  | Foucault: Überwachen und Strafen, S. 259.

5. Handhelds und Landhelds Die ›Disziplin‹ kann weder mit einer Institution noch mit einem Apparat identifiziert werden. Sie ist ein Typ von Macht; eine Modalität der Ausübung von Gewalt; ein Komplex von Instrumenten, Techniken, Prozeduren, Einsatzebenen, Zielscheiben; sie ist eine ›Physik‹ oder eine ›Anatomie‹ der Macht, eine Technologie.134

Die Verallgemeinerung der panoptischen Verfahren führt laut Foucault zu einer die Gesellschaft als ganze umfassenden »Umformung der Individuen«135 gemäß normativer Vorgaben. Als »Mikrophysik der Macht«136 durchdringt sie die Körper, gestaltet diese bis in kleinste Bewegungen, Haltungen und Gesten hinein. Die Macht gewinnt damit laut Foucault einen produktiven Aspekt, indem sie die Beziehung der Subjekte zu sich selbst direkt betrifft und ins Verhältnis setzt zu gesellschaftlichen Verhaltensnormen und Wertvorstellungen. Deleuze nun geht in seinem berühmt gewordenen kurzen Text »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften« in Fortsetzung des foucaultschen Periodisierungsansatzes davon aus, dass sich nach den Souveränitäts- und Disziplinierungsgesellschaften ein Übergang zu den sogenannten Kontrollgesellschaften vollzogen habe.137 An die Stelle der die Individuen in Zeit und Raum bündelnden »Einschließungs-Milieus«138 träten flexiblere Kontrollformen – das Unternehmen ersetzt die Fabrik, die permanente Weiterbildung die Schule, schwankende Wechselkurse die an den Goldstandard gebundene Währung, usw. Statt starren »Gußformen«, die die Individuen in ihren Biografien prägen, lasse sich die Kontrollgesellschaft als anhaltende »Modulation« beschreiben, »die einem universellen Verzerrer gleicht«.139 Kontrolle im 21. Jahrhundert bedeutet in der Folge eine zunehmende »Verschränkung von Medien- und Selbsttechnologien«.140 Interessant ist nun, dass Deleuze die verschiedenen Gesellschaftstypen in einen Zusammenhang mit technischen Entwicklungen bringt: Es ist einfach, jede Gesellschaft mit Maschinentypen in Beziehung zu setzen, nicht weil die Maschinen determinierend sind, sondern weil sie die Gesell-

134  | Ebd., S. 276f. 135  | Hannelore Bublitz: »Macht«, in: Kammler/Parr/Schneider, Foucault-Handbuch, S. 273-277, hier S. 275.

136  | Foucault: Überwachen und Strafen, S. 38. 137  | Vgl. Gilles Deleuze: »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«, in:

Ders., Unterhandlungen. 1972 – 1990, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2010, S. 254262, hier S. 254-256. 138  | Ebd., S. 254. 139  | Ebd., S. 254f. 140  | Dietmar Kammerer/Thomas Waitz: »Überwachung und Kontrolle. Einleitung in den Schwerpunkt«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 13/2 (2015), S. 10-20, hier S. 13.

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Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien schaftsformen ausdrücken, die fähig sind, sie ins Leben zu rufen und einzusetzen. Die alten Souveränitätsgesellschaften gingen mit einfachen Maschinen um: Hebel, Flaschenzüge, Uhren; die jüngsten Disziplinargesellschaften waren mit energetischen Maschinen ausgerüstet, welche die passive Gefahr der Entropie und die aktive Gefahr der Sabotage mit sich brachten; die Kontrollgesellschaften operieren mit Maschinen der dritten Art, Informationsmaschinen und Computern, deren passive Gefahr in der Störung besteht und deren aktive Gefahr Computer-Hacker und elektronische Viren bilden.141

Diese Behauptung einer Verbindung der Entwicklung gesellschaftlicher Macht- und Kontrollfunktionen mit einer Veränderung der technologischen Basis ist Galloways Einsatzpunkt. Sein Interesse gilt der Ausbildung eines historisch neuen Kontrollapparats, deren Basistechnologie das Internet, also vernetzte Computer bzw. genauer: vernetzte Computernetzwerke, darstellt.142 Galloways These lautet, dass in Kontrollgesellschaften, deren Organisation sich auf ein globales Netz miteinander kommunizierender Computer gründet, das Protokoll genau die Funktionsstelle einnimmt, die in den Disziplinargesellschaften das skopische Regime des Panopticons innehatte.143 Protokolle vermitteln zwischen technischer Infrastruktur und Anwendern und regulieren das Verhalten derjenigen, die eine bestimmte Technologie nutzen (»[P]rotocol is a technique for achieving voluntary regulation within a contingent environment«144). Historisch bezeichnete der Begriff Protokoll jede Form von korrektem oder angemessenem Verhalten innerhalb eines Bezugssystems, wie beispielsweise im Bereich der höfischen Etikette oder in internationalen diplomatischen Beziehungen.145 In der Computertechnik sind Protokolle dagegen striktere Vorgaben als soziale Konventionen: »What was once a question of consideration and sense is now a question of logic and physics.«146 Websites folgen den verbindlichen Standards der Hypertext Markup Language (HTML), die Datenübermittlung im Internet ist nur gemäß der Vorgaben des TCP/ IP-Protokolls (Transmission Control Protocol/Internet Protocol) möglich und das intern wiederum hierarchisch organisierte Domain Name System (DNS) regelt die Namensauflösung sämtlicher IP-Adressen. Für mobile Medien kommen noch eine Reihe weiterer Protokolle hinzu, die die Datenübertragung und Kommunikation 141  | Deleuze: »Postskriptum«, S. 258f. 142  | Vgl. Galloway: Protocol, S. 3f. 143  | Ebd., S. 13: »Protocol is to control societies as the panopticon is to disci-

plinary societies.« 144  | Ebd., S. 7. Sebastian Gießmann: Die Verbundenheit der Dinge. Eine Kulturgeschichte der Netze und Netzwerke, Berlin: Kadmos 2014, S. 124f. spricht vom Protokoll als einer »Grammatik […], welche zur Grundlage der Organisation und des möglichen Verhaltens in einem Netzwerk wird«. 145  | Vgl. Galloway: Protocol, S. 7. 146  | Ebd.

5. Handhelds und Landhelds

zwischen Netzwerken und Geräten regeln, darunter Standards wie GSM (Global System for Mobile Communications, 2G), UMTS (Universal Mobile Telecommunications System, 3G) und Nahübertragungsstandards wie Bluetooth und NFC (Near Field Communication). Florian Sprenger beschreibt aufbauend auf Galloways Thesen die Mikroentscheidungen, die an Internetknoten automatisiert und protokollbasiert getroffen werden, um die Verteilung von Daten zu regulieren (darunter Entscheidungen zu idealen Transportwegen von Datenpaketen, Priorisierungen einzelner Pakete oder Bearbeitungsgeschwindigkeiten). Diese Mikroentscheidungen seien »eine bislang viel zu wenig beachtete Dimension von Kontrolle und Überwachung im 21. Jahrhundert, die in digitalen Netzwerken neue Formen angenommen haben«.147 Protokolle üben also Macht aus, ohne dass es im Regelfall klar benennbare Akteure gibt, die als Machtinhaber auftreten. Ich möchte vorschlagen, die Protokollstruktur des Internets, die im Hintergrund arbeitend den Spielraum für das Verhalten von Individuen vorgibt, als ein ›technologisches Unbewusstes‹ der Kontrollgesellschaften zu bezeichnen. Dieses technologische Unbewusste wäre also eine relationale Größe, die nicht nur der Regulation technischer Infrastrukturen dient – mit Thrift: »the basic ‹atomic structure‹ of the sendings and receivings of contemporary Euro-American life«148 –, sondern auch den Rahmen des möglichen Verhaltens mit digitalen Medien definiert. Auf das Protokoll kann nicht verzichten, wer am gesellschaftlichen Leben teilhaben will. Dennoch verschwindet es gleichsam hinter den Praktiken und muss nicht bewusst gemacht werden, damit man sich beispielsweise im Internet bewegen kann. Auf vergleichbare Weise wie das Panopticon in den Disziplinargesellschaften ist dieses Unbewusste keine diffuse Größe, sondern an sehr konkrete Technologien, (Netz-)Architekturen, Diagramme und Schemata rückgebunden. Für die Implementierung und ständige Aktualisierung der im Internet verwendeten Protokolle sind außerdem Institutionen zuständig – für die oben genannten Beispiele u. a. das World Wide Web Consortium (W3C), die Internet Engineering Task Force (IETF), die Internet Society und die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN). Im Folgenden möchte ich ausgehend von Galloways Ansatz die Frage nach dem technologischen Unbewussten digitaler Nahkörpertechnologien präzisieren. Dabei rückt nun verstärkt die dritte Ebene des technologischen Unbewussten in den Blick, die über die unmerkliche Prägung des individuellen Verhaltens hinaus thematisiert, welches zwar auf die Handelnden bezogene, aber nicht von ihnen zu kontrollierende Wissen aus ihren Interaktionen mit dem Apparat digitaler Nahkörpertechnologien emergiert. Die permanente Erfassung der Position von Smartphones und deren durch eine Reihe von Technologien und Anwendungen möglich gewordene Verknüpfung mit verhaltensbezogenen Daten lässt sich als spezifische Dimension eines technologischen Unbewussten digitaler Nahkörpertechnologien auffassen. An dieser Stelle ver147  | Vgl. Sprenger: Politik der Mikroentscheidungen, S. 19f. 148  | Thrift: Knowing Capitalism, S. 16.

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lasse ich also den von Galloway gesetzten Rahmen und den Fokus auf Protokolle und frage mit Blick auf die Verdatungspraktiken der Lokalisierung nach der Entwicklung einer an mobile Körper gekoppelten Infrastruktur der Kontrolle.

5.4 »Walking , under the satellite sky« – L okalisierung als Verdatungspraxis Medien bestimmen unsere Lage […]. Friedrich Kittler

Smartphones sind lokative Medien. Jordan Frith versteht darunter any form of media – ranging from in-car GPS displays to RFID tags – that feature location awareness, which is a device’s ability to be located in physical space and provide users with information about their surroundings.149

Diese Definition ist zwar eine sinnvolle Spezifizierung gegenüber einer Beschreibung von Smartphones, die primär auf Mobilität als Charakteristikum abhebt. Historisch neu an computerbasierten lokativen Medien ist allerdings nicht – wie es die angeführte Definition behauptet – der Umstand, dass diese Medien sich auf ihre Umgebung beziehen und Nutzer mit ortsbezogenen Informationen versorgen. Das leisteten bereits – auf je verschiedene Weise – das Straßenschild, der Stadtplan, der Reiseführer und nautische Instrumente zur Navigation auf See. 149  | Jordan Frith: Smartphones as Locative Media, Cambridge, UK: Polity Press 2015, S. 2. Der Begriff Locative Media ist allerdings älter und kommt aus dem Bereich der Medienkunst. Das Locative Media Lab, ein internationales Künstlernetzwerk, setzte sich zu Beginn der 2000er-Jahre mit den gestalterischen Möglichkeiten neuer Technologien der Ortsbestimmung, des Trackings und Tracings auseinander. Vgl. André Lemos: »Post-Mass Media Functions, Locative Media, and Informational Territories. New Ways of Thinking about Territory, Place, and Mobility in Contemporary Society«, in: Space and Culture 13/4 (2010), S. 403-420, hier S. 405. Zuerst erwähnt wird der Terminus Locative Media im Umfeld eines vom RIXC (Center for New Media Culture/Latvia) organisierten Workshops im lettischen Karosta im Juli 2003. Vgl. die Dokumentation der Veranstaltung auf http:// locative.x-i.net/, zul aufgeruf. am 1.2.2017. Hierbei ging es explizit um eine Appropriation militärischer Technologien für ästhetische und epistemische Praktiken nach dem Vorbild des Situationismus, z. B. im Rahmen von Geoannotationsprojekten: »With portable, GPS-equipped networked computing devices, people can produce and share their […] own cartographic data, and map their physical environments,  providing artists a tool by which space becomes their canvas.« (http://locative.x-i.net/report2.html, zul. aufgeruf. am 1.2.2017)

5. Handhelds und Landhelds

Das »lokative[.] Zusammenspiel von mobilen Medien und Internet, Global Positioning System (GPS) und digitalen Karten bzw. Geoinformationssystemen (GIS)«150 zeichnet sich dagegen dadurch aus, dass die Verortung ohne aktives Zutun des Anwenders automatisch in ‚Echtzeit‘ bewerkstelligt werden kann, und dass die Resultate des Verortungsvorgangs unter Umständen gar nicht für die Augen von Anwendern bestimmt sind. Dies erlaubt ihre Verbindung mit anderen, auf das Individuum bezogenen Informationen, die diesem selbst gar nicht bekannt sein müssen. Diese Eigenschaft computerbasierter lokativer Medien steht in diesem Teilkapitel im Vordergrund, das sich mit auf Smartphonenutzer bezogenen Verortungspraktiken auseinandersetzt und deren Effekte als eine Ausprägung des technologischen Unbewussten digitaler Nahkörpertechnologien begreift.

5.4.1 Smartphones als Locative Media Medienwissenschaftlich relevant sind vor allem zwei Konsequenzen einer zunehmenden Verbreitung von Locative Media im zuletzt beschriebenen Sinn: Zum einen ändert sich der Charakter physischer Orte, wenn sie mit kontextbezogenen Informationen versehen werden, die mit dem Smartphone abgerufen werden können.151 So ist es beispielsweise mit Hilfe verschiedener Anwendungen möglich, ortsbezogene Empfehlungen zu erhalten oder den Aufenthaltsort von Kontakten in der Nähe zu ermitteln. Im Vergleich zum technisch unbewehrten Blick liefert die Umgebung also ein Mehr an Information, das nicht auf subjektive Momente wie Erinnerungen, Intentionen und emotionale Zustände zurückzuführen ist, sondern auf eine objektivierende mediale Struktur. Zum anderen aber verändert sich der Charakter des Internets selbst, das noch bis in die 1990er-Jahre hinein zumeist als ortlose und parallel zur ›Realität‹ existierende Sphäre im Sinne eines ›Cyberspace‹ imaginiert wurde.152 Mit dem Aufkommen lokativer Medien ändert sich die kulturelle Wahrnehmung des Internets grundlegend: Digital codierte Informationen und physische Räume durchdringen und verschränken sich zusehends, was in der medienwissenschaftlichen Literatur unter anderem mit 150  | Regine Buschauer/Katharine S. Willis: »Einleitung«, in: Dies. (Hg.), Locative Media. Medialität und Räumlichkeit, Bielefeld: transcript 2013, S. 7-23, hier S. 7. 151  | Vgl. ebd., S. 10. 152  | Die Verschiebung dessen, was es bedeutet, ›online‹ zu sein, lässt sich direkt an den Praktiken des Mediengebrauchs ablesen. Vgl. Eric Gordon/Adriana de Souza e Silva: Net Locality. Why Location Matters in a Networked World, Malden: Wiley-Blackwell 2011, S. 9: »If during the 1990s being connected to the web meant staring at a fixed monitor, today being connected increasingly means walking through public spaces, looking at different advertisement screens, buying clothes, and talking to somebody on a mobile phone.«

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Konzepten wie »hybrid spaces«153 und »net locality«154 beschrieben wird. Damit ist im Übrigen nicht impliziert, dass eine Differenzierung von online und offline jeden Sinn verlieren würde. Adrian Mackenzie macht beispielsweise auf weitgehend habitualisierte Mikropraktiken aufmerksam, mittels derer Mediennutzer auf wechselnde Signalstärken von Wi-Fi-Routern und Mobilfunknetzen reagieren: »People attune themselves to signal availability and signal strength as they move around the world. Subtle and sometimes gross alterations in everyday habits form primary components of wirelessness as experience.«155 Larissa Hjorth spricht angesichts häufiger Verbindungsabbrüche und unerwartet langer Ladezeiten im mobilen Internet von einer sämtliche Unmittelbarkeitsversprechen durchkreuzenden »poetics of delay«.156 Die medientechnische Entwicklung hat zu einer Renaissance raumtheoretischer Ansätze in den Medien- und Kulturwissenschaften beigetragen. Wichtige Impulse zu dieser Forschung kommen aus den Cultural Studies, die bereits in den 1980er-Jahren unter anderem das Verhältnis von space und place thematisierten, wobei sich in den letzten Jahren eine Ausrichtung auf medienethnografische Studien vollzogen hat.157 Seit den 1990er-Jahren sind diese Ansätze vermehrt auch in Deutschland aufgegriffen worden, und zwar verbunden mit einer umfas153  | Vgl. Adriana de Souza e Silva: »From Cyber to Hybrid. Mobile Technologies as Interfaces of Hybrid Spaces«, in: Space and Culture 9/3 (2006), S. 261-278, hier S. 263: »Hybrid spaces merge the physical and the digital in a social environment created by the mobility of users connected via mobile technology devices. […] Because many mobile devices are constantly connected to the Internet, […] users do not perceive physical and digital spaces as separate entities and do not have the feeling of ›entering‹ the Internet, or being immersed in digital spaces, as was generally the case when one needed to sit down in front of a computer screen and dial a connection.« 154  | Vgl. Gordon/de Souza e Silva: Net Locality. Das Konzept betont die anhaltende Relevanz physischer Orte für die Verwendungsweisen des mobilen Internets, und stellt damit eine Reaktion auf ältere Ansätze dar, die eher auf eine Dissoziierung von Mediennutzern und Umwelt bei der Verwendung von Medien wie Mobiltelefonen abgehoben haben. Vgl. für eine solche Position z. B. Kenneth J. Gergen: »The Challenge of Absent Presence«, in: James E. Katz/Mark A. Aakhus (Hg.), Perpetual Contact. Mobile Communication, Private Talk, Public Performance, Cambridge, UK: Cambridge University Press 2002, S. 227-241. 155  | Mackenzie: Wirelessness, S. 12. 156  | Larissa Hjorth: »Being Real in the Mobile Reel. A Case Study on Convergent Mobile Media as Domesticated New Media in Seoul, South Korea«, in: Convergence: The International Journal of Research into New Media Technologies 14/1 (2008), S. 91-104, hier S. 99. 157  | Vgl. das Forschungsprogramm des Siegener DFG-Graduiertenkollegs »Locating Media«, dort datiert am 29.3.2012, https://www.uni-siegen.de/locatingmedia/forschungsprogramm/?lang=de, zul .aufgeruf. am 1.2.2017, wo als

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senderen Frage nach der Situierung von Medien jenseits des heimischen Wohnzimmers, das bislang im Mittelpunkt vor allem der Fernsehforschung im Rahmen der britischen Cultural Studies stand. Insgesamt hat der Spatial Turn in den Kulturwissenschaften mit leichter Verspätung Mitte der 2000er-Jahre auch die Medienwissenschaft erreicht.158 Der neue Gegenstand Locative Media unterscheidet sich von anderen Medien allerdings dahingehend, dass erstere nicht bloß im Raum situiert sind, sondern dass sie ihre Lokalisierung kontextbezogen operabel machen können, indem sie z. B. ortsbezogene Informationen dynamisch an den Anwender oder an Dritte ausgeben. Zwar waren Mobiltelefone aus technischen Gründen immer schon prinzipiell location-aware, aber die Anwender konnten diese Fähigkeit der Geräte lange Zeit nicht für sich nutzen.159 Insbesondere Arbeiten aus dem Bereich der Medienkunst befassten sich erstmals kritisch mit den Ortungskapazitäten von Mobiltelefonen und anderen Geräten. Ein frühes Beispiel ist das 1995 realisierte GPS-Projekt Usted está aquí/You are here der Architektin Laura Kurgan, das sich mit dem Global Positioning System auseinandersetzt.160 Angesichts der Aufzeichnung und Visualisierung von Bewegungsspuren des GPS-Empfängers im physischen Raum kommt die Künstlerin zu der Einsicht: »Walking, under the satellite sky, is writing, somewhere else.«161 Gerade der Aspekt dieses »somewhere else« steht in diesem Kapitel im Mittelpunkt, d. h. es geht um die eher schlecht beleuchtete Rückseite von Locative Media jenseits von Location-Based Services, die die öffentliche wie akademische Aufmerksamkeit dominieren. In den Jahren zwischen ca. 2005 und 2009 kommt es zu einer Veralltäglichung von Verortungspraktiken im Zusammenhang mit computerbasierten Endgeräten,

Forschungsvektor die »Erforschung orts- und situationsbezogener Medienprozesse durch orts- und situationsbezogene Methoden« angegeben wird. 158  | Vgl. u. a. Jesper Falkheimer/André Jansson (Hg.), Geographies of Communication. The Spatial Turn in Media Studies, Göteborg: Nordicom 2006 und Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld: transcript 2008. 159  | Vgl. Adriana de Souza e Silva: »Location-Aware Mobile Technologies. Historical, Social and Spatial Approaches«, in: Mobile Media & Communication 1/1 (2013), S. 116-121, hier S. 117. 160  | Vgl. Buschauer/Willis: »Einleitung«, S. 14f. und Laura Popplow/Lasse Scherffig: »Locative Arts – neue Erzählungen des Raums?«, in: Buschauer/Willis, Locative Media, S. 277-295. Gordon/de Souza e Silva: Net Locality, S. 44-57 diskutieren eine Reihe von künstlerischen Arbeiten aus der Prä-SmartphoneZeit, in denen mit GPS-Empfängern experimentiert wurde. 161  | Laura Kurgan und Xavier Costa, zitiert in Buschauer/Willis: »Einleitung«, S. 15.

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was unter anderem mit der Verbreitung von Smartphones zusammenhängt.162 Aus dem überschaubaren Bereich der Medienkunst und militärischer Anwendungskontexte sind lokative Medien in den Alltag vieler Mediennutzer eingezogen. Begleitend zu dieser Entwicklung hat sich ein vitales Forschungsfeld innerhalb der Medien- und Kommunikationswissenschaften ausdifferenziert, das sich insbesondere mit veränderten Praktiken im Umfeld von Locative Media beschäftigt. Medienpraktiken, die auf ein technisch generiertes Ortswissen zurückgreifen, sind beispielsweise für sogenannte Location-Based Social Networks (LBSN) beschrieben worden. Diese Dienste – am bekanntesten sind Foursquare, Facebook Places, Dodgeball und Loopt – erlauben es Nutzern, an öffentlichen Orten ›einzuchecken‹ und diese Checkins im sozialen Netzwerk zu kommunizieren.163 Dadurch werden Kontaktaufnahmen und physische Treffen möglich, aber auch Empfehlungen für häufig besuchte Orte können vermittelt werden. Unternehmen nutzen die Dienste, um spezielle Prämienangebote zu machen, beispielsweise für Kunden, die besonders häufig in einem Café einchecken. Noch verbreiteter sind Praktiken der Mikrokoordination bei der flexiblen Aushandlung von Treffpunkten und Terminen, die zwar auch schon vor dem Aufkommen von Locative Media zu beobachten waren, durch erweiterte Möglichkeiten des Trackings und der Kommunikation von Ortsinformationen aber einem Wandel unterliegen.164 Viele Instant Messaging-Dienste bieten beispielsweise die Möglichkeit, den eigenen Standort aktiv an Kontakte zu senden, um ein Treffen zu erleichtern. Im städtischen Raum werden mobile Kartendienste zur Wegfindung genutzt, ob zu Fuß oder im Auto, was zu einer veränderten Raumwahrnehmung beiträgt.165 Dabei werden die Positionen von Anwendern direkt auf digitalen Karten visualisiert, und viele Dienste bieten die Option, eigene Einträge zu erstellen, die auch mit anderen Nutzern geteilt werden können. Mobile ortsbezogene Spiele von Geo-caching bis hin

162  | Vgl. Rowan Wilken: »Locative Media. From Specialized Preoccupation to Mainstream Fascination«, in: Convergence: The International Journal of Research into New Media Technologies 18/3 (2012), S. 243-247, hier S. 244. Neben der Markteinführung des iPhones 2007 nennt Wilken den Einstieg von Google in den Markt der kommerziellen Geolokationsdienste (Google Maps) als Faktor für die massenhafte Verbreitung von Location-Based Media. 163  | Vgl. Mark Bilandzic/Marcus Foth: »A Review of Locative Media, Mobile and Embodied Spatial Interaction«, in: International Journal of Human-Computer Studies 70/1 (2012), S. 66-71, hier S. 67. Ausführlich zu LBSNs vgl. Frith: Smartphones as Locative Media, S. 62-80 und Lee Humphreys: »Mobile Social Networks and Urban Public Space«, in: New Media & Society 12/5 (2010), S. 763-778. 164  | Vgl. Rich Ling/Birgitte Yttri: »Hyper-Coordination via Mobile Phones in Norway«, in: Katz/Aakhus, Perpetual Contact, S. 139-169. 165  | Vgl. Buschauer/Willis: »Einleitung«, S. 10f.

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zu komplexeren Urban Games haben engagierte Communities ausgebildet.166 Eher künstlerisch orientiert sind Annotationsprojekte, die physische Orte mit Erzählungen versehen, welche dann von Passanten oder Spielern abgerufen werden können, um beispielsweise etwas über die Geschichte eines bestimmten Bauwerks zu erfahren.167 Für eine Medienanthropologie digitaler Nahkörpertechnologien bedeutet das perspektivisch, dass sich mit den Möglichkeiten einer dynamischen Ortsbestimmung die soziale Konstruktion von Raum analog zu der von Zeit verändert. Damit wird eine zwar technikgestützte, aber ähnlich intuitive Lage- und Entfernungsbestimmung denkbar, die sich am Modell der Zeit- und Dauerbestimmung durch die Ubiquität von Zeitanzeigen orientiert. Bürger des 21. Jahrhunderts werden vielleicht in wenigen Jahren schon auf eine vergleichbare Weise wissen, wo sie sind, wie sie heute schon wissen, welche Tageszeit es ist. Dieses Wissen muss nicht formal gegeben und artikulierbar sein. Es kann auch implizit bleiben bzw. relational verfasst sein, sodass man jederzeit wird angeben können, wo sich die wichtigsten sozialen Kontakte gerade im Verhältnis zum eigenen Standort befinden bzw. welche Richtung einzuschlagen ist, um einen gewünschten Ort in einer unbekannten Stadt zu erreichen. Entscheidend ist, dass sich grundsätzliche Parameter der Orientierung im Raum durch lokative Medien verändern. Zeitgenössische Smartphones sind allerdings nicht bloß nützliche Tools der Koordinierung von Praktiken und der Orientierung im öffentlichen Raum, sondern sie dienen gleichermaßen als »Interface einer […] Selbst- und Fremdverortung«.168 Zum einen sind sie die Schlüsseltechnologie eines habitualisierten Mediengebrauchs, der auf die Ortungskapazitäten des Geräts zurückgreift. Zum anderen aber sind die Geräte Interfaces gegenüber einem Rückraum der – kommerziellen oder staatlichen – Datensammlung, -kategorisierung und -auswertung, die üblicherweise für Nutzer intransparent verlaufen. Es ist diese Doppelstellung digitaler Nahkörpertechnologien, diese eigentümliche Überlagerung und Verschränkung eines körperlichen mit einem technologischen Unbewussten, die ihren besonderen medienhistorischen Stellenwert ausmacht. 166  | Zu Geocaching vgl. Jason Farman: Mobile Interface Theory. Embodied Space and Locative Media, New York: Routledge 2012, S. 83-86, zu Urban Games Judith Ackermann: »Location Based Mobile Gaming in der Stadt. Spielerische Eroberung des urbanen Raums und Hybrid Reality Theatre«, in: Thomas C. Bächle/Caja Thimm (Hg.), Mobile Medien – mobiles Leben. Neue Technologien, Mobilität und die mediatisierte Gesellschaft, Berlin: Lit 2014, S. 143-167. 167  | Vgl. für sogenannte Locative Narrratives Jeremy Hight: »Views From Above. Locative Narrative and the Landscape«, in: Leonardo Electronic Almanac 14/8 (2006) und für Site-Specific Storytelling Farman: Mobile Interface Theory, S. 113-130. Frith: Smartphones as Locative Media, S. 81-95 diskutiert Erinnerungs- und Archivierungspraktiken, in denen Locative Media verwendet werden, um Orte auf technischem Weg mit subjektiven Bedeutungen zu versehen. 168  | Buschauer/Willis: »Einleitung«, S. 7.

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Die Tatsache, dass Smartphones jederzeit lokalisiert werden können, wird also von mindestens zwei Seiten genutzt: Anwendern verhilft sie zu einem komfortablen Nutzungserlebnis, indem sie veränderte Lesbarkeiten der Umgebung generiert und diese auf eine neue Weise in Kommunikationsprozesse einbindet. Gleichzeitig jedoch greifen Konzerne wie Google, Apple und Facebook sowie staatliche Geheimdienste – zuweilen vermittelt über Anbieter von Applikationen, für deren Verwendung eine Geolokation des Geräts erforderlich ist – auf die Daten zu, die sich aus der zeiträumlichen Verortung der mobilen Individuen ergeben.169 So entsteht ein Wissen um Bewegungsmuster, kommunikative Praktiken, soziale Kontakte und habituelle Verhaltensweisen, das in aggregierter Form operationalisierbar ist – z. B. durch Verfahren des Data Mining.170 Der Medienwissenschaftler und Informatiker Jens-Martin Loebel hat in einem fünf Jahre dauernden Selbstversuch die Lücke zwischen Anwender- und Anbieterwissen zu ortsbezogenen Daten demonstriert, indem er sämtliche zurückgelegten Wege mit GPS-Empfängern aufzeichnete und in eine relationale Datenbank einpflegte.171 Aus der Auswertung der so akkumulierten Daten lassen sich detaillierte Informationen über seine Gewohnheiten, Tagesabläufe und zukünftig erwartbare Verhaltensweisen gewinnen, die weit über die räumliche Lokalisierung hinausgehen. Im Folgenden werde ich zunächst die technische Basis für auf den Raum bezogene Datenpraktiken kurz darstellen. Im Anschluss daran werden ihre Implikationen als Kernelement innerhalb einer emergenten Kontrollarchitektur herausgearbeitet, wozu insbesondere auf den bereits von Thrift angesprochenen Aspekt der Standardisierung des Raumes zurückzukommen sein wird. Theoretischer Kern der Untersuchung ist die Konzeptualisierung der dem Anwender häufig entzogenen Lokalisierungen als Ausprägung des technologischen Unbewussten des Smartphones. Die hier vorgenommene Analyse dient schließlich als Grundlage für eine kritische Diskussion 169  | Vgl. für eine ausführliche Dokumentation solcher Praktiken, auch mit Be-

zug auf Smartphones und Wearables, Wolfie Christl/Sarah Spiekermann: Networks of Control. A Report on Corporate Surveillance, Digital Tracking, Big Data & Privacy, Wien: Facultas 2016. 170  | Dabei ist nicht bloß der physische Ort an sich als Datenpunkt relevant, sondern vor allem lokalisierte Relationen zwischen Nutzern, so David Lyon: »Surveillance as Social Sorting. Computer Codes and Mobile Bodies«, in: Ders. (Hg.), Surveillance as Social Sorting. Privacy, Risk, and Digital Discrimination, London: Routledge 2009, S. 13-30, hier S. 19: »It is not merely where people are when they use cell phones, e-mail, or surf the Internet. It is with whom they are connected and how that interaction may be logged, monitored, or traced that also counts.« 171  | Vgl. Jens-Martin Loebel: »Privacy is Dead. Ein Fünf-Jahres-Selbstversuch der bewussten Ortsbestimmung mittels GPS«, in: Hannelore Bublitz/Irina Kaldrack/ Theo Röhle/Mirna Zeman (Hg.), Automatismen – Selbst-Technologien, München: Fink 2013, S. 143-163.

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der Macht-Implikationen der damit verbundenen Kontrollarchitektur im folgenden Kapitel 6.

5.4.2 Technische Grundlagen von Lokalisierungspraktiken Location-Based Services einerseits und Verortungspraktiken im Rücken der Anwender andererseits werden durch eine Reihe von technischen Infrastrukturen ermöglicht. Heuristisch können drei verschiedene Positionsbestimmungsverfahren unterschieden werden: die Methode der Triangulation über Sendemasten, die auch schon bei herkömmlichen Mobiltelefonen zum Einsatz kam, die Ortung mit Hilfe eines Navigationssatellitensystems und eine auf Daten von Wi-Fi-Hotspots zurückgreifende Ortungsmethode.172 Die Triangulationsmethode ermittelt den Ort des Mobiltelefons relativ zu mindestens drei Mobiltelefonmasten oder Basisstationen, deren annähernd hexagonale Funkzellen sich überlagern.173 Die Möglichkeit der Lokalisierung ist hier keine Zusatzfunktion, sondern basales technisches Prinzip der Mobiltelefonie, das es überhaupt erst ermöglicht, Anrufe in Bewegung zu tätigen. Die Übergabe von Zelle zu Zelle (der sog. ›Call Handoff‹) funktioniert dabei automatisiert in Mobile Switching Centers (MSC), sodass Mobiltelefonnutzer im Regelfall nichts davon mitbekommen.174 Zwar betreiben auch Russland und China eigene Navigationssatellitensysteme mit potenziell globaler Reichweite, doch das US-amerikanische Global Positioning System (GPS) ist für zivile Anwendungen, darunter auch Smartphones, das gängigste. Das GPS ist militärischer Herkunft und besteht aus 24 Satelliten des US-amerikanischen Verteidigungsministeriums, die seit den frühen 1970er-Jahren sukzessive in den Orbit gebracht wurden (der letzte erst 1994).175 Für die zivile Nutzung brauchbar wurde das System allerdings erst am 1. Mai 2000, als das US-Militär eine künstliche Signalverschlechterungsfunktion namens Selective Availability abstellt, welche für gezielte Störungen bei nicht-militärischen Empfangsgeräten sorgte. Ähnlich wie beim 172  | Für die drei Verfahren vgl. Frith: Smartphones as Locative Media, S. 28-31. 173  | Ausführlich zum Konzept der zellulären Mobiltelefonie vgl. Jon Agar:

Constant Touch. A Global History of the Mobile Phone, Cambridge, UK: Icon Books 2013 [2003], S. 24-31. 174  | Agar macht auf die häufig ausgeblendete Tatsache aufmerksam, dass die Nutzung mobiler Medien auf eine fixe Infrastruktur verwiesen bleibt: »Just as the pocket watch required fixed institutions of agreed protocols and time standards in order that time could be told on the move, so a massive fixed infrastructure of wires, switches and agreements needed to be in place for mobile conversation. Mobility, strangely, depends on fixtures.« (Ebd., S. 26) 175  | Vgl. Frith: Smartphones as Locative Media, S. 28 und genauer zur technischen Funktionsweise des GPS-Systems Loebel: »Privacy is Dead«, S. 144-147.

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zellulären Triangulationsverfahren wird hier die Position des Empfängers durch den Abgleich der Daten von mindestens vier Satelliten ermittelt, die die Laufzeit codierter Radiosignale zum Beobachtungsobjekt messen.176 Die Positionsbestimmung erfolgt passiv, d. h. der Empfänger muss dafür selber keine Signale aussenden.177 Das dritte Verfahren, die Lokalisierung über Wi-Fi-Daten, funktioniert über eine anonymisierte Sammlung der Geodaten von Smartphones, die in ein WLAN eingeloggt sind.178 Es ist präziser, je höher die Dichte an Wi-Fi-Hotspots ist, also vor allem im städtischen Raum konkurrenzfähig zur Ortung via GPS. Die Positionen der Hotspots werden in zentralisierten Standort-Datenbanken aggregiert, aus denen dann annäherungsweise die Position des Anwenders ermittelt werden kann.179 Beim A-GPS (Assisted Global Positioning System)-Verfahren, das häufig in Smartphones Verwendung findet, werden die drei genannten Geolokationsverfahren kombiniert, um die Präzision zu erhöhen.180 Das Smartphone ist nur eine von zahlreichen Technologien, die mit Geolokationsdaten arbeiten. RFID-Systeme im Bereich der Logistik und des Einzelhandels sowie Entwicklungen im sogenannten ›Internet der Dinge‹ sind Teil einer Entwicklung hin zu einer jederzeitigen Verfügbarkeit von dynamisch aktualisierten Ortsinformationen.181 Interessant am Smartphone ist vor allem die Verknüpfung dieser Informationen mit personenbezogenen Daten. Wenn das Gerät – wie im letzten Kapitel ausführ176  | Vgl. Robert Rothmann/Jaro Sterbik-Lamina/Walter Peissl/Johann Čas:

Aktuelle Fragen der Geodaten-Nutzung auf mobilen Geräten, Wien: Institut für Technikfolgen-Abschätzung 2012, S. 2. 177  | Vgl. Loebel: »Privacy Is Dead«, S. 144. Erst das Hinzufügen semantischer Informationen wie Straßennamen oder Kartendaten macht einen aktiven Rückkanal erforderlich, wobei das Smartphone mit Ortsdatenbanken kommuniziert. Vgl. ebd., S. 147. Bei der Nutzung solcher Angebote werden in der Regel verdeckt Standortinformationen erfasst, wozu Nutzer durch Einwilligung in die AGB des Geräteherstellers bzw. Dienstanbieters ihre Zustimmung geben. 178  | Vgl. Frith: Smartphones as Locative Media, S. 30f. 179  | Beispiele für solche Dienste sind Google Location Services und Skyhook Wireless. Das zuletzt genannte US-amerikanische Unternehmen wirbt mit der Feststellung: »Wi-Fi is far more than a network connection. It’s a location source.« (http://www.skyhookwireless.com/, zul. aufgeruf. am 1.2.2017) 180  | Vgl. Rothmann et al.: Aktuelle Fragen der Geodaten-Nutzung, S. 2. Dabei kommen ebenfalls Datenbanken mit Positionsinformationen zum Einsatz, die aktiv abgerufen werden, also eine Internetverbindung erfordern. 181  | Vgl. für den Einsatz von RFID-Transpondern in der Logistik Christoph Neubert: »Onto-Logistik. Kommunikation und Steuerung im Internet der Dinge«, in: Lorenz Engell/Bernhard Siegert/Joseph Vogl (Hg.), Archiv für Mediengeschichte 8: Agenten und Agenturen, Weimar: Verlag der Bauhaus-Universität 2008, S. 119-133 und für das Internet der Dinge umfassend Sprenger/Engemann, Internet der Dinge.

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lich dargelegt – in das körperliche Ich-Empfinden der Besitzer Eingang findet, wird seine Positionierung im technisch durchmessenen Raum annähernd identisch mit der Lokalisierung seines Trägers, die mit weiteren Daten angereichert werden kann. Das Smartphone ist eine personalisierte Überwachungstechnologie.182 Gordon und de Souza e Silva argumentieren, dass die physische Verortung auf basalere Weise ein Aspekt der Identität sei als beispielsweise das Erstellen von Avataren oder Usernamen im WWW: »[L]ocation constructs the framework through which identity can be formed«.183 Ähnlich wie das Körperschema einen Rahmen – Merleau-Ponty spricht von einer Infrastruktur184 – für intelligibles Verhalten darstellt, ist die physische Lokalisierung im Raum eine Grundbedingung menschlichen Handelns. Das über Smartphones normalisierte Teilen von personenbezogenen räumlichen Koordinaten lässt die (technische) Selbst-, aber auch Fremdverortung zu einem Teil der Identität und der diese bestimmenden Praktiken werden: »[P]eople […] are opening themselves up to the environment«.185 Beispielsweise sei es inzwischen weitgehend normalisiert Suchergebnisse auf mobilen Geräten mit einem lokalen Index zu versehen, womit eine permanente Datenspur die Nutzer-Interaktionen mit dem physischen Ort verbindet.

5.4.3 Standardisierung des Raumes als Resultat von Verdatungspraktiken Lokative Medien sind wie dargestellt Bestandteil eines Ensembles alltäglicher verkörperter Praktiken, gleichzeitig aber auch die technologische Bedingung eines Wissens über räumliche Relationen, das den handelnden Individuen in der Regel nicht zugänglich ist. Allerdings erscheint die Diskussion der Rückseite von Locative Media bei vielen Autoren auf den Aspekt der Privatheit verkürzt.186 Welchen Verwendungszwecken persönliche Daten zugeführt werden und wie im Zuge dessen die Grenzen zwischen öffentlichem und privatem Verhalten neu gezogen werden, sind auch medienwissenschaftlich relevante Fragen; die hier gewählte Perspektivierung fokussiert allerdings einen anderen Aspekt. Ich gehe der Hypothese nach, dass digitale Nahkör182  | Vgl. Gordon/de Souza e Silva: Net Locality, S. 2: »We are where our devices are, and we are perpetually leaving behind data traces that can be mapped to our physical world.« 183  | Vgl. ebd., S. 12f. 184  | Vgl. Maurice Merleau-Ponty: Phénomenologie de la perception, Paris: Gallimard 1945, S. 493. 185  | Gordon/de Souza e Silva: Net Locality, S. 11. 186  | Vgl. ebd., S. 133-154. Insbesondere die Electronic Frontier Foundation (EFF) befasst sich mit dem Problem der »locational privacy« aus einer bürgerrechtlichen Perspektive. Vgl. dazu die Informationen auf https://www.eff.org/ de/wp/locational-privacy, zul aufgeruf. am 1.2.2017. Im deutschen Sprachraum wird die Debatte um den ›Datenschutz‹ geführt.

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pertechnologien das zentrale Instrument einer Raumordnung sind, die in der Tendenz auf eine Totalerfassung räumlicher Relationen mit Bezug auf mobile Individuen abzielt. Die gegenwärtige Entwicklung hin zu einem ›Internet der Dinge‹ ist die technologisch avancierteste Ausprägung dieses neuen topologischen Wissens.187 Für die Entwicklung dieser These werden neben den Überlegungen Nigel Thrifts zur Standardisierung des Raumes im Folgenden Arbeiten von Gesa Lindemann zur ›Matrix der digitalen Raumzeit‹ herangezogen. Raumtheoretisch formuliert muss zwischen einem personal zentrierten Raum der Interaktion – der Raum des Interfaces bzw. des Dispositivs im Baudry’schen Sinn188 – und einem Set räumlicher Relationen differenziert werden, das vom Apparat digitaler Nahkörpertechnologien miterzeugt wird, ohne dass dies den Anwendern bewusst ist. Letzterer lässt sich als technologisches Unbewusstes auf der dritten Ebene der vorgeschlagenen Heuristik anschreiben. Der schon zitierte Nigel Thrift, von dem auch der Ausdruck des ›technologischen Unbewussten‹ übernommen wurde, vertritt die These, dass analog zur Standardisierung der Zeit, die im 19. Jahrhundert zu globalen Zeitzonen, verbindlichen Terminabsprachen und weitgehend verlässlichen Fahrplänen geführt hat, im 20. und 21. Jahrhundert eine Standardisierung des Raumes vollzogen werde.189 Ergebnis der Standardisierung der Zeit war ein Wissen um die prinzipielle Wiederholbarkeit von Sequenzen, das ihre exakte Reproduzierbarkeit erlaubt, beispielsweise bei der Buchung von Hotelzimmern Monate oder gar Jahre im Voraus.190 Diese Zeitauffassung mitsamt ihrer Erwartbarkeitshorizonte ist weitgehend naturalisiert – es fällt schwer, sich den Ablauf eines Tages jenseits der verstreichenden Sekunden, Minuten und Stunden überhaupt vorzustellen. Seit den 1960er-Jahren nun sei ein analoger Prozess für den Raum festzustellen, so Thrift. Er beschreibt das Aufkommen eines Track-and-Trace-Modells, das 187  | Vgl. Sprenger/Engemann: »Im Netz der Dinge«, S. 55: »Das Environment

des Internets der Dinge ist […] ein berechneter und berechnender Raum, in dem jedes Objekt eine eindeutige Adresse hat, mit der es lokalisiert und positioniert werden kann. Alle derart vernetzten Objekte müssen immer überwacht werden, um die Funktionalität des Raums aufrecht zu erhalten, in dem sich der User bewegt. Deshalb ist innerhalb dieser Sphäre notwendigerweise der Ort aller Objekte bekannt.« 188  | Vgl. Nicole Gronemeyer: »Dispositiv, Apparat. Zu Theorien visueller Medien«, in: Medienwissenschaft Rezensionen | Reviews 1 (1998), S. 9-21. 189  | Vgl. Thrift: Knowing Capitalism, S. 214. Die überregional exakte Vereinheitlichung der Zeitmessung beginnt mit der Greenwich-Zeit des 1675 gegründeten Royal Observatory in Greenwich. Vgl. Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise, S. 44. Sie wird allerdings bis ins 19. Jahrhundert nicht zur allgemeinen Zeitmessung, sondern als logistische Zeit zur Positionsbestimmung auf Seereisen und später zur Taktung von Bahnverbindungen verwendet. 190  | Vgl. Thrift: Knowing Capitalism, S. 215-217.

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eine Standardisierung des Raumes zur Voraussetzung hat und weiter vorantreibt.191 Drei Impulse für diese Re-Adressierung der Welt werden von Thrift genannt: Erstens die Verfügbarkeit bestimmter Technologien, darunter Informationstechnologien (Computer), Laser und Geolokationsdienste wie GPS. Zweitens ein aus der Logistik stammendes formales Wissen um Sequenzen, das nun auch auf räumliche Relationen übertragen wird. Und drittens neue Medien der Kalkulation, insbesondere Tabellen, die in EDV-basierten Spreadsheet-Berechnungen zum Einsatz kommen und diese drastisch vereinfachen.192 Thrift macht mehrere Konsequenzen der von ihm beschriebenen Entwicklung aus: Zum einen ändere sich die Geografie der Kalkulation, womit gemeint ist, dass Computing-Vorgänge nicht mehr exklusiv in dezidierten Rechenzentren stattfinden, sondern environmental verankert werden. Darunter fällt die Entwicklung kontextsensitiver Geräte, die beispielsweise ihren physischen Ort algorithmisch abbilden können und die in Ubiquitous Computing-Szenarien zum Einsatz kommen. Damit verändere sich auch die Natur von Adressen, die nicht mehr an fixe Orte gebunden seien wie noch zur Epoche der traditionellen Post, sondern mit einzelnen Aktanten verbunden werden können. Thrift diskutiert als Beispiele den Barcode, die Signaturdatei .sig in Emailprogrammen, SIM-Karten in der Mobiltelefonie und RFID-Empfänger. Und schließlich seien neue Praktiken und soziale Organisationsformen der Hyper- oder Mikrokoordination zu beobachten, die Just-in-Time-Prozesse in der Logistik zum Vorbild haben, allerdings auch in sehr alltäglichen Kontexten wie der Kommunikation unter Teenagern in vergleichbarer Weise auftreten.193 Thrifts Ausführungen, die bei aller empirischen Nachvollziehbarkeit leider an vielen Stellen diffus und unklar bleiben, scheinen nahezulegen, dass der Raum aufgrund der beschriebenen Entwicklungen zu einer auf veränderte Weise disponiblen Ressource wird. Gleichzeitig wird ein umfangreiches Mapping der physischen Welt vorstellbar, das zu ausufernden Kontrollfantasien Anlass gibt: »Ultimately, we’ll be tagging every item in the universe«, verkündet vollmundig eine Vermarkterin von RFID-Empfängern.194 Während dies in erster Linie Entwicklungen in Transport und Logistik zu betreffen scheint, bilden Smartphones in vielen Fällen das Interface zu einem räumlich verankerten Internet, das als vorläufiger Zenit der Entwicklung an191  | Vgl. ebd., S. 219. Thrifts historische Verortung fällt nicht zufällig mit der

Hochzeit kybernetischer Modellierungen dynamischer Systeme in vielen Wissensfeldern zusammen, wie in Kapitel 6 noch ausführlicher kommentiert wird. 192  | Zu den drei Impulsen vgl. ebd., S. 219f. 193  | Zu den Konsequenzen der Standardisierung des Raumes vgl. ebd., S. 220-223. 194  | Patti Bond, zitiert nach Mark Andrejevic: »Surveillance in the Digital Enclosure«, in: The Communication Review 10/4 (2007), S. 295-317, hier S. 301. Bernard Stiegler: Hypermaterialität und Psychomacht, Zürich: Diaphanes 2010, S. 103 weist auf die »borgeske Situation« hin, dass das Internet Protocol Version 6 (Ipv6) die Auflösung von 2128 IP-Adressen erlaube: »Damit wäre die Encodierung aller Objekte möglich, die auf atomarer Ebene existieren.«

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gesehen werden kann.195 Die physische Welt wird mit verschiedenen Annotationsebenen von digital codierten Informationen überzogen, deren Relevanz und Präzision durch die medialen Praktiken auf Anwenderseite selbst konstituiert wird. Jeder einzelne Smartphonenutzer wird damit – oft unwissentlich – zum Agenten dieser neuen Vermessung und, wie Thrift schreibt, Re-Adressierung der Welt. Ein Beispiel für die Generierung von ortsbezogenen Informationen aus Praktiken liefert der 2013 von Google gekaufte Dienst Waze, eine community-basierte Verkehrs- und Navigations-App. Die Anwendung sammelt GPS-Daten der am Straßenverkehr teilnehmenden Anwendern und generiert aus den aggregierten Daten eine ständig aktualisierte Datenbank, die sich die Anwender wiederum beispielsweise als visualisierte Stauinformationen oder Meldungen freier Parkplätze in der Innenstadt auf ihre Smartphones laden können.196 Außerdem ist das aktive Einsenden von Informationen zu Straßenbedingungen und besonderen Vorkommnissen sowie das Bearbeiten der zur Verfügung gestellten Karten durch die Anwender möglich. Waze ist eines von zahlreichen Beispielen für Anwendungen, die direkt auf den physischen Ort der Nutzer zugreifen, um daraus ein neues Raumwissen zu generieren, das zwar kollektiven Nutzen stiftet, aber auch zu einem umfänglichen dynamischen Mapping räumlicher Relationen beiträgt. Eine Reihe von Überlegungen der Soziologin Gesa Lindemann zum Verhältnis von Körpern und digitalen Medien können dabei helfen, Thrifts Thesen phänomenologisch zu präzisieren.197 Lindemann geht von der Prämisse aus, dass bereits mit der 195  | Jason Farman begreift in diesem Sinne Smartphones als – wenn auch

nicht buchstabengetreue, so doch immerhin realisierte – Umsetzung des Ubi­ quitous Computing-Konzepts, das Mark Weiser im Xerox PARC entwickelt hat: »While looking for a cultural shift in the way computers are integrated, many designers and theorists have missed the biggest transition that has been taking place for some time: the devices we already utilize on a daily basis are the tools that will herald in the age of pervasive computing.« (Farman: Mobile Interface Theory, S. 9). Für eine vergleichbare Einschätzung vgl. Mark Andrejevic: »Ubi­ quitous Surveillance«, in: Kirstie Ball/Kevin D. Haggerty/David Lyon (Hg.), Routledge Handbook of Surveillance Studies, London: Routledge 2012, S. 91-98, hier S. 92: »Embedding computer chips into the surrounding environment is not the only way to make it interactive and thus subject to monitoring. The development of portable mobile devices renders any space covered by the wireless networks that support them interactive – to varying degrees.« 196  | Vgl. für eine Beschreibung des Dienstes Frith: Smartphones as Locative Media, S. 49f. 197  | Vgl. Gesa Lindemann: In der Matrix der digitalen Raumzeit. Das generalisierte Panoptikum, Hamburg: Murmann 2014 [Ebook]. Vgl. außerdem Dies.: »Die Verschränkung von Leib und Nexistenz«, in: Florian Süssenguth (Hg.), Die Gesellschaft der Daten. Über die digitale Transformation der sozialen Ordnung, Bielefeld: transcript 2015, S. 41-66.

5. Handhelds und Landhelds

Entwicklung des mechanischen Schlagwerks für Uhren im 16. und 17. Jahrhundert eine »Form der Zeitmessung [entstand], die unabhängig von situativen leiblichen Umweltbezügen war«.198 Im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts habe sich dann, so Lindemann, auch eine Raumauffassung durchgesetzt, die diesen als »dreidimensional kontinuierlich ausgedehntes Gebilde« begreift, innerhalb dessen Körper und andere materielle Dinge verortet sind.199 Da ein so verstandener Raum in kleinste Maßeinheiten zerlegbar und mathematisch beschreibbar ist, nennt Lindemann das Modell »digitale Raumzeit«200: »In diesem Raum gibt es nur messbare Lage- und Abstandsbeziehungen und messbare physikalische Zustände von Körpern.«201 Mit der Durchsetzung des modernen Raumdenkens habe sich auch die leibliche Selbsterfahrung verändert: Lindemann geht davon aus, dass die von der philosophischen Anthropologie als Universalie behauptete Differenz von Leib als Erfahrungszentrum und Körper als materielle, dreidimensionale Ausdehnung in der Welt hier ihre historischen Wurzeln habe.202 Ganz analog zu Thrift beschreibt Lindemann die digitale Raumzeit als Medium der Kommunikation, insofern eine Referenz auf zweifelsfrei bestimmbare Zeiten und Orte eine Koordinierung von Handlungssequenzen erlaube (beispielsweise verbindliche Terminabsprachen und Bürozeiten oder auch logistische Feinabstimmungen). Mit dem Computer nun sei die digitale Raumzeit zu einer Matrix geworden, die gleichsam zu einer »Verdopplung der Welt« führe: »Die Matrix der digitalen Raumzeit umfasst die Welt, so wie sie jetzt ist, und die Welt der in Echtzeit gespeicherten Ereignisse.«203 Dadurch komme es zu einer »Verschränkung von leiblicher Erfahrung und Nexistenz in der Matrix«204, wobei Lindemann unter dem mäßig originellen Wortspiel eine individuelle Datensignatur versteht, die sich aus Aktionen im Internet bzw. in der physischen Welt ergebe, und die potenziell dauerhaft gespeichert werden könne. Die leibliche Orientierung in der Welt205 überlagere sich gegenwärtig mit der 198  | Lindemann: In der Matrix der digitalen Raumzeit, 12%. 199  | Ebd., 15%. Als Beispiel für diese Raumauffassung nennt Lindemann Erwin Panofskys Beschreibung der mathematisch exakt ermittelbaren Zentralperspektive. Vgl. ebd., 20%. 200  | Ebd. 201  | Lindemann: »Die Verschränkung von Leib und Nexistenz«, S. 45. 202  | Vgl. ebd., S. 48f. Die Leib-Körper-Verschränkung sieht Lindemann als Basis für moderne Vergesellschaftungsformen, in denen Individuen als körperliche Entitäten adressier- und regierbar sind, und sie verweist auf historische sowie ethnologische Beispiele für alternative Vergesellschaftungsweisen, in denen Körpern eine andere Rolle in sozialen Prozessen zukommt. 203  | Lindemann: In der Matrix der digitalen Raumzeit, 31% und 34 %. 204  | Lindemann: »Die Verschränkung von Leib und Nexistenz«, S. 55. 205  | Lindemann greift zu ihrer Charakterisierung der leiblichen Orientierung auf Plessners Modell der exzentrischen Positionalität zurück, nach der Menschen sich in einem Verhältnis der vermittelten Unmittelbarkeit zu ihrer Umwelt

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Logik der digitalen Raumzeit, beispielsweise bei der Nutzung eines GPS-Navigationsgeräts oder eines Smartphones zur Ortsbestimmung. Lindemanns Ansatz sehe ich als einen Versuch, die Verschränkung von körperlicher und technologischer Infrastruktur herauszuarbeiten, die mich an digitalen Nahkörpertechnologien interessiert und die auch im Mittelpunkt von Thrifts Frage nach einem technologischen Unbewussten steht. Während ihre Ausführungen zu einem »generalisierten Panoptikum«206 dann allerdings in eine Pauschalkritik an neueren Medien münden, die zudem den Spezifika von Kontrollgesellschaften nicht gerecht wird, lohnt es sich, an diesem Punkt noch einen Moment zu verweilen. Wenn, wie Lindemann schreibt, »die Erfahrung des eigenen Leibes durch das Schema des dreidimensional ausgedehnten Körpers strukturiert«207 wird, und gleichzeitig die flächendeckende Verbreitung von digitalen Nahkörpertechnologien zur Ausweitung einer objektivierten Matrix digitaler Raumzeit führt, dann tritt neben das körperliche Unbewusste ein technologisches Unbewusstes. Letzteres lässt sich in diesem Zusammenhang als eine den Individuen weitgehend verborgene Praxis der Verdatung begreifen, die von deren leibräumlicher Situierung immer weniger zu trennen ist, während sie gleichzeitig das für funktional differenzierte Gesellschaften charakteristische Fundament eines körperzentrierten Individualismus systematisch unterläuft. Lindemann schreibt zu den Konsequenzen für die körperliche Dimension von Vergesellschaftung: Die Moderne war bislang davon gekennzeichnet, dass sich leibliche Akteure in der Verschränkung mit dem Körper individualisieren und sich entsprechend als verkörperte Individuen voreinander darstellen. Mit der Entstehung der Matrix der digitalen Raumzeit wird der Körper aufgelöst in eine Vielzahl von Ansatzpunkten für eine Einordnung in eine Vernetzung mit anderen Körpern und Wissensbeständen. Aus dem isolierenden Körper wird ein Knoten in einem Netz. Dass ein Körper dreidimensional ausgedehnt im Ortsraum existiert, wird zu einem Merkmal unter anderem [sic!], denn der Körper existiert als ein in vielfache Wissensbestände aufgelöster Körper, durch die der Leib technisch in soziale Beziehungen gestellt wird. Der Körper wird die individuelle Zuordnungseinheit für die gesammelten Matrixdaten. Die Verschränkung von Körper und Leib entwickelt sich weiter zur Verschränkung von leiblicher Erfahrung und Nexistenz in der Matrix. 208 befinden – in einem Hier und Jetzt verortet und gleichzeitig in der Lage, diese Verortung zu reflektieren, also eine exzentrische Position dazu einzunehmen. Vgl. Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin: de Gruyter 1975 [1928], S. 288-308. 206  | Lindemann: »Die Verschränkung von Leib und Nexistenz«, S. 56. 207  | Ebd., S. 48. 208  | Ebd., S. 54f. Vgl. dazu Kapitel 2.5 der vorliegenden Arbeit, in der die dominante Subjektivierungsform eines Selbst-in-Relation für Smartphonenutzer herausgearbeitet wurde.

5. Handhelds und Landhelds

Körper sind in der Matrix der digitalen Raumzeit primär Datenquelle und weniger als dreidimensionale Ausdehnung geschweige denn als leibliche Existenz relevant. Auf der anderen Seite verschwindet der Leib nicht, wenn er als bewegliche Datenquelle mitsamt seiner zeiträumlichen Trajektorie vermessen wird.209 Das Smartphone, so meine These, hat sowohl an einem körperlichen als auch an einem technologischen Unbewussten – nun verstanden als eine für Nutzer intransparente Praxis der Verdatung, die auf den Ort des Individuums in Verbindung mit anderen Parametern zugreift – Anteil. Es ist auf eine Weise positioniert, die es zum bevorzugten Instrument in einem Verortungsapparat macht, dessen Machtimplikationen im folgenden Kapitel herausgearbeitet werden. Das Ziel des vorliegenden Kapitels war es, mit Hilfe des Begriffs des technologischen Unbewussten die vermeintliche Intimität und Individualität der Smartphonenutzung auf mehreren Ebenen in Frage zu stellen. Es wurde gezeigt, dass digitale Nahkörpertechnologien vielmehr Teil globaler Infrastrukturen der Kommunikation und Kontrolle sind, die untersuchte anthropomediale Relation also mehr umfasst als lediglich Nutzer und Gadgets. Der Begriff des technologischen Unbewussten kann als terminologische Brücke zu einer solchen umfassenderen Thematisierung dienen und macht Prozesse wie die zuletzt besprochene Standardisierung des Raumes beschreibbar. Er hat allerdings den Nachteil, auf einer deskriptiven Ebene zu verharren, wenn man nicht weiter danach fragt, welchen Zwecken die Verdatungspraktiken letztlich dienen. Diese Frage soll im Anschluss adressiert werden. Zentrales Anliegen des folgenden Kapitels ist demnach eine »Kritik der politischen Technologie« des Apparats digitaler Nahkörpertechnologien.210

209  | Vgl. Gesa Lindemann: »Leiblichkeit und Körper«, in: Robert Gugutzer/Gabriele Klein/Michael Meuser (Hg.), Handbuch Körpersoziologie. Band 1: Grundbegriffe und theoretische Perspektiven, Wiesbaden: Springer VS 2017, S. 57-66, hier S. 58: »Auch wenn ein Akteur weltweit kommuniziert, seinen Tabletrechner immer bei sich hat und immer erreichbar ist, so sitzt er doch stets hier/jetzt vor dem Monitor, empfindet hier/jetzt die schmerzende Sehnenscheidenentzündung, die von den zu oft wiederholten Bewegungen am Bildschirm herrühren.« 210  | Der Ausdruck »Kritik der politischen Technologie« wird von Wolfgang Hegener zur Charakterisierung des foucaultschen Forschungsprogramms verwendet, »das aufzeigen möchte, wie sich gewissermaßen unterhalb der Ebene der bürgerlichen Vertragsgesellschaft in den Disziplinarinstitutionen soziale Regulierungsformen ausgebildet haben, die sich allmählich (vor allem im Zuge von Entinstitutionalisierungsprozessen) auf die gesamte moderne Gesellschaft ausdehnen und diese dominant prägen«. (Wolfgang Hegener: »Zwischen Gegenwissenschaft und Unterwerfungsmacht. Foucault, die Psychoanalyse und das Unbewusste«, in: Buchholz/Gödde, Das Unbewusste in aktuellen Diskursen, S. 614-634, hier S. 624)

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6. Postkybernetische Kontrollarchitekturen

Nigel Thrift hat in kritischer Bezugnahme auf Michel de Certeau für das Autofahren eine Verschränkung von technischen Infrastrukturen und vermeintlich unregulierten Praktiken beschrieben, die als Ausgangspunkt und Abgrenzungsfolie für die hier interessierenden digitalen Nahkörpertechnologien dienen kann.1 Thrift arbeitet zunächst die romantisierenden Konnotationen und den humanistischen Bias in de Certeaus dichotomischer Gegenüberstellung von distanzierter Draufsicht und verborgenen Alltagspraktiken heraus, die am sinnfälligsten in dessen Bild des Beobachters zum Ausdruck kommen, der von der Spitze des World Trade Centers aus die Stadt und die sich in ihr vollziehenden Bewegungen zu entziffern versucht.2 In de Certeaus Werk fände sich darüber hinaus eine Dämonisierung des mechanisierten öffentlichen Nahverkehrs – insbesondere Eisenbahn und Bus –, der ihm als distanzierte und sinnlich verarmte Art der Fortbewegung erschiene.3 Demgegenüber betont Thrift mit Bezug auf Jack Katz die reichhaltige Phänomenologie des Autofahrens – »research on automobility shows the world of driving to be as rich and convoluted as that of walking«.4 Im Autofahren würden neue Weisen der Verkörperung realisiert, in denen sich die technische Infrastruktur der Automobilität und habitualisierte Praktiken der Kommunikation, Taktiken der Fortbewegung durch den urbanen Raum und sinnlich aufgeladene (und zuweilen hoch emotionalisierte) Begegnungen zu einer »complex everyday ecology of driving«5 zusammenfügen. Autofahrer seien demnach weder unabhängig von dem technologischen System, zu dessen Teil sie unweigerlich werden, noch könne man ihre Handlungen als schlichte und berechenbare Apparatfunktionen begreifen. 1  | Vgl. Nigel Thrift: »Driving in the City«, in: Theory, Culture & Society 21/4-5 (2004), S. 41-59. 2  | Vgl. ebd., S. 42-45 sowie Michel de Certeau: Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1988 [frz. OA 1980], S. 179-182. 3  | Vgl. Thrift: »Driving in the City«, S. 44f. 4  | Ebd., S. 45. 5  | Ebd., S. 48.

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Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien

Interessanter noch als das phänomenologische Argument aber sind Thrifts Ausführungen zu einer Veränderung der Praxis des Autofahrens durch einen Prozess der sukzessiven Kybernetisierung, der sich zunächst als Zunahme von softwaregesteuerten Vorgängen in Kombination mit ergonomischen Optimierungen bemerkbar mache.6 Die präzise Durchmodellierung des Fahrvorgangs, die unter anderem auf Erkenntnisse der Phänomenologie zur verkörperten Praxis selbst zurückgreife, führe dazu, dass gerade jene Bereiche der Realität in die Sphäre der Berechen- und Optimierbarkeit hineingezogen würden, die sich der Repräsentation nach wie vor widersetzen.7 Thrift schlussfolgert: We therefore arrive in a world in which knowledge about embodied knowledge is being used to produce new forms of embodiment-cum-spatial practice which are sufficiently subtle and extensive to have every chance of becoming a new background to everyday life. 8

Die von Thrift beschriebene Dynamik lässt das Autofahren als hochgradig hybride Praxis erscheinen: Zum einen nimmt die Zahl der technischen Mediatoren stetig zu (man denke an ABS, elektronische Einparkhilfe, Abstandsmesser, Bremshilfen, Navigationssysteme etc.), während sich andererseits das Fahrerlebnis selbst immer intuitiver und gleichsam ›natürlich‹ anfühlen soll. An dieser Stelle lässt sich die Analyse auf die noch intimeren Verkörperungsweisen des Smartphonegebrauchs übertragen. Der vermeintlich simple Akt des Gehens selbst ist durch digitale Nahkörpertechnologien zu einem Schauplatz verteilter Agenturen geworden, innerhalb dessen Intentionalität und softwaregesteuerte Prozesse bis zur Unkenntlichkeit miteinander amalgamieren.9 Es ist ebendiese tiefgreifende und zeitlich ausgedehnte Durchdringung von Körper und technischem Apparat, die das historisch Neue dieser Konstellation ausmacht und worin sie sich von der Automobilität unterscheidet. Das technologische Unbewusste des Smartphones ist in verschiedener Hinsicht noch pervasiver und enger an die Subjekte gekoppelt als dasjenige eines individuellen Fortbewegungsmittels. In diesem Kapitel werde ich im Anschluss an die Auseinandersetzung mit dem technologischen Unbewussten digitaler Nahkörpertechnologien dessen kontrollhis6  | Vgl. ebd., S. 48-52. 7  | Vgl. ebd., S. 51: »[W]hat we can see is a concerted project to represent

the non-representational through scientific principles, mainly by working on the very small spaces and times of movement that can now be apprehended and worked with in order to produce a ›structural description of becoming aware‹«. Im Vokabular der vorliegenden Arbeit ließe sich dieser Prozess als Versuch des Capturing von Automatismen mit dem Ziel ihrer effizienten Bearbeitung und Optimierung fassen. 8  | Ebd., S. 52. 9  | Vgl. hierzu die detaillierteren Ausführungen in Kapitel 4.2.2 dieser Arbeit.

6. Postkybernetische Kontrollarchitekturen

torische Implikationen auf den Punkt bringen. Die in den beiden vorangehenden Kapiteln ausführlich herausgearbeitete Verschaltung von Körpern und Infrastrukturen, die für digitale Nahkörpertechnologien charakteristisch ist, soll nicht einfach neutral beschrieben, sondern mit Blick auf die sich daran knüpfenden Politiken kritisiert werden. Dazu wende ich mich zunächst Arbeiten aus dem Umfeld der Surveillance Studies zu, die vor allem ökonomische Konsequenzen einer umfassenden Verfügbarmachung von Orts- in Verbindung mit Verhaltensinformationen diskutieren. Abschließend soll die für digitale Nahkörpertechnologien charakteristische Verschränkung von körperlichem und technologischem Unbewusstem in einen kontrollhistorischen Zusammenhang mit der politischen Kybernetik gebracht werden, womit sich der Kreis zur bereits in der Einleitung thematisierten Kybernetisierung des Alltags schließt. Ziel des Kapitels ist folglich die Konturierung und Kritik postkybernetischer Kontrollarchitekturen.

6.1 D igitale E inhegungen Um zunächst allgemein den Dispositivcharakter der auf eine Erfassung räumlicher Relationen abhebenden Verdatungspraktiken herauszuarbeiten, ziehe ich Thesen aus den Surveillance Studies heran, in denen unter anderem auf die politische Ökonomie von sogenannten ›Digital Enclosures‹ hingewiesen wird.10 Eine solche Perspektive ist hilfreich, um den Fokus der Betrachtung von der häufig exklusiv im Vordergrund stehenden Frage nach dem gefährdeten Status von Privatheit bei der Nutzung von Smartphones zu lösen. Mark Andrejevic versteht unter »digital enclosure […] a space of universalized recognition and communication in which the places through which we move and the objects they contain recognize individuals and communicate with them (via portable devices)«.11 Dieser »space« wird bei Andrejevic nicht ausschließlich geografisch gedacht, obwohl die Rekonfiguration physischer Räume zu Informationsarchitekturen einen wichtigen Aspekt davon ausmacht.12 Die Disper10  | Zu den Surveillance Studies als Forschungsfeld innerhalb der Medien- und

Kulturwissenschaften vgl. Dietmar Kammerer/Thomas Waitz: »Überwachung und Kontrolle. Einleitung in den Schwerpunkt«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 13/2 (2015), S. 10-20, hier S. 12f. Dort werden als international bekannte Vertreter dieser Richtung neben dem hier im Vordergrund stehenden Mark Andrejevic noch Alexander R. Galloway, Kelly Gates und Shoshona Magnet angeführt, deren Beiträge sich als Bearbeitungen der Frage verstehen lassen, »in welcher Weise Medien – ihre Technologie, Logik, Ästhetik und Praxis – an den Dispositiven von Kontrolle und Überwachung konstitutiv beteiligt sind«. (Ebd., S. 12) 11  | Mark Andrejevic: »Surveillance in the Digital Enclosure«, in: The Communication Review 10/4 (2007), S. 295-317, hier S. 309. 12  | Vgl. ebd., S. 307. An anderer Stelle spricht Andrejevic davon, dass durch das Ausgreifen des kommerzialisierten Cyberspace in den physischen Raum

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sion interaktiver digitaler Technologien führe zu einer korrespondierenden Dichte von Überwachungsmechanismen, die insbesondere in ökonomischer Hinsicht interessant sind. Aus der freien Bewegung von Individuen im Raum generierte Daten, z. B. Geolokationsdaten in Verbindung mit Profildaten, die Auskunft über Konsumpräferenzen geben, können unter anderem an werbetreibende Unternehmen verkauft werden. So gesehen sind die alltäglichen Praktiken von Smartphonenutzern ökonomisch produktiv – Andrejevic spricht von »the work of being watched«.13 Dieser Typ von Arbeit ist nicht mehr mit den gängigen Begrifflichkeiten zu fassen. Eine derartige neomarxistische Perspektive auf veränderte Arbeitsverhältnisse innerhalb eines zunehmend informationsbasierten Kapitalismus führt, wie Till Heilmann in einem Überblicksartikel zu dieser Forschungsrichtung gezeigt hat, die »technologische[.] Komplizenschaft der digitalen Medien an der fortschreitenden Expansion kapitalistischer Verwertung«14 vor Augen. Heilmanns Kernthese fasst die Stoßrichtung der entsprechenden Ansätze zusammen: Er geht davon aus,

die Bewegungen vernetzter Individuen den Charakter eines realweltlichen ›Surfens‹ annehmen. Vgl. Mark Andrejevic: »Media and Mobility«, in: Angharad N. Valdivia (Hg.), The International Encyclopedia of Media Studies. Volume 1: Media History and the Foundations of Media Studies, Malden, Mass.: Wiley-Blackwell 2013, Kapitel 24, S. 11. 13  | Vgl. Mark Andrejevic: Reality TV. The Work of Being Watched, Lanham, Md.: Rowman & Littlefield 2004. Andere Autoren verwenden andere Begriffe für den gleichen Sachverhalt einer unbewussten bzw. freiwilligen Arbeit, unter anderem »immaterial labor« (Hardt/Negri) und »free labor« (Terranova). Vgl. Andrejevic: »Surveillance in the Digital Enclosure«, S. 304. 14  | Till A. Heilmann: »Datenarbeit im ›Capture‹-Kapitalismus. Zur Ausweitung der Verwertungszone im Zeitalter informatischer Überwachung«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 13/2 (2015), S. 35-47, hier S. 37. Heilmann nennt als weitere Vertreter einer auf die politische Ökonomie von Medien fokussierten Forschungsrichtung Antonio Negri, Maurizio Lazzarato, Yann Moulier-Boutang, Nick Dyer-Witheford und das Kollektiv Tiqqun. Entscheidend ist, dass in diesem Diskurs Überwachung und Kontrolle nicht vorwiegend als staatspolitisches Problem, sondern als integral für Verwertungsprozesse gesehen werden. Eine aktuelle Position zu dieser Debatte formuliert Shoshana Zuboff: »Big Other. Surveillance Capitalism and the Prospects of an Information Civilization«, in: Journal of Information Technology 30/1 (2015), S. 75-89. Zuboff warnt vor einem schleichenden Souveränitätsverlust von Konsumenten, deren Verhalten zunehmend weniger von Werbung als von einer gezielten Steuerung durch digitale Dienstleistungen beeinflusst werde, die auf Bestände von Verhaltensdaten zurückgreifen können. Dabei handele es sich um nicht weniger als eine Transformation des Kapitalismus von einer markt- zu einer überwachungsbasierten Form.

6. Postkybernetische Kontrollarchitekturen dass wir heute am Beginn einer gewaltigen Ausweitung des kapitalistischen Verwertungsgeschehens stehen, die technisch von Entwicklungen wie ubiquitous computing, wearable technology und smart environments getragen wird und in deren Zug durch umfassendes capture unserer individuellen und sozialen Existenz immer größere Teile auch des Privatlebens unter ökonomische Bedingungen gestellt werden. 15

Mit dem Begriff des ›Capture‹ bezieht sich Heilmann auf einen terminologischen Vorschlag Philip E. Agres, der damit ein alternatives Überwachungsmodell bezeichnet, innerhalb dessen individuelle Aktivitäten nicht nur beobachtet, sondern ›erfasst‹, d. h. kontrolliert und in spezifische Formen gebracht werden.16 Für diesen eher grammatischen als skopischen Typ der Überwachung sind Computer aufgrund ihrer Logik der diskreten Zerteilungen und quantitativen Verfahren prädestiniert. Aus beliebigen individuellen Aktivitäten und Weisen des Mediengebrauchs werden derart Daten generiert, die von Unternehmen profitabel verwertet werden können, wobei der Vorteil aus Unternehmenssicht darin besteht, dass vorstrukturierte Handlungen, z. B. die vorab definierten Möglichkeiten der Interaktion und Kommunikation auf Plattformen, vorstrukturierte Datenformate erlauben. Heilmann identifiziert die Logik des Capture, die auch begrifflich sehr eng an Andrejevics Enclosures liegt, als zentralen Wirtschaftsmechanismus des Internets in seiner gegenwärtigen Gestalt.17 Sie liegt im Kern der Kybernetisierung des Alltags, die mit digitalen Nahkörpertechnologien zur Debatte steht. Wie Wendy Chun gezeigt hat, stehen Capture-Systeme in einem Verhältnis der Koevolution mit habitualisierten Praktiken des Mediengebrauchs: »Capture systems are all about habitual actions. They seek to create new, more optimal habits; they record habitual actions in order to change them.«18 Unter Berufung auf Arbeiten Dan Schillers zum ›digitalen Kapitalismus‹ vergleicht Andrejevic das Modell der digitalen Einhegung mit der von Marx beschriebenen ur15  | Heilmann: »Datenarbeit im ›Capture‹-Kapitalismus«, S. 37. 16  | Ebd., S. 39f. sowie Philip E. Agre: »Surveillance and Capture. Two Modes of Privacy« (1994), in: Noah Wardrip-Fruin/Nick Montfort (Hg.), The New Media Reader, Cambridge, Mass.: MIT Press 2003, S. 737-760. Zur Geschichte des Tracking-Modells als Alternative zu visuellen Formen der Überwachung vgl Heidi Rae Cooley: Finding Augusta. Habits of Mobility and Governance in the Digital Era, Hanover, New Hampshire: Dartmouth College Press 2014, S. 83-89. 17  | Vgl. Heilmann: »Datenarbeit im ›Capture‹-Kapitalismus«, S. 40 und S. 43: »Überall löst das Surfen, um mit Gilles Deleuze zu sprechen, schon die alten Arbeitsformen ab.« 18  | Wendy Hui Kyong Chun: Updating to Remain the Same. Habitual New Media, Cambridge, Mass.: MIT Press 2016, S. 61. Vgl. außerdem Kapitel 4.2 der vorliegenden Arbeit zu Körpertechniken und die Ausführungen zu einem Datenbehavioralismus in Kapitel 7.

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sprünglichen Akkumulation in England seit Ende des 15. Jahrhunderts.19 Marx hatte die Anfänge des europäischen Kapitalismus als Prozess gewaltsamer Enteignungen dargestellt, die zu einer ›Befreiung‹ der dann besitzlos gewordenen Arbeiterklasse geführt habe, deren Mitglieder fortan gezwungen waren, ihre Arbeitskraft gegen Lohn zu verkaufen. Damit verbunden war auch die räumliche Separierung der Arbeiter von den Produktionsmitteln – dem zu bearbeitenden Land –, das nur noch im Rahmen vertraglich geregelter Arbeitsverhältnisse wieder betreten werden durfte. Mit der fortschreitenden Industrialisierung verlagerte sich der Produktionsprozess dann in umgrenzte und gut kontrollierbare Orte im Privatbesitz, zu denen der Zugang klar geregelt werden konnte – insbesondere die großen Fabriken des 19. Jahrhunderts. Die Geschichte des Kapitalismus verdanke sich wesentlich einer Naturalisierung dieser Verhältnisse, die auch von der Arbeiterklasse akzeptiert worden sei. Andrejevic formuliert nun die These: Much the same might be said of the emerging information economy, in which privatization of networks and databases and, therefore, of control over both the means of interaction and the information it generates has become the norm, despite the publicly subsidized character of the original Internet. 20

Im Client-Server-Modell des Cloud Computing sieht Andrejevic eine vergleichbare Separierung von Produzenten und Produktionsmitteln am Werk. Aufgrund der zunehmenden ökonomischen Bedeutung von ›immateriellen‹ Gütern wie Daten und Informationen sei die Speicherung derselben in kommerziell betriebenen Datencentern gleichsam als Prozess der Enteignung zu werten. Andrejevic räumt zwar ein, dass dieser Vorgang gewaltfrei vor sich gehe, weist aber zugleich auf die Verengung der gesellschaftlichen Vorstellungskraft bezüglich der privatisierten Internetökonomie hin.21 Viele Menschen fehle die Vorstellungskraft, wie eine Welt aussehen könnte, in der nicht privatwirtschaftliche Konzerne die Infrastruktur alltäglicher Kommunikation und Koordination bereitstellen. Insgesamt bildeten die diversen ›digitalen Einhegungen‹, die beispielsweise von Regierungsagenturen oder Unternehmen mit unterschiedlichen Zielsetzungen betrieben werden, ein komplexes und unübersichtliches Gesamtsystem: 19  | Vgl. Andrejevic: »Surveillance in the Digital Enclosure«, S. 301-307 sowie Dan Schiller: Digital Capitalism. Networking the Global Market System, Cambridge, Mass.: MIT Press 1999. Zum Modell der ursprünglichen Akkumulation vgl. Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Berlin: Dietz 1968 [1867], S. 741-791. 20  | Andrejevic: »Surveillance in the Digital Enclosure«, S. 304. Als plausibles Beispiel lässt sich die Privatisierung von halböffentlicher Kommunikation durch die Plattform Facebook anführen, die damit als neuartiges Ausbeutungsverhältnis lesbar wird. Vgl. Christian Fuchs: »The Political Economy of Privacy on Facebook«, in: Television & New Media 13/2 (2012), S. 139-159. 21  | Vgl. Andrejevic: »Surveillance in the Digital Enclosure«, S. 305f.

6. Postkybernetische Kontrollarchitekturen We can thus talk about different types of overlapping, intersecting, and embedded interactive enclosures – mobile phone networks, wireless internet networks, smart card readers, credit card systems, ATM networks, and so on. Each has a differing ability to provide access to information and other resources and to collect different types of information under different circumstances. […] Rather than a uniformly monitored space, then, we could map how a particular space is overlaid with varying (sometimes overlapping) surveillance capabilities. 22

Die Besonderheit von Smartphones ist in dieser Perspektive ihre üblicherweise zweifelsfreie Zuordnung zu einer Person, sodass sich aus den aggregierten Daten, die beispielsweise bei der Nutzung von Apps anfallen, eine weitgehend konsistente Überwachung zeiträumlicher Pfade und erwartbarer Verhaltensweisen von Individuen wie Gruppen ergibt. Das Smartphone stellt den regulierten Zugangspunkt zur Sphäre der digital gespeicherten Informationen dar: »As long as the phone is turned on, it serves as a passport into a monitored electromagnetic enclosure.«23 Digitale Nahkörpertechnologien werden somit zum Schlüssel zu einer Reihe von Dienstleistungen und Informationen, die als unverzichtbar betrachtet werden. Die ›Digital Enclosure‹ kann auch als Aufschreibesystem begriffen werden, innerhalb dessen jede über das Netz versendete Nachricht, jedes gepostete Video oder gekaufte Produkt, aber zunehmend auch jede Handlung in der physischen Welt wie Bewegungen oder soziale Interaktionen zumindest potenziell permanent erfasst werden kann. Shoshana Zuboff betont diese informationelle Dimension des Überwachungskapitalismus: »[W]hen it comes to information technology, automation simultaneously generates information that provides a deeper level of transparency to activities that had been either partially or completely opaque.«24 All diese Datenpunkte können in algorithmische Berechnungen einfließen und dann als Grundlage für Social Sorting, Verhaltensvorhersagen oder auch Empfehlungssysteme dienen.25 Sie erlauben in ökonomischen Kontexten neue Vertragsformen, die darauf basieren, das Verhalten der Vertragspartner – z. B. durch die Erfassung von Geolokations-

22  | Mark Andrejevic: »Ubiquitous Surveillance«, in: Kirstie Ball/Kevin D. Haggerty/

David Lyon (Hg.), Routledge Handbook of Surveillance Studies, London: Routledge 2012, S. 91-98, hier S. 93. 23  | Andrejevic: »Surveillance in the Digital Enclosure«, S. 308. 24  | Zuboff: »Big Other«, S. 76. 25  | Vgl. Andrejevic: »Ubiquitous Surveillance«, S. 97. Zu Social Sorting-Algorithmen vgl. David Lyon: »Surveillance as Social Sorting. Computer Codes and Mobile Bodies«, in: Ders. (Hg.), Surveillance as Social Sorting. Privacy, Risk, and Digital Discrimination, London: Routledge 2009, S. 13-30, zu Predictive Analytics Andrejevic: »Ubiquitous Surveillance«, S. 95f.

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daten, Timestamps und Fotos von besuchten Orten oder verrichteten Tätigkeiten – präzise zu überwachen.26 Die Stellung des Smartphones ist damit paradox: Es gehört zu den computerbasierten Informations- und Kommunikationstechnologien, die von Körpern abstrahieren, um Beziehungen jenseits von Situationen der Kopräsenz zu ermöglichen. Gleichzeitig aber bindet es diese medial vermittelten Trans- und Interaktionen wieder an ein Individuum zurück, das leicht identifiziert werden kann, und erlaubt so den administrativen und ökonomischen Zugriff auf verkörperte Subjekte.27 Angesichts dieser Entwicklungen erscheint die ökonomische Perspektive noch zu eng, um die Implikationen einer flächendeckenden Verbreitung digitaler Nahkörpertechnologien angemessen zu beurteilen. In einem letzten Schritt möchte ich daher das herausgearbeitete Verortungsdispositiv vor dem Hintergrund kybernetischer Konzepte von Kontrolle und Steuerung verstehen, die auch als politische Agenden aufgefasst werden müssen.

6.2 »A G od ’s Eye View of O urselves « – I ndividualisierte Verortung als postkybernetisches O rdnungsprojekt Das Unvorhersehbare managen, das Unregierbare regieren und nicht mehr versuchen, es abzuschaffen, das ist der erklärte Ehrgeiz der Kybernetik. Unsichtbares Komitee In the false placement of today’s most visible products and devices within an explanatory lineage that includes the wheel, the pointed arch, movable type, and so forth, there is a concealment of the most important techniques invented in the last 150 years: the various systems for the management and control of human beings. Jonathan Crary

26  | Vgl. Zuboff: »Big Other«, S. 81-83. Damit verbunden ist eine Individualisie-

rung von Risiken, z. B. in der Versicherungswirtschaft, insofern die Einhaltung von vertraglichen Vereinbarungen verbindlich sichergestellt werden kann. Vgl. zu diesem Punkt Wolfie Christl: »Die digitale Vermessung und Verwertung unseres Alltags. Über die gesellschaftlichen Risiken kommerzieller digitaler Überwachung im Zeitalter von Big Data und dem Internet der Dinge«, in: Günther Friesinger/Jana Herwig/Judith Schossböck (Hg.), Intimacy. Plug-in – Exploit – Care, Wien: edition mono/monochrom 2016, S. 47-61, hier S. 57. 27  | Vgl. Lyon: »Surveillance as Social Sorting«, S. 18.

6. Postkybernetische Kontrollarchitekturen

Das französische Autorenkollektiv Tiqqun vertritt die These, dass der politisch-ökonomische Liberalismus, gleichsam die Grundfabel der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs von einem neuen Denkansatz verdrängt worden sei, den sie die »kybernetische Hypothese« nennen.28 Darunter verstehen sie einen totalisierenden Komplex aus Dispositiven, d. h. eine Verquickung von Macht- und Wissenspraktiken, innerhalb dessen sämtliche Verhaltensweisen – egal, ob biologisch, technisch, oder sozial – als systemisch stabilisierte Zusammenhänge begriffen werden. Die Kybernetik, wie sie in den 1940er-Jahren im Rahmen der Macy-Konferenzen entwickelt worden ist, übernimmt in diesem Komplex die Rolle einer »Herrschaftstechnologie«29, d. h. sie ist mit Steuerung und Kontrolle der von ihr beschriebenen dynamischen Systeme befasst. Die Wissensgeschichte der Kybernetik wird von Tiqqun mit der großen epistemologischen Verunsicherung der Zwischenkriegszeit in Zusammenhang gebracht.30 Nach dem Zusammenbruch des newtonschen Physikmodells mitsamt seiner mechanistischen Annahmen, der mit dem zivilisatorischen Einbruch des Ersten Weltkriegs zusammenfiel, ergab sich verschärft »das metaphysische Problem der Begründung der Ordnung ausgehend von der Unordnung«31. Die Kybernetik erscheint in dieser historischen Situation »zwischen der neopositivistischen Restauration und der probabilistischen Revolution« als koordinierter Versuch, das »praktische Problem der Beherrschung von Unsicherheitsfaktoren« zu bearbeiten.32 Dazu liefert sie neue Konzepte und Ansätze wie Feedback, Information, Rauschen, Selbstorganisation und die Abstraktion von einer vorgängigen Differenzierung in organische und anorganische Systeme.33 Nicht zuletzt muss die Kybernetik als großes Ordnungsprojekt verstanden

28   |  Vgl. Tiqqun: Kybernetik und Revolte, Zürich: Diaphanes 2011 [frz. OA 2001]. 29  | Ebd., S. 12. Vgl. in diesem Sinne auch Dieter Mersch: Ordo ab chao - Order from Noise, Zürich: Diaphanes 2013, S. 78: »Kybernetik […] ist in erster Linie eine Regelungsdisziplin, deren Grundlage die Mathematik der Rekursion und deren Modell die Kanalisierung der Kommunikationsflüsse bildet, um von dort aus als Zentralmacht gesellschaftlicher Prozesse sowohl auf Pädagogik, Ökonomie, Politik, Kunst und Theologie überzugreifen.« 30  | Vgl. Tiqqun: Kybernetik und Revolte, S. 21f. 31  | Ebd., S. 21. 32  | Ebd. 33  | Vgl. Frédéric Neyrat: »Das technologische Unbewusste. Elemente für eine Deprogrammierung«, in: Erich Hörl (Hg.), Die technologische Bedingung. Beiträge zur Beschreibung der technischen Welt, Berlin: Suhrkamp 2011, S. 147178, hier S. 170: »Die Rückkopplung ist nichts anderes als ein Mittel, um gegen die Unordnung zu kämpfen.«

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werden, das sämtliche Phänomene auf einer mit generalisierbaren Konzepten zu bearbeitenden Ebene der Immanenz verortet. Eine kontrollhistorisch tiefergehende Betrachtung bringt die Kybernetik mit den durch den Produktivitätszuwachs der Industriellen Revolution in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts notwendig gewordenen Entwicklung von Informations- und Kommunikationstechnik in Verbindung.34 Die ›Informationsgesellschaft‹ wird in James Benigers Darstellung zum historischen Resultat einer Krise der Kontrolle, die ihre Wurzeln in der Beschleunigung der materiellen Produktions-, Distributionsund Transportmechanismen während des 19. Jahrhunderts hat (insbesondere die Eisenbahn ist hier zu nennen). Erich Hörl bezeichnet die »Steuerungsrevolution um 1900 und die weitere Expansion des Kontrollparadigmas durch die Kybernetik erster Ordnung unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg«35 als erste große Phase in der Entwicklung der gegenwärtigen Kontrollkultur. Als zweite Phase nennt er die Kybernetik zweiter Ordnung seit den späten 1960er-Jahren, die insbesondere auf Lernen, Selbststeuerung und Autopoeisis abhebt. Die um 2000 einsetzende dritte Phase schließlich bezeichne die neokybernetische Gegenwart, in der es zu einer »Explosion umweltlicher Handlungsmacht«36 komme. »Ihr Leitproblem ist die Erfassung (capture) und die Kontrolle, das Management, die Modulation des Verhaltens, der Affekte, der Beziehungen, von Intensitäten und Kräften durch umweltliche (Medien) Technologien«.37 Am Horizont zeichne sich die sogenannte ›Technosphäre‹ ab, d. h. eine autonomisierte Technologie globalen Ausmaßes, die an die Stelle der gewohnten Biosphäre tritt.38 Ausgehend von einer Beschreibung von Norbert Wieners Aircraft Predictor zum Abschuss von feindlichen Flugzeugen kommt Tiqqun zu dem Schluss, dass »[d]ie ganze Geschichte der Kybernetik […] darauf ausgerichtet [sei], die Unmöglichkeit, gleichzeitig die Position und das Verhalten eines Körpers zu bestimmen, aus dem Weg zu räumen.«39 Der Lösungsansatz läuft insbesondere darauf hinaus, einen optimalen Fluss von Informationen durch die analysierten Systeme sicherzustellen, sodass sich Ungewissheiten als wechselnde Informationszustände innerhalb von Zeitreihen darstellen lassen. Der Grad der Abweichung von der Erreichung eines gewünschten Gleichgewichtszustands kann dann iterativ als Rückkopplung wieder in das System eingespeist werden, so lange, bis der gewünschte Zustand erreicht ist. 34  | Vgl. James R. Beniger: The Control Revolution. Technological and Econom-

ic Ori-gins of the Information Society, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1986. 35  | Erich Hörl: »Die Ökologisierung des Denkens«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 14/1 (2016), S. 33-45, hier S. 41. 36  | Ebd., S. 42. 37  | Ebd. 38  | Vgl. ebd., S. 42-45 sowie Peter Haff: »Humans and Technology in the Anthropocene. Six Rules«, in: The Anthropocene Review 1 (2014), S. 126-136. 39  | Tiqqun: Kybernetik und Revolte, S. 22.

6. Postkybernetische Kontrollarchitekturen

Erkenntnisse aus dem transdisziplinären Wissensfeld der Kybernetik kommen in so unterschiedlichen Bereichen wie Neuropathologie, Computerwissenschaft, Psychologie und Pädagogik zum Einsatz.40 Aus der Kybernetik wird spätestens in den 1960er-Jahren ein explizit politisches Projekt. Die Auflösung klassischer Hierarchien in vielen Bereichen der Gesellschaft, unter anderem aufgrund der Erfolge verschiedener sozialer Bewegungen, machte neue Regierungstechnologien erforderlich. Ein effektives Regieren in weitgehend dezentral und netzwerkförmig aufgebauten Gesellschaften, die zunehmend als Unsicherheitsfaktoren erscheinen, bedeutet nunmehr, eine rationelle Koordination von Informations- und Entscheidungsströmen, die im Gesellschaftskörper zirkulieren, zu erfinden. Dazu sind […] drei Voraussetzungen notwendig: eine Reihe von Empfangsorganen installieren, damit keine Information, die von den ›Subjekten‹ kommt, verlorengeht; die Informationen durch Vergleichung und Verknüpfung verarbeiten; sich in der Nähe jeder lebenden Gemeinschaft ansiedeln. 41

Das Smartphone als miniaturisierter und personalisierter Computer besetzt – so meine These – exakt die in der politischen Kybernetik programmatisch angekündigte Funktionsstelle von Empfangsorganen, die sich gemeinsam mit den zu regierenden Subjekten durch den Raum bewegen. Sie stellen die verteilte und mobile Sensorik eines Steuerungs- und Kontrollsystems dar, das metaphorisch häufig als gesellschaftliches Nervensystem verstanden wird.42 Ähnliche Vorstellungen waren bereits im 19. Jahrhundert als Begleitdiskurs der Telegrafie populär, allerdings nicht in der personalisierten Variante, die mit mobilen digitalen Medien umgesetzt wird. Ubiquitäre und pervasive Sensoren wie Smartphones nähren im Vergleich das Imaginäre eines umfassenden »reality mining«, d. h. die Generierung und fortlaufende Aktualisierung von Daten über eine große Breite an Phänomenen und die Implementierung von selbstregulierenden Feedback-Systemen, die auf Mustererkennung 40  | Claus Pias: »Zeit der Kybernetik – Eine Einstimmung«, in: Ders (Hg.), Cy-

bernetics I Kybernetik. The Macy-Conferences 1946-1953. Band II: Essays und Dokumente, Zürich/Berlin: Diaphanes 2004, S. 9-41, hier S. 37-41 enthält eine Liste von deutschsprachigen, selbständigen Publikationen zur Kybernetik zwischen 1955 und 1975 – der Hochzeit der akademischen Rezeption der Kybernetik. 41  | Tiqqun: Kybernetik und Revolte, S. 18. Tiqqun beziehen sich hier auf Karl W. Deutsch: Politische Kybernetik. Modelle und Perspektiven, Freiburg im Breisgau: Rombach 1973 [amerik. OA 1963], das Buch, in dem erstmals systematisch die politische Anwendbarkeit der kybernetischen Modelle ausgelotet wurde. 42  | Vgl. Regine Buschauer: »(Very) Nervous Systems. Big Mobile Data«, in: Ramón Reichert (Hg.), Big Data. Analysen zum digitalen Wandel von Wissen, Macht und Ökonomie, Bielefeld: transcript 2014, S. 405-436, hier S. 405-407.

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basieren.43 Insbesondere sind hier Veröffentlichungen des MIT-Computerwissenschaftlers Alex Pentland zu nennen, der die Vision einer konvergenten Medien- und Sensortechnik propagiert, die in naher Zukunft ein »control framework« für Verhaltensprognosen bereitstellen werde.44 Der Intimate Computer in der Hosentasche wird in machttheoretischer Hinsicht somit zur Schlüsseltechnologie bei der Ersetzung institutionalisierter Einschließungsregime wie Gefängnis, Fabrik und Klinik.45 Foucault hatte die Disziplin unter anderem als »Technik der Transformation von Anordnungen« beschrieben, die »die Körper durch eine Lokalisierung [individualisiert], die sie nicht verwurzelt, sondern in einem Netz von Relationen verteilt und zirkulieren läßt«.46 Dazu bediene sie sich unter anderem des Prinzips der Parzellierung als Form der analytischen Raumstrukturierung: Jedem Individuum seinen Platz und auf jeden Platz ein Individuum. Gruppenverteilungen sollen vermieden, kollektive Einnistungen sollen zerstreut, massive und unübersichtliche Vielheiten sollen zersetzt werden. Der Disziplinarraum hat die Tendenz, sich in ebenso viele Parzellen zu unterteilen, wie Körper oder Elemente aufzuteilen sind. Es geht gegen die ungewissen Verteilungen, gegen das unkontrollierte Verschwinden von Individuen, gegen ihr diffuses Herumschweifen, gegen ihre unnütze und gefährliche Anhäufung: eine Antidesertions-, Antivagabondage-, Antiagglomerationstaktik. Es geht darum, die Anwesenheiten

43  | Vgl. Buschauer: »(Very) Nervous Systems«, S. 405 und Alex Pentland: »Re-

ality Mining of Mobile Communications. Toward a New Deal on Data«, in: Soumitra Dutta/Irene Mia (Hg.), The Global Information Technology Report 2008-2009. Mobility in a Networked World, Genf: World Economic Forum, S. 75-80, S. 77: »In short, reality mining is beginning to provide the capacity to collect and analyze data about people with a breadth and depth that was previously inconceivable. Current work using reality mining techniques is underway in a variety of applications. For example, reality mining studies of voice, communications, and mobility patterns have already demonstrated the ability to screen for depression, infer quality-of-life metrics, and develop financial indexes for individual neighborhoods.« 44  | Vgl. ebd., S. 80: »Revolutionary new measurement tools provided by mobile telephones and other digital infrastructures are providing us with a God’s eye view of ourselves.« 45  | Vgl. hierzu die klassischen historischen Studien Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977 [frz. OA 1975], Ders.: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt a. M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag 2008 [frz. OA 1963] und Ders.: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2013 [frz. OA 1961]. 46  | Foucault: Überwachen und Strafen, S. 187.

6. Postkybernetische Kontrollarchitekturen und Abwesenheiten festzusetzen und festzustellen; zu wissen, wo und wie man die Individuen finden kann; die nützlichen Kommunikationskanäle zu installieren und die anderen zu unterbrechen; jeden Augenblick das Verhalten eines jeden zu überwachen und sanktionieren zu können; die Qualitäten und die Verdienste zu messen. Es handelt sich also um eine Prozedur zur Erkennung, zur Meisterung und zur Nutzbarmachung. Die Disziplin organisiert einen analytischen Raum.47

Die von Andrejevic beschriebenen ›Digital Enclosures‹ stellen vor dem Hintergrund der kybernetischen Hypothese zugleich eine Flexibilisierung wie eine Ausweitung des von Foucault für die Disziplinarregime beschriebenen Parzellierungsprinzips dar. Als in den 1990er-Jahren in den USA das E911-System zur Lokalisierung von Mobiltelefonen in einem Radius von ca. 100 Metern eingeführt wurde, das Notdiensten die Arbeit erleichtern sollte, kommentierte ein Kritiker: »[Y]our phone has become an ankle bracelet«.48 Gegenüber einer räumlich konzentrierten Tätigkeit an einem streng regulierten Ort erlaubt das Smartphone die Ausweitung der Sphäre der Arbeit in sämtliche Lebensbereiche, sodass sich eine postfordistische Arbeitskultur des permanenten Stand-By entwickeln kann.49 Mobile Health-Anwendungen und erste Ansätze, das Smartphone als Ferndiagnose- und Überwachungs-Tool in der neo-behaviorialistischen Psychologie einzusetzen, reduzieren die Notwendigkeit, medizinische Behandlungen an einem dezidierten und geschlossenen Ort wie einer Klinik durchzuführen.50 Nicht nur für Anwender sind Smartphones Multi47  | Ebd., S. 183f. 48  | James Dempsey, Center for Democracy and Technology, zitiert in Chris Oakes:

»›E911‹ Turns Cell Phones into Tracking Devices«, auf: Wired.com, dort datiert am 1.6.1998, http://archive.wired.com/science/discoveries/news/1998/01/9502, zul. aufgeruf. am 2.2.2017. 49  | Vgl. Franco Berardi: The Soul at Work. From Alienation to Autonomy, Los Angeles, Cal.: Semiotext(e) 2009, S. 90: »In a certain sense, cellular phones realize the dream of capital: that of absorbing every possible atom of time at the exact moment the productive cycle needs it. In this way, workers offer their entire day to capital and are paid only for the moments when their time is made cellular.« 50  | Zu letzterem Punkt vgl. Geoffrey Miller: »The Smartphone Psychology Manifesto«, in: Perspectives on Psychological Science 7/3 (2012), S. 221-237, hier S. 227: »Smartphones uniquely combine a capacity to gather precise, objective, sustained, ecologically valid field observations of real-world behavior by very large numbers of people and a capacity to run perceptually and behaviorally rich experiments with those same people. […] They also offer new possibilities for diagnosis, treatment, interventions, applications, and training, for example, in clinical, educational, health, military, organizational, and sports psychology and also in psychiatry«. Vgl. auch die in Kapitel 3.2.4 diskutierten Beispiele eines Intimate Computing im Bereich der Gesundheitstechnik.

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funktions-Tools, sondern auch aus Sicht von Institutionen mit Überwachungs-, Regelungs- und Steuerungsbedarf. In all diesen Bereichen liegt der Vorteil des Smartphones aus Sicht der jeweiligen Kontrollinstanz – Regierungsinstitutionen, Wissenschaftler, private Firmen – darin, in einem gewissem Grade über ein körpernahes Stück Technologie verfügen zu können, das mit einer Vielzahl von Sensoren ausgestattet ist, die den physischen Ort von Individuen mit einer Reihe weiterer Parameter verknüpfen und so Prognosen über wahrscheinliches Verhalten möglich machen. Digitale Nahkörpertechnologien sind integrale Bestandteile einer postkybernetischen Infrastruktur der Kontrolle. Präziser gefasst, besteht das Spezifische des postkybernetischen Kontrollregimes darin, stabilisierte Bedingungen zu generieren, an denen sich Verhalten orientieren kann, sodass vom Modus der Prognose zu einem generativen Modell übergegangen werden kann.51 Es geht mithin um eine möglichst weitgreifende Durchstrukturierung und Verwaltung des Möglichkeitsraums selbst, und weniger um individuell-präzise Verhaltensprognosen. Um abschließend noch einmal auf die in Kapitel 2.6 bereits behandelte Differenzierung von Apparat und Dispositiv zu sprechen zu kommen, lässt sich die These formulieren, dass das Smartphone ein technischer (Basis-)Apparat ist, der von einer ganzen Reihe von »Überwachungs- und Erfassungsdispositiven«52 für ihre jeweiligen Zwecke eingespannt werden kann. Es stellt einen Überlappungs- und Konvergenzpunkt diverser ›Digital Enclosures‹ dar, die in ihrer Gesamtheit von Tiqqun als kybernetische Hypothese beschrieben werden und die auf je verschiedene Weise Subjektivierungsvektoren realisieren. Das Smartphone bietet einer Reihe von Dispositiven eine durch die »Zusammenschaltung von Körper und Objekt«53 eng mit den zu regierenden Individuen verbundene technische Basis, die unter anderem als Rückkanal für Informationen dient, aber auch Ansatzpunkte der direkten Steuerung von Verhalten bietet. Viele Möglichkeiten der Einflussnahme setzen an der Kommunikation an – Kommunikation von Menschen untereinander in ihren jeweiligen sozialen Netzwerken oder auch von Geräten und Sensoren mit anderen Geräten, die 51  | Vgl. Patricia Clough in Svitlana Matviyenko/Patricia Clough/Alexander R. Gallo-

way: »On Governance, Blackboxing, Measure, Body, Affect and Apps. A Conversation with Patricia Ticineto Clough and Alexander R. Galloway«, in: The Fibreculture Journal 25 (2015): Apps and Affect, S. 10-29, hier S. 24. Felix Stalder: Kultur der Digitalität, Berlin: Suhrkamp 2016, S. 218 fasst die anbieterseitigen Verwendungsmöglichkeiten von Daten so zusammen: »Man kann sie erstens dazu nutzen, um mit personalisierter Werbung Einnahmen zu erzielen, zweitens, um Nutzerverhalten mit immer größerer Wahrscheinlichkeit vorherzusehen, und drittens, um die Parameter der Interaktion so anzupassen, dass präferierte Verhaltensmuster wahrscheinlicher werden.« 52  | Heilmann: »Datenarbeit im ›Capture‹-Kapitalismus«, S. 45. 53  | Foucault: Überwachen und Strafen, S. 196.

6. Postkybernetische Kontrollarchitekturen

Teil eines als Verbundsystem gedachten Apparats bilden.54 Daneben gibt es aber eine ganze Reihe von Datenquellen, die von personalisierten Sensoren ›hinter dem Rücken‹ der Beteiligten ausgewertet werden und die Informationen über Verhaltensdispositionen und erwartbare Handlungspräferenzen liefern, die den Akteuren häufig selber nicht bewusst sind.

6.3 Fazit Zur materiellen Infrastruktur digitaler Nahkörpertechnologien gehören die in Kapitel 5 bereits erwähnten Serverfarmen der Internetkonzerne, in denen Daten akkumuliert, gespeichert und mit algorithmischen Verfahren bearbeitet werden. These loom on the landscape like depopulated afterimages of industrial-era factories, inhabited not by workers, inmates, or patients, but by the combined data doubles of all of them: enclosures not of people, but of information about people assembled for the purposes of both assisting them and managing them more effectively. 55

Andrejevics Beschreibung der Anlagen zur Datenverarbeitung liest sich wie eine verblüffende und folgenreiche Umkehrung des aus dem Science-Fiction-Films The Matrix (1999) bekannten Arrangements: Im Film sind die physischen Körper von Menschen in die Lebensfunktionen erhaltende Tanks eingesperrt, während den Bewusstseinen eine kollektive virtuelle Realität vorgespielt wird, in der die Subjekte als Datenkonstrukte vergleichsweise frei agieren können. Gleichzeitig wird den lebenden Körpern Bioenergie abgeführt, die von der herrschenden Klasse von Robotern für die Systemerhaltung erforderlich ist, womit sie zu unfreiwilligen und unwissentlichen Arbeitern (genauer: Sklaven) des bestehenden Regimes werden. Die Realität der Kontrollarchitekturen sieht anders aus: Hier sind es die Datendoubles, die in lagerhallenähnlichen Datencentern aufgebahrt sind und durch Big Data-Verfahren der Mustererkennung profitabel gemacht werden, während die zu diesen Datensätzen gehörenden organischen Körper sich frei durch den physischen Raum bewegen können.56 54 | Vgl. die Werbebotschaft des in Kapitel 3.2.3 besprochenen ersten PDA Apple Newton: »Newton lets you communicate with the whole world and if there’s anything this world could use it is more communication.« (»Apple Newton ad – What is Newton?«, auf: YouTube.com, https://www.youtube.com/watch?v=Bh-yed48e0Y#t=10, zul. aufgeruf. am 2.2.2017) 55  | Andrejevic: Surveillance in the Digital Enclosure, S. 310. 56  | Die Fabrikmetapher sollte allerdings nicht dazu verleiten, (Meta)Daten als natürliche Ressource misszuverstehen, die lediglich abgeschöpft und weiterverarbeitet werden müsse. Jede Mustererkennung und damit jede Datenaus-

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Als körperbezogenes Empfangsorgan ist das Smartphone zugleich Tracker (es kann jederzeit geortet, und dieser Vorgang mit Kontextinformationen angereichert werden) wie Token, d. h. Interface zu einer Reihe von zunehmend unverzichtbarer erscheinenden Services. Weil das Smartphone sowohl an einem körperlichen wie an einem technologischen Unbewussten partizipiert, ist es gleichermaßen als Teil von Subjektivierungsprozessen wie von digitalen Infrastrukturen zu beschreiben. In Prozessen der Verkörperung begegnen sich die beiden Dimensionen: So beschreibt Jason Farman die erweiterte Propriozeption der Spieler von Geoaching-Games, die sich simultan sowohl mit ihren leiblichen Körpern durch physische Umgebungen als auch in einem virtuellen Spielfeld bewegen.57 Die entscheidende Einsicht, auf die ich in diesem Kapitel hinweisen wollte, ist, dass diese Konstellation nicht nur für die Spieler von Mobile Games gilt, sondern dass sie grundlegend ist für alle Nutzer von Smartphones, ob sie sich dessen bewusst sind oder nicht. Die grundlegenden Kapazitäten der Geräte zur Datenerfassung, -lokalisierung und -kontextualisierung machen sie zur apparativen Basis von postkybernetischen Kontroll- und Steuerungsregimen, seien sie privatwirtschaftlicher, staatlicher oder wissenschaftlicher Herkunft. Das folgende letzte Kapitel wird die verschiedenen in der Arbeit gelegten Stränge – die Genealogie und Gegenwart des Intimate Computing, die verkörperten Praktiken des Smartphonegebrauchs und die verschiedenen Ebenen des technologischen Unbewussten – an einem Beispiel aus der Praxis der Mobile Data Science zusammenführen. Daran soll noch einmal in aller Deutlichkeit die medienanthropologische Bedeutung digitaler Nahkörpertechnologien aufgezeigt und mit einer Dimension der kollektiven Sinnstiftung und Identitätsbildung anhand von Daten verknüpft werden.

wertung erfolgt in einem bestimmten Kontext und dient identifizierbaren Interessen. Vgl. van Dijck: »Datafication, Dataism and Dataveillance«, S. 202: »Raw data do not go in at one end of the digital assembly lines managed by Google or Facebook while processed information comes out at the other end […]. Metadata are value-laden piles of code that are multivalent and should be approached as multiinterpretable texts.« 57  | Vgl. Jason Farman: Mobile Interface Theory. Embodied Space and Locative Media, New York: Routledge 2012, S. 87-89.

7. Fazit und Ausblick: Mobile Data Science, Daten-Behaviorismus und Kybernetisierung des Alltags

Die vorliegende Arbeit hat in medienanthropologischer Absicht digitale Nahkörpertechnologien, darunter primär das Smartphone, als Selbst-Technologien mit subjektivierender Wirkung und als verteilten Apparat beschrieben. Es wurde historisch und systematisch gezeigt, wie sich in der Mediengeschichte des Personal Computers angelegte Ansätze eines Intimate Computing zu den heutigen digitalen Nahkörpertechnologien verhalten. Für die Verkörperungsprozesse ebendieser Technologien hat die Arbeit ein begriffliches Rahmenvokabular vorgestellt und diskutiert, wobei insbesondere auf charakteristische Szenen des nicht-bewussten, weitgehend habitualisierten Gebrauchs abgehoben wurde. Schließlich wurde diskutiert, wie die das Smartphone ermöglichenden Infrastrukturen und die sich an diese anlagernden Datenprozesse – insbesondere solche der Lokalisierung – als technologisches Unbewusstes digitaler Nahkörpertechnologien konzipiert werden können. In diesem Kapitel werde ich zunächst die wesentlichen Ergebnisse der Arbeit zusammenfassen. Hiervon ausgehend wird die zentrale Position digitaler Nahkörpertechnologien für eine radikal datenbasierte epistemologische Formation thematisiert, die bereits über den Gegenstand der Arbeit hinausweist. Dazu diskutiere ich ein Beispiel aus der Praxis der Mobile Data Science. Mit dem Appell für eine verstärkte Aufmerksamkeit für die politische Dimension von Interfaces endet die vorliegende Arbeit. Zu Beginn der Arbeit entwickle ich eine Definition digitaler Nahkörpertechnologien, die diese als portable internetfähige Computer fasst, welche aufgrund ihrer Größe und Form sowie der temporalen Intensität ihrer Nutzung einen privilegierten Körperbezug aufweisen. Die gängige Bezeichnung ›Smartphone‹ ist damit insofern irreführend, als sie die Geräte primär in einer Genealogie mobiler Telefonie verortet, während es sich dabei vielmehr um mobile Kleincomputer handelt. Zwar gibt es Kontinuitäten bei den mit dem Artefakt verbundenen Praktiken, aber insgesamt müssen ihm völlig andere mediale Qualitäten zugeschrieben werden. Einen Schwerpunkt der gesamten Arbeit macht die Beobachtung einer Diskrepanz von Intimität und Ferne

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Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien

aus: Ist das Smartphone einerseits persönliches Medium der Konnektivität im körperlichen Nahraum, stellt es gleichzeitig den sichtbaren Teil einer verteilten physischen Infrastruktur dar, die hinter der suggestiven Handlichkeit des Geräts zurücktritt. Ausgehend von dieser Diskrepanz mache ich den systematischen Vorschlag, in der Beschreibung von Smartphones und Smartphonenutzern relationale Momente zu fokussieren, also danach zu fragen, in welchen Verhältnissen Geräte, Nutzer und Umwelten zueinander stehen. Das Smartphone erscheint in dieser Perspektive zunächst als Selbst-Technologie, mittels derer Subjekte ein Verhältnis zu sich selbst herstellen. Als zentrales Artefakt der Netzwerkökonomie ist es Teil eines Bündels subjektivierender Praktiken, die u. a. auf erhöhte Flexibilität, Konnektivität und Selbstmanagement abzielen. Nahkörperlich genutzte Medientechnik, das ist ein Ergebnis der Arbeit, hat an der Konstitution eines bestimmten Subjekttyps und Selbstverhältnisses als Selbst-in-Relation Anteil. Es handelt sich dabei nicht um ein verinnerlichtes, sondern um ein entäußertes, verteiltes und dezentrales Selbst, das primär über Beziehungen, Verbindungen und Verdatungen definiert wird. Das nur vermeintlich geschlossene Objekt Smartphone kann in analoger Weise als Objekt-in-Relation bestimmt werden, als Teil eines Apparats, mit dem es in ständiger Verbindung steht und auf dessen Existenz es in seiner Funktionalität angewiesen ist. Den Begriff des Apparats grenze ich zu diesem Zweck gegen den in den Medienwissenschaften gängigeren Dispositivbegriff ab, um die Technizität, die nicht-bewusste Selbsttätigkeit und die Stabilität des damit bezeichneten technischen Ensembles aus physischen und ›immateriellen‹ Infrastrukturen zu betonen. Im Rahmen eines medienhistorischen Präludiums gehe ich Verbindungen der heutigen Erscheinungs- und Nutzungsweisen digitaler Nahkörpertechnologien zur Kultur- und Aneignungsgeschichte des Personal Computers seit den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren nach. In diesem Zeitraum bildete sich erstmals eine Imagination des Computers als persönliche Maschine der Informationsverarbeitung heraus, womit eine programmatische ›Befreiung‹ der primär bürokratischzentralistisch eingesetzten Computertechnik aus ihren zunächst exklusiv militärischen und später wissenschaftlichen Verwendungskontexten verbunden war. Die Genese des Personal Computing vollzog sich als widersprüchlicher Prozess, an dem neben Computeringenieuren und militärischen sowie öffentlichen Geldgebern auch Vertreter der kalifornischen Gegenkultur um den Whole Earth Catalog beteiligt waren. Die technischen Innovationen in dieser Zeit wurden mit verschiedenen Subjektivierungsprogrammen verknüpft, beispielsweise mit der Figur des technikaffinen Hippies, aus der im Laufe der Jahrzehnte der Typus des Entrepreneurs in der digitalen Kreativindustrie hervorgehen sollte. Der PC selbst wurde im Zuge dieser Entwicklung mit Vorstellungen von Autarkie, Selbstbestimmtheit und individueller Leistungssteigerung assoziiert, die radikal vom dominanten technokratischen Modell des ›Organization Man‹ abwichen, und die sich in Anforderungskataloge zu den gewünschten Eigenschaften von Arbeitnehmern in einer flexiblen Netzwerkökonomie übersetzen ließen. Eine detailliertere Fallstudie zur Konstellation eines Intimate Computing ver-

7. Fazit und Ausblick

bindet die Kultur- und Mediengeschichte des PCs mit den heute verbreiteten digitalen Nahkörpertechnologien. Der Learning Research Group am Xerox PARC ging es in den 1970er-Jahren unter der Leitung von Alan Kay um eine Intimisierung von Nutzerschnittstellen im Sinne einer engen kognitiven Kopplung von Subjekten und Artefakten. Als konzeptionelle bzw. praktische Umsetzungen dieser Vorstellungen können das Dynabook (1970er-Jahre) und der Apple Newton (1990er-Jahre) gelten. Von Intimate Computing ist seitdem in verschiedenen Kontexten die Rede: Zwischen dem medienpädagogischen Projekt der 1970er-Jahre und dem Einsatz als Marketingparole der 2010er-Jahre liegt allerdings eine Reihe diskursiver Umbesetzungen. Diese erklärt auch die völlig veränderte Konnotation von Intimität in den verschiedenen Bezugnahmen: Von der Bedeutung einer kognitiven Vertrautheit verschiebt sie sich in Richtung Körpernähe und einer konstanten Datenerfassung in Form von Lifelogging. Damit ist der neue Anspruch verbunden, dass die Objektivität von Daten als Entscheidungsgrundlage auch in intimsten Bereichen der eigenen Lebensführung dienen kann, während die Datenprozesse im Backend der Interfaces gleichzeitig zur Basis von Verwertungs-, Optimierungs- und Überwachungsprozessen werden. Die Kopplung von Subjekten und (mobilen) Computern vollzieht sich damit in anderer Weise als von den Personal Computer-Pionieren intendiert. Das Herzstück der Arbeit bildet eine theoretisch-systematische Beschreibung der anthropomedialen Kopplungsverhältnisse zwischen Menschen und digitalen Nahkörpertechnologien in technologisch gesättigten Umwelten. Im Anschluss an philosophische und soziologische Arbeiten zur Verkörperung von Kognition und sozialen Praktiken argumentiere ich, dass der Smartphonegebrauch zu entscheidenden Teilen einer Sphäre körperlich-unbewusster Automatismen zuzurechnen ist. Aus einer medienkulturwissenschaftlichen Perspektive geht es damit um »die vorsymbolischen, nicht-diskursiven, nicht-intentionalen Bedingungen symbolischer Repräsentationen«1, also um körperliche Prozesse, die als Bedingungsgefüge dem Mediengebrauch logisch vorangehen. Drei Konzepte sind besonders geeignet, um die Verkörperungen digitaler Nahkörpertechnologien begrifflich zu erfassen: Affordanzen, Körpertechniken und Körperschema. Mit dem in der anwendungsbezogenen Literatur zur HCI häufig verwendeten Begriff der Affordanzen werden Zusammenhänge zwischen Wahrnehmung und (unreflektiertem) Handeln, insbesondere im Umgang mit gestalteten Objekten, diskutiert. Wird der Begriff zu seinen Wurzeln in der ökologischen Wahrnehmungspsychologie (James J. Gibson) zurückverfolgt, kann er in Richtung einer Beschreibung der Beziehungen zwischen medientechnisch aufgerüsteten Individuen und ihren Umwelten erweitert werden. Insbesondere wird dann der Umstand berücksichtigt, dass Smartphones eigene Affordanzen mit der Umwelt ausbilden, das heißt andere Kopplungsverhältnisse mit dieser eingehen als ihre Träger. Das gezielte Management dieser vom 1  | Sibylle Krämer: »›Performativität‹ und ›Verkörperung‹. Über zwei Leitideen

für eine Reflexion der Medien«, in: Claus Pias (Hg.), Neue Vorträge zur Medienkultur, Weimar: VDG 2000, S. 185-197, hier S. 189.

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Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien

Bewusstsein nicht kontrollierten Affordanzen zwischen technischem Objekt und Umwelt ist ein zentrales Operationsfeld environmentaler Governance. Mit dem medienanthropologisch bereits etablierten Konzept der Körpertechniken lassen sich Ansätze zu einer Praxeologie des alltäglichen Smartphonegebrauchs entwickeln, wobei im Vergleich zum Affordanzen-Ansatz der zeitliche Aspekt kultureller Praktiken in den Mittelpunkt des Interesses rückt. Die Ausbildung von Gewohnheiten wird hierbei besonders fokussiert, weil somatische Praktiken, die technische Artefakte routinemäßig miteinbeziehen, einem Prozess der Naturalisierung unterliegen und letztlich zur sozialen Identitätsbildung beitragen. Es geht dabei nicht nur um taktile Bediengesten, also um das Umgehen mit Interfaces im engeren Sinn, sondern um Fragen der räumlichen Orientierung und Mobilität, die beispielsweise die Transformation des Gehens im urbanen Raum betreffen. Dieses, so ein Ergebnis der Untersuchung, wandelt sich zu einem mehrdimensionalen Beziehungsgefüge, innerhalb dessen jederzeit flexibel zwischen Referenzebenen wie nah/fern, privat/öffentlich, etc. gewechselt werden muss. Insgesamt lässt sich festhalten, dass Körpertechniken durch digitale Nahkörpertechnologien verstärkt zum Gegenstand sozialtechnischer, ökonomischer und technologischer Kalküle werden, womit sie auf eine neue Weise von Regierungstechniken durchwirkt sind. Schließlich kann mit Hilfe des Konzepts des psycho-biologischen Körperschemas eine topologische Bestimmung digitaler Nahkörpertechnologien als Teil einer körperlich bestimmten Ich-Identität vorgenommen werden. Das Körperschema beeinflusst fundamental die eigene Körperwahrnehmung und reguliert darüber hinaus die Beziehungen des Körpers zu seiner Umwelt, z. B. durch temporäre Kopplungen mit Objekten der Umgebung. In einer historischen und systematischen Rekonstruktion des Konzepts diskutiere ich die von Paul Schilder eingeführte Prozessperspektive auf das Körperschema und berücksichtige Maurice Merleau-Pontys Neubestimmung des Körperschemas als körperliche Infrastruktur, auf der höhere Bewusstseinsfunktionen aufsitzen, was die »Frage nach der Subjektivität leiblicher Existenz«2 aufwirft. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der kulturellen Konstruiertheit von Körpergrenzen, wobei das Smartphone versuchsweise in Analogie zur Körperöffnung gesetzt werden kann, d. h. als besonders sensibler Berührungspunkt von Körper und Umwelt im Sinne einer ›indiskreten Technologie‹ erscheint, die allerdings auch affektive Erregungspotenziale bereithält. Daneben sind digitale Nahkörpertechnologien in kritischer Fortschreibung älterer Prothesentheorien durchaus als Erweiterungen des Sensoriums zu bestimmen, wobei allerdings eher von einer ›negativen Prothetik‹ (Stefan Rieger) auszugehen ist, die Szenen des Prekärwerdens, des Scheiterns und der Nicht-Identität im Umgehen mit körpernaher Medientechnik in den Vordergrund rückt. 2  | Stefan Kristensen: »Maurice Merleau-Ponty I - Körperschema und leibliche

Subjektivität«, in: Emmanuel Alloa/Thomas Bedorf/Christian Grüny/Tobias Nikolaus Klass (Hg.), Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts, Tübingen: Mohr Siebeck 2012, S. 23-36, hier S. 23.

7. Fazit und Ausblick

Ausgehend von der Bestimmung digitaler Nahkörpertechnologien als Bestandteil ausgreifender Apparate widmet sich die Arbeit schließlich einer genaueren Charakterisierung des sich üblicherweise der Anschauung entziehenden Rückraums der Interaktion mit körpernahen Geräten. Terminologisch mache ich dazu den Vorschlag, mit Nigel Thrift und Katherine N. Hayles von einem technologischen Unbewussten digitaler Nahkörpertechnologien zu sprechen, das mindestens drei Dimensionen umfasst: Erstens ist dies eine primär materiell zu bestimmende Ebene von Infrastrukturen, deren Betrieb die Nutzung mobiler Computertechnik überhaupt erst möglich macht. Diese Ebene wird beispielsweise von medienwissenschaftlichen Infrastrukturstudien thematisiert, die in Erinnerung rufen, dass auch und gerade für den Betrieb mobiler Digitaltechnik eine fixe Infrastruktur erforderlich ist, die geopolitischen und ökonomischen Erwägungen unterliegt. Zweitens lässt sich mit dem technologischen Unbewussten die »Beziehung von Subjektivität und ihrer Exteriorität«3 thematisieren, d. h. der Zusammenhang von technischen Infrastrukturen mit Prozessen der Subjektivierung und Habitualisierung, beispielsweise in der Delegation kognitiver Aufgaben wie Orientierung und Erinnerung an digitale Geräte, sowie die sich in der Folge verändernden Erwartungsschemata und Verhaltensdispositionen. Hierzu haben neben der historischen Apparatusdebatte medienökologische Ansätze wesentliche Impulse beigesteuert. Drittens, und diese Dimension des technologischen Unbewussten steht im Zentrum meines Ansatzes, gibt es eine im engeren Sinn politische, also machtrelevante Ebene der Verdatung, die die Erfassung und Auswertung von ortsbezogenen Daten über alltägliches Verhalten und Präferenzen umfasst. Alexander Galloways Ausführungen zum Protokoll als Kontrolltechnologie der Computerkultur sind ein illustrierendes Beispiel für ein technologisches Unbewusstes der Kontrollgesellschaften, insofern Protokolle nicht bloß als Bestandteil technischer Infrastrukturen zu bestimmen sind, sondern auch einen Rahmen für mögliches Verhalten abstecken und damit Subjektpositionen festlegen. Für das Smartphone allerdings stellt sich ein anderer Punkt als wichtiger heraus: Als lokatives Medium erfasst das Gerät jederzeit Orts- und Umgebungsinformationen und leitet sie u. U. ohne Wissen des Benutzers an Institutionen wie Data Broker weiter. Ein zentraler Aspekt des technologischen Unbewussten digitaler Nahkörpertechnologien ist damit die Emergenz eines berechneten und berechenbaren Raums, der in letzter Konsequenz als dynamische Totalerfassung räumlicher Relationen zu begreifen ist. Hiermit etabliert sich ein Wissen über räumliche Relationen, das den handelnden Individuen in der Regel nicht zugänglich ist und das zur Basis sowohl wirtschaftlicher Operationen als auch politischer Steuerungsansätze werden kann. In dieser Weise wirkt die bereits von Thrift beobachtete Standardisierung des Raums nicht nur direkt auf Praktiken der Mikrokoordination von Verabredungen ein, son3  | Erich Hörl: »Die technologische Bedingung. Zur Einführung«, in: Ders. (Hg.),

Die technologische Bedingung. Beiträge zur Beschreibung der technischen Welt, Berlin: Suhrkamp 2011, S. 7-53, hier S. 34.

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Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien

dern sie hat massive überwachungstechnische Implikationen, insofern das Smartphone stets als »Interface einer […] Selbst- und Fremdverortung«4 fungiert. Dieser auf den Raum bezogene Aspekt von Überwachung wird schließlich als zentrale Komponente eines umfassenderen Prozesses der Kybernetisierung des Alltags aufgefasst. Was aus Sicht individueller Akteure als Effizienz- und Koordinationsgewinn durch persönliche Profile und weitere zugeschnittene Datendienstleistungen erscheint, ist zugleich Ansatzpunkt für postkybernetische Kontroll- und Steuerungsstrategien, die auf den Apparat digitaler Nahkörpertechnologien als verteilte Sensorik und als Instrument zum Setzen von Verhaltensimpulsen zurückgreifen. Smartphones erscheinen in dieser Perspektive als Reaktion auf das praktische Problem der Unvorhersehbarkeit individuellen Verhaltens, und sie werden als körpernahe Empfangsorgane zu elementaren Bestandteilen einer flächendeckenden Kontrollarchitektur, die Techniken wie Data Mining, Social Sorting und Predictive Analytics kombiniert. Durch die Verbindung von Geolokations- und Verhaltensdaten, die entweder im Zuge eines Passive Sensing automatisch erfasst oder von Nutzern freiwillig eingegeben werden, werden Prognosen zu Bewegungsmustern und Handlungspräferenzen immer präziser und können damit als Steuerungswissen eingesetzt werden. Als zentrales Ergebnis der Arbeit lässt sich festhalten, dass die flächendeckende Verfügbarkeit drahtloser Konnektivität in Kombination mit miniaturisierten und portablen Computern anwenderseitig die Erfahrung des Alltäglichen beeinflusst und das urbane Environment in eine Technosphäre verwandelt, die veränderte Affordanzen gegenüber mobilen Körpern bereithält. Doch die medienwissenschaftliche Relevanz digitaler Nahkörpertechnologien erschöpft sich nicht in diesem Prozess. Wie im vorangehenden Kapitel herausgearbeitet wurde, hat die Verbreitung weitgehend inkorporierter vernetzter Kleincomputer auch kontroll- und überwachungstechnische Dimensionen: Die Intimität der Nutzungskontexte ist also in einem Spannungsverhältnis zur Ausweitung von datenbasierten Steuerungsprozessen zu sehen. Sowohl privatwirtschaftlichen als auch staatlichen Akteuren steht mit dem verteilten technischen Apparat digitaler Nahkörpertechnologien im Prinzip eine Infrastruktur zur Verfügung, die den Zugriff auf ein feingranuliertes Wissen um alltägliche und körperbezogene Aktivitäten erlaubt. Das im Folgenden eingeführte Beispiel thematisiert genau eine solche Praxis aus der Mobile Data Science und dessen Implikationen, sodass sich daran einige Stränge der Arbeit konkretisieren und zusammenführen lassen. Das von der US-amerikanischen Firma AlgoSnap Inc. initiierte Projekt Crowd­ Signals.io verfolgt ein unbescheidenes Ziel: »Building the Large Hadron Collider for Mobile Data Science«5. Mit einer aufwändig inszenierten Crowdfunding-Kampagne werden Anfang 2016 Sponsoren gesucht, die sich finanziell am Aufbau einer Knowledge Management Platform als zukünftige Ressource für Forschungs- und Entwicklungsvorhaben in diversen Feldern beteiligen. Konkret strebt man mit Crowd­signals. 4  | Regine Buschauer/Katharine S. Willis: »Einleitung«, in: Dies. (Hg.), Locative

Media. Medialität und Räumlichkeit, Bielefeld: transcript 2013, S. 7-23, hier S. 7. 5  | http://crowdsignals.io/, zul. aufgeruf. am 6.2.2017.

7. Fazit und Ausblick

io die Einrichtung eines Community Dataset durch die Rekrutierung von 30 US-amerikanischen Smartphone- bzw. Smartwatchnutzern an, die sich freiwillig über einen Zeitraum von 30 Tagen an einer massiven Datensammlung beteiligen sollen. Die über den gesamten Kampagnenzeitraum erhobenen Daten sollen abschließend umfassend anonymisiert6 und dann verschlüsselt an die Sponsoren verschickt werden, die sie wiederum für die Entwicklung von Anwendungen oder für Forschungsvorhaben nutzen können. In den Worten der Entwickler: CrowdSignals.io will create the largest set of rich, longitudinal mobile and sensor data recorded from smartphones and smartwatches available to the community. The dataset will include geo-location, sensor, system and network logs, user interactions, social connections, and communications as well as user-provided ground truth labels and survey feedback.7

Es werden eine ganze Reihe verschiedener Daten automatisch erhoben. Die Liste der erfassten Datentypen schließt die folgenden Sensoren und Indizes ein: Accelerometer, Gyroscope, Magnetometer, Heart Rate, Temperature, Light, Pressure, Humidity, Proximity,  Bluetooth, GSM, WLAN,  Semantic place names and categories (e.g., ›Home‹, ›Restaurant – Italian‹), Contacts, Call and SMS log Headers, Battery, Connectivity, Networking, App Usage, Camera Usage, Media Consumption, Phone Status, Ringer State, Screen State, Configuration[.] 8

Zusätzlich werden die erfassten Daten mit Ground Truth Labels, d. h. aktiven Kontextabfragen, für die eine Nutzereingabe nötig ist, kombiniert, woraus sich ein möglichst präzises Bild über die Umstände der jeweiligen Nutzung ergeben soll. So lassen sich beispielsweise Fragen wie die folgenden adressieren: Fährt der Nutzer gerade Auto oder sitzt er auf dem Beifahrersitz? In welchem Kontext befindet er sich? Wie ist seine Stimmung bzw. sein subjektiv empfundenes Stresslevel? Welche Aktivität wird gerade ausgeführt – »Eating, Sweeping, Scrubbing, Grooming, Vacuuming«?9 Die aggregierte Datenbank soll dann, wie es einer der Unterstützer des Vorhabens ausdrückt, »enable researchers from diverse disciplines to conduct deep research into human behavior modeling and prediction, and to carry out large-scale in-situ 6  | Insbesondere werden exakte Geolokationsdaten aus dem Datenset herausgekürzt und durch kategorische Marker wie ›Zuhause‹, ›Arbeit‹ oder ›Supermarkt‹ ersetzt. 7  | Ebd. 8  | https://www.indiegogo.com/projects/crowdsignals-io-building-a-community-data-set#/, zul. aufgeruf. am 6.2.2017. 9  | Ebd.

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experiments«.10 Ein anderer Unterstützer bezeichnet das Projekt als potenziellen Durchbruch innerhalb der praxisorientierten Forschung zu Ubiquitous Computing, »particularly, in activity recognition, and behavior recognition«11, während andere darin die Grundlage eines rekursiven Modells zur feedbackgesteuerten Optimierung von Interfaces erkennen: »CrowdSignals’ ability to collect interaction, context, and questionnaire data will help us to build new kinds of interfaces to improve people’s everyday lives.«12 Aber auch zur empirischen Beantwortung sozialwissenschaftlicher, epidemiologischer, geografischer, klimatologischer und netzwerktechnischer Fragestellungen soll sich die Datenbank eignen, wie die zahlreichen Stellungnahmen diverser potenzieller Stakeholder auf der Projekt-Website belegen sollen. Evan Welbourne, Projektleiter von Crowdsignals.io, sowie Gründer und CEO von AlgoSnap, bringt das Technoimaginäre dieser smartphonebasierten Form von Reality Mining auf die Formel: »Data from our devices will eventually help us to understand ourselves as individuals and as a society.«13 Eine vergleichbar gewichtige Funktion der individuellen und kollektiven Selbstdeutung erfüllten historisch allenfalls Religionen. Damit steht letztlich eine Dimension des Crowdsignals-Projekts im Raum, die sich nicht in der Verbesserung von Forschung und Angebotsentwicklung erschöpft. Naheliegend ist zumindest die Implikation, dass eine durch den Bezug auf messbares Verhalten datengesättigte Form der Selbsterkenntnis auch eine Form von Gouvernementalität impliziert, d. h., dass ebenjenes Verhalten dann als optimierungsbedürftiges erscheint, wenn Nutzer die Möglichkeit erhalten, sich ihre alltäglichen, ›blinden‹ Praktiken in aggregierter Form transparent zu machen. Wie Sebastian Vehlken am Beispiel von Multimodal Crowd 10  | John P. Shen, Professor für Electrical and Computer Engineering an der

Carnegie Mellon University, zit. auf http://crowdsignals.io/. Schon 2009 hatten David Lazer, Alex Pentland u. a. in der Zeitschrift Science gefordert, die Sozialwissenschaften insgesamt als »computational social science« neu zu erfinden. Diese nutze neue technische Möglichkeiten zur Datenerfassung und -auswertung »with an unprecedented breadth and depth and scale«. Mobiltelefone und Smartphones sollten in diesem Szenario eine wichtige Rolle spielen, weil sie ein »large-scale tracing of people’s movements and physical proximities over time« erlauben. Vgl. David Lazer/Alex Pentland/Lada Adamic/Sinan Aral/Albert-Laszlo Barabasi/Devon Brewer/Nicholas Christakis/Noshir Contractor/James Fowler/ Myron Gutmann/Tony Jebara/Gary King/Michael Macy/Deb Roy/Marshall van Alstyne: »Computational Social Science«, in: Science 323/5915 (2009), S. 721723, hier S. 722. 11  | Jesus Favela, Professor für Computer Science am Centro de Investigación Científica y de Educación Superior de Ensenada (CICESE), zit. auf http:// crowdsignals.io/. 12  | Dan Ashbrook, Assistant Professor für Information Sciences and Computer Science am Rochester Institute of Technology, zit. auf http://crowdsignals.io/. 13  | Evan Welbourne, zit. auf http://crowdsignals.io/.

7. Fazit und Ausblick

Sensing-Technologien zeigt, ist ein normalisierender Effekt zu erwarten, wenn ein Kollektiv von Akteuren in dynamischer Weise seine eigenen Bewegungen beobachten und wieder in Form von Feedback in das eigene Verhalten zurückspeisen kann.14 Ähnliches ist auch für die Mobile Data Science im Ganzen anzunehmen: Jedenfalls sind hier alle technischen und epistemologischen Zutaten versammelt, um alltägliches Verhalten auf breiter Basis vergleichbar zu machen und durch die Orientierung an einem häufig mitklingenden Produktivitätsideal als verbesserungswürdig erscheinen zu lassen, sei es auch vermittelt über Institutionen, die den aggregierten Datensatz nach Optimierungspotenzialen durchforsten. »It would be extremely valuable if the entire data can be collected from a community and then shared, given back to the community – and coming up with those clever ways of empowering the user with his information.«15 Der bei Crowdsignals.io explizit erfolgende Aufruf zur Partizipation an einem (verschlüsselungs-)technisch und juristisch vielfach abgesicherten Datensammlungsprojekt macht im Grunde nur manifest, woran jeder Smartphonenutzer ohnehin teilhat: eine massive, nach neobehavioristischen Prinzipien erfolgende Kybernetisierung alltäglicher Praktiken, die in der Mobile Data Science zu Datenquellen werden. Zwar erfolgt die Sammlung, Kategorisierung und Auswertung von Daten generell (noch) nicht in dem Maße zentralisiert und tiefengestaffelt wie im vorgestellten Beispiel, aber die technische Infrastruktur für diese neuartigen gouvernementalen Praktiken existiert bereits flächendeckend. Das Beispiel Crowdsignals.io erscheint in dieser Perspektive als punktuelle Verdichtung und mögliche Vorwegnahme einer übergreifenden Entwicklung. Doch, darauf hat Erhard Schüttpelz aufmerksam gemacht, gibt es hier wie sonst in der Medienentwicklung »kein technisches Apriori […], das nicht durch ein körpertechnisches Apriori mitstrukturiert wurde«16. Die kulturtheoretische Beschreibung der Konstitution, Genese und Voraussetzungen dieses körpertechnischen Apriori war ein zentrales Thema der vorliegenden Arbeit, seine zukünftigen Implikationen dagegen bleiben unabsehbar. Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass die sich gerade erst formierende Mobile Data Science eine Kopplung von Nutzern und digitalen Nahkörpertechnologien voraussetzt, die sich als Gefüge aus Interfacedesign, technikbegleitenden Diskursen und körperbasierten Praktiken realisiert. Die kleinste zurechenund adressierbare Einheit in dieser epistemologischen Ausgangssituation sind nicht 14  | Vgl. Sebastian Vehlken: »Multimodal Crowd Sensing«, in: Matthias De-

necke/Anne Ganzert/Isabell Otto/Robert Stock (Hg.), ReClaiming Participation. Technology – Mediation – Collectivity, Bielefeld: transcript 2016, S. 51-66, hier S. 61f. 15  | Vidya Setlur, Research Scientist bei Tableau Software, zit. auf http:// crowdsignals.io/. 16  | Erhard Schüttpelz: »Körpertechniken«, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 1 (2010), S. 101-120, hier S. 119.

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Menschen, sondern Akteurskonstellationen, die das technische Artefakt Smartphone immer schon mit einschließen. Was Crowdsignals.io und ähnliche Projekte deutlich machen, ist letztlich die kollektive Dimension des Intimate Computing, das sich als technologisches Unbewusstes individuell-verkörperter Praktiken mit digitalen Nahkörpertechnologien wie Smartphones fassen lässt, deren lokal erfasste Daten sich auf Makroebene zur Ressource verdichten lassen. Aus dem Quantified Self – die Bewegung folgt dem Motto: »Self Knowledge Through Numbers« – wird dadurch perspektivisch ein Quantified Us, wie die Wired bereits im April 2014 euphorisch prognostizierte: Imagine a future where self-tracking harnesses a whole population’s data to identify patterns and make meaningful recommendations. Imagine a future where we can see into the data of people just like us, to help us live better, and where we willingly give up a bit of privacy in exchange for vast benefits.17

Medienanthropologisch relevant sind die näheren Umstände solcher Verdatungsvorgänge, die mit dem Versprechen antreten, dass Menschen auf Basis ›objektiv‹ erfasster Daten über ihre alltäglichen Praktiken ein bewussteres, gesünderes und erfüllteres Leben führen können. Sun-ha Hong hat jedoch darauf aufmerksam gemacht, dass die Konstitution eines ›Datensinns‹ auf überindividueller Ebene das Bewusstsein exkludiert: »When machines cut directly to the body, the thinking subject is left in a somewhat peripheral position to his/her ›own‹ self-knowledge.«18 Der »Pakt mit den Körpern«, das bereits von Günther Anders geahnte Zusammenwirken von ›natürlichem Es‹ und ›Apparat-Es‹, das am Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit stand, begegnet nun erneut in der Konstitution einer epistemischen Relation. In dieser wird von Sensoren erfassten Daten ein privilegierter Erkenntniswert zugesprochen, während das subjektive Wahrnehmen und Denken demgegenüber tendenziell entwertet wird.19

17  | Matthew Jordan/Nikki Pfarr: »Forget the Quantified Self. We Need to Build the Quantified Us«, auf: Wired.com, dort datiert am 4.4.2014, https:// www.wired.com/2014/04/forget-the-quantified-self-we-need-to-build-the-quantified-us/, zul. aufgeruf. am 2.6.2017. 18  | Sun-ha Hong: »Data’s Intimacy. Machinic Sensibility and the Quantified Self«, in: communication +1 5 (2016), S. 14. 19  | Vgl. Bärbel Tischleder/Hartmut Winkler: »Portable Media. Beobachtungen zu Handys und Körpern im öffentlichen Raum«, in: Ästhetik & Kommunikation 32/112 (2001), S. 97-104, hier S. 100 und Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen 1. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München: Beck 2010 [1956], S 82.

7. Fazit und Ausblick [T]he new proximity afforded by smart sensing machines attempts to bypass the unaware, error-prone, uncooperative, and otherwise recalcitrant subject, and get straight to the (allegedly) objective realm of bodily data. 20

Apparat und Körper stellen in diesem Szenario die Datenbasis bereit, an dem sich das zukünftige Verhalten von Individuen und Gruppen orientieren kann, ohne dass es dazu eines Umwegs über die Reflexion bedarf. Unter »data-sense« versteht Hong eine Tendenz, die Verantwortung für die eigene Lebensführung an eine technische Instanz abzutreten: »Data-sense thus describes the rhetorical, methodological and economic modes of orientation towards a new set of numbers by which subjects are asked to make themselves legible, efficient, truthful.«21 Damit steht perspektivisch eine neue, nicht-hermeneutische technologische Sinnkultur zur Debatte, deren Orientierung an automatisch erfassten Daten und deren über Big Data-Analysen erfassten Korrelationen den traditionellen abendländischen Subjektbegriff radikal dekonstruiert.22 Digitale Nahkörpertechnologien geben prinzipiell jedem Einzelnen die technischen Mittel an die Hand, auf Basis von Faktoren zu handeln, die nicht einfach nur unbekannt sind, sondern deren Nachvollzug für die menschliche Kognition schlicht unmöglich ist. In ihrer Alltäglichkeit unterscheiden sie sich von Techniken, die bereits in der Logistik, dem Versicherungswesen und dem sogenannten ›Krieg gegen den Terror‹ zum Einsatz kommen: Das Smartphone ist als Schwellentechnologie zu verstehen, das einerseits in seiner Funktion als passiver Sensor die Basis für einen neuen Daten-Behaviorismus liefert, andererseits aber auch ein Zurückfließen der Ergebnisse von Datenauswertungen in die individuellen Praktiken erlaubt und damit zu zukünftigen Verhaltensmodulationen beiträgt. Mit Daten-Behaviorismus ist eine epistemologische Formation gemeint, in der Erklärungen von Phänomenen wie z. B. des menschlichen Verhaltens exklusiv aus erhobenen Daten – also technisch beobachtbaren und messbaren Größen – generiert und alternative Erklärungsansätze nicht in Betracht gezogen werden.23 Sie steht in der Tradition des verhaltenspsychologischen Behaviorismus, der den Menschen als Ensemble von Reiz-Reaktions-Schemata begreift, was ihn prinzipiell Prozessen 20  | Hong: »Data’s Intimacy«, S. 8. 21  | Ebd., S. 26. 22  | Bestandteil und Symptom dieser neuen Sinnkultur ist die Bedeutung des

Profilierungsdispositivs als Matrix dominanter gegenwärtiger Subjektivierungsformen. Vgl. Andreas Weich: Selbstverdatungsmaschinen. Zur Genealogie und Medialität des Profilierungs-Dispositivs, Bielefeld: transcript 2017. 23  | Vgl. Felix Stalder: Kultur der Digitalität, Berlin: Suhrkamp 2016, S. 199-202 und Antoinette Rouvroy: »The End(s) of Critique. Data Behaviourism versus Due Process«, in: Mireille Hildebrandt/Katja de Vries (Hg.), Privacy, Due Process and the Computational Turn. The Philosophy of Law Meets the Philosophy of Technology, Abingdon: Routledge 2013, S. 143-165.

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der Konditionierung öffnet.24 Die von digitalen Nahkörpertechnologien ermöglichten Datenerhebungs- und Datenverarbeitungskapazitäten sowie die Entwicklung von Sensortechnik und Algorithmen in den letzten Jahrzehnten geben dieser überholt geglaubten radikal-positivistischen Wissensformation neuen Auftrieb und lassen manchen bereits an das Ende der Theorie glauben.25 In jüngerer Zeit sind eine Reihe von Kritiken an den Politiken von Big Data artikuliert worden, die u. a. die Frage nach der ökonomischen Motivation der Datenerhebung, die Imagination von ›Rohdaten‹ sowie den Glauben an ihre Neutralität betreffen.26 Jedenfalls aber – hierin sind sich Befürworter wie Gegner des Daten-Behaviorismus weitgehend einig – erfassen technische Medien Korrelationen von Daten auf Ebenen, zu denen der Verstand kaum vordringen kann. Mag die Aussagekraft dieser Korrelationen 24  | Vgl. Burrhus Frederic Skinner: The Behavior of Organisms. An Experimental Analysis, New York: Appleton-Century-Crofts 1938.

25  | Vgl. Chris Anderson: »The End of Theory. The Data Deluge Makes the Sci-

entific Method Obsolete«, auf Wired.com, dort datiert am 23.6.2008, https://www. wired.com/2008/06/pb-theory/, zul. aufgeruf. am 6.2.2017: »Who knows why people do what they do? The point is they do it, and we can track and measure it with unprecedented fidelity. With enough data, the numbers speak for themselves. […] The new availability of huge amounts of data, along with the statistical tools to crunch these numbers, offers a whole new way of understanding the world. Correlation supersedes causation, and science can advance even without coherent models, unified theories, or really any mechanistic explanation at all.« Vgl. in diesem Zusammenhang auch die von Alex Pentland propagierte Vision eines »God’s eye view of ourselves« (Alex Pentland: »Reality Mining of Mobile Communications. Toward a New Deal on Data«, in: World Economic Forum (Hg.), The Global Information Technology Report 2008-2009. Mobility in a Networked World 2009, S. 75-80, hier S. 80) sowie Viktor Mayer-Schönberger/ Kenneth Cukier: Big Data. A Revolution That Will Transform How We Live, Work and Think, London: Murray 2013, S. 7: »Just as the telescope enabled us to comprehend the universe and the microscope allowed us to understand germs, the new techniques for collecting and analysing huge bodies of data will help us make sense of our world in ways we are just starting to appreciate.« 26  | Vgl. zusammenfassend Mark Coté/Paolo Gerbaudo/Jennifer Pybus: »Introduction. Politics of Big Data«, in: Digital Culture & Society 2/2 (2016), S 7-9 sowie im Einzelnen danah boyd/Kate Crawford: »Six Provocations for Big Data«, Vortrag, Oxford Internet Institute’s »A Decade in Internet Time: Symposium on the Dynamics of the Internet and Society«, 21.9.2011, online unter https://papers.ssrn. com/sol3/papers.cfm?abstract_id=1926431, zul. aufgeruf. am 6.2.2017, Lisa Gitelman (Hg.), ›Raw Data‹ is an Oxymoron, Cambridge, Mass.: MIT Press 2013 und José van Dijck: »Datafication, Dataism and Dataveillance. Big Data between Scientific Paradigm and Ideology«, in: Surveillance & Society 12/2 (2014), S. 197-208.

7. Fazit und Ausblick

auch im Einzelfall gering sein, sie dienen als reale Grundlage für ökonomische und politische Entscheidungen. Mark B. N. Hansen hat in seinem Buch Feed-Forward genau solche Prozesse medientheoretisch analysiert, wobei er zunächst als Charakteristikum von Medien des 21. Jahrhunderts festhält, dass diese auf Körper oder Umwelten bezogene Informationen erfassen und prozessieren können, die zwar menschliches Verhalten direkt betreffen, zu denen Menschen allerdings keinen Zugang haben, weil sie beispielsweise in mikrotemporalen Bereichen liegen.27 Neben Smartphones und anderen Wearables nennt Hansen unter anderem GPS-Sensoren, RFID-Chips und andere eingebettete Sensoren, die ohne die Notwendigkeit einer Interaktion mit Benutzern Daten erfassen können. Diese Medien haben neben vermeintlich ›primären‹ Funktionen – im Falle des Smartphones das Tätigen von Anrufen, das Versenden von Textnachrichten, das Abrufen von Emails, das Surfen im Internet, die Organisation von Terminen etc. –, auch passive Registrierkapazitäten, die des menschlichen Eingriffs nicht bedürfen.28 Anders als die in der Medientheorie seit McLuhan im Vordergrund stehenden prothetisch wirkenden Medien, die einzelne menschliche Sinne ausweiten und verstärken, operieren diese Medien auf einer unterschwelligen und präkognitiven Ebene des Fühlens. Hansen macht in seinem Buch auf die Gefahren medialer Operationen in Zeitregimen aufmerksam, in denen das Erfassen von für die Beurteilung einer Situation relevanten Informationen und letztlich die Beeinflussung von Verhalten auf einer Ebene erfolgt, die sich dem Bewusstsein verschließt. Er spricht von einem »principle of non-equal deliberation time«, das eine Situation beschreibt, in which the decisions of individual cultural consumers can be manipulated – and in some sense effectively ›preprogrammed‹ – as a result of the ›digital insight‹ into behavioral motivation that microcomputational sensing affords corporate interests. 29

Mit anderen Worten: Hansen schildert hier ein Szenario, in dem Medientechnik Verhalten, affektive und körperliche Reaktionen erfassen und prozessieren kann, bevor 27  | Vgl. Mark B. N. Hansen: Feed-Forward. On the Future of Twenty-First-Century Media, Chicago, Ill.: University of Chicago Press 2015, S. 187 und passim.

28  | Vgl. ebd., S. 160f. 29  | Ebd., S. 57. Vgl. detaillierter ebd., S. 190f.: »[I]t is crucial to point out that

contemporary capitalist industries are able to bypass consciousness – and thus to control individual behavior – precisely (and solely) because of their capacity to exploit the massive acceleration in the operationality of culture caused by massive-scale data-gathering and predictive analysis. These industries benefit from the maintenance of the crucial temporal gap at the heart of experience: the gap between the operationality of media and the subsequent advent of consciousness.«

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die Beteiligten überhaupt etwas davon mitbekommen. Ein von ihm angeführtes Beispiel sind Insulinpumpen, die ohne bewusstes Zutun den Insulinhaushalt regulieren, aber man kann auch an auf dem Smartphone laufende Dienste wie Google Now denken, die aufgrund einer permanenten Situationsauswertung jederzeit in der Lage sind, die wahrscheinlichsten nächsten Handlungen des Nutzers zu prognostizieren und daraus Verhaltensempfehlungen abzuleiten. Wenn die Nutzung eines solchen Dienstes zur Gewohnheit wird, liegt hier eine direkte Korrelation von technischen und verhaltensbasierten Automatismen bzw. eine Verschränkung von technologischem und körperlichem Unbewussten vor. Es ist davon auszugehen, dass sich mit dem Aufkommen und der gesellschaftlichen Akzeptanz neuer Geräteklassen im Bereich des Wearable Computing die von Hansen umrissene Problematik noch verschärfen wird. Mit Geräten wie Smartwatches, ein Augmented Reality-Overlay bereitstellenden Datenbrillen, Fitnessarmbändern und anderen bewegungserfassenden Devices sowie implantierten Chips, wie sie in der Body Hacking-Szene bereits erprobt werden, sind radikal neue Interfaces und mit ihnen wiederum andere Verkörperungsprozesse zu erwarten. Der Medienwissenschaft wird die wichtige Aufgabe zufallen, diese Vielfalt an gegenwärtigen und noch in der Entwicklung befindlichen digitalen Nahkörpertechnologien dahingehend zu befragen, wie sie das verkörperte In-der-Welt-sein der Nutzer transformieren. Dazu gehören eine kritische Analyse der Neuverteilung von Agenturen zwischen Bewusstsein, Gewohnheit und Selbsttätigkeit der Geräte, der subjektivierenden Wirkungen der variablen Umgangsweisen mit portablen Computern in wechselnden Gestaltungen sowie eine verstärkte Aufmerksamkeit für die apparative Dimension nah am Körper getragener Sensoren und ihrer macht- und kontrollrelevanten Aspekte. Im Konzept des Interfaces bündeln sich die angerissenen Fragehorizonte. International ist in den letzten zehn Jahren ein deutlicher Zuwachs an kritischen Interface-Studien zu verzeichnen.30 Auch die deutschsprachige Medienwissenschaft widmet sich neuerdings verstärkt begrifflich, historisch und analytisch dem Konzept des Interfaces.31 Ein weites Forschungsfeld ist damit eröffnet, zu dem die vorliegende Arbeit einen terminologischen und analytischen Beitrag darstellt. Eine grundlegende Einsicht dieser neueren medienwissenschaftlichen Interface-Forschung ist, dass es sich bei der Beziehung zu körpernahen digitalen Geräten um eine prinzipiell gestalt30  | Vgl. u. a. Christian Ulrik Andersen/Søren Bro Pold (Hg.), Interface Criticism.

Aesthetics beyond Buttons, Aarhus: Aarhus University Press 2011, Alexander R. Galloway: The Interface Effect, Cambridge, UK: Polity Press 2012 und Branden Hookway: Interface, Cambridge, Mass.: MIT Press 2014. 31  | Vgl. Sabine Wirth: »To interface (a computer). Aspekte einer Mediengeschichte der Zeigeflächen«, in: Fabian Goppelsröder/Martin Beck (Hg.), Sichtbarkeiten 2: Präsentifizieren. Zeigen zwischen Körper, Bild und Sprache, Zürich: Diaphanes 2014, S. 151-166, Florian Hadler/Joachim Haupt (Hg.), Interface Critique, Berlin: Kadmos 2016 und Jan Distelmeyer: Machtzeichen. Anordnungen des Computers, Berlin: Bertz und Fischer 2017.

7. Fazit und Ausblick

bare handelt. Ich zitiere hierzu abschließend Frank Apunkt Schneider und Günther Friesinger: Die Nähe, in der wir mit unseren Geräten leben, ist kein Verhängnis, sondern eine Beziehung, die wie alle Beziehungen ausgehandelt und gestaltet werden muss. Wir müssen uns daher fragen, wie wir in der Intimität, in der wir mit unseren Geräten leben, leben wollen und wie wir damit gut leben können, ohne uns von den Geräten (und den durch sie vermittelten fremden Interessen) beherrschen zu lassen. 32

Die Aushandlung dieser Fragen kann allerdings nicht bloß eine persönliche Entscheidung, sondern muss auch ein politischer Prozess sein.33 Dies ist insbesondere deshalb der Fall, weil ein erheblicher Anteil der Aneignungs- und Nutzungsvorgänge digitaler Nahkörpertechnologien, wie die Arbeit gezeigt hat, einer Zone von Automatismen, von implizitem Wissen und habitualisiertem Mediengebrauch zuzurechnen ist. Je weniger aber sich Interface-Zusammenhänge dem Alltagsbewusstsein erschließen, je größer die Diskrepanz zwischen Gebrauchs- und Verwertungskontexten erscheint, desto dringlicher wird die Aufgabe einer medienwissenschaftlichen Problematisierung. Der Vorschlag, den die vorliegende Arbeit macht, lautet, Interface-Prozesse nicht isoliert zu betrachten, sondern in Richtung auf das Subjekt einerseits und auf politisch-ökonomische Zusammenhänge andererseits transparent zu machen. Auf diese Weise wird die relevante Stelle eingekreist, die einen möglichen Schwerpunkt medienwissenschaftlicher Forschung in den kommenden Jahren bilden kann. Die Interfaces digitaler Nahkörpertechnologien lassen sich als Nexus von Genealogien und Agenturen fassen, dessen medienwissenschaftliche Erhellung auch in Zukunft aufschlussreiche Ergebnisse verspricht.

32  | Frank Apunkt Schneider/Günther Friesinger: »Das digitale Nähe-Distanz-

Problem«, in: Günther Friesinger/Jana Herwig/Judith Schossböck (Hg.), Intimacy. Plug-in – Exploit – Care, Wien: edition mono/monochrom 2016, S. 29-43, hier S. 41. 33  | Vgl. in diesem Sinne Galloway: The Interface Effect, S. viii: »[D]igital media ask a question to which the political interpretation is the only coherent answer.«

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Kapitel 3

Die Aussage ist abgedruckt in Stewart Brand (Hg.), Supplement to the Whole Earth Catalog: The Outlaw Area, Januar 1970, zit. nach Diedrich Diederichsen/Anselm Franke (Hg.): The Whole Earth. Kalifornien und das Verschwinden des Außen, Berlin: Sternberg Press 2013, S. 182. Für eine Beschreibung der Peradam-Konferenz, einem Treffen von Computerentwicklern und Vertretern der Gegenkultur in der Nähe von Santa Barbara 1969, vgl. John Markoff: What the Dormouse Said. How the Sixties Counterculture Shaped the Personal Computer Industry, New York: Penguin 2005, S. 177f. Alan C. Kay: »User Interface – A Personal View« (1989), in: Randall Packer/Ken Jordan (Hg.), Multimedia. From Wagner to Virtual Reality, New York: Norton 2001, S. 121-131, hier S. 131.

Kapitel 4

Andy Clark: Natural-Born Cyborgs. Minds, Technologies, and the Future of Human Intelligence, New York: Oxford University Press 2003, S.7.

Kapitel 5

Friedrich Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, Berlin: Brinkmann & Bose 1986, S. 3. Unsichtbares Komitee: »Fuck off, Google«, auf: Indymedia, dort datiert Oktober 2014, https://linksunten.indymedia.org/de/system/files/data/2015/01/1713951010.pdf, zul. aufgeruf. am 2.2.2017, S. 4. Jonathan Crary: 24/7. Late Capitalism and the Ends of Sleep, London: Verso 2014, S. 36.

10. Abbildungsnachweise Der Autor hat sich bemüht, für alle verwendeten Abbildungen die Rechteinhaber zu kontaktieren. Nicht in allen Fällen war dies erfolgreich. Ich bitte daher etwaige Rechteinhaber, sich mit mir in Verbindung zu setzen.

Kapitel 3

Abb. 1: Ryan Block: »Live from Macworld 2007. Steve Jobs Keynote«, auf: engadget, dort datiert am 1.9.2007, http://www.engadget.com/2007/01/09/live-from-macworld2007-steve-jobs-keynote/, zul. aufgeruf. am 14.2.2017. Abb. 2: People’s Computer Company Newsletter 1/1, Oktober 1972, Titelseite, online unter https://purl.stanford.edu/ht121fv8052, zul. aufgeruf. am 31.1.2017. Abb. 3: Whole Earth Catalog, Herbst 1968, Titelseite, online unter: https:// cup2013.files.wordpress.com/2011/05/whole-earth-catalog-cover-1968.jpg, zul. aufgeruf. am 15.2.2017. Abb. 4: Jeff Richardson: »Blue Marble«, auf: iPhone J.D., dort datiert am 10.3.2010, http://www.iphonejd.com/iphone_jd/2010/03/blue-marble.html, zul. aufgeruf. am 15.2.2017. Abb. 5: PARC Media Library, https://www.parc.com/content/news/media-library/ dyna_book_6x4.2.jpg, zul. aufgeruf. am 15.2.2017. Abb. 6: Alan C. Kay: »A Personal Computer for Children of All Ages«, in: ACM ’72 Proceedings of the ACM Annual Conference, New York: ACM 1972, S. 2. Abb. 7: Vortragsfolie aus Alan C. Kay: »Simex: The Neglected Part of Bush’s Vision«, Vortrag auf dem MIT/Brown Vannevar Bush Symposium, Boston 1995, Videomitschnitt online unter http://archive.org/details/XD1941_9_95Vannevar​ BushSymTape10_AlanKay, zul. aufgeruf. am 1.2.2017. (Eine hochaufgelöste Bilddatei wurde dem Autor von Alan Kay zur Verfügung gestellt.) Abb. 8: Still aus Werbevideo, »Apple Newton ad – What is Newton?«, auf: YouTube. com, https://www.youtube.com/watch?v=Bh-yed48e0Y#t=10, zul. aufgeruf. am 1.2.2017. Abb. 9: Apple Advertising and Brochure Gallery, auf: Macmothership.com, http:// www.macmothership.com/gallery/MiscAds2/newton_po1.jpg, zul. aufgeruf. am 15.2.2017.

360

Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien

Abb. 10: Mik Lamming/Mike Flynn: »›Forget-me-not‹. Intimate Computing in Support of Human Memory«, in: Proceedings of FRIEND21. ’94 International Symposium on Next Generation Human Interface 1994, S. 3. Abb. 11: Mik Lamming/Mike Flynn: »›Forget-me-not‹. Intimate Computing in Support of Human Memory«, in: Proceedings of FRIEND21. ’94 International Symposium on Next Generation Human Interface 1994, S. 4. Abb. 12: Karikatur in Doug Welch: »Dreaming of Global Nets and Intimate Computing«, in: Network World vom 18.1.1993, S. 38.

Kapitel 4

Abb. 13: © Reuters, in Anonymus: »China testet den Smartphone-Bürgersteig«, auf: Der Tagesspiegel, dort datiert am 16.9.2014, http://www.tagesspiegel.de/ weltspiegel/handys-im-strassenverkehr-china-testet-den-smartphone-buerger​ steig/10709780.html, zul. auf-geruf. am 15.2.2017.

Kapitel 5

Abb. 14: © John Stanmeyer, World Press Photo 2014. Abb. 15: © Lisa Parks: »Around the Antenna Tree: The Politics of Infrastructural Visibility, auf: Flowjournal.org, http://www.flowjournal.org/2009/03/around-the-antenna-tree-the-politics-of-infrastructural-visibilitylisa-parks-uc-santa-barbara/, zul. aufgeruf. am 15.2.2017. Abb. 16: Google Rechenzentren, https://www.google.com/about/datacenters/gallery/ #/all/5, zul. aufgeruf. am 15.2.2017.

Medienwissenschaft Susan Leigh Star

Grenzobjekte und Medienforschung (hg. von Sebastian Gießmann und Nadine Taha) 2017, 536 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3126-5 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-3126-9 EPUB: ISBN 978-3-7328-3126-5

Geert Lovink

Im Bann der Plattformen Die nächste Runde der Netzkritik (übersetzt aus dem Englischen von Andreas Kallfelz) 2017, 268 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3368-9 E-Book PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3368-3 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3368-9

Gundolf S. Freyermuth

Games | Game Design | Game Studies Eine Einführung 2015, 280 S., kart. 17,99 € (DE), 978-3-8376-2982-8 E-Book: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2982-2

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Medienwissenschaft Ricarda Drüeke, Elisabeth Klaus, Martina Thiele, Julia Elena Goldmann (Hg.)

Kommunikationswissenschaftliche Gender Studies Zur Aktualität kritischer Gesellschaftsanalyse April 2018, 308 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3837-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3837-4

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Gesellschaft für Medienwissenschaft (Hg.)

Zeitschrift für Medienwissenschaft 17 Jg. 9, Heft 2/2017: Psychische Apparate 2017, 216 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4083-0 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-4083-4 EPUB: ISBN 978-3-7328-4083-0

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